Briefe aus der Hölle: Die Aufzeichnungen des jüdischen Sonderkommandos Auschwitz 3806239169, 9783806239164

Als 2017 das Zeugnis Marcel Nadjaris an die Nachwelt mit aufwändiger Technik entziffert werden konnte, war dies eine Sen

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German Pages 632 [634] Year 2019

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Table of contents :
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Vorwort
von Hans-Heinrich Nolte
Vorbemerkung
Leben und Tod in der Hölle
Die Residenz des Todes: die demografische Bilanz von Auschwitz
Die Handlanger des Todes: das Sonderkommando in Auschwitz-Birkenau
Das vernichtete Krematorium: Sinn und Preis eines Aufstands
Verbrecher oder Helden
Briefe aus der Hölle: die Entdeckungs-, Rekonstruktions- und Übersetzungsgeschichte der Manuskripte
Die Chronisten und ihre Texte
Salmen Gradowski: Im Herzen der Hölle
Und auch am Ende war das Wort
Salmen Gradowski: Texte
[Der Weg zur Hölle]
Im Herzen der Hölle
Vorwort
Die Mondnacht
Der tschechische Transport
Der Abschied
[Brief aus der Hölle]
Lejb Langfuß: Erschüttert von der Gräueltat
Ein Rabbi in der Hölle
Lejb Langfuß: Texte
Die Vertreibung
Erschüttert von der Gräueltat
Salmen Lewenthal: ,,Von diesem Moment an werden wir alles in der Erde aufbewahren"
Zeuge, Chronist, Ankläger!
Salmen Lewenthal: Texte
[Notizen]
[Kommentar zur ,,Handschrift von Lodz"]
Herman Strasfogel: ,,An meine liebste Frau und Tochter"
,,Die Hölle von Dante ist unwahrscheinlich lächerlich im Vergleich zur echten Hölle hier"
Herman Strasfogel: Text [Ein Brief aus der Hölle nach Hause]
Marcel Nadjari: ,,Ich werde mich nicht rächen können, wie ich es will“
Ein Schrei nach Rache
Marcel Nadjari: Text aus dem Jahr 1944
Abraham Levite: Vorwort zur Anthologie ,,Auschwitz“
Zeit: am Vortag des Todes. Ort: auf dem Schafott.
Abraham Levite: Text
Statt eines Nachworts: ein Kassiber, der angekommen ist
Anhang
1. Chronik ausgewählter Ereignisse im Zusammenhang mit dem Sonderkommando in Auschwitz-Birkenau
2. Veröffentlichungen der Manuskripte der Mitglieder des Sonderkommandos
3. Anus Mundi: Was die Befreier in Auschwitz sahen
4. Erste Aussagen der Mitglieder des Sonderkommandos
Karten
Abkürzungen
Literaturverzeichnis
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Briefe aus der Hölle: Die Aufzeichnungen des jüdischen Sonderkommandos Auschwitz
 3806239169, 9783806239164

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Pavel Polian Briefe aus der Hölle

Pavel Polian

Briefe aus der Hölle Die Aufzeichnungen des jüdischen Sonderkommandos Auschwitz

Aus dem Russischen von Roman Richter Bearbeitet von Andreas Kilian

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. wbg Theiss ist ein Imprint der wbg © 2019 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Lektorat: Dirk Michel, Mannheim, und Daphne Schadewaldt, Wiesbaden Satz: Vollnhals Fotosatz, Neustadt a. d. Donau Umschlaggestaltung: Jutta Schneider, Frankfurt a. M., unter Verwendung eines Fotos von Martin Blume. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-8062-3916-4 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-8062-3907-2 eBook (epub): 978-3-8062-3908-9

Inhalt

Vorwort von Hans-Heinrich Nolte Vorbemerkung

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Leben und Tod in der Hölle Die Residenz des Todes: die demografische Bilanz von Auschwitz

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Die Handlanger des Todes: das Sonderkommando in Auschwitz-Birkenau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Das vernichtete Krematorium: Sinn und Preis eines Aufstands Verbrecher oder Helden

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Briefe aus der Hölle: die Entdeckungs-, Rekonstruktions- und Übersetzungsgeschichte der Manuskripte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145

Die Chronisten und ihre Texte Salmen Gradowski: Im Herzen der Hölle

Und auch am Ende war das Wort …

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Salmen Gradowski: Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 [Der Weg zur Hölle] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Im Herzen der Hölle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 Die Mondnacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 Der tschechische Transport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 Der Abschied . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 [Brief aus der Hölle] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 5

Inhalt

Lejb Langfuß: Erschüttert von der Gräueltat Ein Rabbi in der Hölle Lejb Langfuß: Texte Die Vertreibung

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Erschüttert von der Gräueltat

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Salmen Lewenthal: „Von diesem Moment an werden wir alles in der Erde aufbewahren“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456 Zeuge, Chronist, Ankläger!

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Salmen Lewenthal: Texte [Notizen]

[Kommentar zur „Handschrift von Lodz“]

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Herman Strasfogel: „An meine liebste Frau und Tochter“

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„Die Hölle von Dante ist unwahrscheinlich lächerlich im Vergleich zur echten Hölle hier“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 507 Herman Strasfogel: Text [Ein Brief aus der Hölle nach Hause]

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Marcel Nadjari: „Ich werde mich nicht rächen können, wie ich es will“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 518 Ein Schrei nach Rache

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Marcel Nadjari: Text Text aus dem Jahr 1944

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Inhalt

Abraham Levite: Vorwort zur Anthologie „Auschwitz“ Zeit: am Vortag des Todes. Ort: auf dem Schafott. Abraham Levite: Text

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. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Statt eines Nachworts: ein Kassiber, der angekommen ist

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Anhang 1. Chronik ausgewählter Ereignisse im Zusammenhang mit dem Sonderkommando in Auschwitz-Birkenau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 559 2. Veröffentlichungen der Manuskripte der Mitglieder des Sonderkommandos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 573 3. Anus Mundi: Was die Befreier in Auschwitz sahen

4. Erste Aussagen der Mitglieder des Sonderkommandos

Karten

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. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Abkürzungen

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Literaturverzeichnis

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Vorwort von Hans-Heinrich Nolte

Genau und einfühlsam – Pavel Polians Edition der Schriftrollen von Auschwitz Was wir heute „Auschwitz“ nennen, war während des Zweiten Weltkrieges ein etwa 40  Quadratkilometer großer „Sonderbezirk“ der SS nahe der Stadt Oświęcim im damals von Deutschland besetzten Polen. In dem Bezirk gab es Wohnungen für SS-Leute, eine große Buna-Fabrik der I.G. Farben, landwirtschaftliche Produktionsstätten und Fischzuchtanlagen. Im Zentrum des Bezirks standen zwei Lager, Auschwitz I und Auschwitz-Birkenau, die in sich vielfältig unterteilt waren – Männer und Frauen, Juden und Roma, politische und kriminelle Häftlinge waren in besonderen, jeweils mit Stacheldraht umzäunten Abteilungen untergebracht. Die meisten Lagerinsassen waren Juden aus allen Teilen des besetzten Europa westlich des Bug. Die Häftlinge waren in Zügen nach Auschwitz gebracht worden und wurden auf dem Lagerbahnhof (der „Rampe“) danach begutachtet, wer noch arbeiten konnte („selektiert“). Der größere Teil – Frauen und Kinder, zu Alte und zu Junge – wurde unmittelbar in Bunker gebracht, die als Waschräume getarnt waren. Sobald die Türen geschlossen waren, wurde von oben Ungezieferbekämpfungsmittel (Zyklon B) hineingeworfen, das zum Erstickungstod führte. Der Todeskampf dauerte meist mehrere Minuten. Die Leichen der in diesen Massenmorden umgebrachten Menschen wurden in besonderen, von der Firma Topf & Söhne gebauten Öfen verbrannt. Um die Leichen in die Öfen zu schaffen, die Asche fortzubringen und nicht verbrannte Knochen zu zertrümmern, stellte die SS „Sonderkommandos“ aus den zur Arbeit selektierten Häftlingen zusammen. Im Mai 1944 bestand das Kommando aus 874 Mann, von denen nur 25 keine Juden (sondern nichtjüdische sowjetische Kriegsgefangene, Polen und ein Deutscher) waren. Mehrere Mitglieder des Sonderkommandos nutzten die mit der „Arbeit“ verbundene 9

Vorwort

größere Bewegungsfreiheit, um Kassiber und auch umfangreiche Blattsammlungen in Flaschen und anderem zu verstecken und diese Behältnisse zu vergraben: Nachrichten aus der Hölle. Am 7. Oktober 1944 wagte das Sonderkommando einen Aufstand, in dessen Verlauf ein Ofen zerstört werden konnte und immerhin zwölf Männern die Flucht gelang. Sie gehörten zu den wichtigsten Zeugen. Vergleiche mit der Hölle, mit dem siebten Kreis des Infernos, und Analogien zum „Anus Mundi“, dem „Arsch der Welt“, werden oft benutzt, um Auschwitz allgemein und die Lage des Sonderkommandos im Besonderen zu beschreiben. Die Arbeiter des Kommandos waren durch Stigmatisierung mit dem gelben Stern, Ausgrenzung aus ihren Nachbarschaften, Deportation aus ihrer Heimat in Viehwagen, Selektion und Trennung von ihren Familien auf der Rampe isoliert und in ihrer Selbstachtung verletzt worden. Sie wurden durch Hunger und Schläge körperlich gefügig gemacht. Man befahl ihnen eine Arbeit, die körperlich Brechreiz hervorrief und psychisch die Grund­ regeln jenes Ich zu zerstören drohte, mit dem und nach dem sie bis dahin gelebt hatten. Das massenweise „ganze Verbrennen“ von menschlichen Leichen, die letzte Phase des Holocaust, sollte die Opfer zu bloßer Materie, zu gleichförmiger Asche verwandeln und allgemein – gegen die jahrtausendealte Kultur des Menschen sowie konkret gegen die Gebote der jüdischen Religion – das Gedächtnis an die Juden vernichten. Für einen Historiker ist es leichter, diesen letzten Aspekt des Verbrechens zu begreifen zu suchen als Aspekte des bewussten Zerbrechens und Zermahlens von Menschen. Die Verbrennung der Leichen sollte nicht nur den Genozid der Deutschen an den Juden Europas verdecken, sondern auch die historische Existenz der Opfer und insbesondere der Juden nachträglich auslöschen, sollte den Beitrag von Menschen mosaischen Glaubens zur polnischen und deutschen, zur europäischen und zur globalen Geschichte sozusagen im Nachhinein zur Geschichtsfälschung, zu „Fake News“ machen. Deshalb bildeten die Verbrennungsöfen das Zentrum von Auschwitz und das Sonderkommando das Zen­ trum des Gedenkens, und die in der Asche überlieferten Papierrollen bilden heute das Zeugnis des jüdischen Über­lebenswillens selbst unter entsetzlichsten Bedingungen. Die Todgeweihten des Sonderkommandos (dass einige überlebten, hatte keiner erwartet) ­weigerten sich, an den Erfolg des nationalsozialistischen Rassenwahns zu glauben, und übermittelten der Nachwelt, die sie nach dem Sieg über den Nationalsozialismus erwarteten, Botschaften: Was wir erdulden, ist ungeheuerlich, aber findet und straft die Verbrecher! * 10

Vorwort

Die neun Texte, die aus der Erde von Auschwitz geborgen wurden, sind – wie der Herausgeber feststellt  – „die zentralen Egodokumente des Holocaust“. Von 36 Verstecken, über die ein Überlebender berichtet hatte, wurden immerhin neun gefunden. Pavel Polian macht diese neun mit seiner Edition für die breite Forschung zugänglich. Er stellt sie in den Rahmen der Geschichte ihrer Entdeckung im Kontext der Auseinandersetzungen des Kalten Krieges, der in der UdSSR das Verschweigen des ethnisch/religiös jüdischen Anteils und im Westen eine Ideologisierung der Debatte um die Opferzahlen mit sich brachte. Er berichtet über die Debatten um jüdisch-deutsche Kooperation im Rahmen des Holocaust und diskutiert die Rolle des Sonderkommandos. Er beschreibt die technischen Probleme der Rekonstruktion von Texten, die teilweise durch Feuchtigkeit gelitten haben. Dann folgt eine umfangreiche Geschichte der bisherigen Editionen, die bis zur russischsprachigen Ausgabe Polians 2013 nicht vollständig in einem Band gesammelt waren. Die Texte wurden im jiddischen bzw. griechischen Original sowie in Übersetzungen, auf Polnisch, Englisch, Neuhebräisch, Deutsch und Russisch publiziert. Für die von Polian vorgelegte Edition in deutscher Sprache wurden alle Texte aus dem Jiddischen bzw. Griechischen neu übersetzt; dabei mussten auch Übersetzungsentscheidungen getroffen werden, die nötig wurden, weil die jiddischen Dialekte unterschiedlich sind und Wortbedeutungen sich nach der Vernichtung der ost­jüdischen Welt nicht mehr unmittelbar erschließen. Polian benutzt wohl­gemerkt im deutschen Text das Wort „Jiddisch“, das in manchen Kreisen Deutschlands als abfällig gilt. An die umfangreiche Einführung schließt die genaue Edition der Texte an, selbstverständlich mit Angabe von Lücken, wo Schriftzeichen nicht mehr entziffert werden konnten oder ganze Sätze von Feuchtigkeit zerstört wurden. Die neun Editionen beginnen jeweils mit Darstellungen zu den Autoren und ihren Lebensumständen und bereiten auch inhaltlich auf die Analyse der Texte vor. * Pavel Polian wurde 1952 in Moskau geboren. Er besuchte eine Fremdsprachenschule (Englisch) und studierte Geografie; 1980 promovierte er und arbeitete bis 1991 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geografie der Akademie der Wissenschaften der UdSSR. In diesem Jahr nahm er ein Stipendium der Humboldt-Stiftung am kulturgeografischen Institut in Freiburg an und arbeitete nach dem Ende des Stipendiums 1993 als freier Wissenschaft11

Vorwort

ler. Einzelne Lehraufträge und Stipendien führten ihn nach Hannover, Paris, Princeton, Köln, Yale und Freiburg. 1998 wurde er in Moskau in Geografie habilitiert, 2008 zum Professor für dieses Fach an der Nordkaukasischen Universität Stavropol ernannt. 2015 wurde er Direktor des Mandelstam-Zentrums an der Hochschule für Wirtschaft und Vorsitzender der Mandelstam-Gesellschaft in Moskau. Der ungewöhnlichen Berufsentwicklung Polians entsprechen seine viel­ fältigen wissenschaftlichen Produktionen in drei Disziplinen  – Geografie, Philologie und Geschichte (sieht man hier davon ab, dass er unter dem Künstlernamen Pavel Nerler auf Russisch auch Gedichte veröffentlicht hat). Seine Publikationen im Fach Geschichte betreffen die Periode der Massenverbrechen der beiden Diktaturen. Ich führe im Folgenden die historischen Monografien zusammen mit zwei geografischen und einer literaturwissenschaft­ lichen auf, wobei ich die russischen Titel ins Deutsche übersetze: – Nicht aus eigenem Willen. Geschichte und Geografie der Zwangsmigrationen in der UdSSR. Moskau 2001 (englisch Budapest 2004, polnisch Gdańsk 2015). – Opfer zweier Diktaturen. Leben, Arbeit, Erniedrigung und Tod sowjetischer Kriegsgefangener sowie Ostarbeiter in der Fremde und in der Heimat. Moskau 1996. 2. wesentlich ergänzte Auflage Moskau 2002. (Die 1. Auflage erschien unter dem Titel „Deportiert nach Hause“ zum Teil auf Deutsch München 2001; die 2. Auflage in japanischer Übersetzung Tokio 2008.) – Verdammte gehen zugrunde. Schicksale sowjetischer jüdischer Kriegs­ gefangener im Zweiten Weltkrieg. Erinnerungen und Dokumente. Moskau 2006 (zusammen mit A. Shneer, Ausgabe in Hebräisch 2014). – Negation der Negation, oder: die Schlacht um Auschwitz. Debatten über die Demografie und Geopolitik des Holocaust. Moskau 2008 (zusammen mit A. Koch, Übersetzung ins Englische Boston 2011). – Die Wajnachen und die imperiale Macht. Probleme Tschetscheniens und Inguschetiens in der inneren Politik Russlands und der UdSSR (vom Anfang des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts). Dokumente und Materialien. Moskau 2010. – Zwischen Auschwitz und Babyj Jar. Überlegungen und Forschungen zur Katastrophe. Moskau 2010. – Zalman Gradovskij. Im Herzraum der Hölle. Schriften, die in der Asche neben den Öfen von Auschwitz gefunden wurden. Moskau 2010. – Territoriale Strukturen. Urbanisierung – Zersiedlung. Zugänge und Methoden der Forschung. Moskau 2013. 12

Vorwort

– Papierrollen aus der Asche. Das jüdische Sonderkommando in Auschwitz-Birkenau und seine Chronisten. Rostow am Don 2013. 2. und 3. ergänzte Ausgabe, Moskau 2015 und 2018. – Geschichtmord bzw. die Trepanation des Gedächtnisses. Schlachten um die Wahrheit über GULAG und Deportation, Krieg um den Holocaust. Moskau 2016. – Geografische Arabesken. Räume von Inspiration, Freiheit und Unfreiheit. Moskau 2017. – Ossip Mandelstams letzte Jahre: Verfemung, Verbannung und Tod eines Dichters, 1932–38. Paderborn 2017 (Übersetzung aus dem Russischen). (Hg.) Boris Menschagin. Errinerungen. Briefe. Dokumente. Moskau, 2019. Pavel Polian hat eine Vielzahl von Aufsätzen zu „seinen“ Themen publiziert. Eine deutschsprachige Auswahl zum Kontext dieses Buches: – Massenverbrechen in der Sowjetunion und im nationalsozialistischen Deutschland. Zum Vergleich der Diktaturen. In: Zeitschrift für Weltgeschichte 2.2 (2001). S. 125–147 (zusammen mit H.-H. Nolte). – Sowjetische Juden als Kriegsgefangene. Die ersten Opfer des Holocaust? In: G. Bischof u. a. (Hrsg.). Kriegsgefangene des Zweiten Weltkrieges. Wien u. a. 2005. S. 488–506. - Stalin und die Opfer des nationalsozialistischen Vernichtungskriegs. In: J. Zarusky (Hrsg.). Stalin und die Deutschen. München u. a. 2006. S. 89–110. – Hätte der Holocaust beinahe nicht stattgefunden? Überlegungen zu einem Schriftwechsel im Wert von zwei Millionen Menschen. In: J. Hürter, J. Zarusky (Hrsg.): Besatzung, Kollaboration, Holocaust. München u. a. 2008. S. 1–20. – Das Ungelesene lesen. Die Erschließung der Aufzeichnungen von Marcel Nadjari, Mitglied des jüdischen Sonderkommandos von Auschwitz-Birkenau. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 65 (2017). S. 597–618. Das Buch „Papierrollen aus der Asche“ wurde 2014 auf die Shortlist für den in Russland vergebenen Preis „Der Aufklärer“ gewählt. Ein großer Teil der Editionsarbeit wurde schon für die russische Ausgabe geleistet und diese liegt der deutschen zugrunde. *

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Vorwort

Mit der vollständigen und präzisen Edition der „Papierrollen aus der Asche“ hat Pavel Polian einen grundlegenden Beitrag zur internationalen HolocaustForschung geleistet. Mit dieser erweiterten deutschen Edition hat er die Quellentexte nun auch im Land der Täter zugänglich gemacht. Einen der Autoren der Papierrollen (Salmen Gradowski aus Suwałki) kennzeichnet er als „stark und empfindsam zugleich“. Das gilt auch für den Historiker und Herausgeber Polian, aber ich möchte es etwas anders formulieren: „genau und einfühlsam“. Wie ein sehr guter Historiker sein muss. Hans-Heinrich Nolte 

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Universitäten Hannover und Wien

Vorbemerkung Über dieses Buch Dem Entstehen und der Entwicklung dieses Buchs hat der Zufall gehörig nachgeholfen. Im Herbst 2004 entdeckten Nikolai Pobol und der Autor dieser Zeilen im Archivverzeichnis des Zentralen Wehrmedizinischen Museums in Sankt Petersburg, in dem sie nach Auskünften über sowjetische Kriegsgefangene suchten, einen Hinweis auf ein Notizbuch von Salmen Gradowski, einem Angehörigen des jüdischen Sonderkommandos in Auschwitz-Birkenau. Dieser rote Faden spann sich weiter, zum Sonderkommando als Phänomen an sich und zu seinen anderen Mitgliedern, die ebenfalls Aufzeichnungen hinterlassen hatten, die nach dem Krieg aufgefunden wurden. Die Entdeckung dieser Manuskripte in der Erde und Asche auf dem Gelände der Gaskammern und Krematorien von Auschwitz-Birkenau ist ein für die Geschichte des jüdischen Volkes ähnliches Wunder wie die Funde in der Genisa der Synagoge von Kairo Ende des 19. Jahrhunderts oder wie die Entdeckung der Schriftrollen vom Toten Meer 1947. Allerdings bedeuten diese „Schriften aus der Asche“ mehr, als dass sie einfach nur unseren Wissensstand erweitern: Sie haben unsere Selbstwahrnehmung, unsere Vorstellung vom Menschen umgekrempelt, wie Anna Schmaina-Welikanowa es ausdrückte1. Die Übersetzung ins Russische und die Veröffentlichung der Texte Salmen Gradowskis in den Jahren 2008–11 als Zeitschriften-2 und als Bucheditionen3 gaben einerseits den Anstoß zur Überlegung, auch andere Texte mit ähn­ lichem Schicksal in den wissenschaftlichen Umlauf zu bringen, und r­ egten andererseits zur Aufarbeitung des Sonderkommandos als eines historischen Phänomens an. 1 Anna Schmaina-Welikanowa über das Buch der Aussagen und Notizen der Mitglieder des Sonderkommandos aus dem KL Auschwitz-Birkenau, aufgezeichnet von Jelena Rybakowa. Im Internet: www.colta.ru/articles/literature/3114. 2 Drei Veröffentlichungen in der Zeitschrift „Swesda“ („Der Stern“) im Jahr 2008. 3 Zwei Publikationen im Verlag „Gamma-Press“ in den Jahren 2010 und 2011.

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Vorbemerkung

Dadurch ist der russischsprachige Vorläufer dieser Edition entstanden – ein Buch, das in Russland unter dem Kurztitel „Svitki iz pepla“ („Schriften aus der Asche“) bekannt geworden ist und unter verschiedenen Titeln und Untertiteln dreimal – 2013 im Verlag „Fenix“ in Rostow-Don, 2015 und 2018 im AST-Verlag in Moskau – veröffentlicht wurde. Davon ist die zweiteilige Struktur dieser Ausgabe geprägt. Die Herausgebersektion besteht aus einführenden Essays, die mit Einschätzungen zu den Opferzahlen und einem Überblick über die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch die Rote Armee beginnen. Es folgt ein Kapitel über das Sonderkommando als beispielloses historisches und psychoethisches Phänomen. Im Anschluss daran wird rekonstruiert, wie der Widerstand und die Rebellion vom 7. Oktober 1944 unter den Lagerbedingungen von Auschwitz-Birkenau organisiert wurden und in welchem Fluidum die Suche, die Ent­deckung und die Publikation der Manuskripte des Sonderkommandos in der Nachkriegszeit erfolgten. Auf die Besonderheiten der Manuskripte und ihrer Verfasser wird im zweiten Teil eingegangen, in den Einführungen zu den jeweiligen Texten. Dabei ist der erste Teil keine Monografie im wahrsten Sinn des Wortes als vielmehr eine Serie kurzer Abhandlungen, die nicht einem streng kausalen Erzählstrang folgen, sondern freier, gleichsam fächerartig arrangiert sind: Jede Abhandlung nuanciert das zentrale Thema auf ihre Weise, stellt einen eigenen, zusätzlichen Aspekt heraus. Der zweite Teil dieses Buches ist den Chronisten gewidmet oder besser gesagt: überlassen. Diese Sektion umfasst neun Texte jener fünf Mitglieder des Sonderkommandos, deren Manuskripte den Krieg überdauerten und in den Jahren 1945–80 entdeckt wurden – namentlich von Salmen Gradowski, Lejb Langfuß, Salmen Lewenthal, Herman Strasfogel und Marcel Nadjari. Als zehnter Text ist ihnen die Handschrift Abraham Levites hinzugefügt. Mit dem Sonderkommando in Birkenau hatte dieser Chronist nichts zu tun, doch war sein Text – das Vorwort zum Literaturalmanach „Dos zamlbukh Oyshvits“ – im Lager Birkenau nur wenige Hundert Meter von den Gaskammern und Krematorien entfernt geschrieben worden, wobei das Schicksal dieser Handschrift überaus problematisch und bemerkenswert ist. Insofern liegt hier gewissermaßen eine innere Anthologie in einem Buch vor, das aus Texten besteht, die einst von der Vorsehung „auserwählt“ wurden – weniger für den Druck als allein für den physischen Erhalt. Als eine nunmehr für die Veröffentlichung bestimmte Komposition geben diese Texte meiner Ansicht nach die unmittelbarste Vorstellung und den einprägsamsten Eindruck davon, was in den Gaskammern und Krematorien von Birkenau 16

Vorbemerkung

geschah. Frei von jeder Übertreibung lässt sich sagen: Das sind die zentralen Egodokumente des Holocaust. Angesichts der Bandbreite der Genres dieser Texte – von der Nachahmung der Prophetendichtung bis zum einfachen Alltagsbrief  – könnte diese Ausgabe quasi einem wieder zum Leben erwachten Almanach gleichgesetzt ­werden, nur fürchte ich, dass der Ansatz der „Oyshvits“-Redakteure bei all der Kühnheit doch deutlich bescheidener war. Jedem der sechs Chronisten ist im zweiten Teil ein eigener Abschnitt gewidmet, der mit einer kurzen Abhandlung über sein Schicksal, über die Entdeckung seiner Manuskripte sowie deren Übersetzung und Publikation eröffnet wird. Ferner folgen die eigentlichen Texte der Chronisten, die zumeist aus dem Original ins Russische und dann ins Deutsche übersetzt wurden, begleitet von Kommentaren, die ich mitunter gemeinsam mit den Übersetzern erstellt habe. Im Ergebnis steht der jeweilige Text im Mittelpunkt, umrahmt von einem eigenen kontextuellen Stoff. Die Übersetzung ins Russische erfolgte aus dem Original. Alle Texte des zweiten Teils sind vorher einzeln unter den Namen ihrer Autoren in der Wochen- und Tagespresse4 erschienen. Für diese Buchedition wurden sämtliche Übersetzungen nochmals überprüft und überarbeitet. Jene Fragmente, die bedauerlicherweise unentziffert geblieben sind, werden mit Auslassungszeichen […] markiert. Im Anhang sind zu finden: 1) die Chronik der Ereignisse im Zusammenhang mit dem Sonderkommando in Auschwitz-Birkenau; 2) das Verzeichnis der Textausgaben der Mitglieder des Sonderkommandos; 3) eine Sammlung sowjetischer Quellen darüber, was die Befreier der Roten Armee im Konzentrationslager Auschwitz am Tag der Befreiung vorfanden; und schließlich 4) die Protokolle der Verhöre der Mitglieder des Sonderkommandos Shlomo Dragon, Henryk Mandelbaum und Henryk Tauber – die allerersten Aus­sagen in der Reihe der Zeugnisse. Eine Auswahlbibliografie und ein Abkürzungsverzeichnis runden das Buch ab.

4 In den Zeitschriften „Swesda“ („Der Stern“), „Nowyj mir“ („Neue Welt“), „Ab Imperio“ und „Diletant“ („Der Dilettant“) sowie in den Zeitungen „Moskowskije nowosti“ („Moskauer Nachrichten“) und „Jewrejskoe slowo“ („Jüdisches Wort“). Siehe Anhang 2.

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Vorbemerkung

Begriffe und Termini Die Termini „Holocaust“ und „Shoah“ werden hier gemäß der üblichen Verwendung als Synonyme benutzt. Etymologisch unterscheiden sich die beiden Begriffe unterdessen erheblich: „Holocaust“ stammt aus dem Griechischen und heißt so viel wie „vollständige Verbrennung“, während „Shoah“ im Althebräischen „Unheil“ oder „Katastrophe“ bedeutet. Die Katastrophe einer Opfergabe gleichzusetzen, ist an sich mehr als fraglich. Doch das Russische wie das Deutsche kennt – im Unterschied zu anderen europäischen, mit dem Lateinischen verwandten Sprachen – keine lexikalische Abgrenzung zwischen den Opfertypen: den Opfern eines Genozids und jenen einer kultischen Darbringung oder Gewalt im umfassenden Sinn. Dieser Umstand überwindet den benannten Konflikt und lässt die weit verbreitete Verwendungspraxis von „Holocaust“ akzeptabel erscheinen. Anzumerken ist dabei, dass in der russischen Sprache gegenwärtig die synonymische Verwendung des Begriffs „Katastrophe“ an Bedeutung zunimmt. Einer eigenen Erklärung bedarf der für dieses Buch zentrale Begriff „Sonderkommando“. Diese Erläuterung wird auch gegeben, aber aus Gründen der epischen Ganzheitlichkeit nicht an dieser, sondern an einer anderen Stelle, nämlich zu Beginn des einschlägigen Kapitels „Die Handlanger des Todes: das Sonderkommando in Auschwitz-Birkenau“. Nun zum Begriff „Auschwitz“: So wurde die polnische Stadt Oświęcim während der deutschen Besatzung bezeichnet. Unter „Auschwitz  I“ ist dabei das Stammlager zu verstehen. Der Ortsname ist in die Bezeichnung der heutigen Gedenkstätte in der polnischen Stadt eingegangen. In allen anderen Kontexten der Nachkriegszeit ist die Verwendung des Toponyms „Oświęcim“ üblich. Die seit dem „Kalendarium“ von Danuta Czech5 von anderen Publikationen übernommene Kennzeichnung der Krematorien mit römischen Ziffern betrifft alle fünf Krematorien von Auschwitz und Birkenau und beginnt mit jenem Krematorium, das als erstes am Stammlager gebaut worden war; die anderen vier Krematorien sind – von Süd nach Nord betrachtet – mit den Ziffern II bis V nummeriert6. 5 Czech, 1989. S. 430. 6 Das Auschwitz-Museum übernahm damit letztlich die ursprüngliche Nummerierung der „Zentralbauleitung der Waffen-SS und Polizei Auschwitz“, die zur Bezeichnung der einzelnen Bauwerke benutzt wurde. Der Betrieb des alten Krematoriums im Stammlager Auschwitz wurde allerdings am 19. Juli 1943 eingestellt. Einige Monate später änderte daraufhin auch die Zentralbauleitung die bisherige Nummerierung (z. B. Krematorium III = Krematorium II).

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Vorbemerkung

Anders verfahren Gradowski, Lewenthal und Langfuß in ihren Texten. Sie nummerieren von I bis IV, denn das Krematorium I am Stammlager existiert in ihrer Wahrnehmung schlicht und ergreifend nicht, weil sie nur in Birkenau eingesetzt waren und dort die offizielle Nummerierung noch 1943 geändert worden war (I–IV). Um Verwirrung zu vermeiden, wurde die Kennzeichnung der Krematorien im gesamten Buch standardisiert; entsprechende Korrekturen wurden ohne weitere Hinweise vorgenommen.

Danksagung Ohne die Unterstützung vieler Menschen und einiger Einrichtungen wäre die Umsetzung dieses Projekts unmöglich gewesen. Zunächst möchte ich den Archivaren aus Russland, Israel, Polen und den USA danken, ohne deren Hilfe dieses Buch gar nicht hätte entstehen können – insbesondere den Mitarbeitern des Wehrmedizinischen Museums in Sankt Petersburg (WMM) A. Wolkowitsch, W. Grizkewitsch, W. Lopuchow und ganz besonders I. Kosyrin; den Mitarbeitern der Gedenkstätte Yad Vashem D. Bankier, N. Gelperin, I.  Gutman, N.  Cohen, R.  Margolina und ganz besonders M.  Yonin sowie A. Shneer; den Mitarbeitern des United States Holocaust Memorial Museum P. Black und ganz besonders P. Ilyin; den Mitarbeitern des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau in Oświęcim: F.  Piper, P.  Setkiewicz und ganz besonders W. Płosa und S. Kowalski; den Mitarbeitern des Jüdischen Historischen Instituts (ŻIH) in Warschau E.  Bergman, A.  Zbikowski und ganz besonders M. Czajka und J. Jagielski; den Mitarbeitern des Instituts für Nationales Gedenken in Warschau (IPN) R.  Łaszkiewicz und J.  Piwowar; den Mitarbeitern des Staatlichen Museums in Majdanek, Lublin, A.  Wojcik, T. Kranz und ganz besonders R. Kuwałek; den Mitarbeitern des Staatlichen Museums Stutthof in Sztutowo P. Tarnowski und B. Tartakowska. In der Reihe der Archivare muss auch Josef Wolnerman aus Jerusalem genannt werden  – der Sohn Chaim Wolnermans, jenes Entdeckers und ­Verlegers eines der Manuskripte Gradowskis, der das Material aufbewahrte und bereitstellte. Eine unschätzbare Hilfe war mir bei der Archivarbeit auch Nikolai Pobol aus Moskau. Mein großer Dank gilt den Übersetzerinnen der Texte der Sonderkommando-Mitglieder: Alexandra Polian, Alina Polonskaja und Dina Terlezkaja (alle aus Moskau); sie sind auch die Koautorinnen der Kommentare zu den 19

Vorbemerkung

übersetzten Texten. Jede der Genannten zeigte bei der Arbeit mit den Texten außerordentliche Einsatzbereitschaft. Das gleiche gilt auch für Yoel Matveev aus St. Petersburg, der „die Vertreibung“ von Langfuß ins Russische übersetzte sowie für Nils Kadritzke aus Berlin/ Athen, der den Brief von M. Nadjari aus dem Neugriechischen ins Deutsche übertrug. Ein ganz besonderer Dank geht an Roman Richter, der alles (mit Ausnahme von M. Nadjari) aus dem Russischen ins Deutsche übersetzte sowie an Andreas Kilian, der diese Arbeit und insbesondere ­vorliegende Ausgabe insgesamt mit seiner kenntnisreichen wissenschaft­ lichen Überarbeitung und tiefsten Empathie für das Thema des Buchs bereichert hat. Einen überraschenden und wertvollen Beitrag leistete für das ganze Projekt Alexander Nikitjaew, ein IT-Enthusiast aus Tula. Ihm und von ihm entwickelten und angewandten Methoden ist es zu verdanken, dass wir in dieser Edition erstmals über vervollständigte und überarbeitete Versionen der Texte von Nadjari und Langfuß verfügen. Auch anderen Kollegen, die dieses langjährige und überaus schwierige Projekt insbesondere in der letzten Phase mit Rat und Tat unterstützten, möchte ich danken: N. Chare (Montreal), G. Greif (Tel-Aviv), J. Carras (Freiburg/Athen), S.  Lopatenok (Sankt Petersburg), H.-H.  Nolte (Hannover), N. Nadjari (Athen), I. Rabin (Berlin), A. Rüdorff (Berlin), A. SchmainaWelikanowa (Moskau), A. Sternshis (Toronto), D. Williams (Leeds) und J. Zaruski (München). Mein besonderer Dank geht an den Programmleiter der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft (WBG) C. Heucke und den Lektor der WGB D. Zimmermann. Zu guter Letzt danke ich den Sponsoren dieses langfristigen und mehrstufigen Projekts, vor allem D. Hochbaum und dem Jewish Heritage Fund (New York), deren Förderung es ermöglicht hat, die allernötigste Erstrecherche in den Archiven und Bibliotheken von Moskau, Sankt Petersburg, Jerusalem, Warschau und Oświęcim vorzunehmen, sowie alle Texte Gradowskis, die uns vorlagen, zu übersetzen und mit Kommentaren zu versehen. Des Weiteren danke ich der Gesellschaft für jüdisches Erbe und Kultur sowie B. Sluzker, J. Tawor und S. Schuchman, die persönliche Mittel in die erwähnten Einzeleditionen der Bücher Gradowskis investiert haben. Ferner danke ich dem Russischen Jüdischen Kongress, der die Kosten der Übersetzung aller anderen Texte der Mitglieder des Sonderkommandos ins Russische und der Vorbereitung der Erstausgabe dieses Buches im Rahmen der Reihe „Switki is pepla: Swidetelstwa o Katastrofe“7 übernahm. Für die finan20

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zielle Unterstützung dieser Ausgabe bin ich der Wissenschaftlichen Buchgemeinschaft sehr verbunden.

7 Die Schriftenreihe „Schriften aus der Asche: Zeugnisse der Katastrophe“ selbst ist still und leise eingestellt worden. Betonen möchte ich die positive Rolle, die J. Kanner und L. Wittenberg bei den Verhandlungen mit dem jüdischen Kongress übernahmen, wie auch die zutiefst negative Rolle, die I. Altman und B. Briskin auf sich luden, indem sie die Reihe erfolgreich begruben. Dies ist ein lehrreiches Stück, aber nicht aus diesem, sondern aus irgendeinem anderen Buch.

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Leben und Tod in der Hölle

Die Residenz des Todes: die demografische Bilanz von Auschwitz Es ist verblüffend. Die Bestien nutzten einfach alles: die Haut, das Papier, die Stoffe, alles, was dem Menschen diente – das brauchten die Bestien, dafür hatten sie eine Verwendung. Nur die größte Kostbarkeit auf Erden – das menschliche Leben – traten sie mit Füßen. Wassilij Grossmann, „Die Hölle von Treblinka“

Dort in Zasole bauen die Deutschen Kamine und verbrennen alle Kinder Abrahams. Aleks „Storch“, jüdischer Junge aus Auschwitz15

Die Möglichkeiten der Vernichtung hatten auch in Auschwitz ihre Grenzen. Rudolf Höß

Das Gebiet und die Metropole des Holocaust Das Areal des Holocaust folgt in seinen Umrissen exakt dem Frontverlauf des Zweiten Weltkriegs auf dem europäischen Kontinent. Beherzt jagten und töteten die Kriegs- und Straforgane des Dritten Reichs und ihre zahlreichen Hilfswilligen die Juden überall in den besetzten Gebieten von Lappland bis Kreta, von Amsterdam bis Naltschik. Wären Rommels Panzer in den Sanddünen bei El Alamein nicht gestoppt worden, sondern in den Osten nach Jerusalem vorgestoßen, hätten die „Einsatzgruppen“ ihrem Ruf sicherlich alle Ehre gemacht: Sie standen ja schon in Griechenland16 bereit und warteten nur auf den Marschbefehl … 15 Schönker H. 2008. S. 36. „Zasole“ wird die Vorstadt bzw. der Stadtteil der polnischen Stadt Oświęcim genannt, der zwischen dem Fluss Sola und dem Bahnhof liegt, in dem auch das Stammlager Auschwitz errichtet worden war. 16 Mallman K.-M., Cüppers M. Halbmond und Hakenkreuz. Das Dritte Reich, die Araber und Palästina. Darmstadt 2011. S. 137–148.

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Die Residenz des Todes

Die inoffizielle Hauptstadt dieses auf Menschenhass gebauten Imperiums war das Konzentrationslager in Auschwitz, dem heutigen Oświęcim (im Jiddischen auch Oyshvits oder Uspitzyn genannt). Ein SS-Offizier17 nannte ­diesen Ort in aller Ehrlichkeit „Anus Mundi“ – „After der Welt“. Später würde man Auschwitz-Birkenau Namen geben, die bis dato jenseits menschlicher Vorstellungen gelegen hatten: „Vernichtungslager“, „Todesfabrik“, „Todesmühle“. Es würde Bezeichnungen für diesen Ort geben, die ganze Zeit­epochen begründen, die die Menschheitsgeschichte in eine Zeit vor und eine nach Auschwitz teilen – wobei es sich für die Zeit danach nicht mehr ziemen sollte, zu dichten. Wenn man Birkenau heute besucht, hält man beim Anblick der Stufen der Gaskammern, der Ruinen der Krematorien und der Bäume, die alles und jeden gesehen haben, unweigerlich den Atem an. Wenn man den Bogen des Lagertors hinter sich lässt und aus dieser Todesresidenz, dieser Welt der Mörder und Henker endlich hinaustritt, bleibt man intuitiv stehen, um die Lungen die entgegenströmende Luft aufnehmen zu lassen, um zu sich zu kommen. Wie nett und gemütlich dagegen doch das alte Inferno in Zeiten von Orpheus und Dante war … Vom teuflischen Fluch, der auf diesem Ort lastet, handelt eine Legende, die man durchaus als herzerweichend lesen könnte, wären da nicht der Horror und das Entsetzen, die sich hinter ihr verbergen. Es ist die Geschichte von Aleks „Storch“ aus Auschwitz, ein echtes chassidisches Gleichnis. Gestoßen bin ich auf diese Erzählung bei der Lektüre eines Buches von Heinrich Schönker, dem Sohn von Leon Schönker, dem letzten Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde von Auschwitz vor dem Krieg und dem ersten Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde von Oświęcim nach dem Krieg. Er war der einzige Jude, der versuchte, gewissenlosen polnischen Marodeuren jüdische Handschriften abzukaufen, die diese aus der Erde an den Krema­torien ausgegraben hatten: „Ich spielte oft am Fluss Sola und traf dort einen geistig zurückgebliebenen Jungen, der etwas älter war als ich, vielleicht elf Jahre alt. Er hieß Aleks, aber alle nannten ihn ‚Storch‘. Wenn man ihm eine kleine Münze gab, stellte er sich auf ein Bein, verdrehte die Hände, als seien es Flügel, schürzte seine Lippen zu einem Schnabel und ließ mit kreischender Stimme Vogellaute hören. Gab man ihm eine größere Münze,

17 Der SS-Arzt Kremer (Kremers Tagebuch, 1971).

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Leben und Tod in der Hölle

so tanzte er in dieser Position. Alle lachten, ‚Storch‘ auch, obwohl mich sein Gesicht eher an eine traurige Grimasse erinnerte. […] Aleks saß stundenlang, mitunter sogar ganze Tage an der Sola und beobachtete die Vögel am Himmel. Er sagte selten etwas, und wenn, dann nur unverständliche Worte ohne Zusammenhang. Unsere Freundschaft beruhte auf zwei Stückchen Brot mit Butter, die ich ihm jeden Morgen brachte. […] Eines Tages drehte er sich plötzlich zu mir, wies mit der Hand auf die andere Seite des Flusses und sagte mit völlig normaler Stimme: ‚Dort in Zasole bauen die Deutschen Kamine und verbrennen alle Kinder Abrahams.‘ […] ‚Woher weißt du das?‘, fragte ich bang. ‚Die Vögel haben mir davon erzählt‘, antwortete er und umfasste mich fester, so als wolle er mich vor einer unsichtbaren Gefahr beschützen. […] ‚Sie haben mir gesagt, dass es hier verbrannt riechen wird und dass sie mich verlassen müssen.‘ […] Ich wollte ihn noch etwas fragen, aber seine Augen trübten sich. Er hatte den Kontakt zur Welt wieder verloren. Das war im Winter 1939/40.“18

Doppelfunktion: ein Konzentrations- und ein Vernichtungslager Im Fachjargon der Henker würde es heißen, in Auschwitz-Birkenau sei jedem sechsten Opfer der Shoah das Leben entzogen worden (in Anlehnung an den verharmlosenden Begriff „Lebensentziehung“19). Nachfolgend betrachten wir, welche Einschätzungen zu den Opferzahlen dieses möglicherweise schaurigsten Ortes auf unserem Planeten im Verlauf der Jahrzehnte vor­genommen wurden. Aufschlussreich ist diese Betrachtung allemal. Entsprechende Quellen werden in den zahlreichen Abhandlungen aufgeführt, die in allen Sprachen und auf der ganzen Welt bis heute erschienen sind. Umfangreiche Primärquellen auf Grundlage von erhaltenen Archiven des Konzentrationslagers können dem Schriftenreihe „Hefte von Auschwitz“ entnommen werden wie auch anderen Herausgeberschriften, die von den wissenschaftlichen Mitarbeitern der Gedenkstätte Auschwitz veröffentlicht wurden. Eine kompakte, aber recht vollständige Übersicht dieser Quellen hat 18 Schönker, 2008. S. 35 f. 19 Dieser Begriff kommt in der technischen Dokumentation der Gaskammern und Krematorien vor. Nicht weniger perfide ist der Fachausdruck „Desinfektion“. Auch damit wurden zur Verschleierung Gaskammern bezeichnet (GARF. Bt. R-7021. Fb. 108. Nr. 30. Bl. 41 RS).

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Die Residenz des Todes

Franciszek Piper in seiner Monografie „Die Zahl der Opfer von Auschwitz aufgrund der Quellen und der Erträge der Forschung 1945–1990“ gegeben20. Befreit wurde Auschwitz am 27. Januar 1945 von Truppen der 1. Ukrainischen Front. Auf dem Territorium des Lagers arbeitete bald eine ganze Reihe sowjetischer Behörden und Kommissionen. Bevor die Deutschen das Lager evakuierten und verließen, hatten sie die systematische Vernichtung der Lagerarchive betrieben. Dennoch konnten die Befreier eine große Menge an Archivmaterial sicherstellen21. Am 26.  März 1945 waren die sichergestellten Unterlagen der Hauptarchivleitung des NKWD der UdSSR übersandt worden, wo sie geordnet, systematisiert und teilweise analysiert wurden. Der Teil des Lagerarchivs, der in die Sowjetunion gelangt war, wurde mit der Zeit auf drei Magazine verteilt: das Staatsarchiv der Russischen Föderation (GARF), das Russische staatliche Militärarchiv (RGWA) und das Wehr­medizinische Museum (WMM). Der Großteil der Unterlagen bezog sich auf die Zentralbauleitung der Waffen-SS und der Polizei Auschwitz, die im Lagerinteressengebiet ansässig war. Diese Dokumente gingen zwecks Analyse, Katalogisierung und operativer Verwendung beim sogenannten Sonderarchiv des NKWD der UdSSR ein, wo diverse Archivfunde gesammelt wurden (später ist das Sonderarchiv in das RGWA eingegangen). Ein anderer, kleinerer Teil der Dokumente stellte sich als das Archiv der Lagerkommandantur von Auschwitz heraus. Diese Originale sind an das WMM in Sankt Petersburg übermittelt worden – zur Erforschung medizinischer Aspekte von Leben und Tod in dem Konzentrationslager. Später wurde diesen Akten Salmen Gradowskis Manuskript in jiddischer Sprache hinzugefügt. Gradowski war ein polnischer Jude aus der Gegend von Grodno, Mitglied des Sonderkommandos und einer der Anführer des Aufstands vom 7. Oktober 194422.

20 Zitiert nach Piper, 1993. S. 151 f. 21 Diese Dokumente wurden vom NKWD-Bevollmächtigten der 4. Ukrainischen Front an die Hauptarchivleitung des NKWD der UdSSR mit dem Bescheid Nr. 6070 vom 2. März 1945 übergeben, im Zustand nahezu völligen Zerfalls. Vgl. den entsprechenden Bericht: „Archiw Germanskogo konzentrazionogo lagerja w Oswenzime (Auschwize). Kratkij obzor“ vom 4. September 1945, unterzeichnet vom Leiter der 3. Abteilung des Fachbereichs Organisation und Inspektion der Hauptarchivleitung des NKWD der UdSSR, Unteroffizier Miljuschin (GARF. Bt. P-7021. Fb. 108. Nr. 30. Bl. 1–45 RS). Den aufmerksamen Berichtsautoren entging es nicht, dass der ganze Themenblock bezüglich der Juden in den erhaltenen Dokumenten am wenigsten vertreten war (Bl. 9 RS). Dies war ein Indiz dafür, dass die Nazis vor dem Verlassen des Lagers vor allem Unterlagen von solchem Inhalt vernichtet hatten. 22 Genaueres dazu auf den Seiten S. 94 ff.

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Letztlich sind in das Korpus des staatlichen Sonderkomitees (TschGK)23 und schließlich in den Bestand des GARF hauptsächlich Unterlagen eingegangen, die während der Tätigkeit unterschiedlicher sowjetischer und sowjetisch-polnischer Ausschüsse zur Feststellung der Verbrechen des National­ sozialismus im ehemaligen KZ Auschwitz sichergestellt wurden. Diese Ausschüsse hatten zur Vorbereitung ihrer Berichte die vor Ort entdeckten Archivunterlagen herangezogen, die nachfolgend als Kopie im GARF und dann im RGWA und WMM archiviert wurden. Darunter befinden sich auch Dokumente, die unmittelbaren Bezug zur demografischen Bewertung von Auschwitz haben – nämlich die allerersten Schätzungen der Opferzahlen von Auschwitz, datiert vom 16. März 194524. Von grundlegender Bedeutung war das System der Auswahl und der Registrierung der Häftlinge dieses Konzentrationslagers, ein System, das unter der Bezeichnung „Selektion“ in die Geschichte eingegangen ist. Auschwitz hat diesen an sich positiven Begriff, der in der Vorkriegszeit eher mit Agrarwissenschaften assoziiert wurde, mit einer anderen Konnotation aufgeladen, die jede sonstige Nebenbedeutung in den Hintergrund gedrängt hat. Häftlinge, die für Zwangsarbeit, medizinische Versuche und andere den Köpfen der Nazis entsprungene Ziele herhalten mussten, wurden nach ihrer Ankunft auf einer Seite der Rampe25 aufgestellt – Alte, Kranke, Behinderte, Kleinkinder auf der anderen26. Es war keineswegs so, als wäre es für die Ersten ein Glücksfall gewesen, auf diese Weise „auserwählt“ worden zu sein: Sie wurden nicht etwa willkommen geheißen, sondern registriert, mit einer Häftlingsnummer am Unterarm versehen und in die Quarantäne gebracht. Es war so, als würde man ihnen sagen: „Wir werden dich noch brauchen. Du wirst arbeiten, wir geben dir sogar etwas zu essen. Also bleibe noch ein bisschen am Leben, aber verhalte dich ruhig.“ Den anderen, die auf der Rampe normalerweise die große Mehrzahl stellten, gab man etwas anderes zu verstehen: „Wozu sollen wir euch überhaupt 23 GARF. Bt. P-7021. Fb. 108. 24 Vgl. Anhang 3. 25 So wurde eine Plattform zwischen zwei Bahngleisen in Auschwitz und später in Birkenau bezeichnet. Auf dieser Plattform versammelten sich die Neuankömmlinge, nachdem sie aus den Bahnwaggons ausgestiegen waren. Hier fand die Selektion statt. 26 Es konnte aber passieren, dass auch Junge und Gesunde dieser Gruppe zugeteilt wurden, besonders wenn die Vertreter der SS – die Selektion wurde meist von zwei SS-Männern vorgenommen: einem Arzt und einem anderen Offizier – bei ihnen Goldzähne feststellten (vgl. Verhör des polnischen Juden Bruk, Schuster und ehemaliger Häftling, vom 19. Februar 1945: GARF. Bt. P-7021. Nr. 1. Bl. 108. Bl. 59).

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Die Residenz des Todes

registrieren? Ihr kommt ja auch gar nicht zu uns, sondern in ein ganz anderes Lager. Wir werden euch jetzt belügen, dass sich die Balken biegen. Wir werden euch etwas über Arbeitslager im Osten erzählen, über Duschen und Desinfektion. Ihr seid bitte so freundlich, ruhig zu bleiben. Geht einfach weiter in den Entkleidungsraum und macht, was man euch sagt.“ Wer die Selektion nicht überstanden hatte, auf den wartete, gleich um die Ecke gelegen, tatsächlich ein ganz anderes Lager. Dieses Lager war nicht so weitläufig, bestand es doch eigentlich nur aus einer Rampe, einem Weg, der in die Gaskammern führte, und dem Qualm, der aus den Schloten der K ­ rematorien aufstieg. Die anderen Häftlinge kamen gleichsam auf eine Durchgangsstation. Denn in den Baracken von Auschwitz, Birkenau, Monowitz und den dutzenden Nebenlagern warteten auf die Elendsgestalten – zumindest auf die Juden und die „Muselmänner“27 – laufende Selektionen mit anschließender Überführung in den Krankenbau des Männer- oder Frauenlagers und daraufhin in die Gaskammern und Krematorien28. Lebend verbrachte ein Häftling in Auschwitz im Schnitt circa neun Monate. Seine Sklavenarbeit, seine persönlichen Gegenstände, Zähne und Haare brachten den Henkern durchschnittlich 1.631 Reichsmark ein. Die aus einem Häftling gewonnene Asche ist in diesen Betrag nicht eingerechnet, obwohl die Lagerverwaltung auch dafür Verwendung fand29. Das Todeslager Auschwitz-Birkenau war ein durchaus innovativer Betrieb, der wie eine Fließbandfertigung funktionierte  – das Ergebnis der höchsten ideologischen und ingenieurtechnischen Anstrengung der besten nationalsozialistischen Köpfe. Selbst die wirtschaftsgeografische Lage stimmte: Das Konzentrationslager befand sich an einem Eisenbahnknotenpunkt. Die von Krakau nach Kattowitz und Gleiwitz verlaufende Querachse trifft dort (jenseits der Sola, näher an Birkenau) auf die Längsstrecke Warschau–Ostrau. Nichts ist dem Zufall überlassen, alles ist bis ins kleinste Detail durchdacht und technisch höchst raffiniert gelöst. Die Anlage zur Luftbeheizung in den Gaskammern beispielsweise hatte den Zweck, die Blausäure im Granulat dieses ganz speziellen „Desinfektionsmittels“ schneller verdampfen

27 „Muselmänner” wurden in den Konzentrationslagern Häftlinge genannt, die bis auf die Knochen abgemagert waren. Nach Selektionen innerhalb des Lagers wurden sie meist – weil für den Arbeitseinsatz ungeeignet – getötet. 28 Alle Häftlinge wurden regelmäßig von den Lagerärzten in Augenschein genommen. 29 Vgl. Strzelecki, 2000b. S. 134.

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zu lassen, auf dass der Tod nicht lange auf sich warten ließ. Oder die Abflussrinnen zum Sammeln des Menschenfetts in den Verbrennungsgruben zum Beispiel. Oder die Siebe für die Asche und die Werkzeuge zum Zerstoßen und Zermahlen unverbrannter Knochen. Oder die ganz besonderen Sanitätswagen mit den roten Kreuzen an den Seitenwänden, die die Dosen mit dem Granulat und die Mitarbeiter (Sanitätsdienstgrade) mit den Gasmasken transportierten, die täglich aufs Neue ihr Leben heldenhaft riskierten – für das höchste und edelste Ziel des Dritten Reichs: die Ent­judung Europas30. Anfänglich fiel das KZ Auschwitz in der Reihe ähnlicher SS-Einrichtungen nicht weiter auf. Es mag erstaunen, doch fanden hier bis Herbst 1941 keine Massenmorde statt und die erste Gruppe todgeweihter Häftlinge musste aus dem Lager sogar abtransportiert werden. Dies geschah am 28. Juli 1941, als ein Transport mit 575 kranken und invaliden meist polnischen Häftlingen nach Pirna-Sonnenstein geschickt wurde. In der sächsischen Kreisstadt Pirna lag eine der Zentralen der sogenannten Aktion T4 oder – wenn wir einen Euphemismus der Nazis gebrauchen – der Euthanasie („Aktion Gnadentod“). Alle 575 Menschen wurden dort vergast und ihre Leichen eingeäschert. Ihre Verwandten erhielten gefälschte Sterbeurkunden31. Mit ­diesen mehreren Hundert Polen beginnt die eigentliche Geschichte Auschwitz-Birkenaus als Vernichtungslager. Die Fortsetzung mit den Tausenden sowjetischen Kriegsgefangenen und den Hunderttausenden Juden ließ nicht lange auf sich warten. Auschwitz war fast das einzige Lager, das seine Funktion eines Konzentrationslagers sehr erfolgreich mit einer anderen Aufgabe vereinte – einer Aufgabe, die im Grunde seine wesentliche war, auch wenn administrativ nirgends erfasst: mit der Mission der „Lebensentziehung“ der Juden, ALLER Juden! Weitere Glieder dieses kleinen, aber überaus wirksamen Todesnetzes waren neben Auschwitz und Majdanek vier provisorische Vernichtungslager: Kulmhof, Treblinka, Bełżec und Sobibor32. Vermutlich ab Juni 1944 wurde die im 30 In den erhalten gebliebenen Verwaltungsakten ist eine leichte Vergiftung eines SS-Offiziers durch Zyklon  B festgehalten (vgl. Kommandantursonderbefehl von Kommandant Höß vom 12.  August 1942, in: Auschwitz-Prozeß 4 Ks 2/63, 2004. S. 292). 31 August, 2009. S. 171. 32 Lässt man die besetzten Sowjetgebiete außer Acht, wurde mit der Massenvernichtung der Juden als Erstes in Kulmhof begonnen, im Dezember 1941 (bis März 1943). Unweit von Lodz (damals Litzmannstadt) gelegen, war dieses Lager für die Vernichtung arbeitsunfähiger Juden sowie Sinti und Roma im Warthegau zuständig. Die gleiche Zuständigkeit hatten auch Treblinka, Bełżec und Sobibor, jedoch im Generalgouvernement (aktiv von Juli 1942 bis März/Oktober 1943). Koordiniert wurden sie im Rahmen der sogenannten „Aktion Reinhardt“, deren Ziel darin bestand, die Ermordung Reinhard Heydrichs durch tschechische Partisanen im Juni 1942 zu rächen. Die „Aktion Erntefest“ war

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KZ Stutthof installierte Gaskammer für die Desinfektion der Bekleidung zeitweise auch für die Ermordung von Menschen verwendet33. Von nun an stach der Vernichtungskomplex Auschwitz-Birkenau in jeder Hinsicht hervor. Dieses Lager im Lager eignete sich besonders zur Todes­ fabrik. Die Türen seiner Gaskammern waren es, die die brodelnden Reihen noch atmender Menschen in seinen Drachenleib hineinsogen; seine Scheiterhaufen und die Schlote seiner Krematorien waren es, die Tag und Nacht brannten und qualmten, sodass kein Birkenhain entlang des fernen Saums des Riesenlagers dieses schaurige Flimmern verbergen und vor dem süßlichen, Brechreiz erregenden Geruch von verbranntem Menschenfleisch schützen konnte. Das Ritual der Selektion mussten alle durchmachen. Und wenn die arbeitsfähigen und noch lebenden „Glückspilze“  – die mit den gestreiften Arbeitsanzügen und den eintätowierten Nummern  – endlich den Zusammenhang zwischen diesen Einzelphänomenen erkannten, dann fragten sie nicht mehr nach dem Schicksal ihrer Liebsten und Verwandten, von denen sie sich auf der Rampe für immer verabschiedet hatten …

Die Probanden: sowjetische Kriegsgefangene Die Anzahl solcher kurzfristigen Insassen dieses „unsichtbaren“ Lagers belief sich Franciszek Piper zufolge auf 880.000 Menschen. Die überwiegende Mehrheit, 98 Prozent, waren Juden. Die restlichen zwei Prozent entfielen auf sowjetische Kriegsgefangene, Polen und die unbekannten Häftlinge anderer Konzentrationslager, die zum selben „humanen“ Zweck nach Auschwitz deportiert wurden: um ihnen auf wirtschaftlich effiziente Weise das Leben zu entziehen oder um sie in einem „Experiment“ zu töten. Genau genommen waren die Selektion und die Vergasung ursprünglich auch nur Experimente gewesen. Die erste experimentelle Erfahrung machte man mit 2.000 sowjetischen Kriegsgefangenen. Mit diesem Versuch fing in Auschwitz alles an. Die 2.000 Mann wurden im September 1941 nach Auschwitz gebracht (möglich ist, dass einige Hundert schon im August eingeliefert worden und

Teil dieser Racheaktion, die am 3. November 1943 ihren Höhepunkt erreichte, als im Gegenzug für den Aufstand in Sobibor nahezu alle Juden aus Lublin und dessen Umland ohne vorherige Selektionen nach dem Grad ihrer Arbeitsfähigkeit erschossen wurden. 33 Nach Stutthof wurden baltische Juden deportiert sowie Teile jener Transporte gebracht, die von Ende Juni bis November 1944 aus Auschwitz weitergeleitet wurden, weil dieses KZ mit dem verstärkten Zustrom der Häftlinge aus Ungarn und Litzmannstadt überlastet war.

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als Versuchskaninchen umgekommen waren). Sie kamen aus den umliegenden Stalags34, wo sie kurz zuvor selektiert und die einen als Politkommissare, die anderen als Juden überführt worden waren. In den Stalags im Reichsgebiet durften sie nicht erschossen werden, also brachte man sie – in strenger Übereinstimmung mit den Einsatzbefehlen des RSHA-Leiters Heydrich – an die eigens dafür eingerichteten Orte. Erschießen konnte man sie schließlich jederzeit. Wäre es da nicht besser, man würde sie der Wissenschaft opfern? Zumal einer Wissenschaft, die in diesem Reich von zentraler Bedeutung war: der Wissenschaft vom Töten von Menschen. Die Geschichte sowjetischer Kriegsgefangener im Kriegsgefangenenlager der SS in Auschwitz teilt sich in eine legendarisch (hauptsächlich mündlich) und eine dokumentarisch überlieferte. Die Letztere begann am 6.  Oktober 1941, als für die sowjetischen Häftlinge erstmalig eine eigene Kartei angelegt wurde. Die legendarisch überlieferte Geschichte beginnt beinahe drei Monate früher, Mitte Juli. Das war, wie der Häftling Kazimierz Smolen berichtet, der Zeitpunkt, an dem der erste Transport mit sowjetischen Kriegsgefangenen in Auschwitz ankam35. Jerzy Brandhuber zufolge habe der Lagerkommandant Rudolf Höß dies bestätigt und angegeben, dass sie in kleinen Gruppen von den Stapo-Leitstellen Breslau, Troppau und Kattowitz gekommen seien36. Der Warschauer Baranowski teilte dem TschGK mit, die erste Gruppe sowjetischer Kriegsgefangener, circa 400 Menschen, sei am 13.  August 1941 in Auschwitz angekommen. Sie seien gleich nach der Ankunft, ohne registriert zu werden, im Lagergefängnis, dem Block 11, untergebracht worden, von wo aus man sie zum Arbeitseinsatz in den Kiestagebau eskortiert habe37. Wahrscheinlicher ist es, dass die erste Gruppe der Kriegsgefangenen nicht vor der zweiten Augusthälfte ins KZ eingeliefert wurde. Denn erst am 14. August erging der „Organisationsbefehl Nr. 40 OKW über die Organisation von Kriegsgefangenenlagern im Reichsgebiet“, dem gemäß im Militärbezirk VIII zwei Stalags auf ehemaligen Schießübungsplätzen angelegt wurden:

34 Von „Stammlager“: dauerhaftes Internierungslager der Wehrmacht für Kriegsgefangene – im Unterschied zum Durchgangslager, Dulag. 35 Brandhuber, 1961. S. 15. 36 APMA-B. Höß-Prozess. Bd. 21. Bl. 2, 162. Dies bestreitet Reinhard Otto (Wehrmacht, Gestapo und sowjetische Kriegsgefangene im deutschen Reichsgebiet 1941/42. München 1998. S. 90, Anm. 17). 37 GARF. Bt. P-7021. Fb. 108. Nr. 38. Bl. 21. Seiner Aussage nach wurden sie und 100 an Tuberkulose erkrankte Polen bald darauf vergast. Siehe auch die Aussagen von Ludwik Rajewski (APMA-B. HößProzess. Bd. 4, Bl. 53–58) und Bogdan Glinski (APMA-B. Prozess gegen die SS-Mitglieder des Auschwitzer Lagers. Bd. 54b, Bl. 207).

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Nr. 308 in Neuhammer nahe Breslau und Nr. 318 in Lamsdorf in der Nähe von Oppeln. Aus diesen zwei Lagern kam später der Großteil registrierter Transporte im Konzentrationslager an. Doch an welchem Tag auch immer die erste Gruppe sowjetischer Kriegs­ gefangener ins Lager gebracht wurde  – aus wem sie bestand, lässt sich mit Bestimmtheit sagen: aus todgeweihten Politoffizieren und Juden, die vom argwöhnischen SD aufgespürt und zur Hinrichtung nach Auschwitz geschickt worden waren. Zu diesem Zweck gab es im Lager zwei Erschießungsorte: die Kiesgrube und die sogenannte Todeswand im Hof des wohl grauenvollsten Blocks des ganzen Lagers, des Blocks 11, in dessen Keller­geschoss das Lagergefängnis untergebracht war (auch „Todesblock“ und „Bunker“ genannt). Bald aber ließ man von der Verschwendung der Kugeln ab, nachdem nämlich Hauptsturmführer Karl Fritzsch, Schutzhaftlagerführer und Höß‘ Stellvertreter, das Hinrichtungsverfahren revolutioniert hatte. Er war es, der vorgeschlagen hatte, ein wenig mit den Pestiziden herumzuexperimentieren, insbesondere mit dem Cyanwasserstoff „Zyklon B“, einem Gift zur Vernichtung von Ungeziefer bei der Entwesung von Massenunterkünften und bei der Entlausung von Bekleidung, das in Auschwitz vorrätig lagerte38. Es fanden insgesamt drei Versuche solcher Art statt. Sie alle werden in Höß‘ Aufzeichnungen erwähnt und vereinzelt auch in anderen Quellen. Der allererste fiel in die Zeit Ende August, als Höß zur Unterredung mit Eichmann nach Berlin gerufen wurde. Erörtert wurden dort logistische Fragen jener künftigen Aufgabe, die die Stadt Auschwitz als Epizentrum der Judenvernichtung weltberühmt machen sollte. Während sein Chef abwesend war, beschäftigte sich der Schutzhaftlager­ führer Fritzsch mit Umsetzungsmöglichkeiten des Holocaust. Er probierte die in Auschwitz vorhandenen Pestizide mal eben an den Versuchskaninchen, den sowjetischen Kriegsgefangenen, aus39. Es geschah offenbar Ende August im sogenannten Bunker in Block 11. Ob es nun genau so oder doch etwas anders war – die Voraussetzungen für einen solchen Versuch waren alle exakt zu diesem Zeitpunkt gegeben: Vorhanden waren ein geeignetes Gebäude, das töd­ liche Gift und die Opfer, über deren Anzahl nichts bekannt ist. Über das zweite Experiment wissen wir unvergleichlich mehr, nicht allein von Höß. Es fand vermutlich zwischen dem 3. und 5. September 1941 statt

38 Zu Eigenschaften und Wirkung des Gases siehe S. 56 f. 39 Czech, 1989. S. 115 f.

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und kostete 850–860 Menschen das Leben: 600 sowjetische Kriegsgefangene40 240–250 Häftlinge aus dem Häftlingskrankenbau sowie zehn polnische Sträflinge, kollektiv verurteilt wegen der Flucht von Jan Nowaczek am 1. September41. Offensichtlich hatte man sich auf das Experiment vorbereitet: Das Evidenzbuch im Block 11 verzeichnet für die Zeit vom 31. August bis 5. September keine Neuzugänge42. Am Abend des 3.  September wurde im gesamten Lager eine Sperre verhängt: Unter Androhung der Todesstrafe war es verboten, die Schlafblöcke zu verlassen43. Als Ort der experimentellen Hinrichtung wurden die Kellerräume des 11. Blocks ausgesucht, deren vergitterte Fenster nur als kleine Öffnungen ins Freie zeigten. Diese Fenster wurden mit Erde zugeschüttet. Nun füllten die Opfer die Räumlichkeiten. Zehn zum Tod verurteilte Polen befanden sich zu dem Zeitpunkt ohnehin in dem Block44. Zudem brachten Sanitäter aus dem benachbarten Krankenbau rund 250 tuberkulöse Polen dorthin, die am Vortag vom Standortarzt Dr. Siegfried Schwela ausgesucht worden waren. Dann wurden 600 sowjetische Kriegsgefangene hineingeführt, die höchstwahrscheinlich gerade erst angekommen waren – möglicherweise waren es alle Kriegsgefangenen, die sich gerade im Lager befanden. Es ist durchaus denkbar, dass die Experimentatoren sich für die Unterschiede in der Lebensfähigkeit zwischen den kranken und den noch relativ gesunden Menschen interessierten. Der Tod sei schnell eingetreten, jedes der Opfer habe nur kurz aufschreien können – damit brüstete sich Höß in seinen Memoiren. Die Wirklichkeit war jedoch eine etwas andere: Als Rapportführer Palitzsch am 4. September, dem Tag nach der Hinrichtung, eine Gasmaske tragend, die Tür dieser Versuchskammer öffnete, sah er, dass einige sowjetische Kriegsgefangene noch am Leben waren. Augenblicklich wurden die Türen wieder geschlossen, noch mehr Gas wurde hineingegeben. Erst um die Mittagszeit wurden die Türen 40 Brandhuber behauptet, es habe sich um Offiziere und Kommissare gehandelt. Die Aussagen der Mitglieder des provisorischen Sonderkommandos, die die Ausweispapiere der Getöteten gesehen haben sollen, bestätigen dies. Brandhuber führt jedoch entgegen seiner Gewohnheit keine Quellen an (Brandhuber, 1961. S. 17). 41 Czech, 1989. S. 116 f. Lachendro J., Soviet Prisoners of War in Auschwitz. Oświęcim 2016. S. 10 f. 42 Czech, 1989. S. 117. Mit Verweis auf: APMA-B. Höß-Prozess. Bd. 2. Bl. 97; Bd. 4. Bl. 21, 34, 99, 128; Bd. 54. Bl. 207; Bd. 78. Bl. 1. Aussagen ehemaliger Häftlinge. 43 Interview mit Sobolewski (YVA. 03/8410. P. 31). Diese Lagersperre war mehr als die übliche „Sperrstunde“, die jeden Abend im Konzentrationslager verhängt wurde. 44 Wegen des Experiments wurden alle anderen Häftlinge des Lagergefängnisses in Block 5a verlegt.

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wieder geöffnet und die Fenster des Kellers zum Lüften von der Erde befreit. Am Abend gab es dann wieder eine Ausgangssperre. Im Hof von Block 11 wurden 20 Sträflinge aus dem Block 5a (wohin sie zeitweise aus dem Gefängnisblock verlegt worden waren), alle Sanitäter und zwei Hilfsarbeiter aus der Leichenhalle mit Karren zum Abtransport der Leichen ins Krematorium versammelt (eine Art Vorläufer des Sonderkommandos). Ihnen wurde Zusatzverpflegung versprochen und aufs Strengste befohlen, kein Wort über die Aktion zu verlieren. Die ganze Nacht dauerten die Arbeiten, eingeteilt in vier Etappen und dementsprechend in vier Gruppen. Die erste Gruppe (mit Gasmasken) holte die Leichen aus dem Keller heraus. Die zweite entkleidete sie: Kranke trugen nur Unterwäsche, Kriegsgefangene hingegen Uniformen, in deren Taschen Papiere, Geld und Zigaretten zu finden waren. Die dritte Gruppe trug die Leichen in den Hof des Lagergefängnisses, die vierte lud sie auf die Karren und fuhr sie ins Krematorium. Nur schafften sie es nicht, bis Tagesanbruch fertig zu werden, weshalb die Arbeit am Tag darauf – zur selben Zeit und von denselben Gruppen – fortgesetzt wurde. Besonders schlecht lief es mit der Entlüftung der provisorischen Gaskammer und der Einäscherung der Leichen. Dafür wurden noch mehrere Tage benötigt. Die Strafkompanie konnte erst am 11. September in „ihren“ Block 11 zurückkehren. Das nächste, dritte Experiment fand am 16.  September statt, dann aber bereits in der Leichenhalle des Krematoriums. Denn die Nutzung des 11. Blocks bereitete so viele Probleme, dass sie als unzweckmäßig aufgegeben wurde. 900 Menschen, allesamt sowjetische Kriegsgefangene, hielten als Versuchsopfer her45. Informationen über die Vergasung sowjetischer Kriegsgefangener und polnischer Sträflinge sickerten jedoch nach außen durch, möglicherweise durch die Arbeiter im Krematorium. Im „Informator bieżący“ („Laufender Anzeiger“), dem Untergrundreport des Oberkommandos des Verbandes für den bewaffneten Kampf, vom 17.  November 1941 wird das Ereignis auf den 5.–6. September datiert: An diesen Tagen wurden die letzten Leichen aus dem zweiten Experiment im Krematorium angeliefert. In seinen Aufzeichnungen vermerkte Höß, von Eichmann Einzelheiten über die Tötungsmöglichkeiten erfahren zu haben, wie Vergasungen im industriellen Ausmaß durchzuführen seien46. Höß verschweigt dabei in aller 45 Höß, 2008. S. 189; Czech, 1989. S. 122. 46 Eichmann bestritt diese Darstellung entschieden. Vgl. Koop V. Rudolf Höß. Der Kommandant von Auschwitz. Eine Biographie. Köln, Weimar, Wien 2014. S. 229 f.

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Bescheidenheit, dass in Auschwitz bereits unabhängige Versuche unternommen worden waren. Was die dokumentarisch überlieferte Geschichte sowjetischer Kriegsgefangener in Auschwitz betrifft, so begann diese offiziell schon am 15. September. An diesem Tag wurde nämlich das „Russische Kriegsgefangenen-Arbeits­lager“ innerhalb des Konzentrationslagers Auschwitz offiziell eröffnet. Dafür wurde praktisch der gesamte Lagerbereich links von dem Lagertor bereit­gestellt und von einem Elektrozaun eingefasst: die Blöcke 1–3, 12–14 und 22–24 – zwischen den Blöcken 14 und 2447 wurde der Eingang48 eingerichtet. Verwaltungstechnisch handelte es sich um ein Arbeitslager der SS und der Polizei, nicht der Wehrmacht – wie alle anderen Stalags und Dulags49. Der zweite Meilenstein dieser Geschichte ist der 1. Oktober 1941. Ab ­diesem Tag existierte in der Lagerverwaltung eine SS-Sonderbauleitung für die Errichtung eines Kriegsgefangenenlagers in Birkenau unter der Aufsicht des SS-Oberführers Hans Kammler. Am 3. November wurde diese Abteilung mit der SS-Neubauleitung Auschwitz zusammengelegt, woraus die Zentralbauleitung der Waffen-SS und Polizei in Auschwitz unter der Führung von Karl Bischoff 50 hervorging. Als Maximilian Grabner, Leiter der Politischen Abteilung des Konzentrationslagers und für die Registrierung der Häftlinge zu­ständig, sich an Höß mit dem Vorschlag wandte, Ordnung in das Regis­ trierverfahren sowjetischer Kriegsgefangener zu bringen, sagte der Letztere mit einem Lächeln: „Machen Sie sich keine Sorgen. Die leben ohnehin nicht mehr lange.“51 Das dritte relevante Datum ist der 6. Oktober 194152. An diesem Tag wurden im Lager die ersten sowjetischen Kriegsgefangenen registriert, wie aus den Bruchstücken der teils erhaltenen Namenskartei hervorgeht. Das sind nur Fragmente aus der Anfangszeit des Lagers: Karteikarten mit den Daten von

47 Im 24. Block befand sich die Häftlingsschreibstube sowie ab Oktober 1943 auch das Lagerbordell. 48 Czech, 1989. S. 122. Mit Verweis auf: APMA-B. Höß-Prozess. Bd. 4. Bl. 71, 122; Bd. 7. Bl. 219. Und auch: Brandhuber, 1961. S. 18. 49 Ein ähnliches Gebilde gab es nur noch in Majdanek. Das dortige „Kriegsgefangenenlager der WaffenSS Lublin“ wurde auf Anweisung Himmlers vom 16. Februar 1943 (APMM. Ifl17) in „Konzentrationslager Lublin“ umbenannt. 50 Czech, 1989. S. 137 f. Mit Verweis auf: APMA-B. D-Au I-3а. Bd. 17. Bl. 289, 292. 51 GARF. Bt. P-7021. Fb. 108. Nr. 34. Bl. 25. Das galt insbesondere für die jüdischen Kriegsgefangenen. Eigens um sie auszumachen, wurde bei der Registrierung der Kriegsgefangenen eine ärztliche Untersuchung vorgenommen. Dazu gehörten auch die komplette Entblößung und das Runterlassen der Unterhosen. 52 Lachendro J. Soviet Prisoners of War in Auschwitz. Oświęcim 2016. S. 15, Anm. 20.

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7.641 Menschen, von denen die meisten mit den ersten 9.908 Kriegsgefangenen in sechs Transporten im Verlauf von weniger als zwei Wochen in Auschwitz eingeliefert wurden. Die ersten 100 (exakt 100) Kriegsgefangenen wurden am 6. Oktober 1941 registriert. Zwei große Gruppen zu circa 1.800–1.900 Menschen wurden am 7. und 9. Oktober ins Register eingetragen (3833 ist die letzte Häftlingsnummer). Dem Eintrag folgt eine auffällige Lücke von rund 250 Menschen (die Häftlingsnummern 3834 bis 4087). Dann wurden wieder circa 900 Menschen registriert, die ebenfalls am 9.  Oktober angekommen waren (die Häftlingsnummern 4088 bis 4999). Die annähernd gleiche Anzahl von Neuankömmlingen wurde am 14.  Oktober erfasst (Häftlingsnummern 5000 bis 5899). Denen folgen die Ankömmlinge vom 19. und 20. Oktober (bis zur Häftlingsnummer 7900). Mit diesen Daten korrelieren die Angaben zu den Transporten mit sowjetischen Kriegsgefangenen. Die ersten beiden dokumentierten – mit 2.014 bzw. 2.145 Personen – kamen aus dem Stalag 308 in Neuhammer dementsprechend am 7./8. und 9. Oktober. Ein Abgleich mit der Anzahl der Registrierten ergibt einen Unterschied von 300 und 500 Menschen: Das sind sie, die ersten Selektionen, die noch nicht zur Routine geworden sind53. Drei weitere Transporte mit sowjetischen Kriegsgefangenen kamen am 19., 20. und 25. Oktober aus den Stalags 308 und 318 (jenem in Lamsdorf), mit jeweils 1.955, 986 und 1.908 Menschen. Registriert wurde zudem eine Gruppe von 75 Personen, angekommen aus Neuhammer am 15. November. Erhalten ist auch ein Totenbuch: das Todesregister sowjetischer Kriegsgefangener54. Deren natürliche Sterberate – nach der Selektion, aber ohne Vergasung – war einfach gewaltig: An den ersten 144 Tagen, an denen das Register geführt wurde, starben 8.320 Menschen. Dabei starben im Oktober 1941 pro Tag im Schnitt 50 Personen, im November 124, im Dezember 62, im Januar 33 und im Februar 1942 15 Personen. Die Auswertung der Kartei und der Totenbücher zeigt, dass von den Menschen, die nicht später als am 20. Oktober 1941 registriert worden waren, bis März 1942 nur 1.688 überlebten. Ihre durchschnittliche Lebenserwartung im Lager betrug zwei, höchs-

53 Czech, 1989. S.  126. Mit Verweis auf: APMA-B. Höß-Prozess. Bd.  4. Bl.  64, 71, 128; Bd.  7. Bl.  219; D-Au I-3/1…7646. Kartei der russischen Kriegsgefangenen. Über den ersten Transport ist bekannt, dass er einer Desinfektion in kalter Flüssigkeit unterzogen wurde. 54 APMA-B. D-Au I-5/1. Das Register umfasst den Zeitraum vom 7. Oktober bis zum 28. Februar 1942.

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tens jedoch vier Wochen55. Den Höhepunkt erreichte das Sterben an den ersten vier Novembertagen, als jeweils 253, 213, 278 und 352 Leichen registriert wurden, und vom 13. bis 15. November mit 284, 255 und 201 Toten56. Die Sonderkommission der Gestapo unter der Führung von Dr. Rudolf Mildner, Leiter der Kattowitzer Gestapo, die zum Monatswechsel Oktober/ November nach Auschwitz gekommen war, teilte die Kriegsgefangenen in vier Gruppen ein: fanatische Kommunisten (rund 300 Menschen), politisch Belastete (700), politisch Unverdächtige (8000) und zum Wiederaufbau Geeignete (30). Anders gesagt wurde im November die Selektion nach gesundheitlichen Aspekten um die Selektion nach politischen Gesichtspunkten erweitert. Insofern ist nicht auszuschließen, dass die „Todes­rekorde“ im November auf die „fanatischen“ Kriegsgefangenen zurückzuführen sind57. Die körperlich relativ kräftigen „Fanatiker“ wurden entweder im Hof des 11. Blocks erschossen oder von Ärzten durch Phenolspritzen getötet. Die Leichen wurden im Krematorium I eingeäschert; wenn es aber wegen Wartungsarbeiten geschlossen war – wie etwa am 19. November –, wurden sie nach Birkenau gebracht, um dort in Massengräbern verscharrt zu werden. Die arbeitsfähigen Kriegsgefangenen wurden vom ersten Tag an geschunden. Allerdings wurde erst in einem Schreiben des Inspekteurs der Kon­ zentrationslager und des Bevollmächtigten für den Arbeitseinsatz vom 29.  November die Verwendung der Kriegsgefangenen in Aussicht gestellt. Dementsprechend wurde auch die Pflicht eingeführt, die arbeitenden Kriegsgefangenen statistisch genauso zu erfassen wie andere Gruppen auch. Zweimal monatlich, am 1. und 15. eines Monats, wurden die Anzahl der Gefangenen, die Anzahl der Facharbeiter unter ihnen und deren Verwendung nach Berufsgruppen gemeldet58. Ende des Jahres wurde der Bau eines neuen, gigantischen Lagers für Kriegsgefangene in Birkenau beschlossen, das auf 100.000–125.000 Menschen ausgelegt sein sollte59. Eine Entscheidung, hinter 55 Brandhuber, 1961. S. 33, 36. Vgl. auch Czech, 1989. S. 131–136. Mit Verweis auf: APMA-B. D-Au I-3/1… 7646. Kartei der russischen Kriegsgefangenen; D-Au I-5/1б. Kgf. Lager Auschwitz, Totenbuch, Krankenbau. 56 Brandhuber, 1961. S. 33, 25. 57 Jean-Claude Pressac hielt – völlig unbegründet und alle anderen Hinweise ignorierend – die Arbeit dieser Kommission für die wichtigste Voraussetzung der ersten Vergasung, die er dementsprechend auf Dezember 1941 datierte (Pressac, 1995. S. 41 f.). 58 Czech, 1989. S.  148. Mit Verweis auf: APMA-B. IZ-13/89. Verschiedene Akten des Dritten Reichs. Bl. 259. 59 Der erste genehmigte Plan für 100.000 Gefangene wurde bereits am 14. Oktober vorgelegt. Schulte J. E. Vom Arbeits- zum Vernichtungslager. Die Entstehungsgeschichte von Auschwitz-Birkenau 1941/42, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 50 (2002). S. 41–70, hier S. 52.

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der sich der Übergang zur massiven Konzentration und die Vorbereitung auf den Massenmord nicht mehr an Kriegsgefangenen, sondern – ab 1942 – an den Juden verbergen. Die genaue Anzahl der Auschwitz-Häftlinge, die in der Zeit vor 1942 ums Leben kamen, ist unbekannt. Schätzungsweise waren es 20.000. Im Verlauf des Jahres 1941 wurden über 27.000 Häftlinge ins Lager eingewiesen, darunter 9.997 registrierte sowjetische Kriegsgefangene und 17.270 andere. Die Todesrate unter den Registrierten betrug 83 Prozent. Das Konzentrationslager Auschwitz, das im Juni 1940 als eine Art Internierungslager und teils auch als Umschlagplatz für polnische Gefangene aus den Gefängnissen in Oberschlesien und dem Generalgouvernement geschaffen worden war, wuchs aus diesen Funktionen schnell heraus und entpuppte sich als das Herzstück der schwersten Repressionen und schließlich der Vernichtung der sowjetischen Kriegsgefangenen und teils auch der polnischen politischen Häftlinge. Neben der indirekten Einwirkung auf die Gefangenen (menschenunwürdige Haftbedingungen in Kombination mit schwerster Arbeit) wurden hier auch direkte Vernichtungsmethoden eingesetzt: Massenmord an Kriegsgefangenen und polnischen Gefangenen durch medizinische Versuche, Erschießung, Einspritzung von Phenol oder Vergasung. Auf die unverblümte Frage, wem es im KZ Auschwitz schlechter gegangen sei – den Juden oder den sowjetischen Kriegsgefangenen –, sagte der polnische Zeuge Sigmund Sobolewski, Auschwitz-Häftling mit der Nummer 88, ohne nachzudenken: „den Kriegsgefangenen“60.

Einschätzungen zu den Opferzahlen Die drei für das Schicksal der Juden maßgeblichen Praktiken von Auschwitz – die Selektion, die Nichtregistrierung61 und schließlich die Ermordung in den Gaskammern – nehmen also mit den sowjetischen Kriegsgefangenen, an denen herumexperimentiert wurde, ihren Anfang. Die gefangenen Sowjetsoldaten mussten aber auch als Deckmantel herhalten, um über die Ziele der Henker hinwegzutäuschen: Die Bezeichnung des Lagers in Birkenau 60 Interview mit Sobolewski (YVA. 03/8410. P. 31). Sobolewski kam im Juni 1940 nach Auschwitz, mit dem allerersten Transport. Er arbeitete erst in der Tischlerei und später bei der Häftlingsfeuerwehr. 61 Genauer gesagt das Verfahren einer selektiven Registrierung, das das Eintätowieren von Häftlingsnummern beinhaltete.

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(Auschwitz  II) als Kriegsgefangenenlager diente, zumal bei einer Kapazität von 125.000 Personen, als förmliche Begründung dessen, dass gigantische Gaskammern („Entlausungskammern“) und monströse Krematorien62 gebaut wurden. Enthüllend wirkt hierbei jedoch der Umstand, dass nicht die Kommandantur (Abt. I) des Lagers Birkenau und nicht das Sanitätswesen (Abt. V) des Konzentrationslagers für die Verwaltung der Krematorien zuständig war, sondern die Politische Abteilung (Abt. II)63. Obwohl die meisten Verwaltungsakten vernichtet wurden, bedeutet dies nicht, dass der Vorgang überhaupt nicht dokumentiert ist. Zahlreich sind etwa die Unterlagen über den Transport der Häftlinge nach Auschwitz (Transportlisten, Aufzeichnungen angekommener Züge etc.). Besonders ausführlich sind Auskünfte über die Deportation von 437.402 ungarischen Juden64 nach Auschwitz. Zudem wurden Meldungen über die Ergebnisse durchgeführter Selektionen angefertigt. Die Politische Abteilung des Konzentrationslagers berichtete dem RSHA in Berlin, die Abteilung Arbeitseinsatz rapportierte nach Oranienburg an die Abteilung D II der Inspektion der Konzentrationslager. Die Berichte der Politischen Abteilung sind nicht erhalten geblieben. Von den Letzteren aber sind uns mindestens drei überliefert. In einem davon, datiert 20. Februar 1943, sind drei Transporte verzeichnet, die am 21., 24. und 27.  Januar 1943 aus Theresienstadt ankamen, bestehend aus 5.022 Juden. 930 von ihnen, darunter 614 Männer und 316 Frauen, wurden für den Arbeitseinsatz aussortiert; die restlichen 4.092 Menschen, 1.422 Männer sowie 2.670 Frauen und Kinder, wurden „sonderuntergebracht“65. Weitaus geläufiger als der Begriff „Sonderunterbringung“ waren Termini wie „Sonderbehandlung“ und „Sondermaßnahmen“. Der Sinn aber war stets derselbe: Liquidierung – sprich Mord. Informationen über das Vernichtungslager, dessen temporäre Insassen und ihre ewige, sich Tag für Tag als Routine abspielende Tragödie erreichten die Alliierten zwar, wurden in deren Führungsstäben jedoch meist unter den Teppich gekehrt. An die Öffentlichkeit gelangten sie jedenfalls lange Zeit nicht. 62 Bezeichnend ist, dass die Errichtung von Objekten zur Durchführung von „Sondermaßnahmen“ im „Kriegsgefangenenlager“ in Birkenau 1942 die größte Baumaßnahme im Konzentrationslager war: Dafür stand ein Drittel des gesamten Baubudgets des Konzentrationslagers zur Verfügung, also 18,1 von 51,8 Millionen Reichsmark (Stand 26.  Oktober 1942) (GARF. Bt. P-7021. Fb.  108. Nr.  30. Bl. 16 RS–17). 63 GARF. Bt. P-7021. Fb. 108. Nr. 30. Bl. 38 RS. 64 Piper, 1993. S. 69 f. 65 Zitiert nach Piper, 1993. S. 65–67. Mit Verweis auf: APMA-B. D-Au I-3a/65–66. Arbeitseinsatz – Briefe und Telegramme betr. den Arbeitseinsatz von Häftlingen.

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Der Ausschuss für die Angelegenheiten der Kriegsflüchtlinge der USRegierung veröffentlichte Informationen vom November 1943 über die Ermordung von rund eineinhalb Millionen Juden in Auschwitz. Walter Rosenberg alias Rudolf Vrba nannte im Eichmann-Prozess 1961 eine größere Anzahl zum Stichdatum 7.  April 1944  – nämlich 1.756.000, ermittelt auf der Grundlage aller gezählten Transporte66. Sie ist die Summe aus der jeweiligen Anzahl jüdischer Bürger aus den folgenden Ländern: 900.000 aus Polen plus 300.000 Juden, die auf polnischem Gebiet interniert waren; 150.000 aus Frankreich; aus den Niederlanden 100.000; aus Deutschland 60.000; 50.000 aus Belgien; aus Jugoslawien, Italien und Norwegen 50.000; aus Griechenland 45.000; aus Litauen 50.000; 30.000 aus Böhmen, Mähren und Österreich sowie 30.000 aus der Slowakei67. Unter Berücksichtigung der Sterberate anderer in Auschwitz ermordeter Völker schätzten Angehörige der Widerstandsbewegung die Gesamtzahl der Opfer auf zwei Millionen Menschen. Auch wenn viele Schätzungen im Vergleich zu den Informationen, die sich durch die Wirklichkeit verifizieren lassen, überzogen sind, muss es erstaunen, mit welcher Sorgfalt die Anführer des Untergrunds solche Schätzungen und Zählungen betrieben, mit welcher Aufmerksamkeit jede neue Information von ihnen gesammelt und verarbeitet wurde. Ähnliche Zahlen wurden auch in der zweiten Widerstandszentrale in Auschwitz kolportiert, nämlich innerhalb des jüdischen Sonderkommandos. Sowohl Salmen Gradowski als auch Salmen Lewenthal erwähnten in ihren herzzerreißenden Notizen „Millionen“ von Juden, eine Schätzung aus buchstäblich erster Hand. Andere Männer des Sonderkommandos gaben abweichende Schätzungen ab: Stanislaw Jankowski alias Alter Feinsilber sprach von mindestens zwei Millionen Menschen; Jakob Kaminski von zweieinhalb Millionen (Stand August 1943, überliefert durch Jakub Gordon); Henryk Tauber sprach von vier Millionen Menschen und Shlomo Dragon von mehr als vier Millionen; Henryk Mandelbaum von viereinhalb Millionen68. Ähnlicher Größenordnung sind auch die Schätzungen nichtjüdischer Auschwitz-Häftlinge. Der Pole Kazimierz Smoleń, als Schreiber in der Registratur der Politischen Abteilung tätig, behauptete, von den registrierten Häftlingen seien mindestens 300.000 Menschen gestorben, während die 66 In seinem Erinnerungsbericht schreibt Vrba von 2,5  Millionen Ermordeten innerhalb von drei ­Jahren. Vrba, 2010. S. 34. Siehe auch: Piper, 1993. S. 81 f. 67 Dies war die erste Zählung jüdischer Opfer nach Herkunftsländern. 68 Piper, 1993. S. 84 f.

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Anzahl nicht registrierter Opfer sich auf zweieinhalb Millionen Menschen belaufen habe  – macht 2,8 Millionen Menschen insgesamt. Dort arbeitete auch Stanisława Rachwałowa. Sie habe gehört, die Opferzahl habe vier bis fünf Millionen Menschen betragen. Witold Kula schätzte die Anzahl auf dreieinhalb bis vier Millionen Menschen, Erwin Olszówka auf vier bis viereinhalb Millionen. Kazimierz Cieszewski nahm an, es seien vier bis fünf Millionen gewesen. Hans Roth sprach von vier Millionen, mit der Anmerkung, dies sei ja wohl allgemein bekannt gewesen. Bernard Czardybon, Kapo69 des Kanada-Kommandos im Stammlager Auschwitz  I, gab die höchste Schätzung dieser Art ab: fünf bis fünfeinhalb Millionen Menschen70. Ähnliche Zahlen nannten zwei ungarische Zeugen: Bela Fabian sprach von 5,1 Millionen Menschen (11. April 1945)71, Dr. Djula Gal von fünf Millionen – dreieinhalb Millionen Juden sowie eineinhalb Millionen Polen und Russen (22. März 1945)72. Und mag es auch verwundern, doch gaben die meisten Vertreter der ­Henkerriege ähnliche Schätzungen ab. Pery Broad und Friedrich Entress sprachen von zwei bis drei bzw. zweieinhalb Millionen, Wilhelm Boger von ­mindestens vier, Włodzimierz Bilan von fünf Millionen73, der Leiter der Politischen Abteilung des Konzentrationslagers, Maximilian Grabner, von drei bis sechs Millionen74. Besonders relevant ist in diesem Zusammenhang das Geständnis des am besten informierten Zeugen: des Kommandanten Höß. Im Nürnberger Prozess bezifferte er die Anzahl der nach Auschwitz zur Vernichtung eingelieferten Juden unter Berufung auf Eichmann auf insgesamt zweieinhalb Millionen Menschen, wobei Höß diese Zahl zugleich relativierte: „Die Möglichkeiten der Vernichtung hatten auch in Auschwitz ihre Grenzen.“ Als er versuchte, sich die länderbezogenen Zahlen jüdischer Opfer ins Gedächtnis zu rufen, nannte er die folgende Auflistung, die in der Summe 1,13 Millionen Menschen ergibt und offenbar unvollständig ist: 250.000 aus Oberschlesien und dem Generalgouvernement; aus Deutschland und Theresienstadt 100.000; 69 Abkürzung Kapo von Kameradschaftspolizei. Wird häufig  – jedoch irrtümlich  – auf den Begriff „Kazet-Polizei“ zurückgeführt, den es nie gab. Oder auf das italienische „Capo“ für „Chef “ bzw. „Vorarbeiter“. 70 Piper, 1993. S. 85 f. 71 Piper, 1993. S. 93. Kopie eines Artikels aus der „Los Angeles Times“ vom 8.5.1945. 72 ZAMO. Bt. 243. Fb. 2914. Nr. 272. Bl. 145. 73 Piper, 1993. S. 86 f. 74 Siehe seine Aussage: GARF. Bt. P-7021. Fb. 108. Nr. 34. Bl. 5.

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Die Residenz des Todes

95.000 aus den Niederlanden; aus Belgien 20.000; aus Frankreich 110.000; aus Griechenland 65.000; aus Ungarn 400.000; 90.000 aus der S­ lowakei75. Eichmann bestätigte diese Angaben im Jerusalemer Prozess nicht – dementierte sie aber auch nicht76.

Einschätzungen des staatlichen Sonderkomitees TschGK Die erste Schätzung der Opferzahlen in Auschwitz war untrennbar mit den Ermittlungen des von der Sowjetunion eingesetzten staatlichen Sonderkomitees TschGK verbunden, das seine Arbeit gleich nach der Befreiung des Lagers aufnahm. Eine technische Expertenkommission77 wurde eingerichtet, die rund 200 ehemalige Häftlinge und Mitarbeiter des Konzentrationslagers befragte. Unter den Personen, die bereitwillig mit der Kommission kooperierten, waren auch drei ehemalige Männer vom Sonderkommando: Tauber, Dragon und Mandelbaum78. Die Kommission untersuchte ebenfalls eingehend die erhaltenen Baupläne und die Dokumentation der Gaskammern und Krematorien von Auschwitz-Birkenau sowie deren Überreste vor Ort. In der Presse, und zwar im „Krasnaja Swesda“ („Roter Stern“), wurden nur die Endergebnisse der Kommission hinsichtlich der uns interessierenden Frage veröffentlicht, übrigens am letzten Kriegstag, dem 8. Mai 194579. Über alle Maße bezeichnend ist der Umstand, dass die Juden in der Mitteilung des TschGK praktisch unerwähnt blieben. Dafür wurden rumänische und bulgarische Bürger erwähnt, die für das Häftlingskontingent von Auschwitz keineswegs typisch waren (wobei ein Teil rumänischer Juden aus Siebenbürgen, das 1940–45 zu Ungarn gehörte, tatsächlich zusammen mit den ungarischen Juden nach Auschwitz deportiert worden war). Die Befunde der Kommission basieren allein auf den technischen Parametern der Tötungsanlagen und enthalten etliche kleinere und größere Unge-

75 Höss, 2008. S. 252. 76 Vgl. Pendorf, 1961. 77 Bestehend aus zwei polnischen und zwei sowjetischen Spezialisten: den zwei Professoren und Ingenieuren Dawidowski und Dolinski aus Krakau, dem Chemiker und Ingenieur-Major Dr. Lawruschin und dem Hauptmann der Pioniertruppe Schuer. 78 Mit Dragons Hilfe ist schließlich auch das Manuskript von Gradowski entdeckt worden. 79 Beachtenswert ist, dass die sowjetische Zahl von vier Millionen Opfern in Auschwitz am selben Tag in den USA veröffentlicht wurde (mit Verweis auf eine Meldung der „Associated Press“ vom 7. Mai 1945).

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Leben und Tod in der Hölle

nauigkeiten. Dies zu erkennen und zu verstehen hilft eine Gegenüberstellung mit den Untersuchungsergebnissen, die hier in Anhang  3 zusammengefasst präsentiert werden. In ihrer ersten „Berechnung zur Bestimmung der Anzahl der von den Deutschen im Lager Auschwitz vernichteten Menschen“ kam die Kommission, nachdem sie die Tätigkeit des Vernichtungslagers in Etappen eingeteilt und die Etappenzahlen aufsummiert hatte, zu dem Schluss, dass in Auschwitz 4.058.000 Menschen vergast und verbrannt worden waren – abgerundet eben vier Millionen. Dabei unterliefen der Kommission einige grobe Fehler. Offenbar weniger an den tatsächlichen technischen Merkmalen der Anlage als an den Aussagen der Mitglieder des Sonderkommandos orientiert, hatten die Ermittler definitiv (im Schnitt um das Eineinhalbfache) überzogene Daten über die Einäscherungskapazität der Krematorien als Grundlage ihrer Berechnungen verwendet. Das Wichtigste aber: Der Umstand, dass die Arbeit der Krematorien immer wieder unterbrochen worden war, wurde zwar berücksichtigt (mithilfe von Korrekturkoeffizienten), blieb jedoch deutlich unterschätzt. Mit solchem Eifer wie während der Ungarn-Aktion wurde in den Krematorien nämlich weder vorher noch nachher gearbeitet80. Unpräzise waren auch die Angaben über die Betriebsdauer der Krematorien, mit einer Fehlertoleranz von einem, drei und bis zu elf Monaten. Im Abschlussbericht der Kommission81 belief sich die Gesamtzahl sogar auf deutlich mehr als 4.058.000 Menschen, nämlich auf 5.121.000 – die Verbrennungsgruben an den Bunkern 1 und 282 nicht eingerechnet. Es besteht zwar weiterer Klärungsbedarf, doch als Hypothese äußern wir die Vermutung, dass die Korrekturkoeffizienten aus der ersten Berechnung, die die tatsächliche Auslastung der Krematorien zu unterschiedlichen Zeitpunkten einkalkulierten, hierbei nicht berücksichtigt wurden. Völlig unklar bleibt jedoch, wozu eine größere Anzahl angeführt wurde, wenn das offizielle Ergebnis ohnehin so wie in der vorhergehenden Berechnung ausfiel: nicht weniger als vier Millionen Menschen. Gleich nachdem die Sowjetkommission ihre Arbeit beendet hatte, machte sich die polnische Untersuchungskommission ans Werk, die im Rahmen der

80 81 82 83

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Vgl. Piper, 1993. S. 94. Siehe Anhang 3. Nicht zu verwechseln mit dem Bunker in Block 11 des Stammlagers. In den darauffolgenden Prozessen sank diese Zahl allmählich: im I.G.-Farben-Prozess auf drei bis vier Millionen, im Pohl-Prozess auf drei Millionen (vgl. Piper, 1993. S. 96).

Die Residenz des Todes

Hauptkommission zur Untersuchung der deutschen Verbrechen in Polen eingesetzt worden war. Diese konnte bereits auf Material zurückgreifen, das im Winter und Frühjahr 1945 noch nicht verfügbar war, darunter die Aussage von Höß. Gleichwohl nahm auch die polnische Untersuchungskommission die Anzahl von mindestens vier Millionen Menschen zum Ausgangspunkt. Anders gesagt: Es gab nahezu keine Abweichungen zwischen der offiziellen sowjetischen und offiziellen polnischen Schätzung der Opferzahl. Auch wurde diese Zahl im Nürnberger Prozess gegen die Naziverbrecher bekräftigt83. Sie war im Grunde das amtliche demografische Endergebnis, das in die Gutachten internationaler und staatlicher Organisationen einging und sich darin verfestigte. Noch lange Zeit danach übte diese Zahl starken Druck nicht nur auf die Pflege der Erinnerungskultur in den Museen, sondern auch auf die Geschichtswissenschaft aus, insbesondere in den osteuropäischen Ländern. Insofern überrascht es nicht, dass ebendiese Zahl auf den Gedenk­ tafeln festgeschrieben wurde, die am Ende der Rampe auf die Besucher der Gedenkstätte Birkenau warten. Deren Inschrift in 22 Sprachen lautete einst: „Märtyrer- und Todesort von 4 Millionen Opfern, ermordet von nazistischen Völkermördern 1940–1945“. Solche Ungenauigkeiten sind an sich nachvollziehbar, sie sind sogar fast unvermeidlich und deshalb verzeihlich angesichts dessen, dass die Ermittler das Lager schon sehr früh  – nur wenige Wochen nach dessen Befreiung  – untersuchten. Schlimmer ist etwas anderes: Dieses nicht zuverlässige und damals schon fragwürdige Ergebnis von vier Millionen Opfern wurde ideologisch gutgeheißen, nahezu ohne zu zögern zur endgültigen Wahrheit erklärt und mit der Zeit überall verankert, wo es nur ging: in der Museumsausstellung, den Museumsbroschüren und sogar auf den Gedenktafeln. Etwaige Alternativen oder auch nur Zweifel wurden schlichtweg ignoriert. Dabei wichen auch die Zahlen des Nationalen Obersten Gerichts Polens von den vier Millionen ab, also jenes Gerichts, das Rudolf Höß wegen Mittäterschaft an der Ermordung von 300.000 registrierten und einer unbestimmten Anzahl – mindestens jedoch zweieinhalb Millionen – von nicht registrierten, hauptsächlich jüdischen Auschwitz-Häftlingen und 12.000 sowjetischen Kriegsgefangenen zum Tod verurteilte. Interessant ist, dass in der Urteilsbegründung die Anzahl der Opfer mit mindestens drei und höchstens vier Millionen Menschen angegeben wurde. Hinsichtlich dieser Zahlen gab das Gericht zwei Gutachten in Auftrag, eines bei dem bereits erwähnten Professor Dawidowski (sein Gutachten unterschied sich nur unwesentlich von seinen bisherigen Zählungen) und 45

Leben und Tod in der Hölle

eines bei Nachman Blumental. Dieser wandte einen ganz anderen Ansatz an, stützte er sich doch auf die Gesamtzahl polnischer Juden, die während der Shoah getötet worden waren. Hierbei galt in Polen die Anzahl von drei Millionen Menschen. Nachdem er die Angaben zu den getöteten polnischen Juden in den anderen fünf Vernichtungslagern und den deportierten Juden aus anderen europäischen Ländern ausgewertet hatte, schlussfolgerte Blumental, dass in Auschwitz zwischen 1,3 und 1,5 Millionen Juden ermordet worden seien, darunter rund eine Million europäische Juden einschließlich der 450.000 ungarischen84. Von der hypnotischen Wirkung der einmal geäußerten Zahl waren west­ liche Forscher deutlich weniger gefangen. Daher rühren auch die großen Differenzen in ihren Einschätzungen: von 770.000 bei Gerald Reitlinger bis 2,5 Millionen bei Aaron Weiss und Yehuda Bauer. Eugen Kogon ist der Einzige unter ihnen, dessen Einschätzung – 3,5 bis 4,5 Millionen Menschen – sich mit den Berechnungen der sowjetisch-polnischen Demografen deckte85. Reitlingers Schätzung ist, wie sich gezeigt hat, nicht nur die kleinste, sondern auch die präziseste – und überdies die früheste: Die englische Erstauf­lage seines Werkes „Die Endlösung“ erschien 195386. Wir erlauben uns, diejenige Stelle zu zitieren, auf die sich alle späteren Forscher stützten: „Was die Gesamtzahl der Juden, die zu dem Selektionsplatz Auschwitz gebracht wurden, betrifft, ist es möglich, sie für die westlichen und mitteleuropäischen Länder sowie für den Balkan ziemlich genau ab­ zuschätzen; das gilt aber nicht für Polen. Es gibt keinen richtigen ­Anhaltspunkt für den Prozentsatz der Vergasten. Dieser war vor dem August 1942 und wiederum nach dem August 1944 niedrig, doch in der Zwischenzeit mag er einmal auf 50 gesunken, und dann wieder auf 100 emporgeschnellt sein. Die nachstehende Liste berücksichtigt eine ­Anzahl von Transporten aus Frankreich und Griechenland, die nach Majdanek geschickt wurden, 34.000 holländische Juden, die nach Sobibor gingen, sowie verschiedene Transporte nach Theresienstadt, Belsen und Ravensbrück:

84 Piper, 1993. S. 95 f. 85 Kogon, 2004. S. 157. 86 Reitlinger, 1985. S. 523.

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Die Residenz des Todes

Belgien Kroatien Frankreich Großdeutsches Reich (einschließlich Konzentrationslager und Protektorat, nur direkte Transporte)

22 600 4500 55 000 *20 000

Großdeutsches Reich und Protektorat (via Theresienstadt)

41 500

Griechenland

50 000

Niederlande

62 000

Ungarn (Grenzen während des Krieges)

380 000

Italien

5000

Luxemburg

2000

Norwegen

700

Polen und baltische Staaten

180 000

Slowakei (Grenzen von 1939)

20 000

[GESAMT]

843 300

* ungenaue Angaben

Von dieser Riesenzahl sind heute nur wenige am Leben, und mindestens 770.000 müssen in den Lagern von Auschwitz vor der Evakuierung im Januar 1945 zugrunde gegangen sein. In den Gaskammern von Auschwitz starben etwa 550–600.000 sofort nach ihrer Ankunft, aber auch von den mindestens 300.000, die erst nach ihrer Einlieferung in eines der Lager starben, müssen viele den Tod in der Gaskammer gefunden haben.“ 87

Trotzdem ist der Text auf den Gedenktafeln erst 1990 korrigiert worden: Statt an vier erinnern sie heute an eineinhalb Millionen Menschen. Doch auch diese Zahl erschien vielen Forschern als überzogen. Wissenschaftler wie Raul Hilberg, Wolfgang Scheffler und Edward Crankshaw gingen von einer Million jüdischer Opfer in Auschwitz aus88 und Georges Wellers von 1.352.00089. 87 Reitlinger, 1985. S. 523 f. Später korrigierte Reitlinger die eigenen Ergebnisse etwas nach oben: von den 800.000–900.000 in Auschwitz eingelieferten Juden starben 790.000–840.000. 88 Hilberg, 1982. S. 811; Scheff1er, 1961. S. 78; Crankshaw, 1959. S. 191 ff. 89 Wellers, 1983. S. 125–159.

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Leben und Tod in der Hölle

Martin Gilbert errechnete indes eineinhalb Millionen90; die „Encyclopedia of the Holocaust“ spricht von 1,6 Millionen91; Leon Poliakov, Lucie Dawidowicz und Josef Billig von zwei Millionen92; Yehuda Bauer von zweieinhalb Millionen93 und Aharon Weiss von einer bis zweieinhalb Millionen94. Hinter den genannten Zahlen stehen jedoch eher selten eigene Nachforschungen. Vielmehr sind sie eine Art Positionierung hinsichtlich der Angaben amtlicher Demografen oder der vorangegangenen Einschätzungen. Billig beispielsweise erhält seine Zahl von zwei Millionen als mittleren Wert aus den Angaben von Höß und Eichmann (schließlich zählt er 230.000 registrierte jüdische Häftlinge hinzu, die damals starben). Wirklich originell war die 1983 veröffentlichte Arbeit von Georges Wellers. Sie erweckte den Eindruck, als ob Wellers in die methodischen Fuß­stapfen von Reitlinger getreten wäre. Wellers analysierte nämlich die Deporta­ tionsströme nach Auschwitz aus den einzelnen Ländern. Sich auf die größtenteils bereits präzisierten Daten stützend, hat er insgesamt 1,6 Millionen Deportierte gezählt (siehe Tabelle 1)95. Tabelle 1: Anzahl der Personen, die in den Jahren 1940–45 nach Auschwitz deportiert wurden, sowie der in Auschwitz getöteten und gestorbenen Personen (nach Wellers) Kategorien

deportiert

gesamt

ermordet oder gestorben

Anteil der Toten

1 613 455

1 471 595

91,2 %

1 433 405

1 352 980

94,4 %

146 605

86 675

59,1 %

Sinti und Roma

21 665

20 255

93,5 %

Russen

11 780

11 685

99,2 %

darunter: Juden Polen und andere

Quelle: Wellers, 1983. S. 125–159.

90 91 92 93 94

Gilbert, 1982. S. 100. Encyclopedia of the Holocaust. New York, London 1990. S. 117. Poliakov, 1951; Dawidowicz, 1975. S. 191. Bauer Y. Auschwitz, in: Der Mord an den Juden im Zweiten Weltkrieg. Stuttgart 1985. S. 173. Weiss A. Categories of Camps: Their Character and Role in the Execution of the Final Solution of the Jewish Question, in: The Nazi Concentration Camps. Jerusalem 1984. S. 132. 95 Wellers, 1983. S. 125–159.

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Die Residenz des Todes

Einen anderen Ansatz verfolgte Raul Hilberg, der wie Blumental davon ausging, dass in den sechs Vernichtungslagern auf dem Territorium des gegenwärtigen Polen drei Millionen Juden starben – über eine Million in Auschwitz, 750.000 in Treblinka, 600.000 in Bełżec, 200.000 in Sobibor, 150.000 in Kulmhof und 50.000 in Majdanek. Ausgerechnet Piper, einer der polnischen Forscher, die sich ehedem fest an den demografischen „Kanon“ von 1945/46 gehalten hatten, bezweifelte die Ergebnisse von Wellers und Hilberg. Dies hinderte ihn jedoch nicht daran, schon in den 1990er Jahren die Quellen aufs Neue zu studieren und den Mut zur kritischen Prüfung sowie zur eigenen Einschätzung aufzubringen (siehe Tabelle 2)96. Nachdem Piper die Ungenauigkeiten von Reitlinger und Wellers korrigiert (aber leider nicht erläutert) hatte, gab er die Anzahl der in Auschwitz ermordeten Juden mit einer Spanne von 960.000 bis zu einer Million an. Doch Christian Gerlach und Götz Aly haben durch jüngste Erkenntnisse gezeigt, dass rund 105.000 ungarische Juden, die nach Auschwitz deportiert worden waren, nicht ermordet, sondern von dort in andere Lager verlegt wurden97. Deshalb braucht auch die Gesamtzahl der jüdischen Opfer in ­diesem Lager eine entsprechende Korrektur: Dieter Pohl schätzt sie auf circa 900.000 Menschen98.

Heutige Schätzungen An einer weiteren statistischen Revolution – der Verringerung der Anzahl jüdischer Opfer in Auschwitz nahezu um die Hälfte – versuchte sich der Journalist und Buchautor Fritjof Meyer99. Seine Argumentation schöpfte er aus bereits verlesenen (im Prozess Irving gegen Lipstadt in London 2000) und veröffentlichten, seiner Ansicht nach jedoch unterschätzten Dokumenten. Seine erste investigative „Entdeckung“ war ein angeblicher innerer Widerspruch, der in der Korrespondenz zwischen der Firma „Topf & Söhne“ und der SS über den Bau der Krematorien in Auschwitz vorzufinden sei: Halte man die Angaben über 96 Wie diejenigen, die er dafür kritisiert, baut freilich auch er seine Untersuchung häufig auf Einschätzungen von Experten auf – und zwar häufiger als auf eigenen Einschätzungen. 97 Gerlach, Aly, 2001. S. 409 ff. 98 Pohl D. Tak skol’ko sche? O Tschisle jewreew, unitschtoschennych w chode nazional-socialistitscheskich prestuplenij, in: Otrizanije otrizanija, 2008. S. 171. 99 Meyer, 2002. S. 631–641.

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Leben und Tod in der Hölle

Tabelle 2: Anzahl der Personen, die in den Jahren 1940–45 nach Auschwitz deportiert wurden, sowie der in Auschwitz getöteten und gestorbenen Personen (nach Piper) Kategorien

gesamt

nicht registrierte

Registrierte

gesamt

1 305 000

905 000

400 000

darunter getötete o. gestorbene

1 082 000

880 000

202 000

Juden

1 095 000

890 000

205 000

darunter getötete o. gestorbene

960 000

865 000

95 000

Polen

147 000

10 000

137 000

darunter getötete o. gestorbene

74 000

10 000

64 000

Sinti und Roma

23 000

2 000

21 000

darunter getötete o. gestorbene

21 000

2 000

19 000

sowjetische Kriegs­ gefangene

15 000

3 000

12 000

darunter getötete o. gestorbene

15 000

3 000

12 000

andere (Tschechen, Russen, Ukrainer, Weiß­russen, Jugo­slawen, Deutsche, Österreicher u. a.)

25 000



25 000

darunter getötete o. gestorbene

12 000



12 000

Quelle: Piper, 1993. S. 200, 202. Tabelle 29, 31.

die Einäscherungskapazität der Krematorien für wahr und allgemein gültig, müsse man wohl oder übel die Statistik ändern. Den Widerspruch selbst analysiert Meyer indes überhaupt nicht, auch lässt er alle Umstände kurzweg außer Betracht, die auf andere Zahlen hinweisen und, was sehr viel wichtiger ist, eine andere Praxis dokumentieren. 50

Die Residenz des Todes

Seine zweite „Entdeckung“ ist die Auslegung eines Ausschnitts aus der Aussage von Höß, wonach es unmöglich gewesen sei, die Krematorien permanent am Laufen zu halten, sodass sie alle acht bis zehn Stunden angehalten werden mussten100. Die Schlussfolgerung: In den Krematorien II und III hätten in 971 Arbeitstagen nicht mehr als 262.170 Leichen eingeäschert werden können und in den Krematorien IV und V in 359 Arbeitstagen nicht mehr als 51.696 – insgesamt also 313.866 Leichen. Weitere 107.000 seien in den Verbrennungsgruben an den Bunkern 1 und 2101 verbrannt worden. Die 12.000 Leichen eingerechnet, die laut Meyer im Alten Krematorium (Krematorium I) eingeäschert wurden, kommt er zu folgendem Ergebnis: In Auschwitz seien summa summarum 433.000 Leichen verbrannt worden. Tatsächlich aber steht die Hypothese über die mehrmalige Außerbetriebnahme der Krematorien wie auch die Hypothese über mehrwöchige Still­ legungen der Öfen im Widerspruch zu Dutzenden Zeugnissen aus erster Hand, nämlich zu den Aussagen der Männer vom Sonderkommando und der SS-Offiziere – und zu den täglichen Berichten über die Einteilung der Arbeitskommandos in Birkenau, darunter auch des Sonderkommandos102. Was Fritjof Meyer zu widerlegen versucht, ist eigentlich die aktualisierte Einschätzung der Opferzahl, die in den Abhandlungen der Geschichtswissenschaftler aus Auschwitz dargelegt wird, so auch in den Arbeiten von Piper. Seine Zahlen sind in Tabelle  2 zusammengestellt: Von den 1.305.000 nach Auschwitz Deportierten waren 1.095.000 Juden. 205.000 von ihnen wurden registriert, 890.000 hingegen nicht. Dabei waren von den 960.000 in Auschwitz gestorbenen Juden 865.000 nicht registriert, 95.000 waren registriert. Bemerkenswert ist, dass Piper von Meyer fast gar nicht angegriffen wird. Nur oberflächlich, mehr zum Schein wird er dafür kritisiert, dass die Anzahl der ungarischen Juden bislang nicht definitiv feststehe und dass 300.000 Men-

100 APMA-B. Höß-Prozess. Bd. 26b. S. 168. An dieser Stelle vertraut er Höß übrigens schon, obwohl er dessen Aussagen über die Anzahl der Opfer im KZ einen ganz anderen Stellenwert beimisst: Anderen Leugnern folgend, behauptet Meyer, Höß habe unter Folter ausgesagt. Es bleibt jedoch ein Geheimnis, warum Höß Zahlen abgepresst worden sein sollen, die so viel niedriger sind als die sowjetisch-polnischen amtlichen Ergebnisse von vier Millionen Opfern in Auschwitz, wenn er doch ein Spielzeug in den Händen von Statistikern war, die sich angeblich verschworen hatten. 101 Meyers Inkompetenz in dieser Frage offenbart sich allein schon durch seine Behauptung, niemand wisse und habe sich vor ihm dafür interessiert, wo die Überreste jener Leichen vergraben seien, die vor der Inbetriebnahme der großen Krematorien im März 1943 verbrannt worden seien. 102 Entsprechende Arbeitseinsatzlisten sind im WMM erhalten geblieben.

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Leben und Tod in der Hölle

schen als Schätzzahl der aus Polen Deportierten viel zu hoch sei103. Als Zielscheibe seiner Angriffe dient Meyer Pipers Museumskollegin Danuta Czech, die Verfasserin des fundamentalen „Kalendariums von Auschwitz“, in dem streng chronologisch und überaus sorgfältig praktisch alle grundlegenden Angaben darüber, was in Auschwitz geschah, zusammengetragen wurden. Auch wurden darin alle ihr bekannten Transporte aufgezählt104. Die Gesamtzahl der nach Auschwitz Deportierten schätzt Czech laut Meyer auf 735.000 Menschen, ungarische Transporte nicht mitgezählt. Davon zieht er 400.000– 405.000 registrierte Häftlinge ab105, ebenso wie (zum zweiten Mal übrigens) 15.000 sowjetische Kriegsgefangene, und erhält so die Anzahl von 315.000 Häftlingen, die ohne Registrierung geblieben seien. Ferner summiert er all diejenigen auf, die in Auschwitz nicht starben: 225.000 wurden in andere Lager verlegt106, 59.000 wurden im Januar 1945 evakuiert und weitere 8.500 blieben in Auschwitz und seinen Nebenlagern. Alle anderen, also 428.500 Menschen (was der von Meyer gerade erst errechneten Anzahl der Leichen ziemlich nahekommt), seien eben die Toten von Auschwitz. Nun soll man nicht denken, Meyer hätte die ungarischen Juden vergessen oder verschwiegen – er stützt sich sogar auf die Angaben von Danuta Czech (60 Transporte, circa 180.000 Menschen, davon 29.000 registriert). Dabei verschweigt er einerseits, dass diese Angaben unvollständig sind, andererseits verpasst er nicht die Gelegenheit, unter Berufung auf Gerlach und Aly anzumerken, dass 110.000 der Juden auf andere Lager umverteilt wurden107. So bleiben den Gaskammern gerade einmal 40.000 ungarische Juden. Womit waren dann die rund 800 Männer des Sonderkommandos von Mitte Mai bis

103 Unklar bleibt nur, woher Meyer diese Zahl hat: In der Tabelle, auf die er sich beruft, wird die Anzahl der Polen mit 147.000 angeführt, allerdings werden Juden (wenn er denn die polnischen Juden mitberücksichtigt) nicht nach Deportationsländern differenziert. 104 Nicht jedes Ereignis ist durch Quellen belegt, doch der Verfasser dieser Zeilen konnte sich immer wieder davon überzeugen, dass die entsprechenden Quellen im Museumsarchiv vorhanden sind. Dennoch wirft Meyer ihr fehlende Quellenbelege vor. Er glaubt, sie mithilfe der Manuskripte der Männer aus dem Sonderkommando und einiger angeblicher Ungenauigkeiten in den Angaben von Höß überführt zu haben (natürlich in den Angaben, die die Anzahl der Transporte „zu hoch“ ansetzen). 105 Berechnet nach den größten bekannten Häftlingsnummern für jede Häftlingskategorie, die bei der Registrierung nummeriert wurde. 106 Die Quelle wird zwar genannt, jedoch ohne auch nur den geringsten Versuch, sich kritisch mit ihr auseinanderzusetzen. 107 Meyer sieht es nicht als nötig an, zu präzisieren, ob die 110.000 in die oben erwähnten 225.000, die aus Auschwitz verlegt wurden, eingehen oder nicht. Woraus man zwei Schlüsse ziehen kann: Erstens tun sie es und zweitens haben wir es hier wieder mit einer Doppelzählung zu tun.

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Mitte Juli 1944 nur beschäftigt – so sehr beschäftigt, dass ihre Häftlingsunterkünfte näher an ihren Arbeitsplatz verlegt werden mussten? Indem er weitere 40.000 zu den bereits errechneten 430.000 addiert und weitere 30.000 für andere Mittel der „Lebensentziehung“ (Erschießungen, Injektionen, medizinische Versuche) hinzurechnet, kommt Meyer auf die überraschend runde Zahl von einer halben Million jüdischer Opfer in Auschwitz (zum Schluss legt er zusätzliche 10.000 drauf). Dabei fügt er unerwartet hinzu, dass nur 356.000 von ihnen in den Gaskammern gestorben seien108. Hatte er seine Schritte bisher zumindest irgendwie begründet, so kommt er hier, wo er die Wahl der Mordwerkzeuge geändert hat, ganz ohne Belege aus. Dabei war Meyer schamlos genug, unverfroren anzumerken, der Umstand, dass die arbeitsunfähigen Menschen nach der Selektion in die Gaskammer geschickt wurden, sei nirgends und von niemandem dokumentiert worden109. Dieses Argument ist derart abgenutzt, dass es die Grenze zwischen den Leugnern früherer Jahre und dem „Neorevisionisten“ Meyer kaum noch wahrnehmbar erscheinen lässt110. Laut Meyer wurde das letzte Wort in Sachen Haupttätigkeit der SS in Auschwitz-Birkenau nicht von Piper, sondern von Jean-Claude Pressac gesprochen111: Die Anzahl der Toten liegt mithin im Bereich von 631.000 bis 711.000 Menschen. Davon sind 470.000–550.000 in den Gaskammern ermordete und nicht registrierte Juden; 127.000 Häftlinge, deren Tod registriert wurde; 15.000 sowjetische Kriegsgefangene; 20.000 andere, darunter die Sinti und Roma. Dabei ignoriert Meyer Pressacs Anmerkung, diese Einschätzung stelle lediglich das absolute Minimum dar, solange Quellen, die diese Zahl noch erhöhen könnten, nicht ausgewertet oder nicht entdeckt worden seien112. Sein eigenes Ergebnis konkretisiert Meyer so: nicht mehr als 510.000 Opfer, 356.000 von ihnen durch Gas ermordet. Seinen Artikel schließt Meyer mit folgender Beschönigung: „Dieses Er­gebnis relativiert nicht die Barbarei, sondern verifiziert sie – eine erhärtete 108 Wobei er vorher nicht gerade wenig Mühe aufgebracht hat, um zu zeigen, dass es mindestens 433.000 waren. 109 Dies steht im krassen Widerspruch zu Meyers vorheriger Argumentation, insbesondere zu seinen gerade erst ausgesprochenen Präzisierungen einiger möglicher Ungenauigkeiten bei Danuta Czech. 110 Vgl. Otrizanije otrizanija, 2008. S. 254–257. Meyers Prämisse wird auch in seiner zutiefst verachtenden und arroganten Einstellung den Opfern gegenüber offenbar, die für ihn nicht mehr als eine statistische Einheit/Zahl darstellen. 111 Vgl. Pressac, 1989; Pressac, 1995. S. 192–202. 112 Pressac, 1995. S. 202. Zudem wurden Pressacs Überlegungen und Berechnungen von Piper in seiner Rezension zu dessen Buch eingehend analysiert und mit guten Argumenten widerlegt (Piper, 2009).

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Warnung vor neuem Zivilisationsbruch.“ Darin kommt seine gesamte Methode verdichtet zum Ausdruck: den Leser durch trügerische Sensation verwirren und betäuben. Im Grunde genommen handelt es sich dabei um eine ideologische Form der Leugnung, in ihrer neuen, die klassische Geschichtswissenschaft nachahmenden, reduktionistischen Version nach dem Motto: Sehen wir davon ab, den Holocaust an sich und die Existenz der Gaskammern zu leugnen. Schrauben wir einfach dessen Maß auf das kleinstmögliche zurück, um so wenigstens dem „Mythos von den sechs Millionen“ den Teppich unter den Füßen wegzuziehen.

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Die Handlanger des Todes: das Sonder­ kommando in Auschwitz-Birkenau Wir waren einst Menschen, doch heute sind du und ich eine Meute … Ossip Mandelstam

Sollst du doch heute sterben, und ich morgen. Sprichwort aus dem Gulag

Ich war damals überhaupt kein Mensch. Wäre ich einer gewesen, hätte ich keine Sekunde durchgehalten. Wir haben nur überlebt, weil nichts Menschliches mehr in uns blieb. Aussage eines Mitglieds des Sonderkommandos

„Sonderkommando“: Begriff und Einsatzgebiet Getötet wurde in Auschwitz immer. Immer grausam, kaltblütig, auf sadistische Art. Anfangs aber, zu Routinezeiten des alten Konzentrationslagers, tötete man noch untechnologisch: Einen Insassen totzuschlagen oder im Hof des Lagergefängnisses Block 11 zu erschießen, einem geeigneten Todeskandidaten im Krankenhaus Phenol in den Herzmuskel zu spritzen  – das war doch irgendwie allzu individualisiert, überzogen amateurhaft und übermäßig irrational. Selektionen fanden damals noch nicht statt. Jeder Häftling wurde regis­ triert und trug dann keine andere Bezeichnung als „Schutzhäftling“113. Ob nun 113 Folgende Varianten wurden unterschieden: „Erziehungshäftlinge“ wurden für bestimmte Zeit ins Lager gebracht; „Berufsverbrecher“, auch „BVer“ genannt, waren längerfristig inhaftiert; eine juristische Sonderstellung hatten „Polizeihäftlinge“ – sie standen unter der Kontrolle der Polizei, nicht der SS.  In Auschwitz I wurden diese Häftlinge im berühmt-berüchtigten Lagergefängnis, dem

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er unter Schutz stand oder vor ihm geschützt wurde, blieb offen. Die geschichtliche Ironie dieser oxymoronesken Wortbildung entging auch jenen nicht, die davon direkt betroffen waren: „Ein ‚Schutzhäftling‘ im größten Vernichtungslager zu sein, ist paradox; es ist eine Ironie des Schicksals, eines wissentlichen Schicksals. Mörder, Sadisten schützen uns! Wir stehen unter Schutz, was so viel bedeutet, dass wir der Willkür solcher Menschen, solcher Erzieher ausgeliefert sind, die selbst eine solcherart Ausbildung durchlaufen haben: Sie haben in höchstem Wissen des Sadismus promoviert. Und alles nur, um die Möglichkeit zu haben, uns auf entsprechende Weise zu ‚schützen‘!“114

Die Insuffizienz und die inakzeptable Romantik des personifizierten Todes wurden augenfällig angesichts der dem Lager eines Tages gestellten Aufgabe: bei der Lösung der Judenfrage in Europa nach Kräften zu helfen und auf eine grundlegend neue Art des Tötens umzuschalten: eine massenhafte, namenlose und – auf die einzelne Leiche umgerechnet – wirtschaftlichere. Sogleich wussten sie in Auschwitz auch, welches das beste Tötungsmittel dafür sein würde, nämlich die Chemie: Zyklon B war wie dafür geschaffen – dieses billige Schädlingsbekämpfungsmittel, das zur Desinfektion und Entlausung von Kleidung und Räumen bereits verwendet wurde. Nach einer Reihe „erfolgreicher“ Versuche im Bunker des Blocks 11 sowie in der Leichenhalle des Krematoriums I im September 1941 wurde Zyklon B als optimales Tötungsmittel ausgewählt115. Dieses Gift lag als sogenannte Kieselgur vor, als grünliches oder bläuliches Granulat einer inerten porösen Substanz, von Blausäure durchtränkt. Wurde das Granulat in die Gaskammern hineingeworfen, verdunstete die Blausäure. Am wirksamsten setzte die Verdunstung bei einer Temperatur von 26 Grad Celsius ein (Siedepunkt), größtenteils bereits bei Zimmertemperatur. Deshalb wurden die Gaskammern



Block 11, gehalten, unterstanden aber formal der Gestapo Kattowitz, deren Polizei-Standgericht vor Ort in Auschwitz seine Urteile sprach, die dann auch direkt im Erschießungshof des Lagergefängnisses vollstreckt wurden. 114 Vgl. die Zeugenaussage von Ida Messer vom 2. Mai 1945 (ŻIH. Aussage 301/287/IH. Au2). 115 Zyklon: ein Pestizid und Insektizid, von dem deutschen Chemiker jüdischer Abstammung Fritz Haber (1868–1934) entwickelt, dem „Vater der deutschen Chemiewaffen“, Entdecker des Nitratdüngers, Chemienobelpreisträger 1918. Das Zyklon-B-Verfahren wurde von Dr. Walter Heerdt, Geschäftsführer der Degesch (Deutsche Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung mbH in Frankfurt a. M.), erfunden. Patentiert 1922 und hergestellt von der Degesch, einer Tochterfirma der Degussa.

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häufig etwas beheizt: So breitete das Gas sich besser aus und erledigte seine Arbeit schneller. Um 1000 Menschen durch die Blausäuredämpfe des Zyklon B zu ersticken, genügten gerade mal vier Einkilodosen der Substanz. Das farb- und geruchlose Zyklon B kannte keine Gnade: Die Dämpfe der Blausäure schnürten den menschlichen Zellen den Sauerstoff buchstäblich ab; ihre Wirkung begann mit einer unerträglichen Bitterkeit im Mund, dann verursachten sie Kopfschmerzen, Brechreiz, Krämpfe und Atemnot. Deshalb konnten sich diejenigen Menschen glücklich schätzen, die sich sehr nahe am herabfallenden Granulat befanden: Nach kurzen Krämpfen verloren sie das Bewusstsein und spürten nicht mehr, wie eine Lähmung das gesamte Atmungssystem befiel. Der Tod trat unter Konvulsionen ein, menschliche Körper wurden zu rosarot verfärbten Leichen, teilweise mit grünlichen Flecken und verkrampft. Die Leichen  – vor Schmerzen gekrümmt, ineinandergekrallt, blutbeschmiert und von Exkrementen beschmutzt – wurden herausgenommen, auf Förderwagen verladen und in riesige Feuergruben geworfen. Natürlich ohne zu vergessen, ihnen vorher in den Mund zu schauen, um die Goldzähne zu ziehen  – und den Frauen noch die Ohrringe rauszureißen und die Haare abzuschneiden. Deshalb überrascht es nicht, dass in Einzelfällen noch ein anderer Ausdruck für „Sonderkommando“116 im Umlauf war: das Wort „Gaskommando“. Die SS-Wachen benutzten es ebenso wie Auschwitz-Häftlinge. Unter diesem „Pseudonym“ wurden die Mitglieder des Sonderkommandos auch im Nürnberger Prozess erwähnt. Der Begriff „Sonderkommando“ kommt zwar in den Prozessunterlagen rund 30 Mal vor, gemeint sind damit aber hauptsächlich die Sonderkommandos der Sicherheitspolizei und des SD, die in den besetzten Gebieten selbst legitimierten Mord und Raub verübten. In jener Bedeutung, in der es in Auschwitz-Birkenau verwendet wurde, kommt das Wort „Sonderkommando“ nur einige Male vor: erstmals in der Morgensitzung vom 28. Januar 1946 als „Gaskommando“. Marie-Claude Vaillant-Couturier beschrieb recht ausführlich den Block 25 als den Vorraum des Todes, erzählte über die Selektionen an der Rampe, die sich vor ihren Augen vollzogen hatten (sie hatte den Block 26 im Frauenlager bewohnt), und über die eigentlichen Vergasungen. Rudenko, der Hauptankläger der UdSSR, berührte die Frage nach dem Sonderkommando beiläufig am 8.  Mai 1946. 116 Zur Terminologie siehe auch S. 17 f.

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Erwähnt wurde dieses Wort auch in einem Zitat aus der Ansprache des Komitees ehemaliger Auschwitz-Häftlinge117. Versuchen wir nun, den Begriff „Sonderkommando“118 zu klären. Der Zweite Weltkrieg hat dieses Wort untrennbar mit der SS verknüpft und gleichsam seinen Inhalt auf wenige spezifische Varianten reduziert. Seine Kernbedeutung: Fronteinheiten der Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD, also Kampfgruppen des Sicherheitsdienstes. Diese waren im rückwärtigen Armeegebiet tätig. Dort machten sie Jagd auf feindliche Funktionäre und Untergrundkämpfer, hoben Archive aus, organisierten Lager und Gefängnisse; Massenmorde an der Zivilbevölkerung verübten sie aber nicht – dafür gab es die SD-Einsatzkommandos und andere Jäger. Namhaft war das „Sonderkommando 1005“ – gegründet im Januar 1942 unter dem Oberbefehl von Paul Blobel –, dessen Aufgabe es war, einen 1941 weit verbreiteten Fehler der Henker zu korrigieren und die Spuren der Massenhinrichtungen, wo und wie auch immer sie stattgefunden hatten, auszuradieren. Die Exhumierung und die Verbrennung der Leichen oblagen den Leichenkommandos, die meist aus sowjetischen Kriegsgefangenen bestanden, seltener aus Juden selbst. Derselbe „Fehler“ ist auch in Auschwitz-Birkenau passiert, wo zudem wegen des hohen Grundwasserspiegels die reale Gefahr bestand, dass Trinkwasserquellen durch Leichengift119 verseucht werden. Deshalb war es notwendig – wie in Babi Jar auch –, die Leichen auszugraben, zu verbrennen und die Asche loszuwerden. Wer in Babi Jar als „Leichenkommando“ bezeichnet wurde, hieß hier eben „Sonderkommando“. Die überwiegende Mehrheit waren kräftige Juden, die die Selektion an der Rampe überlebt hatten. Sie zeichneten sich dadurch aus, dass sie ihre Tätigkeit im Geist der „Aktion 1005“ – diese dauerte nicht lange, von Ende September bis Anfang Dezember 1942  – mit einer anderen, ihrer eigentlichen Aufgabe vereinbarten, einer ­physisch und moralisch weitaus schwereren. Nämlich mit der Aufgabe, die Deutschen bei dem Massen-, bei dem Fließbandmord von Hundert- und Aberhunderttausenden Juden und Nichtjuden in den Gaskammern, bei der Kremierung ihrer Leichen und der Verwertung von Totenasche, Goldzähnen und Frauenhaar zu unterstützen.

117 Interessant ist: Gradowskis Tagebuch war von sowjetischer Seite zur Verwendung im Prozess vorbereitet worden, blieb aber ungenutzt. 118 Gebräuchlich waren auch andere Begriffe wie z. B. „Spezialkommando“. 119 Während der ersten Kriegsjahre waren noch keine Befürchtungen aufgekommen und demnach hatte es auch keinen Bedarf gegeben, die Spuren zu beseitigen.

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Dies war wahrlich ein Sonderkommando. Es bestand nahezu vollständig aus jüdischen Häftlingen, die die Funktionskette des Mordes fast vom ersten Glied an bis zum Ende bedienten. Es waren die Mitglieder des Sonderkommandos, die sich Gasmasken anzogen und die Leichen aus den Gaskammern herausholten, ihre Knochen zerstießen, die Asche durchsiebten und begruben – die Totenasche Hunderttausender Menschen, die in dieser Todesfabrik ermordet worden waren. Diese Zuarbeiten konnten ganz unterschiedlich sein. So waren der friedliche Zustand und das ruhige Verhalten der Opfer kurz vor deren Tötung für die SS überaus wünschenswert. Deshalb zählten auch beruhigende Maßnahmen zu der Täuschungsmethode und den Aufgaben des Sonderkommandos. Heute würde man diese Maßnahmen wohl als Verschleierungstaktik bezeichnen, weshalb man sie denn auch dem Sonderkommando als den „Ihren“120 auftrug. So war es aber nicht immer. Die Funktion und die Anzahl – selbst die ethnische Zusammensetzung – dieser Sondereinsatzgruppen konnten mit der Zeit variieren. Das allererste Sonderkommando war im Krematorium I des Stammlagers Auschwitz I tätig. Es entstand, als das ursprünglich aus Polen bestehende Heizerkommando mit jüdischen Häftlingen auf das Vierfache vergrößert wurde, hatte ausschließlich mit Leichen zu tun und hieß begründeterweise Krematoriumskommando. Wer an improvisierten Gaskammern in den Bunkern und an Massengräbern eingesetzt war, zählte zum Räumungs- und Begräbniskommando. Und wer gezwungen war, Massengräber aufzubrechen und die Überreste in Feuergruben zu verbrennen, hieß schlicht „Exhumierungs- und Verbrennungskommando“. Ab März 1943 war der Begriff „Krematoriumskommando“ wieder im Umlauf, wobei die Anzahl solcher Kommandos stieg, je mehr Krematorien121 in Betrieb genommen wurden. Und dann die allerletzte Begriffsinnovation: „Abbruchkommando Krematorium“. Das alles sind, nominell gesehen, Nach-

120 Manchmal wird dem Einsatzgebiet des Sonderkommandos – unberechtigterweise – der „Empfang“ von Neuankömmlingen und das Einsammeln von deren Gepäck an der Rampe zugeschrieben. Tatsächlich existierten verschiedene separate „Aufräumungs-, Sammler- und Rollkommandos“ im Zusammenhang mit den Effekten der Opfer, unter anderem an der Rampe. Teilweise wurden diese von Häftlingen auch als „Sonderkommando“ bezeichnet. 121 In der Einteilung von Arbeitskommandos für den 7. Oktober 1944 (den Tag des Aufstands!) etwa sehen wir acht Kommandos – genannt „Heizer Krematorium“ –, die zum einen auf vier Krematorien, zum anderen auf eine Tages- und eine Nachtschicht aufgeteilt sind. So heißt das Kommando 57B für die Tagesschicht im Krematorium I zum Beispiel: „57-В. Heizer Krematorium I. Tag“.

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folgevarianten unterschiedlicher Arbeitskommandos. Zwar kommt der Begriff „Sonderkommando“ im Verwaltungsapparat von Auschwitz-Birkenau offiziell vor (nachweislich spätestens seit Dezember 1942), doch eher als Metapher oder Euphemismus, als linguistische Täuschungstaktik, aber auch als Sammelbegriff für die beschriebene Vielfalt. Eben deshalb hat sich der Begriff vor allem im Lagerjargon, im Sprachgebrauch von SS-Wachen und Häftlingen, eingebürgert.

Das Musterbeispiel einer Todesfabrik Zur Täuschungstaktik gehörte es auch, die Symbole des Roten Kreuzes zu nutzen. Das Rote Kreuz prangte an den Sanitätswagen, mit denen der diensthabende Arzt und die SS-Henker zu den Aktionen hin- und wieder wegfuhren. Rote Streifen oder Kreuze waren auch auf den Mützen des Sonderkommandos aufgenäht oder aufgemalt; dessen Dienstkleidung waren nicht die gestreiften Häftlingsanzüge, die die Lagerverwaltung verteilte, sondern ganz gewöhnliche zivile Kleidung122, die bei den Opfern so wenig Verdacht wie möglich erregen sollte. Was die Deutschen den Juden nicht in die Hand gaben und ausnahmslos sich selbst vorbehielten123, war das Morden, das Hineinwerfen von giftigen Pellets in die Gaskammern. Die eigentliche Henkerarbeit erledigte das SSPersonal der mittleren Riege. Jedes Mal, wenn sie zu den Gaskammern fuhren, wurden sie von einem Arzt124 begleitet, der das Ganze aus dem Auto heraus beobachtete: Gott bewahre, dass denen etwas zustößt!125 Natürlich hatten die SS-Soldaten Gasmasken, diese setzten sie aber, um mit ihrer „Tollkühnheit“ zu prahlen, nicht immer auf. Außerdem hatten sie spezielles Werkzeug, um die großen Dosen mit dem Granulat schnell öffnen zu können. Während sie das Granulat durch die speziellen Dach- oder Seitenöffnungen126 in die 122 Rote, mit Ölfarbe aufgetragene „Lampassen“ waren laut Eliezer Eisenschmidt auch auf Hosen und Jacken Pflicht (Greif, 1999. S. 261 f.). 123 Siehe weiter: Polian P. W Ponarach, Ponarach rasstreljany wse …, in: Rolnikaite, 2012. S. 509–512, 534–535. 124 Dem diensthabenden Lagerarzt waren sogenannte SS-Sanitätsdienstgrade (SDG) als Hilfspersonal zugeteilt, die die Vergasung vornahmen (Nyiszli, 2005. S. 37). 125 In dieser Funktion beteiligte sich Dr. Krämer, Autor des „berühmten“ SS-Tagebuchs, an den „Sonderaktionen“. 126 In den Krematorien I und II mit den unterirdischen Gaskammern befanden sich die Öffnungen praktisch unter den Füßen der Henker, in der Decke; und in den Krematorien IV und V im oberen

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Gaskammern hineinschütteten, scherzten sie und plauderten miteinander über Nichtigkeiten. Danach verschlossen sie die Öffnungen mit klappladenartigen Verschlussstopfen aus Holz oder schweren Deckeln aus Beton. Manchmal aber schlossen sie die Öffnungen – entgegen den Anweisungen – nicht, sondern schauten durch die Gucklöcher der Gasmasken neugierig und triumphierend darauf, was unten geschah. Sie schauten zu, wie Menschen, übereinander herfallend, zu diesen Öffnungen stürzten, wie jene zuerst starben, die unten waren, vielleicht noch gar nicht durch Erstickung (der Todeskampf nahm nicht weniger als sechs bis sieben Minuten in Anspruch), sondern weil sie erdrückt wurden – das waren vor allem Kranke, Behinderte und Kinder. Vor dem Tod krallten sich die Menschen mit den Nägeln in die Wände fest, die vor ihnen schon zerkratzt worden waren … Hatten die SSHenker sich genüsslich sattgesehen, schlossen sie die Öffnungen, stiegen in die Autos mit den Fähnchen und den roten Kreuzen an der Seite und fuhren quatschend weg. Zynismus und „Henkershumor“ waren weit verbreitet, etwa wenn Angehörige der SS den entblößten Kindern sagten, sie sollten die Seife nicht vergessen und ihre Schuhe und Sandalen schön zusammenbinden. Oder wenn der Arzt, der abwechselnd auf die Uhr und in das Guckloch der Gaskammer schaute, „Fertig!“ rief. „Der Kamin“ – so nannte das Personal verharmlosend die Krematorien. „Himmelskommando“ scherzten die SS-Wachen möglicherweise über die vernichteten Juden, vielleicht aber auch über das noch lebende Sonderkommando127. „Bedient euch“ oder „Wohl bekomms“ sagten sie jedes Mal, wenn sie das Gas in die „Duschkammern“ hineinwarfen. „Fischfutter“ sagte man scherzhaft über die Totenasche, die auf Lastwagen verladen wurde, um sie in der Weichsel oder der Sola zu entsorgen. Gab es nicht allzu viele Opfer (die Obergrenze für dieses „nicht allzu viele“ lag unterschiedlichen Quellen zufolge bei 100 bis 500 Menschen)128, wurde kein Zyklon B vergeudet: Getötet wurde dann durch Genickschüsse aus Kleinkalibergewehren. Dies geschah innerhalb des Krematoriumsgebäudes, teilweise auch an den Verbrennungsgruben oder im Hof des Krematoriums. In solchen Fällen wurde der Grad der Beteiligung der Mitglieder des Sonder

Bereich der Gaskammerwände, sodass die Henker – um ihren Job zu verrichten – eine kleine Leiter an die Wand stellen mussten. 127 Dieser Galgenhumor wurde auch von den Polen freudig aufgegriffen und wertgeschätzt (Jagoda, Kłodziński, Masłowski, 1987. S. 254). 128 Dazu zählten häufig Gruppen abgemagerter Häftlinge, die den unermüdlichen internen Selektionen im Lager zum Opfer fielen.

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kommandos an dem Tötungsprozess um einiges klarer und offenkundiger: Nicht selten mussten zwei von ihnen das Opfer an den Armen und den Ohren festhalten, bis der Henker abdrückte129. Zwar war der eigentliche Mörder auch dann immer noch der deutsche Schütze, doch war es dem jüdischen Mitglied des Sonderkommandos in solchen Fällen nicht mehr möglich, das Gefühl der direkten Teilnahme an jenem Vorgang130 auszublenden. Der Verbrennungsgrube oder dem Krematoriumsofen entging jedenfalls keines der Opfer. Von einem 70 bis 75 Kilogramm schweren Menschen blieben letztlich kaum mehr als 2,5 bis 3,5 Kilo dunkelgrauer Asche übrig. Allerdings brannten Beckenknochen selten ganz durch, sodass sie dann mit ­speziellen Vorrichtungen zermahlen werden mussten. Mit anderen Worten: Das Nadelöhr der Todesmaschinerie war nicht das Töten selbst, sondern das Verwischen der Spuren, die schnellstmögliche und vollständige Verbrennung der Leichen und die Beseitigung der Asche. Auf eines aber konnte man sich verlassen: Die angewandte Ofentechnik war auf dem neuesten Stand, war Deutschland doch bei der Kremierung und der entsprechenden Technologie weltführend. Ihren ersten Ofen in Auschwitz hat die Erfurter Firma J. A. Topf & Söhne im August 1940 installiert. Schon Mitte August wurde er in Betrieb genommen und erhielt mit der Zeit die Bezeichnung „Krematorium  I“. Dieses Krematorium wurde stets weiterent­ wickelt und hatte ab dem Februar 1941 schon vier Muffelöfen, die mit Koks befeuert wurden – im Mai 1942 waren es dann sechs. Am Anfang aber war die Kapazität dieses Minikrematoriums bescheiden: offiziell „nur“ 340 Leichen am Tag131. Als in Berlin oder Wannsee die Entscheidung getroffen wurde, das KZ Auschwitz zu einer ultramodernen Anlage zur Judenvernichtung auszubauen, wurde klar, dass das Krematorium  I diese Aufgabe nicht bewältigen konnte. Dessen improvisierte Gaskammer war viel zu klein und zu ineffizient. Endgültig stillgelegt wurde das Krematorium I allerdings erst im Juli 1943. Der Bau eines leistungsstarken Zentrums aus vier Krematorien wurde im Sommer 1942 beschlossen und sodann auch in Auftrag gegeben. Gebaut 129 Nyiszli, 2005. S. 61 f. Beim Festhalten an den Ohren wurde, wie Shlomo Venezia bezeugt, folgende Methode angewandt: Wer das Opfer an den Ohren festhielt, musste dessen Kopf sofort nach dem Schuss nach unten drücken, damit die Blutfontäne die Stiefel und die Kleidung des Mörders nicht beschmutzte (Venezia, 2008. S. 122). 130 Unmittelbar darüber schreibt Shlomo Venezia (2008. S. 123). 131 Laut Pressac wurde diese Kapazität jedoch nicht erreicht (Pressac, 1995. S.  164). Als tatsäch­liche Kapazität gibt er 250 Einäscherungen am Tag an.

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wurde größtenteils im Winter 1942/43 mit oberster Priorität: An Materialien – Ziegelsteinen, Zement und Häftlingen – wurde nicht gespart. Die Erbauer des Krematoriums, auch wenn keine Mitglieder des Sonderkommandos, hatten ebenfalls viel zu erzählen. Einer von ihnen, Lejb Silber aus Zichenau, der beim Bau des Krematoriums  II mitgearbeitet hatte, berichtete über folgende Praktik. Der Kapo der Bauarbeiten am Krematorium  II, ein deutscher Strafgefangener mit dem Spitznamen „Herkules“, der stets einen sowjetischen Soldatenmantel trug, und vier seiner polnischen Helfer schnappten sich ein paar Dutzend jüdischer Arbeiter und trugen ihnen auf, etwas vorzusingen. Im Gegenzug bekämen sie eine „gute“ Arbeit im Warmen, war das Versprechen. Die Arbeiter verwöhnten das Gehör der „Melomanen“ bereitwillig, wonach sie an die allerhöchste Baustelle geschickt wurden – dorthin, wo der riesige Schornstein des künftigen „Kamins“ errichtet wurde und wo das Gerüst besonders schmal und wacklig war. Der Hieb eines Polen mit dem Vorschlaghammer gegen dieses Gerüst genügte, damit es knarrend einstürzte und die Opfer aus der luftigen Höhe auf den gefrorenen Boden knallten. Andere Häftlinge wurden gezwungen, die Leichen zu der warmen Stube der Kapos zu schleppen, und manche davon sogar hinein. Die „Melomanen“ hatten ihre Opfer während des Singens nämlich aufmerksam beäugt und geguckt, wer von den Chorsängern Goldzähne hatte, die dann mit brachialer Kraft aus deren erkalteten Mündern ausgerissen wurden. Mit den SS-Wachen wurde alles vorher abgesprochen: Sie bekamen Schnaps. Und den Vorarbeitern wurde ein Unfall gemeldet, nach dem Motto: Die unerfahrenen jüdischen Häftlinge haben Sicherheitsregeln bei Höhenarbeiten verletzt. Für den nächsten Tag teilten die Aufseher statt dieser „Unerfahrenen und Unvorsichtigen“ neue Leute ein  – manche von ihnen hatten bestimmt goldene Zahnkronen132. Zwischen März und Juli 1943 wurden die Krematorien eines nach dem anderen in Betrieb genommen: die Krematorien II und IV zuerst, dann V und III. Jetzt stand den Öfen von Topf & Söhne große Arbeit bevor, ihnen kam die zentrale Rolle zu – nicht etwa bei der Entsorgung von Abfällen oder der Prävention von Epidemien, sondern bei der Endlösung der Judenfrage, bei der endgültigen Vernichtung dieses feindlichen und zersetzenden Judenleibs. Kurt Prüfer und Fritz Sander, die Oberingenieure der Firma, hatten eifrig miteinander konkurriert bei der Suche nach neuen Lösungen und Techno­ 132 Vgl. Zeugnis von Lejb Silber: Silver L. Ciechanow Jews in Auschwitz (S. 343) // www.jewishgen.org/ yizkor/ciechanow/ciechanow.html.

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logien, die den Durchbruch im Ofenbau zur Entsorgung von einer großen Anzahl an Leichen bringen sollten. In ihrem Eifer hatten sie den Appetit ihres blutrünstigen Kunden bei Weitem übertroffen. So erarbeitete Prüfer das Konzept des „Ringeinäscherungsofens“, Sander hingegen entwickelte eine Art fließbandartigen vierstöckigen Verbrennungsofen, der im Grunde unterbrechungsfrei arbeiten konnte. In Sanders Brief an die Firmenleitung vom 14. September 1942 heißt es unverblümt: “Dabei bin ich mir vollkommen klar darüber, dass ein solcher Ofen als reine Vernichtungs-Vorrichtung anzusehen ist, dass also die Begriffe Pietät, Aschetrennung sowie jegliche Gefühlsmomente vollständig ausgeschaltet werden müssen.“133. Und: Angesichts der Konkurrenz bestehe dringende Notwendigkeit, seine Erfindung134 patentieren zu lassen, „damit wir uns die Priorität sichern“. Derweil brachte die erste Anfeuerung enttäuschende Ergebnisse: Die Verbrennung der Leichen (je drei in den fünf einsatzbereiten Öfen) verlief äußerst langsam (ganze 40 Minuten). Also empfahlen die Technikexperten der Herstellerfirma, das Feuer innerhalb mehrerer Tage permanent aufrechtzuerhalten. Schon im März 1943 wurde in der Gaskammer des Krematoriums II eine ganze Zugladung an Juden umgebracht  – eine Gruppe aus dem Krakauer Ghetto. Die Krematorien II und III waren echte Ofenmonster. Sie hatten 15 Brennkammern (fünf Öfen mit je drei Muffeln), die Krematorien IV und V aber nur acht. Ihre 24-stündige Tageskapazität betrug, deutschen Berechnungen zufolge, 1.440 respektive 768 Leichen (Einzelbeschickungen). Zu Stoßzeiten wurde rund um die Uhr und in zwei Schichten gearbeitet, sodass die Einäscherungskapazität tatsächlich übertroffen wurde. Auch der natürlichen Beobachtungs- und Rationalisierungsgabe des SSPersonals kam in dem Betrieb ein gebührender Platz zu. So wurde der Nachteil dessen, dass die Leichen immer etwas feucht in die Öfen geschoben wurden (vorher wurden sie über nassen Betonboden geschleift, der regelmäßig aus einem Schlauch mit Wasser begossen wurde, damit die Leichen glitten und leichter an die Öfen heranzuschleppen waren), dadurch kompensiert, dass Männerleichen in die Mitte, Kinderleichen ganz nach oben und Frauen-

133 Es ist zu vermuten, dass mit „Pietät“ die Einäscherung mit Sarg oder Leichentuch, persönlichem Schamottstein, einzelner Aschekapsel bzw. Urne und letztlich die Trennung der Totenasche gemeint war, um sie den Angehörigen aushändigen und schließlich bestatten zu können. 134 Siehe den Ausstellungkatalog: Die Techniker der Endlösung: Topf & Söhne – Die Ofenbauer von Auschwitz. Weimar 2005. S. 56.

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leichen (sie hatten einen höheren Fettanteil) unter und über die Männerleichen gelegt wurden135. Solange die Krematorien in Birkenau noch gebaut wurden, wurde der Betrieb durch zwei provisorische „Werkstätten“ der Auschwitzer Todesfabrik gleich in der Nähe sichergestellt: Zwei Bauernhäuser136 wurden umgebaut zu Tötungszentren von Menschen durch Gas. Es entstanden der sogenannte Bunker Nr. 1, auch das „Rote Haus“ genannt, mit zwei Gaskammern und der Bunker Nr. 2, das „Weiße Haus“, mit vier Vergasungsräumen. Ganz in der Nähe, zwischen den beiden künftig umzäunten Arealen der Krematorien, befand sich der Bereich für die Lagerung, Bearbeitung und Auf­b ereitung des Eigentums der noch lebenden Häftlinge wie auch der Wert­sachen, Kleidung und persönlichen Gegenstände der Ermordeten137, das sogenannte Effektenlager. Dieses gigantische Magazin erhielt im Lager eine zwar informelle, doch recht gebräuchliche Bezeichnung: „Kanada“ – von der Vorstellung herstammend, Kanada sei ein unsagbar reiches Land, in dem es förmlich alles gebe138. Selbst die SS-Wachen gebrauchten diesen Ausdruck. Auf dem Höhepunkt der Aktion zur Vernichtung der ungarischen Juden wurde die Praktik der Leicheneinäscherung in Verbrennungsgruben wieder aufgegriffen. Man bereitete wahrlich gigantische Gruben vor: 40 bis 50 Meter lang, acht Meter breit und zwei Meter tief. Sie wurden noch eigens ausgestattet mit Rinnen zum Fettabfluss, damit es besser brannte139. Bis zur Inbetriebnahme der vier neuen Krematorien in Birkenau 1943 wurden die Leichen aus den Gaskammern auf Loren, die sich auf schmalen Schienengleisen bewegten, an diese Flammenschlünde herangefahren. Ein echtes Musterbeispiel einer Tötungsfabrik: hervorragende Werkstätten, qualifiziertes Management, gedrilltes Personal! Hitler und Himmler als umsichtig-sparsame Chefs und die Juden als billige Arbeitskraft und zugleich günstiger Rohstoff – ob heimisch oder importiert, war nebensächlich: Transportkosten scheute man hier nicht. Überhaupt wurde an dem Wichtigsten, der industriellen Produktion jüdischer Asche, nicht gespart. 135 Kinderleichen konnten nach Bedarf hinzugefügt werden, nur gestapelt werden mussten sie auf Erwachsenenleichen, damit sie nicht gleich nach unten durchfielen und den Rost verstopften. 136 Dafür wurden ihre polnischen Eigentümer vorher zwangsweise ausquartiert. 137 Der Bau des Effektenlagers war im Dezember 1943 abgeschlossen. Zu dem Zeitpunkt zählte es 30 Blocks, darunter 25 Magazine und Arbeitsblocks. 138 Im Gegensatz zu Mexiko als einem sehr armen und chaotischen Land. Einer anderen Version zufolge war „Kanada“ das entstellte „Kanaan“, jenes Land, in dem Milch und Honig fließe. 139 Müller, 1979. S. 207–209.

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Sonderkommando: Rotationen und Selektionen Dies alles erforderte jedoch den Aufbau ständiger Arbeitskommandos, die diese Monsteranlagen bedienten  – und zwar ständig wechselnder Arbeitskommandos. Denn die Art des Betriebs brachte es naturgemäß mit sich, dass Rotationen  – der turnusmäßige Austausch der Eingeweihten  – vorgenommen wurden. Die Bezeichnung „Heizer Krematorium“ ist in den Verwaltungsakten des KL Auschwitz bereits seit September 1940 dokumentiert. Parallel zum „Kommando Krematorium“ bestand seit Mai 1942 ein „Fischl-Kommando“, benannt nach dessen Vorarbeiter Goliath Fischl140. Dieses Kommando war recht klein und bestand nach der Vereinigung mit dem Krematoriumskommando anfangs aus zehn, später, während der Einarbeitung eines „Kommando Krematorium II“, kurzzeitig aus 36 Mitgliedern141: aus drei und später sieben Polen (einschließlich des Kapos Mietek Morawa) sowie aus sieben und später dann aus 29 Juden. Der Kontakt zu anderen Häftlingen war den Juden des Sonderkommandos nicht mehr gestattet, weshalb sie im Keller des Bunkers untergebracht wurden, in den Zellen 13 und 7 des berüchtigten Blocks 11. Die polnischen Mitglieder des Sonderkommandos hausten hingegen ganz normal im Block 15, zusammen mit anderen Häftlingen: Nach den Worten von Filip Müller war der Kapo Morawa ein gnadenloser Antisemit, weinte jedoch um jedes Opfer aus der Reihe der Polen. Fünf der sieben Polen wurden zum Schluss in Mauthausen erschossen, einige Juden aus dem ursprünglichen Aufgebot überlebten aber durch irgendein Wunder die ganzen Säuberungen des Sonderkommandos und schafften es bis zur Befreiung. Wahrhaft Unsterbliche! Einer dieser Unsterblichen: Stanislaw Jankowski. Sein echter Name war Alter Feinsilber142. Er hatte in Spanien gekämpft und sich für einen polnischen Katholiken ausgegeben. Den Namen „Stanislaw Jankowski“ gab er sich in Frankreich, um seine jüdische Abstammung zu verbergen. Doch der Trick half nichts. Er wurde von der französischen Polizei festgenommen und als Jude identifiziert. Damit war sein weiterer Weg vorbestimmt: Erst ging es ins jüdische Sammellager in Drancy bei Paris,

140 Kapo der Heizer war Mietek Morawa, sodass Müller über eine eigenartige Doppelspitze innerhalb des Kommandos schreibt. Müller, 1979. S. 66 f. 141 Friedler, Siebert, Kilian, 2008. S. 47. 142 Seine Lagernummer ist eine sehr früh ausgegebene: 27675. Seine Aussage wurde am 16. April 1945 am Krakauer Bezirksgericht aufgenommen (siehe Jankowski, 1996).

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dann ins Transitlager in Compiègne und von Compiègne aus schließlich am 27. März 1942 in einem Transport von 1.118 Menschen (allesamt erwachsene Männer ohne Frauen und Kinder) nach Auschwitz, wo er am 30. März ankam. Nach der Aufnahme im Block 11 des Stammlagers gelangte der ganze Transport schließlich, über einen schlammigen Weg stapfend, nach Birkenau, wo Feinsilber-Jankowski vollständig registriert und im Block  13 des Abschnitts B I b untergebracht wurde. Der Blockführer war ein SS-Mann, der Blockälteste war deutscher Strafgefangener, der die Häftlinge bei jeder Gelegenheit verprügelte, um dem Blockführer am Morgen danach zu melden, wie viele von denen in der Nacht umgekommen waren. Je nach Anzahl der Opfer war der Blockführer zufrieden oder eben nicht: 15 war nicht ausreichend, 30 bis 35 Erschlagene mussten es schon sein. Bald jedoch wurde Feinsilber-Jankowski, von der Ausbildung her Tischler, aus Birkenau nach Auschwitz zurückgebracht, wo das Überleben unvergleichlich leichter war. Im November 1942 musste er seine Tätigkeit allerdings jäh ändern: Er wurde dem ersten Aufgebot des Sonderkommandos zugeteilt und dem Krematorium I als Heizer zugewiesen. Seine Aufgabe war, die Leichen der Verstorbenen oder Getöteten in die Öfen zu schieben. Die Arbeit begann um fünf Uhr morgens und endete um sieben Uhr abends, mit einer 15-minütigen Pause für das Mittagessen. Doch im Vergleich zu dem, was ihn bald schon in Birkenau erwartete, war das noch gar nicht so viel Arbeit. Außer den Leichen derjenigen, die die Selektion nicht passiert hatten, wurden die in Auschwitz I und in Auschwitz III (Monowitz) verstorbenen und getöteten Juden verbrannt. Erschossen wurden hier in der Regel die „Fremden“, meist sowjetische Kriegsgefangene, die – nicht aus dem Konzentrationslager – eigens zum Erschießen hierhin gebracht wurden. Hin und wieder erschoss man hier auch die „Eigenen“, darunter fast wöchentlich zehn bis 15 sowjetische Kriegsgefangene aus den Kellern des Blocks 11143 (weil sie ständig irgendeine Vorschrift brachen). Leichen – auch von Frauen und Kindern, häufig seziert – kamen zudem von den Medizinern aus dem Block 10 (dem Versuchslabor von Mengele) und dem Block 19, wo ebenfalls Versuche vorgenommen wurden – aber mit Bakterien –, sowie aus dem Block 13, dem jüdischen Lazarett. Freitags wurden Leichen aus der Stadt und dem gleich­ namigen Amtsbezirk Auschwitz übernommen144. 143 In Auschwitz I. 144 Darunter eines Tages auch die geköpfte Leiche von Julius Grünweller, dem Bürgermeister der Stadt Auschwitz.

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Im April 1942 kam der Zweite der „Unsterblichen“ nach Auschwitz und im Mai dann zum Sonderkommando: Filip Müller, ein slowakischer Jude aus dem Städtchen Sered‘145. Weitere drei am Leben gebliebene „Fischler“: Adolf Burger, Max Schwarz und Kiel. Bei der Einlieferung Filip Müllers ins Konzentrationslager befanden sich hauptsächlich Polen und Deutsche im Lager – insgesamt „gerade mal“ 10.629 Häftlinge. Unter ihnen waren auch 365 sowjetische Kriegsgefangene, der kümmerliche Rest jener 11.500 Gefangenen, die zwischen Juli 1941 und März 1942 hier registriert worden waren. Müllers „Laufbahn“ fing dann auch mit sowjetischen Kriegsgefangen an. Er beschreibt seinen ersten „Sündenfall“, nämlich als er gierig das Brot aufaß, das er in der Kleidung der Getöteten gefunden hatte. Nachdem drei seiner Kameraden, die er selbst entkleiden und auf die Kremierung vorbereiten musste, vor seinen Augen ermordet worden waren, geriet er an den tiefsten Abgrund der Verzweiflung. Und an jenem Abgrund blieb er stehen: Selbst in den Ofen zu springen, hätte er nicht fertiggebracht. Alles – nur nicht der Tod: „Ich wollte nur eins: leben!“ Im Grunde konnte man nur mit einer solchen Einstellung und dazu der Hoffnung, irgendwie und irgendwann hier auszubrechen, versuchen, diese Hölle durchzuhalten. Dem rückhaltlosen Überlebenswillen mengte sich die zaghafte Hoffnung bei, alles zu erzählen, was hier geschah146 – wenn du überlebst. Nachdem Müller im Juli 1943 in Birkenau in das Kommando Krematorium II eingewiesen worden war (etwa Mitte August 1943 kam er ins Krematorium V), hörte er mit Entsetzen dem Heizer Jukl (Wrobel?) zu: Dieser zeigte ihm den Aufbau des Monsterkrematoriums mit den Gaskammern, den Haartrocknungsräumen und den 15 Öfen mit der Einäscherungskapazität von einem ganzen Eisenbahnzug (und ganz in der Nähe war ja noch so eines). Die erste Mannschaft des Sonderkommandos, eine recht kleine, war dem Krematorium  I in Auschwitz  I zugewiesen. Die zweite, 70 bis 80 Männer (größtenteils slowakische Juden), arbeitete schon ab Frühjahr 1942 in Birkenau im Bunker 1. Anfangs bestand sie noch aus dem eigentlichen Sonderkommando, das mit den Leichen und in den Gaskammern arbeitete, und dem Begräbniskommando, das das Verscharren der Leichen in riesigen Gruben147 sicherstellte.

145 Er war einer der Zeugen im Frankfurter Auschwitz-Prozess. 146 Müller, 1979. S. 30. 147 Dem wurde später das erste Aufgebot angeschlossen.

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Bald schon wurde eine Rotation an ihnen vorgenommen – teils stückweise am Arbeitsplatz (Tötung durch SS-Männer), teils massenweise. Das dritte Aufgebot des Sonderkommandos unter dem Befehl von Obersturmführer Franz Hößler zählte schon rund 200 Mann148. Anfangs blieb die Arbeit unverändert: Entkleidungsbaracken, Gaskammern, Totengruben. Doch im September, nach Himmlers Besuch im Juli, fand plötzlich eine Umorganisation statt: Von da an wurden die Leichen nicht mehr vergraben, sondern in großen Gruben auf Scheiterhaufen verbrannt. Schon im September zählte das Sonderkommando 300 Mitglieder149, und diese Anzahl wuchs unaufhörlich weiter (einigen Angaben zufolge auf bis zu 400 Mann). Diese 300 Neulinge waren größtenteils damit beschäftigt, die bereits gefüllten Massengräber zu öffnen und zusammen mit den frischen auch noch die halbverwesten Leichen zu verbrennen. Natürlich fürchtete man die Verseuchung des Grundwassers und Epidemien. Das Wichtigste aber war etwas anderes: In Anbetracht der bevorstehenden grandiosen „Aufgabe“ (die Krematorien wurden zu dem Zeitpunkt schon unter Hochdruck gebaut) hätte es für Erdbestattungen einfach nicht genug Erde gegeben! Bis Dezember 1942 war die „Aktion 1005“ in Birkenau erfolgreich verlaufen: Einigen groben Schätzungen zufolge wurden mindestens 107.000 Leichen exhumiert und verbrannt. An dieser Stelle gab es keinen Zweifel mehr: Die Aktion war definitiv vollumfänglich und schlussendlich vollendet. Es war nun für diejenigen an der Zeit, zu sterben, die die Leichen ausgruben, hinüberschleppten und verbrannten. Das begriffen sie offensichtlich auch, vielleicht wussten sie es sogar mit Bestimmtheit, weil die Meldung bereits die Runde machte. Deshalb auch die vagen Gerüchte über die Vorbereitung eines Aufstands und die realen Fluchtversuche einiger Gruppen Anfang Dezember. Am 9. Dezember 1942 wurde das gesamte Kommando nach Auschwitz I gebracht und dort in die Gaskammer des Krematoriums I getrieben150. Das waren größtenteils slowakische und

148 Es gibt einen weiteren ungenauen Beleg über die Rotation des Sonderkommandos im Sommer 1942: den Bericht der vier französischen Ärzte Feigenbaum, Gaureau, Schaenfeld und Steinberg: „Das Personal des Sonderkommandos wurde sehr oft ‚erneuert‘ wie zum Beispiel die erste Gruppe, die im Juli 1942 aus russischen Kriegsgefangenen gebildet worden war und im August erschossen sowie durch 250 Juden – ebenfalls aus der Armee – ersetzt wurde (GARF. Bt. P-7021. Fb. 198. Nr. 56. Bl. 3). 149 Laut anderen Zeugnissen: 400 (Oleksy, 1995. S. 122). 150 Czech, 1989. S.  349. Mit Verweis auf: APMA-B. Höß-Prozess. Bd.  1. Bl.  17; Krakauer Auschwitz-­ Prozess. Bd. 7. Bl. 7, 113. Den formellen Anlass dazu lieferte eine Notiz, dass sie eine Flucht vorbereiteten. Laut Filip Müller wurden sie aber vom Stubendienst verraten.

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französische Juden, unter ihnen auch der Stubendienst Schmuel Katz und einige andere, alle aus Trnava, über die Rudolf Vrba und Alfréd Wetzler berichteten: Alexander und Wojtech Weiss, Fero Wagner, Oskar Scheiner, Dezider Wetzler und Aladar Spitzer151. Pery Broad betonte, dass diese Aktion auch bei den SS-Wachen einen tiefen Eindruck hinterließ, begriffen sie doch plötzlich, dass auch sie im Grunde genommen ebensolche „unerwünschte Augenzeugen“ waren und dass irgendwann sie selbst152 in die Gaskammern gepfercht werden könnten. Zwei Fluchtversuche sind dokumentiert und nachgewiesen: einer am 7. und einer am 9. Dezember153. Am frühen Morgen des 7.  Dezember flohen zwei: der slowakische Jude Ladislaus Knopp und der rumänische Jude Samuel Culea. Der Lagerführer Hans Aumeier gab den Befehl, sie zu suchen – wobei im Befehl speziell darauf hingewiesen wurde, dass es aus staatspolizeilichen Gründen besonders wichtig sei, die Geflohenen zu fassen. Weit kamen die zwei Häftlinge nicht: Noch am selben Tag wurden sie um 20.30 Uhr in Harmense gefangen und an die Stammlagerwachen übergeben154. Am 10.  Dezember wurden sie im Gefängnis(bunker)buch des Blocks  11155 registriert und fünf Tage später ins Lager entlassen, wonach sie offenbar ermordet wurde156. Am Vortag, dem 9. Dezember 1942, hatte der Chef des Wachdienstes um 12.25 Uhr eine Mitteilung über die Flucht weiterer sechs Mitglieder des Sonderkommandos erhalten. Die Flüchtigen hatten einen sehr dichten Nebel auf ihrer Seite, sodass die Suche nach ihnen um 17 Uhr abgebrochen wurden157. Am nächsten Tag wurden zwei aus der Sechsertruppe gefangen und in den Block 11 eskortiert. Dies waren die Brüder Bar und Nojech Borenstein. Beide waren weniger als einen Monat vor ihrer Flucht nach Auschwitz-Birkenau gekommen, am 14. November mit einem Transport aus Zichenau158. Offenbar zur Abschreckung aller anderen Häftlinge wurden die zwei Brüder öffentlich gehängt – am 17. Dezem151 Report of Rudolf Vrba and Alfred Wetzler, 1997. Sie teilen auch ein recht spätes Datum der Selektion mit (17. Dezember), das mit anderen Informationen nicht übereinstimmt. 152 KL Auschwitz in den Augen der SS, 2005. S. 127. 153 Czech, 1989. S. 352 f. Mit Verweis auf: APMA-B. Höß-Prozess. Bd. 1. Bl. 17; Krakauer AuschwitzProzess. Bd. 11. Bl. 102–121. 154 Czech, 1989. S. 355. Mit Verweis auf: APMA-B. D-Au I.1/3, Fb. D, Bl. 158; APMA-B. IZ-8/GestapoLodz/3/88/87. 155 Czech, 1989. S. 355 f. Mit Verweis auf: APMA-B. D-Au I.3/1b. Bunkerbuch. S. 91. 156 Vermutlich am 15. Dezember 1942. 157 Czech, 1989. S. 355. Mit Verweis auf: APMA-B. D-Au I.1/3, Fb. D, Bl. 158. 158 Czech, 1989. S. 355 f. Mit Verweis auf: APMA-B. D-Au I.3/1b. Bunkerbuch. S. 91.

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ber159. Wir sehen also, dass einigen die Flucht gelang, obwohl wir über das weitere Schicksal dieser aus der Hölle Geflohenen keine Informationen haben. Wie dem auch sei: Am 9. Dezember fing man in Auschwitz-Birkenau an, hastig ein neues Sonderkommando aus neuen Häftlingen des Lagerbereichs B I b zusammenzustellen. Eben dann kamen Gradowski, Lewenthal, Langfuß und viele andere polnische Juden an die Reihe, die am Ende der ersten Dezemberdekade nach Birkenau gekommen waren: Durch sie wurden die Toten schnell ersetzt – und zwar unter Bruch aller Regeln ohne jedwede Quarantäne. Den Großteil der Männer stellten diesmal die polnischen Juden. Unter den „Einberufenen“ waren auch die, die das Ende des Lagers erlebten: Milton Buki und Shlomo Dragon. Bis Mitte Juli 1943 wurden sie im isolierten 2.  Block des Lagerbauabschnitts B  I (B  I  b) in Birkenau untergebracht. Ab Mitte März nahm eines nach dem anderen der Krematorien in Birkenau den Betrieb auf. „Arbeit“ gab es immer mehr als genug … Von Dezember 1942 bis März 1943 erhöhte sich die Mitgliederzahl des Sonderkommandos: von 300 auf 400 Mann. Die Mehrheit unter den Neulingen waren Juden aus Polen und Frankreich160, die Minderheit aus Griechenland, der Slowakei und den Niederlanden. Was die griechischen Juden anbelangt, sollte man zwei Deportationswellen in Erinnerung behalten, die sich voneinander unübersehbar unterschieden. Beide zogen sich jeweils über ein halbes Jahr hin, von März bis August  – die erste und größte (19 Eisenbahnzüge, 46.000 Menschen) im Jahre 1943, die zweite (23.000 Menschen) 1944. 1943 wurden Juden aus der deutschen und bulgarischen Besatzungszone in Griechenland161 deportiert, hauptsächlich aus Thessaloniki162; 1944 dann aus dem ehemals italienisch okkupierten Gebiet: Italienische wie auch griechische Juden aus der italienischen Besatzungszone hatte der Duce an den Führer nicht ausgeliefert, wie auch der Zar Boris seine Juden nicht hergab (griechische Juden hingegen: bitte sehr!). Nach dem Badoglio-Putsch im Juli 1943 aber entfiel die Notwendigkeit, sich mit dem Duce abzustimmen163. 159 Im „Kalendarium“ von Danuta Czech ist an diesem Tag nichts über eine öffentliche Hinrichtung vermerkt. 160 Aussage Henryk Tauber, in: W. Dlugoborski und F. Piper (Hrsg.), Studien zur Geschichte des Konzentrationslagers Auschwitz. Bd.  III. Oswiecim 1999, S.  273–302. Unter den französischen Juden waren nicht wenige polnische, die in den 1920er Jahren nach Frankreich emigriert waren. 161 Zur gleichen Zeit deportierte die bulgarische Führung Juden aus ihrer Besatzungszone, so auch aus Teilen Mazedoniens. Deportiert wurden sie nach Treblinka (mindestens fünf Eisenbahnzüge, rund 11.000 Menschen). 162 Nur einige Hundert von ihnen gelangten nicht nach Auschwitz, sondern nach Bergen-Belsen. 163 Czech, 1970. S. 16–21.

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Dazu muss man sagen, dass die griechischen Sephardim sich auch äußerlich merklich von ihren ost- und westeuropäischen Brüdern, den Aschkenasim, unterschieden. Das zermürbende Leben im Ghetto kannten sie nahezu gar nicht, unter ihnen gab es nicht wenige ehemalige Soldaten und Partisanen  – echte Kämpfer, die für sich einstehen konnten, was sie in Auschwitz auch bewiesen. Nicht umsonst vergleicht einer der Filmcharaktere von Lanzmann sie, die er in Treblinka gesehen hat, mit den Helden-Makkabäern164. Doch in Treblinka II gab es nicht mal Selektionen, weshalb die Häftlinge keine Zeit hatten, sich umzuschauen. Gleich an der Rampe wurden sie ihres Gepäcks entledigt, in den Entkleidungsbaracken dann ihrer Kleidung; danach wurden sie in einen nach oben verlaufenden „Schlauch“ getrieben, einen Korridor, durch Decken und vergilbte Kiefernadeln abgedichtet. Dieser Schlauch führte recht schnell auf die Spitze eines Hügels, auf dem sie das Allerwichtigste erwartete: der Block einer Gaskammer, die mit Verbrennungsgasen betrieben wurde – das Herz der Vernichtungsmaschinerie. Von der Ankunft bis zum „Abgang“ vergingen gerade einmal zwei, drei Stunden; kein einziger Makkabäer überlebte Treblinka. Die Mitglieder des Sonderkommandos arbeiteten damals in zwei Schichten und in fünf Abschnitten: zwei Brigaden je 100 Mann in den Krematorien II und III, zwei je 60 in den Krematorien IV und V sowie eine Brigade in der Spurenbeseitigung – seit Sommer 1944 wurde die Asche ausgegraben und in die Weichsel geworfen. Mitte Juli 1943, nachdem in den Blöcken des Bauabschnitts B I b ein Frauenlager eingerichtet worden war, wurden sie in den isolierten Block 13 des neu geschaffenen Männerlagers des Bauabschnitts B II in Birkenau (B II d) verlegt, weiter weg von den Krematorien II und III und näher an die Krematorien IV und V. Eben dorthin, in Block 13, kam später die nachrückende Verstärkung165. Nachdem es in Block  13 eng geworden war, wurden die Neuankömmlinge auch auf die Blöcke 9 und 11 verteilt. Von der benachbarten eigenen Waschbaracke war Block 13 durch einen von einer Mauer begrenzten Hof getrennt, an deren Tor immer eine Blockwache stand. Der Hof des auf der anderen Seite der Waschbaracke befindlichen 164 Lanzmann, 1986. 165 Nach Angaben von Shlomo Dragon: rund 200 griechische und 500 ungarische Juden (Greif, 1999. S. 169). Die Zahlen beziehen sich höchstwahrscheinlich auf das Jahr 1944 und sind wahrscheinlich aufgerundet.

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Blocks 11 war ebenfalls durch eine Mauer abgesperrt. Doch die Korruption öffnete  – dieser Isolation zum Trotz  – jede Tür. Den Ruf ausgewiesener Schwarzmarktkenner verdienten sich die Söhne des Kapos Shlomo Kirszenbaum. In dieser Baracke gab es auch eine kleine „Klinik“: eine Krankenabteilung mit 20 Betten, mit dem Franzosen Jacques Pach als Chefarzt ab 1943. Auch ein eigenes Glaubensleben gab es, mit einem eigenen Minjan und sogar einem Dajan166: Lejb Langfuß aus Makow. Sie und einige andere beteten in ihrer ganzen Freizeit! Anfangs wetterte man gegen ihn, genauer gesagt gegen Gott. Dem Letzteren sprach man sowohl Gerechtigkeit als auch Existenz ab. Einer seiner früheren Schüler warf Langfuß an den Kopf: „Es gibt keinen Gott, und wenn es einen gäbe, wäre er ein Ochse und ein Hurensohn.“167 Den Dajan respektierte man dennoch und hörte auf ihn. In welchem Block auch immer das Sonderkommando in Birkenau untergebracht war, der Blockälteste168 war von April 1943 bis zum Umzug in die Krematorien stets der 32-jährige französische Jude polnischer Abstammung Serge ­Szawinski, ehemaliger Textilhändler (laut anderen Quellen: Zuhälter) in Paris. Er trug eine rote Armbinde mit weißer Aufschrift: „Blockältester Block  13“. Nach Auschwitz war er schon am 30. März 1942 gekommen, mit dem ersten RSHA-Transport aus Frankreich. Salmen Lewenthal bezeichnete ihn als den „letzten Verbrecher“ und Marcel Nadjari als einen Menschen, wie man ihn sich schlimmer kaum vorstellen könne: Stattlich, immer frisch rasiert und zynisch machte er mit aller Kraft und größtem Vergnügen von seinem Recht Gebrauch, seine „Schutzbefohlenen“169 zu schlagen. Salmen Gradowski jedoch spricht in neutraler Weise über ihn: Der „Lagervater“, groß, hellhaarig, beleibt, lächelnd, gebe beim ersten Kennenlernen mit einem Neuankömmling recht vernünftige psychologische und hygienische Tipps. Jüdische Kapos waren zu unterschiedlichen Zeiten: Eliezer (Leizer) Welbel aus Lunna in den Krematorien IV und V; Ajzik Kalniak aus Lomza im Krematorium V und später im Haartrocknungsraum des Krematoriums III; Shlomo Kirszenbaum aus Makow war Kapo der Tagesschicht im Krematorium V; 166 Ein Dajan ist ein Richter und Mitglied des Rabbinerkollegiums. Er hat das Recht, rituelle Angelegenheiten und andere Fragen der Halacha zu klären sowie Fälle zu lösen, die beim Rabbinergericht eingereicht werden. 167 Müller, 1979. S. 105. 168 Der höchste Posten in der alltäglichen Barackenhierarchie der Häftlinge (ähnlich dem Kapo oder Oberkapo als höchstem Posten in deren Arbeitshierarchie). Den Blockältesten unterstanden die Sztubowi (Stubendienste), die Schreiber und die Wachen aus den Reihen der Häftlinge. 169 Natzari, 1991. S. 41 f.

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Ajzik Nowik aus Lunna war Kapo der Tagesschicht (?) im Krematorium V (?); Daniel Obstbaum im Krematorium  IV170 und Chaim-Lemke Pliszko aus ­Czerwony Bór war Kapo im Krematorium III171. Die „steilste Karriere“ aber machte Jakob (Jaacov) Kaminski, geboren in Skidel oder Sokolka172: Schon im März 1943 war er Kapo im Krematorium III und von Dezember 1943 bis April 1944 Oberkapo, danach Kapo im Krematorium  II. Der Arzt Jakub Gordon, der Kaminski schon von vor dem Krieg kannte, traf ihn zufällig in Birkenau wieder: Von Ende April bis Mitte Juli 1943 waren ihre Baracken (Block 1 und 2) nebeneinander und Kaminski erzählte Gordon im Vertrauen, oft und ausgiebig und manchmal unter Tränen, was das Sonderkommando tun musste und welcher Umgang dort herrschte.

Verstärkung aus Majdanek Im Januar 1944 scheiterte ein Fluchtversuch – beteiligt waren der Kapo Daniel Obstbaum173 aus Frankreich, der Stubendienst Majorczyk aus Warschau, Ferro Langer aus der Slowakei und zwei weitere Mitglieder des Sonderkommandos aus den Reihen französischer Juden. Als Vergeltung wurden rund 200 Mitglieder des Sonderkommandos nach Majdanek geschickt, angeblich um dortigen Kollegen zu helfen. Am 16. April 1944 aber kam die Verstärkung hingegen von Majdanek nach Auschwitz: 19 sowjetische Kriegsgefangene, angeführt von Karl Töpfer, einem deutschen Kapo aus Majdanek. Als die Mitglieder des Sonderkommandos von Birkenau an einigen der Neuankömmlinge die Kleidung „ihrer“ im Februar verlegten Kollegen sahen, wurde ihnen alles klar. Die Neuen bestätigten auch: Die Auschwitzer „Brigade“ war in der Tat nach Majdanek gebracht und dort liquidiert worden, hatte vor dem Tod jedoch heftigen Widerstand geleistet. Diese Verstärkung hat eine besondere Geschichte und Vorgeschichte. Denn die Idee, Juden als Sonderkommando einzusetzen, war nicht gleich 170 Müller, 1979. S. 88 f. 171 Venezia, 2008. S. 127 f. 172 In einigen Zeugnissen hieß es, Kaminski sei aus Zichenau gewesen. Doch die Aussage von Jakub Gordon widerspricht dem entschieden (und hebt übrigens den Vorwurf gegen Kaminski auf, dieser sei der „Kapo von Zichenau“ gewesen, der Eisenschmidt gefoltert habe) (Greif, 1999. S. 269). 173 Daniel Obstbaum war ein alter Lagerhäftling mit einer Nummer um die 38.000, polnischer Jude und Kommunist, der nach Frankreich gezogen war und dort in der Fremdenlegion gedient hatte – ein sentimentaler Mensch. Er hielt seine Hand über Eisenschmidt, auch wegen dessen Vergangenheit in der Beitar und dem Komsomol (Greif, 1999. S. 268 f).

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und nicht überall umgesetzt worden. Der SS-Oberscharführer Erich Mußfeldt, Mitte November 1941 bis Anfang April 1944 erst Kommandoführer, dann Krematoriumsleiter in Majdanek, gab im Prozess von 1947 174 an, dass sein Bestattungskommando in Majdanek – im Grunde das erste Sonderkommando – anfangs gar nicht aus KZ-Häftlingen bestanden hatte, sondern aus polnisch-jüdischen Kriegsgefangenen, die dem Konzentrationslager von den Deutschen Ausrüstungswerken DAW gewissermaßen geliehen worden waren aus dem Bestand des entsprechenden Stalags, das sich im Zentrum Lublins175 befand. Doch wurden sie alle vom Typhus befallen, der auch vor Mußfeldt nicht haltmachte: Zwar starb er damals nicht, verließ das Krankenhaus aber erst im April 1942. Nach dem Krankenhausaufenthalt waren 20 sowjetische Kriegsgefangene176 in seiner Mannschaft  – nicht „geliehene“, sondern eigene, die er auch bei Bestattungen im Krepiec-Wald einsetzte, wo die Erschießungen177 stattfanden. Im Juni 1942 wurde in Majdanek zwischen den „Feldern“178  I und II ein eigenes Krematorium (der Firma Kori) in Betrieb genommen. Für die Einäscherung einer Leichenladung ging eine Stunde drauf: Zwei bis fünf Leichen passten in eine Retorte; die Tageskapazität eines Ofens betrug 100 Leichen; zwei Öfen179 gab es. Das Krematorium wurde von einem Sonderkommando bedient, bestehend aus mehreren (drei bis sechs) sowjetischen Kriegsgefangenen der „alten“ Mannschaft und einem Kapo. Dieser war anfangs ein slowakischer Jude, dessen Name in den Quellen nicht erhalten ist. Sein Nachfolger war der deutsche Strafhäftling Hans Fischer aus Wien, der eine festgelegte Haftstrafe im Lager verbüßte. Die Mitglieder dieser ersten Sonderkommandos wohnten in gewöhnlichen Baracken zusammen mit anderen Häftlingen. 1943 wurden sie isoliert und in das Krematorium verlegt. Dort wohnte, wohl aber gesondert, auch Seitz, Mußfeldts Stellvertreter. Mußfeldt wohnte im SS-Wohnheim180. 174 Hier und ferner: Aussage von Erich Mußfeldt vom 14. und 16.  August 1947 (siehe ŻmijewskaWiśniewska, 1999. S. 19–33). 175 In der Lipowa-Straße 7. 176 Von höchstens 300 sowjetischen Kriegsgefangenen, die die Epidemie überlebt hatten. 177 Einigen Angaben zufolge zählte auch die direkte Teilnahme an der Tötung der Opfer zu den Aufgaben des Sonderkommandos aus Majdanek. Diese Behauptungen konnten jedoch nicht hinreichend belegt werden. 178 So hießen in Majdanek bestimmte Lagerbereiche, analog zu den Lagerabschnitten in Bir­kenau. 179 Sie wurden aus Sachsenhausen verlegt. 180 Aus der Aussage von Robert Seitz, Mußfeldts Stellvertreter im Krematorium von Majdanek (APMM. Verhörprotokoll 1961. Kopie. 1544).

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Später wurde zwischen den Feldern V und VI, unweit des neuen Krematoriums, eine eigene Baracke für das Sonderkommando gebaut. Zu den Pflichten des Bestattungskommandos zählte ursprünglich wohlgemerkt nicht nur die Einäscherung, sondern auch die Ausübung der Henkersfunktion. Im Leichenhaus gab es zwei oder drei Haken, an denen die zum Tod verdammten Häftlinge aufgehängt wurden. Dies waren in der Regel keine kräftigen Schlägertypen, sondern aufs Skelett ausgehungerte Gestalten, die von den Blockführern zur Hinrichtung geführt wurden. Nachdem einer der Kriegsgefangenen aus dieser Mannschaft im Herbst 1942 geflohen war, wurden alle anderen liquidiert. An ihrer Stelle arbeiteten 1943 20 französische und deutsche Juden sowie drei sowjetische Kriegsgefangene. Zusätzlich ein deutscher Kapo: anfangs jener Fischer, später dann ein anderer. Über ihn ist weiter nur bekannt, dass er ein jüdischer Medizinstudent war und aus Wien stammte. Im Februar 1943 schickte Florstedt, der Lagerkommandant von Majdanek, Mußfeldt nach Auschwitz, um zu erfahren, wie sie dort Leichen auf offenem Feld verbrannten. Höß trug dem Schutzhaftlagerführer Aumeier und dem Leiter der Politischen Abteilung Grabner auf, sich dessen Anliegen anzunehmen. Erforderlich wurde diese Erkundung, um im Rahmen der „Aktion 1005“ selbst damit anzufangen, die Leichen der im Krepiec-Wald Erschossenen auszugraben und zu verbrennen. Damit sie besser brannten, wurden die Leichen mit Methanol begossen. Zeitgleich konnten bis zu 100 Leichen verbrannt werden. Damals wurden im Wald rund 6000 „alte“ Leichen verbrannt und hinter dem fünften Feld 3000 „neue“, doch sind diese Zahlen höchstwahrscheinlich stark untertrieben. Der Deutsche Bruno Horn korrigierte einen anderen „Fehler“: Er öffnete den halbverwesten Leichen die Münder und zog ihnen für das Dritte Reich die Goldzähne. Ende Oktober 1943 wurden hinter den Feldern V und VI eilends Gruben ausgehoben. Rund 100 SS-Männer kamen von überall her nach Majdanek, darunter auch zwölf Schützen aus Auschwitz, unter ihnen Moll und Hößler. Am 4. November 1943 wurden an den Gruben 17.000 bis 18.000 Juden erschossen – eine der Rekordziffern aller Massenerschießungen, wo auch immer sie vorgenommen wurden. Die Juden aus Mußfeldts Sonderkommando wurden ebenfalls erschossen. Mußfeldt soll angeblich zum neuen Lagerkommandanten Thumann gegangen sein und ihn gebeten haben, ihm „seine“ Juden zu lassen, was dieser jedoch ablehnte. Er verwies darauf, dass Frank fordere, in Lublin endlich ohne Juden auszukommen. Also musste Mußfeldt sich ein neues Sonder76

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kommando zusammensuchen – wieder aus sowjetischen Kriegs­gefangenen: Sie arbeiteten an der Verbrennung der Leichen bis Weihnachten 1943. Im November 1943 wurde hinter dem Feld V von derselben Firma Kori181 ein neues Krematorium in Betrieb gesetzt. Zwar war es schon im Juni fertiggestellt worden, lief bis Januar 1944 aber mit Unterbrechungen, wobei es von derselben Mannschaft sowjetischer Kriegsgefangener bedient wurde, die zuvor mit der Einäscherung alter Leichen beschäftigt gewesen war. Als Mußfeldt am 6. April nach Birkenau versetzt werden sollte, bat er Martin Weiß, den neuen Majdanek-Kommandanten, diese 20-Mann-Truppe mitnehmen zu dürfen, damit sie in Birkenau „normal“ arbeiten könnten  – sie könnten ja nichts anderes. Weiß schrieb mit der Bitte um Arbeit für diese 20 Mann sogar an den Kommandanten von Auschwitz, SS-Obersturmbannführer Liebehenschel. Entweder hatte Mußfeldt diesen ungewöhnlichen Transport persönlich begleitet, der am 16. April in Auschwitz ankam, oder zumindest empfing er ihn an der Rampe. Der Transport ist in allen drei Chroniken der Ereignisse festgehalten: in den beiden von Majdanek und in jener von Auschwitz. In allen drei werden sowjetische Kriegsgefangene – Mitglieder des Sonderkommandos  – erwähnt, andere Berichte bestätigen sich allerdings nicht gegenseitig. Dennoch wollen wir sie anführen. Laut Zofia Leszczyńska, der ersten Majdanek-Chronistin, ging am 13. April ein großer Transport von 4.200 Häftlingen nach Auschwitz, darunter 1.288 Frauen. In jenem Zug befanden sich auch drei sowjetische Generalmajore: Timofej Jakowlewitsch Nowikow, Georgij Wassiljewitsch Susmanowitsch und Dmitrij Michailowitsch Karbyschew  – und zudem sowjetische Kriegsgefangene aus dem Sonderkommando. Die Letzteren wurden  – wie auch die Frauen  – laut Leszczyńska in Auschwitz getötet182. In einer anderen Chronik, jener von 1991, ist von 2.566 Menschen in dem Transport die Rede, davon 1.239 Männer, 1.287 Frauen und 40 Kinder183. In der Auschwitz-Chronik von Danuta Czech finden wir zum 16. April Angaben, die gut zu dem passen, was Mußfeldt vor Gericht erzählte: Mit dem Transport aus Majdanek kamen 299 Juden (bei Mußfeldt: 275), zwei Kinder und 20 Mitglieder des Sonderkommandos (ein deutscher Häftling und 19 sowjetische Kriegsgefangene), wobei die Letzteren nicht getötet, sondern

181 Die Firma lieferte Krematorien auch nach Sachsenhausen und Buchenwald. 182 Leszczyńska, 1980. S. 319. Mit Verweis auf: APMM. OPUS 10. S. 717; OPUS 9. S. 59. 183 Majdanek 1941–1944, 1991. S. 455.

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registriert wurden184. Empfangen wurde der Transport von Liebehenschel, dem Standortältesten und Lagerkommandanten von Auschwitz, der Mußfeldt an den Lagerkommandanten von Birkenau, Hartjenstein, verwies. Dieser erklärte, sie am Leben zu lassen, sei unmöglich, weil die Neuen vom Sonderkommando in ein wichtiges Staatsgeheimnis eingeweiht seien. Nachdem er auch beim Schutzhaftlagerführer Schwarzhuber kein Verständnis gefunden hatte, verabschiedete sich Mußfeldt von jedem Angehörigen „seines“ Sonderkommandos per Handschlag und fuhr nach Lublin, um seine Sachen zu holen. Als er nach drei, vier Tagen nach Birkenau zurückkehrte, wartete eine Überraschung auf ihn. Liebehenschel, damals Standortältester, leitete ihn an Kramer weiter, den neuen Lagerkommandanten von Birkenau. Dieser ernannte ihn zum Chef der Krematorien IV und V – eine Entscheidung, die nachkorrigiert wurde: Der SS-Oberscharführer Peter Voss, Kommandoführer aller Gaskammern und Krematorien, und Otto Moll, Verantwortlicher für den Betrieb aller Krematorien (er war der unmittelbare Chef des Sonderkommandos), ernannten Mußfeldt zum Leiter der Krematorien II und III. In den Krematorien IV und V traf er unerwartet auf die Mitglieder „seines“ Sonderkommandos, heil und unversehrt185. Hier setzte Mußfeldt dann durch, dass sie alle zu ihm in die Krematorien II und III versetzt wurden. Nachdem das gesamte Sonderkommando zur Arbeit in diesen Krematorien eingeteilt worden war, wurden die sowjetischen Kriegsgefangenen zu ungefähr gleichen Teilen zur Unterbringung auf die Krematorien II, III und IV verteilt (das Krematorium V war unbewohnt).

Die letzten Selektionen Die Namen dieser 20 Personen konnten bis auf eine Ausnahme bislang nicht geklärt werden186. Zu erraten, warum sie am Leben gelassen wurden, ist hin184 Czech, 1989. S. 757. Mit Verweis auf: Dok. des ISD Arolsen. NB-Frauen, Bl. 31. Die unterschiedlichen Angaben zu der Anzahl der Deportierten sind nur damit zu erklären, dass der Großteil davon nicht für Auschwitz bestimmt war. 185 Die 275 Jüdinnen aus Majdanek wurden aber nahezu unverzüglich im Krematorium IV ge­tötet. 186 Der einzige verbürgte Fall ist der russische Kriegsgefangene Aleksander Schenkarenko, geboren am 10.10.1921 in Witowzy (Ukraine), Häftlingsnummer R-11526. Rein spekulativ können zwei Nachnamen genannt werden: Motin (Mitin?) und Malinkow (Malenkow? Malinow?) und noch einige Namen oder Spitznamen: Wiktor, Gawrila, Grigorij, Iwan (dieser Name ist am häufigsten anzutreffen), Luka, Ljubaschka (Saschka), Mischka, Nikolaj und Jurka (vgl. Sabotschen, 1965; Kilian, 2002. S. 22; Venezia, 2008. S. 143, 175 f.). Mindestens drei, vier Kriegsgefangene waren Juden.

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gegen gar nicht so schwer. Es ist nämlich so, dass ab Mitte Mai 1944 massenweise ungarische Juden in Auschwitz ankamen. Die Zahlenstärke des Sonderkommandos nahm deshalb auf 873 bzw. 874 Männer zu (die 30 Mann nicht mitgerechnet, die mit dem Entladen von Koks oder Holz beschäftigt waren), unter ihnen rund 450 ungarische, 200 polnische, 180 griechische187, fünf deutsche, drei slowakische und ein holländischer Jude188 – außerdem 19 sowjetische Kriegsgefangene, fünf polnische Häftlinge und ein deutscher Kapo189. Insgesamt gab es in Birkenau auf dem Höhepunkt der Ungarn-Aktion vier halbautonome Arbeitskommandos, die in Tages- und Nachtschichten rund um die Uhr mit der Einäscherung der Leichen beschäftigt waren – jedes mit einer Stärke von ungefähr 170 Mann, jedes mit einer eigenen Nummer: Das 57. arbeitete im Krematorium II, das 58. im Krematorium III, das 59. im Krematorium  IV und das 60. im Krematorium  V. Im Juni 1944 wurden ihre Unterkünfte unerwartet nahe an die „Arbeitsstelle“ verlegt. Wer die Krematorien II und III bediente, wurde buchstäblich über den Öfen untergebracht, auf dem Dachboden nämlich. Und wer in den Krematorien IV und V arbeitete, bekam eine noch symbolträchtigere Unterkunft: im Entkleidungsraum vor der Gaskammer des Krematoriums IV. Zwischen den Mitgliedern der Sonderkommandos, die die vier Krematorien bedienten, gab es Unterschiede, die das aufmerksame Auge eines Pathologen festgehalten hat: Miklós Nyiszli betonte, im Krematorium  IV etwa hätten größtenteils polnische, griechische und ungarische Juden gearbeitet; im Krematorium  V seien dies größtenteils polnische und franzö­ sische gewesen190. Am 23. September 1944, nach dem Ende der Ungarn-Aktion, wurden 200 Angehörige des Sonderkommandos ausgewählt, angeblich, um in das Nebenlager Gleiwitz verlegt zu werden; tatsächlich aber wurden sie in die Desinfektionskammer im Effektenlager von Auschwitz I geschickt und dann in Säcken zur Einäscherung nach Birkenau gebracht  – wobei diesmal die SS-Wachen selbst die Verbrennung vornahmen. 187 Laut Nadjari waren etwa 150 aus dem Athener Transport, der am 11. April 1944 in Auschwitz ankam (Nadjari, 1991. S. 47). 188 Holländische Juden waren der Aussage von Eisenschmidt zufolge für die Ausführung dieser Arbeit derart schlecht geeignet, dass von den 50 Mitgliedern des Sonderkommandos aus ihren Reihen nur einer überlebte. 189 Müller, 1979. S. 143. Einer der fünf deutschen Juden war ein gewisser Zander aus Berlin, Schwager von einem der SS-Kommandoführer. 190 Nyiszli, 2005. S. 56.

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Die nächste „Dezimierung“ war für den 7. Oktober angesetzt: Es existierte bereits eine Liste mit 300 Namen, deshalb auch das Datum des Aufstands, an dem sich die Mitglieder der Sonderkommandos aus mindestens drei Krematorien beteiligten. Bei der Niederschlagung des Aufstands starben 250 Menschen, 200 weitere wurden noch am selben Tag erschossen. Am 9. Oktober waren 212 Männer noch am Leben. Die Krematorien II, III und IV waren nicht in Betrieb; ein unternehmensfreudiger Kommandoführer stellte in einer der Gaskammern von Krematorium V übergangsweise Kaninchenställe auf. Nur das Krematorium V191 setzte seine Arbeit fort, wobei Mengele auch dort seine Versuche an Toten und Lebenden in einem verlegten Sektionsraum weiterführte. Die nächste und letzte Selektion des Sonderkommandos fand am 26. November 1944 statt: 170 Männer wurden aus der „Zone“ gefahren, 100 von ihnen wurden in ein anderes Lager „verlegt“ um dort ermordet zu werden, die restlichen 70 im Abbruch eingesetzt. Sie wurden gar umbenannt (in „Abbruchkommando“) und wurden in den Lagerabschnitt B  II  d zurück­ gebracht, aber nicht in die alte Baracke des Sonderkommandos (Block  13), sondern in die gewöhnliche (Block 16). Die verbliebenen 30 Männer hausten weiter im Krematorium V192. Endgültig gesprengt wurde das Krematorium  V erst am 26.  Januar 1945, buchstäblich einen Tag vor der Befreiung des Lagers. Zu diesen 30 zählten beispielsweise auch Eisenschmidt und Müller. Jetzt gaben die Mitglieder des Sonderkommandos ihre Dollar und Diamanten aus und tauschten sie bei SS-Wachen gegen Brot, Wurst und Zigaretten. Der Sektionsgehilfe Fischer ließ sich eine Methode zur Vermehrung des Tauschkapitals einfallen: Er goss falsche Goldzähne aus jenem Messing, das unter den Trümmern hervorgeholt werden konnte. So blieben am 18. Januar 1945, dem Tag der Evakuierung des Lagers, an die 100 Mitglieder des Sonderkommandos am Leben. An jenem Tag, dem 18. Januar, war überall Feuer und Rauch vom Verbrennen der Karteien und Unterlagen zu sehen. Das Sonderkommando des Krematoriums V ließ seine Chefs nicht aus den Augen: SS-Unterscharführer Gorges, Kurschuß und noch einen anderen. Niemand aber führte sie zur Erschießung. Stattdessen kam am Abend der Blockführer und befahl: „Alle ins Lager“. Dort trafen sie auf die anderen 70. 191 Dort arbeitete Eisenschmidt, erst als Schlepper, dann als Elektriker. 192 Miklós Nyiszli nahm – vermutlich irrtümlich – an, dass diese 30 ein neues Aufgebot des Sonderkommandos waren. 193 Müller, 1979. S. 276 f.

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In der frostigen und schneereichen Nacht begann der Todesmarsch. Die Angehörigen des Sonderkommandos warteten nicht auf den Morgen, sondern krochen wie Schatten aus ihrer unbewachten Baracke und schlossen sich in der Morgendämmerung der Kolonne an. Mehrere Tage Fußmarsch bis zur Bahnstation Loslau und von dort aus noch einige Tage in offenen Waggons nach Mauthausen. Mindestens sieben Männern ist es gelungen, unterwegs zu fliehen: ­Tauber, Dragon, Jankowski, Buki, Eisenschmidt, Cyzner und Mandelbaum. Es wäre logisch, anzunehmen, man hätte sie bei der Ankunft in Mauthausen gesucht, um sie zu beseitigen. Doch anfangs interessierte sich niemand für die Kenner eines der schrecklichsten Geheimnisse. Erst am dritten Tag gab ein Mauthausener SS-Unterscharführer den Befehl: „Alle Mitglieder des Sonderkommandos raustreten!“ – nicht einer von ihnen rührte sich. Später traf Müller auf Gorges: Statt ihn zu verraten, brachte der ihm Brot193. Dennoch fand in Mauthausen die letzte Liquidierung aus den Reihen des Sonderkommandos statt. Diesmal wurden aber nicht die Juden, sondern fünf polnische Mitglieder getötet: der Kapo Mieczysław (Mietek) Morawa194, Wacław Lipka, Josef Ilczuk, Władysław Biskup und Jan Agrestowski.

Wer kam zum Sonderkommando? Wovon hing es ab, ob ein Häftling dem Sonderkommando zugeteilt wurde oder nicht? Man kann sagen: von der Verkettung vieler Umstände. Zunächst spielte die Selektion an der Rampe eine Rolle195. Und im Häftlingslager eine zweite Selektion für ein Arbeitskommando, in der bei Bedarf auch Männer für das Sonderkommando ausgesucht wurden. Entscheidende Kriterien waren die Gesundheit und die Statur. Danach stand den Kandidaten für das Sonderkommando eine weitere Selektion bevor: die ärztliche Kommission, die deren Eignung für diese Sklavenarbeit feststellte. Dabei wurde auch eine intuitivphysiognomische Prognose ihrer potenziellen Kollaborationsloyalität in Betracht gezogen. Bist du kräftig und gesund, gibst dich bescheiden, schaust demütig statt aufsässig – dann bleibst du am Leben. Du wirst nicht auf einem Lastwagen in einen Vergasungsbunker gefahren, sondern in einer Kolonne zu einer Baracke 194 Morawa hatte vorher versucht, zu entwischen, doch der Versuch scheiterte. 195 Eine parallele Selektion nahmen auch Mengele und einer seiner Vertreter vor: Sie suchten „Material“ – und allen voran Zwillinge – für ihre Versuche aus.

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eskortiert, in ein „Sauna“ genanntes Badegebäude geführt und unter eine echte statt eine falsche Dusche gestellt, danach wirst du drei bis vier Wochen in Quarantäne gehalten196, geschoren, fotografiert, registriert und bekommst auf deinem linken Unterarm deine Lagernummer197 eintätowiert. Wer eine solche Nummer bekam, dem war Leben und Arbeit erst einmal garantiert. Aber welche Arbeit? Wann überhaupt wurden Menschen für das Sonderkommando benötigt? Immer nur dann, wenn das Sonderkommando zu dem Zeitpunkt nicht über genug Arbeitskräfte verfügte. Ein solcher Mangel entstand in zwei Fällen: Entweder wenn die Mitglieder des Sonderkommandos weniger wurden – mit anderen Worten: nachdem sie alle oder ein Teil von ihnen in die Gaskammer geschickt oder ein bestimmtes Datum dafür anberaumt worden war. Oder wenn es immer mehr und im wahrsten Sinn des Wortes waggonweise Arbeit gab – so wie im Frühling 1944, als die Transporte mit ungarischen und griechischen Juden einer nach dem anderen (und nicht selten mehrere an einem Tag) im Lager ankamen. Ein Beispiel für die erste Variante ist das Schicksal Salmen Gradowskis oder auch der Brüder Dragon, Shlomo und Abraham, zweier Juden aus Żuromin, die am 6. Dezember 1942 mit einem Transport aus Mława198 nach Auschwitz kamen. Damals gab es noch keine Krematorien in Birkenau. Es brannten nur die Gruben an den zwei Bunkern: Dort roch es nach verbranntem Fleisch, ihre niedrigen Flammen  – besonders gespenstisch bei Nacht  – waren von Weitem zu sehen … Wie auch Gradowski kamen die Brüder erst in den Quarantäneblock 25 des Lagerabschnitts B I b in Birkenau, aber nur für wenige Stunden, ohne die vorgeschriebenen drei Quarantänewochen dort zu verbringen. Am selben Tag wurden sie in den 2. Block verlegt, wo vor ihnen das vorherige Sonderkommando199 gewohnt hatte. Schon am Tag darauf, am 10. Dezember, wurden die Neulinge zur Arbeit an einen der Bunker geführt. Durch das Beobachtete zutiefst erschüttert, versuchte Shlomo sich die Pulsadern mit der Scherbe einer Glasflasche aufzuschneiden, weshalb er (und sein Bruder gleich mit) am nächs196 Im Fall jener, die im Dezember 1942 in das Sonderkommando einverleibt wurden (Gradowski, die Brüder Dragon und andere), gab es keine Quarantäne. 197 In dem Bereich zwischen linkem Handgelenk und Ellbogen. 198 Greif, 1999. S. 109–188. 199 Gerüchten zufolge hatten sie einen Aufstandsplan ausgearbeitet, wurden jedoch denunziert, wonach das gesamte Sonderkommando liquidiert wurde. Möglicherweise wurde eben deshalb das neue Sonderkommando derart rasch zusammengestellt.

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ten Tag aus Mitleid als Stubendienst in der Baracke gelassen wurde. Danach wurde das gesamte Kommando in die Blocks 13 und teilweise 11 überführt (im Block 11 war zudem das Strafkommando untergebracht). Im Block 13 hausten die Brüder dann rund ein Jahr, bevor sie in den Block 11 und im Sommer 1944 dann unmittelbar in die Krematorien verlegt wurden. Die zweite Variante verdeutlichen die Beispiele von Leon Cohen und Josef Sackar200. Ersterer wurde 1910 in Saloniki geboren, hatte eine bürgerliche Bildung erhalten, jedoch auch das Jiddische in der Sonntagsschule201 gelernt. Nach Auschwitz kam er wie Nadjari am 11. April 1944202. Er erhielt die Nummer 182492. Nach der Quarantäne wurde er in das Männerlager B II d überführt und dem Sonderkommando zugeteilt. Sein vorgegebener Beruf – Zahnarzt  – erwies sich am neuen Ort als überaus gefragt: Er riss den Opfern nämlich die Goldzähne und Prothesen aus. Erst arbeitete er im Bunker, dann im Krematorium V und später im Krematorium III, weshalb er auch überlebte. Sein Arbeitsplatz als „Zahnarzt“ befand sich gerade einmal drei Meter vom nächsten Ofen entfernt. Den Mund öffnen (mit einer Zange), die Mundhöhle beschauen, die Zähne ausreißen, das war‘s – Kopfnicken: der Nächste! Und so bis zu 60–75 Leichen alle zehn Minuten203. Josef Sackar, im griechischen Arta geboren, wurde am 24.  März 1944 gefasst und ins Gefängnis in Chaidari bei Athen geschafft. Dort blieb er bis zum 1. April, als er mit seinem Vater, seiner Mutter und seinen Schwestern in einen Frachtwaggon gepfercht und am 11. April – dem Vortag des Osterfestes – nach Auschwitz gebracht wurde. Die Eltern sah er danach nie mehr wieder, von den Schwestern verabschiedete er sich später. Bei der Registrierung erhielt er die Nummer 182739. Am 12. Mai wurde in der Quarantäne­ baracke eine Nachselektion vorgenommen – jedoch eine strengere, mit einer oberflächlichen medizinischen Untersuchung, wonach etwa 200 Mann ausgesondert wurden204. Unter ihnen waren auch seine griechischen Landsleute: die Gebrüder Venezia, Cohen, Gabai, Shaul Chasan, Michel Ardetti, 200 Greif, 1999. S. 329–361 und 59–108. 201 Er überlebte Auschwitz, kehrte nach Kriegsende nach Griechenland zurück und ging 1980 nach Israel. 202 Er selbst nahm an, es sei November 1943 gewesen. 203 Greif, 1999. S. 349–351. Das Gold wurde hiernach gereinigt und in kleine Barren gegossen. Ein Teil des Goldes wurde versteckt und somit zur Grundlage des lagerinternen Handels mit den SS-Wachen (die im Gegenzug Essen, Alkohol und Kleidung boten). 204 Die Vorarbeiter waren L. P. (offensichtlich Lemke Pliszko) und B. M. (Buki Milton), die laut Sackar andere Mitglieder des Sonderkommandos verprügelten (Greif, 1999. S. 88).

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Joseph Giuseppe Baruch, Marcel Nadjari, Daniel Bennahmias, Menachem Litschi und andere. Alle Neulinge wurden in den Block 13 des Lagerabschnitts B II d verlegt. Jene Häftlinge, die schon dort waren, hatten „Mitleid“ mit den Neuen und sahen davon ab, sie einzuweihen – sie sagten nur, an Essen und allem anderen werde es nicht mangeln, wohl aber werde es viel harte Arbeit geben. Welche Arbeit genau sie erwartete, wurde am nächsten Tag bei einem „Ausflug“ zu den Bunkern klar – zu den riesigen Scheiterhaufen unter freiem Himmel, wo jüdische Leichen lichterloh brannten. Anders als Cohen hatte Sackar im Krematorium  IV angefangen, wurde aber nach drei Tagen ins Krematorium  III versetzt, wo er dann bis zum Abbruch des Gebäudes arbeitete. Über sich selbst sagte Sackar, er sei bald schon zu einem Automaten, einer Maschine geworden, „nur kleine Schrauben im Getriebe dieser Todesindustrie“205. Gebetsmühlenartig wiederholte er die eingeprägten Worte, um sich selbst zu beruhigen. Hätte er weinen können, er hätte geweint – unaufhörlich. So aber weinte er, sein Tränenmeer war ein für alle Mal ausgetrocknet. Und nach Auschwitz weinte er erst recht nimmermehr206. Die von Sackar erwähnten Brüder Gabai aus Athen – Dario und Yakov –, allesamt übrigens italienische Bürger207, waren mit demselben Transport aus Athen gekommen, am Dienstag, dem 11. April. Von den 2.500 Menschen ihres Transports überstanden 650 die erste Selektion an der Rampe. Danach gleicht die Geschichte von Yakov Gabai (Nummer 182569) exakt jener von Sackar, bis hin zur Nummer des Krematoriums.

Das Phänomen „Sonderkommando“ Worin bestand nun das Phänomen „Sonderkommando“? Eine vielschichtige ethische Problematik begleitete jedes seiner Mitglieder buchstäblich das gesamte Lagerleben lang. Man stelle sich vor, ein Häftling N ist bei der Selektion als Mitglied des Sonderkommandos ausgesucht worden – natürlich ohne auch nur ein Wort über seine künftige Tätigkeit gehört zu haben: Diese undankbare Aufklärung übernahmen meist Alteingesessene, Überlebende 205 Greif, 1999. S. 101. 206 Greif, 1999. S. 60. 207 Greif, 1999. S. 189–232.

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von Rotationen und Selektionen, nachdem die Aufseher die Neulinge in ihre gemeinsame Baracke gebracht hatten. Der Neuankömmling wird also mit der Lage vertraut gemacht. Letztlich begreift er, dass seine Verwandten – Frau, Vater, Mutter, Kinder – nicht mehr am Leben sind. Und sollte es bei deren Ermordung irgendwie eine Verzögerung gegeben haben, so ist nicht ausgeschlossen, dass er auch deren Mord wird „abfertigen“ müssen! Er ist erschüttert, betäubt, verstört und paralysiert … Aber was jetzt? Wie soll er auf diesen ganzen unvermittelbaren Horror reagieren? Schließlich wäre jede Form von Verweigerung oder auch nur Empörung sicherer Selbstmord. Solche Selbstmorde oder auch Selbstmordversuche kamen natürlich vor, waren aber die absolute Ausnahme208. Yakov Gabai berichtete von Menachem Litschi, der an seinem ersten Tag doch tatsächlich ins Feuer gesprungen war209. Dasselbe tat auch Lejb Herszko Panicz, allerdings am letzten Tag, am Tag des Aufstands210. Eisenschmidt berichtet gleich über drei ihm bekannte Fälle: Zwei waren jüdische Ärzte während des Aufstands im Oktober 1944, der dritte war ein gewisser Expolizist aus Makow, der 20 Tabletten Phenobarbital geschluckt hatte und dennoch gerettet werden konnte211. Einen ähnlichen Vorfall im Krematorium V mit einem Offizier der griechischen Armee schildert auch Miklós Nyiszli212, dessen Retter. Kalmin Furman, Gradowskis Landsmann aus Lunna, versuchte, sich zu erhängen, nachdem er sich an der Einäscherung der Leichen seiner Verwandten beteiligt hatte – aber auch er wurde gerettet213. Es gibt weitere Zeugnisse über unverwirklichte Absichten, Selbstmord zu begehen  – nach dem harten Schock bei der allerersten Berührung mit der monströsen Wesensart der Arbeit, die den Neulingen von nun an bevorstand. So wollte Filip Müller sich den Opfern anschließen, wurde von ihnen jedoch, wie er schreibt, überredet, am Leben zu bleiben und alles zu erzählen214. 208 209 210 211 212

Kraus, Kulka, 1991. S. 202. Greif, 1999. S. 198. ŻIH. Aussage 301/1868. Greif, 1999. S. 257. Nyiszli, 2005. S. 78. Nyiszli geht allerdings nicht darauf ein, dass er nach seiner Ankunft zuerst in Monowitz gearbeitet hatte, bevor er nach etwa einem Monat in das Häftlingskrankenbaulager B II f überstellt wurde und einige Tage später von Mengele für ein Sektionskommando im Laboratorium des Krematoriums II angefordert wurde (Nyiszli, 2005. S. 191 f.; Czech, 1989. S. 788). 213 Vgl. die nahezu identische Erzählung Filip Müllers oder auch die Erzählung Elie Wiesels über seinen Freund Bela Katz, der  – ebenfalls Mitglied des Sonderkommandos  – seinen eigenen Vater „abfertigen“ musste. 214 Aber muss man wirklich überredet werden, zumal von den Opfern, um sich dazu zu entschließen, sich alles zu merken und zu erzählen? Verspüre den Geist eines Chronisten in dir, finde, womit und

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Die Erzählung von Daniel Bennahmias hingegen über mehr als 400 griechische Juden aus Korfu und Athen, die dem Sonderkommando zur „Abfertigung“ ungarischer Juden im Krematorium II zugeteilt worden seien und auf diese Ehre einmütig verzichtet hätten, wonach sie selbst hingerichtet und verbrannt worden seien – diese Erzählung ist nicht vertrauenswürdig215. Denn so, wie es keine Regel ohne Ausnahme geben kann, kann es umso mehr keine Regel geben, die allein aus Ausnahmen besteht. Wäre ein derart eindrücklicher Fall wirklich passiert, wäre er unweigerlich auch anderen Überlebenden aus dem Sonderkommando bekannt geworden, erst recht den Griechen unter ihnen. Weitaus glaubwürdiger ist die Erzählung von Marcel Nadjari, der mit demselben Transport in Auschwitz ankam wie Bennahmias: „Die Hitze am Feuer [gemeint sind hier die Verbrennungsgruben] war unerträglich. Das Feuer, der Regen, die Tötung so vieler Frauen und Kinder […] und Molls Schüsse ließen es gar nicht zu, dass man vollends begriff, was passierte. Moll hat schon einen von uns, den Griechen, erschossen, weil dieser seinen Befehl nicht verstanden hatte. Ein weiterer, der das Ganze nicht mehr aushalten konnte, warf sich in das Feuer216. Der Oberscharführer Steinberg hat ihn erschossen, damit er keine Qualen erleidet, und so hörten wir seine Schreie nicht. An dem Abend waren wir alle entschlossen, zu sterben, um dem ein Ende zu setzen. Doch der Gedanke, dass wir einen Angriff, eine Flucht organisieren und uns rächen könnten, obsiegte. In dem Moment hat unsere Verschwörung angefangen …“217

worauf du schreiben kannst, und schreib los! Und dann lass dir noch einfallen, wie du alles von dir Geschriebene verstecken und bewahren kannst! 215 Bowman, 1993. S. xviii. Bowmans Verweis auf das „Kalendarium“ von D. Czech, dem zufolge aus dem Transport mit griechischen Juden, der am 20. Januar 1944 angekommen war, 436 Männer und 131 Frauen die Selektion überlebten, stellt keine Bestätigung dieser Legende dar: Die „UngarnAktion“ war zu diesem Zeitpunkt zwar voll im Gang, doch eine Erweiterung des Sonderkommandos fand im Juli nicht statt. Zudem kam der Transport aus Korfu nicht am 20., sondern am 30. Juni 1944 an. Und es waren auch nicht 436, sondern 446 Männer, die die Selektion überstanden (Czech, 1989. S. 809). Doch auch D. Czech selbst beschreibt dies in ihrer Materialübersicht über griechische Juden im Archiv des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau APMA-B als Tatsache (Czech, 1970. S.  33–34). Dabei beruft sie sich auf die Zeugenschaft von Otto Wolken (APMA-B. Höss. Bd.  6. Bl. 28–29). Zugleich ist diese Geschichte, wie A. Schmaina-Welikanowa bemerkt, eine symbolische und möglicherweise inspiriert durch die Haggada aus dem Talmud über die 400 jüdischen Jungen, die ins Meer sprangen. In diesem Fall ist dies keine Lüge und keine Verzerrung, sondern eine Orientierung an der heiligen Tradition der Gleichnisse. 216 Allem Anschein nach M. Litschi. 217 Natzari, 1991. S. 51.

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Das moralische Dilemma kam auch in den Entkleidungsräumen auf, schon beim ersten Kontakt mit den Opfern: Soll man ihnen sagen, was sie erwartet, oder nicht? Und wenn sie fragen? Natürlich waren derartige Vorwarnungen wie überhaupt alle Gespräche verboten218. Hätten sie Gespräche angefangen, die Opfer ausgefragt oder auch nur ihre Namen erfahren219 – dies hätte sich wie eine weitere Last auf ihre Psyche gelegt und wäre unerträglich geworden. Doch hätten sie nicht gesprochen, hätten sie auch nichts von alledem erfahren, was sie über die ankommenden Transporte wussten. Außerdem wäre es auch unmöglich gewesen, die Hauptaufgabe im Entkleidungsraum schweigend zu erfüllen: beruhigend auf die Opfer einzuwirken, damit sie sich schnellstmöglich entkleiden und friedlich in die „Sauna und Dusche“ begeben. Man kann unendlich lange darüber spekulieren, um wie viel leichter es für die unglückseligen Opfer war, ihre letzten Minuten bei einem „friedlichen Gespräch mit den Ihren“ zu verbringen, doch dadurch ändert sich nichts an dem vollen Bewusstsein dessen, wie niederträchtig diese „Hauptaufgabe“ war. Hier kam es übrigens noch zu einem weiteren Problem: dem Problem weiblicher Blöße, denn nahezu alle Gruppen waren gemischt, Männer und Frauen zusammen. Die Frauen weinten vor Scham, wegen des Zwangs, sich vor Fremden auskleiden zu müssen (den Männern des Sonderkommandos galten diese quälenden Gefühle nicht, sie wurden als eine Art Dienstpersonal und als ein notwendiges Attribut des Waschbereichs wahrgenommen). Nachdem das letzte Opfer in die Gaskammer hineingegangen war und die massive Tür verschlossen worden war, atmeten nicht nur die SS-Männer auf, auch die Männer des Sonderkommandos waren erleichtert. Es gab ja niemanden mehr, der ihnen in die Augen hätte schauen können – der Horror und die Scham wichen zurück. Ferner – und schon sehr bald – mussten sie nur noch die Leichen und das Eigentum der Verstorbenen handhaben. Nach stillschweigender Übereinkunft ging alles Essen und Alkohol, die in den Sachen 218 Langfuß berichtet übrigens darüber, wie ein Mitglied des Sonderkommandos die Opfer davor gewarnt hatte, was ihnen bevorstand. Sogleich denunzierten ihn die Opfer, woraufhin er selbst vor den Augen anderer Mitglieder des Sonderkommandos lebendig in den Ofen geschoben wurde (gemeint sind hier möglicherweise die vom Wahnsinn befallene Frau aus dem Bialystoker Transport und Itzhak Derenski). Aus demselben Grund und auf dieselbe Weise starb auch Leo Stein aus Tabor (Müller, 1979. S. 119, 126). Zugleich berichtet J. Garlinski (ohne Quellenangabe) über einen Vorfall, der angeblich 1942 stattgefunden hat: Ein durch die Mitglieder des Sonderkommandos vorgewarnter Transport mit 1.500 polnischen Juden leistete heftigen Widerstand gegen die Deutschen, wobei sich ihnen auch 40 Mitglieder des Sonderkommandos anschlossen (Garlinski, 1975. S. 246). 219 Aber manchmal kam das doch vor. So nennt Gradowski den Namen einer gewissen Keschkowskaja aus dem Ghetto Wilna, die ihm vom Schicksal seines Vaters erzählt hatte.

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der Opfer waren, an das Sonderkommando – ein kräftiger Zuschlag zu dessen Lagerration und eine im ganzen Lager220, auch bei den SS-Wachmännern, durchaus hochgeschätzte Währung. Was Geld und Wertsachen anging, so war es dem Sonderkommando wie der SS kategorisch verboten, sich etwas davon anzueignen. Dennoch passierte dies, auch wenn nicht jeder es tat, der im Entkleidungsraum arbeitete – manche aus Angst, erwischt zu werden, Einzelne aus moralischen Überlegungen. Teils ging das Geld für die Bestechung von SS-Männern drauf, teils für die Finanzierung des Aufstands. Aber es gab ja noch den Schwarzmarkt. Was die Leichen betraf, so war die Ehrfurcht vor dem toten Körper im Judentum zwar sakral, doch blieb von dieser Pietät bald schon nichts mehr übrig. Manch ein Mitglied des Sonderkommandos erlaubte es sich, auf Leichen wie auf einem aufgewellten Teppich zu gehen, darauf zu sitzen und sogar darauf abgestützt schnell einmal einen Happen zu essen. Sie waren ja selbst künftige Leichen – was sollte da das ganze Zeremoniell, man war doch unter sich und seinesgleichen …221 Einer der schwersten Vorwürfe, die gegen die Mitglieder des Sonderkommandos erhoben werden, ist die kategorische Unvereinbarkeit ihrer persönlichen Lage und ihrer Arbeitssituation mit dem universellen Wesen des Menschen. Um pflichtbewusst und ohne Risiko für das eigene Leben alles zu erfüllen, was ihnen von der SS aufgetragen wurde, mussten sie zuallererst selbst aufhören, Mensch zu sein. Deshalb auch die Legitimität einer weiteren schweren Anklage, die ihnen gegenüber erhoben wurde: Sie betraf die in ihrer Lage unvermeidliche Vertierung, den Verlust des menschlichen Antlitzes. Dies kam teilweise schon im Erscheinungsbild der Mitglieder des Sonderkommandos zum Ausdruck, vor allem jedoch in ihrer geistigen Verfassung: Viele Häftlinge, die mit ihnen zu tun hatten, nahmen sie als grobe, sinnentleerte, verkommene Menschen wahr. Lucie Adelsberger, Ärztin und Auschwitz-Häftling, charakterisierte die Männer so: „Das waren keine menschlichen Antlitze mehr, sondern verzerrte, irre Gesichter.“222 Auch Vrba und Wetzler, deren Flucht ohne jene Gegen220 Manchmal gaben sie etwas davon an ihre Familienangehörigen weiter, sofern sie in Birkenau waren, oder bestachen das SS-Personal. 221 Noch weniger sakral waren jüdische Leichen für die SS. Nach der Verkündung und Vergegenwärtigung der staatlichen Vorgabe zur physischen Vernichtung der Juden wurden alle Juden – auch die noch lebenden – für sie gewissermaßen zu Leichen. Leichen, Todgeweihte waren für sie erst recht die Männer des Sonderkommandos. 222 Langbein, 1995. S. 288.

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stände, die vom Sonderkommando beschafft wurden, übrigens unmöglich gewesen wäre, geizen mit bloßstellenden Epitheta nicht: „Die Leute des Sonderkommandos wohnten abgesondert. Man hatte mit ihnen auch schon wegen des fürchterlichen Geruchs, der von ihnen ausging, wenig Verkehr. Sie waren immer dreckig, ganz verwahrlost, waren ganz verwildert und ungemein brutal und rücksichtslos. Es war nicht selten – es galt übrigens auch bei den anderen Häftlingen als Sensation –, dass der eine den anderen einfach erschlug.“223 Daran knüpft eine Aussage an, die gar kein Zeugnis mehr ist, sondern eine Anklage, eine Diagnose, die Sigismund Bendel über die Lippen kam, einem der Ärzte des Sonderkommandos: „Die Männer, die ich kannte  – wie der gelehrte Rechtsanwalt aus Saloniki oder der Ingenieur aus Budapest –, hatten nichts Menschliches mehr an sich. Sie sind wahrhafte Teufel. Unter Stockund Peitschenschlägen der SS laufen sie wie Besessene, um sich ihrer Aufgabe so schnell als nur möglich zu entledigen.“224 Und hier das fachmännische Zeugnis eines weiteren Arztes: „Organische Krankheiten sind beim Sonderkommando selten. Ihre Betten und Kleider sind sauber, ihre Verpflegung ist gut, ja ausgezeichnet. Ohnehin handelt es sich bei ihnen um ausgesuchte kräftige Männer. Doch sie sind seelisch krank. Das schreckliche Wissen, dass hier ihre Geschwister, Frauen, Kinder, ihre alten Eltern, ihr ganzes Volk zugrunde gehen, die Tatsache, dass sie selbst die Leichen zu Tausenden vor die Öfen schleifen und hineinschieben, führen zu schweren Depressionen und Melancholie.“225

Miklós Nyiszli selbst ist das interessanteste Beispiel dafür. Kraft seiner Funktion als Josef Mengeles Assistent war er sogar im Vergleich zum Sonderkommando eine privilegierte Figur (nicht nur ein eigenes Bett, sondern sogar ein 223 Vgl. Świebocki, 2002. S. 214. Aus dem vorherigen Bericht wird jedoch deutlich, dass Kontakte – und zwar recht enge  – trotz allen Horrors stattfanden (offensichtlich arbeitete im Sonderkommando Wetzlers Bruder): Über die „Sonderkommando-Männer“ gelangten Lebensmittel, Kleidung, Medikamente und sogar Fremdwährung, die bei den Getöteten gefunden wurde, ins Lager. 224 Langbein, 1995. S. 285. Da das Lazarett und der Häftlingskrankenbau für die Mitglieder des Sonderkommandos unzugänglich waren, hatten sie in der 13.  Baracke eine Art Ambulanz, wo offenbar auch Bendel arbeitete. Definitiv unklar ist: Warum kam ihm seine eigene Rolle an diesem teuflischen Fließband besser oder sauberer vor als die der anderen? Das gilt auch für Vrba und Wetzler, die Häftlingsschreiber, die vor ihrer Flucht eine Vertrauensposition bei der Lagerleitung hatten – und zwar nicht irgendwo, sondern in der Politabteilung von ganz Auschwitz-Birkenau. 225 Nyiszli, 2005. S. 51.

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eigenes Zimmer usw.). Bruno Bettelheim, der US-amerikanische Psychoanalytiker, hat in seinem Vorwort zu Nyiszlis Buch versucht, dem kollaborativen Verhalten Nyiszlis das Verhalten des Psychotherapeuten Viktor Frankl gegenüberzustellen, der die SS bei ihren Studien nicht unterstützt hatte. Dies ist richtig – wie auch richtig ist, dass Frankl die Kollaboration gar nicht ablehnte, vielmehr wurde sie ihm einfach nicht angeboten. Bettelheim interessiert sich indes weniger für Nyiszli als für das Kollektivverhalten der Juden: Warum führten sie ihre Arbeit trotz allem ganz normal fort („business as usual“)? Warum gingen sie wie die Lämmer still und demütig in die Krematorien, warum unternahmen sie nichts? Als Beispiel für ein „richtiges Verhalten“ führt er die rechtzeitige Emigration an. Doch dadurch rechtfertigt er im Grunde die Henker. Er stellt sich nicht einmal die Frage, warum denn Menschen, die seit Jahrhunderten etwa in Wien oder Berlin lebten und dort tief verwurzelt waren, alles hätten hinschmeißen und wegfahren sollen. Einige wurden zweifelsohne einfach verrückt, andere aber  – durch den Überlebensinstinkt getrieben – wurden apathisch und gefühllos, gewissermaßen zu Robotern: Arbeitsmechanismen ohne Seele und Emotionen, was ihrer Diszipliniertheit und „Bereitschaft zu allem“ übrigens nicht im Weg stand. Auf die Frage, was er fühlte, wenn er die Todesschreie erstickender Menschen hinter der Tür der Gaskammer hörte, antwortete Leon Cohen: „Ich muss Ihnen etwas Schreckliches sagen. Aber es ist wahr: Wir ­waren damals wie Roboter. Wir konnten uns überhaupt nicht der Gewalt der Gefühle, die sich bei unserer Arbeit einstellten, aussetzen. Ein Mensch kann diese Gefühle, die ein integraler Bestandteil unserer ­Arbeit waren, eigentlich nicht ertragen. In dem Augenblick, in dem wir diese Gefühle verdrängten und so fühlten wie ‚normale Menschen‘, betrachteten wir alle diese Handlung als ‚Arbeit‘, die wir nach den Anweisungen der Deutschen ausführen mussten. So sah das aus. Wir dachten nicht an das Schreckliche der Arbeit und hatten keinerlei Emotionen. Wir hatten eigentlich gar keine Gefühle mehr. Wir hatten die Gefühle noch in ihren Anfängen erstickt.“226

Yakov Gabai bestätigt Cohens Aussage: „Anfangs schmerzte es sehr, dies alles mitansehen zu müssen. Ich konnte nicht begreifen, was meine Augen sahen, dass von einem Menschen nur ein halbes Kilogramm Asche übrigbleibt. Oft grübelten wir, 226 Greif, 1999. S. 346 f.

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aber was hätte dabei schon herauskommen können? Hatten wir denn die Wahl? Flucht war nicht möglich, man kannte die Sprache nicht. Ich arbeitete und wusste, dass dort meine Eltern umgekommen waren. Es gibt nichts schlimmeres. Nach zwei, drei Wochen hatte ich mich daran gewöhnt. Manchmal, nachts, wenn man sich ausruhte, legte ich die Hand auf einen Körper, und das störte mich nicht mehr. Wir arbeiteten dort wie Roboter. Ich musste stark bleiben, um über­leben und alles erzählen zu können, was in dieser Hölle geschah. Die Realität beweist, dass der Mensch grausamer ist als Tiere. Ja, wir ­waren Tiere. Kein Gefühl. Manchmal zweifelten wir daran, ob wir wirklich Menschen geblieben waren. […] Ich sagte ja schon, dort waren wir nicht nur Roboter, sondern wurden auch zu Tieren: Wir dachten an nichts. Nur an eines dachten wir – an Flucht und ans Überleben.“227

War denn wirklich in keinem von ihnen etwas Menschliches mehr geblieben? Gab es unter ihnen noch normale Menschen, die nicht zu Tieren geworden waren? Ja, sie gab es. Wahrscheinlich träumten sie alle von Rache, einige von ihnen dachten jedoch ernsthaft über Widerstand und Revolte nach. Derart ernsthaft, dass diese Revolte einmal tatsächlich stattfand. Es war wohl der Aufstand und alles, was mit dessen Vorbereitung verbunden war, der die entscheidende Rolle auf dem Weg der Rückkehr vieler Mitglieder des Birkenauer Sonderkommandos zu mentaler und seelischer Normalität spielte. Den Beweis ihrer menschlichen Natur zu erbringen – dies mussten sie teuer erkaufen. Den Beweis erbracht haben sie aber. Und zwar nicht nur – oder besser gesagt nicht so sehr – durch den Aufstand selbst, nicht nur dadurch, dass sie es in den wenigen Stunden ihrer letzten Freiheit geschafft haben, eine der vier Todesfabriken in dem Lager zu zerstören und außer Betrieb zu setzen. Ihre menschliche Natur bewiesen sie vor allem dadurch, dass einige von ihnen – wenn auch nicht viele – von der Berufung ergriffen waren, die letzten Zeugen – und vielleicht auch die ersten Chronisten – der letzten Minuten im Leben vieler Hunderttausender Glaubensgenossen zu werden. Das Bewusstsein dessen gab ihnen moralische Kraft, sodass solche Menschen wie Gradowski, Lewental oder Langfuß entweder nicht in Apathie verfielen oder lernten, die Apathie zu überwinden. Sie haben ihre Zeugnisse hinterlassen: authentische und eigenhändige Schriften mit Beschreibungen des Lagers und all dessen, was sie hier tun mussten  – diese Kerndokumente des Holocaust (sie

227 Greif, 1999. S. 221 f.

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bewahrten auch die Zeugnisse Dritter wie etwa das Manuskript über das Ghetto Litzmannstadt). Von unschätzbarem Wert sind auch Dutzende anderer Zeugnisse jener Mitglieder des Sonderkommandos, die wie durch ein Wunder überlebten – ganz gleich, in welcher Form sie abgelegt wurden: ob als Aussage vor Gericht oder während der Ermittlungen von Naziverbrechen, ob in Form eines Interviews228 oder in Buchform (wie bei Nyiszli, Müller oder Nadjari). „Wir machten die schwarze Arbeit des Holocaust“  – so hatte es Yakov Gabai229 für alle anderen auf den Punkt gebracht.

Sollst du doch heute sterben, und ich morgen! Schon im Lager, von der ganzen Welt isoliert, wurden sie mit jener Abscheu und jenem Grauen konfrontiert, die sie bei anderen Juden auslösten  – vor allem bei ihren Opfern. Lejb Langfuß berichtet unumwunden: „Es war Winter, Ende 1943. Ein Transport nur mit Kindern wurde gebracht […] Der Kommandoführer schickte sie in den Entkleidungsraum, damit sie die kleinen Kinder auszogen. Ein etwa achtjähriges Mädchen steht da und zieht ihr einjähriges Brüderchen aus. Einer aus dem Kommando tritt an sie heran, um es auszuziehen. Das Mädchen ruft: ‚Geh weg, du Judenmörder! Wage es nicht, mit deinen vom jüdischen Blut besudelten Händen mein schönes Brüderchen anzufassen. Jetzt bin ich sein gutes Mütterchen. Es wird in meinen Armen zusammen mit mir sterben.‘ Daneben steht ein Junge, etwa sieben oder acht Jahre alt. Er schreit: ‚Du bist doch selber Jude! Wie kannst du nur diese lieben Kinder zur Vergasung führen, nur um selbst am Leben zu bleiben? Ist dir dein Leben unter dieser Mörderbande mehr wert als das Leben so vieler jüdischer Opfer?‘“230

Die Kinder wichen vor den Männern des Sonderkommandos zurück, die für sie gewissermaßen die „Personifizierung des Todes“231 waren. 228 Hier muss man die Rolle von Kulka, Greif, Kilian, Pezzetti, Prasquier, Lanzmann und vielen anderen hervorheben, die die ehemaligen Mitglieder des Sonderkommandos auf der ganzen Welt gesucht und interviewt haben. 229 Greif, 1999. S. 221. 230 Vgl. S. 441 dieser Edition. 231 Ein Ausdruck von M. Nadjari.

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Jean-François Steiner, Autor des Romans „Treblinka“, hat folgende Worte in den Mund von Marceli Galewski gelegt, dem Anführer des Aufstands in Treblinka am 2. August 1943: „Darin wurzelt ja die unvorstellbare Kraft des Nazi-Systems. Es betäubt seine Opfer, wie es einige Spinnen tun. Es betäubt die Menschen und tötet die Betäubten. Es erscheint einem vielleicht als aufwendig, doch anders hätte es gar nicht funktioniert. […] Wir, die Handlanger der Handlanger und die Bediensteten des Todes, vegetieren in einer völlig anderen Welt, in einer Welt zwischen Leben und Tod, derart vorbelastet, dass wir uns unseres Lebens nur noch schämen können.“232

Wenn Henker und Opfer sich auf unterschiedlichen Seiten der Richtstatt befinden, dann ist die Lage klar. Die „Sonderkommando-Männer“ waren jedoch gezwungen, am Fließband des Mordes mitzuwirken und Aufgaben zu erfüllen, an denen die Deutschen als Vertreter der Herrenrasse sich die Hände nicht schmutzig machen wollten. Dafür ließen sie sie für eine gewisse Zeit formal am Leben. Indem sie aber die vergänglichen Leiber ihrer Handlanger am Leben ließen, brachten die SS-Männer etwas umso Größeres in ihre Gewalt und dann auch um: ihre Seelen. Die Mitglieder des Sonderkommandos waren die am besten informierten Häftlinge im Lager und deshalb auch die bestbewachten und am meisten verdammten. Sie machten sich hinsichtlich ihres Schicksals keine Illusionen und verstanden sehr wohl, dass die Zugehörigkeit zum Sonderkommando nichts anderes als eine Form des Todesurteils war, wenn dessen Vollstreckung auch ausgesetzt, auf unbestimmte Zeit verschoben war. Mit anderen Worten: Das, was sie sich mit ihrer täglichen Arbeit erkämpften, war nicht mal das Leben, sondern ein Sterben auf Raten. Doch was war dann ihr Antrieb? Der natür­ liche Lebenswille? Die Hoffnung auf ein Wunder? Oder der universelle Leitsatz, der vor allen anderen und am besten im Gulag formuliert worden war: „Sollst du doch heute sterben, und ich morgen!“?

232 Steiner, 1966. S. 123 f.

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Das vernichtete Krematorium: Sinn und Preis eines Aufstands Lassen wir es nicht zu, dass wir wie die Lämmer ans Messer geführt werden. Aba Kovner, Wilna, 1. Januar 1942

Wir, das Sonderkommando, wollten unserer schrecklichen Arbeit, die uns unter Androhung des Todes aufgezwungen wurde, seit Langem schon ein Ende setzen. Salmen Gradowski

Ausbrüche und Selbstjustiz Mitglieder des Sonderkommandos, ins größte barbarische Geheimnis des Dritten Reiches unmittelbar eingeweiht, waren a priori zum Tod verdammt. Klare Anweisungen, die Männer des Sonderkommandos alle paar Monate oder einmal im halben Jahr auszutauschen, gab es aber nicht – sonst hätte die SS diese Anweisungen sorgfältig befolgt. Auch wäre der Austausch mit strengerer Regelmäßigkeit vorgenommen worden, als es der Fall war. Höß zufolge hatte es jedoch eine Anordnung von Adolf Eichmann gegeben, die einfachen Mitglieder des Sonderkommandos nach jeder großen Aktion233 hinzurichten. In dem Wörtchen „groß“ lag deren Rettung, denn bemessen wurde das Ausmaß einer Aktion vor Ort. Aktionen gab es indes jeden Tag, sie wurden zur Routine: Da ergab es keinen Sinn, erfahrene Profis in den Krematorien gegen ungelernte Helfer auszutauschen. Im Gegenteil: Bei verstärkten Aktionen waren zusätzliche Arbeitskräfte erforderlich. Die SS

233 Vgl. Höß, 2008. S. 242.

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schätzte natürlich die Erfahrung234 der Männer des Sonderkommandos, lebendig waren sie zweckdienlicher. Zumal im Eifer der Vernichtung der aus Ungarn deportierten Juden weder Zeit geblieben wäre noch es sich gelohnt hätte, neue Hilfskräfte einzuarbeiten. Rotationen, also massiver Austausch des Sonderkommandobestands, fanden trotzdem statt, jedoch aus ganz anderen Gründen und unregelmäßig. Dieser Gefahr waren die Männer täglich von Neuem ausgesetzt – jede Stunde, jede Minute. Deshalb die Taktik und gleichsam die Strategie des Sonderkommandos: den richtigen Moment abwarten, aufbegehren, die Öfen und die Gaskammern zerstören, den Draht durchschneiden, sich den Weg aus dem Lager bahnen und dann ab über die Lagergrenze, in die Freiheit. In die Tatra, in die Beskiden … zu den Partisanen zum Beispiel. Mit anderen Worten: Das eigentliche Ziel eines Aufstands war für die Mitglieder des Sonderkommandos schlicht und ergreifend die erfolgreiche Massenflucht. Das gab es übrigens auch in anderen Todeslagern, in Treblinka und Sobibor. Geglückte Ausbrüche hatte es vereinzelt schon gegeben, mit der Zeit aber wuchs und erstarkte die Entschlossenheit, einen Aufstand zu organisieren, der die Flucht einer größeren Anzahl von Häftlingen ermöglichen würde. Der Versuch, die Bedeutung des Aufstands durch derartige Behauptungen wie „Sie haben ja nur ihre Haut retten und bloß abhauen wollen“ herabzuwürdigen, ist deshalb überaus fragwürdig. Als ob andere Aufstände235 die Einnahme Berlins zum Ziel gehabt hätten … Was die Ausbrüche angeht: Gezählt wurden laut Tadeusz Iwaszko insgesamt 667, davon 76 (etwas mehr als zehn Prozent) von Juden durchgeführt236. Dass Juden aus den Konzentrationslagern ausbrachen, war also durchaus selten – und zwar aus dem einfachen Grund, dass sie praktisch keine Erfolgschancen hatten. Denn mit der Hilfe und dem Mitgefühl der polnischen Bevölkerung aus dem Umland rechneten selbst die polnischen Juden nicht. Eigenen Landsleuten halfen die Polen bei der Flucht ziemlich gern; russischen Gefangenen schon weniger, aber immerhin halfen sie ihnen. Flüchtige Juden lieferten sie aus. Oder sie raubten sie aus und töteten sie, wenn sie sich einen Nutzen davon versprachen.

234 Wertgeschätzt wurden besonders die Ärzte und, wenn man Müller glaubt, die Heizer, denen auch er – Mitglied des Sonderkommandos nahezu von dessen Gründung an – angehörte. 235 Von einem anderen Aufstand in Auschwitz, der Massenflucht der Strafkompanie vom 10. Juni 1942, schreibt Tadeusz Iwaszko in seinem Artikel: Iwaszko, 1964. S. 40. 236 Iwaszko, 1964. S. 52.

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Wie die Polen gegenüber den Juden überwiegend eingestellt waren, kommt in einer ganz bestimmten Geste deutlich zum Ausdruck: eine Handbewegung entlang des Halses wie mit einem Messer – ritz, ratz. „Es ist aus mit euch, ihr Juden, es ist aus!“ – das bedeutete diese Geste. Eine „Warnung der Juden vor der Gefahr“, wie die Polen laut Lanzmann 30 Jahre später ebenso einstimmig wie unglaubwürdig beteuerten, war diese Handbewegung keineswegs237. Wie diese Geste von denjenigen aufgefasst wurde, an die sie gerichtet war, beschreibt Gradowski: „Doch wie schlimm ist das. Da stehen zwei junge Christinnen, schauen in die Fenster der Waggons hinein und führen die Hand am Hals entlang. Ein Schauder überkommt alle, die diese Szene sehen und dieses Handzeichen wahrnehmen. Stillschweigend weichen sie zurück wie vor einem Gespenst. Sie wahren das Schweigen, kraftlos, das soeben Gesehene zu schildern. Sie wollen das Unglück nicht verstärken, das ohnehin mit jeder Minute schwerer wird […]“

Trotzdem datieren die ersten Ausbruchsversuche von Juden aus AuschwitzBirkenau schon aus dem Jahr 1942. Die Menschen versteckten sich auf Lastwagen, die Zement, Ziegelsteine oder Müll aus dem Lager abtransportierten. Da es notwendig war, sich im Vorfeld mit den Wachen zu arrangieren, war ein Ausbruch auf diesem Weg ein äußerst riskantes Unterfangen238. Noch riskanter und deshalb sehr viel seltener war die Flucht in Verkleidung und mit den Papieren von Zivilarbeitern. Erfolgreicher waren indes Ausbrüche mittels sogenannter Malinas239: kleiner schmaler Verstecke, die in Kanalisationsschächten, Bretterstapeln oder 237 Lanzmann, 1986. S. 52 f. Lanzmann bezeichnete diese Geste als sadistisch (ebd., S. 274). 238 Joschua Eiger zufolge kamen dabei mehrere Dutzend Menschen um, darunter der Blockälteste Friedman, Unglück und andere. Eiger nennt auch die Namen jener Juden, die aus Auschwitz geflohen waren und die er im Gedächtnis behalten hatte: Adam Krzyzanowski, 1942 geflohen, kam unter dem Namen Gurski wieder ins Lager und floh später erneut; Mundek, ein Jude aus Kattowitz, floh 1942 und war später in Ungarn; Gezel, ein polnischer Jude aus Frankreich, Mosze Citron und Kuba, beide polnische Juden, sowie Eisenbach, ein slowakischer Jude  – alle vier wurden bei Palanka gefasst; Henryk Izykowitz, ein polnischer Jude, lebte nach dem Krieg in Paris; Josef Kaner, polnischer Jude aus Kielce, gefasst und öffentlich gehängt; Dr. Kuba, französischer Jude; Chaim Moszel, polnischer Jude aus Sosnowitz, später gefasst und nach Birkenau zurückgebracht, wo er in einer Gaskammer hingerichtet wurde; Edydja, ein polnischer Jude aus Sosnowitz; Ekutiel aus Warschau und Benjamin Chmielnicki aus Lodz – nach dem Krieg lebten beide in Deutschland; Jossel Katz aus Lodz – lebte nach dem Krieg in Amerika (Eiger, 1948). 239 So wurden sie in Anlehnung an die Geheimverstecke in den Ghettos bezeichnet. Manchmal wurden sie auch „Bunker“ genannt (nicht zu verwechseln mit dem Block 11 in Auschwitz I oder den beiden ehemaligen Bauernhäusern, den provisorischen Gaskammern).

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(die sichersten überhaupt) unter der Erde, in Bewässerungsanlagen angelegt wurden. Joschua Eiger etwa schreibt, es sei trotz aller Risiken ein wahres Vergnügen gewesen, diese engen Verstecke zu bauen. Entscheidend war, dass die Malinas sich zwar außerhalb des rund um die Uhr bewachten Lagerareals, aber innerhalb der sogenannten großen Postenkette befanden. Dieser Bereich, in dem die Häftlinge tagsüber arbeiteten, wurde auch nur tagsüber bewacht. Die Flüchtigen entfernten sich vom „Arbeitsplatz“ und harrten zwei, drei Tage in den Malinas aus, bis die Suche nach ihnen eingestellt wurde. Dann krochen sie im Schutz der Nacht aus ihrem Versteck hinaus, hinterließen es dabei in völliger Ordnung und Sauberkeit für den nächsten Nutzer (falls es bereits eine Absprache darüber gab240) und gingen meist in den Süden oder Südosten, die Sola stromaufwärts, in Richtung der Beskiden und der nächstgelegenen Slowakei. Manchen gelang die Flucht auf diese Weise. Jedes Mal aber, wenn ein Ausbruch aufflog, wurde Alarm ausgelöst: Die Sirenen heulten auf, die Suche fing an und letztlich wurden viele Flüchtige gefasst. Sie wurden entweder an Ort und Stelle hingerichtet oder ins Stammlager Auschwitz  I verbracht, wo sie nach einer Befragung im Block 11 meistens ebenfalls hingerichtet wurden – manchmal zur Abschreckung anderer Häftlinge öffentlich. Es ist kein Zufall, dass die meisten erfolgreichen Ausbrüche, die von Juden unternommen wurden, ins Jahr 1944 fallen. Am 5.  April floh, als SS-Mann 240 Ein Lageplan dieser Bunker wurde von Szmuel (Staszek) Golembiewski aus Kielce angefertigt (Eiger, 1948). 241 Pesteks Geschichte ist einzigartig. Mit ihr vergleichen lässt sich höchstens die Fahnenflucht der ukrainischen Wachkompanie, die im März 1943 nach Auschwitz abkommandiert worden war (vgl. IfZ. Fa 183/1. Bl. 229; vgl. auch Lasik, 1999. S. 338). Weitere ähnliche Fälle: Ausbruch eines Polen in SSUniform gemeinsam mit einer Jüdin (aufzutreiben war eine SS-Uniform nur mit aktiver Beihilfe aus den Reihen der SS). Die Flucht Edek Galinskis (Häftlingsnummer 531) mit der Läuferin Mala Zimetbaum aus Belgien (Häftlingsnummer 19880) hatte am 24. Juni 1944 begonnen – und zwar recht erfolgreich: Ein SS-Mann eskortierte befehlsgemäß eine Gefangene. Am 6. Juli aber, mehr als zwei Wochen später, wurde Mala an der slowakischen Grenze verhaftet und Edek ergab sich. Die zwei wurden in Auschwitz gefoltert, verrieten ihre Komplizen aber nicht. Edek wurde im Männerlager gehängt (vor seinem Tod rief er „Hoch lebe Polen!“ aus). Die Hinrichtung Malas im Frauenlager wurde jedoch gestört: Bei der Urteilsverkündung schnitt sie sich die Pulsadern auf und erwischte mit der Rasierklinge auch noch den Rottenführer Ritter im Gesicht, der sich auf sie gestürzt hatte, um ihr die Klinge zu entreißen. Die Hinrichtung wurde angehalten, Mala wurde verbunden und ins nächstgelegene Krematorium abgeführt, wo sie offenbar erschossen wurde (Kielar, 2007. S.  342; Langbein, 1995. S. 129; Iwaszko, 1990. S. 164–168). Weniger berühmt und heroisch, dafür umso erfolgreicher war die Flucht von Jerzy Bielecki (Häftlingsnummer 243) und Cyla Cybulska (Häftlingsnummer 29558), die am 21. Juli 1944 begonnen hatte. Sie gingen nicht in den Süden, sondern in den Norden in Richtung des Generalgouvernements und erreichten das Städtchen Miechów, wo sie mithilfe der polnischen Bevölkerung untertauchen und die Befreiung des KZs abwarten konnten (Iwaszko, 1990. S. 169 f.).

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verkleidet, Vítězslav Lederer zusammen mit dem echten SS-Mann Viktor Pestek241. Lederer war im Dezember 1943 aus Theresienstadt nach Auschwitz gekommen. Er schaffte es bis in die Tschechoslowakei, nahm Kontakt zum Untergrund auf, zog heimlich von Stadt zu Stadt und besuchte mehrmals Theresienstadt, inkognito natürlich. Dort traf er den Judenrat und erzählte dessen Mitgliedern, was sie in Auschwitz erwartete. Die aber glaubten ihm nicht, schüttelten nur den Kopf und zeigten unentwegt auf die Postkarten aus dem sagenhaften „Neuberun“, die auf den 25.  März datiert waren. Mit Lederers „wahnwitzigem Geschwätz“ wollten sie ihre 35.000 Juden offenbar nicht behelligen242. Am 7. April 1944 – einen Monat nach der Liquidierung des tschechischen Familienlagers  – flohen die slowakischen Juden Rudolf Vrba (alias Walter Rosenberg) und Alfred Wetzler, die in Birkenau als Schreiber beschäftigt gewesen waren243. Nachdem sie drei Tage lang in einer Malina ausgeharrt hatten, gingen sie die Sola stromaufwärts über die slowakische Grenze und erreichten mithilfe von Fremden, die sie zufällig trafen, das Örtchen Sillein. Eine Zeit lang wurden sie in Liptau-Sankt-Nikolaus am Fuß der Tatra versteckt244. Die beide Nächsten waren Czesław Mordowicz und Arnoszt Rosin, ehemaliges und ältestes Mitglied des Sonderkommandos und einer der wenigen, denen es gelungen war, sich von dieser „ehrenvollen Aufgabe“ freizukaufen245. Geflohen waren sie am 27. Mai 1944 nach dem gleichen Muster wie Wetzler und Vrba auch. Am 6. Juni wurden sie im slowakischen Nededza verhaftet. Man hielt sie jedoch für Schmuggler, weil sie Dollars bei sich hatten, und ließ sie frei bzw. man erlaubte es der örtlichen jüdischen Gemeinde, beide aus dem Gefängnis freizukaufen und im besagten Liptau zu verstecken246. Von Zeit zu Zeit versuchten die Mitglieder des Sonderkommandos, von ihren Arbeitsposten zu fliehen, jedes Mal erfolglos. Besonders eindrücklich 242 243 244 245

Karny, 1999. S. 157–183. Nach deren Flucht verloren alle jüdischen Blockschreiber ihre Posten. Świebocki, 2002. S. 24–42. Vgl. Genaueres weiter oben. Er kam am 17. April 1942 im Lager an. Nach wenigen Wochen auf dem Bau in Birkenau wurde er dem Sonderkommando zugewiesen, jedoch auf Bestechung hin als Ältester des Blocks 24 eingesetzt. 246 Vgl. Świebocki, 2002. S. 275–290. Zum Sonderkommando sowie Mordowicz und Rosin vgl. ebd. S. 212–214, 42–53. Vgl. außerdem: Świebocki, 2002. S. 42–53. Eiger berichtet über Mordowicz, dieser sei nach Birkenau zurückgebracht worden. Damit die SS ihn nicht erschießen konnte, habe die Untergrundorganisation ihn mit einem Transport wieder weggeschickt. Also sei er am Leben geblieben.

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war der gescheiterte Fluchtversuch des französisch-jüdischen Kapos Daniel Obstbaum, des Blockschreibers eines Nachbarblocks, Fero Langer, der den ihm aus seiner Heimat bekannten SS-Wachmann Dobrovolny bestochen hatte, sowie von drei weiteren Häftlingen. Auch sie wurden gefasst und erschossen. Möglicherweise diente dieser Ausbruch als zusätzlicher Vorwand für eine weitere Selektion innerhalb des Sonderkommandos  – jene vom Fe­bruar 1944, die Gradowski im Kapitel „Abschied“ beschreibt247. Außer den Ausbrüchen gab es im Lager noch andere dokumentierte Formen des jüdischen Widerstands und kollektiven Ungehorsams. Reaktionen ließen nicht auf sich warten. So wurden in der Nacht des 5.  Oktobers 1942 rund 90 französische Jüdinnen ermordet: Die SS und die deutschen Kapo­ frauen (aus der Reihe der Strafgefangenen) hatten in dem Frauenblock der Strafkompanie in Budy, einem Nebenlager von Auschwitz nahe Birkenau, ein Blutbad veranstaltet. Sechs der besonders eifrigen Mörderinnen wurden sogar am 24.  Oktober selbst hingerichtet, nachdem die Politische Abteilung eine Untersuchung248 vorgenommen hatte. Auch bei den Juden kam Lynchjustiz vor, die sich aber nur gegen die „eigenen“ Leute, die jüdischen Kollaborateure, richtete. In der Neujahrsnacht 1945 etwa fielen dieser Selbstjustiz auch einige Häftlinge des Stamm­lagers zum Opfer  – nämlich der Kapo Schulz und ein belgischer Jude, der Dutzende ­seiner Landsleute bei der Gestapo denunziert hatte249. Hier sei noch eine Geschichte geschildert, die im ganzen Lager einst in Windeseile die Runde machte (Dutzende von Häftlingen erzählten sie mit kleinen Abweichungen). Am 23. Oktober 1943 war in Auschwitz ein Transport mit sogenannten Austauschjuden aus Bergen-Belsen angekommen – hauptsächlich wohlhabende Juden aus Warschau. Sie wurden gezwungen, sich auszuziehen. Und dann hat eine gewisse Franziska Mann – eine wunderschöne Schauspielerin – dem SS-Oberscharführer Quakernack den gerade erst ausgezogenen Büstenhalter ins Gesicht geklatscht, den Revolver entrissen und mit

247 Merkwürdig nur, dass er den Ausbruch nicht erwähnt. 248 Czech, 1989. S. 314 f., 323 f. Diese Ereignisse spiegeln sich in den Memoiren von Höß wider, in der Aussage von Pery Broad, einem Mitarbeiter der Politischen Abteilung (KL Auschwitz in den Augen der SS, 2005. S. 55 f., 112 f., 161), sowie in Kremers Tagebucheintrag vom 24. Oktober 1942 (Kremers Tagebuch, 1971. S. 50, 113). 249 Baum, 1962. S.  102. Ausgedacht ist offenbar die Geschichte darüber, wie die Juden aus Lodz den verhassten Judenratsvorsitzenden Chaim Rumkowski unmittelbar vor ihrer kollektiven Vergasung erschlugen.

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zwei Schüssen den in seiner Nähe250 stehenden Rapportführer Schillinger tödlich verwundet sowie den SS-Oberscharführer Emmerich schwer verletzt. Sogleich stürzten sich auch andere Frauen auf die SS-Männer in dem Versuch, ihnen die Waffen aus den Händen zu reißen. Doch sie alle wurden an Ort und Stelle niedergemetzelt. Eine Art Masada inmitten des Holocaust. Keine zahmen Lämmer waren auch die Alten und die Frauen mit Kindern, die die Selektion an der Rampe nicht überlebten, sondern baldig in den Gastod geschickt wurden. Im Eifer der Ungarn-Aktion, als die Bahntransporte einer nach dem anderen einrollten, wurden Selektionen schon einmal in solch einer Eile vorgenommen, dass nahezu alle Neuankömmlinge, ohne hinzuschauen, zum Tod verurteilt wurden. Umso größer war die Wahrscheinlichkeit, dass vereinzelt Juden bereit waren, Ungehorsam und spontanen Widerstand zu leisten und sich zu weigern, zum Entkleiden hineinzugehen. In Ausnahmefällen suchten einzelne Opfer sogar Versteckmöglichkeiten auf dem Krematoriumsgelände und streuten den Nazis so Sandkörner in deren durchdachtes Getriebe der Judenvernichtung. Letztlich musste ab dem 3. Juni 1944 der Elektrozaun auch tagsüber eingeschaltet bleiben251. Spontanen Widerstand leisteten manchmal auch die Mitglieder des Sonderkommandos. Das eindrücklichste Beispiel: der Soloaufstand von ­ Alberto252 Errera, einem kräftigen Lebensmittelhändler aus Saloniki, der auch an der Vorbereitung des kollektiven Aufstands des Sonderkommandos teilnahm. Es gibt zwei Versionen seiner Heldentat. Wie Eisenschmidt berichtet, 250 Vgl. Kommentar zum „Tschechischen Transport“ von Salmen Gradowski. Die Männer aus diesem Transport wurden ins Krematorium  III, die Frauen ins Krematorium  II geschickt. Berichte über diesen Fall kommen relativ häufig vor, nicht nur in den Handschriften des Sonderkommandos, sondern auch bei anderen Häftlingen. Im Detail sind sie aber ziemlich ungenau. Vgl. beispielsweise das „Zeugnis“ von Shlomo Dragon. Er soll beobachtet haben, wie Schillinger erschossen wurde, weil er sich angeblich nur fünf Meter entfernt von der Schützin aufhielt (Greif, 1999. S. 163–165). Danach ging im Lager das Gerücht um, die Nazis seien gezwungen gewesen, die anderen Juden aus dieser Gruppe lebend ins Ausland zu verbringen (hier laut dem Bericht von Avraham Berl Sokol aus Wysokie Mazowiecki; vgl. ŻIH. Aussage 2250). Darüber berichten auch diejenigen, denen eine erfolgreiche Flucht aus Auschwitz gelungen war, Tabeau zum Beispiel. In der Nacherzählung von Sabotschen aber spielt sich der Vorfall nicht im Auskleideraum des Krematoriums ab, sondern auf der Rampe (Sabotschen, 1965. S. 118 f.). 251 Normalerweise stand der Zaun nur nachts unter Strom, weil sich alle Häftlinge im Lager befanden und im Lagerinteressengebiet keine Häftlingsarbeitskommandos von der „großen Postenkette“ bewacht werden mussten. Vgl. Czech, 1989. S. 793. Mit Verweis auf: APMA-B. D-Au I-1/Standortbefehl Nr. 17/44 v. 9.6.1944. Jedoch erst mit dem darauffolgenden Standortbefehl Nr. 18/44 vom 27. Juni 1944 wurde mitgeteilt, dass am Vortag der Stacheldrahtzaum um die Krematorien IV und V unter Strom gesetzt worden war. Die Mehrheit der Opfer von den Transporten aus Ungarn war bis dahin bereits verbrannt worden. 252 In anderen Quellen: Alekos oder Alex.

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fuhren einst zwei griechische und drei polnische Juden Asche zur Weichsel, unter der Aufsicht von nur zwei SS-Männern. Die Griechen, unter ihnen Errera, fielen über ihre Aufpasser her, versuchten, einen von ihnen zu ertränken, und schwammen ans andere Flussufer. Dort wurden sie bald gefasst. Die drei polnischen Juden blieben währenddessen stehen und beobachteten das Geschehen teilnahmslos253. Laut der Darstellung von Shlomo Venezia waren es jedoch nur die zwei Griechen, einer von ihnen Hugo Venezia. Errera war es gelungen, einen der zwei Wachmänner zu überwältigen und zu neutralisieren – Venezia schaffte es nicht. Deshalb konnte der zweite SS-Mann auf Errera schießen, der gerade die Weichsel überquerte. Eine Kugel traf den Griechen in den Oberschenkel, sodass er verblutete. Venezia wurde in den Bunker geführt. Die entstellte Leiche Erreras wurde auf einem Tisch im Hof des Krematoriums  II ausgestellt: Jedes Mitglied des Sonderkommandos musste an dem Tisch vorbeigehen und dem Toten in die leblosen Augen blicken. Griechische Historiker datieren dieses Ereignis auf den Zeitraum zwischen dem 21. und 29. September254. Andreas Kilian hatte zunächst angenommen, die Selektion des Sonderkommandos am 23. September 1944 könne auch eine Reaktion auf Erreras Flucht gewesen sein255. Doch die neuesten Funde von Igor Bartosik legen das Datum dieses Vorfalls eindeutig auf den 9.  August 1944 fest256.

Planung des Aufstands: die polnische und die jüdische Zentrale Wie bereits erwähnt, waren zwei Gruppen von Häftlingen bei den Ausbrüchen aus Auschwitz und Birkenau257 erfolgreicher als die Juden: die sowjetischen Kriegsgefangenen nämlich und der internationale Widerstand unter polnisch-österreichischer Führung. Die Art und Weise, wie sie die Flucht ergriffen, unterschied die beiden Gruppen jedoch in höchstem Maß. Die sowjetischen Gefangenen liefen meist auf gut Glück davon, anscheinend ohne 253 Vgl. Angaben von Eisenschmidt (Greif, 1999. S. 282 f.) und Shlomo Venezia (Venezia, 2008. S. 138– 140). 254 Fromer, 1993. S. xix. 255 Friedler, Siebert, Kilian, 2008. S. 266. 256 Kilian, 2014. S. 45 (mit Verweis auf Bartosik). 257 In der ganzen Zeit waren 667 Menschen aus Auschwitz entflohen. Nur 270 von ihnen wurden nachweislich gefasst. Insgesamt wurden 186 auf der Flucht Ergriffene im Bunkerbuch verzeichnet, von denen 96 nachweislich hingerichtet wurden. Andere aber wurden nie mehr entdeckt. Vgl. APMA-B. Nr. 175036. Iwaszko, 1964. S. 57.

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Rücksicht darauf, was sie dabei riskierten. Geflüchtet zu sein oder zumindest eine Flucht vorzubereiten, war gewissermaßen ihr natürlicher Zustand. Wenn sie einen spontanen Versuch unternahmen, dann brachen sie im Alleingang aus oder je nach den Umständen auch zu zweit oder zu dritt – und einmal, am 6. November 1942, zu einem Dutzend258. Hals über Kopf abzuhauen, kam für die Mitglieder des Untergrunds hingegen überhaupt nicht infrage. Sie bereiteten Ausbrüche von langer Hand vor, sorgfältig und mit aller gebotenen Umsicht. Und das auch erst, wenn die Kollektivverantwortung für die anderen Häftlinge für sie aus Gründen des sparsamen Umgangs mit Arbeitskräften aufgehoben war. Sie flüchteten meist zu den Widerstandskämpfern der Umgebung: Die Verbindung zu den Partisanen hatte der polnische Untergrund bestens aufgebaut259. An dieser Stelle soll daran erinnert werden, dass die Untergrundbewegung in Auschwitz sich 1943 aus zahlreichen Nationalitäten zusammensetzte – und oft genug waren die nationalen Gruppen in politische Lager zersplittert. Bei den Polen zum Beispiel hatten die Kommunisten, die Sozialisten und die Nationalisten jeweils ihre eigene Untergruppe. Der Kopf des Untergrunds waren die polnischen Häftlinge Józef Cyrankiewicz, Zbyszek Raynoch und Tadeusz Holuj, die Österreicher Alfred Klahr, Heinrich Dürmayer, Ernst Burger und Hermann Langbein sowie die Deutschen Bruno Baum (löste Burger ab), Rudi Göbel und andere260. Juden und sowjetische Kriegsgefangene waren aber auch dabei. Bei den Sowjets sind solche Namen bekannt wie Kusma Karzew, Alexandr Lebedew, Petr Machura, Fjodor Skiba, Wladimir Sokolow und andere261. Bei den Juden: Joschua Eiger (einigen Angaben zufolge Schreiber in der Politischen Abteilung, laut anderen Quellen Elektriker262) oder auch Israel Gutman, der berühmte Historiker und Holocaust-Forscher, der vermutlich am 8. Juli 1943 von Majdanek nach Auschwitz gebracht wurde. Eiger und Gutman fungierten gewissermaßen als Verbindungsmänner zwischen zwei 258 Czech, 1989. S. 333. Mit Verweis auf die Aussage von Andrej Pogoschew: APMA-B. Erklärungen, Bd. 29. Bl. 8–10. Sabotschen spricht nicht von zwölf, sondern von ganzen 69 Flüchtigen – darunter vier Überlebende: Martschenko, Pisarew, Pogoschew und Stenkin. (Sabotschen, 1965. S. 112 mit Verweis auf die mündlichen Berichte Stenkins und Pogoschews). Vgl. auch Świebocki, 1998. S. 970. 259 Es wurden allein über 1.000 Kassiber herausgeschmuggelt. Mehr zu polnischen Ausbrüchen aus Auschwitz und zur Zusammenarbeit des polnischen Stammlageruntergrunds mit den Partisanen und der Heimatarmee (Armia Krajowa): Garlinski, 1975. 260 Sabotschen, 1965. S. 113–119. 261 Eine „Sonderzelle“ gab es laut Sabotschen auch in Birkenau: Michail Winogradow, Iwan Kowalew, Konstantin Petrow, Jewgeni Choroschunow und andere. Vgl. Sabotschen, 1965. S. 114–116. 262 Eiger, 1948.

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Widerstandsgruppen: der polnischen im Stammlager und der jüdischen Gruppe im Sonderkommando von Birkenau263. Bruno Baum berichtet zudem von einem Sowjetjuden namens Monek Majowitsch, der in derselben Wäscherei gearbeitet haben soll, in der auch er arbeitete264. Bis März 1942, als es mit den ersten jüdischen Transporten losging, war Auschwitz fast schon ein rein polnisches Lager gewesen. So war denn der polnische Widerstand auch der stärkste und am besten organisierte – ungeachtet dessen, dass es 1943 dreimal und 1944 viermal mehr Juden als Polen in Auschwitz gab. Einen gesamtpolnischen Untergrund gab es wegen innenpolitischer Kämpfe innerhalb Polens im Lager freilich nicht und konnte es auch nicht geben. Wenn solche Widerstandsbewegungen aufkamen, dann nur in außerordentlichen Situationen wie dem Warschauer Aufstand. Eine gemeinsame Übereinkunft erzielten in Auschwitz Ende 1942 die „AK-isten“ und die „AListen“265. Möglich wurde diese jedoch nur – wie überall anders auch – unter der Federführung der Armia Krajowa, vertreten durch Witold Pilecki, und der von ihm in Auschwitz gegründeten „Vereinigung militärischer Organisationen“ (ZOW)266. Jedenfalls hatte sich im Mai 1943 in Auschwitz eine Art Koordinationszentrum des Lageruntergrunds formiert, jene „Kampfgruppe Auschwitz“, die in die Geschichte eingegangen ist. Deren Kern bildeten polnische und österreichische Gruppen, doch schlossen sich ihr auch viele andere an. Nur die Belgier und die Franzosen zogen es vor, in ihrem jeweils eigenen kleinen Kreis zu bleiben. Weitere autonome Gruppen gab es offensichtlich bei den Tschechen sowie bei den Sinti und Roma. Ihr Ziel sahen die Verschwörer der „Kampfgruppe“ vor allem darin, Posten von Funktionshäftlingen schrittweise zu übernehmen und ihre Gegner aus diesen Posten zu verdrängen – systematisch und um jeden Preis. Polen und deutsche Kommunisten arbeiteten gemeinsam auf dieses Ziel hin und entfernten Schritt für Schritt ihre Erzfeinde  – die deutschen Berufsverbrecher267 – von allen lagerinternen Schlüsselpositionen. Ein anderes Ziel: die Fürsorge und die Erleichterung der Haftbedingungen für die eigenen Leute. Dazu gehörte die Unterbringung im Krankenbau bei eingeweihten Ärzten, 263 Gutman, 2014. S. 215. 264 Baum, 1962. S. 79 f. 265 Von „Armia Krajowa“ (AK) und „Armia Ludowa“ (AL): Polens nationalistische und kommunistische Widerstandsbewegungen, jeweils mit der Ausrichtung nach London respektive Moskau. 266 Garlinski, 1975. 267 Halivni, 1979. S. 125–127.

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manchmal auch die Fälschung von Papieren und sogar der Austausch von Häftlingsnummern. Außerdem wurden Waffen und Werkzeuge für den künftigen Aufstand aufgetrieben, Metallscheren zum Beispiel für das Durchschneiden des Stacheldrahts. Ab 1943 hörten die Konspiranten regelmäßig Radio und verbreiteten einmal wöchentlich eine Art politische Mund-zu-Mund-Propaganda. Auch fanden sie Wege zu anderen Lagerbereichen und, besonders schwierig und wichtig, Möglichkeiten, um Kontakt zur Außenwelt herzustellen. In der ganzen Zeit, in der das Lager existierte, wurden an die 1.000 Kassiber in die Freiheit übermittelt. Das ist wohl das größte Verdienst, das man den Verschwörern anrechnen kann. Auf Grundlage dieser Kassiber erschien in Krakau sogar eine Zeitung, das „Auschwitzer Echo“268. Man muss hierbei berücksichtigen, dass der Untergrund von Auschwitz I im Gegensatz zu den Mitgliedern des Sonderkommandos viele Mittel in der Hand hatte. Sogar Waffen konnten die Aufrührer der „Kampfgruppe“ auftreiben, wenn auch nicht kostenlos (zum Glück galten die Männer vom Sonderkommando als zahlungsfähig – besonders hoch im Kurs standen deren Dollars und Medikamente). Außer solchen Geschäftsverbindungen bestanden zwischen den zwei Widerstandsgruppen auch Bündnisbeziehungen: Mitglieder des Sonderkommandos übermittelten an den Untergrund im Stammlager Transportlisten und sogar Fotos davon, wie die Vernichtungsmaschinerie funktionierte. Die Zentrale versorgte sie im Gegenzug mit Auskünften, die überlebenswichtig sein konnten: beispielsweise rechtzeitige Informationen über anstehende Selektionen innerhalb des Sonderkommandos. Die Funktion der V-Männer übernahmen Handwerker (Elektriker etwa) oder Häftlinge, die im „Kanada“Lager arbeiteten und sowohl zum Stammlager als auch zum Sonderkommando269 Kontakt hatten. Im Vergleich zu Birkenau und Monowitz war das Leben im Stammlager – wenn die Häftlinge es nicht gerade im Bunker der Lagergestapo oder in den medizinischen Versuchslabors verbringen mussten – geradezu geordnet und stabil. Das Lagerleben der Juden, die die Rampe überstanden hatten, wurde aber einigen Schätzungen zufolge nicht in Jahren, sondern in wenigen 268 Baum, 1962. S. 86–90. 269 Der wichtigste Verbindungsmann nach Birkenau und zu den Krematorien war Bruno Baum zufolge der österreichische Kommunist Simra (Baum, 1962. S. 75). Aber auch Pilecki hatte seine Verbindungskanäle zum Sonderkommando.

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Monaten gemessen. Bei so einer Lebenserwartung reichte die Zeit nicht mal dafür, sich im Lager zu orientieren, geschweige denn dafür, Aufstandspläne zu entwerfen und reifen zu lassen. Fast schon als Quelle der Hoffnung erschien da das sogenannte Familien­ lager, das größtenteils von deutsch- und tschechisch-jüdischen Familien aus Theresienstadt bewohnt wurde. Im Grunde war es die Nachbildung eines klassischen Ghettos, das gewissermaßen an seinen „richtigen Ort“ deportiert worden war. Nur wenige Schritte davon entfernt toste der Todesstrom, der über kurz oder lang jeden mitriss – diesem Schicksal zu entkommen, schien ein für alle Mal unmöglich. Doch wie das Leben (genau genommen aber der Tod) gezeigt hat, war es das Gefühl der eigenen Exklusivität, das den Handlungswillen der Juden aus Theresienstadt lähmte. Es war die Bindung an die Familien, deren Leben bei jeder Art von Aufsässigkeit aufs Spiel gesetzt worden wären. Und es war auch die irrationale, durch nichts zu begründende Ansicht, diese „Insel der Glückseligen“ werde auf ewig bestehen. Derweil wussten die Theresienstädter im Unterschied zu den Neuankömmlingen an der Rampe sehr wohl, was genau mit solchen Neuankömmlingen geschah. Unter ihnen waren auch viele junge und kräftige Männer – eine für den Aufstand bestens geeignete Truppe. Gradowskis Andeutungen, es habe zwischen dem Sonderkommando und den Juden aus Theresienstadt eine Art Absichtserklärung bestanden (wenn die einen rebellieren, schließen sich die anderen ihnen an), werden von Vrba und Wetzler270 bestätigt. Jedenfalls fanden Verhandlungen statt, bei denen Vrba selbst als Verbindungsglied fungierte, war er doch Schreiber im Quarantänelager B  II  a, das ans Familienlager B  II  b angrenzte. Unterhändler der ­Theresienstädter war der Lehrer Fredy Hirsch271, für das Sonderkommando verhandelte vermutlich Oberkapo Kaminski. Als sich dann die Anzeichen einer anstehenden Liquidierung des Familienlagers häuften, glaubte er es nicht: Wozu sollen die Deutschen denn dann die jüdischen Kinder ein halbes Jahr lang mit Milch und Brot verköstigt haben? Und als das Familienlager in die Quarantäne verlegt wurde und kein Zweifel mehr an der Absicht der Deutschen blieb, da hatte Hirsch seine Zeit schon mit Zweifeln und Zaudern vergeudet. Da er es letztlich weder geschafft hatte, die Kinder zu schützen, noch,

270 Vgl. Świebocki, 2002. S. 239–241. 271 Unter den Häftlingen des Familienlagers gab es einige Dutzend Menschen, die Erfahrungen bei den spanischen Internationalen Brigaden gesammelt hatten.

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einen Widerstand auf die Beine zu stellen, nahm er sich selbst das Leben272. Was mit dem Familienlager geschah und wie das Sonderkommando vergeblich auf den Aufstand der Theresienstädter wartete, beschreibt Gradowski. Die Möglichkeit, sich im Lager zu orientieren, hatten die Mitglieder des Sonderkommandos schon – die Gewissheit, was der morgige, ja der heutige Tag bringen würde, hatten sie nicht. Auch waren sie familiär nicht eingebunden. Nach der reibungslosen Vernichtung des Familienlagers – sie waren ja mindestens deren Zeugen  – kamen sie zu der Einsicht, dass sie außer sich selbst niemanden mehr hatten, auf den sie sich hätten verlassen können. Dies einte sie zu einer Gruppe, die überaus daran interessiert war, einen Aufstand zu organisieren – je früher, desto besser273. Das unabdingbare Element ihrer Pläne war die Vernichtung des Dreh- und Angelpunkts der Todesfabrik: der Krematorien – selbst wenn sie die Vernichtung mit dem eigenen Leben bezahlen sollten274. Überhaupt war das Sonderkommando offenbar die einzige Kraft auf der ganzen Welt, die sich dazu entschlossen hatte, wenigstens einen Teil der Holocaust-Infrastruktur zu zerstören. Den Alliierten mit ihren Bomberarmadas kam das offenkundig nicht in den Sinn275. Wie auch immer der Aufstand ausgegangen wäre, allein die Vorbereitung darauf bot den Mitgliedern des Sonderkommandos schon die Chance, die ganze Bestialität des Geschehens auf den Boden des ethisch Verträglichen zurückzuführen. Schon die Vorbereitung war für die Männer eine Möglichkeit, die Schuld und den Horror zu sühnen, die auf ihrem Gewissen lasteten. Das allein wäre schon ein Erfolg: eines zumindest menschlichen, wenn nicht gar heldenhaften Todes zu sterben – in einem Kampf, mit erhobenem Haupt. In dieser Hinsicht ist der Aufruhr des Sonderkommandos mit den zwei Warschauer Aufständen vergleichbar: Die Erfolgschancen lagen hier wie dort gleichsam bei null, doch den Kampfgeist und die Selbstachtung haben sie durchaus gestärkt. Der polnischen Führung der „Kampfgruppe Auschwitz“ war diese Entschlossenheit definitiv zuwider. Ihre Verhaltenstaktik bestand darin, keinerlei 272 Vgl. Świebocki, 2002. S. 239–241. 273 Zu den Hunderten Mitgliedern des Sonderkommandos zählten auch sowjetische Kriegsgefangene und Polen. Die Sowjets nahmen an der Vorbereitung und der Durchführung des Aufstands aktiv teil. Die Polen hingegen wurden aus Angst vor Verrat in die Pläne gar nicht erst eingeweiht. 274 Ähnliches fand auch in Treblinka statt: Dort sprengte Schandor Lindau, ein Jude aus Budapest, das Krematorium zusammen mit sich selbst in die Luft. So tat es Samson übrigens auch. 275 Und als sie darum unmittelbar gebeten wurden, übten sie sich darin, Ausreden zu erfinden.

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Verdacht zu erregen und um jeden Preis zu überleben. Aus ihrer Sicht musste erst die Außenwelt informiert werden. Der Aufstand hätte demnach erst stattfinden dürfen, wenn klar geworden wäre, dass die SS zur Vernichtung aller Gefangenen fest entschlossen sei, oder wenn die Rote Armee vor den Toren des Lagers gestanden hätte. Letzten Endes organisierte der Untergrund des Stammlagers bekanntlich keine Rebellion. Bruno Baums Beschreibung des polnischen Plans ist derart unklar, dass zumindest an seiner Rolle bei der Erarbeitung dieses Plans gezweifelt werden darf. Die ganze Kraft verpuffte in der geistreichen Organisation ausgeklügelter Ausbrüche, die jedoch ganz banal an Pech oder Verrat scheiterten. Oder auch daran, dass die Deutschen bestimmte Personen, die ihnen verdächtig erschienen, präventiv in den Westen deportierten276. Es ist erstaunlich, doch Bruno Baum genierte sich nicht, den Männern des Sonderkommandos Untätigkeit vorzuwerfen, wenn sie den Menschen ihre Unterstützung verweigerten, die vor den Türen der Gaskammern plötzlich begriffen, dass ihre Vernichtung bevorstand, und sich spontan auflehnten. Andererseits spricht er davon, Mitglieder des Sonderkommandos von einem Aufstand abgehalten und andere Häftlinge vor der Beteiligung an einem solchen gewarnt zu haben277. Die drei jüdischen Mitarbeiterinnen der UnionWerke, die unter Einsatz ihres Lebens Schießpulver für die Granaten auftrieben, es unter anderem über die Bekleidungskammer mithilfe von Roza Robota ins Krematorium einschleusten und dann – weil alles aufgeflogen war – eines heldenhaften Galgentodes starben, spricht Baum derweil „seiner“ Organisation zu, wobei er das Sonderkommando nur nebenbei und zähneknirschend erwähnt278. Die folgende Passage aus dem Manuskript von Salmen Lewenthal ist ein vielsagender Ausdruck der Gewissheit darüber, dass die Deutschen schon dafür sorgen würden, die Wahrheit nicht ans Tageslicht kommen zu lassen: „Die Geschichte von Oyshvits-Birkenau als eines Arbeitslagers im Allgemeinen und als eines Orts der Vernichtung von Millionen von Menschen im Besonderen wird, wie ich denke, der Welt nur unzureichend überliefert werden. Ein wenig durch zivile Personen und ich denke, dass die Welt jetzt schon von diesen Schrecken weiß. Die Ü ­ brigen,

276 Baum, 1962. S. 86–90. 277 Baum, 1962. S. 75 f. 278 Baum, 1962. S. 100–102.

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womöglich, wer von den Polen noch am Leben bleibt dank irgendeinem Zufall, oder von der Lagerelite, die die besten Placowkas einnehmen […]“279

Dadurch, dass sie den Juden Versprechungen machten, an deren Erfüllung sie gar nicht dachten, bezweckten die Polen nur eines: die Aufschiebung des Aufstands auf so lange Zeit wie nur möglich. Dennoch gelang es den beiden Zentralen eines Tages, eine Abmachung zu erzielen. Dabei hätten die polnischen Partisanen allerdings beträchtliche Geldsummen im Gegenzug für die Unterstützung des Aufstands gefordert280. Abgestimmt wurde auch das Datum des Aufruhrs: an einem der Freitage im Juni 1944 sollte es so weit sein, höchstwahrscheinlich am 16.  Juni. Verhandelt hatten (über V-Männer) auf polnischer Seite offensichtlich Cyrankiewicz und Burger, auf jüdischer der Kapo Kaminski281. Doch haben die Polen den Termin buchstäblich in letzter Minute und im Alleingang verschoben. Vielleicht war der Grund dafür, dass der SS-Obergruppenführer Pohl an exakt jenem Tag das Lager besuchte. Oder es lag vielleicht daran, dass Armeeeinheiten durch das Lager befördert wurden. Auffällig jedoch ist, dass der polnische Untergrund an den gleichen Tagen – um den 20.  Juni herum  – wieder einmal die Flucht von Cyrankiewicz vorbereitete. Der Fluchtversuch scheiterte und kostete drei junge Untergrundmitglieder, die den Ausbruch in der Freiheit vorbereitet hatten, das Leben282. Ob es einen direkten Zusammenhang zwischen der Terminverschiebung und der Fluchtvorbereitung gab, ist schwer zu sagen. Den Kampfgeist der Juden hat die Verschiebung jedenfalls gedämpft. Mehr noch: Dadurch hatten die Polen die Verschwörung ein Stück weit bloßgelegt. Ohne Folgen konnte das natürlich nicht bleiben. Vielleicht kostete die Verschiebung des Aufstands den Leiter des jüdischen Untergrunds, Kapo Kaminski, das Leben: Anfang August wurde er von Moll persönlich erschossen. 279 Wahrlich, eine Prophezeiung – erst recht, wenn man sich des Versuches von Bruno Baum entsinnt, die Zerstörung der Öfen in Birkenau dem vermeintlichen Einfluss der Untergrundzeitung „Das Echo von Auschwitz“ zuzuschreiben, die er angeblich redigierte. 280 Laut Aussage von Eisenschmidt. Er verurteilte die Polen sogar wegen Verrats. Dieser Vorwurf war jedoch gegen die polnischen Untergrundkämpfer gerichtet (Greif, 1999. S. 284–286). 281 Man soll das Ausmaß dieser Zusammenarbeit nicht überbewerten. Die Berichte von Baum und Gutman über 20 Kilogramm Sprengstoff, der von Verbündeten für die polnischen Partisanen auf Fallschirmen abgeworfen und dann in kleinen Mengen ins Lager gebracht wurde, sind ein Märchen (Halivni, 1979. S. 129 f.). Die Verbündeten machten sich ja nicht einmal die Mühe, eine ganz normale Bombe auf das Krematorium abzuwerfen. 282 Garlinski, 1975. S. 239–241.

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Nach diesem Fiasko schwiegen die Juden, jedoch – um es mit den Worten von Salmen Lewenthal zu sagen – zähneknirschend. Und nach der Septemberselektion innerhalb des Sonderkommandos283 wollten sie von der Zusammenarbeit mit den Polen endgültig nichts mehr wissen. Diese Enttäuschung hatte hauptsächlich zwei Konsequenzen. Die erste: Auf die Weitergabe von Informationen an die „Kampfgruppe Auschwitz“ wurde von nun an verzichtet. Stattdessen wurden sie der Erde überantwortet. Dem Untergrund wurde dadurch das Monopol auf die Übermittlung der Kassiber in die Freiheit genommen. Die Mutter Erde wurde zur Vermittlerin. Wer die Informationen finden wollte, der würde sie schon finden. Und die zweite Konsequenz: Das Sonderkommando war von nun an umso entschlossener zum alleinigen Aufstand284.

Vorbereitung des Aufstands: Pläne, Termine, Anführer Als Salmen Gradowski in seinen Aufzeichnungen „Im Herzen der Hölle“ schrieb, die Mitglieder des Sonderkommandos seien so etwas wie eine große Familie gewesen, gab er sicherlich einen Wunschtraum für Wirklichkeit aus. Mit seinem Bericht über die Selektion und den Abschied der Männer will er wohl erreichen, dass das Sonderkommando der Nachwelt so menschlich wie nur möglich in Erinnerung bleibt. Tatsächlich aber war das Sonderkommando bei all seiner Einfachheit ein komplexer Mikrokosmos. Einige seiner Mitglieder wurden von Rachegelüsten und dem Wunsch nach Widerstand getrieben, andere (eine nicht kleinere Gruppe) hingen jedoch an jeder weiteren Stunde ihres Lebens, wiederum andere (und zwar die Mehrheit) waren „ganz apathisch. Ihnen war alles egal. Sie haben niemanden mehr gehabt. Das waren keine Menschen, sondern Roboter.“285 Die „Roboter“ waren als Gruppe ebenfalls gespalten: Es verlief eine natürliche Kluft zwischen den „roboterhaften Hilfsarbeitern“ und den „roboterhaften Funktionshäftlingen“. Letztere hatten schließlich die Aufgabe, die Malocher zur Arbeit zu zwingen  – eine Aufgabe, die jede Art von Züchtigung ausdrücklich zuließ. Und da es unter den Oberkapos, Kapos, Vorarbeitern 283 Im September 1944 wurden 200 Mitglieder des Sonderkommandos in der Nähe von Auschwitz I ermordet. 284 Halvini, 1979. S. 127. 285 Eine Aussage von Filip Müller (Langbein, 1995. S. 131).

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und Blockältesten nicht nur Deutsche und Polen, sondern auch Juden gab, war diese Kluft gewissermaßen auch eine innerjüdische. Konfliktträchtig war auch die Sprache im Alltag: Griechische und ungarische Juden verstanden in der Regel kein Jiddisch oder Polnisch; die polnischen, litauischen und polnisch-französischen Juden waren des Griechischen, Ungarischen oder des Ladinos nicht mächtig. Wie viele Missverständnisse dies doch mit sich brachte. Es verliefen aber noch andere Spannungslinien durch das Sonderkommando, an denen es einer Zerreißprobe ausgesetzt war. Der Gegensatz zwischen den Aschkenasim und den Sephardim etwa  – der wurde auch in der Hölle ausgetragen286. Seinen Höhepunkt erreichte dieser Konflikt sicherlich während der Selektionen: Die Sephardim waren stets die ersten Todeskandidaten, deren Listen zu erstellen eine Aufgabe der Aschkenasim-Kapos war. Auch das Verhältnis zwischen den Polen und den Russen war keineswegs freundlich287. Deshalb kommt es schon einem Wunder gleich, dass es in diesem bunten jüdischen Haufen im Grunde keine Verräter gegeben hat – jedenfalls nicht vor und nicht während des Aufstands288. Jederzeit verräterfrei war das Sonderkommando jedoch nicht: Denunzianten fanden sich darin oft genug. Wir wissen sehr wenig über das Sonderkommando, das von Gradowski und seinen Leidensgenossen abgelöst werden sollte. Es wurde am 9. Dezember 1942 vollständig liquidiert, auch weil diese Gruppe einen Aufstand beabsichtigt und möglicherweise bereits tatkräftig vorbereitet hatte289. Die Mitglieder jenes Sonderkommandos wurden verraten und hingerichtet – vom Inhalt ihrer Pläne haben wir keine Kenntnis. Salmen Lewenthal und Filip Müller schreiben über einen Aufstand, der laut Tauber und Müller für einen Freitag Mitte Juni 1944 angesetzt war290. Wohlgemerkt: Dieser von Kaminski ausgearbeitete Plan bezog sich auf eine Zeit und eine Situation, als das gesamte Sonderkommando zusammen in einem eigenen Block mitten im Lager wohnte – im Block 13 nämlich (die Aufspaltung des Sonderkommandos und dessen Verlegung in die Krematorien – von Birkenau isoliert – fanden erst Ende Juni statt)291. Dieser Plan sah folgen286 Bennahmias berichtet, die Aschkenasim hätten die Sephardim verachtet und sie als „Cholera“ oder „Korva“ („Scheiße“ und „Huren“) beschimpft. Vgl. Bowman, 1993. S. xxi. 287 Venezia, 2008. S. 142–145. 288 Venezia behauptet, die Beziehungen zwischen den Mitgliedern des Sonderkommandos seien im Großen und Ganzen solidarisch gewesen. Die Basis dafür habe der Umstand geliefert, dass sie (im leiblichen Sinn) vergleichsweise gut versorgt gewesen seien (Venezia, 2008. S. 150 f.). 289 Langbein, 1979. S. 230. 290 Müller et al. schreiben, der Aufstand sei für einen Freitag anberaumt worden. Greif und Levin schreiben stattdessen über einen Termin um 16 Uhr am Sonntag (Greif, Levin, 2015. S. 152–156).

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dermaßen aus: Um vier Uhr nachmittags, noch vor dem Abendappell, fallen 140 Männer des Sonderkommandos in den Krematorien IV und V über ihre sieben SS-Wachen her, töten sie292 und schneiden die Telefonleitung durch. Auf gleiche Weise sollte auch in den Krematorien II und III vorgegangen werden. Dort hatte das Sonderkommando ganze 180 Männer (gegen zehn SSWachen). Wenn dann die Ablösung für die SS-Wachen kam, würden sie auch diese überwältigen und sich ihrer Waffen und Uniformen bemächtigen. In diesem Fall hätten die Rebellen automatische Schusswaffen in die Hände bekommen. Eine wichtige Rolle kam einem Lagerabschnitt zu: dem Effektenlager „Kanada“ (mit der darin befindlichen „Sauna“), das sich zwischen zwei umzäunten Krematoriumsbereichen befand. Dieser Bereich sollte zu einem Epizentrum des Aufstands werden. Weiter ging der Plan so: Am Abend, wenn die große Postenkette um das Lager herum aufgehoben wird, „eskortieren“ die als SS-Männer verkleideten Aufständischen zehn Häftlinge mit Sägen und anderem Werkzeug ins Lager, wobei sie die Posten auf ihrem Weg mit schallgedämpften Kleinkalibergewehren beseitigen, Telefonleitungen durchtrennen und darüber hinaus die SSMänner der Blockführerstuben liquidieren. Dann ergreift der Aufstand das ganze Lager Birkenau und von dort aus auch das Stammlager. Die Häftlinge greifen ihre Blockführer an, ebenso den Krankenbau und das Frauen- und Männerlager, stecken die Baracken in Brand … Zugleich schneidet die Gruppe aus dem Krematorium II – wo das Schießpulver aufbewahrt wurde – den Draht ins Frauenlager durch und sprengt alle Krematorien, eines nach dem anderen. Wegen des Stacheldrahts wurden vorher Drahtscheren mit Gummigriffen besorgt, für die Krematorien war Sprengstoff vorgesehen – das Schießpulver. Ausnahmslos jedes Krematorium sollte gesprengt werden. Allen war bewusst, dass die meisten dabei sterben würden. Doch genau so einen Tod wünschte sich jeder – wenngleich mit der Hoffnung im Herzen, der todgeweihten Mehrheit nicht angehören zu müssen und dem Tod durch irgendein Wunder zu entkommen. Nun kam der Tag, der Termin war auf neun Uhr festgesetzt. Alles war bereit. Um zwei Uhr kam der V-Mann der Polen mit der Nachricht, dass der Termin bestehen bleibe. Doch kurz darauf eine völlig andere Botschaft: „Ent291 Müller, 1979. S. 236. Anderen Zeugenberichten zufolge fand die Verlegung bereits Ende Mai statt. Vgl. Dragon in: Piper, 1993. S. 215. Schon möglich, dass diese Maßnahme nicht nur aus Gründen arbeitstechnischer Zweckmäßigkeit getroffen wurde. Dass die Sicherheit des Lagers gefährdet sein würde, könnte die SS zumindest erahnt, wenn nicht direkt mitbekommen haben.

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warnung, Kameraden! Wegen unvorhersehbarer Umstände wird alles vertagt. Man muss ein wenig warten.“ Was für ein Schock für alle. Und Ende Juni verlegte Moll dann nahezu alle Mitglieder des Sonderkommandos (außer der Krankenabteilung) unmittelbar auf das Krematoriumsgelände (auf die Dachböden der Krematorien II und III sowie in den Entkleidungsraum des Krematoriums  IV). Dadurch wurde alles um ein Vielfaches komplizierter. Die ­Männer des Sonderkommandos waren nun nicht nur ihren schrecklichen Arbeitsstellen näher, sondern auch vom restlichen Lager ­vollständig abgekapselt. Den ausgearbeiteten und kurz vor der Verwirklichung stehenden Aufstandsplan konnte man jetzt vergessen. Spannend ist, dass eine weitere Version dieses vereitelten Aufstands existiert, die von Leon Cohen. Von der soeben geschilderten unterscheidet sich diese durch einige kleinere Details – und durch ein größeres: das Datum, an dem der Aufstand stattfinden sollte. Statt von Mitte Juni ist in dieser Version von Mitte August die Rede293, weshalb sie dann doch als verzerrte Erinnerung verstanden werden müsste. Denn der Umzug aus dem Block in die Krematorien fand ja in jedem Fall Ende Juni statt294. Diese Version darzulegen, ist dennoch so überflüssig nicht. Schließlich enthält sie zahlreiche Details, die so manch einen Punkt aus der ersten Version in neuem Licht erscheinen lassen – insbesondere die gänzlich andere, sehr viel aktivere Rolle der Häftlinge aus der „Sauna“ und dem „Kanada“-Lager. Demnach wurde der Plan im Sommer ausgearbeitet. Erst war der Aufstand für den 19. August angesetzt worden, dann wurde er auf den 15. vorverlegt. Die erste Etappe: Während der Wachablösung der SS müssen die Wachen im Sektionsraum geknebelt werden. Die zweite: Um 16 Uhr wird der Dampfdruck in der Desinfektionskammer bis zum Anschlag erhöht – dadurch soll das Gebäude explodieren. Die Mitarbeiter von „Kanada“ zünden die Effektenmagazine an, schalten die Telefone ab; ein anderes Kommando schneidet den Draht des Frauenlagers durch und lässt die Frauen frei. Die Verwundeten aus den eigenen Reihen hatte man beschlossen zu erschießen, damit sie den SS-Männern nicht in die Hände gerieten. Leon Cohens Aufgabe war es, mit vier weiteren Männern das Krematorium in Brand zu stecken. Doch am 12./13.  August ­hörten die Männer plötzlich Kanonendonner: Die Russen etwa? So nah? Und 292 Müller, 1979. S. 232 f. 293 Greif, 1999. S. 356–358. 294 Anderen Angaben zufolge  – laut Shlomo Venezia etwa  – sogar noch früher. Vgl. Venezia, 2008. S. 141.

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wenn dem so ist, dann braucht man sich ja nicht zu erheben! Also verwarfen viele den Plan. Viele, aber nicht alle. Am 15. August dann beorderte die SS, wie Leon Cohen berichtet, die zwei Schichten des Sonderkommandos zum Appell, um es aus ihnen rauszupressen: „Wo sind eure Waffen und die Munition?“ Vier Russen wurden daraufhin abgeführt …295 Es ist eine recht schwierige Aufgabe, das ursprüngliche Datum des geplanten Aufstands zu bestimmen; dabei ist dieses Datum maßgeblich, um die Handlungskette nachzuvollziehen, die zur Erhebung am 7.  Oktober 1944 geführt hat. Andreas Kilian hat auf diese Frage eine klare Antwort: Freitag, der 28. Juli. Dabei stützt er sich auf drei Faktoren, die alle an diesem und nur an diesem Tag zusammenfallen: Der Aufstand konnte erst stattfinden, nachdem die Ungarn-Aktion beendet worden war (was bald nach dem 11. Juli passierte); anberaumt wurde er für einen Freitag; und der Aufstand fiel zufällig auf einen Tag, an dem ein Transport aus Majdanek unter sehr starker Aufsicht in Auschwitz ankam296. Sollte der Transport an der Rampe in Birkenau tatsächlich angekommen sein, haben die Aufständischen aus dem Sonderkommando der Krematorien II und III unter der Leitung des Oberkapos Kaminski ihn bestimmt mit eigenen Augen gesehen297. In solch einem Fall könnte Kaminski von sich aus – ohne die Bitte oder Anweisung der „Kampfgruppe Auschwitz“  – befohlen haben, den Tag des Aufstands zu verschieben. Derweil war eine äußerst heikle Situation entstanden: Viele der Mitglieder des Sonderkommandos, die in die Vorbereitung des Aufstands nicht eingeweiht worden waren, hatten inzwischen davon erfahren, sodass die Gefahr eines Verrats um ein Vielfaches gewachsen war. Kaminski blieb indes nur eine Woche zum Leben. Am 2. oder 3. August wurde er von Moll persönlich erschossen (der auch eigenhändig seine Leiche verbrannte). Was der Hauptscharführer dem Kapo Kaminski anlastete, war jedoch nicht die Vorbereitung des Aufstands, sondern eines Anschlags auf eine andere SS-Bestie: Erich Mußfeldt298. Einer anderen Version zufolge wurde er im Krematorium  II gefasst und ins Krematorium  IV verschleppt, wobei man ihn den ganzen Weg lang mit Schlägen malträtierte. Dort wurde er

295 Cohen, 1996. S. 66. Vgl. auch Greif, 1999. S. 356–359. 296 Dass der Aufstand verschoben wurde, weil ein großer deutscher Militärverband in Birkenau haltmachte, gibt auch Yakov Gabai an (Greif, 1999. S. 226). 297 Friedler, Siebert, Kilian, 2008. S. 258–261. 298 Zu Mußfeldt siehe S. 75–78.

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hingerichtet und eingeäschert299. Zu der Zeit wurden in dem Krematorium Sinti und Roma verbrannt, deren Lager am Tag zuvor liquidiert worden war. Der dritten Version (jener von Leon Cohen) zufolge wurde Kaminski am 14. August getötet, just als er das Lagergelände ablaufen wollte, um alle über den erneuten Aufschub zu benachrichtigen. Es ist eher unwahrscheinlich, dass die Hinrichtung Kaminskis mit dem Aufstand nicht zusammenhängt. Dass hier ein Fall von Denunziation vor­ liegen könnte, die dem polnischen Kapo Morawa oder dem Blockältesten ­Szawinski zugeschrieben wird300, ist durchaus möglich. Doch wie dem auch sei: Die Politische Abteilung war Kaminski offenbar auf der Spur und schlug als Erste zu  – jedoch so, dass es den „Arbeitsprozess“ nicht beeinträchtigte (der erste Schlag war der Umzug in die Krematorien; die Septemberselektion war der dritte; eine weitere Selektion im Oktober hätte der vernichtende vierte Schlag sein sollen, fand aber nicht statt). Kaminski war der wichtigste Stratege und Organisator des Aufstands in den Krematorien. Es half ihm dabei die relativ große Bewegungsfreiheit, die er als Kapo (und zeitweise Oberkapo aller Krematorien) im Lager genoss. Er hatte persönlichen Kontakt zum Frauenlager (nämlich zu Roza Robota), zum polnischen Lageruntergrund301 und über diesen auch zu den Partisanen. Nach Kaminskis Tod gingen die Leitung des Aufstands und dessen Vorbereitung an andere, sehr wahrscheinlich mehrere Personen über  – darunter waren mit Sicherheit Gradowski, Dorębus (Warszawski) und Handelsman. Salmen Lewenthal, ein Mensch mit linksliberalen Ansichten, widmete dem Aufstand und dessen Vorbereitung viele Seiten seines Manuskripts. Besonders emphatisch schreibt er über Josel Warszawski, den er in den Jahren 1920– 21 persönlich gekannt hatte, als einen Kommunisten und Arbeiterführer in der Warschauer Gewerkschaftsbewegung. Später zog Josel nach Paris, wo er mit kommunistischen Zeitungen zusammenarbeitete. Lewenthal beschreibt ihn als einen „sehr intelligenten Menschen, der sich durch seinen guten, ruhigen Charakter auszeichnete. Zugleich war er Feuer und Flamme für den Kampf.“ Der Name „Josef Warszawski“ war sein Pseudonym, das er noch zu Zeiten des Klassenkampfs in Warschau zu Konspirationszwecken nutzte. Sein 299 Kraus, Kulka, 1991. S. 351–353. 300 Kilian schließt indes nicht aus, dass die Denunziation sogar nach Absprache mit dem polnischen Untergrund erfolgte. Morawa hatte gute Kontakte zum Untergrund – wie übrigens auch zur Lagergestapo (Kilian, 2003a. S. 16 f.). 301 Zum Elektriker Porębski, dessen Bekannte Zippi Spitzer in der Aufnahmeabteilung des Birkenauer Frauenlagers arbeitete.

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anderer Spitzname war „Josele di mameles“ – „Muttersöhnchen“. Sein echter Name: Josef Dorębus. Geboren wurde er 1906 in Żyrardów. Sein engster Freund Jankiel Handelsman, ein Damenschneider und ebenfalls Kommunist, wurde 1908 in Leipzig geboren, lebte in Radom, besuchte eine Jeschiwa in Sandomir, weshalb man ihn scherzhaft einen „Sozialisten im Namen Moses“ oder einen „Jeschiwa-Kommunisten“ nannte. Auf der Suche nach Arbeit waren beide 1931 nach Frankreich emigriert. In Paris waren sie als weiterhin polnische Bürger aktive Mitglieder der Gewerkschaftsbewegung jüdischer Migranten und der „Kulturliga“. Während der Besatzung waren beide in der Resistance aktiv, wurden verhaftet und interniert. Am 2.  März 1943 wurden sie aus Drancy deportiert und kamen am 4.  März in Auschwitz an302. Zu den besten Männern des Sonderkommandos zählte laut Lewenthal auch Salmen Gradowski. Im Zusammenhang mit der Vorbereitung des Aufstands spricht Lewenthal zudem über „seine engsten Freunde“, deren Andenken er besonders in Ehren halten möchte: Lejb Langfuß aus Makow, Ajzyk Kalniak und Lajb-Herszko Panicz aus Lomza sowie Josef Deresinski aus Lunna. Pliszko und Sokol halten Gradowski – auf fremden Hinweis allerdings – für den einzigen und wichtigsten Anführer des Aufstands303. Sabotschen nennt noch die Namen Gradowski, Panicz, Jiezkel Rybak und Moshe Sobotka304. Den Namen Henryk Fuchsenbrunner alias Tauber aus Krakau – dieser kannte das Umland von Auschwitz besonders gut – erwähnt Shlomo Dragon305. Im selben Kontext kommt auch der Name Daniel Finkelstein vor306. Filip Müller nennt zwei weitere Namen: Jukl Wrobel und den des polnischen Kapos Wladek (noch aus der Zeit von Auschwitz I). Dies war ein gewisser Władysław Tomiczek, ehemals polnischer Kommunist. Er war das einzige nichtjüdische Mitglied des Sonderkommandos, dem die Juden vertrauten und den sie in ihre Pläne einweihten. Er war lange Zeit der wichtigste Verbindungsmann zum polnischen Untergrund. Die Gestapo überwachte ihn und

302 Im selben Transport kamen auch ihre Frauen Beilja und Polja (Chana und Pesa?) in Auschwitz an. Sie überstanden zunächst die Selektion an der Rampe, erkrankten jedoch kurze Zeit später, kamen in den 25. Block – den Krankenbau – und von dort aus führte der Weg direkt in die Krematorien (27 janvier: En ce jour de la Liberation du camp d’Auschwitz-Birkenau. Macha Speter-Ravine. Matricule: 3533, in: Diamant. D. 1991. S. 322–325). 303 ŻIH. Aussage 301/1868. 304 Sabotschen, 1965. S. 122. 305 Greif, 1999. S. 172. 306 Hinweis vom Archivleiter des Auschwitz-Museums, Herrn Plosa.

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beorderte ihn wegen Verdachts auf Kontakte zu den Kommunisten und dem Untergrund zweimal zu sich, in den Block 11 des Stammlagers. Im August 1943 kehrte er zum letzten Mal ins Krematorium zurück, in einem Leichensack307. Es gibt zahlreiche Zeugnisse über die außerordentliche Bedeutung ehemaliger Militärs  – griechischer Juden (unter ihnen waren viele Armeeangehörige) und sowjetischer Kriegsgefangener  – bei der Vorbereitung und der Durchführung des Aufstands. Langbein zufolge hatten sich an der Ausarbeitung des Plans zwei griechische Offiziere beteiligt, einer von ihnen war Alessandro (anderen Quellen zufolge Alberto) Errera aus Larisa308. Isaak Kabeli, später Professor an der Athener Universität, nannte auch folgende Namen: Oberst Josef Baruch, Leutnant Josef Levy, Leutnant Maurice Aaron, Yitshak Baruch, Sam Carasso und Yomtov Yakoel. An Baruch erinnert sich auch Yakov Gabai. Er spricht auch über einen sowjetischen kriegsgefangenen Major (von der Herkunft her Jude) aus dem Krematorium II309. Und Shlomo Dragon berichtet über einen russischen „Oberst“310 und einen Franzosen, der im Spanischen Bürgerkrieg Erfahrungen gesammelt hatte311. Eliezer Eisenschmidt aber spricht über einen sowjetisch-jüdischen Kriegsgefangenen – einen Artilleristen im Dienstgrad eines Majors, der in Stalingrad gekämpft hatte – als über den alleinigen Anführer des Aufstands312. Sein Name ist leider unbekannt geblieben, möglicherweise handelt es sich um N (Nikolai?). Motin ist der einzige sowjetische Kriegsgefangene, dessen Namen Sabotschen in seinem Artikel über den Widerstand in Auschwitz erwähnt313. Zudem gab es noch Filatow, an den sich Eiger erinnerte314. Lewenthal zufolge kam es mit einem gewissen russischen Major zu einem besonders engen Verhältnis, obwohl der Festigung dieses Verhältnisses etwas 307 Müller, 1979. S. 147. 308 Langbein, 1979. S. 227 f.; Bowman, 1993. S. XVIX. Vgl. auch Venezia, 2008. S. 127 f. Familienangehörigen zufolge soll Errera kein Offizier gewesen sein. Vgl. Kilian, 2017b. S. 32. 309 Greif, 1999. S. 222 f. 310 Greif, 1999. S. 175 f. 311 Dieser Mann hatte Shlomo Dragon für die Konspiration gewonnen. Von den ehemaligen SpanienKämpfern im Sonderkommando sind nur wenige Namen überliefert worden: Alter Feinsilber (Stanislaw Jankowski), der in Spanien gekämpft hatte (siehe weiter oben), der überlebte, und laut Szmulewski Leon Guz aus Baranowicze (Szmulewski D. Zikhroynes fun vidershtand in Oyshvits-Birkenau. Paris 1984. S. 202 f.). Ber Mark verweist zudem auf einen Häftling, der unter dem Spitznamen „Pockengesicht“ bekannt war (Mark B., 1985. S. 128). 312 Aussage von Gabai und Eisenschmidt (Greif, 1999. S. 222, 285). 313 Sabotschen, 1965. S. 122. Demnach war Motin an der Sprengung des Krematoriums IV be­teiligt. 314 Siehe weiter unten.

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im Weg stand. Dass der Organisator des Aufstands ein gewisser sowjetischer Kriegsgefangener aus dem Krematorium  II gewesen sei, sagte auch Leon Cohen. Es ist sehr wahrscheinlich so, dass in allen diesen Aussagen ein und dieselbe Person gemeint ist: jener Artilleriemajor, über den auch Eisenschmidt und Gabai sprachen. Sie bemerkten auch, dass außer dem Major drei weitere sowjetische Kriegsgefangene den Aufstand vorbereiteten  – ebenfalls ethnische Juden315. Auffällig ist, dass Lewenthal den Russen genau das vorwirft, was der polnische Untergrund den Juden vorwarf: Mangel an Geduld und politischer Weitsicht, Nachlässigkeit bei der Geheimhaltung, Unfähigkeit, sich an vereinbarte Pläne zu halten, fehlendes Verständnis für das große Ganze. Dennoch schrieb Lewenthal, die Russen hätten es zwar herbeigeführt, dass der Aufstand auf die Art stattfand, wie er stattfand, doch bei alledem seien sie auch dessen beste „Komponente“ gewesen. Im Gegensatz dazu bezeichnet Dov Paisikovic die Russen nicht anders als „nichtsnutzige Säufer“316.

Vorbereitung des Aufstands: Waffen und Schießpulver Man bereitete sich auf den Aufstand vor, besorgte Waffen. Im Arsenal hatten die Verschwörer drei Granaten aus Auschwitz  I und einige Kleinkaliber­ gewehre, die alle  – außer ein paar Revolvern, die zufällig im Gepäck eines tschechischen Transports317 entdeckt worden waren – bei den Polen aufgetrieben worden waren, also für Dollar gekauft oder gegen Medikamente eingetauscht318. Die stumpfen Challa-Messer319 wurden auch zu diesem Zweck herangezogen und dafür geschärft320. Eines der wichtigsten Ziele des Aufstands war es, die Krematorien zu sprengen, wofür Sprengstoff benötigt wurde321. Unweit des Stammlagers war in Fa­brik­hallen, die einst noch von Krupp errichtet worden waren, ab dem 1. Oktober 1943 eine Fabrik der Union-Werke untergebracht, die aus der Ukraine hierhin verlagert worden war und Zündvorrichtungen für Bomben ­herstellte. Dort

315 316 317 318 319 320

Greif, 1999. S. 356. YVA. TR 17. JM 3498. ŻIH. Aussage 301/335. S. 7. Müller, 1979. S. 229 f. Aussage von Eisenschmidt (Greif, 1999. S. 285). Aussage von Eisenschmidt (Greif, 1999. S. 285).

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arbeitete eine Gruppe jüdischer Frauen, jedoch unter derartiger Aufsicht, dass eine Kontaktaufnahme zu ihnen praktisch unmöglich war. Der 23-jährigen Roza Robota aus Zichenau, Mitglied der zionistischen Organisation „Hashomer Hatzair“ und der „Kampfgruppe Auschwitz“, ist das aber gelungen. Sie arbeitete im Frauenlager, in der Bekleidungskammer. Ihr wurde aufgetragen, einige kleinere Mengen Sprengstoff aufzutreiben. Entwendet wurde das Schießpulver aus dem Lager von vier jungen Frauen: von der belgischen Jüdin Ella (Alla) Gertner322, Regina Safirsztajn (oder Safir) aus Bendzin und den Schwestern Weißblum aus einer assimilierten Warschauer Familie – Esther und Hanka, 19 und 15 Jahre alt. Das Pulver wurde mehrere Monate lang in kleinen Portionen à 250 Gramm, in Schuhen versteckt, aus der Fabrik geschleust323. Das nächste Glied dieser Kette war eine junge Frau mit dem Vornamen Hadassa, die diese Kleinstportionen in einem vereinbarten Versteck abholte und an Roza Robota sowie Martha Bindinger übergab, die in der Bekleidungskammer des Frauenlagers arbeiteten324. Weiter trug Robota das Schießpulver in geheimen Täschchen, eingenäht in den Saum ihres Rockes, nach Birkenau. Eine andere Schmuggelroute verlief über die Verbindungsmänner Yehuda Laufer und Israel Gutman. Der Verbindungs-Mann zwischen Robota und dem Sonderkommando war der Elektriker Eiger, der seine eigenen Erinnerungen daran hinterlassen hat325. Shlomo Venezia schreibt, die Funktion des Verbindungsmanns habe ein großer Mensch namens Alter ausgeübt: Höchst unwahrscheinlich ist es, dass es sich um Alter Feinsilber326 handelte, vielmehr wohl um denselben Eiger327. Zudem existieren die Zeugnisse zweier Landsleute Roza Robotas aus Zichenau. Das erste ist jenes von Noah Zabludowicz, ebenfalls Elektriker (und Cousin von Shlomo Kirszenbaum, einem der Kapos im Sonderkommando), wonach er selbst diese Funktion erfüllt haben soll328. Und das zweite Zeugnis ist das von Moshe Kulka, wonach der Zichenauer Godel Silber329 der Verbindungsmann 321 322 323 324 325 326 327 328

Gutman, 2014. S. 214. Anderen Quellen zufolge war sie aus Sosnowitz. Vgl. In Honor of Alla Gertner, 1992. Vgl. In Honor of Alla Gertner, 1992. Eiger, 1945. Siehe S. 66, Anm. 142 und S. 116, Anm. 311. Venezia, 2008. S. 167 f. Zabludowich N. My experience in the World War II (S. 339). Im Internet: http://www.jewishgen.org/ yizkor/ciechanow/ciechanow.html. 329 Kulka M. Ciechanuv Jews in the Upspring in Auschwitz (S. 386). Im Internet: http://www.jewishgen. org/yizkor/ciechanow/ciechanow.html.

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war. Andreas Kilian zufolge waren die Glieder dieser Verbindungskette Kaminski selbst und seine Freundin Schmidt, Kapo im Bekleidungsmagazin des Frauenlagers330. Eigentlich aber brauchten die Männer des Sonderkommandos nicht das Schießpulver, sondern die damit gefüllten Handgranaten. Hergestellt ­wurden diese vom russischen Kriegsgefangenen und Pyrotechniker Iwan Borodin331. Er befüllte leere Konservendosen mit dem Sprengstoff und den nötigen Chemikalien, insbesondere mit Phosphor als Zünder. Aufseiten des Sonderkommandos war Shlomo Dragon, der Stubendienst des Blocks 13, derjenige, der alles, was man für den Aufstand irgendwie gebrauchen konnte, annahm und aufbewahrte. Insgesamt wurden an die 30 Granaten hergestellt. Eine bis zwei davon schleuste Dragon jedes Mal durch, wenn er aus dem Block  13 ins Krematorium ging (einmal gelang es ihm, einen Fotoapparat dorthin zu bringen)332. Dragon versteckte sie in der eigenen Matratze oder auf dem Dachboden eines der Krematorien (anderen Angaben zufolge versteckten die Männer des Sonderkommandos sie auch in dem Eimer, in dem sie die Seife aufbewahrten). Er hat die Granaten auch auf die Krematorien verteilt.

Hergang des Aufstands Laut dem neuen Plan sollte der Aufstand in den Krematorien IV und V beginnen – und zwar still und leise. Es war vorgesehen, Waffen in einem Kokskarren in die Krematorien II und III zu bringen. Doch nicht mal das klappte, vermutlich wegen Verrats durch Polen oder Deutsche aus dem Sonderkommando333. Als für den Aufstand geeignete Tage galten solche, an denen kein Transport an der Rampe ankam. Sonntag, der 7.  Oktober, war so ein Tag. Doch auch an ­diesem Datum war der Aufstand unpassend. 330 Kilian, 2002. S. 17. 331 Gutman (1979) verweist dabei auf den Bericht von Eiger (Eiger, 1945). Davon berichtet auch Kulka. Unter den sowjetischen Kriegsgefangenen in Auschwitz war auch ein gewisser Iwan Borodin (Nr. R-2535), geboren in Sucholisty, von Beruf Bäcker (APMA-B). Der Nummer nach zu urteilen, müsste er im Oktober 1941 nach Auschwitz gekommen sein, doch ist seine Kriegsgefangenenkarte leider nicht erhalten geblieben. Den ersten Kontakt zu Borodin nahmen wohl die sowjetischen Kriegsgefangenen auf, die aus Majdanek angekommen waren. Nach Informationen von Kilian wurden sie ursprünglich im Bereich B II d untergebracht, jedoch nicht im Block 13 des Sonderkommandos, sondern im Block 2 zusammen mit anderen sowjetischen Kriegsgefangenen. 332 Greif, 1999. S. 172–175. 333 Aussage von Eisenschmidt (Greif, 1999. S. 284 f.).

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Der SS-Oberscharführer Busch, einer der Chefs in den Krematorien IV und V, versammelte Anfang Oktober 1944 die Kapos dieser Krematorien und befahl ihnen, binnen 24 Stunden eine Selektionsliste für insgesamt 300 Mann zu erstellen. Angefertigt wurde diese Liste nachts. Der überwiegende Großteil der gelisteten Männer setzte sich erwartungsgemäß aus ungarischen und griechischen Häftlingen sowie allen sowjetischen Kriegsgefangenen zusammen, worauf Busch ausdrücklich bestanden hatte. Das war der Moment, an dem ein Aufstand unausweichlich schien. In aller Hektik gingen die polnisch-­ jüdischen Kapos ihre spärlichen Möglichkeiten gedanklich durch und entschieden sich letztlich doch dagegen, aufzubegehren. Zum Aufstand kam es dennoch, nur verlief dieser für die Aufständischen nach dem denkbar ungünstigsten Szenario. Über den Anfang, den Verlauf und die Niederschlagung des Aufstands sind Berichte erhalten geblieben  – der erste ist wohl der, den Joschua Eiger 1945 verfasste334. Eigers Beruf – er war Elektriker – ermöglichte es ihm, sich relativ frei im Lager zu bewegen. „An einem Septembertag 1944335 wurde ich nach Birkenau gerufen, über die Leitung des Lagers D. Ich befand mich im Zigeunerlager, das vom Lager D durch Stacheldraht getrennt war. Dort auf der anderen Seite wartete Jankiel Rosenzweig auf mich (er ist jetzt in Österreich). Er sagte, dass ich sofort zu ihm in den Block 8 des Lagers D gehen muss, was ich auch unverzüglich tat. Als ich dort ankam, sah ich die Mitglieder der Widerstandsorganisation: die Gebrüder Godel und Lejbl Silber, Jankiel Rosenzweig und Jankiel Handelsman336 sowie den Russen Filatow. Sogleich fing ein Streit an. Handelsman, ein Pariser (geboren im polnischen Radom), Vertreter der Widerstandsbewegung des Sonderkommandos, verlangte, dass der Aufstand, dessen Vorbereitung noch Zeit erforderte, unverzüglich durchgeführt werden müsse. Er erklärte, 200 Kameraden stünden auf einer Liste zum Abtransport und aus dem Sonderkommando führe nur ein Weg: ins Jenseits. Deshalb müsse der Aufstand sofort beginnen. Wir erklärten ihm, dass das unmöglich ist, weil noch nicht alles vorbereitet war, dass der

334 Eiger, 1945 (auf Jiddisch). 335 Aus dem Kontext wird klar, dass hier der 7. Oktober 1944 gemeint ist. 336 Dass Handelsman, Mitglied des Sonderkommandos im Krematorium  III und ohne jedwede Funktion innerhalb des Lagers, im Lagerbereich D auftauchen konnte, war praktisch unmöglich. Eine der wenigen Möglichkeiten für Sonderkommando-Häftlinge, in diesem Zeitraum in das Männerlager B II d zu gelangen, war die drei Mal täglich stattfindende Abholung der Häftlingsverpflegung in der Lagerküche, wo zahlreiche sowjetische Kriegsgefangene beschäftigt waren.

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­ ufstand keinesfalls chaotisch und vom Plan abweichend durchgeA führt werden darf. Das würde ein absoluter Fehlschlag werden, mit letztlich sehr vielen Opfern. Nach langem Einreden ging Handelsman zurück, mit dem Versprechen, mit dem Aufstand zu warten, um die ganze Sache nicht zu gefährden. Wir unsererseits mussten alles Mögliche tun, damit die Kameraden aus dem Sonderkommando nicht abtransportiert würden. Um drei Uhr nachmittags hörten wir plötzlich mehrere Explosionen. Bald darauf brannten die Gaskammer und das Krematorium IV. Schreie waren zu hören. Das waren die Kameraden aus dem Sonderkommando, die den Stacheldraht um das Lager des Krematoriums herum durchgeschnitten [haben] und rausgesprungen sind. Sie sind in alle möglichen Richtungen weggelaufen. Bald aber wurden die Jagdtruppen und die SS alarmiert. Sie haben die Jagd nach den Flüchtigen begonnen und das Feuer eröffnet. Die Wachposten der anderen Lager wurden sofort verstärkt, sodass man nichts unternehmen konnte. Rund 200 Menschen wurden erschossen – die Verletzten auch, weil sie schwiegen. Unsere Leute, Jankiel Handelsman und Josef Warszawski, waren unter den Verwundeten. Sie haben niemanden verraten und wurden erschossen. Später haben wir erfahren, dass Bombenexplosionen im Krematorium als Startschuss dienten. Das waren Bomben, die unsere Leute für den Aufstand bereits vorbereitet hatten. Getan hat es Warszawski, unser Mann im Sonderkommando. Er konnte mit den Phosphorzündern umgehen. Durch sein undiszipliniertes Verhalten hat Warszawski den ganzen Plan zum Scheitern gebracht. […] Der Plan war anhand dessen erarbeitet worden, was wir über das Lager wussten. Und wir gingen davon aus, dass wir erfolgreich sein würden, obwohl auch ­offensichtlich war, dass es viele Opfer geben würde. Leider wurden unsere Pläne zusammen mit unseren Hoffnungen durch die Eile zunichtegemacht.“

Von diesem Bild unterscheidet sich jenes, das Miklós Nyiszli in seinem Buch aus dem Jahre 1946 entwirft, wesentlich. Demnach begann der Aufstand nicht am 7., sondern am 6. Oktober, nachdem Mengele befohlen hatte, den Leichnam eines am Morgen bei einem Fluchtversuch erschossenen Sowjetoffiziers zu obduzieren. Im Krematorium II, in dem sich der Obduktionsraum befand, ging alles seinen gewohnten Gang, das Sonderkommando aber verhielt sich auffällig: Die Männer arbeiteten gemächlich, tuschelten und trugen warme Kleidung. Es hatte sich nämlich rumgesprochen, dass am folgenden oder 121

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übernächsten Tag eine Selektion337 des Sonderkommandos zu erwarten war und dass ein Massenausbruch des Sonderkommandos noch in der Nacht angesetzt war mit dem Ziel, es bis zur Weichsel zu schaffen, sie im flachen Oktoberwasser an einer seichten Stelle zu überqueren und in die Partisanenwälder zu fliehen, die schon acht Kilometer vom Flussufer entfernt begannen und sich bis zur slowakischen Grenze erstreckten. Schon kurz vor zwei Uhr nachmittags aber erschallte eine Explosion, Schüsse aus Maschinengewehren waren zu hören, alle Krematorien waren von SS-Männern umzingelt. In den Krematorien II und IV stieß die SS auf bewaffneten Widerstand, wobei das Krematorium IV nicht gesprengt, sondern in Brand gesteckt wurde. Im Krematorium II überlebten nur sieben Leute: der Bedienungsingenieur für die Dynamos und Ventilatoren, der Oberheizer mit seinem Pipel338 und, auf Mengeles Befehl, Nyiszli sowie drei seiner Assistenten. Von einem Unteroffizier der SS erfuhr Nyiszli dann, dass die SS aus der Politischen Abteilung nachmittags um halb zwei zum Krematorium IV gekommen war und mit der Selektion angefangen hatte: Hunderte ungarische Juden wurden in den Block  13 des Lagerbereichs B  II  d geschickt, den ehemaligen Block des Sonderkommandos. Danach wurden die griechischen Juden herausgegriffen. Als die SS aber anfing, die Nummern der polnischen Häftlinge auszurufen, wurde sie mit Molotowcocktails beworfen. Die SS-Männer eröffneten sogleich das Feuer, schossen auch auf die Griechen – die polnischen Juden verbarrikadierten sich indes im Krematorium und jagten es in die Luft. Alle griechischen und ungarischen Juden im Krematorium  IV wurden erschossen und später auch alle anderen in allen vier Krematorien, wie Nyiszli berichtet. Nur das Krematorium II schloss sich den Aufständischen an, wenn auch erst mit Verzögerung. In diesem Krematorium lagerten die meisten Waffen, die die Rebellen dann auch eingesetzt haben. Sie alle starben im ungleichen Gefecht oder wurden nach dem Kampf erschossen – alle außer den besagten sieben und weiteren zwölf Männern, die es doch tatsächlich geschafft hatten, 337 Nach Ansicht von Nyiszli handelte es sich um keine Selektion, sondern um einen Plan der vollständigen Vernichtung: Selbst Anfang Juli 1944 in den Krematorien angekommen, glaubte er aus irgendeinem Grund steif und fest daran, dass die Rotation des Sonderkommandos alle vier Monate vorgenommen werde. Er schreibt sogar vom 12., 13. und 14. Sonderkommando, mit denen er persönlich in Kontakt gekommen sein will (Nyiszli, 2005. S. 110). 338 Pipel (Leibbursche) waren sympathische junge Männer, die gezwungen wurden, ihren Gönnern (entweder der SS oder Kapos) im Alltag zu dienen. Manch ein Gönner hatte nicht nur einen, sondern zwei oder drei Pipel. Vgl. Venezia, 2008. S. 79 f.

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die Weichsel zu durchqueren, bevor sie von einem polnischen Bauern ver­ raten wurden. Sie wurden umzingelt und gefangen genommen. Offenbar setzten sie sich zur Wehr und wurden wahrscheinlich daraufhin erschossen. Nyiszli zufolge starben an dem Tag 853 Mitglieder des Sonderkommandos und 70 SS-Männer, darunter 18 Offiziere. Nyiszlis Version unterscheidet sich von den anderen deutlich und in wichtigen Details: in der Art und Weise, wie die Rebellen ihre Waffen erhielten (laut Nyiszli wurden sie von polnischen Partisanen bei wilden nächtlichen Überfällen auf das Lager besorgt, die es in Wirklichkeit nie gegeben hatte), und in der Anzahl der Opfer339. Nehmen wir deshalb jene Version zum Ausgangspunkt, die Andreas Kilian mit Koautoren in „Zeugen aus der Todeszone. Das jüdische Sonderkommando in Auschwitz“ auf Grundlage mehrerer Zeugnisse zeichnet. Dieses Bild ergänzen wir jedoch durch Details aus anderen Quellen, die von den Autoren nicht einbezogen wurden. Das Wetter an jenem Samstagmorgen, dem 7.  Oktober, war sonnig, der Himmel wolkenfrei. Um Mittag versammelte sich im Krematorium II, wo alle sowjetischen Kriegsgefangenen wohnten und zuvor auch Kaminski gewohnt hatte, der Planungsstab. Der Oberkapo Karl Töpfer hatte davon Wind bekommen und drohte, sie alle zu verpfeifen. Er wurde aber an Ort und Stelle gefasst, getötet und in den Ofen geschoben340. Am frühen Nachmittag, circa um 13.25 Uhr, sind auf dem Gelände des Krematoriums IV rund 20 SSMänner unter der Führung von SS-Oberscharführer Busch, SS-Scharführer Kurschuß und SS-Unterscharführer Gorges aufgetaucht. Sie machten sich an die angesetzte Selektion, der Reihe nach gemäß der Liste, angefangen mit den höchsten Nummern. Auf der Liste standen 170 Männer aus dem Krematorium IV und 154 aus dem Krematorium V, hauptsächlich griechische und ungarische Juden. Zum Appell erschienen nur 286 Menschen, weil acht Männer aus dem Krematorium V – unter ihnen Jakov Silberberg und Henryk Mandelbaum  – damit beschäftigt waren, die unverbrannten Knochen zu

339 Nyiszli, 2005. S.  109–120. Wie diese Unterschiede entstanden sind, ist recht schwer zu erklären. Nyiszlis Stellung als vertrauter Pathologe von Mengele (der seine Aufgaben durchaus erfolgreich bewältigte) bot den Rebellen mit Sicherheit einen Anreiz zu engem Kontakt zu ihm (etwa bei der Besprechung dessen, was Nyiszli täglich aus dem „Völkischen Beobachter“ erfuhr). Zugleich wird gerade Nyiszlis Funktion die Verschwörer ihm gegenüber kaum zur Offenheit in Sachen Aufstandsvorbereitung veranlasst haben. Auch andere Angaben Nyiszlis haben sich als unzutreffend erwiesen: seine Berichte über Fußballturniere zwischen der SS und dem Sonderkommando. Doch gerade diese Darstellungen dienten als Grundlage für Primo Levis Theorie der „Grauzone“. 340 Das alles erledigte vermutlich Lejb Panicz.

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z­ erstoßen. Circa 30 weitere Männer wurden noch vor Beginn der Selektion ausgegliedert und in einer Kammer des Krematoriums IV eingesperrt (unter ihnen Eliezer Eisenschmidt und zwei ungarische Ärzte: Havas und Peters, die sich aus Angst vor der Folter das Leben nahmen). Als die SS mit der Liste fast durch war, wurde plötzlich klar, dass ein Teil der Gelisteten gar nicht da war. Die Schützen stürmten los, sie zu suchen. Und just in diesem Moment fiel der polnische Jude Chaim Neuhof, mit schätzungsweise 54 Jahren einer der Ältesten des Sonderkommandos, mit Hurrageschrei und einem Hammer über sie her. Sogleich klinkten sich andere ein und halfen Neuhof mit Hämmern, Äxten und Steinen. Zur gleichen Zeit fing das Krematorium IV Feuer: Jossel aus Bendzin341 hatte es in Brand gesetzt. Um 13.50 Uhr wurde schließlich die Lagerfeuerwehr alarmiert. Um diese Zeit wurde die SS bereits durch anrückende Kräfte aus den Kasernen verstärkt und schoss gezielt auf die Aufständischen von geschützten Stellungen aus; viele der Männer im Hof des Krematoriums  IV starben. Einem einzigen Häftling gelang es sogar, unter dem Stacheldrahtzaun in das benachbarte „Kanada“-Lager hindurchzukriechen und sich dort in dem Sortierblock 14 zu verstecken, er wurde aber von einem dort als Kommandoführer eingesetzten SS-Unterscharführer gefasst342. Als sie die Lage im Krematorium  IV unter Kontrolle gebracht hatten, drängten die SS-Männer alle SonderkommandoMitglieder, die sich noch dort und im Krematorium V befanden, in den Hof und befahlen ihnen, sich reihenweise mit dem Gesicht nach unten auf den Boden zu legen: Jeder Dritte wurde erschossen, von den 324 Männern der beiden kleinen Krematorien überlebten am Ende nur 44. In den beiden anderen Krematorien passierte Czech zufolge erstmal nichts. Dies lag teils daran, dass der Aufstand zu spontan ausbrach, als dass die anderen Krematorien hätten vorgewarnt oder benachrichtigt werden können. Der andere Grund war, dass die SS die Lage schnell, innerhalb einer halben Stunde, unter ihre Kontrolle gebracht hatte. Als sie in der Ferne das brennende 341 Aussage von Eliezer Eisenschmidt (Greif, 1999. S. 283 f.). Jedoch behauptete Shlomo Dragon, es sei unmöglich gewesen, die Granaten einzusetzen, weil die Räume, in denen sie versteckt waren, bereits gebrannt hätten (Greif, 1999. S. 177). Yakov Gabai behauptete indes, zwei Griechen hätten das Krematorium IV gesprengt: Yitzchak Barsilai und ein Artillerieoffizier namens Rudo (Greif, 1999. S. 224). 342 Filip Müller schreibt, er sei vom Krematorium  V zum Krematorium  IV gelaufen und habe sich in einem Abzugskanal der Öfen zum Kamin versteckt. Er habe die Nacht abgewartet, um im Schutz der Dunkelheit ins „Kanada“ zu schleichen. Weil er jedoch verstanden habe, dass die Posten verstärkt wurden, sei er zurückgekehrt. Die Quelle dazu erstmals vollständig zitiert in Kilian, Ein Ereignis, 2018b. S. 12. Er habe in jenem Schacht übernachtet und sich am nächsten Morgen dem Arbeitstrupp von Kapo Kirszenbaum angeschlossen (Müller, 1979. S. 251–255). Etwas Ähnliches taten auch Dragon und Tauber.

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Das vernichtete Krematorium

­ rematorium sahen und die Schüsse hörten, dachten die Mitglieder des SonK derkommandos von Krematorium II – und allen voran die Russen –, dass der Gesamtaufstand begonnen hatte. Sie revoltierten und schoben den verhassten Oberkapo Karl Töpfer aus Majdanek in den brennenden Ofen343. Einen Weg zurück gab es danach für niemanden mehr. Ihr Krematorium in Brand zu stecken, ist ihnen aber nicht gelungen: Vielleicht war das Pulver feucht geworden. Sie durchtrennten den Stacheldraht und liefen in Richtung Königsgraben, am Frauenlager B I b vorbei. Sie schnitten auch dort den Stacheldraht durch, aber die gefangenen Frauen begriffen überhaupt nicht, was passierte344. Andere flohen indes und nahmen unterwegs noch Häftlinge aus jener Gruppe mit, die in der Kläranlage arbeitete, unter anderen den Bruder des Kapos Lemke Pliszko. Derweil zog die SS ihre Kräfte am großen Krematorium zusammen. Allen, die aus dem Krematorium II geflohen waren (rund 100 Menschen), wurde der Weg nach Raisko abgeschnitten. Also verbarrikadierte ein kleiner Teil von ihnen, der bis dahin noch nicht erschossen worden war, sich in einer Scheune und machte sich kampfbereit. Dort starben sie schließlich, nachdem die SSMänner die Scheune angezündet hatten. Geflohen waren nicht alle: Vier Angehörige des Sektionskommandos unter der Leitung von Nyiszli blieben im Krematorium  II, ebenso einige Sonderkommando-Häftlinge – unter ihnen drei Männer (von Elusz Malinka befehligt), die versuchten, das Krematorium zu sprengen. Am Leben gelassen wurden nach Mengeles Einmischung ausschließlich dessen Häftlinge. Alle Mitglieder des Sonderkommandos aus diesem Krematorium – 171 Männer –

343 Vgl. auch Langbein, 1979. S. 232. Oberkapo Töpfer habe die Vorbereitungen des Aufstands mitbekommen und die SS benachrichtigen wollen, was ihm allerdings nicht mehr gelang. Höchstwahrscheinlich war er getötet worden, bevor er in den Ofen geschoben wurde. In der Asche wurde laut Eisenschmidt sein Schlüssel fürs Krematorium gefunden (Greif, 1999. S. 286) – und Venezia zufolge Knöpfe seines Jacketts (Venezia, 2008. S. 175 f.). Laut einer anderen Version war der Verräter ein gewisser Max Fleischer. 344 Yakov Gabai erzählt die tolle Geschichte, wie er zweimal seine Frau im Block 15 des Frauenlagers im Bereich B I b besuchte. Der zweite Besuch fand seinen Angaben zufolge im Oktober 1944 statt, als er vom herannahenden Aufstand bereits wusste (Greif, 1999. S. 214 f.). Diese Geschichte baut auf mehreren unwahrscheinlichen Annahmen auf: der Annahme, den Gefangenen aus dem Krematorium III sei es erlaubt gewesen, auf dem Gelände des Krematoriums II, wo ein Teil von ihnen arbeitete, unbekümmert herumzuschlendern; der Annahme, es sei möglich gewesen, derart laut zu sprechen und zu singen, dass die Frauen im Block 15 des Frauenlagers (dritte Reihe von der Ecke des Areals des Krematoriums III – also einige Hundert Meter entfernt) dies nicht nur hören, sondern auch darauf antworten konnten – und zwar so, dass den Inhalt des Gesprächs nur diejenigen vernahmen, die sich unterhielten.

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starben entweder im Gefecht oder wurden später erschossen, egal, ob sie sich am Aufstand beteiligt hatten oder dem ausgewichen waren. Außer Handelsman starben alle Organisatoren des Aufstands bei dessen Durchführung. Er beobachtete den Hergang der Ereignisse aus dem Krematorium III gemeinsam mit Lewenthal, Langfuß, Buki, Venezia und anderen Mitgliedern des Sonderkommandos345. Dov Paisikovic ging zusammen mit sechs weiteren Männern an jenem Tag nach Birkenau, um die Suppe zu holen. Was sie da in dem Essensbehälter mitbrachten, war jedoch keine Suppe, sondern Benzin346. Das Benzin seinem Zweck entsprechend einzusetzen, gelang aber offenkundig nicht: Alle Mitglieder des Sonderkommandos unter der Führung von Kapo Lemke347 – insgesamt 85 Mann – waren vorher in der Goldgießerei und Werkstatt eingeschlossen worden. Da entschloss sich Lewenthal, die Rolle eines echten Chronisten zu übernehmen: Am 10. Oktober beschrieb er nach Art eines Tagebuchs alle wesentlichen Ereignisse dieser heldenhaften drei Tage348. Angefangen hat er dabei mit der Betonung jener besonderen, wenn auch nicht eindeutigen Rolle, die in alledem die Russen spielten. Zu Beginn erzählt er von dem Vorfall, als wenige Tage vor dem Aufstand einer der sowjetischen Kriegsgefangenen349 von einem Unterscharführer der SS am Krematorium III erschossen wurde, nachdem er betrunken den SS-Mann angegriffen hatte. Danach machte das Gerücht die Runde, die Tage der anderen russischen Mitglieder des Sonderkommandos seien gezählt: Sie würden bei der nächsten Dezimierung des Sonderkommandos liquidiert. Laut Cohen, Gabai, Venezia und anderen hatten sich die Handlanger aus dem Krematorium III am Aufstand nicht beteiligt350 und wurden auch nicht bestraft, jedoch gezwungen, die Leichen der anderen Mitglieder des Sonderkommandos zu verbrennen, die am Krematorium II ums Leben gekommen

345 Am Ende des Lewenthal-Abschnitts „Sonderkommando in Birkenau“ heißt es, während der Ungarn-Aktion und Vorbereitung des Aufstands sei rechtzeitig beschlossen worden, dass ­dieses Sonderkommando sich am Aufstand nicht beteilige. 346 Friedler, Siebert, Kilian, 2008. S. 270 f. 347 Zwei Stunden vor den Ereignissen warnte der Kapo Eliezer Welbel aus dem Krematorium V seinen Kameraden Lemke, dass es keine Erhebung geben werde. 348 Die Texte „600 Jungen“ und „3000 Nackte“ von Lejb Langfuß wurden in der Edition von 1972 unter Lewenthal präsentiert (Inmitten des grauenvollen Verbrechens, 1972. S. 188 f.). 349 Andreas Kilian zufolge hieß er Juri (Kilian, 2003a. S. 25). 350 Venezia gibt jedoch an, er habe mit einem russischen Kriegsgefangenen, mit Axt und Messer bewaffnet, circa zwei Stunden lang hinter der Tür auf den SS-Posten gewartet, um diesen zu überfallen und zu töten (Venezia, 2008. S. 171 f.).

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waren351. Die aufmerksame Lektüre Müllers und Lewenthals bringt einen indes auf den Gedanken, dass es nicht nur einen dritten Aufstandsherd gab – das Krematorium V, mit dessen Selektion ja alles seinen Anfang genommen hatte –, sondern auch einen vierten: das Krematorium III (ein Umstand, der bislang aus dem Blickfeld der Forschung geriet). In der Nacht auf den 10. Oktober hatten die in dem Krematorium verbliebenen Rebellen unter der Führung von Handelsman und Wrobel offensichtlich versucht, vom Sprengstoff Gebrauch zu machen und das Krematorium II zu sprengen – sehr wahrscheinlich zusammen mit sich selbst352. Erst nachdem ihnen das misslungen war (möglicherweise ließ sie das feucht gewordene Schießpulver im Stich), wurden sie gefasst und mit den letzten sowjetischen Kriegsgefangenen aus Krematorium III zu vierzehnt353 ins Gefängnis der Lagergestapo im Stammlager354 geworfen. Um das Feuer im Krematorium zu löschen, kam aus dem Stammlager eine aus neun Häftlingen bestehende Löschgruppe355. Sie wurden unfreiwillig Zeugen der letzten Phase der Niederschlagung des Aufstands und der Hinrichtung festgenommener Rebellen. Danach wurden diese Feuerwehrmänner in Richtung Raisko geschickt, um die Scheune zu löschen356.

351 Greif, 1999. S. 359. 352 Cohen sagte Greif, im Fall eines Aufstands im Krematorium III hätte seine Aufgabe darin bestanden, das Krematorium in Brand zu stecken. 353 Darunter Handelsman, Wrobel und fünf sowjetische Kriegsgefangene. 354 Es ist absolut wichtig, festzustellen, wann das passierte. Czech nimmt als Datum den 10. Oktober .1944 an, offensichtlich vom Datum der Aufzeichnungen Lewenthals ausgehend. Nichts spricht aber dagegen, dass es auch am 9. Oktober passiert sein könnte. 355 Aussage von Sobolewski (YVA. 03/8410. S. 55–58). 356 Sigmund Sobolewski erinnert sich an die Sprengung des Krematoriums IV in Birkenau und an die jüdischen Frauen, denen es gelungen war, für das Sonderkommando Sprengstoff aus der Waffenfabrik zu schleusen, in der sie arbeiteten (die Union-Werke stellten Handgranaten her). Die Explosion ereignete sich am Samstag, dem 7. Oktober, circa um 12.15 Uhr. Sobolewski war Häftling der Lagerfeuerwehr. Es gab außerdem eine Feuerwehr der SS. Als sie ankamen, war das Krematorium bereits nahezu abgebrannt. Der Oberscharführer Wilhelm Claussen (ein großer Sportfan und Schiedsrichter bei Fußballspielen und Boxturnieren) habe Aufständische eigenhändig an Ort und Stelle hingerichtet. Dafür teilte er sie in Gruppen à fünf bis sechs Personen auf und befahl ihnen: „Hinlegen!“ Er trug blutüberströmte Gummistiefel. Erstmals wurde Sobolewski zum unmittelbaren Zeugen des Mordens und er hatte das ungute Gefühl, von nun an in ein gefährliches Geheimnis eingeweiht und deshalb ebenfalls ein potenzielles Opfer zu sein. Am Rand des Krematoriums lag ein Haufen Asche von circa 30 cm Höhe mit menschlichen Überresten darin: unverbrannte Knochen, Fingerstücke etc. Der Aschehaufen war mit einer Plane leicht bedeckt, die durch Funkenflug Feuer gefangen hatte. Dort lag auch ein Sieb, ähnlich denen, die im Straßenbau verwendet werden, um Sand von Kiesresten zu reinigen (Aussage von Sobolewski: YVA. 03/8410. S. 55–58). Ein weiteres Mitglied des Sonderkommandos aus dem Krematorium III – der Vorarbeiter Milton Buki – erinnerte sich, dass

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Leben und Tod in der Hölle

Am Abend wurden die Leichen der geflüchteten Aufständischen auf das Gelände des Krematoriums II sowie V gebracht. Ein Vertreter des Lagerkommandanten hielt eine Ansprache, in der er allen mit Erschießung drohte, sollte erneut der Versuch einer Rebellion unternommen werden. Danach wurde in den Krematorien II und V die Arbeit wieder aufgenommen357. Drei SS-Offiziere mussten an dem Tag sterben: die SS-Unterscharführer Rudolf Erler, Willi Freese und Josef Purke. Weitere zwölf SS-Männer wurden verwundet358. Mitte Oktober erhielten fünf Mitglieder der SS Eiserne Kreuze wegen Tapferkeit beim Verhindern eines Massenaufstands  – der erste Fall, dass KZ-Personal mit dieser Auszeichnung geehrt wurde359. Hier einige weitere Zeugnisse des Aufstands; jedes davon enthält Details, die in anderen Zeugnissen fehlen. So gab Dov Paisikovic 1964 im Frankfurter Auschwitz-Prozess an, es seien Sprengstoff, Handgranaten und Waffen vorbereitet worden und es habe einen einheitlichen Aufstandsplan für alle vier Krematorien gegeben. Der Aufstand habe jedoch im Krematorium  IV spontan angefangen, vor der vereinbarten Zeit, ohne Absprache oder Koordination mit den anderen. Meir Przemyslawski360 beschrieb den Aufstand, wie er davon von Genoch (Enoch) Kadlobski, ebenfalls Sonderkommando-Mitglied, gehört hatte. Als Signal zum Aufstand diente demnach angeblich eine Handgranate, mit der ein SS-Mann getötet wurde, der die Mitglieder des Sonderkommandos zur Arbeit trieb. Dann wurde der deutsche Kapo bei lebendigem Leib verbrannt, wonach die Aufständischen angeblich ins Lager stürmten und die Polen

357 358 359 360

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bei der Niederschlagung des Aufstands rund 15 Menschen von Stefan Baretzki, dem Blockführer der Sonderkommando-Blöcke, hingerichtet wurden. Baretzki entwarf jedoch ein ganz anderes Bild: Der Aufstand habe an einem anderen Krematorium, und zwar am Krematorium II, angefangen. Er sei dort gewesen, habe einen Posten an der Sola aufgestellt und sei zum Krematorium III gefahren, wo er eine Postenkette aufgestellt habe und wo der Wald gesäubert worden sei. Venezia, 2008. S. 174 f. Czech, 1989. S. 900. Standortbefehl Nr. 26/44 v. 12.10.1944. Vgl. KL Auschwitz in den Augen der SS, 2005. Er war aus dem Ghetto der Ortschaft Osjaków geflohen und erhielt durch Verbindungen zum sozialistischen Untergrund gefälschte Papiere. Lange Zeit zog er von Dorf zu Dorf, gab sich für einen Polen aus und verdingte sich hier und da als Gehilfe. Er wurde aufgespürt und bei einer Razzia am 18. November 1942 gefasst, wobei ihm als Mitglied des polnischen Untergrunds wegen Urkundenfälschung und subversiver Tätigkeit die Erschießung drohte. Aus Angst gab er dann zu, Jude zu sein, verbrachte lange Zeit in Gefängnissen und überstand mehrere Verhöre und Folter. Im Januar 1944 geriet er nach Auschwitz (Häftlingsnummer 171701). Weil er aus dem Gefängnis ins Lager kam, wurde er in der Kartei der Lagergestapo separat geführt und trug als „krimineller“ Häftling einen grünen Winkel. Deshalb musste er keine Selektion durchlaufen, sondern wurde gleich einer Arbeitsbrigade zugewiesen (ŻIH. Aussage 301/1904).

Das vernichtete Krematorium

­aufriefen, sich dem Aufstand anzuschließen (der Appell fand keinen Zuspruch). Von den 900 Männern des Sonderkommandos haben sich 200 am Aufstand beteiligt. 140 von ihnen starben bei Schusswechseln, einige flohen oder ertranken beim Versuch, den Wassergraben zu überqueren, der am Lager vorbeiführte, andere wurden getötet. Von außen wurde das Lager bewacht und stand unter ständiger Aufsicht: Unmittelbar um das Lager herum lebten keine Polen, sondern Deutsche. Nur zwölf Männer konnten sich retten, andere wurden hingerichtet361. Eine weitere Quelle, wonach einige Mitglieder des Sonderkommandos sich vor den Verfolgern haben retten können, ist die Aussage von Karl Höcker, Adjutant des Lagerkommandanten Baer. Er behauptete, es seien die Griechen gewesen, die sich um circa zwei Uhr einen Schusswechsel mit der SS lieferten, um sie vom Krematorium fernzuhalten, das sie teilweise gesprengt hatten. 15 von ihnen schafften es demnach durch die Absperrungen in die Freiheit, 13 von ihnen waren bereits verwundet. Die Verletzten wurden natürlich gefasst und getötet – von den anderen beiden fehlte jede Spur, gefunden wurden sie nicht mehr362. Zuverlässige Informationen bietet auch die Fluchtmeldung vom „Stadtrevier Auschwitz“ an die Gestapo-Dienststelle in Auschwitz. Am 7. Oktober um 19.15 Uhr waren demzufolge immer noch vier Sonderkommando-­Männer auf der Flucht363. Den Tag des Aufstands hatten 169 Häftlinge aus dem Krematorium  III überlebt, jedoch wurden kurz darauf 14 von ihnen festgenommen und im Lagergefängnis zu Tode gefoltert. So gab es nach dem 14. Oktober alles in allem 198 Überlebende – 155 aus dem Krematorium III sowie 43 aus den Krematorien IV und V364. Insgesamt belief sich die Anzahl toter Aufständischer auf 452 Menschen365. Nach der recht eigentümlichen Ansicht von Werner Renz kann der Auschwitzer Aufstand nur mit Mühe und Not als heldenhaft bewertet werden  – nach dem Motto: Die Juden aus dem Sonderkommando hätten sich nur aus purer Verzweiflung und Ausweglosigkeit erhoben, weil sie sowieso keine

361 ŻIH. Aussage 301/1904. 362 ŻIH. Aussage 301/335. S. 7. 363 APMA-B. IZ-13/85. S. 73 (Hinweis vom leitenden Historiker im Auschwitz-Museum, Piotr Setkiewicz). 364 Yakov Gabai gab an, dass von den Häftlingen aus dem Krematorium IV ein einziger überlebt habe: der Kapo Eliezer (Greif, 1999. S. 224). Gemeint ist Eliezer Welbel. 365 Friedler, Siebert, Kilian, 2008. S. 258–281.

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Lebenschance mehr hatten366. Auch Bruno Baum und Raul Hilberg warfen den Juden vor, der Aufstand sei zufällig, spontan und, wenn man so will, aus niederen Beweggründen ausgebrochen: Erst als der Tod den Männern aus dem Sonderkommando auf die Pelle gerückt sei, seien sie in den Kampf gestürmt; aus Solidarität mit den Opfern in den Gaskammern habe sich aber niemand erhoben. Vorwürfe an das Sonderkommando richtet auch Hermann Langbein367: Der Aufstand möge zwar heroisch gewesen sein, doch sei er isoliert und allzu unorganisiert verlaufen. Zwar habe die Rebellion den Kampfgeist der jüdischen Häftlinge gestärkt, die Schlagkraft des polnischen Untergrunds habe sie (warum auch immer) indes geschwächt: Die von den Polen sorgfältig vorbereitete Flucht am 27. Oktober 1944 sei gescheitert und habe mit Hinrichtungen geendet368. Und deshalb, so der unerwartete Schluss von Langbein, seien die Waffen, die es im Lager gegeben habe (mögen sie auch primitiv gewesen sein), im Januar 1945 in Auschwitz ungenutzt geblieben. Wie nett es doch ist, die Juden auch noch dafür verantwortlich zu machen …

Nach dem Aufstand Am nächsten Tag, dem 8. Oktober, meldete die Abteilung Arbeitseinsatz die gleiche Zahlenstärke des Sonderkommandos wie am Vortag: 663 Menschen, darunter 169 für Krematorium III (84 für die Tages-, 85 für die Nachtschicht)369. Schon am 9.  Oktober aber veränderte sich die Personalstärke: Allen acht Schichten der Krematorien wurden nur 212 Häftlinge zugeteilt – und ab dem 10.  Oktober nur 198 (14 Männer unter der Führung Handelsmans waren am Vortag verhaftet worden). Wurden am 9.  Oktober jedem Krematorium noch 53 Mann zugeteilt (26 für die Tages-, 27 für die Nachtschicht), arbeitete ab dem 10. Oktober im Krematorium IV niemand mehr.

366 Renz, 1994. S. 37. 367 In den ersten Ausgaben seines Buchs „Menschen in Auschwitz“ finden sich auch Vorwürfe der Nekrophilie, die der Zeuge Yehuda Bacon geäußert haben soll. 368 Alle Flüchtigen – die Österreicher Ernst Burger, Rudolf Friemel und Ludwig Wessel sowie die Polen Bernard Swerczin, Józef Piatti, Czesław Duzel und Zbiszek Raynoch – wurden von Komplizen verraten, gefasst, im Block 11 gefoltert und nach zwei Monaten (am 30. Dezember) öffentlich gehängt – alle außer Raynoch und Duzel, die vorher Gift genommen hatten (Czech, 1989. S. 954). Vgl. auch Kagan, 2014; Sabotschen, 1965. S. 120 f. 369 Czech, 1989. S. 900.

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Den anderen drei Kommandos wurden je 66 Mann zugeteilt (je 33 für die Tages- und Nachtschicht)370. Von den 198 Mitgliedern des Sonderkommandos, die den Aufstand überlebten, waren fünf Polen, 151 polnische Juden, 26 griechische, fünf slowakische, vier französische, zwei ungarische Juden und je einer tschechischer, ­holländischer, deutscher, rumänischer und algerischer Jude371. Das Krematorium IV nahm danach nie wieder seine Arbeit auf. Auch wurde es in den täglichen Arbeitseinsatzlisten nie wieder verzeichnet. Langfuß zufolge begann das Sonderkommando am 14. Oktober damit, seine halbzerstörten Mauern abzutragen. Die Anzahl der Arbeitshäftlinge sank zuerst um 451 Menschen; schließlich nach den Verhaftungen um 465. Die Flucht ist offenbar niemandem gelungen. Einige Mitglieder des Sonderkommandos aus den aufständischen Krematorien haben die Rebellion wundersamerweise überlebt. Der Arzt Miklós Nyiszli aus dem Krematorium  II war einer von ihnen (wobei er im Lager sicherlich einen anderen Stand als das Sonderkommando hatte). Während des Aufstands befand er sich in der Prosektur. Der Zweite war Filip Müller aus dem Krematorium V: Er harrte in einem Abzugskanal im Krematorium IV aus, bis der Lärm und die Schüsse verstummten, und schlich ins Krematorium V372 zurück, nachdem Ruhe eingekehrt war. Der Dritte war Feinsilber-Jankowski, der sich kurz vor dem Ereignis vorgenommen hatte, im Alleingang zu fliehen, und sich deswegen in einem anderen Lagerbereich versteckte. Dort wurde er auch entdeckt und „nur“ mit Stockschlägen373 bestraft. Dem griechischen Juden Raul Jachun aus dem Krematorium  IV gelang die Rettung hingegen nicht: Laut dem Bericht von Shaul Chasan war er ins Krematorium III zu seinem Bruder gelaufen, fiel beim Appell jedoch auf und wurde umgehend erschossen374. Indes hatte die eineinhalbwöchige Untersuchung begonnen, vorgenommen von den Ermittlern Draser und Broch  – mit aller Grausamkeit und 370 GARF. Bt. P-7021. Fb. 108. Nr. 20. Bl. 3–4. Vgl. auch Czech, 1989. S. 901 f. 371 Kilian, 2003b. S. 24 f. 372 Er ist letztlich zu einem der wichtigsten Zeugen geworden, die das Sonderkommando überlebt haben. 373 Jankowski befand sich bis zum 18. Januar 1945 im Lager, als er zusammen mit 7.000 weiteren Häftlingen in einem Fußmarsch Richtung Westen getrieben wurde. Nahe der Stadt Rybnik gelang ihm die Flucht. Nach zweimonatigem Umherirren traf er unweit von Loslau auf die Sowjetarmee (Inmitten des grauenvollen Verbrechens, 1972. S. 55 f.). 374 Sein Bruder Henri verhungerte später in Österreich – zwei Stunden vor der Befreiung durch USTruppen (Greif, 1999. S. 322–324).

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unter Einsatz von Folter. Am 10.  Oktober wurde Wrobel verhaftet und gemeinsam mit 14 Häftlingen des Sonderkommandos in den Block  11 des Stammlagers375 geführt. Unter den Festgenommenen waren Jankiel Handelsman und fünf oder sechs sowjetische Kriegsgefangene376. Sie wurden alle am 20. Oktober erschossen, aber nicht wie angenommen im Hof des Lagergefängnisses, sondern im Waschraum des Krematoriums  II. Die sowjetischen Kriegsgefangenen starben etwas früher unter freiem Himmel: Beim Aussteigen aus dem Lastwagen stürzten sie sich mit Fäusten auf den Unterscharführer Eckhardt377. Raya Kagan, in der Lagerregistratur und als Übersetzerin bei Verhören tätig, erinnerte sich daran, wie einmal 96 Totenscheine der Aufständischen vom 7.  Oktober auf ihrem Arbeitstisch landeten: Jedes dieser Papierstücke, jedes Schicksal habe bei ihr ein Gefühl der Ehrfurcht ausgelöst. Die Namen habe sie sich nicht gemerkt, entsinne sich aber, dass Juden aus Grodno und Thessaloniki sowie einige Russen darunter waren378. Inzwischen mussten die am Leben gelassenen und übrig gebliebenen Männer des Sonderkommandos ab dem 14. Oktober mit aller Kraft eine für sie gänzlich neue Arbeit verrichten: den Abbruch der Mauern des Krematoriums IV, das während des Aufstands ordentlich beschädigt worden war. War das nicht genau das, was die Aufständischen beabsichtigt hatten? Die Ermittler interessierte indes am meisten der Sprengstoff: Woher kam das Schießpulver in den selbst gebauten Handgranaten? Zwei Verräter, der Deutsche Schulz und der Halbjude Koch aus der Tschechoslowakei, die beiden Kapos der Tag- und Nachtschicht aus den Union-Werken, hatten ihre Untergebenen bei der Lagergestapo denunziert379. Esther Weißblum und Regina Safirsztajn wurden als Erste am 10. Oktober verhaftet. Anfangs kamen sie noch mit 25 Stockschlägen davon, denn nach Angaben der Registratur stimmte alles: Es fehlte kein Schießpulver (es fehlte nichts, weil die jungen Frauen die Granaten in der Fabrik nur zur Hälfte füllten). Man ließ sie zunächst gehen. Wenig später verhörte man aber Ella Gertner. Sie hielt die

375 Dass keinerlei Urteile gesprochen wurden, ist höchstwahrscheinlich ein Anzeichen dafür, dass alle Verdächtigen im Zuge der Ermittlungen ums Leben kamen. 376 Czech, 1989. S. 903. Mit Verweis auf: APMA-B. D-Au ll-3a/2. Inventarnummer 29722; Wsp./51. Bd. 1. S. 150 Dounia Ourisson; Osw./252, Bd. 10. Vgl. auch Kagan, 2014; Grynberg, 1984. S. 126 f. 377 Kilian, 2003b. S. 25. 378 Kagan, 2014. 379 Sabotschen, 1965. S. 122; Gutman, 2014. S. 216 f.

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Das vernichtete Krematorium

Folter nicht aus, weshalb Roza Robota und dann wieder Regina und Esther festgenommen wurden380. Roza arbeitete im an das Areal des Krematoriums II angrenzenden Frauenlager in der Bekleidungskammer. Sie war es, die das Pulver an Jukl Wrobel381 aus dem Sonderkommando weitergab. Sie dachte, Wrobel sei nicht mehr am Leben, und gab an, ihm das Schießpulver übergeben zu haben. Nach der Verhaftung Roza Robotas sahen nun auch Gutman und Laufer der Festnahme entgegen (Angst hatten sie weniger vor dem Tod als vor der Folter  – beide bereiteten sich auf Selbstmord vor). Zweimal täglich wurde Roza aus dem Lagergefängnis an ihnen vorbei zur Politischen Abteilung geführt. Laut einer Legende soll der Kapo des Gefängnisses, Jakub Kozelczuk (ein gewaltiger Jude aus Krynki), auch Bunker-Jakob genannt, für Laufer382 ein Treffen mit Roza organisiert haben. Sie soll ihm gesagt haben, dass sie beim Verhör nur die Namen derjenigen genannt habe, die nicht mehr am Leben seien (Wrobel zum Beispiel), und dass sie niemanden verraten werde. Er brachte sogar einen Notizzettel mit ihren Worten mit: „Seid stark und tapfer!“383 Am 6. Januar 1945 wurde allen, die in den Union-Werken arbeiteten – nicht nur den Jüdinnen –, befohlen, die Arbeit früher als üblich zu beenden, was nie etwas Gutes bedeutete. Diesmal war es keine Selektion, sondern eine Hin­ richtung: die öffentliche Hinrichtung vierer heldenhaft gestorbener junger Frauen384. Sie wurden gehängt – wie im Schichtbetrieb: zwei (Ella und Esther) in den Morgenstunden und zwei (Roza und Regina) am Nachmittag. Auf diese Weise sollten die Arbeiter der beiden Schichten des Lagers eingeschüchtert werden. Beide Male las Schutzhaftlagerführer Hössler vor der Hinrichtung das Gerichtsurteil laut vor und fügte hinzu: „So wird es jedem ergehen  …“ (so erging es auch ihm). An jenem Tag schneite es, die schneebedeckten Leichen hingen dort drei Tag lang385. Einer Legende nach hatte der Bunker-Jakob (er erfüllte auch die Funktion des Lagerhenkers) die Frechheit gehabt, die Tötung der Frauen zu verweigern, solange es keine offizielle schriftliche Bestätigung aus Berlin gab …

380 Czech, 1989. S. 902. Mit Verweis auf: APMA-B. Dpr. ZO/29, Bl. 107. Zeugnis von Gustawa Kinselewska; Wsp./51. Bd. 1. S. 50–169. Dounia Ourisson; Osw./252. Bd. 10. S. 49–60. 381 Czech, 1989. S.  903  f. Mit Verweis auf: APMA-B. D-Au  III-3a/11c/349. FL Arbeitseinsatzlisten; Osw./252. Bd. 10. S. 49–60. 382 Nach einer anderen Version für Zabludowicz. 383 Gutman, 2014. S. 219. 384 Vgl. In Honor of Alla Gertner, 1992. 385 In Honor of Alla Gertner, 1992.

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Verbrecher oder Helden Teuflische Versuchung Indem er die wenigen am Leben gebliebenen Mitglieder des Sonderkommandos fand und befragte, unternahm Gideon Greif den Versuch, „die Grenzen der moralischen Welt derer zu verstehen, die physisch dem Zentrum des Todes am nächsten waren – einem Ort, an dem die Deutschen alle humani­ tären Werte außer Kraft gesetzt hatten.“386 Die Methode, die einen Opfer zur Mitwirkung an der Ermordung anderer Opfer zu zwingen, charakterisiert er berechtigterweise als „dämonisch“387. Auch Gideon Hausner, der israelische Ankläger im Eichmann-Prozess, bezeichnete sie 1961 als satanisch: „Wir finden auch Juden, die den Nazis zu Diensten standen, in der jüdischen Ghetto-Polizei, in den Ältestenräten, den Judenräten. Sogar am Eingang zu den Gaskammern standen Juden, denen befohlen war, die Opfer zu beruhigen und ihnen einzureden, es gehe in eine Dusche. Dies war der satanischste Teil des Plans: alles Menschliche im Menschen zu ersticken, ihn seiner Empfindungen und seiner Verstandeskraft zu berauben, ihn in einen seelenlosen, feigen Roboter zu verwandeln und auf diese Weise die Umwandlung der Lager-Häftlinge in ein Teilstück jener Maschinerie zu ermöglichen, die deren eigene Brüder vernichtete. Dadurch konnte die Gestapo die Anzahl ihrer Leute in den Lagern auf ein Minimum reduzieren. Doch am Ende konnten auch die Roboter ihrem bitteren Schicksal nicht entfliehen, wurden sie doch ebenso vernichtet wie ihre Glaubensgenossen …“388

Ja, das Wesen der Tätigkeit des Sonderkommandos war bestialisch. Und zwar derart, dass dessen Mitglieder wie Kollaborateure erster Güte – auf gleicher Stufe mit den jüdischen Polizisten im Ghetto – der direkten Beihilfe und fast 386 Greif, 1998. S. 1027. 387 Greif, 1998. S. 1023. 388 Hausner, 1989. S. 31.

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schon der Mittäterschaft am Henkerdienst, der direkten Beteiligung am Mord beschuldigt wurden389. Den Anklägern das Recht abzusprechen, die Männer des Sonderkommandos zu Mittätern und Kollaborateuren zu erklären, wäre in der Tat ungerechtfertigt. Nahmen sie denn wegen der Aussicht auf die eigene, sei es auch kurzzeitige Rettung am Ethnozid eines Volkes, ihres Volkes nicht teil? Aus demselben Grund forderte Hannah Arendt, das israelische Gesetz von 1950 über die Bestrafung von Naziverbrechern  – jenes Gesetz, auf dessen Grundlage Adolf Eichmann verhaftet und verurteilt wurde – auf die Handlanger der Nazis anzuwenden390. Allerdings hatte Arendt weniger das Sonderkommando als die Judenräte der Ghettos und deren Beteiligung an der Katastrophe im Blick. Die Judenräte mit ihren Kasztners, Genses und Rumkowskis an der Spitze standen im Zentrum des gesellschaftlichen Diskurses in Israel in den ersten Jahrzehnten nach der Staatsgründung. Mag es auch paradox erscheinen, doch begegnete man einem Holocaust-Überlebenden in Israel weniger mit Mitgefühl als mit Misstrauen und der skeptischen Frage: „Was hast du denn während des Holocaust gemacht?“391 Rudolf Kasztner, der Leiter eines zionistischen Hilfskomitees in Budapest, wurde beschuldigt, einen Pakt mit dem Teufel geschlossen und die Interessen der jüdischen Gemeinde in Ungarn verraten zu haben, um die Haut von etwa 1.700 prominenten Juden (einschließlich seiner selbst und seiner Verwandten) im sogenannten Kasztner-Zug zu retten, der aus Budapest in die Schweiz gefahren war. Er wurde zum Hassobjekt in Israel, seine Töchter wurden in der Schule mit Steinen beworfen. Kasztner selbst wurde 1955 verurteilt. Auf die

389 Beispielsweise von Robert Pendorf: „Ganz ohne Zweifel aber wäre es ohne die Mitarbeit der Opfer schwerlich möglich gewesen, dass wenige tausend Menschen, von denen die meisten obendrein in Büros saßen, viele Hundertausende anderer Menschen vernichteten“ (Pendorf, 1961. S. 111). 390 Vgl. dazu: „Daß in den Todeslagern die direkten Handreichungen zur Vernichtung der Opfer im allgemeinen von jüdischen Kommandos verrichtet wurden, diese an sich bekannte Tatsache hatten die von der Anklage geladenen Zeugen klipp und klar bestätigt – wie die ‚Sonderkommandos‘ in Gaskammern und Krematorien gearbeitet, wie sie den Leichen die Goldzähne gezogen und die Haare abgeschnitten hatten, wie sie die Gräber gegraben und später die gleichen Gräber wieder aufgegraben hatten, um die Spuren des Massenmords zu beseitigen, wie jüdische Techniker die später nicht benutzten Gaskammern in Theresienstadt gebaut hatten, wo die jüdische ‚Autonomie‘ so weit getrieben wurde, daß selbst der Henker ein Jude war. Das alles war zwar grauenhaft, aber ein moralisches Problem war es nicht. Die Selektion und Klassifikation der Arbeiter in den Lagern wurde von der SS getroffen […]“ (Arendt, 2017. S. 215 f.). 391 Ähnlich dem Ansatz des sowjetischen SMERSch: „Wie ist es dir, Abraham, nur gelungen, am Leben zu bleiben?“ (vgl. Polian P. Sowetskie woennoplennye-jewrei – perwye schertwy Cholokosta v SSSR, in: Obretschennye pogibnut‘. 2006. S. 9–70).

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Verurteilung folgte in der zweiten Verhandlung 1958 der Freispruch, den er selbst nicht mehr miterlebte, weil er 1957 von extremistischen Rächern erschossen worden war. Chaim Rumkowski  – Vorsitzender des Judenrates im Ghetto von Lodz (Litzmannstadt), der sich nicht einmal seines Abbilds auf der Ersatzwährung schämte – führte die Ghettobevölkerung mit eiserner Hand und hatte keine Scheu, gegen den Leibhaftigen persönlich Schach zu spielen. Der Einsatz war das Leben der Juden: Ohne mit der Wimper zu zucken, gab er die Schachfiguren her, lieferte Abertausende jüdische Seelen immer und immer wieder ans Messer. Doch am Ende verlor er: Von dem 158.000-köpfigen Ghetto blieben einige Hundert Menschen übrig. Chaim Rumkowski hatte sich offensichtlich verspielt in der trügerischen Gewissheit, alle geschriebenen und ungeschriebenen Regeln des teuflischen Treibens zu kennen. Sein Gegenspieler aber änderte die Regeln und setzte die Züge nach Belieben: Mit einem Fingerschnalzen schlugen die Nazis dessen königlichen Hochmut ab und schickten ihn zusammen mit den Läufern und Bauern in die Vergasungsbunker von Birkenau. Dasselbe Spiel – sich bei den Henkern durch immer neue Judenopfer freizukaufen – spielte Jacob Gens in Wilna. Nur ist dieser Fall dadurch gekennzeichnet, dass der Spieler eine Alternative hatte, eine klare und deutliche: Der organisierte kommunistische und zionistische Untergrund stand zum Aufstand im Ghetto und zum Exodus in die Wälder bereit. Allerdings waren diese Untergrundkämpfer in den Augen des Vorsitzenden des Judenrats Gens gefährliche Verrückte und Provokateure, die mit dem Feuer spielten. Ihr sinnloser Heldenmut und Drang nach Heldentat riefen nichts als Ablehnung und Protest bei ihm hervor, hätten sie doch seine Strategie der kleinen Zugeständnisse, Rochaden und der Nützlichkeit für die Henker zum Scheitern bringen können. Es war so, als ob Gens seine mutigen Opponenten fragte: „Und? Haben denn viele Juden nach dem Aufstand im Warschauer Ghetto überlebt?“ Jedoch hätten auch die Helden, wenn sie und er am Leben geblieben wären, sich die gleiche Frage gestatten können. Im wirklichen Leben gab es solche Extreme nicht, besser gesagt: Sie waren miteinander verwoben, sie koexistierten in einem jeden Juden – entscheidend war, welche Plastizität, welche Proportion des einen und des anderen zu welcher konkreten Zeit plausibel erschien. Im Kampf gegen die Alternative, die jüdische Vereinigte Partisanen-Organisation unter ihren Kommandeuren Wittenberg und Kovner, versuchte Gens gleichwohl, sich mit derselben einzulassen. Das Beispiel Glasmans, des ehemaligen stellvertretenden Leiters der 136

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Ghettopolizei, veranlasste sicherlich auch ihn, über die verpasste Möglichkeit nachzudenken, alle jüdischen Hebel  – Judenrat, Ghettopolizei und Partisanenstab – in einer, und zwar sehr viel mächtigeren Hand zu konzentrieren. Doch gingen Gens‘ Rochaden viel zu weit: Seine Polizisten waren es, die in Aschmjany die Juden nicht nur in deren Malinas392 ausräucherten, sondern sie auch für deren Erschießung selektierten. Und jede neue Aktion im Ghetto und jede neue Auswahl der SS war im Grunde wie die Selektionen an der Rampe in Auschwitz. Statt Birkenau war es in Wilna Ponary, statt Gas wurden Kugeln eingesetzt. Das Ergebnis war identisch: jüdische Leichen, von Erde bedeckt oder in Gruben brennend. Wenn einer überlebte, dann in den Partisanenwäldern oder in den Arbeitskommandos, wo man von Erschießungen nicht betroffen war. Allerdings hat ja noch niemand die jüdischen Überlebenden nach der Art ihres Überlebens gezählt: Wie viele waren es in den Wäldern und Verstecken wirklich? Wie viele waren es auf den Brandstätten der Ghettos und der KZs? Doch schon die Tatsache des Widerstands allein gab jedem die Würde und die Hoffnung zurück, erfreute und ermutigte ihre gepeinigten Seelen.

Verbrecher oder Helden? Das Sonderkommando, die Judenpolizei im Ghetto, die jüdischen Funktionshäftlinge in den KZs (die Kapos, die Vorarbeiter, die Stubendienste), die ­Berliner Greifer, die im Auftrag der Gestapo in der Stadt auf der Suche nach Glaubensgenossen393 herumschnüffelten, und selbst das gesamte Privilegierten-„Ghetto“ in Theresienstadt oder das Prominentenlager für „Austauschjuden“ in Bergen-Belsen – das alles sind nur Teile jenes komplexen und widersprüchlichen Ganzen, zu dem in Israel anfangs ein durchaus besonderes – und äußerst negatives  – Verhältnis394 herrschte. Der junge jüdische Staat erschreckte sich vor seiner Vorgeschichte, die dunkelsten Kapitel seiner jüngsten Vergangenheit wollte und konnte er teilweise gar nicht aufklären. 392 Gut getarnte Verstecke zum Ausharren bei Razzien und Aktionen. 393 Aus Berlin sind sechs solcher Greifer überliefert, die prominentesten unter ihnen: das Ehepaar Rolf Isaaksohn und Stella Goldschlag. Ob dergleichen auch in anderen Städten praktiziert wurde, ist unbekannt (Hinweis von Ira Rabin). Im Ghetto von Lomza gab es, den Berichten von SchmajnaWelikanowa zufolge, einen gewissen „Rothaar“, der die Juden in den Malinas aufspürte und sie mit dem Versprechen der Fluchthilfe oder eines anderen Verstecks an die Deutschen auslieferte. 394 Siehe Porat, 1991.

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Ideologisch gutgeheißen wurde ausschließlich der Heldenmut, insbesondere jener der überzeugten Zionisten. Doch selbst das hatte dem toten Helden des Aufstands von Auschwitz, dem überzeugten Zionisten Gradowski, nicht dazu „verholfen“, in Eretz Israel die mehr als verdiente Anerkennung zu erhalten. Die Zugehörigkeit zum Sonderkommando ist wie das Kainsmal. Ebendies erklärt die fehlende Bereitschaft mancher Überlebender des Sonderkommandos, mit Historikern in Kontakt zu kommen und Interviews395 zu geben. Dies erklärt auch das auffallend verbreitete Fehlen dieses Themas in den meisten Museumsausstellungen zur Shoah. Es drängt sich die Frage auf: Ist es denn überhaupt möglich, im Lager eine Märtyrerunschuld zu bewahren? Jeder aus der rechten Reihe auf der Rampe ist allein schon dadurch schuldig, dass er nicht in die linke Reihe geraten ist – nur diese Opfer sind ja die reinsten der reinsten. Alle anderen haben doch gewiss – sofern sie es bis zur Befreiung schafften – irgendeine Sünde auf dem Kerbholz396. Du hast überlebt, also bist du ein Komplize; du hast überlebt, also bist du schuldig. Auf dieser Prämisse fußt jene Grässlichkeit im gesellschaft­ lichen Leben Israels, die oben erwähnt wurde. Die gleiche Erscheinung existierte auch in der UdSSR, für die jeder heimgekehrte ehemalige Ostarbeiter und jeder ehemalige Häftling irgendetwas in der Kategorie zwischen Verräter und äußerst verdächtiger Person war397. „Wie ist es dir, Abraham, nur gelungen, am Leben zu bleiben?“, fragten die Ermittler des SMERSch bei den Verhören die jüdischen Kriegsgefangenen, die überlebt hatten. Die Nazis waren also auch in einem anderen Punkt erfolgreich: Nachdem sie sechs Millionen getötet hatten, injizierten sie dem überlebenden Judentum die giftigen Keime ewiger Zwietracht und ständigen Durchforschens – nicht historische Aufklärung, sondern profane Ablehnung und Feindseligkeit. Nur durch eine solche Stimmungslage in der Gesellschaft sind Vorwürfe an die Mitglieder des Sonderkommandos zu erklären, wonach sie an der immerwährenden Ankunft neuer Transporte, an möglichst beständigem und breitem

395 In den vorliegenden Interviews fällt das Anliegen der Befragten auf, sich nicht so sehr zu rechtfertigen als vielmehr sich vor möglichen Attacken zu schützen. 396 Primo Levi zeigt plausibel auf, wer die Funktionshäftlinge („Huren“ im Gulagjargon) waren (oder zumindest hätten sein sollen). Laut Levi stellten die privilegierten Häftlinge eine Minderheit dar, jedoch eine starke Mehrheit derjenigen Juden, die den Holocaust überlebten (Levi, 2015. S. 37–40). 397 Die UdSSR war das einzige Land der Welt, das von seinen Militärangehörigen forderte, sich keinesfalls zu ergeben, sondern bis zur letzten Patrone zu kämpfen und mit dieser letzten Patrone sich selbst zu töten.

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Fortdauern des Holocaust angeblich „unmittelbar interessiert“ gewesen seien, weil nur dies ihr Leben und ihre Sattheit garantiert habe. So zitiert Langbein einen gewissen Altmann, der sich an eine offensichtlich mythische Aussage eines der SoKo-Männer „erinnert“: „Endlich wieder einmal ein anständiger Transport in Aussicht. Ich habe schon nichts Vernünftiges mehr zu essen.“ (Wie hätte ein Mitglied des Sonderkommandos im Vorfeld wissen können, was ankommen würde? Und wie hätte Altmann dies alles von ihm hören können: nach Feierabend in der Kneipe?) Für diese Aussage gibt es nicht einen Beleg. Den Zusammenhang zwischen Erscheinungen zu verstehen, ist das eine (und dieses Verständnis fand immer statt). Doch vom Tod anderer zu profitieren, darauf zu spekulieren, ist etwas ganz anderes. Seine Fehler anerkennend und doch nichts bereuend, fand Höß in der Gerichtsverhandlung die Worte für eine hämische Verurteilung der Juden aus dem Sonderkommando: „Ebenso eigenartig war ja auch das ganze Verhalten der Sonderkommandos. Die wussten doch alle ganz bestimmt, dass sie bei Beendigung der Aktionen selbst auch das gleiche Schicksal treffen würde wie die Tausenden ihrer Rassegenossen, zu deren Vernichtung sie beträchtlich behilflich waren. Und doch waren sie mit einem Eifer d ­ abei, der mich immer verwunderte. Nicht nur, dass sie nie zu den Opfern über das Bevorstehende redeten, auch das fürsorgliche ­Behilflichsein beim Ausziehen, aber auch das gewaltsame bei sich Sträubenden. […] Alles mit einer Selbstverständlichkeit, als wenn sie selbst zu den Vernichtern gehörten.“398

Möglicherweise gab dieses Bekenntnis den Anstoß (oder diente zumindest als Nährboden) für die Spekulationen des italienischen Historikers Primo Levi, der selbst Auschwitz-Überlebender war. Bis zu einem gewissen Grad lässt sich Levi dabei auf eine Provokation der SS ein, vor der er selbst gewarnt hat: „Juden mussten es sein, die die Juden in die Verbrennungsöfen transportierten, man musste beweisen, dass die Juden, die minderwertige Rasse, die Untermenschen, sich jede Demütigung gefallen ließen und sich sogar gegenseitig umbrachten. […] Mit Hilfe dieser Einrichtung wurde der Versuch unternommen, das Gewicht der Schuld auf andere, nämlich auf die Opfer selbst, abzuwälzen, so dass diesen – zur eigenen

398 Höß, 2008. S. 195.

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Erleichterung  – nicht einmal mehr das Bewusstsein ihrer Unschuld bleiben würde.“399

Primo Levi übertreibt im Grunde auch gar nicht so sehr, wenn er das Sonderkommando als einen Extremfall der Kollaboration 400 bezeichnet. Auch wird er auf das Phänomen einer eigenartigen „Verbrüderung“ der SS-Männer, die in den Krematorien arbeiteten, mit dem Sonderkommando aufmerksam: Die Ersteren hätten die Letzteren gewissermaßen für Kollegen gehalten, weshalb die SS-Männer ungeachtet ihrer arischen Schaftstiefel es nicht als schändlich angesehen hätten, mit jenen Fußball zu spielen401, gemeinsam den Schwarzmarkt am Laufen zu halten und sogar zusammen zu trinken402. Leider schenkt Levi seinen „Informanten“ allzu viel Vertrauen. Der schillerndste Fall ist der Bericht über 400 griechische Juden, die (im Juli 1944 aus Korfu ins Lager eingeliefert) die Arbeit im Sonderkommando geschlossen ablehnten und gemeinsam in den Tod gingen403. Nun hätte Levi, auch ohne Historiker zu sein, wissen können, dass die Ungarn-Aktion zu diesem Zeitpunkt praktisch beendet war, weshalb niemandem der „Vorschlag“ gemacht worden sein kann, sich im Sonderkommando zu verdingen404. Ebenso halten die Vorwürfe der Kameradschaft mit der SS – mit Ausnahme des Schwarzmarkts vielleicht – einer kritischen Prüfung nicht stand. Nyiszlis Zeugnis über ein gemeinsames Fußballturnier mit der SS wird nicht nur von niemandem bestätigt, es wurde sogar entschieden bestritten, nämlich von Yehoshua Rosenblum405. Die markanteste, untrügliche Form einer solchen Kameradschaft war wohl die Beziehung von Mengele und Nyiszli. Ein SS-Arzt und Parteimitglied hat dem schäbigen Jud Nyiszli (ebenfalls Arzt) befohlen (tatsächlich aber: anvertraut!), die Autopsie eines SS-Sturmführers406 vorzunehmen, der erschossen wurde. Das kann man sich ja kaum vorstellen: Ein jüdischer Arzt, dem es nach 399 400 401 402

403 404 405 406

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Levi, 2015. S. 50, 52. Levi, 2015. S. 52 f. Nyiszli, 2005. S. 50. Hierzu zählt Levi auch den Fall, dass der SS-Mann Gorges dem Sonderkommando-Häftling Müller in Mauthausen Brot gab, statt ihn an die örtlichen Henker auszuliefern (Müller, 1979. S.  276  f.). Angesichts des Zeitpunkts und des Ortes dieses Ereignisses denke ich, dass der Fall doch etwas komplizierter ist. Levi, 2015. S. 57 f. Wie er auch hätte wissen können, dass es in Wirklichkeit keine regelmäßigen, systematischen Rotationen und auch keine zwölf „Einheiten“ des Sonderkommandos gab (Levi, 2015. S. 49). Kilian, 2004. S. 138. Nyiszli, 2005. S. 56 f.

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den Nürnberger Gesetzen verboten war, sich einem deutschen Patienten auch nur zu nähern, schneidet mit einem Skalpell in den kostbaren arischen Leib. Und das auch noch in Auschwitz! Die sporadische „Verbrüderung“ und die relative „Kollegialität“ zwischen den Mitgliedern der SS und dem Sonderkommando ist kein systemisches Phänomen, sondern eine zutiefst individuelle Ausnahmeerscheinung, die auf persönlicher, nicht auf struktureller Ebene vorkam. Aber Levis intellektuell raffinierte Feststellung dieses Phänomens ist auch gar nicht dafür bestimmt, zu einer Methode zu werden, ist sie doch punktuell und derart exklusiv, dass sie aus dem gesamtgeschichtlichen Kontext herausfällt, in dem der Unterschied zwischen den einen und den anderen so gewaltig ist, dass die Beobachtung selbst und deren empirischer Unterbau gerade noch wahrnehmbar sind. Ausgerechnet Levis Schülerin Regula Zürcher aus Bern erhob diese Beobachtung zur Methode: Einst auf diesen Zug aufgesprungen, ist sie, wie es aussieht, von allen am weitesten gekommen. Über jeden Zweifel erhaben, fasst sie die Mitglieder des Sonderkommandos und die SS-Leute in den Krematorien zu einem einheitlichen, banal anmutenden Begriff zusammen: „Personal der Massenvernichtungsanlagen von Auschwitz“407. Natürlich schaut sie sich das „Personal“ differenziert an, teilt die große Gruppe in Untergruppen auf, indem sie deren „Arbeit“, „Alltag“, „Mentalität“ etc. Punkt für Punkt auseinandernimmt. Doch die Linie ist überschritten und der Zug fährt von selbst dorthin, wo er hinsoll. Da nimmt sie das Kriterium des Antisemitismus: Auf die SS trifft es zu, auf das Sonderkommando hingegen nicht. Und dann die Kriterien „Überlebensdrang“ und „Gier nach Bereicherung“: Diese sollen bitte bei beiden Untergruppen des Personals erkennbar sein. Sie unterscheiden sich dann aber wiederum nach dem Grad des „Handlungsspielraums“408. Zusammengenommen – einheitlich hier, unterschiedlich da – bilden sie dennoch dieses schleierhafte „Personal für die Anlagen der Massenvernichtung in Auschwitz“. So wird die Methode der Lehrer profaniert. Zürcher schlägt vor, die Mitglieder des Sonderkommandos nach vier Gruppen zu differenzieren: a) potenzielle Selbstmörder; b) diejenigen, die um jeden Preis ums Überleben kämpften, dies jedoch dadurch rechtfertigten, dass sie der Welt alles erzählen würden; c) Organisatoren des Untergrunds 407 Zürcher, 2004. Über ihrem Schreibtisch war ein Notizzettel angebracht mit einem Zitat des Mentors, das sie als Epigraf zum Buch verarbeitete: „Es ist weder leicht noch angenehm, diesen Abgrund von Niedertracht auszuloten, aber dennoch bin ich der Meinung, dass man es tun muss“ (Zürcher, 2004. S. 11). 408 Zürcher, 2004. S. 216–219.

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und Aufständische; d) „Roboter“, die keinerlei menschliche Gefühle bewahrt hatten. Derweil sind es gar keine Typen, sondern verschiedene Zustände ein und desselben: Zustände der Seelen der Männer des Sonderkommandos. Jeder von ihnen machte vielleicht diese oder jene Kombination dieser Zustände durch, die zu gewissen Etappen für ihn wurden. Das Ergebnis, zu dem Levis gewissenhafte Schülerin kommt, ist leider banal: Neben der „Schwarzzone“ – dem Habitat des absoluten Bösen – soll es auch eine gewisse „Grauzone“ gegeben haben, die aufseiten der SS beispielsweise der gute SS-Mann Kurt Gerstein409 verkörpert und aufseiten des Sonderkommandos, so ist es anzunehmen, die Teilnehmer des Aufstands und die Aufstandsorganisatoren aus der Reihe der Kollaborateure. Nach weit verbreiteter Ansicht lastet also auf den Mitgliedern des Sonderkommandos wie auch auf den Mitgliedern der Judenräte das Kainsmal des Verrats und der Mittäterschaft am Genozid. Ebendiese Sichtweise dominierte über Jahrzehnte das Verhältnis einer breiten jüdischen Öffentlichkeit und der Historiker zum Sonderkommando. Dieser Umstand hat sich nach der Logik der schwarzweißen Mythenschöpfung verselbstständigt und zweifellos in der Geschichte der Veröffentlichung der unschätzbaren Manuskripte niedergeschlagen. Die echte Grauzone war indes die gesellschaftliche Atmosphäre, die die Manuskripte umhüllte. Wurden Gradowski oder Langfuß vor der Selektion an der Rampe oder in der Baracke etwa gefragt, ob sie für sich vielleicht eine neue und sehr attraktive Tätigkeit wie das Mitwirken im Sonderkommando entdecken wollten (unter Beifügung entsprechender Arbeitsanweisungen)? Die Wahl, die ihnen damals blieb – das war keine Wahl zwischen einer 100-Gramm- und einer 500-Gramm-Ration: Hätten sie eine solche Wahl gehabt, sie hätten sich für die 100 Gramm entschieden, Hauptsache kein Sonderkommando. Das war eine teuflische Wahl zwischen Leben und Tod, zwischen der Annahme von Zwangsbedingungen und deren Ablehnung – also zwischen einer Kugel ins Genick oder dem Sprung in die Flammengrube respektive den dröhnenden Ofen! Hier die Argumentation des Überlebenden Shlomo Venezia: „Andere dachten, dass wir für das, was im Krematorium vor sich ging, Verantwortung trugen. Aber das ist doch absolut falsch. Nur die Deutschen töteten. Wir wurden gezwungen, mitzumachen, während 409 Der Fall des SS-Manns Pestek (siehe S. 98) war ihr offensichtlich unbekannt.

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Kollaborateure im Allgemeinen freiwillig handelten. Es ist wichtig[,] festzuhalten, dass wir keine Wahl hatten. Alle, die sich weigerten, wurden sofort durch Nackenschuss getötet. Für die Deutschen war das nicht schlimm. Sie brachten zehn um, und fünfzig Neue kamen. Für uns galt es zu überleben, Nahrung zu ergattern … einen anderen Ausweg gab es nicht. Für niemanden. Außerdem funktionierte unser Gehirn nicht mehr normal, wir konnten nicht mehr darüber nachdenken, was geschah … Wir waren zu Automaten geworden.“410

Und ich bin mir ehrlich gesagt gar nicht so sicher, was die allseits verehrten Primo Levi und Hannah Arendt getan hätten, wären sie an der Stelle dieser Kollaborateure und Henkersgehilfen gewesen. Hannah Arendt, die unermüdliche Kämpferin gegen den Antisemitismus, ist es gelungen, die Augen vor dem empörenden Verhalten ihres Mentors und Freundes Heidegger zu verschließen, des großen Philosophen und banalen – wie alles Gute und Böse – Antisemiten. Es fällt jedenfalls schwer, zu glauben, dass Hannah ­Arendt in den dröhnenden Ofen gestiegen wäre. Den Zeugnissen der Mitglieder des Sonderkommandos – dieser zentralen Zeugen des Holocaust  – die Glaubwürdigkeit abzusprechen, wie es Primo Levi tut, ist höchst unhistorisch und zutiefst ungerecht. Es ist schäbig und schamlos, sie als „Raben des Krematoriums“ zu bezeichnen und über sie zu schreiben: „Man muss sich von ihren Aussagen eher einen befreienden Aufschrei als eine medusenhäuptige Wahrheit erwarten.“411. Ich erlaube es mir, alle Richtenden daran zu erinnern: Es waren die Mitglieder des Sonderkommandos  – sie und nur sie –, die lange einen Aufstand gehegt, geplant und letztlich auch in die Tat umgesetzt haben, dessen Beteiligte alle heldenhaft starben! Den einzigen bewaffneten Aufstand in der Geschichte von Auschwitz-Birkenau, dem auch SS-Angehörige zum Opfer fielen! Und denen zu verdanken ist, dass es nach dem Aufstand ein aktives Krematorium weniger gab! Wohingegen der gesamten progressiven Menschheit das Fehlen von sechs Millionen ihrer Mitglieder irgendwie entgangen war und die züchtig-anständigen Alliierten aus der Anti-Hitler-Koalition weder genug Bomben noch Kerosin in ihren Lagern fanden, um diese perfekte Asche- und Knochenmehlfabrik zu zerbomben. Die Mitglieder des Sonderkommandos waren es auch, die die zahlreichsten und zuverlässigsten

410 Venezia, 2008. S. 151 f. 411 Levi, 2015. S. 52.

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Zeugnisse dessen, was dort wirklich passierte und wie es passierte, hinterlassen – geschrieben und versteckt – haben. Es ist nicht ihre Schuld, dass uns nur ein Teil davon erreicht hat. Das Sonderkommando war keine Stabs- sondern regelrecht eine Strafkompanie. Seine Mitglieder waren selbst zum Tod Verurteilte, die aber in den Kampf stürmten  – in der Hoffnung, ihr Blutzoll werde sie von der niederträchtigen Schmach reinwaschen, zu der ihre Feinde sie, ohne zu fragen, verdammt hatten. Und auch in der Hoffnung, dass die ganze Welt ihnen nicht nur den Kleinmut und die Verbrechen anrechne, sondern auch ihre Heldentaten.

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Briefe aus der Hölle: die Entdeckungs-, ­Rekonstruktions- und Übersetzungs­ geschichte der Manuskripte Einige schreibgewandte Häftlinge zeichneten handschriftlich eine Chronik des Sonderkommandos auf, die in Blechdosen verpackt und dann vergraben wurde in der Hoffnung, dass sie eines Tages vielleicht jemand entdecken würde. Filip Müller

Lieber Finder, suchen Sie überall! Salmen Gradowski

Die „Kanadziazy“ alias „menschliche Hyänen“ Nachdem die Rote Armee das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau und seine Nebenlager am 27.  Januar 1945 befreit hatte und weiter gen Westen gezogen war, blieben Feldlazarette und Abgesandte der Außerordentlichen Staatskommission zur Untersuchung der Naziverbrechen TschGK auf dem Gelände des KZs. Im März wurden hier mehrere Lager für deutsche Kriegsgefangene und internierte Polen eingerichtet; aber zuvor, nahezu den ganzen Februar hindurch, hatten marodierende „Schatzsucher“ aus der einheimischen Bevölkerung das Lagerareal in ihren Händen gehalten. „Kanadziazy“ wurden sie genannt – ein Wort, das sich etymologisch und semantisch von der Bezeichnung jenes riesigen Magazins für geraubtes jüdisches Vermögen ableitet, das sich im Lagerbereich zwischen den Krematorien in Birkenau befand: das Effektenlager „Kanada“412. Viel eher trifft jedoch der Ausdruck „menschliche Hyänen“ auf sie zu413. 412 Hansen I., „Nie wieder Auschwitz!“. Die Entstehung eines Symbols und der Alltag einer Gedenkstätte 1945–1955. Göttingen 2015. S. 89. 413 Die Bezeichnung verwendete Andrzej Zaorski (siehe S. 148, Anm. 420), der Finder des Manuskripts von Herman Strasfogel.

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Der Großteil des Lagers wurde von niemandem mehr bewacht, sodass die einheimischen „Kanadziazy“ dort ungehindert umherstreifen und in die Baracken sowie Dienstblöcke hineinschauen konnten, wo allerhand Interessantes zu finden war: Prothesen, Spielzeug, Säcke mit Frauenhaar, Aufbewahrungsgläser mit Embryos, die den Gebärmuttern schwangerer Frauen entnommen worden waren, usw. Besonders interessierten sich die illegalen Archäologen aus Auschwitz für den Bereich der ehemaligen Gaskammern und Krematorien von Birkenau. Wie auf die Jagd gingen sie dorthin, getrieben von enthemmter Raffgier, die ihrerseits von der Vorstellung gespeist wurde, die Juden müssten doch überall Gold und Schmuck vergraben haben, bevor sie eines ihnen gebührenden Todes gestorben seien. Die perversen Hoffnungen der Marodeure dürften sich sicherlich nicht erfüllt haben. Wenn aber doch irgendwo ein Goldzahn gefunden worden sein sollte, werden wir das bestimmt nicht mehr erfahren. Dieses Verlangen nach Bereicherung am jüdischen Blut und Gebein ist geradezu sinnbildhaft. Der strenge Gott der Juden, dessen Gebot des respektvollen Umgangs mit einem toten Körper sie derart verhöhnten, schreckte die „Kanadziazy“ sichtlich nicht ab414. Unbeirrt machten sich die frommen Katholiken und braven Gemeindemitglieder an die Schatzsuche – die billige Selbstindulgenz nach dem Motto „Heilige Mutter Gottes! Den Juden ist ohnehin nicht mehr zu helfen, ihr Gold aber können wir gut gebrauchen“ war ihnen offenbar Ablass genug. Solcherart Plünderungen waren übrigens keine Auschwitzer Ausnahmeerscheinung. Nicht anders verhielten sich etwa die Weißrussen in Maly Trostinez: Gründlichst wühlten sie eine Grube mit jüdischer Asche durch, die vom Sonderkommando 1005 hier hinterlassen worden war: „Nach Gold suchen wir. Davon hatte der Jud ja wohl viel.“415 Die Ausgrabungen von Birkenau zeichneten sich aber in besonderer Weise aus. Nicht selten stießen die Marodeure dort auf Feldflaschen, Trinkflaschen und Behälter, in deren Innerem wirklich ein Schatz zu finden war:

414 Wie auch die polnische Polizei sie nicht abschreckte, die bis zur Eröffnung des Museums in Oświęcim 415 Einheimische wegen Verdachts auf Plünderung befragte. Vgl. den Vortrag der polnischen Historikerin Marta Zawodna-Stephan auf einer dem Sonderkommando gewidmeten Fachkonferenz in Berlin vom 12. bis 13. April 2018. Die Historikerin hat die Berichtsbücher der Ermittlungsakten der polnischen Polizei in der Stadt Oświęcim erforscht, die im polnischen Institut für Nationales Gedenken aufbewahrt werden. Indes rief die in ihrem Vortrag – ohne den geringsten empirischen Beleg  – geäußerte Ansicht Irritationen hervor, wonach die Angehörigen der Roten Armee an diesen Plünderungen beteiligt, wenn nicht gar die treibende Kraft dabei gewesen seien. 415 Skoblo, 2006. S. 10–12.

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ein unverständliches Jiddisch enthaltendes Papier, das die Plünderer aus Enttäuschung höchstwahrscheinlich auf den Müllhaufen warfen416. Einmal hatte dann doch einer die Idee, dass man solches Papier eventuell zu Geld machen könne. Also wurden die Funde denjenigen angeboten, die sie ganz bestimmt lesen konnten und vielleicht sogar kaufen würden: den Juden aus dem Ort oder den ehemaligen Häftlingen, die von der erkalteten Hölle angezogen, herbeigerufen wurden – jener Hölle, die sie, anders als die meisten ihrer Glaubensgenossen, überlebt hatten. Unter ihnen waren auch ehemalige Mitglieder des Sonderkommandos. Sie wussten ja mit Bestimmtheit, wo gegraben werden musste, sodass auf ihren Hinweis hin tatsächlich einige Geheimverstecke mit Handschriften ausgemacht wurden. Einer dieser Funde417, der sich als das Manuskript Gradowskis erwies, wurde schon im März 1945 entdeckt, als es noch weder ein Museum in Auschwitz noch eine polnische Regierung gab. Als Beweisstück ging der Fund in den Bestand der TschGK ein und lag fast ein Vierteljahrhundert lang im Magazin des Wehrmedizinischen Museums in Sankt Petersburg  – bis das Manuskript in den Blick eines Historikers geriet.

Nach der Befreiung: neue Hausherren Herrenlos blieb das gigantische Areal des Konzentrationslagers und der Todesfabrik Auschwitz-Birkenau nicht lange. Zwei Systeme, zwei Netze richteten auf dem Gelände ihre Standorte ein: der Sanitätsdienst und der NKWD/ GUPWI418.

416 Vgl.: „Wären zu diesem Zeitpunkt schon systematische Grabungen in der Todeszone von Birkenau durchgeführt worden, so hätte man sicherlich nicht nur die Schriften von Gradowski gefunden, sondern auch die vielen geheimen Manuskripte von anderen Sonderkommando-Häftlingen. Die weitaus meisten dieser wertvollen Dokumente wurden wahrscheinlich schon kurz nach der Befreiung des Lagers unwiederbringlich zerstört, als zahllose Plünderer aus der Umgebung auf das Gelände strömten. […] Die Plünderer suchten Gold – beschriebenes Papier erschien ihnen wertlos. Wahrscheinlich endeten so die meisten der schriftlichen Zeugnisse des Sonderkommandos auf dem Müll“ (Friedler, Siebert, Kilian, 2008. S. 309). 417 Lässt man die Funde der „Schwarz-Archäologen“ einmal außen vor, die diese höchstwahrscheinlich schon im Februar 1945 machten. Darunter kann sich durchaus die zweite der gefundenen Handschriften Gradowskis befunden haben. 418 Abkürzung von „Glawnoe uprawlenie po delam woennoplennych i internirowannych“: Hauptdirektion für die Angelegenheiten von Kriegsgefangenen und Internierten des NKWD/Innenministeriums der UdSSR.

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Gleich nach der Befreiung wurde das mobile Feldhospital Nr. 2692 unter der Leitung von Dr. Margarita Aleksandrowna Schelinskaja, Major des Sanitätsdiensts419, in Auschwitz stationiert. Seite an Seite mit den sowjetischen Ärzten arbeiteten auch polnische Mediziner, Mitglieder des Freiwilligenkorps des polnischen Roten Kreuzes in Krakau. Sie halfen beim Aufbau des Feldlazaretts und bei der Pflege ehemaliger KZ-Häftlinge, deren Zustand einen Weitertransport nicht zuließ. Dieses Korps befand sich in Auschwitz bereits seit den ersten Februartagen420. Auch den SMERSch-Mitarbeitern bot das ehemalige SS-Lager eine Basis421: Eine Zeit lang befanden sich dort die Internierungs- und Durchgangslager für deutsche Kriegsgefangene, Volksdeutsche, verdächtigte Nazi-Kollaborateure aus Oberschlesien sowie für Schlesier, die die sogenannte deutsche Volksliste unterschrieben hatten, oder polnische Zivilisten, die politisch verdächtig waren. Schon im März 1945 wurde das Frontlager Nr. 22, das zur Aufnahme und zum Transit Kriegsgefangener bestimmt war und sich im Zuständigkeitsbereich der 4.  Ukrainischen Front befand, aus Sambir und Olchowiec nach Auschwitz verlegt422. Hier wurden auch zwei Sonderlazarette eingerichtet: Nr. 2020 und Nr. 1501, die den Weitertransport der deutschen Kriegsgefan­ genen in die UdSSR gewährleisteten. Im April wurde Auschwitz, das an die Bahnstrecken mit westeuropäischer und sowjetischer Spurweite angeschlossen war, zu einem Umschlagplatz, an dem die Kriegsgefangenen vor der Verschickung in den Osten gesammelt wurden. Auch Treibstoff-, Sach- und Ausrüstungslager befanden sich in der Nähe. Zuletzt wurden in die teils erhaltenen, teils wiederaufgebauten Baracken von Auschwitz-Birkenau mit deren Rest­ kapazität von immer noch bis zu 50.000 Mann im April/Mai 1945 zwei weitere Lager verlegt: das ebenfalls zur Aufnahme und zum Transit Kriegsgefangener 419 Hinweis von Walkowitsch. 420 Eines der Korpsmitglieder war der Medizinstudent Andrzej Zaorski, der an den Krematorien die Flasche mit dem Brief von Herman Strasfogel fand. Vgl. die auf den Namen Zaorskis ausgestellte Bescheinigung vom 21.2.1945, dass er vom 6. bis 20. Februar freiwillig in der Kompanie 14884 (Kompaniechef: Major Wejnikow) tätig war und nach Abschluss der Tätigkeit nach Krakau abfuhr (APMA-B. D-RO XXIV. Fotokopie der Bescheinigung. Mikrofilm-Nr. 1358/114). 421 Abkürzung von „Smert Schpionam“: „Tod den Spionen“, militärischer Abschirmdienst der Roten Armee. 422 Vgl. den Bericht des Majors der Staatssicherheit Motschalow, Leiter der Abteilung des NKWD für die Angelegenheiten Kriegsgefangener beim Leiter des rückwärtigen Armeegebiets der 4. Ukrainischen Front, an den Generalleutnant Kriwenko, Leiter des GUPWI, vom 2.  April 1945 über den Zustand des Frontnetzwerks zur Aufnahme Kriegsgefangener vom März 1945 (RGWA. Bt.  425p. Fb. 1. Nr. 9. Bl. 84–86).

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Briefe aus der Hölle

bestimmte Frontlager Nr. 27 aus Bad Podiebrad (Poděbrady) und die Sammeltransitstelle Nr.  5 aus Olmütz423. Im Mai änderte sich die Nummer eines Lagers – aus der Nr. 22 wurde die Nr. 87 –, als Standort wurde Auschwitz aber auch im Juni beibehalten424. In Betrieb waren diese Lager offenbar den ganzen Sommer 1945 hindurch: Wer für den Weitertransport in die UdSSR und die körperliche Arbeit in den sowjetischen Lagern ungeeignet war425, saß in Auschwitz fest. Im Herbst 1945 wurde das „Deutschen“-Lager nach Jaworzno verlegt. Ende 1945 wurde beschlossen, das Territorium des ehemaligen Konzentrationslagers an Polen zurückzugeben und ein staatliches Museum in Auschwitz und Birkenau einzurichten. Im April 1946 wurde vom Ministerium für Kultur und Kunst (MKiS) dessen Gründer und erster Direktor ernannt: Dr. Tadeusz Wąsowicz, ehemaliger Häftling in Auschwitz und Buchenwald. Die Eröffnung des Museums fand am 14. Juni 1947 statt, dem siebten Jahrestag der Ankunft des ersten Transports mit polnischen Häftlingen im Stammlager Auschwitz426. Man soll aber bitte nicht glauben, die Mitarbeiter des Museums hätten sich gleich nach der Eröffnung an die tatkräftige und zielgerichtete Spurensuche an den Krematorien gemacht. Seine ersten archäologischen Versuche unternahm das Museum erst 15 Jahre später, Anfang der 1960er Jahre – und dies auch nur auf Druck des ehemaligen Häftlings Henryk Porębski. Diese Passivität war die direkte Folge der Erinnerungspolitik der Ostblockstaaten in der Nachkriegszeit. In der Lesart des Auschwitzer Museums sah das Gedenken an den Holocaust etwa so aus: „Verehrte Besucher, Sie befinden sich in einem der schrecklichsten Konzentrationslager, die während der Naziherrschaft existierten. Hier waren Abertausende polnische Patrioten inhaftiert. Wie allgemein 423 Vgl. den Bericht von Motschalow an Kriwenko vom 16. Juli 1945 über den Zustand des Frontnetzwerks zur Aufnahme Kriegsgefangener vom April bis Juni 1945 (RGWA. Bt.  425p. Fb.  1. Nr.  9. Bl. 184–192). 424 Vgl. den Bericht von Motschalow an den Leiter des GUPWI, Staatssicherheitskommissar Ratuschnyj, vom 10. Juni 1945. Die Kapazität des Lagers betrug 7.000 Menschen. Dessen Leiter war der Oberst des Versorgungsdienstes, Maslobojew (RGWA Bt. 425p. Fb. 1.Nr. 9. Bl. 193–204). 425 Vgl. den Bericht von Motschalow an Kriwenko vom 19. Juli 1945 über die Arbeit des Frontnetzwerks zur Aufnahme von Kriegsgefangenen der 4.  Ukrainischen Front in der ersten Jahreshälfte 1945: „Kriegsgefangene, die nach der Kapitulation des faschistischen Deutschlands eingeliefert wurden, sind es ihres körperlichen Zustands wegen nicht wert, 1000 Kilometer ins Hinterland der Sowjetunion gekarrt zu werden, weil deren Arbeitsverwendung keinerlei Wirkung erzielen kann. Es sind viele Greise, Halbstarke, Behinderte, chronisch Kranke“ (RGWA. Bt. 425p. Fb. 1. Nr. 9. Bl. 193–204). 426 Das offizielle Eröffnungsdatum ist der 2. Juli 1947 – der Tag, an dem das polnische Parlament das Gesetz über die Gründung des Staatlichen Museums in Auschwitz-Birkenau verabschiedete.

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bekannt ist, haben wir, die Polen, tapfer und heldenhaft gegen die SS gekämpft und dafür schwer gelitten … Wie bitte, die Juden? Ja, ja, Juden waren auch hier. Ja, es stimmt, eine Million oder mehr. Ja, ist richtig, auch mit ihnen ging man schlecht um. Ja, häufig. Aber die wichtigsten Opfer und die größten Helden – das sind doch wir, die Polen!“427 Infolgedessen sind von den mehreren Dutzend Verstecken, die die Mitglieder des Sonderkommandos in der Erde und Asche rund um die Krematorien angelegt hatten, nur acht entdeckt worden und in der Folge zum historischen Vermächtnis geworden.

Suche und Entdeckung jüdischer Manuskripte Die Entdeckungs-, Erforschungs-, Aufbewahrungs- und Publikationsgeschichte der von den ehemaligen Mitgliedern des Sonderkommandos in Birkenau erstellten Manuskripte ist überaus lehrreich. In komprimierter Form kommt sie in der folgenden Tabelle zum Ausdruck (siehe Tabelle 3). Genauere Angaben zu jedem dieser Funde sind in den jeweiligen Einzelbeschreibungen enthalten. Lejb Langfuß, Autor einer der wenigen Handschriften, die gefunden wurden, wandte sich an die Nachgeborenen: „Ich bitte, alle meine verschiedenen und im Laufe der Zeit vergrabenen Beschreibungen und Notizen mit der Unterschrift J.A.R.A. zu sammeln. Sie befinden sich in verschiedenen Schachteln und Gefäßen auf dem Terrain des Hofes von Krematorium III, und auch zwei größere Beschreibungen, die eine mit dem Titel „Aussiedlung“, die in einem Grab unter einem Knochenhaufen auf dem Terrain von Krematorium II liegt, und die Beschreibung mit dem Titel ‚Oswiecim‘, die zwischen den eingeebneten Knochen auf der Südwestseite desselben Hofes liegt. Später habe ich dieses abgeschrieben und ergänzt und habe es einzeln in der Asche des Terrains von Krematoriums III eingegraben. Ich bitte, alles zusammen zu ordnen und unter dem Titel ‚Inmitten des grauenvollen Verbrechens‘ zu veröffentlichen. […] Heute ist der 26. November 1944.“

427 Die höchst reservierte Haltung zum Andenken an die von den Nazis zu Tode gequälten Juden war nicht nur für Polen und andere Länder des Ostblocks typisch, sondern für das gesamte gesellschaftliche Denken im Nachkriegseuropa. Die Schweiz etwa hat schlicht und ergreifend ziemlich gut verdient an der jüdischen Katastrophe.

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Tabelle 3: Entdeckung und Aufbewahrungsort der Manuskripte der Sonderkommando-Mitglieder Text­ autor

Entdeckungs­datum Aufbewahrungsort und -ort des Originals

Aufbewahrungsort offizieller Kopien

1. HS

2/1945, Krema­ torium III

Memorial de la Shoah, Paris

2. SG2

2/1945 – 3/1945, Krematorium III

Familie Wolnerman Familie Wolnerman; (5 Blätter) Yad Vashem

3. SG1

5.3.1945, Krema­ torium III

WMM

Yad Vashem, ŻIH, APMA-B

4. LL1

Sommer 1952, Krematorium III

Yad Vashem

APMA-B

5. LL2

4/1945 und 10/1970, Krema­ torium III

APMA-B

Yad Vashem (?)

6. SL1

28.7.1961, Krema­ torium III

APMA-B

7. SL2

17.10.1962, Krema­ torium III

APMA-B

8. MN

24.10.1980, Krema­torium III

APMA-B

APMA-B (nur Transkript von 1948)

Abkürzungen: HS – Herman Strasfogel, SG – Salmen Gradowski, LL – Lejb Langfuß, Salmen Lewenthal, MN – Marcel Nadjari

Henryk Porębski – der für die gesamten elektrischen Anlagen der Krematorien zuständige Elektriker, der Vertraute und Verbindungsmann des Sonderkommandos, der den Kontakt zur Lagerwiderstandsbewegung aufgebaut hatte – gab an, die Mitglieder des Sonderkommandos hätten im Sommer 1944 damit angefangen, ihre Mitteilungen in der Erde zu vergraben, also ­seiner Version zufolge zu dem Zeitpunkt, als durch die erfolgreiche Flucht eines polnischen Untergrundrebellen eine verlässliche Schmuggelroute für die Kassiber eingebrochen war. Es scheint jedoch, dass Porębski den Fokus etwas verschoben hat: Zwar fingen die Juden mit dem Vergraben ihrer Zeugnisse in ihrem Hinterhof, dem an das Krematorium angrenzenden Gelände, in der Tat im Sommer 151

Leben und Tod in der Hölle

1944 an. Nur war die Ursache dafür eine andere: Die SoKo-Männer fühlten sich vom polnischen Untergrund verraten. Nachdem sie mit dem Leben des Kapos Kaminski (der auch noch das zentrale Verbindungsglied zwischen der Widerstandsgruppe im Sonderkommando und der Widerstandsbewegung im Stammlager Auschwitz gewesen war) und dem Umzug in den Bereich der Krematorien für den Verrat bezahlt hatten, beschlossen sie einfach, auf die derart enge Koordination mit dem Untergrund des Stammlagers zu verzichten. Ohnehin hätte sich die Verbindung, sofern denn überhaupt noch erwünscht, nach ihrem Umzug auf das Areal der Krematorien nicht ohne Weiteres aufrechterhalten lassen428. Porębski gab an, über 36 Geheimverstecke auf dem Gelände der Krematorien informiert gewesen zu sein. Er beschrieb auch die ausgetüftelte Versteckmethode der SoKos. Demnach wurde das in einer Trinkflasche, einer leeren Zyklon-B-Dose oder zumindest einem fest verschlossenen Suppenkessel versteckte Manuskript erst im Krematorium selbst oder in einem Brennholzstapel verborgen, der den Stacheldraht entlang aufgehäuft war. Schließlich wurden die Manuskripte in der Ecke zwischen der Gaskammer und dem Auskleideraum, die im rechten Winkel zueinander standen, vergraben. Dort gab es auch eine Vertiefung, die das Sonderkommando als Müllhalde nutzte. Zusätzlichen Schutz boten neben der Müllgrube Büsche und junge Kiefern: Ein kleines Erdloch wurde ausgehoben, die Dose mit dem Manuskript aus dem provisorischen Versteck herausgenommen, ins Erdloch eingelassen, sorgfältig mit Erde bedeckt, mit Wasser begossen und anschließend mit Abfällen bedeckt. Dass von den Gaskammern irgendwann nur noch ein Steinhaufen übrig bleiben würde, war nicht schwer vorzustellen. Deshalb wurden die Geheimverstecke mindestens einen Meter von den Mauern entfernt angelegt. Dies alles war laut Porębski die Aufgabe ein und desselben Häftlings: eines gewissen Davids aus Sosnowitz oder Lodz (höchstwahrscheinlich ein Stubendienst). Dreimal kam Porębski nach Auschwitz, um die unschätzbaren Handschriften auszugraben. Beim ersten Mal im August 1945 kam er zu spät, weil auf dem Gelände der Krematorien bereits die Kommandantur des Lagers für deutsche Kriegsgefangene die Befehlsgewalt hatte. Beim zweiten Mal 1947 war es das Museum, das ihm das Graben aus Furcht vor einer möglichen Flut an „Schwarz-Archäologen“ verbot. Beim dritten Mal Anfang 1961 wandte er sich 428 Allerdings zeigt der Schmuggel von Schießpulver und Granaten, dass die Juden – wenn sie nur dazu entschlossen waren – auch solche Aufgaben meistern konnten.

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an das Museum und erhielt aus Warschau und von der Museumsleitung grünes Licht. Es war also so weit: Am 26. Juli 1961 begannen die Ausgrabungen. Den Ort – eine Fläche von 80 Quadratmetern – legte Porębski fest. Schon am 28.  Juli wurden die Ausgrabungen mit einem durchgerosteten Suppen­ kessel der Wehrmacht belohnt, in dessen Innerem sich dicht gepackte, aneinanderklebende Papierblätter befanden: Notizen von Emanuel Heerszberg aus dem Ghetto von Lodz, kommentiert von Lewenthal. In der Erde nahe dem Kessel befanden sich Reste von Asche und unverbrannten Knochen. Möglicherweise hatte Lewenthal das Andenken an den Autor der Notizen durch die Beisetzung seiner mutmaßlichen Überreste geehrt429. Stanislaw Jankowski-Feinsilber verscharrte unweit des Krematoriums eine Fotokamera, eine Reste des Giftgases enthaltende Metalldose und Notizen auf Jiddisch samt Berechnungen der Opferzahlen von Auschwitz430. Ebenfalls auf dem Krematoriumsgelände vergrub der Franzose Leon eine große Box mit einem Tallit und einer Tefilla, die bei den Getöteten eingesammelt worden waren431. Yakov Gabai behauptete, er und einige andere griechische Juden hätten als symbolische Geste am Krematorium III einige Dosen mit vermeintlich persönlicher Asche ihrer Verwandten in die Erde eingegraben432. Von einer weiteren Botschaft – einer kollektiven – berichtet Miklós Nyiszli, offenbar deren wichtigster Initiator. Auf drei oder vier großformatigen Papierblättern sei vom Schreiber des Sonderkommandos in Krematorium  II alles beschrieben worden, was in den Krematorien von Birkenau vor sich ging. Auch wurden Schätzungen zu den Opferzahlen angegeben und die Namen der wichtigsten Henker genannt. Das vierte Blatt trug die Unterschriften der rund 200 Mitglieder des Sonderkommandos des Krematoriums II, wo auch Nyiszli untergebracht war. Diese Blätter wurden zusammengerollt in einen zylindrischen Blechbehälter eingeschweißt, der bald darauf auf dem Hof des Krematoriums  II vergraben wurde. (Diese nach dem Krieg nie mehr entdeckte Botschaft hatte eine überaus extravagante Dublette. Der SS-Oberscharführer Erich Mußfeldt hatte befohlen, ein Sofa anzufertigen und zu ihm nach 429 Siehe in der anonymen Präambel: Bergung der Dokumente, in: Briefe aus Litzmannstadt, 1967. S. 7–13. 430 Jankowski, 1996. S. 65. 431 Dov Paisikovic aus Bessarabien wusste davon und versuchte 1964 den Ort zu finden, doch die Suche blieb erfolglos. Vgl. YVA. TR17. JM.3498. 432 Greif, 1999. S. 201 f. Diese Aussage ruft jedoch große Zweifel hervor. Die Ofenbauer von der Firma Topf & Söhne sprachen ja nicht ohne Grund über die absolut fehlende Pietät im Umgang mit den Leichen. Denn in Birkenau gab es keine technische Möglichkeit, die Asche der einen Leiche von der Asche einer anderen zu trennen.

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Hause nach Mannheim zu verschicken. Die Männer des Sonderkommandos fertigten das Sofa an, verbargen aber zwischen den in Wolle und Watte gehüllten Stahlfedern einen ähnlichen Zylinder.)433 Bekanntlich führten die Mitglieder des Sonderkommandos selbstständig Buch über die ankommenden Transporte und gaben diese Informationen regelmäßig an den polnischen Untergrund im Stammlager weiter. Ein solches Dokument ist allem Anschein nach die Liste der Transporte, die von Lejb Langfuß aus diesem Grund auf Polnisch verfasst worden war und in den Papieren Salmen Lewenthals entdeckt wurde434. Das wohl Einzigartigste, was in die Freiheit geschleust werden konnte, sind die „Selbstporträts“: entsetzliche Fotos der Männer des Sonderkommandos vor dem Hintergrund der Leichen, die auf dem Boden liegen oder auf den Scheiterhaufen brennen. Insgesamt sind vier Fotos erhalten, die Ende Juli oder Anfang August 1944 durch die Tür der Gaskammer nahe dem Scheiterhaufen am Krematorium V435 und im Hof vor dem Gebäude geschossen wurden. Der Aufnahmewinkel der Aufnahmen lässt vermuten, dass die Fotos aus kniender Position oder auf Bauchhöhe gemacht wurden. Das Erstaunlichste überhaupt ist aber, dass es den Männern des Sonderkommandos gelang, auch noch ihren Arbeitsplatz abzulichten. Die SoKo-Mitglieder Lejb Pliszko und Avraham Berl Sokol gaben in ihrer Aussage vom 31. Mai 1946 an, die Bilder seien von Lejb Herszko Panicz aus Lomza aufgenommen worden, der in den Sachen der Getöteten eine funktionstüchtige Fotokamera gefunden habe436. Anderen in der Ausstellung des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau dokumentierten Angaben zufolge war ein Grieche namens Alekos (Errera?) Urheber dieser Fotos. Demnach wurde eigens für ihn über Auschwitz I ein Fotoapparat beschafft, der an Shlomo Dragon von Alter Feinsilber übergeben wurde. Dieser seinerseits hatte die Kamera von David Szmulewski bekom433 Nyiszli, 2005. S.  87  f. Natürlich lässt vieles an der Glaubwürdigkeit dieses Berichts zweifeln. Die Sammlung von 200 Unterschriften kam selbst am Vorabend der zu erwartenden Liquidierung der Alteingesessenen des Sonderkommandos einem Selbstmord gleich. Und warum erinnert sich niemand außer Nyiszli, nicht mal Olère, an dieses Großereignis? 434 Siehe S. 450. 435 APMA-B. Neg. Nr.  280–283. In den 1950er Jahren kamen die Negative abhanden, erhalten sind jedoch kleinformatige Abzüge, die auf konspirativem Weg gerettet worden waren. Veröffentlicht wurden bislang üblicherweise zwei Fotos, und zwar zwei bearbeitete: Darauf abgebildet sind Menschen und Rauch, ohne Rahmenperspektive; sehr viel seltener wird das dritte, fast nie das vierte Foto abgedruckt, auf dem keine Menschen, sondern nur Baumkronen zu sehen sind (siehe Stone, 2001. S. 131–148). 436 Nachdem Panicz am Tag des Aufstands einen SS-Mann erschossen habe, habe er Suizid verübt (ŻIH. 301/1868. Ebenso: YVA. M.11. Akte 224).

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men. Dragon schmuggelte die aufgeladene Kamera in das Krematorium und brachte sie samt belichtetem Film wieder zurück437. Unterdessen spricht Jarosz von einem gar fünfköpfigen Fototeam: Alekos, die Brüder Dragon, Feinsilber (Jankowski) und Szmulewski438, der auch der alleinige Fotograf gewesen sein soll439. Seine unmittelbare Beteiligung am Fotografieren ist dennoch unwahrscheinlich: Als stellvertretender Blockältester des Blocks 27 im Birkenauer Männerlager, Jude aus Kolo und ein mit der Kampfgruppe Auschwitz vernetztes Mitglied des Untergrunds spielte ­Szmulewski natürlich die exklusive Rolle eines V-Manns zwischen dem Sonderkommando und dem Männerlager, doch direkten Zugang zu den Krematorien kann er nicht gehabt haben. Letztlich ist es auch gar nicht so entscheidend, wer nun den Auslöser drückte, wer dabei Wache stand usw.: Die Organisation einer solchen „Beweisaufnahme“ konnte nur gemeinsam gelingen. Den Film ins Freie zu übermitteln, ist ein wesentlicher Bestandteil dieses Vorgangs. Gelungen war das dem polnischen Untergrund: Der begleitende Kassiber von Józef Cyrankiewicz und Stanisław Kłodziński nach Krakau an Teresa LasockaEstreicher vom 4. September 1944 datiert dieses Ereignis recht deutlich: „Dringend. Schicken Sie so schnell wie möglich zwei Metallfilmrollen für einen Apparat 6 x 9. Können Fotos machen. Wir schicken Aufnahmen aus Birkenau, die Gefangene auf dem Weg in die Gaskammer zeigen. Eine der Aufnahmen zeigt einen der Scheiterhaufen, auf dem man die Leichen unter freiem Himmel verbrennt, da das Krematorium zu klein ist, um sie alle dort zu verbrennen. Vor dem Scheiterhaufen Kadaver, die man hineinwerfen wird. Eine andere Aufnahme zeigt den Ort im Wald, wo die Häftlinge sich entkleiden, angeblich, um eine Dusche zu nehmen. Danach werden sie in die Gaskammer geschickt. Schicken Sie die Filmrollen so schnell wie möglich …“440

Außerdem erinnerte David Nencel an eine verscharrte Stahlkiste mit Fotos, die bei den ungarischen Juden gefunden worden waren. Zudem waren darin Aufzeichnungen über jeden ungarischen Transport und Briefe an Stalin, Roosevelt, Churchill und de Gaulle, in der jeweiligen Sprache verfasst, enthalten441. 437 438 439 440 441

Hinweis von Plosa (APMA-B). Jarosz, 1997. S. 336. Sabotschen, 1965. S. 117. Zit. nach: Didi-Huberman G. Bilder trotz allem. München 2007. S. 33. Friedler, Siebert, Kilian, 2008. S. 265 f.

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Pliszko und Sokol behaupteten, die Mitglieder des Sonderkommandos hätten ihre Manuskripte und Zeichnungen in Thermos- und Feldflaschen versteckt und auf dem Gelände aller Krematorien vergraben, insbesondere auf dem Territorium des Krematoriums III, circa 20 Meter in Richtung des Krankenbaulagers. Die Autoren dieser Dokumente seien  – neben Gradowski  – Josel Warszawski, ein Dajan aus Makow442, dessen Namen sie nicht nannten, sowie Leon der Franzose443 und David Olère gewesen, der Künstler aus Frankreich, der das abzubilden versuchte, was er gezwungenermaßen mitansehen musste444. Auch Yakov Gabai führte im Lager Tagebuch in der Hoffnung, selbst zu überleben und seine 500-seitigen Aufzeichnungen zu bewahren. Dies gelang nicht: Bei der Evakuierung des Lagers konnte Gabai das Tagebuch nicht mitnehmen. Das Tagebuch und die ganze Arbeit daran waren zunichte, doch betonte Gabai, dass allein schon das Notieren das Gedächtnis trainiert habe, weshalb er sich nicht nur an bestimmte Ereignisse, sondern auch an etliche Daten hervorragend erinnere445. Griechische Juden interessierten sich derweil offenbar mehr für die Fa­milien- denn für die Weltgeschichte, weshalb sie hauptsächlich an ihre Verwandten schrieben. Die Briefe verschlossen sie in Flaschen und vergruben diese 30 Zentimeter tief in der Asche. Wie sehr es auch erstaunen mag, doch ist einer dieser Briefe – von Marcel Nadjari – gefunden und sogar überliefert worden. Nadjari selbst ist der einzige Überlebende des Sonderkommandos, der schriftliche Zeugnisse hinterlassen hat. Letztlich wurden, dies sei nochmal angeführt, acht Verstecke mit neun Manuskripten der SoKo-Mitglieder entdeckt446. Als Erstes wurde vermutlich schon Mitte Februar 1945 eine Schrift in französischer Sprache gefunden, die von Herman Strasfogel stammte; als letztes Manuskript – im Oktober 1980 – wurde das griechische Marcel Nadjaris ausgegraben. Die anderen sechs Handschriften wurden auf Jiddisch geschrieben, mit Kleinstpassagen auf Polnisch, Französisch, Deutsch und Russisch. 35 Jahre trennen die ersten drei vom letzten Fund.

442 443 444 445 446

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Dabei handelt es sich zweifellos um Lejb Langfuß (siehe unten). Der Familienname wurde nicht überliefert. Lediglich David Olère überlebte. Greif, 1999. S. 205. Die jeweilige individuelle Entdeckungsgeschichte ist im zweiten Teil der vorliegenden Edition nachzulesen.

Briefe aus der Hölle

Die ersten drei wurden nahezu zeitgleich in den ersten Wochen nach der Befreiung von Auschwitz-Birkenau durch sowjetische Truppen zutage gefördert. Im Februar (vielleicht aber im März, wobei auch die letzten Tage des Januars nicht ausgeschlossen werden können) wurde Salmen Gradowskis „Im Herzen der Hölle“ ausgegraben. Am 5. März 1945 folgte die Feldflasche mit zwei weiteren seiner Manuskripte. In den Jahren 1952 und 1970 wurden die Handschriften Lejb Langfuß‘ (wieder)entdeckt, dann am 28. Juli 1961 und am 17. Oktober 1962 eins nach dem anderen die Manuskripte Salmen Lewenthals. Der letzte Fund von 1980 war Marcel Nadjaris Schrift in griechischer Sprache. Wenn man über die Entdeckungsgeschichte der Manuskripte spricht, sollte man sich auch die Nichtentdeckungsgeschichte vergegenwärtigen. Von den neun erhaltenen Manuskripten wurden nur drei infolge einer zielgerichteten Suche staatlicher Stellen aufgespürt: das erste Manuskript Gradowskis im März 1945 (TschGK) und die beiden Manuskripte Lewenthals, entdeckt 1961 und 1962 im Rahmen von Suchgrabungen von Vertretern der Hauptkommission zur Untersuchung der Naziverbrechen in Polen und des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau, allerdings auf großen Druck ehemaliger Häftlinge, die beteuerten, sie wüssten, wo man graben müsse. Warum nur hatte das Museum nicht aus eigener Initiative gegraben? Im Boden ist es doch feucht und unter Feuchtigkeitseinfluss wird keine Dose oder Flasche unversehrter. Warum also wurde weder unmittelbar nach der Befreiung noch später die Initiative ergriffen? Polnische Anwohner gruben hingegen schon 1945 ziemlich fleißig. Und sie wurden fündig. Wonach sie suchten, war jedoch – daran sei erinnert – nicht die jüdische Geschichte, sondern das jüdische Gold im Umfeld der Krematorien. Fand man Schriften mit unverständlichen jüdischen Zeichen, warf man sie meistens weg, denn man war ja nicht motiviert, die Funde an ein noch nicht bestehendes Museum zu verkaufen. Nur ein junger Pole, dessen Name die Geschichte leider nicht überliefert hat, hielt die soeben entdeckte Handschrift Gradowskis einem sich gerade in der Nähe befindenden jüdischen Landsmann hin. Wolnerman feilschte nicht und kaufte das Manuskript. Bis vor Kurzem hörte man nichts darüber, dass an den Orten ehemaliger Todeslager dergleichen entdeckt worden sei wie in Auschwitz. Doch es stellt sich heraus, dass Notizen auf Jiddisch auch an anderen Orten, zumindest in Majdanek und Kulmhof, gefunden worden sind447. So wurde in Majdanek 1945 das sogenannte Maryla-Tagebuch entdeckt, das von den Ereignissen im 447 Hinweis von Galperin.

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Warschauer Ghetto berichtet. Auch einige Listen sowjetischer Bürger mit Nachnamen und Nummern haben Archäologen aufgefunden448. In Auschwitz-Birkenau wurden derweil ähnliche Verstecke aufgespürt wie die „Flaschenpost“ des Sonderkommandos. So versteckte der polnische Häftling Jan Kupiec (Nr. 790), Schreiber der Strafkompanie, kurz vor der Evakuierung am 18.  Januar 1945 hinter den Wandbrettern seiner Schreibstube das Buch der Strafkompanie (Registrierbuch) und einen Teil der Kartei dieses Häftlingskommandos sowie sein eigenes Tagebuch mit einer Chronik der Bestrafungen. Er überlebte die Evakuierung und schrieb nach der Heimrückkehr nach Auschwitz, wonach die ganzen Unterlagen gefunden wurden und im Archiv des künftigen Museums verwahrt werden konnten449. Ein weiteres Beispiel sind die Evidenzbücher mit den Namen inhaftierter „Zigeuner“, vergraben von Joachimowski, Pietrzyk und Porębski im Sommer 1944. Bald nach dem Krieg entdeckt, wurden sie erst 1993 veröffentlicht450. Das dritte Beispiel ist der „Skizzenblock von Auschwitz“, der 32 Zeichnungen eines unbekannten Autors (eines gewissen M. M.) enthält. Entdeckt wurde er 1947 vom Auschwitz-Überlebenden Józef Odi, der als Wachmann auf dem Gelände in Birkenau arbeitete. Angesichts dessen, dass eines der Bilder eines der Waldkrematorien zeigt, hätte der Maler durchaus auch ein Mitglied des Sonderkommandos gewesen sein können. Außerdem sind da noch die erkennungsdienstlichen Häftlingsfotografien (rund 39.000) und Bilder, die den Bau der Krematorien und Gaskammern dokumentieren. Auch sie wurden nach dem Krieg gefunden451. Und natürlich: Abertausende Kassiber, die vom polnischjüdischen Widerstand in die Freiheit übermittelt worden waren, darunter einige Mitteilungen des Sonderkommandos und sogar einige Fotos, die das Blut in den Adern gefrieren lassen.

Das Ungelesene lesen: das Auferstehen der Manuskripte mittels Multispektralaufnahmen Kassiber sind im Grunde auch die Manuskripte der SoKo-Männer. Jedoch sind sie nicht durch den Stacheldraht hindurch oder über die Lüfte zu uns gelangt, sondern über die Erde – eine mit Blut vollgesogene, verbrannte, feuchte Erde. 448 449 450 451

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Hinweis von Kuwalek. Vgl. Strzelecka, 2002. S. 325. Vgl. Świebocki, 1993. Vgl. Świebocki, 1993. S. 128–131.

Briefe aus der Hölle

Jede Schrift ist ein Schicksal für sich, ein individuelles und ein kollektives. Selbst physisch  – als materieller Träger dessen, was darauf geschrieben wurde – ist jedes Manuskript unverwechselbar und hat, was besonders wichtig ist, einen eigenen Ausdruck. Vieles unterscheidet sich: die Schutzmaßnahme gegen die Feuchtigkeit des Erdreichs, das Material, auf dem geschrieben wurde (Papierbogen oder Notizbuch), das Schreibgerät (verschiedenfarbige Füllfederhalter oder Bleistift), die Anordnung des Texts auf dem Papier (in der Regel sehr gedrängt mit zunehmender Verdichtung gegen das Seitenende – wobei es Ausnahmen gibt: die weitläufigen Zeilen Nadjaris) und die Eigentümlichkeiten der Handschriften452. Über den Versuch, das bisher Ungelesene in den Manuskripten der Männer des Sonderkommandos zu lesen, schreiben Chare und Williams: „In ihrer nicht ganz einfachen Entzifferbarkeit, ihrem Versprechen, lesbar zu sein, und ihrem Widerstand gegen das Aussprechen wird die Schrift zu etwas anderem. Der Blick auf Wortfetzen und der Versuch, die Buchstaben zu finden, die sie zu einem Sinn zusammen­fügen würden, oder zu unterscheiden zwischen dem, was aus menschlicher Absicht, und dem, was durch Schmutz und Feuchtigkeit entstanden ist, der den Weg der Feder zurückverfolgt, erzeugt ein unheimliches Gefühl.“453

Als eine nicht weniger schwierige und unüberwindbare Barriere, die das Durchsickern dieser Botschaften aus der Hölle bis zum Leser verzögerte, hat sich das menschliche Gedächtnis erwiesen, das im Verlauf der Zeit zum Antigedächtnis geworden ist, dessen einfrierende Kraft den für Menschen so natürlichen Wissensdrang und Erinnerungswillen wie Permafrost auf Jahrzehnte in Ketten legt. Und doch: Einst zufällig der Vernichtung entgangen, erreichen uns diese Kassiber allmählich allen Umständen zum Trotz. Moderne Techniken und technische Mittel nähren die Hoffnung auf signifikanten Zuwachs des zu Entziffernden. Deren fachkundige und sorgfältige Anwendung an den Manuskripten der SoKo-Männer würde es ermöglichen, erstmals jene Textstellen oder zumindest einen wesentlichen Teil davon zu lesen, die bislang keiner Decodierung zugänglich waren. Das Ungelesene in den Schriften der Mitglieder des Sonderkommandos von Auschwitz-Birkenau zu lesen, ist von einem enormen historisch-kultu452 Diesen Nuancen ist ein äußerst interessantes Werk von N. Chare und D. Williams gewidmet (Chare, Williams, 2016). 453 Chare, Williams, 2016. S. 39.

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Leben und Tod in der Hölle

rellen Interesse. Früher oder später werden die Hindernisse auf diesem Weg ausgeräumt, doch je mehr Zeit verstreicht, desto schwächer werden die relevanten Techniken wirken. Darüber sprach ich in einer meiner Radiosendungen über die „Briefe aus der Hölle“ und wurde durch glücklichen Zufall nicht einfach nur gehört – es hörte mich genau der Richtige: Nach der Vertiefung in dieses komplexe Problem mit all seinen Schwierigkeiten sprach mich ein junger Computerexperte aus der russischen Stadt Tula, Alexander Nikitjaew, an. Es ist ihm mit der damals verfügbaren Hardware gelungen, dieses außerordentlich schwierige Problem zu lösen. Ohne das Neugriechische zu beherrschen, hat er das wiederhergestellt, was einstmals mit bloßem Auge sichtbar war. Das Verfahren zeitigte eine erhebliche Verbesserung der Lesbarkeit des Manuskripts von Marcel Nadjari und führte zu dessen erneuter wissenschaftlichen Beachtung454. Von den zwölf ursprünglichen Scans konnten vier – jeder dritte also – überhaupt zum ersten Mal gelesen werden: eine Zunahme um 100 Prozent! Der Umfang des lesbaren Texts wuchs um das Dreifache, der Anteil des Entzifferten von zehn bis 15 auf 80 bis 90 Prozent des Gesamttexts. Durchaus wahrscheinlich ist, dass das fachkompetente Scannen der Originalseiten unter Hinzunahme einer Spezialtechnik diesen Anteil auf 95 Prozent steigern kann. Es wurde nicht nur möglich, den Text und den Inhalt eines der zentralen Dokumente des Holocaust (genau das sind die Texte der Mitglieder des Sonderkommandos) zu präzisieren. Möglich wurde auch der Versuch, das Gelesene mit Nadjaris zweitem Text von 1947 zu verknüpfen. Dadurch erhalten wir eine neue, weitaus tiefere Vorstellung von dem Autor selbst, so auch von dem Schicksal griechischer Juden während des Holocaust auf griechischem Boden (nur jeder siebte überlebte) sowie von deren Rolle im Leben und Tod des jüdischen Sonderkommandos in AuschwitzBirkenau. Nun ist nicht nur der Text bis zu uns durchgedrungen, auch die innere Komposition des Dokuments ist aufgeklärt worden. Das Dokument beginnt und endet mit dem Anliegen an den künftigen Finder, den Fund an die griechische Botschaft oder das griechische Konsulat zu übergeben, deshalb auch die auf Deutsch, Polnisch und Französisch verfassten Fragmente. Auf zwei 454 Für weitere Details siehe unseren Vortrag: Polian P., Nikitjaew A. Protschest‘ neprotschitannoe! Kak i tschto otkrylos‘ w rukopisi Marselja Nadschari, tschlena jewrejskoj sonderkommando is Auschwiza-Birkenau? / Lekzija premii „Proswetitel‘“ w Jewrejskom musee i Zentre tolerantnosti. 2016. 21. Juni. Im Internet: www.youtube.com/watch?v=xw30onmwJ_E.

160

Briefe aus der Hölle

Seiten schildert Nadjari das, was er in Griechenland erlebte (dem ist auch die Hälfte seines Werks von 1947 gewidmet). Alles Weitere ist der Bericht über das Sonderkommando in Birkenau.

Publikations- und Übersetzungsgeschichte der Texte des Sonderkommandos Die Publikationsgeschichte der „Schriftrollen aus der Asche“ von AuschwitzBirkenau enthält mindestens zwei greifbare Anfangsetappen. Die erste (nennen wir sie die polnische) erstreckte sich über zwei Jahrzehnte – von Mitte der 1950er bis Mitte der 1970er Jahre – und erfasste den Großteil der Texte der Sonderkommando-Mitglieder, die in Polen auf Jiddisch oder Polnisch und auch als Übersetzungen aus dem Polnischen in andere Sprachen erschienen. Die zweite Etappe (quasi die israelische) umfasste den Zeitraum von Mitte der 1970er bis Ende der 1980er Jahre, fügte den veröffentlichten Texten „Im Herzen der Hölle“ von Gradowski hinzu und ergänzte das in der ersten Etappe Veröffentlichte um eine Reihe wesentlicher Korrekturen. Zur zentralen Publikation dieser Etappe wurde das Buch Bernard Ber Marks über die „Schriftrollen von Auschwitz“, das ebenfalls in viele Sprachen übersetzt wurde. Die dritte Etappe, die zu Beginn der 1990er Jahre angefangen hat und bis heute andauert, ist eine im Grundsatz internationale – ohne jedwede führenden Länder oder zentralen Editionen. Was diese Etappe ausmacht, ist die Korrektur textologischer Defekte, die ganz zu Beginn der Publikationsgeschichte der Texte entstanden waren, zumindest in den russischsprachigen Ausgaben. Auch ist in der dritten Etappe der wissenschaftliche Apparat der Editionen anhand neuer Daten verstärkt worden, die vor allem von Gideon Greif und Andreas Kilian in den 1990er Jahren und im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts veröffentlicht wurden. Angefangen hat alles mit der Publikation des Manuskripts eines „unbekannten Autors“ im Jahr 1954 im „Bulletin des Jüdischen Historischen Instituts“. Dieser Autor wurde später von Bernard und Esther Mark als Lejb Langfuß identifiziert. Die allerersten Editionen wurden in der Regel in polnischer Sprache veröffentlicht. Die Texte Salmen Gradowskis bildeten eine Ausnahme: Die ersten wurden 1969 auf Polnisch gedruckt („Brief aus der Hölle“ und „Der Weg zur Hölle“, gekürzt) und dann 1977 in Israel auf Jiddisch („Im Herzen der Hölle“ sowie „Brief aus der Hölle“ und „Der Weg zur Hölle“). 161

Leben und Tod in der Hölle

Bemerkenswert ist, dass die ersten Übersetzungen deutlich älter als die Erstausgaben sind: Dies sind Übersetzungen von Salmen Gradowski in die russische Sprache, angefertigt von Gordon im Jahr 1945, von Karp 1948  (?) und Minewitsch 1962. Die Sonderausgabe der „Hefte von Auschwitz“, bestehend aus den Manuskripten der Mitglieder des Sonderkommandos in polnischer Übersetzung, war deren erste Zusammenstellung (1971). Bedauerlicherweise wurden die Fehler der Übersetzung der Manuskripte (beispielsweise von Gradowski) dabei nicht korrigiert. Danach folgten Sammelübersetzungen des Buches aus dem Polnischen ins Deutsche (1972) und Englische (1973). Leider hielten die von der Zensur aufgezwungenen Mängel der polnischen Publikation auch in diese übersetzten, in Polen aber immerhin veröffentlichten Schriften Einzug. 1975 folgte eine neue, etwas erweiterte455 Sammelausgabe in polnischer Sprache – 1996 erschien dieselbe in deutscher Sprache (die Attribution der Autorenschaft an Lejb Langfuß durch Bernard und Esther Mark blieb in beiden Fällen unberücksichtigt). Die Ausgabe von 1996 legte die Grundlage für eine ganze Reihe anderer Editionen, beispielsweise für die italienische im Jahr 1999456. Alle diese Editionen tragen in vollem Maß den Stempel der polnischen Zensur, besonders der 1950er und 1960er Jahre. Eine gründliche Revision der verschiedenen Varianten der polnischen Textversion ist noch nicht vorgenommen worden, doch schon der Abgleich des polnischen Korpus mit dem hier veröffentlichten russischen – dem unzensierten, aber vom Einfluss irdischer Feuchte betroffenen – hat die ideologischen Vorbehalte der Warschauer (und mittels dieser auch der Moskauer) Führung in aller Deutlichkeit offen­ gelegt. Und damit auch den Unterschied zwischen den Texten457. Ersichtlich werden zudem diejenigen Kunstgriffe, derer der Zensor sich bediente, um seiner Arbeit nach Möglichkeit den Charakter einer gefälligen oder zumindest einer wissenschaftlichen Gestalt zu verpassen. Der Holocaust an sich wurde im sowjetisch dominierten Polen nicht verschwiegen und nicht relativiert (darin bestand der Unterschied zwischen Polen und der UdSSR). Die Massenvernichtung der Juden hatte dort schließlich vor den Augen buchstäblich aller stattgefunden. Deshalb wurden die gegen die deutschen Henker gerichteten Verfluchungen nicht aus den Texten 455 Durch den Kommentar Salmen Lewenthals zum Manuskript aus Lodz. 456 Es ist amüsant, dass darin – im Unterschied zu ihrer „Quelle“ – das Wehrmedizinische Museum (WMM) als Fundort eines der Texte nicht mal erwähnt wird. 457 Ich danke Michal Czajka für die Hilfe.

162

Briefe aus der Hölle

Tabelle 4: Publikationen der in Birkenau gefundenen Manuskripte458

Sprache

Veröffentlichungsdaten der in Birkenau geschriebenen und gefundenen Texte SG1

SG2

SG3

SL1

Englisch

1973 1985 1992 2013 2015 2017

1989 2015 2017 2018

1973 1985 1992 2013 2015 2017

1973** 1985 1992** 2013**

Holländisch

2008 2008 2008 2010 2010 2010

SL2

LL1

LL2

H(CH)

MN

1973* 1985* 1992* 2013*

1973 1992 2013 2019

1991 2019

1991 1982 2018

Griechisch Hebräisch

1978 2012

2012

1978 2012

Jiddisch

1977

1977 2017

1962 1977

Spanisch

Italienisch

1999 2017

Deutsch

1978

1978

1977

1977

1954* 1977* 1973*

1997 1997 2008 2008 2008 2017 2017 2017

1997

1997

1997*

2002 2014 2017

1999**

1999

1972 1996 2017 2019

1999 2017 2018 2019

1999 2017

1972 1996 2017 2018 2019

1972** 1996** 2018**

1967 1996

1999

1958* 1999*

1999

1999

1973* 1996*

1962* 1972 1979* 1984 1988 1995 1996* 2014 2018

1972 1996 2018

1996 2017 2018

458 Übersicht erstellt von Pavel Polian und Andreas Kilian; ohne Berücksichtigung des Manuskripts von Levite.

163

Leben und Tod in der Hölle

Polnisch

1969 1971 1975 2017

1969 1971 1975 2017

1968** 1971** 1975**

1965 1975

1972* 1975*

1954* 1971* 1975*

1971 1975

Russisch

2005 2008 2008 2008 2009 2010 2010 2010 2011 2011 2011 2013 2013 2013 2015 2015 2015 2018 2018 2018

2012 2013 2015 2018

2013 2015 2018

2013 2015 2018

2012 2013 2015 2018

2012 2013 2015 2018

Französisch

1982 2001 2005 2006 2013 2017

1982 2001 1982 2002 2001 2005 2005 2006 2006 2009 2013 2013 2017 2017

1969 1982 2001 2005 2006

2001 2005 2006

1969* 2001 2005 2006

1948 1976 1979 1980 1982

Ungarisch

2017

2017

2017

2012 2013 2015 2018

2017

Abkürzungen: SG – Salmen Gradowski (1. „Der Weg zur Hölle“, 2. „Im Herzen der Hölle“, 3. „Brief aus der Hölle“); LL – Lejb Langfuß (1. „Die Vertreibung“, 2. „Erschüttert von der Gräueltat“); SL – Salmen Lewenthal (1. „Notizen“, 2. „Kommentar zur ‚Handschrift von Lodz‘; MN – Marcel Nadjari; H – Herman Strasfogel / CH – Chaim Herman Anmerkungen: * Publikationen, in denen Langfuß als „unbekannter Autor“ oder als „Lejb“ geführt wird; ** Publikationen, in denen Langfuß‘ Texte unter dem Namen ­Salmen Lewenthals erschienen

entfernt. Es wurde nur dort zur Schere gegriffen, wo die Alliiertenmächte, denen auch die UdSSR angehörte, oder die Polen als Ganzes zum Objekt derber Ausdrücke geworden waren. Solche Ausdrücke kommen nur bei zwei Autoren vor: Salmen Gradowski und Salmen Lewenthal – wobei Gradowski sie an beide Adressen richtet. So nahm die Zensur in der Erstausgabe – der Zeitungsedition – des winzigen „Briefs aus der Hölle“ von Gradowski zwei spürbare Auslassungen vor. Die erste: „Dieses Notizbuch lag wie andere auch in den Gruben und sog sich mit dem Blut manchmal unvollständig verbrannter Knochen und Fleisch­ stücke voll. Der Geruch ist sofort zu erkennen.“ Und die zweite: „Trotz der guten Nachrichten, die zu uns durchdringen, sehen wir, dass die Welt den Barbaren bei der Vernichtung und Ausmerzung der Reste

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Briefe aus der Hölle

des jüdischen Volkes freie Hand lässt. Es entsteht der Eindruck, als wären die Welt, die Alliiertenstaaten, die Sieger der Welt, indirekt zufrieden mit dem schrecklichen Schicksal unseres Volkes. Vor unseren Augen sterben gegenwärtig Zehntausende Juden aus Tschechien und der Slowakei. Die Juden hätten womöglich die Freiheit erleben können. Wo auch immer die Gefahr für die Barbaren naht, dass sie werden weichen müssen, dort nehmen sie die Reste der Übriggebliebenen und bringen sie nach Birkenau-Auschwitz oder nach Stutthof bei Danzig – nach Angaben von Menschen, die von dort bei uns ankommen.“

Es sieht ganz danach aus, dass den puristischen Zensor im ersten Fall der grobe Physiologismus des Ausdrucks verdutzte und im zweiten die Befürchtung, ob das denn nicht allzu beleidigend für die „Verbündeten“ sein würde, zu denen auch die Sowjetunion zählte. Beim Nachdruck dieses Textes in der Buchversion ist die erste Auslassung wiederhergestellt worden, während die zweite auf einen einzigen Satz beschränkt wurde, der hier in fetter Schrift markiert ist. Also waren der Zensor und seine Dienstherren fest davon überzeugt, der Originalsatz sei bereits – oder immer noch – zweifellos verletzend. Eine weitere politische Streichung ist um nichts in der Welt aufzufinden: Es gibt sie schlicht und einfach nicht. Der Leser, allen voran der polnische, wurde sorgfältig vor der Unannehmlichkeit bewahrt, sich in die folgende – und zu allem Überfluss auch noch gut erhaltene  – „Entbehrlichkeit“ rein­ lesen zu müssen: „Es gibt drei Aspekte, die dem Teufel seine Aufgabe – die triumphale Vernichtung unseres Volkes – erleichterten. Ein Aspekt ist allgemeiner, zwei sind persönlicher Natur. Die allgemeine Überlegung besteht darin, dass wir unter dem polnischen Volk lebten, die in der Mehrheit zoologische Antisemiten mit Leib und Seele waren. Sie freuten sich ja nur, als sie sahen, wie der Teufel, gerade erst in ihr Land einmarschiert, seine Grausamkeit gegen uns richtete. Mit geheucheltem Mitleid im Gesicht, aber mit Freude im Herzen, hörten sie die entsetzlichen herzzerreißenden Mitteilungen über immer neue Opfer: Hunderttausende Menschen, die der Feind auf grausamste Weise niedermetzelte. Vielleicht freuten sie sich darüber, dass das Piratenvolk gekommen war und für sie die Arbeit erledigte, derer sie selbst noch nicht fähig waren, weil es noch ein Körnchen menschlicher Moral in ihnen gab. Das Einzige, wovor sie sich definitiv und wohl nicht umsonst fürchteten, war die Überlegung, dass – ist der Kampf gegen die Juden erst einmal beendet, und ist das Ziel ihrer Grausamkeit und ihrer Barbarei verschwun-

165

Leben und Tod in der Hölle

den –, dass das Biest sich ein neues Opfer wird suchen müssen, um seine animalischen Instinkte zu befriedigen. Diese Angst war teilweise da, und der Ausdruck dieser Angst war überdeutlich. Eine immense Anzahl an Juden versuchte sich unter die polnische Dorf- oder Stadtbevölkerung zu mischen – doch antwortete man ihnen überall mit der gleichen entsetzlichen Rückweisung: nein. Überall trafen sie auf verschlossene Türen. Überall wuchs eine Eisenwand vor ihnen aus dem Boden: Sie, die Juden, blieben allein auf großem offenem Platz, und der Feind konnte sie leicht fassen. Du fragst, warum die Juden keinen Widerstand leisteten? Und weißt du, warum? Weil sie ihren Nachbarn nicht trauten, die sie bei der ersten Gelegenheit verraten hätten. Es gab einfach niemanden, der ernsthaft hätte helfen und in entscheidenden Momenten die Verantwortung für den Aufstand, für den Kampf auf sich nehmen können. Die Angst, dem Feind direkt in die Hände zu fallen, schwächte den Kampfgeist und raubte den Juden den Mut.“

Welchen Ausweg fand nun der polnische Zensor? Einen recht eleganten  – mittels einer Auslassung mit anschließendem Verweis: „Im ersten Teil des Manuskripts beschreibt der Autor die Umsiedlung aus dem Ghetto im Lager Kiełbasin und die panische Stimmung der Juden, die in Bahnwaggons geladen wurden, um in das KZ Auschwitz gebracht zu werden.“ Das war’s auch schon. Selbst das Auslassungszeichen ist eingefügt459. Wer soll denn etwas gegen einen zielgerichteten und konzentrierten Blick auf das Wesentliche haben – darauf nämlich, was mit den Juden unmittelbar in Auschwitz geschah? Im Hinblick auf Langfuß und Lewenthal, die am Anfang ihrer Texte ebenfalls das Leben in ihren Ghettos und die Gefühlslage beim Abtransport nach Auschwitz beschreiben, wurde freilich eine solche „Redaktion“ aus irgendeinem Grund nicht vorgenommen. Zwei Fragmente wurden bei Lewenthal durchzensiert  – beide „antipolnisch“. Das erste: „Voll […] selbst und […] besser sterben […] der […] Tod […] das ist riskieren […] so redet jeder, aber die Polen […] oder kann man […] für diejenigen draußen460, doch wir […] genug uns ausnutzen lassen […] Popularität […] aus der dunklen Hölle herauskommen und deshalb mit vollem Antisemitismus zurückzahlen, den wir auf Schritt und Tritt 459 Bei der Auslassung aus dem „Brief aus der Hölle“ fehlt das entsprechende Zeichen. 460 Gemeint ist das Stammlager Auschwitz I – als Gegensatz zum Sonderkommando.

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Briefe aus der Hölle

spürten. Da sind zum Beispiel viele Dutzend Menschen461, die mit ihnen gegangen sind und nur wollte keiner einen Juden mitnehmen! […] Zeit […] mit vielen Leuten […] dumme erdachte Ausreden […] aber wir, die Juden, gehen in den Tod, von uns von […] kein einziger von uns […]“

Und das zweite: „Die Geschichte von Oyshvits-Birkenau als eines Arbeitslagers im Allgemeinen und als eines Orts der Vernichtung von Millionen von Menschen im Besonderen wird, wie ich denke, der Welt nur unzureichend überliefert werden. Ein wenig durch zivile Personen und ich denke, dass die Welt jetzt schon von diesen Schrecken weiß. Die Ü ­ brigen, womöglich, wer von den Polen noch am Leben bleibt dank irgendeinem Zufall, oder von der Lagerelite, die die besten Placowkas einnehmen und die Verantwortlichen […] vielleicht durch sie, jedenfalls ist die Verantwortung nicht mehr so groß. Im Vergleich zum Vorgang der Vernichtung in Birkenau der Polen wie der Juden […] diejenigen, die sich bereits im Lager befanden […] sahen, wie sie alle planmäßig starben, Hunderttausende auf Befehl […] Ausführung […] von den eigenen Brüdern, Inhaftierten […] wurden bei der Arbeit von Kapos und Vorarbeitern gewarnt jetzt […] die […] leben […]“

Der Ausgangspunkt der israelischen Editionsetappe waren die Jahre 1977 und 1978. Damals erschienen nahezu gleichzeitig das Buch Salmen Gradowskis auf Jiddisch (vorbereitet von Wolnerman) und Bernard Marks „Schriftrollen von Auschwitz“ auf Jiddisch und Hebräisch. Diese Etappe löste eine ganze Übersetzungswelle aus, wobei die Übersetzung ins Hebräische im selben Jahr 1978 erschien; 1982 folgte die französische Ausgabe, 1985 die englische und 1997 die spanische. Besonders hervorheben möchten wir die Publikation der Notizen und der Erinnerungen Marcel Nadjaris in griechischer Sprache in den Jahren 1982 und 1991. Eine wichtige Rolle spielte auch die Neuauflage eines Sammelbands mit den Texten der Sonderkommando-Mitglieder in deutscher Sprache im Jahr 1996. Drei Jahre später, 1999, wurde diese Neuauflage aus dem Deutschen ins Italienische übertragen, wodurch ein weiterer Spross der Verbreitung jener Texte ausgeschlagen ist, die durch polnische Zensur in den 1960er Jahren verdorben worden waren.

461 Gemeint sind die Flüchtigen.

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Leben und Tod in der Hölle

Separat als Autorenwerke erschienen indes nur die Texte Gradowskis. Seit 1977 sind ganze acht solcher Bücher veröffentlicht worden: 1988 die Ausgabe seiner „Notizen“ auf Hebräisch, 2001 sein gesamtes Korpus in französischer, 2002 in italienischer, 2008 in niederländischer, 2010–11 in russischer und 2012 wieder in hebräischer Sprache. Der Übersetzer ins Hebräische – Avihai Zur – hat das gesamte Manuskript „Im Herzen der Hölle“ aus dem jiddischen Original übersetzt, wobei es sich gezeigt hat, dass in allen bisherigen Ausgaben – sowohl in der hebräischen von 1972 als auch in den russischen Ausgaben von 2013 und 2015 – ein Fragment ausgelassen worden war, nämlich das kleine Kapitel „Im Entkleidungsraum“462. Die russische Sprache ist die letzte gewesen, in die die Texte Gradowskis und anderer Mitglieder des Sonderkommandos übertragen wurden. Aber auch die erste, in die bewusst von Neuem und nach Möglichkeit aus den Originalen übersetzt wurde. Die ersten Veröffentlichungen Gradowskis in russischer Sprache (anfangs nur der „Brief an die Nachkommen“) fanden vom Januar bis März 2005 anlässlich des 50. Jahrestags der Befreiung von Auschwitz statt. Zuvor war keine einzige Zeile auf Russisch erschienen463 und auch der Name Gradowski war in der Zeit selbst den besten Spezialisten nahezu unbekannt geblieben. Allerdings wird Gradowski von Michail Sabotschen erwähnt, dem Autor der wohl ersten russischsprachigen Abhandlung über Auschwitz: „Der anti­ faschistische Untergrund von Auschwitz“, veröffentlicht im März 1965. Doch steht der Name Gradowski aus Sicht Sabotschens für einen der heldenhaft gestorbenen Anführer des Aufstands – statt für den Autor jener Notizen, die im Kontext seines Themas überaus maßgeblich waren und schon 1962 zur Veröffentlichung im brüderlichen Polen angekündigt wurden464. Die erste kritische und dementsprechend von Zensureinflüssen freie Ausgabe des Textkorpus Gradowskis in russischer Sprache erblickte 2008 das Licht der Welt – in drei Ausgaben (Juli bis September) der in Sankt Petersburg erscheinenden Zeitschrift „Swesda“ („Der Stern“). Das Buchdebüt Gradowskis in russischer Sprache war die im Mai 2010 erschienene Erstauflage seines Werks „Im Herzen der Hölle“, die jedoch nur einen Teil des vom Herausgeber 462 In der vorliegenden Ausgabe ist dies korrigiert worden. Chaim Wolnerman, der den Text abgeschrieben hatte, hielt das kleine Kapitel für den Abschluss des Gesamttexts: Der Text endet mitten auf der Seite und nach der letzten Zeile ist eine Linie gezogen, die eindeutig auf das Ende hinweist. 463 Die einzige Ausnahme ist das kleine Fragment über die Vernichtung des Familienlagers (Makarowa [u. a.], 2003. S. 220 f. 464 Sabotschen, 1965. S. 122.

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Briefe aus der Hölle

vorbereiteten wissenschaftlichen Apparats berücksichtigte. Zum 27.  Januar 2011 erschien die Zweitauflage dieser Edition, nun bereits mit dem Anmerkungsapparat versehen. In den Jahren 2012/13 erschienen in russischsprachigen Periodika die Texte anderer Mitglieder des Sonderkommandos, nämlich „Erschüttert von der Gräueltat“ und „Die Vertreibung“ von Lejb Langfuß in „Nowyj mir“ („Neue Welt“), in „Golokost i sutschastnist‘. Studii v Ukraini i switi“ („Holocaust und Gegenwart. Studien in der Ukraine und der Welt“) sowie in „Diletant“ („Der Dilettant“); außerdem wurden die Handschriften Salmen Lewenthals in „Ab Imperio“ veröffentlicht, Herman Strasfogels und Marcel Nadjaris Briefe in „Jewrejskoe slowo“ („Das jüdische Wort“) und schließlich Abraham Levithes Text in den „Moskowskie nowosti“ („Moskauer Nachrichten“)465. 2013 erschien im Feniks-Verlag in Rostow am Don im Rahmen der von mir mit Unterstützung des Russischen Jüdischen Kongresses gegründeten Publikationsreihe „Switki is pepla: dokumenty o Katastrofe“466 mein Buch „Switki is pepla: Jewrejskaja ‚sonderkommando‘ w Auschwize-Birkenau i ee letopiszy. Rukopisi, najdennyje w peple u petschej Oswenzima (S. Gra­dowskij, L. Langfus, L. Lewental, Ch. German, M. Nadaschari, A. Lewite)“467: die erste Gesamtausgabe der Texte der Mitglieder des Sonderkommandos in russischer Sprache. Die Edition erhielt ein Dutzend Rezensionen, ging in die Top 50 der Buchveröffentlichungen 2013 (laut „NG-Exlibris“468) und in die Endauswahl für den Wissenschaftspreis „Proswetitel“ („Der Aufklärer“) 2014 ein. 2015 erschien das Buch mit unwesentlichen Präzisierungen als Neuauflage unter dem Titel „Switki is pepla: Schertwy i palatschi Oswenzima“469 und 2019 erfolgt die 3. Auflage unter dem Titel „Zhisn’ I smert’ v Ausschwitzkom adu. Zentralnye dokumenty Holokosta“470. Darin werden, wie es in der vorliegenden Edition gleichfalls geschehen ist, zum ersten Mal in einer russischen Buchedition auch das kleine Fragment „Die Wiedervereinigung“, Teil von „Im Herzen der Hölle“ Gradowskis, und der vollständige Text von Marcel Nadjaris Brief berücksichtigt. 465 Vgl. Anhang 2. 466 „Schriften aus der Asche: Dokumente über die Katastrophe“. 467 „Schriften aus der Asche: Das jüdische ‚Sonderkommando‘ in Auschwitz-Birkenau und seine Chronisten. Handschriften, die in der Asche an den Öfen von Auschwitz entdeckt wurden (S. Gradowski, L. Langfuß, L. Lewenthal, Ch. Herman, M. Nadjari, A. Levite)“. 468 Die Literaturbeilage der russischen Zeitung „Nesawissimaja Gaseta“. 469 „Schriften aus der Asche: Die Opfer und Henker von Auschwitz“. 470 „Leben und Tod im Inferno von Auschwitz. Zentrale Dokumente des Holocaust.“

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Die Chronisten und ihre Texte

Salmen Gradowski: Im Herzen der Hölle Und auch am Ende war das Wort … Die Mauern brennen restlos aus, mit ihnen auch der kleine Judenrest Das Feuer wütet […] […] damit er, der da in der Loge glotzt Den letzten Akt von oben sehen kann. […] Jizchak Katzenelson, „Großer Gesang vom ausgerotteten jüdischen Volk“ Ich habe nie versucht, den als Holocaust bezeichneten Problemkreis als so etwas wie einen […] einmaligen Ausrutscher der Geschichte zu sehen, als ein in seiner Dimension alle früheren übersteigendes Pogrom […] Ich habe im Holocaust die Situation des Menschen erkannt, die Endstation des großen Abenteuers, an der der europäische Mensch nach zweitausend Jahren ethischer und moralischer Kultur angekommen ist. Imre Kertész, aus der Nobelpreisrede

1. Salmen Gradowski1 wurde zwischen 1908 und 1910 in der polnischen Stadt Suwałki/Suwalken, unweit von Bialystok, geboren. Sein Vater, Szmul Gradowski, Inhaber eines Bekleidungsgeschäfts in der Ludna-Straße, hatte eine sehr gute Stimme und diente in der Hauptsynagoge der Stadt als Kantor und Talmudlehrer. Salmens Mutter, Sara, war eine bescheidene, gastfreundliche Frau. Ihr Großvater, der Rabbiner Avraham Ever Yafeh, war ein Gaon, ein führender Talmudgelehrter, Autor des Buches „Machzeh Avraham“ („Abrahams 1 Gradowskis vollständiger Name war laut Rabbi Yehoash Zavoznitski der Doppelname Chaim-Salmen (Yizkor-book Suwalk, 1961. S. 369).

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Salmen Gradowski: Im Herzen der Hölle

Vision“). Ihr Vater, Jehuda Lejb, verfasste ebenfalls eine exegetische Schrift: „Even Levi“ („Stein des Herzens“)2. Alle drei Söhne  – Salmen, Abraham-Eber und Mosze  – besuchten die Jeschiwa von Lomza3. Die zwei älteren Brüder waren gemeinnützig tätig, als Vorsitzende von „Ruhm der Suwalken-Jugend“, einer lokalen Jugendorganisation. Salmen engagierte sich in einem Verein, der die jüdischen, in Suwalken stationierten Soldaten der polnischen Armee mit koscheren Speisen versorgte. Er erhielt eine speziell jüdische und eine Allgemeinbildung, beherrschte neben Polnisch und Jiddisch auch andere Sprachen – Deutsch und Russisch – und war mit europäischer Literatur vertraut, las viel, besonders auf Jiddisch4 und Polnisch5. Der „Lager“-Teil seiner Texte weist mehrere lexikalische und syntaktische Entlehnungen aus dem Deutschen auf 6. Eine Neigung zum Literarischen trat bei Gradowski deutlich zutage. Er zeichnete sich durch Willenskraft und Ehrgeiz aus, war stark und empfindsam zugleich. Kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs heiratete Gradowski SoniaSarah Apfelgold7, die Tochter eines Warenhändlers aus dem Städtchen Lunna bei Grodno, die er zufällig in Łosośna am Stadtrand von Grodno kennengelernt hatte. Auf dem Foto, das offensichtlich bald nach der Hochzeit aufgenommen wurde, haben beide (insbesondere Salmen) einen sanften Gesichtsausdruck, den nur junge Paare haben können, weil sie bislang weder das Glück noch den Kummer elterlichen Daseins kennengelernt haben, auf ihre neuen Pflichten jedoch völlig vorbereitet sind. Sonia sang gut und tief, ihre Bruststimme, die beim Gebet herrlich zur Geltung kam, war auch für das Singen von Schlafliedern gut geeignet. 2 Beide Bücher existierten in Wilna um 1900. Vgl. Yafeh A. Machzeh Avraham. Wilna 1900; Yofe J. Even Levi. Wilna 1900. 1962 wurden in New York Nachdrucke der beiden Bücher verlegt, die von Salmen Gradowskis Schwager vorbereitet worden waren. Vgl. http://www.hebrewbooks.org/14761, http://www.hebrewbooks.org/14760. 3 Freimark, ebenfalls aus Suwałki stammend, bezeichnet die drei Brüder (wohl nicht unverdienterweise) als Rabbiner (YVA. 03-2270). 4 In dessen weißrussisch-litauischem Dialekt (Polian A., 2011. S. 10). 5 Jehoshua Wygodski weist im Vorwort zur ersten, 1977 in Jerusalem erschienenen Ausgabe von „Im Herzen der Hölle“ auf die betonte Expressivität und stilistische Nähe zu den Werken des polnischen Journalisten und Publizisten Stefan Żeromski (1864–1925) hin. 6 Alexandra Polian bemerkte, dass „in Gradowskis Texten auch die besondere Wortverwendung erkennbar wird, die sich im Lagermilieu herausgebildet hatte. Wenn er über den Umgang der Lagerführung mit den Inhaftierten spricht, vermeidet er in Bezug auf die Inhaftierten das Wort ‚Mensch‘. Er bezeichnet sie nur als ‚Nummer‘ oder ‚Häftling‘. Eine Baracke kann ‚Baracke‘, ‚Block‘ oder ‚Keiver‘, ein Grab, heißen.“ (Polian A., 2011. S. 10 f.). 7 In manchen Quellen auch als polnische Entsprechung: Złotojabłko.

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Als der Krieg ausgebrochen war und Suwałki eine Okkupation durch die Wehrmacht drohte, war an Kinder nicht mehr zu denken. Das junge Ehepaar konnte sich glücklich schätzen, es zu Sonias Vater nach Lunna geschafft zu haben: Die Ortschaft, 40 Kilometer südöstlich von Grodno nicht im deutschen, sondern im sowjetischen Herrschaftsgebiet gelegen, verhieß Schutz. Lunna war ein erstaunlich malerisches, von Wäldern umgebenes Städtchen am Ufer der Memel. Es war mit der Ortschaft Wola fast zu einer Einheit verwachsen, weshalb die beiden Ortsnamen häufig als Synonyme verwendet und manchmal gar zu einem Toponym verbunden wurden: Lunna-Wola8. Berühmt war der Ort für seine Schuster und Schneider – und die häufigen Brände. Mit Ereignissen welthistorischen Maßstabs kann Lunnas Chronik nicht wirklich aufwarten: 1812 marschierte Napoleons Grande Armée durch das Städtchen gen Osten und im Bürgerkrieg ein Jahrhundert später wurde Leo Trotzki mit seinem Stab hier für kurze Zeit einquartiert. Vor dem Krieg zählte Lunna rund 2.500 Einwohner, die meisten  – 1671 Menschen in etwa 300 Familien – waren Juden. Familie Apfelgold zählte zu den wohlsituiertesten Bürgern des bescheidenen Städtchens: Gradowskis Schwiegervater, Schneider von Beruf, besaß ein Lebensmittel- und ein Schreibwarengeschäft. Gradowski arbeitete in Lunna als Büroangestellter, doch fühlte er sich zum literarischen Schaffen berufen, und da er eine Sehnsucht nach dem Gelobten Land verspürte, verfasste er erhabene Artikel über seine Liebe zu Zion. Sein Schwager Dawid Sfard9, Autor und Kommunist (übrigens der Einzige aus der Familie, der überlebte – durch Emigration nach Moskau10), erinnerte sich im

8 Das Wort „Lunna“ ist baltischen Ursprungs und bedeutet so viel wie „Schlick“ oder „sumpfige Senke“; im Polnischen wird es dekliniert. Derzeit leben rund 1.000 Menschen in dem Ort, unter ihnen kein einziger Jude. An die Juden erinnern nur Fragmente des Friedhofs, der in den 2000er Jahren von US-amerikanischen Freiwilligen saniert wurde, und eine Anfang 2006 aufgestellte Gedenktafel: „In ewiger Erinnerung an die 1.459 Einwohner der Ortschaft Lunna, die in den Jahren des Großen Vaterländischen Krieges unschuldig ermordet wurden“. Die Inschrift ist auch auf Jiddisch verfasst, sodass ohne Weiteres auf die jüdische Herkunft der Opfer geschlossen werden kann. Einen direkten Verweis darauf enthält der Text, wie zu alten Sowjetzeiten, dennoch nicht (vgl. Nowyj tschas. Minsk. 2007. Nr. 4; vgl. Marcus R. Es war einmal ein kleines Schtetl – dessen Name war Lunna. Tel Aviv 2005 [auf Hebräisch] sowie ihre Website: www.shtetlinks.jewishgen.org/lunna). 9 Dawid Sfard wurde 1903 oder 1905 in Wolhynien geboren. Nach der sowjetischen Annexion Ostpolens ging er nach Moskau, wo er in Kreisen tätig war, die der Komintern nahestanden. Nach dem Krieg kehrte er nach Polen zurück und emigrierte 1969 nach Israel, wo er mit Yad Vashem zusammenarbeitete. Er starb in Jerusalem 1981 (vgl. Nalewajko-Kulikov, 2006). 10 Außer denjenigen, die in Auschwitz ermordet wurden, starben in Gradowskis Familie auch: Zysel, die Frau von Sfard (zusammen mit Gradowskis Schwester Fejgele befand sie sich zu Kriegsbeginn im

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Nachhinein an den ideologischen Disput mit Gradowski und an dessen literarische Versuche, die er ihm zur Bewertung vorzulegen pflegte11. Palästina war Gradowskis lang gehegter Traum, er wollte mit seiner ganzen Familie dorthin emigrieren. Einer seiner Schwager, Wolf, hatte schon so gut wie zugestimmt, doch sein anderer Schwager, Sfard, zögerte und schob die Entscheidung hinaus. Ein Jahr gab er sich zum Überlegen. Niemand ahnte, dass dieses eine Jahr keinem von ihnen mehr blieb … Im September 1939 wurde Polen gleichzeitig von zwei Seiten, von seinen beiden Erzfeinden Deutschland und Russland, überfallen. Lunna lag östlich der Curzon-Linie und ging an die Sowjets. Eineinhalb Jahre lang „erzog“ die neue Macht die polnischen Eliten und die über eine Million neu hinzugewonnenen Juden gleich mit. An Salmen Gradowski und seiner Familie gingen diese Repressionen jedoch vorüber. Als er 32 oder 33 Jahre alt war, überfiel Deutschland die UdSSR. Die Grenze war so nah und die Deutschen rückten so rasch vor, dass von einer Evakuierung in den Osten keine Rede sein konnte. Obwohl alle diesen Krieg vorausgeahnt hatten, hatte doch niemand damit gerechnet, dass die Rote Armee Grodno so leichtfertig aufgeben würde. Still und kampflos betraten die deutschen Truppen die Stadt schon am 23. Juni, am zweiten Tag nach Kriegsbeginn12. Lunna-Wola wurde am 28. Juni13 okkupiert. Gleich am ersten Tag der Besatzung wurden hier einige Juden wegen Verdachts der Kontakte zum sowjetischen Geheimdienst erschossen. Anfang Juli wurde in Lunna ein Judenrat unter dem Vorsitz des ehemaligen Gemeindeältesten Jakob Welbel eingesetzt. Der Judenrat war per se nicht zum Schutz der Juden bestimmt, sondern als ein Instrument der Besatzer gegen sie gerichtet. Die Politik der Besatzer bestand darin, das Leben der Juden zu lenken: Die Deutschen waren an Arbeits­kräften, Abgaben, Kontributionen interessiert  – und erst im letzten Schritt

Ghetto von Otwock nahe Warschau; die beiden starben in Treblinka); Gradowskis Vater Szmul (am 20. Juni 1941 fuhr er nach Litauen, um seine beiden anderen Söhne, Abraham-Eber und Mosze, zu besuchen; er wurde in Wilna gefasst, das die Deutschen schon am 24. Juni einnahmen), seine Söhne wurden am 26. Juni in Schaulen (Šiauliai) ergriffen. Deren weiteres Schicksal ist unbekannt, wenn auch leicht vorzustellen. 11 Es sind keine Veröffentlichungen seiner literarischen Versuche bekannt. 12 Grodno wurde auf Anhieb vom 8. Korps der 9. Armee eingenommen. Die Einheit marschierte ohne Halt durch und weiter in den Osten. Das Gebiet wurde von der 403. Ersatz-(Sicherungs-)Division besetzt, befehligt von Wolfgang von Ditfurth. In der Stadt wurde die Kommandantur Nr. 815 eingerichtet (BA-MA. RH. 26–403). Am 30. Juni 1941 besuchten Heydrich und Himmler die Stadt. 13 Rosenblatt E., Jelenskaja I. Lunna, in: Cholokost na territorii SSSR, 2009. S. 543, geben den 25. Juni an. In der Literatur kursieren auch andere Daten: 24. und 28. Juni.

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an der Vernichtung der Juden. Auch Salmen Gradowski gehörte als Verantwortlicher für sanitärhygienische Maßnahmen dem Judenrat an14. Im November 1941 wurden alle Juden aus Lunna-Wola ins Ghetto getrieben, das sich in Wola befand15. Auffälliges passierte in dem Ghetto die ganze Zeit seiner Existenz hindurch nicht. Nur die Ermordung eines verrückt gewordenen Juden erwähnen die Augenzeugen – und den „Eimer-Dienst“: Als die örtliche Wasserversorgung zusammengebrochen war, wurden zahlreiche Juden verpflichtet, dreimal täglich Wasser aus der Memel heranzuschleppen. In der Bezirkshauptstadt Grodno gab es weitaus mehr Juden und weitaus mehr Probleme. Am 29. Juni kam in Grodno das Einsatzkommando Nr. 9 an und machte sich sogleich ans Werk. Schon am Tag nach seiner Ankunft wurde in der Stadt ein Judenrat unter dem Vorsitz des Direktors des jüdischen „Tarbut“-Gymnasiums, David Braver, zusammengestellt. David Klovsky16 schrieb, man habe gemunkelt, Braver und der deutsche Kommandant von Grodno seien alte Kumpel gewesen, hätten einst zusammen an einer deutschen Universität studiert, weshalb die Besatzungsmacht die Juden von Grodno die erste Zeit zumindest nicht „allzu sehr bedrängt“ habe17. Dieses „nicht allzu sehr bedrängt“ war sicherlich purer Galgenhumor: „Die Ausweglosigkeit, die Bereitschaft, jede Erniedrigung und Verletzung zu ertragen, das ist ein Leben ohne Selbstachtung. Nur auf der Fahrbahn gehen, nur zusammengekrümmt und nur mit den gelben Sternen, einer auf der Brust, der andere auf dem Rücken aufgenäht. Sie brannten sich durchs Hemd, sie brannten sich in die Haut, wie ein Brandmal, wie öffentlich zur Schau gestellte Zeichen […] der Schande.“18 Dem zwölfjährigen Klovsky kam es sogar vor, als ob er körperlich geschrumpft sei. 14 Vgl. Angaben von Eliezer Eisenschmidt: www.shtetlinks.jewishgen.org/lunna. 15 In dieses Ghetto wurden auch Juden aus der nahe gelegenen Ortschaft Wolpa verlegt, die unter den Bombenangriffen im Juni stark gelitten hatte (vgl. Berachowicz-Kosowska, 1948). 16 Klovsky, Daniil Dawidowitsch (1929, Grodno – 2004, Samara). Zusammen mit seinem Vater wurde er erst nach Stutthof, dann nach Auschwitz deportiert (Häftlingsnummer 171819), war in Buchenwald. Nach dem Krieg gelang es ihm, in das Leningrader Institut für Fernmelde- und Elektrotechnik aufgenommen zu werden. Prorektor des Lehrstuhls für die theoretischen Grundlagen der Funk- und Fernmeldetechnik am Institut für Fernmelde- und Elektrotechnik Kuibyschew (heute Powolschskaja Staatsakademie für Telekommunikation und Informatik), Ehrenwissenschaftler der Russischen Föderation, Professor. Sein Werk „Doroga is Grodno“, Samara 1994, ist 2003 ins Englische übersetzt worden („The road from Grodno“). 17 Ab September 1941 war Hauptmann Georg Stein Bürgermeister der Stadt Grodno. Der Kreiskommissar war Landrat Dietrich von Ploetz, Gestapo-Leiter war Obersturmführer der SS, Heinz Errelis, sein Stellvertreter war SS-Untersturmführer Erich Schott. 18 Klovsky, 1994. S. 26.

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Daheim, im Kreise der Familie war der letzte unberührte Ort, an dem ein Jude sich, wenn auch nur kurz, als Mensch fühlen konnte. Doch der Moment, sich vom vertrauten Heim verabschieden zu müssen, kam bald: Ende Oktober 1941 sonderten die Deutschen zwei Ghettos innerhalb Grodnos ab. Das erste, von Wachtürmen an den Ecken eingefasst, befand sich mitten im Stadtzentrum, eingeengt durch die Straßen Pereza, Wileńska, Najdusa und Zamkowa. Das zweite wurde zwischen der Skidelska-Straße und der Legionowa-Straße eingerichtet19. Vor dem Krieg lebten in Grodno insgesamt circa 30.000 Juden – kein Vergleich zu Bialystok, Lodz, Lublin, Wilna oder Warschau, aber dennoch keine geringe Zahl. Rund 20.000 Menschen waren im ersten, weitere 7.000–8.000 im zweiten Ghetto eingepfercht. Anfang Juli 1941 wurden die ersten 80 Juden – die angesehensten der Stadt – in Grodno erschossen20. Jeder Tag im Ghetto konnte für einen Juden der letzte sein: Auf Geheiß des Kommandanten, des Oberscharführers Kurt Wiese, wurden die Ghettobewohner wegen kleinster Vergehen gehängt oder erschossen. Es wurde berichtet, Wiese selbst habe Gefallen daran gefunden, seine Treffsicherheit an den beweglichen Zielscheiben mit den gelben Aufnähern auf der Brust zu trainieren21. Otto Strebelow und Karl Rinzler, die Kommandanten des zweiten Ghettos in Grodno respektive des dritten in Kiełbasin22, eiferten ihm in dieser Übung nach, wie später bekannt wurde. Die Front stürmte indes in den Osten und ließ Lunna und Grodno rasch hinter sich, sodass die beiden Städte schon ab dem 1. August der Zivilver­ waltung unterstanden, als Teil des Bezirks Bialystok unter der Führung des ostpreußischen Gauleiters Koch. Sie wurden also de facto ans Reich angeschlossen23. Diese verwaltungstechnischen Winkelzüge erwiesen sich für die „Bezirksjuden“ ein ganzes Jahr lang gewissermaßen als „Segen“: Während ostpolnische, weißrussische und ukrainische Juden größtenteils von den Einsatz-

19 Vgl. Klovsky, 1994. S. 30 f.; Abkowitsch, 2002. S. 10–22. 20 Piwowartschik S. Grodno, in: Cholokost na territorii SSSR, 2009. S. 241–247. Himmler und Heydrich, die die Stadt an den Tagen besuchten, werteten die Tätigkeit des Einsatzkommandos als unproduktiv und unverzeihlich lahm (Klein, 1997. S. 321). Die beiden müssen die Zahl der in Grodno hingerichteten Juden als Hohn aufgefasst haben, wurden doch etwa in Bialystok bei Himmlers Besuch am 9. Juli zwischen 1.200 und 3.000 jüdische Männer erschossen (Ogorreck, 1996. S. 122 f.). 21 Eines seiner letzten Opfer war Braver (anderen Angaben zufolge beging Braver Selbstmord). 22 Eine Flucht aus dem Ghetto war faktisch unmöglich, einige Fluchtversuche gab es dennoch. Wurden die Flüchtigen gefasst, endete ihre Flucht mit der öffentlichen Hinrichtung – Tod durch die Kugel oder den Strang. 23 Führer-Erlasse, 1997. S. 191–194 (Nr. 103, 106).

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gruppen des SD systematisch hingerichtet wurden, wurden sie auf die Ghettos verteilt und längere Zeit nahezu nicht angetastet24. Der Zugriff erfolgte im Spätherbst. Zwischen dem 2. November 1942 und Anfang März 1943 führten die Deutschen im gesamten Bezirk Bialystok die Aktion „Judenrein“ durch, eine von mehreren Säuberungsaktionen im besetzten Gebiet: Die jüdische Bevölkerung aus 116 Städten und Gemeinden dieses Bezirks wurde in fünf großen Transitlagern zusammengetrieben. Diese befanden sich in Bialystok (in den Kasernen des 10. Ulanenregiments der polnischen Armee), in Zambrów, Bogusze, Waukawysk und Kiełbasin25, einem Vorort von Grodno, keine halbe Autostunde auf der Bialystoker Chaussee entfernt26. Circa 100.000 Juden waren betroffen, 30.000–35.000 von ihnen wurden allein in Kiełbasin27 eingesperrt. Dieses Lager hat eine eigene Vorgeschichte. Vom 21. Juli bis November 1941 wurde hier ein riesiges (mit einer Fläche von circa 50 Hektar) Kriegsgefangenenlager gebaut und parallel zu den Bauarbeiten auch betrieben28. Den Kriegsgefangenen erging es anfangs schlechter als den Juden: Bis zu 36.000 Menschen wurden interniert, die Hälfte von ihnen starb unmittelbar vor Ort. Bis September 1942 wurde dieses durch Stacheldraht umzäunte Barackencamp als Dulag genutzt, als Transitlager ausschließlich für Kriegsgefangene. Anschließend wurde es kurzfristig umfunktioniert: Es wurden nun auch Zivilisten in die Baracken gepfercht, um sie wenig später zu Arbeitseinsätzen zu schicken. Wurden Partisanen, Juden oder Armeeangehörige aus der Einkesselung unter ihnen ausgemacht, wurden sie erschossen. Ab November 1942 diente das ehemalige Dulag als Transit-Ghetto für die Juden, die dort in der Tat nur auf kurzer Durchgangsstation waren. Wurden Baracken voll und standen Bahnwaggons zur Verfügung, wurden die Ghettobewohner systematisch nach Auschwitz verschickt. Die Deutschen und der Judenrat mit seinen Polizeikräften bezeichneten die Deportationen verhüllend als „Evakuierung“. Die Juden würden zu Arbeitseinsätzen nach Deutschland geschickt, hieß es. Der Lagerchef war Oberscharführer der SS, Karl Rinzler, ein 24 Wie relativ diese Aussage ist, lässt sich dem Artikel von E. Rosenblatt und I. Jelenskaja über den Bezirk Bialystok entnehmen (Cholokost na territorii SSSR, 2009. S. 68–70). 25 Ein anderer vorkommender Ortsname ist Lososno (benannt nach der nächstgelegenen Bahnstation Łosośna). 26 Durch einen Erlass des belarussischen Präsidenten vom 24. April 2008 wurden Kiełbasin und die Bahnstation Łosośna dem Stadtgebiet Grodno angeschlossen (www.news.tut.by/society/107808). 27 Rosenblatt E., Jelenskaja I. Okrug Belostok, in: Cholokost na territorii SSSR, 2009. S. 68–70. 28 Stalag 324.

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kräftiger, sportlich gebauter Mann. Wie bei vielen anderen SS-Offizieren in seiner Position üblich, gewann auch in Rinzlers Wesen allmählich der Sadist die Oberhand. Er verprügelte und tötete die Häftlinge eigenhändig – einfach so, ohne ersichtlichen Grund. Als Erste wurden die Juden aus den umliegenden Gemeinden  – Indura, Sapockin, Skidel und vielen, vielen anderen mehr – nach Kiełbasin gebracht29. Auch die Juden aus dem ferneren Lunna-Wola konnten diesem Schicksal nicht entkommen. 1.549 Juden wurden von dort nach Kiełbasin deportiert, unter ihnen Salmen Gradowski mit allen seinen Familienmitgliedern30. Die Baracke, in der sie mit 300 weiteren Menschen untergebracht wurden, war eigentlich eine große Erdhütte, zur Hälfte in die Erde eingegraben. Die Fenster waren vernagelt, selbst tagsüber war es in der Baracke stockdüster. Enge, Schmutz, Gestank – dazu Kälte und Feuchte, die einem in die Glieder krochen: Heizung oder Strom gab es nicht. „Wie viele Menschen sind vor uns hier gewesen“, fragte sich wohl jeder, der sich dort wiederfand. „Und wo sind sie alle hin?“ Die Versorgung war in Kiełbasin nicht besser: Die einzige Wasserquelle – ein Brunnen mit Schwengelpumpe – befand sich außerhalb des Lagers und ging fast täglich kaputt. Das Wasser war zum Trinken ohnehin ungeeignet. Die Ernährung: eine Ration von 170 Gramm Brot und einem Paar Kartoffeln pro Person, alle zwei Tage eine dünne Brotsuppe. Krankheiten verbreiteten sich rasch. Menschen wurden zu Dystrophikern, waren nur noch Haut und Knochen. Für die Typhuskranken wurde ein Krankenbau eingerichtet (darin war Dr. Jakub Gordon tätig, dessen Name uns in dieser Ausgabe noch begegnen wird). Der Friedhof wurde durch eine riesige, offene Grube ersetzt, in die die Leichen, ein wenig mit Kalk bestreut, hineingeworfen wurden. Gut möglich, dass Gradowski in Kiełbasin ebenso wie in Lunna beim Sanitätsdienst tätig war31. An diesem deprimierenden Ort verbrachten er und seine Familie circa einen Monat. Ein- oder zweimal die Woche fuhren 29 Vgl. Lagerja sowetskich wojennoplennych w Belarusi, 2004. S.  123, mit Verweisen auf GARF. Bt. R-7021. Fb. 86. Nr. 34. Bl. 15–17; Nr. 39. Bl. 2–6; Nationalarchiv der Republik Belarus Bt. 845. Fb. 1. Nr. 6. Bl. 48–49, 54–55; Staatsarchiv der Oblast Grodno Bt. 1029. Fb. 1. Nr. 75. Bl. 2–33. 30 Vgl. Silwanowitsch S., Silwanowitsch I. Holokost w istorii Lunno: Lunnenskaja srednjaja schkola im. Geroja Sowetskogo Sojusa I. Scheremeta 2008. S. 8 (Manuskript). Laut dem Zeugnis von Mordechai Zirjulnizkij wurden am selben Tag auch Juden aus Ostrin nach Kiełbasin getrieben (Zirjulnizkij, 1993. S. 452 f.). 31 Vgl. Zeugnis von Eisenschmidt (Greif, 1999. S. 236).

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an der Bahnstation Łosośna – dort, wo er seine Frau kennengelernt hatte – die Züge mit den „Evakuierten“ ab. Die Zielorte der Transporte wurden vorsorglich nicht genannt, ganz besonders Treblinka nicht, welches den Juden als Massenmordlager bekannt war. Auschwitz war damals weniger namhaft. Als am 5. Dezember32 – am dritten Tag der Chanukka – eine weitere „Evakuierung“ angekündigt wurde, stimmte Gradowskis Frau, eine hervorragende Sängerin, plötzlich die Maos Zur an, einen dem Fest entsprechenden Gesang, der zu Standhaftigkeit und unerschütterlicher Hoffnung aufruft33. Die Wachen reihten die Juden in Kolonnen à fünf Personen auf und eskortierten sie hinter das Tor von Kiełbasin. In Łosośna wurden sie in einen Zug, der sie bereits erwartete, verladen, die Wachen kehrten nach Kiełbasin zurück, wo schon die nächste Kolonne bereitstand34. Am 19. Dezember wurde das Lager geschlossen. Zu dem Zeitpunkt hielten sich dort nur die Juden aus Grodno auf: rund 2.000 Menschen, die gerade mal für einen Transport gereicht hätten. Die meisten zählten zu den „nützlichen Juden“  – Vertreter von Berufsgruppen, die in der lokalen Wirtschaft gebraucht wurden, sowie deren Familienmitglieder. Für Kranke und Schwache wurden sogar Fuhrwerke bereitgestellt35. Der Transport mit Gradowski und seiner Familie fuhr via Bialystok in Richtung Warschau – nur nach links, in Richtung Treblinka, bog er nicht ab. Treblinka war allen ein Begriff, alle hatten Angst davor. Dass der Zug nicht nach Treblinka fuhr, war für die Juden aber freilich kein Grund zur Freude: Der Zug passierte Kattowitz und kam am 8. Dezember 1942 in Auschwitz an. Dort wurden sie bereits erwartet. Auf der Rampe wurde selektiert: 769 Schwache und Arbeitsunfähige – Frauen, Greise und Kinder bis 14 Jahre – bildeten zwei lange Reihen auf der linken Seite (Frauen mit Mädchen gesondert von den älteren und schwachen Männern mit Jungen); 231 Menschen – kräftige, gesunde Männer – bildeten eine weitere, kürzere Reihe auf der rechten Seite36. 32 Mordechai Zirjulnizkij wurde zusammen mit den anderen Juden aus Ostrin, die am selben Tag wie Gradowski in Kiełbasin angekommen waren, in den vorhergehenden Transport verladen, der am 2. Dezember in Łosośna abfuhr. 33 Vgl. Zeugnis von Eisenschmidt (Greif, 1999. S. 238). 34 Seit Ende November, Anfang Dezember wurden auch Juden aus Grodno hierhin gebracht. Am Tag vor der Abfahrt nach Kiełbasin wurde die Gruppe selektierter Juden normalerweise in der Synagoge versammelt, wo sie bis zum nächsten Morgen festgehalten wurden. Die beiden städtischen Ghettos wurden  – in dem Maß, in dem sie sich leerten und allmählich verfielen  – liquidiert: Das zweite zuerst (im November 1942), anschließend das erste (in den Monaten Januar–März 1943). 35 Dies bezeugt außer Klovsky auch Jakub Gordon, der diese Kolonne als Arzt begleitete (siehe unten). 36 Den Männern wurden die Häftlingsnummern 80764 bis 80994 zugewiesen (Czech, 1989. S. 354). Laut Eisenschmidt überstanden 315 Menschen die Selektion, allesamt Männer einschließlich seines Vaters

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Wer sich in der linken Reihe befand, wurde ohne viel Aufsehen auf LkwPritschen gepfercht, die mit Planen bedeckt waren. Nach nur einer Viertelstunde kamen sie an einem fast schon idyllischen Ort an, der äußerlich an einen polnischen Bauernhof erinnerte und an einen Birkenhain angrenzte. Nach dem Entladen wurde allen befohlen, sich zu entkleiden, wonach sie in einen „Duschraum“ hineingelassen wurden, der in einem umgebauten Bauernhaus eingerichtet worden war. Und dann … dann können wir nur mutmaßen, was sie in diesem letzten Augenblick gedacht und gefühlt haben. Ja, die Türen des „Duschraums“ sahen etwas sonderbar aus, seltsam dick. Drin war es sehr eng und alle schauten verwundert nach Duschköpfen, die nicht vorhanden waren. Stattdessen fiel ein grünliches Granulat auf sie herab, von Unsichtbaren mit Gasmasken von oben liegenden seitlichen Luken in den „Duschraum“ hineingeworfen. Da blieben den Menschen in der Gaskammer nur wenige, aber sehr qualvolle Minuten zum Leben. Auf diese Weise starben 796 Juden aus dem Kiełbasiner Transport … Unter ihnen: Mutter, Frau, zwei Schwestern, Schwiegervater und Schwager von Salmen Gradowski.

2. Nunmehr war nur ein Angehöriger der Familie am Leben: Salmen Gradowski, einer der Männer aus der rechten Reihe auf der Rampe.37 Stark und gesund, wie er war, war er für das Reich vorerst lebendig von Nutzen. Die ganze Männerreihe wurde im Fußmarsch nach Birkenau, in das noch im Ausbau befindliche neue Lager, das nur wenige Kilometer vom Stamm­

und eines seiner Brüder (Greif, 1999. S. 240). Auffällig ist, dass Jakub Gordon (er erhielt bei der Registrierung die Häftlingsnummer 92627) über vier statt über drei Selektionsreihen beim „Empfang“ jenes Transports berichtete, mit dem er selber am 22. Januar 1943 in Auschwitz angekommen war: Die arbeitsfähigen Männer und die arbeitsfähigen Frauen, die die Selektion überstanden hatten, wurden in zwei Reihen voneinander getrennt aufgestellt (siehe seine Aussage vom 17.5.1945: APMA-B. HößProzess. H. 1a. Bl. 158–176). 37 Laut Eisenschmidt wurden außer Gradowski und ihm weitere Männer aus Lunna dem Sonderkommando zugeteilt: Nissan Lewin, Kalman Furman, Salmen Rochkin und Berl Becker. Die Beziehungen in der Baracke gründeten jedoch nicht auf dem Grundsatz der Landsmannschaft. Abends fanden lange Dreiergespräche statt, mit Schlomo de-Geller, dem hellhaarigen Rechtsanwalt aus Waukawysk, und Lejb Langfuß, dem schmächtigen und langen Maggid aus Makow, der sogar versuchte, die jüdischen Speisegesetze einzuhalten. Zum Pessach-Fest 1944 buken sie Matze, nachdem sie in der Küche von sowjetischen Kriegsgefangenen Mehl aufgetrieben hatten (Greif, 1999. S. 274–278).

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lager erbaut worden war, eskortiert. Hier erwarteten sie einige „Formalitäten“: erst die Registrierung im Block 22 (dafür mussten sich die Ausselektierten in alphabetischer Reihenfolge aufstellen), dann im sogenannten Bad die Zuweisung und Eintätowierung einer Nummer am Unterarm38, anschließend das Abscheren der Haare, eine (echte) Dusche sowie Kleidungs- und Schuhwechsel. Darauf folgte schließlich die Unterbringung im kalten Block 9. Am späten Abend des nächsten Tages erfolgte eine weitere Selektion. Es handelte sich dabei, wie sich später herausstellen sollte, um die Auswahl für das Sonderkommando. Insgesamt wurden etwa 400–450 Personen dem neuen Sonderkommando zugeteilt, 80–100 Mann aus der Gruppe der Neuankömmlinge. Sie alle wurden in Block 239 untergebracht, zusammen mit den übrig gebliebenen, altgedienten Mitgliedern des Sonderkommandos. Am ­frühen Morgen des 10. Dezember  – ohne die Einhaltung der dreiwöchigen Quarantänefrist – wurden die Neulinge von SS-Wachleuten mit Hunden zur Arbeit eskortiert40. Ohne Gradowski und seine Kollegen um Zustimmung gefragt zu haben, erwies die Lagerleitung ihnen somit das Vertrauen, ins neu zusammengestellte Sonderkommando aufgenommen zu werden. Wie bestürzt müssen die Männer gewesen sein, als sie des schrecklichen Wesens ihrer neuen Tätigkeit 38 Laut Eisenschmidt fand die Registrierung in Block 20 statt, der ein Quarantäneblock war. Als Erste wurden sowjetische Kriegsgefangene im Herbst 1941 zu Identifikationszwecken tätowiert: Die Nummern wurden auf der rechten Brust eingestanzt. Seit April 1942 wurde dieses Verfahren auch bei nichtjüdischen Häftlingen und jüdischen Männern angewandt. Auch sind Fälle bekannt, dass die Häftlingsnummern am Hals eintätowiert wurden. Ab 1943 wurden alle zu registrierenden Häftlinge tätowiert, außer den Deutschen (Nichtjuden): Die Nummern (und bei den Juden und Zigeunern auch die Buchstaben A, B oder Z aus ihren Nummernserien) wurden am linken Unterarm eintätowiert. 39 Gemeint sind die Blöcke 9 und 2 des Lagerabschnitts B I b in Birkenau. Es sei angemerkt, dass der Weg der Geschwister Dragon innerhalb des Lagers ein anderer war. Sie waren zwei Tage vor Gradowski in Birkenau angekommen und gerieten erst in den Block 14 des Lagers B I b. Dort fand eine zweite Selektion statt, und anschließend wurden die Geschwister in denselben Block 2 verlegt, in dem auch Gradowski untergebracht wurde. Die Verlegung des Sonderkommandos in die Blöcke 11 und 13 des Bauabschnitts B II d erfolgte später. 40 Dabei wurden sie praktisch von Beginn an in zwei offenbar ungleiche Gruppen aufgeteilt: Das Sonderkommando-1 und das Sonderkommando-2, je nachdem, in welchem der beiden sogenannten Bunker – 1 oder 2 – sie von nun an arbeiten sollten. Die erste Gruppe, der auch Eisenschmidt zugeteilt wurde, bestand aus 130–150 Mann. Zusammen mit vier Juden aus Makow und einem weiteren gehörte er der Sechsergruppe der Schlepper an, deren Aufgabe es war, die Leichen auf eine Lore zu laden und an die Grube zu karren, wo sie verbrannt werden sollten. Sechs Loren gab es insgesamt, jede fasste 10 bis 15 Leichen. Die schrecklichste Aufgabe an diesem Fließband – mit einer aufgesetzten Gasmaske die Leichen aus der Gaskammer heraus- und an die Loren heranzuschleppen – fiel einer anderen Sechsergruppe zu (Greif, 1999. S. 240–245).

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und ihres Einsatzbereichs gewahr wurden. Besonders schwer lastete auf jedem von ihnen die persönliche Handlangerrolle, die dem Einzelnen in der Maschinerie der Judenermordung zugewiesen wurde  – eine zwar aufgezwungene, doch eine angenommene, nicht ausgeschlagene Rolle. Diese Qualen – der Horror der Ermordung und die Last der persönlichen Beteiligung daran41 –zehrten an Gradowski unablässig. Das Bewusstsein des eigenen Kleinmuts42 verstärkte diese Leiden, die zum moralischen Rückgrat seiner weiteren Existenz und seiner Berichte wurden. Offenbar zählte Gradowski zu den Ersten, die später als Kollaborateure betrachtet und mitunter gar bezeichnet wurden. Doch war er wohl auch einer der Ersten, die die Worte fanden, um dieses verstörende Problem zur Sprache zu bringen. Dem sind die eindringlichsten Zeilen seiner Texte gewidmet. Vom Handlangerdienst im Sonderkommando besudelt erwog Gradowski den Freitod, erwies sich dessen jedoch als unfähig. Doch träumte er auch davon, dass ein Aufstand und der damit verbundene Blutzoll ihn und alle anderen von allen Sünden reinwaschen würden43. Es gibt Zeugnisse, dass Gradowski (wie wahrscheinlich viele andere auch) jedes Mal, nachdem die Arbeit erledigt war und die Männer in ihre Baracken zurückgekehrt waren, gedanklich ein Kaddisch für das Seelenheil der Verstorbenen betete. Ließen es die Umstände zu, holte er den versteckten Tallit hervor, wickelte sich darin ein, legte die Tefillin an und las das Kaddisch nunmehr gemäß Brauch und Sitte. Auch in den Folgemonaten, als eine ebenso unvermeidliche wie überlebensnotwendige Kruste aus grausamer Banalität und Routine das Herz und den Verstand jedes der SoKo-Mitglieder bereits unter sich begraben hatte, blieben Sentimentalität und Sensibilität Wesenszüge seines Charakters. Dies bezeugt auch Gradowskis jüngerer Landsmann aus Suwałki, der damals 18-jährige Jakub Freimark. Im Frühjahr 1962, als in der „Folks-Sztyme“ die ersten Zeilen der Aufzeichnungen Gradowskis erschienen waren, meldete sich Freimark aus Israel und beschrieb ausführlich ihr erstes Treffen44.

41 42 43 44

Siehe weiter oben in dieser Ausgabe. Vgl. Gradowskis „Abschied“. Dies bezeugen Freimark (Mark B., 1985. S. 157) und Eibschitz (YVA. M99/944). YVA. 03-2270. Mein besonderer Dank gilt I. Rabin, die dieses mit dem Mai 1962 datierte Dokument gefunden und ins Russische übersetzt hat. Im ŻIH-Archiv ist nur eine Spur dieses Briefwechsels erhalten, nämlich der Eintrag im Verzeichnis ausgehender Korrespondenz über die Antwort von Bernard Mark vom 12. Juni 1962.

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Freimark wurde im September 1942 nach Auschwitz gebracht, jedoch nicht als übliches KZ-Opfer, nicht als Jude, sondern als einer, der das geachtete deutsche Recht gebrochen hatte  – kurzum als Sträfling. Sein Verbrechen bestand darin, seine wahre jüdische Identität verheimlicht zu haben, hatte er doch die Dreistigkeit besessen, sich für Januk Stanisław Godlewski, einen Polen, auszugeben. Der aufgeflogene Schwindel und seine letzten Endes festgestellte Herkunft wogen jedoch weniger schwer als die Tatsache, vom deutschen Gerichts- und Strafvollzugswesen behandelt worden zu sein: Eine Gaskammer drohte ihm, dem deutschen Strafgefangenen, nicht. Dafür stand ihm die Politische Abteilung mit ihrem berüchtigten Block 11 offen. Dort verbrachte er seine ersten sechs Wochen in Auschwitz. Der Schreiber Ajger45 wies ihm die Nummer 87215 zu. Von Sympathie ergriffen registrierte er ihn mit der Berufsangabe „Beruf Schlosser“. Untergebracht wurde Freimark im 13. Block des Bauabschnitts B I in Birkenau, wo ein echter Dreckskerl von einem französischen Juden waltete (nicht Szawinski). Er wurde dem Latrinendienst zugeteilt und musste die Urinkübel im gesamten Männerlager ausleeren. Im Folgenden ein Ausschnitt aus Freimarks 125-seitigen Bericht in jiddischer Sprache: „Eines Tages, als wir von der Arbeit zurückkehrten, blieb unser Kommando vor dem 2. Block stehen, in dem im alten Männerlager die Mitglieder des Sonderkommandos wohnten. Ich sah eine Gruppe von Menschen in Zivil, mit roten Aufnähern auf den Hosen und Hemden. Sie sahen uns, wir sahen sie an: ‚Schmeißt uns was zu.‘ Da sehe ich, dass sie Brot zu uns rüberwerfen. Einer kommt auf mich zu und fragt: ‚Wo kommst du her?‘ – ‚Aus Suwalken‘, sagte ich. – ‚Unter uns ist auch einer aus Suwalken: Salmen Gradowski.‘ Der Name war mir ein Begriff, er gehörte einer frommen Familie an. Sie unterhielten ein Bekleidungsgeschäft. Es waren drei Brüder, alle Rabbiner. Kurz vor dem Krieg hatte Salmen geheiratet und zog in ein Schtetl unweit von Grodno. Hier treffe ich also Gradowski, beim Ausleeren der Pisskübel im Klo. Ein Mann kam auf mich zu. Er roch nach verbranntem Fleisch. Er sah gut aus, war beleibt. Er fragte, wer ich sei. Ich antwortete: ‚Jakub Freimark, aus der Straße so und so.‘ – ‚Was denn, der Sohn von Beinesch?‘ – ‚Ja‘, antwortete ich.

45 Dieser Name wird uns in dieser Ausgabe noch häufig begleiten.

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Er fing an zu weinen, fragte mich über das Schicksal der Eltern aus. Ich erklärte, dass ich gar nichts weiß, weil ich ganz am Anfang weggelaufen war und mich unter den Gois versteckte. Der weinte immer noch. Dann sagte er, er treffe zum ersten Mal jemanden aus unserer Stadt. ‚Du wirst mir wie ein Bruder sein.‘ Er nahm Konserven und Brot aus der Tasche und sagte mir, ich solle es auf der Stelle aufessen. Er sagte, wenn sie im Block bei mir Essen fänden, nähmen sie es mir weg und brächten mich um. Ich versuchte, alles schnell aufzuessen, aber ich konnte noch nicht so gut kauen, weil meine Zähne nach dem Bunker immer noch wackelten. Er sagte: ‚Jetzt brauchst du keine Angst zu haben, ich werde mich um dich kümmern, wie um meinen eigenen Bruder. Du musst wissen, dass wir für die Juden alles tun, was wir können. Unglücklicherweise sind wir ins Sonderkommando geraten, aber wir wollen diejenigen retten, die noch am Leben sind. Auch für fremde Juden tue ich alles, was ich kann.‘ Bald darauf wurde Gradowski ins neue Männerlager überführt, das in Birkenau gebaut worden war. Mit mir ging es bergab: Hunger, Kälte und Schmerzen nahmen zu. Bald aber fand Gradowski einen Weg, sich mit mir in Verbindung zu setzen. Mehrere Menschen brachten mir Essen. Einmal sogar seins, Gradowskis, Kapo Kaminski – er rettete Tausenden Menschen das Leben. Leider blieben nicht alle Geretteten am Leben, ab er half in den allerschwierigsten Momenten. Der Rabbiner aus Minsk46 wurde im Sonderkommando im Entkleidungsraum eingesetzt. Einmal sah Gradowski ihn mit einem Gebetsblatt und sagte zu ihm: ‚Rabbi, Ihr Leben ist in Gefahr. Wenn man Sie erwischt, wird man Sie töten.‘ Der Rabbiner antwortete, sein Leben sei die ganze Zeit in Gefahr, doch möchte er zu Lebzeiten noch einmal das heilige Licht des Wortes erblicken: ‚Habe keine Angst, mein Kind. Gott lässt uns nicht allein.‘ Gradowski erzählte, der Rabbiner sei nicht ermordet worden. Kaminski brachte dem Oberkapo Ludwig47, dem mörderischsten aller Mörder, bestes Essen und allerlei Geschenke. Gradowski erzählte auch: ‚Wir konnten noch einen jungen Mann aus Makow retten. Er war schon für die Selektion eingetragen. Sein Cousin

46 Höchstwahrscheinlich handelt es sich um Lejb Langfuß aus Makow. 47 Der deutsche Oberkapo August Brück verstarb am 27. Dezember 1943, da er aber durchweg positiv beschrieben wurde, kann er nicht gemeint sein. Vermutlich wird der im April 1944 zugewiesene Oberkapo Karl Töpfer beschrieben.

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arbeitet mit mir zusammen. Einmal war das lateinische L an seiner Nummer geschrieben worden. Das bedeutete Lejb48. Es ist uns gelungen, in die Kartei in der Schreibstube einzudringen, das L bis zur Unkenntlichkeit zu verändern und einen Toten an dessen Platz im Transport unterzuschieben. So konnte er gerettet werden. Am Jom Kippur des Jahres 43 ging er aber mit der großen Selektion. Da lachte sein Bruder nicht mehr.‘49 Einmal gelang es mir, in das andere Lager, in Gradowskis Block hineinzuschleichen. Ich sah, dass Juden mit Tallit und Tefillin an den Boxen stehen und beten. ‚Wie ist das möglich?‘, fragte ich. Er sagte: ‚Die SS sieht es und greift nicht ein. Sie wissen, dass wir nicht lange zu leben haben. Deshalb gibt man uns reichlich zu essen und zu trinken, man lässt zu, dass wir beten. Sie wissen, dass wir nicht länger als sechs Monate zu leben haben. Woher der Tallit und die Tefillin kommen? Das befindet sich in den Sachen, die die Juden mit in die Kammer nehmen – das Letzte und Wertvollste, das ihnen bleibt.‘ Er erzählte noch viel mehr und gab mir dabei die ganze Zeit etwas zu essen. ‚Iss nur, iss, stärke deine Kräfte. Und ich sage dir noch was: Glaube an Gott. Bete, so gut und so oft du kannst.‘ Das rührte meine Seele. Seitdem bin ich gläubig geworden und konnte viele andere dazu bringen.“

Einmal hatte Freimark die Gelegenheit, das Sonderkommando bei der Arbeit zu beobachten. Sie schleppten die Leichen aus den Vergasungsbunkern zu den lodernden Gruben  – sprachen, lachten, rauchten dabei. Noch lange danach konnte er die „Gleichgültigkeit“ der SoKo-Männer nicht fassen. Vom Latrinendienst wechselte Freimark ins Kanada-Kommando: Er bearbeitete die Sachen der Toten, wonach sie desinfiziert wurden. Bald darauf wurde Freimark zum Mitglied des Lagerwiderstands, wonach sein weiterer Weg innerhalb des Lagers zum großen Teil mit den Aufgaben der Untergrundzentrale verbunden war. So auch der Wechsel aus dem wohligen „Kanada“ in die Schneiderei, wo er zum Verbindungsglied einer Kurierkette wurde, die sogar bis nach Krakau reichte. Dort in der Schneiderei wurde auch der Funkempfänger versteckt, der einmal pro Tag eingeschaltet wurde. Als das Gerät schließlich entdeckt wurde, wurden der Kapo Ryschek und viele andere hingerichtet, wonach buchstäblich Funkstille herrschte. 48 Das lateinische „L“ an seiner Nummer könnte für „Leichenhalle“ oder „Liquidierung“ gestanden haben. 49 Sprich: Konnte nichts mehr unternehmen.

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Seinen halb so jungen Landsmann schützte Gradowski zwar, doch mit ihm über den Widerstand zu reden, hielt er offenbar nicht für erforderlich. Gradowski tat alles, um Freimark am Verlassen des privilegierten Kanada-Kommandos zu hindern: Im Lager sei es schrecklich, im „Kanada“ aber könne er überleben und anderen helfen. „Denk daran“, sagte er, „man kann von hier nicht fliehen. Aber man kann abwarten und überleben.“ Über sich selbst sagte er, er werde wie alle anderen bald den Abgang machen. Das war ihr vorletztes Treffen. Das letzte fand statt, als Freimark beim „Latrinendienst auf Rädern“ eingesetzt war. Mit seiner „Kot-Karre“ fuhr er auch an solche Orte wie die Krematorien: Nach vorheriger Absprache wurden von dort, in den Exkrementen versteckt, unter anderem Wertsachen ins Stammlager abtransportiert. Beim letzten Mal redete Gradowski auf seinen Landsmann ein, den Ort so schnell wie möglich wieder zu verlassen. Offenbar wusste er von der drohenden Gefahr, die er von seinem Wahlbruder abwenden wollte. Freimark zufolge teilte Gradowski mit dem Jüngling weder Informationen über den Aufstand und dessen Vorbereitung noch seine qualvollen Gedanken über den Aufgabenbereich des Sonderkommandos und seine eigene Rolle darin.

3. Was im Lager lief und wie, wussten die Mitglieder des Sonderkommandos sehr genau. Sie nährten keine Illusionen hinsichtlich ihrer eigenen Zukunft. Deshalb war es kein Zufall, dass ausgerechnet in ihrem Umfeld der Aufstand reifte und am 7. Oktober 1944 – dem fünften Tag des Sukkot-Festes – auch ausbrach. Es war ein in dieser Art nie dagewesener Aufstand, ein Aufruhr in Birkenau, dem wichtigsten Vernichtungslager, in dem Tag und Nacht die Öfen der Krematorien brannten. Der symbolische Wert des Aufstands ist erkennbar. Aber hatte die Revolte auch einen praktischen Zweck? Man könnte ja fragen, was diese zum Scheitern verurteilte Rebellion eigentlich sollte, war doch von Anfang an klar, dass alle Widerständler und ihre heimlichen Helfer ganz bestimmt getötet oder hingerichtet würden. Eine der Antworten auf diese Frage gibt Gradowski in seinen Aufzeichnungen. Es wollte nämlich nicht in seinen Kopf hinein, warum die Alliierten derart untätig waren. Warum kommen aus dem Süden, von den US-Flugplätzen 187

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in Italien50, oder erst recht vom Osten her (seit dem Juli 1944 stand die Rote Armee nur 270 Kilometer vor dem berühmten Torbogen51 mit dem berüchtigten Sinnspruch52), warum kommen keine amerikanischen oder sowjetischen Flugzeuge, um die Gaskammern und die Öfen, um dieses unermüdliche Fließband des Todes mit der offiziellen Tageskapazität von rund 4.700 Leichen zu zerbomben?53 Warum kommen die nicht? Es war, als hätte Gradowski den schnöden Briefwechsel John McCloys mit Ernest Frischer und Aryeh Leon Kubowitzki gelesen, als hätte er in die kalten und gleichgültigen Augen der Feinde seiner Feinde hineingeschaut und darin weder Verständnis noch Mitgefühl gefunden … Man kommt nicht umhin, Gradowskis präzise und feinsinnige Einschätzung der damaligen geopolitischen Lage zu bestaunen – eine angesichts dieser Umstände wirklich beeindruckende Einschätzung. Nicht minder präzise und begründet sind die Schlüsse, zu denen er nach Analyse der Sachlage gelangt: „Trotz der guten Nachrichten, die zu uns durchdringen, sehen wir, dass die Welt den Barbaren die Möglichkeit lässt, die Reste des jüdischen Volkes weitherzig zu entwurzeln und zu vernichten. Es entsteht der Eindruck, als wären die Welt, die Alliiertenstaaten, die Sieger der Welt, indirekt zufrieden mit dem schrecklichen Schicksal unseres Volkes.“ Den Mitgliedern des Sonderkommandos blieb also nur, sich auf sich selbst zu verlassen. Das taten sie auch. Sie horteten Waffen und Sprengstoff, und sie erhoben sich. Als Erstes setzten sie das Krematorium IV in Brand. Es hat danach nie wieder den Betrieb aufgenommen. An nur einem Krematorium aufgeflammt, griff der Aufstand auf ein weiteres – auf das Krematorium II – über. Einer der Anführer des Aufstands war Salmen Gradowski, der im rebellischen Krematorium II arbeitete und im ungleichen Kampf, bei einem Schusswechsel mit SS-Leuten, heldenhaft starb. Einige Augenzeugen benannten ihn als die zentrale Führungsfigur des Aufstands54.

50 Schon seit Dezember 1943 beheimatete der Flugplatz Foggia in Süditalien die U.S. Army Air Forces. Seit April 1944 wurden von dort aus Fernflüge nach Polen unternommen. 51 Im Polnischen „brama“ – wird auch zur Bezeichnung der Toreinfahrt eines KZs verwendet. 52 „Arbeit macht frei“. 53 Eisenschmidt berichtet, dass die Nachtschicht des Sonderkommandos, die das Feuer im Ofen aufrechterhalten musste, nachts die Öfen anheizte, damit die Flammen von Flugzeugen aus besser zu erkennen waren (vgl. Greif, 1999. S. 255). 54 Beispielsweise die Soko-Mitglieder Avraham Berl Sokol und Lemke Plischko (vgl. ihre Aussagen vom 31.5.1946: ŻIH, Aussage Nr. 301/1868, auf Jiddisch).

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Heldentaten vollbrachte Gradowski aber auch schon Monate vor dem Aufstand, als Chronist und als Verschwörer. Mehrere Monate lang führte er ein Tagebuch und andere Aufzeichnungen, in denen er detailliert die wichtigsten Vorgänge und Ereignisse jener Hölle dokumentierte, in der er sich befand. Shlomo Dragon, der Dauer-Stubendienst des Sonderkommando-Blocks, beschrieb Gradowski und dessen Chroniken so: „Salmen Gradowski aus Grodno führte eine Liste über die Menschen, die vergast und verbrannt wurden, und zwar nach den Berichten der Sonderkommando-Häftlinge, die in den einzelnen Gebäuden arbeiteten. Diese Aufzeichnungen vergrub er auf dem umzäunten Gelände neben Krematorium III. […] Gradowski hat den ganzen Vernichtungsvorgang beschrieben. Kaum jemand wusste, dass er diese Aufzeichnungen führte; nur ich als Stubendienstarbeiter wusste davon. Wir ermöglichten ihm die Abfassung der Listen, denn eigentlich erlaubten die Bedingungen so etwas nicht. Ich besorgte ihm ein Bett neben einem Fenster, damit er genügend Licht zum Schreiben hatte. Solche Möglichkeiten konnten nur durch den Stubendienst bereitet werden […]. Er sagte uns, man müsse der Welt ein Zeugnis über die Ereignisse im Lager hinterlassen. Als er die Aufzeichnungen begann, ahnten wir bereits, dass unsere Überlebenschancen gleich null waren. Immer wieder richteten die Deutschen Gruppen von Sonderkommando-Häftlingen hin. Wer wusste, ob jemand übrig bleiben würde, der etwas erzählen konnte. […] Er arbeitete mit uns und war an allen Sachen beteiligt. Ich möchte hinzufügen, dass mit ihm auch noch ein Jude arbeitete, den wir den ‚Richter‘ nannten. Dieser Mann stammte aus Makow Mazowieck [Lejb Langfuß – P.P.]. Beide schrieben zusammen und schliefen sogar auf der gleichen Pritsche. […] Soweit ich mich erinnere, schrieb er in Heften, die man ihm besorgt hatte. Er steckte die Hefte in Glasbehälter, die an Thermoskannen erinnerten, und verbarg sie an allen möglichen Orten. Er entwickelte dazu eine ganz besondere Methode.“55

Auch Eisenschmidt berichtet, dass Gradowski und der Maggid nachts ihre Tagebücher schrieben, die sie dann in Flaschen versteckten, mit Wachs versiegelten und vergruben56. Salmen Gradowski hat es nicht nur geschafft, alle Ereignisse und Vorgänge festzuhalten (was unter Lagerbedingungen an sich schon heldenhaft ist), es ist 55 Vgl. Greif, 1999. S. 167 f. 56 Vgl. Greif, 1999. S. 276–279.

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ihm auch gelungen, das Geschriebene für die Nachwelt zu erhalten und zu überliefern, indem er sogar voraussah, wo mit der Zeit am wahrscheinlichsten gesucht werden würde. „Ich habe das in einer Aschegrube vergraben, weil es der zuverlässigste Ort ist, an dem höchstwahrscheinlich Ausgrabungen stattfinden werden, um die Spuren von Millionen Ermordeter zu finden“, schrieb er im Notizbuch57. In diesen Worten steckt die Gewissheit, das Böse bezwingen zu können – eine innere Zuversicht, die allem trotzt. So konnte nur ein Mensch schreiben und handeln, der einen sehr weiten Horizont und dazu den unauslöschlichen Glauben an die Menschen hatte. Muss man den historischen Wert der Notizen Gradowskis noch erwähnen? Er übertrieb keineswegs, als er – in vier Sprachen gleichzeitig – schrieb: „Interessieren Sie sich […] diesem dokument, […] sehr wichtiges […] enthält“. Zusammen mit den Aufzeichnungen anderer Mitglieder des Sonderkommandos handelt es sich quasi um eine Vor-Ort-Reportage aus den Untiefen der Todesfabrik. Insofern ist das Dokument nichts weniger als das wichtigste schriftliche Zeugnis der Katastrophe. Dieses Schriftstück ist absolut ausreichend, um die erbärmlichen Debatten darüber zu beenden, ob es den Holocaust gab oder nicht58. Umso erstaun­ licher ist es, dass der Person und dem Werk Gradowskis in den zentralen Ausstellungen zur Shoah – ob in Jerusalem, Washington, Berlin oder Paris – nicht nur kein gebührender, sondern überhaupt kein Platz zukommt.

4. Wie viele Verstecke es insgesamt waren, die Gradowski im Auschwitzer Boden angelegt hatte, wissen wir nicht und werden es wohl auch nicht mehr erfahren. „Lieber Finder, suchen Sie überall“, appellierte Salmen Gradowski an die Nachwelt. Einer der ersten Finder seiner Manuskripte wusste genauestens, wo zu suchen war  – und er wurde fündig. Shlomo Dragon war es, ehemaliger 57 Es gibt Hinweise darauf, dass die Soko-Männer in der Asche auch religiöse Gegenstände versteckten, so auch die Thorarollen. 58 Diese Debatten werden in vielen Ländern an sich als verbrecherisch angesehen. Doch lassen die Holocaust-Leugner, die fast jede Aussage darüber ablehnen, die Zeugnisse Gradowskis und anderer Soko-Mitglieder faktisch außer Acht. Vgl. Polian P. Otrizanije i geopolitika Holokosta, in: Otrizanije otrizanija, 2008. S. 21–102.

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Auschwitz-Häftling und Gradowskis SoKo-Kamerad. Am 18. Januar 1945, bei der Massenevakuierung des KZs (dem Todesmarsch), war es ihm gelungen, zu überleben, indem er aus der Marschkolonne in der Gegend von Pless geflohen war. Ende Januar kehrte er ins nördliche Polen zurück, in seine Heimatstadt Żuromin 120 Kilometer nordwestlich von Warschau, und von dort aus in sein ehemaliges Konzentrationslager, wo er sich aufhielt, solange dort die Staatskommission TschGK tätig war. Am 5. März 1945 entdeckte er bei den Ausgrabungen das Versteck Gradowskis – just an dem Ort, den sein Kamerad vorausgeahnt hatte: in einer der Aschegruben am Krematorium III in Birkenau. Die Ausgrabungen wurden in Anwesenheit der TschGK-Vertreter, des Obersts59 Popow und des Strafermittlers Gerassimow, vorgenommen. Dem Oberst Popow übergab Dragon denn auch seinen Fund60: eine deutsche Feldflasche aus Aluminiumblech mit breiter Öffnung und Gummidichtung (im Polnischen „menażka“). Die Übergabe und die Sichtung der Flasche wurden protokolliert. Das Protokoll lautet: „Bei der Sichtung wurde festgestellt: Feldflasche aus Aluminium, mit breitem Hals, deutschen Typs, ­Länge 18 cm, Breite 10 cm. Durchmesser des Flaschenhalses 5 cm. Die Feldflasche ist mit einem Schraubverschluss aus Aluminium verschlossen, in dessen Innerem eine Gummidichtung vorhanden ist. An einer Seite weist die Feldflasche eine Delle und eine kleine Öffnung auf, durch die ein Papierbündel in der Feldflasche zu sehen ist. Bei der Öffnung der Feldflasche erwies es sich als unmöglich, den Inhalt durch den Flaschenhals zu entnehmen. Zum Zweck der Entnahme des Inhalts wurde die Feldflasche aufgeschnitten, der Inhalt entnommen. Bei der Sichtung des Inhalts wurde festgestellt: ein Notizbuch mit den Abmessungen 14,5 x 10 cm, in dem auf 81 Blättern Aufzeichnungen in jüdischer Sprache vorhanden sind. Ein Teil des Notizbuchs war feucht geworden. Dem Notizbuch ist ein Brief in jüdischer Sprache auf zwei Blättern beigelegt. Das Notizbuch und der Brief sind in zwei leere Papierblätter eingewickelt. Dies ist ins Protokoll aufgenommen worden.“61

59 Anderen Angaben zufolge ein Militärermittler, Hauptmann der Justiz. 60 Dies geht aus den Unterlagen des Höß-Verfahrens hervor. 61 Siehe das vom Militärermittler, Hauptmann der Justiz, A. Popow, und den Augenzeugen O. Mischt­ schenko sowie S. Steinberg unterzeichnete „Protokol osmotra aljuminiewoj schirokogorloj fljagi. 1945 goda, marta 5 dnja“ (GARF. Bt. R-7021. Fb. 108. Nr. 8. Bl. 171); das Original-Notizbuch besteht tatsächlich aus 82 Blättern (164 Seiten).

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Da ist sie also, die erste Botschaft von Salmen Gradowski! Sein Notizbuch mit dem beigefügten Brief, dicht eingerollt in die schmale Feldflasche mit breitem Hals, ein wenig beschädigt, höchstwahrscheinlich durch den Spaten von Shlomo Dragon. Der jiddische Text wurde laut Dragons Zeugnis vom ehemaligen Auschwitz-Häftling Dr. Jakub Gordon unverzüglich übersetzt62. Die rein medizinischen Aspekte der Naziverbrechen untersuchte innerhalb der TschGK Prof. Michail Awdeew, der in den Kriegsjahren ein gerichtsmedizinisches System beim Sowjetmilitär eingerichtet hatte, das er persönlich bis 1970 leitete63. Er sorgte dafür, dass die Feldflasche und das Manuskript in das Wehrmedizinische Museum des Verteidigungsministeriums der UdSSR gelangten64. Im Museum wurde der Fund unter vier Einzelsignaturen registriert: Nr.  21427 ist das soeben zitierte Protokoll der Sichtung der Alu-Flasche, Nr. 21428 ist die Feldflasche selbst, Nr. 21429 ist der Brief Salmen Gradowskis (das Manuskript und die Übersetzung ins Russische), Nr. 21430 ist das Notizbuch Gradowskis65. Die beiden letzten Nummern entsprechen den zwei unterschiedlichen Dokumenten, die sich in der Feldflasche befanden66. Ein paar Anmerkungen zum Notizbuch selbst: Es hat einen Umschlag aus schwarzem Buckram, die Abmessungen sind 148 x 108 x 10 mm, und es ist vollgeschrieben mit schwarzer und blauer Tinte. Von den ursprünglichen 90 Blatt sind 82 erhalten geblieben  – die anderen wurden ausgerissen, höchstwahrscheinlich von Gradowski selbst, damit das Notizbuch in die enge Feldflasche gepfercht werden konnte. Die meisten Blätter sind nur einseitig beschrieben; auf den Blättern 1 bis 39 steht der Text auf jeder Seite, von den Blättern 40 bis 73 wurde nur jede zweite Seite beschrieben, ab Blatt 74 bis Blatt 82 ist wieder jede Seite beschrieben. Einige der letzten Blätter (73 bis 79) wurden beidseitig ausgefüllt. Jede Seite zählt 20 bis 38 Zeilen. 62 Greif, 1999. S. 167. 63 Awdeew, Michail Iwanowitsch (1900–1977), der höchste Gerichtsmediziner der UdSSR, Leiter des Zentralen gerichtmedizinischen Laboratoriums der Zentralen gerichtsmedizinischen Leitung des Verteidigungsministeriums der UdSSR. Während des Zweiten Weltkriegs beteiligte er sich aktiv an der Arbeit der TschGK. 64 Mitgeteilt durch Walentin Petrowitsch Grizkewitsch, einen der ältesten wissenschaftlichen Mitarbeiter des Museums. 65 Außerdem wurden ohne Nummern drei Übersetzungsexemplare des Notizbuchs im Umfang von 16 Seiten registriert (das erste dieser Exemplare wurde nach Moskau verschickt) sowie drei Negativspulen und zwei Sammlungen je 92 Seiten mit den Abdrucken dieser Negative. 66 Diese Texte bilden den ersten („Der Weg zur Hölle“) und dritten Teil („Brief aus der Hölle“) dieser Ausgabe.

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Die Seiten, die erhalten sind und uns erreicht haben, haben unter der Aufbewahrung in feuchter Erde massiv gelitten, waren stark durchfeuchtet und sind stellenweise absolut unleserlich. Nach Einschätzung der Übersetzerin lassen sich nur rund 60 Prozent des Textes lesen, der Rest ist verschwommen. Die größte Schwierigkeit für die Entschlüsselung stellen die oberen Teile der Seiten dar (Zeilen 2 bis 17), die unterste Zeile und der linke Rand aller Blätter des Manuskripts. Vor dem Hintergrund dieses Zustands des Notizbuchs kann die Unversehrtheit des Briefes nur erstaunen. Höchstwahrscheinlich grub Gradowski, der – wie sein Text indirekt bezeugt – sich um die Dichtigkeit des Geheimverstecks mit dem Notizbuch sorgte, es wieder aus und bettete es in eine Flasche mit Gummidichtung um, in die er auch den eilends geschriebenen „Brief “ hineingelegt hatte67. Den Originalen waren die verfügbaren Übersetzungen beigelegt. Welch enorme historische oder auch nur expositorische Bedeutung haben doch diese Gegenstände und Texte Gradowskis! Trotzdem lagen sie fast 60 Jahre lang unter dicksten Staubschichten in Museumsregalen, ohne dass die Museumsleitung einen wenigstens zaghaften Versuch unternommen hätte, diesen Schatz der Welt zu offenbaren. Zum allerersten Mal in der UdSSR blitzte dieses Dokument 1980 auf, in einem von Grizkewitsch erstellten Katalog „Wospominanija i dnewniki w fondach museja“ („Erinnerungen und Tagebücher im Bestand des [Wehrmedizinischen] Museums“). Dies tat er nicht ohne Risiko in Eigenverantwortung, was ihm Hartnäckigkeit und in bestimmtem Maße sogar Tapferkeit abverlangte68. Doch die flüchtigen Zeilen der bibliografischen Beschreibungen sind nicht unbemerkt geblieben: Mitarbeiter der Zeitschrift „Sowetische Heymland“ („Sowjetische Heimat“) besuchten das Museum und schrieben unter anderem Gradowskis Notizen ab. Jedoch fand die Veröffentlichung dieser Texte in der Zeitschrift bekanntlich nicht statt. Letztlich aber haben diese ganzen Abschirmbemühungen nichts gebracht. Nachdem er monatelang in der Erde von Auschwitz und dann jahrelang im Bestand des Leningrader Museums gelegen hatte, entwischte Gradowskis Text Anfang der 1960er Jahre den Duckmäusern in der Museumsleitung in die Freiheit und wurde im Ausland berühmt. Jedoch nicht, wie die Texte

67 Ursprünglich handelte es sich wohl um ein Flaschenversteck. 68 Dies geht aus seinem Brief an den Autor vom 26. Januar 2005 hervor (im Archiv von P. Polian).

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Pasternaks oder Mandelstams, im geopolitischen Westen, sondern ausgerechnet im sozialistischen Polen69. Dies geschah Ende 1961 oder Anfang 1962, halblegal bis illegal. Einzelheiten konnten bislang nicht geklärt werden, doch weist vieles darauf hin, dass Dr. Anton Adamowitsch Lopatenok, 1959–60 als leitender wissenschaftlicher Mitarbeiter am WMM tätig, die Risiken und die Verantwortung dafür auf sich genommen hat. Geboren wurde Lopatenok am 20. September 1922 in Uljanowsk, wo sich seine Familie wegen einer längeren Dienstreise aufhielt, bis sie 1924 nach Leningrad zog. Nach Schulabschluss 1940 fing er ein Studium an der medizinischen Akademie der Marine an, das er 1945 abschloss. Als Offiziersanwärter kämpfte er im Großen Vaterländischen Krieg mit, wurde mehrfach mit Orden ausgezeichnet. 1948 absolvierte Lopatenok ein Jurastudium an der Leningrader Filiale der juristischen Fernuniversität, wurde diplomierter Jurist. 1951–55 promovierte er am Lehrstuhl für Gerichtsmedizin der Wehrmedizinischen Akademie. In den Jahren 1955–59 diente er als Arzt bei der Baltischen und der Schwarzmeerflotte. 1959–60 war er leitender wissenschaftlicher Mitarbeiter des WMM, wo er sich an der Gründung des Saals der Opfer des Faschismus beteiligte. 1961–69 war er in Potsdam und Magdeburg stationiert, als Hauptgerichtsmediziner der Sowjettruppen in Deutschland. Nach der Rückkehr aus der DDR setzte er seinen Dienst an der Wehrmedizinischen Akademie in Leningrad fort, wo er die Verlagsabteilung leitete und sich aktiv der Lehr- und Forschungstätigkeit widmete. Aus dem Armeedienst schied er im Rang eines Obersts des Sanitätsdienstes aus. Im Ruhestand befasste er sich mit Medizingeschichte, war noch Ende der 1980er Jahre als wissenschaftlicher Mitarbeiter am WMM tätig. Er starb am 9. Februar 2003 und wurde auf dem Bogoslowskoje-Friedhof beigesetzt70. Nicht nur ehrlich und gebildet war Anton Adamowitsch, sondern auch mutig und risikobereit. Auf ein solches Wunder wie das Manuskript Gradowskis gestoßen, fertigte er einen Mikrofilm davon an und unternahm alles in seiner Macht Stehende, dass die Schrift den Fachleuten bekannt würde, die sie in den wissenschaftlichen Umlauf hätten bringen können.

69 Wobei die Erstveröffentlichung von „Doktor Schiwago“ – wenn auch nicht des Gesamtwerks, sondern einiger seiner Kapitel – ebenfalls 1957 in Polen stattfand, in der Zeitschrift „Opinie“, die bald darauf allerdings geschlossen wurde. 70 Die Auskünfte sind von seinem Sohn, S. A. Lopatenok, zur Verfügung gestellt worden.

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Die nächsten Spezialisten, die dem hätten gerecht werden können, befanden sich im brüderlichen Polen, im Jüdischen Historischen Institut in Warschau. Da nutzte Lopatenok das möglicherweise rein zufällige Treffen mit dem polnischen Historiker-Marxisten und Dozenten der Universität von Lodz, Pawel Korzec, und überreichte ihm die unschätzbare, für das Historische Institut bestimmte Kopie sowie seinen Artikel über Gradowski, mit der Bitte, beides zu veröffentlichen71. Das Treffen fand Ende 1961 aller Wahrscheinlichkeit nach in der DDR statt, wo Lopatenok neun Jahre lang tätig war. Wie die Verstecke der SoKo-Männer war auch die Tat von Lopatenok eine weitere „ins Meer geworfene Flaschenpost“. Doch ahnte der Absender wohl nicht, wie niederträchtig sein „Kurier“ zugange war. Korzecs zentrale Bestimmung war nämlich nicht die akademische Laufbahn, sondern der Dienst in der polnischen Staatssicherheit, dem er mit größerem Eifer nachging. Die Einsätze in diesem für Lopatenok sehr riskanten Spiel waren noch größer als gedacht, der ganz große Wurf hätte völlig desaströs enden können. Doch Lopatenoks weiterer Laufbahn nach zu urteilen, ist nichts Schlimmes passiert – offenbar hatte in Korzec damals schon der Jude über den Tschekisten obsiegt72. Anton Adamowitsch schmunzelte bestimmt, als er im Jahr 2000 einen Brief von seinem ehemaligen Klassenkameraden Alexander Kopanew erhielt. Der bedauerte, nicht nach Petersburg reisen und den Brief Gradowskis sowie das Foto der Blechflasche, in der dieser gefunden worden war, ablichten zu können. Dabei zweifelte er, dass seine Vorgesetzten es erlauben würden, dieses Material zu erhalten, und sorgte sich, ob die etwaige Veröffentlichung für Anton Lopatenok keine Nachteile nach sich zöge73. Kopanew wusste nicht, dass sein ehemaliger Klassenkamerad sich dazu – im Namen der Geschichte und aus persönlichem Ehrgefühl – bereits vor 40 Jahren entschlossen hatte. Die „Flaschenpost“ von Lopatenok war von der Strömung in die Hände von Bernard Ber Mark (1908–1966) getrieben worden, dem polnischen Historiker und Publizisten, der in den Jahren 1949–66 dem Jüdischen Historischen 71 Dieser Artikel bleibt bis heute unauffindbar. Übergeben wurde offenbar auch das Protokoll über die Entdeckung des Manuskripts Gradowskis. 72 Korzec, Pawel (1919–2012), polnischer und jüdischer Historiker und Publizist. Mitglied des Aufstands im Ghetto Bialystok vom 16./17. August 1943. In den Nachkriegsjahren in Lodz: Mitarbeiter der Staatssicherheit und überzeugter Kommunist. Vom Staat 1968 öffentlich des Zionismus angeklagt, begriff er die Sachlage und emigrierte nach Paris, wo er sich jahrelang mit dem polnischen Antisemitismus befasste. 73 Mitgeteilt durch S. A. Lopatenok.

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Institut in Warschau vorstand. Er beteiligte sich an der Vorbereitung des „Schwarzbuchs“74 und war der erste Wissenschaftler, der noch in den 1950er Jahren die Bedeutung der Auschwitzer Schriftrollen, die sich in Polen befanden, erkannte und sich der Analyse, Attribuierung und Publikation derselben widmete. Sowohl Bernard Mark als auch später seine Witwe Esther Mark sprachen stets mit Dankbarkeit von Anton Lopatenok, „wegen der von ihm 1962 arrangierten Möglichkeit, die Notizen und das Protokoll der Kommission Popows und Gerassimows einzusehen“75. Aus dem Brief Marks an Lopatenok geht hervor, dass sie sich nicht mal indirekt kannten: Den Mikrofilm übergab der Letztere nicht Mark persönlich, sondern gewissermaßen der Einrichtung, die dieser leitete. Als die Flaschenpost entkorkt war, konnte Mark sich von dem wahren Wunder, das ihm die Strömung gebracht hatte, nicht mehr losreißen. Er gab sich ganz der Erforschung, der Übersetzung und der Veröffentlichung des Manuskripts hin, und vom Erfolg seines Fortschreitens auf diesem Weg zeugt nicht nur der Brief, sondern auch zwei Essays in der „Volksstimme“, einer in Warschau auf Jiddisch erscheinenden Zeitung, vom Mai 1962. Der erste Artikel (anonym veröffentlicht, wobei es keinen Zweifel an der Autorenschaft Bernard Marks gibt) enthielt den Großteil des Brieftextes76, wobei die dabei gemachten Auslassungen eindeutig auf Zensur zurückzuführen sind77. Schon im März 1962 war die Arbeit an der Übersetzung des Textes Gradowskis ins Polnische abgeschlossen, und Bernard Mark hielt auf der Sitzung der Polnischen Historischen Gesellschaft in Warschau einen Vortrag über den jüdischen Widerstand und informierte die Versammlung über Gradowski und dessen Tagebuch. Damit hatte die Einführung des Textes Gradowskis in wissenschaftliche Kreise begonnen. Am 16. Mai 1962 schickte Bernard Mark an Anton Lopatenoks Dienst­ adresse folgenden Brief: „Sehr geehrter Genosse, vor einigen Tagen schickte ich Ihnen einen Brief ohne genaue Adresse. Nun rekapituliere ich den Brief und füge einige neue Auskünfte hinzu.

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Dafür hatte er Quellen über den Aufstand im Warschauer Ghetto aufbereitet. Vgl. Gradowski, in: Biuletyn ŻIH Nr. 71–72. S. 172–204; siehe auch Mark B., 1985. S. 156–158. Vgl. Anhang 2. Vgl. das Kapitel zur Entdeckungs-, Rekonstruktions- und Übersetzungsgeschichte der Manuskripte in dieser Ausgabe.

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Der Dozent, Gen. P. Korzec, überreichte mir vor einigen Monaten Ihren Artikel und den Mikrofilm mit dem Tagebuch Salmen Gradowskis aus Auschwitz. Ich spezialisiere mich auf Manuskripte und auf die Problematik der Ghettos und Vernichtungslager, insbesondere der Widerstandsbewegung und Untergrundliteratur. Lange Zeit habe ich mit der Fotokopie gearbeitet und Auskünfte über den Autor gesammelt. Kürzlich habe ich die Arbeit beendet, habe alles gelesen, was noch gelesen werden konnte, und habe zeitgleich eine Biografie Gradowskis erstellt. Es ist mir übrigens gelungen, in Warschau seinen Schwager ausfindig zu machen. Über Gradowski und sein Tagebuch, das  – davon bin ich zutiefst überzeugt – eines der besten Dokumente der Auschwitz-Häftlinge darstellt, schreibe ich derzeit einen Artikel, in dem ich auch Sie als den Autor des ersten Einführungsartikels erwähne. Jetzt ein Vorschlag: Ich beginne, mich bei den hiesigen Verlegern um die Veröffentlichung in zwei Sprachen zu bemühen, in ursprünglicher (jüdischer) und polnischer. Ich schlage vor, Ihren Artikel am Anfang dieser Ausgabe zu platzieren. Zusätzlich teile ich Ihnen mit, dass das renommierte Warschauer marxistische Verlagshaus „Książka i Wiedza“78 sich bereit erklärt hat, dieses Tagebuch zu verlegen. Hinsichtlich der erwähnten Frage bitte ich um Ihr Einverständnis. Mit freundlichen Grüßen Prof. B. Mark (Direktor des Jüdischen Historischen Instituts)“79

Mit dem besagen Beitrag für die „Folksztyme“, der möglicherweise eine Rückübersetzung aus dem Russischen ins Jiddische darstellt, und mit den beiden Auslassungen in dem vollständig zitierten Brief (ein Gruß der polnischen Zensoren) hat die Geschichte der Publikation der Texte Gradowskis begonnen. Im April 1962 erschien ein Auszug von Gradowskis Brief erstmals auf Russisch im Rahmen eines kurzen Artikels. Er berichtet über die Befreiung von Auschwitz durch die Sowjetarmee und über den Fund von Gradowskis Brief und Notizbuch und darüber, dass der Fund noch auf seine Erforschung warte.80 Es sei betont, dass die von Minewitsch erstellte Übersetzung der Textauszüge im Juli 1962 vollendet, also höchstwahrscheinlich im Juni oder im Frühjahr begonnen wurde. Wir sehen insofern eine richtige Welle von 78 „Bücher und Wissen“: der offizielle Verlag der Partei. Die erwähnte Publikation fand nicht statt. 79 ŻIH. Zesp. 592/62 (mitgeteilt durch Tschajka). 80 Lopatenok A. Der Brief aus dem Todeslager, in: Newa. 1962. Nr.4. S. 230-231.

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Interesse an Gradowskis Manuskript. Was die Ursache oder der Anlass für derart reges Interesse an einem Dokument war, das von den sowjetischen Anklägern im Nürnberger Prozess praktisch ignoriert worden war und 18 Jahre ungenutzt blieb, ist unbekannt. War es die Reaktion auf die Veröffent­ lichung in der „Folksztyme“ im Mai? Oder möglicherweise eine Anfrage aus Deutschland im Zusammenhang mit der Vorbereitung eines der vier Auschwitz-Prozesse, deren erster 1963 begann81? In den Jahren 1963–64 arbeitete Bernard Mark an der Überarbeitung seiner Übersetzung ins Polnische und am Kommentar der Texte Gradowskis. Laut ihm ist derjenige Teil des Notizbuchs, der lesbar geblieben war, leicht zu verstehen, der Text ist in gutem literarischem Jiddisch verfasst. Zugleich ist ihm an Gradowskis Schreibstil eine Neigung zu Germanismen und einer gewissen Schwülstigkeit aufgefallen82. Anschließend prüfte und bestätigte der polnische Orientalist Roman Pytel die Übersetzung und redigierte sie stilistisch; es gelang ihm sogar, einige von Mark nicht entzifferte Fragmente zu entschlüsseln. Erst 1969 erschienen der Text der Notizbücher und der nahezu vollständige Brieftext erstmalig in polnischer Sprache: als Übersetzung und mit einem Vorwort von B. Mark, in der zweiten Halbjahresausgabe des „Bulletins des Jüdischen Historischen Instituts“. Zu dem Zeitpunkt war der Professor nicht mehr am Leben, seine Witwe, Esther Mark, hatte die Publikation vorbereitet. Und zwar, höchstwahrscheinlich, unter starkem ideologischem Druck: Der Text ihrer Veröffentlichung wich leider von der Übersetzung ihres Ehemannes wesentlich ab. Auslassungen und sogar Veränderungen mit Zensurcharakter wurden vorgenommen, die im Text jedoch nirgends kenntlich gemacht wurden. Es wurde nicht mal mitgeteilt, dass der veröffentlichte Text ein unvollständiger war. Erst als Esther Mark nach Israel ausgewandert war, konnte sie Gradowskis Text in vollständiger und korrekter Fassung veröffentlichen, zunächst 1977 im

81 Der „Prozess gegen Mulka und andere“ begann am 20. Dezember 1963 in Frankfurt a. M. Dessen letzte, 183. Sitzung fand am 20. August 1965 statt. Im Zeugenstand waren auch Sowjetbürger anwesend: Nikolai Wassiljew, Aleksandr Lebedev, Andrej Pogoschew und Pawel Stjenkin. In Frankfurt fanden auch die ersten großen dem Holocaust gewidmeten Ausstellungen statt: vom November 1963 an eine Ausstellung zum Warschauer Ghetto und vom 19. November 1964 an eine zu Auschwitz-­ Birkenau. Beide fanden eine große politische Resonanz (vgl. Brink C. „Auschwitz in der Paulskirche“. Erinnerungspolitik in Fotoausstellungen der sechziger Jahre. Marburg 2000). 82 Mark B. Über die Handschrift von Salmen Gradowski, in: Inmitten des grauenvollen Verbrechens, 1972. S. 75–78.

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Original (auf Jiddisch), dann auch als Übersetzung: 1978 auf Hebräisch, 1982 auf Französisch, 1985 auf Englisch und 1997 auf Spanisch83. Die bekannten Defekte wurden jedoch in den Publikationen des Staat­ lichen Museums Auschwitz-Birkenau nicht korrigiert. 1971 erschien eine den der Asche entnommenen Manuskripten des Sonderkommandos gewidmete Sonderausgabe der „Hefte von Auschwitz“ in polnischer Sprache. Der Text Salmen Gradowskis ist darin nur bruchstückhaft präsent, in Fragmenten, die unmittelbar Auschwitz betreffen (was vor allem einen Zensurzweck erfüllte). Die Zensureinflüsse blieben in der Publikation unverändert. Dieser korrumpierte Text zog 1972 in die deutsch- und 1973 in die englischsprachige Ausgabe der Herausgeberschrift ein. 1975 wurde der Text bei der Neuauflage des Sammelwerks in polnischer und 1996 in deutscher Sprache reproduziert. Dabei wurde die 1977 veröffentlichte „Jerusalem-Schrift“ Gradowskis aus der Sammlung Wolnermans nicht mal erwähnt; die Defekte der polnischen Übersetzung des „Leningrader“ Originals wurden nicht berichtigt. Die russische Sprache musste auf die Herausgabe des Manuskripts indes noch vier lange Jahrzehnte warten84.

5. Weniger klar sind die Umstände, unter denen die zweite Handschrift Gradowskis entdeckt wurde. Vom Autor als „Im Herzen der Hölle“ betitelt, enthält dieses Manuskript Beobachtungen und Gedanken über Auschwitz und das dortige Geschehen. Das Schicksal dieser Schrift ist untrennbar mit dem Schicksal Chaim Wolnermans verbunden, jenes Mannes, der sie für die Nachwelt gerettet hat. Einer Version zufolge wurde das Manuskript von einem jungen polnischen Bauern entdeckt – einem jener „Schatzsucher“ von Auschwitz, deren Namen der Historiografie unbekannt geblieben sind. Eine andere Version lautet, die Handschrift sei von einem namentlich ebenfalls unbekannten sowjetischen

83 Vgl. Anhang 2. 84 Beachtenswert ist, dass der allererste Artikel über Gradowski 1962 in russischer Sprache verfasst wurde – von Anton Lopatenok – und zur Veröffentlichung in der polnischen Ausgabe der Aufzeichnungen Gradowskis bestimmt war.

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Offizier gefunden worden85. An einem Punkt überschneiden sich die beiden Darstellungen jedenfalls: beim Käufer des Manuskripts. Dies war Chaim Wolnerman, ein einheimischer, Auschwitzer Jude, der im März 1945 dorthin zurückkehrt war. Geboren wurde er am 12. Dezember 1912 in einer vornehmen chassidischen Familie in Bobowa. Der Vater, Josef Simche, und die Mutter, Esther, hatten geheiratet, als der Vater noch die Jeschiwa besuchte. Benannt wurde Chaim zu Ehren des Urgroßvaters, Chaim-Zvi Kuperman, der rund 40 Jahre lang dem Rabbinatsgericht (Beth Din) vorstand. Nach der Chederschule wurde Chaim zur Jeschiwa geschickt, und er blieb bis ans Ende seiner Tage ein brennender und treuer Anhänger von Benzion Halberstam (dem 4. Rebbe von Bobowa). Vom Studium der Thora ließ Chaim niemals ab, doch wegen wirtschaftlicher Schwierigkeiten und Antisemitismus heuerte Chaim mit dem Segen des Rebbes als Vorarbeiter bei Rapaport-Frenkel an, der namhaften Textilfabrik von Abel Rapaport in Bilice. Zeitgleich ging er gemeinnützigen Tätigkeiten nach: Er war Mitbegründer des Ortsverbands der zionistischen Partei Poalei Agudat Jisra’el in Auschwitz, veranstaltete Fortbildungen für künftige Emigranten nach Palästina (Studium der Thora und der Geschichte des Judentums, Aneignung beruflicher Fertigkeiten in diversen Bereichen) und führte Erste-HilfeKurse durch (was später auch ihm zugutekam, als die Deutschen ihm in der Prüfung des Holocaust auftrugen, Krankenstationen in den Lagern Żywiec und Bunzlau einzurichten, in denen er gefangen war). Im April 1941 wurde Wolnerman zusammen mit anderen Juden aus Auschwitz ins Ghetto von Sosnowitz eingeliefert, wo er auf wundersame Weise überlebte. Nachdem er den Holocaust überstanden hatte, kehrte Wolnerman nach Auschwitz, in die monströsen Lager zurück, die seine Heimatstadt umzingelten. Was er dort sah, hätte er sich im schlimmsten Traum nicht vorstellen können. Es sprengte sein Vorstellungsvermögen, wie massiv und umfassend die Vernichtung der Juden war. Anfänglich wanderte er durch das Lager auf der Suche nach irgendwelchen Spuren seiner Verwandten, bis er begriff, dass es schlicht und ergreifend unmöglich war, unter den unzähligen Toten von Auschwitz auf die Spuren einer einzigen Familie zu treffen. Da kam ein Goi auf ihn zu (der polnische Bauer oder eben, einer anderen Version zufolge, der russische Offizier) und bot ihm an, etwas zu erwerben, 85 So stellte Josef Wolnerman (Sohn Chaim Wolnermans) die Sachlage dar (laut der Darstellung von I. Rabin, die im Herbst 2008 mit ihm sprach).

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das er auf dem Krematoriumsgelände in Birkenau gefunden habe: vier in einem durchgerosteten Blechbehälter verpackte Hefte, jedes davon mit dicht gedrängter Handschrift vollgeschrieben. Die Hefte schnell durchgeblättert, begriff Wolnerman, was er da in den Händen hielt, und kaufte sie alle, ohne zu feilschen. Ein in der Tat spektakulärer Kauf! Viele Monate widmete Chaim dem Lesen und Abschreiben des Manuskripts, das stellenweise nicht zu entziffern war, weil das feucht gewordene Papier schwer voneinander zu lösen war; teilweise fehlten Wörter oder ganze Sätze (in solchen Fällen notierte Wolnerman: „fehlt“). Bald darauf fand er in einem der niederschlesischen Lager seine Frau. Die beiden träumten davon, so schnell als möglich nach Israel auszureisen, doch war es nach dem Krieg entschieden zu schwierig, die nötigen Papiere zu bekommen. Sie mussten warten. Wolnerman betätigte sich als Händler und ließ sich im Städtchen Lauf bei Nürnberg nieder, wo er sich die Passierscheine für alle Besatzungszonen verschaffte. Danach war er zeitweise als Sekretär des Leiters des orthodoxen rabbinischen Rats in der US-Zone, Samuel Abba Snieg, in München tätig. Seine ganze Freizeit verbrachte Chaim damit, die Notizen Gradowskis zu sortieren und sie auf Jiddisch in sein liniertes, breitrandiges Heft zu übertragen – in deutlicher Handschrift und mit großem Zeilenabstand. Das Entziffern gelang nur mühselig und verlief schleppend. Wolnerman entschlüsselte sogar eines der Geheimnisse des Manuskripts: eingeklammerte Zahlen am Ende eines der Vorworte: (3), (30), (40), (50) etc. Es handelte sich um Gematrie, den numerischen Code des Autorenamens „Salmen Gradowski“86. Bei der Adresse von A. Joffe, Gradowskis amerikanischem Onkel, angelangt, schrieb er diesen in New York an und erhielt bald darauf eine Antwort mit Fotos von Gradowski. Aus dem Wunsch heraus, Joffe die gesamten Aufzeichnungen seines Neffen zu zeigen, lehnte Wolnerman sogar das Angebot des Jüdischen Museums in Prag ab, das sich mit einem Kaufangebot an ihn gewandt hatte87. Auch 1947 hatten die Wolnermans noch keine für die Auswanderung benötigten echten Papiere erhalten. Also besorgten sie sich gefälschte Rückkehrscheine für Palästina. Ihr ganzes Hab und Gut stand in Kisten verpackt zur Abreise bereit, doch als Chaim und seine Frau zusammen mit ihren Freunden 86 Einzelheiten dazu siehe in Anm. 211, S. 334 zu Salmen Gradowskis „Der Abschied“. 87 Im Archiv wurden keinerlei Hinweise auf etwaige Verhandlungen darüber gefunden (mitgeteilt durch A. Pařík).

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am letzten Abend auf den Abschied anstießen, wurden sie bestohlen. Sie verloren alles. Auch die Originale der Tagebücher Gradowskis fielen den Dieben in die Hände. Wundersamerweise blieben fünf Blätter und die vollständige von Wolnerman angefertigte handschriftliche Kopie des Originals erhalten. Gleich nach der Ankunft in Palästina nahm Chaim eine Tätigkeit im Jerusalemer Hadassah-Krankenhaus auf. Ein Auswandererleben, sogar eines im lang ersehnten und vertrauten Zion, verlangt einem Neuankömmling von Anfang an alles ab. Sich mit Gradowski zu beschäftigen, konnte Wolnerman sich erst wieder im Jahr 1953, sechs Jahre nach der Ankunft in Israel, erlauben. Was aber anschließend mit dem Original und der Abschrift der Handschrift und deren erster Ausgabe in Israel geschah, ist nicht anders als eine Katastrophe zu nennen. Eines Tages packte Wolnerman alles zusammen, was übrig geblieben war – die Originale Gradowskis und seine eigenhändige Kopie –, und zeigte das Material der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. Dort glaubte man ihm nicht und bezichtigte ihn der Fälschung88. Erst als der Fund eines anderen Manuskripts Gradowskis bekannt geworden war, änderte sich die Lage ein wenig. Unverändert blieb jedoch, dass die Notizen, selbst als sie der Asche längst entrissen waren, den Leser noch lange Zeit nicht erreichen konnten. Zum einen nahm sich niemand der Übersetzung an. An wen auch immer Wolnerman sich wandte (darunter Erich Kulka und Elie Wiesel!) – er hörte nur, es sei definitiv unmöglich, so etwas in einer anderen Sprache angemessen wiederzugeben. Zum anderen fand sich kein Verleger, der an der Veröffentlichung interessiert gewesen wäre. Sogar Yad Vashem konnte laut Wolnerman keine Mittel für die Publikation finden. Bloß fällt es schwer, das zu glauben: Konnte Yad Vashem keine Mittel dafür aufbringen oder wollte es das nicht? Naheliegend ist das Letztere, denn in das heroische Konzept des Museums wollten die Notizen partout nicht passen. Als allzu weichlich und dem Tode ergeben erschienen die Juden darin. Und im Umgang mit den Mitgliedern des Sonderkommandos überwog damals noch die Schwarz-Weiß-Malerei: verdammte Verräter, Mörder.

88 Im internen Archiv von Yad Vashem wurden keine Hinweise auf Verhandlungen oder Kontakte mit Wolnerman gefunden.

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Es vergingen weitere 22 Jahre, bis Wolnerman die Publikation 1977 endlich verwirklichen konnte  – wenn auch auf eigene Kosten89. Im selben Jahr erschien, ebenfalls mit Eigenaufwand, auch Wolnermans Lebenswerk: das Gedenkbuch der Kleinstadt Auschwitz90. Die beiden Publikationen wurden an ein und demselben Tag veröffentlicht, dem 10. Dezember. Zwei Tage darauf, an seinem 65. Geburtstag und dem letzten Tag der Chanukka, verstarb Wolnerman. Er schied auf eine Weise aus dem Leben, als hätte er erkannt, seine Lebensaufgabe erfüllt zu haben. Die Veröffentlichung seines Lebenswerks blieb in Israel nahezu unbemerkt. Weder Leser noch Fachleute nahmen davon Notiz. Es wurde nicht rezensiert, und auch für die Ausstellung von Yad Vashem blieb die Veröffentlichung folgenlos. Von da an tauchte Gradowski, nun in den wissenschaftlichen Kreisen eingeführt, sporadisch in eher zweitrangigen Kontexten auf. So wurde er etwa in der Ausstellung „Jüdische Kunst im Holocaust“ angeführt, die 1979 von Jechiel Sheintuch, Professor für jiddische Literatur an der Universität Jerusalem, organisiert wurde. Der Ausstellungskatalog, der von Sheintuch gemeinsam mit Dr. Josef Kermish vom Yad Vashem erstellt wurde, enthält sogar ein kleineres Foto Gradowskis, das bei einem Autorenabend vor dem Krieg aufgenommen worden war91. Im Verlauf der langjährigen und erfolglosen Verhandlungen zwischen Wolnerman und Yad Vashem befanden sich Teile des Originals und die Abschrift des Manuskripts Gradowskis im Besitz der Familie Wolnerman. Dort befinden sie sich laut Josef Wolnerman (Sohn Chaim Wolnermans) bis heute92. Da der Zugang zum Manuskript sich als schwierig erwiesen hat, dienen dieser Ausgabe folgende Materialien als Quelle: der Mikrofilm von dem Original des Heftes Chaim Wolnermans, der im Archiv von Yad Vashem93 aufbewahrt wird, und Wolnermans jiddische Edition von 1977.

89 Wolnerman erwähnt diejenigen Menschen, die ihm auf unterschiedlichen Etappen halfen: Esriel Karlebach (Redakteur der Zeitung „Maariv“), David Flinker (Redakteur der Zeitung „Tog-forverts“) und Josef Karmish, Mitarbeiter von Yad Vashem. 90 Immerhin 12.000 Einwohner, davon 7.000 Juden vor dem Krieg. 91 Jewish creativity in the Holocaust, 1979. S. 32. 92 Wie A. Zur mitteilt, wurden alle fünf Blätter des Originals an das Kidush-Heshem-Archiv im israelischen Bnei-Brak übergeben. 93 Wolnerman hatte das Original zur Erstellung des Mikrofilms bereitgestellt, die am 9. Mai 1961 stattfand. Vgl. YVA. JM/1793.

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Weitere 22 Jahre waren nötig, bis Gradowskis Notizen in europäische Sprachen übersetzt wurden94. Eine für den Dienstgebrauch im Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau bestimmte Übersetzung ins Polnische wurde allerdings Ende der 1970er Jahre angefertigt, jedoch nicht veröffentlicht. Erst im Januar 2018 wurde Wolnermans Manuskript im Verlag des Staatlichen Museums Auschwitz erstmals in polnischer Sprache völlig neu aus dem Jiddischen übersetzt veröffentlicht.95 Im März 1999 erschien „Im Herzen der Hölle“ erstmalig in deutscher Sprache, in der Herausgeberschrift „Theresienstädter Studien und Dokumente“ anlässlich des 55. Jahrestags der Vernichtung des Theresienstädter Familienlagers in Auschwitz96. Bedauerlicherweise war auch diese Publikation selektiv und fragmentarisch. In die Edition ging lediglich das Kapitel „Der tschechische Transport“ ein, als direkte Übersetzung aus dem Jiddischen mit einem Vorwort und Anmerkungen von Kateřina Čapková; der erste und der dritte Teil des Manuskripts („Die Mondnacht“ und „Der Abschied“97) wurden ausgelassen. Der zweite Teil („Der tschechische Transport“) wurde mit zahlreichen Lücken abgedruckt, gemäß dem Kriterium der „Angemessenheit“ in der Diskussion um die rein tschechische (aus der Lage Theresienstadts abgeleitet) Deportation98. Dieser provinzielle Patriotismus war ein konstantes und unerfreuliches Spezifikum der ersten osteuropäischen Editionen der Texte (näherhin der Textfragmente) Gradowskis. Wurde eine Veröffentlichung im Theresienstäd94 Die Übersetzung ins Russische ist eine Geschichte für sich: siehe weiter unten in der Ausgabe. 95 Gradowski Z. Znajduję się w sercu piekła. Notatki więźnia Sonderkommando odnalezione w Auschwitz. Oświęcim 2017. Zeitgleich publizierte der Verlag eine deutsche, englische, französische, spanische und italienische Edition der Manuskripte Gradowskis. 96 Die Massenliquidierung der Juden aus dem Ghetto von Theresienstadt, die im September 1943 in Auschwitz eingeliefert worden waren, am 8. März 1944. 97 Die beiden letzten Kapitel wurden vom Autor in Unterkapitel aufgeteilt und auch vom Autor betitelt. „Die Mondnacht“ aber weist eine derartige Aufteilung nicht auf – und erst recht nicht „Der Weg zur Hölle“. Dennoch wurde das Prinzip der inneren Strukturierung – in diesem Fall vom Herausgeber – eingehalten, sodass einzelne Sinnblöcke darin durch Absätze getrennt sind. Ein solches Unterkapitel ist auch das Fragment „Im Entkleidungsraum“, das erstmalig in dieser Ausgabe veröffentlicht wird (siehe oben). Bei diesem Fragment handelt es sich um ein Element der kompositorischen Ganzheit. Alexandra Polian merkt dazu an: Das Fragment „… resümiert die Geschichte, die im ‚Tschechischen Transport‘ dargelegt wird, und resoniert zugleich mit der ‚Mondnacht‘. Die an den Mond gerichteten Ansprachen werden zum logischen Abschluss gebracht: Der Autor ruft den Mond nicht einfach nur dazu auf, nicht länger zu leuchten, während auf der Erde das geschieht, was dort geschieht, sondern wirft ihr auch Untätigkeit vor, versetzt sie in die Lage einer Verfolgten und setzt gleichsam eine Besserungsfrist für sie an.“ (E-Mail vom 7. Juni 2018). 98 Die Auslassungen sind jedoch im Text markiert.

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ter Kontext vorbereitet, wurde auch nur das Fragment über das Familienlager präsentiert; stand eine Publikation im Zeichen von Auschwitz, dann gingen eben nur entsprechende Passagen ein (wobei die Auslassungszeichen nicht immer gesetzt wurden). Bei so einem Ansatz hatten die Kiełbasiner „Fragmente“ überhaupt keine Chance auf Übersetzung und Publikation. Einfach erstaunlich, wie gleichgültig die Herausgeber dem Wunder gegenüber waren, das sie in den Händen hielten. Selbst die augenfällige Literarizität der Texte Gradowskis rief bei Čapková fast schon Zweifel hervor, ob denn ein Mitglied des Sonderkommandos es vermocht hätte, derlei auf diese Weise unter den gegebenen Umständen zu verfassen99. Mit anderen Worten: Gradowski wurde allerorts Opfer allerlei ideologischer Konstrukte, Museumskonzepte und banaler Provinzialität. Was bis heute bleibt – dies sei ausdrücklich betont –, ist der Umstand, dass Gradowskis Name in keiner der weltgrößten Ausstellungen zur Shoah aufzufinden ist.

6. Der erste Übersetzer der Texte Salmen Gradowskis ins Russische war der Arzt Jakub Abramowitsch Gordon. Geboren wurde Gordon in Wilna am 20. Juni 1910. Als Deutschland die Sowjetunion überfiel, arbeitete er als Arzt in der Gemeinde Jeziory nahe Grodno. Am 12. Juli 1942 wurde er zusammen mit seinem Bruder von der Gestapo verhaftet und beschuldigt, Partisanen unterstützt zu haben, die die Ortschaft am Vortag gestürmt hatten. Die Geschwister wurden auf bestialische 99 Ihre Zweifel versieht sie mit der Anmerkung, in Gradowskis Text kämen ungeschickte, schwer lesbare Passagen vor. Zugleich bringt sie die Rechtfertigung vor, der gute Autor habe ja nicht genug Zeit zur stilistischen Nachbearbeitung gehabt (Čapková, 1999. S. 107). Das Wichtigste für sie sei die unvergängliche Bedeutung des Textes als eines dokumentarischen Zeugnisses. Daraus leitet sie den absurden Vorwurf ab, Gradowski habe es sich erlaubt, Tatsachen literarisch auszumalen, deren Zeuge er nicht war (beispielsweise das Geschehen in den Baracken am Vortag der Vernichtung), statt sich auf das Festhalten des Geschehens zu konzentrieren. Außerdem fand sie nichts Besseres zu tun, als „ihre“ Theresienstädter gegen die „Angriffe“ Gradowskis zu verteidigen, der erwartet hatte, dass die Theresienstädter sich erheben würden, sobald sie begriffen, was sie erwartete. (Ein anderer „Beschützer“ dieser Art ist Miroslav Kárný mit derartigen Thesen wie: Wie hätten sich die Theresienstädter auf das Sonderkommando verlassen können, wenn sie doch nichts voneinander wussten? Und warum erhoben sich die Mitglieder des Sonderkommandos nicht, sondern erwarteten dies unentwegt von anderen?) Darüber nachzudenken und zu sprechen, ist völlig legitim. Doch wie kommt man darauf, dagegen zu „protestieren“?

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Weise misshandelt, doch konnte man ihnen weder ein Geständnis, an der Partisanenaktion beteiligt gewesen zu sein, noch Angaben zum Unterschlupf der Untergrundkämpfer abpressen. Aus Jeziory wurden sie nach Grodno gebracht und der dortigen Gestapo übergeben, aber auch dort gestanden sie nicht. Letztlich wurden sie am 13. November 1942 aus dem Gefängnis ins Lager Kiełbasin überführt, wo Gordon seine Eltern vorfand und wieder als Arzt tätig war100. Nach der Liquidierung des Lagers am 19. Dezember kehrte Gordon gemeinsam mit den übrig gebliebenen 2.000 Juden, die dem Schicksal der meisten ihrer Glaubensgenossen entkommen waren, zu Fuß ins Ghetto von Grodno zurück. In Grodno traf er seine Frau und seine Kinder. Einen Monat später, am 19. Januar 1943, begann die Liquidierung des Ghettos, die fünf Tage lang andauerte. Die Juden wurden in der Synagoge zusammengetrieben und von dort aus wieder nach Kiełbasin-Łosośna eskortiert, direkt in die Güterwaggons. Am 21. Januar um 18 Uhr fuhr der Transport mit Gordon und seiner Familie in Łosośna ab und wurde nach gut 24 Stunden an der Rampe in Auschwitz empfangen  – mit grellem Scheinwerferlicht, Schäferhunden, Stockschlägen, kurzum mit einer Selektion. Gordon musste mitansehen, wie seine Frau und Kinder auf den Lastwagen kletterten … Er selbst kam am 25. Januar – nach dem formalen Prozedere im Block 22 (dem Aufnahmeblock) und ein paar Nächten im Block 19 (dem Quarantäneblock)  – in den Block 26 (ebenfalls Quarantäneblock), in dem seinerzeit auch das Arbeitskommando Straßenbau untergebracht war. Steine mit einer Hacke zu zerkleinern und ein Schotterbett zu legen, war härteste körperliche Arbeit, multipliziert mit Schlägen, Unterernährung und katastrophalen hygienischen Bedingungen. Als sein Körpergewicht im März auf 39 Kilo gesunken war, ging er in Block 12, den Häftlingskrankenbau. Als Arzt verstand er sehr gut, dass es so mit ihm nicht lange gutgehen würde. Dort erzählte Gordon dem Lagerarzt Karol Ordowski von seinem Beruf und bat um eine Beschäftigung entsprechend seiner Qualifikation. Bis auf die Knochen abgemagert, wurde Gordon zunächst in den Aufnahmeblock 23 verlegt, wo er bis Mitte April 1943 arbeitete, und anschließend in Block 3 (den Reserveblock), wo sich die aus dem Krankenbau entlassenen Häftlinge aufhielten. Dies alles geschah im ersten Männerlager in Birkenau. Am 9. August 1943 wurde Gordon wieder versetzt, diesmal in Block 21 des Stammlagers Auschwitz I, in die Chirurgie. Hier waren die Bedingungen insgesamt etwas besser (immerhin gab es Wasser und Hygienemaßnahmen ­wurden 100 An Jakub Gordon erinnerte sich auch Mordechai Zirjulnizkij. Er erwähnte, Gordon auch in Auschwitz getroffen zu haben, wo dieser dem Widerstand angehört habe (Zirjulnizkij, 1993. S. 452 f.).

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e­ ingehalten), jedoch befand sich in der unmittelbaren Nachbarschaft statt des Sonderkommandos das Strafkommando: der berüchtigte Block 11, in dem die Politische Abteilung des Lagers über Leben und Tod der Häftlinge entschied, und die Todesmauer, an der die Lagergestapo ihre Urteile vollstreckte. Im Block 21 blieb Gordon bis zur Befreiung am 27. Januar 1945. Es gelang ihm, sowohl der Gesamtevakuierung des Lagers als auch der Ermordung der übrig gebliebenen Häftlinge zu entkommen. Er war Teil jener Kommission, die noch am Befreiungstag das erste Protokoll über Naziverbrechen im KZ Auschwitz erstellte. In der Erklärung der TschGK über „barbarische Verbrechen der deutschen Regierung in Auschwitz“ vom 8. Mai 1945 wird er als Arzt angeführt, der die verbrecherischen medizinischen Experimente an den Auschwitz-Häftlingen bezeugt hatte101. Schlussendlich bestätigte er am 5. März 1945 mit seiner Unterschrift die Entdeckung der auf Jiddisch verfassten Manuskripte Gradowskis durch Shlomo Dragon und übersetzte aus dem Stegreif die beiden Seiten seines Briefs102 ins Russische. Diese Übersetzung tauchte nirgends mehr auf – weitere Informationen über Dr. Jakub Gordon auch nicht. Das Notizbuch hat er nur durchgeblättert und überflogen: Dessen vollständige Übersetzung – selbst die eiligste – hätte sehr viel mehr Zeit in Anspruch genommen. Welches sonstige Dokument, wenn nicht die mitten in der Hölle von Auschwitz entstandenen und aus erster Hand berichtenden Manuskripte Gradowskis, hätte die Anklage im Nürnberger Prozess ins Feld führen sollen? Und in der Tat: Ein eindrückliches Foto dieses Manuskripts tauchte in Nürnberg auf, samt einer Abbildung der daneben liegenden aufgeschnittenen Blechflasche mit abgeschraubtem Verschluss, des ausgerollten Tagebuchs und der beiden fahrig auf den Tisch geworfenen Blätter seines Briefs. Dieses Bildmaterial wurde dem Nürnberger Tribunal von sowjetischen Anklägern als Teil einer als „Auschwitz“ betitelten Sondersammlung vorgelegt 103. Bloß wurde dieses Material nicht etwa als überwältigendes Beweisstück vorgebracht oder als historischer Fund (wie der Autor selber seinen Text charakterisiert hatte), sondern als eine Art archäologisches Artefakt, frei von auch nur geringstem Interesse am Inhalt des Textes. Es gibt nicht einen Hinweis darauf, dass der Tagebuchtext übersetzt worden wäre. Höchstwahrscheinlich war er vor dem 101 „Krasnaja Swesda“ vom 8. Mai 1945. Am 6. Juni 1945 wurde diese Erklärung in Moskau in Gestalt einer eigenen Broschüre veröffentlicht und im selben Jahr nochmal aufgelegt, diesmal in Uljanowsk. 102 Vgl. Protokoll der Aussage Jakub Gordons vom 17.–18. Mai 1945 (APMA-B. Höß-Prozess. H. 1a, Bl. 158–176). 103 Vgl. GARF. Bt. R-7445. Fb. 2. Nr. 413. Bl. 40.

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Prozess nur einem beliebigen Muttersprachler zur mündlichen Wiedergabe vorgelegt worden. Dieser gab den Inhalt sicherlich gewissenhaft wieder. Und ebendieser „nationalistisch gefärbte Stoff “ verschreckte diejenigen, die in der UdSSR politische Entscheidungen hinsichtlich Nürnbergs trafen. Der zweite Übersetzer war Meer (Meir) Lwowitsch Karp (1895–1968), sowjetischer Genetiker und ausgewiesener Kenner jüdischer Sprachen. Seit Kindheitstagen lebte er in Kiew; in seiner Jugendzeit (nach der Revolution) besuchte er Palästina; nach der Rückkehr gründete er zunächst in Kiew und später auch in der jüdischen Gemeinde Woja-Nova auf der Krim Waisenhäuser für verwaiste jüdische Kinder. 1930 ließ er sich in Moskau nieder, schloss ein Studium an der Timirjasew-Akademie ab und promovierte in Genetik an der Biologie-Fakultät der Moskauer Staatsuniversität. Nach der Promotion arbeitete er am Institut für Tierhaltung und anschließend am Institut für Genetik unter der Leitung von Nikolai Wawilow. Nach der Verhaftung Wawilows 1941 und der Übernahme der Institutsleitung durch Lyssenko wechselte er an das Botanik-Institut der ukrainischen Akademie der Wissenschaften in Kiew. Nach dem Krieg kehrte er nach Moskau zurück, doch nach der berüchtigten Sitzung der Landwirtschaftsakademie WASChNIL verlor er seine Stelle und zog auf Einladung des Botanik-Instituts der Wissenschaftsakademie nach Leningrad. Sein Arbeitsschwerpunkt war die genetische Selektionstheorie und die praktische Selektion des Russischen Löwenzahns als einer Quelle von Naturkautschuk. In jüdischen Kreisen galt Meer Karp als eminenter Kenner des Jiddischen und Hebräischen, eine Zeit lang arbeitete er gar an einem Lehrwerk für das Jiddische. 1953 wurde er festgenommen und wegen der Anfertigung eines Flugblatts, das zur Unterstützung der Gründung des Staates Israel aufrief, zu zehn Jahren Haft verurteilt (dies bereits nach Stalins Tod und der Revision der Ärzteverschwörung). Bis 1956 war er im sibirischen Taischet inhaftiert. Entlassen wurde er nicht infolge einer Rehabilitierung, sondern wegen einer schweren Krankheit. Einige Jahre später wurde das Urteil gegen ihn aufgehoben, um eine Rehabilitierung ersuchte er aber nicht. Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte er in der Nähe Leningrads (als Nicht-Rehabilitierter hatte er kein Anrecht auf die Rückkehr in die Stadt) und anschließend in der Nähe Moskaus, wo er verstarb. Beigesetzt wurde er in Moskau im Grab seiner Eltern auf dem Wostrjakowskoje-Friedhof. Wann, wie und unter welchen Umständen er diese Übersetzung anfertigte, bleibt ein Geheimnis: Weder Archivare noch Mitglieder seiner Familie verfügen über Informationen dazu. 208

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Gradowskis Texte wurden mutmaßlich 1948 an das WMM übermittelt. Je später, desto unwahrscheinlicher wird es, dass eine Behörde des Verteidigungsministeriums in diesem oder den folgenden Jahren ausgerechnet Meer Karp mit der Übersetzung aus dem Jiddischen beauftragte. Deshalb ist das Jahr 1948 das wahrscheinlichste Datum der Übersetzung – jenes Jahr, in dem Karp sich erstmalig in Leningrad niederließ. Das späteste noch mögliche, jedoch völlig unwahrscheinliche Datum, an dem Karp mit der Übersetzung beauftragt worden sein könnte, ist der Januar 1953: Im Februar dieses Jahres wurde er ja verhaftet. Die dritte Übersetzung ins Russische fertigte im Auftrag des Museums 1962 die Übersetzerin Minewitsch an. Die Gründe des plötzlich einsetzenden Interesses an den Manuskripten lassen sich nur erahnen. Vielleicht geht das Engagement auf die Verbindung zurück, die Anton Lopatenok zu Bernard Mark und dem Jüdischen Historischen Institut in Warschau hergestellt hatte. Vielleicht aber hatte das Interesse mit den Anfragen zu tun, die die Bundesrepublik im Zuge der Vorbereitung der Auschwitz-Prozesse zu Beginn der 1960er Jahre stellte. In der Kartei des WMM wird diese 16-seitige Maschinenschrift, datiert vom 23. Juli 1962, als eine von Minewitsch angefertigte Übersetzung des Tagebuchs Gradowskis ins Russische geführt. In Wahrheit handelt es sich eher um eine Zusammenfassung des Originals: eine einigermaßen genaue Übertragung einiger Anfangsseiten plus die Kontamination einzelner Fragmente aus der Mitte und vom Ende des Notizbuchs. Die Übersetzung ist laut Alexandra Polian unsolide: Nicht nur, dass der russische Text zahlreiche Lücken aufweist, er enthält auch Erdachtes. Insofern dürfte es sich dabei kaum um eine Übersetzung im eigentlichen Sinne handeln104. Schließlich nahm sich Alexandra Leonidowna Polian der Übersetzung an. Ihre in den Jahren 2007–08 angefertigte Arbeit hat erstmals 2008 in der Zeitschrift „Swesda“ (Nr. 7–9) das Licht der Welt erblickt und ist wenig später, in den Jahren 2010–11, in den Bucheditionen der Texte Gradowskis erschienen. Die Übersetzerin zog die authentischsten verfügbaren Quellen heran: Originale aus dem WMM, Textausgaben, die von Bernard Mark veröffentlicht worden waren („Der Weg zur Hölle“), sowie Mikrofilme des Manuskripts aus dem Archiv von Yad Vashem („Im Herzen der Hölle“).

104 Vgl. Polian A., 2011. S. 9.

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7. Gradowskis Textkorpus wird von den Notizbüchern eröffnet. In den Aufzeichnungen  – von uns als „Der Weg zur Hölle“ betitelt  – werden die Verschleppung aus Kiełbasin nach Auschwitz und die ersten Tage nach der Ankunft im Konzentrationslager geschildert. Mit üblichen Tagebüchern oder etwa Reisenotizen, die in chronologischer Reihenfolge Tag für Tag niedergelegt werden, haben diese Berichte wenig gemein. Mit dem Aufschreiben begann der Autor offenbar erst im Lager, aus dem Gedächtnis heraus. Es spricht jedoch vieles dafür, dass er vorher schon Versuche unternommen hatte, das Geschehen zu verarbeiten. Als eine Art Schlüssel zu seinen Aufzeichnungen webt der Autor, der sich selbst mit der Rolle eines Quasi-Vergils bedenkt, die stilistische Figur eines zum Zeugen und Gefährten ernannten imaginären Freundes in den Erzählstoff ein. „Der Weg zur Hölle“ beginnt mit der Widmung an respektive der Vorstellung der gesamten ermordeten Familie Gradowskis. Die Einleitung ist gleichsam ein Refrain: Drei Mal – vor jedem Kapitel – kommt sie auch im nächsten Teil, „Im Herzen der Hölle“, vor105. Nach der Widmung folgen die zweiteiligen Notizen. Das erste Teilstück handelt von der Umsiedlung der Familie aus Lunna nach Kiełbasin bis hin zur Verladung in die Bahnwaggons, die in Richtung Auschwitz abfahren. Das zweite beschreibt den Weg dorthin und die allerersten Tage im Konzentrationslager nach der Ankunft. Bald nachdem der Autor dem Sonderkommando zugeteilt worden ist, brechen die Aufzeichnungen ab106. Gradowskis zweiter Text – „Im Herzen der Hölle“107 – enthält drei Kapitel: „Die Mondnacht“, „Der tschechische Transport“ und „Der Abschied“108. Jedes von ihnen ist Gestalten und Geschehnissen gewidmet, die Gradowski 105 Möglicherweise wurden diese Refrains später als die beiden Kapitel, jedoch zeitgleich oder zumindest kurz vor dem „Brief “ verfasst. Zur Überprüfung dieser Hypothese ist der Zugang zum Original des Manuskripts nötig (es wäre wichtig, das Schreibpapier, die Tinte, die Handschrift zu analysieren), doch über derlei Möglichkeiten verfügten wir leider nicht. 106 Die letzte Seite des Notizbuchs endet mit dem Satzstumpf „Erst vor kurzem […]“. Der Text ist also möglicherweise unvollendet. 107 Eine bei der Vorbereitung erwogene Variante war „Inmitten des Infernos“. 108 Die letzten beiden Kapitel wurden vom Autor in Unterkapitel eingeteilt und mit Überschriften versehen. Jedoch weisen weder „Die Mondnacht“ noch „Der Weg zur Hölle“ eine solche Teilung auf. Dennoch wurde der Grundsatz der inneren Strukturierung hier vom Verfasser eingehalten: Einzelne Sinneinheiten sind durch Absätze voneinander getrennt.

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erschüttert haben. Von einer „Dauergestalt“ wie dem Mond wird später noch die Rede sein. Zu den Geschehnissen zählen die Liquidierung des sogenannten Familienlagers tschechischer Juden am 8. März 1944, die exakt ein halbes Jahr vorher aus Theresienstadt nach Auschwitz gebracht worden waren, und eine weitere Selektion innerhalb des Sonderkommandos, die am 24. Februar 1944 vorgenommen wurde109. Es mag auf den ersten Blick befremden, dass sich kein einziges der Schlüsselereignisse auf das Jahr 1943 bezieht. Ebenso auffällig ist, dass der Massenmord an ungarischen Juden  – weitaus mehr als nur eine Episode  – keine Erwähnung findet. Doch warum muss das unbedingt befremden? In den Aufzeichnungen kommen schließlich die inneren Hoch- und Tiefpunkte der ­persönlichen Wahrnehmung Gradowskis zur Sprache. Aber davon abgesehen: Haben wir es hier etwa mit einem vollständigen, vom Autor justifizierten Korpus aller seiner Texte zu tun? Alle drei Kapitel von „Im Herzen der Hölle“ eröffnet der Autor auf die gleiche Art, mit der Ansprache des „lieben Lesers“110 und der Klage über die ermordeten Familienmitglieder (manchmal erwähnt Gradowski zu Beginn dieser Aufzählung seine Mutter, ein anderes Mal seine Frau)111. Zwei Mal nennt er die New Yorker Adresse seines Onkels. Einerseits verleiht diese Einleitung jedem Unterkapitel eine gewisse Autonomie innerhalb des Gesamtstücks, andererseits erfüllt sie auch einen literarisch-kompositionellen Zweck, indem sie sozusagen als Kehrreim die Einzelteile zu einem Ganzen anordnet. Wie ist die zeitliche Reihenfolge, in der die Texte erschaffen wurden? „Der Weg zur Hölle“ – der früheste der drei – wurde zehn Monate nach Gradowskis Ankunft in Auschwitz verfasst (oder vollendet?), also im Oktober 1943. Es gibt keinen Zweifel darüber, dass das entsprechende Notizbuch zu dem Zeitpunkt erstmals in der Erde verborgen wurde. Höchstwahrscheinlich aber musste Gradowski es wieder ausgraben und zusammen mit dem spätesten, auf den 6. September 1944 exakt datierten Text – dem „Brief an die Nachkommen“ – wieder vergraben. Auch kann das Entstehungsdatum von „Im Herzen der 109 Was auffällt, ist ein möglicherweise unbeabsichtigter Parallelismus in der Komposition von „Der Weg zur Hölle“ und „Im Herzen der Hölle“: Ein Abschlusselement beider Kapitel ist die Erzählung über die Selektion. 110 Formal ist das erste Vorwort abgesondert und dient somit als Vorwort zum ganzen Text. Doch es unterscheidet sich zu wenig von den beiden anderen, um wirklich ein solches zu sein. 111 Dies hat auch einen rein praktischen Sinn: Der Autor konnte nicht wissen, welches Manuskript er wo vergraben würde und welches davon erhalten bleiben würde, und mengte dem Bericht von Zeit zu Zeit solche „Visitenkarten“ bei.

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Hölle“ bestimmt werden, woraus hervorgeht, dass dessen drittes Kapitel („Abschied“  – der Selektion des Sonderkommandos gewidmet) als Erstes geschrieben wurde: Die 15 seit der Ankunft in Auschwitz vergangenen Monate verweisen auf den April, die 16 Monate, die das Kapitel „Der tschechische Transport“ markieren, auf den Mai 1944. Nicht datiert und einer Datierung offenbar bewusst unzugänglich gehalten ist das Kapitel „Mondnacht“. Dennoch sieht es so aus, dass es später als die beiden nachfolgenden Kapitel verfasst wurde, also im Sommer 1944. Seine Einleitung nähert sich stilistisch dem „Brief aus der Hölle“ an. Möglicherweise schrieb Gradowski die „Mondnacht“ Ende August oder Anfang September 1944, als er über die Komposition des Gesamtwerks nachdachte. Einen wenn auch wackeligen Grund zu dieser Annahme erhält man durch die Bemühung, Gradowskis Seelenzustände in deren Verlauf zu rekonstruieren. Seinen ersten Schock nach der Ankunft in der Lagerbaracke – als er die bittere Wahrheit erfahren hatte, dass seine Lieben nun ermordet, nicht mehr am Leben waren, und dass er selbst nur lebte, weil er bald schon gezwungen sein würde, beim Mord an hunderttausend anderen Juden, solchen wie er und seine Familie, Hilfsdienste zu leisten –, den Schock, sich dieser Wahrheit bewusst geworden zu sein, hielt er ja selber in seinen Aufzeichnungen fest 112. In diesem Moment ist der Mensch noch kein Mitglied des Sonderkommandos, noch kann er die Selektion eigenhändig abrunden, sich vom Leben los­ sagen und sich seinen Nächsten anschließen. Einige solcher Fälle sind bekannt (es gab sogar Menschen, die ins Feuer sprangen). Es waren jedoch nur einige wenige gegenüber den rund 2.000 Männern, die diesen Pakt mit dem Teufel in ihren Seelen schlossen. Was trieb sie nur derart an, am Leben bleiben zu wollen? Der schnelle Tod hätte doch mit einem Schlag der körperlich unerträglichen Arbeit, den moralischen Qualen und der Verantwortung ein Ende bereitet … Und doch gewannen der unüberwindbare Lebenswille und die irrationale Traumvorstellung, durch ein Wunder überleben zu können, die Oberhand113. Der Preis dieser Entscheidung war hoch: Das Maß des Menschlichen innerhalb des Sonderkommandos sank an und unter die Nullgrenze. Nahezu alle Überlebenden des Sonderkommandos erinnerten sich später, dass sie zu seelenlosen Robotern geworden seien. Viele gaben an, sie hätten ohne diesen 112 Den gleichen Schock erlebte auch Salmen Lewenthal. 113 Und es gab sie wirklich: Rund 100 Mitglieder des Sonderkommandos überlebten. Ihre irrationale Hoffnung erfüllte sich.

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Automatismus nicht überleben können114. Dieser Zustand der Gefühlsstarre kommt einer Geisteskrankheit gleich – daher wohl auch die Zweifel an Gradowskis psychischer Gesundheit, die im Zusammenhang mit dem „Abschied“, dem frühesten seiner drei Kapitel, aufkamen115. Nur ist diese Befürchtung in seinem Fall unserer Ansicht nach unbegründet: Ob nun durch geistige Anstrengung oder sonst wie, doch es gelang Gradowski, dem Wahnsinn und dem Abstieg in den Roboterzustand zu entkommen. Anderenfalls hätte er wohl kaum mit der Arbeit an seinen Notizen beginnen können. Dennoch ist Gradowskis expressives und exaltiertes Erleben der Selektion und des damit einhergehenden Todes der ausselektierten Männer im „Abschied“ auf den ersten Blick geradezu erstaunlich. Schließlich zogen täglich Hunderte, Tausende jüdische Opfer an Gradowski vorüber – so viele, dass nicht mal der empfindsamste Mensch, geschweige denn ein Roboter aus dem Sonderkommando, den Tod jedes Einzelnen von ihnen als persönliche Tragödie nachempfinden könnte. Eine zentrale Rolle in den Texten Gradowskis kommt der Familie zu: Die Trennung der Familie durch die Selektion vergleicht er mit einem chirurgischen Eingriff. Als er sich von der Hoffnung auf eine wundersame Rettung seiner Familienmitglieder endgültig verabschiedet hatte, übertrug Gradowski seinen Familienbegriff auf die Lagergemeinschaft, auf sein Sonderkommando. Daher kommt die Benennung seiner Mitgefangenen als Brüder, dem entspringt die brüderliche Fürsorge für den jungen Landsmann Freimark. Dieser Familienersatz wurde für Gradowski zu einem Halt, zu einer provisorischen Instanz, die sein persönliches Ich mit der Tragödie des gesamten Judentums, das vor seinen Augen und nicht ohne sein Zutun vernichtet wurde, befriedete. Den Verlust nur eines Teils dieser Ersatzfamilie emotional zu verarbeiten, ersetzte ihm die Bewältigung des Todes seiner echten Angehörigen. Es kommt ja nicht von ungefähr, dass er, der den eigenen Worten nach den Tod seiner heiß geliebten Frau nicht beweint hatte, erstmals in seiner ganzen Zeit in Auschwitz Tränen vergoss, um einen anderen Tod zu beweinen: den noch nicht eingetretenen, aber unvermeidlichen Tod von 200 Kameraden, wobei er zu den meisten von ihnen sicherlich keinen persönlichen, erlebbaren Kontakt hergestellt haben konnte.

114 Die Gefühlslosigkeit hatte in Form besonderer Brutalität im Gesichtsausdruck auch eine körperliche Erscheinung (Kraus, Kulka, 1991. S. 201). 115 Vgl. etwa Polian A., 2011. S. 10.

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Zu gut waren die SoKo-Mitglieder einschließlich Gradowskis über die Todesmaschinerie informiert – außer vielleicht über deren größtes Geheimnis: den Moment, in dem sich ein lebendiger Körper in eine kalt erstarrte Leiche verwandelte. Gradowski ist der Einzige, der auch dieses Geheimnis in seinen Texten zu vermitteln versucht116. Insgesamt aber kann von einem Normalzustand der SoKo-Mitglieder keine Rede sein. Das Maß der Menschlichkeit und somit der Abnormität wurde von jedem Einzelnen persönlich geregelt. Bestimmend war dabei die Bereitschaft (und umso mehr die Fähigkeit), den Umständen zu trotzen, sich dem Geschehen buchstäblich zu widersetzen. Allein der Gedanke an einen Aufstand war zweifelsfrei die beste Medizin gegen das seelische Leid. Erst recht muss dessen praktische Vorbereitung den Häftlingen Freude bereitet haben. Dass Gradowski dem engsten Kreis der Verschwörer und Rebellionsanführer angehörte, wirkte sich bestens auf seinen psychischen Zustand aus: Schon im „Tschechischen Transport“ und erst recht in der „Mondnacht“ haben wir es längst nicht mehr mit dem Schatten menschlicher Existenz, der abgestumpft in den Ofenschlund starrt, zu tun, sondern mit einem Menschen, der des Geschehens gewahr ist und sich darin so gut auskennt, dass er sich den „Luxus“ rein künstlerischen Schaffens leisten kann. Und im „Brief aus der Hölle“117 haben wir gar einen Menschen vor uns, dessen Seelenzustand dem Wesen eines Roboters völlig fremd ist. Wir sehen einen zielgerichteten Menschen mit dem Willen zur Tat, zumindest einen Menschen, der nur einen Tag von dieser Tat entfernt ist. Er ist ganz und gar der Vorbereitung eines Aufstands hingegeben, dessen baldiger Abschluss ihn beunruhigt und, unabhängig vom Ausgang, beseelt. Der „Brief “ schließt Gradowskis Textkorpus ab. Geschrieben wurde er, darauf sei nochmal hingewiesen, als letzter der erhaltenen Texte: am 6. September 1944, nur einen Monat vor dem Aufstand des Sonderkommandos. Gedacht war er ausdrücklich als Botschaft an die Nachkommen  – „urbi et orbi“ –, an wahrhaftig alle auf der Welt. Beginnend mit der Beschreibung der Aschegruben und der Verstecke rund um die Krematorien geht der Brief in den Aufruf über, die Geheimverstecke überall zu suchen, wo nur möglich – ein Aufruf, der nach dem Krieg weniger ungehört als vielmehr unbeachtet blieb. 116 Diese Beobachtung verdanke ich I. Rabin. 117 Diese Überschrift stammt vom Herausgeber. Eine in anderen Publikationen ebenfalls vorkommende Variante ist „Brief an die Nachkommen“.

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8. Eine interessante Problematik ist auch diejenige der Unterschrift und des Autorennamens, die unter die drei Texte gesetzt sind. Den als letzten geschriebenen „Brief aus der Hölle“ hat Gradowski mit dem eigenen Namen gezeichnet. „Der Weg zur Hölle“ und einzelne Fragmente von „Im Herzen der Hölle“ sind hingegen anonym, gleichsam übervorsichtig gehalten. Doch ist es nicht so, dass der Leser  – auch der mögliche Leser von der Lagergestapo  – den Autor anhand mittelbarer Indizien nicht erkennen könnte, zumal in „Der Weg zur Hölle“ sowohl Kiełbasin als auch Lunna und die Ankunftszeit in Auschwitz genannt werden. In „Im Herzen der Hölle“, einem durchaus abgeschlossenen Werk, steht der Autorenname an keiner der üblichen Stellen: weder am Anfang noch am Ende. Die Problematik der Urheberschaft ist Gradowski indes keineswegs fremd: Sein Signum unter den Zeugnissen und damit seinen Namen in den Annalen bewahren wollte er gewiss. Deshalb ist die Einleitung zum zweiten Unterkapitel durch seine Initialen gekennzeichnet; an einer anderen Stelle, dem Schluss des Vorworts zum „Abschied“, hat er seine Initialen durch Zahlen codiert118; und in der Einleitung zum dritten Kapitel bittet er frei heraus, ihn mithilfe seines New Yorker Onkels zu identifizieren und die Notizen mit dem echten Namen ihres wirklichen Autors zu versehen. Es ist anzunehmen, dass diese Vorsicht auf die Intention der Geheimhaltung und die Befürchtung, die Notizen könnten in die falschen Hände geraten, zurückzuführen ist. Schließlich hätten die Aufzeichnungen den Autor und andere Eingeweihte das Leben kosten können. Dennoch hinderte diese Angst Gradowski nicht daran, seinen „Brief an die Nachwelt“ vom 6. September 1944 zu unterzeichnen. Bestand der Grund dafür ausschließlich darin, dass der Aufstand (der „Sturm“, wie er ihn an einer anderen Stelle bezeichnet) jeden Moment hätte ausbrechen können? Es wirkt so, als hätte die Vielfalt der Genres, in denen Gradowski seine Texte abfasste, einen eigenen Beitrag zur Problematik des Autorennamens geleistet. Beim genaueren Hinsehen wird nämlich deutlich, dass jeder der Texte mit einer eigenen Konnotation verfasst wurde. „Der Weg zur Hölle“ ist im Grunde ein rekonstruiertes, literarisch durchsetztes Tagebuch; die Notizen wurden zwar nicht zeitgleich mit dem Hergang

118 Sog. Gematrie (siehe oben).

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des Geschehens, jedoch der tatsächlichen Abfolge der Ereignisse entsprechend aufgezeichnet. Was im Text des zweiten Teils reliefartig hervortreten wird – die Kraft der Abstraktion und die Literarizität –, bahnt sich hier erst an (die rhetorische Figur des „Freundes“ beispielsweise, die hier an den nicht weniger rhetorischen „Mond“ heranwächst). Im zweiten Teil selbst („Im Herzen der Hölle“) verdichten sich das Künstlerische und Epische derart, dass sie das Berichtende und Chronografische merklich bedrängen. Es handelt sich schon um echte Poesie, die sich vom Faktografischen loslöst. Darin tauchen erstmals Ereignisse auf, deren Zeuge Gradowski nicht war, von denen er jedoch von anderen gehört hat. Deshalb erscheint uns „Im Herzen der Hölle“ als ein prosaisches Poem – ein vielleicht holpriges und unvollkommenes, aber dennoch ein Poem. Es ist episch, nur ist sein Epos kein dantischer, kein dramatischer, sondern vielmehr ein antiker und biblischer, ein im Sinne Aischylos‘ tragischer. Der „Brief aus der Hölle“ ist hingegen ein politisches Pamphlet in Reinkultur – ein Aufruf. Dies ist ein Brief an die Nachkommen, ein heroischer Ausschrei vor dem Tod oder vor der Hinrichtung, ein Ausschrei ins Gesicht der Feinde – mehr noch: ins Gesicht der Alliierten. Anonymität verträgt dieses Genre freilich nicht. Gradowski beeindruckt allein schon durch die Idee, statt eines dokumentarischen Zeugnisses ein Kunstwerk zu hinterlassen119. Schon in „Der Weg zur Hölle“ und erst recht im anderen Stück, „Im Herzen der Hölle“, wendet Gradowski rein literarische Methoden an. Vor allem ist dies die Ansprache des Lesers als eines Freundes und freien Menschen, eine Einladung, ihm zu folgen und die tragischen Bilder des Geschehens festzuhalten120. Dieser „Leser“ ist keine rein epische Figur, er ist näherhin das Alter Ego des Autors. Wenn der Autor stirbt (woran er selbst keine Sekunde zweifelt), die Handschrift aber überlebt, so überlebt mit ihr zusammen auch der Leser: Er übernimmt die Stafette und reicht sie weiter. Gradowski vermag es auch, präzise Begriffe zu finden, die „Residenz des Todes“ etwa, die für Auschwitz als Ganzes steht. Er kennt die bindende Kraft 119 Bei der ersten Gelegenheit, die sich ihnen bot, schrieben die Menschen im Inferno, wie in ihrem wirklichen Leben auch, Gedichte oder malten Bilder. Manchmal zeigte sich der künstlerische Trieb eines Menschen überhaupt erst in der Hölle. Wie Schmaina-Welikanowa bemerkte, wurde die Kunst in solchen Fällen stets wesentlich und unabdingbar, wurde sowohl vom Schöpfer als auch vom Leser, Zuhörer, Zuschauer zu einem Gebet erhoben. 120 Zu diesen Methoden gehört auch die vielfache Wiederholung von Einführungsphrasen, wie etwa „Wer weiß …“.

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der Wiederholungen und bedient sich dieses Heftfadens gern. Ihm gelingen in der Regel anaphorische Konstruktionen (ein herrliches Beispiel ist die Einleitung zur Gedenkpassage „Wieder im Block“ aus dem „Abschied“). Jeder ­einzelne Gegenstand und jede Gegebenheit – ob der Mond oder das Bett, die Baracke, eine Box (eine Pritsche) in der Baracke – werden bei Gradowski faktisch zur Figur. Er versucht, nicht nur seine eigenen Erfahrungen (auch seine Kindheitserinnerungen), sondern auch die Erfahrungen anderer zu abstrahieren. Also schreibt er, obwohl selber bei Kriegsausbruch kinderlos, viel über Kinder, stellt sich deren Erleben und Erziehung, deren Zutraulichkeit vor – all das, was er um sich herum sieht oder von anderen hört. Er bedient sich der Vorstellungskraft, auch um den Horror des Geschehens in Auschwitz weiter zu verdichten, und entwirft allerart Lebenssituationen, deren direkter Zeuge er möglicherweise gar nicht war, aber durchaus gewesen sein könnte  – das Unterkapitel „Er und sie“ im „Tschechischen Transport“ zum Beispiel oder die bildhafte, nahezu allegorische Charakterisierung der Verliebtheit in der „Mondnacht“: „Zwei Herzen spannen einen goldenen Faden, der Pirat riss ihn grausam entzwei.“ Es ist naheliegend, dass dieser stilistische Ansatz des Dichters Gradowski sich in der Praxis nicht selten in überreichliches Pathos verkehrt. Auch vor entlarvenden Sentenzen macht Gradowski nicht halt. Hart und erbarmungslos schreibt er Zeilen von der verbrecherischen Tatenlosigkeit der Alliierten und vom banalen Antisemitismus einiger Polen: „Die allgemeine Überlegung besteht darin, dass wir unter dem polnischen Volk lebten, die in der Mehrheit zoologische Antisemiten mit Leib und Seele waren. Sie freuten sich ja nur, als sie sahen, wie der Teufel, gerade erst in ihr Land einmarschiert, seine Grausamkeit gegen uns richtete. Mit geheucheltem Mitleid im Gesicht, aber mit Freude im Herzen, hörten sie die entsetzlichen herzzerreißenden Mitteilungen über immer neue Opfer: Hunderttausende Menschen, die der Feind auf grausamste Weise niedermetzelte. […] Eine immense Anzahl an Juden versuchte sich unter die polnische Dorf- oder Stadtbevölkerung zu mischen  – doch antwortete man ihnen überall mit der gleichen entsetzlichen Rückweisung: nein. Überall trafen sie auf verschlossene Türen. Überall wuchs eine Eisenwand vor ihnen aus dem Boden: Sie, die Juden, blieben allein auf großem offenem Platz, und der Feind konnte sie leicht fassen. Du fragst, warum die Juden keinen Widerstand leisteten?

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Und weißt du, warum? Weil sie ihren Nachbarn nicht trauten, die sie bei der ersten Gelegenheit verraten hätten.“

Wir hätten es heute leicht, Gradowski zu korrigieren, wissen wir doch von Abertausenden rechtschaffenen Polen, die unter Einsatz ihres eigenen Lebens Juden retteten. Doch aus persönlicher Erfahrung – in Lunna, Kiełbasin und Auschwitz – kannte Gradowski solcherart Fälle offenbar nicht. Seine Glaubensgenossen verschont der Autor auch nicht. In Anbetracht der Feigheit und Unterwürfigkeit der Männer aus dem Familienlager im Angesicht des Todes war Gradowski fassungslos. Als „Alteingesessene“ von Birkenau konnten sie doch keine Illusionen mehr nähren hinsichtlich dessen, was ihnen und ihren Familien blühte. Und im Unterschied zu all denen, die quasi aus dem Zug in die Gaskammer entladen wurden, hatten sie doch Zeit, sich darauf vorzubereiten und zumindest irgendeine Art von Widerstand zu leisten (Angst hatte davor offenbar auch die SS). Und obschon er selber die irrationalen Mechanismen beschreibt, die die Juden in solchen Minuten paralysierten, war er sichtlich enttäuscht: Sein Tonfall lässt keine Versöhnlichkeit erkennen. Kein Erbarmen kennt er auch mit „seinen“ Leuten vom Sonderkommando, obwohl er sie im „Abschied“ allesamt nicht anders nennt als seine Brüder. Auch hier geht es um das nicht erkennbare Heldentum der Juden, die zwar sehen, was die Selektion in ihren Reihen bedeutet, sich durch die Selektion jedoch entzweien lassen121: Die einen konnten die Linie ihrer eigenen Sicherheit nicht überschreiten, die anderen blieben vor der Linie ihrer Verdammnis erstarrt stehen. Dies gilt auch für ihn, für Salmen Gradowski persönlich. Er gesteht seine Schwäche und sieht ein, dass nur ein Aufstand diese Schande zu tilgen vermag. Sehr beachtenswert ist die Episode über einen gewissen „Gönner“ des Ghettos Kiełbasin – höchstwahrscheinlich dessen Kommandanten –, der den Juden ihre letzten Wertsachen wegnimmt. Selbst dieser Raub, diese Enteignung materiellen Guts wird von den Juden auf besondere Weise aufgefasst: als ein Hoffnungsschimmer, der sich, wer weiß schon wie, positiv auf ihre Lage auswirken werde. Eben deshalb, um der Hoffnung willen und nicht des Geldes oder eines Tellers Suppe wegen, arbeiteten die Juden ihren Feinden zu, ja sie glaubten und vertrauten ihnen sogar. 121 Wie im „Tschechischen Transport“ kommt auch hier die Dichotomie „wir – sie“ auf, nur dass sie jetzt innerjüdischen Charakters ist.

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Hoffnung (in erster Linie die Hoffnung, zu überleben) wird zu einer Ware, die bezahlt werden will. Im Verbund mit der Naivität verwandelt sie sich in die Handhabe zur Versklavung und Disziplinierung der Juden122.

9. Derweil kennt der Holocaust ein weiteres Meisterstück von gleicher Geltung wie das Poem Gradowskis: den „Großen Gesang vom ausgerotteten jüdischen Volk“ Jizchak Katzenelsons. Das Schicksal Katzenelsons und seines Epos‘ ist ebenfalls beispiellos. Der berühmte jüdische Dichter und Dramaturg aus Lodz wurde schon im September 1939 erst in das Ghetto seiner Heimatstadt und anschließend in jenes von Warschau eingeliefert, wo er sich am Aufstand vom 19. April 1943 beteiligte. Am 20. April 1943 floh Katzenelson zusammen mit seinem Sohn Zvi aus dem Ghetto. Die beiden versteckten sich zunächst im arischen Teil der polnischen Hauptstadt, bis sie das Land mit gekauften honduranischen Pässen und dem ungewöhnlichen Auftrag verließen, ein Poem zu schreiben … Sie landeten im Lager für prominente Juden, dem sogenannten Vorzugs-KZ, im elsässischen Vittel. Irgendwann zwischen dem 3. Oktober 1943 und dem 18. Januar 1944 verfasste Katzenelson doch tatsächlich ein Poem. Drei Monate später, am 18. April 1944, wurden Vater und Sohn erst nach Drancy deportiert, dann am 1. Mai 1944 nach Auschwitz, wo sie am 3. Mai ankamen und wo  – dies ist durchaus möglich – das erste und letzte Treffen Katzenelsons mit Gradowski stattgefunden haben könnte123. Was aber trug sich mit dem Manuskript des „Großen Gesangs“ zu? Dessen Schicksal ist nicht weniger beeindruckend, sind doch beide Exemplare des Manuskripts erhalten geblieben. Das erste Exemplar (das Original) war im März 1944 auf drei Flaschen verteilt unter den Wurzeln eines Baumes in Vittel vergraben worden. Im August 1944 grub Miriam Novitch die Flaschen aus und übergab sie an Dr. Nathan Eck124, der mit Katzenelson zusammen in ­Vittel gewesen war und nach Auschwitz verschickt wurde, es jedoch schaffte, 122 Vgl. Tadeusz Borowski: „Nicht von der Hand der Nazis, sondern aus Hoffnung kamen wir alle um. Hoffnung ist unser Zyklon B.“ (Borowski T. Proschtschanie s Marijej. Moskau 1989). 123 Ein indirekter Beleg dafür, dass dieses Treffen tatsächlich stattfand, ist der Bericht von Lejb Langfuß über einen französischen Rabbi aus Vittel. 124 Später Historiker, Mitarbeiter von Yad Vashem, in den 1960er Jahren Herausgeber des Magazins der Gedenkstätte.

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auf der Fahrt aus dem Zug zu springen und zu entkommen. Im Februar 1945 machte er sich auf die Suche nach dem Autor, in der Hoffnung, dieser habe durch irgendein Wunder überlebt. Die Suche blieb erfolglos. Daraufhin verfasste Eck ein Vorwort zu dem Gesang und veröffentlichte ihn Ende 1945 in Paris in Gestalt einer Broschüre. Zu dem Zeitpunkt befand sich auch das zweite Exemplar des Gedichts, das er im Winter 1944 eigenhändig auf dünnes Papier übertragen hatte, das auf dem Schwarzmarkt erworben worden war, bereits wieder in seinem Besitz. Der Blätterstoß mit dem dichterischen Werk wurde in den Tragegriff jenes Koffers eingenäht, mit dem Ruth Adler125 – nunmehr mit einem britischen Pass (statt des honduranischen) ausgestattet – 1945 nach Palästina reiste126. Die Aufgaben, vor denen Katzenelson und Gradowski standen, waren im Grunde wesensgleich: Es galt, die unaussprechliche Tragik der Katastrophe, die die Juden ereilt hatte, in Worte zu fassen. „Du, sing! Greif die zerhackte, deine nackte Harfe, singe doch Schmeiß ins Gewirr der Saiten deine Finger für ein Lied Sing schmerzgebrochene Herzen. Sing diesem Europa noch Den großen Abgesang von seinem allerletzten Jid. […] Sing! und erheb die Stimme, sing mit Schmerz und Wut Such! such, da oben, ob es ihn noch gibt und seine Welt sich dreht Sing ihm hoch oben seines letzten Jidden letztes Lied: Der Jud Gelebt, krepiert und ohne Grab vom Wind verweht. Sing dennoch! Hebe blind zum Himmel auf dein‘ Blick Als gäbs ein‘ Gott da oben, wink ihm, wink Als käm uns noch von dort und leuchtete das Glück Hock auf Ruinen deines Volks, das ausgerottet ist, und sing! […] 125 Ruth Adler (1919–?), deutsche Jüdin aus Dresden, lebte seit 1935 in Palästina. Bei Kriegsausbruch weilte sie bei ihren Eltern in Paris. Die Eltern und die kleinere Schwester wurden nach Auschwitz deportiert, sie selbst wurde in den Konzentrationslagern Besançon und Vittel interniert, wo sie denn auch Katzenelson kennenlernte. Bei einer Austauschaktion zwischen den Kriegsparteien  – Zivilisten, hauptsächlich Juden, wurden gegen deutsche Kriegsgefangene eingetauscht – gelang es ihr, einen Teil des Archivs des Dichters aus dem Lager zu schmuggeln und zu erhalten. 126 Die beiden Manuskripte – jenes aus der Flasche und jenes aus dem Koffergriff – befinden sich derzeit im Ghetto Fighters’ House – Yitzhak Katzenelson Holocaust and Jewish Resistance Heritage Museum im Norden Israels.

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Die ihr verfüttert wurdet, schreit aus Fischen in dem Teich Aus dem Gedärm der wilden Tiere wehklagt, Groß und Klein Im Kalk, mein abgeschlachtet Volk, schrei los! jetzt gleich Ich brauche dein Gebrüll am Spieß, hilf mir mit deinem Hilfeschrein. Schrei nicht zum Himmel, der ist taub wie Dreck im Erdenloch Nicht tauben Ohren predige, ach und zur Sonne schreie nicht Auslöschen möchte ich sie. In dieser Mördergrube braucht es doch Gar keine Lampe, denn in meinem Volk leuchtet das hellste Licht.“127

Die Verbitterung wegen Gottes verräterischer Untätigkeit entlädt sich bei Katzenelson nicht in einem lauthalsen Vorwurf, sondern wird quasi zum Gotteskampf Ijobs, zum Zweifel an der Existenz des Schöpfers, der all das zulassen konnte: „Sing! und erheb die Stimme […] Such! such, da oben, ob es ihn noch gibt […]“128

Gradowski hat sicherlich auch Gründe, sich ähnlich am Schöpfer abzuarbeiten. Doch in seiner Verzweiflung fordert er ihn nicht heraus, weil er keine Hoffnungen mehr auf ihn setzt. Wenn er überhaupt auf Rettung hofft, dann nicht von oben, sondern aus dem Osten, von den Sowjets. Eine andere zentrale Gemeinsamkeit der beiden Werke fällt auf. Der neunte Gesang des „Großen Gesangs“ ist „Den Himmeln“ gewidmet und spielt exakt dieselbe Rolle wie Gradowskis „Mondnacht“129. Beide richten sich an den Himmel – fassungslos, warum der sich damit abfindet, was unten geschieht, und die Mörder durch Blitz und Donner nicht niederstreckt. Der Dichter wendet sich enttäuscht vom Himmel ab („Und hatte mal an euch geglaubt …“130) und lässt es letztlich ganz, sein Haupt gen Himmel zu erheben. Sind die Juden noch immer dieselben wie vor 3.000 Jahren, so hat sich der Himmel gewandelt: Verlogen, herzlos, verräterisch ist er geworden. Bei so einem Himmel bleibt nur eins übrig: ihn zu bespucken. Da hat der Dichter einen Gedankenblitz: „Ihr seid so leer von Gott, ihr Himmel …“. Es gibt ihn nicht, weil er tot

127 Katzenelson, 2004. S. 49, 51, 52 (in der Übersetzung von W. Biermann). 128 Katzenelson, 2004. S. 49. 129 Der Mond kommt übrigens auch bei Katzenelson vor, als ein sehr spezifisches Element des Himmels: Katzenelson spricht den Mond als Frau Luna an und nennt sie eine Heuchlerin, gar eine „alte Hure“, die sich nachts auf dem Strich verdingt. 130 Katzenelson, 2004. S. 97.

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ist – gestorben wie sein Volk –, weil auch er – mit Horde und Herde131 – ein ermordetes Opfer ist. Mit ihm gemeinsam ist übrigens etwas umgekommen, das für die Juden weitaus bedeutsamer ist: die Idee des Monotheismus! „Ihr Himmel seid so ganz und gar mit Nichts erfüllt, so elend leer Ihr Himmel seid ne einzige Wüste, endlos weit. Ich hab Mein‘ einzigen, ich hab mein‘ einen Gott in euch verloren. Doch Es wurden, Himmel, unter euren Augen umgebracht gleich drei: Als Gott der Juden wurde Gott getötet und dazu sein Geist Und nebenbei der kleine Jid aus Galiläa, der verrückte Reb So große Engelmacher wie die Nazis gab es unterm Himmel nie Was für’ne niederträchtige, was für’ne ekle Götzendienerei.“132

Diese eigenartige Interpretation der Tradition Ijobs – einer Tradition der Enttäuschung und äußersten Verzweiflung bis hin zur Auflehnung gegen Gott (Theomachie) – reicht zurück auf die Dichtung Chaim Bialiks, des Autors des Poems über den Pogrom von Chișinău: „… so stürze sein Thron für immer dann hin und im ewigen Bösen der Himmel vergehe!“133 Es fehlt im Himmel nunmehr auch der Mond aus der jüdischen Überlieferung, der einst segensreiche Segnende, der den Juden auch ihren Kalender geschenkt hatte. Dennoch ist bei Gradowski der Mond kein Verräter, sondern ein Zeuge, den er jener absoluten Teilnahmslosigkeit beschuldigt, mit der er auf all das blickt, was irgendwo dort unten geschieht.

10. Salmen Gradowski ist also nicht nur eine der heldenhaftesten Figuren des jüdischen Widerstands, nicht nur Chronist, Verschwörer und Optimist – er ist auch ein Literat! Sein „Im Herzen der Hölle“ ist  – als einziges der vergleichbaren Zeugnisse aus dem Sonderkommando  – kein Tagebuch, kein Brief, kein Bericht, den der Autor mit einem Strick um den Hals mitten im „Anus Mundi“ verfasst. An der Literarizität des Ansatzes Gradowskis ändert sich auch dadurch nichts, dass auf der Welt kein Ort zu finden ist, der zur

131 Eine Paraphrase aus den „Versen vom unbekannten Soldaten“ Ossip Mandelstams. 132 Katzenelson, 2004. S. 105. 133 Darauf wies auch Efim Etkind hin, in seinem Vorwort zur russischen Ausgabe des Poems von ­Katzenelson (Katzenelson, 2000. S. 12).

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Talentförderung und zum literarischen Ausprobieren ungeeigneter wäre als das späte Auschwitz-Birkenau mit seinen Gaskammern und Krematorien. Den ihm zugefallenen Schaffensort vergleicht Gradowski nachvollziehbarerweise mit einem Inferno. Nur war Gradowskis Hölle wegen ihrer unfass­ baren Realität, geisttötenden Banalität und nackten Technologizität unermesslich grausamer als die Hölle von Dante. Und im Unterschied zum großen Florentiner war es dem jungen Juden aus Suwałki nicht vergönnt, aus dem Inferno lebend zurückzukehren. Gradowski hatte keine Gelegenheit, „seine Idee reifen zu lassen“, „Quellenarbeit zu betreiben“ oder „die Anmerkungen des Redakteurs zu berücksichtigen“. Vor dem Krieg zeigte er seine Essays Dawid Sfard, dem Schriftsteller der Familie. Gradowskis Aufregung muss groß gewesen sein: Was würde der Schwager über sein Geschreibe wohl sagen? Der rügte seinen jüngeren Verwandten ganz bestimmt wegen der unauslöschlichen Verschmelzung von Empfindsamkeit und Pathetik in dessen Texten. Diese Verschmelzung wird auch in den hier veröffentlichten Texten erkennbar: Ein literarisches Genie war Gradowski im Unterschied zu Dante freilich nicht. Doch sein Wort, sein Stil, seine Metaphorik, die sich von Anbeginn nicht mehr und nicht weniger als an der religiösen jüdischen Kunst orientieren  – an den Lamentos der Spätpropheten im Geiste der Klage Jeremias anlässlich der Tempelzerstörung 586 v. Chr. –, sind erstaunlich präzise auf das Wesen und Ausmaß der Tragödie zugeschnitten. Gradowskis Zeilen strahlen eine derartige Gewissheit aus, dass der Eindruck entsteht, alles musste genau so – und nur so – geschrieben werden. Es ist einfach unbegreiflich, wie er sich in die Vorgänge einfühlte, wie er sie einfing, aber sein dichterisches Wort entfaltet mitunter nicht nur eine überwältigende Kraft, sondern, trotz allem, auch Schönheit134. Die Notizen wurden, exakt so, wie Gradowski es erwartet hatte, nach der Befreiung von Auschwitz-Birkenau als einige der ersten entdeckt. Dieses Wunder wurde zur Kadenz seines beispiellosen Lebens und Abschieds. Endlich erhielt er die Möglichkeit, gehört und gelesen zu werden.

134 Als ein weiteres Muster literarischen Schaffens im Sonderkommando können die Aufzeichnungen von Salmen Lewenthal dienen. Seine Notizen haben mit jenen Gradowskis viel gemeinsam (die mit dem Ghetto beginnende Exposition, der Schock wegen dessen, was mit den Juden in Auschwitz passiert, und wegen der eigenen Rolle darin u.v. a.m.). Doch zeichnen sich Lewenthals Notizen durch betonte Bodenständigkeit und Faktizität aus – bis hin zur Angabe Dutzender echter Namen entgegen allen Regeln der Konspiration.

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11. Dafür mussten sie aber noch einmal „gefunden“ werden. Zunächst dank der Erwähnung des Notizbuchs Salmen Gradowskis im Archiv des Wehrmedizinischen Museums in Sankt Petersburg. Dem in Jiddisch verfassten Dokument zu begegnen und seine Geschichte zu erfahren, war wie ein heftiger Stoß. Die erste Reaktion – noch vor der Vertiefung ins Thema und die entsprechende Literatur – war: Das muss auf Russisch erschallen! Schon im Januar 2005  – dem Jahr des 60.  Jahrestags der Befreiung von Auschwitz – kam es zur ersten Veröffentlichung Salmen Gradowskis in russischer Sprache. Es war die Publikation des „Briefs an die Nachwelt“135, eines kleinen, aber schillernden Fragments in der damals bereits existierenden Übersetzung Meer Karps. Alles andere bedurfte vor allem einer sorgfältigen Übersetzung, welcher auch das zweite – das „Jerusalemer“ – Manuskript Gradowskis harrte, das erst durch die Fachliteratur bekannt geworden war. Diese kolossale Arbeit hat Alexandra Polian auf sich genommen und innerhalb von zwei Jahren vollendet. Parallel dazu musste eine weitere Aufgabe bewältigt werden, nämlich der Versuch, sich des Stellenwerts der Texte Gradowskis, ihrer Bedeutung für die Geschichte und die Literatur gewahr zu werden. Jeder neue Abschnitt der Arbeit an diesen Quellen gab nur lückenhafte Antworten und stellte neue, oftmals noch schwerer zu beantwortende Fragen. Der Edition dieses Buches ging die Erscheinung etlicher seiner Fragmente in zahlreichen Publikationen voraus. Anfangs war es der „Brief an die Nachwelt“ in russischen und deutschen Periodika (in den Moskauer Zeitungen „Iswestija“ und „Jewrejskoe slowo“ sowie in der „Jüdischen Zeitung“ und der „Jüdischen Allgemeinen“ aus Berlin). Später erschienen umfassendere Notizen Gradowskis, begleitet von Auswertungsmaterial. Die wichtigste Veröffentlichung war zweifellos das Erscheinen des gesamten Textes Gradowskis und eines wesentlichen Teils der Begleitmaterialien in der Juli-, August- und September-Ausgabe der Zeitschrift „Swesda“ im Jahr 2008. Im Grunde handelte es sich bei der Zeitschriftenversion um nichts anderes als die erste Ausgabe des Gesamtwerks Gradowskis136. Erstmalig 135 Dem entspricht in der vorliegenden Ausgabe „Der Brief aus der Hölle“. 136 Ein kleines Fragment von „Im Herzen der Hölle“ erschien in der Berliner Monatszeitung „Jewrejskaja Gaseta“ (2009, Juni. S. 21).

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­ urden so alle seine Texte, die uns erreicht haben, in russischer Sprache als w eine Ganzheit präsentiert. Im Mai 2010 und im Januar 2011 erschienen jeweils alle Texte Gradowskis im Verlag „Gamma-Press“ in einer Buchedition. Das erste, zum 65. Jahrestag des Kriegsendes erschienene Buch137 entsprach nur in Teilen dem Konzept des Herausgebers Pavel Polian138. So sind hier etwa die für die sowjetisch-russische Geschichtsschreibung üblichen Bezeichnungen der Konzentrationslager als „Oswiecim“ und „Brzezinka“, die in der Zeitschriftenversion verwendet worden waren, durch die authentischen „Auschwitz“ und „Birkenau“ ersetzt worden. Das ursprüngliche Vorhaben des Herausgebers wurde aber erst in der zweiten Ausgabe umgesetzt, die am 27. Januar 2011 erschien, zum Jahrestag der Befreiung des KZs Auschwitz durch die Rote Armee, der in den meisten Ländern der Welt als Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust begangen wird139. Dieses Buch wurde dreiteilig gestaltet. In den ersten, einführenden Teil sind die Anmerkungen des Herausgebers und der Übersetzerin sowie der einführende, diesmal authentische Artikel „Und auch am Ende war das Wort …“ eingegangen. In den zweiten, den Hauptteil, sind Gradowskis Texte in kommentierter Fassung aufgenommen worden. Der dritte, als „Anhang“ betitelte Teil enthält einige Artikel Pavel Polians: „Die Handlanger des Todes: das Sonderkommando in Auschwitz-Birkenau“, „Das vernichtete Krematorium: Sinn und Preis eines Aufstands“, „Die Entdeckungs-, Übersetzungs- und Publikationsgeschichte der in Auschwitz gefundenen Manuskripte“ sowie „Die Chronik des Sonderkommandos in Auschwitz-Birkenau“140. Das Bildmaterial wurde wesentlich erweitert und in einer eigenen Beilage zusammengestellt. Im Vergleich zur Publikation in der Zeitschrift „Swesda“ sind die Texte Gradowskis in den Büchern anders arrangiert. In der Magazinversion stand 137 Es erschien in zwei Modifikationen: mit und ohne Kartonbox, entworfen von D. Anikejew. 138 Neben den Texten Gradowskis, an denen im Vergleich zur Zeitschriftenversion eine zusätzliche stilistische Redaktion vorgenommen worden war, fanden darin Eingang: ein Einführungsartikel („Und auch am Ende war das Wort“ P. Polians – in einer mit dem Autor bedauerlicherweise nicht abgesprochenen Version), ein Kommentar zum Text (P. Polian und A. Polian), Anmerkungen des Herausgebers (P. Polian), der Übersetzerin (A. Polian), des Verlegers (M. Zilberquit) und – ebenfalls entgegen dem Willen des Herausgebers – eine Anmerkung über das Wehrmedizinische Museum des Verteidigungsministeriums (A. Budko). 139 Im darauffolgenden Herbst wurde die Edition als „Buch des Jahres“ nominiert. 140 Diese Artikel haben die Grundlage für die entsprechenden Kapitel der vorliegenden Ausgabe gelegt, wofür sie grundlegend überarbeitet wurden.

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ein Dokument an erster Stelle, das offenbar als letztes verfasst worden war, nämlich der „Brief aus der Hölle“. Deshalb war die gesamte Publikation durch diese kurz vor dem Tod entstandene Ansprache an die Nachkommen emotional aufgeladen. Die Bucheditionen folgen indes dem geschichtlich-chronologischen Ansatz, der auch in dieser Ausgabe beibehalten wurde: Alles fängt damit an, was dem Lager vorausging („Der Weg zur Hölle“), es folgt das Geschehen in Auschwitz-Birkenau („Der Weg zur Hölle“, „Im Herzen der Hölle“), und den Abschluss bildet der „Brief aus der Hölle“, ein leidenschaft­ licher Aufruf – nein, Aufschrei! – angesichts des bevorstehenden Todes, der sich an uns, an seine Zeitgenossen und seine Nachkommen richtet: Findet und lest die Notizen, begreift das Undenkbare und bewahrt euch den Zorn als Erinnerung an das Geschehen in der Hölle auf Erden. Den Aufruf zur Rache hatte Gradowski anderen überlassen. Seinen Brief schließt er mit den Worten ab: „Möge die Zukunft anhand meiner Aufzeichnungen ihr Urteil über uns sprechen und möge die Welt in ihnen einen Tropfen, ein Minimum jener schrecklichen, tragischen Todeswelt erkennen, in der wir lebten.“ Im September 2013 ist im Feniks-Verlag in Rostow am Don die erste Ausgabe der russischsprachigen Version dieses Buches erschienen.

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Salmen Gradowski: Texte [Der Weg zur Hölle] Zainteresujcie się tym dokumentem, który zawiera bogaty material dla hystoryka *** Заинтересуйтесь этим документом, ибо он вмещает в себя богатый материал для историка *** Interessez vous de ce document parce que il contien un materiel trés important. […] *** Interessieren Sie sich […] diesem dokument, […] sehr wichtiges […] enthält 141

Gewidmet meiner Familie, die in Birkenau-Auschwitz verbrannt wurde. Meiner Frau Sonia Meiner Mutter Sara Meiner Schwester Ester Rachel Meiner [Schwester] Liba Meinem Schwiegervater Rafael Meinem Schwager Wolf 141 Diese Aufforderung in vier europäischen Sprachen ist auch auf der allerletzten Seite des Notizbuchs den Widmungen (zitiert nach Mark B., 1977. S. 286) vorangestellt. Jeder neue Satz ist vom vorhergehenden durch eine Markierung abgetrennt. Mit der Zeit hat die Lesbarkeit dieser von Bernard Mark gelesenen Aufzeichnungen  – auch bei Einbezug der Originaltexte  – deutlich nachgelassen. Hier werden Fragmente angeführt, deren Entschlüsselung Alexandra Polian 2007 gelang. Der polnische Text ist vollständig unleserlich. Der deutsche Text lautet: „[…] Dokument […] wichtiges“; der russische (Schreibweise beibehalten): „[…] интересоватся с етим [докумен]том то он […]вает в себя богаты матерял для историка“; der französische: „[…] de ce document […] important“. An sich ist der Text, der höchstwahrscheinlich als letzter eingefügt wurde, eine Paraphrase der Einleitung zum am 6.9.1944 geschriebenen und vergrabenen „Brief “.

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Komm her zu mir, du Mensch der freien Welt – einer Welt ohne Zäune –, und ich berichte dir davon, wie […] eingezäunt und in Ketten gelegt wurde. Komm her zu mir, du glücklicher Weltbürger, der du dort lebst, wo es das Glück, die Freude und das Behagen noch gibt, und ich lege dir dar, wie die Gauner und Verbrecher unserer Zeit das Glück eines Volkes in Trauer, die Freude ins ewige Unglück verwandelt, dem Behagen ein Ende bereitet haben. Komm her zu mir, du freier Weltbürger! Dein Leben wird von menschlicher Moral geleitet, deine Existenz schützt das Gesetz. Ich aber werde dir darlegen, wie die modernen Verbrecher und niederträchtigen Banditen die Moral ausgerottet und alle Lebensgesetze getilgt haben. Komm her zu mir, du freier Weltbürger! Eine neue Chinesische Mauer grenzt dein Land von uns ab, und die Höllenfürsten können euch nicht ergreifen. Ich aber berichte dir davon, wie sie ein ganzes Volk in ihrer teuflischen Umarmung gefangen hielten, ihre monströsen Krallen blutrünstig in seinen Hals gestoßen und es erwürgt haben. Komm her zu mir, du freier Mensch, der das Glück hatte, der Herrschaft dieser modernen unmenschlichen Piraten nicht gegenüberstehen zu müssen! Ich erzähle und zeige dir, wie und mit welchen Methoden sie Millionen von Menschen eines Volkes zugrunde gerichtet haben, das für sein märtyrerhaftes Schicksal längst berühmt ist. Komm her zu mir, du freier Mensch, der das Glück hatte, in die Hände dieser abscheulichen, kultivierten zweibeinigen Tiere nicht geraten zu sein. Ich erzähle dir, mit welch raffinierten sadistischen Methoden sie Millionen von Menschen eines einsamen hilflosen Volkes – des Volkes Israels –, das von niemandem Hilfe bekommen hatte, zugrunde gerichtet haben. Komm her und sieh, wie ein Kulturvolk gemäß einem teuflischen Gesetz […], welches dem Kopf des größten Gauners und hinterhältigsten Verbrechers entsprungen ist, wie die sadistische Welt ihn noch nicht gekannt hatte. Komm […] Komm jetzt, solange die Vernichtung noch auf vollen Touren läuft. Komm jetzt, solange die Vernichtung noch mit allem Eifer herrscht. Komm jetzt, solange der Todesengel sich an seiner Macht berauscht. Komm jetzt, solange in den Öfen noch das Feuer wütet. Komm, stell dich hierhin, warte nicht darauf, bis die Flut vorbeigerauscht ist, die Finsternis sich verflüchtigt hat und die Sonne wieder scheint. Sonst wirst du vor Verwunderung erstarren und deinen Augen nicht trauen. Wer weiß es schon, ob mit der Flut nicht auch diejenigen verschwinden, die deren lebendige Zeugen sein und dir die Wahrheit berichten könnten. 228

Salmen Gradowski: Texte

Wer weiß es schon, ob die Zeugen dieser finsteren Horrornacht das Frühlicht noch erleben. Vielleicht wirst du denken, schuld an dieser entsetzlichen Katastrophe sei der Kanonendonner, es sei der Krieg, der die Vernichtung gebracht habe, die unser Volk ereilt hat. Vielleicht wirst du denken, dass die vollständige Liquidierung der Juden Europas sich infolge eines Naturereignisses zugetragen habe, dass die Erde plötzlich aufgegangen sei, dass eine übernatürliche Kraft die Juden von überall her versammelt und der Abgrund sie verschluckt habe. Du wirst nicht glauben, dass solch eine grausame Vernichtung von Menschen erdacht sein könnte, obschon sie sich bereits in wilde Tiere verwandelt haben. Komm mit mir mit, mit mir, dem einsamen am Leben gebliebenen Sohn des Volkes Israel, der aus seinem Haus vertrieben worden ist, der gemeinsam mit seiner Familie, mit Freunden und Bekannten vorläufige Ruhe in Erdbaracken fand und von dort ins vermeintliche Arbeitslager überstellt wurde. Inmitten eines riesigen Judenfriedhofs fand er sich wieder, wo ich gezwungen worden bin, zum Wächter der Höllenpforte zu werden, welche Abermillionen von Juden aus ganz Europa passiert haben und noch hindurchgehen. Ich war bei den Juden, als sie auf der Rampe standen. Ich teilte mit ihnen die letzten Minuten, und sie eröffneten mir ihre letzten Geheimnisse. Ich begleitete sie bis zum letzten Schritt: Danach fielen sie in […] des Todesengels und verschwanden für immer aus dieser Welt. Sie erzählten mir alles: Wie sie aus dem Haus vertrieben worden waren, welche Qualen sie hatten ertragen müssen, bevor sie hierhin gerieten und dem Teufel geopfert wurden. Komm her, mein Freund. Steh auf, verlasse deine gemütlichen warmen Paläste, fasse Mut, sei tapfer, und schreite mit mir den europäischen Kontinent durch, wo der Teufel seine Herrschaft errichtet hat. Ich stelle konkrete Fakten bereit und berichte dir davon, wie eine hochzivilisierte Rasse das schwache, schutzlose und keines Unrechts schuldige Volk Israels vernichtet hat. Fürchte dich vor diesem weiten und schrecklichen Wege nicht. Fürchte dich nicht vor den Bildern des Grauens, der Bestialität, die du wirst sehen müssen. Habe keine Angst, und ich zeige dir alles, der Reihe nach. Du wirst deine Augen nicht abwenden können von dem, was du sehen wirst; dein Herz wird stumpf, deine Ohren werden taub werden. Nimm dir Dinge mit auf den Weg – Dinge, die dir in Kälte und Nässe, in Hunger und Durst dienen; wir werden schließlich in frostiger Nacht auf verlassenen Feldern verbringen und meine elenden Brüder auf ihrem letzten 229

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Weg – beim Todesmarsch – begleiten; wir werden Tage und Nächte wandern, von Durst und Hunger gepeinigt. Wir werden auf Europas langen Wegen irren, auf denen die modernen Barbaren Millionen von Juden dem schreck­ lichen Ziel entgegentreiben: hin zum Altar, auf dem sie geopfert werden. Lieber Freund, du bist zu unserer Reise schon bereit – doch ich habe eine Bedingung. Verabschiede dich von Frau und Kind: Du wirst, nachdem du die entsetzlichen Szenen gesehen hast, nicht länger leben wollen, in einer Welt, in der der Teufel dergleichen treiben kann. Verabschiede dich von Freunden und Bekannten: Du wirst mit unvorstellbarem Sadismus und undenkbarer Grausamkeit konfrontiert werden; deinen Namen aus der menschlichen Familie tilgen wollen, und du wirst den Tag verdammen, an dem du das Licht der Welt erblicktest. Sage ihnen, deiner Frau und deinem Kind, dass, wenn du von dieser Reise nicht zurückkommst, dann nur, weil dein menschliches Herz sich als zu schwach erwiesen hat, um die Last jener entsetzlichen Taten zu ertragen, die deine Augen sahen. Sage deinen Freunden und Bekannten, dass, wenn du nicht zurückkehrst, dann nur, weil das Blut in deinen Adern gefror und zu fließen aufhörte, als du Zeuge dieser sadistischen Szenen wurdest, als du sahst, wie unschuldige wehrlose Kinder meines hilflosen Volkes starben. Sage ihnen, du wirst auch dann nicht zu ihnen zurückkommen, wenn dein Herz zu Stein geworden ist, und dein Hirn sich in einen kalten denkenden Mechanismus verwandelt hat, und deine Augen nur noch dazu fähig sind, das Geschehen fotografisch zu fixieren. Sollen sie dich irgendwo in urzeitlichen Wäldern suchen: Du wirst der von Menschen bewohnten Welt entfliehen und inmitten wilder Tiere Trost suchen, nur um sich nicht bei den kultivierten Höllenfürsten aufhalten zu müssen. Denn selbst einem Tier setzt die Kultur Grenzen: Seine Krallen werden weniger scharf, es selbst wird weniger grausam. Umgekehrt verhält es sich beim Menschen, wenn er sich zum Tier wandelt. So wird er umso grausamer, je mehr Kultur er hat. Je mehr Zivilisation, umso mehr Barbarisches ist in ihm. Je höher seine Entwicklung, desto entsetzlicher seine Taten. Komm mit mir mit. Wir werden uns auf den Flügeln des Stahladlers erheben und über dem großen tragischen Horizont Europas fliegen, von wo aus wir alles durch eine mikroskopische Linse beobachten und überall durchdringen werden. Fasse mich an der Hand, du wirst noch Entsetzlicheres sehen. 230

Salmen Gradowski: Texte

Sei stark, ersticke die Gefühle in dir, vergiss Frau und Kind, Freunde und Bekannte, vergiss die Welt, aus der du kommst. Stelle dir vor, du siehst keine Menschen, sondern abscheuliche Tiere, die es zu vernichten gilt, weil der Anblick sonst unerträglich ist. Sei tapfer, wenn du in feuchten Gräbern noch lebende Kinder siehst – du wirst sie noch in einer weitaus entsetzlicheren Lage sehen. Sei tapfer, wenn du in einer frostigen Nacht eine gewaltige Judenschar siehst, die aus den Gräbern getrieben und dann wer weiß wohin geführt werden. Dein Herz soll nicht erschaudern, wenn du das Gewimmer der Kinder, das Geschreie der Frauen, das Gestöhne der Greise und Kranken hörst – was dir zu sehen und zu hören bevorsteht, ist weitaus schlimmer. Erschrick nicht, wenn du im Morgengrauen die Leichen alter Väter und Mütter auf der Straße und die blutbesudelten Leichen jener Kranken siehst, die die Strapazen der schweren Strecke nicht aushalten konnten. Denk nicht an die, die schon von uns gegangen sind – stoße lieber einen Seufzer für die noch Lebenden aus. Zittere nicht, wenn du siehst, wie die Masse in Bahnwaggons getrieben wird  – als wären sie nichts als totes Inventar  – in solcher Enge, dass ihnen keine Luft zum Atmen bleibt. Sie werden an einen anderen, viel entsetzlicheren Ort gebracht. Nun, mein Freund, da ich dir alle Anweisungen gegeben habe, können wir jetzt einen Flug über einem der zahllosen polnischen Lager unternehmen, in denen Juden aus Polen und anderen Ländern eingeschlossen sind, die […] hierhin geschickt wurden, von wo aus es keinen Weg zurück gibt, weil die Ewigkeit selbst hier ihre Grenzen errichtet hat. Tritt näher, mein Freund, wir rauschen jetzt über das Lager, wo ich und meine Familie wie Zehntausende andere Juden auch einige Zeit verbrachten. Ich werde dir erzählen, was sie in diesen entsetzlichen Minuten getan hatten, ehe sie zu ihrem letzten Bestimmungsort aufbrachen. Mein Freund, hör dir genau an, was hier passiert. Es herrscht bedrückte Stimmung in dem Lager: Für heute ist eine Aussiedlung von Menschen aus mehreren Schtetln gleichzeitig angesetzt. Alle sind erschüttert, wer wegfahren muss genauso wie diejenigen, die erst morgen dran sein könnten. Es ist offensichtlich, dass die Führung das Lager im Eilverfahren liquidiert. Folgende Auskünfte kommen an: Auch aus der Stadt fahren regelmäßig die Transporte ab, und alles geschieht mit der gleichen Grausamkeit wie hier auch. Die Gendarmen sperren mehrere Straßen ab, gehen von 231

Die Chronisten und ihre Texte

Haus zu Haus, führen Junge und Alte, Kranke und Gebrechliche hinaus, als wären sie die gefährlichsten Verbrecher, und alle werden in der großen Synagoge zusammengetrieben und von dort aus unter verstärkter Bewachung zu den Zügen geführt, wo bereits Güterwaggons – die für den Viehtransport – für sie bereitstehen. Dort werden sie hineingepfercht wie abscheuliche Bestien. Die Menschen werden so dicht aneinandergedrängt, dass sie von Anfang an nicht genug Luft zum Atmen haben. Wenn sie sehen, dass das Gedränge nicht mehr auszuhalten ist, dass Menschen in der Luft hängen, dann werden die Türen geschlossen und mit Metallschiebern verriegelt, und die Waggons fahren unter Wachschutz in unbestimmter Richtung ab – an jenen Ort, der als Arbeitsort der konzentrierten Juden dienen soll. Wer sich zu verstecken versucht, oder wer verdächtigt wird, sich vor der Arbeit drücken und fliehen zu wollen, wird an Ort und Stelle erschossen. An der Türschwelle der großen Synagoge von Grodno klebt Blut Dutzender junger Menschen: Sie wurden bezichtigt, erkannt zu haben, was man mit ihnen vorhat, und dem Schicksal, die Opferstätte als Erste zu besteigen, entkommen zu wollen. Die Machthaber  – die raffinierten Gauner, die niederträchtigen Verbrecher – hatten gesehen, dass das System zur Verschickung der Menschen direkt aus der Stadt in den Zug ihnen künftig ernste Schwierigkeiten bereiten könnte, weil ein gewisses Risiko besteht, dass Gruppen verzweifelter junger Menschen, die frei von familiären Verpflichtungen sind, sich zusammenfinden. Die könnten mit Gewalt reagieren und in die Wälder gehen, um sich dort inmitten der wilden Tiere zu verstecken  – Hauptsache, man ist nicht unter denen –, oder in den tiefsten Wäldern abtauchen, wo einzelne Gruppen heldenhafter Kämpfer sich verstecken, die ihr Leben für unser aller Freiheit und Glück opfern. Sie werden die Unterdrücker bei deren Kampf um Macht und Herrschaft behindern. Die haben sich ihrerseits, um all das zu vermeiden, damit ihr verbrecherischer Plan verlässlicher ist, anderer raffinierter Methoden bedient, deren Zweck es ist, das Bewusstsein zu betäuben und zu benebeln. Sie haben das Gerücht verbreitet, dass der Konzentrationspunkt für die Juden aus Grodno ein Lager in der Provinz sein werde, das gerade in diesem Moment für uns geleert werde. Von diesem Opium der Illusion waren selbst diejenigen trunken, die es geschafft hatten, die Intuition, die realitäts­nahen Vorstellungen von den Geschehnissen und der Zukunft zu bewahren, diejenigen, die zum Kampf und Widerstand bereit gewesen wären. Nun hat also die Konzentration der Juden aus Grodno im Lager begonnen. ** 232

Salmen Gradowski: Texte

Komm her, mein Freund. Heute soll „unser“ Transport bereitgestellt werden. Lass uns auf die Straße gehen, die zum Lager führt. Tritt näher heran, wir stellen uns etwas abseits hin, damit das schreckliche Bild besser zu sehen ist. Siehst du, lieber Freund, dort in der Ferne liegt auf weißer Straße eine schwarze Masse, und sie rührt sich nahezu gar nicht, sie ist von schwarzen Schatten umgeben, die sich immer wieder zu ihnen herunterbeugen und ihnen auf den Kopf schlagen. Wer ist das: nur Vieh, das irgendwohin getrieben wird, oder Menschen, die aus irgendeinem Grund um die Hälfte geschrumpft sind? Man erkennt es nicht. Schau, sie nähern sich uns. Abertausende Juden sind das, junge und alte, die jetzt auf dem Weg zu ihrem neuen Zuhause sind. Sie gehen nicht, sondern kriechen auf allen vieren, wie es der junge Gauner befohlen hat, in dessen Händen ihr Leben und Schicksal jetzt sind. Er wollte dieses entsetzliche Bild – wie sich eine große Menschenschar in eine Viehherde verwandelt – mit eigenen Augen sehen. Er wollte sein verbrecherisches Herz mit dem Genuss menschlicher Qualen und Schmerzen füllen. Siehst du, wie sie nach einem großen Streckenabschnitt aufstehen, wie Betrunkene  – gequält und geschunden –, und auf Kommando singen und tanzen, um ihre Begleiter zu amüsieren. Er, dieser niederträchtige Pirat, und seine Handlanger hatten schon zu Beginn dieser Aktion die Seelen ihrer arischen Gottheit geopfert, nun haben sie die Opfer in unglückliche lebende Automaten, bar eigenen Willens und Begehrens, verwandelt, die bereit sind, nur das zu tun, was ihre Peiniger ihnen befehlen. Das Einzige, was sie noch wünschen, das einzige Gefühl, das ihnen noch geblieben ist, ist der Wunsch, dass ihnen die Hoffnung gelassen wird, die tief in ihren Herzen glimmt, die Hoffnung darauf, dass sie in allernächster Zukunft ihr eigenes Ich wiedererlangen, dass ihnen eine neue Seele eingehaucht wird. Sieh nur, mein Freund, sie gehen wie versteinert, wie erstarrt in Reih und Glied. Kein Schrei ist zu hören, kein Kinderschluchzen. Weißt du auch, warum? Weil die Kinder wie die Mütter für jeden Schrei geschlagen werden. So ist der Befehl, so wollen es die jungen Bestien, in denen die animalischen Instinkte toben, weshalb sie sich Opfer aussuchen wollen, um ihre unersätt­ lichen verbrecherischen Seelen mit warmem jüdischen Blut zu stillen. Die Menge muss sich diesen entsetzlichen Befehlen fügen, weil ihre Körper bald wie Kadaver in Strömen von Blut liegen werden, und man wird sie nicht mal bestatten können. Schau nur, mein Freund, wie die Mütter ihre Kinder an die Brust pressen, um ihr Gewimmer zu ersticken. Sie wickeln deren Köpfe in Tücher ein, damit 233

Die Chronisten und ihre Texte

niemand das Weinen zu Tode frierender Säuglinge hört. Siehst du, wie ein Jude einem anderen die Hand drückt, zum Zeichen, dass geschwiegen werden müsse: Seid ruhig, denkt daran, gebt euer Leben nicht vorzeitig auf. So, mein Freund, sieht er aus, der Weg Tausender Juden, die ins vorübergehende Konzentrationslager getrieben werden. Und jetzt schau, lieber Freund, […] nun herausgekommen ist. Sieh, […] Abertausende Juden, die gestern noch „nützlich“ waren, wegen ihrer wichtigen Arbeit Privilegien genossen, haben sich in seelisch gebrochene, physisch ausgezehrte Streuner verwandelt, die nicht wissen, wohin der Teufel sie treiben wird, und deren einziger Wunsch es ist, es so bald wie möglich in ein lebendiges Grab zu schaffen, um den Knochensack endlich ruhen zu lassen. Mein Freund, eine schreckliche Nachricht haben wir heute erhalten: Ich und meine Familie, Freunde und Bekannten und Tausende anderer Juden müssen sich auf den Weg machen. Schwarze Gedanken überkommen uns: Wohin wird man uns führen? Was wird der Morgen uns bringen? Eine schreckliche Vorahnung lässt uns keine Ruhe, weil das Verhalten der Mächtigen jenem Ziel keineswegs entspricht, das uns verkündet wurde: Warum will man uns so schnell ausmergeln, ausbluten lassen, die jüdischen Muskeln in kraftlos hängende Arme verwandeln, wenn wir doch angeblich bei irgendwelchen Arbeiten gebraucht werden? Warum werden wichtige Arbeitsbereiche liquidiert, in denen außer uns sonst niemand arbeiten kann? Warum werden die örtlichen Arbeiten für den Staat nicht mehr für wichtig gehalten, sodass die Arbeitsplätze vernichtet werden können? Warum ist das Warten auf die Konzentration jetzt wichtiger als das Leben? Warum? Offenbar ist das ein Bluff der verdammten hinterhältigen Verbrecher, die versuchen, uns […] Chloroform zu verabreichen, in Form der Versprechen, uns Arbeit zu geben, damit die Aktion zu unserer Vernichtung einfacher und mit geringerem Risiko durchgeführt werden kann. Solcherart Gedanken ergreifen jetzt diejenigen Juden, die sich auf die Abreise vorbereiten. Ich sehe, mein Freund, dass du mich etwas fragen möchtest. Ich weiß, dass du es einfach nicht verstehen kannst, warum  – warum wir es zugelassen haben, dass es so weit mit uns kommt, warum wir keinen besseren Ort für uns selbst gefunden haben, einen Ort, an dem unser Leben außer Gefahr gewesen wäre. Darauf gebe ich dir eine eingehende Antwort […] **

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Salmen Gradowski: Texte

Es gibt drei Aspekte, die dem Teufel seine Aufgabe – die triumphale Vernichtung unseres Volkes – erleichterten. Ein Aspekt ist allgemeiner, zwei sind persönlicher Natur. Die allgemeine Überlegung besteht darin, dass wir unter dem polnischen Volk lebten, die in der Mehrheit zoologische Antisemiten mit Leib und Seele waren. Sie freuten sich ja nur, als sie sahen, wie der Teufel, gerade erst in ihr Land einmarschiert, seine Grausamkeit gegen uns richtete. Mit geheucheltem Mitleid im Gesicht, aber mit Freude im Herzen, hörten sie die entsetzlichen herzzerreißenden Mitteilungen über immer neue Opfer: Hunderttausende Menschen, die der Feind auf grausamste Weise niedermetzelte. Vielleicht freuten sie sich darüber, dass das Piratenvolk gekommen war und für sie die Arbeit erledigte, derer sie selbst noch nicht fähig waren, weil es noch ein Körnchen menschlicher Moral in ihnen gab. Das Einzige, wovor sie sich definitiv und wohl nicht umsonst fürchteten, war die Überlegung, dass – ist der Kampf gegen die Juden erst einmal beendet, und ist das Ziel ihrer Grausamkeit und ihrer Barbarei verschwunden –, dass das Biest sich ein neues Opfer wird suchen müssen, um seine animalischen Instinkte zu befriedigen. Diese Angst war teilweise da, und der Ausdruck dieser Angst war überdeutlich. Eine immense Anzahl an Juden versuchte sich unter die polnische Dorf- oder Stadtbevölkerung zu mischen – doch antwortete man ihnen überall mit der gleichen entsetzlichen Rückweisung: nein. Überall trafen sie auf verschlossene Türen. Überall wuchs eine Eisenwand vor ihnen aus dem Boden: Sie, die Juden, blieben allein auf großem offenem Platz, und der Feind konnte sie leicht fassen. Du fragst, warum die Juden keinen Widerstand leisteten? Und weißt du, warum? Weil sie ihren Nachbarn nicht trauten, die sie bei der ersten Gelegenheit verraten hätten. Es gab einfach niemanden, der ernsthaft hätte helfen und in entscheidenden Momenten die Verantwortung für den Aufstand, für den Kampf auf sich nehmen können. Die Angst, dem Feind direkt in die Hände zu fallen, schwächte den Kampfgeist und raubte den Juden den Mut. Sieh nur, mein Freund […] was […] Warum haben wir uns nicht versteckt, in dem finsteren Wald, warum hatten wir keine Gruppen, keine Einheiten, keine eigenen Partisanenkader, die für ein schöneres Morgen gekämpft hätten? Beim Nachdenken darüber darf man zwei weitere individuelle Aspekte nicht vergessen, die wie Opium auf die riesigen Massen von Juden wirkten, die ohne Widerrede auf die große, grausame Schlachtbank gingen. Der erste Aspekt, der auch die Jugend irreführte, bestand darin, was die Familien zu einer Einheit verbindet, nämlich in dem Gefühl der Verantwor235

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tung für die Eltern, Frauen und Kinder – das hat uns verbunden, zu einer einheitlichen, unteilbaren Masse vereint. Der zweite Aspekt ist der Lebensinstinkt, der alle schwarzen Gedanken vertrieb, alle bösen Bedenken wie ein Sturm wegfegte. Denn all das, was insgeheim gedacht und gesprochen wurde, war ja nicht mehr als der Seelenschrei eines verzweifelten Pessimisten, womit man jeden ganz leicht kriegen konnte. Wir verstanden einfach nicht, wie die Mächtigen – mochten sie auch die niederträchtigsten und hinterhältigsten Gauner gewesen sein  – sich etwas Schlimmeres hätten ausdenken können als Ketten, Hunger und Kälte. Wer hätte es geglaubt, dass sie Millionen von Menschen ohne Anlass und Grund abholen, um sie dem vielfältigen Tode entgegenzutreiben? Wer hätte es geglaubt, dass ein ganzes Volk nur durch den Willen einer niederträchtigen Verbrecherbande in die Vernichtung getrieben werden kann? Wer hätte es geglaubt, dass sie für eine Niederlage im Kampf um Herrschaft und Größe ein ganzes Volk opfern werden, um die Lage zu „retten“? Wer hätte es geglaubt, dass ein entwickeltes Volk einem Gesetz blind gehorcht, das nichts als Tod und Vernichtung mit sich bringt? Wer hätte es geglaubt, dass ein zivilisiertes Volk sich in Ausgeburten der Hölle verwandeln kann, die nur nach Mord und Vernichtung lechzen? Diese Unterschätzung des Grades der Verderbtheit und des Verbrechens, der Niederträchtigkeit […] Menschen haben in hohem Maße dazu beigetragen, den Geist des Widerstands zu betäuben, auch bei denen, die dies hätten tun können. Mein Freund, du wirst uns jetzt schon gut verstehen, in diesem schrecklichen Augenblick Mitleid mit uns haben können. Komm mit mir mit, lass uns durch die Erdgräber gehen, wo Menschen sich fieberhaft auf die Abreise vorbereiten. ** Du hörst das Gewimmer, das Geschreie, das Getöse, die aus den ferneren Baracken erschallen, wo die zu Tode erschrockenen Juden sitzen. Geh in eine dieser Baracken hinein. Hörst du diesen Lärm, siehst du dieses Getümmel? Jeder schnürt seinen Sack zu, nimmt nur die notwendigsten Sachen mit, zieht alles an, was man nur anziehen kann, und der Rest – all das, was er sorgfältig gesammelt und zusammengetragen hat – ist nicht mehr zu gebrauchen und wird vergeben, an Freunde, Bekannte, ja selbst an Fremde. All das, was den Menschen gestern, vor wenigen Stunden noch lieb und teuer war, verliert 236

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jetzt, wenige Stunden vor der Abreise, seinen Wert und wird nichtig. Als würden die Menschen ihre Zukunft vorhersehen, als würden sie ahnen, dass sie bald überhaupt keine Sachen mehr brauchen werden. Mein Freund, sieh nur, da gehen zwei Juden lang. Einer hält eine Kerze in der Hand, um sich den Weg zu leuchten, der andere trägt einen offenen Sack. Das sind die Repräsentanten derjenigen, die fortgejagt werden. Sie setzen einen Befehl um: denjenigen, die gehen müssen, die letzten Wertsachen abzunehmen – unter Androhung des Todes für den, bei dem sie noch etwas finden. Die Frauen nehmen ihren Schmuck ab, der ihnen als Andenken an die wichtigen Wegmarken ihres Lebens wertvoll ist, der in ihren Familien von Generation zu Generation weitergegeben und wie das Augenlicht bewahrt wurde – mit Tränen in den Augen und Wehmut in den Herzen […] geben sie ihre Schätze ab, mit schwerem Seufzer lassen sie sie in den Sack herab. Die Unglücklichen versuchen auch darin Trost zu schöpfen: Die Mächtigen nehmen ihnen die Sachen weg, aber vielleicht wird es ihnen das künftige Leben erleichtern. Alle Wertsachen abgenommen, tragen die beiden Sammler zufrieden ihre Beute, wie ein Lösegeld. Sie tragen die Beute hinter den Zaun und gehen auf das Gebäude zu, in dem der große blonde Verbrecher wohnt: unser „Schutzherr“. Er hat es verstanden, dass man Menschen Hoffnung geben muss: Man muss ihnen das Leben versprechen, um ihnen den wertvollen Besitz abzunehmen. Mein Freund, gehe jetzt in die zweite Baracke hinein. Wieder wirst du das Gewimmer von Frauen und Kindern hören. Das ist das Weinen kleiner Kinder, die längst schlafen müssten und sich müde die Augen reiben – sie versuchen einzuschlafen, aber man lässt sie nicht. Ihnen werden warme Sachen angezogen, die schwer für sie sind. Die Kinder wollen in Ruhe gelassen werden, verstehen nicht, was man so spät in der Nacht von ihnen noch wollen kann. Sie weinen und ihre Mütter weinen mit. Sie weinen um ihr bitteres Schicksal, um ihr bitteres Los: Warum, warum nur sind sie in einer so schrecklichen Zeit auf die Welt gekommen? Freunde und Bekannte kommen, um sich zu verabschieden, alle fallen einander um den Hals und weinen. Wie inniglich sie sich küssen, wie schrecklich angespannt ist jeder dieser Küsse! Es wirkt so, als wüssten die Menschen, die sich so herzlich abküssen, was ihnen bevorsteht. Ihre Herzlichkeit ist der Ausdruck eines tief empfundenen Mitgefühls, ihre Tränen sind Ausdruck eines starken Mitleids. Siehst du, dass dort einige Familien dastehen? Sie sind vor Trauer zerstört, hilflos, sie wissen nicht, was sie tun sollen: Das sind diejenigen, die kranke Verwandte im Lazarett haben, von denen sie sich jetzt verabschieden müssen. 237

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[…142] beflügelt, fassen wieder Mut: Die Kranken können mitfahren, weil die Mächtigen human sind und die Familien nicht trennen werden. Die Juden freuen sich. Wer die Erlaubnis bekommen hat, die kranken Verwandten mitzunehmen, ist von diesem kurzweiligen Glück geblendet und kann die Lage nicht nüchtern einschätzen. Die anderen erkennen in dieser Entscheidung ein ungutes Omen: Die Kranken können doch nicht in den Arbeitseinsatz geschickt werden. Doch wie dem auch sei, wie traurig die Zukunft auch sein mag: Die Familien wird niemand mehr trennen. Niemand lässt es zu, dass die Verbrecher dich von deinen Nächsten losreißen, denn wer könnte sich selbst operieren […] am eigenen Herzen: Unter uns gibt es keine schäbigen Egoisten, die ihre Frauen und Kinder, Eltern, Brüder und Schwestern verlassen, die Familie fallen lassen könnten, mit der zusammen sie das Schrecklichste bereits durchgemacht haben, nur um für sich selbst eine Rettung zu erheischen. Jetzt aber […] auf diesen unsicheren, unbekannten, Angst einflößenden Weg. Nein, alles muss […] gehen. Komm her, mein Freund, die Stunde hat geschlagen, dass wir hier rausgehen müssen. Sieh nur, wie eine riesige Menschenmenge, wie 2.500 Menschen aus ihren Erdgräbern hinausgetreten sind und sich in gerade Reihen aufgestellt haben. Die Mitglieder jeder Familie zusammen, Hand in Hand, Schulter an Schulter, eine vereinte, ganzheitliche Schar aus Aberhunderten Familien, zusammengeschweißt, wie aus einem Guss zu einem großen unteilbaren Organismus geworden. Und sie haben sich auf den Weg gemacht, in einer Richtung, die von den Mächtigen bestimmt wurde, einen Weg, der sie dorthin führen soll, wo sie zum Arbeiten hingeschickt werden. Eine kalte, frostige Nacht mit starkem Wind; Abertausende Männer stehen und stampfen mit den Füßen auf den Boden, um die bereits erfrorenen Zehen aufzuwärmen. Frauen drücken die Kinder an sich, nehmen deren kleine, frierende Hände an den Mund, um sie durch den Atem aufzuwärmen. Jeder legt sein Gepäck so zurecht, dass das Gehen damit leichter wird. Schwache Eltern gehen ohne Last, weil sie sich sonst nicht selbst zum Bahnhof bewegen könnten, seufzen über ihre Kinder, die beim ersten Schritt in der Freiheit ihre schwere Last mitzutragen haben. Alles ist zum Abmarsch bereit. An den benachbarten Baracken stehen Männer und Frauen, schauen uns an, blicken uns in die Augen, ratlos, was sie uns zum Abschied wünschen sollen. Wir antworten ihnen mit einem Blick, in dem unser letzter Wille zu lesen ist, der Wille, sich wiederzusehen, dann bereits nach der Befreiung. 142 Zwei Zeilen sind bis zur Unleserlichkeit verschwommen.

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Das Tor öffnet sich und wir verlassen das von Stacheldraht umzäunte Lager. Düstre Gedanken rasen durch den Kopf. Zum zweiten Mal öffnet sich uns das Tor in die freie Welt – doch auf welch grausame Weise hat uns die Freiheit getäuscht! Wir sind hinter den Stacheldraht des Ghettos gegangen und wurden durch die freie Welt wieder in finstere Gräber getrieben. Wer weiß, wohin uns dieses zweite weit geöffnete Tor führen wird. Wer weiß, wohin diese weit geöffneten Augen des Lagers blicken … Die erste Rast war unweit unseres Hauses, wir atmeten die Luft unserer Gegend ein, was uns Sicherheit gab. Aber jetzt, wer weiß, wohin die Straße uns führen wird? Wir müssen dort hingehen, so weit ins Innere des Landes, in dem unser gefährlichster Feind sich aufhält. Wer weiß, ob seine Arme, die uns angeblich zur Umarmung entgegengestreckt werden, sich nicht in teuflische Krallen verwandeln, die uns ergreifen und zerquetschen – wer weiß? Wir waren in die große freie Welt hinausgetreten, die durch ihr glänzendes Weiß blendete und durch ihre Grenzenlosigkeit einschüchterte. Wegen der Finsternis des grenzenlosen Himmels – im Kontrast zum Weiß – erschauderten wir. Wie symbolträchtig das alles aussieht: die weiße Erde und der schwarze Umhang über dem Haufen, der sich auf der Weiße bewegt. Eine ungewöhnliche Stille ruht über der Welt; es scheint, als gäbe es außer uns Schatten niemand mehr, als wären wir in die Welt hinausgeführt worden, um uns etwas Finsteres anzutun, eine Angelegenheit der Nacht, die der Tag nicht sehen soll. Wir tauschen Blicke aus, jeder sucht mit den Augen nach etwas […] Wir wollen irgendein Anzeichen von Leben und Existenz erkennen. Doch ist unsere Suche vergeblich: Um uns herum herrscht tote, starre Stille. Jetzt ertönt das Echo Tausender Schritte – die Ereignisse vergangener Jahrhunderte erwachen zum Leben. Das seit jeher verfolgte Volk bricht in die neue Verbannung auf. Doch um wie viel schrecklicher ist unser heutiges Elend! Damals, als wir Spanien verließen, wussten wir, dass wir wegen unseres Nationalstolzes und religiösen Selbstbewusstseins vertrieben wurden […] Verächtlich spuckten wir denen ins Gesicht, die […] mit offenen Armen […] und uns sogar in […] Tempel der Herrschenden hineinführen im Gegenzug für die Bleibeerlaubnis, unsere kulturelle und nationale Unabhängigkeit verzichten wollen. Höhnisch und verächtlich erwiderten wir deren flehende ­Blicke, und angewidert schauten wir diejenigen an, die uns alle bürgerlichen Freiheiten verhießen, wenn wir nur deren Glauben annähmen. Damals gingen wir als ein unbeugsames stolzes Volk. In der Ferne flimmerte das offene Tor der Welt, die uns mit offenen Armen empfing. Aber jetzt verlassen wir das Land nicht  – wir werden vertrieben. Und zwar nicht als Volk, sondern als 239

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widerwärtige Kreaturen. Wir werden nicht unseres Nationalstolzes wegen vertrieben, sondern gemäß einem niederträchtigen sadistischen teuflischen Gesetz. Wir werden nicht an die Grenzen eines anderen Landes getrieben – im Gegenteil: Wir werden näher herangeführt, tiefer, mitten ins Herz jenes Landes, das uns loswerden will. Wir wandern, und der Weg scheint unendlich, als wanderten wir ewig so weiter. Wir alle wurden von einem instinktiven Schauder ergriffen. In der Ferne, vor dem weißen Hintergrund der Erde, sind große, lange schwarze Schatten, inmitten deren kleine, kaum merkliche Lichter aufblitzen; vor Entsetzen pochen auf einmal alle Herzen wie wild. Düstrer Gedanke […] Wer weiß, vielleicht werden wir geführt […] Ein Hof böser Schatten […] Nachtdämonen, die bereits unsere Ankunft erwarten und die letzten Vorbereitungen abschließen, um uns zu empfangen. Wer weiß, könnte sein, dass uns das gleiche Schicksal erwartet wie das der Hunderttausend Juden vor uns, die sie in den gleichen dunklen Nächten an die gleichen finsteren Orte hinausführten und dort grausam ermordeten. Wer weiß, […] Wir haben den Wald durchquert, alle sind wohlauf. Wir gehen weiter, das Gehen fällt immer schwerer, wir gehen in bergigem Gelände, und dort sehen wir […] einen bereits wohlbekannten Ort, doch ist er jetzt nunmehr bis zur Unkenntlichkeit fremd. Es scheint, als klaffte in der Senke ein irdischer Schlund, bereit, uns lebendig zu verschlingen, wie es schon mit Abertausenden vor uns geschehen ist – wer weiß? Wir halten uns an den Händen, wir gehen mit pochendem Herzen, mit kolossaler Anspannung auf die Bergspitze. Plötzlich sind alle von Freude ergriffen. Wir haben aus der Ferne das flackernde Licht elektrischer Lampen erblickt. Das heißt, die Station ist nah. Kraft und Glaube kehren zu uns allen zurück. Wir kommen auf den Zug zu. Auf uns warten bereits 20 kleine Waggons, 125 Personen je Waggon, damit jeder einen Stehplatz hat. Das ist für uns ein großer Trost. Alle Familien versuchen, so lange wie möglich zusammenzubleiben, auf diesem schrecklichen, fürchterlichen Weg. Einige Familien, in denen es Kranke gibt, stehen da und sehen mit stockendem Herzschlag aus den Fenstern: Vielleicht kommt ja ihr schwacher Bruder oder ihr Kind, ihre vergreisten Eltern, aber es gibt nicht eine Spur von ihnen. Wie wir später erfahren, wurden sie […] und in die ­Waggons geworfen […] geschlossen […] […143] 143 Drei Zeilen sind bis zur Unleserlichkeit verschwommen.

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Flüchten – man wird an Ort und Stelle erschossen, mit einem zynischen Lächeln auf den Lippen. Und standen in völliger Ruhe, mit innerer Unerschütterlichkeit. Diese hellblonde Bestie – unsere Wache: […] die Waggons. Dieser Gauner hat eine große Mission auf sich genommen: Er fährt zwei­ einhalbtausend Menschen, die stören […] und schickt sie zu […] hoher Kultur, die ihr Urteil sprechen sollen. 144 Ein stumpfer Pfiff zerreißt die Luft. Das war das Zeichen eines abfahrenden Zuges. Wie ein Tier, das mit seiner Beute davonrennt, so setzt sich auch unser Zug in Bewegung und nimmt Fahrt auf. Aus allen Herzen bricht ein gequältes Seufzen aus, alle spüren, wie weh es doch tut, zu wissen, dass du deinem Zuhause jetzt wirklich entrissen bist. Durch den Haufen geht ein Ruck, fast fällt er hin. Gleich zu Anfang haben alle verspürt, wie schwer die Bedingungen sind, unter denen sie untergebracht wurden. Alle versuchen, sich gegenseitig zu helfen, zumindest den Weg zu überstehen. Die Kinder werden auf den Arm genommen. Alle sprechen sich ab: Jetzt sitzt du, dann nimmt ein anderer deinen Platz ein. Alle versuchen eine Atmosphäre der Ruhe und der Eintracht zu schaffen, während sie im Netz gefangen sind, das von den Händen eines Teufels aufgespannt wurde, der sein Antlitz noch nicht offenbart hat. Die gläubigen Juden sprechen ein Reisegebet, sie sprechen einander Mut zu: Wie Gefangene werden wir abtransportiert, doch lasst uns als Befreite zurückkehren!145 Komm her, mein Freund. Lass uns durch die Waggons, durch diese rollenden Käfige, gehen. Siehst du, wie hier Menschen sitzen und stehen, von Kummer und Verzweiflung ergriffen, in tiefe von Horror erfüllte Nachdenklichkeit versunken? Das monotone traurige Schlagen der Räder deprimiert die Menschen, verstärkt nur ihre Verzweiflung. Es scheint, als führen wir schon eine ganze Ewigkeit. Wir sind in den Zug ewiger jüdischer Wanderschaft eingestiegen. Es gibt wohl eine Disposition der Völker, und wir müssen nur nach dem Willen und Befehl derjenigen aussteigen, die über uns verfügen. Du siehst, mein Freund: In jedem der Waggons stehen Menschen wie angekettet an den Fenstern – und schauen in die freie Welt. Jeder trachtet danach, mit seinem Blick alles rundherum zu erfassen und festzuhalten, als würden sie erahnen, dass sie all das zum letzten Male sehen. 144 An dieser Stelle beginnt der polnische Text in der Sonderausgabe der „Hefte von Auschwitz“. Alles Vorhergehende wurde ausgelassen, als beträfe es Auschwitz nicht unmittelbar. 145 Eine Allusion auf die Haggada.

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Es scheint, als wären wir in einer rollenden Festung eingemauert, an der die Welt wie ein Film in seiner Vielfarbigkeit vorbeirast und sich von uns, den im Zug gefangenen Menschen, verabschiedet146. […] Es ist, als sagte uns die Welt: Schau mich an [durchgestrichen], sieh dich satt, solange du noch sehen kannst, weil das für dich bereits zum letzten Male ist. Hast du es bemerkt, mein Freund? Hier stehen zwei junge Menschen, ein Mann und eine Frau, deren Blicke auf einen Punkt gerichtet sind. Sie schweigen, doch sind sie gedanklich sehr nah beieinander, ihre Gedanken laufen zu einer Einheit zusammen. Leise Seufzer entfahren ihren Herzen. Der Blitz einer interessanten Erinnerung hat sie gerade aufgerüttelt und der Wirklichkeit entrissen. Sie erinnern sich daran, was einmal war, an die jüngste Vergangenheit. Hier, an diesem Platz unweit des Bahnhofs Lososna147, trafen sie sich damals so häufig, sie verbrachten dort gemeinsam den Urlaub und ihre Bekanntschaft wuchs zu einer großartigen Liebe heran. […] So flossen […] Jeder Tag brachte ihnen viel Freude und Vergnügen. […] bezauberte durch seine Mannigfaltigkeit. Alles um sie herum lächelte ihnen entgegen, von überall her war […] des Lebens zu hören. Doch jetzt überkommt sie ein schrecklicher Gedanke: Wer weiß, ob die magischen Momente nochmal zum Leben erwachen? Sie schauen dorthin, wo […] dem sie herzlos entrissen worden sind. Ein Lebensabschnitt ist nun zu Ende und in die Ewigkeit eingegangen. Lass uns weitergehen. Siehst du das junge Paar, das dort steht? Starr vor Schreck schauen sich diese Menschen um. Hörst du die Worte, die die Frau ihrem Begleiter sagt: „Mein Lieber, weißt du noch, die Reise, dieser trübe Wintertag, als wir, zwei einander fremde Menschen, uns in einem Zugabteil begegneten und kennenlernten: Dieses Treffen hat uns vereint. Ach, jene Reise, jener Tag  – sie verhießen uns künftiges Glück, eröffneten uns einen neuen, blumenreichen Weg in die Welt. Es scheint, als führen wir jetzt denselben Weg in derselben Richtung. Es ist uns gelungen, in den Zug des Lebens einzusteigen, doch wer weiß, wohin er uns bringen wird? Wer weiß, auf welchem Gleis unser Zug gegenwärtig steht?“ Wir gehen weiter. Sieh nur, hier steht eine Frau mit einem kleinen Kind auf dem Arm, nah bei ihr steht der Ehemann. Sie schauen auf die Welt, die 146 Es folgen drei durchgestrichene, unleserliche Zeilen. 147 Ein Dorf mit Bahnhof am Stadtrand von Grodno.

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v­ orbeizieht, und richten ihren Blick instinktiv immer wieder auf das kleine, hübsche Kind. Sie werden von schweren Gedanken überrannt. Sie sind noch jung und voller Lebenskraft – es zieht sie eine Welt an, die sie durch das Fenster sehen. Alles zieht sie hin zum Leben, jetzt haben sie jemanden, um dessen willen sie leben, existieren, arbeiten können: Kürzlich ist ihr Erstgeborenes auf die Welt gekommen, ein kleines Menschenkind, das sie mit der Ewigkeit verbunden hat; sie sind nunmehr an der Entfaltung und Erschaffung dieser Welt mitbeteiligt … Doch schon werden sie – die, die ihre ersten Schritte gerade erst gegangen sind – aus dem Weg gefegt. Man jagt sie fort aus dem Weg, in einem Moment, in dem sie gerade erst beginnen, ihr Familiennest zu bauen. An sich denken sie in diesem Moment nicht. Nur ein Gedanke beschäftigt sie: Was wird aus ihrem Neugeborenen, aus dem winzigen, geliebten Kind, das ihnen148 aber keinen Nutzen bringt? Für sie ist dieses Kind das größte Glück, der größte Trost, ihr gemeinsames Ideal. Doch für die grausamen Verbrecher ist es nur ein nutzloses Spielzeug, das nichts wert ist und kein Existenzrecht hat. Siehst du, wie sie ihr hübsches Töchterchen anschauen, wie sie in ihre Augen – die Schwarzkirschen – blicken? An ihren besorgten Gesichtern kannst du ablesen, was sie denken: „Du liebes Kindlein, du bist der Sinn unseres ganzen Lebens, unserer ganzen Existenz. Wie viel Glück, wie viel Freude brachtest du uns, als du zum ersten Mal das Wort ‚Mama‘ aussprachst. Wie sehr dein Vater seine Frau in dem Moment doch beneidete! Wie er sich freute, als das Kind zum ersten Mal seinen Vater erkannte und ‚Papa‘ nannte! Teures Kindlein. Wer weiß, ob dein Lebensfaden nicht grausam abgerissen wird, wo er doch gerade erst gesponnen wird. Wer weiß, ob wir auch weiterhin mit dir zusammen sein werden und du bei uns bleibst … Die Mutter drückt das Kind ans Herz, Tränen fallen auf das Köpfchen des Mädchens, der Vater küsst seine Tochter innig und sanft. ** Tritt näher heran, lass uns noch ein wenig weitergehen. Siehst du die Mutter, die dort mit ihren erwachsenen Töchtern sitzt. In welch kummervollen Gedanken sind sie gerade versunken! Die Mutter denkt: „Mein ganzes Leben habe ich euch gegeben, meine lieben Kinder, mein ganzes Leben habe ich euch gewidmet, alles habe ich für euch hergegeben, nur um es zu erleben, das 148 Gemeint sind die Nazis.

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Mutterglück zu empfinden. Doch blieb das alles nur ein leerer Traum. Euren liebenden und treuen Vater haben die Verbrecher uns genommen. Wer weiß, ob er noch lebt – es könnte sein, dass ihr schon verwaist seid. Eure Brüder hat man mir entrissen. Wo die jetzt sind, ist unbekannt. Mutterseelenallein bin ich geblieben, unglücklich, gebrochen. Mein einziger Trost wart ihr, meine lieben Kinder. Aber heute … Wer weiß schon, was euch heute erwartet. Gewöhnt ihr euch jemals an die Pein, die Doppellast zu tragen, die Last meines und eures eignen Kummers? Wer weiß …“ An sich denkt die Mutter in diesem Moment überhaupt nicht, sie macht sich keine Sorgen um ihr Leben. Wie könnte sie denn auch an sich denken, wenn doch unklar ist, was mit ihren Kindern sein wird und ob sie überleben. Die Töchter sehen die Mutter mit wehmütigem Seufzer an. Die Traurigkeit legt sich wie ein trüber Schatten auf ihr Gesicht. Wer weiß, was mit der lieben Mutter geschehen wird, die wegen schlafloser Nächte so entkräftet, wegen Kummers so ergraut und vergreist ist, dass sie erschöpft und schwächlich aussieht. Ihr Alter ist nicht zu verheimlichen. Wird sie deshalb nicht als „nutzlos“ abgewertet, als ein Mensch, dessen Existenz „unberechtigt“ ist? Werden wir ihr helfen können? Und wenn sie aus unseren Armen herausgerissen wird? Dann bleiben wir einsam zurück, ohne Mutter, ohne Brüder – elend werden wir sein, allein in der großen und leeren, grausamen Welt. Wer weiß? ** Überall, in jedem Waggon wirst du solche Menschen sehen. Die einen sitzen, die anderen stehen mit gesenktem Haupt, regungslos, wie festgefroren wegen schwerer, qualvoller Gedanken. ** Der Zug fährt wieder los, auf seinem langen, monotonen Weg. Wir nähern uns Bialystok. Plötzlich regen sich alle wie zum Leben erwacht, die schwere Gedankenlast wird abgeworfen. Sie stürzen sich an die Fenster, um den Bahnhof zu sehen, dem wir uns nähern. Wen werden wir sehen, wer wird uns hier erwarten? Kaum jemand. Trotzdem wollen alle die Stadt sehen, mit der sie eng verbunden waren: Jeder hat hier Verwandte, Freunde oder Bekannte149. 149 Gradowski selbst ist unweit von Bialystok, in Suwalken, geboren.

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Wenigstens aus der Ferne einen Blick auf die Stadt werfen, wo ein Freund, ein Kind, ein Verwandter lebt. Man will ihnen aus dem Fenster zuwinken, ihnen einen Abschiedsblick zuwerfen. Vielleicht wird man ja einen Juden aus der noch ruhigen Stadt Bialystok150 sehen können? Vielleicht wird er uns durch einen Blick zu verstehen geben, wohin man uns bringt? Wir sind am Bahnhof angekommen und stehen nun auf einem Nebengleis. Der Weg ins Leben zurück ist für uns gekappt. Wie schrecklich dieser Bahnhof jetzt aussieht! Dieser Ort, sonst rege und quicklebendig, ist in Nebel gehüllt – vom einstigen Leben keine Spur. Das einzige, was ans Leben erinnert, sind Gendarmen mit Helmen und Bajonetten. Sie gehen im Bahnhof auf und ab. Eine Werksirene ertönt. Sie nötigt uns, an die Vergangenheit zu denken. Sie ist wie ein Gruß der Brüder und Schwestern, die in dieser Fabrik arbeiten und sich gerade in den großen Fabrikhallen befinden, ihre Arbeit, ihre Kraft und ihren Fleiß an die Verbrecher abgeben. Es sind die gleichen Verbrecher wie die, die uns befördern. Sie arbeiten nur um der Hoffnung willen, dass ihre Arbeit ihnen Schutz geben wird. Ein schriller Ton durchbohrt die Luft: Unser Zug fährt wieder los. Seid gesund, ihr Juden von Bialystok. Sollen euch die Fabriken […] Lebt in Ruhe weiter, während uns nur die Hoffnung bleibt, dass wir bald als freie Menschen zu euch zurückkehren können. ** Der Zug nimmt Fahrt auf. Erneut ergreift alle eine tiefe Trübsal, mit jedem Kilometer wird der Schrecken mächtiger. Was ist nur passiert? Wir nähern uns der unter den Juden bekannten Station Treblinka, wo laut mehreren Angaben, die uns erreichen, unzählige Juden aus Polen und anderen Ländern umgekommen sind. Alle hängen an den Fenstern, suchen schweigend mit ihrem Blick. Vielleicht wird man etwas erkennen können, vielleicht kommt da jemand, der ihnen sagen kann, wohin man sie bringt und was sie erwartet? 150 Während der beschriebenen Ereignisse – im Dezember 1942 – führte das Ghetto Bialystok, als letztes der 116 Ghettos des sogenannten Bezirks Bialystok, noch ein „normales“ Leben. Am 5. Februar 1943 wurde in dem Ghetto eine Selektion vorgenommen, im Zuge derer 10.000 Menschen aussortiert wurden, die entweder gar nicht oder außerhalb des Ghettos arbeiteten: Sie wurden in Auschwitz und Treblinka ermordet, 2.000 von ihnen direkt in Bialystok erschossen. Die Liquidierung des Ghettos war für den 16. August 1943 angesetzt, doch erhoben sich an dem Tag die Aufständischen. Ihr Aufstand wurde erst am 21. August 1943 niedergeschlagen; die endgültige Liquidierung fand deshalb erst im Oktober 1943 statt.

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Doch wie schlimm ist das! Da stehen zwei junge Christinnen, schauen in die Fenster der Waggons hinein und führen die Hand am Hals entlang. Ein Schauder überkommt alle, die diese Szene sehen und dieses Handzeichen wahrnehmen. Stillschweigend weichen sie zurück wie vor einem Gespenst. Sie wahren das Schweigen, kraftlos, das soeben Gesehene zu schildern. Sie wollen das Unglück nicht verstärken, das ohnehin mit jeder Minute schwerer wird  – es scheint, dass gleich  … Wer weiß, was die kommenden Minuten ihnen bringen? Kommen sie nicht auf das Nebengleis, das zu jenem entsetzlichen Ort führt, der in einen riesigen Judenfriedhof verwandelt wurde? Alle versuchen, sich an die Fenster zu drängen: Jeder will als Erster sehen, wohin man sie bringt. Tausende Herzen schlagen wie ein einziges, Tausende Seelen erstarren wie eine einzige vor Schreck. Ein Gedanke lässt sie nicht los: Sind die letzten Minuten ihres Lebens schon angebrochen? Stehen sie wirklich an der Grenze zur Ewigkeit? Jeder rechnet mit dem Leben ab. Gläubige lesen Gebete und bereiten sich auf das Bekenntnis ihrer Sünden vor. Familien versammeln sich, drücken sich fest aneinander. Sie wollen sich sammeln, wollen zu einem unteilbaren Organismus zusammenwachsen, um sich zu schützen. Doch nun suche […] Die Mütter umarmen ihre Kinder, streicheln ihre Köpfchen. Große Kinder drücken sich von selbst an ihre Eltern heran, wollen in den letzten Minuten ihres Lebens die mütterliche und väterliche Zärtlichkeit spüren. Es scheint ihnen, als könnten die Eltern sie wie sonst auch schützen, damit ihnen nichts Schlimmes passiert. Die Angst wird immer größer, der Zug verlangsamt scheinbar seine Fahrt. Wir haben offenbar das Ziel erreicht. Die Spannung ist auf dem Höchstpunkt. Der Zug kommt zum Stehen und 2.500 Menschen halten den Atem an. Aus Angst klappern die Zähne, die Herzen schlagen schnell. Eine große Schar sieht in Todesangst ihren letzten Minuten entgegen. Jede Sekunde ist wie eine Ewigkeit, wie ein Schritt, der uns dem Tode näherführt. Alles ist erstarrt, alle warten auf den Augenblick, wenn sie in die offenen Arme des Teufels fallen – und dann krallt er sie sich und wirft sie in seinen Abgrund. ** Ein Pfiff durchbricht die Starre. Der Zug nimmt wie wachgerüttelt wieder Fahrt auf. Die Mütter küssen die Kinder, die Frauen die Ehemänner, Freudentränen fließen. Es ist, als wären alle neugeboren worden und würden freier atmen. Neue Gedanken kommen, neue Hoffnungen, die Angst lässt nach, das Entsetzen schwindet. Alle sind von neuen, tröstlichen Gedanken ergriffen. 246

Salmen Gradowski: Texte

Alle haben sich vergewissert, dass bisherige Annahmen nicht richtig, die schrecklichen Vorahnungen grundlos waren, dass sie zu den Menschen nur wegen eines einzelnen schrecklichen Ereignisses kamen. Aber nicht […] Massencharakter, weshalb du gleich erkennen wirst, dass alle von Mut erfüllt und beflügelt sind. Alle sind sich sicher, dass sie ins Leben gefahren werden – in ein sehr schweres zwar, aber immerhin ein Leben! Süße Töne […] bezaubernder Frauenstimmen erklingen. Sie verschmelzen zu einem leidenschaftlichen Lobgesang und werden von immer neuen Stimmen aufgegriffen. In dieses Gebet trägt jeder sein Flehen, seine Leiden hinein – das ist das Schicksal eines in Ketten gelegten Menschen, der in die Ungewissheit geführt wird […] Das alles entsetzt und zermürbt. Die Betenden bitten den Schöpfer: Errette uns, erlöse uns von hier, gib uns ein frohes, helles Morgen, führe uns weiter des Weges, auf dem Du uns bisher geführt hast. Lasse es bei unserer Angst, unserem Schrecken bewenden. Wir nähern uns Warschau. Jeder von uns hätte vieles dafür gegeben, um auch nur einen Warschauer Juden zu sehen. Wie glücklich wären wir gewesen, hätten wir nur einen von ihnen gesehen – einen von denen, deren Brüder und Schwestern das schreckliche Schicksal sicherlich bereits ereilt hat. Vielleicht könnte wenigstens einer von ihnen uns die Wahrheit erzählen, uns das Ziel unserer fernen Reise verkünden? Doch leider! Dieser Warschauer Bahnhof, der einst voller Juden war, weist keinerlei Spuren von Juden mehr auf151. Um uns herum laufen Menschen mit ernstem, hasserfülltem Blick hin und her, auf ihren Zug wartend. Uns sind sie aber fremd, nichts als Hass und Neid lösen sie in uns aus: Warum sind sie frei und können gehen, wohin sie wollen? Warum können sie eine Fahrkarte kaufen für einen Zug, der sie nach Hause bringt, ins warme und vertraute Heim? Warum haben sie die Möglichkeit, dorthin zu fahren, wo Frau und Kinder darauf warten, sie in die Arme zu schließen? Uns aber – uns bringt man entgegen unsrem Willen nicht ins warme Heim, sondern in die Leere. Uns werden keine Ehefrauen zulächeln wie beim Wiedersehen, keine Mütter werden uns umarmen, keine Kinder werden uns anlachen. Auf uns warten nur die bösen, schlimmen Blicke unserer grausamen Feinde – in ihren Händen halten sie Peitschen, Stichwaffen und, wenn nötig, auch Gewehre. Von solcherart quälenden Gedanken sind die Elenden niedergeschlagen. 151 Ein großer Teil der Warschauer Juden war schon im Sommer 1942 verschleppt und ermordet worden. Zum Winter 1942/43 blieben kaum mehr als 60.000 von ihnen in Warschau am Leben.

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Die Chronisten und ihre Texte

Ein Mensch aus einem benachbarten Abteil152 unterbricht plötzlich das Schweigen und ruft freudig aus: „Juden! Hier ist eine Nachricht unserer Vorgänger, derjenigen, die mit den vorherigen Transporten aus unserem Lager fortgeschickt wurden.“ In seinem Abteil hat er eine Inschrift gefunden, mit der vollständigen Route von der Abfahrt bis zur Ankunft in Deutschland. Alle freuen sich über die Spur, die von denen geblieben ist, die unwiederbringlich verschwunden sind. Alle lesen diese Botschaft. Es scheint so, als sprächest du mit Toten und sie berichteten dir über alles. Hier sind sie wie lebendig: Vor einigen Wochen wurden sie weggebracht und dann ist von ihnen nichts mehr geblieben, außer der Inschrift, die uns in derlei Aufregung versetzt. Juden, jetzt könnt ihr eine Botschaft lesen, die diejenigen hinterlassen haben, deren tragisches Schicksal ihr in eurer Vorstellung ausgemalt habt. Wie klug sie doch waren – die, die damals mit dem Zug fuhren, die damals voraussahen, dass wir uns vor ihrem Schicksal fürchten werden. Sie haben uns ein Zeichen hinterlassen, eine Botschaft, die uns beruhigen, uns Gewissheit geben soll. Wir werden ihrem Beispiel folgen und eine Botschaft für die anderen aufschreiben, die in den nächsten Tagen mit demselben Zug verschickt werden: Mögen sie uns dankbar sein für unsere Sorge um sie. Doch plötzlich bleibt von der Freude keine Spur mehr, sie weicht der Verzweiflung, die uns mit ihrem Netz einfängt. Ein Satz […] stürzt alle in die Trauer: „Wir kommen in Deutschland an.“ Damit endet die Inschrift. Hier reißt der Faden ab. Gerade noch waren wir zusammen, jetzt sind sie verschwunden, uns entrissen. Sie schrieben ihre Lebensgeschichte bis zu dem Moment auf, an dem sie in Deutschland153 ankamen, an dem sie ins Feindesgebiet gerieten. Wir konnten mitverfolgen, was mit ihnen geschah, bis sie in die Hände der grausamen Verbrecher gefallen sind. ** Eine stille finstere Nacht hat sich über die Erde gelegt. Der Zug ist stehen geblieben. Es ist gefährlich, zusammen mit den niederträchtigen Verbrechern zu reisen, wenn es kein Licht gibt. Inmitten einer alten Station steht ein Zug aus 20 aufgereihten Waggons – in diesen Waggons: 2.500 Kinder eines elendig 152 Im Original: „Coupé“. 153 Im Original: „Land der Jecken“, Land der Deutschen. Gradowski meint hier, dass der Zug die Grenzen Vorkriegspolens verlässt, in jenes Gebiet Ostoberschlesiens, das 1939 ans Deutsche Reich angeschlossen wurde (1922–39 gehörte es zu Polen).

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Salmen Gradowski: Texte

verfolgten Volkes. Die Waggons sind düster, von tödlicher Trübsal erfüllt: Aus den Fenstern schauen entsetzte, zermürbte, entkräftete Kinder eines zum Tode verurteilten Volkes. In der nächtlichen Düsternis suchen sie einen Lichtstrahl, der diese Finsternis erleuchten und beleben würde, doch ist ihre Suche vergeblich. Schrecklich ist die Nacht, nur Schwärze rundherum. Dann und wann huscht ein Lichtstrahl durch die schwarzen Waggons, doch ist es ein fremdes, kaltes, totes Licht. Unsere Begleiter leuchten in unsere Gefängniswaggons, um sicherzugehen, dass keiner von uns – der „gefährlichen Bande“ – fliehen, seine Rettung in der undurchdringlichen Nachtschwärze suchen will. Die entsetzliche, grauenvolle erste Reisenacht bricht an. Zwei grausame Feinde […] halten die große, in Schreckstarre verharrende Menschenschar gefangen: Hunger und Durst. Du siehst, mein Freund, dass die Menschen nunmehr jedes menschlichen Gefühls entbehren. Jeder denkt nur daran, wie sich ein Stück Brot und ein wenig Wasser auftreiben ließen, um Hunger und Durst zu stillen. Sieh nur, wie diejenigen, die das Glück haben, nahe dem Fenster zu stehen, ihre Zungen ausstrecken und die Fensterscheiben ablecken, die vom Nachttau bedeckt sind. Es dürstet sie: wenigstens ein Tropfen Feuchtigkeit, um ihre geschwächten Leiber zu erfrischen. Kinderweinen ist zu hören, die Kinder schreien: „Mutti, gib mir etwas Wasser, nur einen Tropfen! Hörst du, gib mir doch wenigsten einen Krümel Brot. Ich werde ohnmächtig, es geht mir schlecht, ich habe keine Kraft mehr.“ Die Mütter trösten ihre Kinder: Gleich, mein Lieber, gleich helfe ich dir. Irgendwo sind noch die Glück­ lichen geblieben, die irgendwelche Vorräte haben  – und sie können denen etwas abgeben, die vor Hunger sterben. Doch die überwiegende Mehrheit ist bereits völlig erschöpft. Kinder sind ungeduldig, sie können nicht warten und fordern das versprochene Brot und Wasser immer wieder ein. Die Mütter fühlen sich völlig hilflos in Anbetracht der Leiden ihrer Kinder und haben keinen Ausweg, als sie anzuschreien. Die Kinder verstummen aus Angst, drücken sich an die mütterliche Brust. Die Erwachsenen, die nicht weniger als die Kinder leiden, trösten sich damit, dass beim nächsten Halt die Behörden alle sicherlich mit Essen und Trinken versorgen werden, um die Arbeitskräfte nicht verhungern und nicht verdursten zu lassen. Aus dem benachbarten Abteil erschallt ein hysterischer Schrei: Große Kinder kümmern sich um ihre Mutter, die es nicht mehr aushalten konnte und in Ohnmacht gefallen ist. Man versucht sie wieder zu Bewusstsein zu bringen – schon kommt sie wieder zu sich und öffnet die Augen. Die Trauer ist der Freude gewichen: Die Mutter ist wieder im Leben zurück. Die Kinder 249

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hatten schon befürchtet, sie zu verlieren, zu verwaisen – nun geht die Angst wieder weg. Es gibt mutige, kaltblütige Menschen unter uns: Sie klopfen an die Fenster, bitten unsere Bewacher, wenigstens etwas Schnee in den Waggon zu werfen – der liegt doch unter ihren Füßen. Im Gegenzug ist aber nur das zynische Lachen dieser grausamen Bestien zu hören. Statt einer Antwort zeigen sie ihre geladenen Gewehre: Das erwartet den, der es wagt, das Fenster zu öffnen. Das ist entsetzlich! Man schaut aus dem Fenster: Auf der Erde liegt weiße feuchte Masse  – Schnee! Der könnte schwache Herzen wieder zum Schlagen bringen, die geschwächten Leiber erfrischen, unser Leben noch ein wenig verlängern. Da glänzt diese Weiße, in der der Trost, die Rettung so vieler Leben, der Quellbrunnen einer neuen Lebenswelle steckt. Dieser Schnee könnte 2.500 Menschen den Klauen des entsetzlichen Dursttodes entreißen, die Herzen der Verzweifelten mit Hoffnung und Mut erfüllen. Wie nah er doch ist! Hier, direkt uns gegenüber! Er funkelt, verlockt uns mit seinem magischen Glanz. Man muss nur das Fenster öffnen und mit der Hand danach greifen. Es scheint, als erwachte diese weiße Masse in der nächsten Sekunde zum Leben, erhöbe sich vom Boden und ginge auf uns zu. Sie sieht, wie wir sie mit Blicken durchdringen, sie fühlt, wie wir leiden und uns nach ihr sehnen, sie will uns trösten, uns ins Leben zurückbringen. Doch steht hier ein Gauner mit dem eisigen Bajonett auf der Schulter und antwortet mit dem entsetzlichen Wort: nein. Er kann das jetzt nicht erlauben. Nichts rührt ihn, weder das Flehen der Frauen noch das Weinen der Kinder. Er ist taub und regungslos. Alle Resignierten gehen von den Fenstern weg, wollen ihren Blick von der verzaubernden Weiße abwenden – und vertiefen sich wieder in tiefste Verzweiflung und bitterstes Grübeln. Nur herzzerreißendes Stöhnen unterbricht die Stille dann und wann. […]getrennt vom daneben liegenden Gleis, um niemandem im Wege zu stehen. Der Zug ist schwarz wie die Nacht, noch schwärzer ist aber das Unglück derer, die darin gefahren werden. Hin und wieder weckt uns das Pfeifen vorbeifahrender Züge. Alle stürzen sich an die Fenster, um zu sehen, wer die Glücklichen sind, die […] nachts reisen können. Wir sehen hell beleuchtete Waggons, die sich schnell, fast schon freudig fortbewegen – offenkundig fahren sie an einen behaglichen Ort. Es gelingt uns, die Menschen der freien Welt zu erkennen. Ein tiefer Schmerz ergreift den, der dieses freie Leben sieht. Denn so wie sie, so haben auch wir uns nichts zuschulden kommen lassen, 250

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nichts verbrochen – doch wie verschieden sind unsere Wege! Sie werden auf dem Lebensweg gefahren, wir aber – wer weiß?! In ihrem Zug leuchtet das Leben, in unserem herrscht eine entsetzliche, fürchterliche Dunkelheit. Dort fahren ruhige Menschen, denen nichts droht, deren Reise ein Ziel hat, auf das sie sich freiwillig zubewegen. Wir aber werden entgegen unserem Willen gefahren, unter Zwang. Und wer weiß, wohin? Menschen rutschen von den Fenstern weg. Ein weiterer Tropfen der Verzweiflung hat ihre Herzen buchstäblich entzweit. Jeder von ihnen hat noch ein wenig Schmerz und Trauer in sich eingesogen und suchte, niedergeschlagen, wo er seinem Kopf Ruhe gönnen könnte, den aufzurichten er nicht mehr vermochte. Als die Nacht sich dem Sonnenaufgang zuneigte, setzte sich unser Zug in Bewegung. Langsam, monoton fährt er weiter, ständig gewährt er Vorfahrt für die höchste Rasse: Die dürfen wir nicht aufhalten, das lässt sie nicht zu. Wir nähern uns irgendeiner Stadt. Dort unten erwacht allenthalben das Leben. Du siehst Frauen, die sich ihres Haushalts wegen beeilen. Und dort in der Ferne sieht man, wie sich eine Menschengruppe aus dem anderen […] uns nähert. Sie gehen offenkundig zur Arbeit. Alle fragen sich, wer das ist: Vielleicht gibt es in diesem Bezirk, wo wir hingebracht wurden […] noch „nützliche“ Juden? Solange diese Menschen noch fern von uns waren, war es unmöglich, ihre Nationalität zu bestimmen. Als sie aber näherkamen, überkam alle eine Freude: Auf ihrer Kleidung sehen wir große gelbe Aufnäher. Offensichtlich werden die Juden hier am Leben gelassen und zur Arbeit geschickt. Das erfüllt uns mit Hoffnung, tröstet uns. Doch an jeder Station, an der wir halten, sehen wir Menschen, die dastehen und den Vorbeifahrenden Handzeichen geben: Sie führen die Hand am Hals entlang oder deuten auf die Erde. Ein böser Fluch verfolgt uns auf dem Weg: Bei jedem Halt tauchen diese Menschen wie aus dem Nichts auf und geben uns ihre teuflischen Zeichen. Was wollen sie uns sagen? Wozu erschrecken sie die ohnehin zu Tode erschrockenen Menschen? Jeder versucht die trüben Gedanken zu vertreiben, die nach solchen Zeichen aufkommen. Die Menschen wollen sich selbst benebeln, ihre Aufmerksamkeit von dem Bild ablenken, das vor ihren Augen erscheint: Eine fremde Frau führt die Hand am Hals entlang. Der Zug fährt los und wir setzen unsere ewige, monotone Reise fort. Wir nähern uns einer anderen Station. Überall sind Gaffer, sie starren unseren Zug an. Das bringt zusätzliches Leid. Dort stehen zwei Frauen zwischen den 251

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­ äumen und wischen mit Taschentüchern die Tränen in ihren Augen weg. B Außer ihnen sehen wir niemanden weit und breit. Und du kannst dir nicht vorstellen, warum sie weinen. Warum rührt unsere Erscheinung sie zu Tränen? Warum weinen diese Frauen? Wegen persönlichen Unglücks oder aus Mitleid mit uns? Wer sind wir für sie und warum lösen wir bei allen Tränen aus? Wieder kommen die beiden Feinde des Menschen, die uns nicht in Ruhe lassen und einen Tribut verlangen: Durst und Hunger. Wieder haben sie sich der erschöpften Menschen bemächtigt. Wir flehen unsere unmenschlichen Begleiter an, uns wenigstens ein klein wenig Wasser zu geben. Uns gegenüber stehen Frauen – ihrem Aussehen nach eventuell Jüdinnen – und wollen uns Schneebälle zuwerfen. Wie glücklich wären wir gewesen, hätten wir das Fenster nur für einen Augenblick öffnen und ein wenig Schnee, diese weiße feuchte Masse, ergattern dürfen. Hände erschrockener, aber mutiger Menschen strecken sich uns entgegen: Sie selbst, sicher jüdisch, können deshalb Schwierigkeiten kriegen, doch unsere flehenden Blicke machen einen so starken Eindruck auf sie, dass sie alles vergessen und sich unserem Fenster gegenüber in einer solchen Entfernung hinstellen, dass sie uns treffen können, wenn sie den Wunsch haben, uns etwas zuzuwerfen. Sie halten schon große Schneebrocken in den Händen. Sie wollen den Schnee uns zuwerfen, und nur eine Sache hält sie davon ab, ihre moralische Pflicht zu erfüllen, dabei könnte das uns – den verzweifelten Menschen mit gesenktem Haupt  – einen Schluck frischen Lebens, eine mächtige Kraftspende geben: geschlossene Waggonfenster, die Bestien von Begleitern erlauben es uns nicht, sie zu öffnen. Hätten sie es nur erlaubt, einfach abgenickt, hätten die Wohltäter uns geholfen, und wir hätten unsere Qual ertragen können. Doch sind ihre Herzen hart wie Stein, sie sind erbarmungslos, haben kein Mitleid. Mit jeder Minute steigt die Spannung. Die Menschen verlieren ihr menschliches Antlitz. Ein Mädchen ist in Ohnmacht gefallen. Die in Verzweiflung getriebene Menschenmenge hämmert, reißt selbstvergessen an den Türen, fängt an, die Fenster einzuschlagen. Sogleich tauchen die Wachen auf, erschrocken, es könnte etwas passieren, das auch ihnen Schwierigkeiten bereiten könnte. Sie fragen dreist, was diese schreiende, weinende Frau wolle. Wer sein Sprachvermögen noch nicht eingebüßt hat, erklärt, dass ihr Kind wegen Dursts in Ohnmacht gefallen ist – alle deuten auf die Mutter, die darum fleht, etwas Wasser zu bekommen. Sie lachen, zufrieden, dass nichts Schlimmeres passiert ist. Sie wollen schon weitergehen. Die Mutter hämmert immer stärker gegen die Wand  – und schon fast sind die Fenster zerbrochen. Man will sie wegzerren, beruhigen, damit alle anderen ihretwegen nicht bestraft werden. Aber sie will nichts 252

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hören, verliert sie doch ihre einzige Tochter, ohne die ihr Leben wertlos wird. Sie fleht: Lasst mich laufen, lasst mich raus, dass ich meiner Tochter einen Schluck Wasser holen kann. Es finden sich ein paar Mutige, die sie zu schützen bereit sind, sie lassen sie nach hinten zum Fenster durch, sie schlägt um sich und schreit. Jetzt kommen die Verbrecher wieder. Sie sehen, dass das gewagte Verhalten der Frau die in Verzweiflung getriebene Menge mit tollkühnem Mut anstecken kann, und die Folgen könnten auch für sie fatal sein – also nicken sie diplomatisch mit dem Kopf, zum Zeichen: Es ist erlaubt, das Fenster zu öffnen. Alle sind von Freude ergriffen. Ein frischer Luftstrom dringt in den Waggon ein, vertreibt die verbrauchte, sperrige Luft. Es ist, als wären alle wieder zum Leben erwacht, alle sind in Aufregung versetzt: Bald schon, bald, in einer Minute, einer Sekunde wird man einen Schneebrocken ergattern und den Durst stillen können. Teils treffen die Schneebälle den Waggon, teils fallen sie auf den Boden. Die Glücklichen, die das weiße Gold in die Hände bekommen haben, stürzen sich darauf wie verrückt, teilen den Schnee unter den nächsten Verwandten auf. Jeder schluckt ihn, obwohl der Schnee kalt und gefroren ist. Die Menschen prügeln sich um jede Flocke, heben zufällig gefallene Stückchen vom Boden auf […] Doch sind es nur wenige, die das Glück hatten, den Durst zu stillen, aber […] viele saßen weiterhin in Verzweiflung, von Hunger und Durst gequält. Der Zug fährt los. Alle danken diesen wenigen mutigen Frauen und segnen sie für ihre heldenhafte Tat, die sie auf der Reise vollbracht haben. Der Zug nimmt Fahrt auf. Wir fahren an etlichen Dörfern und Ortschaften vorbei. Der Großteil davon ist uns unbekannt. ** […] Wer fährt […]154 kämpft mit seinem zweiten Feind, dem großen östlichen Volk. Sie schauen ihre Feinde an, die bereits ins Netz geraten sind: Wie furchtbar gern würden sie sich auf uns stürzen – auf uns, die „Schuldigen“. Wegen unserer […] waren sie gezwungen, ihr Haus zu verlassen, sich von den Eltern zu verabschieden, von den Schwestern und den kleinen Brüdern. Jeder war gezwungen, die Frau zu verlassen, die in Tränen ausbrach, und das Kind, das

154 Gemeint ist ein deutscher Militärtransport, der in Richtung der Ostfront fährt.

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von seinen Armen nicht heruntersteigen wollte und immerzu flehte: „Papa, geh nicht weg!“ Schwache, Schutzlose, Gebrochene – wir sind es, die ihnen das ungeheure Unglück gebracht haben. Wir sind es, die die Völker auf das Schlachtfeld155 geführt haben. Würde man sie jetzt an uns ranlassen, mit welch sadistischer Grausamkeit würden sie uns verschlingen, wie brutal würden sie uns die Knochen brechen. Warum werden sie dorthin, gegen den weit entfernten Feind entsandt, wo doch direkt vor ihnen ein weitaus grausigerer und gefährlicherer Feind steht als der, den zu bekämpfen sie geschickt werden. Soll ihr Schlachtfeld doch hier sein, sie zeigen ihre […] Kraft. Sollen sie doch hierbleiben und im Kampf gegen dieses entsetzliche Weltgespenst zeigen, wozu sie fähig sind. Nein, ihr niederträchtigen Banditen, ihr einfältigen Verbrecher, geht nur in die Schlacht gegen den Feind Nummer 2, einen starken und mächtigen Feind. Beweist eure Kühnheit doch dort, wo riesige Stahlvögel und massive bewegliche Festungen gegen euch kämpfen werden, die von großen Patrioten gesteuert werden, von tapferen Helden, Streitern für unser aller Freiheit und Glück. Geht nur dorthin, ihr Schufte und Schurken, dorthin, auf das Schlachtfeld, wo das Licht sich der Finsternis, die Freiheit sich der Versklavung entgegenstemmt. Dort werdet ihr eure Grausamkeit verlieren, dort wird eure Kraft schwinden, dort kommt das Ende eurer Existenz. Dort wird euer Leben im Abgrund verschwinden. Die Züge setzen sich in Bewegung. Wir fahren gen Westen, sie gen Osten – uns und sie erwartet das Gleiche: uns unverschuldet, sie aus eigener Schuld. ** Wir nähern uns einer Stadt. Riesige Fabrikschlote sind von Weitem zu sehen. Du merkst allmählich das Vorhandensein der komplexen Organisation der menschlichen Arbeit. Als wir ganz nah herangefahren waren, sahen wir eine der Großstädte Oberschlesiens vor uns156. Hier sind auf weitläufigem Gelände große und kleine Bauten verstreut. Von überall her ragen Schlote in den Himmel, die Symbole einer schweren nutzbringenden Arbeit. Hier war einst die polnische Schwerindustrie konzent155 Eine Ironie auf die deutschen Vorstellungen, wonach die Juden alles Unglück Deutschlands, auch den Krieg, verschuldet hätten. 156 Dies war offenkundig die Stadt Dąbrowa Górnicza. Die nächste Stadt, durch die die Route höchstwahrscheinlich führte, war Sosnowitz.

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riert. Alle glauben, sie hätten das Reiseziel erraten: Natürlich sind wir zu ­diesen Fabriken gefahren worden, hier werden Arbeitskräfte gebraucht – diese Industriemaschinerie wird uns verschlingen, wie sie auch unsere Vorgänger verschlungen hat. Doch unsere monotone Reise geht weiter. Wir sind auf dem Weg ins tiefe Schlesien. Die Gegend liegt im Nebel  – das ist so schrecklich, so grau wie unser Leben. Du siehst riesige, lange, mit Kohle beladene Waggonreihen auf den Gleisen. Alle Anzeichen lassen erkennen, dass hier das Herz des polnischen, an Kohle  – dem schwarzen Gold  – überaus reichen Landes schlägt. Jeder wird vom Gedanken umgetrieben: Was, wenn er in die tiefen Gruben geworfen wird […]? Wer weiß, ob seine körperlichen Kräfte reichen, um das auszuhalten. Wird er sich der neuen Umgebung anpassen können, in die die neuen Herren, deren Gemüt er bereits bestens kennt, ihn hineintreiben? Wird er nach etlichen zermürbenden Wochen des Hungers und der Not mit seiner Arbeit die Existenz der Familie – der Frau, der Kinder, der Eltern – sichern können? Wir fahren, solange noch nicht Nacht ist – dann hält der Zug wieder an. Dann und wann fährt er los, legt einige Kilometer zurück und hält wieder an. Eine schwere, albtraumerfüllte Nacht schließt uns in ihre Arme. Große Judenscharen  – zermürbt und beunruhigt  – wissen, dass sie von dem Ziel ihrer Reise bald schon nicht mehr weit entfernt sein werden, dass sie den Endpunkt fast erreicht haben. Wer weiß, was sein wird, was sie erwartet, wenn sie dort ankommen, wo ihre Vorgänger den Bericht über deren Elend abgebrochen hatten? Was wird aus ihnen, wenn sie Deutschland erreicht haben? Was ist, wenn ihre Geschichte plötzlich für immer und ewig abreißt? Werden sie eine lebendige [Spur] ihrer selbst hinterlassen können, für diejenigen, die in allernächster Zukunft den gleichen Weg werden gehen müssen? Wer weiß? Diese Zweifel haben alle erfasst, in die Zange genommen. Nur dieser Hoffnungsschimmer, dieser Unglaube an das Unmögliche, diese Unterschätzung des Feindes betäubten alle wie Opium, verleihen uns Mut, spenden unseren Herzen ein Quäntchen Trost. Der Haufen zermürbter Menschen döst, mit Todesschauder erwarten sie den Anbruch des nächsten Tages. Nun ist die lange Nacht voller Verzweiflung vorbei. Ein grauer Morgen bricht an, drängt in die Welt durch den dichten schwarzen Nebel, der sich festhält, nicht weicht, die Welt beherrscht. […] und nicht […] von grauem Nebel bedeckt und […] Trübsal und Trauer […] zeugt von […] Tod […] die Welt in Trauer […] dieser verdammte Morgen. 255

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Unglückseliger Morgen […] zweieinhalbtausend Kinder […] sind ihrem grauenhaften Tod begegnet. Wir sind am Bahnhof Kattowitz angekommen. Die Stadt ist nicht zu sehen. Vor dir tauchen nur Umrisse von Bauwerken auf. Alle sind in deprimierter Stimmung gefangen. Alle erkennen, dass sie fast am Ende angelangt sind. In einer Stunde schon wird man aus dem Zug aussteigen müssen. Wer weiß, was uns erwartet? Jemand hat Angst vor diesem Endpunkt. Diese Menschen haben sich an den Rhythmus der unendlichen Reise schon gewöhnt, und sind – trotz der unerträglichen Bedingungen – dazu bereit, noch eine ganze Ewigkeit in diesem Zug weiterzufahren: über öde Landschaften, inmitten wilder Menschen und Tiere – Hauptsache, sie müssen hier nicht aussteigen. Die Verbrecherfratzen derjenigen, die sie hier erwarten, erschrecken sie. Es erschreckt sie der Ort, an den sie gebracht worden sind: Feindesland, fremder Ort. Wenn sie schon nahe an ihrem Heimatort so brutal und erbarmungslos behandelt wurden – was erwartet sie dann hier? Einige physisch und moralisch Ausgezehrte haben sich demütig ihrem Schicksal ergeben: Man wird sehen, was dann kommt. Hauptsache, man kommt baldigst aus diesem zugesperrten Gefängnis frei, das einem die Lebenskräfte raubt. Vielleicht wird es in der Freiheit doch etwas besser, sicherer? Noch glimmt der Hoffnungsschimmer. Wir nähern uns der letzten Station. […] Alle sind niedergeschlagen […] Alle sind in schaurige Gedanken versunken. […] Jeder wahrt die nervöse Anspannung: Aus den Tiefen des Bewusstseins steigen geisthöhlende Gedanken und quälende Fragen auf: Wo sind denn die, die vor uns aus dem Zug gestiegen sind? Warum sind die Spuren ihres Lebens ausgelöscht? Warum sind sie für immer verschwunden, und warum ist nichts mehr geblieben, was uns an ihre Existenz erinnern würde – warum? Wir kommen bald an unserem letzten Punkt an. Auch wir werden bald unsere letzten Worte hier aufschreiben müssen: „Wir sind in Deutschland angekommen.“ ** Und dann, wie geht es dann weiter? Alles abgeschnitten, alles verschwunden – warum? Dann sind sie wohl wahr, die schrecklichen Nachrichten über die Warschauer157 Juden, die in Treblinka umgekommen sind. […] Die Banditen 157 Einigen Juden gelang es, aus Treblinka zu fliehen und sich in Sicherheit zu bringen. Von ihnen erfuhren dann auch andere von dieser Todesfabrik. Diese Gerüchte erreichten sicherlich nicht nur Warschau, sondern auch Grodno.

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[…] haben den zweiten […] jetzt zu ihnen. Wer weiß, ob sie den letzten Schlag der Räder noch hören? Wer weiß, ob sie jemals wieder mit einem Zug werden fahren können? Wer weiß, ob der heutige Morgen nicht ihr letzter ist? Wer weiß, ob sie jemals wieder einen Sonnenaufgang werden erleben k­ önnen? Wer weiß, ob ihre Augen jemals wieder in die Welt werden blicken können? Wer weiß, ob sie das Leben noch einmal werden genießen können? Wer weiß, ob sie ihre Kinder werden großziehen können? Wer weiß, ob ein Kind eine Mutter, und eine Mutter ein Kind haben w ­ erden? Wer weiß, ob du mit mir sein wirst? Der Zug drosselt das Tempo und fährt auf ein Nebengleis. Es ist gewiss, wir haben das Ziel unserer Reise erreicht. Der Zug hält an, die Menschenschar taumelt und erwacht zum Leben, obschon immer noch im Waggon. Alle drängeln, stürmen zum Ausgang. Alle wollen wenigstens einen Hauch frischer Luft – und wenigstens ein bisschen Freiheit. ** Wir sind aus dem Zug ausgestiegen. Sieh, mein Freund, was hier passiert. Sieh, wer uns zu empfangen gekommen ist. Das sind Militärs mit Helmen auf den Köpfen, mit großen Peitschen in den Händen. […] mit großen, bösartigen Hunden. Das ist das, was wir anstatt der offenen Arme zur Begrüßung angetroffen haben. Niemand kann verstehen, wozu diese Begleitung nötig ist. Warum erweist man uns einen derart schaurigen Empfang? Wozu? Warum? Wer sind wir denn, dass man mächtige Waffen gegen uns richtet und böse Hunde auf uns hetzt? Wir sind doch friedliche Menschen, wir sind zum Arbeiten gekommen – wozu sind diese Vorsichtsmaßnahmen gut? Warte nur, gleich siehst du es. Gleich beim Ausstieg aus dem Waggon wurden uns die Säcke mit den Sachen abgenommen, selbst das unbedeutendste Gepäckstück wurde weggenommen, alles wurde auf einen Haufen geworfen. Nichts darf man behalten, nichts darf man bei sich haben. Dieser Befehl entmutigt alle: Wenn du angewiesen wirst, die nötigsten, elementarsten Sachen abzugeben, dann wird das Nötigste ja nicht mehr benötigt, man wird ohne das Notwendige auskommen müssen. Hier, an diesem Platz, darfst du keine persönlichen Sachen bei dir haben. 257

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Doch es bleibt keine Zeit, das zu betrauern. Eine neue Anweisung erschallt: Männer auf die eine, Frauen auf die andere Seite! Dieser schreckliche, grausame Befehl trifft uns wie ein Schlag. Ausgerechnet jetzt, wenn wir bereits an der Schwelle stehen, an die letzte Grenze herangetreten sind, zwingt man uns dazu, Abschied zu nehmen, das Untrennbare zu trennen, das Unteilbare zu teilen, das, was schon so fest verbunden und zu einem einheitlichen Organismus zusammengewachsen ist. Kein einziger Mensch hat sich gerührt: Niemand will glauben, dass das Unglaubliche, das Unmögliche sich ereignen wird. Doch die Schläge, die es auf die ersten Reihen hagelt, bringen auch diejenigen dazu, sich aufzuteilen, die weit weg stehen. Beim Auseinandergehen ließ niemand den Gedanken zu, niemand glaubte, niemand war sich der tragischen Bedeutung dieses Momentes wirklich bewusst. Alle dachten, es sei nur eine Formalität: Wir werden aufgeteilt, um die genaue Anzahl der Ankömmlinge nach Geschlechtern festzustellen. Doch wir spürten den Schmerz, weil wir jetzt, in diesen schwierigsten Minuten, nicht beieinanderstehen und einander nicht trösten können. Alle spürten die Kraft unauflöslicher Familienbande. Da stehen sie also: auf der einen Seite der Mann, auf der anderen Seite die Frau mit dem Kind. Hier stehen die älteren Männer, hier der alte Vater, ihm gegenüber die schwache Mutter. Hier sind die Brüder: Sie schauen dorthin, wo ihre Schwestern stehen. Niemand versteht, was passieren soll. Doch alle spüren, dass […] und das letzte Stadium schon nah ist […]. Alter und Beruf müssen genannt werden. Alle werden in Gruppen aufgeteilt, man befiehlt, dass sie sich aufstellen […]. Nur eins ist absolut unklar: Diejenigen, die uns fragen, interessieren sich überhaupt nicht für die Antwort. Sie teilen uns willkürlich auf: der eine dorthin, der andere hierhin, je nachdem, ob ein Mensch ihnen rein äußerlich gefällt. Die Menschenschar ist in drei Gruppen aufgeteilt worden: Frauen mit Kindern stehen für sich, von ihnen getrennt stehen die Männer – die alten und die ganz jungen – und die dritte Reihe ist die kleinste Gruppe, vielleicht zehn Prozent des ganzen Transports. Niemand weiß, wo es besser, wo es sicherer ist. Alle glauben, man werde hier für unterschiedliche Arbeiten eingeteilt. Frauen mit Kindern würden für die leichtesten Arbeiten, junge und alte Männer für erträgliche, nicht so schwere Arbeiten eingeteilt. Die kleinste Gruppe, in der, wie es aussieht, die arbeitsfähigsten versammelt wurden – diese wird die schwersten Arbeiten verrichten müssen. Es blutet einem das Herz, wenn man die von der langen Reise zermürbten Frauen sieht: Sie müssen auch noch die Kinder auf den Armen halten […] 258

Salmen Gradowski: Texte

Jemand versucht, ihnen irgendwie zu helfen, ihre Qualen wenigstens ein bisschen zu erleichtern. Doch bekommen sie augenblicklich Schläge auf den Kopf – und zwar so, dass du vergisst, warum du überhaupt zu der anderen Kolonne hingehen wolltest. Frauen, die sehen, was ihre Männer erwartet, wenn sie versuchen ihnen zu helfen, geben ihnen Handzeichen, damit die ­stehen bleiben und sich nicht von der Stelle rühren. In diesen schrecklichen Minuten wollen sie […] Es tröstet sie nur, dass sie bald ganz bestimmt wieder zusammen sein werden und sich dann nicht mehr trennen müssen. Gedanken schwirren im Kopf herum. Du stehst da, hilf- und schutzlos. Das Einzige, was du jetzt fühlst, ist der Schmerz des jähen Abschieds. Denn wenn die Frauen und Kinder zu irgendeiner besonderen Arbeit abkommandiert werden und die Männer mit ihnen nicht sein, ihnen werden nicht helfen können, dann zeigt sich, dass die Idylle, in der sie vor der Ankunft hier lebten, nichts als eine hohle Einbildung war. Plötzlich ist der Rausch verflogen. Alle sind erstarrt, vom stärksten Schmerz getroffen: Das Geschehen erinnert an einen chirurgischen Eingriff, der noch am Zug begonnen hat. Autos kommen, Frauen und Kinder werden hineingesetzt. Sie werden […] müssen. Wird jemand von uns die Frau, das Kind, die Eltern, die Schwestern noch einmal sehen können? Die Männer stehen abseits und schauen zu, wie ihre Verwandten auf Lastwagen weggefahren werden. Der Blick eines jeden ist an den Ort gefesselt, wo sich seine Frau mit dem Kleinkind auf dem Arm befindet. Hier führen zwei Töchter ihre Mutter. Ihre Brüder und ihr Vater folgen ihnen mit dem Blick. Welch schreckliches, welch grausames Bild offenbart sich deinem Blick! Einer der Soldaten, der die Menschen auf die Ladefläche zwingt, ist auf einen der Lastwagen geklettert und drückt aus aller Kraft auf die Frauen und Kinder drauf, als wären sie kein lebendiges Wesen, sondern Inventar. […] wenn dieser erbarmungslose Sadist seine Frau und Kind hineindrückt. In diesem schweren verantwortungsvollen Moment wäre jeder bereit gewesen, sich vor sie zu stellen, sie durch den eigenen Körper zu decken, seine Frau und sein Kind, seine Mutter und Schwestern. Wie glücklich wäre jeder von uns gewesen, hätte er bei ihnen sein, sie beschützen, sich wie eine Mauer aufrichten können, damit ihnen nichts Schlimmes passiert. Jeder schickt ihnen seine Wünsche hinterher, auf dass sie sich in den nächsten Stunden gesund und fröhlich wiedersehen mögen. Die Frauen schauen nach unten, auf die Männerkolonnen. Die eine kann ihren Blick von ihrem Ehemann nicht losreißen, die anderen von dem Vater und den Brüdern. Wie glücklich wären sie 259

Die Chronisten und ihre Texte

gewesen, hätten sie jetzt, in diesen schrecklichen Minuten zusammen sein können. Sie wären mutiger gewesen und wären tapfer dem entgegengegangen, was ihnen da in den nächsten Minuten bevorstand. Jetzt aber stehen sie einsam, hilflos und erschrocken da. Dort unten stehen ihre treuen, hingebungsvollen Männer und Brüder. Dort unten stehen sie, die, die ihnen helfen, sie trösten können und wollen. Nur lassen die bösen Hunde sie nicht heran. Ihr Sadisten, ihr herzlosen Mörder, warum lasst ihr es nicht zu, dass jetzt diejenigen bei uns sind, die ihr Leben für uns opfern wollen? Sie könnten uns diese grausigen Minuten erleichtern. Warum lasst ihr sie nicht?! Jede einzelne Frau tröstet sich damit, dass das wohl nicht allzu lange dauern wird. Gleich nach dieser Prozedur wird sie ihren Mann bestimmt wiedertreffen und wieder unter seinem Schutze sein. Brüder werden ihr helfen. Alle werden zusammenkommen und wie früher zusammenleben können. Wie bitter die Zukunft auch sein mag, sie wird versüßt durch […] Der Platz leert sich. Es kommen leere Lastwagen, die bis zum Anschlag beladen wieder wegfahren. Alle […] und läuft in eine Richtung. Wir folgen ihnen mit dem Blick, bis sie nicht mehr zu sehen sind. Sogleich kommen neue Lastwagen, sammeln immer mehr neue Menschen ein und bringen sie an einen unbekannten Ort. Die Stärkeren  – die kleine Gruppe –, welcher angeblich die besseren Arbeitskräfte zugewiesen wurden, wollen darin einen Anlass zum Trost erkannt haben: Dass Frauen und Kinder, Schwache und Greise weggefahren werden, sei doch ein Ausdruck von Menschlichkeit! Offenbar wollten die Mächtigen sie nach so einer erschöpfenden Reise nicht auch noch durch einen Fußmarsch zermürben. Wir aber wurden in Reihen je fünf Mann aufgestellt und angewiesen, in Richtung des Lagers zu marschieren. ** Sieh nur, mein Freund, da geht eine kleine Gruppe  – etwas mehr als 200 Menschen –, ein kleiner Teil jenes Haufens, die hier angekommen ist. Sie gehen mit gesenktem Haupt, in schwere Gedanken versunken, entmutigt, verzweifelt. Sie sind zu Tausenden gekommen, jetzt sind sie so wenige. Sie sind zusammen mit Frauen und Kindern gekommen, mit Eltern, Schwestern und Brüdern – doch jetzt sind sie ganz allein geblieben, ohne Frau, ohne Kinder, ohne Eltern, ohne Schwestern und Brüder. Sie hielten immer zusammen: Zusammen verließen sie das Ghetto und das Lager, zusammen fuhren sie eingesperrt in dem Zug. Doch hier, am Ende des Weges, nachdem sie die 260

Salmen Gradowski: Texte

letzte so grauenvolle […] und entsetzliche Grenze erreicht hatten, […] wurden sie voneinander getrennt. […] wie ergeht es wohl der erschöpften Frau […] mit den Kindern […], wie ergeht es ihr wohl in diesen Minuten ohne seine Hilfe? Wer wird sie stützen, wer wird ihr mit einem Rat zur Seite stehen? Was, wenn die bösen, harten Banditen ihre Hilflosigkeit ausnutzen und sie verprügeln? Ein anderer denkt an seine greisen Eltern: was mit ihnen alles geschehen könnte. Hohn und Spott und Schläge obendrein – was, wenn nur das von den neuen Herren zu erwarten ist? Woher soll er wissen, was gerade mit seinen Schwestern und Brüdern geschieht, ob sie wenigstens zusammen sind. Haben sie dort, auf dem Platz, auf den sie geführt wurden, zusammengehalten? Sie wollen einander helfen, [wollen] einander trösten. In Richtung […] gehen […] nur mit Familien […] in schweres Grübeln versunken […] kleine Gruppen von Menschen. Plötzlich sind alle wie wachgerüttelt: Wir sehen eine Gruppe von Menschen marschieren, die gestreifte Arbeitskleidung tragen. Diese Menschen sehen gut aus, machen einen tapferen und sorglosen Eindruck. Nähergekommen erkennen wir, dass es Juden sind. Freude kommt über uns alle. Wir sehen die ersten Menschen im Lager, ein Zeichen von Leben, guter Behandlung und menschenwürdigem Umgang. Alle fassen Mut, dass auch wir kein schwereres Los ziehen. Die einzige Sorge, die wir noch haben […] ** Ein kleines Gebäude. Man weist uns an, dass wir uns zum Durchzählen aufstellen. Wir gehen vorbei. Ein paar Männer in Militäruniform lachen uns aus. Wir sind gezählt worden und sind weitergegangen, auf einen kürzlich eingezäunten Platz. Alle schauen sich um, blicken umher und hoffen, hinter dem Stacheldraht diejenigen zu finden, von denen wir vor wenigen Minuten getrennt worden sind. Stimmen von offenbar erwachsenen und älteren Frauen sind zu hören. Wir sehen: Hinter dem Stacheldraht gehen Frauen in ziviler Kleidung und Lagermontur. Da ist so ein Lärm, so ein Getöse – das sind ganz sicher unsere Frauen mit Kindern, unsere Mütter und Schwestern, die da angekommen sind – und jetzt werden Hygienemaßnahmen vorgenommen, um sie […] Nur eines ist uns klar […] getan […], der uns trennte von […] Ein ordentlich umzäuntes, von Stacheldraht umgrenztes Frauenlager. Wir fühlen den Trennungsschmerz, spüren das erste Leid. Noch sind wir nicht imstande, das 261

Die Chronisten und ihre Texte

Geschehen gänzlich zu erfassen, nur eine tiefe Schlucht tut sich vor uns auf. Das Einzige, was uns tröstet, ist, dass wir wohl nicht allzu weit weggebracht, dass wir in ihrer Nähe sein werden. Durch den Stacheldraht hindurch werden wir einander sehen können und vielleicht gelingt es uns, Kontakt herzustellen. Wir gehen durch das zweite Tor und finden uns im umzäunten Männerlager wieder. Wir schreiten über den Lehmboden […] Doch bislang […] nicht zwischen zwei […] Bauten stehen irgendwelche Männer und mustern uns von Kopf bis Fuß. Wir können nicht erkennen, ob es Juden sind oder nicht – noch ahnen wir nicht, warum sie uns derart anstarren. Sie sind wohl neugierig, die Neuankömmlinge kennenzulernen. Um uns herum sind Menschen, deren bloßer Anblick einen erschreckt; sie stampfen über den Lehmboden, schieben mit Erde beladene Karren oder schleppen Lasten: Einer trägt Ziegelsteine, ein anderer Lehm. Ein Schauder durchdringt einen, wenn man sie sieht: Sie waren einst Menschen, jetzt aber sind sie nur noch Schatten. Das ist also die Arbeit, das ist das Konzentrationslager, welches Millionen von Juden, die hierhin gebracht wurden, eine Beschäftigung geben soll? Das ist sie also, die vordringlichste Staatsarbeit, um deren willen alles geopfert werden muss, das Notwendigste […], das Unabdingbarste […] das, was du siehst, weil du allzu besorgt bist um das Schicksal jener, die dir lieb und teuer sind. Man führt uns zu Holzbauten hin. Alle haben gehofft, hier ihre Brüder und Väter anzutreffen. Doch es gibt von ihnen nicht eine Spur. Was, wenn sie schon alle Maßnahmen durchlaufen haben und an ihren Platz geschickt worden sind? Da treten ein paar jüdische Banditen in Begleitung einiger Soldaten ein und befehlen: Alles, was wir bei uns haben, muss abgegeben werden. Niemand begreift, was man von uns verlangt: Es ist doch schon alles abgegeben worden! Wozu brauchen sie denn das Wenige, das Mindeste, was noch in unseren Hosentaschen sein könnte? […] es hagelt Knüppelschläge auf den Kopf. Nur eine Frage und es gibt einen Schlag. Selbst die Papiere – das Wichtigste, zumal in Kriegszeiten – nehmen sie einem ab. Nichts darf man behalten. Nicht mal den Vermerk, wer du bist und woher du stammst – hier wirst du nichts mehr brauchen. Niemand begreift, warum alles abgegeben werden muss. Nachdem wir alle Sachen abgegeben haben, werden wir ins Waschhaus geführt. Die jüdischen Begleiter lachen uns aus. Niemand begreift deren rätselhafte Fragen: Wer hat euch befohlen, hierhin zu kommen? Habt ihr keinen besseren Ort für euch aussuchen können? Niemand antwortet, weil ihre Fragen unklar sind. Wir werden in das angebliche Desinfektionsbad geführt, doch sich zu waschen ist hier nicht erlaubt. Unsere Köpfe werden geschoren und […] mit 262

Salmen Gradowski: Texte

etwas Feuchtem. Danach bringt man uns in einen anderen Raum und gibt uns neue Sachen. Wir sind als ganz normale Menschen hier hineingegangen – wie Verbrecher aussehend oder gekleidet wie die größten Geisteskranken gehen wir hinaus. Alle sind ohne Hut, der eine trägt Schuhe, ein anderer trägt Stiefel, die alle schlecht passend und übergroß für seine Füße sind. Für den einen sind die Sachen zu klein, für den anderen zu groß. Schon fangen wir, die Neuankömmlinge, damit an, uns in die alte Lagerfamilie einzufügen. Wir werden auf ein neues Lagergleis umgeleitet: Hier werden wir unser Leben neu einrichten müssen. Momentan sind alle nur mit dem einen Gedanken beschäftigt, nur die eine Frage lässt allen keine Ruhe: Auf welchem Wege könnte man erfahren, was mit der Familie ist, wo sie ist? Wie könnte man von den Angehörigen wenigstens eine Nachricht bekommen? Wo ist wenigstens eine Spur von ihnen zu finden? Ein Gerücht geht um: Jeder wird […] treffen können. Worauf dieses Gerücht gründet, ist unklar. Wir sind damit zufrieden, dass wir […] erhalten haben. Wir kehren zur Baracke zurück und werden in eine Reihe aufgestellt, um unsere Personalien aufzuschreiben. Wir versuchen ein Gespräch anzufangen, mit denen, die hier schon seit Langem sind, um von ihnen irgendetwas zu erfahren. Doch wie grausam, wie niederträchtig verhalten sich diejenigen, an die wir uns wenden! Wir kann man nur so ein Sadist sein, dass man einsame, gebrochene Menschen verspottet?! Wie können sie nur mit solcherart Leichtigkeit, ohne mit der Wimper zu zucken, uns auf die Frage, wo unsere Verwandten sind, besehen: „Sie sind bereits im Himmel“? Hat denn das Lager derart auf sie eingewirkt, dass sie keine bessere Beschäftigung für sich finden, als sich an fremden Schmerzen und Qualen zu ergötzen?! Das erweckt den Eindruck eines grausamen […] „Eure Verwandten sind schon verbrannt  …“ Alle erschaudern. Es durchdringt dich der Schauder, wenn du diese Worte hörst: „Deine Angehörigen sind nicht mehr.“ Nein, das ist doch unmöglich! Kann es denn sein, dass Menschen so denken, die gerade mit uns sprechen, die – so wie wir auch – einst mit ihren Familien hierhinkamen und allein geblieben sind, weil diejenigen, die auf den Lastwagen weggefahren wurden, direkt in die Gasöfen gerieten, welche lebenskräftige Menschen verschlucken und nur Tote, erstarrte Körper auswerfen?! Nein, unmöglich  – mit solcher Leichtigkeit könnten sie darüber 263

Die Chronisten und ihre Texte

nicht sprechen. Sie hätten den Mund nicht öffnen, keine Worte finden können, um das auszusprechen, weil sie dann selbst nicht mehr am Leben wären. […] teuflisches Spiel […] zum grausamen Lagerleben. Dennoch hinterlassen ihre Worte eine tiefe Spur im Herzen, erfüllen unseren Geist mit schau­ rigen Gedanken. Eine neue Qual: Unser geistiger Feind regt sich – der Hunger macht sich bemerkbar. Wieder zehrt er an uns, und du wirst schwächer, hältst dem Ansturm dieses inneren Feindes nicht stand. Er lässt dich nicht in Ruhe, er lässt dich nicht denken, solange du ihn nicht gestillt hast. Den Hungrigen wurde Essen gegeben  – ein Minutentrost: Wenigstens wurde der Körper gesättigt. Sie beginnen, uns mit einem Stigma zu versehen. Jeder erhält seine Nummer. Von diesem Moment an hast du kein eigenes „Ich“, du verkommst zu einer Nummer. Du bist nicht mehr, der du einst warst. Du bist nunmehr eine nichtssagende und nichts bedeutende sich bewegende Nummer. Wir werden in Gruppen zu 100 Nummern aufgestellt und […] alle in die neue Behausung geführt. Es ist bereits dunkel geworden, der Weg ist fast nicht zu sehen. Hier und dort leuchten Glühbirnen, aber ihr Licht ist matt. Die einzig starke Lichtquelle ist der große Scheinwerfer, der über dem Tor hängt – er ist aus der Ferne zu sehen. Die Menschen schleppen sich dahin auf dem Lehmboden, bis sie erschöpft hinfallen. Ängstlich und zermürbt erreichen wir unsere neuen Gräber. Sobald wir unser neues Heim erblickten, sobald wir etwas Luft schnappten, wurden wir mit Knüppeln auf den Kopf geschlagen. Aus einem eingeschlagenen Kopf, einem aufgeschlagenen Gesicht strömt Blut. So sieht der Erstempfang der Neuankömmlinge aus. Sie sind betäubt, schauen sich verstört um, gucken, wohin sie geraten sind. Wer zur Seite schleicht […] Jeder überlegt, wie er sich vor Schlägen schützen kann. Man sagt uns, dies sei das Leichteste im Lagerleben. Hier herrscht eiserne Disziplin. Hier ist ein Vernichtungslager, eine Todesinsel. Man kommt hierhin nicht, um weiterzuleben, sondern nur, um den eigenen Tod zu finden  – die einen früher, die anderen später. Das Leben hat sich an diesem Ort nicht eingenistet. Hier ist die Residenz des Todes. Unser Verstand ist abgestumpft, die Wahrnehmung erstarrt, wir können die neue Sprache nicht begreifen. Jeder denkt nur daran, wo seine Familie ist, wohin seine Nächsten eingewiesen wurden, wie sie sich an die neue Umgebung werden anpassen können. Jeder denkt: Was ist […] Verbrecher und Sadisten […] wie […] ein zum Tode erschrockenes Kind, das mitansieht, wie seine Mutter geschlagen wird. 264

Salmen Gradowski: Texte

Wer weiß, wie diese niederträchtigen Banditen – welches Geschlechts sie auch sein mögen – mit seiner schwachen kranken Mutter, mit seinen lieben, teuren Schwestern umgehen werden. Wer weiß, wo, in welchem Grab sein Vater und seine Brüder die letzte Ruhe gefunden haben, und wie […] Wir alle stehen da, hilflos, ruhelos, bis zur Verzweiflung getrieben, einsam, gebrochen. Wir teilen die Boxen158 auf. Das ist so eine Art Pritsche für jeweils fünf bis sechs Nummern159. Uns wird befohlen, dass wir uns so hinlegen, dass nur der Kopf sichtbar bleibt. Kriech, so tief es geht, du verdammter Mensch! Du sollst so wenig wie möglich gesehen werden. Es kommen Männer an die Pritschen, die schon seit Langem hier sind. Sie fragen, wie viele wir gewesen und wie viele Menschen ins Lager gebracht worden seien. Diese Fragen sind uns unklar. Wir können nicht so recht erkennen, wo der Unterschied ist. Wo sind denn die, die mit den Lastwagen weggefahren wurden? Die Gesprächspartner schauen uns mit einem zynischen Lächeln an. Sie seufzen tief auf – ein Zeichen menschlichen Mitgefühls. Unter den alten Häftlingen findet sich einer aus unserem Lager, der mit einem der früheren Transporte angekommen ist. Von diesen Transporten hatten wir keine Nachricht, wir fanden keine Spur dieser Menschen. Diese Begegnung, eine Nachricht über sie, ein Lebenszeichen. […] aus Deutschland. Doch was sagt dieser Mensch? Das Herz bebt, es stehen uns die Haare zu Berge, hör nur, was er quatscht: „Meine Lieben, wir kamen, so wie ihr auch, zu Tausenden – geblieben ist ein mickriger Rest. […] Wer auf den Lastwagen weggefahren wurde, ging direkt in den Tod. Wer zu Fuß ging, hat seinen qualvollen Weg hin zum Tod noch vor sich – für die einen ist er länger, für die anderen kürzer.“ Grauenerregende, unfassbare Worte! Kann es denn sein, dass Menschen von dem Tod ihrer Frau, ihres Kindes, ihrer Eltern, Schwestern und Brüdern so reden und dabei selbst noch am Leben bleiben können? Es kommt der leise Verdacht: Wahrscheinlich macht die Lageratmosphäre die Menschen so roh, so grausam, dass sie Vergnügen daran finden, fremdes Leid zu sehen. Das spendet ihnen Trost, sie wollen die Zahl der Leidenden erhöhen. Unklar ist nur, warum sie alle, unabhängig von Alter und Charakter, ein und dasselbe erzählen. Nämlich dass alle, die hier angekommen sind, längst nicht mehr leben. Das ist eine fatale Nachricht! Wir alle sind am Boden zerstört, Zweifel 158 Abgetrennte Schlafbereiche in den Baracken. 159 Die Pritschen waren grundsätzlich für je fünf Mann vorgesehen (damit ging die Annehmlichkeit einher, in Fünfen zu zählen). Die Häftlinge teilten sich nicht nur die Liegefläche der Pritschen, sondern deckten sich auch mit einer einzigen großen Decke zu. (Friedler, Siebert, Kilian, 2008. S. 98.)

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Die Chronisten und ihre Texte

plagen uns: Sagen sie wirklich die Wahrheit?! Komm her, mein Freund, schaue nur, da liegen drei bis sechs Männer und halten einander umschlungen, von der Last der Qualen erdrückt. Sie alle weinen, jeder will sein Herz ausschütten. Sie wollen in dieses Unglück nicht wieder versinken, doch die Leide­ stränen fließen von selbst: „Hör mal, mein Freund“, sagt einer dem anderen. „Mein Lieber, ist das denn wahr? Haben wir schon alles verloren? Ist das so, dass wir niemanden mehr haben: keine Frau, kein Kind, keine Mutter, keinen Vater, keine Brüder, keine Schwestern?“ Wie grausam! Wie kann das sein? Gibt es ein solches Grauen auf der Welt? Kann es solchen Sadismus – […] Abertausende unschuldige Menschen getötet – auf der Erde geben? Wie glücklich wären wir, hätten wir dort alle zusammen sein können! Wie glücklich wären wir, wären wir nicht getrennt worden, hätten wir Seite an Seite gegen das Schicksal kämpfen können, wie beängstigend und grausam es auch sein möge! Warum habt ihr, ihr niederträchtigen Gauner, uns getrennt, uns geschieden? Warum habt ihr die Herzen entzweit: den einen Teil zum Tode verdammt, den anderen Teil noch am Leben gelassen? Warum habt ihr meine Seele in Stücke gerissen […] ihr Schicksal teilen […] Das ist die Wahrheit: Warum habt ihr […] in den Armen des Todes treffen […] vor Kummer rastlos umherirren […] Nüchtern, der anfangs eine schreckliche Vorahnung hatte […] Jetzt hat er das Gift: todbringende Pillen, die er bis zuletzt aufbewahrte und nicht wusste […] Jeder wäre jetzt glücklich, solche Pillen zu haben. Wir würden auf ewig entschlafen, und Wellen süßer Träume würden uns mit der geliebten Familie vereinen. Plötzlich ein Schlag mit dem Knüppel auf einen der zu weit aus der Pritsche vorstehenden Köpfe– es kommt das Ende unseres Nachdenkens, unseres traurigen Gesprächs. Der Schmerz des neuen Bruders hat so auf uns gewirkt: Jeder hat angefangen an sich selbst zu denken, daran, wie er inmitten der Schmerzen und der Trauer sich selbst schützen könnte. ** An unsere Pritsche kommt der neue „Lagervater“, ein großer, hellblonder, dicker Mann. Er spricht uns, seine neuen Kinder, mit einem Lächeln auf den Lippen an: „Ihr sollt wissen, dass ich  – der, den ihr vor euch seht  – euer Blockältester bin. 266

Salmen Gradowski: Texte

Ich bin der Vertreter […] […] könnt euren Körper im lebendigen Zustand aufrechterhalten  … In wenigen Tagen wird euer Körper in tief[…] und von ungeheuren Qualen ausgezehrt. Merkt euch: Der Ort, an dem ihr seid, ist ein Vernichtungslager. Hier lebt man nicht lange. Die Bedingungen hier sind hart, die Disziplin ist eisern. Vergesst alles, denkt an euch, dann könnt ihr durchhalten. Achtet vor allem auf Schuhe und Stiefel – das ist das erste Gebot des Lagerlebens. Bist du barfüßig, bist du bald schon erledigt. Halt’ dich sauber. Und auch wenn ihr nicht wisst, ob ihr am Ende eines schweren Arbeitstages noch die Kraft habt, um euch zu pflegen, so sollt ihr doch wenigstens den Willen dazu haben. Meine Ansprache ist zu Ende. Gute Nacht, meine Lieben!“ Diese Rede machte nur wenig Eindruck auf uns: Den Tod fürchten wir nicht. Als Unglück erscheint er uns nicht. Nur eines des Gesagten hat in uns Wurzeln geschlagen: die Anweisung, wie wir uns unnötige Schmerzen und zusätzliches Leiden ersparen. In der Tat hatten alle Angst davor: Körperlichen Schmerz wollten alle vermeiden. Tödlichen Qualen wollten alle entgehen. Diese Ansprache hat uns getröstet und zugleich beunruhigt. Getröstet hat sie durch ihren Ton, beunruhigt hat sie durch ihren Inhalt. Wie sieht die Arbeitsstraße aus, auf die wir geführt werden? Wer weiß, wie viele Qualen wir werden ertragen müssen, bevor wir die letzte Erlösung finden? Wer weiß? […] […] schon von allem und schleichen sich in die Innenwelt ein, stürzen in […] Wirbel des Leids, der uns wieder erfasst hat […] Plötzlich hören wir, dass jemand singt. Wir haben den Verstand verloren! Was passiert hier nur? Ein Lebensgesang, hier, auf diesem Friedhof, eine lebendige Stimme auf der Todesinsel? Kann es denn sein, dass hier, im Todeslager, jemand noch singen und jemand anderes noch zuhören kann? Wie ist das möglich? Wir sind wohl in eine Welt der Dämonen hineingeraten, wo alles umgekehrt passiert. Im Block herrscht Gewimmel. Alle laufen auseinander, um so schnell wie möglich auf die Pritschen zu klettern. Die Stubendienste160 kommen, jene Vertreter unserer Mütter, Frauen und Schwestern. Mit schweren Knüppeln in den Händen stürmen sie auf die panischen, vom langen Arbeitstag zermürbten menschlichen Schatten. Was wollen sie nur von diesen Unglück­ lichen? Warum schlagen sie wahllos auf die Unschuldigen ein? Dem einen

160 Die Stubendienste waren für die Ordnung in den einzelnen Bereichen der Baracken zuständig.

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Die Chronisten und ihre Texte

haben sie den Kopf eingeschlagen, einen anderen haben sie entstellt – und du kannst nichts dagegen sagen: Versuchst du sie aufzuhalten, wirst auch du zu Boden geworfen und wie eine widerwärtige Kreatur mit Füßen getreten. Also […], meine lieben Schwestern. Wehe meinen Brüdern, die versuchen, Trost in euch zu finden, wehe den Kindern, die die mütterliche Zärtlichkeit brauchen. Es ist schauerlich, zu erkennen, dass es ausgerechnet ihr seid, die für sie sorgen müssen. Sie treten an unsere Pritschen heran und geben Ergänzungen zur Lektion des Blockältesten. Sie erzählen und zeigen uns, wie man sich mit ihnen bei der Arbeit zu verhalten hat. Wir müssen zu Automaten werden, uns nur auf ihren ausdrücklichen Wunsch hin bewegen. Gott bewahre, dass wir auch nur einen falschen Schritt machen, dass wir was falsch verstehen  – sofort schlagen sie mit einem schweren Knüppel zu, der euch so nichtswürdig, so erbärmlich macht, dass ihr euch beim zweiten Schlag nicht mehr aufrichten könnt. Wie bitter dieses Gift auch sein mag, bei uns kann es nicht mehr wirken. Es erschreckt und schadet uns nicht. Wir sind zu allem bereit und schreiten mutig in die grausame Zukunft. Einen abstoßenden, furchterregenden Eindruck macht auf uns die Erledigung der physiologischen Notdurft im Block, direkt gegenüber der Pritsche. Bald werden wir lernen müssen, auch das zu ertragen. Wie schrecklich, wie grauenvoll! Moral und Ethik sind hier auch gestorben. Im Block wird es still, alle legen sich auf die Pritschen und versinken in tiefen Schlaf. Nur auf den Pritschen, die seit Kurzem erst belegt sind, können die Menschen  – gerade erst Brüder geworden […], ihre Familien sind vernichtet  – keine Ruhe finden, über sie kommt kein Schlaf. […] Sieh nur, mein Freund, wie sie daliegen […] Schmerzen und Qualen auf jedem der Gesichter. Einer schreit, ein anderer weint im Schlaf […] alle stöhnen, durchleben die Tragödie des vergangenen Tages noch einmal. Im Schlaf, wenn der Mensch mit sich selbst alleine ist, spürt man das immense, grenzenlose Leid noch stärker. Auf einem Gesicht erscheint ein Lächeln – er träumt wohl von der Familie, von der er getrennt wurde. Alle schlafen. **

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Salmen Gradowski: Texte

Die erste Nacht ist vorüber. Alle erheben sich mit dem Geläut des Lagergongs161. Wir, die Neuankömmlinge, werden sogleich auf die Straße getrieben: Wir müssen noch ein Training durchlaufen, vor dem Appell. Draußen ist es noch dunkel. Es fällt nasser Schnee. Im Lager herrscht Getöse: Aus den Baracken strömen die Nummern zum Appell. Die Kälte zieht allen in die Glieder, wir fühlen sie durch die Lagerkleidung, die nackten Füße machen sich bemerkbar. Schreie: „Aufteilen, aufreihen!“ Wir werden auf den Appell vorbereitet, der Blockälteste gibt die letzten Anweisungen, was bei dem oder jenem Befehl zu tun sei. Wir machen uns diese Kommandos schnell zu eigen. […] mit einer gelben Binde auf dem Arm ist der Kapo, Anführer des Kommandos, ein Mensch, der frei ist, mit jedem von uns das zu tun, was er will. Er verfügt über deine Kraft, deine Person. „[…] damit ihr gute Arbeiter seid. Habt nur die eine Sache im Sinn: Versucht er euch die Stiefel wegzunehmen, gebt sie nicht her. Seid ihr zu schwach, um sie mit Gewalt zu behalten, schreibt wenigstens seine Nummer auf. Soll er doch alles tun, soll er euch töten, nur die Stiefel darf er euch nicht abnehmen: Sie sind die Quelle des Lebens, die Grundlage der Existenz.“ Der Tag bricht an. Vor jeder Baracke wachsen Massen menschlicher Kolonnen. Lärm kommt auf. Die letzten Anweisungen werden gegeben. „Achtung, Mützen ab!“ Selbstgefällig tritt ein Militär niederen Ranges heran. Das ist der Blockführer, der den Appell abnimmt. Er zählt die aufgestellten Kolonnen und unterschreibt ein Papier: Die Zahl der Nummern, die hier stehen, entspricht jener auf dem Papier. „Mützen auf! Rührt euch!“ Der Appell ist beendet. Er geht weiter, zum nächsten erstarrten Haufen, um zu prüfen, ob alles in Ordnung ist. Wir folgen ihm mit dem Blick zu den arroganten Soldaten, die der Reihe nach zu allen Blocks gehen. Was sehen wir? An jedem Block, neben jeder Häftlingsschar liegt eine, manchmal sogar drei bis vier Leichen. Das sind die Opfer der Nacht, diejenigen, die sie nicht überleben konnten. Gestern beim Appell waren sie noch stehende Nummern, jetzt liegen sie bewegungslos da. Der Apell stimmt. Egal, ob einer lebt oder nicht – wichtig ist die Anzahl. Und die Anzahl stimmt.

161 Die Aufstehglocke wurde zur Sommerzeit um 4.30 Uhr, zur Winterzeit um 5.30 Uhr geschlagen.

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Die Chronisten und ihre Texte

[…] die richtige Richtung. Wie entsetzlich sie aussehen! Als wären sie […] des Krieges. Das sind aber einfach nur die, die nach dem gestrigen Arbeitstag übrig geblieben sind. ** Wieder werden wir aufgeteilt. Die Gruppe, in die ich gelange, heißt K.S.Gruppe162. Unser Kapo ist ein lächelnder Mann, ihn anzuschauen gibt Trost. Die Männer in unserer Nähe schauen uns an, prüfen unsere Nummern. Unser Äußeres überrascht sie offenbar: Wir sehen zu gut für das Lager aus. Doch die Nummer erklärt alles: Wir sind gestern erst angekommen, haben das hiesige Leben noch nicht erfahren, haben die Lageratmosphäre und die Arbeit noch nicht gekostet. Plötzlich erklingen Musiktöne163. Wer ist das? Musik im Lager? Musiktöne auf der Todesinsel? Dort, wo die Arbeit den Menschen wie der Krieg auf den Schlachtfeldern tötet, wird der Geist durch zauberhafte Musik berührt, die an das frühere Leben erinnert. Hier auf dem Friedhof, wo alles von Tod und Vernichtung durchdrungen ist, wird man plötzlich an das Leben erinnert, zu dem es kein Zurück mehr gibt? So sind sie, die Harmonie der Barbarei und die Logik des Sadismus. Wir werden zur Arbeit getrieben. Wir gehen durch das Tor und können unseren Blick von dem Frauenlager nicht abwenden, das sich gegenüber befindet. Frauen unterschiedlichen Alters […]. ** […] Wir sind in breite Gräben hinuntergegangen, haben unsere Köpfe aufgerichtet […] und wieder […] Gestern standen andere Menschen an dieser Stelle, heute Morgen, während des Appells, lagen sie bestimmt schon tot. Heute kommen neue Nummern an ihrer statt. Einer fällt aus, ein anderer

162 Gradowski beschreibt hier seinen ersten Arbeitseinsatz noch vor der Einweisung ins Sonderkommando. Möglicherweise wird mit „K.S.-Gruppe“ das Arbeitskommando „Kiesgrube“ phonetisch falsch wiedergegeben („Kis-Grupe“). Vgl. Mark B., 1985. S. 264, Anm. 35. 163 Die Lagerkapelle bestand aus inhaftierten Musikern. Jeden Morgen und Abend, bei jedem Wetter, musste die Kapelle Märsche spielen und somit das Tempo für die Häftlinge beim Ausmarsch zur Arbeit und bei der Rückkehr vorgeben. Jeder größere Lagerabschnitt hatte eine eigene Kapelle, auch das Frauenlager. Hin und wieder traten die Musiker auch vor der Lagerverwaltung auf.

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Salmen Gradowski: Texte

nimmt seinen Platz ein. Die Arbeit war deprimierend und eher symbolisch. Wir huben Gruben aus. Die Neuankömmlinge stehen mit gesenktem Haupt, sie stechen den Spaten in die Erde, Tränen strömen aus ihren Augen. Jeder schaut auf die Erde und denkt: Wer weiß, wer weiß, vielleicht haben seine Angehörigen hier in der Tiefe ihre ewige Ruhe gefunden. Aber nicht doch, tröstet er sich selbst, solche Tragödien gibt es im Leben nicht. Niemand […] zur derartigen Katastrophe […] Neben mir steht ein Mann aus unserer Gegend. Er kam siebentausend Nummern früher als ich. Vor zwei Wochen ist er hierhin geraten. Wir kommen ins Gespräch. Ein Schauder überkommt mich, als ich die Worte höre, die er mir sagt: „Richte den Kopf auf und schaue dorthin, in die Richtung. Siehst du, wie schwarze Rauchschwaden in den Himmel steigen. Das ist der Ort, an dem deine Liebsten und Teuersten umgekommen sind.“ […] gekrümmt, als […] mit schwerem Knüppel […] auf schwachen Körper. Nach jedem Schlag ein Aufschrei. Fällt ein Mensch hin, wird er mit Füßen getreten, bis er auf immer schweigt. Niemand rührt sich, auch nur, um ihm etwas Wasser zu geben. Nichts weiter: Wird er nicht selber gehen können, wird er fortgetragen werden. […] Darin ist nichts Verbrecherisches. Im Gegenteil, er wird für einen guten Aufseher gehalten werden. Und wenn er die Leiche an einem Holzhäuschen vorbeitragen wird, wird man ihn zum Zeichen der Anerkennung anlächeln. Alle sind ins verzweifelte, wehmütige Grübeln versunken. Die ganze Zeit bewegen sich alle, um dem blutrünstigen, dem großen rothaarigen Banditen nicht in die Hände zu fallen. So ging unser erster Arbeitstag vorbei. Neues Unheil: Der Hunger, dieser grausame Feind, der keinen Schmerz kennt, macht sich bei uns, den geschundenen, zermürbten Menschen, bemerkbar. Dem ist der Mensch immer schutzlos ausgeliefert. […] Der Magen weiß nichts von Leid und Verzweiflung. […] Willst du leben, ganz gleich wofür, willst du dich freuen oder willst du trauern, musst du bezahlen. Du musst deinem Herrn Tribut zollen. […] Man darf denken, egal ob das ein Nachdenken über das Leben, die Freude und das Glück ist, oder […] trübe Gedanken an den Tod und die Vernichtung. […] Er kann auf dich warten, aber nicht lange. Er kann […] dir den Augenblick der Abrechnung. Aber denk daran: Wenn du […], wenn du dich nicht mit allem Ernst ihm gegenüber verhältst, wird er dich zerbrechen. Du gerätst in seine Fänge und dann wirst du aussuchen müssen: Entweder du bist mit ihm oder 271

Die Chronisten und ihre Texte

du bist gegen ihn. Du wirst zum Sklaven. Dein Kopf verliert die Fähigkeit, an etwas anderes zu denken als nur daran, wie man ihn zufriedenstellt. Du wirst ihm alle deine geistigen Kräfte widmen müssen. Für dich wird es nichts anderes mehr geben. Er wird zum Herr deiner leiblichen Natur, er wird zum Beherrscher deiner Seele. Du wirst alles tun müssen, bis du letztendlich einen Weg findest, ihn zu befrieden, denn sonst wirst du dich von der Welt verabschieden, mit allem brechen und auf ewig verschwinden müssen. […] mögliche Ereignisse. Wäre doch merkwürdig, wenn alle, die am Morgen zur Arbeit gegangen sind, auch zurückkämen. Wir marschieren zum Klang der Musik. Unser Blick ist auf den Stacheldraht gerichtet – dahinter ist das Frauenlager. Jeder versucht, einen Weg zu finden, irgendjemanden der Seinen aufzuspüren. Noch bleibt ein schwacher Hoffnungsschimmer. Niemand glaubt, dass es sein kann, dass sie für immer gegangen sind. ** Wir kommen am Block an […] bereiten uns auf den zweiten Appell vor. Eine riesige steife Masse unglücklicher, verzweifelter, menschlicher Schatten hat sich aufgestellt. Wieder die Befehle: „Achtung!“, „Stillgestanden!“, „Mützen ab!“ – und der Appell ist beendet. An unserem Block liegt ein Toter. Wir gehen näher heran, schauen ihn an. Heute Morgen erst ging er mit uns zusammen zur Arbeit, jetzt liegt er bewegungslos da. Das verstört niemanden mehr, kein Seufzer ist zu hören. Armer Kerl! Wären deine Angehörigen am Leben, was wäre jetzt los, um dich herum! Deine Mutter wäre zu Boden gefallen, hätte lauthals geweint. Der Vater würde ruhelos umherirren, von einer Ecke in die nächste, würde weinen wie ein Kind. Schwestern und Brüder würden um dich herumsitzen und dein Ableben bitterlich beweinen. Deine Freunde […] wären gekommen […] und jeder […] mit schrecklichem Unglück. […] Schwestern und Brüder […] ins Lager gekommen […] ist das Unglück nicht groß […] ** Nach dem Appell lässt man uns nicht in den Block hinein. Den Neuankömmlingen wird befohlen zurückzugehen – alle erschrecken: wozu? Alles Neues bedeutet hier Schlimmeres. Wir werden in die Sauna geführt. Dort steht der272

Salmen Gradowski: Texte

selbe ranghohe Militär, neben ihm einige andere. Jedem wird befohlen, an ihnen vorbeizugehen, sie fragen nach dem Alter und dem Beruf. Der eine dort-, der andere hierhin. Wer ihnen gefällt, den schicken sie in die Sauna. Wer sich als dessen unwürdig erweist, wird zurückgeschickt. Das Gerücht geht um, dass auf diese Weise Menschen für die Arbeit in der Fabrik ausgesucht würden. Alle sind neidisch auf uns: Wir fahren hier weg und werden unter besseren Bedingungen arbeiten. Wir werden gezählt, die Nummern werden notiert, und man befiehlt uns, wir sollen uns reisefertig machen und zur Abreise bereit sein, wenn man uns ruft. Man gibt uns Mäntel mit Nummern drauf. Wir kehren in den Block zurück. Die Alteingesessenen sind neidisch: Wir können ja das Lager verlassen. Wir bekommen auch Mützen. Das heißt, wir fahren mit Bestimmtheit weg […] alle herum […] Ich habe viele Verwandte, die in Amerika und Erez Israel leben. Ich führe hier die Anschrift meines Onkels an: A. Joffe 27 East Bradway Newyork. N. Y. America

Das schrieb ich vor zehn Monaten auf. Ich komme gebürtig aus Lunna, im Bezirk Grodno. Angekommen aus dem Lager Kielbasin. Ich vergrub das in einer Aschegrube. Das schien mir der sicherste Ort zu sein, wo – auf dem Territorium der Krematorien – ganz bestimmt gegraben würde. Erst vor Kurzem […].165 164

Übersetzt aus dem Jiddischen ins Russische von Alexandra Polian Übersetzt aus dem Russischen ins Deutsche von Roman Richter Anmerkungen: Pavel Polian und Alexandra Polian 164 Dieser Absatz ist mit anderer Tinte geschrieben. 165 Der Text bricht hier ab: Auf dieser Seite steht nichts weiter, die darauffolgende Seite wurde offenbar herausgerissen. Gradowski beginnt diesen Absatz ab der unteren Seitenhälfte, da die obere Hälfte offenbar bereits durch Feuchtigkeit beschädigt war. Die Tinte der letzten Worte der ersten drei Zeilen ist daher in dem feuchten Bereich verschwommen. Der Rest des Absatzes ist jedoch im Gegensatz zur restlichen Handschrift von Feuchtigkeit völlig unbeschädigt, was auf eine trockene Lagerung nach dem ersten Vergraben hinweisen könnte.

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Die Chronisten und ihre Texte

Im Herzen der Hölle Vorwort Lieber Leser, in diesen Zeilen findest du den Ausdruck jenes Unglücks und Leids, welches wir, die elendsten Kinder dieser Welt, während unseres „Lebens“ in dieser irdischen Hölle ertrugen, die Birkenau-Auschwitz genannt wird. Ich glaube, dass dieser Name der Welt bereits bestens bekannt ist, doch weiß niemand genau, was hier wirklich passiert. Manche mögen denken, wenn sie im Rundfunk vom Lager hören, dass diese Barbarei, diese Grausamkeit, diese Bestialität, die hier herrschen, dass das alles nichts als „entsetzliche Propaganda“ sei. Aber ich zeige dir gleich, dass alles, was du bereits gehört hast, und alles, was ich hier und jetzt schreibe, nur ein winziger Teil dessen ist, was hier wirklich geschieht. Diesen Ort haben die verbrecherischen Herren zur Vernichtung unseres und bisweilen anderer Völker geschaffen. BirkenauAuschwitz ist einer der wenigen Orte, wo mit unterschiedlichen Mitteln unser Volk massakriert wird. Das Ziel meines Aufsatzes besteht darin, dass die Welt wenigstens einen kleinen Teil dessen erfährt, was hier wirklich geschieht – und sich dafür, für all das hier rächt. Das ist das einzige Ziel, der einzige Sinn meines Lebens. Ich lebe hier mit dem Gedanken, in der Hoffnung, dass meine Notizen vielleicht bei dir ankommen, und dass das zumindest teilweise eintritt, wonach wir alle streben und was der letzte Wille meiner ermordeten Brüder und Schwestern, der Kinder meines Volkes war. ** An den Finder dieser Aufzeichnungen! Ich bitte dich, mein Freund – das ist der Wunsch eines Menschen, der weiß, der fühlt, dass der letzte, entscheidende Moment seines Lebens kommt. Ich weiß, dass sowohl ich als auch alle anderen hier befindlichen Juden längst zum Tode verurteilt sind. Nur der Tag der Urteilsvollstreckung ist noch nicht angesetzt. Deshalb erfülle meinen Willen, mein lieber Freund, den letzten Willen vor dem unausweichlichen Tod! Mein Freund, wende dich an meine Angehörigen unter der Adresse, die ich mitteilen werde. Von ihnen wirst du erfahren können, wer ich und meine Familie sind. Nehme von ihnen unser 274

Salmen Gradowski: Texte

Familienfoto – und auch ein Bild von meiner Frau und mir – und lege diese Fotos diesen Notizen bei. Auf dass die Menschen, die einen Blick darauf werfen, eine Träne vergießen oder zumindest einen Seufzer ausstoßen. Das wird für mich der größte Trost sein, denn noch hat niemand meine Mutter, meinen Vater, meine Schwestern, meine Frau und vielleicht auch meinen Bruder beweint, nachdem sie aus dieser Welt gegangen sind. Doch sollen ihre Namen und das Gedenken an sie nicht spurlos vergehen. Ach, nicht mal jetzt, in der Hölle, kann ich – ihr Kind – sie beweinen, weil ich jeden Tag in ein Meer – ja, ja, in ein Meer – aus Blut eintauche. Eine Welle jagt die nächste. Es gibt hier keine einzige Minute, um sich in eine Ecke zu verkriechen, sich dort hinzusetzen und über dieses Unglück zu weinen. Der ständige systematische Tod, aus dem das ganze hiesige „Leben“ eigentlich besteht, betäubt all deine Gefühle, verzerrt und stumpft sie ab. Selbst das größte Leid kannst du nicht mehr empfinden – und dein persönliches Unglück wird vom allseitigen Unheil verschlungen. Bisweilen zerreißt mein Herz und zerrendes Leid peinigt meine Seele: Warum sitze ich so „ruhig“ da, warum beklage ich mich nicht, warum weine ich nicht über meine Tragödie, warum sind all meine Gefühle wie versteinert, abgestumpft und abgestorben? Es war mal eine Zeit, da ich noch hoffte und mich damit tröstete, dass die Zeit, der Tag kommen würden, an dem ich das Privileg zu weinen erhalte. Aber wer weiß … Der Boden unter meinen Füßen wankt und verschwindet. Jetzt möchte ich – und das ist mein einziger Wunsch –, dass wenigstens ein fremder Mensch eine Träne über meine Liebsten vergießt, wenn schon ich selbst sie nicht beweinen kann. Dies ist meine Familie. Sie wurde hier am Dienstag, den 8. Dezember 1942, um 9 Uhr morgens verbrannt: Meine Mutter Sara Meine Schwester Liba Meine Schwester Ester Rachel Meine Frau Sonia (Sara) Mein Schwiegervater Rafael Mein Schwager Wolf Von meinem Vater, der sich zwei Tage vor dem deutsch-sowjetischen Krieg zufällig in Wilna aufhielt und dortblieb, hat mir eine Frau ein wenig berichtet, die aus meiner Stadt166 stammte. Sie war mit dem litauischen Transport im 166 Gemeint ist Suwalken.

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Die Chronisten und ihre Texte

Krematorium angekommen. Von ihr habe ich erfahren, dass mein Vater zusammen mit Zehntausenden anderen Juden in der Nacht auf Jomkiper167 1942 gefasst worden war. Was danach geschah, wollte sie mir nicht erzählen. Außerdem hatte ich die Schwester Fejgele und die Schwägerin Zisl in der Stadt Otwock168. Sie wurden mit einem der Warschauer Transporte nach Treblinka verschickt und wahrscheinlich in einer Gaskammer ermordet. Von meinen beiden Brüdern  – Mojszl und Avrom Eber  – habe ich von derselben Frau ­Keszkowska aus Wilna169 erfahren, dass sie längst ins Lager gebracht worden waren. Was mit ihnen danach geschah, weiß ich nicht. Wer weiß, vielleicht sind sie längst über meine eigenen Hände gegangen, wie die „Muselmänner“170, die von überall her hierhin gebracht werden, ob tot oder lebendig. Das ist meine ganze Familie: Sie ist in der ehemaligen Welt geblieben – ich aber muss hier weiterleben. Jetzt stehe ich selbst am Rande des Grabs171.

Die Mondnacht Ich verehrte sie und erwartete ihr Kommen immer sehnsüchtig. Wie ein treuer Sklave stand ich da und bewunderte ihre Pracht und ihren Zauber. Wie angekettet, wie hypnotisiert konnte ich meinen Blick von ihrem Reich – dem tiefen dunkelblauen von funkelnden Diamanten behängten Nachthimmel – nicht abwenden. Gespannt wartete ich auf die Minute ihrer erhabenen Erscheinung. Sie, die Herrscherin, erschien im Glanze ihrer Schönheit und brach in aller Ruhe und Sorglosigkeit, glücklich und beschaulich zur geheimnisvollen Nachtwanderung auf, um ihr Reich – die Nachtwelt – zu begutachten und die Menschheit mit ihrem Lichtschein zu beschenken. Die Welt sehnte sich nach ihrem mysteriösen Licht. Ein sakraler Schauder überkam den Menschen – und eine neue Quelle des Lebens, des Glücks und der Liebe offenbarte sich der Welt, erfüllte die Herzen aller Menschen, ob jung oder alt.

167 168 169 170 171

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Jomkiper (Jom Kippur): Tag der Sühne und Versöhnung, ein jüdischer Herbstfeiertag. Ein Städtchen bei Warschau. Ihre Identität ist nicht festgestellt. Zu den „Muselmännern“ (den Abgemagerten) in den KZs: siehe Einleitung, S. 29. Ein Satz, der die Annahme bestätigt, dass dieses Vorwort gesondert und später geschrieben wurde als die „Mondnacht“ (möglicherweise kurz vor dem Tag des geplanten Aufstands).

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Menschen auf den Feldern und in den Wäldern, in den Bergen und Tälern waren versunken in Träume, von ihrem Zauber bestochen und gebannt; aus hohen Schlössern und tiefen Kellern schauten die Menschen hinaus, um ihre wehmütigen Blicke an sie zu richten. Sie  – die Luna172  – schuf eine neue, romantische und fantastische Welt, indem sie die schwachen Herzen der Menschen mit Liebe, Glück und Wonne ausfüllte. Sie war für alle die allernächste Freundin, jeder vertraute ihr seine Geheimnisse an, schüttete ihr sein Herz aus. In ihrem Bann fühlte sich jeder sicher und geborgen. Glücklich und zufrieden, von Mut und Hoffnung erfüllt, spannen alle die neuen Fäden dieser idyllischen, glücklichen und magischen Welt. Von der stillen und ruhigen, mit ihrem Schein gefluteten Erde schwangen sich aus den von Liebe erfüllten Herzen süße, einfühlsame Melodien hoch zum Himmel empor. Menschen sangen Lieder: Lieder von Freude und Glück, ein Lobgesang an die Nacht und Herrlichkeit dieser Königin – ihr dankten sie für die Welt, die sich ihnen aufs Neue offenbarte. So war es einst, als ich den Himmel meiner Freiheit noch sah, als Menschen anderen Menschen noch ebenbürtig waren, als ich noch das Kind meiner Eltern war und unter meinen Brüdern und Schwestern lebte, als ich noch eine Frau hatte, die mich liebte. Da war die Luna noch meine Glücks- und Lebensquelle, die mein Herz ausfüllte und mich durch Schönheit und Magie in ihren Bann zog. Doch heute, nachdem die Piraten mein Haus, meine Familie, meine Welt, mein Volk erbarmungslos vernichtet haben, bin ich hier mutterseelenallein und sitze als einer von Millionen im Gefängnis, todgeweiht, in Ketten gelegt, von Leid und Todesangst geplagt. Wenn ich sie heute sehe, laufe ich wie von einem Geist davon. Gehe ich aus meinem Grab173 hinaus, betrete ich die verdammte und verfluchte Erde und sehe, wie die Luna meine düstere Welt, in die ich bereits tief eingetaucht, mit der ich verwachsen bin, auf dreiste Weise zerstört hat, so laufe ich zurück in meine dunkle Behausung. Ich kann ihren Schein nicht

172 Wir reden von der „Luna“ als einer göttlichen Figur in Gradowskis Schriftstück. Von dem „Mond“ ist die Rede, wenn es sich nur um einen Bestandteil der Landschaftsbeschreibung handelt. Diese Unterscheidung fehlt im jiddischen Original: Es ist stets von der „luna“ – kleingeschrieben – die Rede. Um Gradowskis Ansprache an die weibliche Form beizubehalten, wird hier diese Unterscheidung eingeführt. 173 In Gradowskis Manuskript stehen die Bezeichnungen „Grab“, „Holzgrab“ oder „Erdgrab“ als Synonyme für den Begriff „(Häftlings-)Baracke“.

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Die Chronisten und ihre Texte

mehr sehen. Ich halte ihr Ruhiges, Sorgloses und Verträumtes nicht mehr aus. Fängt sie zu scheinen an, dann ist es so, als risse ihr Schein die Haut in Stücke, die sich gerade erst auf mein blutendes Herz gelegt hat. Sie zerrt und zerreißt meine Seele. Sie ruft Erinnerungen in mir wach, die mir keine Ruhe geben und mir das Herz zerreißen. Wie von einer mächtigen Welle werde ich ins Land der Leiden fortgetragen. Sie erinnert mich an die zauberhafte Vergangenheit und leuchtet die entsetzliche Gegenwart aus. Ich will ihren Schein nicht mehr sehen, weil sie meinen Wehmut nur verstärkt, meinen Schmerz verschärft, meine Qualen vervielfacht. In der Dunkelheit – dem Königreich der traurigen, toten Nacht – fühle ich mich besser. Sie – diese Nacht – stimmt überein mit der Marter meines Herzens und den Qualen meiner Seele. Die finstere Nacht ist mein Freund, der Schrei und das Gejammer sind meine Lieder, das Feuer, in dem die Opfer brennen, ist mein Licht, der Geruch des Todes ist mein Duft – diese Hölle ist mein Zuhause. Wozu und weshalb kommst du – du grausame und fremde Luna? Warum hältst du die Menschen davon ab, das Glück des Vergessens wenigstens ein bisschen zu genießen? Warum weckst du sie aus unruhigem Schlaf und erleuchtest die Welt, die ihnen bereits fremd geworden ist, in die sie nie wieder, niemals mehr werden gelangen können? Wozu erscheinst du überhaupt noch in all deiner magischen Pracht und erinnerst sie an das Vergangene, das sie schon längst für immer vergessen haben? Wozu erleuchtest du sie mit deinem herrlichen Licht und erzählst ihnen von dem glücklichen Leben, das noch irgendwo gelebt wird – dort auf jener Erde, wo diese Bestien noch keinen Fuß hingesetzt haben? Wozu schickst du uns deine Strahlen, die sich in Lanzen verwandeln und unsere blutenden Herzen und gepeinigten Seelen verwunden? Wozu scheinst du für uns hier, in dieser verdammten Höllenwelt, in der die Nacht von riesigen Scheiterhaufen erleuchtet wird – von Scheiterhaufen, auf denen unschuldige Opfer brennen? Wozu scheinst du hier, über diesem grausigen Stück Land, wo jeder Schritt, jeder Baum, jeder Grashalm – buchstäblich alles – vom Blut von Abermillionen zu Tode gequälten Menschen getränkt ist? Wozu erscheinst du hier, wo die Luft von Tod und Vernichtung durchtränkt ist, wo herzzerreißendes Geschrei von Frauen und Kindern, Vätern und Müttern, Jungen und Greisen gen Himmel stürmt – Schreie von Unschuldigen, die man hierhin treibt, um sie bestialisch zu ermorden. Untersteh dich, hier zu scheinen! Hier, in diesem scheußlichen Winkel, wo Menschen grausam, bestialisch gequält und in einem Meer aus Leid und Blut 278

Salmen Gradowski: Texte

ertränkt werden – wo sie voller Entsetzen auf den unausweichlichen Tod warten –, untersteh dich, hier zu scheinen!!! ** Wozu erscheinst du in deiner Herrlichkeit und Pracht überhaupt? Erwartest du etwa einen sehnsüchtigen Blick? Schau doch mal auf die bleichen, ausgemagerten Schatten, die wie irrsinnig von einer Baracke zur nächsten umherwandern und nicht auf deinen Glanz, sondern entsetzt auf die Flamme blicken, die aus den hohen Schornsteinen in den Himmel emporstürmt. Schrecken erfüllt ihre Herzen: Wer weiß, ob nicht jeder von ihnen morgen schon wie heute der eigene Bruder brennen wird, und ob dessen Körper, der heute auf der Todesinsel noch lebt, sich morgen nicht in Rauch auflöst? Und ob das nicht das Finale seines Lebens, das Ende seiner Welt bedeuten wird … Warum kommst du so erhaben wie einst daher, so sorglos, so glücklich und zufrieden? Warum hast du mit den elenden Opfern kein Mitleid, die einst in irgendeinem europäischen Land alle zusammen als eine Familie lebten, die die häusliche Wärme noch in Erinnerung haben? Ihre Augen auf dein Licht gerichtet, träumten sie von besseren Zeiten, stellten sich eine Welt voller Glück und Freude vor. Heute aber rollen unaufhaltsam und erbarmungslos die Züge – sie fahren die Opfer, die Kinder meines Volkes, sie fahren sie schnell, als wären sie eine Gabe für ihre Gottheit, die nach deren Fleisch hungert und Blut lechzt. Oh, weißt du denn, wie viel Leid, Schmerz und Qual in den Zügen ist, wenn sie durch Länder und Städte rauschen, in denen die Menschen noch friedlich und sorglos die Welt und deinen Zauber, deine Herrlichkeit genießen können? Warum hast du kein Mitgefühl mit den elenden Opfern, die aus ihren Häusern geflohen sind und sich in Wäldern und auf Feldern, in Ruinen und in finsteren Kellern verstecken, damit das Auge des Piraten sie nicht erblickt. Mit deinem Licht verschlimmerst du ihr Unglück doch nur, du verstärkst ihre Trauer, verdoppelst das Entsetzen. Deines Scheins wegen haben sie Angst, sich in der Welt blicken zu lassen, um wenigstens etwas Luft zu atmen und ein Stück Brot aufzutreiben. Warum strahlst du so herrschaftlich an diesem verdammten Horizont und behelligst die Opfer – diejenigen, die die Bestien in diesen hellen Nächten aus den Holzgräbern holen, zu Tausenden auf die Wagen verladen und in die ­Krematorien, in den sicheren Tod bringen? Weißt du, wie viele Qualen du ihnen zufügst, wenn sie in deinem Schein diese wunderschöne und reizende 279

Die Chronisten und ihre Texte

Welt erblicken, welcher sie gleich wieder erbarmungslos entrissen werden? Würde es ihnen nicht besser gehen, wenn die Welt in die Finsternis gehüllt wäre und sie sie in den letzten Minuten ihres Lebens nicht sehen würden? Warum, Luna, denkst du nur an dich? Warum trachtest du danach, sie mit solchem Sadismus zu belästigen, wenn sie doch schon am Rande ihres Grabes stehen? Und warum ziehst du dich nicht mal dann zurück, wenn sie schon in die Erde hinabsteigen? Dann schicken sie dir, mit ausgestreckten Armen ­stehend, ihren letzten Gruß und schauen dich zum letzten Mal an. Weißt du, mit welch entsetzlichen Qualen sie in das Grab hinabsteigen? Und alles nur, weil sie dein Licht gesehen und sich deiner herrlichen Welt entsinnt haben. Warum hörst du denn das letzte Lied verliebter Herzen nicht, das an dich gerichtet ist, während die Erde sie beinahe schon verschluckt hat, sie aber immer noch nicht von dir lassen können? So stark ist ihre Liebe zu dir – du aber bleibst weiterhin ruhig stehen und entfernst dich dann immer weiter von ihnen. Warum schaust du sie zum Abschied nicht mal an? Vergieß deine mondhafte Träne, damit ihnen das Sterben leichter fällt, in dem Gefühl, dass du mit ihnen mitfühlst. Warum bewegst du dich heute so wie früher: nachdenklich, verliebt, verzaubert – und siehst diese Katastrophe nicht, dieses Unheil, welches die Mörder, die Piraten mitgebracht haben? Warum fühlst du das nicht? Willst du diese Abermillionen von Leben nicht betrauern? Diese Menschen lebten sicher und sorglos in allen Winkeln Europas, bis der Sturm hereingebrochen ist und die Welt in einem Meer aus ihrem Blut ertränkt hat. Warum schaust du, liebe Luna, nicht nach unten, warum merkst du nicht, wie die Häuser sich leeren, wie die Kerzen erlöschen, wie den Menschen das Leben geraubt wird? Warum fragst du dich nicht, wohin, wohin die Millionen ruheloser Leben, pulsierender Welten, sehnsüchtiger Blicke, freudiger Herzen, singender Seelen verschwunden sind – wohin? Warum fühlst du, Luna, den durchdringenden Schmerz nicht, der die Welt ergriffen hat? Merkst du denn nicht, dass in dem Chor des allgemeinen Lobgesangs die jungen Stimmen so sehr fehlen, die vollblütigen Menschen, die dich so herrlich und aus vollem Herzen besingen könnten? Warum strahlst du auch heute ebenso prachtvoll und zauberhaft? Es stünde dir besser zu Gesicht, du würdest dich in traurige Wolken hüllen und niemandem auf der Erde deine Strahlen schenken. Du solltest mit den Opfern trauern, aus der Welt flüchten, dich in den himmlischen Höhen verlieren und 280

Salmen Gradowski: Texte

­ iemals mehr vor dem verdammten Menschengeschlecht erscheinen. Soll es n doch auf ewig düster werden! Soll doch die ganze Welt unablässig trauern, wie auch mein Volk nunmehr zum ewigen Trauern verdammt ist. Diese Welt ist deiner unwürdig, auch die Menschheit ist dessen unwürdig, dein Licht zu genießen. Erleuchte diese Welt nicht länger, in der so viel Grausamkeit, so viel Barbarei geschieht – ohne Schuld und ohne Ursache! Sie sollen deine Lichtstrahlen nicht mehr sehen, diese Menschen, die sich in wilde Mörder und Bestien verwandelt haben. Du sollst ihnen nicht länger leuchten! Auch denen, die ruhig dasitzen, weil der Fuß des Piraten es noch nicht geschafft hat, zu ihnen vorzudringen, und die in deinen Lichtstrahlen wunderschöne Träume sehen, von Liebe träumen, glückstrunken sind  – auch ihnen sollst du nicht leuchten! Ihre Freude soll für immer verschwinden, wenn sie unser Gestöhne, unser Gewimmer nicht hören wollten, als wir in Todesangst versuchten, unseren Mördern Widerstand zu leisten  – sie aber ruhig und sorglos dasaßen und sich an dir labten, ihr Glück und ihre Freude in dir schöpften. Ach, Luna, nimm all dein Licht zusammen und erscheine in deiner magischen Herrlichkeit! Verharre so für immer in deinem bezaubernden Liebreiz. Und dann ziehe dir schwarze Kleider an, für einen Spaziergang an diesem Horizont, der von Bitterkeit und Schmerz erfüllt ist. Hülle den Himmel und die Sterne in Trauer. Dein ganzes Reich soll von Elend erfüllt sein. Schwarze Wolken sollen den Himmel bedecken. Nur ein Lichtstrahl soll auf die Erde fallen für sie, die Opfer – die Opfer aus meinem Volk. Denn sie liebten dich bis zum letzten Atemzug und ließen nicht mal am Rande ihres Grabes von dir ab, schickten dir ihren letzten Gruß, als sie bereits in die Erde hinabstiegen, in die Tiefe hinabtauchten – und selbst von dort wandten sie sich an dich, mit ihrem letzten Lied, mit ihrem allerletzten Lebenslaut. Erscheine, Luna, bleibe hier – ich zeige dir ein Grab, das Grab meines Volkes. Das sollst du auch erleuchten, wenigstens mit einem Strahl. Siehst du, wie ich aus meiner vergitterten Hölle hinaufblicke, um dich anzusehen? Ich befinde mich mitten im Herzen dieser Hölle, in der mein Volk umkommt. Hör mal, Luna, ich will dir ein Geheimnis anvertrauen. Nicht von Liebe, nicht von Glück wird meine Rede sein. Siehst du, ich bin alleine hier – einsam, unglücklich, zermürbt, aber noch am Leben. Jetzt bist du meine einzige Freundin – dir, dir allein will ich mein Herz ausschütten, dir allein will ich alles, aber auch wirklich alles erzählen. Dann wirst du mein fürchterliches grenzenloses Unglück verstehen. 281

Die Chronisten und ihre Texte

Hör dir diese Geschichte an, Luna. Ein Volk – ein hochkultiviertes, starkes, mächtiges Volk – hat sich an den Teufel verkauft und ihm mein Volk geopfert, im Namen und zu Ehren seiner neuen Gottheit. Dessen kultivierte Sklaven, zu wilden Piraten geworden, haben meine Brüder und Schwestern aus aller Welt hier zusammengetrieben, von überall her, um sie an des Teufels Messer zu liefern. Siehst du dieses große Bauwerk? Nicht nur einen solchen Tempel haben sie für ihre Gottheit erbaut. Blutige Opfer bringen sie ihr, um deren Hunger und Durst mit unserem Fleisch und Blut zu stillen. Millionen sind ihr bereits geopfert worden: Frauen, Kinder, Väter, Mütter, Schwestern, Brüder, Junge und Alte, Männer und Frauen, alle auf einem Haufen – alle verschluckt sie pausenlos, nach neuen Opfern aus meinem Volke lüstern. Von überall her werden sie ihr zugeführt, zu Tausenden, Hunderten, manchmal auch einzeln. Jüdisches Blut ist ihr offenbar teuer: Selbst einen einzigen Menschen aus der Ferne, selbst den bringt man eigens hierhin, weil sie will, dass kein einziger Jude auf der Welt übrig bleibt. Oh Luna, meine liebe Luna, schau nur mit deinem hellen Blick auf diese verdammte Erde, sieh nur, wie sie hasten – diese wilden Verrückten, des Teufels Sklaven, Barbaren – und wie sie umherschwirren, in den Häusern und auf den Straßen schauen, ob es ihnen gelingt, noch ein Opfer zu finden. Sieh nur, wie sie Wald und Feld durchforsten, wie sie anderen Völkern Belohnungen versprechen, damit sie ihnen helfen, immer neue Opfer zu finden. Denn die, die da sind, sind schon zu wenige  – zu viele hat ihre Gottheit schon verschluckt. Und jetzt, von Hunger gequält und von Wahnsinn befallen, wartet sie mit ungeduldigem Beben auf neues Blut, auf neue Opfer. Sieh nur, wie sie in die Regierungsbehörden laufen, wie sie die Diplomaten anderer Länder überreden, damit auch sie ihrem „kultivierten“ Beispiel folgen und schutzlose Menschen opfern, als Tribut an sie, an ihre allmächtige Gottheit, die nach neuem Blut dürstet. Hör nur, wie die Räder schlagen, sieh nur, wie die Züge rasen: Aus ganz Europa bringen sie Opfer her. Siehst du, wie sie aus den Zügen hinausgetrieben, auf die Lastwagen verladen und gefahren werden  – nein, nicht zum Arbeiten, sondern in die Krematorien? Hörst du diesen Lärm, dieses Gestöhne, dieses Geschrei? Das sind die Opfer, die man hergebracht hat, die keine Wahl mehr hatten: Sie hatten sich fangen lassen, obwohl sie mit Bestimmtheit wussten, dass es keinen Weg zurück mehr geben wird. Sieh sie nur an, die Mütter mit den kleinen Kindern, mit den Säuglingen, die sie an die Brust drücken. Mit Entsetzen schauen sie sich um, sie blicken hoch auf den grausigen Bau, und ihre Augen werden 282

Salmen Gradowski: Texte

wahnsinnig, wenn sie das Feuer sehen und diesen Geruch verspüren. Sie fühlen, dass ihre letzte Minute gekommen ist, dass die letzten Augenblicke ihres Lebens nahen – und sie sind einsam. Hier sind sie allein, weil sie schon dort, am Zug von ihren Männern getrennt wurden. Hast du, Luna, die getrockneten Tränen gesehen, die damals in deinem Schein schimmerten? Und den letzten Blick, mit dem sie dich anschauten? Hast du ihre letzten Grüße, ihre letzten Lieder gehört, die sie für dich noch sangen? Hörst du, Luna, wie leise es auf dem Platz geworden ist? Der Teufel hat sie schon gepackt, und sie stehen schon alle zusammen, nackt – so wie er es will: Nackt müssen die Opfer unbedingt sein. Sie gehen reihenweise, ganze Familien steigen hinab ins Massengrab. Oh, Luna, hörst du dieses verzweifelte, entsetzliche Geschrei? Das sind die Opfer, die in Erwartung des Todes schreien. Komm näher heran, Luna, sieh mit deinen strahlenden Augen auf diese verfluchte finstere Erde, und du wirst sehen: Aus vier Öffnungen – den Augen in der Erde – sehen Abertausende Opfer in den Himmel hoch, zu den flimmernden Sternen, in die helle Welt, und warten voller Furcht auf ihre letzten Momente. Siehe, Luna, da gehen zwei entlang. Das sind des Teufels Sklaven. Millionen führen sie in den Tod. Sie nähern sich „unschuldigen“174 todbringenden Schrittes diesen Menschen an, die zu dir emporblicken, und schütten die Kristalle tödlichen Gases aus – als letzte Botschaft dieser Welt, als letztes Geschenk des Teufels. Schon liegen die Menschen regungslos da. Der Teufel hat sie verschlungen und ist – zumindest für eine Weile – satt. Siehst du, Luna, diese Flamme, die aus den hohen Schornsteinen gen Himmel schlägt? Es sind die Kinder meines Volkes, die noch vor wenigen Stunden lebten und dort verbrennen. Jetzt aber, nach wenigen Minuten, bleibt nicht mal mehr eine Spur der Erinnerung an sie. Siehst du, Luna, diese große Grube? Das ist das Grab, das Grab meines Volkes. Siehst du, Luna, diese Holzgräber hier? Erschrockene Augen gucken wild heraus. Ihre letzte Stunde hat geschlagen. Sie schauen dich an und auf die Flamme: Was ist, wenn man sie morgen nicht verbrennt – so wie man ihre Schwestern und Brüder, ihre Mütter und Väter heute verbrannt hat – und ihr Leben in dieser Grube noch etwas dauern wird?

174 So im Text.

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Die Chronisten und ihre Texte

Komm her, Luna, bleib hier für immer. Sitz du die Trauer um mein Volk an dessen Grabe ab175. Vergieße wenigstens du eine Träne um mein Volk, denn es ist niemand mehr geblieben, der es noch beweinen könnte. Du bist die einzige Zeugin der Vernichtung meines Volkes, des Untergangs meiner Welt. Soll wenigstens einer deiner Strahlen, dein trauriger Schein sein Grab auf ewig erleuchten. Der soll ein Jorzeit176-Licht sein  – und nur du wirst das anzünden können.

MGH177

Der tschechische Transport 178 Einleitung Lieber Leser, ich schreibe diese Zeilen im Augenblick tiefster Verzweiflung. Ich weiß nicht, ob ich selber diese Zeilen werde wieder lesen können – nach

175 Gemeint ist die jüdische Trauerwoche Schiv’a: Die ersten sieben Tage der Trauer müssen die Angehörigen des Verstorbenen auf dem Boden oder niedrigen Sitzbänken sitzend verbringen. 176 Der Jahrestag des Todes. 177 Vor dem Beginn des Manuskripts „Der tschechische Transport“ stehen in der rechten oberen Ecke zwei Buchstaben als Abkürzung der Formel „Mit Gottes Hilfe“. Auf diese Weise kennzeichnen gläubige Juden den Anfang einer jeden Handschrift, die mit hebräischen Schriftzeichen geschrieben wird. 178 Am 6. September 1943 fuhr aus dem Ghetto Theresienstadt, das sich rund 60 Kilometer nordwestlich von Prag befand, ein Doppelzug mit 5.007 Menschen in Richtung Auschwitz ab. Neben der Kerngruppe – den tschechischen Juden – enthielt der Transport auch 127 deutsche, 92 österreichische und 11 holländische Juden. Auch waren 256 Kinder im Alter bis 15 Jahre dabei. Nach der Ankunft in Auschwitz am 8. September 1943 wurden sie keiner Selektion unterzogen. Am nächsten Tag wurden sie in einen neuen Lagerbereich verlegt – den Bereich B II b –, der später die Bezeichnung „Familienlager“ erhielt. Seine Häftlinge stellten in Auschwitz eine überaus außergewöhnliche Gruppe dar: Sie waren die einzigen, denen es erlaubt war, familienweise zu wohnen (alle anderen, und nicht nur Juden, wurden nach Geschlecht aufgeteilt – es existierten gesondert ein Frauen- und ein Männerlager). Für schwere Arbeiten wurden sie nicht eingeteilt, und es war ihnen erlaubt, Briefe zu schreiben (als Absenderadresse wurde „Arbeitslager Birkenau“ angegeben) und Pakete zu erhalten. Ihren Kindern wurden spezielle Mahlzeiten zugeteilt. Zudem war es ihnen erlaubt, eine Schule einzurichten. Beim Prozess 1947 begründete Rudolf Höß die Existenz dieses Lagers so: Briefe und Postkarten aus dem Lager sollten die Gerüchte über die Vernichtung der Juden zerstreuen und sowohl die Juden in Theresienstadt als auch die Vertreter des Roten Kreuzes beruhigen, mit denen sie in Briefkontakt standen. So schrieb Leo Janowitsch (Sekretär der jüdischen Selbstverwaltung in Theresienstadt) am 17. September in einer Postkarte nach Genf, er, seine Frau und eine Gruppe von

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dem „Sturm“179. Vielleicht wird sich mir noch die glückliche Gelegenheit bieten, der Welt das Geheimnis zu offenbaren, das ich in meinem Herzen trage. Vielleicht kommt es ja noch so, dass ich einen freien Menschen sehen und sprechen kann? Möglicherweise werden exakt diese Zeilen, die ich gerade schreibe, zum einzigen Zeugnis meiner Existenz. Doch werde ich glücklich sein, wenn meine Notizen dich erreichen, oh, du freier Weltbürger. Vielleicht wird der Funken meiner inneren Flamme auch in dir eine Flamme entfachen – und du erfüllst unseren Willen und rächst dich, zumindest teilweise, an unseren Mördern! ** Lieber Freund, der du diese Aufzeichnungen gefunden hast. Ich bitte dich – darin besteht ja der Sinn meiner Notizen –, ich bitte dich, damit mein verdammtes Leben einen Sinn und meine Tage in der Hölle, mein hoffnungsloses Morgen ein Ziel in der Zukunft erhält. Ich berichte dir nur über einen Teil, ein Minimum dessen, was in der Hölle namens Auschwitz-Birkenau geschah. Du wirst dir vorstellen können, wie unsere Wirklichkeit aussah – darüber habe ich bereits viel geschrieben. Ich glaube daran, dass ihr alle Spuren finden werdet und euch vorstellen könnt, was hier geschah, wie die Kinder unseres Volkes starben. Ich wende mich an dich, mein lieber Finder und Herausgeber dieser Aufzeichnungen, mit einer persönlichen Bitte: Bestimme gemäß den Angaben, die ich beifüge, wer ich bin, und bitte meine Angehörigen um Fotos meiner Familie und meiner Frau mit mir, und veröffentliche einige davon – nach deinem Ermessen – im Buch mit meinen Notizen. Ich möchte ihre lieben, teuren Namen bewahren, die ich jetzt nicht mal mit einer Träne beweinen kann: Ich lebe ja schließlich in der Hölle, vom Tod umringt. Ich kann meinen grausamen Verlust nicht mal beweinen, wie es sich gehören würde. Aber ich selbst



Freunden seien nach Birkenau umgezogen, wo ein neues Lager gebaut werde. Er äußert die Hoffnung, er werde hier weiterarbeiten können, wie in Theresienstadt. In der Nacht auf den 9. März 1944, nachdem das Ablenkungsmanöver nun perfekt war und exakt ein halbes Jahr nach der Deportation, wurden die ersten Bewohner des Familienlagers ermordet. Das ist das Ereignis, das Gradowski beschreibt: Von den 5.007 Menschen, die im September 1943 in Auschwitz angekommen waren, wurden 3.792 Menschen umgebracht. Am Leben blieben nur einige Dutzend Menschen: das medizinische Personal der Ambulanz und zwölf Paar Zwillinge, die sich bei Mengele befanden (Terezínský rodinný tábor, 1994. S. 190–197; Adler, 2005). 179 Möglicherweise eine Anspielung auf die Vorbereitung des Aufstands.

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bin ja auch schon zum Tode verurteilt – und kann denn ein Toter um einen anderen Toten weinen? Dich aber, du unbekannter freier Weltbürger, bitte ich: Weine um meine Angehörigen ein wenig, wenn du ihre Fotos siehst. Ihnen widme ich alle meine Schriften  – das sind meine Tränen, meine schweren Seufzer, mein Trauerschmerz um meine Familie, um mein Volk. Ich möchte die Namen meiner verbrannten Angehörigen nennen: Meine Mutter Sara Meine Schwester Liba Meine Schwester Ester Rachel Meine Frau Sonia (Sara) Mein Schwiegervater Rafael Mein Schwager Wolf Sie starben am 8. Dezember 1942 in einer Gaskammer, ihre Leichen wurden verbrannt. Man hat mir eine Nachricht über meinen Vater Szmuel zukommen lassen: „Sie“ hatten ihn im Herbst 1942, am Jom Kippur, gefasst. Was danach war, ist unbekannt. Zwei Brüder – Eber und Mojszl – wurden in Litauen gefangen, die Schwester Fejgele in Otwock. Das ist alles über meine Familie. Es wird wohl kaum einer von ihnen am Leben sein. Ich bitte dich, das ist mein letzter Wunsch: Gib unter unserem Foto ihr Todesdatum an. Was mit mir ferner geschehen wird, lassen die Umstände erkennen. Ich weiß, dass der Tag immer näherkommt, in Erwartung dessen mein Herz erbebt und meine Seele erschaudert. Nicht des Lebensdrangs wegen – obschon ich leben will, denn das Leben ist reizvoll und verlockend –, nein: In meinem Leben ist nur eine Angelegenheit geblieben, die mir keine Ruhe gibt und mich zu handeln zwingt: Ich will leben, um mich zu rächen! Und das Andenken an die Namen meiner Liebsten zu bewahren. Ich habe Freunde in Amerika und in Erez Israel. Von ihren Anschriften erinnere ich mich nur an eine, und die gebe ich dir. Dort kannst du erfahren, wer ich bin und wer meine Verwandten sind. Das ist sie, die Anschrift eines meiner fünf Onkel in Amerika: A. Joffe 27. East Broadway, N.Y. America

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Alles, was hier beschrieben wird, habe ich selber, persönlich mitangesehen in meinen sechzehn Monaten „Sonderarbeit“. Alle angestaute Trauer, meinen ganzen Schmerz, alle herzzerreißenden Qualen wegen dieser „Umstände“ konnte ich nicht anders zum Ausdruck bringen als durch diese Aufzeichnungen. S. G.

Salmen Gradowski und seine Frau Sonia (Sara)

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Die Nacht Ein tiefer blauer Himmel, von funkelnden Diamantsternen geschmückt, hat sich über der Welt gespannt. Die Luna, ruhig, sorglos und zufrieden, ist zu ihrer herrschaftlichen Wanderung aufgebrochen, um zu sehen, wie ihr Reich – die Nachtwelt – lebt. Ihre Quellen haben sich geöffnet, um Menschen Liebe, Glück und Freude zu spenden. Seelenruhig saßen die Menschen da, ohne Schloss und Riegel – Menschen, die von den Stiefeln dieser Piraten noch nicht zertreten worden sind, die diesen Barbaren noch nicht in die Fratze geschaut haben. Sie saßen seelenruhig zuhause und sahen aus den Fenstern ihrer düsteren Zimmer zu ihrer Pracht, ihrem Zauber, zu ihrer magischen Nacht hinauf und gaben sich süßen Träumen über ihr künftiges Glück hin. Da gehen sie spazieren, auf den Straßen und in den Gärten, sorglos und zufrieden schauen sie verträumt gen Himmel und lächeln der Luna zärtlich zu: Sie hat sie schon in ihren Bann gezogen, ihre Herzen und Seelen hat sie schon verzaubert. Da sitzen junge Leute auf den Bänken im Schatten weitläufiger Alleen. […] Sie vertrauen ihr, der Freundin Luna, ihr Geheimnis an: Sie sind verliebt! Ihr Licht leuchtet hell in ihren Augen, eine Träne des verliebten Herzens fällt dem Jüngling auf die Brust: Sein Herz läuft vor Liebe über, seine Träne ist eine Glücksträne. Da schwimmen sie im Liebesmeer, in Hoffnungen und Träume versunken. Die stillen Wellen tragen sie zu neuen magischen Welten, sie singen Liebeslieder, spielen süße Melodien. Diese Lieder, von Freude und Harmonie erfüllt, schwingen sich zum Himmel empor. Ihrer Hoheit, der Nachtkönigin, singen diese Menschen Lobeshymnen, sie danken ihr für die Liebe und das Glück, die sie der Welt hat zuteilwerden lassen. So sah jene Nacht aus – die schreckliche, grausame Nacht am Vortag des Purimfestes180 im Jahr 1944181, als die Mörder fünftausend ebenso junge und wunderschöne Menschen wie die Verliebten auf den Opferstock führten: Sie opferten ihrer Gottheit tschechische Juden. Die Mörder hatten dieses Fest bestens durchdacht, alle Vorbereitungen waren einige Tage vorher getroffen worden. Und es schien, als hätten sie die 180 Jüdischer Frühlingsfeiertag in Erinnerung an die im Buch Esther beschriebene wundersame Rettung der Juden aus der tödlichen Gefahr, die dem ganzen jüdischen Volk drohte. 181 In der Nacht vom 8. auf den 9. März 1944.

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Luna samt den Sternen am Himmel mit dem Teufel zusammen sich zu Gehilfen gemacht und sich geschmückt, damit ihr „ideales“ Fest überaus reich und imposant aussieht. Und sie haben unser Purim in den neunten Aw verwandelt!182 Es schien, als gäbe es von nun an zwei Himmel auf der Welt: einen für alle Völker und einen für uns. Für alle anderen flackern die Sterne am Himmel, sie leuchten mit Liebe und Schönheit – für uns, für die Juden aber erlöschen die Sterne am selben blauen und tiefen Himmel und stürzen herunter. Auch die Luna ist nicht mehr eine einzige – es gibt nun zwei davon. Für alle Völker ist die Luna lieb und sanft, sie lächelt der Welt zärtlich zu und lauscht dem Liebes- und Glücksgesang. Für unser Volk ist die Luna eine grausame und erbarmungslose: Sie ist am Himmel in Gleichgültigkeit erstarrt und hört den Klagen und dem Jammern unserer Herzen zu, der Herzen von Millionen, die sich dem unausweichlichen Tod aus letzter Kraft entgegenstemmen.

Die Stimmung im Lager Die Juden im Lager sind alle untröstlich von Wehmut ergriffen worden. Alle sind niedergeschlagen und zermürbt. Alle sind in ungeduldiger Erwartung. Vor einigen Tagen haben wir erfahren, dass man sie zu uns bringen will. Seit drei Tagen brennen schon die Öfen, bereit, die neuen Gäste aufzunehmen. Doch wird die Hinrichtung von Tag zu Tag verschoben – offensichtlich klappt etwas nicht. Wer weiß, welche Folgen das haben kann. Ist das vielleicht der Widerstand, die explosive Kraft, das Pulverfass, das Dynamit, das längst auf die Zündung wartet? Darauf haben wir gehofft, damit haben wir gerechnet. Sie sind ja aus dem Lager, die tschechischen Juden. Sie leben seit sieben Monaten183 schon hier, an diesem verdammten, dem schrecklichsten Ort auf der Welt. Sie kennen sich hier schon aus und verstehen alles. Täglich sehen sie diese riesige schwarze Rauchsäule, die aus der unterirdischen Hölle die ganze Zeit emporsteigt und Hunderte Menschenleben in den Himmel fortreißt. Sie wissen schon – man muss es ihnen nicht erzählen –, dass dieser Ort eigens dafür erschaffen wurde, um unser Volk zu vernichten: durch Gas zu 182 Der neunte Tag des Monats Aw im jüdischen Kalender und der Tag, an dem der erste und zweite Jerusalemer Tempel zerstört wurden. 183 Der Transport aus Theresienstadt kam im September 1943 in Auschwitz an.

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töten, zu erschießen, zu erstechen oder durch Schläge und harte Arbeit Blut und Mark aus den Opfern herauszupressen, bis sie ohnmächtig in den Lehm stürzen und ihre erschöpften Körper darin liegen bleiben. Die tschechischen Juden aber hofften, dieses Los würde an ihnen vorübergehen, weil die slowakischen184 Machthaber versuchten, sie zu schützen. Und in der Tat war es das erste Mal, dass ein Judentransport nicht gleich in den Ofen geschickt, sondern familienweise im Lager untergebracht wurde. Das war für sie ein großer Trost, ein Zeichen, dass die „Macht“ sie herausgestellt, sie vor der Wirkung eines für alle Juden verbindlichen Gesetzes geschützt habe, dass jenes Schicksal sie nicht erwarte, welches die Juden aller Welt bereits ereilt hatte, dass diese Mörder sie ihrer Gottheit nicht opfern würden. Deshalb wussten sie, die elenden und naiven Opfer, nichts, sie verstanden nichts, sie versuchten nicht, die Absicht dieser niederträchtigen Sadisten und Verbrecher zu erraten – die Absicht nämlich, die Opfer einstweilen leben zu lassen, deren Hinrichtung aufzuschieben. Dies alles wegen eines großen teuflischen Ziels. Man hat sie betrogen, indem man ihnen noch ein wenig zu leben erlaubte. Als der Betrug sein Ziel dann erreicht hatte, war ihr Leben hier für niemanden mehr nützlich. Jetzt gleichen sie allen anderen Juden, deren einzige Bestimmung hier darin besteht, ermordet zu werden. Plötzlich aber werden sie benachrichtigt, dass sie aus dem Lager „ausgesiedelt“ werden. Angst, Schrecken, böse Vorahnungen haben sich ihrer bemächtigt: Die Intuition deutete darauf hin, dass sie nichts Gutes erwartet  – aber glauben wollten sie das nicht. Erst am letzten Tag ihres Lebens haben sie begriffen, dass sie – statt in ein anderes Lager zum Arbeiten – in den Tod geschickt werden. Im Lager herrscht Anspannung, obwohl dies längst nicht der erste Fall ist, dass Tausende Menschen mit einem Mal abgeholt werden, die schon mit Bestimmtheit wissen, dass sie in den Tod geführt werden. Doch der heutige Fall ist ein besonderer: Diese Menschen waren in ganzen Familien hierhin gekommen, sie leben zusammen und hoffen, befreit zu werden – schließlich leben sie schon ganze sieben Monate hier – und nach Hause zu ihren Brüdern,

184 So steht es im Text. Höchstwahrscheinlich ist das ein Flüchtigkeitsfehler  – gemeint ist wohl die tschechoslowakische Exilregierung. Vielleicht aber ist es auch ein Nachklang jener Vorstellung, dass die Slowakei von allen Ländern der Hitler-Koalition den Ruf gehabt habe, am wenigsten antisemitisch zu sein (wofür allerdings nur weniges sprach: beispielsweise die Beschränkung des Gesetzes vom 15. Mai 1942 über die Deportation der Juden auf sechs Monate).

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die in der Slowakei185 geblieben sind, zurückkehren zu können. Alle haben jetzt Mitleid mit ihnen, allen tun diese Tausende menschliche Leben leid, die wie in Käfigen in dunklen kalten Baracken eingeschlossen sitzen, deren Türen mit Brettern vernagelt sind. Die Familien sind bereits getrennt: Weinende Frauen kommen in eine Baracke, am Boden zerstörte Männer kommen in eine andere – und die heranwachsenden Kinder kommen auch in eine andere, wo sie dasitzen, sich nach den Eltern sehnen und weinen. Alle wandern verzweifelt im Lager umher, schauen unwillkürlich zu jener Seite, jener Ecke hin, wo hinter dem Stacheldraht, hinter dem Zaun überfüllte Baracken mit Tausenden Menschen, Tausenden Welten stehen. Nun bricht ihre letzte Nacht an. Sie sitzen dort, die elenden Opfer, von Schmerz und Qualen betäubt, und erwarten mit Entsetzen das, was geschehen mag. Sie wissen, sie fühlen es, dass ihre letzte Stunde naht. Mondstrahlen dringen durch Schlitze in die Baracken ein: Die Luna wirft ihr Licht auf die Todgeweihten. ** Die Herzen und Seelen sind zermürbt, sie schmerzen und bluten. Wie gerne wären diese Menschen zusammen – die Männer mit den Frauen, die Kinder mit den Eltern –, wenigstens in den letzten Stunden. Wie gern würden sie sich umarmen und küssen, einander mit Gewimmer und Geschrei die Herzen ausschütten. Die Eltern wären die glücklichsten Menschen, wäre es ihnen erlaubt, ihre Kinder wenigstens ans Herz zu drücken, sie zu küssen, stark und zart, dieses Unglück zu beweinen, ihre Kinder zu beweinen, die noch so jung, so voller Lebenskraft sind, die jetzt ohne Schuld und ohne Grund – nur weil sie als Juden geboren wurden – sterben müssen. Wie sehr würden sie ihr Unglück, ihr grausames Schicksal beweinen wollen. Wie sehr würden sie zusammen, mit der ganzen Familie ihren Untergang 185 Ein weiteres Argument dafür, dass an dieser Stelle wie weiter oben auch nicht die Slowakei, sondern die Tschechoslowakei gemeint ist, wo sich Theresienstadt ja befand. Die Slowakei befand sich indes in außerordentlicher Nähe zu Auschwitz, sodass die Juden aus der Slowakei mit die ersten waren, die zwischen März und Oktober 1942 zur Vernichtung dorthin gebracht wurden. Indes fanden zwischen Oktober 1942 und September 1944 keine Deportationen aus der Slowakei statt. Nach der Niederschlagung des slowakischen nationalen Aufstands in der zweiten Hälfte 1944 wurden etwa 10.000 slowakische Juden deportiert (zum großen Teil nach Auschwitz; sie waren im Grunde neben den Transporten aus Theresienstadt das letzte Massenkontingent, das hier seinen Tod fand).

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betrauern. Doch nicht mal diesen letzten Trost – sich zusammen auf die entsetzliche Reise zu machen, bis zum letzten Schritt zusammen zu sein, sich bis zum letzten Atemzug nicht zu trennen –, selbst das verwehren ihnen die niederträchtigen Bestien. Sie sitzen einzeln da, einander entrissen, voneinander getrennt. Jeder ist in tiefste Verzweiflung versunken, jeder geht unter in einem Meer aus Schmerz und Qual und rechnet mit dem Leben ab. Sie weinen, seufzen, zittern von Schmerz geplagt. Dieses Grübeln zersetzt ihr ganzes Wesen. Die Welt ist derweil so wunderschön, so vollkommen, so zauberhaft … Durch die Schlitze des lebendigen Grabes schauen sie hinaus, sie sehen sie an, diese herrliche, bezaubernde Welt  – und sie erinnern sich daran, wie herrlich glücklich ihr eigenes Leben einst war. Vor ihren Augen ziehen all die vergangenen Jahre vorbei, die nun für immer verschwunden sind. Stattdessen zeigt sich die grausame Wirklichkeit, die sie umgibt. Alle sind niedergeschlagen und zermürbt von dem Leid in Erwartung des schrecklichen Endes. Jeder schwimmt erneut auf den Wellen seines Lebens, von Anfang bis Ende. Selbst die kleinsten Kinder, die den Müttern nicht weggenommen wurden, spüren den nahenden Tod. Die kindliche Intuition lässt sie erahnen, dass ihnen Entsetzliches droht. Die allgemeine Trauer, die schwere Verzweiflung ist auch in ihre kindlichen Herzen eingedrungen. Selbst die mütterlichen leidtrunkenen Küsse und Zärtlichkeiten ängstigen sie. Sie pressen und drücken sich eng an das mütterliche Herz und weinen leise, um den tiefen Schmerz ihrer Mütter nicht zu stören. Da sitzt eine ganz junge Frau, noch keine sechzehn Jahre alt. Ihre unbekümmerten und guten Kindheitsjahre ziehen an ihr vorüber. Sie geht zur Schule, ist eine gute Schülerin. Jeden Tag, wenn sie nach Hause zurückkehrt, sagt sie ihrer Mutter fröhlich, sie habe wieder ein „sehr gut“ bekommen – und die Mutter küsst sie. Und abends kommt der Vater von seiner Arbeit im Geschäft nach Hause. Die Tochter teilt auch ihm die frohe Nachricht mit – der Papa setzt sie auf seinen Schoß, drückt sie zärtlich ans Herz, küsst väterlich ihre Augen und ihr Gesicht, schenkt ihr Pralinen, spielt mit ihr wie ein Kind. Sie schwimmt weiter auf den Wellen ihrer jungen Jahre und kommt an ein anderes Ufer. Ein zauberhafter, glücklicher Abend. Sie hat die Schule mit Auszeichnung absolviert, und das wurde gefeiert: Freunde und Freundinnen, Angehörige und Bekannte wurden eingeladen. Alle wünschen ihr und ihnen, ihren geliebten Eltern, viel Erfolg im Leben wie beim Lernen, alle küssen sie, alle 292

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freuen sich, singen und tanzen. Heute steht sie im Mittelpunkt, sie ist der Grund und Anlass für die Feierlichkeiten. Sie strahlt, sie ist stolz auf ihre Erfolge. Da sitzt sie am Klavier. Sie spielt für sich und für die Gäste. Alle sitzen ruhig und etwas angespannt, von der Melodie verzaubert da. Sie selbst scheint wie auf Wolken zu schweben. Jeder neue Akkord ist wie ein weiterer Flügelschlag, der ihren Körper in die Höhe trägt. Kaum ist sie in die größte Höhe emporgestiegen, ist wie aus heiterem Himmel das Unglück über sie gekommen. Inmitten der festlichen Freude reißt die Tür auf, die niederträchtigen Banditen erscheinen und sagen allen, sie hätten sich für die Abreise fertigzumachen: Morgen schon werde ein Transport sie wegbringen. Nun erinnert sie sich an diesen ganzen Albtraum: Sie wurden von zuhause weg und hierhin, ins Vernichtungslager, gebracht. Sie hat hier schon fast sieben Monate verbracht – und nun ist sie allein: Weder Mutter noch Vater sind in der Nähe. Einsam und verlassen wartet sie mit Entsetzen auf den grausamen Tod und weint bitterlich um ihr Schicksal. Wären Vater und Mutter jetzt bei ihr, sie hätten sich alle geküsst, sie wären zusammen – wie glücklich sie dann doch wäre … So spann sich der goldene Faden und wurde in der Mitte abgerissen. ** Noch eine junge Frau sitzt da und trauert. Sie ist schon zwanzig. Jung und schön, wie sie ist, war sie stets sehr beliebt: Viele liebten, vergötterten, himmelten sie an. Sie hatte einen jungen Mann kennengelernt, der ihr sein Herz vergab – und auch sie hatte sich in ihn verliebt. Die beiden waren glücklich. Sie erinnert sich an den zauberhaften Abend: Sie wanderten gemeinsam auf schattigen Alleen. Beide schwiegen, obwohl sie sich vieles zu sagen hatten, doch es war so, als ob sie sich nicht trauten. Dann saßen sie auf einer Bank, und die Luna und die Sterne vergossen ihr zauberhaftes Licht auf jenes Eckchen, wo sie saßen. Tränen vernebelten den verliebten Blick  – und nun geschah es endlich. Er umarmte sie leidenschaftlich und offenbarte ihr sein Geheimnis: Er ist in sie verliebt! Ein langer süßer Kuss verband ihre flammenden Lippen. Von da an schlugen ihre verliebten Herzen im gleichen Takt – endlich ging ihr langer Traum in Erfüllung. Doch plötzlich werden sie aus den himmlischen Anhöhen in die tiefste Unterwelt hinabgestoßen. Sie standen an der Schwelle des größten Glücks: Alle Vorbereitungen für die Hochzeit waren schon getroffen – doch dann kam das große Unglück. 293

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Sie wurden getrennt, von zuhause weggerissen. Sie wurde mit einem Transport weggeschickt, er blieb allein. Sie bekam Nachrichten und Päckchen von ihm, sie erhielten die Verbindung aufrecht, sie hofften und glaubten, dass das Glück, von dem sie beide träumten, in nächster Zukunft eintreten würde. Nun war alles hin. Alle Träume, alle Fantasien sind zerstreut, es gibt nun weder Hoffnung noch Chancen. Sie fühlt, dass der Faden bis zum Zerreißen angespannt ist, sie sieht schon den fürchterlichen Schlund vor sich, in dem sie spurlos verschwinden wird. Dabei will sie doch leben. Die Welt verlockt und verzaubert. Sie selbst ist noch jung, gesund und schön. So wundervoll war ihr Leben, so sorgenfrei … Noch spürt sie dieses Leben, noch atmet sie das berauschende Aroma des gestrigen Tages  – aber heute  … Wie entsetzlich, wie schrecklich! Sie sitzt so einsam, in die Falle getrieben da und wartet mit all den anderen Elenden auf den Tod. Wo ist ihr Geliebter jetzt? Wäre er doch in diesen schmerzvollen Minuten hier bei ihr! Wie glücklich wäre sie, könnte sie ihm die Qualen ihres Herzens offenbaren! Er hätte sie umarmt, fest ans Herz gepresst, und sie hätten gemeinsam um ihren Tod Tränen vergossen, wären gemeinsam ins Grab hinabgestiegen. Wo aber ist er – und wo ist sie? Erinnerungen plagen sie, die Gefühle brodeln mit jeder Minute zunehmend. Sie geht einsam in den Tod, und er – ihr Geliebter, ihre Freude, ihr Glück –, er bleibt allein auf dieser Welt. Für wen denn, wenn sie doch diese Welt gleich verlassen wird? Die Erinnerungen treiben sie in den Wahnsinn, sie bricht zusammen – und alles wegen dieses furchtbaren Albtraums. Plötzlich fängt sie wie wahnsinnig an zu schreien: „Nein! Ich gehe nicht ohne dich! Geh mit mir mit, mein Geliebter!“ Sie bricht in hysterisches Lachen aus. Sie streckt ihre Arme in die Luft, ihm entgegen, dann schließt sie die Arme und sagt zu sich selbst, verstört und zu­frieden: „Ach, du bist zu mir zurückgekehrt!“ Zwei Herzen spannen einen goldenen Faden, der Pirat riss ihn grausam entzwei. ** Da sitzt eine andere Frau in tiefster Verzweiflung. Sie presst ein Kind an die Brust. Sie ist noch jung. Das ist ihr erstes Kind, von Leben und Liebreiz erfüllt. Auch sie sitzt da und erinnert sich an ihr ganzes Leben. Glückliche vergan294

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gene Jahre rasen in ihrem Gedächtnis vorbei. Wie lange es doch her ist. Sie ist in die Erinnerungen versunken, das Bild des Vergangenen steht vor ihren Augen, als wäre es im Hier und Jetzt, und ringsumher erscheinen die Ereignisse ihres Lebens. Nein, der Erinnerung entkommt man nicht. Da ist der große Tag, an dem sie heiratete. Alle ihre Träume wurden wahr: Von nun an ist sie für immer mit ihrem Geliebten verbunden. Wie glücklich sie damals war! Wie an eine Idylle erinnert sie sich an jene wundervollen Jahre: Sie machte ihre ersten Schritte im neuen Leben. Es schien, als bedeckten bunte Rosenblätter ihren Weg  – davon berauscht, ging sie diesen Weg glücklich und sorglos entlang. Sie erinnert sich auch jenes Tags, an dem sie es erfuhr: Unter ihrem Herzen war ein neues Leben entstanden, eine neue Zukunft, die Frucht ihrer Liebe – jetzt gerade hat sie es verspürt. Unvergessliche Minuten waren das. Ach, hätte man doch diese Anspannung länger festhalten können! Sie erinnert sich, wie sie damals ihrem Mann gegenüberstand und, die Augen schüchtern zu Boden gesenkt, ihm leise offenbarte, dass sie Mutter wird. Seine Umarmung spürt sie bis heute: Er drückte sie ans Herz, überzog sie mit Küssen, vergoss eine Träne … Als der lang ersehnte Tag endlich kam, und das Kind – das unglückliche Kind, das sie jetzt in ihren Armen hält – auf die Welt kam und sein erster Schrei erschallte – wie viel Glück, wie viel Freude brachte es damals! Eine neue Lebensquelle hatte sich ihnen eröffnet, sie hörten neue Melodien, die ihr Heim mit Seligkeit ausfüllten. Ihre Eltern, Freunde und Bekannten – alle kamen, um die Freude mit ihnen zu teilen. Alle freuten sich, allen ging es gut, alle wünschten ihnen Glück. Und sie waren so stolz: Er war Vater, sie war Mutter geworden – ein neuer Sinn, ein neues Ziel wurde ihrem Leben gegeben. Wie glücklich sie doch war, als sie das Kind an sich presste und der Mann sie beide küsste. Dann drang der Sturm hinein, hat sie aus dem Haus gerissen und hierhin getrieben … Sie sitzt einsam da. Gestern ist sie von ihrem Mann getrennt worden. Sie ist, vor Verzweiflung zerstört, mit dem Kind hierhin gekommen und sitzt nun inmitten der lebenden Toten da. Sie hat Angst, allein bleiben zu müssen. Sie spürt, dass sie zusammen mit den anderen Opfern im Todesmeer ertrinkt. Wo ist er, ihr Geliebter? Vielleicht würde er ihr die Hand ausstrecken und sie retten? Sie spürt, dass ihre Leben nicht mehr zu retten sind. Sie küsst das Kind innig, vergießt bittere Tränen … Sie weiß, sie spürt, dass sie mit dem unglücklichen Kind bald in den Tod gehen wird. Sie findet keine Ruhe. Sie ist verzwei295

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felt, sie heult, sie will ihren Körper in Stücke reißen. Wie groß ihre Angst, ihr Not jetzt sind! Wäre ihr lieber Mann jetzt bei ihr – um wie viel leichter wären für sie die Qualen zu ertragen. Sie hätten das schreckliche Schicksal miteinander geteilt. Sie wären gemeinsam – er, sie und das Kind – in einer Reihe gegangen. Jetzt aber ist sie hier allein geblieben. Sie ist viel zu schwach, allein kann sie so viel Leid und Schmerz nicht ertragen. Wie soll sie ihren Erstgeborenen opfern, das Teuerste, das sie im Leben hat? Sie weint und beklagt ihr Unglück. Das Kind presst sich an sie, ein stummer Seufzer entwischt seinem Herzchen, in seinen Augen erstarren Tränen. Mutter und Kind spüren: Ihr Ende ist nah. Sie hatte ihre ersten Schritte gemacht – die glückliche jüdische Mutter aus Tschechien –, dann drangen schon die Banditen ein, fassten sie, entrissen sie dem glücklichen Leben. ** Auch eine alte Mutter sitzt da. Nicht wegen der Jahre ist sie gealtert (sie ist keine fünfzig), sondern wegen des Leids. Sie weint bitterlich um das Schicksal und denkt nicht mehr an ihr Leben, sondern an das ihrer Kinder, die gestern voneinander getrennt wurden: Der Sohn wurde seiner Frau und seinem Kind weggerissen, die Tochter ist ohne Ehemann geblieben. Sie sitzen irgendwo, wie sie hier, im Gefängnis eingesperrt, und warten auf den Tod. Würden diese Bestien es ihr nur erlauben, statt ihrer jungen und lebenskräftigen Kinder zu sterben, wie glücklich wäre sie dann! Dann liefe sie vor Freude dem Tod entgegen, in dem Wissen, dass sie um den Preis ihres Lebens den Sohn oder die Tochter retten könnte. Doch wer soll ihre Klagen vernehmen? Wer soll ihr Geschrei erhören? Wen geht ihr Schmerz etwas an? Alles versinkt im Meer aus Leid und Qual der Tausende Mütter, die desselben Unglücks wegen ächzen. Diese Mutter weiß noch nicht, dass der Teufel sie zusammen mit ihrem Kind auch zum Opfer nehmen will. ** Aus allen Frauengräbern erschallt ein Gejammer. Das sind die Opfer, die an der Pforte zum Tod weinen, weil sie sich von ihrem Leben nicht verabschieden können. Sie sind noch jung, und ausgerechnet auf dem Höhepunkt ihres Lebens tötet man sie. Man will doch leben, sie sind zum Leben geboren. Wes296

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sen Sünden sühnen sie jetzt? Warum nur haben sich diese Schlünde aufgetan, die sie wie Wolfsmäuler zu verschlingen drohen? Da stehen die Banditen in grüner Uniform186, die sie des Lebens erbarmungslos berauben, sie in das Grab werfen werden. Warum verhöhnt die Luna diese Unglücklichen so? Ihre Strahlen kommen über sie wie ein teuflischer Fluch und machen die Nacht wie mit Absicht noch herrlicher, verleihen ihr Zauberkraft und Schönheit. Hier ist das wunderschöne, herrliche Leben und inmitten des Mondscheins ragt das scharfe Schwert in der Hand des großen Henkers empor, der ungeduldig auf seine Opfer wartet. ** … Hinter den zugenagelten Frauengräbern stehen weitere Kerker. Dort sitzen hinter Schloss und Riegel Massen von Männern. Auch sie werden bald, wie die Frauen, als Opfer dargebracht. Sie sitzen da in tiefster Trauer. Erinnerungen rasen wie ein Albtraum an ihnen vorüber. Auch sie ziehen Bilanz ihrer Existenz. Und wenn sie auch wissen, dass das Ende schon nah ist, wollen sie glauben, dass dem nicht so ist: Sie sind fast alle noch jung, stark und gesund, können arbeiten. Die Mörder und Verbrecher haben versichert, sie würden sie zur Arbeit schicken, und sie würden so gern an dieser Illusion festhalten – daran, dass sie nur eingesperrt wurden, um ihr Leben zu erhalten, statt um sie in jene großen Gebäude zu schicken, die tagtäglich den Rauch von Tausenden Opfern ausspucken. Nein, es kann ihnen unmöglich drohen, dorthin zu geraten! Wer nüchtern überlegt, wer diese teuflische List durchschaut und den Banditen kein Wort glaubt, bei denen reift ein anderer Gedanke: Nein, so leicht geben sie ihr Leben nicht her. Opfer würden auch die Teufel darbringen müssen, aber darüber ist mit niemandem zu sprechen, weil die meisten Menschen ringsumher in ganz andere Gedanken versunken sind. Junge und kräftige Männer sitzen da und denken an die Eltern, von denen sie getrennt wurden. Das Herz flüstert ihnen zu, dass sie nichts Gutes e­ rwartet. Sie, ihre gesunden und lebenskräftigen Kinder, wären gern bei ihnen, um ihnen zu helfen, ihr Leid zu teilen. In ihren Gedanken, ihrem Herzen, ihrer

186 Die Konzentrationslager wurden von den SS-Totenkopfverbänden bewacht, die eine dunkelgrüne Uniform trugen (die Uniform der Frontverbände der Waffen-SS war schwarz).

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Die Chronisten und ihre Texte

Seele sind sie dort, bei ihren Eltern. Ihr einziger Wunsch ist es, ihnen zu helfen, etwas über sie zu erfahren. Da sitzt ein junger Mann. Den Kopf tief gesenkt trauert er und sehnt sich nach seinem Mädchen, die für ihn bestimmt ist, mit der er gestern noch zusammen war. In seinen Ohren hallen ihre letzten Worte nach. Sie wurden jäh getrennt, ohne dass ihnen die Möglichkeit gegeben war, einander auch nur ein Wort des Abschieds zu sagen. Sein Herz erfüllt die Angst um ihr Schicksal und ihre Zukunft. Wer weiß, ob er sie jemals wiedersehen wird? Ach, könnte er jetzt doch nur einen Blick auf sie werfen, ihr etwas Tröstliches sagen  – wie glücklich wäre er dann. Ach, könnte er doch mit ihr zusammen sein, mit ihr zusammen den letzten Weg gehen … Er fühlt, er sieht, wie groß ihr Schmerz ist, wie sie leidet, wie sie sich nach ihm sehnt und auf ihn wartet. ** Da sitzt ein junger Vater in völliger Verzweiflung. Seine Frau und sein Kind kommen in anderen Gräbern unter Qualen ums Leben. Er kann seine geliebte Frau, mit der er glücklich war, nur bemitleiden. Sie waren ein Körper, ein Herz, eine Seele. Er sieht und fühlt sie, er schaut durch Dutzende Gefängnismauern hindurch. Er sieht die aus Verzweiflung ratlose Frau, die das Kind hält, es ans Herz drückt und bitter über ihm weint. Er hört, wie sie ihn ruft: „Komm, mein geliebter Mann, setz dich hin, bleib ein wenig bei mir. Ich kann hier nicht länger alleine bleiben. Sieh nur, ich halte unser Kind, unser Glück in den Armen. Ich kann nicht mehr allein gehen, ich habe dafür keine Kraft mehr. Komm zu mir, damit wir beide mit dem Kind zusammen in das Grab hinabsteigen.“ Er sieht, dass sie die schwere Leidenslast nicht erträgt, er wird verrückt, er irrt umher, er streckt ihr seine Arme entgegen. Wegrennen will er, zu ihr durchdringen. Zwar kann er sie nicht retten, doch wie glücklich wäre er, könnte er die hilflose Frau in seine stahlharten Arme schließen, sie ans Herz pressen und küssen, den Sohn mit zitternden Händen nehmen und seine Äuglein, seine weichen Wangen, sein Köpfchen mit den goldenen Locken küssen – so zart und leidenschaftlich  … Wie glücklich er doch wäre, hier weglaufen zu können, zusammen mit Frau und Kind! Er würde alle Last seiner Frau auf sich nehmen, die beiden mit starken Händen auffangen und geradewegs wegrennen. 298

Salmen Gradowski: Texte

Die Mutter sitzt mit dem Kind, in den Untiefen der Verzweiflung versunken. In dem anderen Kerker sitzt der Mann und Vater, dessen Herz brennt, er will aus Leibeskräften helfen, kann es aber nicht. Die niederträchtigen Banditen haben das Spiel gut durchdacht. Sie haben die Familien absichtlich getrennt, um die Opfer vor dem Tode durch neues Unglück bis zur Erschöpfung leiden zu lassen. Aus allen Gefängnisgräbern ist Geschrei und Gewimmer zu hören. In der Luft vereinen sich die Klagen der Tausende unschuldiger Opfer, die mit Entsetzen auf den Tod warten. Doch plötzlich scheint es ihnen, als wäre eine Hoffnung herübergeweht worden: Für unser unglückseliges Volk ist heute ein großer Wundertag. Heute ist das Purimfest: Noch könnte für uns, wenn auch am Rand des Grabes, ein Wunder geschehen … ** Aber der Himmel ist weiterhin still. Weder das Gewimmer der Kinder noch das Gestöhne der Eltern, weder das Gejammer der Jungen noch das Geschreie der Alten haben ihn gerührt. Die Luna ist verschwiegen still und wartet zusammen mit den Mördern und Verbrechern das heilige Fest ab. Danach werden fünftausend unschuldige Opfer ihrer Gottheit geopfert. Die Bestien und Verbrecher feiern den Tag, an dem es ihnen gelungen ist, unser Purim in den 9. Aw zu verwandeln.

Die Mächtigen haben Vorbereitungen getroffen Drei Tage zuvor, am Montag des 6. März 1944, kamen diese drei. Der Lagerführer, kaltblütiger Mörder und Bandit, der Oberscharführer Schwarz­huber187, der Oberrapportführer Oberscharführer188 […] und unser Oberscharführer

187 Tatsächlich „SS-Obersturmführer“ Johann Schwarzhuber (1904–1947). Als Schutzhaftlagerführer des Männerlagers in Auschwitz-Birkenau unterstand er unmittelbar dem Lagerkommandanten Rudolf Höß. Nach der offiziellen Aufteilung des Konzentrationslagers Auschwitz in drei gesonderte KZs (22. November 1943) unterstand er dem Lagerkommandanten von Auschwitz II, dem SSSturmbannführer Fritz Hartjenstein (ab Mai 1944 dem SS-Hauptsturmführer Josef Kramer). Schwarzhuber war es, der die Menschen für das Sonderkommando ausselektierte. 188 Gemeint ist wahrscheinlich der SS-Unterscharführer Joachim Wolf, der den Oberrapportführer Schillinger abgelöst hatte.

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Vost189, Chef aller vier Krematorien. Gemeinsam gingen die drei das ganze Gelände des Krematoriums ab und arbeiteten einen „strategischen“ Plan aus: Am Tag der größten Feier werden sie befehlen, hier verstärkte Wachposten in völliger Gefechtsbereitschaft aufzustellen. Wir alle sind überrascht: Seit sechzehn Monaten schon sind wir mit dieser entsetzlichen Sonderarbeit beschäftigt, doch derartige Sicherheitsmaßnahmen treffen die Machthaber unseres Wissens nach zum ersten Mal. Vor unseren Augen sind bereits Hundertausende Menschenleben vorübergezogen: junge, starke, vollblütige; nicht selten kamen hier auch Transporte mit Russen, Polen und Zigeunern an. All diese Menschen wussten, dass sie ans Messer geführt werden, aber keiner von ihnen unternahm auch nur einen Versuch, Widerstand zu leisten, den Kampf aufzunehmen – alle gingen wie die Schafe zur Schlachtbank. Ausnahmen gab es in unserer 16-monatigen Dienstzeit nur zwei. Einmal ging ein tapferer Bursche, der mit dem Transport aus Bialystok angekommen war, mit einem Messer auf die Soldaten los, verwundete einige von ihnen und wurde beim Weglaufen erschossen190. Der zweite Fall – im Angedenken dieser Menschen verneige ich mich in tiefstem Respekt und Verehrung – ereignete sich im Warschauer Transport. Dies waren Juden aus Warschau, die die amerikanische Staatsangehörigkeit erhalten hatten. Unter ihnen waren sogar Menschen, die dort, in Amerika, geboren wurden191. Sie sollten aus einem deutschen Internierungslager in die Schweiz, unter die Schirmherrschaft des Roten Kreuzes, überführt werden. 189 Richtig ist: SS-Oberscharführer Peter Voss (1897–?). Von 1943 bis Mai 1944 Chef der Krematorien in Birkenau; höchstwahrscheinlich handelt es sich bei ihm auch um den gewissen „Vorst“, von welchem Lejb Langfuß berichtet, er habe die Angewohnheit besessen, beim „Empfang“ der Transporte an den Krematorien jungen Frauen, die an ihm vorbeigingen, an die Geschlechtsorgane zu fassen. 190 Die Identität dieses Helden ist unbekannt. 191 Gemeint ist ein Transport mit 1.800 Menschen, der am 23. Oktober 1943 aus Bergen-Belsen kommend in Auschwitz ankam. Die meisten Juden, die sich darin befanden (hauptsächlich aus Warschau), waren glückliche Besitzer von gegen große Geldsummen erworbenen Pässen bzw. Visa lateinamerikanischer Staaten. Sie glaubten aufrichtig den Beteuerungen der SS, dass sie in das mythische Transitlager Bergau nahe Dresden und von dort aus in die Schweiz überführt würden, zur anschließenden Überführung nach Honduras. Die Pläne der SS, diese Menschen bei den englischen oder amerikanischen Truppen gegen deutsche Kriegsgefangene einzutauschen, erfüllten sich nicht – weshalb die Gefangenen für die SS nicht länger von Interesse waren (Wenck, 1997. S. 152 f.). Bei der Ankunft in Birkenau (eine Assonanz mit „Bergau“) traten auf der Rampe Vertreter der Lagerverwaltung Bergau und des Auswärtigen Amts (diese Rollen spielten die SS-Männer Schwarzhuber und Hößler mit Bravour) vor die Ankömmlinge, wonach die Frauen und die Männer aufgeteilt und zwecks einer „Dusche“ jeweils in die Entkleidungsräume der Krematorien II und III abgeführt wurden.

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Doch die „hochkultivierten“ deutschen Machthaber schickten die amerikanischen Bürger statt in die Schweiz hierhin, ins Feuer des Krematoriums. Hier ereignete sich eine wahrhaft heroische Tat: Eine mutige junge Frau, eine Tänzerin aus Warschau, entriss dem Oberscharführer aus der „Politischen Abteilung“ von Auschwitz, Quakernack192, den Revolver und erschoss den Rapportführer, den berüchtigten Banditen Unterscharführer Schillinger193. Ihre Tat ermutigte andere tapfere Frauen, sodass sie zuerst um sich schlugen und dann – mit Flaschen und anderen Gegenständen – auf diese tollwütigen wilden Tiere, die Männer in der SS-Uniform, stürzten. Nur in diesen beiden Transporten fanden sich Menschen, die dem Feind Widerstand leisteten. Sie wussten ja bereits, dass sie nichts zu verlieren hatten. Die anderen Hunderttausende aber gingen wissentlich in den Tod wie Vieh zur Schlachtbank. Das ist es, warum die heutigen Vorbereitungen uns derart erstaunt haben. Wir haben begriffen: „Sie“ wurden von Gerüchten ereilt, dass die tschechischen Juden, die seit sieben Monaten schon in dem Lager mit ganzen Familien leben und genau wissen, was hier passiert, sich so einfach nicht ergeben würden – und deshalb mobilisierten sie all ihre Mittel, um den Widerstand der Menschen niederzuschlagen, die die „Dreistigkeit“ besitzen könnten, es sich nicht gefallen zu lassen, in den Tod zu gehen, und einen Aufstand gegen ihre „unschuldigen“ Henker zu entfesseln. Am Montag um zwölf Uhr mittags wurden wir in unseren Block geschickt, um uns zu erholen, um sich dann mit frischen Kräften an die Arbeit zu machen. 140 Mann  – fast der ganze Block (nach der Abtrennung von 200 Mann) – sollten dazu bereit sein, zum Transport zu gehen, weil heute ganze zwei Krematorien – II und III – mit voller Kraft arbeiten würden. Der Plan war bis ins kleinste Detail ausgearbeitet. Wir, die unglücklichsten Opfer unseres Volkes, sahen uns in den Kampf gegen unsere eigenen Brüder und Schwestern einbezogen. Wir sind gezwungen, die erste Verteidigungs­ linie zu sein, die die Opfer womöglich stürmen würden, während sie, die „Helden und Kämpfer der Großmacht“, mit Maschinengewehren, Granaten

192 SS-Oberscharführer Walter Quakernack (1907–1946): Chef des Standesamts der Politischen Abteilung im Lager. 193 Widersprüchlichen Quellen zufolge könnte eine der beiden Tänzerinnen, die sich in dem Transport befanden, die Heldin gewesen sein: Lola Horowitz oder Franziska Mann. Der von ihr verwundete Josef Schillinger verstarb auf dem Weg ins Krankenhaus nach Kattowitz, der zweite von ihr verwundete SS-Mann – Wilhelm Emmerich – überlebte. Dieser Transport leistete noch heftigeren Widerstand.

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und Gewehren bewaffnet, hinter unserem Rücken stehen und aus der Deckung heraus schießen würden. Ein Tag verging, der zweite und der dritte vergingen auch. Der Mittwoch kam – der Stichtag, an dem sie hätten hergebracht werden sollen. Ihre Ankunft wurde aus etlichen Gründen verschoben. Zum einen war neben der „strategischen“ auch eine moralische Vorbereitung nötig. Zum zweiten will diese „Führung“ das Massaker an die jüdischen Feiertage knüpfen, weshalb die heutigen Opfer in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag – beim jüdischen Purimfest – ermordet werden sollen. Seit drei Tagen unternimmt die „Führung“ – die kaltblütigen Mörder, die zynischen und blutrünstigen Sadisten – alles Mögliche, um die Juden zu belügen, zu täuschen, um ihre Barbarenfratze vor ihnen zu verstecken, damit die Opfer nichts bemerken, damit sie die bösen, finstersten Absichten dieser „Kulturmenschen“  – dieser lächelnden Vertreter der barbarischen Führung– nicht erraten. Nun hat der Schwindel begonnen. Die erste Version, die sie verbreiteten, bestand darin, dass fünftausend tschechische Juden zur Arbeit in ein anderes „Arbeitslager“ verschickt würden194. Die Kandidaten  – Männer und Frauen unter vierzig  – müssten ihre Personalien und ihren Beruf angeben. Die Übrigen – ältere Menschen beider Geschlechter und Frauen mit Kleinkindern – würden zusammenbleiben, niemand werde die Familien trennen. Dies waren die ersten Opiumtropfen, die die erschrockene Schar beruhigten, die Aufmerksamkeit der Menschen von der schrecklichen Realität ablenkten. Die zweite Lüge bestand darin, dass den Menschen befohlen wurde, ihr gesamtes Hab und Gut mitzunehmen, das sie besaßen. Die „Führung“ versprach ihrerseits allen, die wegfuhren, eine doppelte Ration. Und noch eine dritte grausame satanische Lüge hatten sie sich ausgedacht: Sie verbreiteten das Gerücht, dass bis 30. März keine Korrespondenz in die Tschechoslowakei abgeschickt werde195. Wer Pakete bekommen wolle, müsse, wie vorher auch, seinen Freunden einige Wochen im Voraus einen Brief schreiben (mit einem Datum vor dem 30. März196 versehen), der an die Lagerverwal-

194 Gemeint war das Lager Heydebreck. 195 Einige Tage vor der Vernichtung des Familienlagers wurden Postkarten an dessen Häftlinge verteilt, die sie mit einem späteren Datum versehen sollten. Diese Postkarten sollten an Freunde und Verwandte verschickt werden, um ihnen auf diese Weise vorzugaukeln, die Absender seien noch am Leben. 196 Tatsächlich aber vor dem 25. März.

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tung abzugeben sei: Der Brief werde versendet, die Absender würden wie früher Pakete erhalten. Keiner der Juden schlug Alarm, niemand konnte sich vorstellen, dass diese „Führung“ sich zu solcherart Niederträchtigkeit, zu solcherart gemeinem Betrug herablässt, im Kampf  … gegen wen? Gegen eine Schar schutzloser, unbewaffneter Menschen, die allerhöchstens mit bloßen Händen kämpfen könnten, deren Kraft allerhöchstens in ihrem Willen besteht. Dieser ganze gut durchdachte Schwindel war das beste Mittel, um die Aufmerksamkeit rational denkender Menschen, die sehr wohl begriffen, was geschah, einzuschläfern und zu lähmen. Alle –Menschen beider Geschlechter und aller Altersschichten – tappten in diese Falle, alle lebten von der Illusion, dass sie tatsächlich an eine Arbeitsstelle versetzt würden. Erst als die Verbrecher spürten, dass dieses Chloroform wirkte, machten sie sich an die Umsetzung der Vernichtungsaktion. Sie rissen Familien entzwei, trennten Frauen und Männer, Alte und Junge, trieben sie in die Falle – in das noch leer stehende benachbarte Lager. Sie, die Unglücklichen und Elenden verzweifelten, erschauderten – sie konnten nicht länger logisch denken. Selbst als sie begriffen, weshalb man sie einsperrte – um sie in den Tod zu schicken –, blieben sie wehrlos und ergeben. Sie hatten schon keine Kraft mehr, um an den Kampf und den Widerstand zu denken, weil jeder, selbst wenn sein Verstand von diesem Opium, dieser Illusion bereits zerstört war, nunmehr andere Sorgen hatte. Junge, kraftvolle Burschen und Mädchen dachten an ihre Eltern: Wer weiß, was mit ihnen geschieht? Junge Männer, einst voller Kraft und Tatendrang, saßen da, vor Kummer versteinert, und dachten an ihre Frauen und Kinder, von denen sie heute Morgen getrennt worden sind. Jeder Gedanke an Kampf und Widerstand wurde unterdrückt vom Leid jedes Einzelnen. Jeder war von Sorge und Schmerz um die eigene Familie ergriffen. Das betäubte, lähmte das Denken, ließ keinen Gedanken an die allgemeine Lage zu, in der wir uns alle befanden. Nun saßen all diese Menschen, die in der Freiheit197 einst jung, energisch und kampfwillig gewesen waren – versteinert, verzweifelt, niedergeschlagen und am Boden zerstört da. Fünftausend Opfer betraten widerstandslos die erste Stufe jener Treppe, die ins Grab hinabführte.

197 So im Text. Angesichts der Sachlage wäre anzunehmen, dass in diesem Fall unter „Freiheit“ die relative Freiheit verstanden wird, die die Gefangenen aus Theresienstadt im Familienlager in Auschwitz-Birkenau „genossen“.

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Wieder mal war der Schwindel – in seiner teuflischen Taktik seit Langem schon angewandt – vom Erfolg gekrönt.

Sie werden hinausgeführt in den Tod Am Mittwoch, den 8. März 1944, am Abend des Purimfests, ging in jenen Ländern, in denen die Juden noch leben konnten, alles seinen gewohnten Gang: Die Gläubigen gingen in die Synagogen, alle feierten dieses große Fest, das an das Wunder erinnert, das unserem Volk widerfuhr, und wünschten einander, der Krieg gegen den neuen Haman198 möge so schnell wie möglich zu Ende gehen. Zugleich marschierten im Lager Auschwitz-Birkenau 140 Juden des Sonderkommandos aus, doch sind sie nicht auf dem Weg in die Synagoge, nicht um Purim zu feiern, nicht um des großen Wunders zu gedenken. Sie gehen mit gesenktem Haupt, wie in großer Trauer. Ihr Kummer strahlt auf alle anderen Juden im Lager aus, denn der Weg, den sie gehen, führt ins Krematorium, in diese Hölle des jüdischen Volkes. Statt an einem jüdischen Feiertag, der den Sieg des Lebens über den Tod symbolisiert, werden sie an den Feierlichkeiten der Piraten teilnehmen müssen, die ein jahrhundertealtes Urteil vollstrecken, das neulich erst von ihrer Gottheit erneuert worden und nun wieder in Kraft getreten ist. Bald werden wir Zeugen dieses grauenvollen Festes. Wir werden mit unseren eigenen Augen unsere eigene Vernichtung ansehen müssen: Wir werden mitansehen müssen, wie fünftausend Menschen, fünftausend Juden, fünftausend vollblütige und vor Lebenskraft strotzende Menschen – Frauen, Kinder, Männer, Alte und Junge – auf Anordnung dieser verdammten Bestien, die mit Gewehren, Granaten und Maschinengewehren bewaffnet sind, die treiben, schlagen und Hunde zu hetzen drohen –, wie fünftausend Menschen, betäubt, unwissend, was sie tun, in die Arme des Todes gehen, in die Arme des Todes laufen werden. Und wir – ihre Brüder – werden ihnen dabei helfen müssen, all das zu vollstrecken: die Elenden von den Wagen zerren, in den

198 Haman war ein Wesir des persischen Königs, der den Entschluss gefasst hatte, alle Juden in Persien zu vernichten. Dank der Königin Esther, einer Jüdin von ihrer Herkunft her, wurden Hamans Pläne vereitelt. In Erinnerung an diese Ereignisse, die durch das biblische Buch Esther überliefert werden, feiern die Juden im Frühling das Purimfest. Judenverfolger werden in der jüdischen Tradition als Haman verbildlicht. Gradowski vergleicht Hitler mit dem Wesir.

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Bunker führen, zum Entblößen zwingen und, wenn sie fertig sind, in den todbringenden Bunker, in das Grab, treiben. Als wir am ersten Krematorium ankamen, waren sie  – die Vertreter der Macht – längst dort und warteten auf den Beginn der Aktion: Etliche SS-Männer in voller Montur, jeder mit einem Gewehr, einem vollen Patronengurt und Granaten. Diese bis an die Zähne bewaffneten Soldaten haben das Krematorium umzingelt und strategisch wichtige Stellungen eingenommen. An jeder Ecke standen Autos mit Scheinwerfern, um das weitläufige Schlachtfeld komplett auszuleuchten. Ein weiteres Auto – mit Munition – stand etwas weiter abseits bereit für den Fall, dass die Opfer ihrem sehr viel mächtigeren Feind Widerstand zu leisten versuchen. Ach, könntest du, du freier Mensch, diese Szene sehen, du würdest erstaunt stehen bleiben. Du könntest dir denken, in diesem großen Gebäude mit den hohen Schornsteinen säßen bis an die Zähne bewaffnete Riesen, die wie der Leibhaftige persönlich kämpfen, mächtige Armeen und ganze Welten zerstören könnten. Du könntest denken, dass diese großen Helden, die um die Weltherrschaft kämpfen, sich auf die Endschlacht gegen einen Gegner vorbereiteten, der ihr Land ergreifen, ihr Volk versklaven, ihr Hab und Gut rauben wollte. Würdest du ein bisschen warten und sehen, wer dieser schreckliche Feind ist, gegen den sie ihre ganze Macht aufzufahren beabsichtigen, du würdest enttäuscht. Weiß du, gegen wen sie in die Schlacht ziehen wollen? Gegen uns, das Volk Israels. Bald werden jüdische Mütter hier sein: Mit ihren Säuglingen an der Brust und ihren größeren Kindern an der Hand werden sie erschrocken auf die Schornsteine blicken. Junge Frauen, gerade vom Lastwagen abgestiegen, werden warten – die einen auf die Mutter, die anderen auf die Schwester –, um zusammen direkt in den Bunker zu gehen. Die Männer – junge und alte, Väter und Söhne – werden warten, bis sie hier oder in die andere Hölle zum Sterben getrieben werden. Das ist deren fürchterlicher Feind, gegen den zu kämpfen der Pirat bereit ist. Sie fürchten, jemand von den Tausenden Opfern könnte sich weigern, lautlos in den Tod zu gehen, und würde in den letzten Minuten seines Lebens eine Heldentat vollbringen. Vor diesem unbekannten Helden haben sie solche Angst, dass sie zum Schutz vor ihm ihre kultivierten Gewehre in die Hände genommen haben. Alles ist schon vorbereitet. 70 Männer aus unserem Kommando sind auch auf dem Gelände des Krematoriums aufgestellt. Und hinter der Absperrung stehen sie – und warten auf ihre Opfer. 305

Die Chronisten und ihre Texte

Autos, Motorräder rasen vor uns her. Hier und dort erkundigt man sich, ob alles schon vorbereitet sei. Nun herrscht im Lager absolute Stille. Alles Lebendige muss verschwinden, muss sich in den hölzernen Gräbern verstecken. In der Nachtstille ertönt ein neues Geräusch: Es sind bewaffnete Soldaten mit Helmen, die so marschieren, als ob sie in den Kampf zögen. Das ist das erste Mal, dass im Lager nachts, wenn alle schlafen oder leise hinter dem Stacheldraht und den Zäunen liegen, das Militär auftaucht. Im Lager herrscht also Kriegszustand. Alles Lebendige muss erstarren und in seinem Käfig sitzen bleiben, ohne sich zu rühren, obschon alle wissen – denn sie haben es bereits nicht nur einmal, sondern neuerdings ständig gesehen –, dass immer neue Opfer in den Tod getrieben werden. Heute aber haben sie alles getan, was zur allgemeinen Einschüchterung nötig ist. Nur dem Himmel, den Sternen und der Luna kann der Teufel die Augen heute Nacht nicht verschließen. Sie werden auch die Zeugen dessen sein, was er in dieser Nacht hier treibt. In der geheimnisvollen Stille der Nacht erschallt der Lärm herannahender Autos. Es sind sie, die in das Lager aufgebrochen sind, um ihre Opfer zu holen. Die brutalen Köter heulen, sie sind bereit, sich auf die Elenden zu stürzen. Man hört Rufe betrunkener Soldaten und Offiziere, die bereitstehen. Die Häftlinge sind angekommen: die verhafteten Deutschen und Polen, die anlässlich des „Festes“ ihre Hilfsdienste freiwillig angeboten haben. Nun sind sie alle zusammen aufgebrochen  – die Mörderbande, die Ausgeburten der Hölle –, um die Elenden zu fassen, auf die Lastwagen zu pferchen und ins ­Krematorium zu treiben. Die Opfer sitzen dort eingeschlossen, ihre Herzen klopfen vor Entsetzen. Sie sind bis zum Verrücktwerden angespannt, sie hören alles, was passiert. Durch die Spalte und Ritze in den Gräbern sehen sie die Mörder, die sie von Minute zu Minute des Lebens berauben werden. Sie wissen schon, dass ihnen nicht mehr viel Zeit bleibt, dass man sie nicht mal in diesem düsteren Grab bleiben lässt, aus dem sie selbst jetzt nicht rausgehen würden. Sie werden rausgezerrt und irgendwohin getrieben werden, dem sicheren Tod entgegen. In einem Augenblick erfasst eine rückhaltlose Angst die ganze verzweifelte Menschenschar. Alle sind in Anspannung erstarrt und still geworden. Schon werden die Bretter abgerissen, mit denen die Türen des ersten Grabs vernagelt waren. Den Elenden erschienen diese Bretter noch als Schutz, denn die Menschen waren vom Tod abgegrenzt, als deren Tür noch vernagelt war. Irgendwo tief in der Seele hatten sie sogar gehofft, für immer in diesem Käfig verschlossen bleiben zu können – bis sie befreit würden. 306

Salmen Gradowski: Texte

Die Türen wurden aufgerissen. Die Opfer stehen starr vor Schreck da und sehen entsetzt die Bestien an. Dann weichen sie instinktiv in die Tiefe der Baracke zurück – wie vor einem Gespenst. Wie gerne würden sie weglaufen, irgendwohin, wo das barbarische Auge sie nicht findet. Mit Entsetzen schauten sie die Menschen an, die gekommen sind, um sie zu töten. Doch das Schweigen wird unterbrochen: Bösartige Köter stürzen sich jaulend auf die Opfer, die Bestien schlagen mit Knüppeln wild auf die Elenden ein. Die Schar der Verdammten – eine zu einer Einheit verschmolzene Masse – weicht zurück und zerfällt in Gruppen von wenigen Menschen. Die gebrochenen, verzweifelten Menschen laufen von selbst zu den Wagen hin, um sich vor den Schlägen und Hundebissen zu retten. Mütter mit Kindern auf den Armen fallen hin, das Blut unschuldiger Säuglinge ergießt sich auf die verdammte Erde. Schon stehen die Opfer auf den Pritschen der Lastwagen und schauen sich um, als würden sie etwas suchen, als hätten sie etwas verloren. Einer jungen Frau scheint es, dass ihr geliebter Mann gleich zu ihr käme. Eine Mutter sucht ihren jungen Sohn, eine verliebte Frau mustert die Lastwagen: Vielleicht erkennt sie auf einem davon ihren Geliebten … Sie schauen sich um und sehen eine wunderbare Welt, den Sternenhimmel und die Luna, die herrschaftlich im Dunst umherspaziert. Sie mustern ihr leeres Grab. Ach, würde man ihnen doch bloß erlauben, dorthin zurückzukehren. Sie wissen, sie fühlen, dass der Wagen wie der Boden ist, der unter den Füßen weggleitet: Sie müssen nicht mehr weit fahren. Ihr Blick ist dorthin, hinter den Stacheldrahtzaun gerichtet, in das Lager, in dem sie gestern noch waren. Dort stehen die tschechischen Familien und schauen durch die Spalte ihre Brüder und Schwestern an, die irgendwohin gebracht werden. Ihre Blicke treffen sich, die Herzen schlagen einstimmig, in Angst und Entsetzen. In der nächtlichen Stille sind Abschiedsworte zu hören: Brüder und Schwestern, Freunde und Bekannte – wer noch im Lager geblieben ist und auf das Ende wartet, ruft jenen zu, die schon auf der Pritsche stehen und bald in den Tod fahren: ihren Brüdern und Schwestern, Vätern und Müttern. Auch die zweite Aktion ist dem Teufel gelungen: Er hat die Elenden gezwungen, die eine weitere Stufe auf der Treppe hinabzusteigen, die ins Grab führt.

Sie kommen an Da fahren sie nun hin. Alle sind weiterhin angespannt. Die Mörder geben letzte Anweisungen. Unser Blick ist dorthin gerichtet, in die Richtung, aus der 307

Die Chronisten und ihre Texte

der Lärm herannahender Autos erschallt. Wir hören Geräusche, die uns schon vertraut sind: Das sind die Motorräder. Die Autos rasen. Alle warten schon auf die Opfer. Von Weitem erkennen wir das Licht der Scheinwerfer: Die Autos fahren auf uns zu. Sie fahren. Von Weitem sehen wir schon, was von den noch lebenden Menschen geblieben ist: nur Schatten. Wir hören ihr leises Gejammer und Gestöhne, das ihrer Brust entfährt. Die Elenden haben begriffen, dass sie in den Tod gefahren werden. Die letzte Hoffnung, der letzte Schimmer, der letzte Funke  – alles erlischt. Sie schauen sich um, die ganze Welt rast wie im Film an ihnen vorbei. Ihr Blick irrt wild umher, als wollten sie alles in sich aufnehmen, was sie noch sehen. Irgendwo in der Ferne ist ihr Haus. Berge mit den weißen Gipfeln, die sie täglich den Lagerzaun hindurch ansahen, erinnern sie an die Heimat. Ach, die lieben Berge … Sorglos schlaft ihr vom Mondlicht beschienen, während wir, eure Kinder, deren Leben mit euch untrennbar verbunden ist, heute sterben müssen. Ihr wart Zeugen so vieler goldener Tage, so vieler Freuden, so vieler goldenen Seiten unseres Lebens. Wie viel Liebe, wie viel Zärtlichkeit wir mit euch teilten! So viele Nächte verbrachten wir in euren Armen, an euren Quellen, die ewig aus der Erde sprudeln werden – fragt sich nur, für wen jetzt. Wir werden für immer von euch weggerissen. Dort, in der Ferne hinter euch, steht unser verlassenes Haus, in das die Besitzer niemals mehr zurückkehren werden. Ach, das vertraute Heim, das ihnen einst Liebe und Wärme spendete – es ruft sie, seine Kinder, zu sich. Wohin werden sie gefahren? So herrlich ist die Welt, sie lockt mit ihrer Schönheit, sie reizt, sie erweckt zum Leben – und der Lebenswille ist so ungeheuer stark! Durch tausende Fäden sind sie an diese riesige und herrliche Welt gebunden. Die Welt streckt ihnen ihre Arme entgegen. In der nächtlichen Stille ist ihr mütterlicher Ruf zu hören: Kommt zu mir, meine lieben Kinder, meine Liebe ist stark! Der Platz reicht für alle, für euch halten meine Tiefen die Schätze bereit. Meine Quellen sprudeln immer, immer bereit, alle zu stillen, unabhängig von Kraft und Stärke. Für euch und euch zuliebe wurde ich einst geschaffen. Und sie, die Kinder, trachten nach ihr, ihrer geliebten Welt, können von ihr nicht lassen: Sie alle sind ja jung, gesund und voller Kraft. Sie dürsten nach Leben, sie sind zum Leben geboren. Sie, die noch voller Kräfte sind, greifen nach dieser Welt – wie ein Kind, das seine Mutter nicht loslässt – sie halten sie mit den Händen fest, während diese 308

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Welt ihnen herzlos entrissen wird. Diese Welt will man ihnen ohne Schuld und Grund – mit bestialischer Inbrunst – wegnehmen. Könnten sie doch nur diese ganze Welt umarmen, den Himmel, die Sterne und den Mond, die Schneegipfel, die kalte Erde, die Bäume und die Gräser – alles, was es auf der Erde nur gibt – und es fest an ihr Herz drücken, wie glücklich wären sie dann! Wenn sie, diese Kinder, die unglücklichen Opfer, sich auf dieser erkalteten Erde jetzt nur ausstrecken, sie mit der Flamme ihres Herzens wärmen, ihren harten Rücken mit ihren heißen Tränen erweichen, diese ganze große herrliche Welt abküssen könnten. Ach, wenn sie ihre Herzen mit dieser Welt, mit diesem Leben jetzt sättigen könnten, um für immer die Sehnsucht, den Hunger und den Durst zu stillen. Wenn sie, die Kinderschatten, die Elendsten der Elenden, die jetzt in den Gräbern sitzen oder für ihre Hinrichtung anstehen, diese Erde umarmen könnten – wie gut, wie überaus gut ginge es ihnen dann! Jetzt, in den letzten Minuten ihres Lebens, trachten sie danach, alles auf der Erde Lebende zu umarmen, zu liebkosen, zu küssen. Sie ahnen es, sie haben es schon begriffen, dass die Autos, die sie schnell irgendwohin bringen, diese ganzen Taxen199 und Motorräder, die sie seitlich begleiten, des Teufels Diener sind, die rasen, knurren und jaulen, um ihrer Gottheit ihre Beute zu bringen. Da werden sie also gefahren, an der Welt, am Leben vorbei – schließlich führt der Weg in den Tod ja durch das Leben. Sie ahnen, dass ihre letzten Momente anbrechen, dass der Film bald endet, und sie schauen sich nervös um, lassen ihre Blicke in alle Winkel wandern. Sie suchen etwas auf dieser Welt, was sie auf den Weg in den Tod mitnehmen könnten. Vielleicht denkt einer von ihnen gerade – der Gedanke zuckt wie ein Blitz im Geiste auf –, wohin er vor dem Tode fliehen könnte, schaut sich um, ob er ein rettendes Schlupfloch fände … Der Lärm wird stärker, Scheinwerfer erleuchten schon das riesige Gebäude der Hölle.

199 So im Text.

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Die Chronisten und ihre Texte

Sie sind da Nun sind sie angekommen, die unglücklichen Opfer. Die Autos bleiben stehen, die Herzen erstarren. Die Opfer – hilflos, schockiert, resigniert, verzweifelt – schauen sich um, mustern den Platz, das Gebäude, in dem ihre Leben, ihre jungen, noch kraftvollen Körper gleich für immer verschwinden werden. Sie können nicht begreifen, was die Dutzende Offiziere mit den goldenen und silbernen Schulterstücken, den glänzenden Revolvern und Granaten wollen. Und warum stehen hier – wie verurteilte Diebe – Soldaten mit Helmen? Warum sind durch den Stacheldraht und zwischen den Bäumen schwarze Gewehrläufe auf sie gerichtet – warum, wofür? Warum sind so viele Scheinwerfer an? Ist denn die Nacht so finster heute? Wird denn der Mondschein heute nicht reichen? Sie stehen da, verloren, resigniert, hilflos. Sie haben bereits die fürchterliche Wirklichkeit erblickt, der Abgrund hat sich vor ihren Augen aufgetan, bereit, sie zu verschlingen. Sie ahnen, dass alles auf der Welt – das Leben, die Natur, die Bäume und Felder, alles, was noch lebt –, dass das alles mit ihnen zusammen im tiefsten Abgrund verschwinden wird. Die Sterne erlöschen, der Himmel verfinstert, der Mond verdüstert sich  – zusammen mit ihnen wird die Welt vergehen. Und sie, die unglücklichen Opfer, wollen nur noch eins: so schnell wie möglich in diesem Abgrund verschwinden. Ihre Habseligkeiten schmeißen sie hin – alles, was sie auf die „Reise“ mitgenommen haben –, sie werden keine Sachen mehr benötigen. Man zwingt sie, von der Pritsche auf die Erde herabzusteigen. Sie widersetzen sich nicht. Kraftlos fallen sie hin, wie abgeschnittene Ähren, direkt uns in die Arme. „Nimm mich an der Hand, führe mich ein wenig, mein werter Bruder, zumindest einen Teil des Wegs, der mich von dem Tode noch trennt.“ Und wir führen sie, unsere lieben, teuren, zärtlichen Schwestern. Wir greifen ihnen unter die Arme, gehen schweigend Schritt für Schritt, unsere Herzen schlagen im gleichen Takt. Wir leiden nicht weniger als sie, wir spüren, dass jeder Schritt uns von dem Leben trennt und dem Tod entgegenführt. Dann, wenn sie in den Bunker, tief unter die Erde, hinabsteigen, die erste Stufe betreten müssen, die in das Grab hinabführt, dann werfen sie dem Himmel und dem Mond einen Abschiedsblick zu, und mitten aus dem Herzen erklingt ein tiefer Seufzer – bei ihnen wie bei uns. Auf den Gesichtern unserer unglücklichen Schwestern glänzen Tränen im Mondlicht. In den Augen der Brüder, die sie an das Grab herangeführt haben, erstarren die Tränen einer unsäglichen Trauer. 310

Salmen Gradowski: Texte

Im Entkleidungsraum Der große tiefe Raum mit zwölf Säulen in der Mitte, die das ganze Gebäude tragen, ist jetzt mit hellem Licht geflutet. Entlang der Wände sind bereits Sitzbänke aufgestellt, darüber sind Haken für die Kleidung der Elenden angebracht. An einer der Säulen hängt ein Schild. Eine Inschrift in mehreren Sprachen teilt den Unglücklichen mit, sie seien in einem Bad angelangt, alle Sachen seien abzulegen und zur Desinfektion abzugeben. Wir stehen reglos da und starren sie an. Sie wissen schon alles, sie begreifen, dass das kein Bad ist, sondern ein in das Grab führender Korridor. Der Saal füllt sich zusehends mit Menschen. Es kommen Autos mit immer neuen Opfern und der Saal verschlingt sie alle. Betreten stehen wir da, ohne den Frauen auch nur ein Wort sagen zu können, obwohl wir das alles nicht zum ersten Mal erleben. Es sind schon viele Transporte mit den Unglück­ seligen an uns vorbeigezogen, viele solcher Geschehnisse haben wir gesehen. Dennoch fühlen wir uns heute nicht so wie früher: Wir sind schwach, als fielen wir mit ihnen zusammen in Ohnmacht. Wir alle sind betäubt. Die Körper der Frauen, jung, kraftvoll und von jugendlichem Reiz erfüllt, werden von alter zerfetzter Kleidung bedeckt. Vor uns sehen wir Köpfe mit schwarzen, kastanienbraunen, hellen – jungen und ergrauten – Locken. Und Augen, von denen man den Blick nicht abwenden kann: schwarze, tiefe Augen voller Zauber. Vor uns stehen junge, vollblütige Leben, frisch und blühend wie die Rosen im Garten, die durch Regen genährt und durch Morgentau erfrischt werden, die in der Sonne wie Perlen schimmern. So schimmern auch die Augen dieser Frauen jetzt … Wir waren nicht mutig, nicht tapfer genug, um unseren süßen Schwestern zu sagen, dass sie sich entblößen sollen. Die Sachen, die sie trugen, waren ihre letzte Hülle, ihr letzter Lebensschutz. Wenn sie die Kleidung ablegen und völlig nackt dastehen, verlieren sie das Letzte, das sie mit dem Leben verbindet. Deshalb fordern wir nicht ein, dass sie sich ausziehen. Sollen sie noch einen Augenblick in ihrer „Panzerung“ bleiben. Das ist doch ihre letzte Lebenshülle! In der ersten Frage, die sie stellen, geht es den Frauen um ihre Männer: Werden die wohl kommen? Alle wollen wissen, ob ihre Männer, Väter, Brüder, Geliebten noch am Leben seien oder ob ihre Leiber schon irgendwo tot herumlägen. Könnte es sein, dass sie in den Flammen dahinloderten, dass bald keine Spur mehr von ihnen übrig sein werde und die Frauen allein mit den verwaisten Kindern zurückbleiben würden? Vielleicht hat sie ihren Vater, 311

Die Chronisten und ihre Texte

Bruder oder Geliebten bereits auf immer und ewig verloren. Wozu, warum solle sie dann noch weiterleben auf dieser Welt?, fragt eine von ihnen. Eine andere, die sich mit dem unausweichlichen Tod schon abgefunden hat, fragt kühn: „Mein Bruder, sage mir bitte, wie lange der Tod dauert? Ist er schwer? Oder leicht?“ Aber so lange lässt man sie nicht stehen. Die Mörder tauchen auf. Schreie von besoffenen Banditen zerreißen die Luft, die danach lechzen, ihren bestialischen Durst so schnell wie möglich zu stillen, sich an den nackten Körpern meiner wunderschönen geliebten Schwestern sattzusehen. Es hagelt Knüppelschläge auf ihre Rücken und Köpfe  … Die Kleidung fällt von den Körpern herab. Jemand schämt sich, möchte sich irgendwo verstecken, um die eigene Blöße nicht zeigen zu müssen. Aber es gibt keinen Winkel, wo sie unterschlüpfen könnten. Auch gibt es keine Scham. Ethik und Moral – das alles steigt hier wie das Leben ins Grab hinab. Einige Frauen schmeißen sich uns wie berauscht in die Arme und bitten beschämt darum, wir mögen ihnen die Kleider ablegen. Sie wollen alles vergessen, an nichts mehr denken. Mit der Welt des Vergangenen, mit ihrer Moral und ihren Grundsätzen, mit ethischen Überlegungen haben sie gebrochen, als sie die erste Stufe der Treppe betraten, die ins Grab führt. Jetzt an der Schwelle zum Tod, solange sie sich noch an der Oberfläche halten können und ihre Körper noch leben, fühlen sie, verlangen etwas zu genießen … Sie wollen ihm alles geben: das letzte Vergnügen, die letzte Freude – alles, was man vom Leben kriegen kann. Sie wollen ihn nähren, wollen ihn kurz vor dem Ende sättigen. Deshalb wollen sie, dass die Hand eines fremden Mannes, der ihnen jetzt näher ist als der allerliebste Mensch auf der Welt, ihren jungen krafterfüllten Körper berührt und liebkost. Sie wollen das Gefühl, als würde die Hand ihres Geliebten ihren leidgeplagten Körper streichen. Sie wollen den Rausch spüren – oh, meine lieben, zarten Schwestern! Sie spitzen die Lippen, sie lechzen nach dem Kuss, solange sie noch leben. Es kommen immer mehr Autos, immer mehr Menschen werden in den großen Raum hineingepfercht. Geschrei und Weinen geht durch die nackten Reihen. Das sind die nackten Kinder, die ihre nackten Mütter gesehen haben. Sie küssen und umarmen sich, sie erfreuen sich an dem Wiedersehen. Das Kind fühlt sich glücklich, dass das Mutterherz es in den Tod begleiten wird. Alle ziehen sich nackt aus und stellen sich in einer Schlange auf. Die einen weinen, die anderen stehen still. Eine junge Frau rauft sich die Haare und spricht wild zu sich selbst. Ich komme näher an sie heran und höre, dass es nur die Worte sind: „Wo bist du, mein Geliebter? Warum kommst du nicht zu 312

Salmen Gradowski: Texte

mir? Ich bin so jung und so schön!“ Wer in der Nähe stand, sagte mir, sie sei gestern Abend schon, im Gefängnis verrückt geworden. Jemand spricht leise und ruhig zu uns: „Wir sind noch so jung! Wir wollen noch leben, wir haben so wenig gelebt!“ Sie bitten uns um nichts, weil sie wissen und einsehen, dass auch wir hier verdammt sind. Sie sagen es einfach aus der Fülle ihres Herzens, sie wollen ihren Schmerz vor dem Tod einem Menschen mitteilen, der noch lebt. Da sitzen mehrere Frauen, sie küssen und umarmen sich: Das sind Schwestern, die sich wiedergetroffen haben. Es ist, als seien sie schon zu einem Organismus, zu einer Einheit verschmolzen. Und hier sitzt eine Mutter auf der Sitzbank, eine nackte Frau mit ihrer Tochter auf dem Schoß, die noch keine fünfzehn ist. Sie presst den Kopf des Mädchens an die Brust, überschüttet sie mit Küssen. Tränen, bittere Tränen fallen auf die junge Blume. Die Mutter weint um ihr Kind, das sie selbst jeden Augenblick in den Tod führen wird. Im Saal, diesem großen Grab, erstrahlt ein neues Licht. Am Rande dieser Hölle stehen die alabasterweißen Frauenkörper: Die Frauen warten, bis sich die Höllenpforte öffnet und den Weg zum Tod öffnet. Wir, die bekleideten Männer, stehen ihnen regungslos gegenüber und schauen sie an. Wir können es nicht begreifen, ob das, was wir sehen, wirklich passiert oder nur ein Traum ist. Vielleicht sind wir in eine Welt nackter Frauen geraten? Wird irgendein teuflisches Spiel mit ihnen gespielt? Oder sind wir in einem Museum, in einem Kunstatelier, wo Frauen aller Altersgruppen mit einem Ausdruck von Schmerz und Leid im Gesicht sich versammelt haben, um Modell zu stehen? Wir können es nicht fassen: Im Vergleich zu anderen Transporten sind die Frauen heute so ruhig. Viele sind tapfer und mutig, als ob ihnen nichts Schreckliches passieren kann. Was uns am meisten erstaunt, sind die Würde und die Gelassenheit, mit denen sie dem Tod entgegengehen. Wissen sie denn nicht, was sie erwartet? Mit Bedauern schauen wir sie an, weil wir uns vorstellen, wie ihr Lebensfaden bald abreißen, ihre Körper bald erstarren und die Kräfte sie verlassen werden, wie ihre Lippen auf ewig verstummen und ihre Augen – die funkelnden und reizenden Augen – erkalten werden, als ob sie in der tödlichen Ewigkeit etwas suchten. Diese wunderschönen, vor Lebenskraft strotzenden Körper werden bald schon wie Holzscheite auf der Erde, im Dreck herumliegen. Der wunderschöne Alabaster dieses Leibs wird von Schmutz und Ausscheidungen befleckt sein. 313

Die Chronisten und ihre Texte

Aus ihren schönen Mündern werden die Zähne mit Fleisch gerissen, Blut wird in Strömen fließen. Auch aus der feinen Nase wird irgendeine Flüssigkeit fließen – eine rote, gelbe oder weiße. Das Gesicht, das weiß-rosige Gesicht wird rot, blau oder schwarz, wegen des Gases. Die Augen werden sich mit Blut füllen, sodass man sie nicht mehr erkennen können wird: Ist das etwa dieselbe Frau, die jetzt noch hier steht? Die herrlichen Locken werden von zwei kalten Händen geschoren, von den Fingern werden die Ringe abgezogen, aus den Ohren werden die Ohrringe gerissen. Anschließend werden zwei Männer, nachdem sie Handschuhe angezogen haben, diese Körper – gerade noch milchweiß, sind sie dann schon entstellt und entsetzlich – widerwillig anfassen und über kalten Betonboden schleifen. Und der Körper wird sich mit Schmutz bedecken, über den er geschleift wird. Danach wird er wie ein ekelhaftes Vieh in einen Lift geworfen und ins Feuer geschoben, wo die üppigen Körper sich innerhalb weniger Minuten in Asche verwandeln. Wir sehen, wir erahnen schon ihr unabwendbares Ende. Ich sehe sie, die Kräftigen und Lebendigen, an, wie sie den riesigen Raum ausfüllen  – und siehe da, es entsteht sogleich ein anderes Bild vor meinem Auge: Mein Kamerad schiebt eine Karre voller Asche vor sich her, um sie in eine Grube zu schütten. Vor mir ist eine Gruppe aus zehn bis fünfzehn Frauen: Die ganze Asche, in die sie sich verwandeln werden, wird in eine Karre passen. Von keiner einzigen derer, die jetzt hier stehen, wird ein Zeichen, eine Erinnerung bleiben, von denen, die ganze Städte ausgefüllt hatten. Bald werden sie aus dem Leben gelöscht, mit der Wurzel ausgerissen, als ob sie niemals geboren worden wären. Unsere Herzen zerreißen vor Schmerz. Wir selbst fühlen diese Qual, jene Qual des Übergangs aus dem Leben in den Tod. Mitleid erfüllt unsere Herzen. Ach, könnten wir nur anstelle unserer geliebten Schwestern unser Leben hergeben, wie glücklich wir dann wären. Wie gern würden wir sie ans blutende Herz drücken, abküssen und mit Leben erfüllen, das ihnen gleich entrissen wird. Ihren Anblick, die Spur dieser blühenden Leben, für immer im Herzen bewahren und auf immer und ewig mit sich tragen. Wir alle werden von entsetzlichen Gedanken übermannt  … Unsere lieben Schwestern sehen uns verwundert an: Sie begreifen nicht, warum wir so verstört, während sie doch so gefasst sind. Gern würden sie über vieles mit uns sprechen: Was wird man mit ihnen tun, wenn das vorbei ist, wenn sie schon tot sein werden  … Doch sie finden keinen Mut, das 314

Salmen Gradowski: Texte

a­ uszusprechen, sodass dieses Geheimnis für sie bis zum bitteren Ende ein Geheimnis bleibt. Siehe nur, sie stehen da zusammengeschart, nackt, erstarrt, und schauen in eine Richtung, von düsterem Grübeln erdrückt. Abseits der Schar liegen, auf einen Haufen geworfen, ihre Sachen  – die Sachen, die sie gerade erst abgelegt haben. Diese Sachen lassen ihnen keine Ruhe: Sie wissen zwar, dass sie keine Kleidung mehr benötigen, und doch spüren sie, durch etliche Fäden mit dieser Kleidung, die noch die Wärme ihrer Körper enthält, verbunden zu sein. Da liegen sie, die Kleider, die Pullover, die sie einst wärmten und ihre Körper vor fremden Blicken schützten. Wie glücklich sie wären, könnten sie sie noch einmal anziehen! Ist es denn zu spät? Wird denn keine von ihnen jemals wieder diese Sachen tragen? Werden denn diese Sachen niemandem mehr gehören? Wird denn niemand mehr zurückkommen, um sie anzuziehen? Wie verwaist liegen diese Sachen da, gleichsam als Beweis für den Tod, der jeden Augenblick kommen wird. Wer wird denn jetzt diese Sachen tragen? Siehe da, eine Frau trennt sich von der Schar, geht auf den Kleidungshaufen zu und hebt ein seidenes Halstuch unter den Füßen meines Kameraden auf, der darauf getreten ist. Sie nimmt das Halstuch an sich und vermengt sich gleich wieder mit der Schar. Ich frage sie: „Wozu brauchen Sie dieses Tüchlein?“ – „Das ist ein Andenken für mich“, sagt sie leise, „und ich möchte es mit mir ins Grab nehmen.“

Der Marsch in den Tod Die Türen werden aufgestoßen. Die Hölle öffnet ihre Pforten sperrangelweit vor ihren Opfern. In dem kleinen Raum, der zum Grab führt, haben sich die Vertreter der Machthaber wie bei einer Parade aufgestellt. Die Politische Abteilung des Lagers hat sich heute vollzählig zu ihrem Fest eingefunden. Die höchsten Offiziersränge sind hier, die wir in den 16 Monaten unserer Dienstzeit noch gar nicht gesehen haben. Unter ihnen auch eine Frau der SS, die Leiterin des Frauenlagers200. Auch sie ist gekommen, sich dieses große „Nationalfest“ anzuschauen: den Tod so vieler Kinder unseres leidgeprüften Volkes. 200 Die SS-Obersturmbannführerin Maria Mandel (1912–1948), vom 7. Oktober 1942 bis November 1944 Chefin des Frauenlagers in Auschwitz, wo sie „Bestie“ genannt wurde. Das US-Tribunal verurteilte sie zum Tode.

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Die Chronisten und ihre Texte

Ich stehe abseits und beobachte: Hier sind die großen Mörder und Banditen – dort, gegenüber, meine unglücklichen Schwestern. Der Todesmarsch kommt in Bewegung. Die Frauen gehen stolz, festen Schrittes, tapfer und mutig, wie auf ein Fest. Selbst dann sind sie nicht zusammengebrochen, als sie den letzten Ort, den letzten Winkel sahen, wo sich die letzte Szene ihres Lebens abspielen sollte. Sie haben den Boden unter den Füßen nicht verloren, als sie begriffen, mitten ins Herz der Hölle geraten zu sein. Sie hatten mit dem Leben, mit der Welt längst abgeschlossen, dort oben schon, bevor sie hierherkamen. Alle Fäden, die sie ans Leben banden, rissen noch im Gefängnis ab. Deshalb schreiten sie ruhig und beherrscht vorwärts: Sich dem Tode zu nähern, macht ihnen keine Angst mehr. Nun gehen sie vorüber, die nackten, von Lebenskraft erfüllten Frauen. Es kommt einem so vor, als dauerte dieser Marsch eine Ewigkeit. Es kommt einem so vor, als wäre es die ganze Welt, als hätten sich alle Frauen auf der Welt ausgezogen und würden nun zu diesem teuflischen Spaziergang gehen. Mütter mit Säuglingen auf den Armen gehen vorbei, jemand führt das Kind an der Hand. Die Kinder werden unentwegt geküsst: Geduld ist dem Mutterherzen fremd. Siehe nur, da gehen in fester Umarmung die Schwestern, ohne sich voneinander zu trennen, als wären sie zu einem Ganzen verschmolzen. Sie wollen zusammen in den Tod gehen. Alle sehen die aufgereihten Offiziere an  – die aber vermeiden es, ihren Opfern in die Augen zu schauen. Die Frauen bitten um nichts, flehen nicht um Erbarmen. Sie wissen, dass es sinnlos ist, diese Menschen zu bitten, dass es keinen Tropfen Mitleid oder Menschlichkeit in ihren Herzen gibt. Diese Freude – zu hören, wie die Elenden um das Geschenk des Lebens flehen – gönnen sie ihnen nicht. Plötzlich stoppt der Marsch der nackten Frauen. Siehe, da ist ein hübsches Mädchen, vielleicht neun Jahre alt, zwei helle Zöpfe fallen auf ihre Schultern herab, wie zwei Goldstreifen. Hinter ihr ging ihre Mutter, doch plötzlich blieb sie stehen und sagte den Offizieren frei heraus ins Gesicht: „Ihr Mörder, Banditen, schamlose Verbrecher! Ihr tötet uns, unschuldige Frauen und Kinder! Uns, den Unschuldigen und Unbewaffneten, werft ihr jenen Krieg vor, den ihr selber entfacht habt. Als ob ich mit dem Kind gegen euch kämpfen würde. Mit unserem Blut wollt ihr eure Niederlagen an der Front verdecken. Es ist schon klar, dass ihr den Krieg verliert. Jeden Tag erleidet ihr Niederlagen an der Ostfront. Jetzt könnt ihr treiben, was euch beliebt, nur wird auch für euch der Tag der Abrechnung kommen. Die Russen werden 316

Salmen Gradowski: Texte

uns rächen! Sie werden euch bei lebendigem Leib in Stücke reißen. Unsere Brüder in der ganzen Welt werden euch eure Verbrechen nicht verzeihen: Sie werden unser unschuldig vergossenes Blut rächen!“ Danach wandte sie sich an die Frau, die inmitten der SS-Leute stand: „Du, Bestie einer Frau, bist du auch gekommen, um sich unseres Elends zu erfreuen? Denk dran, auch du hast Familie und Kinder, doch bleibt dir nicht mehr viel Zeit, dein Glück zu genießen. Man wird dich bei lebendigem Leibe in Stücke reißen. Auch dein Kind hat, wie meins, nicht mehr lange zu leben! Denkt dran, ihr Banditen! Ihr werdet alles sühnen, die ganze Welt wird sich an euch rächen!“ Und sie spuckte den Banditen ins Gesicht und lief in den Bunker zusammen mit ihrem Kind. Wie versteinert schwiegen die SS-Leute, ohne den Mut aufzubringen, einander in die Augen zu schauen: Sie haben die Wahrheit gehört, die große, schreckliche Wahrheit, die ihre bestialischen Seelen zerriss, zerschnitt, verbrannte. Sie ließen sie aussprechen, obwohl sie ahnten, was sie sagen wollte. Nur wollten sie hören, was jüdische Frauen denken, wenn sie in den Tod gehen. Nun stehen die Mörder und Banditen versteinert da, ernst, zutiefst nachdenklich. Die Frau, die am Rande ihres Grabes stand, hat deren Maske weggerissen, und sie haben sich ihre nicht allzu ferne Zukunft vorgestellt. Sie haben mehrmals schon daran gedacht, düstere Gedanken ergriffen sie nicht selten. Und siehe da, eine Jüdin sagt ihnen die Wahrheit unumwunden ins Gesicht! Lange Zeit fürchteten sie sich auch nur vor dem Gedanken daran, sie hatten Angst, dass diese quälende Frage – „Warum und wozu leben wir eigentlich?“ – allzu tief in ihre Seelen eindringt. Der Führer, ihre Gottheit, lehrt sie doch etwas ganz anderes. Die Propaganda machte sie glauben, dass der Sieg nicht an der Ost- und nicht an der Westfront geschmiedet wird, sondern hier, in dem Bunker, in dem der Gegner – dieser Riese – vernichtet wird, zu dessen Bekämpfung das deutsche Blut auf allen Schlachtfeldern Europas vergossen wird. Und nun marschieren diese Feinde unmittelbar vor ihnen. Wegen dieser Feinde bomben englische Flugzeuge Tag und Nacht die deutschen Städte, töten Menschen von Jung bis Alt. Es ist doch wegen dieser nackten Jüdinnen, dass die SS-Leute jetzt alle fern von zuhause sein müssen und deren Söhne dazu verdammt sind, irgendwo im Osten ihr Leben zu opfern. Natürlich hat der Führergott recht: Vernichten, ausrotten muss man diese Feinde! Erst wenn alle diese Frauen und Kinder tot sein werden, erringen die Deutschen den Sieg! 317

Die Chronisten und ihre Texte

Wenn man das nur noch schneller erledigen könnte: sie alle von überall her zusammentreiben, nackt ausziehen, wie diese – schon nackten – Frauen, und sie alle in den Höllenschlund treiben! Wie herrlich das doch wäre! Dann würden das Trommelfeuer und der Bombenhagel endlich aufhören, endlich wäre Schluss mit dem Krieg und Ruhe auf der Welt. Die Kinder, die sich nach Hause zurücksehnen, würden endlich zurückkommen  – ein glückliches Leben würde für alle beginnen … Noch aber ist die letzte Hürde nicht genommen: Noch gibt es die Frauen, die Töchter meines Volkes, die sich irgendwo verstecken, die man hierherzubringen und nackt auszuziehen – wie diese schon niedergestreckten Feinde, die jetzt in den Tod marschieren – noch nicht vermocht hat. Und irgendeine Bestie schlägt mit der Knute auf ihre nackten Frauenkörper ein. „Los, ihr Feinde, lauft schneller in den Bunker, in das Grab! Jeder Schritt auf der Treppe, die in das Grab führt, bringt uns dem Sieg näher, der so schnell wie möglich kommen muss. Einen allzu hohen Preis zahlen wir für euch, wenn wir an der Front sterben. Also lauft schneller, ihr verfluchten Kinder, los, macht hin! Ihr seid es, warum wir immer noch nicht gesiegt haben.“ Die Reihen nackter Frauen ziehen sich dahin  – der Marsch stockt. Eine junge, hellhaarige Frau spricht zu den Banditen: „Ihr verfluchten Dreckskerle! Ihr starrt mich an, mit eurem lechzenden, bestialischen Blick. Ihr sättigt euch an meiner Nacktheit. Ja, es sind glückliche Zeiten für euch: In Friedenszeiten konntet ihr davon nicht mal träumen. Ihr Kriminellen und Verbrecher, endlich habt ihr den Ort gefunden, wo ihr euren abartigen Durst stillen könnt. Doch es bleibt nicht mehr viel Zeit, das zu genießen. Euer Spiel ist bald schon aus, alle Juden könnt ihr nicht töten! Alles werdet ihr büßen!“ Plötzlich springt sie zu ihnen vor und schlägt drei Mal auf den Oberscharführer Vost201 ein, den Chef, den Leiter des Krematoriums. Sie stürzen sich auf sie, schlagen mit Knüppeln auf sie ein. In den Bunker geht sie mit eingeschlagenem Kopf. Warmes Blut überströmte ihren Körper, das Gesicht aber strahlte vor Freude. Es war ein Glück für sie, um ihre Heldentat zu wissen: Sie hatte den für seine Gräueltaten berühmten Mörder und Banditen geohrfeigt. Sie hatte ihren letzten Wunsch erfüllt und ging beruhigt in den Tod.

201 SS-Oberscharführer Peter Voss.

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Salmen Gradowski: Texte

Gesang aus dem Grab Tausende Opfer stehen schon im großen Bunker in Erwartung des Todes. Plötzlich klingt ein Gesang daraus hervor. Wieder erstarrt die Bande der hohen Offiziere erstaunt. Sie trauen ihren Ohren nicht: Ist es denn möglich, dass Menschen im Bunker, im Herzen des Grabes, an der Todespforte, in ihren letzten Minuten weder klagen noch ihre jungen Leben beweinen, die in jeder Sekunde verloren gehen  – sondern singen?! Der Führer hat definitiv recht: Das sind Ausgeburten der Hölle! Kann denn ein Mensch derart ruhig, tapfer und gefasst in den Tod gehen? Die Melodie, die von dort ertönt, ist allen wohlbekannt. Auch die Banditen haben sie erkannt, für sie die Klänge wie scharfe Messer. Wie spitze Lanzen bohren sich diese Töne mitten in ihr Herz: Die halbtoten Menschen singen die Internationale202, die Hymne des großen russischen Volks, das Lied der großen siegreichen Armee – das ist das, was sie jetzt singen. Die Offiziere hören zu. Das Lied erinnert sie an die Siege an der Front, die jedoch nicht von ihnen, sondern von ihren Gegnern errungen wurden. Unwillkürlich lassen sie sich von der Melodie mitreißen. Wie eine Sturmwelle schießt das Lied in ihre besoffenen Gehirne ein, lässt sie ernüchtern, den Fanatismus vergessen und einen Augenblick lang daran denken, was wirklich geschieht. Das Lied zwingt sie, in ihre jüngste Vergangenheit zurückzublicken und dort eine tragisch entsetzliche Realität zu erkennen. Das Lied erinnert sie daran, dass der Führer, ihr Götze, zu Kriegsbeginn versprochen hatte, das riesige Russland werde in sechs Wochen erobert sein und über dem Kreml werde die Flagge mit dem schwarzen Hakenkreuz wehen. Wie sicher sie sich doch waren, dass das Kriegsende ebenso sicher wie der Kriegsbeginn sein würde. Doch was ist wirklich passiert? Die siegreichen europäischen Armeen, die ganze Völker auf Anhieb versklavt hatten, die am besten bewaffneten und von erfahrenen Feldherren

202 Lejb Langfuß beschreibt einen ähnlichen Vorfall, der sich Ende 1943 ereignete, als zusammen mit holländischen Juden eine große Gruppe polnischer Untergrundkämpfer ermordet wurde. Die Polen verhielten sich angesichts des Todes heldenhaft: Sie verfluchten Deutschland und rühmten Polen, sangen die polnische Hymne („Jeszcze Polska nie zginęła“ – „Noch ist Polen nicht verloren“). Die Juden sangen indes die Hatikva, und dann gemeinsam mit den Polen die Internationale (vgl. S. 438). Angesichts dessen, dass Salmen Lewenthal die genaue Anzahl der Polen (164) und einige weitere Details nennt, ist es anzunehmen, dass er bei dem Ereignis persönlich zugegen war.

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Die Chronisten und ihre Texte

befehligten, die Truppen, die ihres unweigerlichen Sieges gewiss waren und stets das alte Motto – „Deutschland, Deutschland über alles“ – skandierten, sind nun gebrochen und in die Flucht geschlagen worden. Sie stürzen von dem höchsten Gipfel herab in einen tiefen Abgrund. Die ganze Erde ist von den Leichen ihrer Soldaten bedeckt. Wo ist ihre Stärke, ihre Kampfkunst, ihre Technik, ihre Strategie? Warum konnten sie alle besiegen – nur die Russen, dieses rückständige asiatische Volk, nicht? Das ist sie doch, die Macht des Internationalismus, die dem russischen Volk die unbeschreibliche Kraft verliehen hatte. Die Muskeln der Russen sind wie aus Stahl geschmiedet, ihr Wille ist ein Sturm, der alles auf seinem Weg fortfegt. Die Melodie verstört die Offiziere: Wo ist denn die Gewissheit hin, in der sie sich bis gerade eben wähnten? In den Liedklängen hören sie die Schritte der Armeen, die majestätisch über die Gräber ihrer Brüder hinweg marschieren, sie hören den Kanonendonner, die Bombenexplosionen auf den Schlachtfeldern. Die Melodie schwillt an und der Gesang erschallt nun immer lauter. Alle sind vom Lied ergriffen, es braust von dort wie eine schäumende Woge, ergießt sich und rauscht überall, indem es alles ringsumher nun ausfüllt. Die Banditen-Offiziere, die Vertreter der starken Großmacht fühlen, wie jämmerlich und mickrig sie jetzt sind. Es kommt ihnen so vor, als wären die Liedklänge lebende Wesen, die der Armee entgegentreten, von denen eine so tapfer und stolz kämpft, während die andere, die sie hier vertreten, versteinert stillsteht und vor Angst erzittert. Die Gesangklänge rücken immer näher. Die Offiziere spüren, dass das Lied von überall her hereindringt, dass der Boden und die Wände unter ihren Klängen erbeben. Sie spüren, dass ihnen selbst kein Platz mehr bleibt, dass ihnen der Boden entgleitet, dass diese Welle bald alles unter sich begräbt. Die Melodie erzählt vom Sieg und von der großen Zukunft. Und die Banditen sehen schon, wie die Rotarmisten siegesberauscht durch deutsche Straßen stürmen und alles auf ihrem Weg zertreten, zerstückeln, zerlegen, verbrennen. Ein schwarzer Gedanke geht ihnen durch den Kopf: Das Lied prophezeit, dass sich die Rache bald erfüllt, von der die Jüdin sprach. Bald werden sie bezahlen für den Tod derjenigen, die jetzt singen und bald von ihrer Hand umkommen werden …

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Salmen Gradowski: Texte

Die Hatikva Die Offiziersbande atmet etwas freier auf, als das Echo des letzten Tones verklingt. Aber es dauert nicht lange: Aus vollem Herzen, aus ganzer Seele, stolz und lebensfroh, tapfer und sicher stimmen die Frauen ein neues Lied an: die Hatikva, die Hymne des jüdischen Volkes203. Auch dieses Lied ist ihnen gut bekannt, sie hörten es schon mehr als nur einmal. Und wieder stehen sie versteinert still. Auch dieses Lied weckt Erinnerungen, erzählt ihnen von etwas. Sie spüren, wie ein ganzes Heer der Toten zu ihnen spricht, die mit dem Gesang lebendig werden und Mut fassen: „Mörder und Banditen! Ihr dachtet, ihr könntet das ganze Volk Israel vernichten, dass mit dessen Vernichtung euer Sieg kommen wird. Nur habt ihr euch von euerm Führer, euerm „Gott“ irreführen lassen!“ Das Lied sagt ihnen auch, dass sie den Sieg über das Volk Israel niemals erringen werden. Die Juden leben überall auf der Welt  – in jenen Ländern, die deren Fuß noch nie betrat, und selbst in den Ländern, die sie bis heute noch beherrschen. Ihre Feinde können trotzdem nichts erzwingen, weil die übrigen Völker sie durchschaut haben und ihnen keine unschuldigen Menschen opfern, ihrer Barbarei und bestialischen Brutalität nicht dienlich sein wollen. Das Lied erzählt ihnen davon, dass das uralte jüdische Volk überleben und seine eigene Zukunft schaffen wird, dort, in seinem fernen Land. Es warnt sie davor, dass das Dogma, dem sie Glauben schenken – dass „von den Juden auf der Welt nur Museumsstücke übrig bleiben“204 und dass es niemanden mehr geben wird, der zur Rache aufrufen und selber Rache üben könnte –, dass das eine Lüge ist: Nach dem Sturm kommen Juden aus allen Ecken der Welt hierhin, um ihre Väter, Brüder und Schwestern zu suchen, um uns zu fragen: Wo sind sie, die Kinder unseres Volkes, gestorben? Sie werden fragen, wo ihre Schwestern und Brüder seien – exakt die, die in jedem Augenblick sterben werden, 203 Die Hatikva, auch HaTikwa (altjüdisch für „Hoffnung“), ist ein jüdisches Lied. Der Ursprungstext aus neun Strophen wurde um 1878 von Naphtali Herz Imber (1856–1909) aus Solotschiw (Galizien) verfasst und in seinem ersten Gedichtband veröffentlicht. Die Melodie stammt ursprünglich von einem italienischen Lied des 17. Jahrhunderts, „La Mantovana“, das im späteren Verlauf in etlichen europäischen Volksliedern, einschließlich jiddischer, aufgegriffen wurde (auch der tschechische Komponist Bedřich Smetana ließ sich davon inspirieren). Autor des Arrangements der Hatikva ist der Komponist Szmul Cohen (1888). Seit dem Jahr war das Lied zunächst die inoffizielle und ist seit 2004 schließlich die offizielle Hymne des Staates Israels (nur die erste Strophe und der Refrain). 204 Offensichtlich ein Rückgriff auf die antisemitischen Proklamationen der Nazis, die nach dem Krieg in Prag ein Museum des vernichteten jüdischen Volkes einzurichten planten.

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Die Chronisten und ihre Texte

bis dahin aber, in ihren letzten Minuten, singen sie! Sie werden ungeheure Armeen aufstellen, um sich an den Mördern zu rächen. Sie werden die Mörder zwingen, das Blut der Unschuldigen zu sühnen – jenes Blut, das sie jetzt gleich vergießen wollen, ebenso wie das, das sie längst vergossen haben. Die Hatikva lässt den Mördern keine Ruhe, sie beunruhigt, sie rüttelt sie auf, sie ruft und zerrt sie in den tiefen Abgrund der Verzweiflung.

Die tschechische Hymne205 Für sie dauert dieser Transport bereits eine Ewigkeit. Stunden haben sich in Jahre verwandelt. Die Banditen stehen gebrochen und frustriert da. Sie haben gehofft, sie sind sich sicher gewesen, heute einen großen Genuss zu erleben: zu sehen, wie Tausende junge jüdische Opfer leiden und unter Qualen erschaudern. Stattdessen steht eine Menge vor ihnen, die singt, die dem Tod ins Gesicht lacht. Wo ist nur die Rache abgeblieben, die heute genommen werden sollte? Wo bleibt denn die Strafe? Sie haben gehofft, den Durst nach jüdischem Blut aus dem Abgrund der Leiden stillen zu können – stattdessen stehen tapfere, gefasste Menschen singend vor ihnen. Und diese Lieder aus dem Grab sind für sie wie eine Plage, sie dringen ein in ihre bestialischen Herzen und lassen ihnen keine Ruhe. Es kommt ihnen so vor, als würden sie, die allmächtigen Banditen, heute angeklagt, als würde diese Menge nackter Frauen sich an ihnen rächen. Sie singen die Hymne des versklavten tschechoslowakischen Volkes. Sie lebten mit den Tschechen Seite an Seite, sie lebten ruhig und behaglich wie andere Bürger dieses Landes auch – bis die Barbaren kamen und alle Einwohner versklavten. Die Juden werfen den Tschechen nichts vor: Sie wissen, dass sie keine Schuld für ihr Unglück, ihren Tod tragen. Die Tschechen haben Mitleid mit ihnen, fühlen mit ihnen mit. Die Juden indes hoffen mit ihnen

205 Zur tschechischen Hymne wurde das Lied „Kde domov můj?“ („Wo ist mein Zuhause?“) des Komponisten František Škroup nach dem Text des Dramatikers Josef Kajetán Tyl aus der Musikkomödie „Fidlovačka“, deren Premiere am 21. Dezember 1834 stattfand. Das Stück erwies sich als unbeliebt und wurde aus dem Programm genommen. Zum zweiten Mal wurde das Stück erst 1877 aufgeführt. 1917, zum Ende des Ersten Weltkriegs, fand eine Neuaufführung statt. Im neuen historischen Kontext erfreute sich das Lied unwahrscheinlicher Beliebtheit und wurde bereits 1920 zur Nationalhymne der 1918 gegründeten Tschechoslowakischen Republik. Dass die tschechische Hymne gesungen wurde, berichtet auch der ehemalige Angehörige des Sonderkommandos Filip Müller (Müller, 1979. S. 174 f.).

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Salmen Gradowski: Texte

gemeinsam auf baldige Befreiung, auch wenn sie wissen, dass sie diese Stunde nicht mehr miterleben werden. Sie können sich die nächste Zukunft nur vorstellen, sie können sich nur vorstellen, wie das tschechische Volk sich erheben und nach dem Leben greifen wird. Deshalb eben singen sie die Hymne, die bald wieder in ihrer Heimat erklingen wird. Hoch in den Bergen, tief in den Tälern, allenthalben wird der frohe Gesang zu hören sein – der frohe Gesang des neuen erwachenden Lebens. Jetzt in diesem Moment schicken jüdische Frauen aus dem tiefen Grab dem tschechischen Volk, ihren Freunden, einen Gruß, um sie zu ermuntern, ihren Kampfgeist zu stärken und vor der Schlacht zu beseelen. Das Lied erinnert die Mörder daran, dass alle Völker bald befreit sein werden, so auch die Tschechoslowakei. Überall für alle Völker werden Freiheitsfahnen wehen. Was wird dann aus ihnen, den Unterdrückern und Tyrannen, die ganz Europa mit unschuldigem Blut überflutet haben? Wenn all die kleinen versklavten Völker zum Leben erwachen und sich erheben, wird das mächtige Reich gestürzt und vernichtet. Wenn die ganze Welt den Tag der allgemeinen Befreiung feiern wird, bricht für sie das Zeitalter der Sklaverei an. Am Tag des Sieges und des Friedens, wenn Menschen in den Straßen ganz Europas sich vor Glück küssen und umarmen werden, werden sie, die Mörder und Verbrecher, hinter Schloss und Riegel sitzen und zittern in Erwartung des Höchsten Gerichts – jenes Tages, an dem sie ihre Verbrechen vor der ganzen Welt sühnen werden. Wenn alle Völker neue Städte aus den Ruinen hochziehen werden, werden sie umso stärker ihr Unglück spüren. Der Tag der Befreiung wird für sie zum Tag der Trauer. Alle Völker, die gelitten haben, werden fordern, dass sie all das Unglück sühnen, das sie – und niemand sonst – der Welt gebracht haben. Ach, diese Lieder tun ihnen echtes Leid an – sie lassen weder Jubel noch Freude zu.

Das Partisanenlied Die letzten Autos rasen heran. Der Frauentransport ist fast ganz durch. Und siehe, noch ein Fall des Ungehorsams: Eine junge, gut entwickelte Frau aus der Slowakei lässt sich nicht entkleiden, sie will nicht in den Bunker, sie schreit, sie tobt, sie ruft die Frauen zum Widerstand auf. „Erschießt mich!“, bittet sie. Und diese Gnade wird ihr zuteil. Sie wird nach oben geführt, wo zwei Menschen mit gelben Armbinden ihr im Mondschein die Arme verdrehen. Die junge Frau 323

Die Chronisten und ihre Texte

windet sich wie wild. Ein Knall erschallt: Das ist die kultivierte Kugel der Bestie, die ihrem Leben ein Ende setzt. Wie ein dünnes Bäumchen fiel sie auf die Erde, ihr Körper blieb liegen, das Blut strömte aus, und der Blick blieb starr, immer noch auf die Luna gerichtet, die ihre nächtliche Wanderung fortsetzte. Gerade noch pulsierte in diesem Körper das Leben, jetzt liegt er da: ausgestreckt, die Arme ausgebreitet, als wollte sie in letzter Minute die ganze Welt umarmen. Von unten, aus dem Bunker her, ertönt nun wieder Gesang. Er unterdrückt die Angst und die Sorge, die die Herzen und Seelen der Elenden fast schon ergriffen haben. Die Frauen singen das Partisanenlied, das die Ausgeburten wieder wie eine Lanze mitten ins Herz trifft. Die Partisanen sind die heldenhaften Kämpfer für unsere Freiheit, viele Kinder unseres Märtyrer-Volkes haben sich den Partisaneneinheiten angeschlossen. Und wenn die Armeen der Bestien zerschlagen sind, wenn die Soldaten panisch in die Wälder und Felder rennen werden, um sich irgendwo in einer Grube oder Mulde, inmitten von Bäumen und dichtem Gebüsch zu verstecken, dann werden die Partisanen sie einholen, um ihnen den Vergeltungsschlag zu versetzen. Sie werden sie aus den Verstecken treiben und für alles und jeden zur Rechenschaft ziehen. Sie werden all unser Leid an den Henkern rächen. Brutal und grausam wird ihre Rache für all die Väter und Mütter, Brüder und Schwestern sein, die ohne Schuld getötet wurden. Landauf, landab werden sie sich an ihren Henkern rächen. Aus der Erde hervorgekommen, werden sie vor der ganzen Welt ein Zeugnis über die Grausamkeit ablegen, mit der diese Barbaren Millionen von Menschen weltweit vernichtet haben. Sie werden die siegreichen Armeen in die Wälder und Felder führen, um zu zeigen, wo die Hunderttausende unschuldigen Opfer liegen, die Überreste von Menschen, die lebendig begraben oder lebendig verbrannt wurden. Alles, aber auch alles werden die Henker sühnen! ** Kaum ist das letzte Opfer in den Bunker hineingegangen, wird die Tür hermetisch verschlossen und versperrt, damit da keine Luft eindringt. Die Elenden stehen dort in schrecklicher Enge, vielen bleibt die Luft weg wegen Hitze und Durst. Sie ahnen, sie wissen, dass es nicht mehr lange dauert: eine Minute, einen Augenblick noch, und ihre Qualen nehmen ein Ende. Und trotzdem singen sie weiter, um sich von der Wirklichkeit loszusagen. Sie wollen sich an den Wellen dieser Klänge festhalten, ein wenig noch mit ihnen mitschwimmen, zwischen Leben und Tod. 324

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Die hohen Offiziere stehen und warten, sie warten auf ihren letzten Atemzug. Sie wollen noch die allerletzte, allerhöchste Szene sehen: wenn Tausende Opfer erzittern, wie die Ähren im Sturm, und ihr letzter Augenblick kommt. Dann wird sich den Henkern das schönste Bild darbieten: 2.500 Opfer werden wie abgesägte Bäume aufeinanderfallen – und damit ist ihr Leben vorbei.

Das Gas wird hineingeschüttet In der nächtlichen Stille sind Schritte zu hören. Zwei Silhouetten bewegen sich im Mondschein. Diese Menschen setzen Masken auf, um das todbringende Gas einzuschütten. Zwei Dosen halten sie in den Händen, deren Inhalt bald Tausende Menschen umbringen wird. Sie gehen zu dem Bunker, diesem Höllenort. Sie gehen entschlossen, ruhig und kaltblütig, als würden sie eine heilige Pflicht erfüllen. Ihr Herz ist hart wie Eis, ihre Hände zittern nicht, festen Schrittes gehen sie an die Öffnung im Dach des Bunkers heran, schütten dort das Gas hinein und verschließen die Öffnung mit einem Deckel, damit kein Gas entweicht. Sie kriegen das schwere Gestöhne der Menschen mit, die bereits mit dem Tod ringen – ein schmerz- und qualvolles Gestöhne –, das ihre Herzen aber nicht erweichen kann. Taub und stumm gehen sie an die zweite Öffnung und schütten dort das Gas hinein. Sie sind nun an der letzten Öffnung angelangt … Jetzt kann man die Maske abnehmen. Selbstsicher und stolz gehen sie kühnen Mutes weg – weg von dem Ort, an dem sie gerade eine Tat von höchster Bedeutung für ihr Volk, für ihr Land vollbracht haben: ein weiterer Schritt auf dem Weg zum Sieg.

Der erste Sieg Die Offiziere steigen aus dem Bunker hoch, gehen wieder nach oben. Sie freuen sich, dass das Singen  – und damit auch das Leben der Singenden  – endlich ein Ende genommen haben. Nun können die Henker erleichtert aufatmen. Sie laufen davon, weg von den Geistern, dem Fatum, das sie verfolgte. Zum ersten Mal in ihrer Dienstzeit haben sie eine solche Verwirrung empfunden: Bislang mussten sie nie stundenlang angespannt dastehen und sich wie Verbrecher vorkommen, die von brennenden Ruten gepeitscht werden und den imaginären Schmerz spüren. Allein schon der Gedanke, dass sie von Juden – diesem Sklavenvolk, dieser Höllengeburt – bestraft werden, war für 325

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sie unerträglich. Endlich ist das vorbei, endlich kann man erleichtert auf­ atmen. Die Stimmen, die ihnen drohten und Vergeltung verhießen, sind verstummt. Die Menschen, denen diese Stimmen gehörten, sind nicht mehr am Leben. Nun können sie sich vom Gefühl des Entsetzens allmählich befreien, können die Freude des errungenen Sieges auskosten. Stolz und zufrieden kehren sie vom Schlachtfeld zurück. 2.500 Feinde, die ihnen beim Kampf für das Wohl ihres Volkes und des Reichs im Wege standen, sind schon tot. Jetzt werden die Armeen an der Ost- und Westfront es bei ihrem Kampf um den Sieg leichter haben.

Die zweite Front Nun gehen alle zum anderen Krematorium: die Offiziere, die Wachen und wir. Wieder reihen sich alle auf wie auf einem Schlachtfeld. Angespannt, in voller Gefechtsbereitschaft stehen alle da. Jetzt gelten noch strengere Sicherheitsmaßnahmen, denn während das erste Treffen mit den Opfern ruhig verlief und niemand Widerstand leistete, kann man dieses Mal alles Mögliche erwarten: Die Opfer, mit denen man sich jetzt wird anlegen müssen, die jeden Augenblick hierhin gebracht werden, sind junge starke Männer. Das Warten dauert nicht lange. Es erschallt der Autolärm, den wir schon kennen. „Sie kommen!“, schreit der „Kommandant“206. Das heißt, alles muss sich bereit­ machen. In der nächtlichen Stille ist zu hören, wie die Menschen ein letztes Mal vor der „Schlacht“ ihre Gewehre und anderen Waffen prüfen, um sicherzugehen, dass sie bei Bedarf funktionieren, wie sie sollen. Große Scheinwerfer erhellen den toten Platz. In deren Strahlen und im Mondschein schimmern die Läufe der Gewehre, von den Händen jener „Großmacht“ festgehalten, die gegen das arme, schutzlose Volk Israels kämpft. Zwischen Bäumen und hinter Stacheldraht schauen Köpfe wild hervor. Die Totenköpfe auf den Helmen dieser „Helden“, die so stolz ihre Uniformen ­tragen, spiegeln das Mondlicht. Wie die Teufel und Dämonen stehen diese Mörder und Verbrecher in der nächtlichen Stille und warten – ängstlich und begierig – auf neue Beute.

206 Gemeint ist Peter Voss (siehe oben).

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Die Enttäuschung Wir und sie sind allesamt angespannt. Die Vertreter der Macht haben ersichtlich Angst, dass die Masse verzweifelter Männer einen heldenhaften Tod würde sterben wollen. Wer weiß, ob dann nicht sie selbst in diesem Kampf umkommen. Auch wir stehen bereit. Das Herz klopft. Schon helfen wir den Männern aus den Autos. Wir hofften, wir glaubten, dass es heute geschieht, dass heute der entscheidende Tag kommt, auf den wir lange und ungeduldig warteten: der Tag, an dem die todgeweihten Menschen begreifen, dass es kein Zurück für sie gibt, und sich ihren Henkern widersetzen. Der Tag, an dem wir diesen ungleichen Kampf mit ihnen gemeinsam, Schulter an Schulter, austragen. Dass der Kampf aussichtslos ist, dass wir uns weder Freiheit noch Leben erkämpfen werden, hält uns nicht auf. Zum großen Trost wird für uns die Gelegenheit, heldenhaft aus diesem finsteren Leben zu scheiden. Dieser grausigen Existenz muss ein Ende gesetzt werden! Wie groß war unsere Enttäuschung, als wir sahen, dass diese Menschen, statt uns und sie wie wilde Tiere anzufallen, sich untertänig und ängstlich umschauten, als sie aus den Autos stiegen. Das Gebäude der großen Hölle eingehend betrachtet, ließen sie die Hände sinken und den Kopf hängen. Unterwürfig und niedergeschlagen machten sie den ersten Schritt auf den Tod zu. Alle fragten nach den Frauen, ob sie hier seien. Immer noch schlagen ihre Herzen nur ihretwegen, durch Tausende Fäden sind sie an sie gebunden. Ihr Leib, ihr Blut, ihr Herz und ihre Seele sind zu einem einheitlichen Ganzen verschmolzen – nur für sie. Doch wissen diese Väter, Brüder, Bräutigame und Bekannte nicht, dass ihre Frauen und Kinder, Schwestern, Verlobte und Freundinnen, an die allein sie gerade denken, die allein sie am Leben halten – dass sie längst tot sind, dass sie regungslos und für immer erstarrt in einem großen Gebäude, in einem tiefen Grab liegen. Sie wollen es nicht glauben, selbst wenn wir es ihnen erzählten: Der Faden, der sie mit den Frauen verband, ist längst durchtrennt. Einige werfen ihre Habseligkeiten wütend zu Boden. Dieses Gebäude mit den Schornsteinen, in dem täglich immer neue Opfer sterben, ist ihnen gut bekannt. Andere stehen wie versteinert da, pfeifen etwas vor sich hin, schauen wehmütig den Mond und die Sterne an, und gehen stöhnend in den tiefen Bunker herunter. Das dauerte nicht lang: Sie zogen sich aus und ließen sich ruhig im Bunker töten, ohne Widerstand.

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Er und sie Erst wenn Frauen, für die im ersten Krematorium207 der Platz nicht reichte, zu den Männern geführt werden, spielen sich herzzerreißende Szenen ab. Wie wahnsinnig laufen nackte Männer ihnen entgegen. Jeder sucht seine Frau, Mutter, Tochter, Schwester, Freundin unter ihnen  … „Glückliche“ Pärchen, die das „Glück“ haben, sich hier zu treffen, umarmen und küssen sich innig. Schaurig mutet dieses Bild an: Inmitten des großen Saales halten nackte Männer ihre Frauen umschlungen, Brüder und Schwestern küssen sich verlegen, weinen und gehen „munter“ in den Bunker. Viele Frauen bleiben einsam sitzen. Ihre Männer, Brüder und Väter sind als Erste in den Bunker gegangen. Sie denken an ihre Frauen, Töchter, Mütter und Schwestern, und die Ärmsten wissen nicht, dass im selben Bunker inmitten fremder Männer ihre Liebsten nackt stehen. Also schauen sie sich um, suchen in der Menge nach einem vertrauten Gesicht. Rasend irrt ihr Blick umher, von Leid und Qual erfüllt. Hier, inmitten der Männerschar, liegt eine Frau am Boden ausgestreckt, mit dem Gesicht zu den anderen: Bis zum letzten Atemzug suchte sie unter den fremden Männern nach ihrem Mann. Er aber, ihr Mann, stand irgendwo dort, fernab von ihr, an die Wand des Bunkers gedrückt. Besorgt stellte er sich auf die Zehenspitzen, suchte mit den Augen seine nackte Frau, die er irgendwo in der Menge verloren hatte. Sobald er sie aber bemerkt hatte, fing sein Herz an, wie wild zu schlagen, er streckte ihr die Arme entgegen, versuchte bis zu ihr durchzudringen oder sie wenigstens zu rufen – Gas wurde in die Kammer geworfen und er erstarrte im Tod, seine Arme der Frau entgegengestreckt, mit offenem Mund, mit hervorquellenden Augen. Er starb mit ihrem Namen auf den Lippen. Zwei Herzen schlugen im Takt. Im selben Augenblick blieben beide – von Wehmut und Trauer erfüllt – stehen.

„Heil Hitler“ Durch ein Fenster in der Bunkertür sahen die Machthaber, wie unzählige Menschen – eine riesige Schar – tot umfielen, durch Giftgas ermordet.

207 Gemeint ist das Krematorium II.

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Glücklich und zufrieden gehen sie im Bewusstsein des sicheren Siegs aus dem Grab hinaus. Nun können sie seelenruhig nach Hause fahren. Der schlimmste Feind ihres Volkes, ihres Landes ist vernichtet, ausgemerzt. Neue Möglichkeiten eröffnen sich nun! Der große Führer sagte, jeder tote Jude sei ein Schritt hin zum Sieg. Heute ist es ihnen gelungen, fünftausend Juden zu vernichten. Ein glänzender Sieg, ganz ohne Opfer, ohne Verluste aufseiten der Henker. Wer hat denn sonst so eine Tat vorzuweisen? Sie verabschieden sich voneinander, indem sie den Arm heben, gratulieren einander und setzen sich freudestrahlend in die Autos. Und die Autos bringen die großen Helden weg, die auf ihre Heldentat stolz sind. Bald werden sie am Telefon über das Vollbrachte berichten. Die Nachricht vom großen Erfolg und Sieg, der heute errungen wurde, erreicht den Führer persönlich. Heil Hitler!

Ein toter Platz Der Platz ist wieder still geworden. Hier gibt es keine Wachen, keine Autos mit Granaten, keine Scheinwerfer mehr. Plötzlich ist alles verschwunden. Totenstille herrscht wieder auf Gottes Erde, als ob sich der Tod aus dieser Hölle in einer Welle über die ganze Erde ergossen und die ganze Erde in ewigen Schlaf versetzt hätte. Die Luna hat ihren Weg mit herrschaftlicher Gelassenheit fortgesetzt. Die Sterne flimmern nach wie vor am tiefen blauen Himmel. Die Nacht zieht sich weiter hin, als wäre auf der Erde nichts passiert. Die Nacht, der Mond, der Himmel und die Sterne sind die einzigen Zeugen dessen geblieben, was der Teufel in dieser Nacht vollbracht hatte  – jener Tat, deren Spuren nicht mehr aufzufinden sind. Im Mondschein sind einige Säcke mit Sachen auf dem toten Platz zu erkennen: die einzige Erinnerung an das Leben, das es jetzt nicht mehr gibt. Ein paar Silhouetten bewegen sich hier: Menschliche Schatten heben eine schwere Last – einen Menschenkörper – vom Boden und schleppen ihn an die offene Tür heran. Dann kehren sie langsam zurück, nehmen einen anderen Körper und verschwinden damit in der Türöffnung. In der nächtlichen Stille ist zu hören, wie eine Tür geschlossen wird: Man schließt die Armen ein, die bald wieder zu dieser grausigen Arbeit gehen müssen. Da ertönen Schritte: Das ist der Wächter, der das Gräber-Haus durchstreift und all die Ärmsten, die in dieser Hölle arbeiten und die Körper ihrer toten Brüder und Schwestern tragen, mahnt, dass sie der Begegnung mit dem Tod werden nicht ausweichen können. 329

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Im Bunker Mit zitternden Händen schrauben wir die Muttern auf und entriegeln die Tür. Kaum stehen die Türen der beiden Kammern offen, schlägt uns die Welle des entsetzlichen Todes entgegen. Da stehen die versteinerten Menschen mir regungslosem Blick. Wie lange? Wie lange dauerten ihre Todesqualen? Wir haben noch ein anderes Bild vor Augen: dieselben Menschen in ihren letzten Lebensstunden, vollblütige, junge Männer und Frauen; wir hören noch den Nachhall ihrer Stimmen, uns verfolgt der Blick ihrer tiefen, tränenerfüllten Augen. Wie haben sie sich verwandelt: Abertausende Menschen, die gerade noch vom Leben erfüllt sangen und tosten, liegen jetzt tot und starr da. Kein Laut, kein Wort ist von ihnen zu hören: Verstummt sind ihre Münder auf immer und ewig. Ihr Blick ist für immer erstarrt, ihre Körper liegen regungslos da. In dieser Totenstille ist nur ein ganz leises, kaum wahrnehmbares Geräusch zu hören: Das sind Flüssigkeiten, die aus den toten Körpern fließen. Sonst passiert gar nichts in dieser großen toten Welt. Wir sind wie versteinert, gefesselt von dem Anblick, der sich uns offenbart: Vor uns liegt eine Unmenge nackter toter Körper. Sie liegen da, umeinandergeschlungen, als hätte der Leibhaftige persönlich sie in diesen sonderbaren Posen hingelegt. Ein Mensch liegt ausgestreckt auf den Körpern anderer Menschen da. Zwei umarmen sich und sitzen an der Mauer angelehnt. Manchmal ist nur der Rücken eines Menschen teilweise zu sehen, der Kopf und die Beine sind unter den Körpern anderer Menschen begraben. Jemand hat im Sterben eine Hand oder ein Bein ausgestreckt, während sein ganzer Körper im Meer anderer nackter Körper versunken ist. Eine ganze Leichenwelt  – doch dein Blick erfasst nur Bruchstücke des menschlichen Leibs. Diesmal sind viele Köpfe an der Oberfläche. Es scheint, als wären die Menschen in einem tiefen Meer nackter Körper geschwommen, und die Köpfe ragten über den Wellen auf. Die Köpfe – schwarze, helle, brünette Haare –, nur sie sind vor dem Hintergrund der Gesamtmasse aus nacktem Leib zu erkennen.

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An der Schwelle zur Hölle Es ist notwendig, dass das Herz zu Stein wird. Man muss die ganzen schmerzhaften Gefühle ersticken, man muss die entsetzliche Qual unterdrücken, die dich wie eine Flut ergreift. Du musst zu einer Maschine werden, die nichts sieht, nichts empfindet, nichts begreift. ** Wir haben uns an die Arbeit gemacht. Wir sind mehrere Menschen und jeder ist mit seiner Aufgabe beschäftigt. Wir reißen die Körper von dem toten Haufen los, zerren sie an den Händen, an den Beinen, wie es gerade passt. Es scheint, sie zerfielen deshalb in Stücke: Man zerrt sie über kalten, schmutzigen Betonboden, wie ein Besen sammelt der marmorne Körper den ganzen Dreck, die ganzen Ausscheidungen, über die er gezerrt wird. Dann werden die schmutzigen Körper aufgehoben und mit dem Gesicht nach oben hingelegt: Erstarrte Augen schauen dich an, als wollten sie sagen: „Bruder, was hast du mit mir vor?“ Nicht selten erkennst du die Körper deiner Bekannten – jener Menschen, in deren Nähe du gerade erst gestanden hattest, bevor sie in die Kammer getrieben wurden. Drei Männer bearbeiten eine Leiche. Einer zieht mit einer Zange die Goldzähne, ein anderer schert den Kopf, der dritte reißt den Frauen die Ohrringe aus, manchmal strömt Blut aus den Ohrläppchen. Kann ein Ring nicht abgenommen werden, wird er mit einer Zange abgerissen. Danach wird der Körper in einen Lift geladen. Zwei Männer werfen die Körper wie Holzscheite dort hinein. Sind sieben oder acht Leichen darin, gibt man mit dem Stock ein Zeichen, und der Lift fährt nach oben.

Im Herzen der Hölle Oben warten vier weitere Männer auf den Lift. Zwei stehen an einer Seite: Sie tragen die Leichen in die „Reserve“-Kammer. Zwei weitere schleppen die Leichen direkt an die Öfen. Die Körper werden je zwei an der Öffnung jedes Ofens abgelegt. Die Leichen der Kleinkinder werden beiseitegelegt: Sie werden später zu den Leichen der Erwachsenen hinzugelegt. Die Körper werden 331

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auf einem Metallbrett gestapelt, dann wird die Klappe geöffnet und das Brett in den Ofen geschoben. Die Flammenzungen lecken am toten Leib, das Feuer umschlingt die Körper wie einen Schatz. Erst fangen die Haare Feuer. Dann entstehen Blasen auf der Haut, die aufplatzen. Die Arme und Beine fangen an zu zucken: Die Sehnen ziehen sich zusammen und setzen sie in Bewegung. Sogleich ist der ganze Körper schon von Flammen umschlungen, die Haut platzt auf, alle Flüssigkeiten fließen aus dem Organismus heraus, und es ist zu hören, wie das Feuer zischt. Der Mensch ist nicht mehr zu sehen, nur ein Raum voll höllischem Feuer, in dem etwas ist. Der Bauch platzt, die Gedärme und Eingeweide fallen heraus und verbrennen in einigen Minuten ganz. Am längsten brennt der Kopf. Aus den Augenhöhlen schießen Flammenzungen: Es sind die Augen und das Gehirn, die verbrennen, und im Mund brennt die Zunge. Das ganze Verfahren dauert 20 Minuten, danach bleibt vom Körper, einer Welt, nur Asche übrig. Währenddessen stehst du regungslos da und schaust dir das an. Da werden zwei Körper auf das Brett gelegt. Das waren zwei Menschen, zwei Welten. Sie lebten, existierten, machten, schöpften, wirkten für die Welt und für sich, leisteten ihren Beitrag zum großen Leben, spannen ihren Faden für die Welt, für die Zukunft – doch gleich sind 20 Minuten vorbei und es bleibt von ihnen keine Spur mehr. Da werden zwei Frauen auf das Brett gelegt und gewaschen208. Sie waren junge schöne Frauen, noch vor Kurzem lebten sie als zwei Welten, brachten anderen Glück, spendeten Trost mit ihrem Lächeln, erfreuten mit jedem ihrer Blicke, jedes ihrer Worte klang wie zauberhafter himmlischer Gesang, allen schenkten sie Glück und Freude. Viele Herzen brannten vor Liebe zu ihnen. Und nun liegen sie auf einem Metallbrett, und sobald der Schlund sich öffnet, verschwinden sie darin nach einigen Minuten für immer. Dort liegen jetzt drei. Ein Säugling auf der Brust der Mutter. Wie viel Glück, wie viel Freude erlebten die Eltern bei seiner Geburt! Freude beherrschte ihr

208 So im Text. Laut Yakov Gabai, der im Krematorium III arbeitete, wurden die Leichen, bevor man sie in den Ofen schob, mit einem starken Wasserstrahl aus einem Schlauch bespritzt. In den Krematorien II und III wurde auch der Betonboden reichlich begossen, damit es leichter war, die Leichen vom Lift an die Öfen heranzuschleppen. Diese Anweisung hatte zum Ziel, keine verschmutzten Leichen in die Öfen gelangen zu lassen (Greif, 1999. S. 208). Regelmäßig wurden die Metallbahren zwecks Abkühlung mit Wasser begossen, damit die Haut der Leichen nicht an der heißen Bahre festklebte.

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Haus, sie dachten an die Zukunft, die ganze Welt kam ihnen wie eine Idylle vor. Und nun wird von ihnen in 20 Minuten nichts mehr übrig bleiben. Der Lift fährt hoch und fährt runter, er bringt immer neue Opfer. Wie im Schlachthaus liegt ein Haufen von Menschen da, in Erwartung, dass jemand sie nimmt. 30 Öfen209, 30 Höllenschlünde brennen in zwei großen Gebäuden. Unzählige Opfer verschwinden darin. Lange wird das nicht dauern: Bald schon werden alle 5.000 Menschen in Asche verwandelt sein. Das Feuer im Ofen dröhnt, wie eine Sturmwelle. Die Mörder, die Barbaren haben es entfacht, in der Hoffnung, mit seinem Licht die Finsternis ihrer schrecklichen Welt vertreiben zu können. Das Feuer brennt beständig, niemand unternimmt den Versuch, es zu löschen. Immer neue Opfer werden dem unablässig zugeführt, als ob unser uraltes Märtyrervolk eigens dafür geboren wurde. Oh, du große freie Welt! Wirst du diese Flamme jemals sehen? Haltet inne, ihr Menschen, schaut auf zum tiefblauen Himmel, der von Flammen verdeckt ist. Du, freier Mensch, sollst es wissen: Dies ist ein Höllenfeuer, in dem Menschen verbrennen! Vielleicht bleibt dein Herz nicht länger hart? Vielleicht kommst du hierhin und löschst diesen Brand? Und vielleicht bringst du den Mut auf, die Opfer und Henker zu vertauschen, und diejenigen ins Feuer zu schicken, die den Brand entfacht haben?

Der Abschied Einführung Lieber Leser! Dieses Werk widme ich meinen Kameraden im Unglück, meinen teuren Brüdern, von denen wir plötzlich getrennt wurden. Wer weiß, wohin man sie geschickt hat. Wir ahnen diesbezüglich jedenfalls nichts Gutes: Zu gut kennen wir „sie“. Ihnen widme ich diese Zeilen als Ausdruck meiner Liebe und Verbundenheit. Solltest du, mein lieber Leser, irgendwann verstehen wollen, wie wir lebten, dann denk dich hinein in diese Zeilen, und du wirst uns dir gut vorstellen und verstehen können, warum alles so und nicht anders war. 209 Gemeint sind zwei Krematorien je 15 Muffeln (II und III).

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Meinen Notizen kannst du entnehmen, wie die Kinder unseres Volkes umgekommen sind. Ich bitte dich, räche sie und uns, denn ich weiß ja nicht, ob wir, die über die faktischen Beweise all dieser Gräueltaten verfügen, die Befreiung noch erleben werden. Deshalb will ich mit meiner Briefbotschaft die Rachelust in dir entfachen, damit viele Herzen sich mit dieser Lust füllen, auf dass diejenigen in einem Meer aus Blut ertränkt werden, die mein Volk in ein Meer aus Blut verwandelt haben. Ich habe auch eine persönliche Bitte. Ich gebe meinen Namen nicht an, aber du bring ihn bitte bei meinen Freunden in Erfahrung und zeichne damit meine Schrift. So soll ein Freund oder Verwandter des Namens mit einem tiefen Seufzer gedenken. Und noch eine Bitte. Drucke bitte zusammen mit den Notizen auch das Foto meiner Familie aus – wie auch die Aufnahme, auf dem wir, meine Frau und ich, abgebildet sind. Soll jemand auch um meine Liebsten einen Seufzer ausstoßen und eine Träne vergießen, denn ich, ihr unglücklicher Sohn und verfluchter Ehemann, kann das nicht, bin dazu nicht imstande. In den sechzehn Monaten meines Lebens in dieser Hölle hatte ich keinen einzigen Tag, an dem ich mich hätte zurückziehen, mit mir selbst alleine sein können, um mein Elend zu sehen, zu empfinden und mir zu vergegenwärtigen. Der ununterbrochene Vorgang der systematischen Vernichtung, in den ich eingeschlossen bin, würgt das persönliche Leid ab, stumpft die Gefühle ab. Mein eigenes Leben verläuft im Schatten des Todes. Wer weiß, ob ich mein schreckliches Leid jemals werde in seiner Ganzheit empfinden und beweinen können … Meine Familie wurde am 8. Dezember 1942 verbrannt: Meine Mutter Sara Meine Schwester Liba Meine Schwester Ester Rachel Meine Frau Sonia (Sore) Mein Schwiegervater Rafael Mein Schwager Wolf Mein Vater wurde von ihnen am Jom Kippur 1942 in Wilna gefasst. Er war zwei Tage vor dem Ausbruch des deutsch-sowjetischen Krieges nach Litauen gefahren, um seine Söhne zu treffen. Sie, meine Brüder, wurden dort gefasst und ins Lager in Schaulen210 geschickt. Was danach mit ihnen geschah, ist unbekannt. Die Schwester Fejgele und die Schwägerin wurden in Otwock

210 Heute Šiauliai.

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gefasst und nach Treblinka gebracht, zusammen mit allen Juden. Das ist alles zu meiner Familie. (7) (30) (40) (50) – (3) (200) (1) (4) (1) (6,6) (60) (100) (10)211

Stillgestanden! Wir sind nach dem Appell in die Baracke zurückgekehrt. Plötzlich mitten im Stimmengewirr: das schrille Trillern einer Pfeife. Es kommt nicht selten vor, dass die Trillerpfeife uns aus der Baracke jagt, ohne uns Ruhe zu gönnen, ab zum neuen Appell – und jedes Mal gibt es dafür Gründe. Heute aber dringt das Trillern wie ein Sturm in die Baracke ein. Das Herz bleibt einem stehen, ein Gedankenblitz zischt durch den Kopf: Was, wenn dieses Trillern gegen uns gerichtet ist? Was, wenn man uns spalten, voneinander trennen und in den Tod schicken will? Das Gerücht, das sich gestern unter uns verbreitet hat, dass diejenigen unserer Brüder, die für die Arbeit im Krematorium nicht eingeteilt wurden, am Freitag mit einem Transport irgendwohin geschickt würden, erweist sich womöglich als richtig. Auf diesen Gedanken bringt einen auch, dass uns heute der Oberscharführer bei der Arbeit erklärt hat, die Information über den Transport sei nicht länger aktuell. Wenn es „nein“ heißt, heißt es eigentlich „ja“. Wir stehen aufgereiht, in schrecklicher Erwartung da. Was wird passieren? Vielleicht will man uns alle „liquidieren“? Aber wenn sie jetzt auch nur einige von uns abholen, dann ist das für die anderen trotzdem der Anfang vom Ende. Wenn man jetzt meinen Bruder nicht mehr braucht, dann werde vielleicht auch ich nicht mehr benötigt. Besorgt sprechen wir miteinander: Was denkst du? Wie siehst du die Lage? Plötzlich hallt der laute Schrei des Blockältesten auf: „Achtung!“ Der Lagerführer und alle seine Schergen sind da. Deren Gesichter kenne ich gut, bei einem Appell aber haben sie sich noch nie blicken 211 Wie Chaim Wolnerman in seinem Vorwort zur Edition von 1977 darlegte, hatte Gradowski auf diese Weise seinen Namen verschlüsselt. Gemäß der Tradition hat jeder Buchstabe des jüdischen Alphabets ein Zahlenpendant, weshalb die Methode verbreitet ist, Zahlen als Buchstaben aufzuschreiben (wird auch gegenwärtig eingesetzt, bei der Bezeichnung von Daten im religiösen Kalender, beim Nummerieren der Seiten in religiösen Schriften und bei Epitaphien). Überdies ist die Technik verbreitet, den Ziffernwert eines Wortes zu ermitteln (Gematrie). Gradowski schreibt aufeinanderfolgend die Ziffernwerte aller Buchstaben auf, aus denen sein Vor- und Nachname gebildet werden. Die beiden Ziffern 6, die durch ein Komma getrennt werden, bezeichnen einen Digraph, der aus den beiden Buchstaben „wow“ besteht (der Ziffernwert dieses Buchstabens ist die 6) und als [w] gelesen wird.

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lassen. Das letzte Mal haben wir sie hier vor fünfzehn Monaten gesehen, als wir für diese schreckliche Arbeit eingeteilt wurden. Was wird geschehen? Der üble Gedanke quält uns: Was wird geschehen, jetzt, wenn sie uns liquidieren wollen? Ängstlich und nervös blicken alle umher. Die „Gelbbinden“212 stehen auch mit bleichen Gesichtern da: Ohne Zweifel, sie haben etwas Ernstes vor. Jetzt vereint uns nur ein Gedanke, ein Problem. Alle sind traurig, bedrückt. Alle sind entsetzt und erschüttert. Angespannt warten alle darauf, was in den nächsten Minuten geschehen wird. Wir spüren plötzlich, dass die fünfzehn Monate des Lebens Seite an Seite und der schrecklichen gemeinsamen Arbeit uns vereint haben. Eine lose Gruppe von Kameraden ist zu einer unzertrennlichen Familie von Brüdern geworden. Wir spüren, dass wir bis in die letzten Lebensminuten Brüder bleiben werden, einer für alle und alle für einen. Jeder spürt den einen Schmerz, die gemeinsame Not, die Qualen kommender Leiden. Und wenn sich auch noch niemand diese Qualen vorgestellt hatte, so verstanden doch alle: Es wird „etwas“ geschehen. Jede „Veränderung“ verheißt, wie wir alle gut wissen, nur eins: den Übergang vom Leben zum Tod. Das Warten dauert nicht lange, bald erfahren wir einige Details: Der Rapportschreiber schreibt die Nummern jener Kameraden auf, die nicht länger im Krematorium im Einsatz bleiben werden. Allmählich lässt die Anspannung nach, die Angst, die gemeinsame Angst um uns alle, wird durch persönliche Angst, die Angst nur um sich selbst ersetzt: Wer absolut sicher ist, dass seine Nummer nicht genannt wird – bei dem hat das Entsetzen gleich wieder nachgelassen. Für unsere Familie war dies eine schicksalhafte Minute. Von da an entstand zwischen uns – wenn auch langsam und unmerklich – eine Kluft. Die Fäden, die uns verbanden, wurden gelöst. Durch unseren Brüder-, unseren Familienbund geht ein Riss. Da ist sie, die Schwäche, die Blöße jenes Wesens, das sich Mensch nennt. Der Überlebensinstinkt, der irgendwo tief in jedem von uns nistete, hatte sich in Opium verwandelt und vergiftete unmerklich, unsichtbar den Menschen, den Freund und den Bruder in jedem von uns, verdrängte das Mitgefühl: „Das betrifft dich nicht, du kannst ruhig bleiben, solange jemand anders aufgerufen wird“ – und es zwang, zu vergessen, dass „jemand anders“ dein Bruder ist, derjenige, der dir anstelle der Frau, der Eltern, des Kindes, der ganzen Familie geblieben ist … Ein bislang ungekanntes Gefühl hat die Brüder betäubt. Sie haben vergessen, dass, wenn einer von ihnen geopfert wird, es bald auch für das Leben des

212 Die jüdischen Kapos.

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anderen keine Verwendung mehr geben wird. Die Hoffnung auf Besseres und die Gewissheit, dass ihm persönlich „noch“ nichts drohe, sind zum Trost, zur Quelle von Mut und Kraft geworden – an die Stelle bisheriger Liebe hat sich Entfremdung gelegt. Jede neue Nummer, die der Rapportschreiber ausrief, war wie Dynamit, das die Brücke zerstörte, die uns verband. Entsetzt und erschrocken ist nur, wessen Schicksal sich jetzt entscheidet, wessen trügerisches Privileg verschwinden könnte. Wird es sie retten, dass sie für die hiesige Arbeit eingeteilt sind? Es fällt uns auf, dass die Männer, deren Nummern noch nicht aufgerufen wurden, versuchen, weiter nach hinten zu rücken und sich an die Mauer zu pressen. Wie gern würden sie jetzt weglaufen, sich irgendwo verstecken können, wo der Blick des Lagerführers und seiner Schergen sie nicht erhaschen könnte. Wer weiß, wer ihnen noch auffällt? Nur ein einziges Wort von ihnen löst dich aus der Masse, aus der Gruppe heraus, in der du dich scheinbar besser oder zumindest sicherer fühlen könntest. Alle wollen, dass das Vorlesen der Liste schnellstmöglich beendet wird. Jeder möchte das erdrückende Gefühl der Unruhe und Unsicherheit los­ werden. Am schwersten haben es diejenigen, die ungerechterweise von der Gruppe der Männer getrennt wurden, die den Krematorien zugewiesen sind, und die gezwungen werden, sich zu den Abfahrenden hinzustellen, um den Platz irgendeines Privilegierten einzunehmen, der im letzten Moment „beschlossen“ hatte, doch nicht mitfahren zu wollen, oder der bis zuletzt nicht geglaubt hatte, dass es so weit kommen könnte, weil ihm seine „Gönner“ – der Sturmoder Lagerführer – Hoffnungen machten … Deren bitteres Unglück ist doppelt so groß wie das unsere: Sie sind ja gerade erst hiergelassen worden, doch plötzlich wird ihnen befohlen, sich in die andere Kolonne einzureihen und den leeren Platz eines anderen einzunehmen. Sie fühlen sich so, als legten sie sich in ein leeres Grab hinein, das irgendjemand für die anderen, die privi­ legierten Häftlinge ausgegraben hat. Alle sind in zwei Gruppen aufgeteilt: die Aufgeschriebenen und die, die es nicht sind. Die schwarzen Gewitterwolken, die an unserem Horizont hingen, hängen erstarrt zwischen diesen beiden Gruppen, und es scheint, als hätte der Himmel über uns sich etwas aufgehellt, während über ihnen die schwarze Finsternis eingezogen wäre. Wer völlig sicher war, hiergelassen zu werden, beruhigte sich. Wer aber ganz bestimmt weggeschickt werden sollte, war von Angst und Schmerz ergriffen. Die stillschweigende Frage  – Wohin? Was kommt dann? – schwebte im Raum, in dem sie sich befanden, die Frage hing förmlich in der Luft. Es war, als würde das in großen Lettern geschriebene 337

Die Chronisten und ihre Texte

Wort WOHIN? vor ihren Augen hängen. Ihr ganzes Wesen, ihr Herz und ihre Seele waren von dem grauenvollen Gedanken erfüllt, der ihre Persönlichkeit aufwühlte und zerstörte: Wo bringt man uns hin? Was kommt auf uns zu?

Glaube Wir alle waren uns sicher, dass es ihnen nicht gelingen wird, das Vorhaben so leicht umzusetzen. Wir, die Arbeiter des Sonderkommandos, Brüder, würden beim ersten Versuch, unsere Familie zu zerreißen, zeigen, wer wir sind. Uns würde man ja nicht weismachen können, dass wir zu einem Arbeitseinsatz gebracht werden, zu dem wir und nur wir geschickt werden müssten. Wir waren Zeugen dessen, wie Tausende nützliche Menschen, die für das Reich wertvollsten Kräfte – die Arbeiter in den Fabriken zur Herstellung von Munition zum Beispiel – hierhin ins Krematorium gebracht worden waren. Nein, diese raffinierten verlogenen Verbrecher werden uns davon nicht überzeugen können, dass wir an anderer Stelle gebraucht werden. Nein, uns werden sie nicht belügen können! Sobald sie uns anrühren – uns, die geeinte Familie, den geeinten Organismus –, werden wir aufwachen und uns wie ein verletztes Tier auf den Feind stürzen, auf diese Mörder und Verbrecher, die unser unschuldiges Volk ausgelöscht haben. Es kommt der entscheidende Augenblick und wir werden unser letztes Wort sagen. Wie Lava aus dem Vulkan bricht dann die lange in uns brodelnde Rachelust aus uns hervor. Wir setzen dem Albtraum ein Ende, in dem wir seit fünfzehn Monaten zu leben gezwungen sind. Wir hofften, wir glaubten, wir waren zutiefst überzeugt davon, dass, wenn wir der Gefahr, unser Leben zu verlieren, gegenüberstehen, dass wir dann aufwachen und die schreckliche Realität ohne Beschönigung wahrnehmen werden  – und begreifen werden, dass all unsere Träume und Hoffnungen nichts als leere Fantasien und Illusionen waren, mit denen wir uns selbst gerne belogen, um die tödliche Gefahr nicht erkennen zu müssen, die uns täglich drohte. Wir hofften, dass, sobald wir spüren, keine Überlebenschance mehr zu haben, dass wir uns dem Feind dann in Würde widersetzen, uns an diesem barbarischen Volk für seine Verbrechen rächen, die in der Menschheitsgeschichte ihresgleichen suchen, dass wir dann nicht mehr bis zum letzten Ende warten werden. Wenn wir begreifen, dass für uns bereits das Grab geschaufelt wird, dass sich unter uns bereits ein Abgrund auftut, dann schlägt die große Stunde. Dann werden all die Wut und der Hass, all das Leid und der 338

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Schmerz ausbrechen, die in den schrecklich langen Monaten dieser tragischen Arbeit in uns reiften und unsere Rachelust nährten. Wenn die Zeit kommt, das eigene Leben zu schützen und zu rächen, dann wird der Vulkan erwachen. Ausnahmslos alle, unabhängig vom physischen Zustand und vom Charakter, werden von dem Höllenfeuer der Rachelust ergriffen sein. An der Schwelle zu unserem Grab, bei unserem letzten Atemzug werden wir alle die schreckliche Frage beantworten: Warum lebten wir im Herzen der Hölle, wie konnten wir hier überleben, wie konnten wir die Luft des Todes und der Vernichtung unseres Volkes atmen? Das alles haben wir geglaubt …

Dieser eine Wir waren alle schrecklich angespannt, die Gefühle brodelten, die Luft war wie bis zur Weißglut erhitzt, die Menschen waren wie Schießpulver: Ein Funke und die Flamme wäre entbrannt. Dieser Funke glühte in unseren Herzen, wartete auf einen Windstoß, der ihn entfacht hätte, doch die raue, kalte Welle löschte ihn aus. Diese geschulten Verbrecher, diese Mistkerle, deren einziger Wunsch es war, uns aufzuspüren, uns eine Falle zu stellen, uns zu fangen, haben unsere Absicht erkannt und unsere Einstellung gespürt. Sie haben unsere innersten Gedanken gelesen und unsere geistige Blöße darin erkannt. Und um unerwünschte Folgen zu vermeiden, um ohne Hindernis ihr Vorhaben umzusetzen und uns loszuwerden, haben sie nach dem altbewährten Leitsatz der englischen Politik gegriffen: „Teile und herrsche“. Sie haben unsere Familie geteilt und unser gemeinsames Bedrohungsgefühl zerstört – von nun an hatten nur die „Nicht-Eingeteilten“ Angst. In der Minute, in der die Brüder, die für die Arbeit im Krematorium eingeteilt geblieben sind, diese Gefahr vergessen konnten – die Gefahr, ihren Platz, den sie so sicher wähnten, zu verlieren –, hatten wir keine gemeinsamen Gefühle und Absichten mehr. Wer weiterhin Illusionen bezüglich seines Schicksals nährte, wer zu überleben, diesen Albtraum durchzustehen hoffte, fand sich nun entwaffnet wieder. Ihr Wunsch, zu kämpfen, war dahin. Der Selbsterhaltungstrieb hinderte sie daran, an Kampf und Rache auch nur zu denken. Wir wurden in zwei Gruppen aufgeteilt, die durch unterschiedliche Gefährdungen getrennt waren: die eine, über der eine grauenvolle Gefahr schwebt, und die andere, die sich der Bedrohung noch nicht bewusst ist. 339

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Ehemalige Brüder sind einander fremd geworden. Wer von uns für immer weggebracht wird, steht jetzt mit gesenktem Kopf da. Die Zuversicht, die unerschütterlich zu sein schien, ist verschwunden. Von den brüderlichen Gefühlen, von dem Gefühl der gemeinsamen Verantwortung – einer für alle und alle für einen – ist keine Spur mehr geblieben. Doch der bindende Faden zwischen denen, die wegfahren, und denen, die hierbleiben, ist noch nicht gänzlich gerissen. Denn die Eingeteilten haben trotzdem noch im Hinterkopf, dass ihnen keine geringere Gefahr droht, und jeder von uns fühlt sich so, als würden ihm bei lebendigem Leibe Stücke aus dem Körper gerissen. Und doch gibt es einen Unterschied zwischen uns: Das Privileg, das diejenigen bekommen haben, die dem Krematorium zugeteilt geblieben sind, gibt ihnen das Recht, zu denken, die ersten, die den Kampf aufnehmen müssten, das sind „sie“, die Menschen, über denen das Schwert bereits erhoben worden ist. Die menschliche Schwäche  – die Angst, sich selbst zu gefährden, das eigene ohnehin zum Tode verdammte Leben zu verlieren – hat sich eine gute Rechtfertigung zurechtgelegt. Alle schauten die Brüder an, die auf dem Platz in einer Kolonne aufgestellt waren. Man könnte meinen, ein Schritt von ihnen und auch wir würden, ohne zu zögern, in den Kampf stürmen. Alle würden ihren Drang mit Freude unterstützen, alle warten gespannt darauf, was in den nächsten Minuten passieren soll. Aber auch diesmal haben die Pfeile unserer Feinde ihr Ziel getroffen: Die Aufteilung hat auch diejenigen verwirrt, die doch eigentlich nichts mehr zu verlieren hatten. Sie sahen, dass zwischen uns eine Eisenwand aus dem Boden gewachsen ist, dass sie in Einsamkeit geblieben sind, dass uns mit ihnen nichts mehr verbindet. Auch wir sind diesem Irrtum verfallen. Hätte es nur einen Menschen gegeben, der sich die Fähigkeit, nüchtern zu denken, bewahrt, der der betäubenden Wirkung der Aufteilung, diesem Opium, das die Banditen in unsere versteinerten Herzen hineingespritzt haben, nicht nachgegeben hätte, wäre er in den Kampf gestürzt, dann wäre ein wahres Wunder passiert. Sein Wille hätte uns alle beflügelt, seine Bewegungen hätten den Sturm ausgelöst, die irgendwo in der Tiefe glimmenden Funken wären zu einer Flamme entbrannt, und die Welt hätte zum ersten Mal den Todesschrei des Piraten und den Jubelgesang eines Kindes des massakrierten Volkes gehört. Dies war unsere Chance, wir verspürten schon die Qualen, unter denen etwas Neues, bis dahin nie Dagewesenes entstehen sollte, die Qualen der Rache und des Heldentums. Doch unter diesen Qualen kam ein ganz anderes Kind auf die Welt: ein Kind der Feigheit. 340

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Im Block Wir sind in den Block – unser Grab zu Lebzeiten – getrieben worden. Unsere Brüder sind draußen, unter der Aufsicht der Lager-Banditen, geblieben. Wir laufen in den Block und bleiben wie angewurzelt stehen, als wären wir zum ersten Mal hier. Alle sind stumm und irren umher. Niemand wagt es, sich auf seine Pritsche zu setzen oder zu legen, erst recht nicht, etwas zu sagen, die Totenstille zu stören. Alle spüren die Tragik der Lage, alle begreifen, dass sich jetzt eine grauenvolle Szene abspielt, an der er beteiligt ist – aber niemand ist imstande, sich in das Geschehen hineinzudenken. Wir versammeln uns zu kleinen Gruppen, um das eigene Leid mit dem Leid eines Freundes zu vereinen. Alle fühlen, dass eine schwere Vorahnung in der Luft hängt, die von der Menge da draußen ausgeht, die Baracke ausfüllt und überallhin eindringt, wie eine Last das Herz und die Seele beschwert. Doch was das für ein Gefühl ist und worin es besteht, können wir nicht in Worte fassen. Eines fühlten wir: dass dort hinter der Wand die Menschen stehen, die uns am nächsten sind, mit denen wir gemeinsam wie eine Familie vor gerade mal einer Stunde hinausgegangen sind, mit denen wir als dieselben hätten zurückkehren sollen, wäre da nicht das unerwartete Unglück gekommen. Sie werden auf dem Platz festgehalten – wir werden niemals mehr zusammen sein können. Im Handumdrehen ist zwischen uns eine eiserne Wand aus dem Boden gewachsen: Wir sind hier im Block, sie aber werden niemals mehr hierhin gelangen können. Durch die Welt geht ein Riss. Diese Banditen, diese Mörder, deren siegesgewisses Jubelgeschrei wir leider mitanhören müssen, haben unseren einheitlichen Organismus in zwei Hälften zerrissen. Sie sezieren unseren Leib mit einem Skalpell. Wir fühlen es, immer noch durch tausende Fäden mit unseren Brüdern verbunden zu sein. Wir sind im Block, sie sind dort hinter der Wand, doch wir fühlen schon den qualvollen Schmerz dieser Trennung. Wir hören die Gespräche und die Wortwechsel unserer Kameraden und wissen, dass das ihre letzten Worte sind. Aber das Unglück, das uns betäubt, in Gänze begreifen – oh nein, dazu sind wir nicht imstande.

Der Abschied In dieser traurigen Atmosphäre der Baracke erschallt eine schrille, rohe Stimme. Sie gibt einen Befehl und scheucht dadurch die Menschen auf, die in ihre tiefe Trauer versunken sind: „Alle raus!“ Keiner von uns darf im Block bleiben, weil 341

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unsere Brüder, die auf dem Platz stehen, hierhin kommen, ihre Sachen und ihre Ration mitnehmen und sich von ihrem Block, der ihr Zuhause geworden ist, und auch von dem Lagerleben für immer verabschieden müssen. Aber wir, die Menschen, die Freunde, die Allernächsten auf der ganzen Welt, die ihnen geblieben sind, dürfen nicht mehr mit ihnen sein. Wir, ihre wenigen, noch am Leben gebliebenen Brüder, nach denen die Piratenhand noch nicht gegriffen hat, erleben diese Minuten auch als sehr schwer, wenn dem Bruder, der eigentlich mehr ist als ein Bruder – er ersetzt uns ja die Eltern, die Frau und die Kinder –, der letzte Trost genommen ist: uns die Hand zu schütteln, uns zu küssen und sich von uns zu verabschieden. Sie wollen in dem Moment des Abschieds ihre brüderlichen Gefühle zum Ausdruck bringen. Wir werden nach draußen geprügelt. Niemand kann auf der Stelle stehen bleiben. Eingeschüchterte, nervöse Menschen sammeln sich zu Grüppchen, gehen hin und her, die einen sprechen, die anderen schweigen, alle durchleben die schmerzvollen Momente. Alle fühlen, dass sie nicht hier, sondern dort hinter der Wand, im Block sein müssten, aus dem unsere Brüder bald hinausgehen werden. Wir wollen doch bei ihnen sein! Jeder von uns fühlt, dass er durch tausend Fäden mit den Menschen verbunden ist, die jetzt im Block rumlaufen, um ihre Sachen einzusammeln. Jedem kommt es so vor, als wäre er dort drin, während er doch eigentlich im Freien steht. Er und sie sind jetzt ein Körper und eine Seele, sie können sich nicht trennen, können sich nicht teilen – doch die grausame Hand schneidet bei lebendigem Leib ins geeinte Herz, reißt die eine Seele von der anderen ab. Sie spüren diesen Schmerz, den Schmerz einer chirurgischen Operation, die jetzt gerade stattfindet. Jeder würde die Elenden gerne trösten, ihnen Hoffnung geben, sie inspirieren, auf dass sie tapfer bis zur letzten Minute durchhalten. Jeder teilt das Leid, das unsere Brüder jetzt durchmachen, wenn sie auf ewig die Pritsche verlassen, auf der sie 15 Monate lang gelebt haben, sich von dem Block trennen, in dem sie 15 Monate lang lebten. Jeder von uns fühlt, wie sie hinter der Wand in unsere Richtung schauen, in dem Wunsch, uns, ihren Brüdern, in die Augen zu schauen, die von Kummer und Leid übervoll sind. Manche von uns drücken das Ohr gegen die kalte Wand, in dem Versuch, mitzukriegen, was sie in ihren letzten Momenten sagen, bevor sie für immer gehen. Als hätte die Wand, das letzte Hindernis zwischen ihnen und uns, unsere Herzen und Seelen zerrissen. Plötzlich stellt sich Stille ein. Die Brüder machen sich auf den Weg, werfen einen letzten Blick auf das Lager-Grab und treten unter Bewachung nach draußen. 342

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Wir sagen einander: „Sie gehen schon raus!“ Das Herz bleibt einem stehen: Alle spüren, dass etwas geschehen muss. Uns steht die letzte Abschiedsszene bevor. Alle erzittern in Erwartung der nächsten Minuten: Wir alle wissen, dass wir die Komplizen des Geschehens sind, und dass man mit uns wahrscheinlich das Gleiche vorhat. Wir haben uns zu einer Menge zusammengeschart und stehen ihnen gegenüber. Jeder von ihnen wollte sich vor uns aussprechen  – wir kamen ihnen ja wie echte Glückspilze vor –, zu uns herkommen, ein paar Worte mit uns tauschen, uns umarmen. Brüderliche Gefühle erfüllen sie, sie wollen diesen Gefühlen freien Lauf lassen. Jeder, sogar der, der dir vor einer Stunde fremd vorkam, ist dir jetzt lieb und teuer. Man will sich ihnen – wenigstens einem von ihnen  – an den Hals werfen, sie umarmen, küssen, wenigstens eine Träne vergießen, damit sie ihr gepeinigtes Herz erreicht und den Schmerz lindert. Alle hätten ihnen jetzt sehr viel zu sagen, ein Geheimnis anzuvertrauen. Alle wollen mit ihnen ihr vermeintlich glückliches Schicksal teilen, um sie zu trösten, zu ermuntern, zu bestärken – sie erstarren aber mit den offenen Armen, die sie uns entgegenstrecken: Die Lagerwachen haben uns schon getrennt. Doch unsere Blicke treffen sich. Sie sehen uns neidisch an. Und auch wenn ihnen klar ist, dass uns letztlich dasselbe erwartet, ist es dennoch offensichtlich, dass sie uns beneiden. Denn noch bleiben wir hier, wir gehen hinein in den hellen Block, setzen uns an den warmen Ofen oder legen uns auf die Pritsche, lassen den grauenvollen gestrigen Tag hinter uns, vergessen das grauenvolle Heute und das noch schlimmere Morgen, während sie wie vor fünfzehn Monaten in die Sauna abgeführt und gezwungen werden, ihre warmen Sachen abzulegen und die Stiefel abzunehmen – man wird ihnen Holzpantinen geben, die die Füße wie Fesseln belasten. Sie werden vor Kälte zittern, wie Abertausende andere Menschen, die wir tagtäglich sehen. Wohin bringt man sie dann? Was erwartet sie? Könnte es ein Schicksal sein, das die Abermillionen unserer Brüder und Schwestern ereilt hat, die aus den Häusern und angeblich zur Arbeit getrieben worden waren? Ihr Weg war ein einfacher: Sie kamen ins Krematorium und bald darauf blieb keine Spur mehr von ihnen über […]. Wir fühlen mit ihnen, wir wollen ihnen etwas zum Trost sagen, einen Teil ihrer Leidenslast abnehmen, die ihr Herz zerreißt. Doch wir müssen stillschweigend dastehen und die brodelnden Gefühle in uns erdrücken. **

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Und nun schlägt die letzte Stunde, die letzte Minute bricht an. Die große Gruppe, in Kolonnen aufgestellt, steht bereit. Die Menschen werden gezählt. Ja, alles stimmt. ** Zweihundert Brüder wurden uns entrissen, um sie irgendwohin zu bringen, auf einem fürchterlichen, mysteriösen Weg. Wir begleiten sie mit mitleidsvollen Blicken, wir sind bereit, ihnen zu helfen, ihnen alles zu geben, was wir haben, alles, was sie brauchen. Doch wir müssen regungslos dastehen. Ein Befehl ist zu hören: „Im Gleichschritt marsch!“ Alle seufzen schwer. Wir spüren, wie der letzte Faden reißt, der uns verband. Unsere Familie ist geteilt, unser Haus zusammengebrochen. Sie gehen. Die Herzen derer, die gehen, und derer, die bleiben, schlagen im Einklang. Wir schauen ihnen hinterher. Jeder der Gebliebenen flüstert ihnen seine letzten Wünsche und seinen Segen hinterher. Noch ist der riesige Schatten zu sehen, der sich in der Ferne bewegt. Das sind Menschen, die die ausgestorbene Straße entlanggehen. Zweihundert Brüder machen sich auf den letzten Weg, den der Teufel für sie vorgesehen hat. Sie gehen, mit ängstlich eingezogenem Kopf. Wir können unseren Blick nicht von ihnen abwenden, was das Einzige ist, das uns noch verbindet. Plötzlich ist alles verschwunden. Der Platz ist öde, ihre Stellen sind leer. Wir stehen da, verwaist und einsam. Unsere Augen blicken dorthin, wo unsere Brüder verschwunden sind.

Wieder im Block Wie eine Familie in tiefer Trauer, die ihre Angehörigen verabschiedet hat und vom Friedhof zurückkehrt – so fühlten wir uns. Wie untröstliche Verwandte, die mit dem Blick und in Gedanken immer wieder zum Friedhof zurückkehren – dem Ort, wo sie gerade eben ihre Angehörigen, einen Teil ihres Lebens verlassen haben –, so fühlten wir uns in jener Minute, als uns befohlen wurde, in den Block zurückzugehen. Ein Trauerzug, der sich in einer langen Schlange vom Friedhof zieht: Alle gehen mit tief hängendem Kopf, jeder in sein Leid versunken – so kehrten auch wir in unsere Behausung zurück.

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So wie Angehörige, die einen geliebten Verwandten verloren haben, den Schmerz der frischen Wunde spüren, die der erbarmungslose Tod ihnen zugefügt hat – so trauerten auch wir damals. So wie in Trauer gehüllte Menschen, deren ganzes Wesen vom Erleiden des Übergangs vom Leben in den Tod durchzogen ist  – so waren wir in dem Moment. Einen Nächsten verloren, glaubst du, ein Stück deines Selbst verloren zu haben – ein Stück, ohne das du nicht leben kannst, ohne das du zerrissen bist. Mit einem solchen Stein auf dem Herzen kehrten wir zurück an die offenen Türen der Baracke. So wie eine Familie, die in das Haus zurückkehrt, aus dem vor wenigen Stunden der leblose Körper eines nahen Verwandten hinausgetragen wurde – so fühlten wir uns. Ein Geist der Trauer und Trübsal erfüllte den ganzen Block. Gleichsam verwitwet und verwaist gingen wir mit zögerndem Schritt auf versteinertem Erdboden. Mit Tränen in den Augen schauten wir auf die unordentlich herumliegenden Sachen, die unsere Brüder verzweifelt an verschiedenen Stellen verteilt hatten. So wie eine Trauergemeinde, die das Zimmer betritt, wo die Leiche des Toten gelegen hat, spürt, wie alles nach Tod atmet – so schien es auch uns, als wir unsere gemeinsame große Baracke betraten, wo vor Kurzem noch unsere Brüder gelebt hatten: Die Luft ist mit Elend gesättigt, alles – die Wände, die Pritschen – strahlt Unglück aus. Vor Kurzem noch pulsierte hier das Leben, in jeder Ecke war dessen Atem zu spüren – doch plötzlich ist es verschwunden. Stattdessen: etwas Totes, Leeres, Erstarrtes, Regungsloses, das dich wie ein Gespenst erschreckt, dich wie ein böses Schicksal verfolgt, dich durchdringt, in dein Herz, deine Seele eindringt, als hättest du selber nicht mehr lange zu leben. So wie vor Unglück zerstörte Verwandte die Sachen des Verstorbenen anschauen – so schauten wir den Boden an den Pritschen unserer Brüder an: Dorthin wurden Sachen geworfen, die man gerade noch gebraucht hatte. Jetzt aber lagen sie da, wie ärztliche Verschreibungen, die ein nach schwerer Krankheit verstorbener Mensch hinterlassen hat. Diese Sachen gehören niemandem mehr, sie werden niemandem mehr nützen. Sie werden nur schmerzvolle Erinnerungen an diejenigen verursachen, mit denen du gerade noch durch tausend Fäden verbunden warst, und die für immer verschwunden sind. Du trittst auf irgendeine Sache und bleibst stehen, von jähem Schmerz getroffen: Gerade noch hat diese Sache deinem Bruder gehört, sie 345

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wahrt die Wärme ­seiner Hände und den Blick, mit dem er sie gemustert hatte, ehe er sie auf den Boden warf. Dass wir verwaist sind, haben wir deutlich gespürt, als wir die Augen erhoben und diese schreckliche Leere sahen, die den Geist des Todes ausströmte. Es schien, als streckten sich unsichtbare Arme aus dieser tödlichen Leere uns entgegen, um die noch Lebenden zu ergreifen und den Abgrund mit ihnen zu füllen. Die Augen derer, die den Tod der Nächsten betrauern, sind voll des Todes. Sie können sich davon nicht befreien, weil das Todesgefühl bereits zum unvermeidbaren Bestandteil ihres Lebens geworden ist. Wir fühlten das Gleiche: Der Tod ist nah, wir können seine Anwesenheit nicht abschütteln. Leben und Tod – zwei Gegensätze, wenn auch im Schmerz stets voneinander getrennt – sind hier zu einem Ganzen verschwommen. Wie jemand, der seine Angehörigen verloren hat, die Erinnerung an die Verstorbenen zu erhalten, sich ihren Anblick im Herzen einzuprägen versucht – so lebten auch wir von der Erinnerung an die, die wir verloren hatten. Wir haben begriffen, dass die Brüder, die uns entrissen wurden, ein Teil unseres Organismus gewesen waren. Mit jeder Körperzelle spürten wir das. Wie sollen wir weiterleben? Wie sollen wir denken und fühlen? Ohne die Brüder, die uns verlassen haben, können wir jetzt keinen einzigen Schritt mehr machen.

Die Boxen Jeder von uns hat eine eigene Box in der Baracke. Das ist dein persönlicher Raum, die einzige Ecke, die dir auf diesem verdammten Stückchen Erde  – dem elendsten auf der Welt – bleibt. Die Box wird dir zum treuen und vertrauten Freund, zum Bruder, der für dein Leid empfindlich ist. Sie ersetzt dir das Haus, die Familie, die Frau, das Kind. Das ist das wenige, das man dir an diesem teuflischen Ort, in dieser Welt der Grausamkeit, der Rohheit und Barbarei, wo menschliche Empfindungen längst ihren Wert verloren haben, noch gelassen hat. Es scheint, als wären die Boxen der Fortgegangenen in Trauer gehüllt. Sie stehen da wie eine Mutter, die ihre Kinder betrauert, die ihr plötzlich weggenommen wurden. Tritt näher heran, und du hörst ihre weinende Stimme. Hier sind die Fotos der Kinder, die deine Brüder waren und nun für immer verschwunden sind. 346

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Das Äußere dieser Boxen erinnert dich daran, dass du jeden, der darin lebte, seit fünfzehn Monaten kanntest. Sie alle hast du jeden Morgen, jeden Tag und jeden Abend gesehen. Mit ihnen gemeinsam hast du viele Ereignisse erlebt. Nun siehst du sie, noch lebend, voller Kraft, du spürst ihren Blick, schaust ihnen in die Augen […] Das ist ein teuflisches Spiel: Du siehst sie noch zu Lebzeiten, hörst ihre Stimmen. Und plötzlich verschwindet alles, als würde es in einem Augenblick in der Erde versinken. Wie viele unterschiedliche Menschen, wie viele Gesichter und Charaktere hier doch gewesen sind! Jeden Abend setzten sich die Tiefgläubigen unten zusammen und studierten bei Kerzenlicht die Prokim213 aus der Mischna214 und vertieften sich in die Streitgespräche der Talmudgelehrten; dort oben saß ein Büßer und rezitierte fromm Psalmen und Maymodes215 oder hörte sich hinein in das Streitgespräch der Kenner des Schulchan Aruch216. Aber es gab auch solche, die versuchten, sich mit Spielen oder sonstigem Unsinn zu zerstreuen: Sie wollten ihr Leid durch äußerliche Sorglosigkeit überspielen. Diese Abende schufen eine Vielfalt und verliehen dem grauschwarzen Lagerleben, unserem tragischen Dasein, etwas Farbe. Dies war eine Insel der Harmonie in dieser Höllenwelt – aus jeder Box erklang quasi ein eigener Ton: Mit anderen Tönen zusammen gestalteten sie sich zu einer Melodie. Jede Box lebte ihr eigenes Leben, das uns auf unsichtbare Weise stützte, uns Hoffnung, Mut, Gewissheit gab, die wir doch so sehr brauchten: ein Leben, das unsere Existenz mit Sinn erfüllte und Fäden spannte, die uns zu einer unzertrennlichen Familie verbanden. Nun stehen wir an der Schwelle zum Grab und der grausige Tod schaut von dort zu uns herauf. Wenn du in der Nähe der Box eines Verstorbenen bist, fühlst du, wie die seelenlosen Gegenstände um die Menschen trauern, die gestern noch hier gewesen sind. Diese Boxen können von dem Leid und den Qualen berichten, die ihren ehemaligen Besitzern zugestoßen sind, von den Tagen und Nächten, als sie und nur sie allein das leise Gewimmer hörten, das dem gepeinigten Herzen dieser unglücklichsten aller Menschen entfuhr.

213 Jiddisch für „Kapitel“ (heutiges Jiddisch: Perakim). 214 Ein Werk früherer Rabbiner-Literatur, der früheste Teil des Talmuds (die endgültige Fassung der Mischna wird dem Rabbiner Jehuda ha-Nasi, 220 v. Chr., zugeschrieben). 215 Eine Auswahl heiliger Texte, die jeden Wochentag beim Gebet gelesen werden. 216 Eine Sammlung jüdischer Gesetze, die im 16. Jahrhundert vom Rabbiner Joseph Karo erstellt wurde.

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An jenen schrecklichen Tagen, als unsere Brüder einen Freund suchten, mit dem sie ihr Leid hätten teilen können, ein Herz, das ihre Qualen hätte verstehen können, war niemand in der Nähe, der bereit gewesen wäre, ihnen zuzuhören, weil alle um sie herum im selben Meer aus Qualen und Schmerzen versanken, und jeder sich einen Freund wünschte, dem er alles hätte anvertrauen können. Wir alle erstickten diese Schmerzen in uns, pressten unser Leid so tief es geht in uns hinein, versuchten, es zu betäuben. Und die schwere Kette unseres Leids wurde größer, erdrückte uns mit der schweren Last, presste uns an den Boden, zerbrach uns. Dann ging jeder von uns in seine Box, die immer bereit war, einen Leidenden aufzunehmen. In der Box gab es Platz für den entkräfteten Körper, man konnte sich hinlegen und mit der Decke zudecken, wie in Kindheitstagen. Der Körper taute auf, es wurde warm ums Herz. Die unerträgliche Anspannung, in der wir den ganzen Tag verbrachten, ließ nach, und aus den Augen strömten heiße Tränen … […] Wegen all dem – der Wärme und der Tränen – wurde es leichter ums Herz. In der Box, in der Atmosphäre vom Wärme und Behaglichkeit – insofern man an diesem schrecklichen Ort überhaupt von Behaglichkeit sprechen kann – schwärmte jeder gedanklich von der Kindheit, dachte an die Eltern, dann an die Frau, an die eigenen Kinder. Das damalige Leben zog an den Augen vorüber: Alle gemeinsam – die Kinder und die Eltern, der Mann und die Frau – lebten glücklich und sorglos. Und jetzt? Jetzt liegt er einsam hier, allein, ohne Frau und Kind, die Eltern längst verloren. Er denkt an diesen Albtraum, denn er hat ja mit seinen eigenen Augen gesehen, wie seine ganze Familie verbrannt wurde. Nur stand er damals in stumpfer Erstarrung da, ohne das Geschehen begreifen zu können. Jetzt erst, im Augenblick der Erinnerung, kommen ihm Tränen in die Augen. Seit Langem schon wartete er auf den Augenblick, in dem er seine Angehörigen beweinen kann: die Eltern, die Frau, das Kind, die Geschwister. Lange Zeit konnte er das nicht tun, weil es in ihm scheinbar kein lebendiges Gefühl mehr gab. Heute erst erlebt er endlich den Augenblick des Erwachens: Die Wärme schmolz das Eis seines Herzens, die Tränen reinigten seine unheilbaren Wunden. Welch ein Glück war das für seine gepeinigte Seele! Unsere Boxen durchlebten scheinbar dieselben Erlebnisse wie wir. Gingen wir zur Arbeit, so schienen sie ungeduldig auf unsere Rückkehr zu warten, um zu erfahren, was wir tagsüber gesehen haben, wie viele Tausend leben vor unseren Augen umgekommen sind, woher diese Menschen­ Unglücklichen kamen und wie sie getötet wurden … Wie viele schreckliche 348

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Geheimnisse, wie viele herzzerreißende Geschichten bewahren diese kalten Bretter für sich! In schlaflosen Nächten, als wir uns in Qualen hin und her schlugen und nicht beruhigen konnten, weil die brodelnden Wogen unserer Trauer uns von Seite zu Seite warfen  – nur von diesen Brettern konnten wir Mitleid erwarten. Wir kehrten an unsere Pritschen zurück, gequält von den schrecklichen Sorgen und der physischen Entkräftung, gebrochen, vernichtet, verzweifelt. Kraftlos fielen wir hin, wie abgeschnittene Ähren, in die ausgebreiteten Arme des Schlafes, und die ganze Nacht hindurch waren ununterbrochen schwere, qualvolle Seufzer zu hören, die unseren blutenden und schmerzenden Herzen entfuhren. Einer schrie deutlich auf: „Oj, Mama  … oj, Mama“. Ein anderer, unter einem schrecklichen Albtraum leidend, sprach nur ein Wort: „Papa“. Ein dritter warf sich im Schlaf hin und her, schrie, murmelte die Namen seiner Frau und seines Kindes, heulte hysterisch. In der Nacht erlebten alle immer und immer wieder das schreckliche Unglück, das ihre Familien längst ereilt hatte. Jeder sah aufs Neue, wie seine Liebsten und Teuersten erbarmungslos aus seinen Händen gerissen wurden. Er ist umzingelt von irgendwelchen Bestien-Menschen, alle mit brutalem, durchdringendem Blick. In den Händen halten sie Revolver und Gewehre. Er fleht sie an, er weint, er schreit, aber niemand hört ihn – also läuft er weg […] Nach wenigen Minuten sieht er seine Verwandten entblößt: Hier sind die Mutter, der Vater, die Schwestern, die Brüder, die Frau mit dem Säugling in den Armen. Sie alle wurden aus der Holzbaracke getrieben und gezwungen, barfuß über die eiskalte Erde zu gehen. Der Wind peitscht ihre nackten Körper. Die Elenden zittern vor Kälte und Angst, weinen, schreien schmerzvoll auf, schauen sich entsetzt um. Man erlaubt es ihnen nicht, anzuhalten. Wild bellende Hunde fallen über sie her, beißen zu, reißen an ihren Körpern. … Einer Frau hat ein Hund das Kind entrissen und zerrt an ihm herum, schleppt es über die Erde. Der Himmel erzittert wegen der Schreie. Die Mütter schlagen hysterisch um sich. Es kommt einem so vor, als spielte sich auf dieser verdammten Erde ein unvorstellbar teuflisches Spektakel ab: Nackte Frauen, Männer, Kinder laufen vor den Hunden weg, die von Menschen in Militäruniform mit Knüppeln und Peitschen in den Händen auf sie gehetzt werden. Plötzlich hört er inmitten dieser schrecklichen Schreie eine vertraute Stimme: Seine alte Mutter ist gestürzt, die Schwestern versuchen, sie aufzu349

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richten, können es aber nicht. Schon läuft irgendeiner mit einem Knüppel in der Hand auf sie zu, schlägt auf sie ein – auf die Mutter und auf die Schwestern –, schlägt auf ihre Köpfe ein. Das mitanzusehen, ist unerträglich. Er stürzt zu seiner Mutter, will hinlaufen und alle retten, kann aber nicht. Da hört er den Schrei seiner Frau: Das Eis ist gebrochen und sie ist mit dem Kind ins Wasser gefallen. Sie ruft zu Hilfe, zwei Menschen ziehen sie wie eine Leiche an den Armen, der Säugling ertrinkt und versinkt im eiskalten Wasser, während rundherum Menschen mit Hunden herumstehen und zynisch lachen, als spielte sich eine Komödie vor ihnen ab. Er stürzt los, läuft zu den Ertrinkenden, will sie festhalten, aus dem Wasser ziehen, ihnen warme Kleidung geben und mit ihnen zusammen irgendwohin flüchten. Aber er ist in einer Falle, die Hände und Füße sind ihm gebunden, er kann sich nicht rühren. Und wieder sieht er die Brüder und Schwestern. Seine Mutter liegt auf ­kaltem Zementboden, die Schwestern halten ihren Kopf hoch, bedecken sie mit Küssen, der Vater und die Brüder weinen … Wo ist seine Frau mit dem Kind? Er sucht sie. Endlich sieht er: Die Frau liegt ausgestreckt auf dem Boden da, das Kind in ihrer Nähe  – und ganz nah steht der Mörder mit einem Revolver und zielt. Er schreit im Schlaf, er heult wie ein verletztes Tier. Sein Kamerad, der auf der nächsten Pritsche schläft, wacht wegen der Schreie auf und weckt ihn. Nun liegt er da, betäubt, er kann es nicht fassen, als ob er gerade erst auf einem Schlachtfeld gewesen wäre. Wie sehr der Bruder auch darum bat, ihm zu erzählen, wovon er geträumt hatte, er lehnte es ab. Leise weinend, den Albtraum des Erlebten noch in den Gliedern, lag er weiter da, sprachlos, bis zum Morgenappell. Auch freudige Nächte gab es. Sie waren wie eine lebendig sprudelnde Quelle in dieser versteinerten toten Wüste. In solchen Nächten schmiegten wir uns an die schwermütigen Bretter wie an den Körper der Geliebten. In solchen Nächten nahm der Schlaf uns, die elendsten Kinder dieser Welt, in seine Arme und brachte uns zurück, ins damalige Leben, in die glückliche Atmosphäre damaliger Tage, von welcher wir bei Tageslicht hoffnungslos getrennt waren. Großzügig gab die Nacht einem Unglücklichen dessen Haus, Eltern, Geschwister, Frau und Kinder zurück. Dieser Mann, der einem Schatten gleicht – unglücklich und zermürbt –, ist jetzt zufrieden und sorglos, ein Lächeln erscheint auf seinem Gesicht: Er ist wieder im Kreise der Familie. Vater, Mutter, Schwestern und Brüder (sogar die, die sonst unterwegs sind), er selber mit Frau und Kind: Alle haben sich versammelt und sitzen gemeinsam an festlich gedeckten Tafeln, 350

Salmen Gradowski: Texte

essen, singen, lachen, scherzen. Er, der junge Vater, spielt mit dem Kind – es freut sich, springt herum und tanzt. Alle sind glücklich und zufrieden: Es ist ein Festtag im Hause, alle sind gut gelaunt, alle genießen den Frieden und das sorglose Glück. Seine Frau singt, und alle sind verzaubert vom süßen Klang ihrer Stimme. Der Gesang schleicht in das Herz ein, erfüllt die Seele und den Körper, und alle stimmen ein in die angenehme Melodie, singen mit. Diese süßen Klänge beflügeln, erheben  … Wie glücklich er doch ist: Eine neue fantastische Welt eröffnet sich ihm gerade … Jäh bricht der Gesang ab. Ein scharfer Ton dringt ein, der ihn aufweckt. Das ist der Lagergong: Zeit, aufzustehen. Er aber blieb betäubt liegen, als wäre er bewusstlos. Wo ist er? Ist das denn wirklich nur ein Traum? Noch sieht er ihre Gesichter, hört ihr sorgloses Lachen, seine Hände spüren noch die Wärme des Kindes, welches er gerade eben noch ans Herz gedrückt hat. Es scheint ihm, als hätte er gerade eben noch mit seiner Frau gesprochen – er weiß sogar noch, worüber! War das denn alles nur ein Traum? Und sie alle – Mama, Papa, Schwestern, Brüder, Frau und Kind –, sind sie nicht mehr auf der Welt? Ja, sie wurden längst verbrannt, er ist allein geblieben, einsam und unglücklich in dieser teuflischen Welt. Ach, warum nur hat der Gong ihn aufgeweckt? Wie glücklich er doch wäre, könnte er für immer in den süßen Traum versinken und nie wieder aufwachen. Ach, das wäre ein wahrlich glücklicher Tod! Stattdessen muss er, kraftlos, verdrossen und verzweifelt, seinen müden Kopf erheben, aufstehen, seinen Häftlingsanzug, Sachen wie Ketten, überstreifen und zögerlichen Ganges sich in der Fünferreihe aufstellen, um von dort aus nach dem Appell wieder zu seiner höllischen Arbeit aufzubrechen. Seine Box ist leer geworden, und es scheint, als trauerte sie mütterlich um ihren lieben Sohn, auf den sie wartet.

Der Trauerappell Wieder sind wir auf den Hof beordert worden, wo sich jüngst die grausame Abschiedsszene abspielte. Es kommt unser erster Appell nach der Aktion. Gleich wird man uns die offiziellen Daten verkünden: die Zahl der Gebliebenen und den Status, indem man die an unserem Organismus durchgeführte Operation bestätigt. Wir stellen uns wie üblich in Zehnerreihen auf – und der halbe Hof bleibt leer. Es geht ein Todeshauch von dieser Hälfte aus. Du spürst es, das Gefühl 351

Die Chronisten und ihre Texte

des in deiner Nähe stehenden Todes überkommt dich und lässt dich nicht los: Sie waren ja heute noch da, beim gewöhnlichen Morgenappell waren sie, unsere Brüder, alle hier. Jetzt herrscht an ihrer Stelle eine seltsame gähnende Leere. Es ist ein Gefühl, als hätte man dich in zwei Hälften zerschnitten. Eine Hälfte ist dir geblieben, du hältst dich kaum auf den Beinen. Die Wunde ist noch frisch, das Blut darauf noch nicht geronnen. Alle stehen mit gesenktem Kopf, gebückt. Gespräche sind nicht zu hören: Niemand wagt es, diese traurige, tote, starre Stille auch nur durch ein Wort zu stören. Alle sind vom Unglück ergriffen, das sich überall ergießt und überall eindringt, als schwämmest du in einem Meer aus Trauer. Wir werden gezählt: Alles stimmt. 191 Mann sind wir jetzt, weniger als die Hälfte. Wir reihen uns nach Nummern auf und warten. Der Rapportschreiber ruft uns nach der Kartei auf, indem er die Kartennummer und den Namen ausschreit. Jene Karten, deren Besitzer nicht mehr unter uns weilen, bleiben abseits liegen: Sie gehören jetzt niemandem mehr. Ihre Besitzer sind irgendwo fern und warten voller Angst darauf, was ihnen bevorsteht. Wir beginnen zu glauben, diese Karteikarten seien lebende Wesen, die miteinander verbunden, zusammengeheftet sind. Sie bilden eine eigene besondere Familie, eine unzertrennbare Kette. Und wir sind entgegen unserem Willen beim Schlussakt des Abschieds zugegen, als würde uns jetzt gerade noch jemand weggerissen: Vor unseren Augen wird die letzte Erinnerung an ihr Leben, das letzte Zeugnis ihrer Verwandtschaft mit uns vernichtet. Wir beginnen zu glauben, wir seien tatsächlich Blutsverwandte, die einst als eine Familie im Lager angekommen seien. Die Abschiedsszene neigt sich dem Ende zu. Sieh nur, da stehen die zwei Kästchen mit Karten. Es scheint, als bewegten sich die Karten wie lebendig, als könnten sie fühlen und denken – und als ob sie sich jetzt voneinander verabschiedeten. Es kommt einem so vor, als könnte man beim Nähertreten und Hinhören die leisen Abschiedsworte und verspäteten Wünsche hören, mit denen die Kärtchen der verbliebenen 191 sich von den Kärtchen der 250 Fortgegangenen verabschieden. Sie wollen mit ihnen zusammen sein, sie auf dem grausigen Weg begleiten, den der Teufel ihnen geebnet hat. Wer weiß, wohin dieser Weg die Elenden führt …

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Salmen Gradowski: Texte

Die erste Nacht Wir gehen jeder in seine Box und es scheint, als setzten wir uns nicht auf die Pritschen, sondern auf die Trauerbänke217. Alle trauern, jeder will sich aussprechen. Die Tragödie, die sich gerade eben vor unseren Augen abgespielt hat, hat alle verstört. Menschen, die vom jüngsten Tod ihrer Angehörigen gelähmt sind, vergessen, einen Körper zu haben – einen Körper, der das Seine einfordert. So sind auch wir: Jeder erinnert seinen Kameraden daran, aufzustehen und etwas zu essen. Wir suchen Trost und Ermunterung beieinander. Die Brüder, die die Pritschen mit denen teilten, die nicht mehr da sind, gehen zu ihren Boxen, nehmen mit zitternden Händen ihre Decken und gehen durch die Baracke auf der Suche nach einem neuen Schlafplatz, weil sie es auf dem alten nicht aushalten: Gestern noch war hier ein Bruder, jetzt ist sein Bett leer, kalt und tot. Langsam ziehen die traurigen Stunden vorüber, legen sich in ihrem monotonen Fluss als schwere Masse nieder. Selbst die Härtesten, Mutigsten, Standhaftesten unter uns sind von Trauer ergriffen. Langsam gehen alle in ihre Boxen und legen sich hin, decken sich zu. Wir alle wollen uns wenigstens kurz von der Last unserer Trauer befreien, im Schlaf alles vergessen. Es ist spät in der Nacht. Alles ist ruhig, Totenstarre hat sich auf die Baracke gelegt. Nur das Stöhnen und das schwere Atmen der Elenden sind zu hören: Auch im Schlaf finden sie keine Ruhe. Aus dem leer gewordenen Teil der Baracke weht die Trauer zu uns rüber, Kummer erfüllt den Raum. Dem kann man nicht entrinnen, es gibt keine Rettung, wie es auch keine Absperrung zwischen Leben und Tod gibt: Die gebannte tote Welt ist vom traurigen und verdammten Leben nicht zu trennen. Wie verwaist wirft ein Lämpchen Licht auf die leeren Pritschen, die um die Fortgegangenen zu trauern scheinen. Wer weiß, wo und was sie jetzt sind. Sie sitzen wohl irgendwo und zittern vor Schreck, ermüdet von der Schlaflosigkeit, weil sie keinen Platz finden, um sich auszuruhen. In der nächtlichen Stille scheint die bittere Frage zu erschallen: Warum, warum wurden sie abgeholt? Wohin führt ihr Weg?

217 Gemeint ist der jüdische Trauerbrauch Schiwa (siehe oben).

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Die Chronisten und ihre Texte

Die Lampe brennt, von ihrem Licht ist die tote Welt beleuchtet  … Du siehst sie von Weitem an und es scheint dir, als wäre sie eine Andachtskerze, zum Angedenken an die zweihundert Opfer angezündet.

Der Trauermorgen Der Lagergong ertönt mit monotonem Klang: Es reicht, es reicht, genug ausgeruht, ihr Feinde und Verbrecher! Auf zur Arbeit, ihr Verdammten, die Höllenarbeit wartet schon auf euch! Heute sind wir alle vorzeitig aufgestanden: Die schlaflose Albtraumnacht hat uns zermürbt, wir konnten den Morgen kaum erwarten. Normalerweise versuchen wir noch ein Minütchen länger unter der Decke liegen zu bleiben, die Nacht zu verlängern – aber nicht heute. Schon mit dem Klang des Gongs sind wir aufgesprungen und waren fertig angezogen. Zu still ist es im Block. Es fehlt der Lärm, den früher unsere Familie von 500 Mann218 beim Aufwachen verursachte. Jetzt, an diesem trüben grauen Morgen, ist wieder das Gefühl des nahenden Todes über uns gekommen. Da sind die totleeren Boxen … Früher sprudelte darin das Leben, jetzt ist kein Laut mehr daraus zu vernehmen. Die leere Hälfte der Baracke ist in unnatürlicher Lähmung erstarrt. Dabei klangen jeden Morgen ausgerechnet auf der Hälfte die ersten Worte des Tages, der erste Morgenlärm auf – da wussten wir, dass ein neuer Tag begonnen hat. Diese Töne schwärmten aus, erfüllten das Herz und die Seele, erinnerten jeden an sein Zuhause, an die Kindheit, an die Gebete, die der Vater oder Großvater morgens sprach, oder an das Gebet, das er selber betete, für das Leben und Wohl für sich und seine Familie. Jetzt bleibt uns nur ein Seufzer: So sehr fehlen diese Worte, dieser Aufruf, diese Harmonie. Es zeigt sich, dass jedes Wort all dieser Menschen ein unersetzliches Rädchen unserer Maschine war. Jetzt sind sie weg und die Maschine steht still. Ein Teil unseres Lebens ist verschwunden. Jeden Morgen weckten sie uns, luden uns ein, Kaffee zu trinken. Aber jetzt ist niemand mehr da, der uns weckt und ruft, als ob […] keiner mehr nötig hat.

218 Die Zahlen rundete Gradowski auf: Bei der Selektion vom 24. Februar 1944 und der anschließenden Aktion in Majdanek wurden keine 250, sondern 200 Mann ermordet (vgl. vorne im Kapitel „Die Handlanger des Todes: das Sonderkommando in Auschwitz-Birkenau“, S. 74).

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Salmen Gradowski: Texte

Alles bewegt sich so ruhig, so langsam … Völlige Apathie herrscht ringsherum. Es scheint, als hätten sie den Lebenspuls mit sich fortgetragen, als wäre das Leben mit deren Tod für immer von hier weggegangen. Unseren einheitlichen Organismus aufgeteilt, haben die Mörder alles Lebende vernichtet. Die Übriggebliebenen haben den Lebenswillen verloren. Wohin du auch gehst, mit jedem deiner Schritte begreifst du, wie sehr dir die fehlen, die nicht mehr zurückkommen. Im Waschraum, in der Latrine, auf dem Hof, überall spürst du deutlich, dass deinem Körper ein wichtiges Organ fehlt. So sah der erste Morgen nach unserem Abschied aus.

„Antreten!“ „Alles macht sich an die Arbeit!“, befahl der Kapo. Heute nimmt jeder einen besonderen, einen wichtigen Platz in unserem Kommando ein: wie ein Vater, der seine übrig gebliebenen Kinder hütet, nachdem der Tod die Hälfte seiner Kinder dahingerafft hat. Niemand von uns bleibt aus freien Stücken lange in der Baracke. Alle wollen dieser Leere, dieser Trauer entfliehen, die die Luft darin durchsetzen. Wir gehen auf den Platz hinaus. Aber auch hier spüren wir aufs Schärfste, wie sehr uns die Fortgegangenen fehlen. Gestern noch, zur selben Zeit gingen wir mit ihnen gemeinsam, sprachen mit ihnen – und die Fetzen dieser Gespräche leben noch in unserem Gedächtnis fort. Und heute: Wer weiß, was mit ihnen jetzt ist, wohin man sie gebracht hat … Wir wollten so schnell wie möglich hinters Tor hinaus. Vielleicht könnten wir dann unsere Brüder wiedersehen, sie zum letzten Mal anschauen, Abschiedsblicke mit ihnen austauschen … Aber nicht mal das hat man uns erlaubt. Sie waren vorher zum Zug getrieben worden, ehe wir rausgelassen wurden, und als wir ans Tor kamen, waren sie schon weit weg. Wie wir erfahren konnten, trugen unsere Brüder die Häftlingskleidung, mit Holzpantinen an den Füßen. Warme Sachen und Stiefel wurden ihnen abgenommen, um sie von Anfang an zu erniedrigen, moralisch und physisch zu brechen. Hinter dem Tor geht es uns nicht besser: Jeder Schritt ist pure Qual, denn vor vielleicht gerade mal einer halben Stunde sind sie auf diesem Boden gegangen, durch das Tor und geführt von Dutzenden Wachposten mit Maschinengewehren  … Uns quält die alte Frage: Wohin, wohin führt ihr Weg? Wir leiden mit den Brüdern mit, aber jetzt bangen wir auch um unser 355

Die Chronisten und ihre Texte

eignes Schicksal. Wie lange wird man uns noch hierbehalten? Und ist die Trennung des Kommandos wohl ein Signal zu dessen völliger Liquidierung? Nichts ist klar … Wir gehen, die Augen zu Boden gerichtet. Wir spüren, dass zynische Blicke auf uns ruhen, dass dieser Hohn uns mitten ins Herz sticht, unsere frische Wunde aufregt und aufwühlt. Die Menschen, die uns anschauen, rechnen mit uns wegen des gestrigen Abends ab: Sie waren sich sicher, dass etwas Wichtiges geschehen musste, dass ihre „Operation“ sich nicht nur auf uns, sondern auch auf sie – auf die, die sie durchführten – auswirkt. Womöglich haben sie auch recht: Wir hätten eine würdige Antwort geben müssen – an unserer Tatenlosigkeit sind wir selber schuld. Instinktiv schauen wir uns um. Wir suchen den, der uns auf diese Art herausfordert. Wir wollen sehen, was das für eine Kraft ist, die unser Feuer zerstört hätte, hätten wir es nur entfacht. Ich erhebe die Augen und sehe, wie ein polnischer Häftling einen Juden verprügelt und schreit: „Du räudiger Jude!“219 Da ist sie, diese Kraft: Es sind die, die helfen, unsere Flamme auszulöschen – zusammen mit denen, die sie selbst hinter Stacheldraht halten. Da begriff ich, wie einsam wir sind, beim Kampf um unser Leben ebenso wie beim verzweifelten Geheimplan, der tief in unseren Herzen verborgen ist.

Auf dem Kommando Der Kapo ruft alle Gruppen nacheinander auf. Sie alle sind jetzt um die Hälfte kleiner. Eine von ihnen ist gänzlich liquidiert. Das ist das Reinigungskommando, eine Gruppe, der nur körperlich schwache Menschen zugeteilt wurden, die nur mit einer Sache beschäftigt waren: die Haare zu waschen, die wir von den Köpfen nackter Frauen schoren, die durch Gas getötet worden waren. Das ist die einzige Gruppe, die vollständig vernichtet wurde. Der Mangel an Arbeitskräften ist bei der Arbeit zu spüren. Selbst in den Gruppen, die nicht wesentlich kleiner geworden sind, ist das deutlich zu ­spüren: Jeder weiß, dass hier gestern Abend noch ein Bruder gestanden hat. Doch wo ist er heute? Alles erinnert uns an sie, die heute nicht mehr bei uns sind. Ich gehe nach oben, um zu gucken, was dort passiert. Dort, am Schornstein, saßen normalerweise mehrere Dutzend Menschen – junge und alte. 219 „Parszywy Żyd“. Im Original in hebräischen Schriftzeichen aufgeschrieben.

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Ihre Arbeit bestand im Grunde darin, dort vor dem Blick unserer Aufpasser verborgen zu sitzen, Psalmen zu lesen, die Mischna zu studieren oder zu beten. Sie arbeiteten so viel, wie es nötig war, um zu zeigen, dass sie auch etwas geschafft hatten. Wir können sehr schnell und auch sehr langsam arbeiten, je nach Situation. Den Eindruck zu erwecken, als wären wir sehr beschäftigt, war nicht sehr schwer. Das nutzten eben ein paar Dutzend unserer Kameraden: gläubige Menschen, Schwache und Kranke. Ich gehe hoch und finde alles so vor, wie es gestern geblieben war, als sie weggingen. Es herrscht Totenstille. Überall liegen und stehen über den Boden zerstreut Metallkübel, Koffer und andere Sachen, die zum Sitzen verwendet wurden (auf den Bänken zu sitzen wäre schwierig gewesen: Dann hätte man die ganze Zeit tief gebückt sitzen müssen) – exakt an den Plätzen, wo unsere Brüder sie gelassen haben. Es ist so, als warteten sie wie gebannt darauf, dass die Abwesenden zurückkehren. Der ganze Raum ist von bitterer Trauer erfüllt. Du kommst an einen der Sitze heran und findest dort ein Gebetbuch, Tefillin oder einen Tallit220. Diese Sachen waren gestern noch in Gebrauch, jetzt aber braucht sie niemand mehr: Es gibt keine Hände mehr, die die Tefillin nehmen, keine Lippen mehr, die die heiligen Worte flüstern, keinen Körper mehr, der von einem Tallit während des Gebets bedeckt würde. Vor meinen Augen spielt sich diese Szene ab: jene Morgen, einer steht Schmiere, passt auf, dass kein Außenstehender reinkommt, während die Gläubigen ihre Verfolger belügen und ihre Gebete an ihren Gott richten, vor dem sie rein sind. Welche Angst sie doch hatten! Nicht selten mussten sie sich die Tfiln vom Körper reißen, das Gebet mitten im Wort abbrechen und sich an die Arbeit machen, als wären sie die ganze Zeit nur damit beschäftigt gewesen. Es schien ihnen, als hörten sie den Schrei dieses Monsters: des grausamen und zynischen Oberscharführers221, Chefs aller Krematorien. Es war, als entrüstete er sich darüber, dass sie hier „ein Bibelkommando veranstaltet haben“, doch innerlich war er zufrieden damit, dass selbst inmitten der

220 Tfiln (gegenwärtiges Hebräisch: Tefillin) und Talles (Tallit) sind jüdische Gebetsattribute. Ein Tallit ist ein großes Gebetstuch (weiß mit blauen und schwarzen Streifen), das die Männer beim Gebet überwerfen. Tefillin bestehen aus zwei Kästchen, in denen sich kleine Fragmente der Thora befinden, und kleinen Riemen, die beim Gebet um die Stirn und die linke Hand gebunden werden. 221 Gemeint ist Peter Voss.

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Die Chronisten und ihre Texte

Hölle, an dem Ofen, in dem die Körper Hunderttausender Juden verbrennen, sich auch solche finden, die an den glühend heißen Backsteinen, die das Feuer erhitzt hat, das ihre eigenen Eltern verschlungen, in dem ihre eigenen Eltern, Frauen und Kinder verbrennen, lehnend sitzen und beten. Denn wenn sie dadurch anerkennen, dass alles nach Gottes Willen geschieht, dann muss man sie ihre Religion ausüben, beten, im Glauben erstarken lassen: So wird es ruhiger für sie und für uns. Deshalb tolerierten unsere Aufseher unsere Gebete und spielten es herunter […] Da ist das Essen, welches sie für heute vorbereitet haben. Sie hätten es sich nicht vorstellen können, dass sie an einem Tag in einen Zug getrieben, dessen Türen verriegelt und vernagelt, und dass sie auf eine weite Reise geschickt würden. An der Wand hängt eine Liste: die Namen fünf unserer Brüder, die sich am Tor beim Wachestehen hätten abwechseln müssen. Diese fünf Namen sind wie lebende Wesen. Jeder von ihnen ruft einen Freund in der Erinnerung hervor. Es ist, als sähest du all die unglücklichen Brüder und hörtest ihre Stimmen: Sieh nur, wie wir uns bei unseren Spekulationen geirrt haben! Gestern dachte ich, rechnete ich damit, dass ich heute am Tor stehen würde. Doch stattdessen bin ich schon zu des Teufels Beute geworden. Denk immer daran, Bruder, denk daran: Das Morgen steht nicht in deiner Macht! Diese Liste ist das lebendige Zeugnis unserer Erbärmlichkeit. Darauf zu blicken, ist schrecklich und schmerzvoll. Denn darin ist die Erinnerung an jene enthalten, die nicht mehr unter uns, sondern schon irgendwo verschwunden sind. Aber wo? Die Gedanken daran greifen nach dir wie unsichtbare Hände und ziehen dich in den Strudel der Trauer und Verzweiflung hinein. Es scheint, als riefen die fünf Menschen, die diese Namen trugen, zu dir aus dem Abgrund herauf, als wollten sie dich warnen, dich erreichen. Ihre bedrohlichen Stimmen erklingen immer lauter, sie schreien dir ins Ohr, das die Empfindlichkeit längst verloren hat, sie dringen mitten in dein Herz ein. In diesem Chaos höre ich nur den Nachhall der Worte: Denk daran! Denk an das Morgen! Ich verlasse den Ort, erschüttert, niedergeschlagen, entkräftet. Diese Stimme verfolgt mich, wie ein unerbittliches Schicksal: Sie beunruhigt mich, sie ruft nach mir, sie versetzt mich in schweres Grübeln … Es schien, als zöge sich der Tag ewig hin. Ich konnte das Abendsignal kaum erwarten – dann atmete ich erleichtert auf. Das ist symbolisch: Unsere ganze Existenz hier ist wie so ein Tag. 358

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Freitagabend Einige Brüder spotteten, wenn andere – ein paar Dutzend Männer – zum abendlichen Gebet zusammenkamen oder um den Samstag zu empfangen. Es gab auch solche unter uns, die die Gebetsversammlungen mit bitterem Argwohn betrachteten: Unsere grausame Wirklichkeit, die Tragödien, deren Zeugen wir tagtäglich wurden, können das Gefühl der Dankbarkeit, den Wunsch, den Schöpfer zu lobpreisen, nicht hervorrufen, wenn er es dem Barbarenvolk doch erlaubt hat, Millionen unschuldiger Menschen zu vernichten – Männer, Frauen und Kinder, deren Schuld nur darin bestand, dass sie als Juden geboren sind und diesen Gott, zu dem sie beteten, als allmächtigen anerkannten und der Menschheit ein großes Gut schenkten: den Monotheismus. Kann man denn jetzt den Schöpfer noch rühmen? Hat das noch einen Sinn? Ist es denn denkbar, samstäglichen Segen zu sprechen, wenn ringsherum das Blut in Strömen fließt? Das Gebet an denjenigen richten, der die Schreie und das Weinen unschuldiger Säuglinge nicht hören will? Nein! Mit schwerem Seufzer verließen die Gebetsgegner die Versammlungen, gegen alle zürnend, die ihre Empörung nicht teilten. Selbst die, die bislang gläubig gewesen sind, fangen an zu zweifeln. Sie können ihren Gott nicht annehmen und nicht akzeptieren, dass Er all das zulässt: Wie kann der Vater seine Kinder den blutüberströmten Mördern in die Hände geben, in die Hände jener, die Ihn verhöhnen? Doch fürchten sie sich davor, daran zu denken: Sie haben Angst, die letzte Stütze, den letzten Trost zu verlieren. Sie beten ruhig, ohne von Gott Rechenschaft zu fordern, ohne ihm Rechenschaft abzulegen. Was sie wollen, ist allerhöchstens beten, Ihm das Herz ausschütten  – aber sie können es nicht, weil sie weder Ihn noch sich selbst belügen wollen. Der allgemeinen Stimmung entgegen fanden sich unter uns aber auch solche, die stur weiterglaubten, die ihre eigene Ratlosigkeit nicht zuließen, alle Vorwürfe in ihrem Inneren betäubten, das Gefühl von Auflehnung erstickten, welches an Herz und Seele zerrte, nach offener Aussprache und nach der Antwort verlangend, warum denn das alles geschieht … Unsere sturen Brüder waren froh, sich selbst zu belügen, sich im Geflecht ihres naiven Glaubens zu verstricken, Hauptsache, sie müssen nicht darüber nachdenken. Sie glauben fest daran – und zeigen es tagtäglich –, dass das ganze Geschehen von einer höheren Macht diktiert wurde, deren Willen wir mit unserem primitiven Geist zu erfassen nicht vermögen. Sie versinken, sie ertrinken im Meer ihres eigenen Glaubens, doch davon wird ihr Glaube nicht schwächer. 359

Die Chronisten und ihre Texte

Vielleicht flimmert irgendwo tief in ihrem Herzen der Zweifel, doch äußerlich sind sie weiter standhaft. In unserer Familie, inmitten der 500 Menschen  – Gläubige, Atheisten, Verzweifelte und Gleichgültige –, hat sich von Anfang an ein betendes Grüppchen herausgebildet. Erst war es klein, dann wurde es immer größer. Diese Menschen lasen alle Gebete, sogar die täglichen, im Minjan222. Das Gebet lockte auch diejenigen an, die nicht gläubig waren und am Minjan nicht teilnahmen: Kaum klangen die Töne des traditionellen Gebets auf, das am Freitagabend223 gelesen wurde, vergaßen sie die grausame Realität. Die mächtigen Wellen der Erinnerung trugen sie in die längst verlassene und ­vernichtete Welt der vergangenen Jahre. Jeder stellte sich vor, er säße im ­warmen Familienkreis. ** … Freitagabend. In der großen Synagoge ist es warm und hell, als würde sie von mehreren Sonnen auf einmal erleuchtet. Alle sind festlich, samstäglich gekleidet. Die Alltagskleidung abgelegt und die Geschäfte geschlossen, haben sich die Juden von der Last der Alltagshektik befreit, sind aus der Welt ausgebrochen, wo die Seele vom Körper versklavt ist. Alle Sorgen und Nöte – die persönlichen ebenso wie die allgemeinen  – sind vergessen. Die Menschen sind sorglos glücklich, weil sie die Last alltäglicher Sorgen abwerfen konnten. In der Synagoge ist alles für die Feierlichkeiten bereit. Nun erklärt eine helle Stimme, es sei Zeit, hinauszugehen und die Königin Sabbat zu em­pfangen. Der Kantor stimmt einen herrlich herzlichen Gesang zu Ehren des Sabbats an. Die Luft ist von dieser Harmonie erfüllt, alle sind fröhlich und munter. Jeder Schritt dem heiligen Tag entgegen beflügelt alle Anwesenden. Ihre Seelen streben empor. Jedes Wort, jeder Laut des Gebetgesangs verleiht ihnen Hoffnung und Kraft. Dann und wann ist hier und dort ein leiser Seufzer zu hören, der das Sakrale des anbrechenden Tages scheinbar entwertet, entweiht: Da ist jemand, der an die Sorgen und Nöte seines Alltags gedacht hat. Wer hätte damals

222 Minjen (gegenwärtiges Hebräisch: Minjan) ist eine Versammlung von zehn erwachsenen Männern als unabdingbare Voraussetzung für das Lesen zahlreicher Gebete. Das tägliche dreifache Gebet gilt als persönlich und erfordert keinen Minjan. 223 Das heißt: bei Anbruch des Sabbats.

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gedacht, dass diese Misslichkeiten sich einst als Zeichen des kommenden Unglücks erweisen, dass auf die alltäglichen Trostlosigkeiten echtes, ungeheures Unglück folgen würde … Der Mensch, der mitten in der Sabbatliturgie an seine Nöte dachte, fühlte sich plötzlich haltlos, am Boden zerstört. Wie prophetisch dieses Gefühl doch war! Im Gefühl seiner Hilflosigkeit und Erbärmlichkeit stürzt er hinab von dem Gipfel, auf den der Geist der samstäglichen Heiligkeit ihn emporgetragen hatte, und versinkt im tiefen Strudel der Verzweiflung. Noch vor wenigen Minuten war er sich sicher, die Rettung aus dem wogenden Meer seiner Nöte gefunden zu haben, doch plötzlich erweist sich die Rettung als illusorisch, die Hoffnungen als vergeblich. Und wieder greift er nach dem letzten Strohhalm, um im tosenden Meer nicht umzukommen. Eine neue Welle bringt ihm endlich die Erleichterung. Er hört die Stimme, die ihn aufrüttelt, ihm Kraft spendet, ihn aufmuntert: „Wehaju limschisa ­schosajich“224 – fürchte dich nicht, deine Feinde und Unterdrücker werden selbst zertreten und zerstört werden. Verzage nicht, du Sohn uralter Märtyrer! Und siehe da, wieder spürt der Mensch eine seelische Erhebung, eine Ermutigung, er ist beflügelt, er glaubt, dass es morgen besser sein wird, als es heute ist. Er vergisst die traurige Wirklichkeit und ist bereit, von Träumen an eine helle Zukunft zu leben. Der strahlende Schein des morgigen Tages verlockt ihn, die Hoffnung erfüllt ihn, verleiht ihm Kraft. Seine Stimme fließt ein in den Chor der Versammelten, seine Seele steigt wieder empor in die himmlischen Weiten. Nun ist es vorbei. Gemeinsam mit seinem Vater und seinen Brüdern verlässt er die Synagoge und geht nach Hause, erfüllt von Ruhe und Wohlsein. Die Läden sind geschlossen, die Straßen menschenleer, alles ist still, überall in den Fenstern flackert das Licht der Sabbatkerzen. Die Königin Sabbat hat das ganze Örtchen, das ganze Leben seiner Bewohner mit ihrer Herrlichkeit erfüllt. Jeder fühlte sich durch sie beflügelt und hieß ihr Erscheinen mit Freude willkommen. Auch das Haus ist mit Wärme, Ruhe und Behaglichkeit erfüllt. Es scheint, als sänge jedes Ding ein Lied und die Stimmen aller Dinge flössen zu einem einzigen Chor zusammen, der den Sabbat lobpreist. Der Sabbatgruß ertönt,

224 Jeremia 30,16: „Darum […] alle, die dich geplündert haben, sollen geplündert werden“. Dieses Zitat ist in die Lobeshymne „Lecha Dodi“ eingegangen, die traditionell bei Anbruch des Sabbats gesungen wird.

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die Brüder gehen mit dem Vater in das Haus hinein. Überall herrscht Glück: Die Augen der Mutter, der Frau und der Geschwister glänzen vor Freude. Wie herzlich und aufrichtig sich doch die Klänge des „Scholem Alejchem“225 in die Luft erheben. Der Segen ist vom Himmel herabgekommen und ruht auf unserem Haus, auf unserer ganzen Familie. Er ist im Kreise seiner Familie, in der Atmosphäre von Glück und Behaglichkeit. Alle sitzen an einer gemeinsamen Tafel, essen, trinken und singen. Allen geht es gut, alle freuen sich, sind sorglos und voller Hoffnungen für die Zukunft. Vor ihnen liegt eine idyllische Welt, in der sie die rechtmäßigen Herren sind. Nichts bedroht sie, sie können ruhig und sicher in diese Welt eintreten, die sich ihnen gerade eben eröffnet hat. ** Doch plötzlich bricht eine Sturmwelle herein und reißt sie aus dieser Welt. Sie raubt ihnen diesen Frieden, das Haus, das Glück, die Sabbatruhe. Vater, Mutter, die Geschwister, die Frau – niemand ist mehr am Leben. „Einen guten Sabbat!“ sagen wir einander … Plötzlich ist es so, als würde in mir drin etwas abreißen. Wem kann man jetzt einen guten Sabbat wünschen? Sind denn noch glückliche Gesichter auf der Welt geblieben? Sind denn die lieben Eltern, Geschwister, die liebe Frau noch am Leben? „Einen guten Sabbat …“ Wozu soll das jetzt noch gut sein? Ich sah einen Abgrund anstelle meiner zerstörten Welt. Stimmen drangen von dort zu mir herauf: Das war meine verbrannte Familie. Ich laufe vor diesen Erinnerungen davon wie vor einem Gespenst. Schneller, noch schneller, so weit es geht, weg von diesem Albtraum! Ich muss den Brand löschen, der mein ganzes Wesen verbrennt! ** Aber es gibt auch Augenblicke, wenn ich selber meine Wunden zerwühlen will, um die schreckliche Erschütterung wieder zu erleben – Hauptsache, es gelingt, die tote Starrheit der Seele zu überwinden. Es ist der Wunsch, das Erlebte wieder und wieder zu erinnern und zu erleiden, damit es wieder

225 Teil der Sabbatliturgie, ein mittelalterlicher Pijjut, der traditionell bei Anbruch des Sabbats gesungen wird.

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Salmen Gradowski: Texte

wehtut, weil unsere unerträgliche Arbeit uns dazu zwingt, unsere Tragödie zu vergessen. Jeden Tag sehen wir den Tod von Millionen von Menschen, und in diesem ungeheuren Meer aus Blut erscheint meine persönliche Tragödie als ein winziger Tropfen. Ich will mich in meiner eigenen Welt einschließen, die fernen und die jüngsten Ereignisse wieder durchleben, den Fluss des Vergangenen überqueren und wieder in die Gegenwart zurückkommen, mich so lange wie möglich an der Oberfläche der Erinnerung an das unwiederbringlich verlorene glückliche Leben halten – und wieder auf den Grund, in meine heutige Hölle sinken. Ich will die Sonnenstrahlen genießen, die die vergangenen Tage erleuchteten – und wieder im düsteren Strudel versinken, damit ich mir der Tiefe unseres unumkehrbaren Elends bewusst werden kann. In solchen Augenblicken drängte ich dorthin, an jenes Ufer, wo die frommen Juden im Minjan beteten. Dort schöpfte ich Kraft und lief zurück zu meiner Pritsche. Nur dann schmolz mein vor innerer Kälte erstarrtes Herz – und ich konnte die Ankunft des Sabbats spüren. Tosende Wogen rissen mich weg von der Vergangenheit und schlugen mich an das Ufer der Gegenwart, und das Herz tat mir weh, und Tränen strömten aus meinen Augen. Ich war glücklich, dass ich den Sabbat unter Tränen begrüßte. Seit Langem schon träumte ich davon, meine Liebsten so zu sehen, wie sie in jenen glücklichen Zeiten waren: die Mutter sanft und geliebt, den Vater in fröhlicher Stimmung, die Schwestern und Brüder glücklich, die Frau fröhlich und singend … Ich wollte wieder in die Welt des sorglosen Glückes eintauchen und all diejenigen beweinen, die keinen einzigen Sabbat mehr mit mir empfangen werden: meine Liebsten und Teuersten, die nicht mehr am Leben sind. Ich wollte trauern, trauern über mein Unglück, das ich jetzt erst habe empfinden und begreifen können. ** Ich sehne mich nach meinen Brüdern zurück, nach den jüngst fortgegangenen Kameraden im Unglück – nicht nur, weil das meine Brüder sind, sondern auch weil mein Leben in der Hölle untrennbar mit ihnen verbunden ist. Ich schaue in die Ecke der Baracke, wo sie beteten: Es weht ein Todeshauch der Reglosigkeit von dort herüber. Keiner von ihnen ist mehr am Leben. Mit dem Tod ist hier eine schreckliche Stille eingerückt. Mir bleiben nur Sehnsucht und Trauer. 363

Die Chronisten und ihre Texte

Wir sehnen uns nach den fortgegangenen Brüdern zurück, weil sie unsere Brüder sind. Und weil uns jetzt das Licht, die Wärme, der Glaube und die Hoffnung fehlen, die sie uns gaben. Ihr Tod hat uns den letzten Trost genommen.

Die Wiedervereinigung Dort unten auf der verdammten Erde wurden sie getrennt. Die Barbaren rissen sie einander weg. Dort auf der Erde waren sie gefangen, sie saßen in den Baracken, voneinander getrennt, wo das eine Herz vor Sehnsucht nach dem anderen Herzen verblutete. Dort unten gingen sie einzeln in den Tod: der Mann für sich allein, die Frau für sich allein, der Vater, die Mutter, die Schwester, der Bruder … Dort unten werden sie einzeln in die Bunker geschleppt: die Frauen hierhin, die Männer dorthin. An die Aufzüge werden sie herangeschleppt, geschieden und getrennt. Dort unten in der Hölle werden sie einzeln in die fürchterlichen Flammenschlünde geworfen. Die Frau mit dem Kind wurde im Krematorium Nr. 2, der Mann im Krematorium Nr. 3 verbrannt. Dort unten stoßen Flammen und schwarze Rauchsäulen aus den beiden riesigen Kaminen empor. Dort unten fliegen mehrere Leben mit dem Rauch aus den Kaminen davon: das Leben der Frau, des Kindes, der Mutter, der Schwester, der Freundin. Aus dem anderen, dem gegenüberliegenden, streben mit der Rauchsäule die Leben derer in den Himmel empor, die von ihnen getrennt wurden: der Mann, der Vater, der Bruder, der Freund. Dort unten wurden sie getrennt, auseinandergezerrt, auseinandergerissen – hier oben aber steigen sie gemeinsam zu den Wolken auf. Der Mann, die Frau, das Kind sind wieder vereint. Die getrennten Familien fliegen jetzt zusammen in den Himmel, vereint tauchen sie in der Ewigkeit ab. Dort unten, wo die Macht der Barbaren noch stark ist, werden Tausende Menschen ums Leben gebracht. Jetzt fliegen diese Leben hoch in den Himmel, zu ihren Brüdern und Schwestern, zu den Millionen, die gestern gestorben sind. Dort oben zieht sich der Himmel zu und die leuchtenden Sterne erlöschen. Eine schwarze Gewitterwolke steigt zur Luna empor. Das sind die Opfer, die die Luna in ein Trauergewand einhüllen wollen. 364

Salmen Gradowski: Texte

Dort oben will die Luna verschwinden. Sie will sich nicht in Trauer hüllen, sondern sich irgendwo verstecken. Doch die schwarze Gewitterwolke stürmt hinter ihr her, fasst sie und hüllt sie ein. Dort oben sind aus der tiefen Schwärze die Stimmen von Millionen weinender und seufzender Menschen zu hören. So sprechen die totgequälten Kinder, Millionen Unschuldiger, die auf der Erde verbrannt wurden. Wir werden dich ewig verfolgen! Du wirst der Welt auf der Erde nicht mehr leuchten, solange die Rache für unser Blut uns hier oben, hoch im Himmel, nicht erreicht hat. Übersetzt aus dem Jiddischen ins Russische von Alexandra Polian Übersetzt aus dem Russischen ins Deutsche von Roman Richter Anmerkungen: Pavel Polian und Alexandra Polian

[Brief aus der Hölle] Das habe ich aufgeschrieben, als ich mich im Sonderkommando befand. Ich war aus dem Lager Kielbasin nahe Grodno angekommen. Ich wollte diese Notizen – wie viele andere Notizen auch – der künftigen friedlichen Welt als Erinnerung hinterlassen, damit sie weiß, was hier geschah. Ich habe das in einer Aschegrube vergraben, weil es der zuverlässigste Ort ist, an dem höchstwahrscheinlich Ausgrabungen stattfinden werden, um die ­Spuren von Millionen Ermordeter zu finden. Doch seit Neuestem haben sie angefangen, die Spuren zu verwischen. Sie haben angeordnet, die Asche, die aufgehäuft war, zu zermahlen, an die Weichsel zu fahren und mit der Strömung verschwinden zu lassen. Viele Gruben haben wir ausgehoben. Jetzt befinden sich zwei solche offenen Gruben auf dem Gelände der Krematorien II–III. Einige Gruben sind noch mit Asche gefüllt. Sie haben das vergessen oder vor ihren höchsten Vorgesetzten verheimlicht, denn die Anweisung lautete, alle Spuren so schnell wie möglich zu verwischen – und da sie den Befehl nicht erfüllt haben, haben sie es verheimlicht. So gibt es noch zwei große Aschegruben an den Krematorien II–III. Viel Asche von Hunderttausenden Juden, Russen und Polen wurde zudem auf dem Territorium der Krematorien verstreut und untergepflügt. 365

Die Chronisten und ihre Texte

In den Krematorien IV–V gibt es auch etwas Asche. Dort wurde sie gleich zerstoßen und zur Weichsel gebracht, weil das Gelände von „Verbrennungsstellen“226 eingenommen war. Dieses Notizbuch lag wie andere auch in den Gruben und sog sich mit dem Blut manchmal unvollständig verbrannter Knochen und Fleischstücke227 voll. Der Geruch ist sofort zu erkennen. Lieber Finder, suchen Sie überall! Auf jedem Fleckchen Erde. Dort liegen Dutzende meiner und anderer Dokumente, die alles aufklären, was sich hier ereignete und hier geschah. Auch sind hier viele Zähne begraben. Wir, die Arbeiter des Kommandos, haben sie absichtlich, so viel es ging, über den gesamten Platz verstreut, damit die Welt die lebendigen Spuren von Millionen Ermordeter finden kann. Wir selbst haben keine Hoffnung, den Moment der Befreiung zu erleben. Trotz der guten Nachrichten, die zu uns durchdringen, sehen wir, dass die Welt den Barbaren bei der Vernichtung und Ausmerzung der Reste des jüdischen Volkes freie Hand lässt. Es entsteht der Eindruck, als wären die Welt, die Alliiertenstaaten, die Sieger der Welt, indirekt zufrieden mit dem schrecklichen Schicksal unseres Volkes228. Vor unseren Augen sterben gegenwärtig Zehntausende Juden aus Tschechien und der Slowakei. Die Juden hätten womöglich die Freiheit erleben können. Wo auch immer die Gefahr für die Barbaren naht, dass sie werden weichen müssen, dort nehmen sie die Reste der Übriggebliebenen und bringen sie nach BirkenauAuschwitz oder nach Stutthof229 bei Danzig – nach Angaben von Menschen, die von dort bei uns ankommen. Wir, das Sonderkommando, wollten unserer schrecklichen Arbeit, die uns unter Androhung des Todes aufgezwungen wurde, seit Langem schon ein Ende setzen. Wir wollten eine große Tat vollbringen. Doch Menschen aus dem Lager, ein Teil der Juden, Russen und Polen, hielten uns mit allen Mitteln davon ab und zwangen uns, den Zeitpunkt des Aufstands zu verschieben. Der Tag ist nah: vielleicht heute, vielleicht morgen.

226 Gemeint sind die Verbrennungsgruben auf dem Hinterhof von Krematorium V. 227 Offensichtlich hatte Gradowski sein Notizbuch ausgegraben, den Aufzeichnungen diesen Brief ­beigefügt und sie am 6. September 1944 wieder vergraben. 228 Dieser Satz wurde in der polnischen Erstveröffentlichung 1971 sowie in allen weiteren Veröffentlichungen und Übersetzungen des Auschwitz-Museums bis 2017 ausgelassen. 229 Das heutige Sztutowo in Polen. Eröffnet am 2. September 1939 als Internierungslager für Zivilisten, diente es ab 7. Januar 1942 als Konzentrationslager. Etwa 115.000 Häftlinge waren dort im Verlauf der Zeit inhaftiert, vermutlich 65.000 von ihnen starben.

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Ich schreibe diese Zeilen im Augenblick größter Gefahr und Erregung. Möge die Zukunft anhand meiner Aufzeichnungen ihr Urteil über uns sprechen und möge die Welt in ihnen einen Tropfen, ein Minimum jener schrecklichen, tragischen Todeswelt erkennen, in der wir lebten. Birkenau-Auschwitz 6/9-44 Salmen Gradowski Übersetzt aus dem Jiddischen ins Russische von Meer Karp Übersetzt aus dem Russischen ins Deutsche von Roman Richter Anmerkungen von Pavel Polian

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Lejb Langfuß: Erschüttert von der Gräueltat Ein Rabbi in der Hölle 1. Was in den Jahren der deutschen Besatzung in Polen als „Regierungsbezirk Zichenau“ bezeichnet wurde, war bis dato ein Gebiet im polnischen Masowien und in der nördlichen Region der Woiwodschaft Warschau (bis 1916 Teil des Königreichs Polen und damit Russlands) gewesen. Am 8. Oktober 1939 wurde Zichenau auf Hitlers Erlass offiziell an Ostpreußen angegliedert230. Inoffiziell wurde der Bezirk später sogar Südostpreußen genannt. Als Deutschland am 1. September 1939 Polen überfiel, eroberte die Wehrmacht dieses Gebiet vom Norden her, aus Ostpreußen kommend, innerhalb weniger Tage. Mit den deutschen Besatzungstruppen kamen auch die SS und der SD, näherhin die von Ernst Damzog geführte Einsatzgruppe V. Da die ­SD-Leute eine Uniform trugen, die sich bis auf einen Aufnäher am Ärmel von jener der Wehrmacht nicht unterschied, wurden ihre „Leistungen“ von vielen Einheimischen als „Erfolge“ der Wehrmachtssoldaten wahrgenommen. Diese verhielten sich im besetzten Gebiet allerdings nicht so viel besser, dass man unbedingt auf einer Differenzierung bestehen müsste. Geografisch hätten die Besatzer die Annexion des polnischen Ciechanów durch das unmittelbare Angrenzen dieses Gebiets an Preußen vielleicht noch begründen können, aber demografisch-ethnisch betrachtet, waren diese Stadt und die dazugehörige Region keineswegs deutsches Terrain: Von den rund eine Million Einwohnern des Bezirks waren nur ein  (!) Prozent Deutsche, 230 Erlass des Führers und Reichskanzlers über Gliederung und Verwaltung der Ostgebiete vom 8.10.1939 (Reichsgesetzblatt 1939 I. S.  2042). Das ist sicherlich reiner Zufall, doch am selben Tag wurde Himmler zum Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums ernannt.

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nämlich 11.000 Menschen – bei 900.000 Polen. Nun war Hitler gerade von dem Wunsch getrieben, dieses Verhältnis radikal umzukehren. Die restlichen 80.000 Einwohner waren Juden, die sich schon in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts in dieser Gegend niedergelassen hatten231. Sie lebten – über alle 32 Städte und Gemeinden der Region verteilt – traditionell von Handel und Handwerk. Leicht hatten sie es dabei auch vor dem Krieg nicht: Die lokalen polnischen Nationalisten hielten die anderen Einheimischen nach deutschem Vorbild zum Boykott jüdischer Waren und Geschäfte an. Die meisten Polen folgten diesem Aufruf zwar nicht, doch war der Antisemitismus eine im Privaten ganz alltägliche Erscheinung. Im September 1939 hielt auf den Bajonetten der Wehrmacht und SS der ganz andere – der deutsche, systematische und staatliche – Antisemitismus in dieser Gegend Einzug. In vielen Gemeinden Nordmasowiens wurden Synagogen und jüdische Bibliotheken niedergebrannt (so auch in Mielau/Mława). Schon am 4. September wurde zum ersten Mal jüdisches Blut vergossen. In Pultusk/Pułtusk, einem Städtchen südlich von Zichenau, wurden Juden in die Nare gehetzt: Solcherart gezwungen, den Fluss zu überqueren, wurden sie beim Schwimmen von ihren Verfolgern erschossen. Schon am 22. September war Pultusk judenfrei. Auch einige besonders engagierte Mitbürger der deutschen Minderheit ­ließen sich die Gelegenheit zum „originellen“ Sadismus nicht entgehen. In Nowy Dwór etwa forderten sie einige Juden auf, die Thorarollen zu verbrennen und das Autodafé durch Tanz und Gesang zu begleiten. Stießen sie auf Ablehnung, erschossen sie die Widerspenstigen. Diese Übergriffe wurden von den neuen Machthabern zwar gutgeheißen und gefördert – aber noch waren sie purer Dilettantismus. Bis am 21. September im Reichssicherheitshauptamt (RSHA) eine Arbeitssitzung zur „Judenfrage“ im Osten stattfand, wonach Heydrich eine Anweisung zur Regulierung der „jüdischen Migrationspolitik in Polen“ an die Einsatzgruppen ergehen ließ232. Diese Verfügung war definitiv mehr als ein triviales Rundschreiben: Sie war ein auf lange Sicht angelegtes Programm zwar noch nicht zur Vernichtung der Juden (das war das unausgesprochene Endziel), aber schon zur zielgerichteten Vorbereitung darauf. Als Etappen auf diesem Weg wurden in Berlin beschlossen: 1) Für das gesamte Reichsgebiet: Konzentration der Juden aus ländlicher Gegend in den 231 Die jüdische Gemeinde von Plock ist eine der ältesten in Polen. 232 Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden Bd. 4, 2011. S. 88–92.

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Städten, nach Möglichkeit in den großen; 2) Für die deutschen Gebiete im Osten, die alten wie die annektierten: Verschleppung der Juden hinter die Grenze oder zumindest deren Konzentration in einigen Großstädten; 3) Für die deutschen Bezirke: Liquidierung aller Gemeinden mit weniger als 500 Mitgliedern und deren Überführung in die nächstgelegenen Städte mit Eisenbahnanschluss; 4) Für das gesamte Reichsgebiet: Einrichtung von Judenräten und statistische Erfassung verfügbarer Juden233. Als erste waren die Gemeinden Pultusk, Goworowo, Nowy Dwór und Ostrolenka/Ostrołęka zur „Befreiung“ von den Juden bestimmt. Die Letztere befand sich direkt an der Demarkationslinie mit der UdSSR: Die Juden, die über diese Grenze in den Westen gelangen wollten, wurden von den Deutschen an Ort und Stelle erschossen oder ins Gefängnis geschickt234. Was ­hätten die Nazis sonst auch tun sollen? Der Zielort dieser Juden war ja schließlich nicht das lausige Polen und auch nicht das Generalgouvernement – sondern das Reich selbst! Die jüdische Bevölkerung des Bezirks Zichenau wurde indes  – bei all der ausufernden Rechtlosigkeit in diesem Gebiet  – plötzlich und unverhofft zum Bestandteil des deutschen Staates und des deutschen Rechts (in dessen Anwendung auf das Judentum). Einige Juden flohen aus Zichenau, ohne die Lage richtig erfasst zu haben, freiwillig gen Süden, nach dem benachbarten Warschau. Als mit der Zeit klar wurde, dass die Lage dort noch unerträglicher war, versuchten einige von ihnen in ihre Städtchen in Deutsch-Masowien zurückzukehren235. Der wahnhafte Judozid namens Holocaust war weder eine einmalige noch eine einförmige Kampagne. Je nach Besatzungsdauer und Verwaltungsstatus der Gebiete, wo die Juden von den Deutschen eingefangen wurden, zeigte der Massenmord verschiedene Gesichter und verlief mit unterschiedlichem Tempo. Die Zugehörigkeit zum Reich war von diesem Standpunkt betrachtet dann doch eher ein Vorteil: Die Vorgänge liefen hier mit Verzug ab – und in Zichenau war der Holocaust auch noch gegenüber Westpreußen und dem Warthegau im Rückstand. 233 Faschismus – Getto – Massenmord, 1960. S. 37–41. 234 Vgl. Schulz, 2010. 235 Dies war mit Lebensrisiko verbunden. So schaffte es der 32-jährige Moszek Eitelsberger aus Neuhof, der im September 1941 ins Generalgouvernement ausgesiedelt worden war, schon im Oktober zurück. Gut ein halbes Jahr später, am 8. April 1942, wurde er verhaftet und am 10. April nach ­Zichenau gebracht, wo er am 16. April zum Tode verurteilt wurde. Exakt einen Monat später, am 16.  Mai, wurde das Urteil vollstreckt  – im Transitlager des SD in Soldau (Die Verfolgung und Er­mordung der europäischen Juden Bd. 4, 2011. S. 278).

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Hitlers Judenpolitik in Polen bestand vor dem Überfall auf die Sowjetunion weniger in der Vernichtung als in der Deportation der Juden, nach der Devise „Raus aus dem deutschen Paradies, ihr Drecksjuden!“. Am 28. Oktober 1939 befahl Himmler, alle annektierten polnischen Gebiete innerhalb von vier Monaten von allen Juden (rund eine halbe Million Menschen) zu säubern und sie ins Generalgouvernement umzusiedeln. Angefangen wurde damit in Zichenau. Am 8. November wurden 2.000 Juden aus Schirps/Sierpc ausgesiedelt, am 4. Dezember folgten 4.000 Juden aus Nasielsk, am 6. Dezember 3.000 aus Serock236. Insgesamt wurden in der Zeit circa 30.000 Juden aus Ostpreußen verschleppt. Die zweite Welle derlei „Evakuierungen“ kam zwischen November 1940 und März 1941 und riss mindestens 26.000 Juden aus dem Bezirk Zichenau mit sich: Sie wurden wie die Polen auch staffelweise ins Generalgouvernement – in die Bezirke Lublin und Radom – zwangsverschickt 237. Im November wurden insgesamt 20.000 Menschen – Polen und größtenteils Juden – aus dem Bezirk deportiert. Im November waren auch 4.000 Juden aus Mielau/ Mława betroffen. In ihren Wohnungen und Häusern wurden unverzüglich Juden aus anderen, ferneren Gegenden einquartiert, beispielsweise aus dem Gau Danzig-Westpreußen238. Anschließend folgte Anfang 1941 die Deportation weiterer 10.000 Juden, unter ihnen 7.000 aus Plock/Płock239. Die Umsetzung des Befehls zur totalen jüdischen Deportation zog sich über Jahre hin. Die Krux bestand vor allem darin, dass der Bedarf an jüdischen Arbeitskräften für das Reich unterschätzt worden war. Außerdem waren die Deutschen zeitgleich auch mit den Polen beschäftigt, die sich den Vorgaben der Germanisierung fügen, das heißt: ihre vertrauten Orte für die 100-prozentigen Arier – die Volksdeutschen aus dem Baltikum und anderen Gegenden – frei machen mussten. Die allerersten Ghettos wurden – gemäß Heydrichs Befehl vom 21. September 1939, aber im offensichtlichen Widerspruch zur erklärten Politik der totalen Deportation – Anfang 1940 im Bezirk Zichenau eingerichtet. Laut Michał Grynberg waren es 19 an der Zahl: Lauffen (ehemals Bieżuń), Sporwitten (ehemals Bodzanów), Czerwinsk an der Weichsel (ehemals Czerwińsk nad Wisłą), Chorzellen (ehemals Chorzele), Zichenau (ehemals Ciechanów), 236 Grynberg, 1984. S. 42. 237 Nicht selten mit einem Zwischenhalt im Lager Soldau (Działdowo), welches als Transitlager vor allem für die polnische Bevölkerung, teilweise aber auch für die Juden diente. 238 Schulz, 2010. S. 272. 239 Grynberg, 1984. S. 42.

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­ eichenfeld, Maków, Mielau (ehemals Mława), Neustadt (ehemals Nowe R Miasto), Neuhof (ehemals Nowy Dwór), Plock, Plöhnen (ehemals Płońsk), Schirps (ehemals Sierpc), Striegenau (ehemals Strzegowo), Höhenburg, Radzanow, Szreńsk, Zakroczym und Zielun240. Das größte und wohl engste Bezirksghetto war jenes von Plöhnen mit 12.000 Bewohnern. Darin wurden Juden aus vielen anderen Ortschaften aufgenommen, einschließlich der illegalen Flüchtlinge aus dem Generalgouvernement. Die Letzteren wurden im Juli 1941 nach einer Überprüfung ins Polizeigefängnis von Pomiechówek geschickt, alle anderen kamen schon im Dezember 1942 nach Auschwitz241. In einigen Ghettos fand ein kulturelles und gesellschaftliches Leben statt, es entstand sogar eine Art Sozialnetz für kranke und ältere Juden. So wurden Anfang 1940 in mehreren Ghettos Pflegeheime eingerichtet: in Maków Mazowiecki für 500, in Zichenau für 100, in Plock für 50 und in Schirps für mehrere Hundert Menschen242. Doch entpuppte sich diese „Fürsorge“ mit der Zeit (bei der Liquidierung der Ghettos) als eine listige Falle: Um sich den Aufwand einer Überführung nicht transportfähiger Menschen nach Treblinka oder Auschwitz zu sparen, töteten die Nazis sie an Ort und Stelle, durch Erschießungen in den Gefängnissen oder umliegenden Wäldern243. Schon zu Beginn des Sommers 1941 waren sechs von den 19 Ghettos liquidiert: Die Juden aus Czerwinsk (2.600 Menschen), Höhenburg und Zakroczym wurden nach Neuhof verlegt, die aus Lauffen, Szreńsk und Zielun nach Mielau und Striegenau244. Zu Beginn des Sommers hatte sich die Zahl der Ghettos auf sieben weiter halbiert. Übrig blieben Zichenau, Maków, Mielau, Neustadt, Neuhof, Plöhnen und Striegenau245. Für die zweite Jahreshälfte war die Deportation der Juden nach Mielau diesmal schon aus Striegenau angesetzt, doch wurde sie ob der Bestechung deutscher (sic!) Bediensteter vertagt. Die endgültige Liquidierung der restlichen Ghettos und die Verschickung ihrer Bewohner in die Todeslager fand im November und Dezember 1942 statt. Alles fing mit dem Ghetto von Zichenau an. Am 6. und 7. November 1942 wurden mindestens 3.000 Juden von dort direkt nach Auschwitz verschickt (die nicht transportfähigen Greise und Kranke wurden vor Ort 240 241 242 243 244 245

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Grynberg, 1984. S. 45 ff. Grynberg, 1984. S. 63. Schulz, 2010. S. 271. Grynberg, 1984. S. 41 f. Grynberg, 1984. S. 45. Grynberg, 1984. S. 106.

Lejb LangfuSS: Erschüttert von der Gräueltat

ermordet). Als Fortsetzung folgte die Säuberung des Ghettos von Mielau: Der erste Transport fuhr am 10. November nach Treblinka, weitere drei gingen am 13. und 17. November sowie am 10. Dezember nach Auschwitz. Dorthin fuhren auch die Züge aus anderen Ghettos: am 18. November aus Neustadt (weitere zwei Transporte fuhren dort am 9. und 12. Dezember ab), am 20. November aus Neuhof und am 24. November aus dem korrumpierten Striegenau246. Das Ghetto von Maków wurde ebenfalls im November liquidiert, wobei dessen Bewohnern eine „Verschnaufpause“ im verwüsteten Transit-Ghetto von Mielau vergönnt wurde. Ende November wurde de facto auch das 4.000-köpfige Ghetto in Neuhof liquidiert. Nur 750 Handwerker blieben dort, während circa 1.250 Menschen nach Pomiechówek nördlich der Gemeinde und weitere 2.000 in drei Transporten nach Auschwitz gebracht wurden: am 20. November Alte und Kranke, am 9. Dezember Familien mit drei oder mehr Kindern, am 12. Dezember alle anderen247. Anfang Dezember machte sich die SS an die Liquidierung des Plöhnen-Ghettos: Der erste Transport von dort kam am 3. Dezember in Auschwitz an, der letzte fuhr am 15. Dezember in Plöhnen ab. Dies war offensichtlich auch der letzte RSHA-Transport aus dem Regierungsbezirk Zichenau. Insgesamt wurden in knapp eineinhalb Monaten 36.000 Juden aus Masowien zwangsverschickt. Von den 80.000 Vertretern der örtlichen Vorkriegs-Judenschaft blieben gerade einmal 4.000 am Leben – hauptsächlich diejenigen, die im Herbst 1939 in den Osten, zu den Sowjets geflohen waren.

2. Im Ghetto von Maków lebten vor der Liquidierung rund 4.500 Juden. Mindestens 12.000 weitere Juden größtenteils aus den umliegenden Ortschaften und Gemeinden durchliefen dieses Ghetto aber auch248. Im Zeitplan der Liquidierungen stand es weder an erster noch an letzter Stelle. Es wurde am 18. November 1942 aufgelöst, die Bewohner wurden deportiert, doch auf ihrem Weg in den Tod erhielten die Juden unverhofft eine dreiwöchige ­Galgenfrist. Dies hatten sie nur dem einen Umstand zu verdanken, dass ihr Heimatstädtchen keinen Gleisanschluss hatte, was einen Zwischenhalt an 246 Grynberg, 1984. S. 106 f. 247 Grynberg, 1984. S. 60. 248 Grynberg, 1984. S. 57.

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irgendeinem anderen Ort mit einem Bahnhof erforderte. So kamen sie in das menschenleere Ghetto von Mielau, ihre letzte Station und Verschnaufpause vor der Hölle von Auschwitz. Diese Zwangsverschickung wurde von Lejb Langfuß ausführlich und ausdrucksstark in der „Vertreibung“ beschrieben, der umfangreichsten seiner Handschriften, die uns erreicht haben. Sie beginnt mit den Worten: „Das stille und ruhige Ghetto von Maków ist in idyllische Behaglichkeit versunken.“ Zwei normalerweise unvereinbare Umstände stoßen in diesem Oxymoron frontal zusammen: die örtliche Idylle und die zeitliche Tragödie. Hätte man sich in einem derartigen Paradies ein Massaker vorstellen können? Natürlich konnte man es nicht. Aber Maków war ja auch kein Paradies. Schon 1939 hatte die zeitliche Tragödie die örtliche Idylle hinweggefegt, die ohnehin von dem keineswegs harmlosen, sondern zutiefst herben privaten polnischen Antisemitismus – wenn auch von der polnischen Verfassung und der Polizei ein wenig eingedämmt – beherrscht worden war. Der systematische Austausch des Judenhasses als einer privaten Angelegenheit gegen die fachmännische deutsche Staatsjudophobie öffnete alle Schleusen und Ventile für jede Art von künftigen Pogromen (der Sünden­ erlass war inklusive). Noch bedeutete dieser Ersatz aber keinen Übergang vom Wort zur Tat, vom Herziehen und Bespucken zum Aufregendsten und Reizvollsten überhaupt: zum – Heil Hitler! – straffreien Morden, Vergewaltigen und Rauben. Irgendwo außerhalb des Reichs, im Generalgouvernement zum Beispiel, im Ostland oder in der Ukraine, war es gang und gäbe, dass die Einheimischen mitsamt ihren paramilitärischen Formationen sich unter gleichgültigem Gähnen oder ermutigendem Beifall der Besatzer dann und wann ein gewaltsames Engagement und pogromhafte Initiativen erlaubten. Im Reichsgebiet aber war so etwas kein bloßer Streich mehr, sondern eine Übertretung, die sich einige besonders motivierte Polen dennoch hin und wieder gönnten, wie etwa am 10. Juli 1941 in Jedwabne, Bezirk Bialystok. Dabei sei ausdrücklich betont, dass Langfuß‘ erhaltene Notizen249 im Unterschied zu den Texten Gradowskis oder Lewenthals nahezu keine Vorwürfe an die polnische Bevölkerung beinhalten. Sie beginnen mit den Ereignissen von Ende Oktober 1942, als die Vernichtung der Juden längst kein Hobby alteingesessener Dilettanten mehr war, sondern den ranghohen Profis aus der SS, dem SD und der Feldgendarmerie aufgetragen wurde. 249 Jener Teil zumindest, der uns erreicht hat.

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Die strategische, vom Führer und Reichskanzler gestellte Aufgabe  – die Endlösung der Judenfrage –, setzte keine temporär-punktuelle Totalität ihrer Ermordung voraus. Den Henkern war durchaus bewusst, dass alles seine Zeit hatte. Natürlich waren die Profite aus den Kontributionen und der zeitweisen Nutzung jüdischer Fachleute in die Endlösung eingepreist. Aber das Konzept basierte auch auf den tief verwurzelten Grundsätzen von vernünftig-sukzessivem Vorgehen, Disziplin und kräfteschonendem Einsatz. Es musste portionsweise gemordet werden: Stück für Stück, Scheibchen für Scheibchen, Transport für Transport. Wären die Juden mit einem Mal alle zusammengekommen, um zu sterben, hätten sie ihren Henkern und Peinigern kaum größere Un­annehmlichkeiten bereiten können – nicht wegen der Sentimentalität oder so etwas, sondern wegen der unermesslichen logistischen Schwierigkeiten. Deshalb waren die Fügsamkeit und die Disziplin der Opfer so wichtig. Erreicht wurden diese nicht nur durch Deportation und Hochkonzentration in den Ghettos, nicht nur durch die Willkür und Blutgier des individuellen Terrors während der Aktionen und nicht nur durch die Spaltung der Judenschaft in die satte Elite (Judenrat, Polizei, Kapo) und den jämmerlichen Rest. Auch persönliche Geschäfte und vertrauliche Beziehungen, ja sogar Nachlässe und Gefälligkeiten – etwa Sport, Kultur, Jugendvereine und sogar Arbeitsbefreiung während des Pessachs – dienten der Disziplinierung der Juden. Diese Taktik von „Zuckerbrot und Peitsche“ verlangte von den Henkern eine Flexibilität, die es ihnen ermöglichen würde, jeden Augenblick blitzartig zuzuschlagen und paralysierend zuzubeißen. Genauer gesagt: nicht in jedem, sondern in dem einzig richtigen Augenblick, in dem diese Maßnahmen am besten greifen würden. Wie durchdacht und systematisch die Henker des Holocaust agierten, wird bis heute unterschätzt. Die Aufstellung von Hängebalken auf dem Schulhof in Zichenau und die Geiselnahme von 20 willkürlich ausgewählten Männern durch Rottenführer Steinmetz sowie ihre anschließende öffentliche Hinrichtung sind kein Sparren eines schrulligen Sadisten und erst recht kein Zufall. Die Bestimmung dieses dreifachen Winkelzugs war dieselbe wie die eines Schlangenbisses: Das Opfer wird erst paralysiert und dann unschädlich gemacht, damit es ruhig und kampflos verschluckt und verdaut werden kann. Das Opfer  – das Ghetto  – war natürlich zum Tode verdammt, allein es sollte friedlich und ohne Aufruhr sterben, dazu bitte noch so, dass es sich kurz vor dem Tod freiwillig von den eigenen Wertsachen trennte. Also hatte der Rapportführer seinem Ghetto im ersten Schritt mitgeteilt, es stünde eine Generalverschickung an: Die Arbeitsunfähigen würden in Malkinia (welches 375

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als Vorposten Treblinkas schon bekannt war), die Arbeitsfähigen in dem damals noch wenig bekannten Auschwitz erwartet. Im nächsten Schritt ließ er durchblicken  – um der Bestechungsbereitschaft der Juden nachzuhelfen –, dass es keinen Unterschied zwischen diesen beiden Routen gab. Ausgelöst hatte er bei den Juden dadurch freilich etwas anderes (sie hatten ja nichts mehr, womit sie hätten bestechen können): eine Welle der Verzweiflung und den Drang, die Kinder zu retten. Dies bedeutete, die Kinder würden zu Bekannten aufs Land geschickt und die Erwachsenen würden sich nach einem Gebet auf die Mörder stürzen und im Kampf gegen sie umkommen. Leider blieb diese einfache und wohl auch richtige Absicht unverwirklicht, denn selbst die Gnädigsten unter den Polen, durch vorausschauende Deutsche eingeschüchtert, weigerten sich, einem Juden Schutz zu gewähren – und wäre es Jesus Christus persönlich gewesen. Aber die größte Schwachstelle dieses Plans waren die Kinder … die jüdischen Kinder. Langfuß hat es an seinem eigenen Beispiel hervorragend dar­ gelegt. Weder seine Frau Deborah noch er selbst hatten die Kraft, sich auch nur für eine Minute von ihrem Samuelchen zu trennen. Der Junge hätte es aber auch, durch elterliche Liebe verwöhnt und verhätschelt, keine Stunde bei Fremden ausgehalten. Die jahrhundertealten Gesetze der jüdischen Verwandtschaft hatten sich verselbstständigt und wirkten in diesem Fall nicht zum Wohl, sondern zum Verderb des kleinen Samuel und seiner Eltern sowie zugunsten ihrer Henker. Natürlich war das gesamte Geschehen ein kaltblütiger und perfider Mord mit anschließendem Verschlucken und Verdauen. Aber der ewigen Gesetze der Mischpoke wegen war es bis zu einem gewissen Grad auch Selbstmord. Da tauchte Steinmetz wieder auf und log ungeniert, Auschwitz (für die Arbeitsfähigen) sei durch Schächte bei Kattowitz ersetzt worden und man dürfe auch die Familien dorthin mitnehmen. Ach, was für ein Glück! Kann denn von Kampf und Widerstand überhaupt die Rede sein, wenn das stimmt? Die mutigen Pläne zur Feindesbekämpfung hatten sich augenblicklich verflüchtigt. Sogar der Selbstmord eines einheimischen Arztes, der das Ghetto erschüttert hatte, und der dazugehörige Abschiedsbrief mit dem Gebot, keinem deutschen Wort zu trauen, hatten keinerlei Konsequenzen. Und dies aus dem Grund, dass an der Börse des jüdischen Lebens ein riesiges Aktienpaket der wertvollsten aller Firmen  – der Firma der Hoffnung  – feilgeboten wurde. Wie sanft und geschmeidig, wie einträchtig-kameradschaftlich wurden Kommandant Steinmetz und seine SS-Schranzen wenige 376

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Tage vor der Abfahrt nach „Kattowitz“, als das „Aktienpaket“ aufs Parkett geworfen worden war … Wie gern hätten sie doch das große Geld an dieser Börse gemacht, sich gesundgestoßen an den jüdischen Schätzen, die den Juden noch nicht weggenommen worden waren. Etwas ist ihnen in der Tat zugefallen, ganz besonders den Mitgliedern jener Kommission, die über die Arbeitsfähigkeit der Ghettobewohner entschied. Dieses Interesse beruhte aber auch auf Gegenseitigkeit. Nichts entwaffnet einen Juden mehr als die Liebe zu seinen Kindern, nichts bindet ihn so straff und so schonungslos wie die Regeln der Mischpoke. Wie ruhmredig Lejb Langfuß sich auch gab, wie sehr er dem Leser auch die Ansprache des Dajans aus Maków (also seine), der am Tag des Abschieds von Maków „am rührendsten und mutigsten“ gesprochen habe, zu vermitteln versucht – wir sehen ja, dass er nach kurzem Zögern nicht auf den Kampf, sondern auf die „Hoffnungsaktien“ gesetzt hatte. Auch wenn er in seinem verzweifelt ehrlichen Text wieder und wieder vom Widerstand spricht, bleibt seine Rede für immer im Konjunktiv: „Wir hätten heldenhaft gekämpft“. Er und seine Deborah hatten dem endlosen Schluchzen und Zittern des kleinen Samuel nichts entgegenzusetzen. Wie bedauerlich es auch ist, war doch die Strategie der Konsolidierung innerhalb der Familie, die sich bei Pogromen über Jahrhunderte hinweg bewährt hatte, unter den Umständen der Endlösung wertlos, ja fatal. Schon am 18. November – am Tag der ersten Deportationsetappe – hörten die Nazis schlagartig auf, sich für Judenfreunde auszugeben, und waren wieder sie selbst. Wenn sie gegeneinander auch konkurrierten, so doch nur bei der Raffinesse der Schikanen und Quälereien. Lejb Langfuß, der örtliche germanophile Dajan (quasi ein Rabbi), empfand in seinem Herzen für diejenigen, die die Kommission für arbeitsfähig befand, zwar aufrichtiges Mitleid. Dennoch freute er sich auch, dass jemand aus der Kommission genauer hingesehen und in ihm selbst einen geborenen Bergmann erkannt hatte, der (gemeinsam mit seiner Familie natürlich) in Kattowitz, der Hauptstadt des oberschlesischen Bergbaus, sehnsüchtig erwartet werde. Dort, wo sie wirklich hingebracht wurden, gab es aber keine Bergschächte, sondern einfach nur ein anderes Ghetto, jenes von Mielau – ein ebensolches wie das von Maków, nur ein längst verwüstetes und ausgeplündertes. Empfangen wurden sie, gemeinsam mit der SS, vom Vorsitzenden des örtlichen Judenrats und seinen Polizisten, die die Deutschen als Unterstützung offensichtlich noch gebrauchen konnten250. 250 Wenn Lejb Langfuß sich nur nicht geirrt hat.

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In Maków wurden die Arbeitsfähigen und -unfähigen gleichermaßen schonungslos auf Lastwagen verladen. Bei den Durchsuchungen und Registrierungen, beim Ver- und Entladen suchten die SS-Leute immer und immer wieder nach dem Judenschmuck und den Judendollars. Sogar die Mühe, eine Selektion zu imitieren, scheuten sie in Mielau nicht. Zu diesem Zweck wurden einige Juden aus ihren kalten provisorischen Behausungen im fremden verwüsteten Ghetto heraus- und in zwei auf die Unterbringung von Menschen und ihre Hygienebedürfnisse völlig unvorbereitete alte Mühlen hineingezwungen, nach denen das Städtchen wahrscheinlich benannt worden war. Auf die Bewohner wirkte dieser Bluff wie eine endgültige Selektion, weshalb sie ihre Schätze umso bereitwilliger hergaben. Auch Lejb und Deborah mit ihrem Samuelchen waren dort. Als „die entsetzlichste Nacht ihrer Art“ ist diese Nacht bei Langfuß verzeichnet. Man fasst es einfach nicht, mit welchem Einfallsreichtum und welcher Ausdauer die Deutschen die Kuh, die sie ins Schlachthaus führten, unterwegs immer und immer ­wieder zu melken verstanden. Der Aufenthalt in Mielau zog sich mehrere Wochen hin (für die Familie Langfuß bis 5. oder 7. Dezember). In dieser Zeit fiel Schnee, an den sich auch Gradowski in seinen Notizen erinnerte. Er wurde an denselben Tagen und in dieselbe Richtung gefahren wie Langfuß und Lewenthal, jedoch nicht vom Nordwesten (aus Mielau und Malkinia im Bezirk Zichenau), sondern vom Nordosten her, aus Kiełbasin im Bezirk Bialystok. Erst als die drei, nachdem sie ihre Angehörigen im Handumdrehen verloren hatten, im Block des Sonderkommandos zusammenkamen, begriff Langfuß endlich, wie hinterhältig und verlogen der „Gönner“ war, dem er sich naiv anvertraut hatte, und in welch schlimmer Lage er sich nun befand. Diese Einsicht zu erlangen, fiel Langfuß, der gerade noch ein trotz allem glücklicher Vater und Ehemann gewesen war, unvergleichlich schwerer als dem kinderlosen Gradowski oder dem ledigen Lewenthal. Als er in „Der Weg zur Hölle“ über dieses Phänomen, dass sie „ohne zu murren“ auf die Schlachtbank gingen, nachdenkt, benennt Gradowski die persönlichen Empfindungen, Ängste und Instinkte, den Zustand der Betäubung durch persönliches und familiäres Unglück als die maßgeblichsten Ursachen für den Untergang der Juden: „Der erste Aspekt, der auch die Jugend irreführte, bestand darin, was die Familien zu einer Einheit verbindet, nämlich in dem Gefühl der Verantwortung für die Eltern, Frauen und Kinder – das hat uns verbunden, zu einer einheitlichen, unteilbaren Masse vereint.“ Daher auch seine Schluss­folgerung über verzweifelte junge Menschen, die durch keine 378

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familiäre Verantwortung gebunden waren – sprich: ohne Mischpoke dastanden, weshalb die Deutschen sie mit hinterhältiger Sorgfalt als die größte Bedrohung bei ihren Plänen einkalkulierten. Lewenthal behandelt diese Problematik bei all seiner Neigung zu Psychologismen zumindest in den Texten, die uns erreicht haben, nicht. Seinem Kommentar zum „Manuskript von Lodz“ nach zu urteilen, schließt er sich jedoch den Ansichten der beiden anderen Mitglieder des Sonderkommandos an. Was die Rettung der Juden anbelangt, sind demnach die Verfechter des Widerstands im Recht – und nicht Chaim Rumkowski, der Vorsitzende des Judenrates im Ghetto von Lodz, von dem Lewenthal in Birkenau erfahren hatte. In der Tat rettete Rumkowski durch den Handel mit jüdischen Seelen niemandem das Leben. Er verteilte lediglich Platznummern in der Warteschlange an der Pforte zum Tod251.

3. Lejb Langfuß, der Dajan aus Maków Mazowiecki, wurde in Warschau um 1910 geboren. Er war als Enkel eines Chassids aus Kock und Absolvent der Jeschiwa von Sandomir ein zutiefst religiöser Mensch. 1933 oder 1934 heiratete er Deborah Rosenthal, die Tochter von Szmul-Josif Rosenthal, dem Rabbiner von Maków. Bald darauf kam ihr Sohn auf die Welt: Samuelchen. Gleich nach dem Überfall Deutschlands auf Polen zog der Schwiegervater eilig nach Warschau, wodurch Lejb faktisch zum geistigen Oberhaupt der Gemeinde von Maków aufrückte252. Noch vor dem Krieg behauptete Langfuß, man dürfe Deutschland nicht trauen, denn Hitler wolle alle Juden physisch vernichten, wogegen man sich erheben müsse. Es hörte niemand auf ihn253. Das ehemalige Mitglied des Judenrats von Maków, Avrom Garfinkel, erinnerte sich, dass Langfuß seine Agitation, Widerstand und Aufstand seien die besten Handlungsalternativen, unbeirrt auch unter der Besatzung und im KZ fortsetzte254. 251 So denken Gradowski, Langfuß und Lewenthal aber bereits in Birkenau, wie Anna Schmaina-­ Welikanowa bemerkt. Vorher hätte kein Mensch in der Welt an die Möglichkeit der vollständigen Vernichtung des gesamten jüdischen Volkes geglaubt. 252 Vgl. Aussage von Jeshua Eibschitz (YVA. M99/944). 253 Mark E., 1985. S. 168. 254 Nach Aussage von Avrom Garfinkel (Mark E., 1985. S. 167, mit Verweis auf das Archiv von Bernard Mark).

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Zusammen mit seiner Frau und seinem Sohn wurde Langfuß am 18. November aus Maków verschleppt. Nach dem dreiwöchigen Aufenthalt in Mielau/ Mława wurde er am 7. Dezember mit dem letzten Transport nach Auschwitz gebracht. An seinem Zielort kam der Transport am 10. Dezember 1942 an. Von den rund 2.300 Menschen überstanden 1.976 die Selektion nicht: Sie wurden mit Lkw weggefahren, unter ihnen auch Deborah und Samuel. Nur 524 Menschen, allesamt Männer, hatten die Selektion überlebt (sie erhielten die Häftlingsnummern 81400 bis 81923). Die 70 besonders kräftigen und gesunden unter ihnen kamen zum Sonderkommando, so auch Langfuß und Salmen Lewenthal. Als sie nach der Selektion fragten, wo ihre Angehörigen hingebracht worden seien und was mit ihnen geschehen werde, antworteten die SS-Männer freundlich, die Familienangehörigen würden in speziellen Baracken untergebracht, wo sie am Wochenende besucht werden könnten. Tatsächlich aber wurden sie noch am selben oder dem folgenden Tag ermordet und ihre Leichen wurden verbrannt: Vom ganzen Transport blieb nur ein Häufchen Asche übrig. Innerhalb des Sonderkommandos war Langfuß zweifelsfrei der frommste Jude. Aus der intuitiven Bewunderung dafür, wie unerschütterlich sein Glaube „abgesehen von und trotz allem“ war, und aus dem Wunsch heraus, sein empfindsames Herz zu schonen, wiesen die Kapos ihm stets relativ leichte Arbeiten zu: Mal war er der Stubendienst der Baracke, mal wusch und trocknete er das Frauenhaar255. Anfangs hatte auch er bei der Einäscherung der Leichen an den Bunkern und später in den Krematorien II und III gearbeitet. Nach dem Aufstand war er offensichtlich auch bei dem Abbruch der Ruine des legendären Krematoriums IV tätig. Langfuß war bekannt als einer, der sich brennend für alle möglichen Nachrichten interessierte. Ohne namentlich genannt zu werden, wird er im Manuskript von Salmen Lewenthal und offenbar auch von Salmen Gradowski wie auch in dem Buch von Miklós Nyiszli erwähnt. Dieser beschreibt ihn als einen dürren, physisch schwachen schwarzhaarigen Menschen256. Auch Landsleute erinnern sich an ihn: Avrom Garfinkel, Mitglied des Judenrats von Maków, seine Frau Ida, Mordechai Ciechanower und Szmuel Taub, beide Häftlinge des Dachdecker- und Sanitärkommandos257. 255 Vgl. Greif, 1999. S. 30. 256 Nyiszli, 2005. S. 138 f. Ihn meint möglicherweise auch Shlomo Venezia, wenn er von einem hageren Intellektuellen spricht, dem alle halfen, zu überleben. 257 Diese Erinnerungen befanden sich im Archiv von Bernard Mark (siehe Mark E., 1985, Namensverzeichnis sowie S. 167).

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Sie betonen, dass Langfuß Wort und Vorbild auf einige Mitglieder des Sonderkommandos kolossalen Einfluss hatten. In der allgemeinen Niedergangsstimmung war Langfuß gleichsam eine Lichtgestalt: ein Mensch, der um den Erhalt seiner Würde und Gottesebenbildlichkeit kämpfte. Er gehörte zu den Anführern der Widerstandsbewegung des Sonderkommandos. Mehr noch: Er erklärte sich bereit, auf dem Gelände der Krematorien zu bleiben und „sein“ Krematorium – zusammen mit sich selbst – zu sprengen, um Samson gleich zusammen mit den „Philistern“258 zu sterben. Mit seinen religiösen Ansichten wäre ein solcher Tod nicht unvereinbar gewesen. Als er den Elektriker Porębski auf dem Terrain „seines“ Krematoriums III in den allerersten Oktobertagen 1944 traf, weihte Langfuß ihn in die Aufstandspläne ein und erzählte, dass es seine, Langfuß‘, Aufgabe sein werde, das Krematorium zusammen mit sich selbst in die Luft zu sprengen, weshalb er den Polen Porębski als eine Person mit höheren Überlebenschancen darum bitte, sich ihn, Langfuß, und den Umstand gut zu merken, dass an unterschiedlichen Stellen rings um die Krematorien mehrere Behälter mit Manuskripten versteckt seien. Der Widerstand entwickelte sich nach seinem Ausbruch keineswegs planmäßig. Seine Epizentren waren die Krematorien IV und II, weshalb Langfuß, der sich, wie Lewenthal auch, im Krematorium III aufhielt, daran keineswegs teilnehmen konnte. Seine letzte Notiz schließt Langfuß mit drei kurzen Sätzen und einem Datum ab, dem Datum seines Todes: „Jetzt gehen wir zur Sauna, die übrig gebliebenen 170 Männer. Wir sind uns sicher, dass wir in den Tod geführt werden. Sie haben 30 Männer ausgewählt, zum Verbleib im Krematorium V. Heute ist der 26. November 1944.“

4. Dort, am Krematorium III, wurde dieses Manuskript auch entdeckt, im April 1945, als einer der ersten Funde dieser Art überhaupt. Gustaw Borowczyk aus Kattowitz, später Offizier der polnischen Volksarmee, hatte es an den Ruinen des Krematoriums gefunden. Offenbar ahnungslos, was er mit dem Schriftstück anfangen sollte, versteckte er das Manuskript auf dem Dachboden seines Hauses. 258 Buch der Richter (Shoftim). 16,30.

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Anscheinend erzählte er niemandem von seinem Fund, denn hätte er dies getan, hätte ihn ganz bestimmt wenn nicht Wolnerman, so doch Leon Schönker kontaktiert, jener Jude, der vor dem Krieg den Vorsitz der jüdischen Gemeinde von Oświęcim innegehabt hatte und Auschwitz auf wundersame Weise überlebte. Im November 1939 war er gemeinsam mit anderen Gemeindevorsitzenden aus Oberschlesien von Eichmann persönlich, der an der raschen Aussiedlung der jüdischen Bevölkerung aus der Region interessiert war, nach Berlin bestellt worden. Nach dem Krieg gelang es Schönker, kurzzeitig seine Fabrik „Agrochemie“ in Oświęcim Kruki wiederzuerlangen, die erst im Mai 1949 endgültig nationalisiert wurde. Unermüdlich suchte und sammelte er jede jüdische Reliquie und jedes Zeugnis dessen, was in Auschwitz geschehen war. Dazu, ob und wie erfolgreich er damit war, liegen uns leider keine handfesten Angaben vor. 1955 ging Schönker gemeinsam mit Frau und Kindern nach Österreich, von wo aus er 1961 nach Israel emigrierte259. Zum zweiten Mal wurde das Manuskript von Wojciech Borowczyk auf dem Dachboden seines älteren Bruders Gustaw entdeckt – im Oktober 1970, als er nach dem Tod seiner Mutter nach Oświęcim kam, um Angelegenheiten im Haushalt seiner verstorbenen Eltern zu erledigen. Da stieß er auf eine Sammlung von Blättern, die mit unverständlichen hebräischen Schriftzeichen beschrieben waren. Am 5. November desselben Jahres übergab er das Manuskript an das Staatliche Museum Auschwitz-Birkenau260. Das Schriftstück bestand aus 62 beidseitig beschriebenen Blättern mit den Abmessungen 11  x  17 Zentimeter und zwei lose beigefügten Blättern. Etliche Seiten (besonders am Ende) konnten von Anfang an überhaupt nicht gelesen werden. Der erste Übersetzer des Manuskripts, Dr. Roman Pytel, hatte die Seiten nummeriert: Seite 1 bis 128, die letzte einen Text enthaltende Seite ist die 114. Das Manuskript trägt eine Autorenüberschrift, die bereits angeführt wurde: „Der Geyresh“ („Die Vertreibung“ oder „Die Deportation“). Der erhaltenen Kapitelnummerierung nach zu urteilen ist das Manuskript unvollständig261, 259 Vgl. die Memoiren seines Sohnes, Heinrich Schönker (Schönker, 2008). 260 Vgl. das Übernahmeprotokoll vom 10. November 1970 (APMA-B. F. 13 Wsp. 420). Im Museum hat das Manuskript eine Archivsignatur erhalten: Syg. Wsp. / unbekannter Autor / 449a (Fotokopie: Wsp., Band 78, 79; Mikrofilm: Inventar-Nr. 156866). Eine Kopie und Zusatzmaterialien zum Manuskript werden zudem im Yad Vashem aufbewahrt (YVA. Nr. 303). 261 Hier der Inhalt des erhaltenen Manuskripts (in Klammern sind die Nummern der Originalblätter angeführt): Kap. 1: Erster Befehl (1–30); Kap. 6: Das Buch der Psalmen (30–46); Kap. 10: Vor dem Sonnenaufgang (46–49); Kap. 11: Vertreibung (50–55); Kap. 12: In Mława (55–83); Kap. 17: Auf dem Platz vor dem Zug (83–101). Eine weitere Einteilung nach Unterkapiteln und Textabschnitten liegt nicht vor, doch der Inhalt des letzten Kapitels geht über dessen Überschrift hinaus: Ab Blatt 90 wer-

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obwohl es keine Auslassungen in der Nummerierung der Seiten gibt. Höchstwahrscheinlich handelt es sich um die verkürzte Version einer umfangreicheren Handschrift, die uns nicht erreicht hat. Bei der Auswahl der Fragmente hatte der Autor einfach darauf verzichtet, die Nummerierung einzelner Kapitel zu verändern, dafür hatte er an einigen Stellen offenbar seine späteren Kommentare eingefügt262. Jedenfalls handelt es sich bei dem Manuskript um kein Tagebuch, sondern um Erinnerungen, wenn sie auch anhand ziemlich frischer Eindrücke verfasst wurden. Von den neun Texten der fünf Autoren aus dem Sonderkommando ist „Die Vertreibung“ von Langfuß der einzige, der die Ereignisse in dem Ausgangsghetto behandelt. Die Satzbruchstücke über bestialische Morde und Vergewaltigungen, die zu Beginn des Manuskripts von Lewenthal entziffert werden konnten, lassen die Annahme zu, dass auch dieser Chronist das Leben in „seinem“ Erstghetto in Zichenau nicht verschweigen wollte. Gradowski beginnt dagegen – wenn wir nur von dem Material ausgehen, das uns erreicht hat – erst mit dem Transitlager in Kiełbasin. Nadjari erwähnt, obschon mit Entsetzen, doch nur „sein“ Lager (besser gesagt das Gefängnis) in Chaidari. Und Strasfogel lässt „sein“ Drancy völlig außen vor.

5. Es hat noch ein weiteres persönliches Manuskript von Lejb Langfuß die Zeit überdauert. Gefunden wurde es 1952 in einer Glasflasche: ein 29-seitiges Schulheft mit den Abmessungen 9,5 x 15,5 Zentimeter, wovon 21 Seiten beschrieben sind. Der Text ist erstaunlich gut erhalten und nahezu vollständig lesbar. Die ursprüngliche Autorenüberschrift lautet „Notizen“. In fragmentarischer Form werden darin verschiedenste Ereignisse beschrieben, angefangen beim Geschehen vor Ort, im KZ, bis hin zu den Ereignissen, wie denen von Bełżec, die der Autor nur vom Hörensagen kannte. Die „Notizen“ bestehen aus drei Teilen unterschiedlicher Genres. Der erste mit dem Titel „Vorkommnisse“ besteht aus Erinnerungen an Einzelepisoden.

den dort die Ankunft des Transports aus Mława an der Rampe in Auschwitz und die Selektion beschrieben (90–93). 262 Als Beispiel können einzelne Passagen aus dem letzten Kapitel dienen: „Später überzeugten wir uns, dass der ersten Gruppe vierhundertfünfzig und in der zweiten fünfhundertfünfundzwanzig Menschen gezählt wurden.“ Oder: „Wie ich später erfuhr, befanden sich auch meine Frau und mein Kind in dieser Gruppe.“

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Auffällig ist, dass hier über Ereignisse der Jahre 1943 und 1944 nicht chronologisch, sondern durcheinander berichtet wird. Der zweite Teil – „Sadismus!“ (über Bełżec) – wurde offenkundig nach der Überlieferung der Sowjetgefangenen aufgeschrieben. Schließlich die eigentlichen „Notizen“: ein veritables, wenn auch sehr kurzes Tagebuch. Dessen frühestes Datum ist der 14. Oktober 1944, der späteste Eintrag datiert vom 26. November 1944. So wurde am 14. Oktober damit begonnen, die Mauern des Krematoriums IV einzureißen, die bei dem Aufstand eine Woche zuvor massiv beschädigt worden waren. Am 20. Oktober wurden Berge von Unterlagen und Karteien zur Verbrennung hergefahren, und am 25. Oktober wurde damit begonnen, auch das Krematorium II zu demontieren (wobei es Langfuß erstaunte, dass zuallererst der Motor des Lüftungsventilators und die Rohrleitungen abgebaut wurden, um sie in anderen KZs  – in Mauthausen und Groß-Rosen – zu verbauen; in den Krematorien IV und V gab es solche Motoren nicht, die Deutschen wollten ihre Sache also an anderen Orten fortsetzen). Im Grunde handelt es sich um ein Abschiedsdokument, denn am 26. November 1944 – dem Tag seiner letzten Notiz – fiel Langfuß der letzten Selektion im Sonderkommando zum Opfer. Den Ort der Verstecke beschreibt Langfuß sehr exakt. So hatte er seine beiden großen Manuskripte – „Die Vertreibung“ und „Auschwitz“ (dieses ist verloren)  – am Krematorium II vergraben. Einige, auch kopierte Manuskripte mit Notizen (wie viele genau, ist unbekannt) hatte er auch am Krematorium III verscharrt. Es ist denkbar, dass es insgesamt sechs bis sieben Geheimverstecke gegeben hatte. Zwei davon wurden entdeckt, sodass wenigstens einige Handschriften Langfuß‘ uns auf wundersame Weise erreicht haben. Die Geschichte der Entdeckung, der Übergabe und der Aufbewahrung seines zweiten Manuskripts ist die verworrenste von allen – einige ihrer Rätsel sind bis heute nicht gelöst. Diese zweite Handschrift war offenkundig nicht die einzige, die Langfuß laut dessen Hinweis am Krematorium III, dem er zugewiesen war, vergrub. Den uns verfügbaren Quellen263 ist zu entnehmen, dass dieses Manuskript im Sommer 1952264 entdeckt wurde. Laut offizieller Version wurden die Aus-

263 Die Annotation einer Kopie dieses Dokuments, die im Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau aufbewahrt wird, sowie ein dieser Kopie beiliegender, mit dem 2. April 1974 datierter Dienstvermerk von Jan Kucz, Mitarbeiter des Krakauer Regionalbüros der Hauptkommission zur Untersuchung der Naziverbrechen. 264 Anderen Angaben zufolge im November 1953 oder 1952.

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grabungen 1952 gar vom Kattowitzer Ortsverband der Polska Zjednoczona Partia Robotnicza265 initiiert. Doch aus dem „Dienstvermerk“ von Jan Kucz – dem Mitarbeiter des Krakauer Regionalbüros der Hauptkommission zur Untersuchung der Naziverbrechen in Polen –, der im Grunde die Eingabe eines gewissen Władysław Baruś aus Krakau an das Regionalbüro wiedergibt266, geht ein etwas anderes Bild hervor. Demnach hatte Franciszek Ledwoń, ein Einwohner von Oświęcim, das Manuskript entdeckt, als er am Krematorium IV das Gras mähte. Die Handschrift war in einem verschlossenen, hellblauen oder grünen Glasbehälter von der Größe einer Retorte verpackt. Durch irgendein Wunder erfuhr Leon Schönker von dem Fund und flehte den Finder an, ihm das Manuskript zu verkaufen, doch schlug Ledwoń das Angebot des Juden aus. Stattdessen übergab er das Manuskript an Maria Borowskaja aus Warschau und sie wiederum reichte es an den Parteifunktionär Stanisław Walczyk weiter. Dieser hatte laut Baruś vor, die Handschrift an das Institut für Parteigeschichte zu übergeben267. Außerdem machte Edmund Haber aus Kattowitz, der mit dem Institut für jüdische Geschichte in Warschau zusammenarbeitete, die Angabe, das Manuskript sei zu einer bestimmten Zeit in diesem Institut aufbewahrt worden. Haber selbst beabsichtigte, die Suche nach den jüdischen Handschriften fortzusetzen, und erhielt dafür die Erlaubnis des polnischen Kunst- und Kulturministeriums. Seine achtköpfige Gruppe führte auf dem Gelände des Konzentrationslagers Birkenau zweiwöchige Ausgrabungen durch; auf diese Weise konnte ein Behälter „mit allerhand interessanten Gegenständen“ gefunden werden, der anschließend an das Staatliche Museum Auschwitz-Birkenau übergeben wurde268. Die Aufbewahrungsgeschichte des Originals dieses Manuskripts ist bis heute nicht geklärt, wie auch dessen heutiger Aufbewahrungsort unbekannt ist. Höchstwahrscheinlich befindet sich das Original im Institut für Nationa265 Die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei verfügte, ähnlich der sowjetischen KP in der UdSSR, bis 1989 über das Machtmonopol in Polen. 266 Über die Dienststellung von Baruś erfahren wir aus der Meldung von Kucz nichts. Offensichtlich aber war er irgendwo an der Schnittstelle zwischen politischer und kultureller Hierarchie tätig. An die Hauptkommission zur Untersuchung der Naziverbrechen wandte er sich, nachdem ihm die „Manuskripte eines unbekannten Autors“ in polnischer Sprache in einer dem Sonderkommando gewidmeten Sonderausgabe der „Hefte von Auschwitz“ von 1971 begegnet waren. 267 Eine Einrichtung der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei. 268 Es ist durchaus wahrscheinlich, dass hier die erfolgreichen Ausgrabungen mit Beteiligung von Henryk Porębski 1961 gemeint sind.

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les Gedenken (IPN), welches auch das Archiv der ehemaligen Hauptkommission zur Ermittlung der Naziverbrechen in Polen aufgenommen hat. Laut einer mündlichen Auskunft der Institutsmitarbeiter jedoch ist das Original dort nicht vorhanden. Bald nach der Entdeckung wurde das Original (oder zumindest eine gute Fotokopie davon) zeitweise tatsächlich im Institut für jüdische Geschichte in Warschau aufbewahrt. In der Publikationsschrift dieser Einrichtung wurde es auch erstmals veröffentlicht269. Doch auch in diesem Institut wird das Vorhandensein des Originals nicht bestätigt. Dass das Original verschwunden sei, schrieben schon Jadwiga Bezwińska und Danuta Czech zu Beginn der 1970er Jahre, in ihrem Vorwort zur Handschriftensammlung. Bald ist nun schon ein halbes Jahrhundert vergangen, dass das Originalmanuskript verschollen ist – wobei es höchstwahrscheinlich auch gar nicht gesucht wurde. Als „Original“ diente uns eine Kopie des verschollenen Dokuments, die im Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau in Oświęcim aufbewahrt wird270.

6. Lange Zeit wurden die „Notizen“ als ein „Manuskript unbekannten Autors“ geführt. Es ist nämlich so, dass Langfuß statt seines Namens ein verschlüsseltes Akronym angegeben hatte – ein zwar offenkundiger, aber erst später entschlüsselter Hinweis. Jedoch wurde das Manuskript schon zu Beginn der 1960er Jahre von Professor Bernard Mark, dessen erstem Herausgeber, als einer nicht identifizierten Person – einem Maggid oder Dajan aus Maków Mazowiecki – zugehörig erkannt. 1966 verstarb Bernard Mark, 1971 bestätigte seine Witwe, Esther Mark, mittels eines grafologischen Gutachtens von Efraim Kuper von der Jerusalemer Universität die Übereinstimmung der verglichenen Handschriften271. Mittels einer Gegenüberstellung verschiedener Zeugnisse und einer Analyse des Akronyms des „unbekannten Autors“ gelang es ihr, zunächst seinen Namen und dann auch seine Identität festzustellen272. 269 Biuletyn ŻIH. 1954. Nr. 9–10. S. 303–309. 270 APMA-B. Syg. Wsp. / Autor unbekannt / Band 73. Nr. 420a (Fotokopie; Mikrofilm Nr. 462. InventarNr. 156644. Bl. 1–28). 271 Diese Zuschreibung wurde später von Professor Moskowitsch aus Jerusalem bestätigt. 272 Mark E. Notes on the Identity of the “Anonymous” author and on his manuscript, in: Mark B., 1985. S. 166–170.

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Sie war es auch, die als Erste die später hervorragend bestätigte Hypothese hinsichtlich des Akronyms „J.A.R.A.“ aufstellte. Dieses besteht aus den Anfangsbuchstaben des Vor- und Nachnamens Lejb Langfuß‘ in der Übersetzung aus dem Jiddischen ins Hebräische und ist folgendermaßen zu entschlüsseln: Jehuda Arie (leib = Löwe) Regel (fus = Fuß) Arucha (lang = lang)273. Die Bedeutung von „Langfuß“ ist im Jiddischen die gleiche wie im Deutschen274. Von Langfuß stammen auch drei Fragmente, die innerhalb des Manuskripts Salmen Lewenthals ausfindig gemacht wurden: zwei Fragmente auf Jiddisch („3000 Nackte“ und „600 Knaben“) sowie ein Blatt in polnischer Sprache mit der Aufzählung der Bahntransporte, die in Auschwitz zwischen dem 6. und 24. Oktober 1944 ankamen. Dies veranlasste Roman Pytel, die irrtümliche Hypothese aufzustellen, dass Lewenthal auch der eigentliche Urheber der Handschrift des „unbekannten Autors“ sei275. Die in „600 Knaben“ beschriebenen Ereignisse datieren laut Danuta Czech vom 20. Oktober 1944: An dem Tag wurden in der Gaskammer des Krematoriums III circa 1.000 Jungen im Alter von 12 bis 18 Jahren vergast, darunter 357 Menschen aus Dyhernfurth, einem Nebenlager von Groß-Rosen276. In seinen „Notizen“ knüpft Langfuß an die eigentümliche Klagedichtung an, die auch bei Gradowski und Lewenthal anzutreffen ist. Doch schreibt er dabei besonders blumig und „literarisch“, mit psychologisierenden Reflexionen und Wiederholungen, weshalb das Gewicht seiner einzelnen Worte etwas abnimmt. Die künftigen Leser und Historiker spricht er direkt an. Am Ende bittet er den Finder seiner Texte, sie alle zu sammeln, zu ordnen und unter dem Titel „Erschüttert von der Gräueltat“ zusammen zu veröffentlichen. 1971 wurde sein letzter Wunsch sogar übererfüllt, als die polnischen Herausgeber die gesamte erste Edition von Texten der Mitglieder des Sonderkommandos so betitelten. Erfüllt wurde Langfuß‘ Wille auch in diesem Buch, jedoch im strengeren Sinne: Die Überschrift ist ausschließlich seinen Texten vorbehalten.

273 Im Hebräischen folgt das Adjektiv dem Substantiv. 274 Vgl. Kádár, Vági, 2004. Die Reihenfolge der Initialen ist in diesem Buch vertauscht, aber dies ist nicht wesentlich. 275 Bezwińska, Czech, 1972. S. 8 f. 276 Czech, 1989. S. 912.

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7. Bedauerlicherweise befindet sich „Die Vertreibung“ inzwischen in einem Zustand, in dem sie dem Übersetzer nicht oder kaum mehr dienlich sein könnte. Die bisher einzige unmittelbare Übersetzung vom jiddischen Original wurde ins Polnische von Roman Pytel vorgenommen. Sie stammt aus jener Zeit, in der das Original noch gelesen werden konnte, und diente als Quelle für die erste deutsche Übersetzung sowie auch für die englische. Da das Original erst Ende 1970 ins Museum gelangte, ist es nicht überraschend, dass der Text in den ersten Sammelband der SonderkommandoManuskripte – erschienen 1971 – nicht einging, auch nicht in dessen Übersetzungen ins Deutsche (1972) und Englische (1973). Erstmals erschien der Text 1972 in polnischer Sprache, in der 14. Ausgabe der „Hefte von Auschwitz“. Ein Jahr später folgte die Veröffentlichung in der deutschsprachigen Version dieses Heftes. Als Autor wurde „Lejb“ genannt; eingeleitet wurde die Publikation durch einen Essay Jadwiga Bezwińskas und Danuta Czechs277 sowie durch eine Anmerkung des Übersetzers Roman Pytel. Diese ist besonders bedeutsam, denn nachdem alle Handschriftenblätter bei der Konservierung durcheinandergeraten waren, musste der Übersetzer278 quasi zum Co-Autor werden und die Komposition des Textes wiederherstellen. Jede Seite des Originaltexts wurde mit einer doppelten Nummerierung versehen: Die erste Zahl (in Eckklammern) stellt die Rekonstruktion der Komposition dar, die zweite Zahl (ohne Klammern) entspricht jener Nummerierung von Pytel, die er gleich zu Beginn seiner Arbeit auf das Original auftrug, als es noch ein kaum geordneter Stoß loser handbeschriebener Blätter war. Diese Publikation wurde ohne Änderung in den Neuauflagen der polnischen (1975) und deutschen (1996) Edition reproduziert. Was die anderen Texte von Langfuß angeht, so ist deren Publikationsschicksal nicht weniger bemerkenswert als das Schicksal des Originals der zweiten Handschrift. Angefangen hatte alles 1954 mit der Veröffentlichung eines damals noch nicht identifizierten Manuskripts von Langfuß im „Bulletin des Jüdischen Historischen Instituts“ (in polnischer Sprache) und in den „Historischen Notizen“ (in Jiddisch). 1962 erschien es erstmals auf Deutsch, in dem von ehe277 Von ihnen stammen offensichtlich auch die Kommentare zum Text. 278 Möglicherweise gemeinsam mit den Autorinnen des einleitenden Essays (darüber wird leider nirgends aufgeklärt).

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maligen Auschwitz-Häftlingen erstellten Sammelband „Auschwitz. Zeugnisse und Berichte“279. 1971–73 erschien das Manuskript in drei Sprachen in dem Sammelband von Texten der Mitglieder des Sonderkommandos. Der Autorenname wurde 1977 ermittelt, als in Israel postum die „Schriftrollen von Auschwitz“ Bernard Marks in Jiddisch erschienen. Mark stützte sich dabei auf die Aussagen von vier ehemaligen Bewohnern des Ghettos von Maków, die in seinem Archiv erhalten geblieben sind. In dieser Ausgabe werden die drei Teile, aus denen „Erschüttert von der Gräueltat“ besteht – „Vorkommnisse“, „Sadismus!“ und „Notizen“ –, der Publikation Bernard Marks280 entsprechend veröffentlicht. Diejenigen Fragmente, die in den Texten Salmen Lewenthals enthalten waren, folgen den Scans des Originalmanuskripts. Die Übersetzungen aus dem Jiddischen und Polnischen sind von Dina Terlezkaja erstellt worden. Sie hat darauf hingewiesen, dass Langfuß‘ Texte im klassischen polnischen Dialekt des Jiddischen verfasst wurden, in den einzelne Wörter und mitunter auch Satzstücke in anderen Sprachen (Polnisch, Deutsch und Hebräisch) eingeschoben sind. Die stellenweise etwas holprige Stilistik des Originals wurde in der Übersetzung nach Möglichkeit beibehalten. Die Aufteilung nach Unterkapiteln und deren Betitelung stammen vom Autor. „Erschüttert von der Gräueltat“ wurde zum Kern der ersten Direktübersetzung und Veröffentlichung Langfuß‘ in russischer Sprache, in der Zeitschrift „Nowyj mir“ im Jahr 2012281. Bei dem anderen Text von Langfuß, der „Vertreibung“, schienen die Schwierigkeiten für eine Direktübersetzung freilich unüberwindbar, da das Original in keinem gut lesbaren Zustand mehr war. Aber die Verwendung des gleichen mikrospektralischen Verfahrens von Alexander Nikitjaew, das im Fall von Marcel Nadjari so erfolgreich eingesetzt wurde, hat doch gute Voraussetzungen für einen neuen Versuch der direkten Übersetzung aus dem jiddischen Original geschaffen. Dieser Versuch wurde speziell für die vorliegende Ausgabe von Joel Matveev unternommen, der dabei mit vielen sprachlichen und sachlichen Ungenauigkeiten der ersten Übersetzung konfrontiert werden sollte. Er hat unter

279 In zweiter überarbeiteter Fassung 1979 sowie nach weiteren Auflagen zuletzt und unverändert 2014 neu aufgelegt. 280 Mark B., 1985. 281 Vgl. Langfuß L. W sodraganii ot slodejstwa. Hrsg. und Vorwort P. Polian. Übersetzt aus dem Jiddischen von D. Terlezkaja, in: Nowyj mir. 2012. Nr. 5. S. 160–177.

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anderem die Ersetzung des Titels „Aussiedlung“ durch „Vertreibung“ nachdrücklich empfohlen. Seine Übersetzung aus dem Jiddischen ins Russische wurde danach von Pavel Polian redigiert, wie es bereits in den zahlreichen früheren russischen Ausgaben mit jedem Text eines Sonderkommando-Mitglieds geschehen war. Erst im Anschluss hat Roman Richter den Text aus dem Russischen ins Deutsche übertragen. So aufwändig und mehrschrittig war der Weg dieser gründlichen Übersetzung, um dem Leser einen zuverlässigen deutschen Text vorlegen zu können.

Lejb Langfuß: Texte Die Vertreibung282 Erster Befehl Das stille und ruhige Ghetto von Maków ist in idyllische Behaglichkeit versunken. Am 31. Oktober 1942 um halb neun Uhr morgens kehrten die jüdischen Arbeiter aus den Dörfern zurück. Schon seit einigen Jahren tat das Arbeitsamt283 alles, damit nur ja kein Jude ein normales Leben führen konnte; man bemühte sich darum, dass alle jüdischen Männer und unverheirateten Frauen, die das 53. Lebensjahr284 noch nicht überschritten hatten, irgendeine normale Arbeit hatten. Jedoch wurden die Leute bei [der] Ausführung dieser Tätigkeit, die ja nur dem Anschein nach Arbeit war, in Wirklichkeit gequält, indem man sie unbarmherzig mit zynischer Grausamkeit schlug. In der Gewalt der blutdürstigen, mörderischen Aufseher sollten sie, gequält, ausgehungert und ihrer Seelenkräfte beraubt, sich vollkommen erschöpfen, zusammenbrechen, erkranken. Sie sollten schon allein beim Anblick eines 282 Der Text beginnt auf der fünften Seite des Manuskripts, die aber nur den Titel enthält. Auf Seite 4 stehen keine Buchstaben, aber folgende Zahlen sind zu erkennen: „135,50+113+48=296,50“. 283 Die zuständigen Arbeitsämter richteten in einigen Ghettos Zweigstellen ein, die als Judeneinsatzstellen oder jüdische Vermittlungsstellen bezeichnet wurden. Diese führten die Registrierung der jüdischen Bevölkerung des Ghettos nach Berufen geordnet durch. Die jüdische Bevölkerung wurde auf Anordnung der Besatzungsbehörde zur Zwangsarbeit an die Firmen und Behörden vermittelt, die einen Arbeitskräftebedarf bei den Arbeitsämtern angemeldet hatten. 284 Roman Pytel, der den Text aus dem Jiddischen ins Polnische übersetzte, entzifferte diese Zahl, war sich ihrer jedoch nicht gänzlich sicher.

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deutschen Gendarmen285 vor Furcht zittern. Sie wurden bei der Arbeit angespornt und angetrieben, unter einem Hagel von Schlägen zwang man sie zu einem wilden, unmenschlichen Tempo. Den ganzen Tag lang wurden sie nach Belieben gequält, man ließ keine Gelegenheit aus, sie brutal und zynisch zu malträtieren, auf ihre Körper einzuschlagen, wovon rote und blaue Striemen zurückblieben. Steinmetz286, der deutsche Kommissar des Ghettos, hat eine neue Einführung vorgenommen. Den ehemaligen Hof der Synagoge, wo man einige Monate zuvor die herrliche, mit großer Kunstfertigkeit erbaute, riesige Synagoge ab­gerissen hatte, verwandelte er in einen langen Galgen, um unschuldige Juden zu hängen. Es kamen zwei Gestapos angefahren, die ließen die Leitung der jüdischen Gemeinde rufen und verlangten, dass sofort die Bücher des Arbeitsamts auf den ehemaligen Hof der Synagoge gebracht wurden. Daraufhin befahlen sie, die Namen der ersten zwanzig Arbeiter aufzurufen, die sich damals zufällig in diesem Moment in der Stadt befanden. Dann schickten sie die jüdische Polizei287, um diese Arbeiter herzubringen und in das Gemeindegefängnis abzuführen, wo sie sitzen sollten, bis das Todesurteil über sie gefällt würde. Junge, rüstige Männer voll Lebensfreude und frischer Tatkraft saßen nun dort unter strenger Polizeibewachung, verzweifelt, und alle Lebenden beweinten heftig ihren künftigen Tod. Drei Wochen lang haben sie im Arrest verbracht, unter tragischen Bedingungen und mit schrecklichem Kummer. Sie sahen darin sogar, im Gegenteil […] Sie arbeiteten von Sonnenauf- und bis Sonnernuntergang während langer Sommertage, und sie erfroren in der Kälte im Winter, sie schliefen in den kalten, leeren Häusern, in schrecklichem Schmutz, Gestank und Unrat. Der am meisten verfluchte Tag war der Sonntag, an dem viel Zeit war, um die jüdischen Opfer zu quälen; plötzlich werden jüdische Arbeiter nicht mehr benötigt – von allen Seiten strömen sie durch 285 Die Gendarmerie war Teil der Ordnungspolizei, deren Aufgabe es war, in den kleinen Städten und Gemeinden vorwiegend auf dem Land, sowohl im Reich selbst als auch in den besetzten Gebieten, für Ordnung zu sorgen. Während des Krieges unterstand die Gendarmerie den höheren SS- und Polizeiführern (HSSPF). Auch im Ghetto musste die Gendarmerie bei Bedarf für Ruhe und Ordnung sorgen. Die Bewachung der RSHA-Transporte, mit denen die Juden von den Orten ihrer Konzentration an die Orte ihrer Vernichtung gebracht wurden, war ebenfalls Sache der Gendarmerie. 286 Wahrscheinlich Wolfgang Steinmetz, der als Kommissar der Schutzpolizei neben anderen die Aufsicht über das Ghetto führte. 287 Gemeint ist hier die jüdische Polizei, die es in jedem Ghetto gab. Offiziell wurde sie als ,,Ordnungsdienst» bezeichnet. Jüdische Polizisten trugen Armbinden und manchmal sogar Uniformen; als Waffen führten sie Knüppel.

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das Tor, von überall her, und man lässt sie frei. Es ist doch unmöglich, dass die Deutschen sich so [großmütig] und gut zeigen sollten und die Juden in Ruhe lassen. Die Herzen schlagen in einem beschleunigten, einem schweren Rhythmus. Ein Gefühl der Unruhe hängt in der Luft. Niemand kann die Frage beantworten, was es bedeuten mag, dass das Ghettotor geöffnet wurde. Und da ist er, der Mensch, der ewig den Frieden stört, bei dessen Anblick die Juden ihre Ruhe und Beherrschung verlieren, der Mensch, dessen Gestalt alle mit Schrecken erfüllt. Die nächstliegenden Häuser und Straßen verödeten. Mit ungeduldiger Besorgnis und klopfendem Herzen erwarten alle sein Fortgehen, um zu erfahren, was für ein neues Übel er mitgebracht und wen er schon totgeschlagen hat. […] helfen […] bitter und erschreckend. […] das Leben ringsherum und alles ist gut […] Vor dem Abend kam die deutsche Polizei. Die ganze Bevölkerung wurde zusammengerufen und der erste strenge Befehl wurde gegeben: Junge und Alte und auch die Kinder hätten sich sofort auf dem Hof der Synagoge zu versammeln. Auch dürften die Frauen und Eltern der Opfer nicht fehlen. Totenstill habe es zu sein. Maschinengewehre werden von allen Seiten aufgestellt und gegen die Menschenmasse gerichtet. Beim kleinsten Anzeichen von Protest oder Lärm würde geschossen. Zwischen der Menschenmenge und dem Galgen stand ein starkes Polizeiaufgebot. Die Opfer wurden mit auf dem Rücken gebundenen Händen herbeigeführt, sie stellten eigens jüdische Polizisten auf und zwangen sie, ihre Brüder mit eigenen Händen zu erhängen. Und da schickte der noch auf dem Hof anwesende Steinmetz Leute aus, um die jüdischen Gemeindeleiter Ehrlich und Gurfinkel288 zu rufen. Dann sagte er zu ihnen: Noch hängen die Enden der Schnüre, von denen man die Köpfe abgeschnitten hat, und diese rufen nach weiteren Köpfen, und sie legen die Schlingen herum. […] bleibt […] das Gesicht, dass er den halben Weg schon hinter sich hat […] erzählte […] die Straßen des Ghettos […] unruhige Menschen […] an die Gemeinde, panisch […] die Luft war […] angefangen mit einem kurzen […], der ihnen erklärte, dass ein bitterer Befehl, die Vertreibung, ergangen sei. Diejenigen, die arbeitsfähig seien, fahren nach Auschwitz. Ihre Frauen und Kinder, auch die Arbeitsunfähigen, fahren nach Malkinia289. Eine entsetzliche Bestürzung … 288 Die Mitglieder des Judenrats, Abraham Garfinkel und Ehrlich. 289 In Malkinia (auch Małkinia Górna) nahe der Stadt Ostrów Mazowiecka befand sich ein Durchgangslager für Juden. Der Ort war ein Knotenpunkt, wo sich die Bahnlinien Warschau–Bialystok

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Ungeheure Trauer, jeder Stein war von Tränen erfüllt, alle zitterten und bebten. Die Menschen warfen sich instinktiv aus Furcht und Aufregung hin und her. Weinen und Schreie wurden zu einer einzigen heftigen Urgewalt und von Minute zu Minute noch stärker, bis daraus eine bis ins Tiefste erschütternde Harmonie der Stimmen entstand. Alles im Inneren der Menschen brauste auf wie in einem kochenden Kessel. All diese anklagenden Stimmen verschmolzen in ein einziges, betäubendes, in verschiedenen Tonarten schallendes Weinen, das die Luft zerriss und erschütterte. Die Kinder, die herumstanden, verstanden nur ungenügend das, was hier vor sich ging, doch fühlten und begriffen sie, dass hier etwas Ungeheuerliches geschieht. Also weinten sie mit den Erwachsenen zusammen. Ihre reinen Kinderstimmchen drangen aus den gemischten Stimmen dieses großen Chores hervor, der das schwere Menschenleid durch seine Innigkeit und seinen Klang ergänzte. Die kleinen Kinder auf den Armen der Eltern schmiegten sich mit erschreckten Äuglein und verzerrten Gesichtern fester an ihre Brust und umklammerten sie krampfhaft. Die Augen fielen tief in die Gesichter ein, die vor Trauer einen grauen, erloschenen Ausdruck bekamen. Von Zeit zu Zeit schienen sie sich zu beleben, sie bewegten sich nervös und schnell, voll Unruhe. Es entzündete sich in ihnen eine Flamme brennenden Zorns, der im Bewusstsein ihrer Ohnmacht und der Unmöglichkeit, ihn zu äußern, im Inneren erstickt wurde. Mit besonderer Schärfe möchten sich der Schmerz, dieser tiefe, schwere Schmerz, und das unerträgliche Leiden entladen. […] standen mit den Gesichtern auf die Menschenmenge gerichtet und […] aus ihren großen schwarzen Augen. […] Charakter zu berücksichtigen […] wegen der Vertreibung geblieben […] wie die Kinder, aufrichtig auf seinem Gesicht mit den großen schwarzen Augen, in dessen scharfem jugendlichem Blick unendliche Verbitterung und Wehmut aufgrund der Erschütterung abzulesen waren […] Eine Frau ruft aus: Es herrschte einmal eine Typhusepidemie in der Stadt und die Menschen starben massenhaft. In unseren jungen Jahren beweinten wir sie bitterlich. Jedoch wie glücklich waren diese! Ruhig beerdigte man sie auf dem jüdischen Friedhof. Und ihre Knochen haben schließlich Ruhe



und Ostrołęka–Siedlce kreuzten. In dem Durchgangslager wurden die Transporte formiert, die man zur Vernichtung nach Auschwitz und Majdanek, am häufigsten aber in das nahe gelegene Treblinka leitete.

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gefunden! Aber wir, wer weiß, wo unsere Knochen Ruhe finden werden? […] ihrer Mütter […] […] Eine Frau ruft aus: „Nein! Meine Liebe! Hier geschieht ein solches Unglück, welches meinem Schicksal gegenüber gleichgültig ist. Welch eine Kleinigkeit, dass ich selbst einsam sterben werde, dass meine Knochen keine Ruhe finden werden, im Vergleich zu dem ungeheuren Unglück der Vernichtung meiner Kinder. Das ist das Entsetzlichste und Schrecklichste von allem, was eine Mutter im Leben treffen kann. Und dazu verlangen diese brutalen Mörder auch noch, dass ich selbst meine eigenen Kinder an den Ort des Massenmordes führen soll. Eine Mutter soll denen helfen, ihre eigenen Kinder in den Tod zu führen! Kann es denn etwas Schrecklicheres auf der Welt geben? […] gingen […] als die deutschen Gendarmen, die wegnehmen […] an das Tor führte die jüdische Polizei […] acht Uhr abends, die Zeit […] stark und alle […] […] Orientierung und endgültige […] Im ersten Augenblick, aus der plötzlichen [Überraschung] entstand Chaos und Verwirrung. Jeder […] zusammen mit seiner Familie, was beginnen, ob etwas zu retten sei. Schon einmal hat die Stadt eine teilweise Aussiedlung erlebt. Das war im Jahre 1941. Mithilfe der Polizei trieb man täglich […] in die nächstliegenden Dörfer, solche wie Szelków290 […] usw. Der Bürgermeister machte hierbei ein Riesengeschäft. Derjenige, der durch seine Vermittlung eine goldene Uhr, einen Brillanten oder eine größere Summe Geldes abgab, erhielt von ihm eine Quittung, dass er und seine Familie an Ort und Stelle bleiben dürfen. Damals wurde der größte Teil der Juden hinausgetrieben. Schließlich beruhigte es sich wieder, aber das Geschäft ging weiter. Wer ihn gut bezahlte, der erhielt die Erlaubnis, in die Stadt zurückzukehren. Arme Juden irrten lange Zeit herum, bevor man sie zurückjagte in Schmutz und Elend, Hunger und Kälte. Aber diesmal vertreibt man die Menschen sehr weit fort und sagt ihnen, dass alle […] Also gibt es überhaupt keine Hoffnung mehr auf eine Rückkehr. Wenn man sich jedoch an jene Aussiedlung der Einwohner erinnert […] Straßen […] begannen sie massenweise aus dem Ghetto zur sog. „Kolonie“291 zu fliehen. Er nahm die kleinen Kinder, diesen größten Schatz, mit, überließ 290 Höchstwahrscheinlich handelt es sich um die heutigen Dörfer Stary und Nowy Szelków zehn Kilometer südöstlich von Maków. 291 Gemeint sind offenbar näher oder weiter entfernt gelegene Dörfer, in denen die Menschen eine Bleibe zu finden suchten.

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seine Wohnung ihrem Schicksal und floh in die Kolonie, um dort abzuwarten und zu sehen, was weiter wird. Auf jeden Fall gewannen sie hierdurch so viel, dass sie nicht als Erste ins Feuer gingen. Als die Familienmitglieder aus der Gemeinde zurückkamen, schlugen ihre Herzen so stark wegen des schnellen Marsches, dass ihnen der Atem ausging und sie kein Wort reden konnten. Ihre Erschütterung und Aufregung sowie ihre wild blickenden Augen hatten ihre Gesichter fast bis zur Unkenntlichkeit verändert und mit Totenblässe überzogen. Bevor sie sich bewusst wurden, was eigentlich vor sich geht, herrschte für einen Augenblick höchste Bestürzung. Dann fassten sich die Leute und gewahrten, dass die Zeit drängt und sofortige Entscheidung und Handeln notwendig war. Der erste Beschluss bestand darin, dass die Jugendlichen, die an keinerlei […] gebunden waren, sich zu den örtlichen Bauern begeben. Habe jemand einen befreundeten Bauern, so sollte er wenigstens eines seiner Kinder zu ihm schicken. Man müsse retten, was irgend zu retten war; es wurde beschlossen, den heranwachsenden Kindern Geld und Wertsachen mitzugeben, damit ihre materielle Existenz gesichert sei. … Möglichkeit. Zuerst wurden sie erledigt. Sie legten ihre beste Oberkleidung an und darunter zogen sie einige Wäschegarnituren übereinander an. Sie nahmen die wichtigsten Sachen und Geld mit, wonach sie über den Zaun kletterten, aus dem Ghetto in die Freiheit. Der Abschied dauerte aus Zeitmangel sehr kurz. Mit einem Herzen, das dem Zerreißen nah war, mit heißer Liebe und in größter Trauer küssten und umarmten sich die Menschen. Die Verzweiflung war maßlos. Diese plötzliche Eile überraschte die Leute wie ein ausbrechender Vulkan. Alle fühlten sich plötzlich wie vom Erdboden weg­ gefegt, wie von einem Windstoß weggetragen; wir trennen uns doch für immer; uns erwartet in Kürze der Tod und sie ein ungewisses, erschreckendes, schweres Leben. Spontane, abgerissene, messerscharfe Klageworte, ausgestoßen unter krampf­ haftem Schluchzen, wirkten in jenen Augenblicken betäubend auf die Menschen und lähmten sie vollständig. Es gab nur einen einzigen Wunsch, den Krieg zu überleben und das unschuldig vergossene Blut der Eltern, jüngeren Schwestern und Brüder zu rächen. Dann wurden die notwendigsten Sachen und Kleider verpackt; die Leute zogen sich einige Wäschegarnituren übereinander an und darüber ihre beste Kleidung. Man ergriff das Brot und versteckte das Geld tief oder nähte es in die Kleidung ein; die meisten Menschen suchten sich ein provisori395

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sches Versteck292, dann gingen sie auf die Straße, um zu erfahren, was dort vor sich geht. Es wurde bekannt, dass Ehrlich und Gurfinkel den Bürgermeister getroffen hatten, der mit dem größten Vergnügen, ebenso wie die ganze deutsche Gendarmerie, sich die jüdische Habe aneignete; wie ein Blutegel sog er die Juden aus und quälte sie gleichzeitig und marterte sie zu Tode. Nachdem sie ihm ein reiches Geschenk gegeben hatten, begannen sie mit ihm voll Vertrauen über ihr privates Schicksal zu sprechen. Er erklärte ihnen, dass die Situation sehr ernst sei und dass es eigentlich keinen Ausweg gebe. Persönlich riet er ihnen, sich in die Reihen der Unfähigen, sowohl nach Malkinia als auch nach Auschwitz, einzuschreiben. Diese Tatsache wirkte noch niederdrückender auf die Bevölkerung. Das bedeutete, dass Auschwitz und Malkinia ein und dasselbe sei: der unvermeidliche Tod. Es gab nur einen Unterschied und dieser betraf die Dauer von Qual und Leiden, die der Mensch noch vor seinem Tode erdulden musste. Es fiel die allgemeine Entscheidung: Nein, in den Tod gehen wir nicht, wir haben nichts zu verlieren, wir werden Widerstand leisten, die einen durch die Tat, andere passiv. Zusammen mit unseren Frauen und Kindern werden wir fallen wie Helden. Hier in Maków gibt es drei Friedhöfe, nun wird der vierte hinzukommen. Dort fanden die Knochen unserer Vorfahren ihre letzte Ruhe und auch wir werden dort zusammen mit ihnen in einem gemeinsamen Massengrab liegen. […] Als meine Frau von der Straße zurückkam, fragte sie: Was soll mein Leben mir schon wert sein? Ich werde es opfern. Aber mein Kind tut mir doch so leid! In ihrer Stimme klang grenzenlose Verzweiflung. Sie stand, am ganzen Körper zitternd; endlose Trauer drang aus ihrem Blick, den sie auf unser einziges, achtjähriges Söhnchen richtete. Der Junge beobachtete das Geschehen aufmerksam; sein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse und er brach in hysterisches Weinen aus. Bebend saß er auf dem Stuhl und schrie kläglich: Väterchen, ich will leben, tu alles, was du nur kannst, damit ich nur leben kann. Wie alle Kriegskinder hatte auch er auf der Straße während der letzten Typhusepidemie […] viele Leichen gesehen und klar das ganze Entsetzen des Todes erkannt. Verzweiflung bemächtigte sich seiner. Er schrie schmerzlich, von tiefem Entsetzen gepackt, das aus seinen Kinderaugen schaute. Sein Herz schlug in beschleunigtem, fast hörbarem Rhythmus. Ohne Unterlass hörte man seine herzzerreißende, unruhige 292 Sicherlich Malinas.

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­ einerliche Stimme, seinen ununterbrochenen Hilferuf nach seinem Vater. w Die nervösen Bewegungen seines Körpers nach vorn und nach hinten am Teetisch, sein grau gewordenes, bleiches Gesichtchen hätte jedes Lebewesen zutiefst rühren können. Seine […] Vorstellungskraft begriff das [ganze] Grauen des Todes. Zutiefst erschüttert und gebrochen, mit verkrampftem Herzen, mit tief niedergebeugten Köpfen, tief in Schmerz versunken, saßen wir da, ich und meine Frau. Unsere Tränen verschluckend, durchlebten wir mit ihm zusammen seinen tragischen Schmerz. Wir warfen uns gegenseitig Blicke voll Schmerz und Sorge zu, um unseren beklommenen und gelähmten Herzen, die sich durch die geheimnisvolle Sprache des Schweigens verstanden, Erleichterung zu verschaffen. Für ihn fanden wir kein einziges Wort des Trostes. Also ließen wir die Köpfe nur noch tiefer sinken, und unsere Herzen weinten tonlos mit ihm zusammen. Plötzlich hörte er auf zu weinen; vielleicht sollte ich beginnen die Psalmen herzusagen, zu G-tt293 zu beten, dass Hitler von den Händen eines jüdischen Jünglings fiele, von ein paar Steinen getroffen. Ach, könnte ich doch nur vor ihm stehen und ihn tot umfallen sehen, wie Goliath, der von David getroffen wurde. Und sofort nahm ich den Siddur294 und begann die Psalmen herzusagen. Jedes meiner Worte war mit einem tiefen Schmerz getränkt; plötzlich erklang das hysterische Weinen des Kindes, als ich begonnen hatte, den nächsten Psalm zu lesen. Schwere Tränen erstickten seine Kinderstimme. Jeden Augenblick unterbrach er mich und rief mit gebrochener Stimme: „Was tun? Ich will leben!“ Unsere Herzen bluteten; sie waren schmerzerfüllt. Wir stehen beide unbeweglich, angeschmiedet an die Stelle, wie elektrisiert. Das Gewissen sprach zu uns, es sei unmoralisch, ein Kind in einem solchen Augenblick mit lügnerischen Worten zu trösten. Aber für ein so zartfühlendes Kind ist es doch unmöglich, einen so schrecklichen Schmerz zu beherrschen. Schließlich ging ich zu ihm, um ihm über den Kopf zu streichen; ich drückte ihn herzlich und warm an mich und sagte ihm: Mein Kind, verstecken wir uns auf dem Dachboden so lange, bis die Gendarmen die Stadt verlassen haben, dann fliehen wir zu irgendeinem Nichtjuden und überleben den Krieg […]

293 Der Bindestrich im Original ist ein Zeichen dessen, dass der Autor ein tief religiöser Chasside war (zur damaligen Zeit war diese Schreibweise sehr selten). 294 Jüdisches Gebetbuch, das die ganze Synagogen- und Hausliturgie enthält.

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Als es Nacht wurde und mein Sohn eingeschlafen war, setzte sich meine Frau auf sein Bett und streichelte ihn herzlich. Ihre großen blauen, sanften Augen voll mütterlicher Wärme und Zärtlichkeit sahen ihn mit einer so durchdringenden Schärfe an, dass ich bei mir dachte, dass man in einem Blick alles einschließen kann, was man fühlt. Und aus diesen Augen quoll ununterbrochen ein Tränenstrom. Ihr Blick glitt jede Sekunde zur Seite des Sohnes, ihrem Munde entrang sich ein leises Flüstern: „Mein Kind, wie soll ich dich nur retten. Ach wie glücklich wäre ich!“ Und so saß sie sehr lange mit verschlungenen Händen und leicht nach vorne geneigtem Kopf, in Todesstille. Ihre geröteten Backen sahen so aus, als ob sie eine innere Glut ausstrahlten. Ihre veränderten Gesichtszüge machten den Eindruck, als seien sie vor Schmerz und Qual erstarrt. Ihre Augen wandten sich keine Sekunde vom Gesicht ihres Kindes ab, und das Herz weinte in ihrem Inneren. Da hörte ich ein zorniges und gleichzeitig klägliches Schluchzen: „Warum ist dir, mein Kind, ein so schrecklicher Tod beschieden, ein in so frühen Jahren abgebrochenes Leben?“ Ich fühlte, dass ich im Begriff war, meine männliche Beherrschung und Widerstandskraft zu verlieren, irgendetwas schob mich in eine stille Ecke, wo ich klagen konnte. „Deborah!“, rief ich auf. „Geh hinunter zu den Nachbarn und suche zu erfahren, ob sie hierbleiben […] ob sie fliehen werden. Vielleicht können wir uns gemeinsam retten.“ Meine Frau schien wie aus tiefem Schlaf zu erwachen: „Ich kann nicht weggehen, Samuelchen zieht mein Herz so stark zu sich …“ Ihre Stimme überschlug sich plötzlich in Tränen erstickt. Und ich nahm wahr, dass ich eine offene Wunde berührt hatte. Also schwieg ich und begann, mit vor Aufregung zitternden Händen sanft das Kind zu streicheln, leidenschaftlich und heiß küsste ich es auf die Stirn. Instinktiv fühlte ich, dass ihre Aufregung nachzulassen begann, und dass sie sich ein wenig beruhigte. Es kam ein günstiger Augenblick, um ihr zu sagen: „Deborah! Du bist eine so liebevolle Mutter, aber wir müssen uns auch nüchtern überlegen, was tun.“ „Lejb“, antwortet sie, „ich möchte mich gerne beruhigen, um dich nicht traurig zu machen, aber wie kann ich mir helfen, wenn mir das Blut kocht und Leiden mein Herz erfüllen, wenn ich nur auf dieses unschuldige Opfer sehe? Ich verstehe, du möchtest, dass ich mich beruhige, und um mein Leiden zu betäuben, schickst du mich zu den Nachbarn. Mein teurer Mann, du bist so lieb, so treu, so unglücklich!“ Ihre Stimme wurde immer langsamer, weitschweifiger, herzlicher. Ich fühlte, dass ihr Herz überquoll, nachgab, und dass es ihr an Worten fehlte, um 398

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ihren ganzen Schmerz auszudrücken. Ich fühlte plötzlich, dass sie mich mit einem Paar leidenschaftlich entflammter, brennender Augen durchbohrte. In der Stube herrschte Stille. Mein Herz begann gewaltsam zu schlagen. Ich war vollkommen von ihrem Schmerz eingenommen. Es bemächtigte sich meiner ein Gefühl grenzenlosen Mitleids. In riesiger Spannung schauten wir einander an: „Ich vergrößere deinen Schmerz, du verstehst mich doch ausgezeichnet. Aber das ist der erste, der allerschwerste und allerkritischste Moment im Leben. Beruhige dich, beherrsche dich, wappne dich mit heldenhafter Kraft. Überlegen wir uns die Sache.“ Meine Worte hatten nur den Erfolg, dass ihre Spannung etwas nachließ, doch verbesserten sie ihre Gemütsverfassung nicht. Sie stützte die Hände auf ihre Knie, es war, als ob […] richtete ihre treuen Augen in den Himmel […] mit großer Angst und Trauer seufzte sie aus tiefem Herzen. Ruhig, in Träumerei versunken, schüttete sie ihre Gefühle aus […], bis ihre Stimme kräftiger und ihre Gefühle noch ungestümer geworden sind. Dann wandte sie den Kopf nach links, in die Richtung des Kindes, und aus ihren Augen begannen wie brennende Lava in ununterbrochenem Strom schwere Tränen zu fließen. Die ganze mütterliche Liebe ergoss sich auf einmal. Nach einigen Minuten beruhigte sie sich, stand vom Bett auf, trat nahe an mich heran und sah mich mit weit geöffneten Augen forschend an; sie wollte tief in mein Herz hineinblicken. Ich umarmte sie herzlich und drückte sie mit heißer Liebe an meine Brust. Lange, lange streichelte ich sie zärtlich und tröstete sie schweigend durch mein heißes Mitleid. Schließlich beherrschte sie sich und erlangte ein gewisses Gleichgewicht. Sie rief aus: „Es ist wahr, dass eine treue Gattin sich in jeder Situation beherrschen kann. Weißt du, dass ich mich während unseres ganzen gemeinsamen Lebens hütete, dir überflüssigen Kummer zu machen, doch begeben sich solche außergewöhnlichen Situationen im Leben, in denen diese Aufgabe allzu schwer wird.“ Sie trat zum Kinde hin; es herzlich küssend und sich zu mir wendend, sagte sie: „Ich gehe jetzt hinunter zu den Nachbarn.“ Als meine Frau aus der Stube gegangen war, saß ich auch weiterhin, tief in Gedanken versunken, und überdachte die Erlebnisse des Tages. Es standen mir die Augenblicke vor Augen, als die heiße Mutterliebe die Oberhand über alles andere gewonnen hatte. Welche Tragödie, welch grenzenloser Schmerz, wenn eine Mutter den zukünftigen Tod eines gesunden, jungen, frischen und blühenden Kindes beweinen muss im Gefühl ihrer eigenen Hilflosigkeit, ohne die Möglichkeit, es aus den Händen der erbarmungslosen Mörder zu erretten. 399

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Die weibliche Hingabe, unzertrennbar mit der frisch erweckten leidenschaftlich aufflammenden Liebe verflochten, der aufbrausende Sturm der Gefühle und ihre sehr tiefe, innere Unumkehrbarkeit, gleichzeitig der Wunsch, inneres Gleichgewicht und Beherrschung zu erlangen nach diesem ganzen tragischen Unglück, quälte ihr Gewissen auch noch dadurch, dass sie ihren Mann zu Tode quält. Und schließlich siegte in ihr dieses Gefühl. Für einen Augenblick vergaß ich unser bitteres Unglück und bewunderte ihre Seelenstärke. Mit solchen Gedanken beschäftigt, fühlte ich plötzlich, wie etwas gewaltsam an meinem Inneren zerrte. Ich erbebte und sprang auf. An meine Ohren drangen die Worte meines Sohnes: „Väterchen, ich will leben, tu etwas, was du nur irgend kannst, dass ich am Leben bleibe. Tu alles, was du nur kannst, ich möchte so sehr leben.“ Ich stand am Bette meines Kindes und beobachtete alle seine Gesichtszüge; aufmerksam betrachtete ich die Bogen seiner Augenbrauen, seine Nase, Ohren und sogar die Nägel seiner Hände. Bald wird sich meine Bestimmung erfüllen und ich werde mich von ihm trennen müssen, ob lebend oder tot; also müssen sich noch heute meine Augen an den Zügen seines Gesichtes sattsehen. Möge er mir für die Ewigkeit vor den Augen stehen mit dieser seiner tiefen Erbitterung, Verzweiflung und dem Zusammenbruch. Und so stand ich lange Zeit da, in tiefster Trauer, erschüttert und zerschlagen, und fühlte, wie mein ganzes ,,Ich“ vergeht und sich mit dem Kinde vereinigt. Ich stellte mir die ganze Hoffnungslosigkeit meines Lebens nach dem Verlust meines Kindes und die Sinnlosigkeit meines Daseins vor, welches dann noch qualvoller würde. Ich zitterte krampfhaft aus Angst und Furcht vor dem kommenden Tag … Meinem Munde entsprangen plötzlich wie aus einer Quelle des Lebens leise fließende, herzzerreißende Worte, wie aus den geheimsten und zutiefst gelegenen Schlupfwinkeln meiner Seele gerissen, schmerzvoll durchbohrende Worte, Worte, die das Blut in den Adern gerinnen lassen, die auf mich so suggestiv einwirkten, dass alles bisher auf der Welt zum Ausdruck Gebrachte leer und sinnlos erschien im Vergleich zu meiner Katastrophe. Ein nicht zu lindernder Schmerz und das Gefühl des vollkommenen ­Zerschlagenseins betäubten mich vollkommen; meine große schreckliche Tragödie verkörperte ich in den langsam ausgesprochenen, abgerissenen Klang eines einzigen Wortes, das sich meinem Munde in Begleitung eines tiefen Ächzens entriss, und das das ganze Grauen meines Schicksals enthielt: Samuelchen, mein Samuelchen, welches ich sehr lange Zeit über ausschrie […] ein betrügerischer Schwindel. 400

Lejb LangfuSS: Erschüttert von der Gräueltat

Steinmetz, der bei jeder Gelegenheit seinen schrecklichen rohen Charakter, aber auch seine ganze Brutalität offen demonstrierte, erwarb sich das Vertrauen der Leute, und zwar dadurch, dass er nicht spottete. Diesmal gab er sich den Anschein, die ganze Wahrheit zu sagen: Er könne keine der geforderten Entscheidungen der Ortsbehörde erlangen. Auch für seine Privatinteressen sei dies ungünstig. Er habe gedacht, Erbe der Häuser der sehr reichen Gemeindebesitzer zu werden, die ihn auch bisher schon zu einem genügend reichen Mann gemacht hatten. Er hatte die Absicht, bei ihnen eine günstige Stimmung für sich zu bewirken, da er annahm, dass sie mit ihm bis zur letzten Minute den Kontakt aufrechterhalten würden. Er hatte sich den üblichen Hitler-Stil des Betrügens und Verdummens der Menschen gut angeeignet. Um halb drei zeigte er sich noch einmal im Ghetto und rief die Gemeindeleitung vors Tor, und sie wurden anfangs […] Gleich danach rief Ehrlich noch einmal die ganze jüdische Bevölkerung zur Gemeinde. Die Leute begannen diese verfluchten Räume anzufüllen. Sie bewegten sich schon nicht mehr normal, sondern nervös und eilig. Ihre Gesichter sind blass mit dem Ausdruck von Furcht, die Augen verschleiert ohne Glanz oder zornig drohend entbrannt – ein wüstes menschliches Chaos. […] Und nur die unruhig klopfenden Herzen vereinigen diese aufgeregte Menschenmenge. […] stehen in einer spannenden Stille und ihre Herzen […] klopfen in beschleunigtem Rhythmus. […] Stehen und horchen Ehrlichs [Erklärungen]. Steinmetz korrigierte einige Irrtümer, die er erst jetzt aufklärt […] Die Arbeitsfähigen fahren nicht nach Auschwitz, sondern in den Bezirk Katowice, um in Kohlenbergwerken zu arbeiten. Die arbeitsfähigen Männer dürfen ihre Frauen und Kinder mitnehmen, die dann mit ihnen zusammen wohnen werden. […] Es wird eine Kommission einberufen […], die darüber entscheidet, wer arbeitsfähig und wer nicht arbeitsfähig ist. Man darf zwei Anzüge mitnehmen: einen besseren und einen zur Arbeit, zwei Wäschegarnituren und auch ein Ersatzwäschestück, ein Paar Stiefel oder Stiefeletten und eine Kiste für Kleidung. Keine Federn oder Daunen, keinerlei Gold, Valuta oder Wertsachen. Wer etwas dieser verbotenen Sachen mitnimmt, riskiert den eigenen Kopf. Den Arbeitsunfähigen war es nicht erlaubt, irgendetwas mitzunehmen. […] dass dies nicht früher stattfinden wird als am 13.XI. Wie es sich später herausstellen sollte, war dies alles nur ein großer, raffinierter Bluff, um die arbeitsfähigen Menschen irrezuführen, damit sie keinen Widerstand leisten. Im ersten Augenblick trug er jedoch dazu bei, eine relative Ruhe eintreten zu 401

Die Chronisten und ihre Texte

lassen; denn erstens hatten wir noch einige Tage Zeit, uns nach Fluchtmöglichkeiten umzusehen  – Phantasten meinten sogar, man würde noch etwas ausdenken können, um die Aussiedlung unmöglich zu machen –, zweitens sollten ja doch die Familien gemeinsam fahren. Bald entstanden zwei Parteien mit verschiedenen Ansichten: Die einen glaubten naiv an die erwähnten Reden und begründeten es damit, dass sie für sie […] wozu also sollten sie sie dann täuschen, die Deutschen hätten sich im Verhalten gegenüber den Juden doch schon überaus offen brutal gezeigt; die zweiten meinten, dass die erste Erklärung von Steinmetz der Wahrheit entspreche, und begründeten dies damit, dass auch der Bürgermeister sich ähnlich geäußert habe, und dass man auf ähnliche Weise die Juden aus dem benachbarten Legionowo295 hinausgeführt und sicherlich ermordet habe. Es sei doch unmöglich, dass ein so großes Lager bestehe und niemand etwas darüber wisse. Man kehre schließlich nur vom Friedhof nicht zurück. Auschwitz – so behaupten sie – sei ein Straflager, wohin man Verbrecher und Schwarzhändler schicke. Die mörderisch brutale Behandlung von Häftlingen, die schrecklich zynischen Qualen, wie man sie in den benachbarten Straflagern von Przasnysz [Proschnitz]296, Mława297, Ciechanów298 und Płońsk299 praktizierte, waren uns gut bekannt; die Haare standen uns zu Berge, als wir davon hörten. Nur speziell gedrillten wilden Tieren und Bestien konnten so unmenschliche Martern bekannt sein, wie man sie dort anwandte.

295 Während des Krieges befanden sich in Legionowo, einer Kleinstadt nördlich von Warschau im Bezirk Nowy Dwór Mazowiecki, ein Ghetto und ein Arbeitslager für Juden. Untergebracht war es vermutlich in einem Kasernengebäude eines Nebenlagers von Stalag 368 (Stammlager in Beniaminów). Das Lager wurde im Jahre 1943 liquidiert, die Häftlinge wurden an einen unbekannten Ort abtransportiert. 296 1941 wurde in Przasnysz, einem Städtchen nordwestlich von Maków Mazowiecki, im Klostergebäude des Schwesternordens der hl. Felicia ein Arbeitslager eingerichtet. In diesem Lager waren Polen, polnische Juden, Litauer und Ukrainer inhaftiert (rund 100 Menschen), die im Straßenbau eingesetzt wurden. 1943 wurde das Lager liquidiert, seine Häftlinge wurden nach Stutthof überstellt. 297 Eine Stadt im Bezirk Zichenau. 1940 wurde dort ein Arbeitslager eingerichtet, im Gebäude des rituellen Tauchbads, der Mikwe, in der Narutowicza-Straße. Darin waren circa 200–300 Polen und polnische Juden inhaftiert, die bei öffentlichen Arbeiten beschäftigt wurden. Bei der Liquidierung des Lagers am 17. Januar 1945 wurden alle Juden getötet. 298 Im Dezember 1940 und März 1941 wurden mehrere Tausend Juden aus dem Bezirk Zichenau ins Generalgouvernement umgesiedelt, in die Bezirke Lublin und Radom. 1940 und 1941 wurden in Zichenau und den umliegenden Gemeinden Ghettos eingerichtet. Im November 1942 begann deren Liquidierung: Die Bewohner wurden nach Treblinka oder Auschwitz verschickt, nicht selten mit einem Zwischenhalt in Malkinia oder Mława. 299 In den Jahren 1941/42 lebten im Sammelghetto von Płońsk rund 5.000–8.000 Juden aus der Stadt und ihrer Umgebung. Insgesamt durchliefen etwa 12.000 Juden dieses Ghetto. Die Häftlinge arbei-

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[…] Es bestand ein besonderer Anlass, von der Richtigkeit dieser Ansicht überzeugt zu sein: das veränderte Verhalten der deutschen Behörden der Bevölkerung gegenüber. Dieser Steinmetz war so mild und zartfühlend geworden, dass, wenn er sich auf dem Gebiet des Ghettos zeigte, sich die ganze Bevölkerung ruhig um ihn versammelte und die Reden anhörte, die er an die Vertreter der Gemeinde richtete. Er aber sprach so, als ob er etwas tief bedauerte. Bei verständigen Menschen riefen diese verbrecherischen Heucheleien und die niederträchtige Verlogenheit tiefen Abscheu und Ekel hervor. Ach, dem Armen wird der Abschied von uns schwerfallen, ja, aber doch nur darum, weil es dann niemanden mehr gibt, aus dessen Knochen die letzten Säfte auszusaugen wären, um daraus großes Kapital zu schlagen. Oder auch die deutschen Gendarmen, die immer mit hoch erhobenen Köpfen voll stolzer Verachtung und mit brutalen, drohenden Blicken ins Ghetto kamen und ihre Gummiknüppel während der Appelle schwenkten, um die Vorübergehenden zu erschrecken, die beim Vorbeigehen ihr Leben zu riskieren schienen. Aus hohlem Stolz donnerten sie mit ihren Stiefeln und marschierten so, als ob es ihnen nur darum ginge, den Widerhall ihrer eigenen Schritte zu hören. Und auf einmal kamen dieselben ins Ghetto höflich und zugänglich, mit sanften, weichen Blicken, zartfühlend und angenehm. Sie besuchten ihre Bekannten, unterhielten sich mit ihnen, zeigten tiefes Mitleid und beeilten sich nicht wegzugehen. Dies alles war unnatürlich, doch war das alles bewusst ausgedacht und hatte seinen Zweck: Geld und Vermögen herauszulocken, welches sie ihnen mit Macht und Gewalt hatten nicht entreißen können. Sie erwarteten, dass die Juden auf ihren guten, süßen Zauber hereinfallen und sie, die sogenannten guten Freunde, mit ihren Reichtümern beschenken werden. Ihren wahren Schweinsrüssel, ihr undankbares Verbrechen zeigten sie erst am Tage der Vertreibung. Da erst verloren die Köpfe aller, die ihnen geglaubt hatten, alle ihre bisherigen Illusionen und Irrtümer, aber da war es schon zu spät […] Auf der Straße […] vom Gemeindeamt zurückkehrend holten die reichen Leute ihre Lebensmittelvorräte heraus, die sie für den Winter vorbereitet hatten, und verteilten sie. Ebenso verteilten sie Wäsche, Kleidung und Brennmaterial. Auch die Gemeinde öffnete ihre unterirdischen Verstecke mit Kartoffeln, die dort nicht erfrieren sollten. Jeder konnte verschiedenerlei

teten in der Industrie und bei der Stadtreinigung. Zwischen dem 28. Oktober und dem 16. Dezember 1942 wurde das Ghetto von Płońsk liquidiert. Alle Bewohner wurden nach Auschwitz verschleppt.

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Die Chronisten und ihre Texte

Ersatzprodukte und Kapital erhalten. Sie klopften an die Zäune und baten die vorbeigehenden Polen, dass sie ihre Bekannten aus der Stadt oder aus den umliegenden Dörfern rufen. Man packte die besten und teuersten Sachen sowie Schmuck ein und warf sie befreundeten Polen über den Zaun zu. Man hat sie mit Schätzen und Vermögen überschüttet; nur den einen Wunsch hatten die Leute, dass die Deutschen aus ihrem Unglück keinen Nutzen ziehen können. Den ganzen Tag über sprangen Leute über den Zaun und verließen den Bereich des Ghettos. Die religiösen Juden verkündeten für den Morgen das Ta‘anit-Zibur300, an dem alle teilnahmen. Die neueste Mitteilung von Steinmetz brachte ein großes Durcheinander und zerschlug die bisher einmütige Haltung der Ghettoeinwohner. Die verschiedenartigsten Diskussionen brachten keinerlei endgültige Aufklärung, und dieser ganze Tag verging unter dem Eindruck der plötzlichen Ereignisse, die alle überrascht hatten. Diese erste Nacht verbrachten die Leute schlaflos. Sie schien endlos lang zu sein. Alle warfen sich unruhig auf den Betten hin und her, hatten das Gefühl, als ob sie sich in einem provisorischen Hotel befänden. Alle fühlen sich unsicher, als ob sie den Boden unter den Füßen verlören. Alle quälten erbarmungslos schlafraubende Gedanken. Schon zwei Stunden vor Tagesanbruch kamen sie auf die Straße heraus; die einen stehen, die anderen gehen hin und her. Die Ungeduld hatte sie aus den Betten gejagt und die Nerven aus den Stuben. Alle Gespräche drehen sich um das eine aktuelle Thema: Welche Worte von Steinmetz sind wahr – die ersten oder die letzten? Welchen Standpunkt sollen wir einnehmen? Ist es möglich, im Wald zu überwintern? Welche ihrer bekannten Bauern würden Kinder zu sich nehmen? Derlei Diskussionen bewirkten, dass sogar die Luft auf den Straßen vom Ernst des Augenblicks durchdrungen war; jede Ecke, jeder Punkt, wo sich zwei Menschen trafen, verwandelte sich in einen Beratungsstab. Als es Tag wurde, erfuhren die Leute, dass der Arzt des Ghettos, ein Berliner Jude, ein älterer, kränklicher und sehr intelligenter Mensch, sich zusammen mit seiner Frau vergiftet und einen Brief an Steinmetz hinterlassen hatte, in dem er schrieb, dass er während seiner einjährigen Praxis unter dem Naziregime dessen brutale, mörderische, rohe und wilde tierische Einstellung den Juden gegenüber kennenlernen konnte. Es helfe kein Appell, keine Vermittlung, die

300 Allgemeines Fasten, das aus besonderem Anlass angesetzt wurde.

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bei den Mördern wenigstens eine einzige menschliche Reaktion hervorrufen sollte. Bevor er also von den Händen der Mörder falle, habe er beschlossen, seinem Leben selbst ein Ende zu machen. Dieser Entschluss und die Standhaftigkeit solcher Menschen, die dazu noch eine Zeit lang direkt unter den Flügeln der Nazis in Berlin gelebt hatten und sich darüber im Klaren sein mussten, dass der Tod unvermeidlich sei, wirkte wie ein Blitz aus heiterem Himmel, wie eine explodierende Bombe auf Stimmung und Gemüter der Menschen des Ghettos. Diese Tatsache trug in großem Maße dazu bei, dass das Unruhegefühl wuchs und die jüdischen Massen zusammenbrachen, welche ohnedies schon des kleinsten Hoffnungsstrahls beraubt waren. „Wir sind verloren, verloren …“ […] Schon seit über einem Jahr litt man im Ghetto unter Wassermangel. Die Ortschaft liegt an einem Fluss, doch wurde es den Juden sehr erschwert, dieses, eines der grundsätzlichsten menschlichen Bedürfnisse, zu befriedigen. Unter strenger Polizeikontrolle wurde jeden Tag für kurze Zeit das Ghettotor geöffnet und die ganze Bevölkerung warf sich wie wild durch dieses besondere Tor, das in Richtung des Flusses lag, um das Minimum von Wasser zu bringen, das für den Mindestbedarf eines Haushalts notwendig ist. Und auch heute liefen die Leute zum Fluss, aber nicht mit dem Gedanken, Wasser zu holen, im Gegenteil, sie sprangen ins Wasser, um auf diese Weise ihr Leben zu beenden, sich zu ertränken und ein für alle Mal von dieser unglückseligen Erde zu verschwinden. Nach einigen Tagen platzten die letzte Hoffnung und der letzte Trost der Bevölkerung wie eine Seifenblase. Fast alle, die in die umliegende Gegend geflohen waren, kamen ins Ghetto zurück. Sie erzählten, dass sogar die vertrauenswürdigsten Bauern niemanden bei sich aufnehmen. Die Deutschen hatten den Bauern Furcht eingejagt, dass sie für das Verstecken von Juden mit dem Tode bestraft würden. Keiner von ihnen hatte einen Platz für sich finden können, nicht einmal in einer Scheune. Die Juden waren durch Felder und Wälder gestreift, und wenn sie schon vor Müdigkeit umfielen, schliefen sie im Schnee. Alle Glieder erstarrten vor Kälte, aber sie konnten keinen Tropfen Wasser auftreiben, um ihren Durst zu stillen. Jeder von weitem gehörte Laut, jede Bewegung brachte sie zum Zittern, es hätte ja ein Gendarm sein können. Der Schmutz habe ihre Körper aufgefressen, der Hunger habe ihre Körper zu Tode gequält und ausgezehrt. Der Krieg würde länger als einen Monat dauern und auf diese Weise hätte man unmöglich überleben können. Als wäre man ein verfluchter Mensch, den die Welt ausgestoßen hätte, den böse Geister entrissen und mit sich genom405

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men hätten. So vereinsamt ist man in der Mitte, im Zentrum der Welt, die doch für alle da ist, außer für sie, die Juden. Mutlos und enttäuscht, erschöpft und resigniert kamen diese Flüchtlinge ins Ghetto zurück, der letzten Illusionen beraubt, die letzte Hoffnung war ihnen genommen. Sie hatten jegliche Initiative verloren, und die Welt war für sie zu eng geworden. Selbst dieser letzte und einzige Trost, dass einige Hundert junge Menschen, das Kind, der Bruder, die Frau, der Mann, sich vor der Vernichtung gerettet hätten, hat sich als Täuschung erwiesen. Alles geht auf einen Abgrund zu, der Tod wird alle erbarmungslos verschlingen. Unter den Füßen war längst ein weit verzweigtes Netz gesponnen worden, das jede Möglichkeit einer Bewegung, jeden Ausweg, den ein Jude hätte nehmen können, fest verschloss. Aus der nahe gelegenen Kreisstadt Ciechanów kam die Nachricht, dass von dort schon alle Juden301, unter ihnen auch viele Männer aus Maków, die an verschiedenen Plätzen gearbeitet hatten, hinausgetrieben worden waren. Sie werden ihre Frauen und Kinder niemals mehr wiedersehen. Sie haben auf immer und ewig Abschied von ihnen genommen. Das Chaos der Unterdrückung und Vernichtung hatte seinen Höhepunkt erreicht. Kapitel 6 Das Buch der Psalmen Am Dienstag wurden wiederum alle Kinder gerufen, die an der TalmudThora302 teilnahmen, welche illegal trotz der schweren Bedingungen in der Gemeinde und dank der religiösen Juden und eines demonstrativ manifestierten Beschlusses ohne Unterbrechung stattfand. So reine, unschuldige, so ideale, werden sie jetzt vom Antlitz der Erde gerissen, vernichtet, obwohl soeben erst aufgeblüht.

301 Der erste Judentransport aus dem Ghetto von Zichenau traf am 7. November 1942 in Auschwitz ein. In diesem Transport befanden sich etwa 2.000 Menschen: Nach der Selektion blieben 694 von ihnen im Lager, darunter 465 Männer (Häftlingsnummern 73531 bis 73995) und 229 Frauen (23734 bis 23962). Die übrigen 1306 Menschen  – Kinder, Mütter mit Kindern und Alte  – wurden vergast (Czech, 1989. S. 334). Ähnliche Judentransporte aus dem Bezirk Zichenau wurden bis Mitte Dezember 1942 formiert und verschickt. 302 Wörtlich „Thoralehre“: jüdische Grundschule, unterhalten aus Gemeindemitteln. Gelehrt wurden in der Talmud-Thora die jüdische Bibel (Tanach), einige Talmudtraktate, Midrasch und RabbinerLiteratur. In Osteuropa waren Schulen dieser Art für arme Kinder und Waisen bestimmt. Das Abschlusszeugnis einer solchen Schule berechtigte zum Eintritt in eine höhere Schule, die sog. Jeschiwa. Die Judenräte konnten solche Schulen nicht organisieren, denn es durfte in den Ghettos nur private Grund- und Berufsschulen geben.

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Den Kindern wurde erklärt, dass die Deutschen vorhaben […] auf ein Mal ihre Eltern, Brüder und Schwestern zusammen in einer großen Gruppe zu vernichten. Man hat ihnen die Situation offen dargelegt, damit sie sich richtig orientieren konnten. Die Verzweiflung war maß- und grenzenlos; alles war klar. Die jungen Kinder zuckten leise auf […] die Köpfe schüttelnd. Die Arme heruntergelassen standen sie da; ihre Augen starrten mit unnatürlicher Aufmerksamkeit auf […] und nur […] Tränen, die wie ein halb durchsichtiger Vorhang vor ihren Augen entströmten und ihre nervösen, spannungsvollen Blicke wie ein Nebel verschleierten. Sie wollten nicht laut weinen, weil sie das am Zuhören und Verstehen gehindert hätte. Das Verständnis für den Ernst ihres Schicksals überwand die Schwäche ihres kindlichen Charakters. Ihren Herzlein war eine schwere Last aufgebürdet, sehr, sehr […] und sie haben das alles in sich hinuntergewürgt. Erst als man begann die Psalmen zu sprechen und […] auf einmal, wie ein unvorstellbarer Ausbruch […] betäubte alle Zuhörer. Herausgerissen […] als ob man sie ganz betäubt hätte. Das Weinen nahm von Minute zu Minute zu und wurde immer mächtiger. Es wurde immer rührender und durchdringender bis zum Ende des Kapitels, als eine plötzliche Stille eintrat und die angespannte Atmosphäre die Ohren durch das Echo und den Widerhall ihrer Stimmen betäubte, welche auf eine besonders tiefe Weise alle Saiten der Herzen anspannte. Tiefes Stöhnen und schwere Seufzer der Kinder durchbohrten damals die Luft. Erst als man den nächsten Abschnitt begann, fand man die Worte, um den Schmerz auszusprechen. Eine drückende Last ohnmächtiger Verzweiflung entlud sich auch weiterhin und einzelne abgesonderte Existenzen verschmolzen zu einem riesigen Ganzen. Das Geflecht von allerlei Tönen und Gefühlen, das Seufzen und Ächzen, von verschiedensten Farben koloriert, wurde in seinem Zusammenklang so mächtig, so enorm stark, dass es den festesten Charakter niederschmetterte, in die tiefsten Seelenwinkel eindrang und wie eine sich erhebende Welle alles verschlang. Alle waren erschüttert und bis ins Innerste aufgewühlt durch diese schreckliche Tragödie. Wer auch immer auf der Straße vorüberging, blieb stehen, und an seine Ohren drangen diese den Atem beklemmenden, tief rührenden, durchs Herz gehenden Schmerzensworte […], welche Mitleid und den Ausdruck unmenschlichen Schmerzes erweckten. […] machtlose Verzweiflung […] und der mächtige Lebenswille sowie die Ungerechtigkeit, welche […] die ganze Erdkugel und alle […] zerspalteten. An der Wand der Gemeinde von Maków […] und zittert […] vor Furcht und Entsetzen, steht allein in der Stube, weint und schaukelt ihr Kind […] die 407

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Wiege mit der […] Hand, die sie in ihrer […] sieht, aus den Augen fließen schwere Tränen […] das Los der weinenden, kranken Menschen […] Furcht und bitteres Weinen […] empfindlich für die herauszufühlende Angst der Kinder, in der Stube hören sie ihre Stimmen […] in dieser schrecklichen Stunde […] und jeder weint […] Kind ist, das sich in einen Tränenstrom verwandelt hat, sie weinen so natürlich mit einer so […] Sohn und Tochter sitzen zusammen […] Gespräch […] bei Tisch, es entstand […] alles vergessen, was ringsherum geschieht. Mit gesenktem Haupt […] die Anziehungskraft […] das nicht endende Weinen. […] vom Weinen […] am anderen Ende des Ghettos, wo die Leute standen […] und mit ihnen zusammen weinten. Das ganze Ghetto war ein einziges […] taub, aber lebendig und mächtig […] schreckliche Tragödie […] Last eines unvorstellbaren Unglücks und ein Beispiel […] ein lebendiger Mensch, gingen auseinander […] Trauer, die alle ringsum erfasst hatte: Junge und Alte […] die Kleinen und die Großen […] Herz zum Herzen […] alle […] die Kommission […] ein eigenes Kapitel für sich, das schafft […] Abscheu der Verdummung […] im offiziellen jüdischen Polizeiamt und […] Arbeitsfähige und Unfähige, die […] und sie stark […] viele? Unfähige, wann? Sie haben keine Männer. Der Auswahlkommission saß zum ersten Mal der Ghettokommissar Steinmetz vor, beim zweiten, dritten und vierten Mal – die Gendarmerie. Die Leute wurden nach dem Alphabet abgefertigt, das Meldebuch der Gemeinde wurde vorgelegt, man rief sie der Reihe nach auf, und die ganze Bevölkerung trat familienweise vor die Kommission, welche eine allgemeine Besichtigung vornahm. Es war […], dass der, der als arbeitsfähig eingetragen wurde […] dagegen wer als unfähig, das Todesurteil. Man brachte Brillanten, goldene Uhren usw. und das alles wurde abgegeben, um in die Gruppe der Arbeitsfähigen eingeschrieben zu werden. Die Mitglieder der Kommission häuften ganze Schätze an und entsprechend dem Prozentanteil wurden fünfhundert Arbeitsunfähige auf einige Dutzend Menschen reduziert. Wer in die Gruppe der arbeitsfähigen Leute eingetragen worden war, gab die Illusion bis zur letzten Minute nicht auf. Als ob sie bis zu einem gewissen Grade ihre traurige Lage vergessen hätten, erinnerten sie sich daran, dass es Menschen gab, die sich in noch viel schlechterer Lage befanden, nämlich diejenigen, die als arbeitsunfähig eingetragen waren. Sie verstanden nicht, dass dies nur ein gewöhnlicher Bluff war, ein betrüge­ rischer Trick […] und dass sie sich das gleiche […] ausgedacht hatten […] aus verschiedenen kombinierten […] 408

Lejb LangfuSS: Erschüttert von der Gräueltat

[…] Frauen mit kleinen Kindern […] ihre jungen Gatten, als hätten sie das Augenlicht verloren […] Kluge Menschen wurden sonderbar naiv […] Dieses närrische Vertrauen hegte man, so lange als die Leute nicht mit eigenen Augen […] gesehen hatten. Es half nur […] Diejenigen, die man als arbeitsunfähig eingestuft hatte, gingen schon so, als wären sie verloren, mit großer Verzweiflung und dem Vorgefühl ihrer nahen Vernichtung. Sie waren lebende Tote. Sie gingen hin und her, tief besorgt und sehr betrübt. Sie nahmen weder Essen noch Trinken zu sich. Sie verabschiedeten sich von jedem Menschen, dem sie begegneten. Die Schwerfälligkeit ihres Ganges, die Langsamkeit ihrer Bewegungen, der schwere Ausdruck ihrer blassen Gesichter, die traurige Durchdringlichkeit ihrer Augen, in denen eine wilde Furcht lauerte, die gebrochene Stimme und das Fehlen von Temperament bewirkten, dass man sie überall sofort erkannte […] Sie gingen wie im Schlaf, ohne sich überhaupt um ihre Kleidung zu kümmern, wie verlorene Menschen. Es bildeten sich zwei Gruppen: die arbeitsfähigen Menschen und die arbeitsunfähigen, die die brüderliche Teilnahme noch bewahrten, welche darin zum Ausdruck kam […] in gewissem Grade die einen von den anderen trennte […] eine allgemeine Erscheinung in der letzten Periode […] Inzwischen vergingen schwere, tragische Tage. Die kindliche Lebensfreude war verschwunden; jede Spur hiervon und der nur ihnen eigenen Welt war verwüstet. Still, ernst und betrübt versammelten sie sich um die Eltern und schmiegten sich an sie. Sie spürten jedem ihrer Schritte nach und spitzten die Ohren, um die Worte der Erwachsenen zu erhaschen, welche seelisch gebrochen, vollkommen zerschlagen, vertraulich und leise sprachen. Sie wollten sich orientieren, wie sich ihr Los gestalten würde. Sie fühlten, dass das Geheimnis ihres Daseins auf der Waagschale nur den Erwachsenen bekannt sei, die alles wissen und alles verstehen. Und sie zerbrachen sich die Köpfchen, um ihre Lage zu begreifen. Sie fühlten aber instinktiv, durch einen besonderen Sinn, und durchlebten das Gleiche wie ihre Eltern. Die Eltern ließen ihre Kinder keinen Augenblick aus den Augen. Zitternd und voll Nervosität beaufsichtigten sie die Kinder; jede ihrer Bewegungen wurde von den Eltern mit zärtlichem, wachsamem Blick verfolgt. Die kindliche Intuition erhaschte und begriff das alles. Ja! Sie wussten, dass dies ihre letzten Lebenstage waren. Die Frauen saßen in der Stube und summten eine Melodie voll grenzenlosem Schmerz und erdrückendem Leid; sie schluchzten über die um sie herumstehenden Kinder und Männer, die sich schon bald von ihnen trennen und für die Ewigkeit verschwinden werden. Ihre Augen blickten mit durchdringender Schärfe, wie 409

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hypnotisiert, das Haupt gesenkt, ohne die Augen von einem Handspiegel abzuwenden, und Wellen mütterlicher Fürsorge breiteten sich über sie aus […] ein tödlicher Ernst erfüllte sie angstvoll. Und so saßen sie sehr lange vertieft, ohne das Geschehen ringsherum zu beachten […] Da erwachte in ihnen plötzlich der Gedanke an das drohende Morgen. Die Mütter saßen bei Tisch und fütterten ihre Kinder. Schwere Tränen flossen aus ihren Augen. Wenn sie auf die Straße gingen, nahmen sie die kleinen Kinder mit. Sie wurden zärtlicher und ihre Gefühle heißer. Sie wollten sich für keinen Augenblick von ihren Kindern trennen. Wenn ein Kind für einen Augenblick aus dem Hause ging und dann zurückkam, ging ihm die Mutter entgegen, blieb in der Türe stehen und beobachtete es mit heißem Gefühl. Dabei war ihr Gesicht von Tränen überströmt. Da drehte sie den Kopf um, damit das Kind deswegen nicht leide. Es war sehr zärtlich und verstand jede Bewegung. Die Männer saßen in ihren Stuben allein, in sich verschlossen und schwiegen lange. Es gingen ihnen schwere, schmerzhafte Gedanken durch den Kopf, auf die sie keine Antwort fanden, keine Lösung. Die Probleme waren so schmerzhaft, dass niemand sie mit anderen teilen wollte, sondern sie für sich alleine behielt. Die Menschen redeten wenig; die gute Stimmung hatte sie verlassen. Ein schweigender Ernst drückte jedem Mann seinen Stempel auf. In den Straßen sah man keinen normal schreitenden Menschen; die Leute bewegten sich sehr langsam und nachdenklich oder aufgeregt und mit großer Hast. Die Männer waren sehr milde und zartfühlend gegenüber den Frauen geworden. Seelisch wollten sie ihre Machtlosigkeit kompensieren und den Frauen durch ihre Treue helfen. Auf den Straßen konnte man kleine Menschengruppen beobachten, die mehr schwiegen als sprachen. Sie standen da und lasen mit verständnisvollen und durchdringenden Blicken die ganze Tragödie vom Gesicht der Gefährten ab, die man auf diesem lebendigen Spiegelbild ablesen konnte. Nach dem Eintreten der langen Abende begannen sich die Leute wieder in den Stuben der Nachbarn zu treffen. Sie saßen stundenlang und erzählten sich von den ungeheuerlichen, mörderischen Verbrechen und von den verschiedenen Arten und Mitteln, durch die man die Juden in den verschiedenen Städten der Welt beraubt hatte. Man erörterte die Wehrlosigkeit und Ohnmacht, das schreckliche Los der Juden und die gründliche Systematik bei ihrer Vernichtung. Die Leute saßen in großer Unruhe und bebten unbewusst vor Furcht. Trauer hing in der Luft. Jeden Augenblick trat Schweigen ein; die Köpfe bewegten sich nicht mehr und das Blut gerann in den Adern. 410

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Dann wurde ernsthaft über die Situation nachgedacht. Tiefe, schwer sich entringende Seufzer der Sitzenden waren der Ausdruck ihrer quälenden Gedanken. Wenn die Menschen sich schlafen legten, warfen sie sich vor Empörung, Schmerz und Unruhe von einer Seite auf die andere; düstere, gespensterhafte Bilder erschienen in ihrer Vorstellung und flogen mit Blitzesschnelle an den Augen vorüber. Ermüdet und erschöpft, versuchten sie im Schlaf zur Ruhe zu kommen, aber sooft die Augen zufallen wollten, riss sie jeden Augenblick ein schlaf­ raubender Gedanke aus dem Schlaf und quälte sie und rief: Wie kann nur ein Vater schlafen, der kein Mittel gefunden hat, seine Kinder vor dem Tode zu retten, der ihnen deshalb zürnt […] auch ein Glück, die freie Zeit zu benutzen, um über sich selbst zu klagen, damit das Schicksal von Frau und Kind nicht allzu sehr beunruhigt […] Er arbeitete nur für die Deutschen. Die besten Schuster, Schneider, Schuhmacher, Uhrmacher usw. arbeiteten […] Das war ein kleines Ghetto unter den Ghettos in der umliegenden Gegend. Deutsche Kundschaft konnte kommen. Und sie waren gezwungen, Tag und Nacht für die Deutschen zu arbeiten, und als die Stunde der Vertreibung kam, wurde ihnen nicht erlaubt […] Man kann ihren unglückseligen, tragischen Zustand verstehen. Ehe sie körperlich starben, war ihr Geist durch den Lauf ihrer Gedanken vernichtet worden, die sich in einen Mechanismus verwandelt hatten, der die wichstigsten menschlichen Gefühle verdecken und ersticken sollte […] an den Rand des Abgrunds geführt. Und da geht er daran, zu nähen […] und schneidert herrliche Anzüge für ihn […] Ihre zynischen Forderungen kennen keine Grenzen […] Man ließ zwanzig Jünglinge aus Płońsk ins Ghetto kommen […] welche entkräftet, mit tief eingefallenen Augen, von Knüppeln zerschlagen […] ihre Körper waren mit zahlreichen roten Striemen bedeckt, ein blutiger Sumpf, in dem es vor Würmern nur so wimmelte. Ihre Hosen waren in Lumpen verwandelt, lange, abgemagerte Beine ließen nicht erkennen, dass sie einmal Teil eines Menschen waren […] barfuß mitten im Winter, und ein anderer […] lag auf den bloßen Steinen […] sie waren so schrecklich zerschlagen, dass sie sich überhaupt nicht bewegen konnten […] sie glaubten […] […] Der Termin der Verschickung wurde offiziell auf den 18.XI. festgesetzt. Der Tag näherte sich. Einen Tag zuvor rief die Gemeinde die Bevölkerung auf den Gemeindeplatz, um sie über alles zu informieren und alle Einzelheiten über die Reise und die nächste Zukunft zu besprechen, und auch um sich 411

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unter derart traurigen Umständen endgültig von ihr zu verabschieden, nachdem sie fast drei Jahre lang an der Spitze der Bevölkerung gestanden hatte. Um 12 Uhr mittags versammelte sich zum letzten Mal in ihrem Leben die ganze Bevölkerung, um gemeinsam das riesengroße Unglück, den ganzen Schmerz und das Leiden, das jeder individuell erlebte, zu beweinen, um wiederum die aufgeregten Gefühle, die jedes Herz erfüllten, in einen einzigen, harmonischen Schmerz zu verschmelzen; um die leidvolle Flut in einer geronnenen Legierung zusammenzuschweißen und einen unverwischbaren Abdruck zu schaffen für das alles, was das Bewusstsein auffrisst und niederdrückt, um es so tief, so scharf, wie ein Messer, wie ein Bohrer, so vollständig wie möglich auszudrücken. Es herrschte eine Stille voll tiefem Ernst und gespanntem Schweigen, als Gurfinkel und Ehrlich zu den noch lebenden Opfern zu sprechen begannen. Sie fühlten sich allzu klein, um das Gewicht der tragischen Verantwortung dieses Augenblicks zu tragen. Sie waren diesem übernatürlichen Moment offensichtlich nicht gewachsen. Sie sprachen sehr kurz hierüber, doch brachten ihre Worte die tiefsten Saiten der Seele zum Zittern, ein siedender Strom von Leiden und Zorn entquoll ihnen und ihre brennenden, heißen Gefühle erwärmten die kalte Winterluft. Sie klärten hierbei auch verschiedene Einzelheiten für den kommenden Tag auf. Danach sprach ein dort wohnender Rabbiner aus Krasne303; er rief die Menge auf, sich mit seelischer Standhaftigkeit und innerer Kraft zum Zusammenhalten zu wappnen. Am rührendsten und mutigsten sprach der Letzte, der Dajan von Maków304: Er brachte das Thema mit voller Offenheit zur Sprache und mahnte, dass Illusionen nichts bringen; man muss reif und vorbereitet darauf sein, dass sie uns in den unvermeidlichen Tod führen. Beim Verlassen der Häuser muss man sich von allen Nächsten verabschieden […] von der eigenen Frau, von den Kindern. Es ist notwendig, dass wir unser Leben hingeben, um den Namen Gottes zu heiligen; mit dem Gefühl des großen jüdischen Stolzes müssen wir die Konsequenzen unserer bewussten Entscheidung tragen, und die Tatsache, dass dies der einzige, in dieser Form beispiellose Fall in der jüdischen Geschichte ist. Wir müssen ihn in Würde annehmen. Die Steine wurden nass von unseren Tränen […] sie sättigten die Luft, und viele Menschen vergegenwärtigten sich mit ganzer Klarheit, dass dies ein 303 Ein Dorf 13 Kilometer nordwestlich von Maków Mazowiecki. 304 Hier schreibt der Autor von sich selbst in der dritten Person.

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Lejb LangfuSS: Erschüttert von der Gräueltat

Augenblick voll großem Ernst, der einzige in seiner Art im Leben ist; so etwas hatte man noch nie erlebt. Jeder fühlte, dass seine ganze Lebenserfahrung zu klein und nicht ausreichend sei, um die ganze Größe der Verantwortung dieser Stunde abzuschätzen. Mit großer Spannung wurde jedes Wort aufgenommen, doch fehlte es ihnen in der Verwirrung an der entschiedenen Tapferkeit. Es kam die schwere Stunde der traurigen Wirklichkeit, voll Entsetzen und Erschütterung, voll Furcht und Unruhe. Mit Trauer und aufgewühlten Gefühlen müssen wir uns auf das Mysterium des Todes vorbereiten, dessen [Zeit] und Ort vollkommen vor uns geheim gehalten wurden. Schon diese Tatsache allein war schrecklich genug. Jedoch zeigten im Allgemeinen die Menschen auch nicht die kleinsten Anzeichen eines seelischen Zusammenbruchs oder der Furcht. Es herrschten äußerliche Gleichgültigkeit und Beherrschung. Aber zum heldenhaften Schritt, den der Augenblick erforderte, hatten sie sich noch nicht erhoben. […] Die Leute kehrten in ihre Wohnungen zurück, um sich von ihrem größten alten Freund zu verabschieden, den man im Leben besitzt – von dem stummen, geduldigen, der Rede entblößten, besten Kameraden, dem besten Regler unserer bescheidenen Welt, wie es das Haus ist. Mit größtem Schrecken betrachtete man die Treppe, die Wände und die Inneneinrichtung. Am meisten bedauerte man das eigene Bett. Jetzt erst verstand man eigentlich, was für ein großer Schatz dies ist, erst im letzten Augenblick, als man sich schon Rechenschaft darüber gab, dass sie auch es uns wegnehmen, entreißen werden. Zum letzten Mal bereiteten sich die Menschen etwas Warmes zu Essen und erwärmten den zitternden Körper, der vor Kälte und Entsetzen durchfroren war. Und dann zog der Rucksack unsere Aufmerksamkeit und die Blicke auf sich, dieses Symbol der jüdischen Vertreibung, der auf dem Rücken mit Ledergurten befestigt wird und dazu bereit ist, sich für den Weg vorzubereiten sowie alle unentbehrlichen Packen zu ordnen, ohne die man nicht auskommt. Einige wirklich unentbehrliche Sachen packte man so in den Rucksack, dass man ihn bequem tragen konnte. Einen erschütternden Eindruck machte diese Szene, deren Phase eine traurige Melodie auf unseren Nerven spielte. In ein Bündel wickelte man verschiedene unumgänglich notwendige Sachen, dann wurden die kleinen Kinder gewaschen und zum Schlafen gebracht. Und erst jetzt setzte sich jeder bei sich, in seinem Hause, im Kreise der ihm nächsten und liebsten Menschen nieder. Die letzten, schon gezählten Stunden, die noch übrig waren, brachten einen jeden näher und verbanden ihn mit seiner nächsten Familie. 413

Die Chronisten und ihre Texte

Man stellte keinen Fuß auf die Schwelle seines Nachbarn. In intimster Annäherung, in herzlicher Liebe, der allerengsten Vereinigung und vollkommenen Harmonie klagten die Menschen leise über ihr Unglück, die einen vor den anderen, beweinten ihre Kinder und schmiegten sich in großer Rührung aneinander. In diesen Stunden ließen sich bis in die späte Nacht tief aus dem Herzen kommende Seufzer der großen Verzweiflung hören, die die Grundfesten des Lebens erschütterten. Kapitel 10 Vor dem Sonnenaufgang Am Tage vor der Aussiedlung war die ganze Stadt auf den Beinen. Zuerst ­wurden die allerteuersten Geschöpfe, die Kinder, geweckt. Man zog ihnen warme, saubere Kleidung an und umwickelte und umhüllte sie sorgfältig. Dann nahmen die Leute ihre Rucksäcke auf den Rücken, die Kinder an die Hand und gingen auf die Straße. Das Wetter war schlecht; auf der Erde lag schmelzender Schnee, und ein feuchter Wind durchfröstelte einen bis ins Mark. Alles nahm man sich zu Herzen. Auch den Befehl, sich vor dem Tor des Friedhofs in der Przasnyska-Straße zu versammeln, das nur dann geöffnet war, wenn man die Toten hinaustrug. Das war symbolisch und erschreckte die Gedanken wie ein Gespenst. Als wir uns dem Tor näherten, begannen uns die Füße den Gehorsam zu verweigern. Ach, welche Bedeutung doch so ein Stückchen eigenen, warmen, hellen Hauses hat, in dem Ordnung und Harmonie herrscht, in dem der Mensch sich selbstständig fühlt, von niemandem abhängt und tun kann, was und wie er es will, in dem man die Launen der Kinder, die im Bett liegen, erfüllen kann. Ruhe, Freiheit, Erholung, wo niemand das ersehnte Familienglück stört. Ein […] Platz, ein Daseinspunkt auf der riesigen Erdkugel. Aus dem Hause gerissen zu werden, das heißt vom Leben Abschied zu nehmen. Der Körper weigerte sich, hinauszugehen. Die Menschen haben das Gefühl, als ob das noch geschlossene Tor eine Grenze zwischen dem Leben und der Vernichtung bedeute, einen Scheideweg zwischen der leuchtenden Vergangenheit und der verschleierten, dunklen Zukunft. Das Haus ist wie ein Magnet, es zieht sie zu sich, wirkt auf sie ein, wie ein Zauber, hat […] Jeder Winkel hier versank ins Herz, sogar jede Tür, draußen jeder Baum, jeder Ziegel, so heimisch, so nah, so teuer. So viele Erinnerungen sind damit verbunden; sie reden zu uns ohne Worte, sie rufen nach uns. 414

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Jedoch, alles ist verloren! Was kann man tun! Wir gehen hinaus. Aber die Augen sind nach hinten gewendet, ins Innere. Diesmal kämpfen die Treppen gegen dich. Sie erlauben nicht, hinunter­ zugehen. Es ist so schwer, den Fuß auf sie zu stellen … Nach dem Hinausgehen halten sich die Familienmitglieder eng beieinander, um sich in der Menge nicht zu verlieren. Jede Familie hat sich einen Platz auf der Straße gesucht, wo sie sich aufstellt. Es ist dunkel und still, das große Gedränge erlaubt keine freie Bewegung. Die Menschen beobachten alles aufmerksam […] werfen sich gegenseitig Blicke zu. Die Augen sind auf die Vorübergehenden gerichtet, blicken sie mit großem Mitleid an. Hier geht eine Familie, die bisher das Elend des Krieges nicht gespürt hat. Wie schwer hat es sie berührt. Hier stiehlt sich eine Mutter mit einigen kleinen Kindern vorbei: Sie führt sie an der Hand, andere trägt sie auf dem Arm. Bedauern greift ans Herz, wenn man sieht, wie schwer sie sich fortbewegt. Sich mit solchen Schwälbchen auf den Weg zu machen! Und da geht noch eine Frau mit kleinen Kindern, die keinen Mann hat. Als Arbeitsunfähige führt sie ihre kleinen Kinder in den Tod. Ja! Sie führt sie direkt in den Tod. Hier gehen die Waisen, deren Eltern ermordet worden sind, als sie vor Hunger aus Warschau ins Innere des Reichs geflohen waren. Die Bauern haben die Waisen gesehen, als sie an der Grenze herumirrten, und führten sie nach Maków. Die Kahal305 sowie Privatpersonen hatten sich ihrer angenommen. Sie sind so einsam wie Steine! Wie werden sie sich zu helfen wissen, wer wird sie adoptieren? Junge Kinder, die bisher noch keine Freuden des Lebens erfahren haben, gehen auch in den Tod. Und hier ziehen reife, ältere Menschen vorüber. Wohin? In den Tod! Für einen Augenblick vergessen die Menschen, zutiefst ergriffen über die Tragödie der Vorbeiziehenden, was ihnen selbst bevorsteht. Die Kinder […] eine Frau ruft gedehnt etwas und weint, sie geht in die Stube hinein. Oh, mein Kind, wir haben nicht mehr […] vollständig gebrochen […] antwortete die Mutter. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und ihr Herz umfing das Leid. Sie will auf ihre Kinder schauen […] mit tiefem Schmerz, jedoch haben die Kinder schon nicht mehr […] Erst jetzt sehen sie, dass von den ehemals freien Personen nur eine an Händen und Füßen gebundene Masse übrig geblieben ist, alle Werkzeuge sind in den Händen des 305 Wörtlich: Gemeinde, Versammlung, hier: jüdische Gemeinde. Damals bestand bereits keine Kahal als solche mehr. Eine Kahal war nicht allein auf religiöse Fragen beschränkt: Für den Dajan war sie so etwas wie die Metapher einer für die ganze Gemeinde stellvertretenden Struktur.

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­ äubers, und von ihrer ganzen Habe nur ein bescheidenes Bündel auf ihrem R Rücken. Und dies ist doch nur eine Etappe zu einem viel schlimmeren, schrecklicheren Morgen. Kapitel 11 Vertreibung Als es Tag wurde, zeigten sich auf der Straße einige Gendarmen mit blanken Säbeln, Gummiknüppeln und dicken, groben Fäusten, bewaffnet von Kopf bis Fuß. Ein Teil von ihnen durchsuchte die offen stehenden jüdischen Wohnungen, Dachböden, Keller und Aborte. Sie wollten nachprüfen, ob sich auch niemand dort versteckt hätte. Einsame, alte Leute oder Kranke, die man bald darauf fand, wurden erschossen; ebenso führte man ein Kind in die Nachbarstube, um es nicht auf der Straße zu erledigen, und beide zusammen wurden erschossen. Vorher führte man sie ins Klosett, der Kopf wurde ihnen in die Öffnung gesteckt, und dort, mit dem Kopf nach unten und den Füßen nach oben […] wurden sie erschossen. Eine kleinere Gendarmengruppe machte Jagd auf Juden und trieb sie aus allen umliegenden Straßen hinaus, um sie auf einem Platz zu versammeln. Bewusst bemühte man sich dabei, Entsetzen hervorzurufen, indem man schlug […] ohne Ausnahme […] auf die Köpfe […] sie stellten sich […] beiseite. […] im Stadtgefängnis? […] Reichs- und Volksdeutsche […] die Gesichter fielen ein vor […] Vorgesetzten […] aus der niedrigsten Bevölkerungsschicht […] einige Gestapos […] und standen in drohender Haltung […] sie standen vor […] und schoben dauernd […] andere standen […] Weile, zurückgetrieben in den [Saal?] […]von beiden Seiten […] und […] standen zusammen in immer größerer Enge zusammengedrängt. Die Leute wurden mit Gummiknüppeln, Knuten und Säbeln hineingetrieben, die man unablässig über den Köpfen schwang […] immerwährend bis zum Ausgang aus […] Menschen durch das Tor immer mehr […] beispiellos […] Es entstand ein solches Gedränge, dass die Leute sogar […] die Kinder in die Höhe halten mussten […] wurden von Menschen hochgehoben […] war unmöglich. Die Rucksäcke schnitten wie scharfe, schneidende Messer in die Rücken. […] Die Kinder auf den Armen schauten [unten] aus dieser Menschenmasse und sahen […] die von allen Seiten auf die Menschen nieder­ fallenden Schläge und warfen sich am ganzen Körper zitternd in die Arme 416

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und weinten kläglich von wilder Angst ergriffen, unter dem Eindruck der Gummiknüppel, Knuten und Säbel, die ohne Unterbrechung in Bewegung waren und die Köpfe zerschlugen. Sie sahen mit eigenen Augen, wie Blut floss. Die Menschen fielen bei dem Gedränge massenweise hin, doch war es bei der Enge unmöglich, sie wieder auf die Beine zu stellen; im Gegenteil, sie wurden von den Füßen zu Tode getrampelt. Andere wurden schwach und ohnmächtig, und auch ihnen konnte man in diesem Gemetzel nicht helfen; daneben standen: die Ehemänner, die Frauen und Kinder und mussten zusehen, wie die Lebenden zu Tode getrampelt oder ohnmächtig wurden und auf diese Weise den Leiden und Qualen entkamen. Es bestand keine Möglichkeit, ihnen auf irgendeine Weise zu helfen. Es spielten sich herzzerreißende Szenen ab. Am Tor stand eine besondere Abteilung Gestapos und ließ nur je zehn Menschen auf einmal durch, die sich vorher schon einzeln in einer langen Reihe aufgestellt hatten. Sie sollten angeblich jeden kontrollieren. Auf beiden Seiten standen je zwei Verbrecher und schlugen jeden Vorübergehenden fürchterlich auf den Kopf, mit wildem Sadismus, der niemals genug bekommt. Das Blut spritzt dauernd wie aus einem Springbrunnen […] Hinter dem Tor standen Frauen […] geschlagen und gefoltert […] und unter […] erbärmliche Zufriedenheit und […]über ihre […] drang […] hervor, das ist Folter oder ist das […] solche [Mistkerle] auf der Welt. Am Tor stand ein deutscher Gestapo in Zivilkleidung und warnte laut, dass jeder, gleich hier, alles Geld und alle Wertsachen abgeben müsse. Wenn nicht, dann drohe der Tod. Dabei hielt er seinen Revolver in der Hand, und alle warfen vor Angst Geld, Gold, Valuta usw. vor ihm hin, doch vor allem Uhren und Ringe […] Denjenigen, der nichts abgab, schlug er mit bestialisch grausamer Rohheit. Auf diese Weise stopfte sich dieser und noch ein anderer Gestapo, der auch in Zivilkleidung mit ihm zusammen war, dauernd die Taschen […] mit Rollen von Dollars und mit Wertsachen voll. Menschen, die hier unversehrt herauskamen und denen es gelang, auf die Wagen zu steigen, fühlten sich so, als seien sie der Hölle entronnen. Im Augenblick des Aufsteigens auf die Wagen schlug man sie mit Nahajki und Gummiknüppeln. Infolge der großen Panik verloren viele Leute ihre Kinder und die Kinder ihre Eltern. Die meisten warfen ihre Rucksäcke und Bündel fort, die das Aufsteigen auf die Wagen erschwerten, und begnügten sich mit dem Glück, dass es ihnen gelungen war, das Kind auf den Wagen zu setzen. Sie freuten sich sehr aus diesem Grunde. 417

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Zum ersten Mal kamen diese Menschen endlich zur Überzeugung, dass die Deutschen sich zu keiner menschlichen Regung aufzuschwingen vermögen. Die Leute wunderten sich, dass selbst die ihnen bekannten Deutschen, die mithilfe jüdischer Zwischenhändler sagenhafte Massen jüdischen Schmucks und Valuta gekauft hatten und deswegen gut mit ihnen ausgekommen waren, sie jetzt […] mit zynischer Rohheit und schrecklicher Brutalität schlugen. Die Leute begannen das Widduj306 leise vor sich herzusagen. Was für ein Mörder, in dessen Hände wir gefallen sind. Man konnte sich vorstellen, was wir noch von ihnen erwarten können! Verzweiflung und Resignation hatten ihren Höhepunkt erreicht. […] Diejenigen Leute, die sich schließlich mit großer Schwierigkeit durch die Menschenmenge auf die andere Seite durchgerungen hatten und trotz der vielen Schläge, die sie erhalten hatten, auf keine Weise auf die Wagen gelangen konnten, stellte man zur Seite und rief einige junge Leute, die sie unerwartet und in Blitzesschnelle pausenlos auf die Köpfe schlugen und sie auf die Wagen buchstäblich hinaufwarfen. Sie hatten nicht normal und bequem auf die Wagen gesetzt zu werden. Auf gleiche Weise wurden auch die Greise verladen. Das Beladen rief einen Ausbruch von Wut und Grausamkeit hervor. Zwischen jeder größeren Wagengruppe sowie an den Seiten fuhren Gendarmen. Ein Absteigen vom Wagen, selbst für einen Augenblick, um seine Notdurft zu verrichten, war mit großer Gefahr verbunden: Hierfür drohte Erschießung. So fuhren wir bis halb acht abends. Kapitel 12 In Mława In Mława wartete auf die Ankunft der jüdischen Bevölkerung schon eine Gendarmengruppe, deren einzige Aufgabe es war, die Juden mitleidslos zu schlagen. Später, als die Leute schon von den Wagen gestiegen waren, führte man sie in einen besonderen, abgelegenen Teil des ehemaligen jüdischen Ghettos, wo man sie zu je fünf bis sechs Familien zusammen in einem Zimmer einquartierte307. 306 Ein Bußgebet, das entweder individuell oder gemeinsam gesprochen wird, charakteristisch für die Fastenfeiertage, insbesondere für den Jom Kippur. Einige besonders fromme Juden lesen das Gebet täglich, In diesen Kreisen entstand auch die Sitte, das Widduj vor dem Tode zu sprechen. Als Hauptteil dieses Gebets gilt die Formel: „Fürwahr, wir haben gesündigt“, wonach man sich zu den Sünden dem Alphabet nach bekennt. 307 Aus dem Tagebuch geht hervor, dass das Ghetto von Mława am 18. November 1942 – am Tag der Einlieferung der jüdischen Bevölkerung aus Maków Mazowiecki – bereits leer und ausgeraubt war,

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Das einzige Aufatmen, die einzige Erleichterung war der Ausruf von Juden: Juden, hier sind […] jüdische Aufseher und Polizei, die halfen […] den verwirrten Juden […] den Weg zu finden […] die vollkommene Dunkelheit, die eingefallen war, flößte ihnen Angst ein. Die Polizisten hatten indes batteriebetriebene Taschenlampen. Sie leuchteten den Menschen den Weg und führten sie in die Wohnungen. Als die Leute in die Wohnungen kamen, überfiel sie ein Grauen. Nahezu alles war ausgeplündert und ausgeraubt. Die Diebeshand, welche überall […] ihr Unglück. Sogar die Bettwäsche war schon abgezogen. Jede Wohnung war ein Bild der Zerstörung, war einfach eine kalte Ruine, die mitten ins Herz schlug. So also sehen von nun an all unsere Wohnungen aus […] Es erstaunt, dass man keine […] führt, hielten sich in […] aus dem Kopf. […] Aber es ist schwer […] Jeder Augenblick war ein Sieg – aber […] man fühlt, dass […] das Leid und die Verzweiflung […] waren. […] Zunächst hat man die Kinder schlafen gelegt […] Stühle und der Rest […] Erlebnisse […] es ist kalt und die Lager sind hart; der Schlaf wollte nicht kommen […] eine schreckliche Nacht […] kam uns wecken, […] nimmt keinen Platz ein; man muss […] mitnehmen […] lange Reihen, ganze Familien […] dies ist noch nicht der letzte Augenblick […] die aus Schmerz, plötzlich aus dem Schlaf […] sie sind gekommen, um zu wecken […] der Platz der Gemeinde […] notwendig mit […] angefangen ganze […] weiß […] schon nicht […] erst als man sie daran erinnerte, dass […] und die Deutschen […] zu Menschen wurden und sich ernstlich zu Herzen nehmend […] […] in Richtung des traurigen Gemeindeplatzes […] nicht wissend berührte er den riesigen […] vom Sammelplatz […] war von jüdischem Blut durchtränkt […] der größte und wichtigste städtische […] und hatte […] unter sich und standen so einsam und eingenommen von zitternder Angst […] Es kommt der berüchtigte Gendarm Paulikat308, der zum Vergnügen auf Menschen schießt […] der allerschlimmste Henker, der nach eigenem Belieben hängt […] nach seinem Räuberherzen […] und häufig […] und tanzen in Fesseln mal auf, mal ab […] und wehe, wehe denen […] das übertraf alle Begriffe von Sadismus. […] Es unterstanden ihm alle Ghettotransporte aller […] aus dem ganzen Bezirk Ciechanów […] nähert sich unseren Reihen. Er kommt mit zwei

weil seine Einwohner schon deportiert worden waren. Für die Juden aus Maków Mazowiecki war Mława nur ein Durchgangslager, in dem Transporte in das KL Auschwitz formiert wurden. 308 Es handelte sich um den Angehörigen der Gendarmerie Mielau, Franz Ernst Walter Paulikat, der 1971 vom Landgericht Arnsberg zu lebenslanger Haft wegen Mordes verurteilt wurde.

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­ endarmen an seiner Seite herein und wirft ununterbrochen Blicke in alle G Richtungen. Seine Augen durchbohren die Menschen mit siegessicherem Stolz, sie blicken von oben herab. Mit diesen Augen frisst und verschlingt er die Menschen; alle überfällt Furcht und die Herzen schlagen laut. Es herrscht eine nervöse Spannung. Er aber ist zufrieden, wenn Menschen aus Furcht vor ihm zittern, wenn sie wie versteinert dastehen, wie in den Boden gewachsen, wenn ihnen das Blut in den Adern gerinnt. Das ist sein Ideal. An erster Stelle suchte er sich ältere Juden von mittlerem Vermögen aus, unter denen sich ansehnliche Hausbesitzer befanden, allgemein hochgeschätzt, die sich großer Ehre erfreuten. Diese erkannte er als […] an und beging so eine große Ungerechtigkeit. Juden darf man doch nicht so […] […] zu solchem Leben. Sie sind des Lebens beraubt, schon während sie die restlichen Stunden auf der Welt verbringen. Man führt sie, bis die Inspektion beendet ist, in den schrecklichen Gemeindekeller. Man führt sie zum Erschießen dorthin. All diesen blinden Leuten fällt es jetzt wie Schuppen von den Augen und sie verstehen, wie und wofür sie auf dieser Welt leben. Daraufhin wählte man eine Gruppe von Menschen aus und sie wurden abgetastet und gründlich durchsucht, ob sie auch kein Geld in ihre Anzüge eingenäht haben. Bei einem Mädchen fand man die bescheidene Summe von 5 Mark in einem Beutelchen, das sie bei sich behalten hatte, um in nächster oder weiterer Zukunft ein paar Kilo Brot zu kaufen. Sie wurde erschossen. Der Gemeindevorsteher von Mława stand die ganze Zeit über auf der anderen Seite des Bürgersteigs und sah all dem mit einer Gruppe von Gendarmen und SS-Männern zu. Aber inzwischen rief man aus den Reihen […] sowie Geonim309 heraus und verkündete ihnen, dass sie bestimmt ins Lager fahren würden, um zu arbeiten, zu leben usw. Aber inzwischen erklärte Paulikat, der zurückgekommen war, dass die Leute auseinandergehen können und dass sich alle am nächsten Tage auf dem gleichen Platz versammeln sollten; alle, die Arbeitsfähigen und die Arbeitsunfähigen. Die Leute atmeten erleichtert auf, aber […] das Vorbeigehen an der Gendarmerie von Mława war mit großer Gefahr verbunden und drohte mit dem Verlust des Lebens […] Man schlüpfte über den Hof zwischen den Häusern hindurch […] […] An den noch bleibenden Tagen […] waren auf alles gefasst. In den allerkühnsten Vermutungen hatte man sich nicht vorgestellt […] unter den 309 Gaon (Plural: Geonim): gelehrt, weise, verehrungswürdig. Das Wort wurde quasi als Ehrentitel für Rabbiner verwendet.

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Juden. Jede Stunde, jeder Augenblick war Glück, ein gefundener Schatz. Man beneidete all diejenigen, die sich noch in Freiheit befanden. Und als man zurückkam, betrachtete man mit Freude seine Liebsten: Das Wichtigste ist, dass man noch lebt und noch zusammen ist. Aber was tun? Man muss doch Essen kaufen […] Die ganze Stadt ist ausgestorben und liquidiert und das Ghetto streng isoliert. Die Bevölkerung aus Mława […] schon acht junge Leute sind inzwischen durch eine große Geldsumme aus dem zeitweiligen Arrest freigekauft worden. Die Mehrzahl der Menschen hatte in Anbetracht des grausigen Schlagens oder beim Auf- bzw. Absteigen vom Wagen unterwegs ihre Rucksäcke mit dem Brot verloren. Man ging also in die Keller auf der Suche nach Kartoffeln, die man dann untereinander verteilte. Aus den Ställen brachte man Torf, der dort liegen geblieben war, die Ställe selbst wurden zu Brennholz abgetragen, und auf diese Weise ernährte man sich während einiger Wochen von Kartoffeln und Salz. Paulikat, der sich so ideal benahm, zeigte sich in der Gemeinde von Mława, um an seine guten Taten zu erinnern. Eine ansehnliche Summe Geldes, zwei mit Brillanten besetzte Ringe und zwei große goldene Männeruhren. […] verschiedene Goldsachen […] vor dem vollständigen […] die Menschen gingen hin und her […] Ungewissheit, aufgestellt […] das allen gemeinsam drohende Schicksal […] eine einzige große Familie, man suchte […] ob man […] beherrschen könnte; sie liefen hin und her […] dass man Klügere gesehen hatte […] und so befinden sich die Menschen auf der Straße […] Menschen in Gruppen […] wie auch solche, die sich sehr […] […] die Kinder schliefen die ganze Nacht nicht […] eine beispiellose Unruhe. Sie waren nicht einen Moment auf dem Hof, da jedes Kind fühlte, dass die Luft ringsherum brannte […] bis zum Abgrund, so kannten sie nicht […] würgten […] niemand zeigte einen gesunden […] und Lebenssinn wie diese kleinen Geschöpfchen […] aller […] und aller […] der ganzen Gemeinschaft […] Es war dies ein Tag der leisen Seufzer […] blasse, erloschene […] abends nicht […] je einige Menschen in der Stube, die Gendarmen […] in den Höfen und überall helle Beleuchtung, um durch Furcht zu lähmen […] die Erinnerung an die ersten Menschen, die umkamen unter […] war lebendig, […] frühen Morgen auf […] noch siebenhundert einige Dutzend […] neue Kontingente […] und schickte alle […] sie sollten bis morgen früh in Massen fangen und die ganze Bevölkerung verhaften […] jeder Polizist auf eigene Faust […] hinausgeschleppt auf […] einige Leute abgeführt und nach […] zum Gewissen der jüdischen Polizei. Doch vergebens versteckten sich die Menschen in Kellern, auf Dachböden, in Ställen […] eventuell angetroffen. 421

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Wenn man das gesuchte Opfer fand, wurde es an Ort und Stelle erschossen. Die nächste Familie […] jeder tat es auf eigene Faust. […] Väter die Kinder […] Schwestern usw. […] das ganze Leben, die eigene Frau, die Kinder […] Aufschreie und jämmerliches Weinen […] ergreifen mit den Händen in bitterer […] die Menschen weinten erschütternd auf allen Seiten, die Herzen zutiefst rührend […] schmerzhaft das Klagen wollte das Herz abdrücken […] die fühlen, dass sich […] ereignet, und sie gehen in die Qualen […] der Deutschen, um ihre Opfer zu ergreifen. […] Wahrheit, schwere […] hat uns getroffen, das größte und schwerste Unglück […] obgleich wir es nicht verdienten […] das ist ewig […] und niemals Ruhe gefunden haben […] und um die Juden zu zwingen zu […] um sie zur Arbeit zu zwingen […] jene ins Gesicht […] erhältst du ein anderes Herz […] sind verschwunden […] von dieser Welt und gerieten in ewige Vergessenheit […] den Verstand zu martern. Eine solche Gemeinheit, solche Schande […] So viel Bitterkeit, ein entrissenes Ächzen, das […] das jüdische Bewusstsein so machtlos, enttäuscht und verzweifelt wie der letzte […] sich ins […] werfende Ton […] teilen […] die Kinder bei sich behalten […] und zusammen mit […] Opfern, erlaubt es uns nicht zu sterben […] wie keine […] der einzige Trost am Rande des Abgrunds. […] obwohl sie am Leben blieben […] in zwei Mühlen. Die Ode, die Ruine […] das einzige Fensterchen […] das Glas war eingeschlagen und ein kalter Wind blies ins Innere der Mühle […] Platz zum Sitzen war […] bedeckt […] auf dem Boden, du gehst, du fällst in einen tiefen Abgrund, der himmelhohe, die ganze unendliche Welt umfassende […] fühlbar für den vernünftigen und gefühlvollen Menschen, herausgerissen aus allem, was ihm lieb und teuer war, aus dem, was sie anwandten […] in der Hoffnung und Erwartung, den […] Morgen zu erblicken, den ihre Kinder erwarteten, […] waren über deren Spiele, als das Leben noch seinen normalen Gang lief, bildeten sie zu einer einzigen harmonischen Wesensgemeinschaft […] in den gefahrvollen Augenblicken des Lebens. Und erst in den allergefährlichsten Minuten, als die Banditen ihre Klauen ausstreckten […] gebeugt und zerschlagen […] ein angstvolles Zittern voller Furcht […] kein einziger geliebter, väterlicher […] Das Herz in Stücke gerissen […] innerlich vollkommen zerschlagen, wollen sie […] solche und ähnliche Gedanken […] und schwirrten einer nach dem anderen […] unter der Mühle und angespannt horchend, um wenigstens ein Wort, einen Satz aufzuschnappen und fühlte [sich, als ob er sich] in dem Durcheinander eines kochenden Kessels befände […] und bitter weinende Stimmen brausen, über422

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schlagen sich […] heiß entflammte […] aus dem Herz quellend wie […] ein Wort, das zu seinen Ohren dringt […] verschiedenartigen, anfangs […] und der Schwerpunkt […] ist Schmerz, Leiden und das Schicksal […] groß und stark sind die Herzen der Menschen […] vorzeitig ins Grab, unter […] sich selbst zum Opfer bringen und sein eigenes Unglück vergessen […] […] herzzerreißender, bis ins Innerste ergreifender Schmerz […] und das die ganze Seele erschütternde Leiden. Die Kinder […] das Weinen der kleinen Kinder […] ihre Klage auszudrücken […] und von dieser Welt zu scheiden […] nichts haben sie erfahren im Leben […] das mütterliche heiße Weinen […] großer Mut und große Tapferkeit […] die Stimmen […] mit einem so schweren […] mit einem so zornigen Lebensinstinkt […] ausdrücken mit Worten ihr Unglück […] ihr Schmerz, der in ihnen anschwoll […] und wieder drückte sie es an sich und riss es die Arme […] entsprechende […] Worte […] man kann die rasenden Gefühle nicht hemmen […] […] sein Herz in Stücke reißen […] er wurde von draußen ins Innere […] in seinen Erlebnissen […] einen einzigen […] sagen leise das Widduj her und sie schlagen […] scharf protestierend, ja, sterben aber […] gab den Geist auf unter den Juden, aber nicht unter […] […] Ein trauriges Ende mit einem tragischen Epilog […] warum fiel uns ein so tragisches Schicksal zu? Wenn man sich wenigstens am Morgen dem Tor nähern könnte, wenn man wenigstens noch einmal einen Blick auf sie werfen und einen Kelch voll Tränen ausgießen könnte […], mitten aus dem Herzen. […] kleine Kinder wollen […] schwere, traurige Melodie […] in der Nacht. Aber sie fühlen […] werfen sich mit […] und mit Unruhe niemand beruhigt […] Und ihre Herzen weinen und weinen auf […] dieses […] lange, schwere, schreckliche Nacht […] am Vortage […] begannen sie alle hinauszutreiben […] man trieb wie eine Schafherde […] werfen sich zuckend […] die Lämmlein durch den Schlächter am Hals […] sie gingen mit solch schrecklicher Furcht, voller Unruhe. Viele, sehr viele Leute gingen auf den Platz hinaus […] lebendige Menschen führten sie zum […] im Chore weinend […] Frauen und Kinder weinten vor Kälte und Hunger. Sie wimmerten kraftlos […] aber ohne Erfolg […] einige Kinder waren […] die Umgebenden […] sie warfen sich in die ermüdeten Arme der Mütter, um dort Schutz zu suchen […] das ganze Unglück und sein […] zu verstehen, entsetzlich erschrocken und erschüttert […] weinten sie eine Weile […] erhoben ihre Augen zu den Eltern, um herauszulesen […] in ihren Augen, dass alles gleich bleibt […] in Gedanken versunken, eingefallene […] unter der riesigen Menschenmasse […] die Mächtigsten der Umgebenden, welche sich mit abgrundtiefer Verachtung verhielten. 423

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[…] streichelten sie oft zärtlich und umarmten sie mit heißem Gefühl […] und küssten ihre Köpfchen mit solcher Leidenschaft […] damit sie nicht erstarrten und versteinerten […] aus der Menschenmasse trotzdem […] Stimmung, die den Charakter angab […] beherrschte die Frauen; sie weinten, klagten und jammerten. Viele von ihnen mit mächtigen […] verzweifelten Stimmen redeten und appellierten und forderten Gerechtigkeit. Sie protestierten […] Worte, welche […] derart grausam […] Worte […] waren […] […] um sich und das Kind zu wärmen […] man wollte noch die […] Gelegenheit wahrnehmen, einige Stunden vor dem Tode […] Und wieder vereinigten sich die Menschen mit […] suchte jemanden, der es nähme […] er zitterte und warf sich […] Sturmwind […] aber es gab niemanden, vor dem er schreien konnte […] Es kam der große Tag, als die Gendarmen in Scharen kamen […] Man treibt alle Menschen zum Bahnhof. Gleichzeitig kommen Wagen angefahren, um diejenigen Leute mitzunehmen, die nicht gehen können […] Wir kommen zum Bahnhof […] eine Riesenmenge […] dort begannen sie die Leute mörderisch zu schlagen […] auf die schwache, wehrlose Menge warfen sie sich wild […] schwer bewaffnet […] […] und erlaubten ihnen nicht, einzusteigen […] sie zwangen sie nur, […] Güterwagen […] Warenpakete auf […] stark, dann stellt man alle auf mit […] und wer nicht hineingeht […] und drängten sie ununterbrochen so, bis […] vollgestopft und zusammengepfercht […] bis die liegenden Menschen sich mit keinem Glied mehr rühren konnten […] vor der Abfahrt des Zuges […] viele Menschen […] Tropfen Wasser für die Menschen […] die Menge Wasser […] die überwiegende Mehrzahl ihre Seele aushauchte? […] eine empfindliche Winterkälte […] atmeten schwer […] daraus gemacht […] versteckt […] brennend […] […] Betrug […] fuhren ab, der Transport und […] gingen fort und […] die Ereignisse […] ein starker Schock und […] die Opfer aus dem Ghetto wegzuführen […] umkreiste das Haus und setzte sich […] und beweinte […] die Verzweifelten, die Erschlagenen […] zutiefst verzweifelt vollkommen unter dem Eindruck der unlängst erlebten Szenen. Die Leute beklagten sich wehmütig […] wegen der neuen Portion schmerzhafter Erfahrungen: eine frische Zugabe zum vorzeitigen Tod unschuldiger Menschen. Das Herz […] die Geduld hat ihr Ende. Warum haben sich die Menschen damit abgefunden? So oder so erwartet uns der Tod! Die Leute wundern sich, warum man sich so schrecklich vor dem Tode quälen muss. Jedoch zwingt dies niemanden […] Sie haben hiervon nur größtes sadistisches Vergnügen […] Ob wir durchhalten? Ein Mal 424

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aufstehen und sagen, dass wir es nicht weiter […] sein […] Das ist wie […] Dann erfuhren die Menschen […] noch weitere fünfhundert Arbeitsunfähige […] in der benachbarten Stadt […] auf dem Gemeindeplatz und ganz […] […] sie wurden in besonderen Kolonnen aufgestellt, bei den Mädchen wurde gesucht. […] mit zynischem Gespött wurde beiseite gestellt […] und befohlen wurden […] Die jüdischen […] wurden höhnisch verlacht […] den Männern wurde aufgeklebt […] die Arbeitsfähigen gesondert und die Arbeitsunfähigen gesondert aufgestellt; ein Mädchen lief vom […] sie wurde an Ort und Stelle erschossen […] und weiter verschlang er Geld […], um Furcht einzujagen […] Geld, Uhren und größere Summen, die Unfähigen […] und danach wurde das Kind für 50 Mark befreit. Und auf diese Weise wurden lebendige Menschen durch Angst vor dem Tode verwandelt […] ebenso führten sie alle Juden herbei aus […] […] immer vor dem Tode fühlt sich ein Kranker besser […] Wenn die Deutschen eine bessere Einstellung gegen die Juden zeigten, dann war dies ein Vorzeichen von noch größerem Unglück. Es wurden Karten für Marmelade ausgegeben […] tausendfünfhundert oder fünfhundert wurden aufgeklebt […] Die Aufsicht der Gendarmen wurde eingeschränkt. Am Morgen kam ein Auto mit Anhänger angefahren […] per Bahn, zusammen […] sie wurden registriert und erhielten Brotkarten […] während der Nacht in der Mühle, am Morgen gingen die Leute auf den Platz vor das Ghettotor hinaus. Nach längerer Zeit erschien ein Deutscher und befahl, alle in die Wohnungen zurückzuschicken […] die Naiven […] eine Täuschung, und inzwischen blieben diese Menschen […] aber er rannte wie ein schneller […] zur Mühle, zuerst fährt […] Das Auto mit Brot und Grütze bestärkte […] es fährt, damit […] leben […] wird nicht lange dauern […] Die Leute sitzen in der Mühle. Es ist stockdunkel, großer […] der Schmutz ist unbeschreiblich schrecklich. Die Notdurft kann man nirgends verrichten, außer nur an Ort und Stelle, da, wo man sitzt. Großer Gestank schlägt einem in die Nase und es ist sehr kalt. Es weht ein bissiger Wind. Die Leute sitzen auf ihren Rucksäcken statt auf Bänken, ganze Familien zusammengedrängt, der eine sich an den anderen schmiegend. Die müden Kinder drücken sich stärker an die Brust der Eltern, aber sie schlafen nicht. An einzelnen Punkten dieser riesigen Ruine leuchten kleine Lichter. Die Erwachsenen sind der Kälte wegen in ständiger Bewegung. Dunkle Schatten schleichen an den Wänden entlang. Es ist still. Die Menschen führen, in verschiedene Gruppen zusammengedrängt, Unterhaltungen in intimem, herzlichem Ton. Ihre Einbildungskraft ist tätig 425

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und malt sich verschiedene Bilder aus, entspechend der Stimmung. Nur die weinerlichen Kinderstimmen unterbrechen die Stille und verschlimmern die Stimmung. Es überfällt sie der Schlaf, doch sie benötigen wenigstens einen Tropfen Wärme inmitten dieser schrecklichen Kälte. Die Menschen fühlten sich grenzenlos hilflos, sie können ja nicht einmal die elementarsten Bedürfnisse ihrer kleinen Küken befriedigen. Es zerrt an den Leuten die Sehnsucht nach Hause. Eine ganze Kette von Zweifeln quält und ängstigt die Gemüter. Man führt die verschiedensten Gespräche. Was erwartet uns am Ende dieser Reise: Tod oder Leben? Ist es denn möglich, dass die Deutschen auf eigene Kosten unsere Frauen und Kinder unterhalten? Werden sie uns Unterkünfte geben und ernähren während des Krieges? Zu viele Morde haben unsere Augen gesehen, als dass wir daran glauben könnten. Doch wozu dann das alles? Wirklich nur um uns zu isolieren, damit wir keine Staatsgeheimnisse verraten können, die unsere Augen im verschlossenen Ghetto von Maków zur Genüge gesehen haben? Wenn dem so ist, warum erlauben sie uns dann nicht, irgendetwas mitzunehmen? Lebenden Menschen gebührt das doch. Und warum erhalten wir keinerlei Lebenszeichen von den Warschauer Juden? Zeugen aus Maków waren in Bialystok310 dabei, als man zwanzig Straßen, zusammen mit den Juden, abbrannte – in Slonim, als man in sieben Etappen alle Juden aus der Stadt trieb und sie erschoss311  – in Legonowo aber, nicht weit von Maków, wurde dieses Verbrechen in der Stadt selbst begangen. Man belügt uns weiterhin. Wozu brauchen sie das? Wir sind doch kraftlos, unfähig zur Verteidigung. Wir haben doch nicht einmal einen einzigen Karabiner. Die Christen werden sich doch unserer

310 Gemeint ist das Massaker von Bialystok: Am 27. Juni 1941, einem Tag nach dem Einmarsch der Wehrmacht in der Stadt, trieben Angehörige des Polizei-Bataillons 309 etwa 800 Juden in die große Synagoge und setzten sie in Brand. Nur wenige Juden konnten sich retten, insgesamt wurden etwa 2.000 Juden ermordet. 311 Die Stadt Slonim war am 25. Juni 1941 okkupiert worden. Am 17. Juli verhafteten die Deutschen etwa 1.200 jüdische Männer und erschossen sie am Stadtrand. Im September 1941 trieben die Nazis Juden aus Slonim und angrenzenden Gemeinden in das Ghetto von Slonim. Etwa 9.000 Menschen wurden am 14. November 1941, weitere 8.000–10.000 zwischen dem 29. Juni und dem 15. Juli 1942 ermordet, als die Deutschen das Ghetto umzingelten und in Brand setzten. Während der zweiten Aktion leistete ein Teil der jüdischen Jugend erbitterten Widerstand gegen die Henker: Rund 400 Menschen gelang es, die Stadt zu verlassen und sich in den Wäldern zu verstecken, wo sich die meisten den Partisanen anschlossen. Bis Mitte Juli 1942 blieben in Slonim gerade einmal etwa 500 Juden, aber auch sie wurden vernichtet, im Dezember 1942.

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nicht annehmen; sie erlauben uns doch nicht einmal, bei ihnen zu übernachten. Und wozu dieses abgekartete Spiel mit den Arbeitsfähigen und Arbeitsunfähigen? Und dazu verschickten sie uns noch mit Brot und Grütze, wozu? Muss ein so starker Staat zu solch grobem Betrug greifen? Und wie ist das möglich, dass keinerlei Nachrichten von irgendeinem Schmuggler usw. gekommen sind? Wo und wie werden Menschen vernichtet? Schon seit Kriegsbeginn halten die Deutschen alle Judenbevölkerungen vollkommen von der übrigen jüdischen Welt abgeschnitten. Aber diese Welt besteht doch. Also wie ist es möglich, dass keine einzige Nachricht durchgekommen ist? Wenn wir wüssten, dass sie uns in den Tod führen, so würden wir doch mit allen möglichen uns zur Verfügung stehenden Mitteln Widerstand leisten. Wir würden heldenhaft kämpfen. Der, der die Kraft dazu hätte, würde fliehen und sich in den Wäldern organisieren. Aber wenn man jetzt darüber nachdenkt: Mit kleinen Kindern hätten wir im Winter doch nicht fliehen können? Wozu dann noch leben, für wen und wofür? Und wie soll man in dem Falle handeln, wenn wir uns später davon überzeugen, dass sie uns in den Tod führen? Solche und ähnliche Reden marterten unser Gehirn und unsere Nerven die ganze Nacht über. Andere vertraten den Standpunkt, dass wir so oder so hungrige, gemarterte, arme Menschen seien, was am Ende eh den unvermeidlichen, schmerzhaften Tod bedeute. Man solle sich also nicht zu schnell von diesem Orte rühren: Was geschehen soll, möge geschehen. Andere dachten, dass wir ja nicht wüssten, was der Morgen bringen werde, und dass man sich nicht verfrüht dem Tod aussetzen solle. Solche Gespräche quälten und plagten den Verstand ohne Unterlass. Zwischen dem einen und dem anderen Gedanken trat eine gewisse Pause ein, und die Nerven waren stark angespannt. Eine tiefe Verinnerlichung drückte den Kopf nach unten, und die Augen waren so nachdenklich, dass sie nicht sahen, was um sie herum geschah. Eine Welle vorüberziehender Bilder wogte in der Vorstellung. Schlimme Gedanken voll Furcht über das geheimnisvolle Morgen erfüllten den Kopf. Eine mächtige Unruhe und kaum auszuhaltende starke Nervenanspannung fraßen an den Menschen wie Rost. Etwas wie ein Vorhang verdeckte die nächsten Momente. Die Menschen strengten dauernd ihre Intuition an, um tief in diese geheimnisvolle Welt einzudringen, um zu berühren, um zu ergründen, was hinter diesem Vorhang geschieht. Schwache, aber verständige Leute schlichen leise zu den verschiedenen Gruppen und spitzten die Ohren, um einige Worte aufzuschnappen. Dann drückten sie sich zur Seite und zitterten vor Furcht. 427

Die Chronisten und ihre Texte

Die menschlichen Stimmen waren so leise, langgezogen und zitternd vor Aufregung, dass sie die Ruhe raubten. Entsetzte Augen irrten in der Finsternis hin und her. Keine Bewegung war mehr normal. Alles geschah unter Einwirkung der Nerven. Alles, die ganze Luft, war von einem einzigen Zittern erfüllt. Alle beschlich die gleiche Furcht. Das nackte Schwert zieht über die Köpfe hin; man fühlt den Druck der Luft durch seine Bewegung. Bei jeder Bewegung, bei jeder Wendung droht uns der Tod. Die Atmosphäre ist schwer und angespannt. Sie wird von Minute zu Minute explodieren und alles wird bersten und in kleine Stücke zerfallen. Keine einzige Erinnerung wird übrigbleiben von all dem, was sie erlebt und vollbracht haben. Das Herz klopft dauernd. Es ist dies der letzte entscheidende Augenblick. In herzlicher Rührung umarmen sich die Menschen untereinander; sie fühlen den Zustrom eines beruhigenden Gefühls. Dauernd umfangen jemandes Arme die Kinder und drücken sie stark und leidenschaftlich an sich. Sie schauen nur zur Erde, wie im Halbschlaf oder Traum. Die Gedanken entfliehen und heben sich in die Welt der schrecklichen Angst, des Unglücks, der Vernichtung, des düsteren Grauens, des unaufhaltsamen Zitterns und der geheimnisvollen Gespenster. Depression und grenzenlose Verzweiflung dringen in die tiefsten Falten des Herzens. Es war dies die einzige, die entsetzlichste Nacht ihrer Art. Kapitel 17 Auf dem Platz vor dem Zug Als es schon anfing zu dämmern, wurden die Leute aus der Mühle auf den Platz vor dem Ghettotor getrieben. Es lag sehr hoher Schnee, und durch die Feuchtigkeit schmerzten die Füße. Es war ein Hundewetter; von allen Seiten wehte der Wind. Die Mütter zauderten, mit ihren Kindern hinauszugehen. Die ganze Nacht über hatte sie der Gedanke geplagt, dass sie ihre Kinder stundenlang auf dem Platz alleinlassen müssen. Aber es hilft nichts, was soll man auch tun! Die Kinder, die dauernd quengelten und stöhnten  – sie froren ja und wollten schlafen –, wagten nicht zu weinen. Sie verstanden, dass ihre liebe Mutter nicht mal sich selbst helfen kann. Die von Schmerz und Leiden verzogenen Gesichter der Eltern beugten sich dauernd über sie, um sie leidenschaftlich zu streicheln oder sie nach etwas zu fragen. Ihre zitternden warmen Blicke oder diese heißen Küsse auf ihre Köpfchen überzeugten sie davon, dass Weinen unnütz sei. 428

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Im Gegenteil, sie benahmen sich heldenhaft: Alle Augenblicke warfen sie den Eltern einen traurigen, forschenden Blick zu, um zu sehen und abzuschätzen, wie sich die Eltern nach jedem Blick fühlten. Obwohl ihre Augen verweint, ihre Gesichtchen verzogen und ihre Herzlein beklommen waren, versuchten sie sich abzuwenden, damit die Eltern nichts bemerkten. Sie weinten leise, damit niemand das bemerkte, und drehten ihre Köpfchen zur Seite. Diejenigen, die noch hierbleiben werden, die mit der letzten Gruppe abfahren, brachten den Kindern etwas Warmes zu essen. Die Kinder lebten auf, aber nicht für lange. Gleich begann die nächste Phase; sie mussten sich von den Eltern verabschieden. […] nicht! Widerstand […] als ob sie zusammengebunden wären […] sie pressten sich in einen großen verwirrten Knoten. Die Menschen verschmolzen und vereinigten sich in ein […] untrennbares Ganzes. Nein! Wir erlauben nicht, dass man uns trennt! Schon so viele Stücke hat man von uns abgerissen. Und nun wollen sie noch mehr abreißen. Eine undurchdringliche Wand, die das menschliche Auge nicht durchdringt, verhüllt die Zukunft, das geheimnisvolle Morgen. Bald wird dieser große […] Schleier fallen und alles wird klar sein. Es wird schon nicht mehr verschleiert sein. Die uns auferlegte Unsicherheit wird endlich verschwinden und endlich werden wir alles das sehen, was noch zu sehen bleibt. […] noch das Herz im Inneren ist beklommen. Die Leute weinten, beklagten sich, lamentierten und ächzten. Man hat verschiedene Etappen durchlaufen, verschiedene Erlebnisse gehabt, die hier beschrieben wurden und von gleicher Art waren. Und so standen wir auf dem Platz bis um halb elf morgens, als sich die deutsche Gendarmerie zeigte und nochmals eine Revision aller Menschen vornahm. Man wandte die verschiedensten Erpressungsformen denjenigen gegenüber an, die noch irgendwelche Wertsachen besaßen. Am Montag fuhr der nächste Teil ab. Der gleiche Kniff mit der Mühle, und dann das Hinaustreiben auf den Platz. Um elf Uhr am Montag zeigte sich Paulikat zusammen mit seinen Leuten. Man stellte die Menschen in Reihen auf, zu fünfen in einer Reihe, und führte sie mitten durch Matsch und Morast, da es den Juden, seitdem die Deutschen mit ihren Gesetzen gekommen waren, nicht erlaubt war, den Bürgersteig zu benutzen. Nun gehen wir zum Bahnhof. Die Deutschen treiben die Menschen an und bemühen sich, ihnen ein Marschtempo aufzuerlegen, als ob sie zu einer Hochzeit gingen. Die Füße versagen den Dienst […] das verkündet nichts Gutes […] niemand darf hinfallen, alle müssen mit gleicher 429

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Geschwindigkeit gehen. Sie quälen sie, sie schleppen sie, […] sie helfen ihnen nicht […] bis sie halb […] erschöpft und kraftlos […] und nur das dauernde Schlagen der Untergebenen zwingt diese zum schnellen Vorwärtsgehen, fast im Laufschritt, bis sie am Ende vollkommen erschöpft und in Schweiß gebadet den Zug erreichen. […] die Juden waren eingeschlossen, ohne die Möglichkeit, ins Freie zu klettern. Sie hatten schon vergessen, wie ein freies Fleckchen Erde aussieht. Während des Gehens wollte man einen Blick auf die freie Welt werfen, in der sich Menschen frei bewegten, aber diese Hetzjagd wie auch die verfolgenden Gedanken behinderten die Augen. Es entstand eine große Disharmonie; einerseits zieht sich eine riesige Prozession von Halbtoten dahin und kommt kaum vom Fleck. Es kriechen lebendige Menschen mit Schachteln auf den tief gebeugten Köpfen. Sie gehen, ohne sich Rechenschaft zu geben […] einige fallen unterwegs […] und der schreckliche Fehler. Andererseits […] die Rucksäcke […] dumpfe, aber schreckliche […] Als sie schließlich zur Station kamen, stürzten sich zahlreiche große Gestapos und SS-Männer mit riesigen Peitschen in den Händen auf sie. Die große Menschenmasse wird auf der Rampe, längs des Bahndamms, aufgestellt. Die Waggons sind noch verschlossen. Die Deutschen jagen die Leute von einer Stelle zur anderen und schlagen sie dabei aufs Schrecklichste. Es entsteht […] Die Deutschen machen dauernd Vorwürfe, dass die Leute sich schlecht aufstellen und schlagen sie. […] endlich öffnen sich die Waggons […] zusammen mit den Menschen […] in jeden Waggon werden so viele Menschen hineingepfercht, dass man sich im Inneren nicht bewegen kann. An Sitzen ist überhaupt nicht zu denken, nicht einmal niederhocken, und man kann […] Jeder Fuß, jede Hand befindet sich unter dem Druck von vielen Menschen; sie werden gequetscht und verwickelt […] in der gleichen Lage heruntergelassen […] übrig gebliebenen bis zum Abend des nächsten Tages. Die Rucksäcke, die in einem einzigen großen Haufen aufgeschichtet sind, konnte man nicht einmal berühren oder gar vom Platze bewegen. Also konnte man sich auch nicht stärken. Es war […] Jeder hatte einige Wäschegarnituren an sowie warme Kleidung. Es war sehr eng und heiß. In der Luft verbreitete sich ein unangenehmer Geruch von Schweiß. Die Leute wurden schrecklich von Durst gequält, jedoch gab es kein frisches Wasser. Kein Vorstellungsvermögen würde reichen, um sich ein Bild davon zu machen, welche Qualen die Menschen durchmachten. Zuerst wurden die Güterwaggons geöffnet und so viele Leute hineingepresst. War ein Waggon bis zur Grenze des Möglichen vollgestopft, so verschloss 430

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man ihn hermetisch. Es gab kein einziges Fensterchen, durch welches Luft von außen hätte eindringen können. Dann wurde der zweite Waggon geöffnet und auf die gleiche Weise angefüllt und verschlossen. Danach wurde der dritte […] usw. Während des Einsteigens schlug die SS den Menschen auf die Köpfe, was eine künstliche Verwirrung und Chaos hervorrufen sollte. Den Deutschen ging es darum, dass die Menschen vollkommen die Orientierung verlören. Familien wurden auf besondere Weise schikaniert, sie wurden auseinandergerissen und in verschiedenen Waggons untergebracht. Zwei Sonderwaggons waren für die SS-Männer und Gestapos bereitgehalten, welche Banditen und Schwerverbrecher bewachten. Das schlimmste Problem, das die Menschen zur Verzweiflung brachte und unlösbar war, war das Verrichten der Notdurft direkt auf dem Boden. Bald schon zeigten sich auf dem Boden verschiedene Unreinlichkeiten. Die Menschen waren im Zustand äußerster Erschöpfung. Doch gab es einen Grund, warum die Deutschen daran interessiert waren, die Menschen noch vor ihrer Ankunft am Ziel zu quälen und zu entkräften. Erst später klärte sich das vollständig auf, aber diese neue Erfahrung konnten wir nur noch mit uns ins Jenseits nehmen. Der größte Wunsch, den wir damals empfanden, war: noch vor dem Tod wenigstens einige Tropfen Wasser zu trinken. Die Kinder waren völlig abgestumpft, denn sie waren nicht ausgeschlafen; sie konnten weder sitzen noch sich beim Stehen anlehnen, was sie am Einschlafen hinderte. Sie hatten aufgesprungene Lippen und vollkommen ausgetrocknete Kehlen. […] konnten nichts in den Mund nehmen […] der Durst beherrschte alles, die einzelnen Glieder […] Hände, Füße waren wie abgestorben vor Müdigkeit und ungeheurer Anstrengung. Haut und Nerven […] kraftlose Körper […] Die zusammengepresste Menschenmasse […] konnte wegen des großen Gedränges die Menschen […] in der Luft hängend halten; dreißig Stunden lang ermöglichte es ihnen, auf den Beinen zu stehen. Keine Unterhaltungen, keine Diskussionen wurden unterwegs geführt. Alle waren nur halb bei Sinnen vor Müdigkeit und Erschöpfung. Diese Enge drückte den Stempel der Ermüdung und Entkräftung allen auf und schwächte den Geist. Ein einziges Mal wurde die Tür des Waggons geöffnet; es kamen zwei Gendarmen heran, die auf dem Tauschweg für Eheringe, die ihnen von den Frauen gegeben wurden, diesen erlaubten, etwas zu trinken. Das einzige, was wir wirklich erreicht haben: Am nächsten Tag kamen wir abends dort an, wo wir auf keinen Fall hinkommen wollten. Der Zug hielt in 431

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Auschwitz. Bald darauf sahen wir einen Platz312, auf dem es von SS-Männern wimmelte […] die von Kopf bis Fuß bewaffnet waren. […] besondere Posten standen auf verschiedenen Punkten und hielten Wache. Eine Gruppe jüdischer Arbeiter stand in Häftlingsanzügen und wartete313. Sie waren zu fünf Mann, einer hinter dem andern aufgestellt. Hohe Pfosten mit dicht darüber gespanntem Stacheldraht, der mit elektrischem Strom geladen war, umgaben den ganzen riesigen Platz. An jedem Pfosten war eine elektrische Lampe befestigt, die sehr hell leuchtete. Die hohen ­Pfosten, die sehr dicht nebeneinander standen, erleuchteten den Platz so hell, dass ihr Schein die Augen blendete und den Leuten die Gedanken verwirrte. Anfangs trieb man die Menschen mit besonderer Eile von der Station. Die Rucksäcke und Pakete hatte man nicht erlaubt mitzunehmen. Alles, was die Leute aus den Waggons herausgebracht hatten, mussten sie an einer Stelle zusammenwerfen. Die unterwegs Verstorbenen schleppte eine jüdische Arbeitergruppe aus den Waggons. Frauen wurden herausgerufen, aber besonders Männer und Kinder. Vollständig betäubt und überrascht, küssten die Männer in großer Eile ihre Frauen und Kinder, umarmten sie und verabschiedeten sich von ihnen. Dabei erhob sich ein fürchterliches Weinen. Die Gendarmen begannen die Menge vorwärts zu treiben; sie bemühten sich, die Leute zu allergrößter Eile zu zwingen. Als Folge hiervon gelang es vielen Leuten überhaupt nicht, sich für immer von ihren Liebsten und Allernächsten zu verabschieden. Mit außergewöhnlich ruhigem Ernst und geschliffener Geduld wurde diskutiert und darüber nachgedacht, in welchem Moment der Zeitpunkt herankommt, wenn sie an der Reihe sind, aus der chronologischen und allgemein weltlichen Zeitspanne zu verschwinden. Alles war ausgeraubt, alles war dem abgestorbenen und des Gefühls beraubten menschlichen Leben weggestohlen. Das Beste und Idealste wurde in Stücke gerissen. Es begann die Selektion. Die Männer, die als arbeitsfähig eingestuft wurden […] dagegen stellten sich die Kinder sehr schnell in einer langen Reihe auf. […] alte Leute, wie auch […] besonders junge, gesund aussehende Männer […] Man bemühte sich, die Vortäuschung aufrechtzuerhalten, dass die arbeitsfähigen Menschen wirklich arbeiten würden. Die beiden ausselektierten Männergruppen standen inzwischen und beobachteten […] wie riesige, 312 Gemeint ist der Güterbahnhof der Stadt Auschwitz. 313 Die Aufgabe dieser Gruppe bestand darin, das nach der Selektion übrig gebliebene Gepäck der Neuankömmlinge ins Effektenlager „Kanada“ zu bringen.

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sehr hell erleuchtete Autobusse in der Ferne mit großer Geschwindigkeit hin und her fuhren314. In großer Spannung blickten die Männer in Richtung der in Reihen stehenden Frauen und Kinder. Da bewegten sie sich; sie sehen, wie sie artig in die Autos steigen, die sie direkt zur Vernichtung führen, was sich erst später herausstellte. Auf unsere Fragen, wohin man sie führe, wurde uns geantwortet: in spezielle Baracken, in denen sie wohnen sollen, und dass wir sie jeden Sonntag zu Gesprächen treffen könnten. Nach den Frauen und Kindern fuhren die arbeitsunfähigen Menschen fort […]. Später überzeugten wir uns, dass in der ersten Gruppe vierhundertfünfzig und in der zweiten fünfhundertfünfundzwanzig Menschen gezählt wurden315. Die SS-Männer des Lagers führten uns zu Fuß zur berüchtigten Filiale der Hölle, ins Lager Birkenau. Unterwegs stachen uns sofort die ringsherum gespannten elektrisch geladenen Drähte in die Augen sowie die sehr helle Beleuchtung. Man führte uns zu dem unheilvollen Block. Dort war ein dicker, wie ein Schwein vollgefressener Blockältester, ein Jude, der uns sofort eine Rede hielt. Vor allem betonte er mit besonderem Nachdruck, dass dies ein sehr schweres Lager sei. Für jede Unpünktlichkeit oder Unfolgsamkeit drohe der Tod und man könne an niemanden appellieren. Vor allem müsse man lernen, gerade zu stehen, mit herabgelassenen Armen und erhobenem Kopf. Auf jedes Kommando „Mützen“ müsse man die Mütze mit der Hand fassen und auf das Kommando „ab“ die Mütze abnehmen, auf das Kommando „auf “ die Mütze aufsetzen. Man müsse achtsam nach links gehen, wenn man das Kommando „Tritt zur Arbeit!“ höre316. Haus, Frau und Kinder habe man zu vergessen. Man könne zwei bis drei Monate hier im Lager leben. Nur wir Juden helfen […] Der Krieg könne bis dahin zu Ende sein. Es wäre besser, wenn derjenige, der sich Gold, Dollars usw. eingenäht habe, diese freiwillig abgäbe. Bald würde eine gründliche Kontrolle durchgeführt, wo jeder ordentlich durchgeschüttelt wird, und wehe dem, der von euch […] Solange er sprach, mussten die Leute ohne Mützen in der Kälte stramm­ stehen. Furcht durchdrang alle bis ins Mark […]317 314 Die Menschen, die für den Tod ausselektiert worden waren, wurden üblicherweise auf Lastwagen zu den Gaskammern transportiert. In Einzelfällen erfolgten diese Transporte auch mit Bussen. 315 Der Transport mit den Juden von Maków kam am 6. Dezember 1942 aus Mława in Auschwitz an. Von den Männern überstanden 406 Menschen die Selektion. Sie erhielten vermutlich die Nummern 80262 bis 80667 (Czech, 1989. S. 352). 316 Die Befehle lauteten: „Achtung! Mützen ab“, „Mützen auf “, „Arbeitskommando formieren“. 317 An dieser Stelle befinden sich im Manuskript sechs absolut unleserliche Seiten (gemäß der Nummerierung von APMA-B sind es die Seiten 100 bis 105).

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Wegen der Ausweglosigkeit […] plagte der Gedanke […] die Kinder wird man vergessen müssen […] ich sie […] keine Ruhe […] losgerissen sein […] ich spüre noch ihre Blicke, welche […] hier an dieser Stelle […] obwohl noch […] offen […] dieses […] […] wo sollen sie auch hin […] wenigstens ein Schicksal uns […] ich sie im schlimmsten Fall […] hilflos […] sie fragt mich: Hast du […] ein Kind […] das heißt […] […] war […] ausdrücken deinen […] du hast recht, mein liebes Kind […] und wie sie […] Augen, müde, und sie […] […] es gab das Verständnis […] die Augen […] gezählter Leute […] sie dich […] […] rührte uns so […] uns […] dass es […] das Lätzchen rund um seinen kleinen Mund […] kein Lätzchen aufgetrieben […] gekocht […] hingefallen […] verlassen […] sonderbare Klage […] […] hölzerne […] fahren […] 4 hölzerne […] alle Lager, Herzen und […] sie schnell […] […] Es wurden so viele hineingepresst, wie nur ging. Schwer, sich auch nur vorzustellen, dass in einem so kleinen Raum so viele Menschen Platz fanden. Einfach nur erstaunlich, wie sie in solch kleine Kammern hineingepfercht werden konnten. Derjenige, der nicht hineingehen wollte, wurde wegen Widerstand an Ort und Stelle erschossen oder von Hunden zerfleischt. Im Laufe von einigen Stunden hätten sie eh aus Luftmangel ersticken können. Dann wurden alle Türen hermetisch verschlossen und durch eine kleine Luke in der Decke318 Gas hineingeworfen. Die im Inneren eingesperrten Menschen konnten schon nichts mehr tun. Also schrien sie nur mit bitteren, kläglichen Stimmen. Andere klagten mit Stimmen voll Verzweiflung, noch andere schluchzten krampfhaft, und es erhob sich ein grauenvolles Weinen. Etliche sagten das Widduj oder sie schrien Schma Israel319. Alle rissen sich die Haare aus, dass sie so naiv gewesen waren und erlaubt hatten, sie hierher, hinter diese verschlossenen Türen zu führen. Mit dem einzigen Sinn, der nach außen dringen konnte, mit den Stimmen, die bis zum Himmel schrien, s­ tießen 318 Zum beschriebenen Zeitpunkt wurde das Zyklon B durch Luken in den Seitenwänden des Gebäudes eingeworfen. 319 Ein Gebet, dessen erster Vers lautet: „Höre Israel! Der HERR ist unser Gott, der HERR allein“ (5. Mose 6,4). Das Gebet ist gleichsam das Glaubensbekenntnis der Juden. Ein frommer Jude hat es drei Mal täglich zu lesen. Der Rabbi Akiba las es einst vor dem Tod, wodurch die Sitte entstand, das Gebet kurz vor dem Ableben zu sprechen, als letztes Bekenntnis an den Einen Gott.

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sie ihren letzten Protestschrei gegen dieses größte geschichtliche Unrecht aus, das man vollkommen unschuldigen Menschen antat, um mit einem Schlag ganze Generationen auf diese schreckliche Art umzubringen. Nur um die wilde Gier dieser blutrünstigen Bestien zu befriedigen, die für ihr verlorenes Weltabenteuer, das sie mit solch wahnsinnigem Temperament hervorgerufen haben, nicht imstande sind, Reue zu empfinden, und sich jetzt an diesem schwachen, ratlosen Element rächen. Da haben sie angeblich den tatsächlich Schuldigen gefunden, und um die Welt von ihm zu säubern, begehen sie ungeheuerliche Morde und die brutalsten Verbrechen. Allmählich wurden ihre Stimmen immer schwächer; das Gas drang in ihre Lungen, bis sie schließlich umkamen. Die Protestschreie drangen an die Ohren der niederträchtigsten Verbrecher, die aus ganz Europa versammelt wurden, die moralisch sehr viel schlimmer sind als ihre menschenfressenden Hunde. So also ist das Ende der arbeitsfähigen Menschen, die sich des Widerstands enthielten und sich mit der Hoffnung trösteten, dass ihre Familien sich am Leben erhalten würden. Sterbend fielen – wegen des großen Gedränges – die einen auf die anderen, bis ein Haufen von fünf und sechs übereinanderliegenden Schichten entstand, der bis zu einem Meter Höhe reichte. Die Mütter erkalteten auf der Erde in sitzender Stellung, ihre Kinder umarmend, und die Männer starben, ihre Frauen umarmend. Ein Teil der Menschen bildete eine formlose Masse. Andere standen in gebeugter Haltung; der untere Teil des Körpers stehend, der obere dagegen – vom Bauch an nach oben – in liegender Stellung. Ein Teil der Menschen war unter dem Einfluss des Gases ganz blau angelaufen, andere sahen vollständig frisch aus, als ob sie schliefen. Nicht alle hatten im Bunker Platz gefunden; einen Teil hielt man in einer Holzbaracke bis zum nächsten Tag um elf Uhr zurück. Am Morgen hörten sie die verzweifelten Stimmen der Vergasten und orientierten sich sofort, was ihnen selbst bevorstand. Während dieser verfluchten Nacht und eines halben Tages schauten sie allem zu und machten den entsetzlichsten Schmerz durch, den es auf der Welt gibt. Wer so etwas nicht erlebt hat, der kann sich auch nicht die geringste Vorstellung darüber machen. Wie ich später erfuhr, befanden sich auch meine Frau und mein Kind in dieser Gruppe. Am Morgen erschien das Sonderkommando, das damals ausschließlich aus Juden bestand und in vier Gruppen geteilt war. Die erste Gruppe ging, nach Anlegen von Gasmasken, in den Bunker und warf von dort 435

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die Körper der Vergasten heraus. Eine andere Gruppe schleppte die Körper von der Tür bis zu den Schienen, auf denen kleine, rahmenlose Wagen320 standen. Die nächste Gruppe lud die Körper auf Wagen – die sogenannten Loren – und schob sie bis zu einem bestimmten Punkt, wo321 eine riesige, breite und tiefe Grube ausgegraben war, die von allen Seiten mit Klötzen, Balken und ganzen Bäumen ausgelegt war. Man goss Benzin hinein und ein Höllenfeuer schlug heraus […] Dort stand die vierte Gruppe und warf die toten Menschen ins Feuer. Sie brannten, bis sie ganz zu Asche geworden waren. Vom ganzen Transport blieb nur ein kleiner Haufen verbrannter Knochen und Stücke, den man zur Seite warf. Aber selbst dieser kleine Knochenrest fand keine Ruhe. Er wurde aus der Grube geworfen. Er sollte zu feiner Asche werden und in die Erde geworfen werden. An der Oberfläche dieses Platzes pflanzte man Bäume, damit auch nicht das kleinste Zeichen ermordeter menschlicher Leben übrig bliebe. Die Mörder wuschen ihre blutigen Hände nach dem begangenen Verbrechen322. Auch sie sind entleert […] hineingetrieben das ganze Kommando in die Grube […] der tragische Punkt, die Gruppe im Ganzen […] hineingetrieben. Und so geschah mit ihnen das gleiche wie mit den anderen. So erlosch der letzte Funke323 Hoffnung […], mit der […] aus der das höllische Feuer und eine riesige Rauchsäule schlugen. Und sie warfen sie ins Feuer, bis sie ganz verbrannt und in Stücke zerfallen waren. Am nächsten Tage wurden die Reste noch einmal angezündet. Von dem ganzen Transport ist nur ein kleiner Haufen ausgebrannter Knochenstücke geblieben, der in der Grube auf einer Seite niedergelegt wurde. Danach wurden sie hinausgeworfen und verstreut und dann mit Erde bedeckt, wonach auf der eingeebneten Oberfläche Bäume gesetzt wurden. Es sollte auch nicht die geringste Spur vom ermordeten menschlichen Leben übrig bleiben. Der Mörder wusch sich die blutbefleckten Hände ab. 320 Es handelte sich hierbei um einfache flache Transportloren auf Schmalspurschienen. 321 Ab dieser Stelle steht der Originaltext auf einem Blatt im Registerheft-Format (14,5 x 8 Zentimeter). 322 Bei der „Aktion 1005“ wurden die Leichen der Vergasungsopfer ausgegraben und in riesigen Verbrennungsgruben sowie auf Scheiterhaufen verbrannt. Auf diese Weise wollte die Nazi-Führung die Spuren ihrer Verbrechen verwischen. Die übrig bleibende Asche wurde dabei zunächst in speziell angelegten Gruben in unmittelbarer Umgebung gesammelt, später jedoch wieder ausgehoben und entsorgt. Die Verbrennungsgruben wurden nach der Nutzung von Spuren gereinigt und zugeschüttet. 323 Möglicherweise eine Anspielung auf die Liquidierung der Mitglieder des ersten Sonderkommandos in Birkenau, die Anfang Dezember 1942 vorgenommen wurde, oder ein Hinweis auf die Ermordung des zweiten Teils des beschriebenen Transports, der bis zum nächsten Morgen in der Holzbaracke eingesperrt worden war.

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Das Braten der menschlichen Körper hatte zur Folge, dass die Luft in der ganzen Umgebung vom Geruch des Fettes geschwängert war, dass die Menschen324 sofort beim Aussteigen aus den Autos den Geruch brennender Menschen in die Nase bekamen. […] das eigene nichtige […] Felder […] wie […] Gräber […] Überall fielen sie wie Fliegen, ohne den geringsten Widerstand. Und selbst eine so mächtige jüdische Gemeinde wie Warschau, das blühende Zentrum des Weltjudentums, schenkte den falschen Versprechen des Feindes sein Vertrauen […] ohne jedweden […] einfach nur weil sie […] Wie groß ist unsere Schande! […] und Zufälle und […] das große Volk […] selbst im kleinsten Unglück. […] Leichen […] Gruben sind geblieben […] der Tod.325 Übersetzt aus dem Jiddischen ins Russische von Joel Matveev Übersetzt aus dem Russischen ins Deutsche von Roman Richter Anmerkungen: Pavel Polian und Andreas Kilian

Erschüttert von der Gräueltat Vorkommnisse Als die Transporte aus Bendzin und Sosnowitz326 ankamen, war unter ihnen ein älterer Rabbi. Ein enger Menschenkreis, sie wussten alle, dass sie in den Tod geführt werden. Der Rabbi betrat den Entkleidungsraum wie auch den

324 Ab dieser Stelle steht der Originaltext auf einem Blatt im Registerheft-Format, von dem der obere Teil abgetrennt wurde (11 x 7,5 Zentimeter). 325 Mit diesen Worten enden die lesbaren Aufzeichnungen auf dem Blatt, das dem Notizbuch beigefügt war. 326 Die endgültige Liquidierung der Ghettos in Bendzin und Sosnowitz (wie auch in Dombrowa) fand am 1.–3. August 1943 statt, wobei die Juden mit Waffengewalt erbitterten Widerstand leisteten. Bei der Niederschlagung des Aufstands starben circa 400 Juden. Auch SS-Mannschaften aus Auschwitz waren an der Niederschlagung beteiligt, die dafür mit einem zusätzlichen Urlaubstag belohnt wurden (vgl. Szternfinkiel, 1946. S. 59). Insgesamt kamen zehn Transporte aus Sosnowitz in Auschwitz an: am 1. und 3. (drei Mal!), 5., 6., 10. und 12. August. Damit wurden rund 24.000 Menschen eingeliefert, von denen weniger als jeder fünfte die Selektion überstand: etwa 4.515 Menschen, davon 2.130 Männer und 2.385 Frauen. Aus Bendzin kamen vier Züge an, am 1. und 2. August. Von den circa 8.000 Juden überstanden 1659 die Selektion: 880 Männer und 779 Frauen.

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Bunker327 mit Tanz und Gesang. Ihm wurde die Ehre zuteil, durch seinen Tod den Namen Gottes zu heiligen328. Zwei ungarische Juden329 fragten einen Juden aus dem Sonderkommando: „Müssen wir denn ‚Widui‘330 sagen?“ Er bejahte. Dann zogen sie eine Flasche Schnaps hervor und tranken „Lechaim!“331 mit großer Freude. Dann fingen sie an, jenen Mann aus dem Sonderkommando mit aller Kraft zu überreden, dass er mit ihnen zusammen einen trinke. Er fühlte sich zutiefst beschämt und wollte mit ihnen keinen trinken. Sie ließen nicht von ihm ab: „Du musst unser Blut rächen, du musst leben, und deshalb … ‚Lechaim‘?!“, und sie appellierten an ihn: „Wir verstehen dich …“ Er trank. Dabei war er so gerührt, dass er in Tränen ausbrach. Er lief ins große Krematorium und vergoss dort für eine lange Zeit bitterste Tränen: „Kameraden! Genug Juden wurden verbrannt! Lasst uns alles zerstören und sie dabei begleiten, den Namen zu heiligen!“ Es war Mitte Sommer332, es wurden 101 junge ungarische Juden zum Erschießen333 eingeliefert. Sie zogen sich im Hof des Krematoriums II nackt aus. Alle 327 Das Sonderkommando, in dem Langfuß eingesetzt wurde, entstand im Dezember 1942. Folglich kann sich die beschriebene Episode nur auf den Zeitraum Anfang August 1943 beziehen. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits alle Krematorien in Birkenau in Betrieb genommen worden. Die Bezeichnung „Bunker“ kann sich folglich auf die beiden noch in Betrieb befindlichen provisorischen Vergasungsbauten „Bunker 1 und 2“ sowie auf die unterirdischen, zeitweise auch als „Bunker“ bezeichneten Gaskammern der großen Birkenauer Krematorien beziehen. 328 Das positive Gebot, den Namen Gottes zu heiligen, beruht auf dem Bibelvers, in dem Gott sich an das Volk Israels mit dem Geheiß wendet: „Und ihr sollt meinen heiligen Namen nicht entweihen, damit ich geheiligt werde in der Mitte der Söhne Israels. Ich bin der HERR, der euch heiligt.“ (3. Mose 22,32). Nach Ansicht des klassischen Bibelexegeten Rashi (Rabbi Shlomo Itzhaki, 1040–1105, Troyes, Frankreich) ist dieses Gebot im weiteren Sinne folgendermaßen auszulegen: Ein Jude muss bereit sein, das eigene Leben zu opfern, aber den Namen Gottes nicht zu entheiligen. Wenn ein Jude so handelt, wird der Name Gottes in der Welt geheiligt. Daraus folgt der kategorische Imperativ, alles – auch das eigene Leben – zu Ehren Gottes zu opfern. Besonders deutlich kommt das Gebot in einer Situation zum Ausdruck, wenn zwischen Leben (infolge einer Abkehr, wenn auch einer fiktiven, von dem Glauben an seine Existenz und Einzigkeit) und Tod gewählt werden muss. 329 Die Massenverschickung ungarischer Juden nach Auschwitz begann im Mai 1944. Die ersten Massentransporte kamen am 16. Mai an der neuen Rampe in Birkenau an, die letzten am 11. Juli 1944. Am selben Tag, dem 11. Juli, wurden die letzten 4.000 Juden aus Theresienstadt ermordet. 330 Wörtlich: „Bekenntnis“ (hebr.), ein Beichtgebet, welches eine „allgemeingültige“ Liste aller möglichen Sünden enthält, bei deren Aussprache der Mensch sich auf die Brust zu schlagen hat. Die Sünden sind in der Reihenfolge und nach der Anzahl der Buchstaben im Alphabet aufgeführt, was zusätzlich die Verletzung aller möglichen Gebote der Thora – von A bis Z – symbolisiert. 331 Wörtlich: „Aufs Leben!“ (hebr.), ein traditioneller jüdischer Trinkspruch. 332 Sommer 1944. 333 Offensichtlich handelte es sich hierbei um bereits als Häftlinge aufgenommene Juden aus Ungarn. Die mitten auf dem Kopf ausrasierte Stelle in den bereits nachgewachsenen Haaren wurde „Läuse-

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hatten einen ausrasierten Streifen mitten auf dem Schädel, von einer Seite zur anderen. Dann kam der Mörder, Oberscharführer Mußfeldt, und befahl, dass sie ins Krematorium III gehen. Vom Tor des einen Krematoriums führt ein 60 Meter langer Weg unweit der öffentlichen Straße zum anderen. Er hat das ganze Kommando entlang der Straße aufgestellt, um die nackten Juden zu bewachen, damit sie nicht auseinanderlaufen. So wurden sie getrieben, völlig nackt, wie die Schafe, durch Knüppelschläge auf den Kopf. Getrieben wurden sie vom Kommandoführer persönlich und vom deutschen Kapo334. Am anderen Ende wurden sie in einen kleinen Raum getrieben, geschlagen und einer nach dem anderen zur Erschießung hinausgeprügelt. Eine Gruppe von Juden aus einem Lager335 wurde hergebracht, ausgemergelt und dürr. Sie zogen sich im Hof aus und kamen einer nach dem anderen zur Erschießung herein. Sie litten schrecklichen Hunger und flehten, dass man ihnen in dem Augenblick, den sie noch zu leben hatten, ein Stückchen Brot gebe. Viel Brot wurde herbeigebracht. Ihre Augen, vor ausmergelndem Hunger stumpf und erloschen, leuchteten mit wildem Feuer der Freude auf, das überraschte. Mit beiden Händen griffen sie nach dem Brotstückchen und verschluckten es gierig, während sie über die Stufen direkt zur Erschießung gingen. So erstaunt und befriedigt waren sie von dem Brot, dass der Tod leichter für sie wurde. Das ist es, wie ein Deutscher Menschen quälen und ihre Psyche kontrollieren kann. Es muss betont werden, dass sie alle vor nur wenigen Wochen ihr Zuhause verlassen hatten. Es war ungefähr Ende 1943336. Es wurden 164 Polen aus dem Umland hergebracht, unter ihnen 12 junge Frauen. Allesamt Mitglieder einer Untergrundorganisation337. Mit ihnen zusammen kamen Persönlichkeiten der SS in einer Kolonne. Zeitgleich wurden mehrere Hundert holländische Juden aus den Lagern338 zur Vergasung hergeführt. Eine junge Polin sprach alle in dem 334 335 336 337 338

straße“ genannt und ist ein Indiz für den Häftlingsstatus von Männern, die bereits einige Zeit im Lager inhaftiert waren. Zudem erschwerte diese Frisur die Flucht eines Häftlings. Karl Toepfer, Kapo des Kommandos, das aus Majdanek nach Birkenau kam, gebürtiger Deutscher. Also solche, die die innere Selektion im Lager Auschwitz nicht überstanden hatten. Schätzungsweise 18. oder 19. November. Im Oktober/November 1943 fanden Verhaftungen in den Zentralen des polnischen Untergrunds in Krakau, Kattowitz und in der Nähe von Auschwitz statt. Am 17. November 1943 kamen zwei Transporte aus Holland in Auschwitz an. Der erste enthielt 1.150 Menschen aus dem KZ Herzogenbusch, der zweite enthielt 995 Menschen aus dem Durchgangslager Westerbork. 553 von ihnen wurden bei der Selektion zur Vergasung bestimmt und anschließend ermordet.

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­ ergasungsbunker Anwesenden, die bereits nackt waren, in einem brennenV den Appell über Hitlers Mörder und über die Unterdrückung an und endete mit den Worten: „Wir sterben nicht, wir erlangen die Unsterblichkeit in der Geschichte unseres Volkes. Unsere Initiative und unser Geist leben und gedeihen. Das deutsche Volk wird unser Blut teurer bezahlen müssen, als es sich das vorstellt. Nieder mit der Barbarei verkörpert durch Hitler-Deutschland! Hoch lebe Polen!“ Dann wandte sie sich an die Juden aus dem Sonderkommando. „Denkt dran! Es ist eure heilige Pflicht, unser unschuldiges Blut zu rächen. Erzählt unseren polnischen Brüdern, dass wir mit großem Stolz und tiefem Bewusstsein unserem Tod entgegengehen.“ Da knieten die Polen nieder und sprachen in einer eindrucksvollen Stellung beseelt ein Gebet. Dann erhoben sie sich und sangen im Chor die polnische Nationalhymne339. Die Juden stimmten die Hatikva an. Das grausame gemeinsame Los hat die lyrischen Töne ­dieser so unterschiedlichen Hymnen an dem verdammten Ort zusammen­ geschweißt. Mit einer zutiefst rührenden Herzlichkeit ließen sie ihren Gefühlen und ihrer tröstenden Hoffnung an die Zukunft ihres Volkes freien Lauf. Danach sangen sie gemeinsam die „Internationale“. Mitten im Gesang kam ein Wagen des Roten Kreuzes herbeigefahren und in das Innere des Bunkers wurde Gas eingeworfen. Sie hauchten ihre Seelen in Gesang und Ekstase aus, im Traum von der Brüderschaft und der Verbesserung der Welt. Es war Ende Sommer 1944. Es kam ein Transport aus der Slowakei340. Ihnen allen war klar, dass sie zweifelsfrei in den Tod gehen. Dessen ungeachtet verhielten sie sich ruhig. Sie zogen sich aus und gingen in den Bunker. Nackt aus dem Entkleidungsraum in die Gaskammer gehend sagte eine Frau: „Vielleicht geschieht für uns doch noch ein Wunder?“ Das war Ende des Sommers 1943. Ein Transport aus dem Ghetto von Tarnów341 kam an. Sie fragten ständig, wo sie hingebracht werden. In den Tod, antwortete man ihnen. Alle waren schon entkleidet. Eine unvorstellbar mächtige

339 Die „Mazurek Dąbrowskiego“, verfasst vermutlich von Józef Wybicki 1797, wurde 1926 zur Staatshymne Polens: „Noch ist Polen nicht gestorben / solange wir leben. / Was uns fremde Macht entriss / werden wir mit dem Säbel zurückerobern“ usw. 340 Neue jüdische Transporte aus der Slowakei, genau genommen aus Košice, fuhren nicht Ende des Sommers nach Auschwitz, sondern erst im Oktober 1944, nach der Niederschlagung des Aufstands in der Slowakei. 341 Nach der Liquidierung des Ghettos in Tarnów am 2–4. September, die von Widerstand der Opfer begleitet wurde, wurden die meisten Juden nach Auschwitz verschickt.

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Schwere ergriff alle. Alle vertieften sich in Gedanken, in die Stille, indem sie mit gebrochener Stimme ein „Widdui“ über die Sünden ihrer Vergangenheit sprachen. Alle Gefühle waren ein wenig gedämpft, alle waren von dem einen Gedanken ergriffen und gebannt: der Gewissensprüfung vor dem Tod. Da traf noch eine Gruppe von Juden aus Tarnów ein. Ein junger Mann stieg auf eine Bank und bat darum, dass man ihm aufmerksam zuhöre. Plötzlich wurde es totenstill. „Brüder, Juden“, rief er. „Glaubt nicht, dass ihr in den Tod geführt werdet. Es ist undenkbar, dass derlei passieren kann, dass Tausende unschuldige Menschen plötzlich in den schrecklichen Tod geführt werden. Es kann auf der Welt keine solch grausame, niederschmetternde Gräueltat geben. Wer euch das gesagt hat, verfolgt definitiv irgendein Ziel …“ – usw., bis er sie vollends beruhigte. Als das Gas hineingeworfen wurde, kam der Moralprediger und zutiefst von seinem guten Gewissen überzeugte Mann von seiner Naivität auf den Boden der Tatsachen zurück. Seine Argumente, mit denen er seine Brüder derart energisch beruhigt hatte, blieben eine Selbsttäuschungsillusion. Nur war es viel zu spät, als er klug wurde. Es war Pessach des Jahres 1944342. Ein Transport aus Vittel343 in Frankreich kam an. Unter ihnen war eine Menge bedeutender jüdischer Persönlichkeiten. Unter ihnen war der Bayonner Rabbi Moshe Fridman344 seligen Angedenkens. Eine der größten gelehrten Autoritäten des polnischen Judentums, eine seltene Patriarchengestalt. Er zog sich wie alle anderen aus. Danach kam der Obersturmführer345 herein. Der Rabbi trat an ihn heran und sagte zu ihm in deutscher Sprache346, indem er ihn am Revers packte: „Eure entsetzliche, niederträchtige Welt des Mordens, denkt ja nicht, ihr könntet das ganze jüdische Volk umbringen. Das jüdische Volk wird ewig weiterleben und von der Arena der Weltgeschichte niemals verschwinden. Ihr grausamen Mörder werdet aber sehr teuer bezahlen. Jeden unschuldigen Juden werdet ihr mit zehn Deutschen sühnen. Ihr werdet ausgelöscht und verschwindet, nicht nur als

342 Im Jahr 1944 fiel das Pessach-Fest auf die Zeit vom 8. bis 15. April. 343 Das sog. Vorzugs-KZ für Juden, die im Besitz von Reisepässen neutraler Staaten (z. B. südamerikanischer Länder) waren. Von Mai 1943 bis April 1944 war dort auch der Dichter Jizchak Katzenelson interniert, bis er im April 1944 nach Auschwitz deportiert wurde. 344 Rabbi Moshe Fridman (1881–1943), ein Rabbi aus Krakau, Vertreter der namhaften chassidischen Dynastien aus Czernowitz. 345 Wahrscheinlich SS-Oberscharführer Mußfeldt. 346 Der Satz beginnt auf Deutsch (erster Satz in jiddischer Transkription), wonach der Text ins Jiddische zurückkehrt.

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Staat, mehr noch: als eigenständiges Volk. Der Tag der Rache naht. Vergossenes Blut wird eingeklagt. Unser Blut wird nicht ruhen, solange der flammende Zorn sich auf euer Volk nicht ergossen und euer bestialisches Blut nicht ausgetilgt hat.“ Er sprach mit wilder Leidenschaft, mit mächtiger Energie. Dann setzte er seinen Kapelusz347 auf und rief euphorisch aus: „Schma Jisrael!“348 Alle Anwesenden riefen mit ihm gemeinsam: „Schma Jisrael!“ Eine mächtige Inspiration des tiefen Glaubens durchdrang alle. Das war ein Moment intensiver Spiritualität, zu dem es keinen Vergleich im Menschenleben gibt, der die ewige spirituelle Beständigkeit des Judentums bestätigt. Es war ein Kaschauer349 Transport, gegen Ende Mai 1944. Unter den verschiedensten Juden befand sich eine alte Rebbetzin350 aus Stropkov351, eine 85-jährige Jüdin. Sie sprach: „Zuallererst sehe ich das Ende ungarischer Juden. Die Regierung hat großen Teilen jüdischer Gemeinden die Möglichkeit zur Flucht gegeben352. Die Gemeinden fragten die Rabbis um Rat, und die beruhigten sie einhellig. Der Rabbi von Belz sagte, Ungarn werde von Ängsten geplagt. Bis die bittere Stunde kam, in der die Juden sich nicht mehr helfen konnten. Ja! Der Wille des Himmels war ihnen verborgen, doch in der letzten Minute ­flohen sie selbst nach Eretz Israel353, um die eigene Haut zu retten, während das Volk wie die Schafe zum Abschlachten dablieb354. Reboyne shel oylem!355

347 Der traditionelle Hut der Chassiden in seiner einfachen Alltagsvariante, aus festem Filz, ohne den Kniff in der Krone und ohne die gebogene Krempe. 348 Das wichtigste jüdische Gebet, im Grunde das Glaubensbekenntnis des Judentums. Besteht aus drei Thoraversen: Dtn. 6,5–9, 11,13–29 und Num. 15,37–41. Gelesen wird es morgens und abends, und außerdem bei drohender Gefahr und vor dem Tod. 349 Von „Kaschau“, dem deutschen Namen der ostslowakischen Ortschaft Košice (im Ungarischen Kassa). 350 Die Ehefrau eines Rebbes. 351 Stropkov/Stroppkau: eine Ortschaft in der Ostslowakei, aus der 1.081 Juden hauptsächlich nach Auschwitz verschickt wurden. Angaben von Bernard Mark zufolge stammte die Rebbetzin aus Stropkov höchstwahrscheinlich von einer angesehenen Rabbinerfamilie ab: den Halberstams. 352 Informationen über etwaige Versuche der ungarischen Regierung, die Juden vor der deutschen Besatzung, also vor dem 19. April 1944, zu retten, gibt es nicht. Einem Teil der Juden gelang es, über die Türkei nach Palästina und Rumänien zu fliehen. 353 „Eretz Israel“, „Das Land des Volkes Israel“: ein Ausdruck biblischen Ursprungs, der traditionell Palästina bezeichnet. 354 Gemeint ist offensichtlich Dr. Rudolf Kasztner, stellvertretender Vorsitzender des „Komitees für Hilfe und Rettung“, Fürsprecher der jüdischen Gemeinde bei nichtjüdischen Machthabern und Behörden. 355 „Herrscher der Welt“: eine traditionelle Gebetsformel zur Ansprache Gottes.

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In den letzten Minuten meines Lebens bitte ich Dich, dass ihnen die große Entweihung Deines Namens verziehen wird! 356 “ Es war Winter, Ende 1943. Ein Transport nur mit Kindern wurde gebracht, die von umherstreifenden Autos aus den mütterlichen Heimen herausgerissen wurden, während die Väter auf der Arbeit in Šiauliai (Litauen) waren, das bei Kaunas gelegen ist. Der Kommandoführer schickte sie in den Entkleidungsraum, damit sie die kleinen Kinder auszogen. Ein etwa achtjähriges Mädchen steht da und zieht ihr einjähriges Brüderchen aus. Einer aus dem Kommando tritt an sie heran, um es auszuziehen. Das Mädchen ruft: „Geh weg, du Judenmörder! Wage es nicht, mit deinen vom jüdischen Blut besudelten Händen mein schönes Brüderchen anzufassen. Jetzt bin ich sein gutes Mütterchen. Es wird in meinen Armen zusammen mit mir sterben.“ Daneben steht ein Junge, etwa sieben oder acht Jahre alt. Er schreit: „Du bist doch selber Jude! Wie kannst du nur diese lieben Kinder zur Vergasung führen, nur um selbst am Leben zu bleiben? Ist dir dein Leben unter dieser Mörderbande mehr wert als das Leben so vieler jüdischer Opfer?“ Es war Anfang 1943. Der Bunker war mit Juden vollgepfercht. Ein jüdischer Junge war draußen geblieben. Der Unterscharführer357 trat an ihn heran und wollte ihn mit einem Knüppel totschlagen. Er schlug ihn schrecklich zusammen, und Blut strömte von allen Seiten. Plötzlich erhob sich der verprügelte Junge, der schon regungslos dagelegen hatte, und schaute den grausamen Mörder mit seinen Kinderaugen schweigend und seelenruhig an. Der Unterscharführer brach in zynisches Gelächter aus, zog den Revolver und erschoss ihn. Es kam vor, dass Hauptscharführer Moll vier Männer gleichzeitig in einer Reihe hintereinander aufstellte und mit einem Schuss alle durchschoss. Wer den Kopf zur Seite schob, den stieß er lebend in die lodernde Leichengrube. Wer in den Bunker nicht hineingehen wollte, dem verdrehte er den Arm, warf ihn zu Boden und trampelte ihn nieder. Es kam vor, dass er sich vor jedem Transport auf eine Bank stellte, die Arme vor der Brust kreuzte und eine ganz

356 Ein dem bereits erwähnten Gebot, den Namen Gottes zu heiligen, gegensätzlicher Begriff im Judaismus. Das strengste Verbot, den Namen Gottes zu entehren, ist unmittelbar in der Bibel verankert (3. Mose 22,32). 357 In den Krematorien arbeiteten mehrere Unterscharführer (u. a. Ackermann, Eckhardt, Kelm, Kunzelmann, Schulz, Gorges).

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kurze Ansprache hielt: „Hier geht man in die Sauna hinein, und hier geht man wieder raus für die Verteilung von Arbeitsplätzen.“ Wer am Wahrheitsgehalt seiner Worte zweifelte, den schlug er brutal zusammen, wodurch er unter den Übrigen ein schreckliches hektisches Chaos auslöste, damit sie die Orientierung verloren. Oberscharführer Forst358 stellte sich bei etlichen Transporten vor die Tür des Entkleidungsraums und fasste jeder an ihm vorbeigehenden jungen Frau an die Geschlechtsorgane, während sie in den Vergasungsbunker hineingingen. Es gab auch Fälle, dass SS-Männer jeder Rangstellung ihre Finger in die Geschlechtsorgane junger schöner Mädchen hineinsteckten. Ende des Sommers 1942 kam ein Transport aus Przemyśl359 an. Jugendliche wie auch Polizisten hatten Messer in den Ärmeln versteckt. Sie wollten sich damit auf die SS-Männer stürzen. Ihr Anführer, ein Doktor, überzeugte sie, dies nicht zu tun. Er hoffte, dadurch zusammen mit seiner Frau in das Lager hineinzugehen, und bemühte sich darum beim Oberscharführer, der ihn zuversichtlich stimmte. Er beruhigte sie. Sie zogen sich aus und dann wurde er gezwungen, zusammen mit allen anderen in den Bunker hineinzugehen, zusammen mit seiner Frau. Sadismus! 1940–1941 Es war das Lager in Bełżec360, ganz nah an der russischen Grenze, wo das Grauen des Sadismus Auschwitz übertraf. Es kam zum Beispiel vor, dass Juden täglich auferlegt wurde, ein schmales tiefes Grab zu schaufeln, und sie wurden hineingestoßen, je ein Mensch pro Grab. Dann wurde jeder Häftling361 gezwungen, ins Grabinnere auf den Kopf des Opfers die Notdurft zu verrichten. Wer das nicht tun wollte, bekam

358 SS-Oberscharführer Peter Voss (bei Gradowski: Vost), Leiter aller Krematorien in Auschwitz-­ Birkenau bis Mai 1944. 359 Die erste Massendeportation von Juden aus Przemyśl fand vom 27. Juli bis 3. August 1942 statt. Die 12.500 Deportierten wurden nach Bełżec gebracht. Möglicherweise irrt sich der Autor beim Datum, denn der Transport aus Przemyśl kam erst im September 1943 an. 360 In den Jahren 1940–41 ein Arbeits-, von März 1942 bis Ende Juni 1943 ein Vernichtungslager. Insgesamt wurden in Bełżec (Woiwodschaft Lublin) etwa 600.000 Menschen, hauptsächlich Juden, ermordet. 361 Im Original steht das Wort in jiddischer Transkription.

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25 Stockschläge. So wurden den ganzen Tag lang Kot und Urin auf ihn drauf abgesondert, bis er am Gestank erstickte. Die russischen Grenzschützer auf der anderen Seite der Grenze362 flehten die Juden an, jeden möglichen Augenblick zu nutzen, um auf die andere Seite des Stacheldrahts zu den Russen überzulaufen. Interessant ist, dass derjenige, der das in einem Moment tat, in dem die SS-Männer das sahen, von ihnen nicht erschossen werden durfte, weil der Schuss sonst auf die andere Seite der Grenze gefallen wäre. Also stellten sich die deutschen SS-Leute so nah wie möglich an den Stacheldraht und schossen entlang des Zauns in die noch herausragenden Arme und Beine, während der Flüchtige durchkroch. Wenn die russischen Wachen protestierten, schrien die SS-Leute hinterher: „Das Bein … oder der Arm ist noch auf unserem Territorium!“ Die Arbeit bestand damals darin, einen langen, tiefen, geraden Graben363 zu schaufeln, als Grenzlinie. Später, nachdem die Deutschen tief nach Russland eingedrungen waren, bauten sie im Wald 8 große Baracken, stellten Tische und Sitzbänke auf und trieben dort Juden aus Lublin, Lwow und anderen Woiwodschaften hinein und töten sie mit elektrischem Strom364. Es gab auch eine Stelle im Wald von Wierzchowiska, in der Nähe von Trawniki365, unweit von Piaski366, wo mitten im Wald tiefe Gräben geschaufelt worden waren und dann Autos kamen, die mit Juden vollgeladen waren. Die Wagen kippten die Ladeflächen und warfen die Juden direkt in das Grab­ innere, so wie sie waren, angekleidet. Dort wurden sie erschossen und zugeschüttet. In Bełżec starben auch viele Ukrainer. Ich bin überzeugt, dass dies inzwischen allgemein bekannt ist. Ich verweise darauf zusätzlich, weil mir davon dieselben Leute aus unserem Kommando erzählten, die das alles mit ihren eigenen Augen sahen367. Sie waren auch in Majdanek368, nahe Lublin, als sie 362 Gemeint ist die Situation im Zeitraum vom 17. September 1939 bis 22. Juni 1941. 363 Teil der künftigen Panzerabwehranlagen. 364 Das dachte man damals. Heute steht fest, dass in Bełżec die Vergasung als Werkzeug des Massenmords diente: Die Opfer wurden wahrscheinlich durch Abgase eines leistungsstarken Kampfpanzermotors erstickt. 365 Dorf in der Woiwodschaft Lublin, seit Herbst 1941 Zwangsarbeitslager unter Leitung der SS. Vom 16. September 1943 bis 3. November 1943 Nebenlager des KZs Majdanek. 366 Eine Ortschaft in Kleinpolen, Woiwodschaft Lublin, Powiat (Kreis) Świdnicki. Während des Krieges wurden im dortigen Ghetto Juden aus Lublin und Deutschland (aus dem bayerischen Bamberg) gesammelt. Sie alle wurden in Bełżec ermordet. 367 Gemeint sind die sowjetischen Kriegsgefangenen aus dem Sonderkommando. 368 Das Konzentrations- und Vernichtungslager Majdanek war von Oktober 1941 bis Juli 1944 in Betrieb. Von den etwa 78.000 Menschen, die in Majdanek ermordet wurden, waren mindestens drei

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ein ganzes Dorf zerstörten, mit Stacheldraht umzäunten und Baracken bauten. Der Auftrag, sie zu bauen, war im Winter eingetroffen, im November– Dezember 1941. Jeden Morgen mussten sie sich splitternackt im Schnee ­wälzen, anstatt sich zu waschen. Danach gingen sie in die kalte Baracke, um sich anzuziehen. Dann gingen sie zur Arbeit. 4 Menschen mussten eine gewaltige Holzplatte oder einen massiven Gebäudebalken schleppen, dabei mussten sie sich im Laufschritt bewegen, und der holländische Ingenieur lief hinter ihnen her und peitschte ihre Beine. In den Baracken wurden russische Kriegsgefangene zusammengetrieben, die nur ein paar Kartoffeln und etwas Suppe, aber ohne Brot, zu essen bekamen und den ganzen Tag unter der Aufsicht von SS-Leuten hart arbeiten mussten. Wen inmitten der Arbeit die Kräfte verließen, wer nicht tatkräftig genug arbeitete, wurde in die große Exkrementengrube geworfen, die von Brettern mit zahlreichen Löchern darin zur Verrichtung der Notdurft des gesamten Lagers bedeckt war – sie wurden herangeführt und hineingeworfen. Jede Nacht gingen die SS-Männer in einen anderen Block und schlugen die völlig skelett­ artigen, abgemagerten und erschöpften russischen Gefangenen mit Knüppeln tot. Sie ließen keinen einzigen Menschen in dem Block am Leben. Alle waren derart geschwächt, dass sie keinen Widerstand leisteten. Morgens kam eine Gruppe von 100 Juden, die die Toten wegschleppten, um sie zu begraben. Sobald der Block leer war, wurden rasch frische Häftlinge herbeigeschafft. Ließ sich einer etwas zuschulden kommen, wurde er kopfüber an den Füßen aufgehängt. Es gab Fälle, dass Menschen bis zu acht Stunden so hingen, bis sie starben. Bei jedem Appell, wenn die Menschen sich dicht hintereinander aufreihten, wurde aus Maschinengewehren in die Reihen geschossen. 3000 Nackte 369 Anfang 1944. Es war bedeckt, es schneite, kalter Wind wehte, der Boden war festgefroren. Zum Krematorium III kam der erste Wagen, dicht beladen mit

Viertel, etwa 59.000, Juden. Vgl. Kranz T.: Die Vernichtung der Juden im Konzentrationslager Majdanek. Lublin 2007. S. 78. Ursprünglich wurde Majdanek im Juli 1941 als Arbeitslager der SS für Kriegsgefangene eingerichtet (so war es auch in Auschwitz-Birkenau). 369 War im Manuskript von Salmen Lewenthal enthalten. Vom 1. bis 15. Januar 1944 starben im Frauenlager in Birkenau 2.661 Insassinnen, 700 von ihnen in den Gaskammern nach einer Selektion. Offensichtlich waren sie an Typhus erkrankt. Das Frauenlager war noch im November 1943 abgeriegelt und isoliert worden, was die Verbindung zum Lagerwiderstand erheblich erschwert hatte. Zur Wiederaufnahme der Verbindung wurde ein Lehrgang für Häftlingspflegerinnen in Auschwitz I ausgedacht und durchgeführt (Czech, 1989. S. 707 f. Mit Verweis auf: APMA-B. Mat. RO. Bd. VII. Bl. 486).

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nackten Frauen und Mädchen. Sie stehen im Wagen nicht nebeneinander wie immer, nein, sie sind größtenteils gar nicht imstande, sich auf den Beinen zu halten. Sie sind erschöpft, sie liegen regungslos da, die einen auf den Körpern der anderen drauf, sie stöhnen und ächzen. Der Wagen hält, kippt die Lade­ fläche und wirft die menschliche Masse ab, so wie man einen Haufen Zwir370 auf der Chaussee ablädt. Wer vorne liegt, fällt auf den harten Boden, ihre Köpfe und Körper zertrümmern beim Aufprall mit einer Kraft, dass sie jede Fähigkeit, sich zu bewegen, verlieren. Die anderen fallen von oben auf sie drauf, und sie ersticken auch noch zusätzlich wegen der schweren Last, die sie erdrückt. Jammerlaute […] ertönen. Wer auch noch […] ohne aus dem weggeworfenen Haufen herauszukullern. Stellen sich auf die Beine […], beginnen zu klettern […] Boden, sie zittern, sie werden wegen der Kälte heftig durchgeschüttelt. Langsam kriechen sie bis zum Bunker, der die Bezeichnung „Entkleidungsraum“371 trägt, und zu dem Stufen hinabführen, wie wenn man in einen Keller hineingehen wollte. Den anderen halfen die Mitglieder des Kommandos372, die schnell hinaufgelaufen waren, um die Opfer in ihrer hilflosen Schwäche aufzurichten, und sie schieben die Erdrückten, kaum noch Atmenden aus diesem Haufen heraus. Sie werden schnell hereingeführt. Viele können ihre Beine kaum noch bewegen, sie werden auf die Arme genommen und hineingetragen. Sie sind schon seit Langem im Lager, es ist ihnen schon bekannt, dass hier im Bunker die letzte Etappe auf dem Weg zum Tode ist. Dennoch sind sie sehr dankbar, mit Blicken voller Bitten ums Erbarmen, sie nicken, bringen ihre Dankbarkeit zum Ausdruck, indem sie mit den Händen zeigen, dass ihnen das Sprechen schwerfällt. Sie zittern sehr, sie bemerken die Träne des Mitleids, die Niedergeschlagenheit […] im Gesicht derjenigen, die sie nach unten führen. Es schüttelt sie wegen der Kälte, dennoch […] den schon Hereingeführten erlaubt man, sich hinzusetzen, und führt die anderen herein. Dort unten ist […] ein kalter Raum. Sie haben Angst und zittern. Ein kleiner Koksofen wird hergebracht, doch nur wenige von ihnen können sich nah genug heransetzen, um die Wärme zu spüren, die von dem kleinen Ofen ausgeht. Die anderen sitzen in völliger Verzweiflung, bekümmert, im Elend versunken. Die Kälte durchdringt sie bis in die Glieder, doch sind sie schon so 370 Zwir: polnisch für Kies, im Original als jiddische Transkription. 371 Die Krematorien II und III hatten Entkleidungsräume: unterirdische Räume, wo die Opfer sich auszogen, ehe sie in die Gaskammern hineingingen. 372 Gemeint ist das Sonderkommando.

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weit in sich versunken und verbittert, dass ihnen jedes leibliche Behagen widerwärtig erscheint. Sie sitzen schweigend weit abseits. Die eine führt Selbstgespräche, die anderen liegen da, völlig entkräftet […] Ein junges Mädchen […] kam Ende des Sommers aus Bendzin an. Sie ist als Einzige einer großen Familie übrig geblieben. Die ganze Zeit hindurch arbeitete sie schwer, ernährte sich schlecht, fror, trotzdem aber war sie gesund und hielt sich wacker, hoffte zu überleben. Vor acht Tagen an einem bestimmten Tag wurde keines der jüdischen Kinder zur Arbeit hinausgeführt. Es wurde befohlen: „Juden, einen Schritt vortreten!“ Dann wurde ein ganzer Block jüdischer Mädchen ausnahmslos ausgewählt […] niemand dachte darüber nach, ob du gut oder schlecht aussiehst, krank oder gesund bist […] und stellten beiseite. Danach wurden sie zum Block 25373 geführt. Dort wurde ihnen befohlen, sich zu entblößen, für eine Untersuchung, ob sie gesund sind. Nach dem Ausziehen wurden sie nackt in drei Blöcke getrieben, je 1.000 Menschen pro Block zusammengepfercht, und dann wurden sie für drei Tage eingesperrt, ohne ihnen auch nur einen Tropfen Wasser oder ein Stückchen Brot zu bringen. Drei entsetzliche Hungertage. In der dritten Nacht wurde ihnen pro 16 Menschen ein Brot von 1,4 Kilogramm Gewicht zugeteilt. „Wären wir in dem Moment erschossen, durch Gas getötet worden, wäre alles gut. Viele waren völlig bewusstlos, viele nur halb bei Bewusstsein. Alle lagen da, aneinandergepresst, auf den Schlafpritschen, geschwächt bis zur Unfähigkeit, sich zu rühren. Der Tod wäre uns egal gewesen, aber am vierten Tag wurden wir aus dem Block hinausgeführt. Die Erschöpften wurden in die Krankenstube abgeführt, den anderen gab man normales Lageressen und hielt sie im Zustand der Ruhe, bis sie aufstehen […] sie nahmen […] um zu leben. Am achten Tag, also fünf Tage später, wurde uns wieder befohlen, dass wir uns nackt ausziehen, dann wurden wir im Block eingesperrt, unsere Kleidung wurde sogleich fortgeschafft, nach mehreren Stunden nackt in der Kälte, auf der Straße, wurden wir auf den Wagen geladen und hier auf die Erde abgeworfen. Das ist das düsterste Ende unserer letzten falschen Illusion. Was müssen wir im Bauch unserer Mütter verdammt worden sein, wenn unserem Leben ein so grausames Ende zuteil wurde.“

373 Die Ambulanz im Frauenlager Birkenau (Bereich B I a) war im Grunde eine Baracke für die Aus­ gemergelten, auch „Todesblock“ genannt. Von dort wurden die Häftlinge  – nach einer weiteren Selektion – in die Gaskammern geschickt.

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Die letzten Worte sprach sie nicht mehr zu Ende, ihre Stimme wurde von kullernden Tränen erstickt. […] Eine junge Frau riss sich los. Sie schauten in unsere Gesichter, um zu sehen, ob es darin Mitleid für sie gibt. Einer von uns374 stellte sich an die Seite und beobachtete den tiefen Abgrund der Not dieser schutzlosen, geschundenen Seelen. Er konnte sich nicht kontrollieren und brach in Tränen aus. Eine junge Frau ruft aus: „Ach, ich werde lange genug gelebt haben, um vor meinem Tod einen Ausdruck des Mitgefühls zu sehen, eine vergessene Träne über unser schreckliches Los hier, im Todeslager, wo man foltert, schlägt, schikaniert und tötet, du siehst dir die endlosen Gräueltaten und Ungerechtigkeiten an und wirst abgestumpft und teilnahmslos gegenüber größerem Leid, jedes menschliche Gefühl stirbt ab, ein Bruder oder eine Schwester fällt vor deinen Augen hin, du aber begleitest ihn nicht mal mit einem Seufzer … Wird sich noch ein Mensch finden, den unser bitteres Schicksal rühren, der sein Mitgefühl durch Tränen ausdrücken wird? Ach, was a wunderliche Erscheinung! Etwas Übernatürliches375! Bald schon wird ein Wimmern, eine Träne eines lebenden Juden meinen Tod verabschieden. Es gibt noch jemanden, der uns beweinen wird, ich aber dachte schon, wir würden als verlassene Waisen von der Erde verschwinden. Ich finde in dem jungen Mann einen gewissen Trost. Unter Banditen und grausamen Menschen erkannte ich vor dem Tod einen Menschen, der mitfühlt.“ Sie wandte sich zur Seite, lehnte den Kopf an die Wand und weinte leise, aber sehr rührend. Es wurde ihr warm ums Herz. Ringsherum saßen und standen noch viele Frauen mit gesenktem Kopf, sehr verbittert, schweigend und mit abgrundtiefer Abscheu schauten sie die hinterhältige Welt und ganz besonders uns an. Eine von ihnen sagt: „Ich bin doch noch so jung, ich habe in meinem Leben doch noch gar nichts erfahren, warum wird mir ein solcher Tod zuteil? Warum?“ Sie sprach sehr langsam mit gebrochener, abgehackter Stimme. Sie stöhnte stark und setzte fort: „Wie gerne ich noch leben würde.“ Sie beendete ihre Aussprache mit nostalgischem Schwärmen und blickte in die Leere auf, indem sie die Luft mit wild blitzender Todesangst durchstach […] Ihre Kameradin setzte sich mit einem sarkastischen Lächeln hin und kam ins Grübeln. Sie sagte: „Endlich, endlich, die glückliche Stunde ist gekommen, von der ich so viel träumte, das Herz ist übervoll von Schmerz und Leid, die 374 Vgl. dasselbe Motiv bei Gradowski. 375 So im Original, als jiddische Transkription. Angesichts des gehobenen Stils erhält der Satz eine besonders sarkastische Konnotation.

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Die Chronisten und ihre Texte

dich verschlingen, in einer Welt des Raubs und der Grausamkeit, der niedersten Hinterhältigkeit, widerwärtigsten Perversion und grenzenlosen Bösartigkeit wird das Leben so eng, so schwer, so unerträglich, dass ich den Tod als einen Erlöser betrachte, wie eine Befreiung; der schwere, verzehrende Albtraum, der mich erdrückt, verschwindet für immer. Meine quälenden Gedanken finden Ruhe, ewigen Frieden, wie teuer, wie süß ist der Tod, der nach so vielen unruhigen Nächten begehrt geworden ist.“ Sie sprach mit Begeisterung, Pathos und Würde. „Ich bedauere nur, dass ich hier so sitze  … Aber damit der Tod süßer ist, muss man auch Schande durchmachen.“ Abseits liegt ein junges abgemagertes Mädchen und stöhnt376 leise: „Um… ie…ram, um…ie…ram“377. Ihre Augen rollen jedes Mal, wenn […] Eine Mutter sitzt mit ihrer Tochter da, beide unterhalten sich […] auf Polnisch  … Sie sitzt kraftlos und spricht so, dass man sie vor Schwäche kaum hört. Den Kopf der Tochter drückt sie an sich, umfasst ihn fest. „In einer Stunde sterben wir beide, welche Tragödie! Du, liebe […] du bist meine letzte Hoffnung! […] Erlischst du denn auch? […]“ sitzenbleiben […] nachdenklich in […] mit abwesendem Blick! Weit zerrissen, die hingeworfen wurden […] um sich herum […] nach einer langen Minute kam sie zu sich und sprach weiter: „Meine Sorge um dich ist so groß, dass ich allein beim Gedanken erstarre.“ Sie ließ ihre steifen Arme fallen und der Kopf ihrer Tochter fiel auf ihre Knie. Das junge Mädchen erschauderte und rief verzweifelt aus: „Mama!“ Sie konnte nicht mehr weitersprechen. Das waren ihre letzten Worte. Es erging der Befehl, alle zum Krematorium zu bringen […] Ich verschwinde schnell, beim weiteren Hergang der Ereignisse war ich nicht mehr zugegen, weil ich beim Gang der Juden in den Tod grundsätzlich niemals anwesend war: Es hätte passieren können, dass die SS-Männer unter Zwang benutzen […] ihre mörderischen Ziele zum Krematorium. Mehrere Stunden lang kamen die Wagen, die ihre menschliche Masse loswurden, indem sie sie auf den Boden warfen. Als sie endgültig versammelt waren, wurden sie alle in den Vergasungsbunker hineingetrieben. Laute Verzweiflungsschreie und bittere Tränen waren unvorstellbar, schreckliche Verwirrung wegen […] Ausdruck in gewaltigem, bitterem […] Schmerz, alle möglichen erstickten Stimmen vermischten sich und quollen noch lange 376 Im Original steht das polnische Verb „jęczeć“ für „stöhnen“ als jiddische Transkription. 377 „Ich sterbe, sterbe“ (polnisch). Dies ist der einzige Fall, dass Langfuß sich der lateinischen Schrift bedient (abgesehen von der Liste der Transporte, die gänzlich auf Polnisch verfasst wurde – siehe unten).

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Lejb LangfuSS: Erschüttert von der Gräueltat

unter der Erde hervor, so lange, bis der Wagen des humanitären378 Roten Kreuzes kam und deren Schmerz und Elend ein Ende bereitete  …379 Vier Büchsen Gas wurden durch die kleinen Türchen oben hineingeworfen, die fest und hermetisch verschlossen wurden. Bald darauf wurde es ruhig. In der geheimnisvollen Stille hauchten sie die Seele aus. 600 Knaben380 Mitten am Tag wurden 600 jüdische Knaben im Alter von 12 bis 18 Jahren hergebracht, die die gestreifte381 Lagerkleidung trugen, die sehr dünn war, und zerfetzte Stiefel oder Holzklompen382. Die Kinder sahen so schön, so hell, so gut gebaut aus, dass sie in ihren Lumpen glänzten. Es war die zweite Oktoberhälfte 1944. Sie wurden von 25 bis an die Zähne bewaffneten SS-Männern eskortiert. Als sie in den Hof gekommen waren, gab der Chef des Kommandos den Befehl: Im Hof auskleiden. Die Kinder sahen den Rauch, der aus den Schloten stieg, und begriffen schnell, dass sie in den Tod geführt wurden. Die Kinder erschraken, sie fingen an, quer durch den Hof zu laufen, hin und her, rauften sich die Haare, wussten nicht, wie sie sich hätten retten können. Viele brachen in Tränen aus, außergewöhnliches Wehklagen wurde erhoben. Der Chef des Kommandos mit seinem Gehilfen prügelte brutal auf die wehrlosen Kinder ein, damit sie sich auszogen. Sein Knüppel brach sogar beim Schlagen, er holte einen zweiten hervor und fuhr damit fort, sich durch die Köpfe durchzuschlagen. Die Gewalt erzielte ihre Wirkung: Die Kinder zogen sich in Todesangst aus. Nackt und barfüßig pressten sie sich aneinander, um sich vor den Schlägen zu schützen, und noch waren sie nicht hinabgestiegen383. Ein kühner Junge kam […] uns, nahe […] dem Chef des Kommandos, damit der ihn am Leben lässt. Welche Arbeit man ihm auch anbiete, er sei bereit, sie auszuführen – sogar eine ganz schwere. Als Antwort bekam er

378 So ernst und pathetisch Langfuß normalerweise auch schrieb – hier erlaubt er sich Ironie. 379 In die Krematorien II und III wurde das Zyklon B durch Einfüllstutzen im Dach eingeworfen, in den Krematorien IV und V durch kleine Seitenluken. 380 War im Manuskript Salmen Lewenthals enthalten. 381 Im Original: „pasekartige“ für „gestreift“, gebildet aus dem jiddischen Wort „pasek“ für „Streifen“ und dem deutschen Suffix „-artig“. 382 Gemeint sind Holzschuhe von der Art holländischer Sabots, die den Häftlingen als Ersatz für Lederschuhe dienten, im Jiddischen „klompes“. 383 In die Innenräume des Entkleidungsraums und der Gaskammer des Krematoriums.

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Die Chronisten und ihre Texte

ein paar Schläge mit schwerem Knüppel auf den Kopf. Viele Jungen liefen rasch zu den Juden aus dem Sonderkommando, fielen ihnen um den Hals und flehten: „Rettet mich!“ Die anderen liefen im großen Hof umher, als flüchteten sie vor dem Tod. Der Chef des Kommandos rief den Unterscharführer mit seinem Gummiknüppel zu Hilfe. Die reinen Stimmen der kleinen Kinder wurden immer lauter, um eine tiefe und bittere Klage auszuatmen. Lautes Weinen war von weither zu hören; wir waren völlig betäubt und niedergeschlagen von diesem verzweifelten Weinen. Mit einem zufriedenen Lächeln, ohne einen Schatten von Mitgefühl, mit den stolzen Mienen der Sieger, standen die SS-Männer da und prügelten sie brutal in den Bunker. Auf den Stufen stand der Unterscharführer und […], waren bewegungslos geblieben, ohne auf seinen Befehl hin in den Tod zu ­hetzen, und schlug jeden mit einem heftigen Schlag seines Gummiknüppels. Einzelne Knaben liefen dessen ungeachtet noch durcheinander umher auf der Suche nach Rettung. Die SS-Männer verfolgten sie, holten sie ein und prügelten auf sie ein, bis sie sich den Umständen fügten, und trieben sie schließlich in den Bunker. Ihre Freude war unbeschreiblich. Haben sie denn niemals Kinder gehabt? [Auflistung der Transporte mit Häftlingen, die in den Krematorien von Birkenau zwischen dem 6. und 24. Oktober 1944 verbrannt wurden]384 2,000

M[änner]

Lager deu.

Kr[ematorium]

1.

9/10

2,000

Fam[ilien]

Terezin

Kr[ematorium]

1.

9/10

2,000

Fr[auen]

Lager C386

Kr[ematorium]

4

10/10

800

Kinder

Zigeuner

Kr[ematorium]

4

460 …

387

11/10

2,000

Fam[ilien]

Slowak[ei]

      ‫״‬

2.

12/10

3,000

Fr[auen]

Lager C388.

      ‫״‬

1.

7/10

6/10385

384 War im Manuskript Salmen Lewenthals enthalten. 385 Im Unterschied zum restlichen Text ist die Tabelle in polnischer Sprache geschrieben. Die nicht mit einer Nummer versehene letzte Zeile wurde senkrecht am rechten Rand aufgeschrieben. Die in der Tabelle erwähnten Krematorien 1, 2 und 4 werden bei uns als II, III und V geführt. 386 Das Frauenlager bzw. der Bereich B II c, kurz Lager C. Das Lager zählte 32 Blocks. 387 Zum Transport werden auch 123 ungarische Jüdinnen aus dem Kommando Altenburg, die aus Buchenwald eingeliefert wurden, sowie 9 Frauen aus dem Nebenlager der HASAG in Leipzig-Schönefeld gezählt. 388 131 jüdische Frauen aus dem Durchgangslager und 2.866 aus dem Lagerbereich B II c.

452

Lejb LangfuSS: Erschüttert von der Gräueltat

3,000

Fr[auen]

Lager C

      ‫״‬

2.

13/10

2,000

Fam[ilien]

Terezin

      ‫״‬

1

14/10

3,000

Terezin

Fam[ilien]

      ‫״‬

2

15/10

3,000

Fr[auen]

Lager C

      ‫״‬

1

389

      ‫״‬

2

M[änner]

Lager deu.

16/10

600

M[änner]

Krankenlager

      ‫״‬

2

17/10

2,000

M[änner]

Bunau390.

.1

18/ ‫״‬

      ‫״‬

3,000

Fam[ilien]

Slowak[ei]

      ‫״‬

.1

18/ ‫״‬

2,000

Fam[ilien]

Terezin

      ‫״‬

2.

18/10

300

Fam[ilien]

Verschied[ene]391

      ‫״‬

2

392

Bunker

      ‫״‬

2

Gefäng[nis]

      ‫״‬

2

17/10

22

M[änner] P[olitische]

18/10

13

Fr[auen] P[olitische]

19/10

2,000.

Fam[ilien]

Slowak[ei]

      ‫״‬

.1

19/10

2,000

Fam[ilien]

Terezin

      ‫״‬

2

20/10

2,500

Fam[ilien]

Terezin

      ‫״‬

1

20/10

1,000

M[änner]

Wiski Dorf

Kinder 12–18, haupt[sächlich]

(Dy[hernfurth])393

‫״‬

.2

20/10

200.

Fr[auen]

Lager C.

Kr[ematorium]

2.

20/10

1,000

Fam[ilien]

Lager Terezin

Kr[ematorium]

4 [?]

Sonder[kommando]

M[änner]

M[änner] erschossene

800.

460

16/10

7/10

13/10

389 805 deutsche Juden, die am selben Tag aus Berlin eingeliefert wurden. Davon wurden nur fünf Häftlinge registriert (Czeсh, 1989. S. 908). 390 So fälschlicherweise im Original. Buna war eine Fabrik der I.G. Farbenindustrie bei Monowitz, einige Kilometer östlich von Auschwitz. Das Lager hieß „Buna“, „Monowitz“ und „Buna-Monowitz“. Es wurde zuerst als Nebenlager errichtet und schließlich als eigenständiges Hauptlager Auschwitz III geführt. Im August 1944 betrug die Zahl der Häftlinge in diesem Lager circa 10.000 Menschen, zu 95 Prozent Juden aus ganz Europa. Die SS-Lagerverwaltung führte zu der Zeit systematisch Selektionen durch, bei denen Menschen, die für härteste Arbeit ungeeignet waren, in die Gaskammern geschickt wurden. 391 Darunter befanden sich wahrscheinlich auch Juden aus Budapest, von denen 18 Männer und 55 Frauen ins Lager eingewiesen worden waren. 392 Dies waren politische Häftlinge aus dem Lagergefängnis, dem sog. Bunker in Block 11 in Auschwitz. 393 Möglicherweise Kinder aus Dyhernfurth, dem Lager, das dem KZ Groß-Rosen unterstellt war. Dyhernfurth (poln. Brzeg Dolny) ist eine Stadt im Landkreis Powiat (Kreis) Wołowski („Wiski Dorf “ = „Wiski Dolny“?).

453

Die Chronisten und ihre Texte

21/10

1,000

Fr[auen]

      ‫״‬

4

395

23/10

400

M[änner]

Gleiwitz

      ‫״‬

2

24/ ‫״‬

2.000

Fam[ilien]

Terezin396

      ‫״‬

1



Lager C394.

Notizen Am 14. Oktober 1944 wurde mit dem Abbruch der Mauern des Krematoriums IV begonnen. Die Arbeiter gehören zum Sonderkommando. Am 20. Oktober wurden 2 kleine Taxuwkas397 und ein Gefängniswagen mit Dokumenten der Häftlinge, Karteien, Sterbeurkunden, Anklageakten usw. zum Verbrennen hergefahren. Heute, am 25. November, wurde mit dem Abbruch des Krematoriums II begonnen. Danach ist das Krematorium III an der Reihe. Interessant ist, dass zuerst der Lüftungsmotor und die Rohre ausgebaut und in andere Lager verschickt werden: der eine nach Mauthausen398, der andere nach Groß-Rosen399, weil das bei der Vergasung im großen Maßstab noch benötigt wird, denn in den Krematorien IV–V, hauptsächlich, gab es einen solchen Mechanismus nicht. Das legt nahe, dass in diesen Lagern die Einrichtung ebensolcher Stellen zur Vernichtung der Juden angeordnet wird. Ich bitte darum, dass meine der Zeit nach unterschiedlichen, versteckten Beschreibungen und Notizen mit der Unterschrift „J.A.R.A.“ gesammelt ­werden. Sie befinden sich in verschiedenen Gläsern und Dosen im Hof des Krematoriums III, wie auch zwei große Beschreibungen: eine unter dem Titel „Vertreibung“. Sie liegt in der Knochengrube am Krematorium II, wie auch

394 Darunter 137 aus der Lagerambulanz und 110 aus dem Durchgangslager B II c sowie 266 erschöpfte Häftlingsfrauen. 395 Im schlesischen Gleiwitz befand sich eines der 39 Nebenlager von Auschwitz. 396 Am 24. Oktober 1944 kam aus dem Ghetto von Terezin ein Transport mit 1.715 Juden an. Nach der Selektion wurden 215 Frauen und einige Hundert Männer ins Lager geschickt – die anderen in die Gaskammer. 397 Vom polnischen „taksówka“ für „Taxi“. Eine in hebräischen Buchstaben geschriebene Entlehnung aus dem Polnischen mit einer jiddischen Endung für slawische Wörter. 398 Mauthausen in der Nähe von Linz: deutsches Konzentrationslager in den Jahren 1938–45. 399 Groß-Rosen, heute Rogoźnica: deutsches Konzentrationslager in den Jahren 1940–45.

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Lejb LangfuSS: Erschüttert von der Gräueltat

eine weitere Beschreibung unter dem Titel „Auschwitz“. Sie liegt inmitten ­zermahlener Knochen auf der südöstlichen Seite desselben Hofes. Danach habe ich sie umgeschrieben, vervollständigt und gesondert in der Asche am Krematorium III vergraben – dass das geordnet und alles zusammen veröffentlicht wird unter dem Titel: „ERSCHÜTTERT VON DER GRÄUELTAT“ Jetzt gehen wir zur Sauna, die übrig gebliebenen 170 Männer400. Wir sind uns sicher, dass wir in den Tod geführt werden. Sie haben 30401 Männer ausgewählt, zum Verbleib im Krematorium V. Heute ist der 26. November 1944402. Übersetzt aus dem Jiddischen ins Russische von Dina Terlezkaja Übersetzt aus dem Russischen ins Deutsche von Roman Richter Anmerkungen: Pavel Polian und Dina Terlezkaja

400 Tatsächlich wurden nicht 170, sondern 100 Menschen dieser Selektion unterzogen. 401 Die 30 Häftlinge des Sonderkommandos, die für die Arbeit am Krematorium V eingeteilt wurden, konnten am 18. Januar 1945 mit einem Evakuierungstransport der Deutschen das Lager verlassen. 402 Die letzte Notiz. Offensichtlich geriet Lejb Langfuß zu den 100 Mitgliedern des Sonderkommandos, die an einem der darauffolgenden Tage liquidiert wurden.

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Salmen Lewenthal: „Von diesem Moment an werden wir alles in der Erde aufbewahren“ Zeuge, Chronist, Ankläger! 1 Salmen Lewenthal wurde 1918 geboren, in der Stadt Ciechanów (ehemalige Woiwodschaft Warschau). Sieben Kinder hatte die Familie, er war das vierte. Über sich selbst schreibt er: „Ich selbst stamme aus einem streng religiösen Hause“. Deswegen ist es kein Wunder, dass er zum Studium zwar nach Warschau, aber nicht an die Universität, sondern in eine Jeschiwa geschickt wurde. Dort überraschte ihn der 1. September 1939. Gleich nach dem Überfall der Wehrmacht auf Polen brach Lewenthal zur Rückreise nach Ciechanów auf. Die Familie Lewenthal sprach Jiddisch in dessen polnischem Dialekt. Aufgrund der religiösen Ausrichtung seiner Bildung beherrschte Salmen, wie Alina Polonskaja anmerkt403, aber auch das Hebräische sowie die Orthografie von Hebraismen und aramäischen Ausdrücken. Das Studium in der Jeschiwa war offensichtlich nicht das Einzige, wofür Lewenthal seine verfügbare Zeit nutzte. Die weltlichen Fragen des jüdischen Lebens, insbesondere die Arbeiterbewegung, beschäftigten ihn nicht weniger. Das verrät allein schon die Lexik seiner Aufzeichnungen: „Masse“ (als Volksmasse), „Klasse“, „Schicht“, „politische Reife“, „Psychologie“, „Bewusstsein“, „Unterbewusstsein“, „Temperament“, „Intellektualität“, „Elemente“ und dergleichen mehr. Laut der Übersetzerin wurden Lewenthals Notizen von der deutschen Sprache beeinflusst, die der Autor sichtlich beherrschte. Deren Wirkung ist nicht nur an der offenbar von der deutschen Dichtung inspirierten 403 Polonskaja, 2012. S. 245 f.

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Salmen Lewenthal: „Von diesem Moment an …“

Wortwahl zu erkennen, sondern auch an der Schreibweise mancher Wörter sowie am Satzbau. Lewenthals Heimatstadt wurde am 8. Oktober 1939 in Zichenau umbenannt, das ganze Umland wurde als „Bezirk Zichenau“ an das Reich, an Ostpreußen404, angeschlossen. 1940 ging die Stadt von der Militär- an die Zivilverwaltung über, Roth wurde ihr Kommandant. Er richtete das jüdische Ghetto im Stadtzentrum ein. Aus der Perspektive des Generalgouvernements betrachtet (jenes Teils des ehemaligen Polens, welches an das Reich nicht angeschlossen wurde) erweckte dieses „neogermanische“ Gebiet den falschen Eindruck, ein Paradies zu sein. Der Historiker Emanuel Ringelblum, Kenner des polnischen Judentums, Archivar und Chronist des Warschauer Ghettos, schrieb im Juni 1941: „Der Exodus aus Warschau setzt sich fort. Die Menschen verlassen mit Autos und Fuhrwerken die Stadt. Einige von ihnen brechen in Richtung des Reiches auf, nach Zichenau zum Beispiel, wo es sich gut leben lässt und man von den drei Reichsmark, die man täglich verdient, sogar etwas sparen kann. Im Ghetto erhalten sie eine Urkunde darüber, dass sie von der Zwangsarbeit befreit sind, und fahren anschließend zu ­ihren neuen Wohnorten im Reich weiter.“405

Das ist doch der Himmel auf Erden, nicht wahr? Nach dem Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion radikalisierte sich jedoch das Verhältnis zu den Juden auch in diesem „Paradies“: Es kam zu ersten Deportationen406. Das größte „Glück“ der Juden aus dem Bezirk Zichenau407 bestand wohl darin, dass die systematischen „Aktionen“ – also Maßnahmen zu ihrer totalen Vernichtung – „erst“ im Spätherbst 1942 begannen. Jedenfalls setzten die Aktionen später ein als in anderen Teilen des ehemaligen Polens. Am 1. November 1942 erging der Befehl, alle Zichenauer Juden hätten ihre Stadt am nächsten Tag zu verlassen. Auf Vermittlung jener Deutschen, die einige „nützliche“ Juden beschäftigten, genehmigten die Behörden jedoch

404 Vgl. das Einführungskapitel zu Lejb Langfuß („Ein Rabbi in der Hölle“). 405 Ringelblum, 1983. S. 293 f. 406 Am 11. Dezember 1941 deportierten die Deutschen etwa 1.200 Juden aus Zichenau in das Ghetto Neustadt. 407 So auch der Juden des Bezirks Bialystok, dem auch Lunna – das Schtetl Salmen Gradowskis – angehörte.

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Die Chronisten und ihre Texte

fünf Tage Aufschub, damit ein geeigneter Ersatz für die frei werdenden Stellen gefunden werden konnte. Eine weitere Galgenfrist gab es dann nicht mehr: Am 6. November begann die Zwangsverschickung der Juden aus Zichenau. Mit dem ersten Transport wurden 2.000 Juden aus der Stadt deportiert. Der zweite und letzte Judentransport verließ Zichenau am 7. November. Darin befand sich auch Salmen Lewenthal. Eine Zwischenstation für die Juden aus dem Bezirk Zichenau war das nordwestlich gelegene Ghetto von Mława. Zwei Jahre zuvor, im Dezember 1940408, waren 3000 Juden aus Mława ausgesiedelt worden. Danach diente das verwüstete Ghetto im Holocaust-Betrieb als Durchgangslager, so auch den Juden aus Zichenau. Ende November 1942 kamen zudem Juden aus Makow Mazowiecki dorthin (unter ihnen auch Lejb Langfuß). Der größtenteils nicht mehr entzifferbare Text von Lewenthals Manuskript und die Erwähnung von „Malkinia“ legte bislang die Vermutung nahe, er hätte mit dem letzten Zichenauer Judentransport an einem anderen Ort einen Zwischenhalt eingelegt: in einem großen „Durchgangslager“ bei der Ortschaft Malkinia Gorna, östlich von Mlawa. In Malkinia lag jedoch der Eisenbahnknotenpunkt, über den die Transporte in das nur 8 km entfernte Vernichtungslager Treblinka409 geleitet wurden. Lewenthal wurde sehr wahrscheinlich nicht über Malkinia am benachbarten Treblinka vorbei, sondern von Mlawa direkt in den Südwesten nach Auschwitz deportiert410. Wieder war Lewenthal unter den letzten Deportierten: „Sein“ Transport mit 2.500 in plombierte Güterwaggons gepferchten Juden fuhr am 7. Dezember ab. Nach drei Tagen einer grausigen Fahrt in Enge und Ungewissheit kam er am 10. Dezember am Ort seiner „Endlösung“ an: An der Rampe zwischen dem Stammlager Auschwitz I und dem Lager Birkenau. Von den 2.500 Menschen überstanden ausschließlich die Männer die Selektion: 524 Mann, darunter Salmen Lewenthal411. Er geriet jedoch erst Ende Januar 1943 ins Sonderkommando, das in dem Bunker arbeitete (noch waren die Gaskammern und die Krematorien II und III nicht in Betrieb), weil er zuvor in anderen Arbeitskommandos eingesetzt worden war. Dov Paisikovic erinnerte sich an einen polnischen Juden namens

408 Vgl. das Einführungskapitel zu Lejb Langfuß („Ein Rabbi in der Hölle“). 409 Die am meisten befahrene Route von Malkinia aus. 410 Vgl. Chare, Nicholas/ Williams, Dominic: Matters of testimony: interpreting the scrolls of Auschwitz. New York, Oxford 2016. S. 145f. 411 Sie erhielten die Nummern 81400 bis 81923. Vgl. Czech, 1989. S. 356 f.

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Salmen Lewenthal: „Von diesem Moment an …“

Salmen, der etwa 30 Jahre alt gewesen sei und gehumpelt haben soll. In der Baracke des Sonderkommandos wurde er wahrscheinlich als Stubendienst eingesetzt, weshalb ihm die allerschwersten Arbeiten erspart blieben412. In einer Baracke mit Lejb Langfuß angelangt, zieht Lewenthal eine klare Abgrenzungslinie zum Maggid aus Makow samt seinen vom jüdischen Glauben vorgeprägten Antworten auf alle Fragen: „Hier ist nur […] ein Dajan geblieben, ein gebildeter Mann […], fern vom Verständnis der ganzen Sache einfach wegen seiner Positionen, die sich stets im Rahmen des jüdischen Gesetzes halten“. Die aus Ciechanów stämmigen Juden haben in der Geschichte von Auschwitz ihre ganz besonderen Spuren hinterlassen, vor allem im Zusammenhang mit dem Aufstand des Sonderkommandos. Lewenthals Landsfrau Róza Robota413 sticht da als eine überaus heroische Figur hervor.

2. Die beiden nach dem Krieg in Geheimverstecken entdeckten Texte von Lewenthal beinhalten verlässliche Fakten und Daten und helfen nicht nur, die Faktografie des Holocaust besser nachzuvollziehen, sondern auch den Charakter ihres Autors zu verstehen. Der Haupttext sind zweifelsfrei die „Notizen“, die den Zeitraum von November 1942 bis 10. Oktober 1944 umfassen. Im Unterschied dazu ist Lewenthals Kommentar zum Manuskript aus dem Ghetto von Lodz überaus eilig abgefasst: Er entstand im Zeitraum vom 15. bis 19. August 1944 (offensichtlich wurden die Emanuel Herszberg zugeordneten Aufzeichnungen am Vortag in den Sachen der Vergasungsopfer aus dem Ghetto von Lodz entdeckt). Diese beiden Handschriften wurden im Sommer 1961 und Herbst 1962 gefunden, beide am Krematorium III, wo Lewenthal gearbeitet hatte. Als Erstes wurde am 28. Juli 1961 das Tagebuch eines anfänglich nicht identifizierten Häftlings aus dem Ghetto von Lodz ausgegraben, einschließlich eines beigelegten Nachworts in Form eines Kommentars. Dessen Autor war Lewenthal. Der Fund wurde bei Ausgrabungen entdeckt, die von den Mitarbeitern des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau und der Haupt412 Aussage Paisikovic vom 10.08.1964, APMAB, Berichte, Bd. 44. S. 110.; Langbein H. Menschen in Auschwitz. 1995. S. 222. 413 Siehe vorne das Kapitel „Das vernichtete Krematorium: Sinn und Preis eines Aufstands“.

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Die Chronisten und ihre Texte

kommission zur Untersuchung der Naziverbrechen in Polen vorgenommen wurden. An der Suchaktion war ein ehemaliger polnischer Auschwitz-Häftling beteiligt (er war es auch, der die Suche maßgeblich in die Wege geleitet hatte): Henryk Porębski, von Mai 1942 an als Elektriker in Auschwitz-Birkenau eingesetzt und als Bindeglied zwischen dem Untergrund in Auschwitz I und den Mitgliedern des Sonderkommandos in Birkenau aktiv. Sein Vertrauensmann, zu dem er unmittelbaren Kontakt hatte, war der Oberkapo des Sonderkommandos, Jakob Kaminski. Im Gegenzug für Medikamente, die bei „deren“ Ärzten eingingen, stellte der polnische Untergrund sicher, dass Schriftstücke – Kassiber – hinter den Lagerzaun gelangten. Mitte 1944 aber sei diese Verbindung infolge der Flucht des Verbindungs-­ Manns zusammengebrochen. Um zu dokumentieren, was in den Gaskammern passierte, blieb dem Sonderkommando nur ein Ausweg: das Vergraben der Aufzeichnungen in der Asche der Opfer. Als Vertreter eher des polnischen als des jüdischen Widerstands verharmlost der Pole Porębski die Lage ein wenig, wobei ihn der mit seiner Hilfe gefundene Text „überführt“. Die Juden aus Birkenau hörten nicht deshalb auf, ihre Kassiber über Auschwitz in die Freiheit zu schicken, weil ein Verbindungs-Mann geflohen war, sondern weil der polnische Untergrund das Vertrauen des jüdischen Widerstandsgruppe im Sonderkommando völlig verspielt hatte. Laut eigenen (aber noch größeres Misstrauen erregenden) Aussagen will Porębski das alles selbst vergraben haben – mithilfe von Mieczysław Morawa, dem polnischen Kapo am Krematorium III414, und dem bereits erwähnten jüdischen Häftling David Szmulewski415. Bis zu einem gewissen Grad bestätigt die Behauptung Porębskis die vorausahnende Sorge Lewenthals, dass die überlebenden Polen sich die Taten und Verdienste des Sonderkommandos unvermeidlich anzueignen versuchen würden. Es war übrigens nicht der erste Versuch von Porębski, die Schriftrollen zu finden. Doch weder 1945, als er in „seinem“ ehemaligen KZ ein Internierungslager für deutsche Kriegsgefangene vorfand, noch 1947, als die Ausgrabungen lediglich die entbehrliche Aufmerksamkeit von Marodeuren erregten, konnte er etwas finden. Diesmal aber war die Suche erfolgreich. 414 Indes erinnerte sich Filip Müller an Morawa als an einen inbrünstigen Antisemiten und sogar Sadisten. Einige Überlebende des Sonderkommandos gaben an, er sei es gewesen, der Kaminski denunziert habe. Müller, 1979. S. 66 u. 245. 415 Die Bergung des Dokuments, in: Gumkowski, Briefe aus Litzmannstadt, 1967. S. 7–13. Vgl. auch: „Willy“ und der Verfasser, in; ebd., Briefe aus Litzmannstadt, 1967. S. 97–102.

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Salmen Lewenthal: „Von diesem Moment an …“

Am 28. Juli 1961, dem dritten Tag der Suchaktion, stießen also die Archäologen in einer mit Ascheresten und Überbleibseln menschlicher Knochen gefüllten Grube auf einen Ziegelstein mit einem darunter liegenden Metall­ behälter: einem verrosteten und stark zerbeulten Feldkessel, Essgeschirr der Armee, das zu allem Überfluss von dem Spaten des Finders beschädigt wurde. Darin befand sich ein Bündel eng eingerollter, teils verklebter Papierblätter, die durchgehend in jiddischer Sprache beschrieben waren. Das Papier war feucht und teils verschimmelt. Einem Mitarbeiter des Museumsarchivs ist es zu verdanken, dass der Fund gerettet wurde. Insgesamt wurden 342 Blätter eines Buchhaltungsheftes von 26–29 cm Länge und 10–11 cm Breite entdeckt, die rückseitig beschrieben waren, sowie sechs durchnummerierte und beidseitig beschriebene Papierblätter mit einer Größe von 17–20 x 10–11 cm416. Alle anschließenden Anstrengungen – ob mittels chemischer Bearbeitung, Durchleuchtung oder weiteren Verfahren – führten dazu, dass lediglich 50 der 348 Blätter völlig unlesbar blieben, während 124 Blätter größtenteils und 174 Blätter teilweise gelesen werden konnten. Es wurde festgestellt, dass die Notizen ausschließlich den Ereignissen im Ghetto von Lodz (Litzmannstadt) gewidmet sind. Angelegt waren die Aufzeichnungen als aufeinanderfolgende Briefe an einen Freund, wobei der Name des Autors nirgends genannt wurde. Den Aufzeichnungen waren sechs Zusatzblätter beigelegt, die gleichsam einen Kommentar zu dem Manuskript darstellten. Gezeichnet waren sie von Salmen Lewenthal, der gewissermaßen im Namen des Sonderkommandos sprach. Bei einem mit dem 15. August 1944 datierten Eintrag bricht das „Tagebuch von Lodz“ ab. Dies ist der Tag, an dem die Juden aus Lodz in Auschwitz ankamen. Aus dem Transport überlebten nur 244 Männer die Selektion. Sie erhielten die Nummern B-6210 bis B-6453. Die anderen wurden am selben Tag ermordet und verbrannt, unter ihnen zweifellos der Autor des Tagebuchs, das von einem SoKo-Mitglied entdeckt worden sein muss, höchstwahrscheinlich in den Sachen des Ermordeten, die dieser im Entkleidungsraum zurückgelassen hatte. Später konnte festgestellt werden, dass Emanuel Herszberg (Hirschberg), ein Dichter aus Lodz, der Autor dieses Tagebuchs ist.

416 Aufbewahrungsort des Originals: APMA-B. Syg. Wsp. / Pam. 1961 / 420. Kopie und Zusatzmaterialien: ebd. Fotokopie: Wspomnienia / Pam. zyd. 1961 / 51a, b, c. Mikrofilm: Inventar-Nr. 107254. Aufbewahrungsort des Lodzer Manuskripts: IPN, GK 166/1113 (Sammlung „Z“).

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Anfangs ist das Tagebuch in Form von Briefen an einen gewissen „Willy“ gehalten und enthält allgemeine Angaben zum Ghetto von Lodz. Näher zur zweiten Hälfte hin beginnen die Aufzeichnungen in chronologischer Reihenfolge: Die früheste Datierung der Einträge fällt auf den 24. August 1942217. Die sechs durchnummerierten Blätter sind Lewenthals flüchtiger Kommentar zu den „Erinnerungen“ Herszbergs. Der Autor konnte den Brief nicht an einem Stück schreiben: Er datierte ihn mit der Angabe 15. bis 19. August 1944 („15–19/8 44“), stets mit der Angst im Nacken, erwischt zu werden. Womöglich war der Aufstand des Sonderkommandos anfänglich auf diese Tage angesetzt worden, was die Eile erklären würde: Im Falle von Verrat hätte ja sicherlich keiner überlebt. Im Leitmotiv des Tagebuchs – dass nämlich der Judenrat und dessen König „Chaim I“ (der Judenratsvorsitzende Chaim-Mordechai Rumkowski) an allem schuld seien – erkennt Lewenthal eine interessante und historisch relevante psychologische Wendung, verhält sich dazu jedoch kritisch. Ein Konzept solcher Art verdeckt seiner Ansicht nach das Wesentliche: Die Unvermeidbarkeit der Deportation und der anschließenden Ermordung. Dies machte es denjenigen, die es betraf, unmöglich sich auf einen wie auch immer gearteten Widerstand vorzubereiten (der Ratsvorsitzende Rumkowski war zum Symbol einer Politik der Judenrettung durch Übereinkünfte mit den Deutschen, statt durch Widerstand gegen sie, geworden). Dem Ghetto von Lodz stellt Lewenthal das Warschauer Ghetto gegenüber, das den Aufstand gewagt und schon deshalb gewonnen habe, weil es allen – und vor allem sich selbst – bewiesen habe, dass man gegen die Mörder kämpfen und sie schlagen könne. Das ist für Lewenthal die Hauptsache, alles andere überlässt er den „Forschern und Geschichtsschreibern“. Ebenso wie Gradowski kann es Lewenthal nicht fassen, dass die Deutschen sich bei ihrer „größten“ Sache – der totalen Vernichtung der Juden – nicht mal durch den Umstand aus dem Konzept bringen lassen, dass die Russen vor Warschau und die Amerikaner zusammen mit den Briten vor Paris stehen. „Eine Erzählung über die Wahrheit“, schließt Lewenthal seinen Kommentar, „ist noch nicht die ganze Wahrheit. Die ganze Wahrheit ist noch viel tragischer und schrecklicher.“ Die erste rekonstruierende Entzifferung wurde von Liber Brener und Adam Wein erstellt. Davon wurde von Szymon Datner eine Übersetzung ins Polni417 Vgl. die Attribution in: Fuchs H. L. Lodzh shel Mayle. Tel Aviv 1972. S. 184–185. Zur Datierung vgl. Gumkowski, 1967. S. 71.

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sche angefertigt, die (möglicherweise nach einer ideologisch motivierten Bearbeitung) 1965 in Lodz veröffentlicht wurde. Dieses Buch mit dem Text von Lewenthal wurde erstmals 1967 in deutscher Sprache ­veröffentlicht, zeitgleich und gemeinsam mit den „Notizen“ Emanuel Herszbergs418.

3. In seinem Kommentar hält Lewenthal fest, wo Texte der SoKo-Mitglieder versteckt worden waren. An den Stellen wurden im Herbst 1962 tatsächlich auch ein Schriftstück entdeckt, darunter auch sein eigenes, Salmen Lewenthals, Tagebuch. Am 17. Oktober 1962 fanden der Kommissionsvertreter Barciszewski und die ehemalige Lagergefangene Maria Jezierska an den Ruinen des Krematoriums III in 30 cm Tiefe ein Halbliterglas mit einem Deckel aus Eisenblech. Darin befand sich eine Papierrolle, bestehend aus einem Notizheft von 10 x 15 Zentimetern Größe sowie einigen losen Blättern, die in ein Wachstuch eingewickelt waren. Das Notizheft und die Blätter wurden von stark verrosteten Heftklammern zusammengehalten. Die losen Blätter hatten dasselbe Format und waren mit blauer Tinte beschrieben und ein einseitiges mit Bleistift beschriebenes Blatt war größeren Formats. – Insgesamt befanden sich in dem Glas 75 Blätter, einschließlich der zehn leeren. Dafür waren die Seiten des Notizhefts beidseitig beschrieben, je 18 bis 19 Zeilen pro Seite, wobei das Notizheft zunächst auf einer Seite bis zum Ende vollgeschrieben worden war, worauf die Fortsetzung auf den Rückseiten folgte, wieder vom Anfang des Notizbuchs an419. Circa 40 Prozent des Texts waren nicht zu lesen. Das, was entziffert werden konnte, erwies sich als jiddischer Text, wobei das Jiddische nach Ansicht des Übersetzers bei Weitem nicht perfekt war420. Später stellte sich heraus, dass es sich bei dem Fund um das Arbeitsergebnis nicht eines einzigen, sondern gleich zweier Autoren handelte. Drei Fragmente stammen nicht von Lewenthal, sondern von Lejb Langfuß, darunter das einzige der losen Blätter, 418 Rękopis Zelmana Lewentala, in: Szukajcie w popiołach. Papiery znalezione w Oświęcimiu Główna Komisja Badania Zbrodni Hitlerowskich w Polsce, Łodz 1965. S.125–130; Der Bericht Zelman Lewventhals, in: Gumkowski J., Briefe aus Litzmannstadt, 1967. S. 89–94. Übersetzung aus dem Polnischen von P. Lachmann und A. Astel. 419 Aufbewahrungsort des Originals: APMA-B. 420 Für die Texte von Langfuß gilt die Feststellung der „Unvollkommenheit“ des Jiddischen nicht.

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das vollständig in polnischer Sprache beschrieben worden war (eine Auflistung der Judentransporte und der im Oktober 1944 getöteten Juden). Bei der Trocknung des Manuskripts entstand ein irreversibler Schaden: Die Blätter kamen durcheinander, sodass wir gezwungen sind, uns ausschließlich mit Rekonstruktionen zu befassen. Der Anfang des Manuskripts hat ganz besonders gelitten, weil er sich in den oberen Schichten der Rolle befand und dem Einfluss der Feuchtigkeit ausgesetzt war. Die erste rekonstruierende Entzifferung wurde von Adam Rutkowski und Adam Wein421 erstellt, von ihnen ins Polnische übersetzt und 1968 im Bulletin des ZIH veröffentlicht422. Über diese Edition lässt sich sagen, dass sie ideologisch zwar unangetastet geblieben sein mag – textologisch aber ist sie defekt. Die zweite Übersetzung stammt von Roman Pytel, wobei er sich auf die neue Entzifferung des Originals stützte, die von Seweryn Salmen Gostynski angefertigt wurde. Aber auch diese Version wurde, wie im ersten Teil dieser Ausgabe gezeigt, der Zensur unterzogen, weshalb der veröffentlichte Text als defekt zu werten ist. Doch ausgerechnet diese Version diente später als Vorlage für die Übersetzungen ins Deutsche (1972) und Englische (1973). Auch sie sind deshalb als defekt zu betrachten.423 Eine weitere Rekonstruktion des Textes nach dem Original geht auf Bernard Mark zurück424. Er war es übrigens auch, dem als Erstem auffiel, dass zwei Textfragmente gar nicht Lewenthal zuzuordnen sind, sondern jenem „unbekannten Autor“, dessen Manuskript er bereits zu attribuieren versucht hatte. Den nächsten Schritt, die vollständige Zuschreibung, vollbrachte Esther Mark nach dem Tod ihres Mannes (1966), indem sie den beiden besagten Schrift­ stücken – den Kandidaten für eine Re-Attribuierung – ein drittes hinzufügte: das einzige Blatt in polnischer Sprache, welches von Lewenthal höchstwahrscheinlich zur Weitergabe an den polnischen Untergrund in Ausschwitz I vorgesehen gewesen war.

421 Vgl. Anhang 2. 422 Zelman Lewental: Pamiętnik członka Sonderkommando Auschwitz II, in: Biuletyn Żydowskiego Institutu Historycznego, Nr.65–66 (1968). S. 211–233. 423 Vgl. Anhang 2; Wśród koszmarnej zbrodni – Rekopisy czlonków Sonderkommando, Zeszyty Oświęcimskie. Numer specialny (II), Oświęcim 1971. S. 121–171; Inmitten des grauenvollen Verbrechens. Handschriften von Mitgliedern des Sonderkommandos, Hefte von Auschwitz, Sonderheft (I), Oświęcim 1972. S. 133–189; Amidst a nightmare of crime: Manuscripts of Members of Sonderkommando, Oświęcim 1973. S. 125–178. 424 Vgl. Mark B., 1977.

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Die beiden Rekonstruktionen unterscheiden sich wesentlich voneinander, auch im Gehalt: Die zweite ist etwas fülliger, dafür sind in der ersten Version einzelne Fragmente besser, detaillierter zu lesen. Zudem stimmt Gostynskis Komposition mehr mit der Ereignischronologie überein, weshalb – und auch aus Gründen der besseren Lesbarkeit – wir seinen Text als Grundlage verwendet haben. Dabei haben wir ihn stellenweise kompositorisch ergänzt, um den chronologischen Charakter der Quelle zu akzentuieren.

4. Bei allen durch den Zustand des Originals verursachten Lesbarkeitsproblemen sind Lewenthals Notizen ein konsequenter und relativ stringenter Text, der viele Höhepunkte aus dem Leben des Sonderkommandos enthält, vor allem die Vorbereitung und Durchführung des Aufstands in den Krematorien am 7. Oktober 1944. Die Ereignisse beschreibt Lewenthal nicht bloß als Chronist, sondern reflektiert sie auch in allerlei Kontexten, vom geopolitischen und makrohistorischen bis hin zum psychologischen und rein alltäglichen. Salmen Lewenthal – ein im Diesseits verankerter Mensch mit zutiefst linken Ansichten – hat dem Aufstand und dessen Vorbereitung viele Seiten gewidmet. Seine eigene Rolle in der Rebellion fiel sehr wahrscheinlich klein aus. Anderenfalls hätte die SS ihn nach dem Aufstand verhaftet und in den Bunker geworfen, wie es Warszawski und Handelsman erging. Jedoch war Lewenthal gut informiert und galt zudem – neben Gradowski und Langfuß – als Historiograf des Sonderkommandos. Über den Aufstand schreibt er besonders viel: über dessen unverwirklichtes Szenario ebenso wie über dessen abseits aller Pläne realisierte Form seiner Ausführung. Die hinterlistigen Verwicklungen der Polen, das beduselte „Wird schon werden“ der Russen und die Inkonsequenz der Juden, die die Umsetzung aller sorgfältig ausgearbeiteten Pläne vereitelt hatten, stellt er bloß und schreibt mit Elan über die wahren Helden des jüdischen Widerstands in den Gaskammern von Birkenau. Besonders einfühlsam spricht er über diejenigen, denen er aufgrund der Zugehörigkeit zur Widerstandsgruppe begegnete: Josele Warszawski und Jankiel Handelsman. Als einen der besten Männer des Sonderkommandos erwähnt Lewenthal auch Salmen Gradowski. Mit Begeisterung spricht er auch über andere Menschen: Elusz Malinka aus Gostynin (der sich auf die 465

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Flucht vorbereitete, aber von seinen eigenen Leuten verraten und ermordet wurde), Lejb Herszko Panicz und Ajzyk Kalniak aus Lomza, Josef Derewianski aus Lunna (von Lewenthal als Deresinski erwähnt) sowie Lejb Langfuß. In welcher Verfassung Lewenthal sich beim Schreiben befand, verrät uns der Zustand seines Texts. Laut Polonskaja schrieb der Autor sehr aufgeregt, ja nervös, mit Abweichungen beim Genus und Numerus, mit einer Überfülle an Pronomina und Nebensätzen, weshalb es letztlich gar nicht so einfach ist, die Bedeutung des Geschriebenen zu erfassen. Nicht selten vergisst er, wie er den Satz angefangen hat, er verschluckt Wörter und Präpositionen, Satzzeichen fehlen in seinem Text nahezu völlig. Es entsteht der Eindruck, als würde er kein schriftliches Zeugnis verfassen, sondern seine emotionsgeladene Rede eiligst stenografieren425. Im Unterschied zu Gradowski und Langfuß mit ihrem künstlerischen Selbstanspruch hegte Lewenthal offenbar keinerlei solche Ambitionen. Er ist kein Schriftsteller und kein Prophet – aber freilich ein Zeuge, Chronist und Ankläger! Seine Berufung sieht er darin, die nackte Wahrheit über Auschwitz in die Nachwelt hinüberzuretten. Dadurch widersetzt er sich der allzu menschlichen Neigung, den Horror der Geschichte zu verdrängen und zu vergessen. Er überwindet die Anstrengungen der Deutschen, alle Spuren ihres Verbrechens zu verwischen. Und er deckt den Versuch der Polen auf, die Erfolge der Widerstandshelden nur sich selbst zuzuschreiben. Insofern ist es nur konsequent, dass das Verhältnis zwischen den beiden Aufstandszentralen – der polnisch-österreichischen in Auschwitz I und der jüdischen im Sonderkommando von Birkenau – zum roten Faden der Erzählung von Lewenthal wird. Diese Beziehung ist wie die gesamte Geschichte der gemeinsamen Vorbereitung der Revolte überaus lehrreich426. Erst nach der Niederschlagung des Aufstands – ganz am Ende seines Manuskripts und seines Lebens – knallt Lewenthal den Polen aus dem Lageruntergrund den Vorwurf absichtlicher Nachlässigkeit, niederträchtiger Hinterhältigkeit und des Antisemitismus an den Kopf. Wir, eure Verbündeten aus dem Sonderkommando, waren für euch von Anfang an keinen Groschen wert, ihr habt uns einfach an der Nase herumgeführt! Selbst die Fotos, die Listen und das ganze Material, das ihr direkt aus den Krematorien bekommen habt, ver-

425 Polonskaja, 2012. S. 245 f. 426 Vgl. weitere Details im ersten Teil dieser Ausgabe.

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wendet ihr ausschließlich für eure eigenen Zwecke, als wäre es euer eigenes. Im entscheidenden Moment der Rebellion habt ihr uns belogen und uns unserem Schicksal überlassen. Unsere Leben, die Leben der verdammten Sokos, waren euch nichts wert! „Gott gebe, dass einer von uns bei Lebzeiten noch einmal diese lausigen Verbündeten treffen könnte“, so schließt Lewenthal seine Anklage. Es waren diese Vorwürfe, die später der Schere des polnisch-kommunistischen Zensors zum Opfer fielen. Aber die Worte Lewenthals erwiesen sich als Prophezeiung: „Die Juden aus dem Sonderkommando wurden im kommunistischen Polen als Kollaborateure dargestellt“, schrieb Zbigniew Sobolewski. „Aber in meinen Augen sind sie Helden. Denn auch wenn ihre Überlebenschance gering war, so hatten sie doch eine. Diese Chance opferten sie vorbehaltlos und zerstörten das Krematorium einzig und allein dafür, um die Tötungskapazität von Auschwitz zu schwächen.“427 Übrigens wollten der Pole Sobolewski und die christlich-jüdische Gemeinde der kanadischen Provinz Alberta, wo er hingezogen war, eine entsprechende Gedenktafel aufstellen. Davon wollten die Polen in der Gemeinde nichts hören.

Salmen Lewenthal: Texte [Notizen]428 [Im Ghetto von Ciechanów] […] binnen einiger Jahre Metamorphosen, Leiden und […] Verfolgung durchmachen, die die jüdische Bevölkerung seit dem Kriegsausbruch 1939 durchmacht, seitdem der Deutsche […] besetzt hat, mitgeteilt, dass […] auch in unserem Städtchen […]. Es wird gemäß dem System aller anderen Städte

427 Aussage von Z. Sobolewski (YVA. 03/8410. S. 55–58). 428 Die Übersetzung aus dem Jiddischen ist nach der Textvorlage von Bernard Mark erstellt worden: Mark B., 1977. S. 377–421, unter Berücksichtigen der deutschen Fassung in: Inmitten des grauenvollen Verbrechens, 1996. S. 202–251. Die Aufteilung nach Absätzen und die Betitelung stammen vom Herausgeber.

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spezielle jüdische Viertel geben, für Juden […] Viertel, durch Stacheldraht eingezäunt und errichtet […] Die materiellen Bedingungen im Ghetto haben sich verschlechtert. Die kleine Verdienstmöglichkeit […] bestand im Schmuggel mit den Polen aus dem Dorf. Alle anderen Placowkas429 sind plötzlich weggebrochen, wurden gänzlich abgeschnitten […] in einem Ghetto eingezäunt und den Juden verboten, sich zu bewegen […] schlechte materielle Bedingungen […] enges, dicht gedrängtes Wohnverhältnis […] die Juden […] befinden sich im Ghetto einfach zu einem solchen Grad […] die eigenen Möbel als Feuer­holz […] musste man […]. […] entehrt, indem sie durch Messer bedroht wurden […] nackte Frauen […] auf schreckliche Weise […] ihnen so lange Knüppel in den After geschoben, bis sie unter schwerem unvorstellbaren Leid verstarben, unter Qualen […] ältere Menschen […] die Sadisten herausholten […] zwangen sie zum Vergewaltigen […] Kinder […]430 Frauen aus ihren Familien […] […] Mittagessen zu verteilen431 und wegen verschiedener anderer sozialen […] den Termin verschoben. 1/11/1942 […] wurde die Aussiedlung432 angekündigt, […], welche Plonsk, Nowy Dwor, Neustadt433 erfasste. […] eingesperrt […] transportieren […], spät in der Nacht mithilfe jüdischer Polizisten versammelt […] natürlich, es gebührt ein großer Dank für ihre Zusammenarbeit […] so treu ergeben mit seinem Herrn […] sie alle sind längst nicht mehr auf der Welt, sonst hätte ich persönlich angefangen […] dass von den Menschen […] abgeführt zu […] gepfercht […] einige Hundert in einen Waggon, entrissen […] in die Hölle […]

429 Vom polnischen „placówka“ („Arbeitsplatz“), im Original auf Jiddisch geschrieben. Hier hat das Wort eher die Bedeutung von Broterwerb. 430 Derlei grausame Szenen spielten sich im Ghetto von Zichenau in den Jahren 1940–1941 ab. Bernard Mark verweist zudem auf die Aussagen von Jitzhak Lejb Kalinic und Esther Mlackier in seinem Archiv. 431 Gemeint ist womöglich die Initiative von Handwerkern aus Ciechanów, eine Volksküche im Neustädter Ghetto einzurichten, wo kostenlose Mittagessen an 300 jüdische Familien verteilt wurden, die am 11.12.1941 aus Ciechanów ausgesiedelt und in das Ghetto eingeliefert worden waren. Vgl. Fuchs, Moshe/ Zabludowitsch, Noah/ Kulka, Moshe: Der Hurbn fun der Yidisher Kehilah Tsekhanow un der Heldisher Toit fun Roza Robota, Tel Aviv 1952. S. 17. 432 Im Original steht das polnische, auf Jiddisch geschriebene Wort „wysiedlenie“. 433 Die Städte Plonsk, Nowy Dwór und Neustadt (Nowe Miasto) zählten zum Bezirk Zichenau (siehe Einführungskapitel).

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[…] das Bild sah aus […] in dem Moment, als die Sonne aufging, befand sich die jüdische Bevölkerung bereits am Sammelpunkt. In den verlassenen Häusern mussten die Türen offen gelassen werden. Alles beweinte das bittere Schicksal. Bei Tagesanbruch […] wurde alles gesammelt […] fuhren an einem Fuhrwerk vorüber […] einfach unmöglich, sich zu rühren […] […] Polen, die sich dort aufhielten […] baten um Geld […] natürlich geizten wir nicht, wir gaben alles her, um etwas Wasser zu kaufen, doch die Polen […] leider ließen nicht los […] mit einem Wort, sie haben von uns alles bekommen […] eine Mutter mit fünf Kindern stirbt, am Leben blieb aus […] der ganzen Familie nur der Vater, der weinte, aber ohne Tränen. [Malkinia] […] dass alle beschlossen, sich nicht von der Stelle zu rühren […] Ach, wir sind verfallen […] was mit allen sein wird […] dasselbe muss auch mit jedem von uns geschehen […] zusammen mit der eigenen Familie bestimmt […] wir wurden […] und waren […] bereits in vollem Bewusstsein, dass wir in den Tod gehen […] als der Tag der Abfahrt kam […] 17/11434 […] plötzlich […] Babys, die noch nicht auf eigenen Füßchen gehen konnten, das […] Es ist wahr […] hörten, dass […] kommen, wie auch die Warschauer Juden […] aus unserer Gegend geschickt wurden in die bekannten […] Lager für den Teufel, für den Todesengel persönlich […] sich im Transport befinden […] unschuldige Menschen […] wir wussten faktisch […] nichts über Au­schwitz […] monatelang waren die Menschen schon. Das […] uns bis zur letzten Minute in die Irre geführt […] auf der Fahrt […] wir fürchteten […] nach Malkinia gebracht […]435 mitten in der Nacht fuhren wir in […] Station […] der Zug blieb stehen.

434 So im Text. Am 17.11.1944 wurden in Mława eingesperrte Juden nach Auschwitz deportiert. Am selben Tag wurde das Ghetto als Umschlagplatz für die Deportation nach Auschwitz mit Juden aus anderen Ghettos wieder aufgefüllt. Vermutlich gelangte auch Lewenthal erst an diesem Tag nach Mlawa. 435 Malkinia ist der Ort, aus dem laut Danuta Czech (Czech, 1989. S. 356) am 10. Dezember 1942 der Transport ankam, in dem sich Salmen Lewenthal befand. Es ist aber bekannt, dass es das Ghetto der Stadt Mława war, das als Durchgangslager für die Juden aus dem Bezirk Zichenau diente. Malkinia galt außerdem als „Vorposten“ von Treblinka, das in der Region als Todesfabrik weitaus bekannter war als Auschwitz.

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[…] aber […] um 5 Uhr, nach mehreren Stunden des Stillstands, haben die SS und die Polizei angefangen, hinauszuführen […] lautes zynisches Lachen mit […] die Menschen geworfen […] […] aus den Waggons tödliche Schläge. Schläge […] brachen Arme und Beine […] wurden eingeführt […] ganze Familien […] das Bild war […] Kinder, die sie nicht fanden […] bis zum nächsten Tag […] in der Zwischenzeit haben sie Transporte ausgesandt […]. […] die nicht […] waren einfach krank […] und einer nach dem anderen noch […] vor den Augen […] wurden in die Latrinen geworfen […] Menschen […] schauten die Ausfahrt an […] jetzt war […] wurden zurückgeschickt […] Auschwitz uns […] andere […] [Die Selektion in Auschwitz] […] das […] als der Transport […] kam […] wir […] die unterwegs Verstorbenen einsammeln und […] wieder alle Bündel […] und Koffer einsammeln, die die Juden bei sich hatten […] alle Bündel und dann […] der Transport wurde weggefahren […] verpackt […] die Bündel mit Kleidung […] dann […] weggebracht nach Deutschland. Als wir kamen, […] stießen wir am Ende auch auf ein jüdisches Kommando […], ein Kommando436, im Lager wurde es Kanada genannt […] sie verstanden alles […] waren […] […] traf auf der Rampe, um zu reinigen […] können die übrig gebliebenen […] auswählen, die dann nach Deutschland verschickt wurden unter […] Kommando […] rein jüdisches […] sie wurden gefragt, was hier passiert […] erschossen werden […] wir bereits […] SS. […] […] stehen […] Häftlinge437, […] SS-Leute, die den schwachen Frauen und Kindern sehr höflich dabei helfen, auf die Kraftwagen438 zu klettern […] willst

436 Das Wort „Kommando“ schreibt der Autor teils mit der Endung auf -o wie im Deutschen, teils auf -e wie im Jiddischen. Wir verwenden durchgängig die deutsche Schreibweise. 437 Das deutsche Wort ist hier in hebräischen Schriftzeichen geschrieben. 438 Hier und weiter ist das polnische Wort „samochód“ in hebräischen Schriftzeichen geschrieben. Gemeint ist damit meist ein Lastwagen, nur in einem Fall wird durch das Hinzufügen einer Diminutivendung (samochodl) ein Pkw bezeichnet.

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etwas […] vergeblich […] nichts zu erfahren […] unschuldige jüdische Opfer […] auf dieselben Wagen werden Menschen geladen […] [In der Baracke des Sonderkommandos] […] wurden erschossen […] konnten sich nicht vorstellen, dass […] wir wurden hergeführt […] uns in […]439 Block hineingeführt […]. Am nächsten Morgen […] […] wir haben damit begonnen, uns umzuschauen, zu gucken, mit wem wir geblieben sind, wer war und wer ist, wer ins Himmelfahrtskommando440 gekommen und wer noch hiergeblieben ist. Und selbstverständlich sind nur zweitklassige geblieben, erbärmlichere, einfachere Menschen. All die Besseren, Erhabeneren und Ruhigeren sind gegangen, konnten es nicht aushalten […]? Als in 43 die Krematorien Nummer IV und V441 erbaut wurden, fing eine neue Epoche in unserem Leben an, sofern man das als Leben bezeichnen kann […] insbesondere unserem Kommando […] eine Tragödie […] die ganze mechanische Arbeit mithilfe […] die Menschen so […] die Menschen schneller ausziehen und in den Bunker zu treiben, wobei die unterschiedlichen, ganz und gar radikalen zu allem […] beleidigende und schmutzig. […] dass wir zugeteilt werden für […] kann, die noch leben und es sich erlauben […] und dann von dort aus in die Freiheit hinaustreten, und werden womöglich noch predigen, dass ihnen noch […] und Ehre zusteht, weil sie in dieser Zeit so viel erlitten und ertrugen […] verständlich […] an die von ihnen im Lager vollbrachten Taten erinnern, noch vor Augen, wie jeder Vorarbeiter einer Brotportion wegen einen Menschen tötete, um ihn […] auf Kosten von Dutzenden […] Lager hielten sie durch […], es gab aber auch eine Zeit im selben Lager in den Jahren 41–42, als jeder Mensch, buchstäblich jeder, der länger als zwei Wochen lebte, dachte, er lebte schon auf Kosten anderer Opfer […] anderer Menschen oder dessen, was er ihnen […] wegnimmt.

439 In den deutschen Ausgaben der Jahre 1972 und 1996 ist an dieser Stelle die Blocknummer „38“ eingefügt (auffällig ist, dass die Nummer in der polnischen Protoedition von 1971 sowie in der englischen Übersetzung fehlt). Die Lagerblöcke (Baracken) wurden nur innerhalb der jeweiligen Baubereiche nummeriert, doch in keinem der vier Bereiche gab es einen Block mit dieser Nummer.

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[…] auf den Kopf fiel er tot um. Das war allgemein die Regel im Lager. Das war das alltägliche Lagerleben. Jeden Tag Tausende Ermordete, ohne jedwede Übertreibung. Buchstäblich Tausende – und dies von Hand der Häftlinge selbst […] waren auch unter den Polen ebenso wie die Gefallenen, so auch […] wer nur einen Stock442 in der Hand halten konnte, der lebte. Diese alle Vorfälle müssen wir, die Überlebenden, schneller […] für die anderen hinterlassen, weil das […], sondern weil […] passierte besser […] das weiß niemand. Sie werden nicht haben, weil alles […] sogar die belangloseste Kleinigkeit weg­ genommen wird […] mit Erde […] von oben […] möglich […] wissen. [Die Arbeit des Sonderkommandos] […] von Menschen abgetrennt, niemanden getroffen […] nur ständig […] kamen erstmals in das Wäldchen, wo […] damals die Bunker waren, der weltbekannte Mörder Oberscharführer Moll443 hielt eine Rede […] nicht schuldig, ein Befehl ist ein Befehl […] doch wie tragisch […] kamen näher […] seine allernächsten Angehörigen und die Familie, wer […] die Frau und […] Fräulein, Mädchen […] […] das Sonderkommando hineingetrieben […] und es war unmöglich zu entwischen unter Androhung der Erschießung. Wenn du dich einfach nur umdrehst […] haben begonnen, die übrigen Menschen aus der Baracke in den Bunker zu treiben, haben sie vergast, unter gleichem Geschrei und Geheul wie in der Nacht. Wie tragisch und schrecklich war das Bild, als sich später zeigte […] dieselben Menschen, die die toten Körper herausholten und verbrannten […], verstehen, dass sie in den Baracken noch ihre Angehörigen, ihre Familien zurückgelassen haben, der eine den Vater, der andere die Frau und die Kinder. Wie sich später zeigte, als sie sich an die Arbeit machten, in deren Verlauf jeder seine Familie erkannte, weil das Kommando an dem Tag wieder aus Menschen zusammengesetzt wurde, die gerade erst mit dem Transport angekommen waren und die sofort zur Arbeit geschickt wurden444. Auf diese 440 So wurden im sog. Krematorium-Esperanto diejenigen bezeichnet, die bereits gestorben waren, also „im Himmel arbeiteten“ (Jagoda, Klodziński, Masłowski, 1987). 441 Am 22. März respektive 4. April 1943. 442 Das heißt: diejenigen, die irgendeine Funktion in der „Selbstverwaltung“ der Häftlinge ausübten. Aufgrund ihrer Macht über die anderen Häftlinge konnten sie auf deren Kosten länger überleben. 443 Otto Moll. 444 Angesichts der dringenden Notwendigkeit, das alte Sonderkommando zu ersetzen, wurde das neue Sonderkommando zur Arbeit abkommandiert, ohne die vorgesehene Quarantänedauer oder anderweitige Maßnahmen durchlaufen zu haben.

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Weise starben alle unsere Landsleute, unsere ganze Gemeinde, unsere Stadt, unsere geliebten Eltern, Frauen, Kinder, Schwestern, Brüder. 10.12.1942445 spät in der Nacht, die anderen morgens. mit unseren […] das Jahr hat jetzt begonnen […] wovon bislang Zeitpunkt gehört haben […] wir sind Menschen, die bereits […] im Lager […] unsere Stimmung […] auf unsere Fragen – noch einmal mit […] unseren Frauen und Kindern […] sie antworteten, dass ihnen befohlen wurde, das zu sagen, und so sagten sie es auch. All das führte uns in […] die Irre […] Mittlerweile sahen wir etwas von der Art eines geschlossenen Krankenwagens mit großen roten Kreuzen an allen Seiten. Heißt also, dass […] über den Sanitätsdienst […] unterstützt durch den starken […] hätte er mich damals fertig gemacht, wäre ich ihm auf ewig dankbar geblieben. Wie gut wäre es gewesen, eines süßen Todes zu sterben, mit einem Schluchzen auf den Lippen. […] Aber meine allernächsten Angehörigen, meine allernächsten Bekannten […], meine Allerteuersten, die für mich exakt immer viel wertvoller waren als das Leben, weil in jenen guten Zeiten hätte ich, um zu leben […] wenn es gar kein Leben mehr gibt […] weil […] der kleinste […] einer Mutter und die Treue eines Vaters […] die Nähe seines […] treu sein, ob sein ganzes Leben […] damals war schon jeder auf das Schlimmste vorbereitet […] der Tod ist für uns alle nicht mehr […] alles […] leben […] wir werden doch trotzdem […] nicht gefunden […] […] diese Verbrecher […] diese schreckliche Arbeit. Brachten die Menschen mit den Autos in das Wäldchen, schütteten dort alle herunter wie Kartoffeln von einer Karre […] geschlossene Autos […] wer wird das glauben können, wer wird sich das vorstellen können […] Banditen […] […] ärztliche Hilfe für kranke Leute […] Banditen nur für vollkommen gesunde. Für normale Menschen, für normale junge […] tödliches Gift […] auf das Gas. Die SS-Leute führen zur Vergasung […] […] Schreie […] im Lager […] Schreie waren noch zu hören […] fingen an, allmählich leiser zu werden, Menschen […] sind umgekommen. Die Hälfte, 445 Der Tag, an dem die letzte Gruppe von Juden aus Ciechanów, unter ihnen Salmen Lewenthal, in Auschwitz ankam. Aus Mława wurden sie am 7. Dezember 1942 abgeschickt. 446 So im Text: zwei Wörter, wobei das Wort „sonder“ in hebräischen Schriftzeichen geschrieben ist.

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die in die Bunker nicht passte, blieb nackt in der Holzbaracke sitzen. Die bittere Winterkälte […] hörten die Schreie und Rufe derer, die […] mit den Rufen Schma Israel auf den Lippen, bis sie verstummten und umgekommen waren, […] sie aber saßen da und warteten auf den tragischen Tod ihrerseits stöhnend und schreiend, bis am Morgen das bekannte Sonder Kommando446 kam und die Bunker entleerte […] brachte sie447 etwa 800 Meter weit weg und warf sie in die Flammen, wo seit dem gestrigen Tage schon Menschen brannten und seit dem vorgestrigen auch. Und nachdem sie […] in der Nacht fuhr […] derselbe Wagen, derselbe Fahrer, dieselben SSLeute, wenige Kilometer zurückgelegt, angekommen […] in den Tiefen der Hölle ihre Gesichter veränderten sich auf Anhieb […] die, die einen Augenblick zuvor […] dieselben höflichen Menschen […] stürzten sich schon ausreichend […] stürzten sich auf die Unschuldigen […] und schlugen, fügten tödliche Schläge mit den Knüppeln zu […] bis sie alle diese Menschen in einen Holzblock hineingepfercht hatten, wonach sie wieder zur Rampe fuhren. Und wieder dieselben […] höflich, wurden wieder umgänglich, wieder mit demselben […] […] trieben […] mit bösen bissigen Hunden […] auf eine Entfernung von 150 Metern […] eine unschuldige Bauernhütte mit […] verschlossen Fenster mit dicken […] allen befohlen sich zu entblößen und fingen bald zu treiben an […] liefen […] nackte […] in der vollgestopften Bauernhütte, mithilfe der Knüppel und Hunde […] durch kleine Fenster warf der SS-Mann das Giftgas und schloss schnell das Fensterchen. Nach einigen Minuten waren alle erstickt. [Nachdenken über den Sinn der Arbeit des Sonderkommandos] Es ist absolut unerträglich, dass Menschen allein dafür vernichtet werden, dass sie448 einer angeblich schlechten Rasse angehören. Hier aber diese degenerierten Typen, wilde Hunnen. Deshalb […] ziehen sich täglich Transporte aus Tausenden Menschen, Frauen und Kindern, ahnungslosen Menschen, die die Banditen zum Bunker führen, die durch Gas erstickt werden und […]

447 Leichen, die aus der Gaskammer (dem Bunker) herausgenommen wurden. 448 Gemeint sind die Juden.

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eng in den Bunker gepfercht werden […] Sie sind schon tot, durch Gas vergiftet und wir müssen sie […] verbrennen, aber ihre Asche dabei aufs Feinste zerkleinern […] unser Leben […] wenn wir die Sachen der Toten wegräumen […] als ich hierhin kam, ins Lager Birkenau, gab es hier schon einige Bauwerke […] es gab schon […] auf sumpfigen Feldern und es wurde noch gebaut449. Das war 42 10/12450. Bald nach der Ankunft und der Selektion – als aus einem Transport von 2.300 Menschen nur wir 500 ausgewählt wurden, während die anderen sofort ins Gas gingen, wir, ohne davon etwas zu wissen, […] seiend […] uns der jüdische Blockälteste mitteilte, dass länger als drei Tage niemand von ihnen überleben wird451. Das war in der Nacht […] inmitten […] waren von Weitem die schrecklichen Schreie zu hören, die sich mit dem wilden Gebrüll der SS-Leute und der Dutzend Hunde vermischten. Da erklärte man uns, dass gerade jetzt mithilfe der Hunde unsere Familien in den Tod getrieben würden […], unsere Mamas und Papas452, Frauen und Kinder. Schon damals […] aus […] verstand […] genug. Unglück – das war das Gefühl eines jeden von uns. Das war der Gedanke eines jeden von uns allen. Wir schämten uns einander in die Augen zu schauen. Geschwollen waren die Augen vor Schmerz und Scham, vor Tränen ohne Klagen pferchte sich jeder in eine andere Ecke, damit keiner der eigenen Leute ihn trifft […] ich gestehe, ich selber […], dass mein Vater auch war […] vom Ansatz, damit er nicht sah […] wusste, dass wenn wir werden […] unsere Herzen […] und Schmerz […] so war es auch als […] Lager, als ich sah […] fragt mich, wo seine Schwestern, seine Brüder, seine Frau und Kinder, seine Eltern seien, wo seien sie allesamt. […] Es mangelte an Mut, unserem Leben ein Ende zu setzen […] damals hatte das niemand getan – warum nicht? […] nicht, es bleibt eine Frage, die schwer zu 449 Die Bauarbeiten in Birkenau hatten im Oktober 1941 begonnen und hörten bis Ende 1944 nicht auf. 450 10. Dezember 1942. 451 Mordechai Ciechenower erinnerte sich, dass ihnen in der Baracke ein jüdischer Blockältester in Begleitung eines SS-Manns entgegenkam und sagte: „Ihr befindet euch im Vernichtungslager Birkenau. Hier werdet ihr viel arbeiten, aber nur wenig zu essen bekommen. Benehmt ihr euch gut, haltet ihr drei bis vier Monate durch, wenn nicht, verreckt ihr in den nächsten Tagen …“ (Mordechai Ciechanower: Auf blutigen Straßen (Jidd.), in: Brat, Yitzhak (Hrsg.): Sefer zikaron le-kehilat Maków-Mazowiecki, Tel Aviv 1969 S. 327). 452 So im Text.

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beantworten ist. Im Gegenteil, schon wenig später fanden sich viele Menschen, nachdem wir zu uns gekommen waren, die beim ersten Ereignis, wie etwa eine Krankheit, oder so mit einem äußeren Ereignis konfrontiert, das ihn irgendwie berührte. Bald schon setzten sie ihrem Leben ein Ende453 […] draußen im Lager war er unter Hunderten, die […] erschossen wurden […] das bleibt eine Frage […] wahr, dass das Leben […] der Lebenswille […] vorgestellt, man kann niemals einschätzen und es wurde niemals eingeschätzt […] einfach […] bei uns […] Uns in der Welt […] noch etwas […] das seinen Lebenswillen noch irgendwie festigen und ihm Kraft geben muss, das Unglück zu ertragen, denn man wird im Leben noch jemanden treffen müssen, und außerdem die Tatsache, die unvorstellbare Tragödie, der Horror […] deshalb war jeder selber bereit […] mit den eigenen Fingernägeln sich selbst die Augen auszukratzen […] sich im Leben vorstellen […] Schmerz, Kummer, Leid […] einfach wissend, dass dieser und jener […] werden. Warum, seit wann, warum das Leben […] das ihnen passiert ist […] waren sündig, gibt es denn überhaupt […] und Trost […] gibt es denn […] ich war im Lager in unterschiedlichen Kommandos, war in Auschwitz, war in Buna454 zum Arbeiten, dann kehrte ich zurück nach mehreren Wochen des Umherschweifens durch alle Plätze wurde ich am 25/1 43455 in dieselbe Fabrik456 zum Arbeiten bestellt. Aber ich war im Vergleich zu meinen Kameraden etwas spät dran. So haben sich die Menschen daran gewöhnt, normale Menschen mit normalen menschlichen Zügen, keine Verbrecher, keine Mörder, sondern Menschen mit Herz, mit Gefühl und Bewusstsein, an all diese Dinge haben sie sich gewöhnt, an diese eine Arbeit – aber nicht sie sind schuld daran […] Die Allerersten von uns machten sich gleich in der ersten Nacht […] an die Arbeit, es wurde ihnen nur gesagt, dass die Arbeit schwer ist, aber dafür [werden] sie […]. Niemand von ihnen wusste etwas, weil das alte Kommando,

453 Hier verwendet der Autor einen Germanismus. Darauf deutet die Endung „e“ im Wort „Ende“ hin, das im Jiddischen ohne „e“ geschrieben wird. 454 Gemeint ist ein großes Lager auf dem Gebiet des Dorfes Monowitz, das an das Bunawerk IV zur Herstellung von künstlichem Kautschuk angeschlossen war. Die Fabrik wurde von der I.G. Farbenindustrie AG 1941–1944 gebaut. 455 25. Januar 1943. 456 Gemeint sind die Krematorien.

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das dort arbeitete, am selben Tag ermordet wurde wegen der Denunziation aus dem jüdischen […] geflohen […] gefunden […] Das alles lief ab unter dem Knüppelhagel der SS-Posten, die uns bewachten. Wir hatten uns restlos vergessen, niemand von uns begriff, was er tut, wann er das tut und wie ihm selbst überhaupt geschieht. So haben wir uns vollkommen verloren, einfach wie tote Menschen, wie Automaten getrieben, ohne zu wissen, wohin wir laufen müssen, wozu wir laufen und was wir tun. Keiner schaute den anderen an. Ich weiß genau, dass damals keiner von uns lebte, dachte oder überlegte. Dies war es, was man aus uns gemacht hat, bis wir […] anfingen zu sich zu kommen457 […] wer zum Verbrennen geschleppt wird. Das458, was hier passierte. Bald auch noch […] alle Menschen, die vergast wurden, schon aus dem Bunker weggeschleppt, auf die Loren459 geworfen, an den Ort des Verbrennens gefahren, wo bereits Menschen von gestern und vorgestern brannten […], dort warf man die Leichen ins Feuer. Nach der Arbeit, als man im Block zu sich kam, als sich jeder jetzt zum Ausruhen hinlegte, dann fing die Tragödie an. Jeder fing an, den Traum zu glauben, an das, was ihm gestern erzählt wurde, dass seine nächsten Angehörigen, seine Allerteuersten nicht mehr am Leben sind und niemals mehr sein werden, dass er sie niemals mehr treffen wird. Niemals, weil er es ist, der sie verbrannt hat. Wozu brauche ich dann das Leben, wozu brauche ich so ein Leben460? Über Essen und Trinken, selbstverständlich, dass klar ist, dass nicht umsonst […] mit Verständnis, der das Geschehene beurteilen kann. Doch selbst das Vieh, ein Tier, wenn ihm die Angehörigen genommen werden, die es gebar oder von denen es geboren wurde oder mit denen es zusammenlebte, es versteht, dass ihm Schmerzen zugefügt werden und protestiert dadurch, dass es weder isst noch trinkt. Wie ein Mensch, der die Pflicht hat […] Natürlich, zeitgleich damit herrschte einfach […] Melancholie. Von überall her, […] von allen Seiten war Gewimmer zu hören. […] Es war ein rein jüdischer Block, als […] damals wurden nur Juden genommen, bis dahin hatten auch Polen und Russen gearbeitet. Aber in unserer Zeit gibt es sie nicht mehr […], dass faktisch eine Frage bleibt, ob […]

457 Ein Verb, das vom polnischen „przytomność“ durch Präfigierung und das Hinzufügen einer Verbendung gebildet wurde. 458 So im Text. 459 Dieses deutsche Wort steht auch im Original. 460 So im Text. Der Satz, der mit einer Erzählung über andere beginnt, endet mit einer Selbstreflexion.

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Psychologen sagen, der Mensch sei, wenn er sich endgültig verloren wähne, ohne auch nur eine Chance oder die geringste Hoffnung, zu nichts mehr fähig, er sei bereits genauso wie ein Toter. Der Mensch sei fähig, energisch, er riskiere, solange er glaube, mithilfe eines überlegten Schrittes etwas erreichen, dadurch etwas gewinnen zu können. Und andersherum, wenn er die letzte Chance verliere, die letzte Hoffnung, dann sei er zu nichts mehr zu gebrauchen. Er fange an, darüber nachzudenken, wie er Selbstmord verüben könne […] (ein Problem für den Psychologen) […] haben es zugelassen, geführt zu werden, wie Kälber, die stärksten, die heldenhaftesten unter uns waren, waren gebrochen von der Minute an, als wir hierhin gebracht worden waren in […] alles weggenommen und uns solche […] Häftlingsanzüge gegeben, es war uns einfach peinlich, ganz […] waren in fremde Mäntel eingehüllt […] noch in […] weggenommen […] In der Vernunft461, über die der Mensch von Natur aus verfügt, egal ob unbewusst oder bewusst, werden die Menschen durch den geistigen Willen zum Leben gelenkt, von einem Trieb zum Leben und Überleben. Als ob du dich selbst überreden würdest, dass es gar nicht um dein Leben gehe, nicht um deine Person, sondern einfach der Gesellschaft wegen, um zu überleben, wegen dieses oder jenes, für dieses und für jenes, du findest Hunderte Vorwände. Die Wahrheit aber ist, dass du selbst um jeden Preis leben willst. Du willst leben, weil du lebst, weil eine ganze Welt lebt, und alles, das angenehm ist, alles, mit dem du verbunden bist, in erster Linie verbunden mit dem Leben. Ohne das Leben […] das ist die reine Wahrheit. Insofern, klipp und klar, wenn jemand sie fragt, warum du […] ich antworte ihm […] das […] muss konstatieren, ich selbst bin viel zu schwach, bin gefallen unter der Last des Lebenswillens, um richtig einschätzen zu können […] der Wunsch, zu leben, aber nicht […] geht. […] warum führst du so unehrenhafte Arbeit aus, so wie du lebst, wozu lebst du und was willst du in deinem Leben erreichen? […] Darin besteht ja gerade die ganze Schwachstelle […] unseres ganzen Kommandos, welches im Allgemeinen, als Ganzes zu verteidigen ich überhaupt nicht vorhabe. Hier muss ich gestehen, dass viele aus der Gruppe mit der Zeit so verloren waren, dass sie sich vor sich selbst schämten, sie vergaßen, was sie tun, unmittelbar während

461 So im Text (ein inkongruenter Satz).

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sie es taten, und mit der Zeit gewöhnten sie sich dermaßen daran, das ist einfach nur erstaunlich […] an das Weinen und Jammern, das von […] aber das sind ganz normale, mittlere […] einfache, ganz bescheidene […] gegen den Willen wird das alltäglich, und du gewöhnst dich an alles. Dann hinterlassen die Ereignisse keinen Eindruck mehr, du schreist, beobachtest teilnahmslos, wie Abertausende Menschen sterben – und es macht dir nichts aus. Eine große Rolle in diesem Gewöhnungsprozess spielt der Umstand, dass wir Häftlinge in der Anfangszeit im Großen und Ganzen für keinerlei Transporte verwendet wurden, als die Menschen noch lebten. Alles wurde von ihnen selbst ausgeführt, von den zweibeinigen Kötern, und mithilfe der vierbeinigen Hunde. Das Kommando kam nur früh am Morgen und fanden schon Bunker voll von vergasten Menschen vor und außerdem Baracken voll mit Klamotten462, aber kein einziges Mal trafen sie auch nur einen lebenden Menschen. Das förderte psychologisch die Verringerung des Eindrucks von der Tragödie sehr […]. Aber es fanden sich auch solche, die es sich unter keinem Vorwand erlaubten, sich dem Einfluss der Gewohnheit zu beugen, damit das dann schon ganz einfach und ganz routinemäßig würde. Klar, dass die berufenen Elemente, die sich unter uns befanden, zum Beispiel die sehr religiösen Juden, wie der Dajan aus Makow Mazowiecki463 und seinesgleichen, glaubten […] so die edleren Menschen, die keinesfalls an dem Spiel heute leben und morgen sterben teilnehmen wollten. Ich hielt mich um jeden Preis. In der ersten Zeit war deren Einfluss im Kommando sehr gering. Einfach deshalb, dass je geringer ihre Anzahl war, umso weniger waren sie zu erkennen, weil sie nicht organisiert waren. Sie stellten keine einheitliche Masse dar und verloren sich deshalb in der Gesamtmasse. Das war gar nicht verständlich und diejenigen, die […] leider, es war […] Menschen unter solchen Umständen […] sich an alles gewöhnt, dass es einfach niemanden mehr rühren sollte, was um ihn herum passiert, als wären sie gar keine Menschen mehr. Nur ist eine recht charakteristische Bemerkung, dass unter diesen Umständen, als ein Kommando von 150 Menschen im offenen Feld arbeitete ohne Zaun, ohne Postenkette, nicht mehr als 4 Wachposten

462 Das deutsche Wort wurde im Original auf Jiddisch geschrieben. 463 Gemeint ist Lejb Langfuß.

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bewachten uns in schweren dunklen langen Winternächten. Es waren solche Zeiten, dass einer den anderen nicht mal auf einen Meter erkannte, während unweit von uns, nur einige Dutzend Kilometer von uns entfernt sich Tausende Juden befanden, ganze Gemeinden464, aber keinem von uns kam auch nur der Gedanke, zu fliehen. Erstens, um das besagte Leben nicht zu riskieren, zweitens […] wenn hier etwas […] das nur deshalb, weil die Angst vor dem Deutschen so ungeheuer war […] jedem Schritt […] aus dem Kommando, […] sie alle traf, dass das […] für sie eine Frage von Leben und Tod war, dass die Arbeit, so gut es nur geht, ausgeführt würde, und dass, Gott bewahre, niemand an eine Flucht gedacht hätte, wie zum Beispiel […] bezichtigt der Gedanke daran, sofort zu fliehen […] verständigte man sich mit […] [Sonderkommando in Birkenau: die Entstehung des Widerstands] der letzte Verbrecher, ein Zuhälter465, der aus Frankreich kam und auf Anhieb diese Fragen radikal klärte, hielt sich nicht mal zurück, die Geschichte unmittelbar in die Hände der Führung zu übergeben. So betäubten und erstickten wir von Anfang an jedes Gefühl und jeden Gedanken an irgendeinen entschlossenen Schritt. Jetzt darüber, was sie, die Kapos466, selbst tun oder dabei helfen mussten, was sehr leicht war. Warszawski467 hat wirklich recht. So hielt sich der Schrecken, die Angst ergriff alle für lange Zeit, bis […] als es anfing ein wenig […] das Regime wurde ein wenig milder […] mit […] schon nicht […] ich von Tag zu Tag […] Ähnliches annehmen, und es ist klar, dass ungeachtet aller schwierigen Bedingungen, die alle im Lager durchmachten, fiel es einem trotzdem nicht so leicht, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass am morgigen Tag an etwas gedacht werden musste, nicht länger darauf zu warten, dass man kommt, um uns in den Bunker zu führen, wie alle anderen, die genauso von Tag zu Tag

464 Zum Zeitpunkt der Einlieferung Salmen Lewenthals ins Konzentrationslager, im Dezember 1942, befanden sich die nächsten jüdischen Gemeinden in Będzin und Sosnowitz, circa 35 Kilometer von Auschwitz entfernt. In den ersten Augusttagen 1943 wurden auch sie liquidiert und ihre Bewohner nach Auschwitz deportiert. 465 Das hier benutzte polnische Wort „Alfons“ wurde im Original auf Jiddisch geschrieben und bedeutet übersetzt Zuhälter, gemeint war der Blockälteste Serge Szawinski. 466 Eine Abkürzung für Kameradschaftspolizei: Kapo. Wird häufig irrtümlicherweise mit dem italienischen Capo (Chef) in Verbindung gebracht. 467 Josele Warszawski.

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von außerhalb, aus der Freiheit wie auch aus dem Lager selbst hingeführt werden. Anfangs waren wir gezwungen durchzuhalten […], eigene Brüder, nur Juden. Mit der Zeit zeigte sich aber, dass genauso auch mit alten Bekannten, zum Beispiel mit den Mitgliedern der Arbeiterbewegungen oder einfach nur Intellektuellen, aber unbedingt linken aus […] Arbeitersphären – mit den Polen muss man auch zusammenwirken. […] verzweigte sich unsere Bewegung ein wenig weiter und erfasste auch das Lager, welches […] hauptsächlich aus Polen besteht. Überdies taten wir, was wir nur konnten […] um jeden Preis, wobei wir das Leben der ganzen Gruppe riskierten, wir gaben verschiedenes Material heraus, das die Welt irgendwann zu all diesen Morden, bestialischen Taten, die hier vollbracht werden, interessieren könnte, außerdem nicht geringe Geldsummen, die nur notwendig waren für die Ziele. Erst als wir im Kontakt mit allen Kreisen waren, haben wir unsere praktische Arbeit zur Vorbereitung auf etwas Konkretes aufgenommen. Unsere Verbündeten, diejenigen, die in anderen Kommandos arbeiteten und unter ihnen hauptsächlich Russen, konnten dank ihren enormen Anstrengungen für uns etwas Konkretes auftreiben. Das fiel in der Tat sehr schwer. Ich muss dabei sagen, dass, wenn an diesen Placowkas468 […] Juden gewesen wären, dann sehr viel469 mehr getan worden wäre. […] Wir mussten aber zu ihnen kommen und sie um Hilfe bei dieser Sache bitten, weil einzelne Personen, die auch an dieser Sache interessiert waren, uns nicht helfen konnten, im Gegensatz dazu wollten die anderen, die eine solche Möglichkeit hatten, […] sie nicht nutzen und zogen es vor, zu leben, […] trotz allem. Dann war es für sie nicht mehr in dem Maße eine Frage von Leben und Tod […] Dennoch die Russen und […] noch einen Schnaps und ab und zu sich ordentlich anfressen […] und das ist für ihn genug, diese Kleinigkeit. Trotzdem passierten diese Sachen, von denen ich hier ein wenig berichtet habe, leider viel zu spät. […] Bis zur letzten Minute waren wir zusammen. Das war unser aktiver Mitstreiter und Anführer der gesamten Arbeiterbewegung von Warschau, noch in 468 Eine Reihe polnischer und jüdischer Unternehmer erhielten Rüstungsaufträge und das Recht, jüdische Arbeiter einzustellen. Die auf solche Weise entstandenen Firmen wurden „Shops“ genannt. Einige davon – die sog. „Placowkas“ – befanden sich außerhalb des Ghettos, und die jüdischen Arbeiter – die „Placowkarzej“ – wurden täglich in Kolonnen dorthin eskortiert. Hier, also auf Auschwitz-Birkenau bezogen, werden unter „Placowkas“ alle mehr oder weniger autonomen Arbeitsplätze verstanden (Elektriker oder Feuerwehrleute zum Beispiel). 469 So im Text.

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den Jahren 20–21, berühmt als kommunistischer Aktivist schon damals unter dem Namen „Josele di mameles“, lebte später in Paris, ständiger Mitarbeiter der kommunistischen Presse in Paris, unter dem Namen Josel Warszawski. Ein hochkultivierter Mann mit sehr vornehmem Charakter, von Natur aus ruhig, aber mit einer flammend-brennenden Kämpferseele. Sein bester Freund kam zusammen mit ihm aus Paris, dort arbeitete er die ganze Zeit mit ihm zusammen. Jankel Handelsman, geboren in Polen, in Radom […] aber sehr energisch […] Vernunft, recht schlau, voller Lebensenergie. […] jüngeren Alters als sie […], lernte in der Jeschiwa in Tsusmir470. Später […] genannt von meinen Kameraden, bekannten Kommunisten, als Jeschiwa-Bocher471 oder als Sozialist vom Mosesglauben. Fürwahr! Ich empfand ungeheuren Respekt ihnen gegenüber, jenen meinen Freunden, einfach wegen der in ihrem Leben vollbrachten Arbeit. Ich selbst stamme aus einem streng religiösen Hause, lebte in der kleinen Ortschaft Ciechanów, lebte so vor und für mich hin, hatte mit niemandem etwas gemeinsam, dennoch verstanden wir so leicht das wahre Gemeinsame […] im Lager und noch mehr unser […] Wir dachten tatsächlich darüber nach, ob wir weiterleben sollten. Angesichts dessen, was mit unserem Kommando passierte, was aus den Menschen wurde, wie erniedrigt und fern jedweden Gefühls sie alle schon geworden sind, und was wir noch leider hier erwarten können […] wir beschlossen, dass nicht selbst […] im Namen von irgendetwas […] Unmöglich […] Wir haben zusammen mit der Arbeit begonnen […] etwas Konkretes, über etwas […] dann angefangen, Kontakte mit dem Lager zu knüpfen, im Lager die besten Kräfte irgendwelcher ehemaligen bekannten Menschen […], fähig […] etwas zu tun. […] auftreiben, aber das […] weil das systematisch geschah […] das war damit verbunden, um gut zu essen und zu trinken […]: das war alles, wovon das ganze Lager nur träumte […] nie gesehen. Genau zu dieser Zeit haben bereits […] heimliche Gefühle begonnen bei einigen Menschen, die weinten und klagten […] leise und sie ließen […] nur […] wie über […] meine Freunde […]

470 Der jiddische Name der Stadt Sandomir. 471 Wörtlich: Jeschiwa-Junge. Die Bezeichnung bezieht sich auf einen jungen Mann, der als Student an einer Hochschule für Jüdische Studien eingeschrieben ist.

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[…] im Lager eine Gruppe […] aber zur selben Zeit kam es zur Psychose hinsichtlich der Flucht aus dem Lager. Zum großen Teil ergriff er die Kreise russischer Kriegsgefangener, die im Grunde das beste Material für uns in unserer Aktion hätten werden sollen472. Das behinderte uns bei unserer Arbeit sehr. Wir hatten nichts dagegen. Wir sagten jedem: Wenn du dich wahrscheinlicher selbstständig retten kannst, dann natürlich bitte sehr! Wir halfen viel dabei, indem wir ihnen Zivilkleidung, Ausweispapiere und Geld gaben, […] wir taten alles dafür. Und es versteht sich von selbst, dass jeder […] aus dem […] nicht jeder hat die Voraussetzungen […] dass viele Juden dann […] nicht wichtig. Und uns kam der ganz einfache Gedanke […] an die Flucht […] Er kam uns noch früher als der Gedanke an die gemeinsame Aktion. Ich hatte dafür alle nötigen Anstrengungen aufgebracht und war schon zur Flucht bereit […] das jüdische Auge und jüdische […] Charakter […] Unsere eigenen Brüder, die sich selbst nicht davon überzeugen konnten, dass jemand versuchte, sich zu retten, er aber hierbliebe. Diese und ähnliche Motive führten dazu, dass meine eigenen Kameraden mich frühzeitig verrieten und mithilfe des Kapos und Blockältesten mich behinderten und mir jede Möglichkeit dazu nahmen. Sie drohten dem Lagerchef unseres Kommandos über diesen gefährlichen Schritt zu berichten […] Zu dieser Zeit, wenn die Unseren noch können […] meine allernächsten […] und Jekl473 vorgeschlagen […] leider war unmöglich […] einer war in […] Kommando aus fast 1000 (tausend) Menschen […] rechtzeitig […] und sich zudem vorbereitete, doch leider […] von Denunzianten474 und Provokateuren abgefangen und nicht zugelassen wurde […] zu versuchen, das eigene Leben zu retten […] Malinka Elusz, geboren in Gostynin475, ein ganz gewöhnlicher Bursche, aber mit viel zu viel Energie und Lebensdrang, sehr risikofreudig und temperamentvoll, mit originellen Ideen, tapfer bis zum Gehtnichtmehr. Hatte alles vorbereitet, sogar die Stunde bestimmt, wann er aufbrechen würde. Doch wenige Stunden vorher […] wurde er festgenommen. Ja! Ja! Leider wollte es das Schicksal so. Es war alles vorbei, leider, liegt im […] den Deutschen […] alle diejenigen, die predigten […] wo nicht die größere unsere […] am Leben lassen und auch niemand mehr aus dem Sonder Kommando, leider […] mit unseren […] mit

472 Bei der Vorbereitung des Aufstands. 473 Jukl (Jankel) Handelsman. 474 Der Hebraismus ist falsch geschrieben: ‫ רסומ‬statt ‫רוסמ‬. Möglicherweise ein Irrtum oder ein Flüchtigkeitsfehler von Bernard Mark. 475 Eine Stadt in der Woiwodschaft Masowien, nördlich von Kutno.

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[…] vergeblich – nicht gegessen und nicht geschlafen […] und ausführen bis zur Bereitschaft und […] nichts, sogar nicht einer von uns, niemand […] schon in der letzten Zeit hergeführt […] alles vorbei! […] und sich vollkommen der gemeinsamen Aktion verschrieben […] die Vorbereitungen liefen bei uns nicht, wie wir wollten. Die Spannung stieg von Stunde zu Stunde, wir wegen […] eines Stückchens Material476, das wir […] dass, worum wir baten, dass er ausnutzt, dass jeden Abend 20 Menschen mit 2 Posten für 2 Stunden ins Krematoriun gingen. Damals war das Krematorium noch außerhalb der Postenkette477, das war in den Winternächten, wir hätten die Wachleute sehr leicht erledigen478 und weggehen können, bis zum Sonnenaufgang hätte keiner erfahren, was passiert war. Doch leider konnten wir uns dazu nicht entschließen, es fand sich immer jemand, der irgendwie gebunden war, der eine durch das gute Essen hier, der andere durch eine junge Frau, in die er sich verliebt hatte. Mit einem Wort, darüber wurde jeden Tag gesprochen, bis es unmöglich geworden ist. Die Postenkette wurde erweitert und alles ist unmöglich geworden. Ja, ja! Leider muss man die Wahrheit aussprechen, dass unsere eigenen Brüder nicht weniger schuldig sind, 479

‫או חירותא מיתות‬, ‫היינו דאמרי אינשי‬

[Sonderkommando in Birkenau: während der Ungarn-Aktion und Vor­ bereitung des Aufstands] Bald darauf erfuhren wir, dass sie vorhaben, […] hierhin zu bringen zur Verbrennung ungarischer Juden. Da brachen wir schon bis zum Letzten zusammen, dass wir eine Million ungarischer Juden verbrennen müssen480. Wir hatten vorher schon genug, es war seit Langem mehr als genug von allem. Wir

476 Hier und weiter im Text ist das Schießpulver gemeint, das in der Fabrik der „Union Werke“ hergestellt wurde. 477 Hier als Germanismus: „kette“. 478 Hier und weiter im Original steht das deutsche „erledigen“, geschrieben in hebräischen Schriftzeichen. 479 „Es heißt doch, Freiheit oder Tod“ (aram.). Das Sprichwort „Genossenschaft (Kameradschaft) oder Tod“ wird im Taanit 23a angeführt. Das Wort für „Genossenschaft“, ‫חברותא‬, unterscheidet sich vom Wort für „Freiheit“, ‫חירותא‬, durch einen einzigen Buchstaben. Der Begriff „Genossenschaft“ wird auch in Bezug auf die Gemeinschaft von Thoraschülern angewandt. Offensichtlich wandelt der Autor das aramäische Sprichwort ab, um auf ironische Weise zu sagen, er habe seine Freiheit seiner Freunde wegen verloren. 480 Gegenwärtig wird die Zahl der im Rahmen der „Ungarn Aktion“ in Auschwitz ermordeten ungarischen Juden (unter Berücksichtigung dessen, dass ein Teil von ihnen zu Zwangsarbeiten ins Reich

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müssen unsere Hände auch noch mit dem Blut ungarischer Juden besudeln! Das heißt, man hat uns so weit gebracht, dass einfach das ganze Kommando ohne Unterschied zwischen Klasse und Schicht, und sogar die Schlimmsten von uns, drängten und beschlossen, dem Spiel ein Ende zu setzen, mit der Arbeit Schluss zu machen, und gleichzeitig auch mit unserem Leben, wenn das nötig war. Wir fingen an, weiter zu drängen, um von außerhalb eine schnelle Entscheidung einzufordern, doch leider lief alles nicht so, wie wir uns das vorgestellt hatten. Nach einiger Zeit fing eine große Offensive im Osten an, und tagtäglich sahen wir, wie die Russen sich uns nähern, und andere hatten plötzlich die Meinung, dass alle Arbeit womöglich vergeblich sei, es sei besser, abzuwarten, noch ein wenig zu warten, bis die Front viel näher kommt damit die Moral der SS-Leute sinkt und die Desorganisation zunimmt, und das könne unserem Kommando viele Chancen geben. Von ihrem Standpunkt aus hatten sie in der Tat recht, zumal sie für sich absolut keine Bedrohung im Abwarten sahen. […] liquidieren […] Zeit […] sie müssen sich deswegen nicht beeilen, aber wir […] Aber bei der Arbeit sahen wir die tatsächliche Sachlage, dass die Zeit sinnlos verstreichen wird. Besonders wir, unser Kommando, nahmen immer an, dass ausgerechnet wir in größerer Gefahr sind als alle anderen im Lager, sogar mehr als die übrigen Juden im Lager. Weil, so dachten wir, der Deutsche wird alle Spuren seiner bisher vollbrachten Taten auslöschen wollen, aber das kann er nicht anders tun als durch die Vernichtung unseres gesamten Kommandos, ohne einen einzigen am Leben zu lassen. Darum sahen wir im Herannahen der Front für uns gar keine Chance. Im Gegenteil, darin sahen wir die Notwendigkeit, unsere Aktion etwas früher durchzuführen, wenn wir bei Lebzeiten noch etwas tun wollten. Unter dem Druck unseres ganzen Kommandos wollten wir das Lager481 beeinflussen, damit es versteht, dass jetzt die beste Zeit ist. Doch leider wurden wir482 immer von einem Tag auf den nächsten vertröstet. Mit der Zeit hatten wir es mit dem wenigen Material, das wir hatten, bewerkstelligt, dass wir



verschleppt worden war) auf 323.000 Menschen geschätzt. Gerlach C., Aly G. Das letzte Kapitel. Der Mord an den ungarischen Juden 1944–1945. Frankfurt am Main 2004. S. 294, 296, 441. Vgl. auch die „Research Notes on The Hungarian Holocaust“ von Michael Honey vom 14.07.2008 unter: http:// www.zchor.org/hungaria 481 Gemeint ist die Organisation des Widerstands im Stammlager Auschwitz I. 482 So im Text.

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daraus das machten, was wir eigentlich wollten und brauchten. Wir unternahmen alle Anstrengungen, um das Gleichgewicht innerhalb des Kommandos zu halten, wir taten alles mit größter Hingabe, aber […] auch das dauerte Monate. Deshalb ist es uns gelungen, dank der Anstrengung und Treue einiger jüdischer Frauen, die in der Munitionsfabrik483 arbeiteten […] um wenigstens ganz wenig Material zu bekommen, das uns in dem Moment hätte von Nutzen sein sollen […] aufbewahrt und […] […] mitten im Herzen des Lagers […] unseres allergrößten Feindes […] […] aufbewahren […] Gradowski Salmen aus Suwalki einer […] aus den besten Elementen unseres Kommandos zusammengestellt […] unter […] […] musste geschaffen werden. Wir fingen an, darauf zu bestehen, dass unsere Mitstreiter eine Frist bestimmten, alleine schon aus dem Grund, dass unser Kommando dazu bereit war. Das ereignete sich, nachdem die Arbeit bei uns schon ein wenig abgebremst worden war. Es gab schon nicht mehr so viele Juden zum Verbrennen. Nachdem schon […] alle Juden aus Polen gestorben waren, unter ihnen […] und keine Juden mehr zum Verbrennen vorgesehen waren […], unser Kommando wird um die Hälfte verkleinert, man hat sogar 200 (zweihundert) junge Menschen aus unserem Kommando nach Lublin gebracht und sie dort ermordet. Bald darauf wurde das Lager von Lublin484 liquidiert und das Sonder Kommando aus diesem Lager kam hierher nach Birkenau. Es waren 19 Russen und ein Reichsdeutscher485, deren Kapo, insgesamt 20 Menschen. In ihnen sahen unsere Kommandos eine Gefahr, in der Annahme, dass der Tag naht, an dem wir […] umkommen und die Plätze der Verbrennung eingenommen sein werden. In diesem Wissen hielten es die Unsrigen für die beste Zeit, zu sagen: Es reicht! Dafür muss noch die Frist bestimmt werden. Die Unsrigen […] nachdem die 20 Russen aus Lublin sich bei uns eingelebt hatten, wurde klar, dass sie uns bei unserer Aktion sehr nützlich sein können, 483 Die Union-Werke. 484 Gemeint ist das KL Majdanek am Stadtrand von Lublin, das seit dem Oktober 1941 als „Kriegsgefangenenlager der Waffen-SS“ aufgebaut und seit Februar 1943 als „Konzentrationslager“ geführt wurde (eine analoge Struktur wurde auch in Auschwitz I geschaffen). 485 Also Bürger des deutschen Reichs – vgl. dazu den „Volksdeutschen“: ein ethnischer Deutscher, der jedoch kein Bürger des deutschen Reiches war.

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vor allem durch ihr Temperament und ihre Kraft. Es war besonders ein Kriegsgefangener, ein Major, ein absolut intellektueller Mann. Anfangs hatten wir große Hoffnungen in ihn gesetzt, doch es stellte sich heraus, dass trotz seiner militärischen Ausbildung, die er hatte, man sich mit ihm nie beraten und ihm nicht allzu sehr vertrauen konnte. Es war einfach […] wir fanden langsam andere russische Kriegsgefangene, Oberstleutnants bis zum General, zu denen wir Kontakt hielten. Doch ihnen mangelte es […] irgendwie an politischer Reife mit […] so komplizierte Arbeit, auf so konspirative Weise, wie hier im Lager […] es mangelte ihnen. Das Verständnis, die Beurteilung jedes einzelnen Plans, jeder Handlung […] nichts lief bei ihnen rund. […] etwas war von sich aus nicht klar, unklar […] noch nicht bereit, nachdem die Russen eine Verbindung zu jenen außerhalb des Lagers aufgebaut hatten, wieder war etwas unklar, wieder ging etwas schief, wir konnten nicht länger warten und beschlossen, einfach selbst, mit eigenen Händen […] schlicht und ergreifend […] welches Heldentum an den Tag gelegt […] unsere Jungs, insgesamt eine kleine Anzahl. […] sehend […] die uns zwingen von Tag zu Tag zu warten […] alle hier hatten schon genug […] der Schlimmste von uns, der Böses und Unmenschliches vollbrachte, […] an jenem Tag von allem und sich ganz reingewaschen […] weil wir uns entschlossen haben, sie aber die Zeit haben, werden wir versuchen, sie zu zwingen, wir stellen sie vor vollendete Tatsachen, dann sollen sie tun, was sie wollen, wir aber haben wenigstens das Unsere getan. Ein Tag wurde bestätigt: Freitag. Unser Kommando haben wir aufgeteilt. Eine Gruppe, die im Krematorium II–III arbeitet, die zweite, die im Krematorium IV–V arbeitet. Zwischen den Krematorien befindet sich die Sauna486 und das Effektenlager487. Sie werden auf dem Plan genau sichergehen oder irgendwo an anderer Stelle. Jedenfalls befindet sich das alles in einer Ecke des Lagers, im Westen. Die Lagerkrematorien II–III befinden sich in der südwestlichen Ecke und IV–V in der nordwestlichen Ecke. Und in der Mitte die Sauna und das Effektenlager, dort ist auch ein jüdisches Kommando. Also: Wir müssen um 4 unsere Wachmänner in der Anzahl von bis zu 10 Menschen erledigen488, ihnen die Mordwaffen abnehmen. Eine Mannschaft aus 100 Menschen aus unserem Kommando der Krematorien II–III, die aus ungefähr 180 Menschen besteht, davon werden einige Unfähige, Schwache, Kranke, einfache 486 Befand sich in der Nähe des Krematoriums IV. 487 Das Effektenlager „Kanada“. in jiddischen Lettern als „Sachlager“ bezeichnet. 488 Auch hier: das deutsche Wort in hebräischen Schriftzeichen.

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Die Chronisten und ihre Texte

Feiglinge abgezogen, also 100 Menschen stellen sich auf der Straße auf und warten ab, bis es 5 Uhr ist, wenn die Wachleute auf den Türmen ausgewechselt werden, für die nächste Postenkette, für die Nacht, in der Anzahl von 20 Menschen. Wenn die Letzteren näher herankommen, stürzen sich unsere Kommandos auf sie. Für jeden von ihnen sind fünf von den Unsrigen eingeteilt, unter ihnen solche, die ein Maschinengewehr führen können489. Nachdem sie 20 Menschen erledigt haben, teilen sich die 100 Menschen auf, die Hälfte geht mit dem Maschinengewehr die Postenkette angreifen, die den ganzen Tag dasteht, die andere Hälfte geht zum Lager. Zur selben Zeit müssen unsere Verbündeten bei sich nach dem gleichen System vorgehen: sich von den Wachleuten befreien und dann versammeln sich die Menschen aus der Sauna zusammen mit dem Kommando des Krematoriums IV–V von der anderen Seite des Lagers und greifen die Wachposten an, die auf dem Weg sind, den Nachtdienst anzutreten, und dann greifen sie die Blockführer […] und angrenzende Lager an, das sind zusammen: das Krankenlager490, das Frauenlager491 und das Männerlager492. Von unseren Leuten aus den Krematorien II–III müssen […] nach vorn auf die Straße gehen, wo sie auf die 8 Posten mit Maschinengewehren treffen und sie direkt am Zaun unseres Männerlagers überfallen müssen. Eine Gruppe unserer Leute, die sich im Lager aufhalten, steht da und wartet. In der Minute, in der die sich von außen nähern, schneiden sie von innen den Draht durch und laufen mit einem lauten Hurra ihnen zu Hilfe und setzen gleichzeitig alle Baracken des Lagers in Brand. Die Überbleibsel unseres Kommandos, die nach […] geblieben sind, diese 100 und 25 Menschen der anderen Gruppe müssen zur selben Zeit die Zäune des Frauenlagers und anderer benachbarter Lager durchschneiden und alle Krematorien sprengen. So wurde es beschlossen und auch so weit vorbereitet, dass alle unsere Leute dafür bereits angezogen waren und sogar die Arbeiten und die entsprechenden Werkzeuge dafür aufgeteilt hatten. Es wurde beschlossen für 9 Uhr. Und um 2 Uhr kam noch […] der letzte Gesandte und sagte, es würde nicht aufgeschoben.

489 Im Original ist das deutsche Wort in jiddischen Buchstaben geschrieben. Es kann sowohl ein Maschinengewehr als auch eine Maschinenpistole gemeint sein. 490 Befand sich im Bauabschnitt B II f. 491 Befand sich in den Bauabschnitten B I a, B I b. 492 Im Abschnitt B II d.

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Die Leute küsste sich einfach vor Freude, dass wir die Minute erleben, in der wir selbst, bewusst und aus freien Stücken uns daranmachen, allem ein Ende zu setzen. Dennoch nährte niemand die Illusion, dass wir auf diesem Wege uns retten würden. Im Gegenteil, wir waren uns dessen bewusst, dass das der sichere Tod ist, doch trotzdem waren alle damit zufrieden. Aber in letzter Minute geschah etwas Wichtiges mit einem Transport, weswegen er dort in der Sauna angehalten werden musste, und dementsprechend auch die ganze Aktion. Ehrlich gesagt, unsere Jungs vergossen einfach Tränen in dem Wissen, dass die Ereignisse nicht aufgeschoben werden dürfen, wenn nicht, dann läuft es nicht mehr so, wie man wollte. Mit der Zeit kamen wieder unsere Verbündeten aus dem Lager und baten darum, weiterhin Kontakt zu ihnen zu halten, wobei sie uns versicherten, dass sie sich bald dazu entschließen, mit uns gemeinsam zu gehen. Wir haben uns überreden lassen. Besonders die äußere politische Lage, die sich von Tag zu Tag verbesserte, nötigte uns zu warten, abzuwarten, weil wir dadurch nicht so sehr mit einer Chance auf unsere Rettung rechneten, die wir uns niemals auch nur vorgestellt hätten, als einfach mit einer noch größeren Erfolgsaussicht unserer Aktion. Und was die Juden angeht, die wir in der Zwischenzeit verbrennen, so hat das Lager uns eingeredet, dass sie so oder so verbrannt werden, wenn nicht von uns, dann von anderen. Doch wir grollten jeden Tag und wollten das Ereignis schon beschleunigen. Es dauerte so lange, bis in der Zeit eine halbe Million ungarischer Juden verbrannt wurden, sie im Lager hatten aber noch Zeit, einfach nur weil das sie noch gar nicht betrifft und es immer noch zu früh ist. Je später, desto höhere Chancen. Mit der Zeit wurde unser Plan wirklich ausgeweitet dank der Beteiligung des gesamten Lagers und besonders des Nachbarlagers in Auschwitz. Unserem Plan wurde alles hinzugefügt, ein Kommando von den Polen, Russen und Juden, das beim Auseinanderbauen alter Flugzeuge493 und zudem bei verschiedenen Munitionslagern494 arbeitete, dass sie an ihren Arbeitsstellen die Magazine überfallen und die Waffen an das Kommando verteilen sollen, und das ganze Kommando geht in den Kampf gegen die SS-Leute im Lager. Und ein Teil muss die Baracken […] der Militärs495 überfallen, um sie anzu-

493 Im Original steht das russische Wort „samolet“ (Flugzeug) in hebräischen Schriftzeichen. 494 Die Häftlingsgruppe, die damit befasst war, hieß Zerlegebetriebskommando. 495 Gemeint sind die Wohnbaracken der SS.

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Die Chronisten und ihre Texte

zünden. Aber auch sie hatten leider in letzter Minute die Bedingung gestellt, noch ein wenig zu warten. Wir schwiegen zähneknirschend. Da wir vorher die Pläne vorgesehen hatten, die Aktion mit eigenen Händen zu vollbringen […], ebenso den Plan, die Aktion spät in der Nacht zu vollziehen und zu versuchen, gleich ins Feld zu laufen, zu versuchen, sich so zu retten, was der Realität noch irgendwie ähnelte496 […] Die gemeinsame Aktion hielt uns sehr auf, einfach weil man die beiden Kommandos der Aktion nicht anschließen konnte, das heißt die Krematorien II–III und das Kommando der Krematorien IV–V. Bevor ein Kommando es tut und dadurch andere verrät, die anderen Kommandos, beschlossen, besser abzuwarten und eine gemeinsame Aktion mit denselben Chancen für uns beide zu machen, das heißt, für die Kommandos der beiden Krematorien, weil wir loyal und verbunden waren […]. Es kam der Tag, an dem unsere Lage immer ernster wurde, weil unser ganzes Kommando zum Wohnen in die Krematorien IV–V497 überstellt wurde, wo nichts zu tun war, sodass vorgesehen war, dass sie bald, in den nächsten Tagen kommen und eine Gruppe von den Unsrigen mitnehmen. Und genau so kam es auch. Sie nahmen 2 hundert mit und ermordeten und verbrannten sie498. Bald darauf kam wieder der Drang auf, dem Spiel ein Ende zu setzen, einfach weil große Aufregung und Verbitterung herrschte und außerdem war die Aktion noch nicht beendet. Da uns klar war, dass er499 wieder versuchen wird, unser Kommando zu verkleinern, denn die Budapester Juden wird er hierhin nicht mehr bringen. Außerdem spricht man schon offen darüber, dass er mit der Liquidierung des Lagers begonnen hat, dadurch dass er täglich Judentransporte mit der Bahn unweit von hier wegbringt, wo wir alle überprüfte Beweise dafür haben, dass sie alle vernichtet werden, sogar ihre Kleidung kommt zurück […] und außer496 Im Original steh das polnische Wort „podobne“ in hebräischen Schriftzeichen. 497 Mitglieder des Sonderkommandos lebten in eigenen Baracken, von anderen absolut isoliert. Anfangs in den Blöcken 22–23, dann im Block 2 im Bauabschnitt B I b und im Block 13 des späteren Männerlagers in Bauabschnitt B II d. Um sie von anderen Häftlingen noch mehr abzuschotten, wurden sie später in die Gebäude der Krematorien verlegt. 498 Dies ereignete sich im September 1944. Die Lagerführung belog die Opfer mit dem Versprechen, sie würden nach Gleiwitz verlegt. Den Häftlingen wurden sogar neue Kleidung und Verpflegung für den Reiseweg ausgegeben. Im Effektenlager I in der Nähe des Stammlagers Auschwitz wurden sie ermordet, die Leichen wurden zur Einäscherung nach Birkenau gebracht, wobei die SS sich damit selbst befasste. Dennoch erkannten die SoKo-Mitglieder die Leichen ihrer Kameraden. 499 Er, der Deutsche, das Dritte Reich, für das Sonderkommando in der SS verkörpert.

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dem bringt er hierhin, zu uns ins Krematorium, täglich kräftige gesunde frische junge Menschen, jetzt schon ganz ohne Selektionen, wie man es früher tat, sondern einfach Block für Block. Derart systematisch und planmäßig, dass du ganz genau siehst, dass die gesamte Liquidierung sich dem Ende zuneigt. Und außerdem wird er noch versuchen, uns im Kommando zu verkleinern, was ihm dann bestimmt nicht mehr gelingt, weil er auf solche stoßen wird, die alles wissen und für diese Arbeit bestimmt sind. Einfach schon seit Langem zum Ereignis bereit sind, sodass es ihm ganz sicher nicht gelingt, und wir wussten das ganz genau. Nach unserem starken Druck auf das Lager, als wir ihnen Tag und Nacht einhämmerten und bewiesen, dass sie durch das Abwarten nur erreichen, dass sie an der Reihe500 sind, dass sie dran sind, in den Bunker501 zu kommen und sonst nichts, stimmten sie ­letztlich wieder zu und bestimmten die Frist der gemeinsamen Aktion – gemeinsam, zusammen. Wieder bereiteten wir alles vor, aber diesmal vorsichtiger als zuvor502, weil wir nach dem ersten Mal an den Nachwehen durch den Verrat des polnischen Kapos namens Mietek503 litten, der unseren jüdischen Kapo504 denunziert hatte, und wegen dieser Anschuldigung wurde er mitgenommen und erschossen. Dieses Mal wollten wir schon vorsichtiger sein. Schon nachdem wir die Frist bestimmt hatten, erfuhren wir von unseren verbündeten Juden, die die Gesamtmasse des Lagers darstellten, die mit den Russen und Polen des Lagers im ständigen Kontakt standen, dass die Bestimmung der Frist durch die Russen eine selbstständige, nicht ausreichend durchgerechnete, nicht angemessen vorbereitete war, sondern einfach nach ihrem alten uns bereits bekannten System: nicht allzu viel nachdenken, einfach mal machen – und fertig. Durchgerechnet oder nicht, gibt es Chancen oder nicht, einfach machen – und fertig. Ob etwas gelingt oder nicht, das ist für sie viel zu viel des Nachdenkens, das […] sie durchrechnen, was vorbereitet werden muss […], dass alle, die wir vertreten […] Deshalb müssen es Spezialisten ihres Faches sein, müssen das Recht haben, zu wissen […] ob es möglich sein wird, etwas zu vollbringen. Es müssen doch […] vorher davon wissen, das heißt […] schon […] sie wissen schon selbst. Sie werden Hurra-Rufe, Schreie, Schüsse hören und

500 501 502 503 504

Im Original steht ein Polonismus: „kolejka“ (die Reihe), geschrieben in hebräischen Schriftzeichen. Gemeint ist das Lagergefängnis im Block 11 in Auschwitz I. Im Original steht das deutsche „bevor“ in hebräischer Schrift. Der Name wurde in hebräischer Schrift geschrieben. Gemeint ist der Kapo Kaminski.

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begreifen, was vor sich geht. Aber dass das eine abenteuerliche Sache ist, zu der wir uns nicht entschließen wollten, weil eine einfache Prügelaktion nur geringe Erfolgschancen hatte. Wir hatten bessere Chancen, wir hätten mehr gewonnen, wenn selbstständig gehandelt. Und ehrlich gesagt, warfen uns unsere eigenen Leute vor, dass wir hinauszögern […] selbst vollbringen […] schon genug, und wir selbst, diejenigen, die der Aktion vorstanden, wir selbst mussten zu denjenigen werden, die aufgehalten, für einen Tag hinauszögerten und um mehr Chancen zu gewinnen, mehr Organisiertheit. Nach der Frist legten wir die Verantwortung den wenigen auf, die besser verstanden, wie man die ganze Sache organisiert. Auf einige Juden und einige Polen. Also haben sie dann angefangen sich zu organisieren und die äußeren Kommandos505 auf das Ereignis vorzubereiten, damit es ablief, wie es sich gehört, versorgten jedes Kommando mit einer passenden Vertrauensperson, die über alles informiert werden und die bestimmte Frist im Voraus wissen und vor Ort die notwendigen Bedingungen mit dem Werkzeug für diese Sache vorbereiten musste. Natürlich hat sich das als sehr richtig erwiesen, als wahre Chance, damit es entsprechend gelang. Aber es musste ja doch eine Zeit dauern. Mit der Zeit aber passierte das, was wir so sehr befürchtet hatten. Wieder wurde die Abfahrt eines Transports aus dem Kommando der Krematorien IV–V aus 300 (dreihundert) Mann angekündigt. Das brachte völlige Verwirrung ins Kommando. Es waren solche unter den 300 Mann, die im Voraus sagten, dass sie Widerstand leisten würden. Wenn man aber schon einen Aufstand macht, dann ist ja klar, dass man nicht vorhersehen kann, wie er endet. Und außerdem sagten die anderen, die, die bleiben mussten, dass sie bereit sind, zusammen mit denen ein Ende zu setzen, und vielleicht nur wenige Stunden früher, nicht darauf warten, bis man kommt, um sie abzuholen, sondern einen Abend früher Schluss zu machen. Sie hatten ganz sicher das volle Recht darauf, faktisch musste es genauso getan werden. […] stützten sich auf die Zusicherungen des gesamten Lagers, dass die Frage in der allernächsten Zeit hundertprozentig aktuell ist. Das ist eine Frage weniger Tage, mit der hohen Wahrscheinlichkeit der Beteiligung des gesamten Lagers von Zehntausenden Menschen. Und von uns unbedingtes Verständnis dafür einfordernd, dass 300 Menschen als Preis für den Erfolg der Aktion weggenommen wurden. 505 Außenkommandos, Arbeitsgruppen, die jenseits der Lagerabsperrung arbeiteten.

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Wir, im Gefühl, dass wir die Kraft schon haben […] der Ganzheitlichkeit der gemeinsamen Aktion, ohne unser Leben zu berücksichtigen, bereits am allergrößten Erfolg interessiert […], zugelassen […] bleiben […] abseits, wir […] und wir sagen denen nichts. Im Gegenteil, sollen sie den angemessenen Widerstand leisten, sollen sie tun, was sie können. Aber wir bleiben abseits. Damit lassen wir uns die Chance nicht entgehen, die mit Gottes Hilfe wenige Tage später kommen muss. [Sonderkommando in Birkenau: Aufstand vom 7. Oktober] Das Vorkommnis, das sich vor ein paar Tagen bei uns im Krematorium III ereignet hat, hat leider zum großen […] Unglück geführt und vieles von unserem ganzen Plan zerstört. Aber niemand hat das Recht, die moralische Güte und den Mut, die Tapferkeit und das Heldentum abzuwerten, welches […] unsere Freunde auch in diesem missglückten Fall an den Tag gelegt haben, der bislang noch nichts Vergleichbares in der Geschichte von Auschwitz-Birkenau und überhaupt in der Geschichte der Verfolgungen, Vertreibungen, des Leids und Elends hatte, die der Deutsche in der ganzen von ihm besetzten Welt angerichtet hat. Es waren 19 Russen bei uns, die zusammen mit uns arbeiteten. Sie waren über alles und jeden informiert und im Vertrauen. Sie wirkten mit ihrem Temperament ein wenig […] dem Chef des Kommandos506 allzu dreist. Sie fragten überhaupt niemanden, taten, was sie wollten, was diesen unseren Herrschern überhaupt nicht gefiel. Viele Male sagten sie den Russen, dass sie sie aus dem Kommando entlassen, aber alle wissen, was es bedeutet, vom Sonder abgelöst zu werden, das ist gleich in den Himmel. Und dazu konnten sie sich selbstständig nicht entscheiden. Sie hatten keinen irgendwie ausreichenden Vorwand. […] einige Tage vorher hatte einer von ihnen sich volllaufen lassen und einen großen Krawall veranstaltet. Unser Chef, ein Unterscharführer, selbst ein professioneller Mörder, fing an, als er das sah, ihn stark zu schlagen. Der lief von ihm weg, der Chef aber schoss ihm in den Rücken und verwundete ihn. Dann, in der Absicht, ihn, den Verwundeten, wegzubringen, stieg er aus dem Auto und stürzte sich auf den Chef, riss ihm die Peitsche aus den Händen und schlug ihn auf den Kopf. Der Letztere griff schnell nach der Pistole und schoss ihn auf der Stelle tot. Er nutzte den Vorfall und teilte dem Komman506 Im Original abgekürzt zu „kom“.

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danten mit, dass er einfach Angst hat vor den Russen, und fordert, dass sie da alle entfernt werden, was der für ihn selbstverständlich tat. Und weil schon davon die Rede war, dass aus den Krematorien IV–V ein Transport von 300 Menschen mitgenommen wird, teilte der Chef ihnen mit, dass sie zusammen mit dem Transport gehen, und was das bedeutet, war ihnen klar, weil sie selbst, diese 19 Russen, den ersten Transport von 200 Menschen verbrannt hatten, der von uns weg nach Lublin ihnen in die Hände gelangt war. Es entstand ein schreckliches Durcheinander unter ihnen selbst. Sie selbst wollten das Spiel am Abend beginnen. Durch List hielten wir sie davon ab. Wir sprachen mit dem Chef darüber, dass sie hiergelassen werden sollen, indem wir erklärten, es sei reiner Zufall gewesen mit dem Betrunkenen, der für nichts verantwortlich sei, und ein anderer sei für ihn erst recht nicht verantwortlich. Er ließ es zu, dass wir ihn ein wenig überzeugen, weil er zu uns völliges Vertrauen hatte, worum wir uns sehr bemüht hatten, dass es so ist. Und das wäre ganz sicher gut gegangen, aber einen Tag später – das war am Morgen des Sabbat 7/10 44, wussten wir, dass in einem halben Tag der Transport mit diesen 300 Menschen aus dem Krematorium IV–V abfahren musste. Wir festigten unsere Position zum letzten Mal und erklärten unseren V-Leuten klipp und klar, wie sie sich in den verschiedensten Fällen zu verhalten hätten. Aber als die Mittagsstunde anbrach, um 1.25 kamen sie auch die 3 hundert Menschen abzuholen. Sie legten unvorstellbaren Heldenmut an den Tag, indem sie vom Platz nicht weichen wollten. Sie fingen großes Geschrei an, stürzten auf die Wachleute mit Hämmern und Hacken, einige von ihnen wurden verwundet, aber die anderen stürmten, womit sie nur konnten, bewarfen sie einfach mit Steinen. Die Folgen, die es gab, sind leicht vorstellbar. Das dauerte insgesamt nur wenige Minuten, und es kam eine ganze Einheit mit bewaffneter SS, mit Maschinengewehren und Handgranaten, in solcher Anzahl, dass auf jeden Inhaftierten mindestens zwei Maschinengewehre kamen. So eine Armee haben sie gegen sie mobilisiert! Unsere Leute, als sie sahen, dass es mit ihnen aus war, wollten im letzten Augenblick das Krematorium IV in Brand stecken und fielen alle mit Geschrei im Kampf, auf der Stelle erschossen. Und das ganze Krematorium verschwand im Rauch. Unser Kommando am Krematorium II–III, weil es von Weitem die brennende Flamme und den schrecklich starken Beschuss sah, war sich sicher, dass niemand aus dem Kommando überlebte. Uns wurde klar, dass unsere Verbündeten bei ihnen waren und dass sie die Vernichtungswerkzeuge nutzten, die sie hatten, und in diesem Fall wäre es die größte Denunziation gegen uns, weil es bei uns etwas Ähnliches gibt. Trotz494

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dem beschlossen wir, dass wir nicht vorzeitig reagieren dürfen, weil das sowieso nicht mehr als eine abenteuerliche Sache war und außerdem haben wir immer Zeit, selbst in den letzten Minuten, weil ohne vorbereitet zu sein, ohne die Hilfe aller zusammen, weder mit dem Lager, und außerdem war es am helllichten Tage, ohne auch nur eine Chance, zu glauben, irgendjemand könnte sich retten, und sei es nur einer. Deshalb müssen wir abwarten. Vielleicht entscheidet es sich sowieso bis zur Dämmerung, und dann, sollte es eilig sein, tun wir es am Abend. Es war gar nicht so leicht, die Russen, die zusammen mit uns da waren, aufzuhalten, weil sie dachten, wir würden auf einen Schlag mit dem Transport mitgenommen, und während dort alles im Gefecht starb, nahmen sie an, es sei die beste Zeit für sie. Außerdem half, dass sie von Weitem bemerkt hatten, wie sich ein Haufen bewaffneter SS-Leute uns näherte. Sie kamen vorsorglich, doch sie sahen darin, dass sie direkt ihretwegen kämen. In der letzten Minute war es unmöglich, sie zu bezwingen, und sie stürzten sich auf den Oberkapo, den Reichsdeutschen, und stießen ihn augenblicklich lebendig in den brennenden Ofen, was er ganz sicher verdient hatte. Und vielleicht war dieser Tod noch viel zu leicht für ihn. Und mit demselben Ziel machten sie sich weiter an die Arbeit. Die anderen Kameraden aus dem Krematorium II, als sie sahen, dass sie vor vollendete Tatsachen gestellt wurden, die nicht mehr zurückzunehmen waren, orientierten sich schnell in dieser Situation und versuchten die Chefs hineinzulocken, die sich damals draußen befanden. Aber die hatten die Bedrohung schon gespürt und ließen es nicht zu, dass sie geködert werden507. Nicht länger imstande zu warten, weil jede Minute eine Rolle spielte, wegen des Herannahens anrückender bewaffneter Posten, teilten sie augenblicklich alles unter sich auf, was sie in dieser letzten Minute hatten, und sie schnitten den Draht durch. Und alle liefen auseinander, hinter die Postenkette. Sie waren es auch, die so viel Verantwortung und Selbstlosigkeit in den letzten Minuten zeigten, als jede Sekunde für die Wahrscheinlichkeit der Rettung von Bedeutung war und ihr Leben von den Posten gefährdet wurde, die hinter ihnen herjagten. Aber trotzdem hielten sie kurz an und erfüllten ihre Aufgabe, schnitten den Draht des benachbarten Frauenlagers durch, um den Frauen die Möglichkeit zu geben, wegzulaufen. Leider gelang ihnen nur wenig, wenn man nicht

507 Diese Angaben sind ungenau. Lewenthal selbst konnte nicht gesehen haben, wie sich die Ereignisse im Krematorium IV und II entwickelten.

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mitzählt, dass es ihnen gelungen war, einige Kilometer vom Lager wegzulaufen. Sie wurden dennoch von anderen Posten umzingelt, die aus den benachbarten Lagern508 per Telefon herbeigerufen wurden, und durch sie sind sie alle leider auf der Flucht umgekommen. Einige von ihnen benutzten außerdem ihr Material509, was ihnen ermöglicht510 hatte, so weit wegzulaufen. Trotzdem war die Kraft der Führung recht groß. Wie es auch planmäßig vorgesehen war, mithilfe […] er umzingelte leider alle unsere heroischen Brüder und tötete sie alle aus der Ferne mit Maschinengewehren. Insbesondere wer könnte denn die Tapferkeit und die Treue dieser einigen unserer Kameraden beurteilen, die nur drei an der Zahl blieben und zusammen mit sich selbst das Krematorium in die Luft zu sprengen und zusammen damit werden auch sie sterben müssen, ihre Chance auf Rettung wissentlich opfernd […] dass am Ende die Hoffnung durchhuscht […] womöglich, auch hier hat man ja darauf verzichtet für […] geopfert, ist es denn nicht so, dass sie ihr eigenes Leben auf den Opferaltar gelegt haben? Wissentlich vom ganzen Herzen, mit großer Selbstopferung511, weil in dem Moment niemand sie dazu nötigte. Sie hätten versuchen können, zusammen mit allen einfach zu fliehen, und doch verzichteten sie der Sache wegen. Darum, natürlich, wer ist dazu imstande, die Größe unserer Kameraden zu beurteilen, das Heldentum ihrer Tat. Ja! Ja! Unsere Besten sind dort umgekommen, ausgerechnet unser Bestes, das Wertvollste, die besten Elemente […] die Würdigsten im Leben wie auch im Tod. […] […] sie waren Kampfgenossen […] im Leben und im Tod […] Wir, die während der Ereignisse fernab standen, ohne zu wissen, was dort geschehen war, weil es anders abgesprochen war, und das, was dort in letzter Minute passierte […], nicht mehr geschafft, uns wissen zu lassen, und wir sind leider ohne unsere Nächsten geblieben, ohne unsere Allerteuersten, haben niemanden mehr zum Leben, und, was noch viel schlimmer ist, niemanden mehr zum Sterben. Von allen unseren Vertrauten ist niemand von […] geblieben. Am Leben geblieben ist der bereits erwähnte Jankel Handelsman, einer der Pfeiler der Hauptleitung der ganzen Aktion. Dank dem, dass er zusammen mit den 508 509 510 511

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Gemeint sind die nächstgelegenen Lager in Raisko, Budy, Harmense und Babitz. In diesem Fall Feuerwaffen und womöglich auch Granaten. Im Original als Germanismus. Im Original als Germanismus.

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3 Menschen war, die geblieben sind, um das Krematorium zu sprengen512, und zusammen mit denen […] spät […] das sie zu sprengen noch nicht geschafft hatten […] das Gebäude und sie […] Aber leider wieder hält er sich zusammen mit wenigen Russen auf, die sich befanden […] im Krematorium III und gefasst wurden: Sie sitzen, inhaftiert, im Bunker513, in den Händen der Politischen Abteilung, und es ist ein Leichtes, sich vorzustellen, was man dort mit ihnen macht. Hier ist nur […] ein Dajan geblieben514, ein gebildeter Mann […], mit ihm sein, aber fern vom Verständnis der ganzen Sache einfach wegen seiner Ansichten, die sich stets im Rahmen des jüdischen Gesetzes halten, und noch einer, der erwähnte Malinka Elusz, der der Anführer der Aktion im Kommando des Krematoriums sein sollte, welches er […], aber viele Dinge, die eines Nachdenkens bedürfen. Er ist zu jung mit wenig Lebenserfahrung. Dieses Ereignis, ein militärisches Ereignis […], verbunden mit militärischen Fragen. Aber nicht haben die Schuld […] nicht hinreichend gelungen, schuldig […] und seine mächtige Kraft, die er […] zum ersten Mal erlebt, dass Menschen – unter Berücksichtigung dessen, was von ihnen verlangt […] ohne Angst davor […] ungeachtet dessen, dass sie noch Chancen auf längeres Leben hatten und gerade515 unter guten Bedingungen, weil Essen, Trinken und Tabak bei uns reichlich vorhanden sind […] und trotzdem sich entschließen und dem eigenen Leben heldenhaft ein Ende setzen! Dies ist alle Hochachtung wert, in unserer Geschichte niederzuschreiben, aber seitdem, dass […] die treuen goldenen Kameraden, ihr nicht länger unter uns seid, da ihr eure Aufgabe schon erfüllt516 und alles getan habt, seid versichert, dass auch wir, die jetzt noch leben, die noch auf dem großen tristen Grab umherwandeln. von unterhalb her […] ob sicher […] verraten517, wir […] werden nicht […] uns schreckt auch nichts […] mit euch […] zusammen kämpfen […] angefangen […] angefangen […] angefangen, aber wir es […] und alle zusammen machen wir die ganze Sache. Und dieses bleibt auf ewig bei uns und all die, die unsere Lage werden einschätzen können. Es bleibt […] ihrer im Guten zu gedenken. 512 Im Original als Germanismus. 513 Im Lagergefängnis im Block 11 in Auschwitz I. Nach dem Aufstand wurden 14 Mitglieder des Sonderkommandos inhaftiert, später kamen die fünf Frauen hinzu, die das Schießpulver besorgt hatten. 514 Lejb Langfuß. 515 Im Original: „grode“ statt „grod“, vom deutschen „gerade“ stammend. 516 Im Original als Germanismus. 517 Oder „übergeben“. Näheres ist aus dem Zusammenhang nicht zu erschließen (Anm. d. Ü.).

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.‫ ה‬.‫ ב‬.‫ צ‬.‫ נ‬.‫ת‬

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[…] unsere Verbündeten in der gemeinsamen Sache […] getroffen. Wir alle dachten, es würde mehrere Tage andauern, weil […] Auschwitz aus unseren Gründen […] erfahren, ob ihr lebt […] werdet euch so lange belügen, bis ihr euch selbst hineingelockt habt. Das werden wir später verstehen. Darum kommen wir mit unserer Aktion ganz bestimmt nicht zu spät. Also denkt daran, wir warnen euch, nur eine Chance […] denkt daran, verliert nicht die letzte Chance, die hier […] Zeit sie verstanden gut, und sie machen es wie ihr […], aber nicht vorzeitig, die Zeit wird uns den Hinweis geben. […] Und wir haben angefangen, an ihren Worten irgendwie ein wenig zu zweifeln, sie hatten bereits einen Teil unseres Vertrauens verloren wegen ihrer Inkonsequenz und anderen [Nach dem Aufstand] Jetzt, noch ein paar Tage nach dem Ereignis […] wissen wir schon mit Bestimmtheit, wo wir in dieser Welt sind, wo wir uns befinden […] kommen zum Entschluss – die tapferen […] bereit sein zu […] man musste von Worten zu Praxis, zu Taten übergehen, es hat sich herausgestellt, dass sie alle519 noch lange nicht bereit sind. Noch schlimmer, dass sie gedanklich noch nicht bereit sind. Sie sind noch nicht imstande, Derartiges zu unternehmen. Vereinfacht gesagt, sie wollen noch leben. Zum Sterben, sagt er, habe ich noch Zeit. Deshalb […], im Unterschied zu unseren Jungs, […] uns die ganze Zeit vorgeworfen, dass wir schwach und feige sind. Diejenigen, die den Tod fürchten, diejenigen, die noch einen Tag leben wollen, für die eine Lebensstunde eine Rolle spielt […] aber die Realität, die Ereignisse […] gezeigt […] Ereignis für520 […] gerade wir, denen Feigheit vorgeworfen wurde, waren diejenigen […] die ganze Zeit in Erwartung […] etwas abwarten wir […] eine Chance auf etwas […], doch je breiter es war […] als wir sahen, dass wir nichts zu erwarten hatten, dass all diese Versprechen und Versicherungen, die wir diese ganze Zeit bekamen, alles leere Phrasen waren, aufgebaut auf Lüge und Heuchelei. Dann hatten wir beschlossen und gesagt: Es reicht. Keine Angst vor dem Ausgang der Schlacht […], ungeachtet dessen, dass sie noch Chancen hatten, ein wenig zu leben, vielleicht sogar noch länger, als alle anderen aus dem Lager, hatten 518 „Mögen ihre Seelen im Lebensknoten gebunden sein“ (Hebr.). Die traditionelle jüdische Inschrift auf den „Mazewas“, den Grabsteinen. 519 Gemeint sind die polnischen Verbündeten. 520 Oder „nach“. Näheres ist aus dem Zusammenhang nicht zu erschließen (Anm. d. Ü.).

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sie dennoch die Kraft, wissentlich in den Tod zu gehen. Warum […] alle anderen aus dem Lager keine Kraft hatten […] der Umgang mit uns […] normalerweise im Kontakt mit den Polen […] das ist einfach […] die Treue zur Sache ihnen zu geben! […] sie benutzten uns in allen Bereichen […] wir trieben alles auf, was sie verlangten, das heißt Gold, Geld und andere Wertsachen für harte Millionen. Und noch wichtiger ist, dass wir sie mit Geheimdokumenten belieferten, Material über alles, was mit uns passierte […]. Alles hatten wir an sie übergeben über alle Einzelheiten, die passierten, etwas, das die Welt irgendwann mal interessieren könnte. Und es ist sicherlich für alle interessant521 zu wissen, was mit uns passierte, weil ohne uns niemand erfahren wird, was passierte und wie. Und wenn jemand etwas weiß, dann ist das dank unseren Anstrengungen, dank unserer Selbstlosigkeit, dem, dass wir das Leben riskierten und womöglich noch […] einfach deshalb taten, weil wir fühlten, dass es unsere Pflicht ist. Wir tun das […], was wir tun müssen. Wir hatten nichts gefordert […] Arbeit […] aber nicht das hat sich erwiesen, dass diese Polen, unsere Verbündeten, uns belogen haben, und alles, was sie uns weggenommen hatten, benutzten sie für ihre eigenen Ziele. Selbst das Material, das wir ausgegeben hatten, wurde deren eigenem Konto zugeschrieben, und unser Name wurde völlig verschwiegen, als hätten wir damit nichts gemein. Ja! Mit unserem Geld, unserem Schmerz und unserer Arbeit, mit unserem Blut schufen sie sich Ruhm und Ehre. […], angefangen, aus dem Lager zu fliehen […] sie sind dessen würdig, dass ihnen geholfen wird, rauszukommen […] oder wer die echten Vertreter sind, wer hat irgendeine echte […] es gelingt, das aufzuschreiben? Das weiß niemand […], wir hatten genug […] sattgelitten, wir wissen […] warum das mit uns passiert, warum […] das besetzt durch eigene […] noch ein paar Tage vergingen und wir wissen […] es fehlt ihnen noch eine Kleinigkeit, die wir […] wir taten das Unsere […] es stellte sich heraus, dass ihr Interesse uns aufzuhalten nur darin bestand, dass sie […] so viel wie möglich hier rausziehen konnten, in der Annahme, dass, wenn unsere Aktion erst zu einer selbstständigen gemacht ist […] später wird es das Material geben […] weiter schmieren522 […] das Eigene einfordern, ihre eigenen persönlichen Interessen auf unsere Kosten, um den Preis unseres […] auf Kosten unseres Lebens, was wir durchgemacht hatten […] belogen wurden, und man hat uns alles weggenom-

521 Im Original: „interessante“. 522 Hier: bestechen.

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men […] und wir wurden vor die Notwendigkeit gestellt, zu sagen, dass es so nicht geht […] zu sagen […] weiter kann es so nicht gehen. Willst du dir etwas verdienen, willst du etwas besorgen, dann geh selber und riskiere, indem du selber […] besorgst, selber, nicht auf Kosten eines anderen […] sogar ihr, die Intellektuellen, ihr […] mit eurem Geschwätz, mit euren glatten Reden. Ach, […] jetzt unsere […] Enttäuschung und Schmerz zum Ausdruck bringen, die wir empfinden […] Verbündete. Gott gebe, dass einer von uns bei Lebzeiten noch einmal diese lausigen Verbündeten treffen könnte. Dafür […] würden wir ihnen dadurch […] ihr wahres Gesicht offenbaren, wir würden sie […] offenbart und vor der ganzen Welt vorgeführt […] sie hatten sich uns angenähert, uns, ihren Verbündeten, sie hatten uns alles entlockt und uns […] allein stehen gelassen. Wir haben kein […] wir hätten auf sie hören sollen […], weil […] die Entscheidung […] sie alle werden es schaffen […] Voll […] selbst und […] besser sterben […] der […] Tod […] das ist riskieren […] so redet jeder, aber die Polen […] oder kann man […] für diejenigen draußen523, doch wir […] genug uns ausnutzen lassen […] Popularität […] aus der dunklen Hölle herauskommen und deshalb mit vollem Antisemitismus zurückzahlen, den wir auf Schritt und Tritt spürten. Da sind zum Beispiel viele Dutzend Menschen524, die mit ihnen geflohen sind und nur wollte keiner einen Juden mitnehmen! […] Zeit […] mit vielen Leuten […] dumme erdachte Ausreden […] aber wir, die Juden, gehen in den Tod, von uns von […] kein einziger von uns […] benutzten es für sich. Wir werden weiterhin das Unsrige tun. Wir werden alles versuchen und alles für die Nachwelt bewahren, aber einfach in der Erde versteckt, in […], weil wir so auch jetzt immer noch müssen, bis […] die Ereignisse der Reihe nach chronologisch historisch alles vor der Welt auszusprechen. Von diesem Moment an werden wir alles in der Erde aufbewahren. Gewidmet meinen Allernächsten, zu Ehren ihres Andenkens: Jossel Warszawski, geboren in Warschau, nach Paris gezogen Salmen Gradowski, Suwalki Lejb Herszke Panicz, Lomza Ajzyk Kalniak, Lomza Deresinski, Josef, Lunna bei Grodno 523 Gemeint ist das Stammlager Auschwitz I – als Gegensatz zum Sonderkommando. 524 Gemeint sind die Flüchtigen.

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Salmen Lewenthal: „Von diesem Moment an …“

Lejb Langfuß aus Makow Mazowiecki, geboren in Warschau, jetzt noch im Krematorium Jankl Handelsman, Radom – Paris, jetzt im Bunker Der Autor dieser Zeilen Salmen Lewenthal, Ciechanów, jetzt im Kommando. Die Geschichte von Auschwitz-Birkenau als eines Arbeitslagers im Allgemeinen und als eines Ortes der Vernichtung von Millionen von Menschen im Besonderen wird, wie ich denke, der Welt nur unzureichend überliefert werden. Ein wenig durch zivile Personen525 und ich denke, dass die Welt jetzt schon von diesen Schrecken weiß. Die Übrigen, womöglich, wer von den Polen noch am Leben bleibt dank irgendeinem Zufall, oder von der Lagerelite, die die besten Placowkas einnehmen und die Verantwortlichen […] vielleicht durch sie, jedenfalls ist die Verantwortung nicht mehr so groß. Im Vergleich zum Vorgang der Vernichtung in Birkenau der Polen wie der Juden […] diejenigen, die sich bereits im Lager befanden […] sahen, wie sie alle planmäßig starben, Hunderttausende auf Befehl […] Ausführung […] von den eigenen Brüdern, Inhaftierten […] wurden bei der Arbeit von Kapos und Vorarbeitern gewarnt jetzt […] die […] leben […] […] in unserer Zeit – im zwanzigsten Jahrhundert, in dessen Mitte, mitten im Herzen des zivilisierten Europas […] und Menschen […] vor […] Befehlen […] Versklavung […] und Menschenhass aus […] wo sie die Welt hingeführt haben […] stand vor dem Abgrund und dabei muss selbst klar sein […] die Bedingungen, insbesondere unser […] vertrautes Sonderkommando! Im Zusammenhang mit unserer Arbeit, unter der wir so lange lebten und bis heute durchgehalten haben in unserer […] das dachten wir mit der Zeit […] und all das […] in dieser Zeit gelebt mit […] […] aufgeschrieben […] hundert Jahre später und […] noch besser gesagt […] sie, so ist es wohl, werden nicht glauben, wir wissen es ganz sicher […] geschehen […] mehr zur Hölle […] […] und wenn alle Himmel nur Tinte wären […] mit Blut in der Welt niedergeschrieben […] heldenhaften […] um zu erfahren […]

525 Hier vermutlich die angestellten Arbeiter von im Lagerbereich eingesetzten Firmen oder die einheimischen Polen.

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Doch wir […] und ihr werdet dementsprechend nutzen526, wenn wir begreifen und nicht […] wenn zu uns […] helfen […] dann unser […] Salmen Lewenthal 10/10. 44 10. Oktober527. Übersetzt aus dem Jiddischen ins Russische von Alina Polonskaja Übersetzt aus dem Russischen ins Deutsche von Roman Richter Anmerkungen von Pavel Polian und Alina Polonskaja

[Kommentar zur „Handschrift von Lodz“]528 […] geschrieben […] von engen Kreis des Sonderko[mmandos] des Kre­ ma[toriums] II. 15-19/8-44529 durch Salmen Lewenthal, Polen-Ciechanów. Wer hätte das jetzt geglaubt, bereits im 8. Monat – 1944. Noch muss das verdammte Spiel des unerhörten Vernichtungssystems weitergeführt werden, das hier schon leider seit 2–3 Jahren mit einer solchen Grausamkeit gegen die Juden geführt wird […] Das Ghetto von Lodz war bekannt, als wir noch zuhause waren, als das schrecklichste aller Ghettos mit seiner strengen Isoliertheit und […] natürlich mit der riesigen Not, die dort herrschte. Aber das könnten viele […] […] wie auch nicht weniger die Psychologen, die den Wunsch hätten, den seelischen Zustand von Menschen zu erforschen und zu verstehen, die bei dieser grausamen, düsteren, dreckigen Arbeit Hand angelegt hatten. Das wird interessant! Doch wer weiß, werden diese Forscher bis zur Wahrheit durchkommen, wird jemand imstande sein, gründlich […]

526 In der deutschen Fassung: „ihr werdet, dementsprechend, benutzt“. 527 Im Original ist „Oktober“ auf Polnisch geschrieben. 528 Die Übersetzung aus dem Jiddischen ins Russische erfolgte nach Mark B., 1977. S. 430–435. Außerdem wurde die deutsche Fassung berücksichtigt: Inmitten des grauenvollen Verbrechens, S. 192–197. 529 Am 15. und 16. August 1944 kamen zwei weitere Transporte in Birkenau an: Aus dem ersten Transport wurden lediglich 224 Menschen (allesamt Männer) registriert und demnach wohl auch am Leben gelassen, aus dem zweiten überlebten 400 Menschen, ebenfalls ausschließlich Männer (unter den Nummern B-6210 bis B-6453 und von B-6454 bis B-6853).

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Salmen Lewenthal: „Von diesem Moment an …“

[…] aus menschlicher Asche – an anderen Orten […] Suchen Sie gut, Sie werden viel finden. Aber hier füge ich eine kleine Anmerkung zur Geschichte des Lebens im Ghetto von Lodz. Ich habe das alles mit übermenschlichen […] gelesen […] das Gebiet von Radom530 […] was dort aus ihr wurde. Gois und Juden […] so hatte er die ganze Welt mit allen Juden Europas genommen, jetzt wird diese Aktion im namhaften Lodz531 durchgeführt […] nahmen […] eine Gruppe von Menschlein, insgesamt 200 Menschen (zweihundert), noch weniger. Eine daraus ausgesonderte Gruppe, insgesamt – 20 – Menschen (zwanzig), bezüglich dieses kleinen Haufens von Menschen werden sich nicht nur Historiker mühen […] […] einen […] Aussiedlung […] Rätsel niemand weiß, dass womöglich alle getötet werden? […] nein, geh schon, geh! Nur das nicht, warum? Weil es für mich unbequem ist, das zu glauben. Noch ein paar Monate […] […] noch […] suchen. Enthält noch viel Material, welches euch, große Welt, viel Nutzen an diesem selben Ort bringen wird und auch am Ort der benachbarten Fabrik, die gegenüber quer über die Straße steht. Sucht dort in den Gruben. […] Alle sehen, wie erschossen werden […] andere und schon kommt er an die Reihe, es scheint, als bekäme er gleich eine Kugel und stürbe. Und niemand widersetzt sich, warum? Das Ghetto von Lodz kann nicht leben […] alles entscheidet. So ist das Leben. […] Erschießungen? Warum lassen unsere Brüder es zu, dass sie so ruhig auf die Schlachtbank geführt werden, ohne den geringsten Widerstand? Eine Ausnahme macht ein Einzelfall aus, der zu Ehren […] erwähnt werden sollte, gesegnet sei deren Andenken in Warschau! Schon beim zweiten Mal, als nicht erlaubt worden war […] aussiedeln, genauer gesagt, ermorden […]. Es ist besser, im Kampf durch Kugeln und Granaten umzukommen und wieder und wieder Warschau, das seit der Zeit der ganzen Vernichtungsaktion von Milli530 Das jüdische Ghetto von Radom wurde im April 1941 eingerichtet. Dessen Liquidierung erfolgte im August 1942 und wurde im Juli 1944 liquidiert. Der zentrale Vernichtungsort für die Juden aus dem Ghetto von Radom war Treblinka; einige Transporte gelangten aber auch nach Auschwitz. 531 Die Liquidierung des Ghettos von Lodz – des letzten auf polnischem Gebiet – fand vom 23. Juni bis 31. August 1944 statt. Die letzten zwei Transporte aus Litzmannstadt kamen am 2. September 1944 in Birkenau an. Bis dahin wurden seit Anfang August 1944 etwa 67.000 Menschen aus dem Ghetto und Polizeigefängnis von Litzmannstadt in Auschwitz eingeliefert. Die Gesamtanzahl der Opfer der Liquidierung von Juni bis August betrug circa 75.000 Menschen.

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onen von Juden, Warschau hatte sich einmal heroisch gezeigt532, ohne es zuzulassen […] massakrieren […] […] aus dem kleinen Örtchen […] alles Weitere überlasse ich den Forschern und Geschichtsschreibern. Wir unsererseits bewahren jedes interessante und nötige Wort […] […] wir sind jetzt in deutschen Händen […] […] unbewaffneter, mutloser Jude […] wofür? Dieselben schwarzen Pfoten, die diese jüdischen […] Frauen und Kinder tötet533, dieselbe Pfote führt sie selbst ins Verderben […] Jetzt! Seit drei Wochen schon steht der Rote534 an der Pforte zu Warschau – einige Tage schon, dass er vor der Pforte von Paris steht, er535 aber hält die schwarze düstere Macht immer noch bei Kräften536 und setzt ihr537 teuflisches Spiel weiter fort: erschießt, hängt, vergast, verbrennt, schlägt alles, was vernichtet werden kann – wer hätte geglaubt, dass er jetzt noch ausreichend Zeit haben w[ü]rde, um den Rest der Juden zu vernichten, die noch irgendwo geblieben sind. Kleine Häuflein, dank ihrer schweren nützlichen Arbeit, die sich bis zu ­diesem Moment in unterschiedlichen kleinen Lagern um […] den großen brennenden Kalkofen538 herum befanden, den man hier Auschwitz-Birkenau nennt […] […] es ist jetzt Ende des Sommers 44, dem jüdischen Kalender nach ist es bereits der Monat Elul539, die Tatsache, dass er 540 existierte, über die inneren Bedingungen des dortigen Lebens, werdet ihr hier, im gesammelten Material, ein klares Bild von allem haben, angefangen beim wirtschaftlichen, geistigen und somit physischen Gesundheitszustand. Wie ihr hier seht, hat ein bestimmter Mensch versucht mit Geschichtsinteresse Bilder, Fakten, Berichte, einfach 532 Gemeint ist der bewaffnete Aufstand im Warschauer Ghetto, der am 19. April 1943 (an Pessach) begonnen hatte und erst am 16. Mai 1943 niedergeschlagen wurde. 533 So im Text: Singular. 534 Gemeint ist die Rote Armee wie die UdSSR im Allgemeinen. 535 Der Deutsche, Hitler, die Deutschen im Allgemeinen. 536 So im Text. 537 So im Text. 538 So im Text. 539 Der 12. Monat des jüdischen Kalenders. Entspricht einem Zeitraum zwischen zweiter Augusthälfte und den ersten Septemberwochen. 540 So im Text. Richtig wäre: es, das Ghetto. Eine Inkongruenz zwischen dem Substantiv „Stadt“ [Lodz] (auch im Jiddischen ein Femininum) und „Ghetto“ [von Lodz]. Die zahlreichen Inkongruenzen und Logiklücken bei Lewenthal bezeugen die Eile und emotionale Aufregung, in denen er seinen Text schrieb.

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Salmen Lewenthal: „Von diesem Moment an …“

nur Meldungen gesammelt, was den zukünftigen Historiker sicherlich interessieren und ihm nützen wird. Aber wir sind ein kleines Häufchen elender Gestalten, wegen derer die Historiker werden nicht weniger arbeiten müssen als an dem Schrecklichen, das die Historie kann […] jede Tatsache der Menschenwürde – der Frage: warum? und fingen ein Getöse an und stürzten sich auf die SS-Leute. Und einer jüdischen jungen Frau541 gelang es, dem Oberscharführer einen Revolver zu entreißen und damit einige Menschen zu erschießen. […] die allerschrecklichsten Menschen der Lagerepoche! […] gesegnet sei ihr Andenken. Außerdem geschieht das alles mit starker […] es kommen Menschen, aber im Wissen, wohin sie geführt werden, sie kommen ins Krematorium. […] Wieder dasselbe Spiel und wieder wissen sie nicht, wohin. So wird man alles in der Welt glauben, aber das wird niemand glauben bei […] wir hören das aus der ganzen Welt. Du willst die Wahrheit nicht glauben und ihr werdet dann die wahre Tatsache nicht glauben, ihr werdet dann wahrscheinlich unterschiedliche Ausreden suchen […] die Wahrheit werden sie verstehen das Unglück dieses Elends […] […] es wäre schon gänzlich naiv, wird […], wenn es jemandem gelingt, mehr Hefte zu finden, das, was geschrieben wurde in den Mauern des schwarzen Gebäudes542. Derweil, als der543 bei seinem Präses544 nach der Antwort auf die Ursache seines Leids suchte, damals schon konnten wir ihm die beste Antwort hinsichtlich der Ereignisse geben. Derweil ist auch die Psychologie des Menschen von Interesse, der unter keinen Umständen sich einen schlechten Gedanken darüber erlaubt, was er klar vor sich sieht. Er spricht, berichtet darüber, was mit dem Juden geschehen ist. So berichten wir uns dieselben […] jetzt haben sie im Dienst […] und was werden die Menschen denken. Ich möchte sagen, dass sie bis zur Wahrheit ganz bestimmt nicht durchdringen werden, weil niemand in der Lage ist, sich das vorzustellen. Ebenso wie kein einziger Mensch sich diese Ereignisse vorstellen kann. Weil das unfassbar ist – unsere Empfindungen genau zu kennen fähig zu sein […] das alles […] wiederzugeben, wird es noch einen aus […] aus unserem engen Kreis. Wenn jemand von uns zufällig überlebt, woran wir nicht zu 1 Prozent glauben. So auch ich, nachdem ich ein Paket aufgeschriebenen Materials gefunden hatte, 541 542 543 544

Gemeint ist die Tötung von Rapportführer Schillinger. Innerhalb des Krematoriums. Offensichtlich der Autor des Manuskripts aus Lodz. Vorsitzender des Judenrats von Lodz, Chaim Rumkowski.

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halte ich es für meine Pflicht, es zu bewahren […], damit seine Arbeit nicht verloren geht und damit die Welt […] die Zukunft […] Jetzt kann ich es mir nicht erlauben, das zu beschreiben, was ich aus unterschiedlichen Gründen wollte – hauptsächlich aus dem Grund, dass wir leider bereits unter Observation545 gestellt wurden. Aber ich kann das nicht bewahren, ohne dass ich diese paar Wörter über den großen Fehler hinzufüge, den wir alle gemacht hatten, indem wir uns selbst damit beruhigten, dass er546 Menschen zum Arbeiten haben muss. In Wirklichkeit braucht er sie. Aber die Tatsache der Judenvernichtung steht bei ihm […] an erster Stelle, über allem […] […] das gibt den nachfolgenden Forschern, Historikern und noch mehr den Psychologen ein klares Bild und befördert die Geschichte der Ereignisse und des Leids ans Licht, weil […] der echte Spiegel des polnischen Lebens im Ghetto ist unbedingt Lodz – und nicht Warschau. Das zweite […] – weil von der ersten Aussiedlung bis zur zweiten lebte das Warschauer Judentum unter ungewöhnlichen Bedingungen des Ghettos, die so viel ermöglichten. […] sich zum Kampf erhoben für […] […] wenn du lebendige Menschen aus dem Ghetto kennenlernst […], dann bekommst du eine klare Antwort auf alles, eine Erzählung über die Wahrheit, weil das alles noch nicht die ganze Wahrheit ist. Die ganze Wahrheit ist noch viel tragischer und schrecklicher. Im Heft […] ausgegraben, es sollte gesucht werden […] zufällig wurde das547 an einigen Stellen vergraben. Sucht weiter! Ihr […] werdet noch finden. Übersetzt aus dem Jiddischen ins Russische von Alina Polonskaja Übersetzt aus dem Russischen ins Deutsche von Roman Richter Anmerkungen von Pavel Polian und Alina Polonskaja

545 Hier stehen zwei polnische, in hebräischen Schriftzeichen geschriebene Wörter: „pod obcerwacją“ (unter Observation). 546 Der Deutsche, Hitler, Deutschland im Allgemeinen. 547 Die Dokumente, die Aufzeichnungen.

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Herman Strasfogel: „An meine liebste Frau und Tochter“ „Die Hölle von Dante ist unwahrscheinlich lächerlich im Vergleich zur echten Hölle hier“ Als eines der ersten Manuskripte, die uns erreicht haben, wurde Mitte Februar 1945 dieser Brief entdeckt. Andrzej Zaorski hieß der Finder, damals ein 22-jähriger Medizinstudent aus Warschau, Mitglied des Freiwilligenkorps des Polnischen Roten Kreuzes in Krakau548. Dieses Korps war nach Oświęcim gekommen, um beim Aufbau eines Feldlazaretts für die ehemaligen Häftlinge des Todeslagers mitzuhelfen549. Nach mehreren Tagen mühsamer Arbeit im Stammlager unternahm Zaorski gemeinsam mit einigen Kollegen einen „Ausflug“ nach Birkenau. Plötzlich bemerkte er in einem Aschehaufen hinter dem Krematorium III eine Glasflasche, in deren Innerem Papierblätter zu sehen waren. Bei Öffnung der Flasche fand er einen Stoß karierter Blätter vor, die in der Mitte gefaltet waren, als handelte es sich um einen Brief. Auf dem obersten der Blätter war das Schreiben in einem kurzen Einleitungstext an das französische Konsulat und an das Internationale Rote Kreuz in französischer und russischer Sprache adressiert. (Ist es nicht erstaunlich, dass ausgerechnet ein Mitarbeiter dieser Einrichtung die Flaschenpost entdeckte?) Unterschrieben war der Brief mit dem Namen Herman. Die übrigen Blätter waren in enger Schrift in französischer Sprache beschrieben. Es war der Abschiedsbrief eines Mannes an seine Gattin, in dem

548 Zu dieser Zeit war in Oświęcim ein mobiles Feldhospital stationiert (siehe das Kapitel zur Entdeckungs-, Rekonstruktions- und Übersetzungsgeschichte der Manuskripte, S. 145). 549 Vgl. die Bescheinigung, die Zaorski am 21. Februar 1945 darüber ausgestellt wurde, dass er vom 6. bis 20. Februar freiwillig bei der Kompanie 14884 tätig gewesen (Kompaniechef: Major Wejnikow) und nach Abschluss seiner Tätigkeit nach Krakau weitergefahren sei (APMA-B. Bd. XXIV. Foto­ kopie der Bescheinigung, Mikrofilm-Nr. 1358/114).

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Die Chronisten und ihre Texte

er das tragische Schicksal und die Empfindungen eines Menschen beschrieb, über den das Unglück hereingebrochen war, in dem schrecklichen im Krematorium eingesetzten Sonderkommando arbeiten zu müssen. Der Mann war sich darüber im Klaren, bald sterben zu müssen – so wie viele seiner Kameraden bereits gestorben waren. Also gab er seiner Frau letzte Anweisungen. Er bat sie unter anderem darum, so schnell wie möglich wieder zu heiraten und unter keinen Umständen nach Polen zurückzukehren550. Zaorski bewahrte den Brief sorgfältig auf und lieferte ihn im März 1945 bei der französischen Mission in Warschau ab. Am 10. Februar 1948 übergab Frankreichs Minister für die Angelegenheiten ehemaliger Kombattanten und Kriegsopfer dem Vorsitzenden des Verbands ehemaliger Auschwitz-Häftlinge in Frankreich eine maschinengeschriebene Kopie dieses Schriftstücks551. 1967 erhielt das Staatliche Museum Auschwitz-Birkenau in Oświęcim eine Foto­ kopie dieser Abschrift samt einem Begleitschreiben des besagten Ministeriums aus dem Jahre 1948552. In den folgenden Jahren wurde versucht, die Identität des Verfassers zu ermitteln. Historiker des Auschwitz-Museums kamen zwischen 1967 und 1971 auf Grundlage der Deportationsliste des 49. Transports aus Drancy zu der Schlussfolgerung, dass es sich um Chaim Herman handeln müsse. 50 Jahre später konnte im Jahre 2018 die wahre Identität des Verfassers nachgewiesen werden: Es handelt sich um den 1895 in Warschau geborenen polnischen Juden Hersz Strasfogel, der in Paris den naturalisierten Vornamen Herman führte, mit dem er seinen Brief unterzeichnet hatte.553 Strasfogels Name wird auch von den griechischen Sonderkommando-Überlebenden Marcel Nadjari und Leon Cohen in deren Erinnerungen genannt.554 Das Französische, in dem der Brief verfasst wurde, ist nicht sonderlich gut, was für einen Einwanderer der ersten Generation völlig normal ist555. Dass der Verfasser und Unterzeichner „Herman“ seiner Frau nicht auf Jiddisch schrieb, ist indes auffällig. Offenkundig nahm der Autor an, der Brief hätte so höhere Chancen, 550 APMA-B. Oświadczenia. Bd. 70. Bl. 212 f. (ein Bericht Dr. Zaorskis, März 1971). 551 APMA-B. Bd. XXIV, Bl. 91, D-RO/147. Fotokopie des Briefs. S. 91. Die Akte enthält auch eine Übersetzung des Briefes ins Polnische. 552 APMA-B. D-RO/147. Sammlung von Dokumenten der Widerstandsbewegung. Bd. XXIV, Bl. 91. 553 Kilian, Abschiedsbrief aus dem Krematorium. 2018b; Telefongespräch Andreas Kilians mit der Enkeltochter Hersz Herman Strasfogels, Beatrice Muntlak, am 4.9.2018. 554 Natzari, 2018. S. 77; Cohen, 2017. S. 124. 555 Das Original bzw. dessen maschinengeschriebene Kopie enthielt praktisch nur wenige Kommata. Mitunter verschluckt der Autor, wie die Übersetzerin bemerkt, die Wörter, weshalb der Text stellenweise holprig wirkt. Diese Holprigkeit versuchte die Übersetzerin nach Möglichkeit zu erhalten.

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Herman Strasfogel: „An meine liebste Frau und Tochter“

seine Adressatinnen in Frankreich zu erreichen. Die Empfängerinnen, Ehefrau und Tochter, wohnten während des Krieges in Paris im Versteck und kehrten nach Kriegsende wieder in ihre alte Wohnung zurück556. Am 2. März 1943 wurde Herman aus Drancy nach Auschwitz deportiert, wo er zwei Tage später, am 4. März 1943, ankam. Er wurde dem Sonderkommando zugeteilt. Schon beim Entladen fanden sich Tote und geistig Verwirrte unter den 1.132 Menschen des 49. Transports aus Drancy. Rund 100 Männer wurden für Zwangsarbeiten ausselektiert, andere wurden in den Tod geschickt. Mit demselben Transport wurde auch der im Brief erwähnte Pelzhändler David Lahana aus Toulouse557 ins Todeslager eingeliefert  – ebenso wie die nicht erwähnten Deportierten Jakob (Jankiel) Handelsman und Josef (Josele) Dorembus alias Josef Warszawski558, die nach der Ankunft ebenfalls ins Sonderkommando gerieten. Zum Zeitpunkt der Entstehung des Briefs – da hatte Herman bereits knapp 21 Monate in Auschwitz verbracht  – waren Herman zufolge von den 100 Mann nur noch zwei am Leben. Auf der maschinengeschriebenen Kopie, die uns als erste Übersetzungsvorlage diente, sowie im Original ist der Brief deutlich erkennbar auf den 6.  November 1944 datiert. Es ist durchaus denkbar, dass Herman den Brief nicht an einem Tag beendete, sondern zu einem späteren Zeitpunkt ergänzte und abschloss, wie dies auch im Fall des zweiten erhaltenen Briefs aus dem Sonderkommando von Marcel Nadjari der Fall war559. Herman verfasste ­seinen Brief einige Tage vor seinem Tod, weil am 26. November die letzte Selektion im Sonderkommando vorgenommen wurde, die auch für Lejb Langfuß das Ende bedeutete, dessen letzte Aufzeichnungen am selben Tag datiert wurden. Dies würde auch erklären, warum der Brief in einer einfachen Flasche verschlossen war: Etwas anderes, das zeit- und feuchtigkeitsbeständiger gewesen wäre, hatte der Autor in diesem Zeitraum offensichtlich einfach nicht zur Hand. Angesichts dessen, dass die Flasche dann etwa zwölf Wochen in der schneebedeckten Erde lag, war die darin enthaltene Post in einem gar nicht so schlechten Zustand.

556 Telefongespräch Andreas Kilians mit der Enkeltochter Hersz Herman Strasfogels, B. Muntlak., am 8.10.2018. 557 Am 24. Februar 1944 wurde Lahana zusammen mit 200 weiteren Mitgliedern des Sonderkommandos ins Konzentrationslager Majdanek (Lublin) verschickt und dort ermordet. Diese Selektion beschreibt Gradowski als eine Tragödie in seinem Kapitel „Der Abschied“. 558 Beide erwähnt auch Salmen Lewenthal in seinem Manuskript. 559 Kilian, 2017a. S. 28.

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Die Chronisten und ihre Texte

Hermans Brief gibt stellenweise Rätsel auf. Das Schreiben ist nämlich kein einfacher Brief, sondern gleichsam eine Antwort auf eine andere Zuschrift, die er Anfang Juli von seiner Frau und Tochter aus Paris erhalten hatte. Ist es denn möglich, dass Juden – Häftlinge des Todeslagers und dazu noch Mitglieder des Sonderkommandos – mit ihren jüdischen Angehörigen Briefkontakt halten konnten? Aktuelle Forschungsergebnisse bestätigen dies auch im Fall Strasfogel. Jeder registrierte Häftling eines deutschen KZs war berechtigt, zwei Mal im Monat Briefe von seinen Verwandten zu bekommen und an sie zu schreiben, Juden freilich grundsätzlich nicht. Zulässig waren ausschließlich Briefe in deutscher Sprache, die überdies möglichst aus Standardfloskeln zu bestehen hatten: Die Post wurde zensiert. Im Rahmen von „Briefaktionen“ wurden auch jüdische Häftlinge dazu aufgefordert, Briefe an Familienangehörige in der Heimat zu schicken, ausgenommen griechische und polnische Juden.560 Zu den wenigen nichtpolnischen Juden im Sonderkommando gehörten im Jahre 1943 vor allem französische und einige wenige holländische, slowakische und tschechische Häftlinge. Miklós Nyiszli berichtete gar, den Häftlingen seien im Juni/Juli 1944 Postkarten geradezu aufgezwungen worden, die mit der Absenderadresse „Am Waldsee“ statt „Auschwitz-Birkenau“561 versehen waren. Kam der Briefkontakt der Familie Herman womöglich auf diesem Wege zustande? Interessant ist, dass Herman seine Höllenarbeit im Sonderkommando mit der Tätigkeit in der Chewra Kadischa vergleicht, einer jüdischen Gesellschaft, die sich vorrangig um Kranke und Sterbende, um Begräbnisse und um die Ordnung auf den Friedhöfen kümmert. Dieser Vergleich an sich kommt fast schon einer Blasphemie gleich, denn gemäß jüdischem Brauch dürfen Leichen nicht verbrannt, sondern müssen in der Erde bestattet werden – umgekehrt verhält es sich mit der Dienstanweisung des RSHA, wonach ja nur die Einäscherung die rechte Bestattungsart jüdischer Leichen sein konnte. An der Schwelle zum Tod wirft Herman sich selbst vor, für seine Familie nicht ausreichend gesorgt zu haben. Er äußert die Hoffnung, seine Liebsten würden nach dem Krieg, wenn das Leben wieder in Ordnung komme, irgend560 Kassiber von Stanisław Klodzinski vom 14.7.1943, Dok. 80, in: Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945. Bd. 16. Das KZ Au­schwitz 1942–1945 und die Zeit der Todesmärsche 1944/1945. Bearb. v. A. Rudorff. Berlin 2018. S. 279. Kilian, Farewell Letter from the Crematorium, in: Chare/ Williams. Testimonies of Resistance: Representations of the Auschwitz-Birkenau Sonderkommando. New York – Oxford 2019. S. 92. 561 Nyiszli, 2005. S. 81.

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Herman Strasfogel: „An meine liebste Frau und Tochter“

wie für sich selbst sorgen können. Seine Tochter und seine Gattin fordert er nachdrücklich auf, schnellstmöglich zu heiraten, vor allem aber soll sich die Tochter damit beeilen: Es soll ihr wohl erspart bleiben, mit einem Stiefvater leben zu müssen. Dieser für das Judentum übliche nüchterne Ernst und Familiensinn, die Konzentration auf die Fragen des Alltags – dazu noch auf dem Schafott! – verblüffen einfach. Das jahrzehntelang verschollene Original des Briefs konnte schließlich im Nachlass der Tochter gefunden werden. Wie und wann es in den Besitz der Familie kam, konnten die Enkel nicht mehr rekonstruieren562. Durch einen Abgleich der bisher bekannten Transkription mit dem Original konnte Andreas Kilian für diese Edition erstmals den überlieferten Brieftext überprüfen und die Übersetzung mit fehlenden Textstellen ergänzen sowie Fehler in der Überlieferung korrigieren. Im Brief werden viele Menschen namentlich genannt, über die wir bislang nichts wissen. Die Forschungserfolge der letzten Monate geben jedoch Anlass zu der Hoffnung, dass noch weitere Forschungsergebnisse erbracht werden können, die Hintergrundinformationen zum Briefinhalt liefern werden.

Herman Strasfogel: Text [Ein Brief aus der Hölle nach Hause] Gebet eines Sterbenden, diesen Brief an das Konsulat von Frankreich oder an das internationale Rote Kreuz zu übermitteln, um ihn an die angegebene Adresse weiterzuleiten. Danke.563

562 Kilian, Abschiedsbrief aus dem Krematorium. 2018. S. 21; Telefongespräch Andreas Kilians mit der Enkeltochter Hersz Herman Strasfogels, B. Muntlak, am 8.10.2018. Einer Aktennotiz zufolge wurde das Schreiben offenbar bereits im März 1948 an Strasfogels Tochter übergeben. Kilian, 2019. S. 96. 563 Diese Worte wurden auf einem separaten Deckblatt zuerst auf Französisch geschrieben und darunter in russischer Sprache wiederholt. Die Rückseite des Blatts ist unbeschriftet. Der Finder Andrzej Zaorski beschrieb das Blatt als improvisierten Umschlag. APMA-B. Oświadczenia. Bd. 70. Bl. 212.

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Die Chronisten und ihre Texte

 An meine liebste Frau und Tochter,

Birkenau, 6 XI 1944

Anfang Juli dieses Jahres habe ich mich sehr gefreut, als ich euren Brief (ohne Datum) bekommen habe, das war wie Balsam an diesen beschwerlichen Tagen hier, natürlich lese ich ihn immer und immer wieder, und ich werde ihn bis zu meinem letzten Atemzug nicht aus den Händen geben. Ich hatte seither keine Möglichkeit, euch zu antworten, und wenn ich euch heute schreibe, mit großem Risiko und unter großer Gefahr, dann nur dafür, um euch zu erklären, dass das mein letzter Brief ist, dass unsere Tage gezählt sind, und wenn ihr diese Botschaft irgendwann einmal bekommt, dann müsst ihr mich zu den Abermillionen unserer Brüder und Schwestern zählen, die diese Welt verlassen haben. In diesem Fall muss ich euch versichern, dass ich in Ruhe fortgehe, womöglich heldenhaft (das wird von den Umständen abhängen), und ich bedauere nur, dass ich euch nicht mal für einen Augenblick werde sehen können, dennoch wünsche ich mir, euch einige Anweisungen zu geben. Ich weiß, dass ich in materieller Hinsicht nicht viel hinterlassen habe, um eure Existenz abzusichern, doch nach dem Krieg wird allein das Leben mit vernünftigem Willen zählen und mit seinen eigenen zehn Fingern wird jeder gut leben können, versucht mit einem Stricker564 ins Geschäft zu kommen, um nur auf seine Rechnung zu arbeiten. Ich hoffe, dass nichts von dem verloren ist, was ihr euren Freunden anvertraut hattet, im Falle irgendwelcher Schwierigkeiten wendet euch an den Präsidenten unserer Gesellschaft für gegenseitige Hilfe565, der sich in das Geschäft einbringen wird, um eure Rechte wiederherzustellen. Ich vergesse meinen ­großen Freund Herrn Riss nicht, an den ich häufig denke, der sich um euch kümmert. Ich bringe meiner teuersten und unvergesslichen Simone meine unbedingte Forderung zum Ausdruck, dass sie ein gesellschaftliches und politisches Leben führe, wie ihr Vater. Ich will, dass sie heiratet, so früh wie möglich, einen Juden unter der Bedingung, dass sie viele Kinder haben werden. Da das Schicksal mir einen Nachkommen mit meinem Nachnamen versagt hat, obliegt es ihr, Simone, meinen Namen weiterzugeben566, wie auch jedes anderen aus unserer Familie in Warschau, die allesamt verschwunden sind.

564 Hier: Berufsbezeichnung (Anm. d. Ü.). 565 Offensichtlich eine Hilfseinrichtung. 566 Es ist jüdischer Brauch, ein Kind nach einem verstorbenen Verwandten zu benennen.

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Herman Strasfogel: „An meine liebste Frau und Tochter“

Dich, meine liebe Frau, bitte ich um Verzeihung, falls wir im Leben dann und wann kleine Unstimmigkeiten hatten. Jetzt verstehe ich, dass wir die vergangene Zeit nicht zu schätzen gewusst hatten; hier dachte ich ständig, dass, wenn ich auf wundersame Weise hier rauskäme, ich ein anderes Leben führen würde … meine Güte! Es ist ausgeschlossen, niemand kommt hier raus, es ist aus und vorbei. Ich weiß, du bist noch jung, du musst wieder heiraten, ich gewähre dir freie Hand, ich gebiete es dir sogar, weil ich euch nicht in Trauer sehen will. Aber ich will auch nicht, dass Simone einen Stiefvater hat, also ­versuche, sie so schnell wie möglich zu verheiraten, damit sie auf die Hochschulbildung verzichtet, wonach du frei sein wirst. Und denke nicht mal daran, jemals nach Polen zurückzukehren, diese für uns verfluchte Erde. Es ist die Erde von Frankreich, die man schätzen und wo man sterben soll (wenn die Umstände euch an einen anderen Ort führen, dann zumindest keinesfalls nach Polen). Es interessiert euch sicherlich meine Situation. Sie ist so: kurz, denn wenn ich über alles schreiben müsste, was ich durchgemacht habe, seitdem ich euch verlassen hatte, müsste ich mein ganzes Leben lang schreiben, so viel habe ich durchgemacht. Unser Transport, der 1.132 Menschen umfasste, hatte Drancy am 2. März bei Tagesanbruch verlassen, und wir kamen am 4. März in der Dämmerung hier an, in einem Viehwaggon ohne Wasser. Als wir ausstiegen, gab es schon viele Tote und Wahnsinnige. 100 Menschen wurden ausgewählt, um in das Lager zu gehen (unter ihnen war auch ich), die anderen aber gingen erst ins Gas und dann in die Öfen. Am Tag darauf, nach einem kalten Bad und ohne alles, was wir bei uns hatten (außer dem Gürtel, den ich immer noch am Körper trage), selbst mit geschorenem Kopf, von Schnurrbärten und Spitzbärten ganz zu schweigen, wurden wir wie zufällig dem berühmten „Sonder-Kommando“567 zugewiesen. Dort wurde uns erklärt, dass wir als Verstärkung gekommen seien, um als „Leichenbestatter“ oder als „Chewra Kadischa“ zu arbeiten. Seitdem sind zwanzig Monate vergangen, mir kommt es wie ein Jahrhundert vor, es ist für mich praktisch unmöglich, euch alle Prüfungen zu beschreiben, die ich hier erlebt habe: Wenn ihr lebt, werdet ihr viele Werke über dieses „Sonder-Kommando“ lesen. Aber ich bitte euch, niemals streng über mich zu urteilen, und wenn es unter uns Gute und

567 So im Text: mit Bindestrich und in Anführungszeichen; an späterer Stelle auch einmal ohne Bindestrich, aber stets getrennt geschrieben.

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Die Chronisten und ihre Texte

Schlechte gab, so gehörte ich sicherlich nicht zu den Letzteren. In dieser Zeit tat ich alles, was in meiner Macht stand, ohne Risiko und Gefahr zu scheuen, um das Los der Unglücklichen zu erleichtern oder politisch das, wovon ich euch schicksalhaft nicht schreiben kann568, so sollt ihr wissen, dass mein Gewissen rein ist und ich am Vorabend meines Todes stolz darauf sein kann. Anfangs litt ich sehr viel, allein schon wegen des Hungers, manchmal dachte ich an ein Stück Brot oder mehr noch an einen Schluck heißen Kaffee. Viele meiner Genossen fielen entweder durch Krankheiten oder sie wurden einfach jede Woche erschossen, es wurden immer weniger, momentan sind wir nur 2 (zwei) von unseren hundert geblieben. Es ist wahr, dass viele einen mehr oder weniger ehrenvollen Tod fanden, und dass wenn ich auch nicht unter ihnen war, dann nicht wegen Feigheit, nein, sondern durch reinen Zufall. Auf alle Fälle werde auch ich im Laufe dieser Woche wahrscheinlich an die Reihe kommen. Mein körperliches Leid endete gegen Ende September 43. Seitdem ich meinem Chef beibringe, Belote zu spielen569, weil ich mit ihm spiele, bin ich von schweren und mühsamen Arbeiten befreit worden. In dieser Zeit bin ich einfach skelettartig abgemagert, meine Hände erkannten meinen Körper nicht, als sie ihn berührten, doch seitdem bessere ich mich570, da wir alles haben, und besonders seit Mai 44, wir haben alles im Überfluss (außer der unschätzbaren Freiheit). Ich bin sehr gut gekleidet, die Unterkunft und die Verpflegung sind gut, ich bin bei bester Gesundheit, ohne Bauch natürlich, recht schlank und sportlich, ohne meinen weißen Kopf schätzt man mich auf 30 Jahre. Die angenehmste Zeit während dieser zwanzig Monate hier war für mich immer die Zeit in meinem Bett, in das ich mich mit dem Gedanken hinlegte, dass ich bei euch wäre, mit euch redete, und ich sah euch oft in meinen Träumen. Manchmal weinte ich sogar mit euch zusammen, besonders am Abend des ersten Kippur oder beim Kol Nidre571, das wir bei uns improvisierten. Ich weinte viel, als ich mir vorstellte, dass ihr auch dasselbe tut, irgendwo in einer geheimen Ecke, an mich denkend. Ich sah immer, wie Simone sich am 17. Februar in Begleitung von Herrn Vanhems entfernt, während ich ihnen aus dem Fenster hinterherschaue. Und

568 Das Los der Häftlinge ist dermaßen schwer, dass der Autor sich nicht dazu durchringen kann, ­seinen Angehörigen davon zu berichten. 569 Ein Kartenspiel für zwei Gruppen à zwei Personen. Gespielt wird mit 32 Karten. 570 So im Text: sich bessern. 571 Dieses Gebet enthält Erwähnungen Verstorbener. Es wird am Abend des Jom Kippur gelesen.

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Herman Strasfogel: „An meine liebste Frau und Tochter“

nicht selten sprach ich Simones Namen laut aus, während ich in der großen Halle des (leeren) Krematoriums572 umherging, als würde ich sie rufen, und ich hörte, wie meine Stimme diesen unschätzbaren Namen erhallen ließ, den auszusprechen mir unglücklicherweise nicht mehr vergönnt sein wird: Das ist doch die allergrößte Strafe, die unser Feind uns auferlegen konnte. Seitdem ich mich hier befinde, glaube ich nicht an die Möglichkeit der Rückkehr, ich wusste, wie wir alle, dass jede Verbindung zur anderen Welt unterbrochen ist, dass hier eine andere Welt ist. Wenn ihr so wollt, ist das eine Hölle, doch ist die Hölle von Dante unwahrscheinlich lächerlich im Vergleich zur echten Hölle hier, und wir sind Augenzeugen, die nicht überleben dürfen. Bei alledem bewahre ich mir dann und wann einen Funken Hoffnung, vielleicht, durch irgendein Wunder, [werde] ich, der schon so viele Male Glück hatte, einer der Ältesten hier, der so viele Hindernisse überwunden hat, einer der zwei, die von hundert geblieben sind, vielleicht passiert dieses letzte ­Wunder? Aber dann komme ich an, bevor dieser vergrabene Brief gefunden werden wird. Ihr sollt auch wissen, dass diejenigen, die aus Drancy hertransportiert wurden, alle tot sind: Michel, Henry, Adele mit den Kindern und alle unsere Freunde und Bekannten, an deren Namen ich mich nicht erinnere. Ich war glücklich hier, mitten in meinem Leid, weil ich daran glaubte, dass ihr am Leben seid, und seitdem ich einen persönlichen Brief von euch erhalten habe, mit der Handschrift von euch beiden – ein Brief, den ich recht häufig küsse. Seit dieser Zeit bin ich absolut zufrieden, ich werde ruhig sterben, in dem Wissen, dass wenigstens ihr gerettet seid. Die meisten meiner Kameraden waren mit ganzen Familien hierhingekommen, am Leben geblieben sind aber nur die Polen (momentan) und wir sind hier aus unterschiedlichen Nationen oder Ländern. Unter den Polen gibt es einen Figlarz, er ist der Cousin des Vaters unseres Figlarz (übrigens, was ist aus ihm geworden?), auch Personen, die Michel und Eva im Ghetto gekannt haben et. c. Ich möchte euch um einen Gefallen bitten. Ich lebte hier ein gemeinsames Leben mit einem Kameraden aus meinem Transport, einem französischen Juden, Pelzhersteller und -händler aus Toulouse namens David Lahana. Wir hatten verabredet, dass wir über uns der Familie des jeweils anderen erzählen, falls einer von uns ums Leben kommt. Und da er durch bedauerliches Unglück vor mir gegangen ist, muss ich seine Familie durch euch wissen lassen, dass

572 Gemeint ist höchstwahrscheinlich der Entkleidungsraum im Krematorium II.

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Die Chronisten und ihre Texte

seine Ehefrau, Frau Lahana, drei Wochen nach unserer Ankunft verstarb (sie war lebend im Lager angekommen, zusammen mit dreißig Französinnen, die alle bereits tot sind), er selbst fuhr mit einem Transport, aus zweihundert Personen bestehend, weg, alle aus dem „Sonder Kommando“, am 24. Februar 1944 nach Lublin, wo sie wenige Tage darauf vernichtet wurden573. David war ein Engel, ein unvergleichlicher Kamerad, sagt seiner Familie, dass er die ganze Zeit mit beispielloser väterlicher Liebe an seine beiden Söhne dachte, in der Annahme natürlich, dass sie sich haben nach Spanien retten können, ebenso an seine Mutter wie auch an seine Schwestern und Schwäger. Er wiederholte immerfort, wenn er trauerte: „Lieber Gott, lieber Gott, warum muss ich so viel leiden, erbarme dich, erbarme dich …“, und ich tröstete ihn, er konnte weder Deutsch, noch Polnisch, noch Jiddisch und geriet deshalb ständig in missliche Lage, aus der ich ihn befreite, aber vor dem Transport konnte ich ihn nicht retten, Gott ist mein Zeuge. Schreibt doch bitte einen Brief an die Adresse dieser sicherlich bekannten Familie in Toulouse, um Auskunft über ihn zu geben, oder auf anderem Wege, über die Schwäger, die Brüder Babini574 (wenn ich mich nicht irre), die ein Geschäft für Seide und China-Waren auf dem Boulevard Malesherbes betreiben575, versucht doch sie dort zu finden. Ich bitte euch die Güte und Unterstützung unserer Freunde nicht zu vergessen, die euch in meiner Abwesenheit halfen, solche wie Martinelli, Vanhems und andere, falls zutreffend, dann vergesst nicht, dass wenn ihr lebt, dann ist es Gott und ihnen zu verdanken. Leider hatte ich nie die Genugtuung, dem persönlich nachzukommen, es bleibt mir nichts anderes übrig, als nur meinen aufrichtigen Dank und die allerbesten Wünsche zum Ausdruck zu bringen: Die Vorsehung erhört die Wünsche, die der Mensch vor dem Tod ausspricht. Mein Brief neigt sich dem Ende zu, wie auch meine Stunden, und ich sage euch ein letztes Mal Lebewohl: Es ist der letzte Gruß für immer. Ich umarme euch kräftig kräftig576 zum letzten Mal, und ich bitte euch noch einmal, mir zu glauben, dass ich leicht davongehe, in dem Wissen, dass ihr am Leben seid und 573 Dieser Selektion ist Gradowskis Kapitel „Der Abschied“ gewidmet. 574 Schreibfehler: Tatsächlich hießen die Brüder Babani. 575 Ein Boulevard in Paris. Dem Sohn David Lahanas zufolge war diese Angabe ein Irrtum: Das Geschäft befand sich in Toulouse. Im Januar 1943 seien die Brüder mit ihren Ehefrauen, den Schwestern David Lahanas, über Spanien nach Marokko geflohen. E-Mail-Mitteilung von M. L., dem Sohn David Lahanas, an A. Kilian vom 24.8.18. Zur Biografie Lahanas siehe: Kilian, Abschiedsbrief aus dem Krematorium. 2018. S. 13 f. 576 Wiederholung des Worts, um die Ausdruckskraft zu verstärken.

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Herman Strasfogel: „An meine liebste Frau und Tochter“

dass unser Feind verloren ist. Es ist sogar möglich, dass ihr durch die Geschichte des Sonder Kommandos den genauen Tag meines Endes577 erfahren werdet: Ich befinde mich in der letzten Mannschaft von 204 Personen, momentan wird das Krematorium II liquidiert578, wo ich mich angespannt befinde, und man spricht über unsere eigene Liquidierung im Laufe dieser Woche. Verzeiht mir meinen unübersichtlichen Text sowie mein Französisch, wenn ihr nur wüsstet, unter welchen Umständen ich schreibe. Es mögen mir auch alle meine Freunde vergeben, die ich wegen Platzmangels579 nicht nenne, von denen ich mich mit einem Mal verabschiede und ihnen sage: Rächt eure Brüder und Schwestern, die unschuldig auf dem Schafott gefallen sind. Lebt wohl, meine werte Frau und meine liebe Simone, erfüllt meine Wünsche und lebt in Frieden580, Gott schütze euch. Tausende Küsse Euer Mann und Vater Herman P.S. Nach Erhalt dieses Briefes bitte ich euch, Frau Germaine Cohen, Union Bank S.A. in Thessaloniki (Griechenland) mitzuteilen, dass Leon581 mein Schicksal teilt, wie er auch mein Leid geteilt hat, er umarmt alle und besonders empfiehlt er Bill seine Frau. Daniel und Lili sind auch längst tot, der Rechtsanwalt Yacoel und seine ganze Familie starben vor einem Monat Herman582 Übersetzt aus dem Französischen ins Russische von Alina Polonskaja Übersetzt aus dem Russischen ins Deutsche von Roman Richter Anmerkungen von Pavel Polian, Alina Polonskaja und Andreas Kilian

577 578 579 580 581 582

Laut Langfuß geschah dies am 26. November 1944. Damit wurde am 25. November 1944 begonnen. Gemeint ist, dass die letzte Seite der Blätter zu Ende ging. So im Text. Gemeint ist Leon Cohen, siehe auch Cohens Erinnerungsbericht: Cohen, 1996. Das aus Platzgründen am linken Seitenrand vertikal geschriebene P.S. setzt sich zum Schluss am Seitenende in kleinerer Schrift horizontal fort und wurde mit einer zweiten Unterschrift beendet.

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Marcel Nadjari: „Ich werde mich nicht rächen können, wie ich es will“ Ein Schrei nach Rache Thessaloniki: die griechisch-jüdische Kindheit Thessaloniki war die Stadt mit der größten jüdischen Gemeinde Griechenlands in der Vorkriegszeit. Sie umfasste 56.000 Menschen583. Viele ihrer Mitglieder sprachen übrigens kein Griechisch: Die Stadt war erst seit 1912, nach dem Sieg Griechenlands über die Türkei, nicht mehr türkisch. Wirtschaftlich gesehen brachte dieser Sieg vielen Menschen nichts als Verluste, denn nunmehr war die Grenze durch Zollgrenzen abgeriegelt, weshalb Händler und Handwerker die Vorzüge des osmanischen Binnenmarkts ­entbehren mussten. Vom 16. bis 18. August 1918 wütete in der Stadt eine durchaus klärungsbedürftige Feuersbrunst: Das jüdische Viertel in Thessalonikis Zentrum brannte nahezu vollständig nieder. Den Brandopfern wurden provisorische Unterkünfte in Sonderlagern am Stadtrand angeboten. Die eigenen Häuser auf den alten Grundstücken wiederaufzubauen, erlaubte man den Juden nicht, weil die Stadtplaner unter der Leitung eines französischen Architekten allmählich einen neuen Masterplan für die Stadt ausarbeiteten. Von den Grundstückseigentümern wurde verlangt, dass sie in die neue gemeinschaftliche Infrastruktur investierten. Später rollte im Namen des Vertrags von Lausanne (1923) eine Umsiedlerlawine nach Thessaloniki: Mit einem heftigen Tritt wurde die türkische Bevölkerung aus Griechenland vertrieben, während die Griechen aus der Türkei nach Griechenland gejagt ­wurden. Die griechische Führung machte auch fast keinen Hehl daraus,

583 Unter ihnen rund 300 Juden mit italienischer Staatsbürgerschaft, die ihnen eine Zeit lang als zusätzlicher Schutz diente. Zu ihnen gehörte beispielsweise Shlomo Venezia (Venezia, 2008. S. 22 f.).

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Marcel Nadjari: „Ich werde mich nicht rächen können, wie ich es will“

dass sie es lieber sähe, das ehemals jüdische Viertel als ein rein griechisches wiederzuerrichten. Wer von den Juden die Anspielungen der Regierung frühzeitig verstand, verkaufte Haus und Hof und verließ die Stadt und das Land. Die Familie ­Marcel Nadjaris584 – Vater (Abraham Nadjari, geboren in Istanbul), Mutter (Louna Pelosof), Schwester Nelli (zwei Jahre älter als er) und er selbst – lebte in einem Eigenheim in der Odos Italias 9. Dieses Haus war von dem Feuer verschont geblieben. Unweit von ihnen, in der Odos Italias 55, lebte die befreundete Familie Leon. Marcel wurde am 1. Januar 1917 schon als griechischer und nicht mehr als türkischer Jude geboren. Gemäß der Geburtsurkunde hieß er nicht Marcel, sondern Emanuel – im Griechischen: Manolis. Nach der Mittelschule besuchte er das französische (anderen Angaben zufolge das französisch-deutsche) Gymnasium, eines der besten der Stadt. Allerdings hatte er eher eine Neigung zum Künstlerischen. Außerdem liebte er das Meer und verbrachte seine Zeit mit größtem Vergnügen im Jachtklub. Seine hervorstechendste und lebenslange Eigenschaft war der ungewöhnliche Optimismus und die ständige Bereitschaft, alles und jeden in seiner Umgebung zum Lachen zu bringen. Es ist bekannt, dass er nicht mal in Auschwitz damit aufhörte und die anderen Häftlinge sich wegen seiner Nazi-Parodien vor Lachen krümmten. Zusammen mit einem alten Geschäftspartner, dem Christen Afanasios Stefanidos, betrieb Nadjari einen Laden für Tierfutter. Die Familie lebte in Wohlstand, zu den reichsten jüdischen Familien von Thessaloniki gehörte sie aber sicherlich nicht. 1937 ging Marcel zur Armee und leistete alle Dienste, die in Friedenszeiten geleistet werden mussten. Am 28. Oktober 1940 wurde er erneut einberufen, diesmal aber in den Krieg gegen die Italiener an die albanische Front. Die ­Italiener zu besiegen, dazu waren die Griechen noch imstande – gegen die Deutschen aber, die Mussolini zu Hilfe kamen, hatten sie keine Chance. Im Juni 1941 war bereits ganz Griechenland von der Wehrmacht eingenommen.

584 Wir verwenden die phonetische Transkription des Nachnamens „Nadzari“, wie er auf Ladino ausgesprochen wird. Auf Griechisch klingt der Name so, wie er geschrieben wird: „Nadzari“ mit der Betonung auf der letzten Silbe.

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Die Chronisten und ihre Texte

Unter der Besatzung Nach der Niederlage im griechisch-italienischen Krieg wurde Hellas zwischen Deutschland, Italien und Bulgarien aufgeteilt. Am 15. Mai 1941 kehrte Marcel heim, nach Thessaloniki – in die nunmehr deutsche Besatzungszone. Am 12. Juli 1942 wurde Marcel zusammen mit 1.500 weiteren jüdischen Männern interniert, registriert und zur Zwangsarbeit ins Umland der Stadt abkommandiert (er geriet nach Menemeni). Einen Monat später wurden sie „gegen Kaution“ freigelassen, nachdem die Gemeinde eine von den Deutschen geforderte Kontribution von zwei Milliarden Drachmen gezahlt hatte. Es kam zwar zur Freilassung, aber die Zeichen waren überdeutlich. Im Februar 1943, als die Deutschen die Registrierung und die gewaltsame Ghettoisierung der Juden in Gang gesetzt hatten (beide Vorgänge hingen ja unmittelbar miteinander zusammen), wurde jener Teil des Ghettos, der an den Bahnhof angrenzte  – das sogenannte Baron-Hirsch-Viertel –, in ein Durchgangslager für die noch zu verschickenden Juden umgewandelt585. Als im März 1943 die erste Deportationswelle ausgelöst wurde, zählte die Familie Nadjari – Vater, Mutter und Schwester Nelli – zu den Ersten, die fortgebracht wurden. Marcel Nadjari hielt sich zu der Zeit zusammen mit seinem Freund Ilias Kohen in Athen auf. Dort gründeten Marcel und Ilias gemeinsam mit vier weiteren Freunden (Tory Befa, Pico und Vico Brudo sowie David Covo) eine kleine Seifensiederei und ein kleines Geschäft in der Avramitou-Straße Nr. 10. Ihre Zweit-, vielleicht aber auch ihre Hauptbeschäftigung bestand darin, Juden bei der Flucht nach Palästina zu helfen. Jedenfalls wurden sie dessen von einer Französin beschuldigt, die sie bei dem deutschen Botschafts-Mitarbeiter Dr. Vogel denunzierte, indem sie in einem Schreiben anzeigte, die beiden jungen Männer würden anderen Juden beim Grenzübertritt helfen. Eigentlich begrüßten die deutschen Behörden die jüdische Migration – allerdings nur, wenn sie in eine andere Richtung verlief: in den Norden, in die polnischen Vernichtungslager. Dieses Konzept setzten die Deutschen konsequent um. Wenn wir von zwei Etappen jüdischer Deportationen aus Griechenland sprechen (die erste ist die Verschickung aus der deutschen und bulgarischen Besatzungszone von März bis August 1943: 46.000 Menschen; die zweite ist die Deportation aus der ehemaligen italienischen Zone 585 Ursprünglich hatte Baron Hirsch dieses Viertel zu Beginn des 20.  Jahrhunderts als Siedlung für russische Juden angelegt, die nach dem Pogrom von Chișinău Hals über Kopf aus Russland flohen.

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Marcel Nadjari: „Ich werde mich nicht rächen können, wie ich es will“

1944: 23.000 Menschen), dann meinen wir im Grunde ein und dieselbe Aktion, die allerdings auf ein größeres Gebiet ausgeweitet wurde. Einige Hundert prominente griechische Juden gerieten indes nicht nach Au­schwitz, sondern nach Bergen-Belsen586. Bulgarien, das sich nach dem Krieg so sehr damit brüstete, keinem einzigen bulgarischen Juden auch nur ein Haar gekrümmt zu haben, hatte still und leise griechische Juden aus „seiner“ Besatzungszone einschließlich mazedonischer Gebiete fortgebracht  – jedoch nicht nach Auschwitz, sondern nach Treblinka (mindestens fünf Transporte, rund 11.000 Menschen). Nach dem Badoglio-Putsch und der Kapitulation Italiens am 8. September 1943 waren Abstimmungen mit dem Duce nunmehr entbehrlich, weshalb es auch in Athen für die Juden gefährlich wurde. Bald, schon am 7. Oktober, ­flohen Nadjari und Ilias auch von dort, zunächst nach Lamia und dann weiter nach Spercheiada in der Präfektur Phthiotis – ein Gebiet, welches faktisch von den prokommunistischen Partisanen der ELAS (Griechische Volksbefreiungsarmee) kontrolliert wurde. Ohne deren Ideen auch nur ansatzweise zu teilen, schlossen sich die beiden dieser prokommunistischen Partisanentruppe an. Die ELAS gab Marcel auch eine neue Identität. Von da an hieß er Manolis Lazaridis. Rund drei Monate verbachte er bei den Partisanen, eine Zeit voller Entbehrungen, Verdruss und Drangsal. Darauf gehen wir nicht weiter ein – nur so viel: Als Marcel an Malaria erkrankte und buchstäblich fieberte, wurde er gemeinsam mit einem Kameraden zu vier Monaten Haft verurteilt, wegen einer Schüssel Reis, die dieser gestohlen hatte, um Marcel das Leben zu retten. Die faktische Schwere der Schuld spielte offenbar keine Rolle, nur eines war wichtig: dass die Strafe den anderen als Abschreckung diene. Verbüßt werden musste die Strafe in Karpenisi, wo sich das Hauptquartier der Partisanen befand. Dort wurde Marcel nach Klärung der Sachlage freigelassen und sogar heimlich zur medizinischen Behandlung nach Athen geschleust, wo man ihm tatsächlich wieder auf die Beine half. Doch dann stürmte am 30. Dezember 1943 ein SS-Trupp das Haus von Alberto Cohen, wo Nadjari untergekommen war, und verhaftete ihn zusammen mit dem Hausherrn. Einen Monat verbrachte Nadjari im Averoff-Gefängnis unter ständigen Verhören, Folter und Misshandlungen. Doch „Manolis Lazaridis“ leugnete es

586 Czech, 1970. S. 16–21.

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Die Chronisten und ihre Texte

beharrlich, Verbindungen zu den Partisanen zu haben. Er wurde in das Lager Chaidari überführt, das sich vom Gefängnis nicht wesentlich unterschied. Dort sah er einige alte Bekannte wieder: Alberto Errera zum Beispiel, den er später noch im Sonderkommando wiedertreffen sollte. Etwa zwei Monate verbrachte Nadjari in Chaidari. Dass das Lager sich beständig mit Menschen füllte, konnte nur bedeuten, dass die Verschickung nahte. Judendeportationen waren im besetzten Griechenland nichts sonderlich Neues oder Unbekanntes. Die erste massive Deportationswelle von 1943, die 19 Transporte umfasste, hatte ja auch Marcels ganze Familie mitgerissen. Von den 77.000 Juden, die in Griechenland vor dem Krieg gelebt hatten, überlebten nur 14 Prozent, von den 56.000 Juden aus Thessaloniki blieben nur vier Prozent übrig. Im Frühling 1944 waren nun auch die Gemeinden in der italienischen Besatzungszone nicht mehr sicher. Bis zum Badoglio-Putsch waren die italienischen Besatzer, der Mut des orthodoxen Erzbischofs von Damaskus und die Tricks des Polizeidirektors von Athen, Angelos Evert, der den Juden christ­ liche Ausweispapiere ausstellte, der beste Schutz für das Judentum von Athen gewesen. Am Vorabend des Pessach wurde den jüdischen Männern befohlen, sich am Freitag, den 24. März, frühmorgens in der Synagoge zu versammeln. 350 Männer verhafteten die Deutschen damals auf einen Schlag und holten dann noch 800 Frauen und Kinder aus den Häusern. Sie wurden alle in das Lager Chaidari verschickt, wo Nadjari bereits einsaß. Am 2. April 1944 wurde dann eine Schar Juden zum Bahnhof geführt und in Güterwaggons gepfercht. Der Zug setzte sich in Bewegung und fuhr mit Zwischenstopps in Larisa und Thessaloniki gen Norden. Den Zielort der Reise kannte niemand, die Hoffnung, „dort“ Eltern und Geschwister zu treffen, ließ den Gedanken an Flucht aber verstummen.

Im Sonderkommando Die Endstation hieß Auschwitz. Am 11. April kam der Transport dort an. Etwa 320 Männer wurden auf der Rampe ausselektiert587. Darunter waren auch Marcel Nadjari und Leon Cohen, die unter den Nummern 182669 und 182492 587 Nadjari selbst schreibt in seinen Erinnerungen von 260 der insgesamt 1.500 Männer des Transports (Natzari, 1991).

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Marcel Nadjari: „Ich werde mich nicht rächen können, wie ich es will“

registriert wurden. Nach Ablauf der einmonatigen Quarantäne wurden sie zusammen mit Vico Brudo, Moise Aaron, Isaak Baruch und einigen anderen als Neuzugang ins Sonderkommando eingegliedert. Das passierte offenbar am 15. Mai, jenem Tag, an dem mit einem Mal 100 Männer dem Sonderkommando zugeteilt wurden588. Nadjari zog in Block 13 ein und knüpfte erste Bekanntschaften. Die Mehrheit der Veteranen waren polnische Juden, das Französische wurde zur gemeinsamen Sprache mit den meisten von ihnen. Einige wurden sogar zu Nadjaris Freunden: Hersz Strasfogel beispielsweise oder Michel, ein griechischer Jude aus Frankreich589. Zu Beginn arbeiteten Marcel und Leon im Krematorium II zusammen, wurden aber schon nach drei Tagen versetzt: der eine ins Krematorium III, der andere erst zum Bunker mit den Verbrennungsgruben und dann ins Krematorium V. Da hatte Cohen, der sich bereits als Dolmetscher und inoffizieller Wortführer der griechischen Mikrogemeinde einen Namen gemacht hatte, plötzlich den Einfall, sich für einen Zahnarzt auszugeben. Also setzten die Deutschen ihn kurzerhand als „Zahnarzt“ ein: Er musste den Leichen Goldzähne und Prothesen ziehen. Sein Arbeitsplatz befand sich immer in der Nähe der Öfen. Schweißgebadet musste er den Mund des Opfers – mit einer Zange – aufreißen, die Mundhöhle mustern und, falls vorhanden, die Goldkronen ziehen … dann ein Kopfnicken: fertig, der Nächste! Und so mehrere Leichen pro Minute590. Zunächst arbeitete Cohen an der Grube, dann im Krematorium IV und anschließend im Krematorium III, weshalb er auch überlebte. (Selbst nach dem Krieg konnte Cohen sich in Gesprächen nicht dazu überwinden, seinem Gegenüber in die Augen zu sehen: Sein Blick wanderte unwillkürlich weiter nach unten und betrachtete den Mund seines Gesprächspartners, als suche er Goldzähne darin591.) Das, womit Nadjari im Sonderkommando konfrontiert wurde, stellte ihn vor eine Frage, die für einen gläubigen Menschen wohl nicht schlimmer sein konnte: Kann es denn einen Gott geben, wenn das alles hier geschieht? Nadjari schreibt: „Fast immer, wenn sie töten, frage ich mich, ob Gott existiert. Dennoch habe ich immer an IHN geglaubt und glaube nach wie vor, dass Gott es will, dass sein Wille geschehe.“ 588 Czech, 1989. S. 774. 589 Ihn genauer zu identifizieren, ist bislang nicht gelungen. 590 Greif, 1999. S. 349–351. Das Gold wurde anschließend gereinigt und zu kleinen Barren gegossen. Ein Teil des Goldes wurde versteckt und diente als Währung beim Handel mit den SS-Leuten (die gaben im Gegenzug Essen und Alkohol). 591 Mündlicher Bericht seines Sohnes Jean Cohen (Athen, 26. April 2017).

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Die Chronisten und ihre Texte

Er gehörte also zu den wenigen SoKo-Mitgliedern, die jeden Tag aufs Neue die Kraft fanden, diese Frage zu bejahen. Kolossaler Mut und eine ungeheure innere Anspannung waren dazu nötig. Der Umgang mit Lejb Langfuß half ihm sicherlich dabei: Beide arbeiteten in einer Gruppe am K ­ rematorium III. Indes war der Unterschied zwischen den griechischen Sepharden und ihren jüdischen Brüdern aus Ost- und Westeuropa, den Aschkenasen, rein äußerlich schon deutlich zu sehen. Unter den Griechen waren auch viele ehemalige Soldaten und Partisanen, echte Kämpfer, die für sich selbst einstehen konnten, was sie in Auschwitz auch bewiesen. Es hat ja seinen Grund, dass einer der Protagonisten in Lanzmanns Film „Shoah“ die Sepharden mit den HeldenMakkabäern vergleicht. Diese nationale Gruppe hatte sich an dem Aufstand im Grunde kaum beteiligt und aus ebendieser Gruppe kamen die meisten überlebenden Mitglieder des Sonderkommandos. Nadjari war einer der letzten von ihnen. Offenkundig gehörte er dem Sonderkommando an, das mit dem Abbruch der Gaskammern und Krematorien beschäftigt war. Vor der Evakuierung des gesamten Lagers wurden alle noch lebenden Männer des Sonderkommandos aus dem Isolationsbereich der Krematorien in das Männerlager von Birkenau überführt592. Während der Evakuierung gelang es Marcel, sich unbemerkt in eine Häftlingskolonne zu schmuggeln und sich unter die anderen Häftlinge zu mischen. Da er seine wahre  – mit Sicherheit tödliche – Identität als Geheimnisträger auf diese Weise verheim­ lichen konnte und auf den Ausruf seiner Nummer bei Lagerappellen nicht reagierte, überlebte er!593 Am 17. Januar 1945 (zehn Tage vor der Befreiung des Lagers) wurde Nadjari nach Mauthausen evakuiert, wo er noch einmal registriert wurde (Nummer 119116). Am 24. Februar 1945 wurde er in das Nebenlager Gusen II ­versetzt. Er gab sich für einen Elektriker aus und arbeitete dort in den Messerschmitt-Werken. Wie durch ein Wunder überlebte Nadjari trotz Kälte, Hunger und einer eiternden Wunde zwischen den Fingern auch dort  – sicherlich wegen seines Optimismus und weil in seiner Nähe immer einer seiner griechischen Kameraden war, die der letzten Selektion hatten entkommen können.

592 APMA-B. D-Mau-3/9/8. Zugänge vom KL Auschwitz. Bl. 90. 593 Diese Überlebensphase ist in dem Erinnerungsbericht von Filip Müller ausführlich beschrieben.

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Marcel Nadjari: „Ich werde mich nicht rächen können, wie ich es will“

Ihre Lieblingsbeschäftigung bestand darin, einander von den schmack­ haften Speisen ihrer Heimat zu erzählen, wobei sie sich über die besten Zu­taten und Zubereitungsmethoden mitunter heftig stritten.

Nach der Befreiung Unmittelbar nach der Befreiung ging Nadjari nach Paris. Die französische Hauptstadt war damals eines der größten Sammel- und Verteilungszentren für Vertriebene. Von Paris aus kehrte er nach Thessaloniki zurück, wo er für eine gewisse Zeit bei seinem Freund und Nachbarn Maurice Leon unterkam. Nachdem er wieder zu sich gekommen war, gehörte es zu seinen ersten Taten, die „Chronik 1941–1945“ zu verfassen, die er mit eigenen Zeichnungen ergänzte. Das Datum „15 – 4 – 47“, das am Anfang der Chronik steht, markiert höchstwahrscheinlich das Ende der Arbeit. Der Beginn ist eher im Jahr 1946, frühestens Ende 1945 zu verorten. Am 10. August 1947 heiratete Marcel Nadjari Rosa Saltiel. Vier Jahre später, 1951, zog er zusammen mit seiner Gattin und ihrem einjährigen Sohn Albert nach New York. Eigentlich hatte er vor, nach Indianapolis zu gehen, beherzigte dann aber den freundschaftlichen Rat, in einer Stadt zu bleiben, wo er Freunde und Verwandte habe. In der neuen Heimat fing er als Reinigungskraft an, die meiste Zeit verwendete er indes darauf, Englisch zu lernen. In den Vereinigten Staaten entdeckte er seinen Hang zum Künstlerischen neu, erlernte nach und nach das Handwerk des Modemachers und Maßschneiders, arbeitete zunächst als Angestellter, bis er 1968 einen eigenen Modeladen eröffnete. Seine Frau Rosa fand ebenfalls eine Tätigkeit gemäß ihrer Qualifikation: als Fremdsprachen­ sekretärin mit Englisch- und Französischkenntnissen. 1957 kam in New York ihre Tochter zur Welt, benannt nach Nadjaris geliebter älterer Schwester Nelli594. Nachts wurde Marcel häufig von Albträumen geplagt, weshalb seine heranwachsende Tochter ihn darum bat, von der Vergangenheit zu erzählen. Der Vater schonte sie, versprach ihr jedoch, alles zu erzählen, wenn sie 18 sei595. 594 1975 heiratete Nelli Nadjari Sakis Leon. 595 In der Familie von Leon Cohen, der ebenfalls via Paris nach Thessaloniki zurückgekehrt war, wurde im November 1946 der Sohn Jean und ein Jahr später die Tochter Lilly geboren. Cohen berichtete

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Die Chronisten und ihre Texte

Am 31. Juli 1971 starb Nadjari in New York, als seine Tochter 14 und er selbst noch keine 54 Jahre alt war596. Sich dessen bewusst, welch großes Glück es war, dass er überlebt hatte, kostete Nadjari jeden Tag seines Lebens aus. Den Gedanken an das Sonderkommando ließ er offensichtlich nicht an sich heran. Er unternahm nicht einmal den Versuch, seine Erinnerungen von 1947 als Buch zu veröffentlichen. Auch der Gedanke, nach Birkenau zu reisen und sein eigenes Versteck zu suchen, kam ihm offensichtlich nicht in den Sinn. Er starb als einziger Überlebender des Sonderkommandos, dessen Aufzeichnungen uns erreicht haben597. Im Manuskript von 1947 erwähnt Nadjari an keiner Stelle, dass er seinerzeit Notizen am Krematorium vergraben hatte. Er konnte es sich nicht vorstellen, dass sein Geheimversteck gefunden würde598, die Blätter aus der Flasche geborgen würden und der Text womöglich entziffert und veröffentlicht werden könnte. Genau so ist es aber gekommen – wenn auch erst neun Jahre nach Nadjaris Tod und nach 36 Jahren, die seine Post in der Erde verrottete!

Das Schicksal des ersten Manuskripts Dazu gekommen ist es allerdings rein zufällig: Am 24. Oktober 1980 entdeckte ein Auszubildender der forstwirtschaftlichen Berufsschule Brynek, Lesław Dyrcz 599, bei Umgrabearbeiten unweit der Ruinen des ehemaligen Krematoriums III in etwa 30–40 cm Tiefe600 den Glaskolben einer Thermosflasche, der mit einem Plastikstöpsel verschlossen und in eine Ledertasche eingewickelt war. In dem Kolben befand sich eine Schriftrolle: sechs Blätter im Format

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weder seiner Frau noch seiner Tochter über die Vergangenheit, seinem Sohn erzählte er jedoch davon. In Griechenland blieb Ilias ebenfalls nicht: 1972 ging er nach Israel, nach Bat Jam, wo er 1989 verstarb. Er hatte es aber geschafft, noch 1989 Gideon Greif ein Interview zu geben. Verwitwet heiratete Rosa im Laufe der Zeit nochmal und hieß dann Rosa Josef. Sie starb am 26. Oktober 2011. Die ersten relevanten Ausgaben der Manuskripte der SoKo-Chronisten wurden erst nach seinem Tod veröffentlicht. Er starb mit der sicheren Gewissheit, dass von dem Vergrabenen nichts gefunden werden könne und dass alles verloren sei. Vgl. das entsprechende, von Piper unterzeichnete Protokoll vom 25. Oktober 1984 (APMA-B. Wsp. / Nadjari Marcel. Bd. 135). Leon Cohen schrieb, dass die Vorgehensweise, Briefe an Verwandte in Flaschen zu verpacken und in der Erde exakt in dieser Tiefe zu vergraben, von einigen Häftlingen so praktiziert worden sei.

Marcel Nadjari: „Ich werde mich nicht rächen können, wie ich es will“

20 x 14 cm, die aus einem Notizbuch ausgerissen und beidseitig beschrieben worden waren – insgesamt zwölf Seiten. Der Text war in einer nicht kompakten, aber auch nicht allzu weitläufigen Handschrift geschrieben und in einem, wie sich später herausstellte, sehr guten Neugriechisch abgefasst. Nach einem Dritteljahrhundert, die das Manuskript in der Erde verbracht hatte, war es allerdings feucht und entsprechend schlecht lesbar. Natürlich wurde die Schriftrolle unverzüglich an das Staatliche Museum Auschwitz-Birkenau in Oświęcim zur Aufbewahrung übergeben601. Nach Feststellung der Sprache, in der der Text verfasst war, wandte sich das Museum an das polnische Außenministerium mit der Bitte um eine sachgerechte Übersetzung. Der Übersetzer des Außenministeriums, Theodoros Alexiou, nahm sich des Manuskripts an und erstellte die Übersetzung am 31. Juli 1981. Dabei konnte selbst das, was noch zu entziffern war, nur mit größter Mühe gelesen werden. Dass in dem Text die Befreiung Griechenlands erwähnt wird – und diese war ein langer Prozess, weshalb der 18. Oktober 1944 nur bedingt als Stichtag gelten kann –, verweist indirekt darauf, dass der Text im November desselben Jahres entstanden sein könnte. Ein naheliegendes Entstehungsdatum war der 26. November 1944 – der Tag, an dem die Gerüchte über die anstehende und dann auch tatsächlich vorgenommene Selektion im Sonderkommando sich stark verdichteten. Den noch lebenden SoKo-Mitgliedern wurde plötzlich klar, dass dies womöglich die letzte Chance war, ihren Angehörigen zu schreiben und die Flaschenpost der Erde zu überlassen. Deshalb könnten übrigens auch die Texte von Lejb Langfuß und Herman Stras­ fogel mit ähnlichem Datum versehen worden sein602. Erst vor Kurzem ist es Nadjaris Schwiegersohn, Sakis Leon, als Erstem gelungen, das Datum unmittelbar dem Text zu entnehmen: 3. November 1944603. Zudem konnte der Name des Autors geklärt werden und dass in dem Manuskript von den Juden aus Thessaloniki die Rede ist. Als Alexiou die jüdische Gemeinde von Thessaloniki telefonisch kontaktierte, erfuhr er, dass Rosa und Nelli, Nadjaris Witwe und Tochter, dort bestens bekannt seien. Nelli

601 APMA-B. Wsp. / Nadjari Marcel. Bd. 135. Dort befinden sich auch die von Alexiou erstellte und mit dem 31. Juli 1981 datierte Übersetzung ins Polnische sowie das von Piper unterzeichnete Protokoll vom 25. Oktober 1984. 602 Das letzte dokumentierte Datum bei Lewenthal ist der 10. Oktober 1944. 603 Die Manuskripte Gradowskis und Lewenthals sind im Oktober oder früher geschrieben worden, die Manuskripte Langfuß‘ und Strasfogels am 6. und 26. November. Zu Sakis Datierung: Kilian, 2017a. S. 28.

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s­ tudierte an der Technischen Universität in Haifa. Es war deshalb kein Problem, Rosa aufzufinden, die in der Zwischenzeit nach Paris umgezogen war. Die Nachricht von dem Fund konnte sie nicht kaltlassen: Am 7. März 1982 wandte Rosa sich an das Museum in Oświęcim, mit der Bitte, ihr das Original des Manuskripts auszuhändigen. Als Antwort erhielt sie die Übersetzung, eine Fotokopie des Manuskripts und laut Eleni Elegmitou, dem Autor des Vorworts zu Marcel Nadjaris „Chronik 1941–1945“, die Thermosflasche sowie die Ledertasche, in denen die Schriftrolle gefunden worden war. Diese Angaben sind jedoch inkorrekt, denn das Museum gab nichts dergleichen an die Familie heraus604. Im Frühjahr 1982 erhielt die Familie die Übersetzung von Alexiou womöglich samt einer Fotokopie des Manuskripts. Bereits am 22. April fand in der griechischen Zeitung „Rizospastis“605 die Erstveröffentlichung jenes bescheidenen Materials statt, das entziffert werden konnte. Die zweite Veröffentlichung, diesmal eine Buchedition, erschien in griechischer Sprache 1991, innerhalb der besagten „Chronik 1941–1945“. Es ist ein ungewöhnlicher Publikationsweg, den das Manuskript Nadjaris gegangen ist. Denn die erste Veröffentlichung fand in dessen Heimat und in der Originalsprache statt – im Unterschied zu den meisten Texten der SoKoMitglieder, die der Öffentlichkeit zunächst entweder auf Polnisch oder Jiddisch präsentiert wurden. Die erste Publikation in einer Fremdsprache fand 1996 statt – auf Deutsch, in einem Sammelband der Manuskripte des Sonderkommandos606. 1999 erschien der Text auf Italienisch. In der ersten Hälfte der 2010er Jahre folgten drei Editionen in russischer Sprache: erst in der Zeitung „Jewrejskoe slowo“ (Moskau, 2012), dann in meinem eingangs erwähnten Buch „Switki is pepla“ (Rostow am Don, 2013 und Moskau, 2015).

604 Erst 2009 konnten Nadjaris Angehörige das Original sehen und in den Händen halten, als Nelli Leon-Nadjari Oświęcim besuchte. Doch ihre – der Tochter des Autors! – Bitte vom Mai 2017, das Original mit allerneuester Technik erneut abzulichten, wiesen die Museumsmitarbeiter ab. 605 Natzari, 1991. Sein erster faktischer Verleger war Ioannis Litsios. 606 Der am 31. Juli 1981 ins Polnische übersetzte Brief wurde für die deutsche Edition aus dem Jahre 1996 von Jochen August aus dem Polnischen übersetzt. Ein Abgleich mit dem griechischen Text fand statt. (Im Internet war früher eine englische Fassung verfügbar unter http://www.windsofchange. net/archives/006905.html.)

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Die Multispektralaufnahme und die Entzifferung des Ungelesenen in Nadjaris Manuskript Die russische Edition von 2015 des vorliegenden Buchs endete mit den ­Worten: „Ein weiterer Zuwachs von Gelesenem ist künftig keineswegs ausgeschlossen. Die fachkundige und behutsame Anwendung moderner Techniken und Technologien, wie sie beispielsweise in der Kriminalistik verwendet werden, auf die Manuskripte der Mitglieder des Sonderkommandos würde es ermöglichen, erstmals jene Stellen zu entziffern, die bislang nicht entziffert werden konnten  – oder zumindest einen wesentlichen Teil davon.“607

Wer hätte gedacht, dass diese Worte so schnell bestätigt würden! Ende Winter 2015 erhielt ich eine E-Mail aus Tula. Es war eine Reaktion auf eine Hörfunksendung über die Manuskripte der SoKo-Mitglieder (im „Radio Svoboda“, wenn ich mich nicht irre), die ich fast mit denselben Worten abgeschlossen hatte. Der mir da schrieb, war der junge IT-Experte Alexander Nikitjaew, und er wollte sich der von mir formulierten Problematik mit großem Engagement annehmen. Durch gegenseitige Ergänzung in unseren Kompetenzen kamen wir allmählich dahin, dass wir den Grad der Lesbarkeit des Textes von Marcel Nadjari von den bisherigen zehn auf ganze 90 Prozent erhöhen konnten! Über ein Jahr haben wir dafür gebraucht. Ich verzichte an dieser Stelle darauf, das Verfahren und die Technik eingehend zu schildern608. Was zählt, ist das erzielte Ergebnis: das rekonstruierte Manuskript Marcel Nadjaris, das nicht nur aus der Erde und Asche in der Nähe der Krematorien und Gaskammern ans Tageslicht gefördert, sondern auch aus der digitalen, gescannten Asche – Buchstabe für Buchstabe und Wort für Wort – entziffert wurde. Es lag auf der Hand, den rekonstruierten Text und einen eigenen Artikel über das Verfahren zu veröffentlichen  – mehr noch: Ein ganz neues Buch drängte sich auf, denkt man allein an die „Erinnerungen“ Nadjaris von 1991.

607 Polian P. Switki is pepla, 2015. S. 506. 608 Vgl dazu: Polian P., Nikitjaew A., 2015. Im Internet: http://www.berkovich-zametki.com/2015/ Zametki/Nomer7/Poljan1.php

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Doch fehlte in dieser langen Kette noch ein wichtiges Glied, das die Erfolge der Rekonstruktion mit Nadjaris ureigener Welt – mit Hellas, mit der griechischen Sprache, mit dem griechischen Judentum  – verbunden hätte. Wir, Nikitjaew und ich, wussten ja nicht mal, was da geschrieben stand, in diesem aus der Bodenfeuchtigkeit und Dunkelheit auferstandenen Text. Schnell wurde aber auch diese Lücke geschlossen. Als ich dem in Freiburg lebenden, mit einer Russin verheirateten griechischen Historiker und britischen Staatsbürger Ioannis Karras den „neuen“ Text von Nadjari zeigte, pfiff er vor Erstaunen. Bald darauf hielt ich schon eine von ihm erstellte englische Übersetzung der griechischen Quelle609 in den Händen. Endlich konnte ich das lesen und wertschätzen, was durch den rekonstruierten Text weiterge­ geben worden ist. Sogleich fasste Ioannis den Entschluss, Nadjaris Aufzeichnungen in griechischer Sprache zu veröffentlichen. Von da an war er damit beschäftigt, die vielen dafür benötigten Fäden – Sponsoren, Verleger, Historiker – zu einem Geflecht zu verknüpfen. Auch der Historiker Giorgos Antoniou von der Universität Thessaloniki schloss sich diesem Staffellauf als Netzwerker innerhalb Griechenlands an. Er organisierte zwei Groß-Events in Thessaloniki: einen Abend im Museum der Antike am 22. April 2017 mit Vorträgen von Pavel Polian, Frangiski Ampatzopoulou und Nelli Nadjari; dazu eine Zeremonie in der Synagoge von Thessaloniki am 23. April, bei der nicht nur die Juden der Stadt, sondern die gesamte lokale Elite – vom Bürgermeister bis zum orthodoxen Erzbischof – und die Medien versammelt waren. Nach der Ansprache des Vizepräsidenten der Gemeinde, Larry Sefach, nach dem Auftritt des Chors und dem Vortrag von Frangiski Ampatzopoulou las Jakob Ben-Major, Historiker und Gemeinderatsmitglied, im Schein von sieben Kerzen – angezündet von Holocaust-Überlebenden, ihren Kindern, Enkeln und Urenkeln („Meine Rache an Hitler“, sagte eine der anwesenden Urgroßmütter) – erstmals öffentlich den neu entdeckten Text Marcel Nadjaris vor. Eine Weltpremiere sozusagen. Die Stimme des Vorlesers zitterte, den Anwesenden – von diesem ungewöhnlichen, gerade erst gemeinsam geschaffenen Mysterium ergriffen – standen die Tränen in den Augen. Am selben Tag versammelten sich im nahe gelegenen griechischen Café die Teilnehmer dieses Projekts und besprachen bei einer Tasse türkischen Kaffees alle weiteren nötigen Schritte und den zeitlichen Ablauf. Das Datum

609 Das griechische Original wurde von Giorgos Antoniou neu gelesen und paläografisch vorbereitet.

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für die Veröffentlichung der griechischen Buchedition wurde auf Anfang Oktober 2017 angesetzt, pünktlich zum Jahrestag des SonderkommandoAufstands in Auschwitz. Für diesen Zeitpunkt stand auch die Veröffentlichung von zwei meiner Editionen des Texts von 1944 in zwei Sprachen an: auf Deutsch (in den Vierteljahrsheften des Instituts für Zeitgeschichte in München)610 und auf Russisch (in der „Nowaja Gaseta“)611. Beide Publikationen erschienen pünktlich und praktisch zeitgleich, wobei die erste eine weltweite Resonanz in Form Dutzender Aufsätze und Interviews in vielen Sprachen auslöste612. Die Übersetzung des griechischen Originals ins Deutsche fertigte Niels Kadritzke613 an, die Übersetzung ins Russische – gestützt auf die Übersetzung von Kadritzke sowie die englische Fassung von Ioannis Karras – stammt von mir. Während die deutsche Übersetzung in streng wissenschaftlicher Form veröffentlicht wurde, wurde in der Zeitungsedition auf die strikte Aufteilung der Originalblätter verzichtet. Als ich beim Blick auf die erste Seite des Originals deutsche Wörter erkannte, vermutete ich, dass auch französische Ausdrücke in dem Text vorhanden sein könnten. Dies bestätigte Valérie Pozner, die einige Worte und Satzfragmente entziffern konnte; Niels Kadritzke, der Übersetzer ins Deutsche, entdeckte auch einige polnische Wörter, wobei er sich auf Xymena Bukowska berief, die den Wortlaut entziffern konnte.

Das Schicksal des zweiten Manuskripts Es sei nochmal erwähnt: Nachdem Nadjari 1945 nach Thessaloniki zurückgekehrt war, schrieb er seine Erinnerungen in der „Chronik 1941–1945“ von Hand auf und ergänzte sie durch eigene Zeichnungen. Das Datum 15. April 1947, welches am Anfang steht, markiert eher den Abschluss der Arbeiten als deren Beginn, der im Jahr 1946, frühestens Ende 1945 zu verorten ist. 610 Polian P. Das Ungelesene lesen, 2017. Im Internet: https://www.degruyter.com/view/j/vfzg.2017.65. issue-4/vfzg-2017-0033/vfzg-2017-0033.xml 611 Polian, P. Switki is pepla, 2017. Im Internet: https://www.novayagazeta.ru/articles/2017/10/06/74089svitki-iz-pepla 612 Im Internet: http://www.ifz-muenchen.de/vierteljahrshefte/aktuelles/artikel/datum/2017/10/17/ auschwitz-dokumentation-erregt-internationales-aufsehen/ 613 Hinsichtlich eckiger Klammern im edierten Text: Die Auslassungspunkte kennzeichnen unentzifferbare Fragmente. Text in eckigen Klammern stellt eine wahrscheinliche Lesart dar.

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Das Original des Manuskripts wird in der Familie aufbewahrt. Mündlich hat Nadjari fast nichts überliefert. Das Buch erschien 1991 in der Sprache, in der auch der Brief verfasst worden war: auf Griechisch, in einer Auflage von 500 Stück, mit den beigelegten Zeichnungen und mit Fotos des Autors und seiner Familie. Zur Veröffentlichung vorbereitet wurde das Manuskript von Frangiski Ampatzopoulou, Professorin für Philosophie an der Universität Thessaloniki (heute in Athen), und Eleni Elegmitou614. Was für ein Werk – und doch hatte es ganze 44 Jahre auf seinen ersten Verleger warten müssen. Es erhielt übrigens noch eine zweite Ausgabe: eine vollständig handgeschriebene englische Version, die in der „Kleinstauflage“ von nur einem einzigen Exemplar produziert wurde. Diese Ausgabe rührte daher, dass Nadjaris Sohn Albert, der als Säugling in die Vereinigten Staaten mitgenommen worden war, das Griechische nicht beherrschte. Also wurde eigens für ihn irgendwann Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre eine englische Übersetzung erstellt. Sie umfasst 66 Seiten und enthält weder Zeichnungen noch Fotos615. Heute, da uns nun beide Texte Nadjaris zur Verfügung stehen, geraten wir in Versuchung, das zweite Manuskript als eine ausgedehnte Version oder einen Kommentar des ersten Texts zu lesen. Doch dieser Weg würde in eine Sackgasse führen. Bei ihrem Vortrag am 22. April 2017 waren sich sowohl Nelli Nadjari als auch Frangiski Ampatzopoulou in der Einschätzung des Unterschieds zwischen den beiden Texten einig. Der Auschwitzer Text von 1944 ist das Zeugnis eines todgeweihten Menschen, gleichsam sein letztes Wort vor der Hinrichtung und gewissermaßen sein Vermächtnis. Der Text von 1947 aus Thessaloniki ist nicht weniger schrecklich und ausdrucksstark – aber gänzlich anders. Er ist das Ergebnis einer systematischen Erinnerungsarbeit, eine aufrichtige Rekonstruktion der Ereignisse aus den sechs Kriegsjahren zwischen Oktober 1940 und Frühjahr 1945. In Nadjaris Gedächtnis blieben nicht wenige eindrucksvolle Szenen haften. Beispielsweise die Episode mit den jungen Faulpelzen, die sich bei der Selek614 Aus dem Vorwort geht hervor, dass eine sehr aktive, wenn nicht die aktive Rolle überhaupt beim Erhalt der Einzelheiten zur Tragödie der Juden aus Thessaloniki der örtliche Rechtsanwalt Iomtow Jakoel spielte, offenbar derselbe in Auschwitz verstorbene Rechtsanwalt Jakoel, den Herman Strasfogel in seinem „Brief aus der Hölle“ erwähnt. 615 Eine Kopie dieser Übersetzung schenkte die Familie dem APMA-B. Uns steht eine Kopie davon, die wir im Museum erhalten haben, zur Verfügung.

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tion auf der Rampe heimlich in die linke Reihe stellten, um auf einer Lastwagenpritsche in das künftige Lager zu fahren, statt sich zu Fuß hinzuschleppen. Oder das schriftliche Verzeichnen der Goldzähne bei den Neuankömmlingen und deren alphabetische Aufstellung bei der Registrierung. Nicht zu vergessen der Geruch verbrannter Fleischkoteletts, der Marcel in der Quarantäne ständig in die Nase stieg. Hungrig wie er war, dachte er, die Blockältesten des Lagers würden mit Fleisch verköstigt. Erst später wurde ihm die Geruchsquelle auf grausige Weise eröffnet. Der Text Marcel Nadjaris spricht auf gänzlich andere Weise als die Texte anderer Mitglieder des Sonderkommandos. Der entscheidende Unterschied liegt nicht etwa in seiner Kürze, obwohl der ohnehin knappe Text auch noch für die Aufzählung von Freunden und Verwandten „verschwendet“ wurde (die Mischpoke ist auch bei Gradowski und Strasfogel anzutreffen). Sein Kern wird nicht auf den ersten Blick deutlich: dass der Text nämlich ein Schrei ist! Kein Gewimmer, sondern Geschrei! Kein Hilferuf, sondern der Schrei nach Rache! Für den Fall, dass er sterbe, ohne sich gerächt zu haben, überträgt der Autor diese Pflicht auf die anderen, auf seine Angehörigen. Dies verleiht selbst der scheinbar verschwenderischen Namensaufzählung einen Sinn.

Marcel Nadjari: Text aus dem Jahr 1944 (B)itte diesen Brief […] senden azu dehrm [n]achnsten Gricheschen Konsulat.616 Bardzo proszę niniejszy list doręczyć najbliższemu Konsulowi Greckiemu.617 #618 […] qui trouvera ces quelque mots619 est prier par un condamné à mort620 616 Die deutsche und polnische Handschrift stammt vom selber Verfasser. Das fehlerhafte Deutsch hat offenbar einen jiddischsprachigen Hintergrund. 617 Bitte senden Sie diesen Brief an Ihren nächsten griechischen Konsul. (poln.) 618 Die französische Handschrift unterscheidet sich von Strasfogels Schrift. Sehr wahrscheinlich war Nadjari selbst der Verfasser. 619 Der diese wenigen Worte findet (franz.). 620 Wird von einem Todeskandidaten gebeten (franz.).

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d[e] cache[r] [et] de [re]mettre au plus621 au Consulat de la Grèce, afin que622 […] [p]apier […] arrive á sa destination623 chez Dimitrios A. Stefanides Rue Kroussovo No 4 Thessaloniki GRECE624

#

An meine Lieben, Dimitris Athan[asius] Stefanidis625, Ilias Koen626, Georgios Gounaris627. An meine geliebte Gefährtin, Smaro Efraimidou628 aus Athen629, und so viele andere, an die ich immer denken werde, und schließlich an mein geliebtes Vaterland: „ELLAS“, dem ich immer ein guter Bürger war. Am 2. April 1944 sind wir aus unserem Athen abgefahren, nachdem ich einen Monat im Lager Chaidari630 durchlitten habe, wo ich immer […] die Pakete der guten Smaro erhalten habe, und deren Bemühungen um mich mir unvergesslich geblieben sind in diesen schlimmen Tagen, die ich durchmache. [Ich würde mir wünschen, dass die Suche nach ihr nicht aufhört, und würde auf ein Treffen] mit ihr [hoffen] […] Lieber Misko, und jeden Augenblick jetzt und später werde ich hoffen, dass du irgendwann einmal mir aber [ihre] Adresse besorgst, und dass du dich um unseren Ilias kümmerst […] und dass Manolis631 [euch alle] nicht vergessen hat. 621 622 623 624 625 626 627 628

zu verstecken und möglichst viel zu übergeben (franz.). an das Konsulat von Griechenland, damit (franz.). Schriftstück […] sein Ziel erreicht (franz.). bei Dimitrios …; Griechenland (franz.). Sehr enger Freund und Geschäftspartner der Familie Nadjari. Weiter im Text unter der Kurzform Misko. Marcel Nadjaris Cousin. Verstorben 1944. Nicht identifiziert. Offensichtlich Nadjaris Freundin, eine Christin aus Athen, die er in der Partisanenarmee ELAS kennenlernte. Ihr Foto hatte Nadjari bei sich in Auschwitz. 629 Im Original steht „aus Athen“ in eckigen Klammern. 630 Ein Polizeilager im Nordwesten Athens, das im Oktober 1943 eröffnet wurde. Hier wurden die Judentransporte formiert, die nach Auschwitz abfuhren. Nadjari war Ende Januar, Anfang Februar 1944 hierhin geraten, einen Monat nach ununterbrochener Folter im Averoff-Gefängnis. 631 Lange Zeit nach seiner Inhaftierung gab sich Nadjari für einen gewissen Manolis aus (offensichtlich ein Name, den er im Partisanenuntergrund erhalten hatte; möglicherweise hatte er einen gefälschten Ausweis auf diesen Namen).

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Aber auch, dass wir, wie es aussieht, uns leider nicht mehr werden begegnen können. Nach einer Reise von zehn Tagen kamen wir am 11. April in Auschwitz an, wo sie uns ins Lager Birkenau brachten. Wir blieben etwa einen Monat in der Quarantäne und von da haben sie uns, die Gesunden und Kräftigen, verlegt. Wohin? Wohin, mein lieber Misko? In ein Krematorium, ich werde euch weiter unten noch unsere tolle Arbeit erläutern, die der Allmächtige uns verrichten lassen wollte. Es ist ein großes Gebäude mit einem breiten Schornstein und 15 Öfen. Unterhalb der [Erde] gibt es zwei große endlose Kellerräume. Der eine dient uns zum Auskleiden und der andere als Todeskammer, wo die Leute nackt hineingehen, und nachdem er mit etwa 3000 Personen gefüllt ist, wird er verschlossen und sie vergasen sie. Nach 6 bis 7 Minuten Martyrium hauchen sie den Geist aus. Unsere Arbeit bestand erstens darin, sie im (Entkleidungsraum) in Empfang zu nehmen. Die meisten kannten den Grund nicht […] und wenn sie [schrien] oder weinten, dann sagten wir ihnen, dass es sich um ein Bad handelt […] Und sie gingen nichts ahnend in den Tod. Bis heute […] Ich sagte, dass jeder [sich ausziehen muss usw.]. Ich sagte ihnen, dass ich ihre Sprache nicht verstehe, in der sie mit mir zu reden versuchten632. Aber ich wusste ja, dass diese menschlichen Wesen, die Männer und Frauen, dass ihr Schicksal besiegelt ist […] Und ich habe [ihnen nicht] die Wahrheit gesagt. Nachdem […], gingen sie nackt in die Todeskammer […] Da drinnen hatten die Deutschen an der Decke Rohre angebracht, damit sie glauben, dass sie das Bad vorbereiten. Mit Gewalt, mit Peitschen in der Hand zwangen die Deutschen die Menschen in die Kammer, sie füllten sie so, dass möglichst viele hineinpassen, eine wahre Sardinendose von Menschen – danach haben sie die Tür hermetisch verschlossen. Die Gasbüchsen kamen immer mit dem Auto des Deutschen Roten Kreuzes mit zwei SS-Leuten. Das waren die Gasleute, die ihnen dann das Gas durch Öffnungen hineingeschüttet haben633. Nach einer halben Stunde öffneten wir die Türen und unsere Arbeit begann. Wir trugen die Leichen dieser unschuldigen Frauen und Kinder zum Aufzug, der sie in den Raum mit den Öfen beförderte, und dort steckten sie sie in die Öfen, wo sie verbrannten ohne Zuhilfenahme von Brennmaterial aufgrund des Fetts, das sie haben. Ein [einstiger] Mensch ergab nur etwa ein halbes Okka634 Asche 632 Nadjari sprach kein Jiddisch. 633 In den Dosen befand sich eine Kieselgur, die an der Luft das Giftgas freisetzte. 634 Ein Okka war ein in der osmanischen Türkei geltendes Gewichtsmaß, welches auch in Thessaloniki noch verbreitet war. Ein halbes Okka sind circa 640 Gramm.

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[und unverbrannte Knochen], die uns die Deutschen zu zerkleinern zwangen, um sie dann durch ein grobes Sieb zu pressen, und danach holte es ein Auto ab und schüttete es in den Fluss Vistula635, der in der Nähe vorbeifließt. So beseitigen sie alle Spuren. Die Dramen, die meine Augen gesehen haben, sind unbeschreiblich. An meinen Augen sind etwa 600.000 Juden aus Ungarn vorbeigezogen, und dazu noch Franzosen, Polen aus Litzmannstadt636, ungefähr 80.000, und jetzt zuletzt trafen erstmals etwa 10.000 Juden aus Theresienstadt637 in der Tschechoslowakei ein. Heute kam ein Transport638 aus Theresienstadt, aber Gott sei Dank haben sie die nicht zu uns gebracht, sie behielten sie in den Lagern. Es hieß, dass der Befehl kam, man solle keine Juden mehr töten, und das stimmt allem Anschein nach. Da haben sie jetzt im letzten Moment ihre Meinung geändert  – jetzt da allerdings kein einziger Jude in Europa übrig geblieben ist. Doch für uns liegt die Sache sowieso anders. Wir müssen von der Erde verschwinden, weil wir so vieles wissen über die unvorstellbaren Methoden ihrer Misshandlungen und Vergeltungsaktionen. Unser Kommando nennt sich Sonderkommando639, es bestand anfangs aus rund 1.000 Menschen, davon 200 Griechen und die übrigen Polen und Ungarn640. Und nach dem heroischen Widerstand wollten sie 800 abziehen, hundert außerhalb des Lagers und die anderen innerhalb. Gefallen sind auch meine guten Freunde Viko Brudo641 und Minis Aaron642 aus Thessaloniki. Jetzt, wo dieser Befehl gekommen ist, werden sie auch uns liquidieren. Wir sind insgesamt 26 Griechen und die übrigen sind Polen. Zumindest wir Griechen sind entschlossen zu sterben wie wahre Griechen, so wie jeder Grieche aus dem Leben zu scheiden weiß, indem er bis zum letzten Augenblick zeigt, trotz der Überlegenheit der Verbrecher, dass in unseren Adern griechisches Blut fließt, wie wir es auch im Krieg gegen Italien643 gezeigt haben.

635 Die Weichsel. 636 Gemeint ist die Stadt Lodz, die unter deutscher Besatzung nach General Litzmann umbenannt wurde. 637 So im Text. Der Transport aus Theresienstadt traf am 30. Oktober in Auschwitz ein. 638 Das Wort, das im Original steht, kommt laut Kadritzke nicht aus dem Griechischen, sondern möglicherweise aus dem Ladino. 639 Weiter im Original folgt in Klammern das griechische Pendant: „editko komanto“. 640 Gemeint sind griechische, polnische und ungarische Juden. 641 Wurde zusammen mit Nadjari in Auschwitz eingeliefert und dem Sonderkommando zugewiesen. Einer derjenigen, mit denen Nadjari Anfang 1943 eine Seifensiederei und einen Laden in Athen betrieb. 642 Wurde zusammen mit Nadjari in Auschwitz eingeliefert und dem Sonderkommando zugewiesen. 643 Gemeint ist der griechisch-italienische Krieg in Südalbanien. Nadjari war an den Kämpfen beteiligt.

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Meine Lieben, wenn ihr lest, welche Arbeit ich erledigt habe, werdet ihr sagen: Wie konnte ich, der Manolis, oder irgendjemand anders diese Arbeit machen und die Glaubensgenossen verbrennen? Auch ich habe mir das anfangs gesagt, viele Male habe ich daran gedacht, zusammen mit ihnen reinzugehen, um [selbstständig] Schluss zu machen. Aber davon abgehalten hat mich immer wieder die Rache[lust]. Ich wollte und will leben, um den Tod von Papa und Mama zu rächen, und meiner geliebten kleinen Schwester Nelli644. Ich fürchte den Tod nicht, wie könnte ich ihn auch fürchten, nach all dem, was meine Augen gesehen haben? Deshalb lieber Ilias, mein geliebter kleiner Cousin, sollst du, wenn es mich nicht mehr gibt, du und alle meine Freunde sollt wissen, was eure Pflicht ist. Von meiner kleinen Cousine Sarrika Chouli645 (Du erinnerst dich an sie, die damals in meinem Haus war? Sie lebt heute) habe ich erfahren, dass Nellika mit deiner kleinen Schwester Errika646 zusammen war, bis zu ihren allerletzten Augenblicken.). Mein einziger Wunsch ist, dass in eure Hände gelangt, was ich euch schreibe. Den Besitz meiner Familie vermache ich an dich, Misko, Dimitrios Athanasiou Stefanidis, mit der Bitte, den Ilias zu dir zu nehmen, meinen Cousin. Der Ilias ist (ein) Koen647 und du sollst ihn ganz so betrachten, als ob ich selbst es wäre, sollst immer auf ihn aufpassen. Und falls je meine Cousine Sarika Chouli zurückkehrt, sollst du sie so behandeln, lieber Misko, wie deine geliebte Nichte Smaragda, denn wir alle hier erleiden Dinge, die sich der menschliche Verstand nicht vorstellen kann. Denkt ab und zu an mich, so wie auch ich an euch denke. Das Schicksal will es nicht, dass auch ich unser Griechenland frei sehe, so wie ihr es am 12/10/43648 erlebt habt. Wann immer jemand nach mir fragt, sagt einfach, dass es mich nicht mehr gibt, und dass ich dahingegangen bin wie ein wahrer Grieche. Hilf allen, mein lieber Miskos, die zurückkommen aus dem Lager von Birkenau. 644 Nadjaris Schwester, die zusammen mit Vater und Mutter im Frühling 1943 aus Athen nach Auschwitz deportiert wurde. 645 Nadjaris Cousine, die er in Auschwitz-Birkenau traf. Über ihr weiteres Schicksal ist uns nichts bekannt. 646 Die Schwester von Ilias. 647 Die Koens sind ein jüdisches Priestergeschlecht, Nachkommen des Erzpriesters Aaron. 648 Offensichtlich ein Flüchtigkeitsfehler: Griechenland wurde durch die Kämpfer des Untergrunds und die britischen Truppen im Herbst 1944 – nicht 1943 – befreit.

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Ich bin nicht traurig, lieber Misko, dass ich sterben werde, wohl aber, dass ich mich nicht werde rächen können, wie ich es will und ich es weiß. Falls du einen Brief von meinen Verwandten im Ausland bekommst, gib bitte die passende Antwort, dass die Familie A. Nadjari ausgelöscht ist, ermordet von den kultivierten Deutschen. Das Neue Europa!649 Erinnerst du dich, lieber Giorgos? Hol bitte, Misko, das Klavier meiner Nelli von der Familie Sionidou650 ab und gib es dem Ilias, damit er es zur Erinnerung immer bei sich hat. Er hat sie so sehr geliebt und sie ihn auch. Fast immer, wenn sie töten, frage ich mich, ob Gott existiert. Dennoch habe ich immer an IHN geglaubt und glaube nach wie vor, dass Gott es will, dass sein Wille geschehe. Ich sterbe glücklich, weil ich weiß, dass in diesem Augenblick unser Griechenland frei ist. Mein letztes Wort wird sein: Es lebe Griechenland! Marcel Nadjari. # Seit nunmehr etwa vier Jahren töten sie Juden. Sie töteten Polen, Tschechen, Franzosen, Ungarn, Slowaken, Holländer, Belgier, Russen und ganz Thessaloniki. […] Ausnahme [sind] die etwa 300, die bis heute am Leben sind, [in] Athen, Arta, Kerkyra, Kos und Rhodos. Insgesamt ungefähr 1.400.000. Birkenau der 3/11/44. […] Mein geliebter Onkel […] Gabai oder Euaggelos Frangides […] (Perikleous 52) (Stadiou 60) Athen. Das sind meine letzten Worte und […] ich bin zufrieden […] dass du bleibst und deine Liebsten […] in der „Neuen Wahrheit“ […]651 649 Die beiden Wörter „Neues Europa“ stehen in Klammern: ein Hinweis darauf, dass nicht nur die neue deutsche Staatenordnung in Europa gemeint ist, sondern auch die gleichnamige, kollaborationistische und antisemitische Zeitung, die in Griechenland erschien. 650 Giorgos ist der dritte Adressat des Briefs. Keine weiteren Angaben verfügbar. Bei der Familie ­Sionidou handelt es sich offenbar um eine weitere christliche Familie, die mit den Nadjaris eng befreundet war. 651 Griechische Tageszeitung von Thessaloniki, die in den Jahren 1909–1971 veröffentlicht wurde.

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Marcel Nadjari: „Ich werde mich nicht rächen können, wie ich es will“

Die verehrte Griechische Botschaft, die diese Notiz erhalten wird, wird gebeten von einem guten griechischen Bürger namens Emmanouil oder Marcel Nadjari aus Thessaloniki, früher wohnhaft in der Odos Italias Nr. 9 in Thessaloniki, diese Notiz an untenstehende Adresse zu schicken: Dimitrios Athanassiou Stefanidis Odos Krousovou Nr. 4 Thessaloniki Griechenland Dies ist mein letzter Wunsch. Ich bin zum Tode verurteilt von den Deutschen, weil ich jüdischen Glaubens bin. Danke M. Nadjaris652 Übersetzt aus dem Griechischen ins Deutsche von Niels Kadritzke unter Beteiligung und nach Entzifferung von Fragiski Ampatzopoulou, Giorgos Antoniou, Maria Kazantzidou, Iannis Carras und Isaac Sakis Leon. Erstentzifferung von Alexander Nikitjaev und Iannis Carras. Entzifferung aus dem Deutschen: Andreas Kilian Entzifferung aus dem Polnischen: Xymena Bukowska und Adam Pomorski Entzifferung aus dem Französischen: Valérie und Constance Pozner, Azat Aroutiounian, A. Kilian Anmerkungen von Pavel Polian und Andreas Kilian

652 Dem Übersetzer N. Kadritzke zufolge hat M. Nadjari mit dem angehängten „s“ seinen Namen bewusst hellenisiert um seine griechische Identität zu betonen.

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Abraham Levite: Vorwort zur Anthologie „Auschwitz“ Zeit: am Vortag des Todes. Ort: auf dem Schafott. Dieser erstaunliche, auf Jiddisch verfasste Text sah in der ersten Ausgabe der „YIVO Bleter“ von 1946 das Licht der Welt. Die Frühjahr/Sommer-Ausgabe, in der er erschien, wurde im Sommer oder Herbst veröffentlicht, also mindestens eineinhalb Jahre nach dem „3. Januar 1945“, dem Datum, mit dem dieser Text versehen ist. Es gibt noch eine zweite Wegmarke in der Publikation: 14. Juni 1945, Rouen. Damit wird die kurze Vorbemerkung des Autors zum eigenen Vorwort datiert. Der Publikation wurde seitens der Redaktion diese Präambel vorangestellt: „Im Sommer 1945 übergab Abraham Levite aus Brzozów nahe Sanok in Polen, damals Flüchtling in Stuttgart (Deutschland), das folgende Dokument dem Rabbiner-Kaplan Morris Dembowitz. Durch die Vermittlung der Professoren Abraham Jeschua Heschel und Max Arzt vom Jüdischen Theologischen Seminar in New York gelangte das Manuskript zum YIVO, und wir drucken es hier unverändert ab. Selbst in der Orthografie haben wir lediglich eine Vokalisation vorgenommen (a-o, p-f) usw.; sonst nichts. Im Vorwort wurden einige kleine stilistische ­Änderungen vorgenommen. Die Redaktion.“

Aus der Präambel geht hervor, dass die Redaktion über keine weiteren Informationen zum Schicksal Abraham Levites verfügte. Leider sind auch unsere Informationen recht dürftig. Abraham Levite wurde 1917 in Brzeziw/Brzozów in Galizien unweit der Stadt Sanok geboren. Er besuchte dort die Chederschule. Als der Krieg ausbrach, ging er nicht wie andere jüdische Flüchtlinge in den Osten, sondern blieb zunächst in seiner Heimatstadt und wartete die Ankunft der Deutschen ab. Erst als er mit eigenen Augen gesehen hatte, was sie waren, 540

Abraham Levite: Vorwort zur Anthologie „Auschwitz“

diese „kultivierten Deutschen“, floh er in die sowjetische Besatzungszone und ließ sich im sowjetisch annektierten Lemberg nieder  – zunächst im Status eines Flüchtlings, sprich: halblegal. Nachdem er dann einen Sowjetpass, den er selbst als „Treffas“ bezeichnet, erhalten hatte, nahm er seinen Aufenthalt im Städtchen Kosowa, nahe der Stadt Bereschany im heutigen Verwaltungsbezirk (Oblast) Ternopil in der Ukraine, wo die Sowjets damals eine Art Reservat für solche legalisierten Flüchtlinge eingerichtet hatten, wie Levite einer war. Als er 1941 wieder unter deutsche Herrschaft geraten war, diesmal in Kosowa, kehrte er in seine Heimatstadt zurück. Die Familie freute sich natürlich, aber mit seiner Rückkehr starb ihre Hoffnung, dass wenigstens einer aus der Familie sich retten würde. Am 8. August 1942 wurde er als Arbeitsfähiger in das Ghetto des Krakauer Stadtteils Plaszow zwangsverschickt. Alle seine arbeitsunfähigen Verwandten – Vater, Mutter, jüngerer Bruder und die Schwestern – wurden einen Tag später im nahe gelegenen Wald erschossen. Nach der Liquidierung des Ghettos im März 1943 geriet Levite nach Auschwitz, wo er die Selektion – wie er selber glaubt: bei Mengele höchstpersönlich – durchlief653. Seine Nummer war die 108200. Die Häftlinge in gestreiften Anzügen erinnerten ihn an die Purimspieler  – nur andersherum: als hätte Haman einen Sieg über die Juden errungen und nicht die Juden über Haman. Levite wurde zum Arbeiten in die Bergwerke nach Brzeszcze-Jawischow654 itz geschickt, aber er hatte Glück: Er wurde nicht unmittelbar im Schacht eingesetzt, sondern über Tage in einer Werkstatt. Im Dezember 1943 wurde er mit einem Knochenbruch in den Auschwitzer Häftlingskrankenbau eingeliefert, doch auch dort gelang es ihm zu überleben, indem er wundersamerweise den allwöchentlichen Selektionen entkam. Er erinnerte sich daran, dass die sowjetischen Kriegsgefangenen „wild und unkontrollierbar“ gewesen seien, und daran, dass die ungarischen Juden „immer noch an menschliches Verhal653 Hier irrt sich Levite offenbar, denn der „Todesengel“, SS-Hauptsturmführer Dr. Josef Mengele (1911– 1979), kam erst im Mai 1943 in Auschwitz an. In Auschwitz begann er als leitender Arzt des sog. Zigeunerlagers und wurde dann zum leitenden Lagerarzt im „Häftlingskrankenbaulager“ im B II f und schließlich im Dezember 1944 Truppenarzt im SS-Truppenlazarett in Birkenau. In der Regel führte er persönlich die Selektion auf der Rampe durch, indem er entschied, wer gleich sterben und wer noch leben sollte, wobei er natürlich auch die „Interessen“ seiner medizinischen „Versuche“ (vor allem an Zwillingen, Zwergen und allerart Anomalien) berücksichtigte. 654 Brzeszcze-Jawischowitz: eine bis heute aktive Kohlezeche 12 Kilometer von Oświęcim entfernt, damals eines der Nebenlager des Lagerkomplexes Auschwitz III. Zwischen August 1942 und Januar 1945 gehörte die Zeche den Reichswerken Hermann Göring. Rund 2.000 KL-Häftlinge arbeiteten dort.

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ten, das die Veteranen des Lagers als naiv und von der harten Realität getrennt betrachteten“ gedacht hätten. Über sie schrieb er: „Ein weiterer Zweig des europäischen Judentums war dezimiert worden.“ Der Auschwitzer Text von Abraham Levite ist auf den 3. Januar 1945 datiert. Das Genre ist einfach überwältigend: Es handelt sich um das Vorwort zu einer Anthologie literarischer Werke auf Jiddisch und Hebräisch, die von einigen jüdischen Autoren in Birkenau verfasst worden waren. Während Gradowski und andere Schriftsteller aus dem Sonderkommando sich in ihren Notizen darauf konzentrierten, zu beschreiben, wie die Juden hier starben, hatten es die Autoren der Anthologie darauf abgesehen, darüber zu erzählen, wie sie hier lebten. Die Autoren sind ebenso wie die Anthologie ums Leben gekommen, geblieben ist nur das Vorwort  – und mit ihm überlebte auch dessen Autor, Abraham Levite. Am 18. Januar 1945 wurde das Lager Auschwitz-Birkenau evakuiert. Levite überlebte – trotz seines alten Beinbruchs – auch den Todesmarsch: Er wurde erst in das KZ Groß-Rosen getrieben und dann nach Buchenwald überführt. Von dort aus ging es Richtung Zwickau weiter. Auf dem Weg dorthin flüchtete er. Da war es bereits Ende April oder Anfang Mai. Es war, als hätte er sich selbst befreit, und das Treffen mit den Amerikanern hätte das Wunder der Rettung nur bestätigt. Seine weitere Route wollte er selbstständig festlegen: Die Präambel zum Vorwort verrät eine seiner Zwischenstationen, nämlich das französische Rouen im Juni 1945. Noch im selben Jahr tauchte er in Palästina auf, wo er höchstwahrscheinlich schon bald heiratete. In Israel war Levite als Redakteur tätig und es war offensichtlich er, der das „Gedächtnisbuch“ seiner Heimatstadt initiierte („Sefer zikaron kehilat Breziv“), welches 1984 auf Jiddisch und Hebräisch erschien655. Dafür schrieb er zahlreiche Artikel und übersetzte seinen Text von 1945 ins Hebräische. Im Artikel „Die Jahre des Verlustes“ erinnert er sich an sein Städtchen, seine Jugend, „sein“ Lager Auschwitz (Oyshvits) und seine wundersame Befreiung. Außerdem hinterließ er Erinnerungen („Reise in die Vergangenheit. Erinnerungen eines Cheder-Schülers aus dem Schtetl Brzeziw (Brzozów)“ und veröffentlichte eine Sammlung jiddischer Sprichwörter. Die beiden letzteren Publikationen erschienen erst nach dem Tod Abraham Levites 1990: die Memoiren 1992, die Sprichwörter 1996. 655 Eine Digitalversion ist auf der Internetseite der New Yorker öffentlichen Bibliothek in der Yizkor Book Collection einzusehen: http://yizkor.nypl.org/index.php?id=1027.

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Abraham Levite: Vorwort zur Anthologie „Auschwitz“

Doch die wichtigste literarische Arbeit von Abraham Levite – ich denke, es wäre kein Fehler, dies so zu sehen – waren die wenigen Seiten, die er 1945 für die fantastische literarische Anthologie verfasst hatte. Der Text blieb 1946 lange Zeit weitgehend unbekannt, einen Übersetzungsboom löste er jedenfalls nicht aus. Aber gänzlich unbemerkt blieb er auch nicht. So zitierte der israelische Kultur- und Bildungsminister, Ben-Zion Dinur, Fragmente aus dem Vorwort in seiner Rede in der Knesset am 12. Mai 1953, als das Parlament über das Gesetz zur Verewigung des Gedenkens an die Katastrophe und zur Gründung der Gedenkstätte Yad Vashem beriet656. Bald darauf wurde der gesamte Text Levites ins Hebräische übersetzt und in das Buch „Menschen und Asche: das Buch von Auschwitz-Birkenau“ unter der Redaktion Israel Gutmans 1957 aufgenommen. 42 Jahre später, 1999, erschien der Text auch auf Englisch657. Am 27. Januar 2012 wurde die erste russische Fassung in der Zeitung „Moskowskije nowosti“ abgedruckt.

Abraham Levite: Text Anfang Januar dieses Jahres, kurz vor der Liquidierung des berühmt-berüchtigten Vernichtungslagers Auschwitz, hatten einige ernsthafte junge Männer es sich überlegt, dort eine Art Anthologie unter der Überschrift „Auschwitz“ zu erschaffen, welche Gedichte, Beschreibungen und Eindrücke von dem Gesehenen und Erlebten enthalten würde. Die Hefte in mehreren Exemplaren mussten wir in Flaschen an unterschiedlichen Stellen vergraben, an den Arbeitsplätzen außerhalb des Lagers, sie einigen anständigen Polen anvertrauen, mit denen zusammen wir arbeiteten, und sie darum bitten, dass sie sie nach der Befreiung aus der Erde holen und in jüdische Hände übergeben. Diese jungen Männer waren, wie überhaupt alle, die sich in Auschwitz befanden, davon überzeugt, dass sie dort nie wieder rauskommen, und die geplante Anthologie sollte ein Versuch werden, ihr Leid abzubilden, ihre ­Verbitterung auszudrücken und ihr Leben gewissermaßen zu rechtfertigen, das ihnen unwahrscheinlich verabscheuungswürdig vorkam, angesichts der 656 Vgl. diese Rede im Buch „Alumot“ („Bündel“) – ein Lesebuch für die 8. Klasse (Tel-Aviv, Am oved, 1954. Hrsg. Szmuel Gadon). 657 Suchoff, 1999. S. 59–69.

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furchtbaren und haarsträubenden Gräueltaten, die sie mit eigenen Augen gesehen haben. Das Buch sollte zahlreiches Material enthalten: Sammlungen von historisch bedeutsamen Fakten ebenso wie Beschreibungen der Ghettos und der Gräueltaten nazistischer Banditen, noch vor der Ankunft im Lager. Einige gelungene Gedichte waren bereits in dem Jiddisch des ungarischen jiddischen Dichters verfasst worden, die Bitte um Vergebung im „Brief an meinen Bruder im Land Israels“ und andere. Dieses Projekt war nicht erfolgreich, weil das Lager zwei Wochen später wegen des Vorrückens der russischen Armee evakuiert wurde. Das Geschriebene blieb in den Händen derer, die es geschrieben hatten, und das, was hier weiter angeführt wird, sollte das Vorwort zur Anthologie werden. Ich ändere nichts an dem Text, weil ich ihn als ein Dokument betrachte, das über Auschwitz unmittelbar in Auschwitz658 geschrieben worden ist, das ist ein Blick auf das Todeslager durch die Lagerbrille, er bringt außerdem die Gefühle vieler Kameraden und Leidensgefährten zum Ausdruck, und ich denke, er müsste an sich schon einen gewissen Wert darstellen. Rouen, Frankreich, 14. Juni 1945.

Vorwort zur geplanten Anthologie Auschwitz Ich habe über Menschen gelesen, die zum Nordpol gefahren waren und deren Schiffe vom Packeis eingeklemmt wurden, wobei ihre S.O.S.659-Zeichen ohne Antwort blieben. Das Essen ging ihnen aus, der Frost fesselte sie, und sie warteten auf den Tod, von der Welt abgeschnitten, frierend, hungernd. Dennoch ließen diese Menschen den Bleistift aus den vor Kälte erstarrten Fingern nicht fallen. Sie machten weiter Notizen in den Log- und Tagebüchern, vor ihren Augen schwebte schon die Ewigkeit. Wie hat es mich damals bewegt, dass Menschen unter solch tragischen Umständen, vom Leben erbarmungslos verstoßen und bereits von den Todesfängen ergriffen, sich dennoch über ihr eigenes Schicksal erhoben und weiterhin ihre Pflicht der Ewigkeit gegenüber erfüllten.

658 Hervorgehoben durch den Autor. 659 In hebräischen Schriftzeichen geschrieben.

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Wir alle, die hier in der polareisigen Gleichgültigkeit der Nationen, von der Welt und vom Leben vergessen, sterben, verspüren den Drang, etwas für die Ewigkeit zu hinterlassen, wenn schon keine vollkommenen Dokumente, dann wenigstens Bruchstücke dessen, was wir, die lebenden Toten, dachten und sprachen, woran wir glaubten und wie wir fühlten. Auf den Gräbern, in denen wir lebendig begraben liegen, tanzt die Welt einen Teufelstanz, unser Gestöhne und unsere Hilferufe werden mit Füßen zerstampft, wenn wir schon erstickt sind, dann wird man sich daranmachen, uns auszugraben; dann wird es uns nicht mehr geben, nur unsere über alle sieben Weltmeere verstreute Asche, dann wird jeder kultivierte und anständige Mensch es für seine Pflicht halten, uns zu bedauern und eine Trauerrede zu halten. Wenn unsere Schatten auf den Leinwänden und Bühnen auftauchen, werden mitfühlende Damen sich mit parfümierten Tüchlein die Tränen aus den Augen wischen und uns betrauern: Ach, diese Unglücklichen. Wir wissen: Lebend kommen wir hier nicht raus. An der Pforte dieser Hölle hat der Teufel eigenhändig geschrieben: „Lass alle Hoffnung fahren, wer hier eintritt“660. Wir wollen unsere Sünden bekennen, dies soll unser „Schma Israel“ für die künftigen Generationen werden. Dies muss das Bekenntnis einer tragischen Generation werden, einer Generation, die ihrer Aufgabe nicht gewachsen war, deren rachitische Beine unter der schweren Bürde des Martyriums eingeknickt sind, die die Zeit auf ihre Schultern geladen hatte. Und deshalb ist hier nicht von Fakten und Zahlen die Rede, nicht von der Sammlung trockener Dokumente  – dies wird man auch ohne uns tun. Die Geschichte von Auschwitz wird man auch ohne unsere Hilfe rekonstruieren können. Auch werden Fotos, Zeugen und Dokumente euch davon berichten, wie man in Auschwitz starb. Wir wollen vielmehr ein Bild dessen schaffen, wie man in Auschwitz „lebte“. Wie sah ein normaler, durchschnittlicher Arbeitstag im Lager aus? Ein solcher Tag ist eine Mischung aus Leben und Tod, aus Hoffnung und Angst, aus Resignation und Lebenswillen. Ein Tag, an dem man keine Minute weiß, was die nächste Minute bringt. So, als würde man mit einem Pickel das eigene Leben in Stücke schlagen  – in blutige Stücke, in Jugendjahre – und sie schwer atmend auf die Lore der Zeit661 draufladen, die sich quietschend und kreischend auf dem Gleis des Lagerlebens fortschleicht.

660 Ein Zitat aus Dantes „Göttlicher Komödie“: „Lasciate ogni speranza voi ch’entrate.“ (Die Göttliche Komödie, Hölle III, 9). 661 Das deutsche Wort „Lore“ ist hier in hebräischen Schriftzeichen geschrieben.

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In der Abenddämmerung kippt662 man tödlich erschöpft die Lore über einen tiefen Abgrund aus. Ach, wer holt diesen blutüberströmten Tag aus dem Abgrund empor, zusammen mit seinem schwarzen Schatten und der angsterfüllten Nacht, und zeigt ihn der Welt? Ja, es werden lebende Menschen hier rauskommen: Nicht-Juden. Was werden sie über unser Leben erzählen? Was wissen sie über unser Leid? Was wussten sie über die jüdische Not in normalen Zeiten? Sie wussten, dass wir ein Volk von Rothschilds sind. Auch jetzt werden sie emsig Margarinepapier und Wursthaut aufsammeln, um zu zeigen: Der Jude lebte nicht schlecht im Lager. Im Abfalleimer des Gedächtnisses werden sie nicht rumkramen wollen, um daraus die bleichen, ständig verängstigten Schatten mit erloschenem Blick hervorzuholen, die sich stets an den Blöcken herumtrieben und mit ihren zwischen die blau angelaufenen Finger geklemmten Löffeln die Suppenfässer ausschabten. Zehn Mal mit Schlagstöcken vertrieben, wühlten sie die Abfalleimer auf der Suche nach verschimmelten Brotkrumen durch. Die Elenden zitterten und erloschen wie Kerzen, ohne die Möglichkeit zu haben, ihren einzigen Traum zu erfüllen: sich wenigstens einmal satt zu essen. Jeder „Große“ und jeder Lagerfunktionär sah es als seine Pflicht an, gegenüber den Tausenden, die im Lagerjargon „Muselmänner“663 genannt wurden, auf Auschwitzer Art das Gebot „azoyv tazoyv“664 zu erfüllen. Es wurde ihnen in der Tat geholfen – und zwar zu sterben. Diese Abertausenden Unbekannten, Schwachen und Hilflosen trugen auf ihren schwachen Schultern das ganze Elend und die Einsamkeit, die ganze Brutalität und das ganze Grauen des Lagerlebens. Komplett alles, weil sie zum Teil auch die Arbeit der Privilegierten schultern mussten, und sie schleppten diese Last, bis sie hinfielen, bis ein Paar geputzter Stiefel eines Kapos sie wie Würmer zu Tode traten. Davon werden sie nicht berichten: Wozu die Stimmung verderben und die Geister rufen? Erst recht nicht, wenn das eigene Gewissen auch nicht sonder662 Das deutsche „kippen“ ist hier in hebräischen Schriftzeichen geschrieben. 663 Siehe dazu vorne in diesem Buch, S. 29, FN 27. 664 Gemeint ist das Gebot, dem Nächsten, selbst dem Feind, im Falle von Bedürftigkeit zu helfen, und sich auch den Tieren gegenüber barmherzig zu erweisen. Dieses Gebot wird von den Gelehrten aus dem Satz abgeleitet: „Wenn du den Esel deines Widersachers unter seiner Last liegen siehst, so lass ihn ja nicht im Stich, sondern hilf mit ihm zusammen dem Tiere auf “ (2. Mose 23,5). Derweil kann der Ausdruck ‫תּעזוב‬ ֿ ‫עזוב‬ ֿ (der in diesem Zusammenhang so viel wie „von der Last befreien“ bedeutet) auch als „sich selbst überlassen“ verstanden werden. Offensichtlich spielt der Autor auf die letztere Bedeutung an, um den Grundsatz „gegenseitiger Hilfe“ innerhalb des Lagers auf ironische Weise zu beschreiben. Das humanste Gebot überhaupt – das Gebot der Barmherzigkeit gegenüber den Feinden – verwandelt sich im Konzentrationslager in den Grundsatz: „Den Gestürzten sollst du treten.“

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lich rein ist … Es ist besser, von den wenigen zu sprechen, die gut genährt waren. Im ganzen Meer aus Elend und Bitterkeit sehen sie nur einige wenige Öltropfen, die, von einem Schiffbruch übrig geblieben, auf der Oberfläche schwimmen. Wenn wir in unseren eigenen Leib beißen, sagen die, dass wir genug Fleisch zum Sattessen hätten, und wenn unsere Eltern hingerichtet werden, beneiden sie uns, dass wir nun deren Kleidung verkaufen können. Wir müssen selbst über uns erzählen. Wir sind uns darüber im Klaren, nicht kraftvoll genug zu sein, um zu beschreiben und etwas Derartiges zu schaffen, das unsere Tragödie abbilden und ausdrücken könnte. Aber: Diese Schrift muss ja überhaupt nicht auf die Waagschale der Literatur gelegt werden. Sie muss als ein Dokument betrachtet und als solches beachtet werden; die Zeit und der Ort, nicht der literarische Wert der Sache müssen berücksichtigt werden. Die Zeit: am Vortag des Todes. Der Ort: auf dem Schafott. Nur von einem Schauspieler auf der Bühne wird verlangt, dass er schreie, weine und stöhne nach allen Regeln der Kunst. Ihm tut es ja nicht weh. Letztlich wird doch niemand das betroffene Opfer665 dafür kritisieren, dass es viel zu laut stöhnt oder viel zu leise weint. Wir haben was zu sagen, obwohl wir literarisch betrachtet Stotterer sind. Wir werden erzählen, so gut wir es können, in unserer eigenen Sprache. Selbst die Stummen können nicht schweigen, wenn sie leiden – sie sprechen, wenn auch in ihrer eigenen Sprache, der Sprache der Gesten. Nur Bontsches666 schweigen. Sie machen eine geheimnisvolle Miene, als hätten sie Gott weiß was zu sagen. Erst dort, in der wahren Welt667, wo die Pose und das Schauspiel nicht mehr ­ziehen, verraten sie das Geheimnis ihres Lebens: ein Brötchen mit Butter! Das Spiel ist aus. Gigantische Anstrengungen wurden unternommen, die Mühe von Generationen. Jehuda668 wurde vom Antlitz der Erde ausradiert. Die Scheiterhaufen werden gelöscht. Die Schornsteine werden abgebaut, diese 665 Hier genau so, als Germanismus. 666 Der Autor spielt auf die Figur einer einst sehr berühmten Erzählung von Jizchok Leib Perez aus dem Jahr 1894 an. Der leidgeprüfte und schweigsame Arbeiter Bontsche kommt in den Himmel, wo eine Belohnung auf ihn wartet, weil er zu Lebzeiten alle Ungerechtigkeit stillschweigend ertragen hat. Sein einziger Wunsch ist es jedoch, wie der Himmel zu eigener Überraschung feststellen muss, jeden Morgen ein warmes Brötchen mit Butter zum Frühstück zu bekommen. Die meisten Zeitgenossen des Autors sahen in dieser Geschichte einen Aufruf zum Klassenkampf und zur Befreiung des Proletariats, wobei sie die bittere Ironie hinsichtlich der geistigen Ansprüche des Letzteren übersahen. 667 Im Jenseits. 668 Das heißt: das jüdische Volk.

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Kulturdenkmäler des neuen Europa, die architektonischen Muster im Stil der Neugotik. Sie waschen sich schon die Hände und gehen hin, das „Blutbedecken“669 zu segnen, wenn auch mit Asche, das ist doch eine Kleinigkeit für fünf strahlende Krematorien. Das Abschlachten war ja human. Ein bezaubernder Sommertag. Ein Waggon mit Ausgesiedelten670 ist unterwegs. Viehwaggons. Die Fenster sind mit Stacheldraht versperrt. Auf jedem Trittbrett ein voll bewaffneter Soldat. Durch das vergitterte Fenster sieht ein Kind hindurch. Ein helles Antlitz, klare unschuldige Augen, der Blick so neugierig und mutig. Es ahnt nichts Böses, es sieht ein großes, weit geöffnetes Buch mit bunten Bildern vor sich: Felder und Wiesen fahren vorbei … Wälder und Gärten, Häuser und Bäume ziehen im Halbkreis vorüber und verschwinden … Die Farben verschwimmen zu einem Ausschnitt, eine Zeit lang dreht er sich noch und verschwindet bald aus dem Blickfeld. Menschen und Pferde tauchen auf, klein, wie lebendiges Spielzeug gehen sie umher und stehen dennoch auf der Stelle still, doch die Stelle selbst fährt trotzdem fort … Wo fährt das alles hin??? Plötzlich fährt mit Lärm und Hast ein Zug heran, er verdeckt das Panorama, lässt die Sonne verlöschen, wie ein schwarzer Teufel, und bläst stickigen Qualm herein … Die Waggons rollen, einer will den anderen einholen … Aus den Fenstern gucken Menschen in Uniformen, so seltsam, schwarz, von Rauch umhüllt, mustern etwas, wie böse Geister … ach, dieser Qualm … er verdeckt auch das … endlich, der Zug ist vorübergefahren, und wieder dasselbe Bild: Wälder und Felder, Wiesen und Gärten, Berge und Täler, fließen so gemächlich und gemütlich dahin, bewegen sich am riesigen Band und verschwinden irgendwo in der Ferne … Häuschen und Parks, Bäume und Telegrafenmasten schwimmen vorbei, als würden sie von einer Flut mitgerissen. Alles geht, alles bewegt sich, alles lebt, so sonderbar, wie in den Märchen, die die Mutter erzählt … Wo geht das alles hin? … Da drin sitzt die Mutter. Sie hält ihren Kopf zwischen den Händen. Das Gesicht ist finster. Das Herz schlägt irgendwie seltsam. Vor ihren Augen laufen die Bilder ihres ganzen Lebens ab: die Kindheit, die Jugend, das kurze Familienglück: Heim, Mann, Kind, das Elternhaus, das Schtetl, die Felder, die Wälder, die Gärten, alles läuft, vermischt sich wie ein Kartenstapel, ein Bild 669 Laut jüdischem Brauch muss vor dem Fleischverzehr das Blut des geschlachteten Tieres mit Erde zugeschüttet worden sein. Der Schlachter spricht den entsprechenden Segen: "‫"על כּיסוי הדם‬. 670 Hier als Germanismus.

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jagt das nächste, und auf alledem ist ein schwarzer Fleck: eine dem Schicksal überlassene verwüstete Wohnung, das zerstörte Familiennest: aufgebrochene Fenster und Türen, aufgerissene Schränke, zerschlagenes Geschirr, auf den Boden geworfene, zertrampelte Kleidung, das alles wurde zurückgelassen, aber jetzt: Hilfe, wo fahren wir alle hin?! … Der Zug schleicht langsam vorwärts, wie ein Trauerzug. Als wollte er den Opfern die letzte Ehre erweisen. Nach zehn Minuten schon fährt er leer zurück. Der jüdische Plutokrat und der jüdische Bolschewik, der die ganze arische Welt zu zerstören vorhatte, sind auf ewig unschädlich gemacht worden. Das Entladekommando packt die noch warme Kleidung auf die Autos: laaus, laaus671. Dort im Land der Jecken672 wurde auf staatliche Anweisung ein kleiner Kain geboren, die Reichskasse zahlt eine Prämie aus, staatliche Gelder, Krupp hält schon ein Gewehr für ihn bereit. Für ihn sind die kleinen weißen Hemden des kleinen Abrahams bestimmt, die von den zitternden Händen ­seiner Mutter bestickt wurden. Und die Welt? Die Welt tut sicherlich alles, was sie kann. Es wird protestiert und appelliert673, Ausschüsse der fünf, der dreizehn und der achtzehn674 werden versammelt, das Rote Kreuz klappert mit der Büchse „tsdoke tatsl mimoves“675, die Presse und der Funk machen chesped676, der Erzbischof von Canterbury bietet seine Version von „el male rahamim“677 an, in den Kirchen sagt man Kaddisch678 und die Welt des guten Bürgertums trinkt ein „Lechaim“679 auf uns und wünscht einander „mazel tov“680 für unser Seelenheil. Der Strick ist um den Hals geworfen. Der Henker ist großzügig. Er hat Zeit. Er spielt mit dem Opfer. Erst trinkt er ein Bier, raucht eine Zigarette und lächelt zufrieden. Lasst uns den Augenblick nutzen, da der Henker gerade mit 671 Offensichtlich klingt so für den Autor das deutsche Wort „raus“. Vielleicht will er dem aber auch zusätzliche Ironie verleihen, indem er so auf das jüdische Lispeln anspielt. 672 Eine im Jiddischen gebräuchliche abschätzige Bezeichnung der Deutschen. 673 Das heißt: Anfragen an das Parlament stellen. Eine klare Parodie auf den politischen Betrieb. 674 Im Original: 5, 13, 18. 675 So wird im Judentum bei Bestattungen gerufen: ‫„( צדקה ּתציל ממוות‬Wohltätigkeit erlöst vom Tod“, Sprüche 10,2, 11,4). Dabei werden Almosen mit einer speziellen Büchse eingesammelt. Das Wort ‫„( צדקה‬Redlichkeit“, „Wohltätigkeit“, „Wahrheit“) erhielt in der talmudischen Epoche die Bedeutung „milde Gabe“. In diesem Sinn wird es seither im Jiddischen verwendet. 676 Eine Trauerrede. Der Autor stellt die Christen absichtlich so dar, dass sie formal die jüdischen Rituale einhalten. 677 „Gott, voller Erbarmen“ (hebr.), ein Bestandteil des jüdischen Trauergebets. 678 „Weihe“ (hebr.), die Bezeichnung des jüdischen Trauergebets. 679 „Auf das Leben“ (hebr.). 680 „Viel Glück“ (hebr.).

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dem Saufen beschäftigt ist, und benutzen wir den Galgen als einen Schreibtisch, um alles das zu beschreiben, was wir zu sagen und zu erzählen haben. Also los, Freunde, beschreibt es in aller Kürze und Schärfe, wie die Kürze der Tage, die uns geblieben, und die Schärfe der Messer, die gegen unsere Herzen gerichtet sind. Es sollen ein paar Blätter bleiben für die JÜVO681, die Jüdische Verhängnis-Organisation, es sollen unsere am Leben gebliebenen freien Brüder das lesen und vielleicht sogar daraus lernen. Wir aber bitten das Schicksal: Dein Wille geschehe, der Du die Stimmen des Gewimmers nicht682 erhörst683, tu wenigstens das für uns: Bewahre diese Tränenverse in deinem Gefäß des Seins684, auf dass sie in die richtigen Hände gelangen und ihre Besserung vollziehen685. K.L. Auschwitz, 3-Januar 1945. Übersetzt aus dem Jiddischen ins Russische von Alina Polonskaja Übersetzt aus dem Russischen ins Deutsche von Roman Richter Anmerkungen von Pavel Polian und Alina Polonskaja

681 Eine Anspielung auf das YIVO, das Yidisher visnshaftlekher institut, eine internationale jüdische Organisation, gegründet 1925 in Wilna, seit 1940 in den USA. Im Original umschreibt der Autor die Abkürzung YIVO als „Archiv für jüdisches Verderben“. Der Übersetzer hat versucht, diesen Sinn als „JÜVO“ wiederzugeben. 682 Der Autor zitiert die ersten zwei Zeilen eines berühmten Pijjuts (einer religiösen Hymne) eines unbekannten Autors: „Dein Wille geschehe, der Du die Stimmen des Gewimmers erhörst (Tehillim 6,9) / Du sammelst unsere Tränen in deinen Lederschlauch (Tehillim 56,9)“. Im Judentum existiert die Vorstellung, dass Leidenstränen in eine Sammelbüchse Gottes gelangen und als Sühne für die Sünden des jüdischen Volkes verwendet werden. Der Autor fügt jedoch die Verneinungspartikel hinzu und verkehrt dadurch den Sinn der Lobeshymne. 683 Der kursiv markierte Text ist im Original auf Hebräisch geschrieben. 684 Levite übersetzt das Verb „lihjojs“ aus dem Pijjut als „sein“. Infolgedessen entsteht in seinem Text ein „Gefäß des Seins“ als philosophischer Begriff. 685 Im Judentum existiert die Vorstellung von der Besserung und Erneuerung der Seelen, mit dem Ziel, die ursprüngliche Harmonie der Welt wiederherzustellen. Die Besserung ist die Aufgabe eines jeden in dieser Welt.

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Statt eines Nachworts: ein Kassiber, der angekommen ist Du, sing! […] Schmeiß ins Gewirr der Saiten deine Finger für ein Lied […] Den großen Abgesang von seinem allerletzten Jid Jizchak Katzenelson 686

Schriften aus der Asche: sechs Autoren, zehn Texte … Über das Leben im Ghetto und Deportationen, über eine gleichgültige Luna, über Selektionen auf der Rampe und in den Baracken, über das Diktat der Mischpoke und das ungestillte Verlangen nach Rache, über die hochtechnologische Verwandlung von Menschen in Leichen und von Leichen in Asche. Phänomenal ist auch die Bandbreite der Genres: von einem Alltagsbrief mit letzten Anweisungen an Frau und Tochter über den Kommentar zu einem fremden Text bis hin zu einem Chronistenzeugnis, einem publizistischen Pamphlet und zur Nachahmung der Prophetendichtung. Eines ist den unterschiedlichen und über Unterschiedliches berichtenden Schriftrollen gemein: Es ist, als mündeten sie in ein blutiges Meer namens Auschwitz-Birkenau, über dessen Ufer sie nie mehr hinaustreten. Die Literatur über die Katastrophe kennt keine anderen Texte, die in so geringer Entfernung – man strecke bloß den Arm aus – zu den Gaskammern und Krematorien geschrieben wurden. Diese lebendigen Zeugnisse sind die zentralsten und wichtigsten Dokumente des Holocaust. „Möge die Zukunft anhand meiner Aufzeichnungen ihr Urteil über uns sprechen und möge die Welt in ihnen einen Tropfen, ein Minimum jener schreck­ lichen, tragischen Todeswelt erkennen, in der wir lebten“, schloss Salmen Gradowski seinen Brief aus der Hölle, seinen Kassiber an die Nachkommen. 686 Katzenelson, 2004. S. 49.

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Die Chronisten und ihre Texte

Der ist wundersamerweise bei uns angekommen und hat zusammen mit anderen Kassibern die Grundlage für dieses Buch gelegt. Ewiges Andenken gebührt aber auch denen, deren Schriftrollen zwar entdeckt, aber weggeworfen, oder gar nicht erst aufgefunden wurden und niemals mehr aufgefunden werden – der Fluss der Zeit hat sie mitgerissen. Ewiges Andenken gilt auch den Abertausenden Juden, die eines Märtyrertodes starben, ohne auch nur ein Wörtchen darüber zu verlieren. Umso ­größere Bedeutung kommt den Schriftzeugnissen zu, die die Zeit überdauert und uns erreicht haben. Abraham Levite war einst von den Polarforschern begeistert, die selbst angesichts des Todes den Bleistift nicht aus den erfrorenen Fingern fallen ließen, um der Ewigkeit und der Wissenschaft wegen ihre Beobachtungen und Erlebnisse in Tagebüchern festzuhalten. „Wir alle, die hier in der polareisigen Gleichgültigkeit der Nationen, von der Welt und vom Leben vergessen, sterben, verspüren den Drang, etwas für die Ewigkeit zu hinterlassen, wenn schon keine vollkommenen Dokumente, dann wenigstens Bruchstücke dessen, was wir, die lebenden Toten, dachten und sprachen, woran wir glaubten und wie wir fühlten. Auf den Gräbern, in denen wir lebendig begraben liegen, tanzt die Welt einen Teufelstanz, unser Gestöhne und unsere Hilferufe werden mit Füßen zerstampft, wenn wir schon erstickt sind, dann wird man sich daranmachen, uns auszugraben; dann wird es uns nicht mehr geben, nur unsere über alle sieben Weltmeere verstreute Asche …“

Levite mahnt aber zugleich: Er wäre entsetzt, würde dieser Ruf beim Adressaten nicht ankommen, würden künftige Hamiten und Pharisäer es für ihre Pflicht halten, die Verstorbenen lauthals „zu bedauern“, und eiligst darangehen, ihre leeren „Trauerreden“ zu schwingen, während „mitfühlende Damen sich mit parfümierten Tüchlein die Tränen aus den Augen wischen und uns betrauern: Ach, diese Unglücklichen.“ Auch denjenigen, dem er vorwirft, taub zu sein und nichts hören zu wollen, hält er für keinen Adressaten, obschon er ihn darum bittet, diese „Tränenverse“ nicht umkommen zu lassen: „Dein Wille geschehe, der Du die Stimme des Gewimmers nicht erhörst, tu wenigstens das für uns: Bewahre diese Tränenverse in deinem Gefäß des Seins, auf dass sie in die richtigen Hände gelangen und ihre Besserung vollziehen.“

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Statt eines Nachworts: ein Kassiber, der angekommen ist

Es ist, als hätte Levite das Verdikt Adornos („Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch“, 1949) vorweggenommen und ihm vorausschauend widersprochen. Ja, eine beispiellose Katastrophe von planetarem Maßstab hat sich ereignet, als wäre ein Komet voller Hass auf die Erde gestürzt und hätte die Hälfte eines kleineren Volkes durch tödliche Flammen niedergestreckt. Der Einschlag hat einen großen Krater hinterlassen: Anus Mundi. Die Erdkruste ist geborsten, aber der Planet ist nicht auseinandergefallen. Ja, man trieb die Vernichtung der Juden voran – vernichtet hat man sie freilich nicht. Und es ist eine Pflicht der Überlebenden, die Katastrophe zu bezeugen und das Andenken daran zu bewahren, auf eine Weise davon zu erzählen, dass gerade nach Auschwitz solche Gedichte entstehen, wie die Dichtung sie noch nie gesehen hat. Solche Gedichte, dass sich darin – worüber auch immer sie erzählen mögen (und sei es über Pinguine in der Antarktis) – unterschwellig die gesamten Erfahrungen der Gaskammern von Auschwitz, der Gräben von Babi Jar und der Trümmer eines rebellischen Ghettos, unter denen sich die letzten (wie sie selbst dachten) übrig gebliebenen Juden versteckten, widerspiegeln. Dies ist wohl die wichtigste Bestimmung der hier veröffentlichten Schriftrollen und der Erzählung ihrer Geschichte. Von nun an kann jeder sie lesen, der es wünscht. Ihr echter Adressat sind jedoch die besagten „richtigen Hände“, jüdische wie nichtjüdische, in denen die Verse aus der Hölle zum Leben erwachen, eine eigene Stimme erhalten und lebendig zu sprechen beginnen.

Postskriptum Auf den ersten Blick hat diese Sammlung der „Briefe aus der Hölle“ die Form eines abschließenden Dossiers. Aber dieser Eindruck täuscht. Die allerhöchste Bedeutung, die unser Text beanspruchen kann, ist die einer Zwischenversion. Die vorliegende Edition ist eher dazu berufen, zur eigenen Fortsetzung anzustiften. Zwei bis ins Jahr 2018 verschollene Original-Manuskripte konnten zwar inzwischen gefunden werden, das wohl Wichtigste aber ist: Es ist einfach zu früh, die Texte Gradowskis, Langfuß‘, Lewenthals und Nadjaris ad acta zu legen. Schließlich beträgt der Lesbarkeitsgrad des Manuskripts Gradowskis, das in Sankt Petersburg aufbewahrt wird, nur 60 Prozent – bei anderen Texten, 553

Die Chronisten und ihre Texte

die sich in Oświęcim und Warschau befinden, fällt der Anteil des Les­baren noch deutlich niedriger aus. Ein weiterer Zuwachs von Gelesenem ist künftig keineswegs auszuschließen. Die fachkundige und behutsame Anwendung moderner Techniken und Technologien, wie sie beispielsweise in der Kriminalistik verwendet werden, auf die Manuskripte der Mitglieder des Sonderkommandos würde es ermöglichen, erstmals jene Stellen zu entziffern, die bislang nicht entziffert werden konnten – oder zumindest einen wesentlichen Teil davon. Eine diesbezüglich vielversprechende Methode ist die Hyperspektralaufnahme, basierend auf einer speziellen Fototechnik unter Verwendung von Licht verschiedener Wellenlängen von Ultraviolett bis Infrarot. Es entsteht gewissermaßen ein Hyperkubus, dessen eine Koordinatenachse als Wellenlänge aufgezeichnet wird, während die anderen beiden Achsen sich auf die fotografierte Fläche beziehen. Eine spezielle Kontrastbearbeitung der Daten ermöglicht es, die Buchstabenkonturen hervorzuheben und so den geschriebenen Text zu entziffern. Auf diese Weise gelingt es oft, verblasste oder wie in unserem Fall stark verschwommene Tinte zu lesen. Das Gelesene kann aufgeschrieben und übersetzt werden, um anschließend zu versuchen, den Sinn dieser der Vergänglichkeit entrissenen Botschaften zu entschlüsseln. Auf diesem Weg können außer den technischen jedoch auch andere Hürden entstehen: bürokratische. Da nützen auch Hyperspektraltechniken wenig. Leider hat eine Reihe bereits unternommener Versuche bislang keine Erfolge gezeitigt, weder in Sankt Petersburg noch in Oświęcim. Dabei ist Eile geboten: Je mehr Zeit vergeudet wird, desto schwächer wirken selbst die allerneuesten Technologien. Doch ist das Lesen des Ungelesenen von derart großem historisch-kulturellem Wert, dass früher oder später auch diese Hürden überwunden sein werden.

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Statt eines Nachworts: ein Kassiber, der angekommen ist

Eine Seite aus Lejb Langfuß’ Manuskript (Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau)

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Die Chronisten und ihre Texte

Salmen Lewenthal (Archiv Bermark)

Marcel Nadjari und Morris Leon (Sammlung M. Leon)

Eine Seite aus Lewenthals ­Manuskript (Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau)

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Statt eines Nachworts: ein Kassiber, der angekommen ist

Eine Seite aus Nadjaris Manuskript (Staatliches Museum Auschwitz-­ Birkenau)

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Die Chronisten und ihre Texte

Portrait Herman Strasfogels auf dem Familiengrab. © Andreas Kilian, 2018

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Anhang 1. Chronik ausgewählter Ereignisse im Zusammenhang mit dem Sonderkommando in Auschwitz-Birkenau von Pavel Polian und Andreas Kilian

4. September

29. März 18.–19. April

27. April 30. April 4. Mai 20. Mai

Mai–Juni 14. Juni 19. Juni 28. Juni 5./11. Juli 15. August September

13. Januar – 22. Februar 20. Januar – 22. Februar

1939 Oświęcim (Au­schwitz) wird von deutschen Truppen besetzt. 1940 In Sosnowitz wird ein Sammellager eingerichtet, um den oberschlesischen Strafvollzug zu entlasten. Eine Kommission unter Vorsitz von SS-Hauptsturmführer Rudolf Höß, Schutzhaftlagerführer des KLs Sachsenhausen, besucht die ehemalige polnische Artilleriekaserne in Au­ schwitz und stimmt dem Vorschlag zu, darin ein Durchgangs- und Quarantänelager für 10.000 polnische Gefangene einzurichten, die von hier aus auf die deutschen KL verteilt werden. Himmler befiehlt die Einrichtung eines neuen KL in Au­schwitz. Ankunft von Rudolf Höß in Au­schwitz. Ernennung von Rudolf Höß zum Lagerkommandanten. Erste 30 Häftlinge (deutsche Strafgefangene) kommen aus Sachsenhausen in Au­schwitz an. Sie werden unter den Nummern 1 bis 30 registriert. Es handelt sich um die künftige Spitze der Funktionshäftlinge. Etwa 300 jüdische Arbeiter aus Au­schwitz werden zu Aufräumarbeiten auf dem Gelände des künftigen KL abkommandiert. Die ersten 728 polnischen Häftlinge kommen aus dem Gefängnis in Tarnow in Au­schwitz an. Sie erhalten die Nummern 31 bis 758. Zwangsaussiedlung von 500 Polen, die in der unmittelbaren Nähe des künftigen KL leben. Baubeginn des Krematoriums I in Au­schwitz I durch die Firma J. A. Topf und Söhne. Zyklon B wird erstmals eingesetzt, um Unterkünfte (SS-Kasernen) in Au­schwitz von Ungeziefer zu befreien. Erste Probe-Einäscherung einer Leiche in Krematorium I. Inbetriebnahme des Krematoriums im KL Au­schwitz (Krematorium I). 1941 Betriebsstopp und Reparatur des Krematoriums aufgrund entdeckter Mängel. Aufbau des zweiten Doppelmuffelofens im Krematorium I.

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Anhang

1. März

Himmler inspiziert das KL zum ersten Mal. Der Besuch dauert eineinhalb Stunden. Es ergeht der Befehl, Au­schwitz I auf eine Kapazität von 30.000 Menschen auszubauen. März Es wird befohlen, Teile der polnischen und die gesamte jüdische Bevölkerung aus ­Au­schwitz sowie die Bewohner aus den im Lagerinteressengebiet gelegenen Ortschaften Babitz, Broschkowitz, Birkenau, Budy, Harmense und Raisko auszusiedeln. März Deportation der Juden nach Sosnowitz, Krenau und Bendsburg. 23.–28. Juni Der Betrieb des Krematoriums I wird wegen Überlastung eingestellt. 3. Juli Die Bauleitung des KLs Au­schwitz bestellt Fachartikel über den Einsatz der Blausäure zur Schädlingsbekämpfung. Ende August Rudolph Höß nimmt Teil an einer Konferenz des „Juden­referats“ des RSHA unter der Leitung von Adolf Eichmann. Ende August Möglicherweise erste Vergasungsversuche mit Zyklon B an lebenden Menschen. um den 5. Versuchsvergasung von etwa 600 sowjetischen Kriegsgefangenen und 250 kranken Polen September im Keller des Blocks 11 auf Befehl des Schutzhaftlagerführers Fritzsch, mit anschließendem Abtransport der Leichen und Einäscherung im Krematorium I. 15. September Einrichtung eines gesonderten Lagerabschnitts für russische Kriegsgefangene in Au­ schwitz I (bis März 1942). 16. September Versuchsvergasung von etwa 900 sowjetischen Kriegsgefangenen in der umgebauten Leichenhalle des Krematoriums I. 26. September Baubefehl für ein Kriegsgefangenenlager für 100.000 Menschen in Birkenau. 1. Oktober SS-Hauptsturmführer Karl Bischoff wird zum Chef der Sonderbauleitung des Lagers für sowjetische Kriegsgefangene mit einer Kapazität von zuerst 50.000 Menschen ernannt. In Birkenau beginnen eine Woche später die Bauarbeiten an einem Kriegsgefangenenlager, das seit November für 125.000 Menschen ausgelegt sein sollte. November In Au­schwitz I wird die Sonderkommission der Gestapo aus Kattowitz zur Selektion sowjetischer Kriegsgefangenen tätig. Oktober/ Umbau der Leichenhalle des Krematoriums I zu einer Gaskammer. November 4. November Bestätigung des Auftrags vom 22.10.1941 für fünf Dreimuffelöfen (Krematorium II).

1942 Wannsee-Konferenz in Berlin. Einrichtung des SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamts (SS-WVHA) unter der Leitung von Oswald Pohl. 27. Februar Hans Kammler, Bauwesen-Leiter des SS-WVHA, besucht Au­schwitz. Es wird beschlossen, den Bau des neuen Krematoriums von Au­schwitz nach Birkenau zu verlegen. 13. März Erster Bezug des neuen Männerlagers in Birkenau (Bauabschnitt I, fertig­gestellt im Juni). 26. März Erster Frauentransport in Au­schwitz: deutsche Gefangene aus Ravensbrück. Am selben Tag: erster Judentransport mit Frauen aus der Slowakei. 30. März Erster Judentransport aus Frankreich (Compiègne). Chef der SD-Einsatzgruppe 4a, Paul Blobel, wird zum Chef des Sonderkommandos 1005 Ende März ernannt und bekommt den Auftrag, die Spuren der Massenmorde an Juden zu beseitigen. 4. Mai Erste Selektion unter den Häftlingen im Lager Birkenau. Anfang–Mitte Erste Judentransporte aus Ghettos in Oberschlesien (Sosnowitz, Dombrowa, Bendsburg). Mai Mai Inbetriebnahme der isolierten Gaskammer (zwei Räume ohne Lüftungs­anlagen): Bunker 1 (Rotes Haus). Die Leichen der Ermordeten werden in großen unweit davon ausgehobenen Gruben vergraben. Die erste Mannschaft des Arbeitskommandos Sonderkommando an den Vernichtungsanlagen wird aus slowakischen Juden formiert. 20. Januar 1. Februar

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1. Chronik ausgewählter Ereignisse

30. Mai Juni Juli 4. Juli Anfang Juli Anfang Juli 17. Juli 17.–18. Juli5. August 5. August 8. August um den 10. August 12. August

Inbetriebnahme des dritten Ofens im Krematorium I. Himmler ruft Höß nach Berlin und informiert ihn über die besondere Funktion, die das KL Au­schwitz bei der Judenvernichtung wird erfüllen müssen. Inbetriebnahme des Bunkers 2 (Weißes Haus): eine weitere isolierte Gaskammer (vier Räume ohne Lüftungsanlagen). Beginn regulärer Selektionen auf der Rampe. Die Häftlinge, die in den Tod geschickt ­werden, werden nicht registriert. Erste Fälle von Fleckfieber auf dem Lagergelände von Birkenau. Ausbruch einer Epidemie, die in der ersten Septemberdekade ihren Höhepunkt erreicht (bis zu 375 Sterbefälle pro Tag). Aufstockung der Zahl der Sonderkommando-Mitglieder von 200 auf 300, später auf bis zu 500 Mann. Erste Judentransporte aus den Niederlanden. Himmler besucht Au­schwitz-Birkenau zum zweiten Mal und ist persönlich bei einer Vergasung im Bunker 2 zugegen. Er befiehlt, die Kapazität des ­Lagers für sowjetische Kriegsgefangene auf 200.000 Mann auszubauen und die Massengräber zu beseitigen. Erster Judentransport aus Belgien. Inbetriebnahme des reparierten und aus drei Öfen bestehenden Krematoriums I. Das Frauenlager wird aus Au­schwitz nach Birkenau verlegt.

Anweisung von Höß für Sicherheitsmaßnahmen beim Öffnen begaster Räume anlässlich eines Krankheitsfalls. 19. August Planung des Baus von Krematorium III sowie von je zwei Dreimuffelöfen bei den „Badeanstalten für Sonderaktionen“ (Bunker 1 und 2) in Birkenau. 19. August Erster Judentransport aus Jugoslawien. Anfang Okto- Vermeintlicher Aufstand der jüdischen Gefangenen der Frauenstrafkompanie in Budy ber nahe Birkenau. Rund 90 Gefangene werden massakriert, ihre Mörderinnen – sechs deutsche Strafgefangene – werden Ende Oktober hingerichtet. September Die Dreimuffelöfen in Krematorium II werden aufgebaut. 5. September Rund 800 Gefangene werden im Krankenbau des Frauenlagers ausselektiert und vergast. 16. September Höß sowie die SS-Untersturmführer Hößler und Dejaco (Leiter der Planungsabteilung) besuchen die Freiluftanlage zur Leicheneinäscherung in Kulmhof bei Lodz. Diese ist Paul Blobel unterstellt. 21. September Die Aktion 1005 beginnt: Massengräber werden ausgehoben, die Leichen exhumiert und eingeäschert, die Asche wird in die Weichsel geschüttet. 25. September Bestellung für weitere fünf Dreimuffelöfen (Krematorium III). 28. Oktober Erster Judentransport aus Theresienstadt. 6. November Massenflucht sowjetischer Kriegsgefangener in der Umgebung von Birkenau. Mitte Die Fleckfieber-Epidemie ist zu Ende. Rund 20.000 Menschenleben hat die Seuche ­November ­dahingerafft. 16. November Kostenanschlag zum Angebot eines Achtmuffelofens (Krematorium IV). Ende Die Aushebung der Massengräber, die Exhumierung und Verbrennung der Leichen wird ­November beendet (rund 107.000). 9. Dezember Das gesamte Sonderkommando aus Birkenau wird in der Gaskammer im Krematorium von Au­schwitz I ermordet: rund 400 Menschen. 9. Dezember Eine neue Mannschaft des Sonderkommandos wird eilends (ohne Quarantäne) zusammengestellt (offenbar erst 200, später 300 bis 400 Menschen). Die ersten Neuzugänge sind polnische Juden aus Makow und anderen Ortschaften (Transport aus Mlawa vom 6.12.1942 u. a.). Die zweite Welle sind die Transporte aus Kielbasin (8. und 10.12.1942), anschließend Aufstockung durch Transporte aus Frankreich (Drancy: 4.3.1943), Griechenland und anderen Ländern.

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Anhang

7. Dezember

9. Dezember

Ende Januar – Mitte April Jahresbeginn 29. Januar 1. Februar 12. Februar 5. März 5. März

4.–6. März

6. März 9. März

13.–14. März 20. März 22. März

31. März 4. April Mitte April 19. April Mitte Mai – Anfang Juli Mai

Zwei Mitglieder des Sonderkommandos – Knopp und Culea – fliehen, werden am 9. Dezember gefasst und in den Block 11 von Au­schwitz I eingeliefert, wo sie offenbar einen Tag später ermordet werden. Sechs Mitglieder des Sonderkommandos fliehen. Zwei von ihnen – Bar und Nojech Borenstein – werden am 10. Dezember gefasst und offenbar am 17. Dezember ermordet. Über das Schicksal der anderen vier ist nichts bekannt. 1943 Zweite Fleckfieber-Epidemie, die ihren Höhepunkt in der ersten Märzhälfte erreicht (250–300 Tote pro Tag). Einrichtung einer Krankenstube in der Baracke des Sonderkommandos. Besichtigung der Baustellen aller vier Krematorien in Birkenau durch die Bauleitung und die Firma J. A. Topf und Söhne. Der Bau von Krematorium V steht noch am Anfang. Aufbau des Achtmuffelofens in Krematorium IV. Infolge der Epidemie wird auf dem gesamten Territorium des KLs Au­schwitz eine Lagersperre verhängt. Der Kapo August Brück, Fachmann für den Betrieb der dreimuffeligen Öfen der Firma J. A. Topf und Söhne, wird aus dem KL Buchenwald nach Au­schwitz-Birkenau überstellt. Aufstockung des Sonderkommandos mit französischen Juden aus dem Drancy-Transport. Das Sonderkommando zählt insgesamt bereits 400 Menschen (diese Anzahl hält sich bis Februar 1944). Probebetrieb des Krematoriums II. Anheizen und Einäschern von 45 Leichen binnen 40 Minuten. Unter den Heizern der ersten Schicht des Sonderkommandos ist auch Henryk Tauber. August Brück kommt in Birkenau an und wird schließlich zum Oberkapo aller Krematorien ernannt. Zwei Mitglieder des Sonderkommandos fliehen: Bela Foeldisch und ein Unbekannter, der erschossen wird. Foeldisch wird in den Bunker gebracht, gefoltert und am 16. März umgebracht. Inoffizieller Testlauf der Gaskammer von Krematorium II: Die ersten Opfer sind 1.492 „arbeitsunfähige“ Juden aus dem Krakauer Ghetto. Erster Judentransport aus Griechenland. Einäscherung von 2.191 „Arbeitsunfähigen“ im Krematorium II. Übergabe des Krematoriums IV mit einer Durchlasskapazität von 768 Leichen pro Tag. Die ersten Opfer sind offenbar Sinti und Roma. Zum Kapo des Krematoriums wird der bisherige Kapo von Krematorium I, Mieczyslaw Morawa, ernannt. Übergabe des Krematoriums II mit einer Durchlasskapazität von 1.440 Leichen pro Tag. Übergabe des Krematoriums V mit einer Durchlasskapazität von 768 Leichen pro Tag. Die zweite Fleckfieber-Epidemie ist zu Ende. Circa 12.000 Menschenleben sind dahingerafft worden. Der Aufstand im Warschauer Ghetto beginnt. Die dritte und letzte Fleckfieber-Epidemie, im Zigeunerlager (90–95 Sterbefälle pro Tag).

Die Kampfgruppe Au­schwitz wird in Au­schwitz I gegründet. Nach mehreren Betriebsunterbrechungen wird Krematorium IV außer Betrieb gesetzt. 22. Mai – ca. Das Krematorium II wird zur Ausbesserung des Schornsteins und der Rauchkanäle außer 10. September Betrieb genommen. 24./26. Juni Übergabe der Gaskammer und des Krematoriums III mit einer Durchlasskapazität von 1.440 Leichen pro Tag. Die ersten Opfer sind die Juden aus Drancy und Bendsburg.

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1. Chronik ausgewählter Ereignisse

26. Juni

Die Krematorien sind mit speziellen Sieben ausgerüstet, um die unverbrannten Überreste auszusieben. Anfang Juli Die Fleckfieber-Epidemie im Zigeunerlager geht zu Ende. Rund 2.500 Menschen sind gestorben. 12. Juli Das Sonderkommando in Birkenau wird aus Block 2 im Bauabschnitt B I b in den Block 13 in Abschnitt B II d verlegt. Die polnischen Mitglieder des Sonderkommandos werden in den Block 2 überstellt. 19. Juli Der Betrieb von Krematorium I in Au­schwitz I wird eingestellt. 2. August Aufstand im Todeslager Treblinka. 16.–21. August Aufstand im Ghetto von Bialystok. 19. August Aufstand im Ghetto von Glubokoe. 8. September Für die Juden aus Theresienstadt wird ein Familienlager eingerichtet. 14. Oktober Aufstand im Todeslager Sobibor, angeführt von Alexander Petscherski. 23. Oktober Aus Bergen-Belsen kommt ein Transport mit sog. Umtauschjuden an, die im Besitz südamerikanischer Pässe sind. Eine der darin befindlichen Gefangenen erschießt den SSOberscharführer Schillinger im Entkleidungsraum des Krematoriums. 23. Oktober Erster Judentransport aus Italien. 3. November Im KL Majdanek werden circa 18.000 Juden erschossen. 11. November SS-Obersturmbannführer Liebehenschel ersetzt Höß als KL-Kommandanten. Der Lagerkomplex Au­schwitz wird unterteilt in: Lager I (Stammlager), Lager II (Frauenlager) und Lager III (Außenlager). 14. Dezember Der Bau des Effektenlagers „Kanada“ wird abgeschlossen. In dem Lager wird der Besitz der Häftlinge gesammelt, bearbeitet und aufbewahrt. 27. Dezember Oberkapo August Brück stirbt an Typhus. Sein Nachfolger wird Jakob K ­ aminski.

Mitte Februar 24. Februar 29. Februar Anfang März

7.–8. März 15.–21. März 11. April 4. April 16. April

16. Mai Anfang Mai

1944 Die Flucht von Daniel Obstbaum aus dem Sonderkommando, Fero Langer und drei weiteren Häftlingen misslingt. Alle werden ermordet. 200 Mitglieder des Sonderkommandos werden ausselektiert, nach Majdanek verschickt und dort zwei Tage später erschossen. Adolf Eichmann inspiziert das Lager und befiehlt die Liquidierung des (tschechischen) Familienlagers. Das Sonderkommando warnt das tschechische Lager, als es von der anstehenden Aktion erfährt. Die Warnung wird im Lager jedoch als „Gerücht“ aufgefasst. Freddy Hirsch, Leiter des Kinderblocks des tschechischen Lagers, begeht Selbstmord. Das tschechische Lager wird liquidiert. Die BBC veröffentlicht in einer Sendung eine Liste der SS-Henker und fordert auf, sie zur Verantwortung zu ziehen. In Au­schwitz kommt ein Transport aus Griechenland an, aus dessen Gefangenen später das Sonderkommando aufgestockt wird. Die Alliierten fotografieren das KL Au­schwitz erstmals aus der Luft. Aus dem KL Lublin (Majdanek) kommen Mitglieder des dortigen Sonderkommandos an: 19 sowjetische Kriegsgefangene und ein deutscher Oberkapo, Karl Töpfer. Sie berichten von der Erschießung von 17.000 Juden am 3.11.1943 und von Mitgliedern des Sonderkommandos von Birkenau, die am 24.2.1944 „evakuiert“ worden sind. Ankunft erster Massentransporte aus Ungarn: Beginn der „Ungarn-Aktion“ mit drei Transporten. Adolf Eichmann besucht Au­schwitz-Birkenau.

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Anhang

9. Mai 15. Mai 16. Mai

Bis Mitte Mai Anfang Mai 25. Mai Ende Mai

31. Mai 16. Juni 16. Juni 20. Juni 26. Juni nach dem 2. Juli 7. Juli 10.–11. Juli 11. Juli 20. Juli 23. Juli 28. Juli

31. Juli 1. August 2. August 2.–3. August 7. August 9. August 15. August 20. August

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Angesichts der Ungarn-Aktion befiehlt Höß, die bereits seit 1943 im Bau befindliche neue Selektionsrampe in unmittelbarer Nähe der Krematorien II und III in Betrieb zu nehmen. SS-Hauptscharführer Otto Moll wird zum Chef aller Krematorien ernannt. Das Sonderkommando wird um 100 weitere Mitglieder aufgestockt, der Neuzugang tritt erstmals zur Arbeit an. Der Versuch, das Zigeunerlager zu liquidieren, scheitert. Die Insassen sind einen Tag zuvor gewarnt worden und revoltieren. Die Zahlenstärke des Sonderkommandos beträgt 215 Mann: Davon sind 101 in den Krematorien II und III, 107 in den Krematorien IV und V eingesetzt (und 7 im Block 13). Krematorium IV ist nicht wieder instand zu setzen und die Öfen von Krematorium V sind wegen Überlastung außer Betrieb. Ungarische Juden versuchen spontan, sich in den Wäldchen unweit der Krematorien zu verstecken. Das Sonderkommando wird aus den Blöcken 13 und 11 im Abschnitt B II d auf die Dachböden der Krematorien II und III und in den Entkleidungsraum des Krematoriums IV verlegt. Die Alliierten fotografieren das KL Monowitz aus der Luft. BBC berichtet von der Ermordung eines Teils der Juden aus Theresienstadt am 7.3.1944 und von der geplanten Ermordung eines anderen Teils, die auf den 20. Juni angesetzt sei. SS-Obergruppenführer Oswald Pohl besucht Au­schwitz. Er befiehlt, die Tarnmaßnahmen auf dem Territorium der Krematorien zu verstärken. Der „Judenälteste“ des Ghettos von Theresienstadt, Jakob Edelstein, seine Familie und seine engsten Mitarbeiter werden erschossen und im Krematorium III verbrannt. Die Alliierten erstellen weitere Luftaufnahmen von Au­schwitz. Der Arzt Miklos Nyiszli (ungarischer Jude) wird aus dem Häftlingskrankenbaulager B II f ins Krematorium II versetzt, als Obduzent im Auftrag Mengeles. Produktionsstätten in Blechhammer, 90 Kilometer von Au­schwitz entfernt, werden bombardiert. Endgültige Liquidierung des Familienlagers. Ende der Massendeportationen aus Ungarn. Attentat auf Hitler. Himmler wird zum Befehlshaber des Ersatzheeres ernannt. Das KL Lublin (Majdanek) wird von den Sowjettruppen befreit. Dabei werden fünf ­SS-Leute aus dem Lagerpersonal festgenommen. Vermutlicher Aufstands-Termin des Sonderkommandos. Doch genau an diesem Tag kommt in Au­schwitz ein großer Transport mit evakuierten Häftlingen aus Majdanek in Begleitung vieler SS-Leute an. Die Personalstärke des Sonderkommandos erreicht ihren Höchststand: 903 Mann einschließlich der 30 Arbeiter, die mit dem Entladen von Brennholz beschäftigt sind. Der Warschauer Aufstand beginnt. Selektion und Liquidierung des Zigeunerlagers. Ein Teil der Zigeuner wird nach Buchenwald verlegt. Otto Moll ermordet den Oberkapo Kaminski. Produktionsstätten in Trzebinia, 25 Kilometer von Au­schwitz entfernt, werden bombardiert. Alberto Erreras Flucht scheitert. Er wird getötet. Ein Transport aus dem Ghetto von Lodz kommt in Au­schwitz an. Unter den Häftlingen befindet sich auch Emanuel Herszberg, Autor einer Chronik von Lodz. Die US Air Force bombardiert das Werk der IG Farben in Dwory.

1. Chronik ausgewählter Ereignisse

21. August

Auf die Anfrage des V-Manns von der Armia Krajowa nach der Möglichkeit, die Krematorien und die Gaskammern zu sprengen, ergeht eine positive Antwort – unter der Voraussetzung, dass Sprengstoff geliefert werde. Anfang SepDer ehemalige Lagerkommandant Höß erhält den Sonderauftrag, das KL zu liquideren. tember Moll schlägt vor, dies durch Artilleriebeschuss und Luftbombardement zu tun („MollPlan“). 6. September Das Datum unter Gradowskis „Brief “. 13. September Die US Air Force bombardiert das Werk der IG Farben in Dwory. Zwei Bomben schlagen zufällig in Birkenau ein, das zu den Krematorien führende Anschlussgleis wird beschädigt und ein Unterstand zwischen den Gleisen zerstört, wobei Zivilarbeiter getötet werden. 23. September Eine Selektion innerhalb des Sonderkommandos, vorgeblich für die Überstellung nach Gleiwitz. Die Mannschaft wird von 874 auf 664 Menschen verkleinert. Die Ausselektierten werden in der Entwesungskammer des ersten Kanada-Lagers ermordet. 2. Oktober Die Aufständischen in Warschau kapitulieren. Anfang Okto- Von den Mitgliedern des Sonderkommandos, die in den Krematorien IV und V arbeiteber ten, wird eine „Verlegungsliste“ für weitere 300 Mann verlangt. 7. Oktober, Aufstand in den Krematorien IV und II. Insgesamt sterben 451 Menschen. 212 Mann, die Samstag Mehrheit aus Krematorium III, die dort auf dem Dachboden untergebracht sind, überleben. Lewenthal notiert Ende Oktober 460 Opfer. Nach dem Aufstand werden 30 Häftlinge in Krematorium V einquartiert und die restlichen Männer auf die Unterkünfte in den Krematorien II und III verteilt. 10. Oktober Im Krematorium III werden 14 Häftlinge verhaftet, wegen Verdachts, an der Vorbereitung des Aufstands beteiligt gewesen zu sein. Darunter auch Handelsman, Wrobel und alle ­sowjetischen Kriegsgefangenen. 11.–20. Okto- Mehrere Tausend Juden (aus Buchenwald, Theresienstadt und der Slowakei) werden in ber den Krematorien II und III vergast. 12. Oktober Kommandant Baer berichtet vom Tod dreier SS-Leute während des Aufstands und soll die Auszeichnung von fünf SS-Leuten mit dem Eisernen Kreuz vorgenommen haben. 14. Oktober Der Abbruch des Krematoriums IV beginnt. 14. Oktober Ins Krematorium III werden 14 Leichen ehemaliger Soko-Mitglieder in Säcken eingeliefert, die am 10. Oktober verhaftet worden sind. 20. Oktober Im Müllverbrennungsofen des Krematoriums II werden Häftlingsakten des KLs wie Karteien und Sterbemeldungen verbrannt. 20. Oktober Im Krematorium III werden 1.000 (anderen Angaben zufolge 600) Knaben im Alter von 12 bis 18 Jahren ermordet. 29./30. Okto- Letzte Vergasung im Krematorium II. Damit hören die Hinrichtungen jedoch nicht auf: ber Die Opfer werden nunmehr im Entkleidungsraum des Krematoriums oder im Hof erschossen. 3. November Ankunft des letzten Judentransports (aus Sered in der Slowakei). Der Neuzugang wird ausnahmslos ohne Selektion registriert. 3. November Das im Abschiedsbrief von Marcel Nadjari enthaltene Datum. 6. November Das Datum am Anfang des Abschiedsbriefs von Herman (Hersz) Strasfogel. 6. November Das Sonderkommando von Krematorium II wird ins Männerlager verlegt, in Block 13, in dem die Soko-Mitglieder bereits vorher untergebracht waren; die Häftlinge von Krematorium III folgen kurz darauf. Mitte Novem- Einstellung der Einäscherungen in den Krematorien II und III: Zur Abbauvorbereitung ber werden die Öfen und technischen Anlagen gereinigt.

565

Anhang

25. November

Der Abbruch des Krematoriums II beginnt. Zunächst wird die Lüftungsanlage abgebaut. Die technischen Einrichtungen von Krematorium III folgen wenig später. 26. November Mittags findet im Hof von Block 13 eine weitere Selektion statt: 100 Männer, die bereits lange im Sonderkommando überlebt haben, werden zur Überstellung nach Groß-Rosen ausgewählt, es wird ihnen sogar erlaubt, Gepäck mitzunehmen. Unter ihnen: Lejb Langfuß, der an diesem Tag seine letzte Notiz niederschreibt, und höchstwahrscheinlich Herman (Hersz) Strasfogel. Die andere Hälfte wird verschont, unter ihnen Chaim-Lemke Pliszko, Henryk Tauber, David Nencel und Moniek Kesselmann. 30 Mann (unter ihnen Filip Müller), die im Krematorium V arbeiteten und dort bereits untergebracht sind, werden zurückgeschickt. Auch der Pathologe Miklos Nyiszli wird mit dem Sektionskommando dorthin überstellt. 70 Mann verbleiben im Männerlager im Sonderkommando-Block 13. 1. Dezember Ein Kommando für den Abbruch von Krematorium III wird formiert. Außer den SokoMitgliedern werden auch andere Häftlinge zu den Arbeiten herangezogen, darunter zunächst 100 und ab dem 5.12.1944 150 Frauen. 1945 Die letzte Selektion: Alle fünf polnischen nichtjüdischen Mitglieder des Sonderkommandos werden nach Mauthausen evakuiert. 6. Januar Die drei jüdischen Frauen, die in den Union-Werken gearbeitet und die Aufständischen mit Schießpulver versorgt haben, sowie deren Verbindungsperson in der Bekleidungskammer, Róza Robota, werden hingerichtet. 14. Januar Das Abbruchkommando tritt zum letzten Mal seine Arbeit an. 17.–18. Januar Der Großteil der Häftlinge aus Birkenau wird evakuiert, unter ihnen auch etwa 100 Mitglieder des Sonderkommandos, die zuerst nachts im Stammlager Au­schwitz gesammelt werden, bevor sie am nächsten Morgen in Kolonnen in Marsch gesetzt werden; einigen gelingt die Flucht während des beschwerlichen Fußmarschs. 20. Januar Die Krematorien II und III werden gesprengt. 26. Januar Das Krematorium V wird gesprengt. 27. Januar Die KL Au­schwitz und Birkenau werden befreit. Mitte Februar Das Manuskript Herman (Hersz) Strasfogels wird entdeckt. Februar–März Der Text „Im Herzen der Hölle“ Salmen Gradowskis wird entdeckt. 5. März „Der Weg zur Hölle“ und „Brief aus der Hölle“ Salmen Gradowskis werden entdeckt. 3. April Die fünf polnischen nichtjüdischen ehemaligen Funktionshäftlinge des Sonderkommandos werden in Mauthausen erschossen. April „Die Aussiedlung“ von Lejb Langfuß wird entdeckt. 8. Mai Die staatliche Sonderkommission TschGK berichtet „Von den monströsen Verbrechen der deutschen Führung in Oświęcim“. 20. November Der internationale Militärgerichtshof eröffnet den Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg (das Verfahren endet am 1. Oktober 1946). 5. Januar

1. Februar 1. Oktober

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1946 Das Buch „Die Todesfabrik“ von Ota Kraus / Erich Kulka erscheint in tschechischer Sprache mit einem Kapitel über das „Sonderkommando“ (Erwähnung Gradowskis als Organisator des Aufstands). Ein Teil des KL-Bereichs von Oświęcim-Brzezinka wird dem Ministerium für Kunst und Kultur unterstellt, die Basis des künftigen Museums wird gelegt. Der Nürnberger Hauptkriegsverbrecher-Prozess endet.

1. Chronik ausgewählter Ereignisse

9. Dezember 1946 – 20. August 1947

11. März – 2. April 13. Januar – 3. November 16. April 14. Juni 14. August 1947 – 30. Juli 1948 24. November–22. Dezember

Sommer

Erster Nürnberger Ärzteprozess gegen nationalsozialistische Mediziner („USA vs. Karl Brandt et al.“).

1947 Rudolf Höß wird in Warschau vor Gericht gestellt und zum Tode verurteilt. Vierter Nürnberger Prozess gegen das Wirtschafts- Verwaltungshauptamt der SS („USA vs. Oswald Pohl“). Hinrichtung von Rudolf Höß in Oświęcim in der Nähe des ehemaligen Krematoriums I. Das Museum Au­schwitz-Birkenau wird offiziell eröffnet. Der 6. Nürnberger Prozess gegen die Nazi-Verbrecher: IG-Farben-Prozess („USA vs. Carl Krauch“). Mitglieder des SS-Personals des KLs Au­schwitz werden in Krakau angeklagt. 21 Angeklagte werden zum Tode verurteilt und hingerichtet.

1952 Das Manuskript „Im Schrecken der Gräueltaten“ Leib Langfuß‘ wird entdeckt. Der N ­ ame des Autors ist zu diesem Zeitpunkt noch unbekannt. 1954 Erstveröffentlichung des Manuskripts eines „Unbekannten Autors“ [Leib Langfuß‘] im „Bulletin des ŻIH“ (in polnischer Sprache) und in den „Historischen Notizen“ (auf ­Jiddisch). 1957 Das Buch „Menschen und Asche“ von Israel Gutman erscheint in hebräischer Sprache mit einem Kapitel über den „Sonderkommando-Aufstand“ (Erwähnung Gradowskis als Organisator des Aufstands).

1. März

6. November

28. Juli 1961 9. August

1958 Der ehemalige Au­schwitz-Häftling Adolf Rögner weist die Staatsanwaltschaft Stuttgart auf den Aufenthaltsort des SS-Oberscharführers Wilhelm Boger, Mitarbeiter der Politischen Abteilung von Au­schwitz-Birkenau, hin. Die Staatsanwaltschaft leitet daraufhin ein Ermittlungsverfahren ein, das Jahre später zum Frankfurter Au­schwitz-Prozess führen wird. In Ludwigsburg wird die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen gegründet. 1961 Herszberg „Handschrift von Lodz“ mit dem Kommentar Lewenthals wird entdeckt. Die Staatsanwaltschaft beim Landgericht Frankfurt a. M. leitet im Rahmen des Ermittlungsverfahrens „4 Js 444/59“ die gerichtliche Voruntersuchung gegen 23 ehemalige SSAngehörige ein.

567

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März Mai 17. Oktober

1962 Bernard Mark berichtet auf der Sitzung der Polnischen historischen Gesellschaft in Warschau erstmals von Salmen Gradowski und dessen Tagebuch. In der jiddischen „Folkssztyme“ aus Warschau werden Informationen über Gradowski sowie ein Fragment seines Textes veröffentlicht. Das Manuskript Salmen Lewenthals samt den Textfragmenten Lejb Langfuß‘ wird entdeckt.

1963 20. Dezember Vor dem Landgericht Frankfurt a. M. beginnt die Hauptverhandlung des ersten Au­ schwitz-Prozesses gegen Mulka u. a. 1964 19. November In Frankfurt a. M. wird eine Ausstellung über Au­schwitz-Birkenau eröffnet. 14.–16.Dezem- Das Gericht im Frankfurter Au­schwitz-Prozess führt eine Ortsbegehung auf dem Gelänber de des ehemaligen KLs Au­schwitz-Birkenau durch.

20. August 14. Dezember

1965 Der erste Au­schwitz-Prozess vor dem Landgericht Frankfurt a. M. geht zu Ende. Der zweite Au­schwitz-Prozess (Verfahren „4 Ks 3/63 gegen Burger u. a.“) beginnt vor dem Landgericht Frankfurt a. M.

1966 16. September Der zweite Au­schwitz-Prozess vor dem Landgericht Frankfurt a. M. geht zu Ende.

Oktober

1970 Das Manuskript „Die Aussiedlung“ Lejb Langfuß’ wird wiederentdeckt und dem Staat­ lichen Museum Au­schwitz übergeben. 1972 Das Buch „Menschen in Au­schwitz“ von Hermann Langbein erscheint mit einem Kapitel über das „Sonderkommando“, das bei in Israel wohnenden Überlebenden Protest hervorruft (Nennung Lewenthals, Gradowskis und Langfuß‘). 1973 Esther Mark veröffentlicht die Identifizierung des Verfassers der 1952 auf­gefundenen jiddischen Handschrift eines Sonderkommando-Chronisten. Sie identifiziert den Verfasser als Lejb Langfuß. 1974 Erich Kulka beginnt im Rahmen seiner Erforschung des Sonderkommando-Aufstands mit einer systematischen Suche nach ehemaligen Sonderkommando-Häftlingen, wobei er bis Ende 1983 weltweit insgesamt 24 Sonderkommando-Überlebende ausfindig macht, von denen er zwölf Personen in Israel interviewt (1975 bereits Milton Buki), neun von ihnen werden bis 1985 Mitglied im Komitee der Au­schwitz-Überlebenden in Israel. Weitere Interviews im In- und Ausland folgen. 1975 Das Buch „Kämpfendes Au­schwitz“ von Józef Garliński erscheint in polnischer Sprache mit einem Kapitel über das „Sonderkommando“ (Erwähnung Gradowskis als Organisator des Aufstands).

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1. Chronik ausgewählter Ereignisse

1977 Das Buch „Die Schriftrollen von Au­schwitz“ von Ber Mark erscheint posthum in jiddischer Sprache mit einem Kapitel über das „Sonderkommando“ (Erwähnung Gradowskis als Organisator des Aufstands). Marks Witwe sammelte Zeugenaussagen über das Sonderkommando und ließ diese in das Werk ihres Mannes einfließen.

Mitte Mai

24. Oktober

25. April 7. Oktober

7. Oktober

30. April

22. Mai

April

1979 Filip Müller legt mit seinem Erinnerungsbericht „Sonderbehandlung“ den ersten Versuch einer literarischen Gesamtdarstellung der Sonderkom­mando-Geschichte vor. Das Buch erscheint zuerst in Übersetzung in Groß­britannien und den USA, Anfang Juli auch auf Deutsch. Das “Public Committee of Au­schwitz Survivors in Israel” unter Ehrenvorsitz von Erich Kulka fragt bei der in New York neu gegründeten Vereinigung „Holocaust Survivors of Au­schwitz“ um Unterstützung bei der Erforschung der Geschichte des Sonderkommandos und seines Aufstands an. 1980 Lilli Jacob übergibt der Gedenkstätte Yad Vashem das sog. Au­schwitz-Album, das sie im April 1945 im KL Mittelbau-Dora entdeckt hat. Das Manuskript Marcel Nadjaris wird entdeckt. 1983 Kulka organisiert eine erste Versammlung von sechs Sonderkommando-Überlebenden in Israel. Kulka organisiert eine Pressekonferenz der Redaktion der „Israel-Nachrichten“ mit zwei Repräsentanten der Sonderkommando-Überlebenden (Rosenblum und Sackar) gegen die Verleumdung des Sonderkommandos in Langbeins Buch. 1984 Bei einer von Kulka organisierten Veranstaltung anlässlich des 40. Jahrestags des Sonderkommando-Aufstandes in Jerusalem versammeln sich sieben Sonderkommando-Über­ lebende. 1985 Lanzmanns Film „Shoah“ wird in Paris uraufgeführt. Einer der Höhepunkte: das Interview mit Filip Müller. Die deutsche Erstausstrahlung von vier Filmteilen beginnt am 1.3.1986. Auf dem jüdischen Friedhof in Fröndenberg (Sauerland), dem ehemaligen Ort des Hauptsitzes der Union-Metallwerke, wird auf Initiative von Kulka das erste Denkmal für die jüdischen Widerstandskämpferinnen Roza Robota, Ala Gertner, Esther Wajcblum und Regina Safirsztajn enthüllt. 1986 Gideon Greif lernt den Sonderkommando-Überlebenden Josef Sackar kennen und interviewt ihn später für die israelische Radiosendung „Saloniki-Au­schwitz“, die am Jom haScho’a (Holocaust-Gedenktag), am 26. April 1987, gesendet wird. Zwischen 1987 und 2001 interviewt Greif nach eigenen Angaben 23 Überlebende des Sonderkommandos weltweit, bis 2016 insgesamt 30 Überlebende.

569

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14. April

1987 Karl Fruchtmanns 1986 produziertes filmisches Porträt „Ein einfacher Mensch“ über Jaacov Silberberg wird im deutschen Fernsehen erstausgestrahlt. 1989 Das erste Buch zu David Olères Kunstwerken über das Sonderkommando wird von der Beate Klarsfeld Foundation in französischer und englischer Sprache herausgegeben.

19. Juni

8. September

7. Oktober

23. Januar

30. April

1991 Enthüllung einer Skulptur zu Ehren von Robota, Gertner, Wajcblum und Safirsztajn in der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem. 1993 Gideon Greif besucht Au­schwitz-Birkenau mit einer Gruppe von sechs in Israel lebenden ehemaligen Sonderkommando-Häftlingen und lässt ihre Aussagen am Ort des Geschehens filmisch dokumentieren. 1994 Gedenkveranstaltung zum 50. Jahrestag des Sonderkommando-Aufstands im Staatlichen Museum Au­schwitz-Birkenau. Enthüllung einer Gedenktafel zu Ehren von Robota, Gertner, Wajcblum und Safirsztajn im ehemaligen Stammlager Au­schwitz. 1995 Erscheinungstermin von Gideon Greifs Interviewsammlung „Wir weinten tränenlos …“, der weltweit ersten Veröffentlichung gesammelter Interviews mit sieben ehemaligen Sonderkommando-Häftlingen. In Band III des Sammelwerks „Au­schwitz 1940–1945. Studien zur Geschichte des Konzentrations- und Vernichtungslagers Au­schwitz“ von Franciszek Piper behandeln zwei Kapitel ausführlich das Sonderkommando. Das polnische Standardwerk erscheint 1999 auch auf Deutsch. 1997 In der Gedenkstätte Yad Vashem wird eine Ausstellung mit David Olères Kunstwerken eröffnet, zwölf Jahre nach dessen Tod. 1999 Andrew Barrons Dokumentarfilm „Au­schwitz – the final witness“ über den Besuch der Gebrüder Venezia in der Gedenkstätte Au­schwitz mit ihrem Cousin Dario Gabbai wird im britischen Fernsehen ausgestrahlt.

24. Januar

22.–25. März

2001 Eric Friedlers Dokumentarfilm „Sklaven der Gaskammer. Das jüdische Sonderkommando in Au­schwitz“ wird erstmals ausgestrahlt (D 2000). Er ist die erste filmische Gesamtdarstellung der Sonderkommando-Geschichte und zeigt Interviews mit neun Sonderkommando-Überlebenden. Erste Sonderkommando-Studienfahrt „Das Sonderkommando in Au­schwitz-Birkenau“ nach Oświęcim, veranstaltet vom Bildungswerk Stanislaw Hantz e.V., Kassel, begleitet von Andreas Kilian. 2002

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1. Chronik ausgewählter Ereignisse

9. Oktober

25. Oktober

9. Dezember

27. Januar 1. November

15.–16. Juni

23.–25. Mai

7. Oktober

10. März

11. Juni

Erscheinungstermin der Monografie „Zeugen aus der Todeszone“ von Eric Friedler, Barbara Siebert und Andreas Kilian, der ersten Gesamtdarstellung der SonderkommandoGeschichte. „Die Grauzone“, ein Spielfilm von Tim Blake Nelson über das Sonderkommando in ­Au­schwitz-Birkenau, der auch den Aufstand darstellt, wird in den USA aufgeführt. Am 27.1.2005 kommt der Film auch in Deutschland in die Kinos (zuerst am 30.11.2001 in ­Spanien). 2003 Veröffentlichung der ersten Website zum Thema, des deutschsprachigen Informationsund Aufklärungsportals „Sonderkommando-Studien.de“ (SoKoS) durch die „Unabhängige Arbeitsstelle zur Erforschung der Geschichte der jüdischen Sonderkommandos im KL Au­schwitz-Birkenau“. 2005 In Au­schwitz wird der 60. Jahrestag der Befreiung des KLs Au­schwitz-Birkenau durch die Rote Armee gefeiert. Durch die UN-Resolution 60/7 wird der 27. Januar – der Tag der Befreiung des KLs ­Au­schwitz-Birkenau – zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust erklärt. 2009 Erste Internationale Sonderkommando-Konferenz “Operation 1005: Nazi attempts to erase the evidence of mass murder in eastern and central Europe, 1942–1944” in Paris, veranstaltet durch Yahad–In Unum Association  / Université Paris IV-Sorbonne  / United States Holocaust Memorial Museum / Collège des Bernardins, Paris. 2013 2. Internationale Sonderkommando-Konferenz “The forced labourers of death. Sonderkommandos and Arbeitsjuden” in Brüssel, veranstaltet durch die Fondation Au­schwitz – Mémoire d’Au­schwitz ASBL, Brüssel. Pavel Polians Werk „Schriftrollen aus der Asche“ erscheint auf Russisch und umfasst erstmals alle Manuskripte der Sonderkommando-Chronisten in einem Band. 2014 Gedenkveranstaltung im Jüdischen Museum und Zentrum für Toleranz in Moskau anlässlich des 70. Jahrestags des Aufstands des jüdischen Sonderkommandos in Au­schwitzBirkenau. 2015 Präsentation der Entzifferungsmethodik der Handschrift Marcel Nadjaris durch Pavel Polian und Alexander Nikitjaew im Moskauer Kulturzentrum SIL, Vorstellung erster Entzifferungsergebnisse. „Son of Saul“, ein Spielfilm von László Nemes über das Sonderkommando in Au­schwitzBirkenau, der auch den Aufstand darstellt, wird in Ungarn aufgeführt. Am 10.3.2016 kommt der Film auch in Deutschland in die Kinos. 2016

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21. Juni

12.–13. April

Oktober

31. Oktober

10. März

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Präsentation der entzifferten Handschrift Marcel Nadjaris durch Pavel Polian und Alexander Nikitjaew im Jüdischen Museum und Zentrum für Toleranz in Moskau. Polian und Nikitjaew gelang es, die Lesbarkeit des Manuskripts von früher zehn auf 90 Prozent zu erhöhen. 2018 3. Internationale Sonderkommando-Konferenz „Telling, Describing, Representing Extermination. The Au­schwitz Sonderkommando, their Testimony and their Legacy” in Berlin, veranstaltet durch Centre Marc Bloch und das Zentrum für Literatur- und Kulturforschung, Berlin. Andreas Kilian veröffentlicht die Identifizierung des Verfassers der ersten 1945 aufgefundenen französischen Handschrift eines Sonderkommando-Chronisten. Er identifiziert den Verfasser als Hersz Herman Strasfogel. Die bisher größte Ausstellung von Werken David Olères wird im Museum der Gedenkstätte Au­schwitz-Birkenau eröffnet. Neben 19 Gemälden aus der Sammlung des Au­ schwitz-Museums, davon eine Schenkung Serge Klarsfelds von 2014 und 18 Neuerwerbungen vom September 2017, sind 64 weitere Leihgaben der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem und des Mémorial de la Shoah in Paris zu sehen. 2019 erste öffentliche Ausstellung von drei Seiten des Original-Briefs von Herman Strasfogel im Rahmen der Präsentation der Fundgeschichte des Originals durch Karen Taieb und die Enkelkinder Herman Strasfogels, Laurent und Beatrice Muntlak (sowie durch Alain Alexandra und Andreas Kilian), im Memorial de la Shoah, Paris.

2. Veröffentlichungen der Manuskripte …

2. Veröffentlichungen der Manuskripte der Mitglieder des Sonderkommandos Von Pavel Polian und Andreas Kilian

1948 (Franz.) „Hermann“. Un témoignage bien émouvant, +inAprès Auschwitz, in: Bulletin Périodique de l’Amicale des anciens deportés d’Auschwitz, 19 (janvier–février 1948). S.  2. Auszüge, Überschrift stammt von der Redaktion. 1954 (Poln.) W otchłani zbrodni (Kronika oświęcimska nieznanego autora) [Im Abgrund des Verbrechens. Die Auschwitz-Chronik eines unbekannten Autors], in: Biuletyn Żydowskiego Institutu Historycznego 9–10 (1954). S. 303–309. Mit einer Anmerkung „der Redaktion“: „Entdeckt im November 1952. Verfasst auf Jiddisch. Letztes Datum im Text: 26. November 1944. Titel stammt vom Autor.“ (Jidd.) In Groyel fun retsikhe [Inmitten der Gräuel der Gewalttaten] in: Bleter far Geschichte. 1954. Bd. VII. Nr. 5. S. 100–107. Notizen eines unbekannten Autors. Im Vorwort wird von dem Fund berichtet. Noch hat keine Identifizierung des Autors Lejb Langfuß stattgefunden. Enthält die Kapitel „Einzelheiten“, „Notizen“ und „Sadismus“. Das letzte Kapitel ist als ein auf Belzec und nicht auf Auschwitz bezogenes in die Publikation eingegangen. 1957 (Hebr.) Anashim va efer: Sefer oshvits-birkenau [Menschen und Asche: Das Buch von Auschwitz-Birkenau]. Hrsg. I. Gutman. Merhavia 1957. 1958 (Ital.) [Unbekanntes Mitglied des Sonderkommandos] Nell’abisso del crimine, in: Ricorda cosa ti ha fatto Amalek. Hrsg A. Nirenstejn. Torino 1958. S. 409–413. 1962 (Dt.) [Unbekanntes Mitglied des Sonderkommandos] Im Abgrund des Verbrechens, in: Auschwitz. Zeugnisse und Berichte. Hrsg. H. G. Adler, H. Langbein, E. Lingens-Reiner. Frankfurt am Main 1962. S. 94–97. Der Übersetzer wird nicht genannt, aber es handelt sich um B. Mark. Im Unterschied zu den ersten ­Publikationen fehlt das Kapitel „Sadismus“. (Jidd.) [Mark, B.] [Im Leningrader Wehrmedizinischen Museum befinden sich die Notizen von Salmen Gradowskis über Auschwitz], in: Folksztyme 68 (1962). S. 3. Im Artikel werden das Tagebuch und der Brief Gradowskis erwähnt, die bei Ausgrabungen unweit des Krematoriums IV gefunden wurden. Auch der Brieftext ist übersetzt worden, was im Grunde die Erstveröffentlichung nicht nur des Briefs, sondern Gradowskis überhaupt darstellt. Der Autor des nicht gezeichneten Artikels (höchstwahrscheinlich B. Mark) erklärt: „Aus dem Text auf der

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letzten Seite des Notizbuchs geht hervor, dass Salmen Gradowski das Notizbuch zunächst an einem Ort versteckt hatte, es dann ausgrub und an einem anderen Ort wieder versteckte. Es hat sich gezeigt, dass die Flasche, in der das Notizbuch und der Brief versteckt worden waren, nicht hermetisch verschlossen wurde, sodass Feuchtigkeit in die Flasche eindrang, weshalb ein Teil des Textes vernichtet worden ist.“ (Jidd.) [Mark B.] [Ein neues erstaunliches Dokument. Das Auschwitz-Tagebuch Salmen Gradowskis], in: Folksztyme 72 (1962). S. 3–4. 1965 (Poln.) Rękopis Zełmana Lewentala [Das Manuskript Salmen Lewenthals]. Aus dem Hebräischen und Jiddischen entziffert von Liber Brener und Adam Wein; übersetzt ins Polnische von Szymon Datner, in: „Szukajcie w popiołach“. Papiery znalezione w Oświęcimu [„Sucht in der Asche“. Schriftrollen, die in Auschwitz gefunden wurden]. [Glówna Komisja Badania Zbrodni Hitlerowskich w Polsce] Łódź 1965. S. 125–130. 1967 (Dt.) Der Bericht Zelman Lewenthals. Deutsch von P. Lachmann, A. Astel, in Briefe aus Litzmannstadt. Hrsg. J. Gumkowski, A. Rutkowski, A. Astel. Köln 1967. S. 89–96. 1968 (Poln.) Zelman Lewental. Pamiętnik członka Sonderkommando Auschwitz II [Tagebuch eines Mitglieds des Sonderkommandos Auschwitz II]. Vorwort: A. Rutkowski; Übersetzung: A. Rutkowski, A. Wein, in: Biuletyn Żydowskiego Institutu Historycznego 65–66 (styczeń–czerwiec 1968). S. 211–233. Eine unzuverlässige Veröffentlichung. 1969 (Poln.) Zalmen Gradowski. Pamiętnik [Tagebuch]. O pamiętniku Zalmena Gradowskiego, członka Sonderkommando w obozie koncentraczjnym Oświęcim. [Über das Tagebuch von Zalmen Gradowski, Mitglied des Sonderkommandos im Konzentrationslager Auschwitz] Vorwort u. Anmerkungen: B. Mark. Bearbeitung des Texts: E. Mark, in: Biuletyn Żydowskiego Institutu Historycznego 71–72 (lipiec–grudzień 1969). S. 171–204. Eine unzuverlässige Veröffentlichung (ausgelassene Fragmente wurden nicht gekennzeichnet). Der Herausgeber (B. Mark) dankt Lopatenok aus dem WMM für die 1962 gebotene Gelegenheit, die ­Notizen und das Protokoll der Kommission von Popow und Gerassimow einzusehen. (Franz.) Rutkowski A. Trois documents d’Auschwitz-Birkenau, in : Le Monde juif 56 (1969). Numéro spécial sur le 25e anniversaire de la libération d’Auschwitz. S. 19–39. Redaktionell verfälschte Auszüge der Handschriften von Salmen Lewenthal und Lejb Langfuß. 1971 (Poln.) Wśród koszmarnej zbrodni: Notatki więźniów Sonderkommando [Inmitten des grauenvollen Verbrechens. Handschriften von Mitgliedern des Sonderkommandos], in: Zeszyty Oświęcimskie. Numer specialny (II). Hrsg. J. Bezwińska, D. Czech. Oświęcim 1971. In den Texten Gradowskis und Langfuß‘ wurden einzelne Fragmente ausgelassen, die keinen direkten Bezug zu Auschwitz hatten. 1972 (Dt.) Inmitten des grauenvollen Verbrechens. Handschriften von Mitgliedern des Sonderkommandos. HvA. Sonderheft (I). Auswahl und Bearbeitung: J. Bezwińska, D. Czech; Beglaubigung der Übertragung der Handschriften aus dem Jiddischen: R. Pytel; Nachwort: W. Bartoszewski; Übersetzung: H. Henschel. Oświęcim 1972. (Poln.) Rękopis Lejba [Die Handschrift von Lejb]. Vorwort von J. Bezwińska, D. Czech; Übersetzung: R. Pytel, in: Zeszyty Oświecimskie 14 (1972). S. 6–62.

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2. Veröffentlichungen der Manuskripte …

1973 (Engl.) Amidst a nightmare of crime. Manuscripts of Members of Sonderkommando. Hrsg. J. Bezwińska. Oświęcim 1973. (Dt.) Lejb. Handschrift. Vorwort: J. Bezwińska, D. Czech; Übersetzung: R. Pytel. Übersetzung ins Deutsche: H. Henschel, in: HvA 14 (1973). S. 17–71. 1975 (Poln.) Wśród koszmarnej zbrodni: Notatki więźniów Sonderkommando. II wydanie rozszerzone [Inmitten des grauenvollen Verbrechens. Handschriften von Mitgliedern des Sonderkommandos. II. erweiterte Auflage]. Hrsg. J. Bezwińska, D. Czech. Oświęcim 1975. 1976 (Franz.) Bermann C. [sic]. Un témoignage posthume, in: Brille B.-A. Les techniciens de la mort. Paris 1976. S. 184–189. 1977 (Jidd.) Salmen Gradowski. In Harts Fun Gehenem [Im Herzen der Hölle]. Chaim Wolnermann. Araynfir [Vorwort]; David Sfard. Eynike zikhroynes fun Salmen Gradowski [Einige Erinnerungen an Salmen Gradowski]; Yehoshua Wigodsky. A wort fun a gewezenem osir in Oyshwitz [Das Wort eines ehemaligen Auschwitz-Häftlings]. Jerusalem 1977. (Jidd.) Mark B. (Hrsg.) Megillah Oyshvits [Schriftrollen von Auschwitz]. Tel Aviv 1977. 1978 (Hebr.) Mark B. (Hrsg.) Megillat Auschwitz [Schriftrollen von Auschwitz]. Tel Aviv 1978. 1979 (Dt.) [Unbekanntes Mitglied des Sonderkommandos] Im Abgrund des Verbrechens. in: Auschwitz. Zeugnisse und Berichte. Hrsg. H. G. Adler, H. Langbein, E. Lingens-Reiner. Köln, Frankfurt am Main 21979. S. 75–77. 1980 (Franz.) Hermann C. [sic]. Lettre, in: Pozner V. Descente aux enfers. Paris 1980. S. 200–207. 1982 (Franz.) Mark B. Des voix dans la nuit. La résistance juive à Auschwitz-Birkenau. Paris 1982. (Griech.) Marcel Nadjari, in: Rizospastis. Zeitungsbericht von Yannis Litsos. 22.4.1982. S. 3. (Dt.) Hermann C. [sic]. Brief in, Pozner V. Abstieg in die Hölle. Zeugnisse über Auschwitz. Berlin Ost 1982. S. 202–209. 1984 (Dt.) [Unbekanntes Mitglied des Sonderkommandos] Im Abgrund des Verbrechens, in: Auschwitz. Zeugnisse und Berichte. Hrsg. H. G. Adler, H. Langbein, E. Lingens-Reiner. Köln, Frankfurt am Main 31984. S. 74–77. 1985 (Engl.) Mark B. (Hrsg.) The Scrolls of Auschwitz. Übersetzung aus dem Hebräischen: S. Neemani. Tel Aviv 1985. 1988 (Hebr.) Zalman Gradowski. Reshimot [Notizen]. Tel Aviv 1988. (Dt.) [Unbekanntes Mitglied des Sonderkommandos] Im Abgrund des Verbrechens, in: Auschwitz. Zeugnisse und Berichte. Hrsg. H. G. Adler, H. Langbein, E. Lingens-Reiner. Frankfurt am Main 4 1988. S. 74–77.

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Anhang

1989 (Engl.) Gradowski Z. The Czech Transport. A Chronicle of the Auschwitz Sonderkommando (1944), in: Roskies D. G. (Hrsg.). The Literature of Destruction. Jewish Responses to Catastrophe. Philadelphia, Pa. u. a. 1989. S. 548–564. 1991 (Griech.) [Nadjari M.] Mapσeλ Natzaph. Xponiko 1941–1945 [Chronik 1941-1945]. Φeσσaλonikh [Thessaloniki] 1991. 1995 (Dt.) [Unbekanntes Mitglied des Sonderkommandos] Im Abgrund des Verbrechens, in: Auschwitz. Zeugnisse und Berichte. Hrsg. H. G. Adler, H. Langbein, E. Lingens-Reiner. Hamburg 51995. S. 74–77. 1996 (Dt.) Inmitten des grauenvollen Verbrechens. Handschriften von Mitgliedern des Sonderkommandos. Auswahl und Bearbeitung: J. Bezwińska, D. Czech; Beglaubigung der Übertragung der Handschriften aus dem Jiddischen: R. Pytel; Nachwort: W. Bartoszewski; Übersetzung: H. Henschel, J. August. Oświęcim 1996. 1997 (Span.) Mark B. (Hrsg.). Paginas de Auschwitz. Montevideo 1997. 1999 (Dt.) Salmen Gradowski. Im Herzen der Hölle, in: Theresienstädter Studien und Dokumente. 1999. Hrsg. M. Karny, R. Kemper. Prag 1999. S. 112–140. Fragmente aus drei Kapiteln. (Ital.) La voce dei sommersi. Manoscritti ritrovati di membri del Sonderkommando di Auschwitz. Hrsg. C. Soletti; Vorwort: F. Sessi; Nachwort: F. Piper. Venezia 1999. Übersetzung der deutschen Ausgabe: Inmitten des grauenvollen Verbrechens, 1996. 2001 (Franz.) Bensoussan G. (Hrsg.). Des voix sous la cendre. Manuscrits des Sonderkommandos d’Au­ schwitz-Birkenau (Revue d’histoire de la Shoah Nr. 171). Paris 2001. (Franz.) Gradowski, Zalmen. Au cœur de l’enfer. Document écrit d’un Sonderkommando d’Auschwitz – 1944. Hrsg. Ph. Mesnard, C. Saletti; Übersetzung aus dem Jiddischen: B. Baum. Paris. (2. Aufl. 2009) 2002 (Ital.) Gradowski, Salmen. Sonderkommando. Diario da un crematorio di Auschwitz, 1944. Hrsg. Ph. Mesnard, C. Saletti. Venezia: 2003. (Russ.) Makarowa E., Makarow S., Nekljudowa E., Kuperman W ( Hrsg.). Krepost’ nad besdnoj. Teresinskije dnewniki. 1942–1945 [Die Festung über dem Abgrund. Theresien­städter Tagebücher]. 19421945]. Jerusalem, Moskau 2003. S. 220–221. Erstmals ein Fragment in russischer Sprache. 2005 (Franz.) Des voix sous la cendre. Manuscrits des Sonderkommandos d’Auschwitz-Birkenau. Hrsg. ­Mémorial de la Shoah. Mit Beiträgen von G. Bensoussan, C. Saletti, P. Mesnard. Paris: 22005. (3. Auf­lage 2005, 4. Auflage 2006). (Russ.) Polian P. (Hrsg.) „W poslednee wremja oni natschali sametat‘ sledy“. Pis’mo is ­Oswencima. W Rossii publikujetsa wperwye [„Vor Kurzem begannen sie damit die Spuren zu verwischen“. Ein Brief aus Auschwitz. Erstmal in Russland publiziert], in: Iswestija 2005. S. 4. (Russ.) Polian P. (Hrsg.). Sapiska is pepla [Notiz aus der Asche], in: Jewrejskoe slowo 2005 Nr. 5. S. 7.

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2. Veröffentlichungen der Manuskripte …

(Russ.) Polian P. (Hrsg.). „Dorogoj nachodtschik, ischite wesde!“ Eti slowa odnogo is usnikow Oswenzima, ostawiwschego dokumental’nye swidetel’stwa Cholokosta, swutschat sejtschas kak golos is besdny [„Lieber Finder, suchen Sie Überall!“. Diese Wörter eines der Häftlingen von Auschwitz, der Zeugnisse des Holocausts hinterließ, klingen heutzutage wie eine Stimme aus Abgrund], in: Jewrejskaja gaseta 2005 Nr. 3. S. 26. 2008 (Russ.) Polian P. I w konze tosche bylo slowo … [Und auch am Ende war das Wort …], in Swesda. 2008 Nr. 7. S. 91–108. (Russ.) Gradowski S. [I. Pis’mo k potomkam, II. Doroga w ad [I. Ein Brief an die Nachwelt, II. Der Weg in die Hölle]. Hrsg. P. Polian; Übersetzung aus dem Jiddischen: M. Karp, A. Polian, in: Swesda 2008 Nr. 7. S. 109–140. (Russ.) Gradowski S. [III] Posredi preispodnej [Inmitten der Hölle]. Hrsg., Anmerkungen: P. Polian; Übersetzung aus dem Jiddischen: A. Polian, in: Swesda 2008 Nr. 8. S. 152–187. (Russ.) Gradowski S. [III] Posredi preispodnej [Inmitten der Hölle]. Hrsg., Anmerkungen: P. Polian; Übersetzung aus dem Jiddischen: A. Polian, in: Swesda 2008 Nr. 9. S. 146–161. (Russ.) Polian P. Tschernorabotschije smerti. Sonderkomanda w Oswenzime[Die Handlanger des ­Todes: Das Sonderkommando in Auschwitz], in: Swesda 2008 Nr. 9. S. 146–161. (Holl.) Gradowski Z. In het hart van de hel. Sonderkommando in de gaskamers en crematoria van Auschwitz. Einleitung: Ph. Mesnard. Laren 2008. (2. Auflage 2010) (Span.) Gradowski Z. En el corazon del infierno. Documento escrito por un Sonderkommando de Auschwitz – 1944. Hrsg. Ph. Mesnard, C. Saletti. Barcelona 2008. 2009 (Russ.) Polian P. I w konze tosche bylo slowo … Kak byl sosdan odin is samych potrjasajuschich dokumentow Cholokosta [Und auch am Ende war das Wort … Wie ist eines der erschütterndsten Zeugnisse des Holocausts entstanden?], in: Jewrejskaja gaseta Juni 2009. S. 21. (Russ.) Gradowski S. Posredi preispodnej … Is sapisok, najdennych w peple u petschej Oswenzima [Inmitten der Hölle. Aus den Notizen, die in der Asche neben den Öfen von Auschwitz gefunden wurden]. Hrsg., Vorwort: P. Polian; Übersetzung aus dem Jiddischen: A. Polian, in: Jewrejskaja gaseta Juni 2009. S. 21. 2010 (Russ.) Gradowski S. W serdzewine ada. Sapiski, najdennye w peple wosle petschej Oswenzima [Im Herzen der Hölle. Die Notizen, die in der Asche neben den Öfen von Auschwitz gefunden wurden]. Hrsg., Anmerkungen und Vorwort: P. Polian; Übersetzung aus dem Jiddischen: A. Polian, M. Karp. Moskau 2010. 2011 (Russ.) Gradowski S.  W serdzewine ada. Sapiski, hajdennye w peple wosle petschej Oswenzima [Im Herzen der Hölle. Die Notizen, die in der Asche neben den Öfen von Auschwitz gefunden wurden]. Hrsg., Anmerkungen und Vorwort: P. Polian; Übersetzung aus dem Jiddischen: A. Polian, M. Karp. Moskau 22011. 2012 (Hebr.) Gradovski Z. Be-lev ha-Gehenom: yomano shel asir u-mi-manhigey mered ha-zonderkomando be-­Oshwits [Im Herzen der Gehenna. Tagebuch eines Häftlings – eines der Anführer des Aufstands des Sonderkommandos in Auschwitz] / Nachwort: G. Greif; Übersetzung aus dem Jiddischen, 2. Vorwort und 2. Nachwort: A. Zur. Andere Vorworte: J. Wolnerman, C. Wolnerman, D. Sfard. Tel Aviv: Jedi’ot Acharonot 2012. 367 S. (Russ.) Levite A. Switki is pepla. Is rukopisej, najdennych w Oswiencim (A. Levite. Predislowije k almanachu „Oyshvits”) [Schriftrollen aus der Asche. Aus den in Auschwitz gefundenen Manuskripten

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Anhang

(A. Levite. Vorwort zum Sammelband „Auschwitz“)]. Hrsg. P. Polian; Übersetzung A. Polonskaja, in: Moskowskije nowosti 27. 1. 2012. S. 15. Im Internet: http://www.mn.ru/friday/20120127/310380236.html (abgerufen am 1.12.2018) (Russ.) Langfuß L. W sodraganii ot slodejstwa [Erschüttert von der Gräueltat]. Hrsg., Vorwort: P. Polian; Übersetzung aus dem Jiddischen: D. Terlezkaja, in Nowyj mir 2012 Nr. 5. S. 160–177. Im Internet: http://magazines.russ.ru/novyi_mi/2012/5/l10.html (abgerufen am 1.12.2018) (Russ.) [Nadjari M.] „Mne ne udastsja otomstit …“ [„Es wird mir nicht gelingen, mich zu rächen…“]. Hrsg. P. Polian; Übersetzung aus dem Jiddischen: A. Polonoskaja, in: Jewrejskoe slowo 2012 Nr. 13. S. 10. Im Internet: http://www.e-slovo.ru/573/10pol1.htm (abgerufen am 1.12.2018) (Russ.) Herman C. Poslanije is ada [Botschaft aus der Hölle]. [Hrsg., Vorwort, Kommentar: P. Polian;] Übersetzung aus dem Französischen: A. Polonskaja. in: Jerejskoje slowo 2012 Nr. 24. S. 8-13. Im Internet: http://www.e-slovo.ru/584/8pol1.htm (abgerufen am 1.12.2018) (Russ.) Lewenthal S. Sametki [Notizen]. Hrsg., Einführung: P. Polian; Übersetzung aus dem Jiddischen (unter Redaktion v. P. Polian), Einführungsessay: A. Polonskaja; Kommentar: P. Polian, A. Polonskaja in, Ab Imperio 2013 Nr. 6. S. 213–277. 2013 (Franz.) Gradowski Z. Écrits I et II. Témoignage d’un Sonderkommando d’Auschwitz. Paris 2013. (Russ.) Langfuß L. Wysselenije [Aussiedlung]. Hrsg., Vorwort, Übersetzung aus dem Deutschen: P. Polian, in: Diletant. 2013 Nr. 8. S. 52–55. (Russ.) Polian P. (Hrsg.) Switki is pepla. Jerejskaja “Sonderkommando” w Auschwize-Birkenau i ee letopiszy. Rukopissi tschlenow sonderkommando, najdennye w peple u petschej Oswenzima (S. Gradowski, L. Langfuß, S.  Lewenthal, C. Herman, M. Nadjari und A. Levite) [Schriftrollen aus der Asche. Das jüdische Sonderkommando in Auschwitz-Birkenau und ihre Chronisten. Manuskripte der Sonderkommandomitglieder, die neben den Öfen von Auschwitz gefunden wurden (S. Gradowski, L. Langfuß, S. Lewenthal, C. Herman, M. Nadjari i A. Levite)]. Moskau, Rostow am Don 2013. (Russ.) Langfuß L. Wysselenije [Aussiedlung]. Übers. aus dem Deutschen von P.Polian, in: Studia ­Zydowskie Almanach 2013 Nr.3. S. 197-243. 2014 (Dt.) [Unbekanntes Mitglied des Sonderkommandos] Im Abgrund des Verbrechens, in: Auschwitz. Zeugnisse und Berichte. Hrsg. H. G. Adler, H. Langbein, E. Lingens-Reiner. Hamburg 62014. S. 74–77. 2015 (Russ.) Polian P. Schertwy i palatschi Oswenzima [Schriftrollen aus der Asche. Die Opfer und Henker von Auschwitz]. Moskau 2015. (Engl.) Gradowski Z. In the midst of hell. Notes found in the ashes near the furnaces of Auschwitz. Hrsg. P. Polian; Übersetzung aus dem Russischen: H. M. Goldfinger. Moskau 2015. 2017 (Dt.) Polian P. Das Ungelesene lesen. Die Aufzeichnungen von Marcel Nadjari, Mitglied des jüdischen Sonderkommandos von Auschwitz-Birkenau, und ihre Erschließung. Übersetzung aus dem Neugriechischen: N. Kadritzke, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 65 (2017). S. 597–618. (Ung.) Gradowski Z. Auschwitz-Tekercs. A Pokol Szívében [Auschwitz-Schriftrolle. Im Herzen der Hölle]. Budapest 2017. (Engl.) Gradowski Z. From the Heart of Hell. Manuscripts of a Sonderkommando Prisoner, Found in Auschwitz. Oświęcim 2017. (Franz.) Gradowski Z. Je me trouve au Coeur de l’enfer. Les manuscripts d’un Sonderkommando ­retrouvés à Auschwitz. 2017.

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2. Veröffentlichungen der Manuskripte …

(Span.) Gradowski Z. Me encuentro en el corazón del infierno. Manuscritos de un sonderkommando hallados en Auschwitz. Oświęcim 2017. (Dt.) Gradowski Z. Ich befinde mich im Herzen der Hölle. In Auschwitz wiedergefundene Handschriften eines Häftlings aus dem Sonderkommando. Oświęcim 2017. (Ital.) Gradowski Z. Mi trovo nel cuore dell’inferno. Manoscritti di un prigioniero del Sonderkommando trovati ad Auschwitz. Oświęcim 2017. (Poln.) Gradowski Z. Znajduję się w sercu piekła. Notatki więźnia Sonderkommando odnalezione w Auschwitz [Ich bin im Herzen der Hölle. Aufzeichnungen eines Häftlings des Sonderkommados in Auschwitz]. Oświęcim 2017. Mit einem Nachwort der Übersetzerin Magdalena Ruta. (Jidd.) Gradovski Z. In harts fun gehenem. Neu Delhi 2017. Reprint der digitalen Kopie des von Wolnerman 1977 hrsg. Buchs. National Yiddish Book Center, Spielberg Digital Yiddish Library No. 14613, Amherst, Massachusetts. 2018 (Griech.) ΝΑΤΖΑΡΗ Μ. [Natzari M.] Χειρόγραφα, 1944–1947. Από τη Θεσσαλονίκη στo Ζόντερκομάντο του Άουσβιτς [Manuskripte 1944–1947. Von Thessaloniki in das Sonderkommando von Auschwitz]. Αθήνα [Athen] 2018. (Dt.) Gradowski S. Notizen. Brief, in: Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945. Bd. 16: Das KZ Auschwitz 1942–1945 und die Zeit der Todesmärsche 1944/1945. Bearb. A. Rudorff. Berlin, Boston 2018, S. 328–332(Auszüge), 466–467. (Dt.) Lewental S. Handschriftl. Notizen, in: Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945. Bd. 16: Das KZ Auschwitz 1942–1945 und die Zeit der Todesmärsche 1944/1945. Bearb. A. Rudorff. Berlin, Boston 2018, S. 487–499 (Auszüge). (Dt.) Nadjary M. Brief, in: Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945. Bd. 16: Das KZ Auschwitz 1942–1945 und die Zeit der Todesmärsche 1944/1945. Bearb. A. Rudorff. Berlin, Boston 2018, S. 499–503. (Dt.) Herman C. Brief, in: Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945. Bd. 16: Das KZ Auschwitz 1942–1945 und die Zeit der Todesmärsche 1944/1945. Bearb. A. Rudorff. Berlin, Boston 2018, S. 505–509. (Dt.) Langfus L. Notizen, in: Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945. Bd. 16: Das KZ Auschwitz 1942–1945 und die Zeit der Todesmärsche 1944/1945. Bearb. A. Rudorff. Berlin, Boston 2018, S. 205–209, 509–551 (Auszüge). (Dt.) Levite A. Handschriftl. Manuskript, in: Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945. Bd. 16: Das KZ Auschwitz 1942–1945 und die Zeit der Todesmärsche 1944/1945. Bearb. A. Rudorff. Berlin, Boston 2018, S. 523–527. (Engl.) Levite A. For an Auschwitz Anthology, in: Writing in witness: a Holocaust reader. Hrsg. E. Sundquist. Albany, NY 2018. S. 53–59. (Engl.) Gradowski Z. “In the deep sea of corpses”: The Czech Transport in: Writing in witness: a Holocaust reader. Hrsg. E. Sundquist. Albany, NY 2018. S. 291–303. 2019 (Russ.) Polian P. Zhisn’ I smert’ v Ausschwitzkom adu [Leben und Tod in der Hölle von Auschwitz]. Moskau 2019. (Engl.) The Letter of Herman Strasfogel, in: Testimonies of Resistance: Representations of the Auschwitz-Birkenau Sonderkommando. Hrsg. N. Chare, D. Williams. New York Oxford 2019. (Engl.) The Letter of Marcel Nadjary, in: Testimonies of Resistance: Representations of the AuschwitzBirkenau Sonderkommando. Hrsg. N. Chare, D. Williams. New York Oxford 2019.

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3. Anus Mundi: Was die Befreier in Auschwitz sahen [1] [4. März 1945] PROTOKOLL den 4. März 1945 Eine Kommission bestehend aus: dem Vorsitzenden, Hauptmann der Intendantur GERSCHKOWITSCH Ch. D., und den Mitgliedern: Hauptmann der Justiz POPOW D.A., den Bürgern NASAL ­Jevgeniusz, RADTSCHENKO P.N. und dem Medizinprofessor ­LIMUSEN Henryk, hat eine Sichtung der auf dem Territorium des ehemaligen Konzentrationslagers von Oświęcim gelegenen Gebäude, Anlagen und Bauwerke vorgenommen. Bei der Sichtung und Begutachtung hat die Kommission Folgendes festgestellt: I. In den Dachgeschossräumen eines Gebäudes im südwestlichen Teil des Lagers mit einer Fläche von 2301 qm ist ein Magazin mit gebrauchter Unter- und Oberbekleidung für Männer vorgefunden worden. Die fertige Kleidung liegt auf dem Boden aufgehäuft und zum Sortieren vorbereitet da, denn den gesamten Dachgeschossraum entlang sind spezielle Regale zum Sortieren fertiger Kleidung angebracht. Auf einem beträchtlichen Teil der Oberbekleidung sind standardisiert angefertigte sechseckige Sterne aufgenäht, die im Inneren den Schriftzug „Jude“ enthalten. Auf den Männersakkos sind Werbeetiketts von Schneidern verschiedener Länder vorhanden (Frankreich, Belgien, Holland, Ungarn, Rumänien usw.). Die Kommission hat festgestellt, dass in dem Dachgeschossraum 219.429 Stück Männerbekleidung vorhanden sind (Sakkos, Hosen, Westen, Jacken, Mäntel, Regenmäntel, Oberhemden, Unterhemden, lange Unterhosen u. Ä.). II. 150–200 Meter südlich des genannten Magazins ist eine riesige Grube vorgefunden worden, in welcher verschiedenes gebrauchtes Metall- und Emaille-Geschirr deponiert wurde (Töpfe, Becher, Schüsseln, Tassen, Krüge, Pfannen, Wasserkocher u. Ä.), insgesamt 52.061 Stück, was neun Waggons umfasst. Auf dem besagten Geschirr sind Herstellermarken verschiedener europäischer Länder vorhanden. III. Im nordwestlichen Teil sind zwei Magazingebäude vorgefunden worden (ein Stein- und ein Holzbau), in denen festgestellt worden ist: Steinbau: Die Fläche beträgt 468 qm. Das Magazin ist mit Unter- und Oberbekleidung für Frauen überhäuft. Das Magazin ist mit speziellen Regalen zum Sortieren der Kleidung ausgestattet, wobei auf einigen der Regale aussortierte und abgepackte Frauenbekleidung vorgefunden worden ist.

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3. Was die Befreier in Auschwitz sahen

Im genannten Magazin sind gemäß der Zählung der Kommission 836.225 Stück Frauenbekleidung vorhanden (Kleider, Röcke, Pyjamas, Pullover, Strümpfe, Büstenhalter, Trikots, Unterwäsche, Nachthemden, Blusen u. Ä.). Holzbau: Die Fläche beträgt 180 qm. Auf dem Boden sind gebrauchte Ober- und Unterbekleidung für Kinder sowie gebrauchte Frauenschuhe in einem Haufen liegend vorgefunden worden. Das Vorhandensein der Kinderbekleidung ist festgestellt worden: 115.063 Stück (Säuglingshemdchen, kleine Strümpfe, kleine Handschuhe, Kleidchen, Höschen, Matrosenhemdchen, Jäckchen, Kinderpullover, Mäntel, Söckchen, Pyjamas u. Ä.). Die vorgefundene Kinderbekleidung weist Größen für Kinder vom Säuglingsalter bis zum Alter von 10–11 Jahren auf. Es wurden 5525 Paar Frauenschuhe vorgefunden (Stöckelschuhe, Stiefel, Halbstiefel). Die beiden genannten Magazine (der Stein- und der Holzbau) befinden sich 25–30 Meter von der Gaskammer entfernt, in der die Vernichtung der Menschen vonstattenging. In einem der an die genannten Magazine anliegenden Räume, der als Schreibstube diente, ist ein Registrations- und Verzeichnisbuch der mit Kleidung beladenen Waggons vorgefunden worden. Die Aufzeichnungen in dem Buch geben wieder: Datum der Verladung, Nummer und Typ des Waggons, Bezeichnung der verladenen Sachen, Zielbahnhof und Bezeichnung des Frachtempfängers. Für jeden Waggon ist in dem Buch ein Stempel des Bahnhofs Auschwitz vorhanden, der die Annahme des jeweiligen Waggons zur Verladung bestätigt. Das Buch wurde am 12.12.1944 angefangen (ist offensichtlich eine Fortsetzung anderer Bücher), die Aufzeichnungen enden am 18.1.1945. Im besagten Zeitraum, also binnen 37 Tagen, wurden, wie aus den Aufzeichnungen im Buch hervorgeht, 116 Waggons verschiedener Kleidung und Tragesachen687 verladen. IV. Im südlichen Teil des Lagers ist in einem der Gebäude auf dem Dachboden ein Magazin mit gebrauchter, auf dem Boden aufgehäufter Oberbekleidung für Männer (Sakkos, Hosen, Mäntel) vorgefunden worden. Die Fläche des Dachbodens beträgt 189 qm. Auf dem besagten Dachboden sind 27.401 Stück Oberbekleidung vorhanden. V. Im östlichen Teil des Lagers sind drei zweigeschossige Steingebäude vorgefunden worden, die als Lagerund Sortierhallen verwendet wurden. Bei der Sichtung der genannten Gebäude ist festgestellt worden: 1. Nähmaschinen verschiedener Marken und Firmen 2. Schlaf- und Esszimmertextilien (Kissenbezüge, Handtücher, Bettlaken, Tischdecken u. Ä.) 3. Metall- und Emaille-Geschirr 4. Fayence-Geschirr 5. Schuh-, Kleidungs- und Kopfbürsten 6. Rasierpinsel 7. Essmesser, Löffel und Gabeln

376 St. 68 054 17 787 bzw. 3 Waggons 2 Waggons 49 865 7 837 14 693

687 So im Text (Anm. d. Ü.).

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8. Sicherheitsrasierklingen 9. Zahnbürsten 10. Kämme verschiedene 11. Rasiersteine (zur Desinfektion) 12. Taschen- und Handspiegel 13. Scheren verschiedener Größen 14. Fleischwölfe 15. Thermosflaschen klein 16. Puderdosen 17. Brillen verschieden 18. Matratzen weich 19. Teppiche, Läufer, Decken 20. Stepp-, Flausch- und Tuchdecken 21. Tallits (zum Gebet) 22. Koffer verschieden 23. Männerschuhe ohne Sohlen 24. Waschseife (verschiedener Hersteller)

4 353 9 892 2 739 1 165 421 2 368 23 180 116 12 910 592 13 964 9 205 5 508 3 162 38 000 Paar 25 t.

Ihrem Äußeren nach zu urteilen waren alle genannten Gegenstände und Haushaltsartikel im Gebrauch. Auf zahlreichen Gegenständen (Geschirr, Koffer, Seife u. Ä.) sind Herstellermarken verschiedener europäische Länder vorhanden (Frankreich, Belgien, Holland, Ungarn usw.). Auf vielen Koffern sind Hoteletiketts verschiedener Städte verschiedener europäischer Länder vorhanden. Die Magazinräume aller Gebäude sind mit speziellen Regalen zum Sortieren und zeitweiligen Aufbewahren ausgestattet, wobei an jedem Regal Etiketts, Aufschriften und Schilder vorhanden sind, die bezeichnen, für welche Art der Gegenstände die Regale bestimmt sind. In den Magazinen sind an den Wänden spezielle Schreibtafeln vorhanden, auf denen mit Kreide die Anzahl und die Bezeichnung der Besitztümer verzeichnet wurden, die zum Sortieren und Aufbewahren in das Magazin gebracht wurden. Die Aufzeichnungen sind dem Sachstand vom 17.1.1945 entsprechend erstellt worden. An den Magazinen sind eine Schneider- und eine Schusterwerkstatt vorgefunden worden, die zur Reparatur und Aufbereitung der Kleidung und Schuhe zwecks weiterer Verschickung nach Deutschland bestimmt waren. Zudem sind an den Magazinen spezielle Räume vorgefunden worden, die zur Aufbewahrung beschmutzter Sachen bestimmt waren, die aus den Gaskammern, Krematorien und anderen Orten der Massenvernichtung der Menschen in die Magazine eingeliefert wurden. VI. Bei der Sichtung der genannten Räume und Magazine sind verschiedene gebrauchte Tragesachen688 und Haushaltsartikel vorgefunden worden: 1. Unter- und Oberbekleidung für Männer 2. Unter- und Oberbekleidung für Frauen 3. Unter- und Oberbekleidung für Kinder 4. Frauenschuhe verschieden 688 So im Text (Anm. d. Ü.).

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246820 St. 836225 115063 5525 Paar

3. Was die Befreier in Auschwitz sahen

5. Männerschuhe ohne Sohlen 6. Metall- und Emaille-Geschirr 7. Fayence-Geschirr verschieden 8. Schlaf- und Esszimmertextilien 9. Teppiche, Läufer, Decken 10. Decken verschieden 11. Bürsten verschieden 12. Zahnbürsten 13. Rasierpinsel 14. Rasiersteine 15. Sicherheitsrasierklingen 16. Messer, Gabeln, Löffel 17. Fleischwölfe 18. Spiegel verschieden 19. Bürsten, Kämme 20. Scheren verschieden 21. Matratzen 22. Puderdosen 23. Thermosflaschen 24. Gebetsmäntel (Tallit) 25. Koffer 26. Brillen verschieden 27. Nähmaschinen 28. Waschseife

38000 69848 St. bzw.12 Waggons 2 Waggons 68054 St. 13964 9205 49865 9892 7837 1165 4358 14693 28 492 2739 2368 592 116 St. 180 5508 3162 12910 376 25 t.

Angesichts des Aufbaus der speziellen Sortierregale, der Aufkleber, Etiketts und Aufschriften auf den Regalen, des Vorhandenseins von Räumen, die zur Aufbewahrung beschmutzter Sachen bestimmt ­waren, des Vorhandenseins von Werbeetiketts auf den Anzügen, von Herstellermarken auf dem Geschirr und den Koffern, von Hoteletiketts auf den Koffern, des Vorhandenseins eines Verzeichnis­ buches für verladenen Besitz, und zudem angesichts dessen, dass Frauen- und Kinderbekleidung auf einem Haufen in Magazinen aufbewahrt wurde, die sich in unmittelbarer Nähe zu den Gaskammern befinden, in denen Menschen vernichtet wurden, stellt die Kommission fest, dass: 1. Alle vorgefundenen Gegenstände und Haushaltsartikel ehemaligen Gefangenen gehörten, die aus verschiedenen Ländern Europas gebracht worden waren und im Konzentrationslager von Oświęcim vernichtet wurden. 2. Die von den vernichteten Menschen geraubten Gegenstände und Haushaltsartikel wurden einer Sortierung, Reparatur und Aufbereitung unterzogen und nach Deutschland ausgeführt. – Kommissionsvorsitzender – Hauptmann der Intendantur: (GERSCHKOWITSCH) Hauptmann der Justiz: (POPOW) Kommissionsmitglieder: (NASAL) (RADTSCHENKO) Medizinprofessor: (LIMUSEN) GARF, Bt. R-7021, Fb. 108, Nr. 18, Bl. 156–162. Erstmalig: Strzelecki, 2000a. S. 95–99.

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Anhang

[2] [8. März 1945] PROTOKOLL den 8. März 1945 Wir, die Unterzeichnenden: Leitender Gerichtsmedizinexperte der 1. Ukrainischen Front Oberstleutnant des Sanitätsdienstes Dozent BRYSCHIN F.F., Gerichtsmedizinexperte der 60. Armee Major des Sanitätsdienstes TSCHURSANOW M.G., Kriminalist des Zentralen gerichtsmedizinischen Laboratoriums der Roten Armee, Leutnant des Administrativdienstes GERASSIMOV N.I., haben auf den Vorschlag des Assistenten des Militärstrafermittlers der 1. Ukrainischen Front, Majors der Justiz PACHOMOW L.N., das Haarlager begutachtet, welches sich in der Halle der Lederfabrik des Lagers von Oświęcim befindet. Bei der Sichtung ist festgestellt worden, dass sich 293 Säcke mit Haar mit je durchschnittlich 20 kg Gewicht und zwölf Säcke je durchschnittlich 88 kg Gewicht dort befinden. Eine Öffnung von 12 kleineren Säcken ist vorgenommen worden, die Haare sind in einer dünnen Schicht auf dem Boden ausgebreitet worden, wo deren eingehendere Begutachtung vorgenommen worden ist, wobei es sich herausgestellt hat: Die Haare in den Säcken sind dicht gepresst, in Form einzelner flacher, zu Schichten verdichteter Knäuel mit einem Gewicht von je 0,5 bis 1–1,5 kg. Bei der Betrachtung und Entflechtung der Knäuel hat sich herausgestellt, dass in jedem Knäuel Büschel von Haaren verschiedener Farben vorhanden sind. Bewertet man die den zwölf Säcken entnommenen Haare von diesem Standpunkt aus, so kann man solche Farben vorfinden wie dunkelblond, hellblond, grau, rot, schwarz mit deutlichem Überwiegen blonder Haare. Bei der Entflechtung der Haare zu einzelnen Büscheln ein und derselben Farbe hat sich gezeigt, dass die meisten Büschel eine Länge von 20–30–50 cm aufweisen. Diese stellen an sich teils lockere Bündel, teils geflochtene Zöpfe dar, teils sind sie perückenhaft. Bei eingehender Betrachtung einzelner Haarbüschel sind in einigen von ihnen Frauenkämme, Stecknadeln, Spangen und am peripheren Ende der Zöpfe auch Bänder und Schleifen vorgefunden worden. Auf ­einem der Bündel ist ein Netz aus dünnem braunem Faden vorgefunden worden. Außer dem Oben­ genannten sind in den Haarbüscheln und zwischen den Büschelschichten kleine Holzspäne, Klumpen und flache Stückchen von Mauerputz, netzartiges Sackleinen, Pralinenpapier, Rasierklingen und Einschlagpapier von Rasierklingen, dünne Nadelbaumzweige und Schmutzklümpchen vorgefunden worden. Zum Großteil erwecken die Haare einen sauberen Eindruck, ohne etwaige Ablagerungen darin. Bei eingehender Betrachtung der Haarspitzen, insbesondere der Büschel, ist zu sehen, dass deren zen­ trale Enden gerade (abgeschnitten) sind, ein ebenso klares Aussehen abgeschnittener Enden weisen auch die anderen entflochtenen Büschel auf. Kurze Haare sind vorgefunden worden. Die Haarknäuel sind zu einzelnen kompakten Büschel, als würden sie einem einzelnen Menschen gehören, entflochten und gewogen worden. Es sind circa drei derartige Büschel gewogen worden. Ihr durchschnittliches Gewicht ist in den folgenden Zahlen zum Ausdruck gekommen: 40–45–50 gr., nur vereinzelte Büschel haben ein Gewicht von bis zu 100 gr. aufgewiesen. Die Ermittlungsorgane haben eine genaue Zählung der Gesamtanzahl und des Gesamtgewichts der Säcke vorgenommen, wobei es sich ergeben hat, dass in diesem Lager 293 Säcke mit einem durchschnittlichen Gewicht von 20 kg und 12 Säcke à 88 kg vorhanden sind, was bei entsprechender Zählung eine Gesamtmenge der Haare von über 7.000 kg ergibt. Die Säcke kleiner Größe bestehen aus grobem Papier, die großen Säcke aus gewöhnlichem Sackleinen (ähnlich den Matratzen). Auf jedem Sack ist die Bezeichnung „KL Au“ vorhanden (was Konzentrationslager Auschwitz bedeutet). SCHLUSSFOLGERUNG Angesichts der Eigenschaften der vorgefundenen Haare – der Länge, Farbe, Dicke, des Äußeren, der Eigenschaften der Bündel, der geflochtenen Zöpfe mit den darin vorhandenen Kämmen, Stecknadeln,

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3. Was die Befreier in Auschwitz sahen

Spangen, Bändern und Schleifen – ist der Schluss zu ziehen, dass die genannten Haare Menschen- und nahezu ausschließlich Frauenhaare sind. Angesichts dessen, dass in dem Frauenhaar Gegenstände des Frauenalltags – Steck­nadeln, Spangen, Kämme und in den Zöpfen auch Bänder und Schleifen – vorhanden sind, ist anzunehmen, dass die Haare von Leichen abgeschnitten wurden, d. h. möglicherweise im Krematorium, nämlich nach der Vergasung vor der Einäscherung, was auch die Zeugen, ehemalige Gefangene TAUBER H., MANDELBAUM, DRAGON, die im Sonderkommando arbeiteten, bestätigt haben. Nimmt man als Richtwert das Durchschnittsgewicht der Haare eines Kopfes von 50 gr. an, so ist dementsprechend davon auszugehen, dass die Haarmenge von 7.000 kg von 140.000 Frauen abgeschoren worden sein könnte. LEITENDER GERICHTSMEDIZINEXPERTE DER 1. UKRAINISCHEN FRONT OBERSTLEUTNANT DES SANITÄTSDIENSTES DOZENT  (BRYSCHIN) GARF, Bt. R-7021, Fb. 108, Nr. 18, Bl. 195–197. Erstmalig: Strzelecki, 2000a. S. 149–151. [3] NKO UdSSR Geheim Ex. Nr. 1 Politische Hauptabteilung der Roten Arbeiter- und Bauernarmee den 21. April 1945 Nr. 229746 Moskau, Frunze-Str. 19 689

DEM VORSITZENDEN DER AUSSERORDENTLICHEN STAATSKOMMISSION ZUR FESTSTELLUNG UND AUFKLÄRUNG DER VERBRECHEN DER DEUTSCH-FASCHISTISCHEN BESATZER UND IHRER KOMPLIZEN Gen. SCHWERNIK N.M. Sende Ihnen die in der Politischen Hauptabteilung der Roten Arbeiter- und Bauernarmee (GlawPURKKA) eingegangenen Unterlagen der vom Führungsstab der 4. Ukrainischen Front durchgeführten chemischen Erkundung auf dem Territorium der Konzentrationslager in Oświęcim, sowie das Protokoll des technischen Gutachtens der Regierungskommission zur Aufklärung der Verbrechen der deutschfaschistischen Besatzer. Anhang: das Erwähnte auf 25 Blättern, nur für den Adressaten. STELLVERTRETENDER LEITER DER POLITISCHEN HAUPTABTEILUNG DER ROTEN ARMEE 

(SCHIKIN)

Vers. 2. Ex. 20.IV.45 GARF, Bt. R-7021, Fb. 108, Nr. 36, Bl. 5, Original. 689 Das Nationale Verteidigungskommissariat der UdSSR (Anm. d. Ü.).

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Der Text ist mit einem Aufdruck versehen: „Außerordentliche Staatskommission. Sonderabteilung. Eingang sch-172s. 24.4.1945. Anzahl der Blätter 26 Bl.“ und mit einer Beglaubigung: „Gen. Nikitin. Unterschrift [ul.] 24.IV“. [4] NKO UdSSR Geheim Ex. Nr. 1 Technisch-chemische Abteilung der 4. Ukrainischen Front den 16. März 1945 Nr. 0488 DEM KOMMANDEUR DER TRUPPEN DER 4. UKRAINISCHEN FRONT Bei der chemischen Erkundung auf dem Territorium des Konzentrationslagers in Oświęcim am 12.2.45 ist eine Reihe von Gerätschaften zur sorgfältigen Prüfung von Gasmasken, Sauerstoffisolationsgeräten und anderen Vorrichtungen des Chemieschutzes vorgefunden worden. Die Eigenschaften der Gerätschaften deuten darauf hin, dass sich in OŚWIĘCIM ein deutsches solide ausgerüstetes stationäres Chemielabor befand, in dem die C-Abwehr-Gerätschaften des bedienenden Lagerpersonals erprobt wurden, welches die Vernichtung der Gefangenen durch Giftstoffe bewerkstelligte. Zum Zwecke der sorgfältigen Erkundung der Lagergegend wurde meinerseits der Offizier des Frontlaboratoriums, Major der Pioniertruppe LAWRUSCHIN, entsandt, der als technischer Experte in die Regierungskommission zur Aufklärung der Verbrechen der deutsch-faschistischen Besatzer eingegangen ist. Als Ergebnis der 25-tägigen Arbeit sind folgende Daten ermittelt worden. Seit 1941 und bis zum Moment des Anrückens der Verbände der Roten Armee an OŚWIĘCIM vollzogen die Deutschen die Massenvernichtung der Gefangenen mittels einer Giftsubstanz: der Blausäure als Bestandteil des Präparats Zyklon (eine von Blausäure durchtränkte Kieselgur) in speziell gebauten Gaskammern. Einer Zählung zufolge haben die Deutschen im gesamten Zeitraum allein mit dieser Methode ­mindestens circa 4.000.000 Menschen vernichtet. In der Zweigstelle RAISKO existierte ein Laboratorium, welches von drei deutschen Offizieren, Spezialisten im Bereich der Chemie und Medizin, geleitet wurde (Hauptmann690 Bruno WEBER, Oberstleutnant DELMONT691 und Leutnant Hans MÜNCH). Die Mitarbeiter des Laboratoriums, 51 an der Zahl, bestanden aus den inhaftierten Wissenschaftlern und Produktionsfachkräften (überwiegend Chemiker und Mediziner). Unter den verschiedenen Arbeiten, die im Laboratorium ausgeführt wurden, ist die ausgiebige Durchführung verschiedener Experimente an Menschen hervorzuheben (künstliche Befruchtung, Sterilisation, künstliche Geburten, Krebsinokulation u. a.). GARF, Bt. R-7021, Fb. 108, Nr. 36, Bl. 17, Original. Der Text ist mit einem Aufdruck versehen: „Die Kanzlei des Frontstabchefs. Eingang Nr. 249s. 18.3.1945“ und mit einem Vermerk: „Leit[er] der Polit[ischen] Abteilung. Machen Sie das Führungsgremium der 690 So im Text (Anm. d. Ü.). 691 So im Text.

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polit[ischen] Abteil[ung] der Front mit dem Dokument bekannt. Das Dokument ist nach ein paar ­Tagen zurückzugeben. 18.3.45 Unterschrift [ul.]“. [5] ANHANG Nr. 1 An den Generaloberst Gen. Mechlis BERECHNUNG ZUR BESTIMMUNG DER ANZAHL DER VON DEN DEUTSCHEN IM LAGER OŚWIĘCIM VERNICHTETEN ­M ENSCHEN Auf Grundlage der Ermittlungsdokumente kann festgestellt werden, dass die Deutschen, die Spuren ihrer Verbrechen und Gräueltaten im Konzentrationslager Oświęcim sorgfältig verwischend, alle Dokumente und Angaben vernichtet haben, auf Grundlage derer die Anzahl der Menschen, die in dem Lager von Hand der Hitler-Henker ums Leben gekommen waren, mehr oder weniger genau hätte festgestellt werden können. So wurden von den Deutschen beispielsweise die Angaben über die Ankunft der Bahntransporte mit den Menschen im Lager vernichtet, vernichtet sind die Angaben zur Erfassung der Menschen im Lager, vernichtet sind die Angaben zur Anzahl der aus dem Lager ausgeführten Frauenhaare, Brillen, Kleidungsstücke u. Ä. Kennzahlen, die unter Anwendung statistischer Berechnungsmethoden die faktische Anzahl der hier ums Leben gekommenen Menschen hätten ans Licht bringen können, sind nicht verfügbar. Dessen ungeachtet halten wir es für möglich, eine Berechnung zur Feststellung der Größenordnung vorzunehmen, die das Ausmaß der Vernichtung der Lagerinhaftierten durch die Deutschen charakterisieren würde. Zur Berechnung heben wir die bezeichnenden Zeitabschnitte hervor: Abschnitt 1: Ende 1941 – [bis] März 1943, Dauer 14 Mnt. Abschnitt 2: März 1943 – [bis] Mai 1944, Dauer 13 Mnt. Abschnitt 3: Mai 1944 – [bis] Oktober 1944, Dauer 6 Mnt. Innerhalb des ersten Zeitabschnitts waren das Krematorium 1 und die Gaskammern Nr. 1 und 2 sowie die dazugehörigen Scheiterhaufen in Betrieb. Innerhalb des zweiten Zeitabschnitts: die Krematorien Nr. 2, 3, 4 und 5. Innerhalb des dritten Abschnitts: die Krematorien Nr. 2, 3, 4 und 5, die Gaskammer Nr. 2 und die dazugehörigen Scheiterhaufen. Beginnen wir mit dem dritten Zeitabschnitt, als die intensive Ankunft der Menschentransporte im Lager begann. In dieser Zeit genügten den Deutschen die leistungsstarken Krematorien Nr. 2, 3, 4 und 5 nicht mehr. Sie bedienten sich wieder der Gaskammer Nr. 2 und der Scheiterhaufen. Auf diese Weise ist offenkundig, dass die Krematorien in dieser Zeit völlig ausgelastet gewesen sind. Wenn wir für den gesamten Zeitraum Ungleichmäßigkeiten in der Arbeit und Auslastungslücken von durchschnittlich 10 Proz[ent] annehmen, erhalten wir einen Auslastungskoeffizienten von 0,9. Die monatliche Kapazität der Krematorien Nr. 2, 3, 4 und 5 beträgt 270.000, in sechs Monaten: 270.000 x 6 = 1.620.000, unter Berücksichtigung des Koeffizienten 1.450.000. Zur Feststellung der Auslastungsrate der Krematorien in der zweiten Periode verfügen wir über keine ausreichend genauen Daten, jedoch kann davon ausgegangen werden, dass die Deutschen derart leistungsfähige Anlagen nicht errichtet hätten, hätten sie nicht mit deren mehr oder weniger vollständigen Nutzung gerechnet, weshalb die Krematorien in jedem Fall zumindest zu 50 Prozent genutzt wurden. Wenn wir für diese Periode den Koeffizienten von 0,5 annehmen, erhalten wir: 0,5 x 270.000 x 13 = 1750 000 Menschen.

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Wenn wir denselben Koeffizienten für die erste Periode annehmen, erhalten wir: 0,5 x 9 000 x 14 = 63 000 Menschen. Auf diese Weise wurden von den Deutschen mittels der Krematorien in der ganzen Zeit mindestens 3 263 000 Menschen vernichtet. Wenn wir für die dritte Arbeitsperiode der Gaskammer Nr. 2 eine durchschnittliche Auslastung von 50 Prozent annehmen und uns auf ihre mögliche Kapazität von nur 3000 Menschen pro Tag beschränken, erhalten wir: 0,5 x 90 000 x 6 = 270 000 Menschen. In der Annahme, dass diese Gaskammer in der ersten Periode noch weniger ausgelastet war als in der dritten Periode, circa 25 Proz[ent], und dass die Gaskammer Nr. 1 dieselbe Auslastungsrate hatte, erhalten wir 0,25 x 305 000692 x 14 = 525 000 Menschen. Demnach wurden von den Deutschen in der gesamten Zeit mittels der Gaskammern und Scheiterhaufen mindestens 270 000 + 525 000 = 795 000 Menschen vernichtet, was in der Summe mit den oben errechneten Summanden 3 263 000 + 795 000 = 4 000 000 (abgerundet) ergibt, als die Anzahl der Menschen, die nach allerbescheidenster Rechnung von den Deutschen im Konzentrationslager Oświęcim während seiner Existenz vernichtet wurden. PROFESSOR, DOKTOR DES INGENIEURWESENS PROFESSOR, DOKTOR DES INGENIEURWESENS DOKTOR DES CHEMIEWESENS, HAUPTMANN DER   PIONIERTRUPPE HAUPTMANN DER PIONIERTRUPPE

(DAWIDOWSKI) (DOLINSKI) (LAWRUSCHIN) (SCHUER)

GARF, Bt. R-7021, Fb. 108, Nr. 36, Bl. 6–8. Original. [6] PROTOKOLL OŚWIĘCIM, den 14. Februar – 8. März 1945. Die technische Expertenkommission bestehend aus dem Professor, Doktor des Ingenieurwesens ­DAWIDOWSKI Roman aus der Stadt KRAKAU, dem Professor, Doktor des Ingenieurwesens DOLINSKI Jaroslaw aus der Stadt KRAKAU, dem Doktor des Chemiewesens, Major der Pioniertruppe LAWRUSCHIN Wladimir Fjodorowitsch, und dem Hauptmann der Pioniertruppe SCHUER Abraham Moissejewitsch haben693 bei einer detaillierten Erforschung der Baupläne und der Dokumentation, die im Konzentrationslager OŚWIĘCIM vorgefunden wurden, bei einer eingehenden Erforschung der Überreste der gesprengten Krematorien und Gaskammern, auf der Grundlage von Ermittlungsunterlagen, insbesondere der Aussagen der Zeugen aus der Reihe der Gefangenen, die an den Gaskammern und in den Krematorien arbeiteten, festgestellt: Die Deutschen schufen im Konzentrationslager Oświęcim ein riesiges Kombinat zur Massenvernichtung der Menschen, überwiegend mittels der Tötung durch den Giftstoff „ZYKLON“ und der anschließenden Verbrennung in den Krematorien oder auf Scheiterhaufen. Aus allen von den Deutschen besetzten Ländern  – Frankreich, Belgien, Holland, Jugoslawien, Polen, Griechenland u. a.  – kamen in OŚWIĘCIM Eisenbahnzüge mit Menschen an, die zur Vernichtung bestimmt waren. Nur ein unbedeutender Teil der Gesündesten, zeitweilig als Arbeitskräfte in den Rüstungswerken und als Probanden Verwendeten, wurde im Lager für allerlei medizinische Versuche gelassen, wurde im Lager zur späteren Vernichtung gelassen694. 692 Offensichtlich ein Rechen- oder Flüchtigkeitsfehler – P.P. 693 So im Text: Plural (Anm. d. Ü.). 694 So im Text.

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3. Was die Befreier in Auschwitz sahen

In der Existenzzeit des Lagers OŚWIĘCIM von 1940 bis Januar 1945 waren darin Hochleistungs­ krematorien in Betrieb, die in der Gesamtanzahl 62 gesonderte Muffeln zur Leicheneinäscherung aufwiesen. An den Krematorien ebenso wie davon getrennt wurde in gigantischem Maßstab die Vergiftung der Menschen durch Giftgas in speziell eingerichteten und perfektionierten Gaskammern betrieben. Neben dieser perfekten Technik zur Menschenvernichtung wurde die Verbrennung der Leichen ebenso in gewaltigen Mengen auf speziellen Scheiterhaufen betrieben. Hier, im Konzentrationslager OŚWIĘCIM, entwickelten und rationalisierten die deutschen Obskuranten die Mittel und Maßstäbe der Massenvernichtung der Menschen. Das 1941 erbaute erste Krematorium mit sechs Muffeln genügte dem Appetit der Hitler-Henker bald schon nicht mehr, sodass im Nebenlager BIRKENAU in unwirklichem Tempo zusätzliche vier Krematorien projektiert und gebaut werden. I. DIE TECHNIK DER KANNIBALEN: GASKAMMERN UND KREMATORIEN a) Das Krematorium Nr. 1 Anfang 1941 ging in der Abteilung OŚWIĘCIM ein Krematorium in Betrieb, welches als Nr. 1 bezeichnet wurde. Das Krematorium wies zwei Öfen mit je zwei Muffeln auf, die von vier koksbetriebenen Brennkammern befeuert wurden. Ende 1941 (September, Oktober) wird im selben Gebäude der dritte 2-muffelige Ofen desselben Typs wie die ersten beiden gebaut. In jede Muffel wurden zeitgleich 3–5 Leichen geladen, deren Einäscherung eineinhalb Stunden dauerte, während die Anzahl eingeäscherter Leichen pro Tag 300–350 erreichte. In diesem Krematorium existierte eine Gaskammer, die auf beiden gegenüberliegenden Seiten gasdichte Türen mit Guckloch und vier dicht verschließbare Dachluken aufwies. Über diese Luken wurde „ZYKLON“ zur Tötung der Menschen eingeworfen. Das Krematrium Nr. 1 war bis März 1943 in Betrieb, sodass es insgesamt zwei Jahre existierte. 695

b) Die Errichtung neuer Krematorien Nach dem Inspektionsbesuch des Konzentrationslagers OŚWIĘCIM durch den SS-Reichsführer HIMMLER im Sommer 1942 wurde von ihm befohlen, die existierenden Anlagen zur Vergiftung und Vernichtung der Menschen auf gigantische Ausmaße auszubauen und zu perfektionieren (Brief vom 3.8.1942 Nr. 11450/42/Bi/Ha). Mit dem Bau der leistungsfähigen Krematorien wird die Firma TOPF und SÖHNE in ERFURT beauftragt. Gleich darauf beginnt in der Abteilung BIRKENAU der Bau der vier Krematorien, die auf dem Gesamtplan des Lagers (Zeichnung 2216) mit den Kennziffern 2 und 3, 4 und 5 gekennzeichnet sind. Aus BERLIN wurde die Beschleunigung des Baus der Krematorien und der Abschluss aller Arbeiten Anfang 1943 gefordert (Brief aus OŚWIĘCIM an die Firma TOPF und SÖHNE vom 22.12.1942 NR. 20420/42/Er/L), Brief vom 12. Februar 1943, Brief vom 29. Januar 1943. c) Krematorien Nr. 2 und Nr. 3 Die Krematorien 2–3 sind baugleich (Baupläne Nr. 932 und Nr. 933 vom 28.1.1942) und sind symmetrisch auf den beiden Seiten der Straße errichtet worden. Im Herbst 1943 wurde dort ein Bahngleis verlegt, welches unmittelbar zu den Krematorien führte und allein dazu diente, die Menschentransporte direkt zu den Krematorien zu leiten. Koks und anderes Material wurde auf Fahrzeugen herangeschafft. Jeder der 10 Öfen der beiden Krematorien bestand aus drei Muffeln mit zwei Halbgeneratoren als Brennkammern. In eine Muffel wurden drei bis fünf Leichen geladen, deren Einäscherung 20 bis 30 Minuten in Anspruch nahm. Auf diese Weise wurden in den 30 Muffeln der zwei Krematorien bei 695 So im Text.

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v­ oller Auslastung circa 6.000 Leichen pro Tag verbrannt. Zur Forcierung der Brennleistung der Öfen wurden ­neben gewöhnlichem Rauchabzug zusätzliche Rauchabsauger installiert. Die Produktivität ­eines solchen Rauchabsaugers betrug 10 000 Kubikmeter696 Verbrennungsgas pro Stunde. Jedoch waren diese Rauchabsauger nicht lange in Betrieb, weil sie bei derart forcierter Arbeit der Öfen schnell außer Betrieb gehen konnten. Deshalb wurden die Rauchabsauger demontiert, wonach ausschließlich der natürliche Rauchabzug genutzt wurde. Der Koksverbrauch eines Krematoriums betrug zwei Tonnen pro Tag. In jedem Krematorium war hinter dem Rauchschacht ein weiterer Ofen vorhanden, der auf den Bauplänen als „Zur Müllverbrennung“ (Zeichnung Nr. 963 vom 19.1.1942) und „Zur Kleiderverbrennung“ (Zeichnung Nr. 962 vom 28.1.1942) bezeichnet wurde. In diesen Öfen wurden laut Zeugenaussagen die wertloseren Sachen der vergifteten Menschen verbrannt. Das Krematorium Nr. 2 war von März 1943 bis Oktober 1944 in Betrieb, d. h. ein Jahr und sieben Monate. Das Krematorium Nr. 3 war von April 1943 bis Oktober 1944 in Betrieb, d. h. insgesamt ein Jahr und sechs Monate. Beide Krematorien 2 und 3 hatten Kellerräume, die auf den Bauplänen als „Leichenkeller“ bezeichnet wurden, tatsächlich aber zur Vergasung von Menschen bestimmt waren. Die Deutschen schickten die mit den Transporten ankommenden Menschen gewaltsam in unterirdische Entkleidungsräume, die auf dem Plan Nr. 932 und Nr. 933 gekennzeichnet sind („Leichenkeller 2“). Der Entkleidungsraum war von 50 m Länge und 7,9 m Breite (Fläche 395 m2) und von 2,3 Metern Höhe (Volumen 910 m3). Der zweite unterirdische Raum, als „Leichenkeller 1“ gekennzeichnet, war von 30 m Länge und 7 m Breite (Fläche 210 m2) sowie 2,4 m Höhe (Volumen 504 m3). Auf dem Dach dieses Gebäudes waren vier schachbrettartig angeordnete Luken mit den Abmessungen 45 x 45 cm vorhanden, die von einem kleinen Kamin von 30 cm Höhe überragt wurden. Die Luken konnten mit einer Filzschicht und einem massiven Betondeckel hermetisch verschlossen werden. Im Gebäudeinneren führten von jeder Luke falsche, im Inneren hohle Säulen bis zum Boden herunter, deren Oberfläche aus Eisengitter bestand. Außerdem hingen falsche Brauseköpfe an der Decke. Nach Angaben der Ermittler handelte es sich bei diesen Räumen, d. h. dem „Leichenkeller 1“, in den beiden Krematorien um Gaskammern zu Vergasung von Menschen. Die Gaskammer war mit einer Zuund Abluftanlage ausgestattet. Der Abluftlüfter hatte einen 3,5 PS starken Motor und verfügte über eine Leistung von 8.000 m3 pro Stunde. Der Hochdrucklüfter hatte einen 7,5 PS starken Motor und verfügte über eine Leistung von 16.000 m3 Luft pro Stunde. Bei deutlicher Verdichtung der Menschen, ausgegangen von 10 Menschen pro m2, konnten 2000– 2100 Menschen gleichzeitig in eine solche Kammer hineinpassen. d) Krematorien Nr. 4 – Nr.5 Die Krematorien 4–5 hatten je einen 8-muffeligen Ofen (insgesamt 16 Muffeln). Diese Krematorien wurden in der Abteilung BIRKENAU in einer Entfernung von 750 Metern von den oben beschriebenen Krematorien Nr. 2 und Nr. 3 errichtet und sind symmetrisch angeordnet. In eine Muffel wurden drei bis fünf Leichen geladen, deren Einäscherung 30 bis 40 Minuten in Anspruch nahm. Auf diese Weise wurden in den 16 Muffeln der zwei Krematorien bei voller Auslastung circa 3.000 Leichen pro Tag verbrannt. Das Krematorium Nr. 4 war von Ende März 1943 bis August 1944 in Betrieb, d. h. ein Jahr und fünf Monate. Das Krematorium Nr. 5 war vom Mai 1943 bis Januar 1945 in Betrieb, d. h. insgesamt ein Jahr und acht Monate, davon ein Jahr und sechs Monate bei Vergasung der Menschen, denn nach Angaben der Ermittler stellten die Deutschen die Arbeit der Gaskammern in der Abteilung BIRKENAU nach Oktober 1944 ein und gingen zu Maßnahmen zum Abbruch der Gaskammern und Krematorien über. An den Krematorien Nr. 4–5 gab es einen Anbau von rund 20 m Länge, 12 m Breite, insgesamt 240 m 2. Im Inneren war dieser Anbau durch Trennwände in drei Sektoren geteilt, von denen jeder eine Gaskammer war. Zum Einwurf von „ZYKLON“ waren in den Außenwänden der Gaskammern in einer

696 Die Schreibweise der Maßangaben variiert im Original sehr stark (Anm. d. Ü.).

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3. Was die Befreier in Auschwitz sahen

­ öhe von circa zwei Metern vergitterte Luken angeordnet, die durch Deckel hermetisch verschlossen H werden konnten. Durch diese Luken wurde in die Kammer das „ZYKLON“ eingeworfen. In jeder Gaskammer gab es zwei hermetisch verschließbare Türen. Die Gaskammern waren durch einen Korridor vom Entkleidungsraum getrennt, der in der Fläche allen Gaskammern zusammen gleich war. Bezeichnend ist, dass die Deutschen die Gaskammern im offiziellen Schriftverkehr als „Waschraum für Sonderzwecke“ bezeichneten (Brief Nr. 12115/42/Er/Ha. vom 21.8.42). II. VERBRENNUNG DER LEICHEN AUF DEN SCHEITERHAUFEN a) Gaskammer Nr. 1 mit Scheiterhaufen Bald nach dem Start der Gaskammer am ersten Krematorium im Herbst 1941 werden im Wald in bestimmter Entfernung zum Lager BIRKENAU zwei weitere Gaskammern installiert. Die erste Gaskammer von der Größe 8 x 10 Meter mit einer Fläche von 80 m2 hatte Ein- und Ausgangstüren. Auf der Außenseite der Eingangstüren war die Aufschrift in deutscher Sprache angebracht („Zur Desinfektion“), auf der Innenseite der Ausgangstüren stand „Zum Baden“. In der Nähe der Türen und der Außenwand waren Luken zum Einwurf von „ZYKLON“ angebracht. Außerdem waren zwei Holzbaracken standardisierten Typs vorhanden, die zum Auskleiden bestimmt waren. Eine solche Kammer fasste bei gewaltsamer Verdichtung der Menschen, die die Deutschen betrieben, 800–1000 Menschen. Aus der Annahme, dass die Deutschen zum Auskleiden und Vergasen der Menschen sowie zum Ausladen der Leichen aus den Kammern laut Ermittlungsunterlagen 5–7 Stunden benötigten, geht hervor, dass im Tagesverlauf drei solche Aktionen durchgeführt werden konnten. Insofern konnten die Deutschen mittels der Gaskammer Nr. 1 bei voller Auslastung mindestens 2.500 Menschen pro Tag vergasen. Die Leichen wurden auf fünf Loren auf einem Schmalspurgleis zu vier Gruben mit einer Länge von 25–30 m, einer Breite von 4–6 m und einer Tiefe von 2 m herangefahren, wo sie schichtweise auf Holzscheiten gestapelt und verbrannt wurden. Diese Gaskammer und die dazugehörigen Scheiterhaufen waren rund eineinhalb Jahre lang in Betrieb und wurden von den Deutschen im März–April 1943 liquidiert. b) Gaskammer Nr. 2 mit Scheiterhaufen Die zweite Gaskammer hatte die Größe 9 x 11 m mit einer Gesamtfläche von 100 m2. Sie war nach dem Muster der Gaskammer Nr. 1 konstruiert. In dieser Gaskammer vergifteten die Deutschen bei voller Auslastung 3000 Menschen, wenn man die gleichen Größen zur Berechnung heranzieht wie auch bei der ersten Gaskammer. Die Leichen wurden auf vier Loren auf einem Schmalspurgleis zu den Scheiterhaufen gefahren, deren Anzahl zu unterschiedlichen Zeiten zwischen 4 bis 6 variierte. Der Betrieb der zweiten Gaskammer und der dazugehörigen Scheiterhaufen wurde zeitweilig im April 1943 eingestellt, im Mai 1944 wiederaufgenommen und dauerte bis Oktober 1944 an. Insofern war diese Gaskammer und die dazugehörigen Scheiterhaufen insgesamt ein Jahr und neun Monate lang in Betrieb. c) Scheiterhaufen am Krematorium Nr. 5 Von Mai bis Oktober 1944 wurden im Krematorium Nr. 5 die Öfen angehalten, sodass die Leichen der vergifteten Menschen auf den drei Scheiterhaufen verbrannt wurden, die auf dem Territorium des ­K rematoriums angelegt worden waren. d) Die gesonderte Gaskammer In der Abteilung697 OŚWIĘCIM wurde unweit des Blockheizkraftwerks ebenfalls eine Gaskammer vorgefunden. An den hermetisch verschließbaren Türen war die Aufschrift „Giftgas“ angebracht, am Ein-

697 So im Text.

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Anhang

gang ins Gebäude die Aufschrift „Lebensgefährlich“. Die fensterlose Kammer hatte die Abmessungen 16 x 8,7 x 3 m und war mit drei Propellerventilatoren ausgerüstet, welche mit dicht verschließbaren Deckeln samt Filzeinlagen versehen waren. An den Wänden befinden sich drei von außen beheizbare Zimmeröfen. Diese Kammer wurde zur Desinfektion der Kleidung und zur Ermordung der Menschen genutzt, wie es im August 1944 der Fall war, als 200 Menschen eines speziellen Kommandos zur Bedienung der Krematorien vergast wurden, die in regelmäßiger Abfolge ermordet wurden, um die Zeugen der bestialischen Verbrechen der Deutschen zu beseitigen. III. DER VORGANG DER MASSENVERGIFTUNG DER MENSCHEN DURCH DEUTSCHE IM LAGER OŚWIĘCIM Nach der Untersuchung der Überreste gesprengter Krematorien, nach den Ausgrabungen der Scheiterhaufen und auf der Grundlage der Ermittlungsdokumente haben die technischen Gutachter die Mittel und Methoden der Tötung der Menschen durch die Deutschen, insbesondere mit „ZYKLON“, ermittelt. Nach dem Vorbild der Industrie verlegten die Deutschen Bahngleise unmittelbar an den Ort der Konzentration der Krematorien. Über diese Gleise wurden die Bahntransporte mit den zur Vernichtung bestimmten Menschen an eine Entladerampe am Krematorium herangefahren. Darin befanden sich 2–3 Tsd. Menschen. Zu bestimmten Zeiten kamen fünf oder mehr solcher Transporte pro Tag an. Hier auf der Rampe wurde auch die erste Auswahl der am meisten arbeitsfähigen Menschen zur Weiterleitung ins Lager vorgenommen, während die anderen in die Krematorien geschickt wurden, unter dem Vorwand der Notwendigkeit einer Dusche und Desinfektion. Die Auswahl nahmen deutsche Ärzte vor. Die für das Lager bestimmten Menschen gingen in einen unweit der Krematorien gelegenen Waschraum, wo eine weitere Auswahl unter den entblößten Menschen stattfand. Hier wurde ein weiterer Teil der Menschen zur Vernichtung ausgewählt. Jedoch gerieten die Menschen aus den Transporten allenthalben in die Krematorien. Fast ein ganzer Transport von mehreren Tausend Menschen wurde in den Entkleidungsraum geschickt, an dessen Eingang die Aufschrift „Dusche und Desinfektion“ zu sehen war. Aus dem Entkleidungsraum wurden die nackten Menschen in die Gaskammer getrieben. In den Gaskammern pferchten die SS-Leute die Menschen mittels Hunden und Schlagstöcken zusammen. Nach dem Befüllen698 mit Menschen wurden die hermetischen Türen [der Gaskammer] verschlossen, wonach durch spezielle Luken das „ZYKLON“ ins Innere der Gaskammer hineingeschüttet wurde. Das Aufschneiden der „ZYKLON“-Büchsen mittels eines speziellen Öffners, das Hineinwerfen in die Gaskammern und der anschließende Verschluss der Luke wurde von einem eine Gasmaske tragenden SSMann vorgenommen. Der Tod trat innerhalb der ersten 3–8 Minuten ein, zur völligen Sicherheit aber wurden die Menschen 20 Minuten lang dem Gas ausgesetzt, wonach die Gaskammer gelüftet und die Leichen ausgeladen wurden, die sich in aufrechter Position befanden. Den aus den Gaskammern entnommenen Leichen wurden die Goldzähne gezogen, der Schmuck und die Uhren abgenommen, die Frauen wurden geschoren. Alles das wurde in speziellen Kisten gesammelt. Danach wurden die Leichen in den Krematorien oder auf Scheiterhaufen verbrannt. Die nach der Verbrennung übrig gebliebene Asche vergruben die Deutschen anfangs in der Erde, dann aber fuhren sie die Asche, in der Absicht, die Spuren ihrer Verbrechen zu verwischen, hinaus und warfen sie in die Weichsel und Sola. Den Angaben der Ermittler und den im Lager OŚWIĘCIM vorgefundenen Beweis­stücken ist zu entnehmen: Aus dem Chemiemessgerät zum Aufspüren der Blausäure in der Luft, den zwei Türschlüsseln mit dem Anhänger „ZYKLON“, den Kisten mit „ZYKLON“ und den leeren „ZYKLON“-Dosen ist abzuleiten699, dass die Deutschen zur Massenvernichtung der Menschen in den Gaskammern „ZYK-

698 So im Text. 699 Der komplette Satz steht so im Text.

592

3. Was die Befreier in Auschwitz sahen

LON“ nutzten. Deshalb legen wir die Charakteristik seiner Eigenschaften und seiner Wirkungsweise auf die Menschen dar. Bei der Herstellung von „ZYKLON“ zu Desinfektionszwecken werden dem Gas Reizstoffe beigemengt, um die Möglichkeit einer zufälligen Vergiftung auszuschließen. In der Fachliteratur gibt es einen Hinweis dazu, wie etwa im Buch von Professor GERHARD „Grundlagen der Pharmakologie und Toxikologie“, S. 311, 1944, München. Das im Lager vorgefundene „ZYKLON“ und die dazugehörigen Behälter enthielten diese Zusätze nicht, wie es auf den Dosenetiketten geschrieben steht: „Achtung. Ohne Warnstoffe“. Es wurden Dosen unterschiedlichen Fassungsvermögens vorgefunden, mit den Angaben 500, 1000 und 1500 gr. des Blausäuregehalts. Beim „ZYKLON“ handelt es sich um Partikel einer Kieselgur (oder einer anderen porösen Substanz), die mit Blausäure durchtränkt sind. Die Blausäure ist eine flüchtige Flüssigkeit, der Siedepunkt liegt bei 27 Grad Celsius. Eine für den Menschen tödliche Konzentration sind 0,2–0,3 gr. auf einen Kubikmeter. Die Wirkung ist allgemein giftig und setzt unverzüglich ein. Eine „ZYKLON“-Büchse mit einem Blausäureinhalt von 500 gr. genügt, um eine tödliche Konzentration von 1700 Kubikmeter Luftvolumen zu erzeugen. IV. ANGABEN ZU DEN ARBEITSKRÄFTEN ZUR BEDIENUNG DER KREMATORIEN, GASKAMMERN UND SCHEITERHAUFEN Zur Bedienung der Krematorien, Gaskammern und Scheiterhaufen formierten die Deutschen ein spezielles Kommando aus den Lagerhäftlingen: das Sonderkommando. Während der ganzen Existenz des Lagers schwankte deren Anzahl von 200 bis 1000 Menschen. So gab es im Sonderkommando von März bis April 1943 insgesamt 400 Menschen. Sie wurden folgendermaßen auf die Krematorien verteilt: In den Krematorien Nr. 2–3 In den Krematorien Nr. 4–5 Frei und verschiedene Arbeiten

240 Pers. 120 Pers. 40 Pers.

Im Februar 1944 blieben 180 Menschen. Im Mai 1944 wurde auf 1000 Menschen aufgestockt, weil ab dem Zeitpunkt am Krematorium Nr. 5 damit begonnen wurde, die Leichen auf Scheiterhaufen zu verbrennen, und die gesonderte Gaskammer Nr. 2 samt den dazugehörigen Scheiterhaufen in Betrieb genommen wurde. Die erwähnten 1000 Mann des Sonderkommandos wurden folgendermaßen eingesetzt: Krematorium Nr. 2

120 Pers. (je 60 Mann pro Schicht)

Krematorium Nr. 3

120 Pers.

Krematorium Nr. 4

60 Pers.

Krematorium Nr. 5

300 Pers.

Die gesonderte Gaskammer Nr. 2 samt Scheiterhaufen

300 Pers.

In jedem Krematorium Nr. 2–3 arbeiteten zwei Schichten je 12 Stunden. Eine herkömmliche Schicht bestand aus 60 Menschen, bei größerem Arbeitsaufkommen erhöhten die Deutschen die Zahl der Arbeiter. Sie wurden folgendermaßen eingesetzt: 1 2 3

Einsammeln der Sachen im Entkleidungsraum, Verladen der ­Sachen auf Lastwagen, Reinigung der Räume Ausladen der Leichen aus der Kammer und Heranschleppen der Leichen an den sog. Aufzug Verladen in den Aufzug

15 Pers. 15 Pers. 2 Pers.

593

Anhang

4 5 6 7 8 9 10 11

Friseure (Scheren der Frauenleichen) Zahnärzte (Entfernen von Goldzähnen) Zur Bedienung der Generatoren Zur Bedienung des Leichenaufzugs Entladen der Leichen aus dem Aufzug Herantragen der Leichen an die Muffeln (Retorten) Beladen der Muffeln (zwei Gruppen à fünf Personen) Aufsichtshelfer

4 Pers. 2 Pers. 2 Pers. 2 Pers. 2 Pers. 2 Pers. 10 Pers. 4 Pers.

In den Krematorien Nr. 4–5 arbeiteten bei herkömmlicher Auslastung 30 Menschen pro Schicht. ­Außerdem gab es für alle vier Krematorien insgesamt je drei Goldmeister, die die Goldzähne einschmolzen. V. DIE DURCHSATZKAPAZITÄT DER KREMATORIEN, GASKAMMERN UND SCHEITERHAUFEN Die Durchsatzkapazität der Krematorien, Gaskammern und Scheiterhaufen in OŚWIĘCIM stieg ­ eständig an. Diese Dynamik wird folgendermaßen ersichtlich: b a) Bis März 1943 ist das Krematorium Nr. 1 in Betrieb, bei einer Tageskapazität von 300 Leichen ­hatte es eine Durchsatzkapazität von 300  x  30  =  9000 pro Monat. Auch waren die Gaskammern Nr. 1 und 2 in Betrieb mit einer Durchsatzkapazität von mindestens 5 000 Menschen pro Tag bzw. 5000 x 30 = 150 000 Menschen pro Monat. b) Von März 1943 bis 1. Mai 1944 waren die Krematorien Nr. 2, 3, 4 und 5 mit einer Gesamtkapazität von 9000 Leichen pro Tag bzw. 270 000 pro Monat in Betrieb. c) Von Mai bis Oktober 1944 war außer den genannten vier die Gaskammer Nr. 2 samt Scheiter­ haufen in Betrieb, was die Gesamtkapazität auf 12 000 pro Tag bzw. 360 000 pro Monat erhöhte. VI. DIE DEUTSCHEN HABEN IN OŚWIĘCIM MILLIONEN UNSCHULDIGER MENSCHEN VERNICHTET Die Spuren ihrer Verbrechen sorgfältig verwischend unternahmen die Deutschen alle Maßnahmen, um alle Hinweise zu verdecken, die der Welt die Anzahl der von ihnen in OŚWIĘCIM ermordeten unschuldigen Menschen offenbaren könnten. Doch die von ihnen in OŚWIĘCIM errichtete leistungsfähige Vernichtungsmaschinerie überführt die Henker dessen, dass hier Millionen Menschen vergiftet und verbrannt wurden. Allein während der Existenz der Krematorien konnten die Deutschen vernichten: Bezeichnung

Krematorium Nr. 1 Krematorium Nr. 2 Krematorium Nr. 3 Krematorium Nr. 4 Krematorium Nr. 5

Existenzdauer (Monate) 24 19 18 17 18

Durchsatzkapazität (Leichen pro Monat) 9000 90 000 90 000 45 000 45 000

Durchsatzkapazität (Leichen während der gesamten Existenz) 216 000 1 710 000 1.620.000 765 000 810 000

Angesichts der massiven Nutzung der Scheiterhaufen zur Verbrennung der Leichen durch die Deutschen kommt die Kapazität der Anlagen zur Vernichtung der Menschen, die im Lager OŚWIĘCIM existierten und den Hitler-Henkern zur Verfügung standen, in einer deutlich beträchtlicheren Größen-

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3. Was die Befreier in Auschwitz sahen

ordnung zum Ausdruck. Die Hitler-Schergen haben es geschafft, ihre kannibalische Technik im beträchtlichen Maß zu nutzen, indem sie im Eiltempo immer neue Krematorien in OŚWIĘCIM errichteten und diese Technik fortwährend perfektionierten und rationalisierten. Aufbauend auf den Auskünften der Ermittler kann festgestellt werden, dass die Deutschen in der gesamten Existenz des Lagers OŚWIĘCIM mindestens vier Millionen Menschen vernichtet haben, und es ist durchaus wahrscheinlich, dass die faktische Anzahl der Menschen, die hier von Hand der deutschen Henker umgekommen sind, eine weitaus erschütterndere Größenordnung erreicht hat. FOLGERUNGEN: 1. Die deutsch-faschistischen Obskuranten, von der Idee der Volksvernichtung besessen, hatten im Konzentrationslager OŚWIĘCIM ein gigantisches Kombinat zur Massenvernichtung der Menschen errichtet. 2. In der gesamten Existenzzeit des Lagers – von 1940 bis Januar 1945 – waren fünf Krematorien mit 52 Muffeln und einer Kapazität von circa 270 000 Leichen pro Monat in Betrieb. 3. An jedem Krematorium gab es eine eigene Gaskammer, wo die Vergiftung unschuldiger Menschen mit dem Giftgas „ZYKLON“ stattfand. Die Kapazität der Gaskammern übertraf die Durchsatzkapazität der Krematorien erheblich und verursachte so eine bis ans Äußerste gehende Belastung in der Arbeit der Krematorien. 4. Außerdem existierten zwei gesonderte Gaskammern, unweit derer die Deutschen die Leichen auf riesigen Scheiterhaufen verbrannten. Diese beiden Gaskammern hatten eine Durchsatzkapazität von mindestens 150 Tsd. Menschen pro Monat. 5. Die deutsch-faschistischen Kannibalen haben im Konzentrationslager OŚWIĘCIM allerbescheidensten Schätzungen zufolge mindestens vier Millionen Menschen in den Gaskammern vergiftet und in den Krematorien sowie auf den Scheiterhaufen verbrannt. PROFESSOR, DOKTOR DES INGENIEURWESENS PROFESSOR, DOKTOR DES INGENIEURWESENS DOKTOR DES CHEMIEWESENS, HAUPTMANN DER   PIONIERTRUPPE HAUPTMANN DER PIONIERTRUPPE

(DAWIDOWSKI) (DOLINSKI) (LAWRUSCHIN) (SCHUER)

Korrekt: Adjutant des Leiters der Chemieabteilung der 4. Ukrainischen Front zur Erkundung 700, Garde­major Reutow. GARF, Bt. R-7021, Fb. 108, Nr. 36, Bl. 19–28. Beglaubigte Kopie. [7] AUSZUG AUS DEM BERICHT DER STAATLICHEN SONDERKOMMISSION „ÜBER DIE MONSTRÖSEN VERBRECHEN DER DEUTSCHEN FÜHRUNG IN OŚWIĘCIM“ den 8. Mai 1945 […] Hitler-Banditen haben in Oświęcim über 4 Millionen Menschen ermordet Die Spuren ihrer monströsen Verbrechen in OŚWIĘCIM sorgfältig verwischend vernichteten die Deutschen vor ihrem Rückzug gründlich alle Unterlagen, die der Welt die genaue Anzahl der von ihnen 700 So im Text.

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Anhang

im Lager von OŚWIĘCIM vernichteten Menschen hätten offenbaren können. Doch die von den Deutschen in OŚWIĘCIM errichtete leistungsfähige Technik zum Menschenmord, die Aussagen der von der Roten Armee befreiten Gefangenen von Oświęcim, die Aussagen der 200 befragten Zeugen, die vereinzelt vorgefundenen Dokumente und andere Beweisstücke überführen die deutschen Henker hinreichend dessen, dass sie in Oświęcim Millionen Menschen vergifteten, vernichteten und verbrannten. Allein in der Existenzzeit der fünf Krematorien (52 Muffeln) konnten die Deutschen vernichten: Nummern der ­K rematorien

Durchsatzkapazität ­ ährend der gesamten w Existenzdauer 216 000

Nr. 1

24

Durchsatzkapazität bei der Einäscherung der Leichen (in einem Monat) 9.000

Nr. 2 Nr. 3 Nr. 4 Nr. 5

19 18 17 18

90.000 90.000 45.000 45.000

1 710 000 1 620 000 765 000 810 000

279.000

5 121 000

GESAMT

Existenzdauer (in Monaten)

Angesichts der massiven Nutzung der Scheiterhaufen zur Verbrennung der Leichen durch die Deutschen muss die Kapazität der Anlagen zur Menschenvernichtung in OŚWIĘCIM deutlich höher angesetzt werden. Doch unter Berücksichtigung des Korrekturkoeffizienten für die Unterauslastung der Krematorien und deren zeitweiligen Stillstand hat die technische Expertenkommission festgestellt, dass in der gesamten Existenzzeit des Lagers von Oświęcim die deutschen Henker darin mindestens 4 Millionen Bürger der UdSSR, Polens, Frankreichs, Jugoslawiens, der Tschechoslowakei, Rumäniens, Ungarns, Bulgariens, Hollands, Belgiens und anderer Länder vernichteten. […] O tschudowischtschnych prestuplenijach germanskogo prawitelstwa w Oswenzime. Soobschtschenije Tschreswytschajnoj Gosudarstwennoj Komissii po ustanowleniju i rassledowaniju slodejanij nemezkofaschistskich sachwattschikow i ich soobschtschnikow. // Krasnaja Swesda. 8.5.1945. Das Gleiche in einer gesonderten Broschüre: Soobschtschenije Tschreswytschajnoj Gosudarstwennoj Komissii po ustanowleniju i rassledowaniju slodejanij nemezko-faschistskich sachwattschikow i ich soobschtschnikow. O tschudowischtschnych prestuplenijach germanskogo prawitelstwa w Oswenzime. Moskau: OGIS 1945. 34 S.  Druckfreigabe am 6. Juni 1945. Auflage: 500.000 Exemplare. (2. Auflage: ­U ljanowsk, 1945. 24 S.)

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4. Erste Aussagen der Mitglieder des Sonderkommandos

4. Erste Aussagen der Mitglieder des Sonderkommandos Bei einer Recherche im Staatsarchiv der Russischen Föderation (GARF), im Bestand der außerordentlichen Staatskommission (TschGK) (Bt. R-7021) entdeckte ich im 108. Findbuch dieses Bestands Fotografien und Protokolle von Befragungen, die die TschGK-Ermittler von drei ehemaligen Mitgliedern des jüdischen Sonderkommandos erhoben, die freiwillig und selbstständig nach Oświęcim kamen, um alles zu bezeugen, was dort im Bereich der Krematorien und Gaskammern von Auschwitz-Birkenau geschehen war, und um bei der Suche nach den Manuskripten Gradowskis sowie anderer Mitglieder des Sonderkommandos behilflich zu sein. Als Erster wurde Shlomo Dragon (1922–2001) befragt, noch am 26. Februar 1945; als Zweiter am Tag darauf, am 27. Februar, wurde Henryk Mandelbaum (1922–2008) vernommen; der dritte Befragte war zwei Monate später (am 27. und 28. April) Henryk Tauber (1917–1999). Es ist zu betonen, dass die Berichte und Dienstmeldungen der TschGK über Oświęcim vom März 1945 im beträchtlichen Maß auf den Aussagen Dragons und Mandelbaums basierten. Eine offenbar gestellte Vernehmung Taubers wurde im Frühjahr 1945 von sowjetischen Dokumentarfilmern gefilmt. Alle drei wurden später erneut vernommen, befragt und interviewt, doch sind die hier veröffentlichten Protokolle ihre allerersten Aussagen.

PROTOKOLLE DER ZEUGENBEFRAGUNG Shlomo Dragon den 26. Februar 1945

Reguläre Armee

Militärermittler der Militärstaatsanwaltschaft der 1. Ukrainischen Front, Gardehauptmann der Justiz LEWIN, befragte den Untengenannten als Zeugen gemäß §§ 162–168 der StPO RSFSR. 1. Nachname, Vorname, Vatersname: DRAGON Shlomo 2. Staatsangehörigkeit: polnisch 3. Nationalität: polnischer Jude 4. Geburtsdatum und -ort: 1922, Ortschaft Zuromin, Woiwodschaft Warschau 5. Herkunft: aus einer Handwerkerfamilie, Vater war als Schneider tätig 6. Bildung: 4 Klassen 7. Parteizugehörigkeit: – 8. Familienstand, Zusammensetzung und Aufenthaltsort der Familie: ledig 9. Dienstort und Tätigkeit: ehemaliger Gefangener des Lagers von Oświęcim 10. Militärdienstgrad und seit wann in der Roten Armee: – 11. Sind Auszeichnungen (Orden) vorhanden: – 12. Beteiligung an Kampfhandlungen (wann, wo und in welcher Funktion): – 13. Vorstrafen: nicht vorbestraft 14. Ständiger Wohnsitz und genaue Adresse: Zuromin, Witujnska-Straße, Nr. 16 (Lager Oświęcim)

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Anhang

Der über die möglichen Folgen einer Falschaussage sowie einer Aussagenverweigerung gemäß § 95 ­StPO RSFSR aufgeklärt ZU PROTOKOLL GAB: Den 7. Dezember 1942 wurde er mit einem Transport von 2500 Menschen in das Lager OŚWIĘCIM in die Abteilung Birkenau gebracht. Von den 2500 Menschen wurden bei Ankunft in der Abteilung Birkenau 400 Menschen, junge und gesunde Männer, ausselektiert und ins Lager geschickt, die Übrigen einschließlich der Frauen wurden zur Verbrennung in Gruben vergiftet. Die Selektion der Menschen zur Verbrennung wurde vom Faschisten SS-Mann MENGELE (Arzt) und SS-Mann MOLL vorgenommen, der die Massenverbrennung der Menschen verschiedener Nationalitäten, die aus verschiedenen Ländern angekommenen waren, ungeachtet ihres Alters und Geschlechts leitete. Der SS-Mann PLAGE im (deutschen) Dienstgrad des Rapportführers hatte Kenntnis von den Menschen, die für die Arbeiten im Lager ausselektiert wurden. MOLL war vom Dienstgrad Hauptscharführer. Am 8. Dezember 1942 wurde mir wie auch anderen Lagergefangenen (eine Tätowierung) die Nummer 80359 auf dem linken Arm gestochen, und ich wurde in der Baracke Nr. 14 untergebracht. Am 10. Dezember 1942 wählten der SS-Mann PLAGE und der SS-Mann MOLL die 200 gesündesten Männer aus und sagten, die Ausgewählten würden zu Arbeiten in der Gummifabrik geschickt, wobei allen 200 Menschen in der Nacht eine dünne Kohlrübensuppe zu essen gegeben wurde, als Zusatzration, um bei niemandem Zweifel über die Verschickung in die Gummifabrik zu erregen. Am 11. Dezember 1942, nachdem alle aus der 14. Baracke zum Arbeiten abgeführt worden waren, erklärte der Blockälteste mit dem Nachnamen Jupp (Pole), die für die Arbeit in der Gummifabrik Ausgewählten müssten in der Baracke bleiben. Dann kam MOLL und verkündete, die ausselektierten 200 Gefangenen ansprechend, dass sie alle sich aufreihen sollen, weil sie zur Arbeit in die Gummifabrik gehen würden, wobei Moll die Aufgereihten in zwei Gruppen teilte. Jede Gruppe wurde von 30 bewaffneten SS-Männern und acht SS-Männern mit Hunden eskortiert. Es zeigte sich, dass alle belogen wurden, und dass sie überhaupt nicht in die Gummifabrik, sondern zu zwei Gaskammern geführt wurden. Ich wurde als Zugehöriger der beiden Gruppen in eine Gaskammer geführt, die als Gaskammer Nr. 2 bezeichnet wurde, und die zweite Gruppe wurde in die Gaskammer Nr. 1 geführt. Anfänglich wusste keiner der 200 Menschen, dass wir zur Arbeit in die Gaskammer geführt werden. Ich und alle anderen erfuhren es, als wir dort ankamen. Aus der Baracke Nr. 14 wurden alle für das Sonderkommando (spezielles Kommando) Ausgewählten in die Baracke Nr. 2 überführt, die sich in einer Entfernung von circa 1 km von der Gaskammer befand. Die Baracke Nr. 2 war mit 1,5–2 Meter hohem Stacheldraht701 eingezäunt. Zur Arbeit hin und in die Baracke zurück wurde das Sonderkommando von SS-Wachen begleitet, die mit Maschinenpistolen bewaffnet waren. Niemand aus dem Sonderkommando hatte das Recht, mit anderen Lagergefangenen zu sprechen. Die im Sonderkommando Arbeitenden702, kriegten es manchmal dennoch unter Lebensgefahr hin, mit den Lagergefangenen in Kontakt zu kommen. Die Gruppe, die zum Arbeiten in die Gaskammer Nr. 2 geführt worden war, wurde von MOLL für verschiedene Arbeiten eingeteilt: Zwölf Menschen mussten aus der Gaskammer selbst Leichen ausladen, darunter war auch ich, 30 Menschen wurden zum Verladen der Leichen auf die Loren bestimmt, zehn Menschen für das Heranschleppen der Leichen an die Loren, 20 Menschen zum Hineinwerfen der Leichen in die Gruben, 28 Menschen zum Heranschleppen von Brennholz an die Gruben zur Leichen701 In der Tat war der Hof nicht eingezäunt, sondern eingemauert. Wahrscheinlich ein Übersetzungsfehler von 1945. 702 So im Text.

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4. Erste Aussagen der Mitglieder des Sonderkommandos

verbrennung, zwei Menschen zum Ziehen von Goldzähnen und Abnehmen von Ringen, Ohrringen usw., was in Anwesenheit zweier SS-Männer geschah, und zwei Menschen zum Haarabschneiden bei den Frauen, in Anwesenheit eines SS-Manns. Die Scheiterhaufen zündete MOLL persönlich an. Nachdem ich einen Tag in der Gaskammer Nr. 2 gearbeitet hatte, wurde ich krank, und deswegen wurde ich zur Reinigung und für andere Arbeiten in der Baracke 2 eingeteilt. In der Baracke arbeitete ich bis Mai 1943, und dann wurde ich zum Sammeln von Backsteinen verlegt, die von den Halbkellerräumen und den Steinkellern übrig blieben, die die Deutschen gesprengt hatten. Hier arbeitete ich bis Februar 1944, gleichzeitig arbeitete ich in der Gaskammer Nr. 2, ungefähr zwei Monate lang. Einige Tage in der Gaskammer Nr. 1. Die Gaskammern Nr. 1 und Nr. 2 befanden sich in einer Entfernung von ungefähr drei Kilometern voneinander, in der Gegend der ehemaligen, von den Deutschen verbrannten Ortschaft Brzezinka. Die Gaskammern wurden in zwei Häusern eingerichtet, deren Fenster hermetisch abgeriegelt wurden. In der Gaskammer Nr. 1 gab es zwei Räume, in der Gaskammer Nr. 2 waren es vier. In einer Entfernung von ungefähr 500 Metern von der Gaskammer Nr. 1 gab es zwei hölzerne Standardbaracken, und in einer Entfernung von 150 Metern von der Gaskammer Nr. 2 gab es zwei gleiche Baracken. In diesen Baracken wurden Männer, Frauen und Kinder entblößt und in die Gaskammern getrieben, und zwar alle zusammen, man hetzte sie mit Hunden. In jedem Bereich der Gaskammer Nr. 1 gab es zwei Türen, wobei in die eine von denen die nackten Menschen getrieben und aus der anderen die Leichen herausgeholt wurden. An der Außenseite der Eingangstür stand geschrieben: „Zur Desinfektion“, und an der Ausgangstür, an deren Innenseite: „Saunaeingang“. In der Nähe der Tür, in die die Menschen getrieben wurden, gab es eine viereckige Luke von 40 x 40 cm, durch die ins Kammerinnere aus einer Büchse das Zyklon hineingeschüttet wurde, welches Blausäure enthielt. In diesem Moment trug der SS-Mann eine Gasmaske. Der Doseninhalt war ein Liter. Die leeren Dosen wurden von SS-Männern weggebracht. In die Gaskammer (zwei Bereiche) wurden 1500–1700 Menschen gepfercht. Die Dauer der Vergasung betrug 15–20 Minuten. Die Gaskammer Nr. 1 hatte 80 Quadratmeter Fläche. Das Zyklon wurde von verschiedenen SS-Männern durch die Luke hineingeschüttet, einer von denen hieß SCHEIMETZ703 mit Nachnamen. Mit dem Ausladen der Leichen aus der Kammer waren, wie ich oben erwähnt habe, 12 Menschen abwechselnd beschäftigt, indem sie alle 15 Minuten sechs Menschen ausluden. Länger als 15–20 Minuten war es in der Gaskammer schwer auszuhalten, weil der Zyklon-Geruch sich nach dem Öffnen der Tür nicht gleich verflüchtigte. Das Entladen der Gaskammer dauerte 2–3 Stunden. Bei den Leichen wurden die Goldzähne rausgerissen, Goldringe, Broschen, Ohrringe usw. wurden abgenommen, den Frauen wurde das Haar abgeschnitten. In den Taschen der Kleidung der Leichen wurde nach Wertsachen gesucht, insbesondere nach Gold. Beim Abschneiden der Haare war ein SS-Mann anwesend. In 500 Metern Entfernung von der Gaskammer Nr. 1 befanden sich vier Gruben, in denen Menschen verbrannt wurden, jede war 30–35 Meter lang, 7–8 Meter breit und 2 Meter tief. Die Leichen wurden auf fünf Plattformen auf einer Schmalspur an die Gruben gefahren. Auf jede Plattform wurden 25–30 Leichen geladen. Die Fahrtdauer einer Plattform in beide Richtungen betrug ungefähr 20 Minuten. An allen Gruben arbeiteten schichtweise Tag und Nacht je 110 Menschen. An einem Tag wurden in den Gruben 7–8 Tsd. Menschen verbrannt. Die Gaskammer Nr. 2 hatte ungefähr 100 Quadratmeter Fläche, jeder Bereich (davon gab es vier) hatte je zwei Türen. Die Gaskammer Nr. 2 fasste 2000 Menschen. Die Vergasung dauerte 15–20 Minuten. Das Zyklon wurde in jeden Bereich genau so hineingelassen wie in der Gaskammer Nr. 1. Das Entladen der Gaskammer dauerte nicht länger als zwei Stunden, weil es aus jeder Tür heraus vorgenommen wurde, wobei das Schmalspurgleis die beiden Seiten der Gaskammer Nr. 2 entlang verlief, in der Nähe der Türen. Über diesen Weg wurden die Leichen auf sieben–­acht Loren an die Gruben gefahren. 150 Meter von der Gaskammer Nr. 2 entfernt befanden sich sechs ebenso große Gruben wie an der Kammer Nr. 1. Beim Entladen der Gaskammer Nr. 2 und beim Verbrennen der Leichen arbeiteten 110–120 Menschen. An einem Tag wurden in allen Gruben an der

703 So im Text.

599

Anhang

Gaskammer Nr. 2 mindestens 10 000 Menschen verbrannt. Im Schnitt wurden in allen zehn Gruben an einem Tag 17–18 Tsd. Menschen verbrannt, wobei die Zahl der Verbrannten in Einzelfällen 27–28 Tsd. Menschen pro Tag betrug, die mit den Transporten aus verschiedenen Ländern angekommen und verschiedener Nationalitäten waren, insbesondere Juden. Um die Flammen aufrechtzuerhalten, wurden die Holzscheite beim Anzünden mit einer Flüssigkeit übergossen: mit billigem Benzin und mit Menschenfett. Das Menschenfett kam aus den Gruben, in denen Menschen verbrannt wurden, über spezielle Rinnen, die zu einer kleineren Grube führten, wohin das Fett abfloss, welches die SS-Männer dann selbst einsammelten. Im Februar 1944 wurde ich zur Arbeit ins Krematorium Nr. 1 geschickt. Ich muss sagen, dass jeder aus dem Sonderkommando unter Todesangst arbeitete, denn die SS-Männer, die die Leichen verbrannten, waren sehr bösartig gegenüber den Soko-Mitgliedern, die irgendwelche Arbeiten bei der Vergasung und Verbrennung der Menschen erledigten. Ich und mit mir weitere vier Menschen führten (warfen) die Leichen in die Öfen des Krematoriums ein. Die Leichen wurden auf Metallbahren in die Öfen eingeführt, die auf Rahmen befestigt wurden. Auf die Bahren wurden je drei und zwei Leichen gelegt. In jeden Ofen wurden fünf Leichen eingeworfen. Die Leichen wurden mittels spezieller Haken in die Öfen hineingeschoben, wonach die Bahre wieder herausgenommen wurde. Auf dem Territorium der Abteilung Birkenau gab es vier Krematorien, die in Betrieb waren: Nr. 2, 3, 4 und 5, wobei die Krematorien Nr. 2–3 einheitlich konstruiert waren und je 15 Öfen hatten, die Krematorien Nr. 4–5 waren auch einheitlich konstruiert, waren bei der Größe und der technischen Reife aber weniger gut benutzbar, und hatten je acht Öfen. In jedem Krematorium waren Gaskammern vorhanden, und zugleich war die Gaskammer Nr. 2 in Betrieb, aus welcher heraus die Leichen zum Verbrennen an die Gruben herangefahren wurden. Die Gaskammer Nr. 2 arbeitete besonders dann, wenn 6–7 Menschentransporte ankamen, dann wurden außer in den Krematorien auch auf Scheiterhaufen Leichen verbrannt. Das Krematorium Nr. 1 befand sich auf dem Territorium des Lagers Auschwitz-Oświęcim. Wie bei den Gaskammern Nr. 1–2 wurden auch bei den Gaskammern dieses Krematoriums Goldzähne gezogen, Ringe und Broschen abgenommen und in speziellen Kisten gesammelt. In der Abteilung Birkenau kamen Transporte mit Menschen an, die anschließend verbrannt wurden, auch aus anderen Lagern kamen sie an, insbesondere aus dem Lager Majdanek in Lublin. Russische Menschen wurden nahezu alle verbrannt, und in der letzten Zeit vor der Ankunft der Roten Armee und der Befreiung der Gefangenen im Lager Oświęcim wurden hauptsächlich nur russische Kinder verbrannt (wurden den Eltern weggenommen, und die Erwachsenen wurden bei Arbeiten im Lager eingesetzt). Besonders viele Kinder wurden verbrannt, die mit den Eltern aus Litauen angekommen waren. In den Gaskammern wurden Männer, Frauen und Kinder gleichzeitig vergast. An einem Tag wurden in allen Krematorien 10 000–12 000 Menschen verbrannt. Die Asche verbrannter Menschen wurde anfänglich in spezielle Gruben geschüttet, die dann mit Erde bedeckt wurden. Und nach einer bestimmten Zeit (nach wie vielen Monaten weiß ich nicht mehr) wurden die Gruben aufgebrochen, die Asche wurde daraus entnommen und in die Flüsse geworfen. Auf dem Territorium der zugeschütteten Aschegruben wurden Landstraßen gebaut, weswegen zwei Gruben, auf denen eine Landstraße verlief, nicht ausgegraben wurden. Ungefähr im Juli und August 1944 war das Krematorium Nr. 4 nicht in Betrieb, aufgrund der Ausbesserung der Rauchschächte. In der Abteilung Birkenau gab es inmitten des Sonderkommandos eine Gruppe, sie bereitete den Aufstand und die Zerstörung der Krematorien vor. Die Gruppe leitete ein Kriegsgefangener, Oberst der Roten Armee, der mit dem Major und Leutnant in Kontakt stand, die sich im Sonderkommando befanden. Die Nachnamen des Obersts, Majors und Leutnants kenne ich nicht, der Name des Kriegsgefangenen Leutnants704 war WIKTOR. Die Gruppe, die den Aufstand vorbereitete, beschaffte Schießpulver und fertigte primitive Granaten an. Das Schießpulver wurde über die Gefangenen aufgetrieben, die in den Rüstungswerken arbeiteten, die sich am Lager befanden.

704 So im Text.

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4. Erste Aussagen der Mitglieder des Sonderkommandos

Im September oder August 1944 (wann genau, weiß ich nicht mehr) erfuhr die Leitung des Krematoriums – ich weiß nicht, wie – von der Vorbereitung des Aufstands, verlegte das ganze Sonderkommando direkt ins Krematorium Nr. 4, wo sie einen Monat lang lebten. In den ersten Oktobertagen 1944 setzte die Gruppe, die den Aufstand vorbereitete, das Krematorium Nr. 4 in Brand, erschoss mehrere SS-Leute und organisierte eine Flucht. Unter den toten SS-Leuten war ein Wachmann, der in einem Wachturm stand, in den der Major eine Granate geworfen hat. Zu diesem Zeitpunkt zählte das Sonderkommando annähernd 700 Menschen. Die Lagerkommandantur organisierte die Festnahme derer aus dem Sonderkommando, die es auf nicht so große Entfernung geschafft hatten, sie wurden alle in einem Feld unweit des Krematoriums gefasst, wobei so an die 500 Menschen aus dem Sonderkommando erschossen wurden. Circa zwei Wochen nach dem Aufstand und der Beschädigung des Krematoriums Nr. 4 wurden weitere 100 Menschen aus dem Sonderkommando erschossen, während die anderen auf die Krematorien Nr. 2, 3 und 5 verteilt wurden. Ich wurde ins Krematorium Nr. 2 geschickt, wo ich ungefähr 5–10 Tage an einem der Öfen arbeitete. Im Mai, Juni, Juli und August 1944 erfolgte die Leichenverbrennung gleichzeitig in allen Krematorien und Verbrennungsgruben, weil täglich sehr großer Neuzugang war: 5–7 Transporte. Alle Transporte kamen in diesen Monaten aus Ungarn. Die Öfen der Krematorien allein schafften es nicht, die vergasten Menschen zu verbrennen. An jedem Krematorium gab es Lager, wo die Leichen gelagert wurden, die am Tag der Vergasung zu verbrennen man nicht schaffte. In der zweiten Hälfte oder Ende Oktober 1944, genau weiß ich es nicht mehr, stellten alle Gaskammern die Arbeit ein, und aus den aktiven Öfen der Krematorien Nr. 2, 3 und 5 war nur das Krematorium Nr. 5 in Betrieb. Der Einäscherung ­w urden Verstorbene, hauptsächlich im Lager Erschossene unterzogen. Die Krematorien wurden mit Koks befeuert, die Gruben hingegen mit Holz. Ich möchte noch anfügen, dass das Sonderkommando ständig mit Menschen aufgefüllt wurde, die neu ins Lager kamen, als Ersatz für diejenigen, die erschossen oder in den Gaskammern ermordet und dann verbrannt wurden. Ungefähr im August oder September 1944 (wann genau, weiß ich nicht mehr) wurden 200 Menschen aus dem Sonderkommando zu Fuß ins Stammlager Oświęcim abgeführt und in der Nacht vergast. In derselben Nacht wurden alle, die noch im Sonderkommando geblieben waren, in die Baracke geschickt, während die SS-Leute selbst die 200 Vergasten verbrannten. Davon erfuhr ich zwei–drei Wochen nach der Verbrennung. Im November 1944 wurde damit begonnen, alle Krematorien abzubauen. Hauptsächlich wurden aus den Öfen die Muffelhüllen abgebaut und weggefahren. Dann wurden Bohrungen in die Mauern der Krematorien eingebracht, in die Sprengstoff eingelassen wurde, aber auf diese Weise gelang es nicht, die Krematorien zu sprengen, weshalb dann andere Mittel verwendet und die Krematorien Nr. 2 und 3 gesprengt wurden, und das Krematorium Nr. 5 wurde einen Tag vor dem Rückzug gesprengt. Am 18. Januar 1945 wurde ich als einer der 100 Menschen aus dem Sonderkommando aus dem Lager in Richtung Deutschlands evakuiert, und am 20. Januar 1945 bin ich geflohen. Ich möchte noch sagen, dass die SS nach dem Aufstand, der von der Gruppe aus dem Sonderkommando organisiert wurde, vier Mädchen, Lagerinsassinnen, durch Erhängen hinrichtete, weil sie Sprengstoff, Schießpulver an diejenigen übergeben hatten, die den Aufstand organisierten. Unter den 500 erschossenen Menschen des Sonderkommandos war ein Jude aus der Stadt Lunna, GRADOWSKI, der insgeheim ein Verzeichnis der Transporte mit den Menschen führte, die verbrannt wurden. Einige Monate bevor das Sonderkommando das Krematorium Nr. 4 in Brand setzte, ­hatte GRADOWSKI aus der Angst, man würde seine Aufzeichnungen entdecken, damit begonnen, sie mithilfe anderer Sonderkommandliks in der Erde zu vergraben. Mich etwa ließ GRADOWSKI seine Aufzeichnungen verstecken, die er in einer deutschen Feldflasche verwahrt hatte, die ich in der Erde vergrub. Die Stelle kann ich zeigen. Das war im Oktober oder September 1944. Mir ist auch bekannt, dass Granaten vergraben sind, die von den Gruppen aus dem Sonderkommando angefertigt wurden, die den Aufstand und die Flucht vorbereiteten. Diese Stelle kann ich zeigen.

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Anhang

FRAGE: Wie waren die Gaskammern an den Krematorien Nr. 2 und 3 aufgebaut und wie ging dort die Vergiftung der Menschen vonstatten? ANTWORT: An den Krematorien Nr. 2 und 3, an jedem gab es eine Gaskammer, die in einem der Kellerräume des Krematoriums eingerichtet und etwa 30 Meter lang war. Der zweite Kellerraum von 50 Metern Länge wurde als Entkleidungsraum für die Menschen genutzt, bevor die Deutschen sie in die Gaskammer hineinführten. Zum Hineinwerfen des Zyklons in die Kammer gab es auf dem Dach der Letzteren vier schachbrettartig angeordnete quadratische Öffnungen, über die auf dem Dach ein niedriger, 30 cm hoher, quadratischer Kamin hinausragte, der von einer Filzschicht und einem schweren abnehmbaren Betondeckel bedeckt war. Unter den genannten Öffnungen waren in der Gaskammer falsche Säulen aufgestellt, ähnlich den darin vorhandenen echten Säulen. Diese falschen Säulen waren innen hohl, und ihre Wände waren aus Blech mit eingestanzten Öffnungen gefertigt, wie beim herkömmlichen Maschendraht, mit dem Lüftungsschächte abgedeckt werden. In der Gaskammer waren auch falsche Duschvorrichtungen vorhanden: Brauseköpfe, die dazu dienten, die in die Gaskammer geratenen Menschen zu täuschen, mit dem Ziel, dass die Menschen wirklich dächten, sie würden sich dort waschen. In der Gaskammer war eine Lüftungsanlage vorhanden. Die Eingangstür konnte hermetisch verschlossen werden. Beheizt wurden die Gaskammern nach Bedarf mit tragbaren Koksöfen. Die Vergiftung der im Krematorium angekommenen Menschen erfolgte wie folgt: Aus dem Entkleidungsraum wurden die nackten Menschen sehr dicht in die Gaskammer gepfercht, weil sie mit Hunden gehetzt wurden. War die ganze Kammer mit Menschen dicht gepfercht, wurden die Türen verschlossen, und einige Minuten lang wurde daraus mittels Ventilatoren die Luft abgesogen. Dann wurden die Ventilatoren angehalten, der SSMann öffnete die Kisten mit dem Zyklon, kletterte aufs Dach, schob den oben beschriebenen Lukendeckel beiseite und schüttete das Zyklon durch die Luke in die Gaskammer. Nach etwa 15 Minuten wurde die Zu- und Abluftanlage eingeschaltet, die giftige Luft wurde abgesogen, die Türen wurden geöffnet. Infolge dessen, dass die Menschen in übermäßiger Anzahl in die Kammer eingezwängt wurden, blieben deren Leichen nach der Vergiftung im stehenden Zustand, weil sie nirgendwohin hätten fallen können, d. h., die Leichen waren eng aneinandergedrückt. FRAGE: Erläutern Sie bitte, wie die Gaskammern an den Krematorien Nr. 4 und 5 aufgebaut waren und wie dort die Vergiftung der Menschen vonstattenging. ANTWORT: An den Krematorien Nr. 4 und 5 gab es einen Anbau von ungefähr 20 Metern Länge. Im Inneren war dieser Anbau durch Trennwände in drei Bereiche aufgeteilt, von denen jeder eine Gaskammer war. Zum Einwerfen des Zyklons waren in den Außenwänden der Gaskammer in einer Höhe von rund zwei Metern vergitterte Luken angebracht, die mit Deckeln hermetisch verschlossen werden konnten. In jeder Gaskammer gab es je zwei hermetisch verschließbare Türen. An die Räume der Gaskammern war mittels eines Flurs der Entkleidungsraum angeschlossen, der in der Fläche allen drei Gaskammern zusammen entsprach, d. h. 20 x 12 Meter. Je nach Anzahl der neu angekommenen Menschen wurden sie in zwei, drei Kammern gleichzeitig vergast. Der Vorgang der Vergiftung lief analog dazu ab, wie es in den Gaskammern der Krematorien Nr. 2–3 getan wurde. Der Unterschied bestand nur darin, dass das Zyklon von den SS-Leuten durch die oben beschriebene, in die Wand eingelassene Luke eingeworfen wurde, und nicht durch Dachluken wie in den Krematorien Nr. 2–3. Außerdem gab es in den Gaskammern der Krematorien Nr. 4–5 keine Lüftung, weshalb die Lüftung der Kammern durch das Öffnen der Türen und Luken erfolgte. Nach der Vergiftung konnten die Leichen in zwei Richtungen aus den Kammern entnommen werden: Sie wurden entweder im Entkleidungsraum gestapelt oder – wie man es eine Zeit lang im Krematorium Nr. 5 machte – durch die Außentüren in den Hof des Krematoriums entladen, wo sie auf Scheiterhaufen verbrannt wurden. War der Entkleidungsraum mit Leichen voll und es kam eine neue Gruppe von Menschen, so wurden sie im Hof des Krematoriums entkleidet und dann im herkömmlichen Verfahren in die Gaskammern geschickt. FRAGE: Ist Ihnen bekannt, wann das Krematorium Nr. 1 den Betrieb einstellte? ANTWORT: Das Krematorium Nr. 1 wurde im März 1943 geschlossen und die Verbrennung darin eingestellt.

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4. Erste Aussagen der Mitglieder des Sonderkommandos

FRAGE: Wie lange waren die Krematorien Nr. 2, 3, 4 und 5 jeweils in Betrieb? ANTWORT: Das Krematorium Nr. 2 wurde im März 1943 gestartet, genau am Tag der Ankunft des ersten Menschentransports aus Krakau (Polen), und war bis einschließlich Oktober 1944 in Betrieb. Im November 1944 fingen die Deutschen mit dem Abbruch des Krematoriums an. Das Krematorium Nr. 3 wurde im April 1943 gestartet und war bis einschließlich Oktober 1944 in Betrieb, mit dessen Abbruch wurde auch im November 1944 begonnen. Das Krematorium Nr. 4 wurde Ende März 1943 gestartet und war bis einschließlich August 1944 in Betrieb: Es brannte Anfang Oktober 1944 teilweise nieder, und im Oktober, vielleicht auch im November 1944 wurde mit dem Abbruch begonnen, genau weiß ich es nicht mehr. FRAGE: Wie viel Bedienpersonal – Arbeiter aus dem Sonderkommando – gab es im Krematorium, wie war die Arbeit unter ihnen verteilt und wie viele Schichten gab es? ANTWORT: In jedem der Krematorien Nr. 2 und 3 arbeiteten in einer Schicht normalerweise bis zu 60 Arbeiter, Gefangene aus dem Lager, die dem Sonderkommando angehörten. Eine Schicht arbeitete zwölf Stunden. Pro Tag gab es zwei Schichten. Diese 60 Arbeiter wurden in den Krematorien Nr. 2–3 wie folgt zur Erledigung bestimmter Arbeiten eingeteilt: 1. Einsammeln der Kleidung, die im Entkleidungsraum geblieben war, Verladen der Kleidung auf Lastwagen 2. Ausladen der Leichen aus der Kammer und das Heranschleppen der Leichen an den Aufzug: 15 Personen 3. Verladen in den Aufzug: 2 Personen 4. Friseure (Abschneiden der Frauenhaare): 4 Personen 5. Zahnärzte (Ziehen der Goldzähne bei den Leichen): 2 Personen 6. Zur Bedienung der Generatoren: 2 Personen 7. Zur Bedienung des Leichenaufzugs: 2 Personen 8. Entnahme der Leichen aus dem Aufzug: 2 Personen 9. Heranschleppen der Leichen an die Muffel: 2 Personen 10. Beladung der Muffeln: zwei Gruppen je 5 Personen – 10 Personen 11. Aufsichtshelfer: 4 Personen. In den Krematorien Nr. 4–5 arbeiteten 30 Menschen pro Schicht. Für alle vier Krematorien gab es außerdem drei Goldmeister, die die Goldzähne, die den Leichen gezogen wurden, einschmolzen. Ich habe weiter nichts mitzuteilen, das Protokoll ist meiner Aussage entsprechend korrekt nieder­ geschrieben und mir vorgelesen worden, was ich durch Unterschrift bestätige. Unterschrift. Die Befragung fand im Beisein des Dolmetschers, ehemaligen Insassen des Lagers Oświęcim Doktor STEINBERG, statt, der über die rechtlichen Folgen einer unwahren Verdolmetschung unterrichtet wurde. Die Verdolmetschung erfolgte aus dem Polnischen ins Russische. Dolmetscher: Unterschrift Es befragte: Militärermittler Gardehauptmann der Justiz LEWIN Korrekt: Militärermittler Gardehauptmann der Justiz LEWIN GARF, Bt. R-7021, Fb. 108, Nr. 8, Bl. 14–27. Henryk Mandelbaum den 27. Februar 1945

Reguläre Armee

Militärermittler des Regimentsverbands Feldpost 48828-8 Major KOTIKOW befragte den Unten­ genannten als Zeugen gemäß §§ 162–168 der StPO RSFSR.

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1. Nachname, Vorname, Vatersname: MANDELBAUM Henryk 2. Staatsangehörigkeit: polnisch 3. Nationalität: polnischer Jude 4. Geburtsdatum und -ort: 1922, Olkusz 5. Herkunft: aus einer Angestelltenfamilie 6. Bildung: Mittelschule 7. Parteizugehörigkeit: parteilos 8. Familienstand, Zusammensetzung und Aufenthaltsort der Familie: ledig 9. Dienstort und Tätigkeit: – 10. Militärdienstgrad und seit wann in der Roten Armee: – 11. Sind Auszeichnungen (Orden) vorhanden: – 12. Beteiligung an Kampfhandlungen (wann, wo und in welcher Funktion): – 13. Vorstrafen: nicht vorbestraft 14. Ständiger Wohnsitz und genaue Adresse: Sosnowitz, Chemiczna 12 [der] ZU PROTOKOLL GAB: Die Deutschen verhafteten mich am 16. April 1944 in der Stad Bendzin. Bis dahin hatte ich mich bei meinen Freunden versteckt, wobei ich Sachen ein- und weiterverkaufte. Das verschaffte mir auch den Unterhalt. In Auschwitz (Oświęcim) kam ich am 23. April 1944 an. Sechs Wochen war ich in der Quarantäne, wonach ich direkt zum Sonderkommando geschickt wurde. Ich wollte da nicht hingehen, aber ich wurde mit Gewalt gezwungen. Am ersten Tag, als ich im Krematorium Nr. 4 ankam, wurde ich an die Scheiterhaufen gestellt, Menschen zu verbrennen, die in der Gaskammer vergast wurden. FRAGE: Gab es viele Menschen in diesem Sonderkommando? ANTWORT: In diesem Kommando gab es 135 Menschen in nur einer Schicht, in der zweiten Schicht waren es nochmal so viele. FRAGE: Menschen aus welchen Ländern wurden für das Sonderkommando genommen? ANTWORT: Dem Kommando gehörten Juden aus Griechenland, Frankreich, Holland, Ungarn, der Slowakei und auch aus Polen an. Der Chef des Krematoriums war der SS-Mann Oberscharführer FASS und später Hauptscharführer MOLL Otto. FRAGE: Wie lange arbeiteten Sie im Krematorium? ANTWORT: Ich arbeitete im Krematorium sieben Monate lang. FRAGE: Wie viele Menschen wurden täglich vergast und in dem Krematorium verbrannt, in dem Sie arbeiteten? ANTWORT: Jede Schicht arbeitete zwölf Stunden, wobei sie 6–7 Tsd. Leichen verbrannte. FRAGE: Wie viele Transporte mit Menschen zur Verbrennung kamen in Ihrer Anwesenheit auf dem Territorium des Krematoriums an? ANTWORT: Es kamen drei–vier, sogar sieben Transporte. Die Tage, an denen keine Transporte kamen, waren selten, mit Ausnahme der Monate Oktober und November. Aber als es keine Transporte gab, hörte die Arbeit im Krematorium nicht auf, zu uns wurden Leichen von Erschossenen und Gefangenen aus dem Lager gebracht, täglich 20–30–40–70–100 und 200 und so weiter. FRAGE: Aus welchen Ländern kamen in dieser Zeit die Menschentransporte? ANTWORT: Aus Griechenland, Ungarn, der Tschechoslowakei, Frankreich (weniger), amerikanische Staatsbürger aus Warschau (annähernd 60 Menschen), aus Italien und anderen Ländern. FRAGE: Wie viele Menschen wurden in der ganzen Zeit ihrer Arbeit vernichtet? ANTWORT: In dieser Zeit wurden rund eineinhalb Millionen vernichtet, vielleicht mehr. FRAGE: Worauf stützen Sie Ihre Angaben? ANTWORT: Das ist nicht schwer auszurechnen. Ich sagte schon, dass jede Schicht 6–7 Tsd. Menschen bedeutete. Wenn man das mit den 20 schwersten Tagen multipliziert und dann mit zwei Schich-

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4. Erste Aussagen der Mitglieder des Sonderkommandos

ten, dann ergibt das schon rund eine Million705. Die Leichen der Gefangenen, die aus dem Lager gebracht wurden, und die Leichen, die in dieser Zeit in anderen Krematorien verbrannt wurden, muss man hinzuzählen. FRAGE: Wie wurde mit den Menschen gleich nach ihrer Ankunft verfahren? ANTWORT: Auf der Rampe (dem Bahnsteig) sortierte sie der deutsche Arzt MENGELE aus. Einige gesunde Menschen wählte er zum Arbeiten aus, andere schickte er direkt ins Krematorium. Überhaupt wurden hauptsächlich Frauen und Kinder, Alte und Greise verbrannt. FRAGE: Wie viele ließen die Deutschen auf einmal in die Gaskammer zum Verbrennen hinein? ANTWORT: Von ein bis eineinhalb Tsd. in eine Kammer. Die Menschen starben eine halbe Stunde, nachdem die Gase in die Kammer geleitet wurden. FRAGE: Wie wurde mit den Leichen vor dem Verbrennen verfahren? ANTWORT: In jeder Schicht arbeitete ein spezieller Arbeiter, der die Goldzähne zog und bei den Frauen die Haare abschnitt. Ich habe einen Fall in Erinnerung, als ein deutscher Militärarzt im Krematorium auftauchte, einige gesunde Menschen auswählte, sie zur Seite nahm, dann Blut aus ihnen rauspumpte und sie erschoss. FRAGE: Wo entsorgten die Deutschen die menschliche Asche? ANTWORT: Die Asche wurde zu den Flüssen, auf die Felder und an die Brennica706 gefahren, wo sie ins Wasser geworfen wurde. Einmal brach auf dem Lagergelände ein Auto mit einem Rad in den Boden ein, an dieser Stelle trat viel Asche hervor. Ich denke, dass die Asche auch vergraben wurde, diese Stelle kann ich zeigen. Gefangene aus dem Sonderkommando erzählten mir, dass wenn sie die Asche durchsiebten und dabei Goldsachen fanden, dann warfen sie sie in den Teich, damit die Deutschen sie nicht bekamen. Diesen Teich kann ich auch zeigen. FRAGE: Sind Ihnen Massenerschießungen im Lager bekannt? ANTWORT: Das taten die SS-Leute im Krematorium. Sie erschossen täglich 8–10–15 Menschen, manchmal sogar mehr. FRAGE: Wer waren die Erschossenen von Nationalität? ANTWORT: Hauptsächlich Russen und Polen. FRAGE: Erläutern Sie bitte, worum es sich bei den Scheiterhaufen handelte, auf denen die Leichen verbrannt wurden. ANTWORT: Wir legten eine Schicht Holzscheite, eine Schicht Leichen hin, und so zehn Schichten. Insgesamt wurden 150–180 Leichen auf einen Scheiterhaufen hineingelegt. Entfacht wurde das Feuer mit Kiefernscheiten, die mit Benzin übergossen wurden. Auch wurden ausgerissene Baumwurzeln ­dazu verwendet, weil sie viel Harz enthalten. Das wurde in den Scheiterhaufen dann verwendet, wenn die Lagermenschen verbrannt wurden, weil sie abgemagert waren und schlecht brannten. FRAGE: Wer von der deutschen Führung besuchte die Krematorien? ANTWORT: Ende August oder September 1944 kam HIMMLER aus Berlin, mit anderen Militärgenerälen und Offizieren. Sie waren im Krematorium während der zweiten Schicht, als ich nicht arbeitete. Aber die Gefangenen aus dem Sonderkommando erzählten mir, dass die ganze Kommission im Krematorium lachte und alle zufrieden waren. Sie sagten laut: Die Juden brennen aber gut. Zu meiner Zeit gab es viele Kommissionen aus Berlin, wer sie alle waren, weiß ich nicht mehr. Im Sonderkommando gab es eine Gruppe von Häftlingen, [die] eine Liste der Verbrannten führte und in einer Flasche oder einer Kiste irgendwo auf dem Territorium des Krematoriums versteckte. FRAGE: Gab es Tage, an denen die Gaskammer das große Menschenaufkommen nicht bewältigen konnte?

705 So im Text. 706 So im Protokoll. Aber kein Fluss in der Umgebung heißt so. Ähnlich ist höchstens die Przemsa, ein Nebenfluss der Weichsel.

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ANTWORT: An solchen Tagen wurde die Kammer vollgepfercht, ich weiß noch, als man eine Kammer öffnete und die Toten standen auf den Beinen, die Köpfe aneinandergelegt. FRAGE: Wurden die Gefangenen aus dem Sonderkommando ermordet? ANTWORT: Ja, sie wurden ermordet. Ende Oktober wurden wir, Häftlinge aus dem Sonderkommando, die im Lager wohnten, bis zum Krematorium nicht durchgelassen, obwohl das Krematorium an dem Tag in Betrieb war. Bedient wurde es von der SS. An dem Tag verbrannten sie das Sonderkommando von 230 Menschen und erklärten dann, sie hätten sie zum Transport geschickt. Die Deutschen hatten Angst vor uns, weil wir hätten erzählen können, was sie im Lager und in den Krematorien taten. FRAGE: Wann wurde mit dem Abbruch der Krematorien begonnen? ANTWORT: Ende Oktober wurde mit dem Abbruch des ersten Krematoriums begonnen, mit dem Abbruch begonnen hatte das Sonderkommando, aber dann wurden Frauen geschickt und später wurden noch Männer aus dem Lager hinzugezogen. Insgesamt arbeiteten 300–350 Menschen bei der Demontage. Die deutschen SS-Leute kamen immer wieder und schlugen auf alle ein, damit sie schneller arbeiteten. Während des Abbruchs wurden Autos benutzt und fuhren unverzüglich Teile der Öfen und Backsteine weg – wohin, weiß ich nicht. Das erste Krematorium wurde innerhalb von drei–vier Wochen abgebaut. Als das erste Krematorium noch nicht fertig abgebaut war, wurden wir schon weggeschickt, ein anderes abzubauen, sodass im Oktober regulär zwei Krematorien abgebaut wurden. Im Januar 1945 sprengten die Deutschen die restlichen Krematorien, sie abzubauen, hatten sie nicht mehr geschafft. FRAGE: Was können Sie sonst noch über das Sonderkommando sagen? ANTWORT: Anfang Oktober 1944 wurde das Sonderkommando, welches im Lager lebte, im Krematorium untergebracht, und dort lebten wir circa einen Monat lang. Einmal im Oktober brach im 3. Krematorium ein Feuer aus, das Sonderkommando hatte es in Brand gesteckt, dann wurde dieses Krematorium von der SS umzingelt und es kam zu einem Gefecht, das zwei Stunden lang andauerte. Währenddessen entwaffnete das Sonderkommando eines Krematoriums einen Wachposten und lief aus dem Krematorium weg. Mir ist bekannt, dass die SS alle Aufständischen verbrannte und erschoss, 400 Menschen insgesamt. Das in Brand gesteckte Krematorium verbrannte vollständig, mit dessen A ­ bbruch fing man dann auch zuerst an. FRAGE: Wurde das Sonderkommando besser verpflegt oder genauso wie alle anderen Gefangenen? ANTWORT: Wie alle anderen Gefangenen auch. FRAGE: Wie alt waren die SS-Leute im Schnitt? ANTWORT: In den Krematorien 25–30 Jahre, es gab einen Fünfzigjährigen, sein Nachname war PUCH, er war Oberscharführer. FRAGE: Nennen Sie bitte die Nachnamen der SS-Leute, die in den Krematorien eingesetzt waren. ANTWORT: KURZSCHLUS, er war der Kommandoführer, der schlimmste Despot, er schlug alle mit dem Revolver auf den Kopf, mich schlug er auch, ich habe heute noch Narben. KONZELMAN war ein Soldat, der immer Wache stand, vor dem Krematorium. Das Protokoll ist meiner Aussage entsprechend korrekt niedergeschrieben und von mir gelesen worden. Unterschrift. Es befragte: Militärermittler, Major KOTIKOW. GARF, Bt. R-7021, Fb. 108, Nr. 8, Bl. 77–82. Henryk Tauber den 27. April 1945 Reguläre Armee Adjutant des Militärermittlers der 1. Ukrainischen Front, Major der Justiz PACHOMOW, befragte den Untengenannten als Zeugen gemäß §§ 162–168 der StPO RSFSR mittels der Dolmetscherin SAMSONOWA Jekaterina Maximowna (ehemalige Gefangene), die aus der polnischen in die russische Sprache dolmetschte.

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4. Erste Aussagen der Mitglieder des Sonderkommandos

1. Nachname, Vorname, Vatersname: TAUBER Henryk Abaham 2. Staatsangehörigkeit: polnisch 3. Nationalität: polnischer Jude 4. Geburtsdatum und -ort: 8. Juli 1917, Chrzanow im selben Powiat (Polen). 5. Herkunft: aus einer Kleinbürgerfamilie 6. Bildung: 7 Klassen 7. Parteizugehörigkeit: parteilos 8. Familienstand, Zusammensetzung und Aufenthaltsort der Familie: ledig 9. Dienstort und Tätigkeit: – 10. Militärdienstgrad und seit wann in der Roten Armee: – 11. Sind Auszeichnungen (Orden) vorhanden: – 12. Beteiligung an Kampfhandlungen (wann, wo und in welcher Funktion): – 13. Vorstrafen: nicht vorbestraft 14. Ständiger Wohnsitz und genaue Adresse: Chrzanow, Trunwaldskaja-Straße 1. Der über die möglichen Folgen einer Falschaussage sowie einer Aussagenverweigerung gemäß § 93 ­StPO RSFSR aufgeklärt ZU PROTOKOLL GAB: Ich beherrsche die polnische Sprache und werde meine Aussage in Polnisch machen. Ich wurde am 14. Oktober 1942 von der Gestapo in der Stadt Krakau verhaftet, wo ich mich im Ghetto aufhielt. Verhaftet wurde ich dafür, dass ich Jude bin. Bei der Gestapo war ich zwei Monate lang in Gewahrsam, und am 19. Januar 1943 wurde ich nach Oświęcim, ins Gefangenenlager gebracht. Zunächst wurde ich in der Lagerabteilung Birkenau untergebracht, nach drei Tagen aber wurde ich in die Lagerabteilung Monowitz überführt. In Monowitz erkrankte einer aus unserem Transport an Typhus, weshalb wir alle (1200 Menschen) nach Birkenau zurückgebracht wurden. Am dritten Tag nach der Rückkehr nach Birkenau kam zu uns in den 27. Block der Arbeitsdienst (Arbeitschef), der deutsche GROLL (Unterscharführer), der uns fragte, wer als Maler, Zimmermann und Schlosser arbeiten könne. Ich und zwölf weitere Menschen nannten unsere Berufe (ich bin von Beruf Schlosser) und wir 20 Menschen wurden in den Block 11 des Lagers Auschwitz geschickt (das Lagergefängnis). Im Gefängnis übernachteten wir eine Nacht, und am Morgen wurden wir alle ins Krematorium zum Arbeiten geschickt. Wir wussten nicht, dass wir ins Krematorium zum Arbeiten kommen. Das Krematorium befand sich in der Nähe der Politischen Abteilung. Alle 20 Menschen waren Juden von Nationalität. Im Krematorium arbeiteten insgesamt 33 Menschen, davon waren 26 Juden und 7 Polen. Im Krematorium gab es einen Kapo (leitete die Einäscherungsarbeiten), der Pole MIETEK Morawa aus der Stadt Krakau, ebenfalls ein Gefangener. Es gab einen deutschen Vorgesetzten, den Chef der Krematorien GRABNER, Obersturmführer. Im Krematorium arbeitete ich einen Monat lang. Wir verbrannten Leichen im Krematorium, die mit Lastwagen angeliefert wurden. In meiner Anwesenheit wurden im Krematorium keine lebenden Menschen verbrannt oder vergast, verbrannt wurden nur Leichen. Diese Leichen wurden vom ganzen Lagerterritorium hergebracht, es waren Menschen, die entweder eines natürlichen Todes gestorben oder von den Deutschen erschossen und ermordet worden waren. Im Krematorium gab es drei Öfen, je zwei Retorten. In jede Retorte wurden je fünf Leichen hineingelegt. Der Verbrennungsvorgang einer Aktion dauerte eineinhalb Stunden. Wir waren 20 Menschen und arbeiteten im Krematorium wie Lehrlinge zwölf Stunden, von 6 Uhr morgens bis 6 Uhr abends, das Krematorium selbst arbeitete fast rund um die Uhr. In dieser Zeit, in den Arbeitsstunden wurden im Krematorium täglich 250–300 Leichen verbrannt. Es gab eine Gaskammer im Krematorium, 7 x 15 Meter groß und zwei Meter hoch, vielleicht auch etwas mehr. Dass es sich um eine Gaskammer handelte, wusste ich von anderen, und auch, weil es in der Decke Luken mit Verschlüssen gab, über die das Gas in die Kammer eingeworfen wurde,

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und die Türen waren von besonderem hermetischem Aufbau mit Kontrollfenstern. Ähnliche Gas­ kammern sah ich später auch in den anderen Krematorien des Lagers. Es gab auch Fälle, 2–3 Mal die Woche, dass 30–40 Menschen lebend in die Krematorien gebracht wurden, dort wurden sie von Gestapo-Angehörigen erschossen und wir mussten sie verbrennen. Die Öfen im Krematorium waren zweimuffelig (Retorten), mit trockenem Generatorgas befeuert. Der Generator war hinter dem Ofen angebracht. Jeder Ofen hatte seine zwei Generatoren (eine Muffel, ein Generator). Im Generator wurde Koks verbrannt. Die Temperatur erreichte in der Retorte bis zu 1200–1500 Grad Celsius. Dieses Krematorium war von Anfang 1940 bis Februar 1943 in Betrieb. Die Asche aus den Öfen wurde mit den Autos weggefahren, aber ich weiß nicht, wohin. Im Krematorium wurden die Menschen ohne Kleidung verbrannt. Wo sie entblößt wurden, weiß ich nicht. Die Leichen waren mager: von Haut überzogene Knochen. Alle diese Menschen wurden von den Deutschen bei den Arbeiten, bei Appellen (Kontrollen) u. Ä. zu Tode gequält. Während der Arbeit wurden wir stark malträtiert, geschlagen, sodass im März von den 20 Menschen nur noch neun übrig geblieben sind. Alle anderen wurden vernichtet: erschlagen, erschossen und verbrannt. Ebenfalls im März wurden wir alle zum Arbeiten ins Krematorium des Lagers Birkenau verlegt. Dieses Krematorium wurde als Nr. 2 nummeriert, zu dem Zeitpunkt war es gerade erst gebaut worden. Es befand sich auf der linken Seite des Bahngleises. Bis 15. März heizten wir die Öfen an, genauer gesagt trockneten wir sie. Ab dem 15. März 1943 kamen dann Transporte mit Menschen an (ganze Eisenbahnzüge), sie wurden größtenteils in die Krematorien gebracht, vergast und verbrannt. Der erste Transport kam mit 4.000 Menschen im Krematorium an, die aus dem Ghetto von Krakau kamen. Sie alle wurden zur gleichen Zeit vergast und verbrannt. Da waren Mütter mit Kindern, alte Männer und Frauen. Im Krematorium gab es zwei große unterirdische Räume, ein großer diente zum Entkleiden, der zweite kleinere zur Vergiftung durch Gas. Am Eingang des Krematoriums stand in allen Sprachen geschrieben, dass es eine „Desinfektionskammer und Sauna“ sei. Im Gasraum wurden gleichzeitig bis zu 4.000 Menschen vergast. Die Menschen gingen bekleidet und mit kleinen Päckchen in den Händen ins Krematorium hinein. Alle Sachen wurden ihnen auf der Rampe abgenommen, wo die Menschentransporte entladen wurden. Im Entkleidungsraum gab es Nummern, die Menschen zogen sich aus, hingen ihre Sachen auf und gingen durch die Tür den Flur entlang in die Gaskammer. Dort war eine Einrichtung wie in Duschräumen, d. h., oben gab es Brauseköpfe. Wenn die Gaskammer mit Menschen gefüllt war, wurde die Tür hermetisch verriegelt und alle Menschen wurden mit Gas ermordet. Das Gas wurde durch die vier Luken eingeworfen, die es in der Decke gab. Die Menschen starben binnen 20–30 Minuten und danach verbrannten wir sie. In der Gaskammer gab es zwei Lüftungen: eine Abzugs- und eine Gebläselüftung. Nach der Entlüftung entnahmen wir die Menschen zur Verbrennung. Wir gingen mit Gasmasken in die Gaskammer hinein. Die Menschen sahen nach der Vergasung unterschiedlich aus, d. h. in verschiedenen verkrampften Stellungen, mit verzerrten Gesichtern, Mütter mit Kindern, die ineinander gekrallt waren usw. Das Zyklon-Gas verbreitete sich in der Kammer durch Netzkolonnen, die als rechteckige Schächte mit doppelten netzartigen Wänden ausgelegt waren. In diesem Krematorium gab es fünf Triumph­ öfen707. In jede Muffel wurden 4–5 Leichen geladen. Die Leichen fielen binnen 20–25 Minuten zusammen. Dieses Krematorium war von März 1943 bis Oktober 1944 in Betrieb, d. h. ein Jahr und acht ­Monate. Nach der Vergasung der Menschen wurden sie mit einem speziellen Aufzug in einen anderen Raum befördert, einen Raum im zweiten Stockwerk, dort wurden den Menschen die goldenen Ohrringe, Uhren, Ringe abgenommen, die Goldzähne gezogen, das alles wurde in spezielle Truhen hineingelegt, während die Menschen auf Einschubwagen zu den Öfen gefahren, darin gestapelt und verbrannt wurden. Bei den Frauen wurden vor dem Verladen die Haare abgeschnitten und in speziellen Depots

707 So im Text. Gemeint sind die Öfen der Firma Topf & Söhne, Erfurt („Topföfen“).

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4. Erste Aussagen der Mitglieder des Sonderkommandos

gesammelt. Wenn die Menschen in den Raum hineingingen, wo sich der Entkleidungsraum befand, wo sich viele SS-Leute aufhielten mit Hunden und Schlagstöcken, die sie, falls sich jemand widersetzte und in die Gaskammer nicht hineingehen wollte, mit Hunden hetzten, mit Knüppeln schlugen und mit Wasser übergossen. Insgesamt arbeiteten im Krematorium im sogenannten Sonderkommando bis zu 70 Menschen. Von den SS-Männern, die uns bewachten und die Ordnung wahrten, gab es bis sieben Menschen. Im Krematorium gab es vier Ärzte, auch Gefangene, sie öffneten die Leichen der Verstorbenen usw., aber nicht die der Vergasten, und führten irgendein Verzeichnis. Alle Arbeiter des Sonderkommandos lebten im Lager, im Block Nr. 2. Wenn es Menschentransporte gab, arbeiteten die Krematorien rund um die Uhr. Menschen wurden ohne Unterbrechung zu Tausenden vernichtet. Pro Tag wurden im Schnitt bis zu 3.000 Menschen vernichtet. Im Frühling 1943 wurden drei weitere Krematorien gebaut, wo Menschen ebenso mittels Vergasung und Verbrennung vernichtet wurden. In der Nähe des Krematoriums Nr. 2 nahm das Krematorium Nr. 3 die Arbeit auf, es war vom Typ her genauso wie die Nr. 2 und hatte die gleiche Kapazität. Es folgten die Krematorien Nr. 4 und 5, sie waren anderer Bauart. In jedem Krematorium gab es einen Ofen mit acht Muffeln. In eine Muffel wurden 4–5 Menschen geladen. Die Verbrennungsdauer betrug 35 Minuten. Pro Tag verbrannte ein Ofen bis 1200–1500 Menschen. Sehr viele Menschen wurden im Sommer 1944 verbrannt, vier Krematorien und vier große Scheiterhaufen waren in Betrieb, vernichtet wurden französische Aufständische und Ungarn. Ich arbeitete die ganze Zeit im Sonderkommando, ich musste in allen Krematorien und an den Scheiterhaufen arbeiten, deshalb weiß ich alles sehr genau. In allen Krematorien waren Gasgeneratoren eingebaut, die mit Koks betrieben wurden. FRAGE: Wie waren die Gaskammern an den Krematorien Nr. 4 und 5 aufgebaut und wie vergifteten die Deutschen dort die Menschen? ANTWORT: An den Krematorien Nr. 4 und 5 gab es einen Anbau von circa 20 Metern Länge. Im Inneren war der Anbau in drei Bereiche aufgeteilt, jeder davon war eine Gaskammer. Zum Einwurf von „ZYKLON“ waren in den Wänden der Kammer in circa zwei Metern Höhe vergitterte Luken mit hermetisch verschließbaren Deckeln eingebaut. In jeder Gaskammer gab es je zwei hermetisch verschließbare Türen. An die Gaskammern war über einen Flur der Entkleidungsraum angeschlossen, der in seiner Fläche der Größe aller drei Gaskammern zusammen entsprach. Je nach Anzahl eingetroffener Menschen vergifteten die Deutschen sie gleichzeitig in einer, zwei oder drei Kammern. Der Vorgang der Vergiftung lief ähnlich ab, wie es die Faschisten in den Gaskammern der Krematorien Nr. 2 und 3 taten. Der Unterschied bestand darin, dass das „ZYKLON“ von dem SS-Mann durch die oben beschriebene Luke eingeworfen wurde, die in die Wand und nicht in das Dach eingelassen war, wie in den Krematorien Nr. 2 und 3. Außerdem gab es in den Gaskammern der Krematorien Nr. 4 und 5 keine Lüftung, weshalb die Kammern durch Öffnen von Türen und Luken gelüftet wurden. Die Leichen wurden nach der Vergasung in zwei Richtungen entfernt: Sie wurden entweder im Entkleidungsraum gestapelt oder (wie es einige Zeit lang im Krematorium Nr. 5 gemacht wurde) durch die Außentür in den Hof des Krematoriums entfernt, wo sie auf Scheiterhaufen verbrannt wurden. Wenn der Entkleidungsraum mit Leichen befüllt war und dabei eine neue Gruppe von Menschen im Krematorium eintraf, wurden sie im Hof entkleidet und dann auf herkömmliche Weise in die Gaskammern geschickt. FRAGE: Wann ging das Krematorium Nr. 1 außer Betrieb? ANTWORT: Die Deutschen schlossen das Krematorium Nr. 1 im März 1943, sie hörten auf, dort Menschen zu verbrennen. FRAGE: Wie lange war jedes der Krematorien Nr. 3, 4 und 5 in Betrieb? ANTWORT: Das Krematorium Nr. 3 war im April 1943 in Betrieb genommen worden und wurde bis Oktober 1944 betrieben. Im November fingen die Deutschen mit dessen Abbau an – warum, weiß ich nicht. Das Krematorium Nr. 4 war Ende März 1943 gestartet worden und wurde bis einschließlich ­August 1944 betrieben. Anfang Oktober verbrannte es teilweise, im Oktober 1944 begann auch der

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­ bbruch, vielleicht aber auch im November 1944, genau weiß ich es nicht mehr. Das Krematorium Nr. 5 A war im Mai 1943 gestartet worden und war bis 20. Januar 1945 in Betrieb. FRAGE: Wie viel Personal, Arbeiter aus dem Sonderkommando, gab es im Krematorium? Wie war die Arbeit zwischen ihnen aufgeteilt, wie viele Schichten gab es? ANTWORT: In jedem Krematorium Nr. 2 und 3 arbeiteten in einer Schicht normalerweise bis zu 60 Arbeiter, Gefangene aus dem Lager, die dem Sonderkommando angehörten. Eine Schicht arbeitete 12 Stunden. Pro Tag gab es zwei Schichten. Diese 60 Arbeiter in den Krematorien Nr. 2–3 wurden wie folgt für die Arbeiten eingeteilt: Die Befragung wird bis zum nächsten Tag unterbrochen. Das Protokoll ist meiner Aussage entsprechend korrekt niedergeschrieben und mir vorgelesen worden. Unterschrift. Es befragte: Adjutant des Militärermittlers der 1. Ukrainischen Front, Major der Justiz ­PACHOMOW. FORTSETZUNG DER AUSSAGE von TAUBER HENRYK ABRAHAM der, über die möglichen Folgen einer Falschaussage aufgeklärt, am 28. Februar 1945 ZU PROTOKOLL GAB: FRAGE: Wann hörten die Deutschen auf, in Birkenau in allen Krematorien die Menschen in den Gaskammern zu vergasen? ANTWORT: Ende Oktober 1944. Im Krematorium Nr. 5 wurden die Menschen bis 20 Januar 1945 verbrannt. Hier wurden die von den Deutschen zu Tode gequälten und erschossenen Menschen verbrannt. FRAGE: Wie viele Arbeiter gab es im Krematorium, wie wurden sie nach Berufen aufgeteilt, in wie vielen Schichten arbeiteten sie im Krematorium? ANTWORT: In jedem Krematorium Nr. 2 und 3 arbeiteten in einer Schicht normalerweise bis zu 60 Menschen, Lagergefangene, die dem sogenannten Sonderkommando (ein Spezialkommando) angehörten. Eine Schicht arbeitete zwölf Stunden lang. Pro Tag arbeiteten zwei Schichten. Diese 60 Menschen in den Krematorien Nr. 2 und 3 wurden wie folgt nach Berufen eingeteilt: 1. Einsammeln der Kleidung, die im Entkleidungsraum geblieben war, Verladen der Kleidung auf Lastwagen, Reinigung der Räume: 15 Personen 2. Ausladen der Leichen aus der Kammer und deren Heranschleppen an den Aufzug: 15 Personen 3. Verladen in den Aufzug: 2 Personen 4. Friseure (Abschneiden der Frauenhaare): 4 Personen 5. Zahnärzte (Ziehen der Goldzähne bei den Leichen): 2 Personen 6. Zur Bedienung der Generatoren: 2 Personen 7. Zur Bedienung des Leichenaufzugs: 2 Personen 8. Entnahme der Leichen aus dem Aufzug: 2 Personen 9. Heranschleppen der Leichen an die Muffel: 2 Personen 10. Beladung der Muffeln: zwei Gruppen je 5 Personen – 10 Personen 11. Aufsichtshelfer: 4 Personen 60 Personen In den Krematorien Nr. 4 und 5 arbeiteten je 30 Menschen pro Schicht. Auf alle vier Krematorien kamen außerdem drei Goldmeister, die die Goldzähne, die den Leichen gezogen wurden, einschmolzen.

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4. Erste Aussagen der Mitglieder des Sonderkommandos

FRAGE: Wie viele Menschen gab es im Sonderkommando insgesamt für alle Krematorien zu unterschiedlichen Zeiten im Jahr 1943? ANTWORT: Von März–April 1943 gab es im Sonderkommando 400 Menschen, sie wurden folgendermaßen auf die Krematorien verteilt: In den Krematorien 2 und 3 arbeiteten 240 Menschen. In den Krematorien Nr. 4 und 5 arbeiteten 120 Menschen. Krank und bei anderen Arbeiten eingesetzt waren 40 Menschen. Die Besetzung des Sonderkommandos änderte sich ständig, weil die Deutschen einen Teil der Arbeiter systematisch vernichteten, vor allem durch Verbrennung und Ersatz durch Neue. Seit Mai 1944 wurde die Zahl der Arbeiter durch die Deutschen auf tausend Mann erhöht, weil man ab diesem Zeitpunkt anfing, am Krematorium Nr. 5 die Leichen auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen. Die gesonderte Gaskammer Nr. 2 wurde wiederaufgebaut und in Betrieb genommen samt den dazugehörigen Kammern. Die tausend Mann des Sonderkommandos wurden seit Mai wie folgt für die Arbeiten eingeteilt: Krematorium Nr. 2 – 120 Personen (60 pro Schicht). Krematorium Nr. 3 – 120 Personen. 60 Personen im Krematorium Nr. 4. 300 Personen im Krematorium Nr. 5, die gesonderte Gaskammer Nr. 2 und die dazugehörigen Scheiterhaufen – 300 Personen. FRAGE: Außer den genannten Krematorien und Scheiterhaufen – setzten die Deutschen irgendwelche anderen Methoden zur Menschenvernichtung ein? ANTWORT: In Birkenau hatten die Deutschen außer den Krematorien noch gesonderte Gaskammern Nr. 1 und 2 mit dazugehörigen Scheiterhaufen eingerichtet, wo Menschen vernichtet wurden. Ich weiß nicht, wann sie in Betrieb genommen wurden, aber ich weiß, dass die Deutschen im April 1943 aufhörten, darin Menschen zu töten. Von Mai 1944 bis einschließlich Oktober 1944 wurden die Gaskammer Nr. 2 samt den Scheiter­ haufen sowie die Scheiterhaufen am Krematorium Nr. 4 sehr intensiv betrieben. FRAGE: Wie viele Stunden pro Tag waren die Krematorien und die Scheiterhaufen in Betrieb? ANTWORT: Die Krematorien Nr. 2, 3, 4 und 5 samt den Scheiterhaufen für die Verbrennung der Leichen waren rund um die Uhr in Betrieb. Im Krematorium Nr. 2 und 3 erfolgte die Einäscherung der Leichen rund um die Uhr, ausgenommen die Pausen zum Reinigen von Schlacken, also mindestens 21 Stunden. FRAGE: Auf welche Weise vernichteten die Deutschen die Sonderkommandos oder wurden sie nicht vernichtet? ANTWORT: Den beträchtlichen Teil der Soko-Mitglieder vernichteten die Deutschen durch Verbrennung in den Krematorien, durch Totschlagen und oder sie wurden mit Hunden gehetzt. Manchmal wurden mit einem Mal mehrere Hundert Menschen ausselektiert und vergiftet. Im August 1944 vernichteten die Deutschen bis zu 200 Menschen gleichzeitig. Sie alle wurden in Auschwitz Nr. 1 getötet, in der Desinfektionskammer. Die Getöteten ersetzten die Deutschen durch andere. Mir ist ein Fall bekannt, als aus dem Sonderkommando 200 Mann ausselektiert und in Lublin ­(Majdanek) verbrannt wurden. Ich konnte mich retten, weil ich während der Evakuierung aus dem Transport geflohen bin. Weiter habe ich nichts mitzuteilen. Das Protokoll ist korrekt niedergeschrieben und von mir gelesen worden. Adjutant des Militärermittlers der 1. Ukrainischen Front, Major der Justiz PACHOMOW. Ich, Henryk Abraham TAUBER, gebe zusätzlich zu Protokoll: Die Scheiterhaufen zur Verbrennung der Leichen wurden in Gruben angelegt, auf deren Grund entlang ein Kanal zur Luftversorgung verlief. Von diesem Kanal führte eine Abzweigung zu einer 2 x 2 Meter großen und vier Meter tiefen Grube. Bei der Verbrennung der Leichen floss Fett in diese Gruben ab. Mit diesem Fett wurden die Leichen auf dem Scheiterhaufen begossen, damit sie besser brannten.

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Zuerst wurden Holzscheite in die Grube gelegt, darauf wurden bis zu 400 Leichen, mit Reisig untermischt, aufgeschichtet, mit Benzin übergossen und angezündet. Dann erst wurden andere Leichen aus den Gaskammern hineingeworfen und von Zeit zu Zeit mit Fett begossen. Auf einem Scheiterhaufen brannten die Leichen circa zwei Tage lang. Wenn die Deutschen besonders viele Menschen vergasten, die auf einem Scheiterhaufen nicht verbrannt werden konnten, zwangen sie uns zusätzliche Scheiterhaufen anzulegen. Ich habe weiter nichts mitzuteilen, das Protokoll ist meiner Aussage entsprechend korrekt niedergeschrieben und mir vorgelesen worden. Unterschrift. Die Befragung fand mittels der Dolmetscherin SAMSONOWA statt: Unterschrift Adjutant des Militärermittlers der 1. Ukrainischen Front, Major der Justiz PACHOMOW. Korrekt: Adjutant des Militärermittlers der 1. Ukrainischen Front, Major der Justiz PACHOMOW. Ich habe weiter nichts mitzuteilen, das Protokoll ist meiner Aussage entsprechend korrekt nieder­ geschrieben und mir vorgelesen worden, was ich mit meiner Unterschrift bestätige. Unterschrift. Die Befragung fand im Beisein des Dolmetschers, ehemaligen Gefangenen des Lagers Oświęcim, Doktor STEINBERG, statt, der über die rechtlichen Folgen einer unwahren Verdolmetschung unterrichtet wurde. Die Verdolmetschung erfolgte aus dem Polnischen ins Russische. Dolmetscher: Unterschrift Es befragte: Militärermittler Gardehauptmann der Justiz LEWIN Korrekt: Militärermittler Gardehauptmann der Justiz LEWIN GARF, Bt. R-7021, Fb. 108, Nr. 8, Bl. 28–39.

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Karten

Karten

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Karten

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Karten

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10

1 2 3 4 5 6 7 8 9 Appellplatz des Sonderkommandos

Knochenstampfplatz

Gaskammer

Ofenhalle

Koffer-Müllhalde

Müllverbrennungsraum

Eingangstor

Zugangsstraße

Auskleidehalle

Eingang

6

5

10 KL AUSCHWITZ-BIRKENAU KREMATORIUM III (1944)

4

3

2

7

9

SG? LL? HS?

(W.C.)

IIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIII

© Andreas Kilian 2019

8

SL2

SL1

MN

IIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIII

Brunnen

Müllverbrennungsgrube Brenn-, Müllgrube, Zahnabfall Mutmaßliche Grabungsstelle Asche-Grube Stacheldrahtzaun Sichtblende aus Holzscheiten Wachturm geschlossen Wachturm (Hochstand) Mutmaßliche Fundstelle Bäume Entwässerungsgraben

MN: Marcel Nadjary, 1980 SL: Salmen Lewenthal, 1961, 1962 SG: Salmen Gradowski, 1945 (2x) LL: Lejb Langfus, 1945, 1952 HS: Herman Strasfogel, 1945

IIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIII

IIIIIIIIIIIIIIIIIIIII

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IIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIII

IIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIII

IIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIiiIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIII

Legende:

IIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIII

Mutmaßliche Fundstellen der Sonderkommando-Manuskripte auf dem Gelände von Krematorium III:

0m

10

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Abkürzungen

Abkürzungen APMA-В – Archiwum Państwowego Muzeum Auschwitz-Birkenau w Oświęcimiu: Archiv des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau, Oświęcim APMM – Archiwum Państwowego Muzeum na Majdanku, Lublin: Archiv des Staatlichen Museums in Majdanek, Lublin BBC – British Broadcasting Corporation Dulag – Durchgangslager GARF – Gosudarstwennyj archiw Rossijskoj Federazii: Staatsarchiv der Russischen Föderation, Moskau Gestapo – Geheime Staatspolizei GUPWI – Glawnoje uprawlenije po delam wojennoplennych i internirowannych: Hauptamt für die Angelegenheiten der Kriegsgefangenen und Internierten des NKWD der UdSSR HvA – „Hefte von Auschwitz“ im Verlag des Staatlichen Auschwitz-Museums („Zeszyty Oświęcimskie“) IfZ – Institut für Zeitgeschichte, München IPN – Instytut Pamięci Narodowej, Warszawa: Institut für nationales Gedenken, Warschau Kapo – Kameradschaftspolizei KL – Konzentrationslager NKWD – Narkomat wnutrennih del SSSR – Volkskommissariat des Innern der UdSSR, Moskau RGASPI – Rossijskij gosudarstwennyj archiv sozialno-polititscheskoj istorii: Russisches Staatsarchiv für sozialpolitische Geschichte, Moskau RGWA – Rossijskij gosudarstwennyj wojennyj archiv: Russisches staatliches Militärarchiv, Moskau RSHA – Reichssicherheitshauptamt SD – Sicherheitsdienst der SS SMERSch – Smert Schpionam: Tod den Spionen, militärischer Abschirmdienst der Roten Armee Soko – Sonderkommando SS – Schutzstaffel der NSDAP Stalag – Stammlager TASS – Telegrafnoje agentstwo Sowetskogo Sojusa: Telegrafagentur der Sowjetunion (Nachrichtenagentur) TschGK – Tschreswytschajnaja gosudarstwennaja komissija pri Sownarkome SSSR po ustanowleniju i rassledowaniju slodejanij nemezko-faschistskich sachwattschikow i ich soobschtschnikow i pritschinennogo imi uschtscherba: Außerordentliche Staatskommission beim Sowjetvolkskomitee der UdSSR zur Feststellung und Untersuchung der

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Verbrechen der deutsch-faschistischen Besatzer und ihrer Mittäter sowie der von ihnen angerichteten Schäden, Moskau WASKhNIL – Wsesojuznaja Akademija sel’skokhosajstvennyh nauk – Allunions Akademie der Agrarwissenschaften, Moskau WMM – Wojenno-medizinskij musej Ministerstwa oborony: Wehrmedizinisches Museum des Verteidigungsministeriums, Sankt Petersburg Yad Vashem – Gedenkstätte der Märtyrer und Helden des Staates Israel im Holocaust, Jerusalem YIVO – Yidishe visnshaftlekhe organizacie (später unbenannt in Yidisher visnshaftlekher institut (Jüdisches Forschungsinstitut), Vilnius – New York YVA – Yad Vashem Archive, Jerusalem ZAMO – Zentralnyj archiv Ministerswa oborony: Zentralarchiv des Verteidigungsministeriums der Russischen Föderation, Podolsk ŻIH – Żydowski Instytut Historyczny, Warszawa: Jüdisches Historisches Institut, Warschau

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Literaturverzeichnis

Literaturverzeichnis Von Pavel Polian und Andreas Kilian

Die Textausgaben der Mitglieder des Sonderkommandos in verschiedenen Sprachen sind im Anhang 2 aufgeführt und teilweise annotiert worden. Abkowitsch I. Nr. 77722, Pepel Oswenzima [Die Asche von Auschwitz], in: Zuckermann S. (Hrsg.) Poslednije swideteli [Die letzten Zeugen]. Moskau 2002. S. 10–22. Adamuschko W. I. Lagerja sowetskich wojennoplennych w Belarusi 1941–1944. Sprawotschnik [Lager für die sowjetische Kriegsgefangenen in Wießrussland. 1941-1944. Ein Nachschlagewerk]. Minsk 2004. Adler H. G. Theresienstadt 1941–1945. Göttingen 2005. Altman I., Teruschkin L. (Hrsg.) Sochrani moi pis’ma … Sbornik pissem i dnewnikow ­jewrejew perioda Welikoj Otetschestwennoj wojny [Bitte bewahre meine Briefe… Eine Sammlung der jüdischen Briefen und Tagebücher aus der Zeit des Großen Vaterländischen Krieges]. Moskau 2007. Altmann I. (Hrsg.) Cholokost na territorii SSSR. Enziklopedija [Der Holocaust auf dem Territorium der UdSSR. Eine Enzyklopädie]. Moskau 2009. Ampatzopoulou F. Το χειρόγραφο του Μαρσέλ Νατζαρή και οι “κύλινδροι του Άουσβιτς” [Die Handschriften von Marcel Nadjari und die „Rollen von Auschwitz“], in: Μσρσέλ Νστζαρή [Nadjary M.], Χειρόγραφα 1944-1947 - Από τη Θεσσαλονίκη στο Ζόντερκομάντο του Άουσβιτς [Manuskripte 1944–1947 – Von Thessaloniki in das Sonderkommando von Auschwitz], Athen 2018. S. 129–160. Arendt H. Eichmann in Jerusalem. Von der Banalität des Bösen. München, Berlin, Zürich 14 2017. August J. Der Transport von 575 Häftlingen des KL Auschwitz nach Sonnenstein (28. Juli 1941). Rekonstruktion einer vernichteten Transportliste, in: HvA 24 (2009). S. 125–190. Demant E. (Hrsg.) Auschwitz – «Direkt von der Rampe weg …». Kaduk, Erber, Klehr. Drei Täter geben zu Protokoll. Reinbek bei Hamburg 1979. Wojakim I. (Hrsg.) Auschwitz-Prozeß 4 Ks 2/63 Frankfurt am Main. Köln 2004. Bartosik I., Martyniak L., Setkiewicz P. (Hrsg.). The beginnings of the extermination of Jews in KL Auschwitz in the light of the source materials. Oświęcim 2014. Bauer Y. Auschwitz. Der Mord an den Juden im Zweiten Weltkrieg. Stuttgart 1985. Baum B. Widerstand in Auschwitz. Bericht der internationalen antifaschistischen Lager­ leitung. Berlin 1962. Berachowicz-Kosowska Е. The Destruction of Lune-Wolie, in: Grodner Aplangen. 1948 Nr. 2. Im Internet: http://kehilalinks.jewishgen.org/lunna/Yevnin.html (abgerufen am 01.12.2018)

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