Aus meinen Tagen und Träumen: Memoiren, Aufzeichnungen, Briefe, Gespräche [Reprint 2018 ed.] 9783110829358, 9783110001051


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German Pages 204 [208] Year 1961

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Inhalt
ERINNERUNGEN AN KURT BREYSIG
AUS MEINEN TAGEN UND TRÄUMEN
BILDNISSE
MATERIAL FÜR GEPLANTE BILDNISSE
ENTSCHEIDENDE JAHRE
BRIEFE - GESPRÄCHE
ERDGEDANKEN
NACHBERICHT
ANHÄNGE
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Aus meinen Tagen und Träumen: Memoiren, Aufzeichnungen, Briefe, Gespräche [Reprint 2018 ed.]
 9783110829358, 9783110001051

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BREYSIG • AUS M E I N E N T A G E N U N D T R Ä U M E N

KURT BREYSIG

AUS MEINEN TAGEN UND TRÄUMEN M E M O I R E N , A U F Z E I C H N U N G E N , BRIEFE, G E S P R Ä C H E

A U S DEM N A C H L A S S H E R A U S G E G E B E N V O N GERTRUD BREYSIG U N D M I C H A E L L A N D M A N N

WALTER DE GRUYTER & CO. - BERLIN 1962 vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung • J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung Georg Reimer • Karl J. Trübner - Veit & Comp.

Archiv-Nr. 41 54 61 © 1962 by Walter de Gruyter & Co. • vormals G. J . Göschen'sche Verlagshandlung • J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung • Georg Reimer • Karl J . Trübner • Veit & Comp. Alle Rechte des Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe, der Obersetzung, der Herstellung von Photokopien und Mikrofilmen, auch auszugsweise, vorbehalten Printed in Germany Satz und Druck: Thormann £t Goetsch, Berlin-Neukölln

INHALT RUDOLF PANNWITZ: ERINNERUNGEN AN K U R T BREYSIG A u s MEINEN TAGEN UND TRÄUMEN Kindheit 3 — Freundschaft 5 — Schulzeit 8 — Universitätszeit 10 — Doktorarbeit, Doktorexamen 20 — A n f ä n g e selbständiger Forschung 23 — Das erste W e r k : die Finanzverwaltung 32 — Das Lehramt 36 — Unterrichts-Politik 38 — Kollegen 42 Bildnisse

VII 1

47

Gustav Schmoller 47 — H e r m a n Grimm 52 — Friedrich Nietzsche 57 — Stefan George 65 Material

für geplante

Bildnisse

74

Heinrich v. Treitsdike 74 — J a c o b Burckhardt 78 — Karl L a m p recht 82 ENTSCHEIDENDE JAHRE

89

BRIEFE • GESPRÄCHE 109 Briefwechsel mit H a n s Driesch 111 — Gespräche mit Werner Sombart 149 — Briefwechsel mit Niels Bohr 154 — Briefwechsel und Unterredungen mit M a x Planck 158 ERDGEDANKEN

163

NACHBERICHT

171

ANHÄNGE Kurt Breysigs Personenregister

Forschungen

und Vorlesungen

Teil

II (Bibliographie)

177 179 189

VII

Rudolf Pannwitz

E R I N N E R U N G E N AN KURT B R E Y S I G 1 In den letzten Jahrzehnten hatte ich oft an Kurt Breysig gedacht, den zu großem Unrecht Verdrängten. Dann bemerkte ich, daß er von neuem genannt wurde, und darauf erschien er wieder im Buchhandel. Ich will in meinen Erinnerungen mich auf die Zeiten beschränken, die ich mit ihm erlebt habe. Doch muß ich zuerst sagen, welche Bedeutung ich seinem Werk beilege. E r ist Universalhistoriker, als solcher nicht nur zuhause auf vielen und vielerlei Feldern, sondern mit Leidenschaft bis zur Verlorenheit ihnen zugewandt. Burckhardt, Nitzsch, Schmoller — um nur diese zu nennen — haben ihn in Hauptsachen näher bestimmt. Dazu die Völkerkunde, die Gesellschaftslehre, die Mythenforschung: Frazer. Ferner, auf eigenste Weise, die Kunst: Antike, Gotik, Barock, die Neuen bis zur engeren Moderne: George, Lechter, Nolde. Die Naturwissenschaft blieb nicht aus, die Biologie spielte eine entscheidende Rolle: Driesch. Ein Gebiet der Einzelarbeit war die preußische Geschichte. Ein Versuch, in die Entwicklung des deutschen Reiches vom Geiste aus einzugreifen, wurde in Verbindung mit Bethmann-Hollweg unternommen. Das Ziel war eine auf völliger Durchdringung ruhende Geschichte der Menschheit. Einige Bände, die Urzeit nicht überschreitend, sind fertig geworden. Es fehlte nicht an den stofflichen Vorbereitungen; die unüberwindlichen Hemmungen kamen vom Denken: aus dem Wesen und der Wirklichkeit des Historischen selbst eine Philosophie, Architektonik, Methodik zu gewinnen, die nicht übertragen, sondern ursprünglich wären. Bei den Büchern, die diesem dienten, ist außer dem Allgemeinen die Fülle des Besonderen, wie nebenher, meist beispielhaft gebracht, Unersetzliches. Die leitende Idee ist: die Überwindung des Chronologischen durch das Morphologische: ein Stufenbau. Der aber ist kein mechanisches Ordnungsprinzip, da er ja die chronologischen und geographischen Einheiten zerreißt, da doch das Durchlaufen derselben Stufen hier langsamer, da geschwinder geschieht, auch an der gleichen Stelle etwa Wirtschaft und Kunst zu verschiedenen Stufen ge-

Vili

Rudolf Pannwitz

hören können. Die immer feiner ausgegliederte und ausgeglichene Konstruktion näherte sich einem Organon, und der Bau von Stufen ging in einen solchen von Spiralbahnen über. Später noch drang das unbändige Verlangen nach Allumfassung und -vergeistigung vor bis zu der Vereinigung von Natur- und Menschheitsgeschichte in einem Gesamtbau. Beherrschend war ein persönlicher Lebenstrieb und Lebensglaube. 2 Ich habe Breysig zuerst auf dem Katheder gesehen und gehört, an der Berliner Universität, um die Jahrhundertwende, nur eine Stunde. Ich war noch nicht Student, mein zwei Jahre älterer Freund Ernst Wilhelm Hoffmann, später Philosophie-Professor in Heidelberg, nahm mich zu ihm mit, wie auch zu Simmel, damit ich einen Eindruck gewänne. Ich entsinne mich genau: ein kleines Auditorium, wenige auf den Bänken, er aufrecht stehend mit einem geisterhaften Ausdruck, ohne Manuskript, ja ohne Notizblatt, ruhig, von großem Abstand aus, aber mit Wärme und etwas feierlich sprechend. Erhandelte von den Verflechtungen der urzeitlichen Stämme und Bünde. Nach Jahren fragte er mich, warum ich mich damals nicht weiter um ihn gekümmert habe. Ich wußte ihm keine Antwort als die, daß, wovon er gehandelt, mir noch vollkommen fremd war und ich, trotz des großen Eindrucks, mich nicht heranwagte, da ich doch in ganz anderem webte und befangen war. Ich traf Breysig ein paar Jahre später an einem geselligen Abend bei Simmeis, kam aber nicht dazu, mit ihm zu sprechen, der heiter und unwichtig sich mit anderen unterhielt. Nach wieder einigen Jahren kam ich mit ihm zusammen durch einen Studenten, der mir ausführlich von Breysig, vor allem von seinem wenige Jahre vorher erschienenen, übrigens ganz kurzen Budi Der Stufen-Bau und die Gesetze der Welt-Geschichte sprach. Ich las es bald danach und weiterhin „Die Entstehung des Gottesgedankens und der Heilbringer" und lebte seitdem in anderen Horizonten. Unter der unmittelbaren Einwirkung des zweiten Buches dichtete idi Das Lied vom Elen. Ich suchte und fand bald eine Gelegenheit, mich an Breysig selbst zu wenden. Es waren zwei Dinge, derethalben ich ihm schrieb. Das eine war der Logos des Herakleitos, worüber idi soweit als möglich rückwärts Aufschluß erhoffte.- Das andere war eine eigene, ziemlich lange Arbeit über die Form des Sonetts. Er antwortete freundlich und gab meine Abhandlung an Max Dessoir weiter. Die persönliche Verbindung mit Breysig bestand nun.

Erinnerungen an K u r t Breysig

IX

3 Ich habe Breysig persönlich im nächsten Sommer in Tabarz kennengelernt, wohin er mich auf einige Tage einlud. Er war in der heitersten Stimmung. Was ich bei ihm nicht vermutet hatte, war die andere, meinem Eindruck in der Kollegstunde nicht entsprechende Seite: eine Art von behender Schwerfälligkeit in der Bewegung, ein umständlich genießender Humor bei den Zufälligkeiten des Kleinst-Alltäglichen, der unfehlbar an Jean Paul erinnern mußte, aber unmittelbar zu ihm selbst gehörte. Diese Behaglichkeit beeinträchtigte nicht das Wesen, welches das entscheidende war: das hohe Schreiten durch weite Bezirke, die gelassene Rede von fernen und fremden Herrlichkeiten, das ehrfürchtige Betrachten und Berühren der Heiligtümer, das seherische Deuten in riesige Zusammenhänge. Dazu kam das unerschöpfliche Wissen, der Sinn für das Eigentliche und das Erfassen des Wirklichen mit den persönlichen Lebenskräften. Er war ja kein Fachmann, obwohl ein Fachmann der Kultur von der Urzeit bis heute. Er hörte und fragte auch gern und, was sich vor allem späterhin zeigte, er liebte den sachlichen Wortstreit. Nicht, daß es ihn zur Produktion anregte — das war nicht nötig — ; es ermunterte ihn, belustigte ihn, machte ihm Freude. Sein innerstes Verhältnis zur Urzeit, zur Gotik, zur Kunst überhaupt, insbesondere zur bildenden Kunst und zu Stefan George, prägte sich mir tief ein in zahllosen Einzelzügen. Das meiste war mir neu, und jedes Besondere vertrat eine Provinz sich erschließender Welt. Gemeinsam von Anfang an war uns Nietzsche als Vorbereiter von Zukunft und der schöpferische Mensch als ihr Mittelpunkt. Seine Prägung „der starke Einzelne" und meine „Der Große Einzelne", die für uns zentrale Bedeutung hatten, konnten wir austauschen. Doch war auch Trennendes. Er hatte Druckbogen zu Georges Siebentem Ring dort. Ich hatte damals Widerstände gegen George. Er las mir, und las es schön, das herrliche Gedicht Der Verwunschene Garten. Doch genoß er, vor allem im Sprechen danach, mit allen Sinnen in einem midi Übermaß dünkenden Grade die Zartheit und ein Letztes darin, das, wie ich heute sagen würde, nicht das Letzte war, sondern dessen letzte Hülle, in der er, Breysig, haften blieb. Wundervoll waren unsere Gänge in den Wäldern, im Tale, am Bach. Wer in jenen friedlichen Zeiten solche erlebt hat, im reinen Einklänge mit menschlich-geistigem Dasein und seinen Begegnungen und Gemeinschaften, der hat, ein jeder von ihnen, seitdem Unwiederbringliches verloren. Es wurde alles, mehr und mehr, anders gefärbt, und auch was bestehen blieb, war nicht mehr, was es gewesen. In den folgenden Jahren waren die Briefe häufig und nicht kurz. Meine frühe Neigung, durch alte Städte zu wandern und ihre Bauten

X

Rudolf Pannwitz

anzuschaun und mir anzueignen, bekam unschätzbare Förderung. Wenn ich eine Wanderung oder Fahrt — es waren nur recht nahe — vor mir hatte, schrieb ich an Breysig, und er antwortete mit Hinweisen auf das zu Sehende. Audi er schrieb von seinen Reisen und dem Gesehenen. Das erste, worauf er midi dringend aufmerksam machte, war Thalbürgel. Paulinzella kannte ich wohl schon. Schloß Banz und Vierzehnheiligen liefen zusammen mit seiner Forschung über und Verehrung für Balthasar Neumann, womit er Künftiges vorwegnahm oder einleitete. Er ging auf das Monumentale und Archaische einesteils, auf das Kultivierteste und Verfeinertste andernteils, und überall war ihm die herrische Form, die Abhebung der Kunst als Kunst das Unumgängliche. Die Früh- und Spätblüten reizten ihn mehr als die Hochblüten, und gegen die Renaissance war er nahezu feindlich gesinnt. Lechters mystische Mythik und Noldes Seelenglut, bei beiden der höchst gesteigerte Ausdruck, entzückten ihn. Er zeigte mir als kostbaren Schatz den Kopf eines indischen Mönchs, von Lechter gemalt, und beklagte, daß er bei seinem geplanten Hause, der Kosten wegen, Lechter nicht um das Ausmalen der Kuppel bitten könnte. Wir fanden uns in der Wertung der romanischen Bauten und Reste. Seit ich den ersten Eindruck von ihnen empfangen, gaben sie mir fast ein Heimat-Gefühl. Mein Buch Die Formenkunde der Kirdie, 1912 erschienen, stammt aus jenen Erlebnissen und spricht viel von Breysig. 4 In den Jahren vor dem ersten Weltkrieg wohnte ich in Oberbayern. Von da aus kam ich ein paar Male nach Berlin und war bei der Gelegenheit mit Breysig zusammen, wohnte zweimal in Zehlendorf bei ihm. Das erste Mal war er, nach dem Scheitern seiner ersten Ehe, allein. Gleich als er midi abgeholt und wir im Walde gingen, sprach er davon und daß es nodi vieler Gunst des Schicksals für ihn bedürfe. Und er war sich bewußt, daß er, fast gemäß einer psychisdien Dialektik, ein Entgegengesetztes und davon das Extrem wollte. Bei allem — seinem Hause, seinem Geschmack, seinem Werke — war er in einem unhebbaren Bann und jagte ein zwar nicht un- noch überwirkliches, doch äußerst- und letztwirkliches Phantasma. Darum kam er so weit, aber darum verlor er sich auch bis in haftlose Zwänge. So daß er, der Verehrer von George, die expressiven und doch stumpfen Wortblöcke von August Stramm für das Erste hielt, was danach von neuer Form sich andeutete. Oder daß er sein großes, an allen Wänden mit Büchern erfülltes Arbeitszimmer vollständig violett streichen ließ, auch die Dielen, auch die Holzteile der Möbel. Dies und anderes ist nicht abzutun als Sensualismus, Ästhetizismus, Abgleiten und dergleichen (was

Erinnerungen an Kurt Breysig

XI

es natürlich auch ist) — es steht dahinter ein großer Traum, der bis an den Wahn reicht: an die fernsten, sich schon entrückenden Ränder zu gelangen. Was er eigentlich erstrebte, das war: die Bögen von dem Größten, Allergrößten bis zum Feinsten, Allerfeinsten hin zu spannen, und er hat sie gespannt, nur nicht ohne Buße. Zu seinem Werke hätte er anders nicht einmal den Mut gefunden, geschweige denn daß er es hätte in diesem Maße und in diesem Grade durchführen können. Die Tage mit ihm waren beide Male sehr angenehm und sehr ergiebig. Hauptsache war natürlich das Sprechen. Aber er las mir auch vor, dichterische Prosa von sich, und ich ihm Versdichtung von mir, deren Unfertigkeiten er sah, ohne mir raten zu können. Dagegen empfand er wie keiner seiner Generation meine Elementen-Dämonie und -Mythik. Mein Naturdenken war ihm ganz nah, und er riet mir dringend, mich um verwandtes Zeitgenössisches zu kümmern. Was meiner Dichtung damals zugrunde lag, dazu sagte er: „Sie wollen nicht Artefacte, sondern lebendige Kinder." Einmal bat er mich, nach Tische, ihm Goethes Laune des Verliebten vorzulesen. Das Essen war eine Feier, so wie er Feiern nach Sinn und Form sehr ernst nahm. Ein fünfarmiger Leuchter brannte mit Wachskerzen bei der Abendmahlzeit auf dem Tisch, und die Kost war von italienischer Küche. Es gehörte dazu, daß wirklich und mit Wissen, nicht nur Bewußtsein, genossen wurde. Der Kunstwille Breysigs durchdrang, ja durchzwang sein ganzes Leben. Und er baute Menschen und Dinge als Gestalten auf, im Gesprochenen wie im Geschriebenen. Auf den Wegen durch die Kiefernwälder und am Rand der Seen war viel auch von preußischer Geschichte die Rede. Breysig schwankte sehr lange, ob er des Geschichtswesens am besten habhaft würde, wenn er die Geschichte der Menschheit darstellte oder einen Zeitraum von zehn Jahren, diesen bis aufs letzte durchdringend und durchbildend. Er dachte da an den Ubergang unter Friedrich Wilhelm dem Vierten, der zu spät zur Regierung kam, da die Romantik gerade gestorben war, während sie ihn hätte tragen sollen und können. Er liebte ihn und las tief in seiner Seele. Er liebte den Pfingstberg in Potsdam, die Heilandkirche an der Havel: nur als phantastische Zauber- und Tagträume hingestellt. Er zitierte den König als hervorragenden Redner, so jene Anrede: „Meine Herrn von Köln!" Und wie er die Seele von Ludwig II. erfaßte! Und dann wieder breitete er einmal auf einem großen Tische ein von ihm gezeichnetes riesiges Blatt aus, das ausschaute wie die Genealogie eines Herrscherhauses — es waren Stammbäume innerhalb irgendeines Sektors der Kulturkreise der Geschichte der Menschheit, die unendlichen Verzweigungen und Verflechtungen des Aufbaus der Quer- und Längsschnitte und Spiralen des ausgegliederten Werdens.

XII

Rudolf Pannwitz

5 Breysig nahm an meiner Arbeit sehr teil, gab sich auch viele Mühe, Aufsätzen und Abhandlungen von mir zum Drucke zu helfen. Ich wiederum setzte mich für ihn ein. Ein besonderer Anlaß war das Erscheinen einer Folge von Artikeln von ihm im „ T a g " . Er schickte mir jede Nummer, und ich antwortete immer. Die Artikel wurden reichlich gelesen, auch angegriffen. Doch entgegnete er auf keinen Angriff, auch nicht indirekt. Das waren die Vorläufer seines Buches Von Gegenwart und von Zukunft des deutschen Menschen: er strebte, Geist, Volk und Staat zu einem vornehmeren, kernhafteren, geformteren Dasein zu führen. Er war nicht Nationalist, überhaupt nicht parteiverbunden, aber er hatte ein überhistorisch-aristokratisches Ideal und, als Welthistoriker, eine große Meinung von den vollbrachten Leistungen und noch unerschöpften Möglichkeiten des germanischen Stammes. Er sprach viel von George und erzählte von ihm, den er nicht selten sprach und mit dem er, selbstverständlich, über ihrer beider Hauptsachen sprach. Die Kunst, Antike und Gotik, Georges Kunst, Geschichte standen wohl voran. Doch war eine Schranke, und diese wirkte sich tragisch aus. Bei meinem zweiten Besuche in seinem Haus erzählte er mir, daß zu seinem tiefen Schmerze seine besten Schüler ihn verlassen hätten und zu George übergegangen wären. Es war jene Periode des George-Kreises, die eine heftige Abwehr gegen alle Wissenschaft brachte, ja die Wissenschaft gänzlich verurteilte. Nun waren ja Breysigs Schüler wissenschaftliche Historiker. Unanfechtbar ist, daß George ihnen geben konnte, was sie von Breysig nicht empfangen hatten; doch betraf das den feurigen Kern des Menschen und eine Gesamthaltung, die der einer Religion glich. Was Breysigs Wissenschaft als Wissenschaft gegenübergestellt wurde, das brauchte er freilich nicht für wesentlich zu nehmen. Dafür irrte er, wenn er Georges Maximin-Mysterium und George als Erzieher nicht für wesentlich nahm. Der Bruch aber war unvermeidlich. Heute, und wahrlich nicht erst heute, ist zu sagen, daß Breysig ein großer und gründender Historiker war; daß er im Geiste und in der Gesinnung mit George mehr gemeinsam hatte als dessen andere wissenschaftliche Freunde seiner Generation; daß bei ihrem Austausch beide gaben und nahmen. Georges große Gestalten und Gesichte des deutschen Mittelalters, vor allem im Siebenten Ring, stehen dicht zusammen mit dem, was in Breysigs Forschung sich äußert. Denke man weiter zurück: Breysig sprach bei Nietzsches Bestattung, er hatte die entscheidende Richtung von Nietzsche empfangen. George schrieb sein Gedicht „Schwergelbe wölken ziehen überm hügel" zu Nietzsches Tod und hieß ihn den Donnerer. Beide aber hatten auch viele Einwände

Erinnerungen an Kurt Breysig

XIII

gegen Nietzsches Lehren, und wer würde zu allem, was Nietzsche gesagt, ja sagen! Unvorstellbar aber, daß eine Auslese — und sie war damals nicht so klein — durch mehrere Generationen hin sich hätte erheben und erhalten können, wäre Nietzsche nicht gewesen. Es handelt sich da gewiß um Rang überhaupt, doch dessen Unterschiede trennen nicht, so wenig wie die Zwiste. Zuletzt ist zu sagen: Breysig ist mit U n recht in den Schatten gestellt worden, und es soll ihm wieder das Licht, welches von ihm ausgegangen ist, gegönnt werden.

AUS M E I N E N T A G E N U N D T R Ä U M E N

Kindheit Daß meine allerfrüheste, jedoch nur unsicher verschwimmende Erinnerung noch vor das Jahr 1870 zurückreicht, entnehme ich daraus, daß mein Gedächtnis eine sehr frühe Wohnung, die erste, welche meine Eltern in Erfurt bezogen, aufbewahrt. Doch war es ein außerordentliches Ereignis, an das sich diese Erinnerung knüpft: ein Brand, den wir von unseren Fenstern aus sehen konnten; er muß ganz nahe von dem einen der ältesten Universitätsgebäude in der Mainzerhofstraße stattgefunden haben. Feuer, Hausbrand muß eine tief eindringende Macht ausüben auf Sinne und Seele. Dicht neben jenem ältesten Brand, den mein Gedächtnis aufbewahrt, steht in meiner Erinnerung ein anderer, zweiter, der mit unserer Wohnung in der Gartenstraße verknüpft ist. Dort war es eine Scheune, die gegenüber in der nur schmalen Straße brannte. Mein Vater, der, im Arm einen Stoß Bücher, die aus der Bibliothek des Gymnasiums stammten, sidi durch die dicht gedrängt stehende Menge von Zuschauern den Weg bahnen mußte, rief, um das zu bewirken, mit lauter Stimme: ,Königliches Eigentum!' Der Feind meiner frühen Kindheit war die Langeweile, die in der Zeit vor der Schule mich, wie es leidit einzelnen Kindern widerfährt, oft genug heimsuchte. Kindergärten gab es zu jener Zeit noch nicht, und so war ich denn ganz allein auf mich angewiesen. Besonders peinlich war mir, wenn ich ins Freie geschickt wurde, denn dort traf ich keinerlei Gesellschaft. Ich entsinne mich nicht, damals je andere Kinder gesprochen zu haben. Meine Erinnerung an den Garten hinter unserem Hause ist verknüpft mit vielen toten Stunden. Und es konnte mich wenig trösten, wenn vom benachbarten Schulgrundstück das helle Geschrei spielender Mädchen herüberschallte. Erträglicher war mir die Einsamkeit zu Hause; denn war ich auch dort, wo sich niemand um mich kümmerte, allein, so war doch das Spielzeug mein selten versagender Gefährte. In früheren, noch ganz kindlichen Zeiten war es eine Anzahl kleiner weißer Steindien, später dann ein sehr großer Baukasten. Je weniger der Phantasie vorgearbeitet ist, desto besser erfüllt ein Spielzeug seinen Zweck: ganze Eisenbahn-Netze baute ich, auf deren Schienen ich Züge rollen ließ, ohne daß doch für diese Zwecke anderes Material nötig gewesen wäre l*

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Aus meinen Tagen und Träumen

als Klötze von farblosem Holze. Es war ein stilles und dennoch sehr intensives Glück, was midi in solchen Stunden beseelte. Ganz selten nahm sich mein Vater meiner leeren Stunden an. Er liebte es, zu zaubern. Er nahm eine meiner Glaskugeln in die Hand, ließ sie mich sehen und praktizierte sie auf die Weise fort, daß er sie ganz geschwind, aber für mich unsichtbar, über die ganze Breite des Zimmers in ein gegenüberstehendes Sopha warf. Zu großer Bewunderung brachte er mich auch, wenn er ein glühendes Schwefelholz dergestalt in den Mund nahm, daß es ihm nicht die Zunge verletzte. Sein feuerfarbener Mund setzte mich in grenzenloses Erstaunen. Das Verhalten meines Vaters zu mir war, wie es seiner Art entsprach, von großer Milde. Es gab wohl ein kleines rotes Stöckdien, das an bestimmter Stelle lag; aber er hat es nie in Bewegung gesetzt. Die Sinnesweise meiner Mutter war entgegengesetzt: ihr Handgelenk war ungeheuer locker, die körperliche Strafe war ihr nebst unendlichem Schelten das handgerechteste Erziehungsmittel. Und da ich ein denkbar lenksames und gefügiges Kind war, so war, wie ich selbst heute bei reiferer Erkenntnis finde, dieser Erziehungsgrundsatz doppelt falsch. Die Folge war, daß ich meinem Vater mein Leben lang in anhänglicher Liebe ergeben blieb, an meiner Mutter aber schon sehr früh beständig Kritik übte, trotzdem sie eine überaus aufmerksame Wächterin über meinem leiblichen Wohl war und auch die Strafgewalt, die sie über mich übte, für ihre Pflicht halten mochte. Mir scheint, auch bei vollkommen sachlicher Erwägung, die Gefahr solcher Erziehungsweise darin zu bestehen, daß, der sie ausübt, jede Stimmungsschwankung an seinem Zögling ausläßt. Und wie häufig sind solche Verstimmungen nur körperlichen, nervösen Ursprungs, und dann fehlt ja in Wahrheit jeder Grund einer Strafe an dem, der erzogen werden soll. Zuletzt ist der Maßstab für jede Form von Erziehung der Erfolg. Und so werden die Verteidiger jeder Strenge für ihre Meinung geltend machen, daß das Durchsetzen einer bestimmten Wesensrichtung an dem zu Erziehenden für sie spricht. Unzweifelhaft war ich für diese Theorie ein schlechthin mustergültiger Beweis; denn ich war von so unbedingter Fügsamkeit, wie es diese Methode verlangt. Aber der Einwand läßt sich doch gegen sie geltend machen, daß ihr Ergebnis nur ein rekrutenmäßig zwangvoller Gehorsam war; ein freudiges Sich-Anpassen wäre doch wohl vorzuziehen gewesen. Die Schule, die ja in Wahrheit eine sehr tief einschneidende Revolution an dem Wesen des Kindes vollzieht, setzte, wie nach allem Dargelegten nicht Wunder nehmen kann, ihre Zwecke an mir bis zur Vollkommenheit durch: im Anfang war ich ein nicht nur erfolg-

Kindheit • Freundschaft

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reicher, sondern auch freudiger Schüler. Ich kann mir nicht als besondere Tugend anrechnen — das widerlegte die spätere Zeit —, daß ich in diesen ersten Schuljahren so fleißig war. Ich hatte in ihnen, namentlich in dem ersten Jahr, die Gewohnheit, daß ich von dem aufgegebenen Pensum die doppelte oder dreifache Menge erledigte, so daß ich etwa statt zwei Seiten einer Schreibaufgabe vier oder sechs abgab. Vielleicht geschah es deshalb, weil mir das Schreiben viel unterhaltsamer als der erzwungene Müßiggang meiner Freistunden war. Freundschaft Aber die Schule wirkt ja auf ihre Schüler nicht nur durch den Inhalt ihrer Lehrstunden, sondern durch die Kameraden ein, die sie ihnen zugesellt. Für mich als einziges Kind war dies von erhöhter Wichtigkeit, und dem entsprach es, daß ich mich an den Freund, den mir das Schicksal zuführte, mit einer ausschließlichen Neigung anschloß. Es war Hans, und von dem Tage an, der uns zusammenführte, habe ich sechs Jahre lang, bis seine Mutter ihn zuerst in das Kadettenkorps sandte, dann gar ihn nach Wiesbaden mit sich nahm, keinen anderen nahen Lebensgenossen gehabt. Es war doch wohl ein doppelseitiges Verhältnis. Ich habe nie darüber nachgedacht, wer von uns Beiden mehr zu seiner Festigung beitrug. Ich weiß nur, daß zwischen uns über die Gefühle, die uns bewegten, nie ein Wort gesprochen wurde. Doch nein, einmal ist es geschehen, und so schweigsam mein Freund war, ist es doch er gewesen, der dies einzige Mal sprach. Er erzählte mir von einem Onkel, daß er einen Lieblingsausdruck habe: ,obliqueus', und so würde er von mir sagen, ich wäre ein obliqueuser Junge. Aber so schweigsam wir in diesen Dingen waren, wir waren doch ganz fest zusammengeschmiedet. Wir versäumten keine Stunde, die wir hätten miteinander verbringen können. Selbst den Weg zur Schule und die Heimkehr legten wir gemeinsam zurück, und nie hat sich ein Dritter zu uns gesellt. Auf solchem Heimweg hat Hans mir in den Anfängen unserer Freundschaft einmal die Geschichte des trojanischen Krieges berichtet; er besaß die Gabe der freien Rede und konnte, auch vor Anderen, unbefangen eine Stunde lang erzählen. Oft streiften wir durch den Steigerwald, der nahe genug von Erfurt sich auf den Hügeln über der Stadt hinzieht. Zuweilen gingen wir auch mit dem alten General, Hansens Vater, der mit dem Steuerrat in einer Gartenwirtschaft am Steiger Domino spielte. Er stand in dem Ruf, der gröbste Oberst in der preußischen Armee gewesen zu sein; aber uns hat er diese Eigenschaft nicht spüren lassen.

6

A u s meinen T a g e n und T r ä u m e n

Die eigentlichen Feste unserer Freundschaft fanden sonntags statt, und zwar an jedem Sonntag. Hans, der Freund, und ich haben sechs Jahre hindurch — so lange es uns das Schicksal erlaubte — jeden Sonntagnachmittag jede Stunde zwischen Mittag und Schlafenszeit für uns bewahrt. Wir hätten wohl jedes andere Vergnügen eher aufgeopfert als unser gemeinsames Spiel. Vielleicht zweimal im Lauf dieser Zeit ist uns das Unheil zugestoßen, daß ein väterliches Verbot um eines schlimmen Vergehens willen diese in jeder Woche neu herbeigesehnte Freude strich. Die alte Frau Generalin, die Mutter des Freundes, schon in grauem H a a r und im Antlitz viele Altersfalten tragend, versuchte dann wohl eine Vermittlung; ich sehe sie noch aus dem Hinterfenster ihrer Wohnung hervorschauen, die dort an unser Haus stieß, und mit meiner Mutter verhandeln. Aber es gab keine Verzeihung; mein Vater blieb unerschütterlich und hatte sicherlich Recht: er war immer gerecht. Alle anderen Sonntage aber liefen wir eifrig über die Straße und brachten unser Werkzeug, das aus etwa zweitausend Bleisoldaten bestand, von der einen in die andere Wohnung. Denn der Standort der Schaubühne unserer Spiele wechselte jedes Mal. Zuletzt stieg unser Eifer so weit, daß wir die notwendigen Vorbereitungen schon am Vormittag ins Werk setzten. Früh lief derjenige von uns, der den Andern aufzusuchen hatte, eilends zu ihm, beladen mit einem Haufen von Schachteln und Schiffen. Dann begann der Aufbau. Auf einem sehr großen Tisch stellten wir jeder einige Hunderte von Bleisoldaten in wohlgeordneten Reihen in Paradestellung auf. Jeder von uns nahm auf einer Seite des Tisches ein Lager ein, eben das Paradefeld. Es hatte sich der Brauch herausgebildet, daß ich Soldaten in deutscher, Hans aber solche in französischer Uniform unter sich hatte. Die ordre de bataille entnahmen wir einer Kriegschronik, die ich besaß; die dünnen Bleiplättchen, die den kleinen Männern das Stehen ermöglichten, wurden mit den Namen der Führer beschrieben, meine Partei mit deutschen Namen, die von Hans mit französischen. Ein Kaiser hielt Hof bei jeder Partei. Sein Palast war ein aufgeklapptes Damebrett, mit Bauklötzen in Zimmer geteilt. Bei jedem der Herrscher gab es einen Botschafter und einen Minister des Auswärtigen. Das Charakteristische des ganzen Spiels war das militärische Gepräge. Aber ebenso bezeichnend war, daß wir nie Schlachten darstellten, sondern immer nur höchst zivile Ereignisse: diplomatische Verhandlungen, die bei weitem die bevorzugte Rolle spielten, Verschwörungen, Aufstände. In Wahrheit war es doch ein Theater, das wir uns gegenseitig vorspielten, bei dem sehr häufig einer von uns alle Aktionen bestritt, bei dem es aber auch an Schauspielen, an denen

Freundschaft

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wir beide teilnahmen, nicht fehlte. Andere Jungen in unserem Lebensalter pflegten Theater zu spielen; aber daran dachten wir nie. Soviel Theater, wie unser Spiel hergab, war uns genug. Und wirklich war es ja auch Schauspiel im vollen Sinne; ja, insofern wir nach Art der commedia dell'arte all unsere Szenen im Augenblick improvisierten, leisteten wir noch mehr; denn wir erdichteten doch auch freihändig, was sich auf unseren Bühnen zutrug. Es war ein Gemisch von kindlichem Spiel, Theater und dichterischem Phantasiegespinst, was uns da unter den Händen erwuchs. Und da wir sechs Jahre lang an jedem Sonntag sechs Stunden lang dieses Gaukelspiel uns vorspielten, so ist eher zu verwundern, daß uns nicht zuweilen der Faden unserer Handlung abriß; aber nie geschah etwas dergleichen. Unermüdlich blieb unsere Phantasie am Werke; nicht einmal die kürzeste Pause gönnten wir uns; und wir brachen höchst ungern unser Spiel ab, wenn die Stunde des Aufhörens gekommen war. Mich berührt doch — aus meinem heutigen Gesichtswinkel gemessen — das über unsere Jahre hinaus Reife, nicht mehr nur Kindliche, was sich in diesem Spiel aussprach. Im Grunde war es doch nicht eigentlich das Militärische, was das Spiel bedeutete: dies war nur die Hülle, das Gewand; der Kern aber war unser Interesse an der Politik. Vielleicht gab mein Freund das Gewand, das unser Spiel trug, her, und mein Anteil war das Übergewicht, das der Politik zufiel. Politik aber gab nur den Gegenstand des reinen Phantasiespiels ab, und was wir beide zu ihm hinzutaten, das war die Lust am freien, wenn man so will, dichterischen Tun. Denn mir ist nicht bewußt, daß wir uns für die Politik des Tages sehr interessiert hätten. Wir sprachen nie vom Reichstag oder den Parteien, wohl aber vom Krieg von 1870. Ja selbst die Vorbestimmtheit meines Wesens für meinen späteren Beruf regte sich schon. In den letzten Zeiten, in denen sich dies doch nur halb kindliche Tun abspielte, begann ich regelmäßige Aufzeichnungen niederzuschreiben. Es entstand auf diese Weise ein Tagebuch, das als Chronik den politisch-persönlichen Kern unseres Schauspiels festhalten sollte. Hans nahm an diesem seltsamen Beginnen nicht teil; kein Zweifel, so unreif diese Erzeugnisse sein mochten, sie waren doch wohl ein erstes Aufkeimen schriftstellerischer und im besonderen historischer Neigung. Wenn nun wirklich von den neun Musen die eine mir Gunst erweisen wollte: wann hat sie zuerst mir das Herz bewegt, daß ich es ihr zuwandte? Es war doch in diesem Spiel der Knabenzeit, ohne daß ich auch nur im leisesten mir bewußt wurde, was da mit mir geschah. Wie sollten auch die Samenkörner, aus denen die stärksten und be-

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Aus meinen Tagen und Träumen

ständigsten Halme aufschießen, nicht in die dunkelsten Bezirke des Wurzelreiches unserer Seele gesenkt werden! Aber nicht immer war unser Sinn auf so ernste Dinge gerichtet. Das Bild von Stunden umgaukelt midi, in denen wir ganz kindliche, ganz jungenhafte Dinge trieben. Ferien, Juliferien gab es, und herrliches Sommerwetter herrschte. Da haben wir, Hans und ich — auch wieder nur wir beide — jeden Vormittag draußen im Glacis, den gradlinigen, mit Rasen und Bäumen bepflanzten Vorwällen, die den eigentlichen Wällen und den ihnen vorgeschobenen Gräben parallel gingen, gespielt in Kinderspiel und Kinderseligkeit. Ganz wurde ich doch erst inne, wie wertvoll für mich diese Freundschaft war, als ihr durch Hans' Fortgang von Erfurt ein Ende bereitet wurde. Sein Vater starb. Seine Mutter beschloß, Hans in das Kadettencorps zu Lichterfelde zu schicken, und so konnten wir unsere Spiele nur in seinen Ferien fortsetzen. Bald aber sollte auch dieser Zwischenzustand sein Ende finden; die Frau Generalin übersiedelte nach Wiesbaden, und nun kam Hans gar nicht mehr nach Erfurt. Es blieb eine seelische Lücke an Stelle der schönen Stunden. Sie ist mir schwer genug geworden.

Schulzeit Im Interesse der Erwünschtheit eines tugendhaften Lebenswandels muß ich wohl beklagen, daß ich von meinem Fleiß, der doch zu Anfang meiner Schulzeit einen so guten Anlauf nahm, in den späteren Jahren nicht viel Rühmens machen kann. In den frühen Gymnasialjahren war ich noch einer von den Ersten; dann aber bewegte ich mich in der Gegend der mittleren Plätze, so etwa beim Zehnten. Im Ganzen befolgte ich bewußt den Grundsatz, daß ich durchaus nicht alle Kraft anspannte, sondern mit einem Minimum von Arbeit auszukommen trachtete. Ich habe in meinem ganzen Schulleben niemals .Repetieren' auf mich genommen, d. h. die Wiederholung schon übersetzter Lesestücke. Und selbst wenn es sich um Vor-Übersetzen handelte, hatten wir die schlechte Gewohnheit angenommen, Buch zu führen über die aufgerufenen Schüler, so daß wir sehr wohl berechnen konnten, wen das Los treffen würde. Ich fand es genügend, wenn ich mich in der Mitte der Klasse behauptete. Von Schulehrgeiz besaß ich keine Spur, und ich hätte es für Sünde gehalten, auch nur eine Stunde über das Mindestmaß hinaus bei den Büchern zu sitzen. Wenn ich rückblickend urteilen soll, ob dies wohlgetan war oder nicht, so kann ich nicht finden, daß ich ganz falsch gehandelt habe. Denn ich

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gewann dadurch Zeit, im Freien zu spielen oder zu lesen; die größere Weisheit war dabei doch wohl bei dem Jungen als bei dem Diktat der Aufgabenhefte der Lehrer. Von den Lehrern machte mir bei weitem den mächtigsten Eindruck der Herr Direktor, von dem ich doch mehr sagen muß. Er hieß Dietrich und wurde von den Schülern der Vatter genannt, aber niemals mit dem Beiklang eines Spitznamens. Er war ein riesiger Mann, breitschultrig und wohlbeleibt. Er trug einen großen schwarzgrauen Bart, und das mächtige Haupt verstärkte noch den Eindruck des Gebieterischen, den schon seine Gestalt machte. Einer rührenden Gewohnheit der Allerkleinsten, der Sextaner, muß ich gedenken. Der Direktor pflegte nach der täglichen Morgenandacht an der Tür der Aula Stellung zu nehmen, um die ganze Schülerschaft an sich Revue passieren zu lassen; wir Sextaner eröffneten diesen Zug, und einige von uns hatten das eingebürgerte Vorrecht, dem Herrn Direktor die H a n d geben zu dürfen, was wir denn auch tagtäglich ganz treuherzig taten. Ich fühle noch heute in der Erinnerung den sehr festen Druck seiner Hand. Die mächtige Gestalt dieses Mannes hat uns den allertiefsten moralischen Eindruck gemacht. Ich entsinne mich noch, wie ein Herr aus dem Ministerium unsere Anstalt inspizierte; ich empfand es als auffällig, daß dieser, wie selbstverständlich, vor dem Herrn Direktor den Zug des Lehrerkollegiums eröffnete, was mir, da er noch dazu ein kleiner, zierlicher Mann war, wie eine Ungehörigkeit vorkam. In meinen Augen hätte unser Herr Direktor in jedem Falle das Recht gehabt voran zu gehen. Und diese naive Vorstellung war in mir so fest eingewurzelt, daß ich, wenn ich mir die Person des lieben Gottes vorstellte, ihm unwillkürlich die Gestalt unseres Herrn Direktors lieh. Ich verehrte ihn wie die höchste Instanz auf Erden und muß rückblickend sagen, daß es ein Glück und ein Segen war, daß wir einen so ungewöhnlichen Mann zum Schulleiter hatten. Denn wenn ich die Einwirkung auf mich als Maßstab gelten lassen darf, so trugen wir die Ehrfurcht vor einem schlechthin mustergültigen Mann davon, das heißt nach dem Urteil Goethes den höchsten Gewinn, den man einem Menschen verdanken kann. Die Lehrer, denen wir unseren Nachwuchs in seiner frühen Jugend anvertrauen, haben vor den Hochschullehrern einen Vorzug, weil sie ihre Tätigkeit an ihm andauernder und insofern nachhaltiger ausüben. Zu ihrer Einwirkung ist durchaus nicht nur die bewußte, vom Willen und vom Wort getragene zu rechnen, nein, auch die geheime, dem Träger selbst meist unbewußte, die er durch seine Gestalt, seine

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Gebärde, seine Haltung auf die von ihm zu Unterrichtenden ausströmen läßt. Man prüfe sich doch: stehen nicht die Bilder unserer frühesten Lehrer selbst nach Jahrzehnten bis auf die nebensächlichsten ihrer Gesichtszüge, die unbedeutendsten ihrer gewohnten Bewegungen mit photographischer Treue uns vor Augen? Ein Junge, der von Königsberg nach E r f u r t kam, war der Meinung, daß die Königsberger Lehrer sich sehr viel freundlicher zu den Schülern verhalten hätten als die Erfurter. Aber wir kannten es nicht anders und befanden uns wohl dabei. Gestalten wie die des Direktor Dietricii können als mustergültige Vertreter ihres Standes gelten; Dietrich hat sich mir als Idealbild nicht nur eines Lehrers, nein auch eines reifen, starken Mannes, in das Gedächtnis eingeprägt. Ein solcher Eindruck ist nicht nur auf die J a h r e beschränkt, in denen er empfangen wurde, sondern er ist ein Besitz für alle J a h r e eines Lebens. Ich weiß wohl, daß kein ganz gutes Verhältnis zwischen G y m nasial" und Hochschullehrern herrscht; es besteht eine Art von Berufs-, von Standes-Eifersucht zwischen ihnen. Wenn eine gerechte Würdigung der Angehörigen des einen Lagers aus dem anderen laut wird, so darf sie vielleicht auf eine stärkere Wirkung rechnen. D a s wäre vor allem um deswillen erfreulich, weil auf Seiten des Universitätslehrers leicht verkannt wird, daß von dem Gymnasial- und Realschullehrerstand eine unablässige Anspannung der Willens- und Charakterkraft gefordert wird, die dem Universitätslehrer nur in Ausnahmefällen — wenn er ein Seminar leitet — und auch dann in geringerem Maße auferlegt wird.

Universitätszeit Mein Verhältnis zur Geschichte reicht weit zurück bis in meine letzten Schuljahre. Wohl dachte ich als Fünfzehnjähriger daran, Verwaltungsbeamter zu werden, eine Laufbahn, die mir durch die häufigen Reden meiner Mutter als anziehend geschildert worden w a r ; denn ihr Vater, der sein Leben lang als Regierungsrat an der Regierung zu Marienwerder beschäftigt gewesen war und den sie höchlich verehrte, schwebte ihr wie in anderen Dingen so audi in diesem als Vorbild für midi vor. Dieser Gedanke also stammte nicht von mir selbst; er war mir nur im Erbgang überkommen, und sobald ich zu eigenen Gedanken kam, wandte ich mich in meiner Berufswahl zur Geschichte. D a ß ich ein Mensch des Schauens werden müßte, darüber wurde ich mir zwar noch nidit in diesen Anfängen, aber dodi schon als Student klar. Ich traf diese Entscheidung in bewußtem Gegensatz

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zu allem handelnden Tun und war doch in ihr im Innersten ganz sicher. In meinem äußeren Verhalten war ein Zwiespalt in meinen ersten Universitätsjahren freilich nicht behoben. Ich wurde in der juristischen Fakultät eingeschrieben, ich hörte auch drei Semester lang ganz fleißig rechtswissenschaftliche Vorlesungen; aber meine Liebe blieb der Geschichte treu. Ich hörte im ersten Semester in Berlin Treitschke, und als ich dann nach Tübingen übersiedelte, war es für midi selbstverständlich, daß ich in das historische Seminar eintrat. Ich arbeitete in Kuglers Seminar mit dem größten Eifer. Er ließ midi praktisch ausgewählte Arbeiten anfertigen, die der von ihm damals bearbeiteten Chronik Alberts von Aachen entnommen waren; diese Chronik — dem Ersten Kreuzzug gewidmet — enthielt Stücke, die sich mit einem altfranzösischen Epos deckten, und diesen Sachverhalt ließ er mich untersuchen. Sehr viel weniger glücklich war das Thema, das er mir zu einer Dissertation vorschlug: ich sollte die Lebensgeschichte Gottfrieds von Bouillon vor dem Kreuzzuge behandeln. Ich konnte diesem Gegenstand nicht viel mehr abgewinnen, als die sämtlichen Bände der Monumenta Germaniae auf die Stellen hin durdizusehen, in denen des Gottfried von Bouillon Erwähnung geschah, und aus ihnen mühselig ein Elaborat zu destillieren, das denn auch trocken und langweilig genug ausgefallen sein mag. Als unterhaltsam ist mir nur ein Satz in Erinnerung geblieben, der den Abschied des Verräters Boemund von Tarent vom Kreuzfahrerheer mit den strafenden Worten schildert: ,cum maledictione Dei profectus est'. Die beiden Tübinger Semester waren erfüllt von dem inneren Kampf, in dem ich midi mit dem Zwiespalt Jurisprudenz oder Geschichte herumschlug. Ich war eigentlich mit ganzer Seele Historiker; aber da ich mit einer akademischen Laufbahn doch nicht als Gewißheit rechnen konnte, so glaubte ich, mir eine juristische Rückzugslinie sichern zu sollen. An sich wäre natürlich gewesen, für einen solchen Zweck die Möglichkeit, Oberlehrer zu werden, ins Auge zu fassen; aber daran hinderte mich meine tiefe Abneigung gegen jedes Schulamt, das mir ja in der Gestalt meines Vaters nahe genug vor Augen stand. Wunderlicherweise liefen meine Gedanken in dieser Zeit aber immer nur bis zu einem ersten Examen, nie zu den späteren, etwa richterlichen Stadien einer solchen Laufbahn. Sehe ich von einem späteren Standpunkt auf diese Wirrnisse zurück, so fällt mir auf, wie viel Unklarheit in Hinsicht auf die praktischen Erfordernisse des Lebens in mir herrschte. Und dabei habe ich hierbei noch gar nicht eines dritten Weges gedacht, den ich doch um diese Zeit allen Ernstes einschlagen wollte. Ich kam auf den auch

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praktisch fast unmöglichen Gedanken, meine Tübinger Arbeit zur Dissertation zu verwenden und reichte sie Kugler ein, der mir die Zustimmung der Fakultät zu einem verfrühten Termin des Doktorexamens erwirken wollte. Ich wollte zum Nebenfach Kunstgeschichte wählen und bereitete mich audi für sie vor. D a ich aber an ihr zu jener Zeit nur im äußerlichsten, im Daten-Sinn interessiert war, so war auch diese Vorbereitung mangelhaft genug. Was Köstlin, ein Aesthetiker im Hegeischen Sinn, mit mir in einer Prüfung angefangen haben würde, steht dahin. Aber zu meinem Glück kam es nicht dazu: die Tübinger Fakultät war verständig genug, mein Gesuch abzulehnen. Sie bestand darauf, mir kein Examen vor Zurücklegung des sechsten Semesters zu verstatten. Selbst in dem Fall, daß ich das geplante verfrühte Examen bestanden haben würde, wäre es mein Unglück gewesen; denn ich hätte mich dann um den normalen Verlauf einer Studienlaufbahn gebracht, der nur in einem echten und rechten Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler bestehen kann. Eine mittelmäßige Dissertation, ein mittelmäßiges Examen, das wäre eine sehr üble Eröffnung für jede Universitätslaufbahn gewesen. Daß ich überhaupt auf diesen Gedanken kam, kann ich mir nur als jugendliche Torheit anrechnen. Für ein Glück muß ich auch ansehen, daß ich innerlich nicht ernstlicher an die Jurisprudenz gefesselt war; der Streit zwischen den beiden Wissenschaften, der sich in meinem Inneren abspielte, war ein so ungleicher, daß er nie zu Ungunsten der Geschichte hätte ausgehen können. Wohl nahm ich an einer der juristischen Vorlesungen, die ich hörte, mit hohem Interesse teil: es war die über das System des römischen Privatrechts, gemeinhin Pandekten genannt. Ich hörte bei Hartmann und war höchst eingenommen von seiner Vortragsweise. Ich kann mich nicht entsinnen, ein Kolleg gehört zu haben, das mich durch seinen rein formalen Reiz dermaßen angezogen hätte, wie es mir hier geschah. Hartmanns Vortrag war von kristallener Klarheit; mir kam nicht selten der Gedanke, er sei von so durchsichtiger Leuchtkraft, von so unerbitterlicher Logik, daß er im Grunde hätte lateinisch gehalten werden sollen. Ich bin noch heut dem Zufall dankbar, der mich gerade diesem Juristen zuführte: er lehrte mich den geistigen Reiz kennen, den reine Systematik ausströmen kann. Ich darf mir das Zeugnis ausstellen, daß ich meine Zeit in diesen zwei Tübinger Semestern auf das Äußerste auskaufte. Am klügsten handelte ich wohl bei der Auswahl meiner historischen Lektüre: ich habe damals an dreißig Bände Ranke durchgelesen, aber auch noch vieles Andere. Ganz glücklich machte mich schon der meist tägliche

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Gang auf den Schloßberg zur Universitätsbibliothek. Über die beiden Burgbrücken, von denen man eine sehr weite Aussicht bis zum Hohenzollern und zum Hohenstaufen hatte, gelangte man in den Schloßhof. Noch klingt mir vertraut das Plätschern seines Brunnens im Ohr, und ganz glücklich war ich dann, wenn ich mir in dem Lesezimmer die großen Stöße von Büchern kommen ließ — meist gesammelte Werke, weil ich mich in den Besitz von ganzen Büchereien zu setzen trachtete. Mit der freundlichen Geduld, mit der uns auch Dienende das Leben angenehm machen können, fragte der alte Bibliotheksdiener: „Habens ausbraucht?" und trabte seines Weges daher, um mir rastlos einen neuen Stoß von Bänden zu holen. Im Vordergrund stand für mich Ranke: seine Spanisdie Monardiie, seine Französische, seine Englische Geschichte. Und ich verfuhr damit so, daß ich Kapitel für Kapitel durchlas, immer nur eines auf einmal; wenn ich ein Kapitel zu Ende gebradit hatte, sdirieb ich. aus dem Gedächtnis den Inhalt auf, etwa ein halbe Quartseite. Ich fand dies bewährt und habe fast anderthalb Quarthefte mit diesen Auszügen angefüllt. Ich war damals noch nicht imstande, den literarischen Wert dieser Werke voll zu ermessen; aber ich hatte doch soviel Forschungsinstinkt, daß ich ahnte, hier sei das Wertvollste von allem historischen Schrifttum geleistet. Und mein Geschmack an diesem silbernen Stil, dieser gänzlich abgewogenen, ruhevollen Schreibweise war doch schon so weit gewonnen, daß ich bei der Lektüre des damals gerade erschienenen vierten Bandes von Treitschkes Deutscher Geschichte empfand: zu laut, zu viel Meyerbeer-Fanfaren. Und dies, obwohl ich von Berlin mit meiner frischen Treitschke-Begeisterung gekommen war und obwohl das Werk Rankes, von dem ich eben herkam, bei weitem nicht das klassischste w a r ; es w a r das Budi über Hardenberg. Gewiß ist der Schaden, den Treitschkes Werk in meiner Wertung erlitt, nicht ganz richtig bemessen; aber sie ging doch nicht völlig fehl: der überlegene forscherliche und doch auch literarische Wert der Rankeschen Schriften machte sich insgeheim geltend. Schon in Tübingen hatte ich Berührungen rein geselliger Natur mit einigen Dozenten, dem Historiker Pflugk-Hartung und dem Sanskritforscher Geldner, die mich zu ihren gemeinsamen Spaziergängen zuzogen. An ihnen bemerkte ich zum erstenmal, daß schon damals, also in einer sehr frühen Zeit, im Bürgertum zuweilen sich eine äußerst radikale Feindschaft gegen Freisinn und Parlamentarismus regte. Sie sprachen in ihrem Jargon vom Reichstag als Plapperment und hatten für den damals herrschenden Liberalismus, gleichviel ob radikal oder gemäßigt, nichts als Worte der Verachtung. Was mir die Macht einer Persönlichkeit bedeutete, wurde ich ge-

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wahr, als ich eine ganz flüchtige Begegnung mit Erwin Rohde hatte. Idi war genötigt, zu ihm zu gehen um irgendwelcher Bücher willen, die er als Bibliotheksbände in überlangem Besitz hatte und die ich von ihm holen wollte. Eine erlesen schöne Frau öffnete mir die Tür. Es war lange, bevor ich seine Beziehung zu Nietzsche kennen lernte; aber ich war doch ergriffen von seinem edel strengen Gesicht. Ich hatte das Gefühl, als beträte ich die Höhle eines Löwen, so sehr unterschied er sich von dem Aussehen eines Durchschnittsgelehrten. Ich hatte einen unwiderstehlichen Drang, wieder nach Berlin zu kommen. Ich hatte das Gefühl, daß ich dort den Zweck meiner Studien am besten erreichen könnte, ohne doch recht genau zu wissen, welchen Weg idi einschlagen sollte. Der gute Geist meines Lebens hat mich hier doch richtig geführt. Wir hatten für das Studium der Geschichte an der Berliner Universität nur eine beschränkte Auswahl von Seminaren. Treitschke, durch sein Ohrenleiden verhindert — er war damals schon völlig taub —, hielt keine Übungen; Koser und Delbrück vertraten ihn als Extraordinarii. Koser war ein Mann von großer Tüchtigkeit, ein echter Märker, dessen Vorlesungen das Gepräge seiner Trockenheit trugen, dessen Seminar aber den Zweck einer gründlichen Schulung im Handwerk vollkommen erreichte. Ich belegte die Übungen von Beiden. Delbrück, der mit uns Tacitus las, war der durchaus Geistreichere; aber er behandelte das Thema, das er sich gesetzt hatte, sorglos genug. Von der Vorlesung, die er gleichzeitig hielt, Geschichte der Kriegskunst, hörte ich mit großem Nutzen; von seinem Seminar ist mir nur wenig geblieben. Koser gab jedem Mitglied seiner Übungen eine Arbeit, die er dann, wenn sie ihm abgegeben wurde, mit großer Sorgfalt zensierte, nachdem sie zuvor von einem anderen Seminarmitglied besprochen war. Wir lernten auf diese Weise das Handwerk unserer Wissenschaft aus dem Fundament. Ich setzte alle meine Kraft an die mir von Koser zugeteilten Aufgaben und gab bis zum Ende des Semesters zwei Arbeiten ab, was Koser zu der Bemerkung veranlaßte, das sei ohne Präzedenzfall. Die zweite, umfassendere Arbeit sollte die große Allianz behandeln, die nach 1688 sich gegen Frankreich bildete und bis gegen 1700 Europa in Atem hielt. Die Aufgaben dieser Art waren Vorarbeiten, die uns in der Behandlung des schon vorhandenen Schrifttums üben sollten, und ich fand diese Form so zweckmäßig, daß ich sie in meiner späteren Tätigkeit als Seminarleiter immer beibehalten habe. N u r war idi darauf bedacht, schon die Vorarbeiten so einzurichten, daß sich auf ihnen die späteren, endgültigen Aufgaben aufbauen konnten.

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Meine Beschäftigung in dem Koserschen Seminar fand ihren Abschluß in einer für Kosers vornehme Haltung höchst bezeichnenden Art. Als ich mich bei ihm noch für ein drittes Semester meldete, sagte er: „Bei mir können Sie jetzt nichts mehr lernen; ich empfehle Ihnen, in das Seminar von Professor Schmoller überzugehen." Wer die an sich natürliche Rivalität, die zwischen akademischen Lehrern herrscht, kennt, wird zu würdigen wissen, wie viel Selbstüberwindung zu einem Tun wie diesem gehört. Ich meldete mich bei Schmoller, zu dem ich im weiteren Verlauf vermutlich ohnehin übergesiedelt wäre. Denn der Eindruck, den idi von seinen Vorlesungen erhalten hatte, war ein sehr tiefer, ja entscheidender. Treitsdhkes Kollegien, die ich fortgesetzt hörte, waren mir zwar sehr wertvoll, aber mehr im Sinn der historisch-politischen Erregung, eines reinen Genusses. Bei Schmoller aber hatte ich die Empfindung, als wäre hier beides, geistiger Genuß und umwälzende Belehrung zu finden. Ich hörte bei ihm ein großes vierstündiges Kolleg, das er Praktische Nationalökonomie nannte, das aber in seiner Grundhaltung weit mehr geschichtlich als systematisch-wirtschaftswissenschaftlich war. Es war in der Hauptsache eine deutsche Wirtschaftsgeschichte, die, stark erst vom Ausgang des Mittelalters einsetzend, in immerfort sich verbreiterndem Strom die Gegenwart erreichte. Schmoller hub bereits bei den Primitiven an; ich erinnere mich der Stunde, in der er von Morgan und seinen amerikanischen Forschungen sprach. Ich hörte hier zuerst von Morgans Namen und Werk. Äußerst glücklich war die Verbindung von Nationalökonomie und Geschichte, die Schmoller auf diese Weise herstellte. Er tat dem Zustand der Gegenwart ein volles Genügen, und er lehrte doch nicht nur Gegenwart, sondern auch alle nähere Vergangenheit historisch, das heißt in einem vollen Fließen, zu begreifen. Allerdings kam in einem Betracht alles geschichtliche Geschehen etwas zu kurz: von den Persönlichkeiten sprach er zu wenig. Aber seine Vorlesungen waren dodi auch nicht reine Sachgeschichte: von den Einzelnen, die Schmollers geschichtlichem Sehen in ihrem Wirken am nächsten standen, war nicht wenig die Rede, insbesondere von den brandenburgisch-preußischen Herrschern, vom Großen Kurfürsten, von Friedrich Wilhelm I. und von Friedrich dem Großen. Die Einwirkung, die Schmollers Geschichtsauffassung in mir hervorbrachte, war doch eine im hohen Grade nationalökonomische. Schmoller sah die geschichtlichen Dinge aufsteigend von ihren wirtschaftlichen Fundamenten, und so erhielt seine Sehweise eine von Grund aus nationalökonomische Färbung. Aber da er in diesen großen Entscheidungen so wenig wie in allen politischen oder wirtschaftlichen

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Einzelheiten ein Radikaler, geschweige denn ein Fanatiker war, so war er auch hierin ein umsichtiger, einsichtiger Mann der Vermittlung. Vor allem war er ein Realist in bestem Sinn: er hatte eine völlig konkrete Vorstellung von einem Gutshofe, einem Dorf, einer Zunft, einer Stadt. Seine höchst gewissenhaften Studien zur mittelalterlichen und neueren Handwerksgeschichte bewahrten ihn vor allen blassen Allgemeinheiten. Und da er als der Erste in die Geschichte eine so konkrete Wirtschaftsgeschichte und wiederum in die Nationalökonomie ein so gegründetes historisches Wissen einführte, so nahm er in beiden Disziplinen eine höchst bevorzugte Stellung ein. Nicht als ob uns jungen Studenten schon eine volle Einsicht in diese wissenschaftliche Sachlage beigewohnt hätte; fast noch stärker ist doch hier die Einwirkung des lebendigen Menschen auf die, die nun immer von neuem sidi diesen K o p f , dieses Mienenspiel, diese Gebärde, diesen Stimmklang einprägen können. So viele Untertöne, so viel Unwägbarkeiten wirken hier mit, daß sie wohl einen Ersatz zu bieten vermögen für jene zum Teil mangelnde Einsicht, die doch immerhin nur Sache des Verstandes ist, eines Organs, das, auch wenn es noch so scharf ist, immerdar zur Bruchstückhaftigkeit, zur Einseitigkeit verurteilt scheint. Es ist der schöne Vorzug, dessen das Amt des akademischen Lehrers sich rühmen kann, daß es auf eine fast einzigartige Weise ein Band um den Wirkenden und den Bewirkten schlingt, ein Band, das eine tiefe Hingabe des Gemütes mit einer hell lodernden Bewunderung des Geistes verbindet, ein Verhalten, das eben weil es stumm und fast unbewußt bleibt, von einer ganz zarten Magie zeugt. So tief ist der Eindruck, der mir von Schmoller hinterlassen ist, daß ich noch heute nach fast einem halben Jahrhundert den Klang seiner Stimme zu hören meine mit der unverhohlenen Färbung seiner schwäbisch-fränkischen Mundart und dem weichen, milden Ton seiner Sprechweise. Nachdem ich ein Semester lang Schmoller gehört hatte, meldete ich midi für sein Seminar. Ich habe noch die lebendigste Vorstellung von diesem ersten Gespräch mit ihm. Er hatte ein umfängliches Buch in Großquart vor sich liegen, in das er offenbar den Namen und was er sonst Bemerkenswertes von den sich Meldenden vernahm, eintrug. Er wünschte von mir mein wissenschaftliches Woher und Wohin zu erfahren. Er meinte zuerst, mir raten zu sollen, daß ich die beiden Fächer, die ich bisher getrieben hatte, Jurisprudenz und Geschichte, verbinden solle. Das aber lehnte ich ab aus mangelndem Interesse für die Rechtswissenschaft. D a ich von ihm selbst, wie sonst wohl üblich, kein Dissertationsthema erbat, so kam es erst später zu einer Einwirkung Schmollers in diesem Betracht.

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Wohl aber erhielt ich von ihm die mannigfachsten Einwirkungen in seinem Seminar. Die Mitglieder waren nicht nur Studenten, sondern auch junge Doktoren, und dem entsprachen die Arbeiten, die sie vorlegten. Es entspannen sich zwischen den Mitgliedern Debatten von außerordentlichem Wissensumfang. Und da in bunter Mischung nationalökonomische und historische Themata verhandelt wurden, so sah ich mich auch der Materie nach vielfach bereichert. Immer aber gab das Endvotum des Lehrers die tiefste und umfassendste Belehrung. Von der etwas elementaren Stoffwahl und Behandlungsweise der Koserschen Übungen war hier keine Rede: das Schmollersche Seminar war eher eine Vorschule für Dozenten. Ich muß es der Einwirkung der in Schmollers Seminar herrschenden Atmosphäre zuschreiben, wenn ich schon lange vor meinem Doktorexamen den im Grunde unhaltbaren Gedanken aufgab, noch obendrein ein juristisches Doktorexamen zu absolvieren. Ohne daß ich mir dessen recht bewußt wurde, sah ich doch wohl ein, daß nur die volle Hingabe an ein Fach mir das Recht gab, mir einen Titel zu erwerben, der ohne sie nur äußerlich geblieben wäre. Daß es bei jener nur allzu oberflächlichen Berührung mit der Rechtswissenschaft blieb, muß ich als eine glückliche Fügung meines Lebens betrachten. Denn hätte ich mich schon damals mit der lebendigen, ja eifervollen Teilnahme dem Recht hingegeben, wie ich sie zehn Jahre später betätigte, so wäre ich in einen viel tieferen Zwiespalt der Lebens- und Berufswahl hineingeraten. Wenn ich außer den Hauptgestalten, die im Saal meiner Erinnerungen an diese Zeit stehen, noch einen Mann nennen soll, so kann es nur Meitzen sein, der Agrarhistoriker. Mit ihm war meine Berührung nur eine partielle; denn ich habe nie ein Kolleg bei ihm gehört. Wohl aber war ich geraume Zeit Mitglied seines Seminars, und meine Erinnerung an diese Zeit wäre unvollständig, wenn ich der freundlich-gütigen Gestalt dieses Gelehrten nicht gedächte. Ich kam zu ihm, weil in dem geselligen Kreise meiner Altersgenossen, dem ich angehörte, eifrig für ihn geworben wurde. Meitzen war als Forscher Spezialist, ein Kenner des deutschen Agrarwesens von ebenso umfassendem wie in die Tiefe gehendem Wissen. Sein ,Boden des preußischen Staates' war eine Fundgrube der Wissenschaft der Agrarverfassung und Bodenbestellung und eines der Werke, die dem deutschen Gelehrtenfleiß seinen Ruhm erworben haben. Sein Kreis rühmte von ihm, daß, wenn er auf deutschen Eisenbahnen durch die Lande führe, sich allein aus dem Anblick der Flurteilung und der Ackergrenzen für ihn nicht nur die gegenwärtige Bodenverteilung, nein, auch ein gut Teil ihrer Geschichte bis weit in die ersten Zeiten der Bodenbestellung rückwärts wie ein aufgeschlagenes Buch ergebe. 2

Breysig, Tage

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Dieses Wissen um Dinge, die nicht durch Wort und Schrift, sondern in den Sachen selbst überliefert waren, suchte er uns zu vermitteln. Sein Seminar war nur klein, aber wir gaben uns Mühe, seine Mitteilungen, die einzigartig waren, weil nur er die Sprache der Gewanne und Ackerbreiten zu enträtseln verstand, eifrig aufzunehmen. Und er selbst wurde nicht müde, in unablässig strömender Rede seine Wissenschaft vor uns auszugießen. Meitzen war uns lieb auch durch die schlechthin einzigartige Beschaffenheit seines Menschentums. Er war eine der unendlich seltenen Naturen, die durch eine aus ihrem ganzen Wesen ausstrahlende Herzensgüte weit vor anderen Menschen ausgezeichnet sind. In einer Rede, die er an seinem siebzigsten Geburtstag vor einem Kreise seiner zahlreichen Verehrer hielt, kam der Satz vor: „Ich habe nie von Einem von Ihnen gewußt, wer mit dem Anderen schlecht stünde", und das war wahr und hatte seinen Grund nicht in irgendeiner Gleichgültigkeit, sondern darin, daß er alle Menschen mit gleicher Güte umfaßte. Diese Güte machte sich uns deutlich bemerkbar; daher stammte unsere persönliche Anhänglichkeit. Wir hörten ihm gern zu, wenn er, wie es wohl geschah, bei unserem Zusammensein, zu dem wir ihm abends in eine Gaststätte folgten, im Grunde nur die agrarwissenschaftliche Darlegung der Seminarstunden fortsetzte. Es war, als ob das gütige Lächeln, das sein Gesicht mit dem Kaiser-WilhelmBart verschönte, uns gefangen hielte. Nach Berlin zurückgekehrt, war ich sehr bald in einen Kreis geraten, der erfüllt war von heiterer Geselligkeit. Er war aus verschiedenen Altersstufen zusammengesetzt. Meine Altersgenossen, Studenten, die ich in Kosers Seminar kennengelernt hatte, bildeten wohl die Mehrzahl; aber sie gaben nicht den Ton an. Einige Ältere dominierten, vor allem ein junger Doktor, der in der Königlichen Bibliothek angestellt war, sowie zwei junge Lehrer. Es war ein nach Fähigkeiten und Temperamenten sehr bunt zusammengewürfelter Kreis; aber im Laufe der Jahre — denn so lange Zeit bestand er — war er gut zusammengespielt. Ein Jargon bildete sich aus, der aus neckenden Redensarten und beständigen Witzen bestand. Drei von uns hießen Peter, von denen doch kein einziger den Taufnamen Peter führte. Im Ganzen kann man sagen, daß wir unbändig vergnügt waren und daß kein Streit uns entzweite. Unsere Tafelrunde war nach Fähigkeit und Gemütsart der Einzelnen bunt genug gemischt. Unter den Doktoren spielte die Hauptrolle ein bis zur Drolligkeit grobkörniger Mann, der sich gern selbst berühmte, aber ein Element gutmütigen Humors vertrat und sehr viel zum Behagen des Kreises beitrug; viel bedeutender war ein junger

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Lehrer, der, ein scharfer Kopf, doch eigentlich nicht der Wissenschaft zugewandt sondern ganz dem Geigenspiel verfallen war, das er bis tief in die Nacht hinein trieb, dabei aber die Gesundheit seiner Nerven einbüßend. Die Andern bildeten den Chorus und waren doch ein Kranz heiterer, munter-vergnügter Jugend. Ein Ehepaar, das nur zuweilen den Kreis vermehrte, gab uns einen Rückhalt in seiner höchst gastfreien Häuslichkeit und hat mich in ein ganz anderes, der Praxis, der Kaufmannschaft gewidmetes Leben Einblick gewinnen lassen, der Ehemann ein ernster, sdiwerer Niederdeutscher niederrheinischer Geburt, ein Mann von vorsichtig wägendem praktischem Verstände, von festem Kopfbau, auf den die römische Wendung homo quadratus zugetroffen hätte, seine sehr schöne Frau von um so leichterem Blut, fröhlich und gesellig. Ernst Nolle verwaltete damals noch als Angestellter eine Filiale der Firma Thyssen wohl in einiger Selbständigkeit, aber in immerhin beschränkten Einkommensverhältnissen. Ich habe als junger Mann seinen wirtschaftlichen Aufstieg in den Anfängen miterlebt, in den folgenden Jahren aber gesehen, wie er von Stufe zu Stufe den Umfang seines eigenen Geschäftes und damit seinen Rang im kaufmännischen Leben immer höher steigerte; er ist später einer der bedeutendsten Großindustriellen Berlins geworden und war imstande, sich ein palastartiges Haus im Grunewald zu bauen. Der alte Tafelkreis blieb jahrelang bestehen, und es blieben die alten frohen Scherze. Nur einmal kam es innerhalb unserer Tafelrunde zu einem längeren Hader, und ich muß gestehen, daß ich selber dazu Anlaß gab. Ja, ich muß des ferneren zugeben, daß ich eigentlich keine andere Ursache zu dieser Entzweiung hatte als die einer Abneigung gegen den von mir Angegriffenen, der noch dazu einer der Fähigsten und Anregendsten der Tafelrunde war. Ich war im ganzen ein verträglicher Mensch; aber ich muß doch Eigenschaften gehabt haben, die ein solches Handeln zuließen, mag man sie nun Eigenwilligkeit oder Reizbarkeit nennen. Zur Entschuldigung mag mir dienen, daß ich nadi etwa einem Vierteljahr, und zwar durch meine eigene Annäherung, mit diesem von mir so Befehdeten wieder in ein gutes Verhältnis kam. Bei dieser Gestalt muß ich um deswillen noch verweilen, weil wir unmittelbar nach dem Zwist und vielleicht in einer Art von Reaktion eine Freundschaft miteinander begründeten, die so nahe war, daß wir, wenn wir getrennt waren, uns fast täglich schrieben. Mein Freund Walther Vielhaber — er hieß unter uns seiner schottisch-dunklen Haarfarbe entsprechend der Rote — war in mehr als einer Beziehung die merkwürdigste Gestalt des ganzen Kreises. Er hatte einen eigentümlich geprägten Kopf. Der Stammbaum dieses 2'

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Pfarrerssohnes führte auf Cornelia Goethe und Nicolovius zurück. E r verfügte über schöne Gaben; seine Feder stand ihm in Vers und Prosa stets zu Gebote. E r liebte auch die Wissenschaft, ohne sich ihr doch ganz hinzugeben. E r trat mit einigem Selbstbewußtsein auf; aber es war ihm doch nur ein halbes Vollbringen beschieden. E r hielt sich für einen Dichter, legte auch einmal auf mein Betreiben Herman Grimm ein D r a m a vor, wurde aber von diesem nicht ermutigt. Seine Verse — soweit ich sie kennenlernte — waren bei einem Gehalt von guten und erfreulichen Gedanken in der Form zu nah am H e r k ö m m lichen. Ebenso wenig glückte ihm ein kurzer Versuch in den Wissenschaften. Wir, seine Freunde, hatten alle Mühe, ihn bis zum D o k t o r examen zu bringen; über eine schulgerechte Dissertation kam er nidit hinaus. N u r ein Gedanke der chronologischen Organisation gelang ihm, die Anordnung von Zeittafeln betreffend; er war durchaus gesund und tragfähig; aber er hätte seine Anwendung nur in weit angelegten Darstellungen finden können, und dazu kam es nie. W i r sind einige J a h r e lang gute Kameraden gewesen. Es waren recht wohlverlebte Stunden, die uns am Abend regelmäßig vereinten, und wir waren so gewöhnt an den Gang unserer Debatten, daß wir keines dritten Tischgenossen bedurften. Unsere Verbundenheit überdauerte unsere Studienzeit, sie überdauerte meine H e i r a t ; aber einen Zwist, der ein Streit um geistige Dinge war, überdauerte sie nicht: er war seiner N a t u r nach inkurabel. U n d so schieden wir denn; ich verlor den ehemals so unentbehrlichen Freund ganz aus den Augen.

Doktorarbeit,

Doktorexamen

Mit einem Drang zur Selbständigkeit, den ich mir doch nicht als verfehlt anrechnen darf, wählte idi mir einen Führer, der schon lange nicht mehr ein Katheder bestieg, nämlich R a n k e . In einer Anmerkung der Zwölf Bücher preußischer Geschichte hat er auf die Lücke verwiesen, die in unserer Kenntnis von dem Prozeß gegen Eberhard Danckelmann k l a f f t . E r hielt für wünschenswert, daß sie ausgefüllt werde. Diesen kurzen Sätzen glaubte ich folgen zu müssen. Doch ging die Leitung, die ich R a n k e hätte verdanken können, naturgemäß nicht über diesen ersten Hinweis hinaus. Immerhin fühlte ich midi durch meine sehr eingehende Rankelektüre hinreichend legitimiert und verließ mich im übrigen auf meinen wissenschaftlichen Instinkt. Ich machte meine Eingabe an den Generaldirektor der Staatsarchive — damals Sybel — und war doch sehr glücklich, in die Hallen des Staatsarchives einzutreten und hatte ein lebendiges Gefühl von E i n -

Doktorarbeit, Doktorexamen

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geweihtheit, als ich zum erstenmal ein Aktenfaszikel in der Hand hielt. Es war eines der sehr umfangreichen Protokolle, die man mit dem Oberpräsidenten, der ja der Leiter der Regierung des Kurfürsten Friedrichs III., des nachmaligen ersten Königs, war, dicht nach Danckelmanns Sturze aufnahm. Es war eine verhältnismäßig einfache Aufgabe, obwohl sie das Insgesamt der damaligen inneren Politik und Verwaltung des Staates umfaßte. Denn aus den materiell sehr sorgfältig vorbereiteten Fragen sowie aus den sehr umfangreichen Anlagen, die den Akten der Verwaltung entnommen waren, war im wesentlichen der Umfang der Anklagen, die man gegen Danckelmann richtete, zu ersehen. Aus der immerhin eingehenden Untersuchung, der ich diese Anklagen unterzog, war denn allerdings auch schon das Ergebnis zu entnehmen, daß dieser Staatsprozeß höchst leichtfertig begonnen wurde und daß er sich bei sorgfältiger Prüfung als gänzlich unbegründet herausstellt. Auch in diesem sonst so oft durch strenge Rechtsliebe ausgezeichneten Staat gab es doch beim Herrscher launische Willkür, in seiner höfischen Umgebung häßliche Intrige. Immerhin ist man freudig überrascht, bei den hohen Beamten wenigstens nach einigem Besinnen einen starken Sinn für Gerechtigkeit zu finden. Wenn einer von ihnen, der wackere Duhram, sich dahin ausgesprochen hat, daß sein Herr, der König, ,sein solle wie ein Engel Gottes, wissend das Gute wie das Böse', und daß deshalb ihm auch der schlechte Zustand des Prozesses nicht verhohlen bleiben dürfe, so ist dies ein Beweis von untrüglichem Rechtsgefühl. Leider aber glich der Herrscher selbst nicht seinen nächsten Dienern; erst seinem sehr viel gerechteren Nachfolger blieb es vorbehalten, das Unrecht des ersten Königs zu sühnen. Schmoller hat meine Dissertation zwar mit einer sehr guten N o t e zensiert, aber er war nicht ganz zufrieden mit meiner Leistung. Er bewertete meine Arbeit insofern gerecht, als sie durchaus nicht dem Niveau entsprach, das ich damals hätte erreichen können. Immer wieder ist mir namentlich in meinen späteren Schulzeiten versichert worden, daß Examina nötig seien, nicht nur um der zu Prüfenden, sondern auch um der Prüfer willen, zu ihrer Kontrolle. Obwohl die zweite dieser Nebenabsichten, sollte man meinen, bei der Doktorprüfung fortfällt, so ist die Aufrechterhaltung des Doktorexamens aus dem ersten Grunde um so nötiger. Aber wer wie ich dies mündliche Examen als erstes in seinem Leben durchzumachen hatte, der empfindet alle die mit einem solchen Schulgeschehen verbundenen Peinlichkeiten um so ärgerlicher. Ich war, wie Schmoller sich über mich ausgedrückt hat, kein Examenskopf. Aber wenn ein solches Urteil auch einen Beiklang von Lob hat, so verdiente ich doch

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auch vollauf die levis notae macula, die diese Aussage in sich hat. Ich besaß in meiner Schulzeit wie später die Fähigkeit des Auswendiglernens in einem ganz besonders geringen Maße. So guter Dinge wie Treitschke habe ich mich zeitlebens nicht rühmen können, der von sich aussagte, er habe nicht ein gutes, wohl aber ein glückliches Gedächtnis. Immerhin habe ich doch gefunden, daß, wenn man nur immer in bestimmten Zeiten das Gedächtnis mit einem bestimmten Rayon von Gegenständen vertraut macht — Rayons, die aber selbstverständlich wechseln —, so könne man damit haushalten. Doch freilich, für ein Examen war mit einem oder selbst mit einer Anzahl solcher Rayons nicht auszukommen, und so kann ich mit Wahrheit behaupten, daß ich mich nie im Lauf meines Lebens stimmungsmäßig so übel befunden habe. Einsichtige Examinatoren machen durch ihre Weise zu prüfen diese Vorangst im Grunde überflüssig; aber da der Examinand durchaus nicht mit Sicherheit darauf rechnen kann, daß er in die Hand von einsichtigen Examinatoren gelangt — eher auf das Gegenteil —, so bleibt der Zwang bestehen, daß er sich auf eine Fülle von sehr unnützen oder kleinlichen Fragen gefaßt machen muß. Und gerade hiervon ist die Folge, daß er auch bei guter Vorbereitung für Monate in den schlechthin nervenzerrüttenden Zustand allgemeiner Einängstigung gerät. Kurze Zeit nach meinem Doktorexamen veröffentlichte die Fakultät das Thema für eine historische Preisaufgabe. Es galt einer Geschichte der brandenburgischen Finanzverwaltung in der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts. Schmoller hatte das Thema vorgeschlagen und hatte sicher dabei die Absicht gehabt, nun mir eine Aufgabe zu stellen, die mehr nach seinem Sinn gerichtet und wohl auch meinen Kräften besser angemessen war als der DanckelmannProzeß. Denn letztlich war die von mir nach Weisung Rankes eingelieferte Abhandlung zwar nach allen Vorschriften der Zunft angefertigt, aber sie konnte sich nicht rühmen, zu einem der Materie oder gar der Methode nach überraschenden Resultat geführt zu haben. Es blieb schon bei dem Urteil meines Lehrers, das er mir lächelnd verkündete, das ich aber doch als etwas zu hart empfand: „Daß Danckelmann ein ganz famoser Kerl war, hat man doch schon immer gewußt." Charakteristisch war es wohl, was diese Stoffwahl von meiner, sei es berechtigten, sei es unberechtigten Eigenwilligkeit offenbarte. Wenn aber Schmoller nun mit der Festsetzung der Preisfrage mit sicherer Hand allen Ungewißheiten meines Lebens ein Ende machte, so w a r damit im Grunde das Verhältnis hergestellt, das den inneren Gewichten nach schon bei der Wahl meines Dissertationsthemas hätte

Anfänge selbständiger Forschung

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obwalten müssen. Denn nunmehr, als ich den Ubergang von der Zeit der akademischen Vorbereitung in die der selbständigen Forscherarbeit vollzog, stellte er sich doch in die Mitte des Bildes und gab sich auf die freundlichste Weise als das zu erkennen, was er auch zuvor schon war, als meinen eigentlichen Lehrer.

Anfänge

selbständiger

Forschung

Es war ein Mittelding zwischen abhängiger und völlig freier Forschung, was ich nach meinem Doktorexamen unternahm: es war die Bearbeitung der von der Fakultät gestellten, von Schmoller vorgeschlagenen Preisaufgabe 1 . Immerhin war die Arbeit doch selbst nach der Umgrenzung des Gegenstandes mein geistiges Eigentum; nur der Leitgedanke war von Schmoller gegeben. Über die Aufgabe selbst dachte man im Kreise der nächststehenden Fachleute skeptisch, ja schroff ablehnend. Bailleu, ein gewiegter und umsichtiger Historiker, hat zu der Zeit geäußert, daß man ein Thema wie das meinige überhaupt wähle, sei so verkehrt, daß man es vom Archiv gar nicht zulassen solle. Aber wenige Jahre später, als mein späterer Finanzband vorlag, sagte derselbe Bailleu, er würde gern bereit gewesen sein, mein Werk zu besprechen. Woraus zu entnehmen ist, welch starke Abneigung bei den Männern der herkömmlichen, das heißt grundsätzlich außenpolitischen Historie gegen alle innere Geschichte herrschte, daß aber ein gescheiter Forscher dieser Richtung doch vorurteilslos genug war, um auch eine so decidiert ausgesprochene Meinung wieder aufzugeben, wenn er sie als falsch erkannt hatte. Ich darf mich über die Staatsarchivare, auf deren tätige Mithilfe ich bei der Vorbereitung für meine Arbeit durchaus angewiesen war, nicht beklagen. Wenn auch nicht im Anfang, so doch im weiteren Verlauf meiner Archivstudien kam ich in zufällige Verbindung mit dem Archivrat Hegert. Dieser mochte bemerken, daß ich mit Ernst bei der Sache war, und teilte mir mit, daß er dabei sei, ein brandenburgisches Provinzialarchiv innerhalb des Geheimen Staatsarchivs auszusondern. Bei jener äußerst nützlichen Arbeit war er auf eine sehr umfängliche, geschlossene Masse von märkischen Domänenakten gestoßen, auf die er mich aufmerksam machte. Ich verdankte diesem Hinweis über ein Drittel der in meinem Band verarbeiteten Domänenakten. Es erwuchs mir aus diesem Fund recht viel neue Arbeit; aber 1

Die brandenburgisch-preußische Finanzverwaltung von 1640 bis 1698

(1890) ungedruckt.

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Aus meinen Tagen und Träumen

ich war jubelfroh darüber; denn dieser Zuwachs bedeutete ein Mehr von Kenntnissen nach der Seite des Einzelnen und Konkreten hin. Fürs erste hatte ich es nur mit dem Allgemeinen zu tun; mein Ausgangspunkt war eine Denkschrift des Dodo Freiherrn von Knyphausen — des Leiters der Kammerverwaltung, das heißt der halben Finanzverwaltung —, die recht eigentlich im Zentrum seiner Pläne stand und die auch 1689 in der Zeit abgefaßt war, als seine Tätigkeit für die brandenburgischen Finanzen in vollem Schwünge begriffen war. Ich konnte dann meine Darstellung auf die wesentlichsten Akten der brandenburgischen Kammerverwaltung in der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts gründen und sie auch in freilich nur vorläufiger Schilderung anfügen. Am 3. August 1889 wurde das Ergebnis der Preisbewerbung verkündet. Schmoller kündigte es mir mit den Worten an, daß er sidi sehr über die von mir vorgelegte Arbeit gefreut habe und daß sie turmhoch über den beiden andern eingereichten stünde. Ich war doch recht glücklich darüber, kann aber mit Wahrheit behaupten, daß ich nicht von dem Einbildungswahn besessen war, dem doch junge Menschen in diesem Alter leicht zu erliegen pflegen. Wohl aber war ich von dem Gedanken erfüllt, daß ich mit meiner Berufswahl auf dem rechten Wege sei und daß ich auf ihm gute Aussichten des Vorwärtskommens habe. Ich war schon ungeduldig, in meinen Veröffentlichungen voranzukommen; zuweilen mußte Schmoller diesem ungestümen Vorwärtsdrängen Einhalt tun. In demselben Brief, in dem er mir zur Erringung des Preises Glück wünschte, widerriet er mir ein partielles Publizieren meiner Arbeit, sondern wünschte, daß ich sie zu einem noch umfassenderen Unternehmen ausreifen lassen sollte. Als einen eigenen Gewinn, den ich aus der archivalischen Vorbereitung für diese erste freie Arbeit zog, buchte ich mir das ganz ungemeine Wohlgefallen, das ich an dem Umgang mit den Akten empfand. Der Lauf meines Lebens hat mich später andere, viel allgemeinere Wege geführt; immer aber, wenn ich auf die Anfänge meiner Tätigkeit zurückblicke, die ganz und gar der Einzelforschung, und zwar bei weitem am öftesten der archivalischen, gewidmet waren, beschleicht mich nicht ohne Beimischung leiser Wehmut das Gefühl, daß ich, auch wenn ich die alte Bahn weiter verfolgt hätte, ein freudevolles, wenngleich einer anderen Form der forscherlichen Arbeit zugewandtes Leben geführt haben würde. Und nicht ganz fremd bleibt mir der Gedanke, daß sich in diesem Falle mein Leben unendlidi viel leichter gestaltet hätte. Denn ich würde dann wohl meinen Weg ohne alle die Hindernisse und Anfeindungen zurückgelegt haben, die mir bei meiner späteren Wahl nicht erspart geblieben sind.

A n f ä n g e selbständiger Forschung

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Der nächste Schritt, den ich tat, führte mich freilich in die rauheste Form der archivalischen Arbeit, in die Aktenpublikation. Es war nämlich eine ganze Fülle von Veröffentlichungen aufgebaut, die zu dem Nebenzweck nutzbar gemacht wurden, junge Adepten der Neueren Geschichte in den Jahren der Vorbereitung für ein späteres, etwa akademisches, Amt in nicht voll verantwortlicher Tätigkeit zu beschäftigen. Ihr eigentlicher Sinn war das nicht: sie sollten eine Auswahl von Aktenstücken für die allgemeine wissenschaftliche Benutzung zugänglich machen. Sie hatten demgemäß zur Voraussetzung, daß sich eigentliche Darstellungen auf ihnen aufbauten. Ein Praktikus wie Althoff 1 hatte Bedenken gegen diese Einrichtung und eiferte gegen den „fureur des inedits"; aber hier erwies sich das Wort des so Mächtigen doch als machtlos. D a ß die beiden Nutzanwendungen zusammenkamen, bewirkte, daß alles beim alten blieb. Wenn von dem Bedürfnis der Wissenschaft — wie billig — allein ausgegangen werden soll, so war es nützlich, den jungen Nachwuchs durch eine Vorübung in Gestalt der Urkundenedition zu erziehen, vorausgesetzt, daß dieses Vorstadium nicht zu lange dauert. Denn dann tritt wieder Schmollers weise Mahnung, an die er im Gespräch mit mir einmal erinnerte, in Kraft, daß ein beständiges Aktenedieren den Menschen, der es betreibe, verdumme. Mir wurde der X V . Band der ,Urkunden und Aktenstücke zur Geschichte des Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg' übertragen, ein etwas langatmiger Titel, den man schon zu Droysens Zeiten geschaffen hatte. Der Band sollte den dritten Teil einer Serie ausmachen, die die ständischen Akten umfassen sollte, und war dem Herzogtum Preußen gewidmet. Es war die einzige der bisher in Angriff genommenen Serien, die die innere Geschichte des Zeitalters behandelte, und mir insoweit sehr angenehm; denn gegen die Serie der auswärtigen Akten, die schon zu weit größerem Umfang gediehen war, hatte ich eine bei den Traditionen der Schmollerschule natürliche Abneigung. Die Verhandlungen der preußischen Stände waren bei weitem die wichtigsten, da deren Kampf mit dem Großen Kurfürsten weitaus der heftigste war. Als ich an die Bearbeitung dieses Bandes ging, überzeugte idi mich sofort, daß ich auch der darstellenden Arbeit einen guten Teil meiner Tätigkeit würde einräumen können und so also dem NurEdieren überhoben bleiben würde. Es fand sich nämlich, daß es nach allen Präzedenzfällen geraten sei, die Vorgeschichte des Ständetums vor 1640 zu behandeln; wie lang oder wie kurz, lag in meiner Hand. 1

Leiter des Universitätsressorts im preußischen Kultusministerium.

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Ich entschied mich für eine ausführliche Darstellung und und fand für sie die denkbar günstigsten Voraussetzungen. Den Anfang machte die große Publikation der Akten der Ständetage Preußens unter der Herrschaft des Ordens, die in fünf schweren Großoktavbänden von dem verdienten preußischen Spezialisten Toppen herausgegeben waren und deren Abschluß nicht gar so weit — 1886 — zurücklag. Hier kam es darauf an, in aller Kürze teils alte Arbeit zusammenzufassen, teils neuen Sichten Geltung zu verschaffen. Die gleiche Behandlung mußte der Überlieferung der Zeiten von 1525 bis 1605 zuteil werden. Für sie lag eine lange Kette von Abhandlungen Töppens vor, zumeist in Zeitschriften und Schulprogrammen abgedruckt. Gerade weil sie in der Hauptsache nur als Halbbearbeitungen des vorhandenen Rohstoffes, das heißt der Ständeakten, anzusehen waren, verlohnte es sich, ihnen das noch fehlende Maß weiterer Durcharbeitung zukommen zu lassen. Es war hier nötig, erstlich die Auslese, die Toppen nur allzu zaghaft seinen Akten hatte zuteil werden lassen, strenger zu handhaben, sodann aber den politisch-geschichtlichen Sinn des Geschehens in helleres Licht zu setzen. Die Gesinnung, aus der heraus diese zweite Maßnahme, die der Beleuchtung, zu handhaben war, konnte keine andere sein als die der Parteinahme für das Prinzip, das in diesem Zeitalter erst langsam sich geltend machte, das aber doch zum Siege bestimmt war: es war das der, wenn auch noch nicht stark, so doch beständig, zum Absolutismus vordringenden Monarchie. Unter den Hohenzollern, die nach dem Ende der Ordensherrschaft das Herzogtum Preußen beherrschten, ist nur e i n e Gestalt von Stärke und Bedeutung; es ist die Georg Friedrichs, des Markgrafen aus der fränkischen Nebenlinie. In ihm kommt der monarchische Gedanke schon zeitweise zu völligem Siege; sonst aber überwiegt das ihm entgegengesetzte System, das der von altersher überkommenen Stände-, das heißt im wesentlichen Adelsherrschaft. Zwischen diesen beiden von der Geschichte geschaffenen Parteien zu wählen, war nicht schwer. Das siegreiche, also stärkere Vordringen war bei der Monarchie, und fast scheint es so, als ob es sich hierbei um das Beginnen einer deutschen Gesamtbewegung handelte: eine Generation deutscher Territorialfürsten war in demselben Sinne tätig, an der Spitze August von Sachsen, Christoph von Württemberg und Hans von Küstrin. Sie und noch eine Anzahl Anderer gehören in diese Reihe, und man wäre versucht, schon den Herzog Albrecht als einen Vorgänger zu ihnen zu zählen in Anbetracht dessen, daß er die kühne Tat der Umwandlung des Ordenslandes Preußen in ein weltliches Herzogtum vollbrachte; aber daran hindert, daß er die

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späteren Jahre seiner Regierung sein Amt gar so schlaff geführt hat. Ganz unmöglich war es mir, für die Gegner, die damals in Preußen sich gegen die aufstrebende Monarchie wehrten, Partei zu ergreifen. Denn wohl war dieser Adel in seinem historischen Recht, und er ist auch nicht müßig gewesen, sich fort und fort auf dieses sein Erbe zu berufen; aber er machte von ihm einen Gebrauch, den man durchaus nicht gutheißen kann. Er war von einem Maße von Eigensucht im gröbsten materiellen Sinn besessen, das auch einen an die Derbheit wirtschaftlicher Machtkämpfe Gewohnten abstoßen mußte. Dieser Adel betrachtete den benachbarten Domänenbesitz, wenn ihm die Gelegenheit günstig war, als freie Beute; er benutzte die politische Macht, die ihm durch die ständischen Einrichtungen gegeben war, um alle ihm wichtig dünkenden Ämter in seine Hände zu bringen und sie nach Kräften auszunutzen; er drückte die Bauern. Und so mußte ich, obwohl ich alles andere als adelsfeindlich war, für jene Zeit gegen den Adel Partei nehmen. Soll denn aber überhaupt — wird man von einem allgemeineren Standpunkt her einwenden — der Geschichtsschreiber Partei ergreifen? Ich glaube doch, wenn er nicht in eine salzlose Unparteilichkeit verfallen soll. Ich erkenne jede Pflicht der Unbefangenheit als für ihn zu Recht bestehend an; er soll dem empfangenden Leser auch jede Handhabe gewähren, die ihn in den Stand setzt zu erkennen, von welcher Parteinahme der Geschiehte-Sdireibende beseelt ist; aber kein Forschender, der sich nicht selbst betrügt, wird verkennen dürfen, daß er mit seiner innersten Seele sich doch für ein Pro, ein Contra entscheidet. Hätte ich mich für einen wünschenswerten Gang der sozialen Entwicklung Deutschlands entscheiden sollen, so hätte ich freilich für einen Weg stimmen müssen, der um 1600 nur von dem politisch schwächsten Teil der Landbevölkerung eingeschlagen wurde: von dem höheren Bauernstande. Wohl hatte das Herzogtum Preußen das Glück, daß dieser — wie es in sehr vielen Territorien der Fall war — durchaus nicht ganz unvertreten war: die Köllmer, die freien und wirtschaftlich starken Bauern, machten einen immerhin beträchtlichen Bruchteil ihres Standes aus. Politisch aber hatten sie nicht allzu viel Gewicht; sie hatten im siebzehnten Jahrhundert wohl das Recht, auf den Landtagen ihre Gravamina durch den Adel an den Landesherrn übergeben zu lassen; aber eine eigene Vertretung auf den Ständeversammlungen hatten sie nicht. Für den naturgegebenen Weg der sozialen Entwicklung der nordund mitteleuropäischen Völker hielt ich damals den vorkarolingischen eines Zustandes, der den Gemeinfreien Anteil an der Herrschaft im

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Volk gelassen haben würde, einen Weg also, den in der geschichtlichen Wirklichkeit nur die Norweger eingeschlagen haben. Hätte ich damals schon Justus Moser gekannt, so hätte ich vielleicht seiner etwas zu radikal bäuerlichen Geschichtsauffassung zugestimmt. Ich hätte mich auch mit einer partiellen Beteiligung des Adels an der Herrschaft im Staat abfinden können, aber nicht mit einer vom Standesegoismus so übel entstellten und befleckten Form der Aristokratie. Hier, so fand ich, war alles Recht wie auch alle lebendige Stärke bei der Gegenpartei, bei der monarchischen Bewegung. Der Strom der geschichtlichen Entwicklung richtete sich schon von der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts ab ersichtlich auf das Ziel einer starken Monarchie; bei ihr war alles Recht und alle K r a f t des staatlichen Lebens. Für die Zeit von 1606 ab mußte sich mein Arbeitsverfahren ändern; von diesem Zeitpunkt ab hörte die immerhin halbreife Bearbeitung der Akten durch Toppen auf. Ich war von da ab auf die Akten selbst verwiesen und fand mich nicht ungern in den Wechsel der Dinge; war ich doch nun ganz auf das archivalische Material angewiesen und hatte mit einiger Genugtuung das Gefühl, meine Darstellung völlig von Grund aus neu aufzubauen. Es war den bisherigen Bearbeitungen nach auch durchaus vonnöten; denn Droysens Bearbeitung der preußischen Dinge erwies sich nicht einmal in seinem abschließenden Urteil über die Politik der beiden in Betracht kommenden Kurfürsten als unangreifbar, weil Droysens Schilderung als eine allgemeine der brandenburgischen Politik bei weitem nicht so eingehend sein konnte wie die meine. Er belobt Johann Sigismunds preußische Ständepolitik und tadelt die seines Sohnes und Nachfolgers Georg Wilhelm; ich fand, daß eine auf die preußischen Akten gegründete Beurteilung zu dem entgegengesetzten Resultat kommen müsse. Das Verhältnis politischer Macht zwischen dem Landesherrn und den Ständen schwankte nicht nur in den Regierungszeiten der beiden Kurfürsten, die von der Mark her das Herzogtum beherrschten. Das wurde auch dadurch bewirkt, daß es zugleich ein Gegenstand der auswärtigen Politik war; denn das alte Leid machte sich beständig geltend, daß Polen in nächster Nachbarschaft an Preußen grenzte und daß das überlieferte staatsrechtliche Verhältnis zwischen den Ländern dem Königreich erlaubte, sich unter noch dazu sehr unklaren Bedingungen in die Beziehungen zwischen dem preußischen Landesherrn und seinen Ständen einzumischen. Dadurch wurden diese, die unter normalen Verhältnissen einfache geblieben wären, für den Kurfürsten in einen Streit mit zwei Fronten verwandelt. Und kaum in einem anderen Zeitraum machte sich diese Erschwerung der

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brandenburgischen Politik so störend geltend wie in den Jahren Georg Wilhelms. Dieser staatsrechtliche Sachverhalt machte die geschichtliche Auseinandersetzung eigens kompliziert; doch war der hier gegebene Weg, sich mit dieser Schwierigkeit abzufinden, kein anderer als der, auf die überlieferten Wirrsale einzugehen und sie in Ruhe auseinanderzuwickeln. D a ß es außerdem an inneren Parteiungen nicht fehlte — so an der zwischen Adel und Städten —, vermehrte die Schwierigkeiten der Darstellung noch. Immerhin waren sie ganz ebenso wie die sich f ü r die preußisch-polnischen Verflechtungen ergebenden nicht unüberwindlich. Man wird sich vielleicht verwundern, mich, den Verfechter allgemeinster Geschichtsforschung, als den Verteidiger einer denkbar eingehenden Monographie anzutreffen. Doch sei mir zu diesem, wie ich glaube nur scheinbaren, Widerspruch eine ganz grundsätzliche Bemerkung gestattet. Der Gegensatz zwischen Einzelforschung und allgemeiner Darstellung ist nach meiner Meinung nur mit dem zwischen makroskopischer und mikroskopischer Sehweise zu vergleichen, nicht eigentlich also ein Gegensatz der forscherlichen Grundhaltung, nicht ein qualitativer, sondern nur ein quantitativer. Vergleicht man die Behandlung eines wissenschaftlichen Themas mit der Untersuchung eines Sternbildes, so muß die monographische Betrachtungsweise hier durch ein sehr scharf eingestelltes Teleskop eine sehr viel größere Anzahl von Himmelskörpern innerhalb des Sternbildes, dort von Einzeltatsachen heranholen. Aber die Umrisse des Sternbildes können — um im Bilde des Vergleichs zu sprechen — nur durch eine einen sehr viel größeren Raum umfassende Einstellung hier, durch eine allgemeinere Darstellung dort erfaßt werden. Mit dem Aktenteil meines Urkundenbandes hörte das Recht auf eine Darstellung des in ihm dargebotenen Stoffes auf. Immerhin erleichterte ich mir den Übergang zur eigentlichen Aktenpublikation dadurch, daß ich den einzelnen Zeiträumen, in die ich das Ganze zerlegte, Einleitungen vorausschickte, in denen ich die gleichzeitigen Beziehungen zwischen Polen und dem Herzogtum darstellte. Diese Einleitungen baute ich auf mit H i l f e des Aktenmaterials, das in den der auswärtigen Politik gewidmeten Bänden der Hauptserie des ganzen Unternehmens schon veröffentlicht war. Man erkennt deutlich, wie sehr mich die Grundneigung meiner damaligen Forschung bestimmte: sie lief darauf hinaus, mich vor der Arbeit aus Büchern zu bewahren und mich ganz auf die Arbeit aus Akten zu beschränken; sie beherrschte mich mit der Leidenschaft einer Liebhaberei. Diese Erfahrung, die ich an mir selber machte, hat midi später davor bewahrt, meinen Gegnern Unrecht zu tun; denn als ich mit

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meinen allgemeinen Forschungen so ganz die entgegengesetzte Richtung einschlug, war ich jener Empfindungen meiner Frühzeit eingedenk. Die Species des homo doctus, die wir Historiker vertreten, sind doch wohl eigens von den Stimmungen unserer Seele und deshalb also von unseren Passionen abhängig. Daraus folgt dann, daß wir, wenn wir uns der Einzelforschung ergeben, das ebenso mit Leidenschaft tun, wie wenn wir uns der allgemeinen oder gar der allgemeinsten Form unserer Wissenschaft widmen. Zum Schluß muß ich davon berichten, wie ich den Aktenteil meines Bandes, der doch die bei weitem größte Seitenzahl ausmachte, bewältigte. Meine Aufgabe war, die wichtigsten Stände-Akten auszusuchen und ihre Abschrift anzuordnen oder Auszüge aus ihnen zu machen. Ich kam damit zur untersten Schicht der schriftlichen Uberlieferung, da, wo sie sich mit der unmittelbaren Spiegelung des Geschehens berührt, ja mit Teilen von ihm geradezu identisch ist. Das Mechanische an diesem gelehrten Tun mag trocken sein; aber ich darf nicht leugnen, daß ich doch immer wieder den aufsteigenden Atem des lebendigen Lebens aus diesen vergilbten Papieren zu verspüren meinte. Wenn in den Befehlen für die Verhaftung Roths, des Führers der Königsberger Opposition, vom Kurfürsten dem Obersten Hille der Befehl erteilt wird, wie er mit äußerster Umsicht bei diesem Vorhaben vorgehen soll, oder wenn für dieselbe Stunde der Oberst von Bellicum, der Kommandant der Veste Friedrichsburg, angewiesen wird, daß, wenn er morgen auf dem Schloßturm allhier eine rote Fahne sehen wird, er sich daran nicht kehren, sobald er aber zwei rote Fahnen aufgestecket, worauf er dann allezeit ohnverkürzet gute und fleißige Achtung haben soll, die Stücke gegen den Kneiphof und die dazu gehörigen Spiker richten und solche darauf spielen lassen soll', dann entzündet sich nicht nur dies Leben, sondern es steigen Stichflammen von ihm auf. Doch empfand ich die Lebendigkeit des Geschehens schon genug, wenn ich in den amtlichen Korrespondenzen, die zwischen Berlin und Königsberg hin und her liefen, die bedächtige Ruhe des Fürsten Radziwill, den der Kurfürst als seinen Statthalter nach Preußen gesandt hatte, den umfassenderen Blick Schwerins und die spitzig scharfe Eigenart Jenas sich spiegeln sah. Ich muß bekennen, daß ich in den Jahren, in denen ich in der Welt dieser Akten lebte, ein doppeltes Gefühl hatte. Einmal liebte ich sie: das siebzehnte Jahrhundert ist in der deutschen Geschichte vielleicht das letzte, dessen schriftliche Überlieferung noch in jeder Zeile das Wesen seiner Eigentümlichkeit atmet; denn es ist weit genug von heutiger Art entfernt, um sich von ihr noch sicher und scharf abzugrenzen. Wer Monate und Jahre mit diesem Jahrhundert lebt, ver-

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gißt nie einen Augenblick, daß seine schriftliche Überlieferung von Menschen stammt, die nicht ganz von unserer Art sind. Und das vermehrt den Zauber, den wir von ihr verspüren. Wir finden uns beständig von einer Luft umgeben, die uns verwandt und dennoch für jene Epoche fühlbar charakteristisch ist. Bis auf die Schriftzüge, ja bis auf das rauhe Papier wird sie uns vertraut und lieb. Dennoch hätte ich nicht, wie es doch das Schicksal mancher Gelehrter ist, immerfort in meinem Leben edieren mögen. Aber ganz gewiß gehörte meine Neigung zu jener Zeit völlig der Einzelforschung, die ihre Gebäude nur von den Fundamenten her aufführen will, sich an den Urkunden nicht ersättigen kann und stets zu den Bausteinen erster H a n d vorzudringen trachtet. Bezeichnend ist, was für Pläne ich in jenen Jahren hegte. Ganz voll war ich von dem Gedanken, daß ich die Ständeakten, an deren Herausgabe ich beschäftigt war, zur ersten Grundlage einer Geschichte des Herzogtums Preußen unter dem Großen Kurfürsten machen würde. Und ich habe in dieser Zeit schon genug bibliographisches Material zu diesem Zweck zusammengebracht. Eine Frucht dieser Vorarbeit habe ich einige Jahre später veröffentlicht in Gestalt einer Bücherkunde für die ostpreußische Geschichte in diesem Zeitalter. Man wird in meinem ostpreußischen Plan die Vorwegnahme meiner späteren Neigung zu allgemeinen Geschichtsauffassungen vermissen. Doch fehlt es an ihr nicht völlig; denn ich hatte nicht vor, wie es damals der Brauch meines Fachs gewesen ist, eine nur politische Darstellung zu geben, sondern es war mein Plan, auch das geistige Leben, audi die Kunst in mein Programm einzubegreifen. Ich war sehr froh, daß auch das Lied von Ännchen von Tharau, somit die kostbarste Leistung deutscher Lyrik jener Zeit, in Ostpreußen entstanden war. Ich lauschte auch im Alltag der Gegenwart sehr gespannt auf die Eigentümlichkeiten der ostpreußischen Seele im Vergleich zur gemeinsam deutschen. Ich glaubte als eine von ihnen, neben der zunächst ins Ohr fallenden rauhen Derbheit, einen H a n g zum Sardonischen zu erkennen, wenn sich scharfer Menschenverstand und ebenso scharfe Kritik miteinander paarten. Schon in dieser Zeit strebte mein Planen für die Zukunft doch noch weiter hinaus, und zwar, wie nicht wundernehmen kann, zu einem räumlich und sachlich weiteren, allgemeineren Vorhaben. Es war allgemein, aber es überstieg nicht die K r a f t eines Einzelnen, auch dann, wenn man den Maßstab sehr eingehender Einzelforsdiung anlegte. Mir schwebte vor, eine Deutsche Geschichte in dem Jahrhundert nach dem Westfälischen Frieden zu schreiben, ein Werk, das ich ganz ausführlich anzulegen gedachte. Ich hatte vor, eine lange Reihe von

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Territorialarchiven heranzuziehen und zwar nur Stichproben für das Aktenmaterial auszuwählen, aber doch grundsätzlich bis in diese tiefste Schicht des überlieferten Rohstoffes vorzudringen. Ganz beherrscht war ich von dem Leitgedanken, daß alle Sektoren des handelnden und des geistigen Lebens gleichmäßig herangezogen werden müßten. Ich hatte schon damals die lebhafteste und nahezu polemisch eingestellte Abneigung gegen die nur-politische Geschichte, die zu jener Zeit unbedingt vorherrschte und die im Grunde auch noch nicht einmal alle Zweige des staatlichen Tuns der Völker umfaßte. Denn in Wahrheit wurde in den Geschichtswerken, die nach der Norm angelegt waren, nur die Geschichte der auswärtigen Staatskunst ausführlich und vollständig behandelt; schon die Geschidite der Verfassung wurde eingehend nur, wenn es zu Katastrophen kam, bearbeitet und die der Verwaltung fast gar nicht; die Entwicklung der Wirtschaft wurde mit einigen spärlichen Abschnitten abgefunden, die des Rechts und der Sitten blieb völlig unberücksichtigt. Am wenigsten war Brauch, die Geschidite des Geistes, die nach meiner Auffassung die volle Hälfte der Geschichte eines Volkes oder eines Zeitalters hätte ausmachen sollen, als ebenbürtig mit der politischen, das heißt außenpolitischen Geschichte zu behandeln. Alles Gesagte gilt von den durchschnittlichen Geschichtsdarstellungen, wie sie in den großen Sammlungen, etwa der von Ukert und Heeren, dargeboten waren, aber auch von Gipfelleistungen. Eine grundsätzliche Wendung führte hier erst der Vorgang Lamprechts herbei, auf den ich, sehr im Gegensatz zu der überwiegenden Mehrzahl meiner Fachgenossen, schon damals sehr viel gab; seine Deutsche Geschidite hatte 1884 zu erscheinen begonnen. Aber ich ging noch nicht daran, auch nur den Grundplan meines beabsichtigten Werkes zu entwerfen. Nur ein erstes Kapitel schwebte mir vor, das dem Werk des Westfälischen Friedens gewidmet werden sollte und das mit der Gründlichkeit, die ich vorhatte, Mühe genug gemacht haben würde.

Das erste Werk:

die

Finanzverwaltung1

Im November 1892 war meine Arbeit an dem ersten ostpreußisdien Ständeband abgeschlossen; noch im selben Jahr erhielt ich den Auftrag, für die neu zu gründende innere Serie der Urkunden und Akten1 Geschichte der brandenburgischen Finanzen in der Zeit von 1640—1697. Darstellung nach Akten (1895).

Das erste Werk: die Finanz Verwaltung

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stücke zur Geschichte des Großen Kurfürsten die Finanzen zu bearbeiten. Der Vorläufer dieses Auftrages war jene Preisaufgabe, die die Fakultät auf den Vorschlag Schmollers gestellt hatte. Man wird bei einer Würdigung von Schmollers Anteil an der Geschichtsforschung nicht vergessen dürfen, daß er die große Entfernung zu überbrücken wußte, die sich zwischen seinen sehr weit gespannten Absichten und den sehr speziellen Aktenstücken dehnte, auf die er ihre Verwirklichung gründete. Wenn er jetzt die Publikation der .Urkunden und Aktenstücke' um so vieles erweitern wollte, daß sie Finanz- und Wirtschafts-, Kirchen- und Heeresverwaltung umfaßte, so waren diese Pläne zwar im ersten Umriß schon 1861 von Droysen gefaßt worden, aber über die ersten und allgemeinsten Andeutungen nicht hinausgekommen. Es bedurfte des Eingreifens eines so sachverständigen und zugleich weltkundigen Leiters, um diese Pläne zur Verwirklichung reif zu machen; er, Schmoller, stellte den ganzen Einfluß auf die amtlichen Stellen, über den er damals wie auch später verfügte, in den Dienst dieser Sache. Man hat diesen Einfluß zuweilen schief beurteilt; Schmoller hat mir bei einer späteren Gelegenheit einmal erzählt, wie er keineswegs nötig habe, sich um Althoffs Gunst zu bewerben, in dessen Hand ja im Ministerium die Bearbeitung der wissenschaftlichen Dinge lag. Das Verhältnis sei das umgekehrte: er habe wesentlich dazu beigetragen, daß Althoff von Straßburg in seine jetzige Stelle versetzt wurde. Er habe das mit der Begründung getan, daß es zwar sicher sei, daß Althoff zu keiner Sitzung pünktlich erscheinen werde, daß man in ihm aber den befähigtsten Bewerber um das Universitätsdezernat gewinnen werde. Althoff schreibe in seinen Briefen noch heute an ihn in der Anredeformel: Mein verehrter Gönner. Und man wird dodi urteilen müssen, daß Althoff, wenn er auf Schmollers Votum hörte, in der Regel recht daran tat; denn er war in den ihm zugänglichen Fächern nicht nur ein ungewöhnlich kenntnisreicher, sondern auch ein sachlicher Urteiler. In der Vorrede zu meinem Bande, in der er namens der Kommission von der Entstehung der neuen Reihe der Urkunden und Aktenstücke Bericht erstattete, hat Schmoller dargelegt, wie man nach Erschöpfung der staatlichen Mittel für die Stammreihe vor der Frage gestanden habe, ob man diese zu Ende führen oder ob man einen neuen, zeitgemäßen Plan entwerfen und durchführen solle. In Droysens Sinn hätte ganz gewiß die erstere Entscheidung gelegen. Denn mochte auch der Plan von 1864 schon an letzter Stelle einige Aufgaben der inneren Geschichte umfassen, so war doch das Interesse Droysens, wie die praktische und faktische Ausführung des Urplans erwies, ausschließlich der 3

Breysig, Tage

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auswärtigen Politik zugewandt gewesen. In seinem Werk zur Geschichte der brandenburgisch-preußischen Politik hat er, wie es natürlich war, ganz den gleichen Sinn offenbart. Nur der kleinste Teil dieses großen Werkes, das ebenso ein Zeugnis für deutschen Gelehrtenfleiß wie für die Selbstbeschränkung seines Verfassers auf die rein beschreibende Geschichtsforschung ist, hat sich der inneren Staatskunst zugewandt. Es war Schmollers geistesgeschichtliche Sendung, daß er hier in diesem Einzelfalle wie in seiner Gesamtwirkung auf die deutsche Geschichtsforchung für die Erweiterung des wissenschaftlichen Programms eintrat. Und da er zum mindesten auf seinem Gebiet, dem der Wirtschaftslehre, von Haus aus aufs Beste ausgerüstet war, so begann er nicht mit einem allgemeinen Plan, der zwar weitschichtig, aber vielleicht doch nur blaß geworden wäre, sondern mit der Feststellung der zunächst sich darbietenden, zentralen Aufgabe. Und das eben war die später mir übertragene — die Geschichte der Finanzen. War schon die Stellung der Preisaufgabe eine erste Vorbereitung dazu, so wird man bewundern müssen, wie zielstrebig Schmoller diesen seinen Weg fortsetzte. Als getreuer Schildknappe war ich seiner Richtweisung gefolgt. Wenn ich aber bisher sehr deutlich darauf hingewiesen habe, wie ganz ich für die allgemeine Richtung meiner Forschung Schmollers Einfluß verpflichtet war, so darf idi doch für die nun folgende Darlegung meinen eigenen Anteil an der mir hier aufgetragenen Einzelforschung aussondern, nicht um ihn eigens hervorzuheben, sondern um auch diesen Sektor im Kreisrund der Geschichte unserer Wissenschaft kenntlich zu machen, gleichviel wie wichtig oder unwichtig er sein mag. Wenn ich auf diesen Blättern eine doch so ganz der Einzelforschung gewidmete Schrift wie meine ,Finanzverwaltung' einer ausführlichen Behandlung für wert halte, so geschieht es mit allem Bedacht, und zwar aus einem sehr allgemeinen Grunde: ich mödite an diesem Beispiel nachweisen, wie ganz doch eigentlich die Methode der Spezial- mit der der allgemeinen Forschung zusammenfällt, wenigstens soweit es auf die innersten Grundsätze ankommt. Meine Überzeugung ist, daß ein Forscher, der einen noch so engen Ausschnitt aus dem Kreisrund der Geschichte zu bearbeiten vorhat, im Grunde denselben Verpflichtungen unterliegt wie der, dem es obliegt, die Geschichte eines ganzen Volkes oder eines ganzen Zeitalters darzustellen. Und aus diesem denkbar allgemeinen Grunde habe ich Ursache, schon bei der frühesten meiner Arbeiten vom Wie und vom Weg des Forsdiers zu sprechen, und zwar gerade weil diese Schrift der speziellsten Spezialforschung galt. Denn würde ich diesen Gegenstand erst aus Anlaß der späteren, ausnahmslos allgemeinen Themata

D a s erste W e r k :

die F i n a n z v e r w a l t u n g

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gewidmeten Arbeiten behandeln, so würde man mich für von vornherein befangen erklären, würde sagen, daß ich methodische Vorschriften für die an sich biegsameren allgemeinen Darstellungen mache, weil ich, was erst zu beweisen sein würde, als schon bewiesen voraussetze. Geht man aber von dem weit sichereren Boden der Einzelforschung aus, so wird man in diesen Verdacht nicht so leicht geraten. Auf diese Weise möchte ich nachweisen, daß der Unterschied, den ich in späterer Zeit zwischen beschreibender und entwickelnder, oder wenn man will descriptiver und evolutiver Forschungsweise feststellte, sich nicht nur für die Gegenstände allgemeiner Darstellung als gegeben aufweisen läßt, nein auch für die speziellste Spezialforschung und daß mithin der grundsätzlichste Grundsatz meiner Forschungslehre schon in den ersten Anfängen der Entwicklung meiner Methode ausgebildet worden ist. Ich möchte hier so wenig wie in allen meinen späteren Darlegungen den Anspruch erheben, als sei mit der Nachweisung jenes Unterschiedes ein Großes geschehen. Werturteile sind überhaupt meines Bedünkens nirgends weniger am Platze als in Sachen der Methode. Aber die Konstatierung eines Anderswerdens der Sehweise ist in Sachen der Wissenschaft ebenso berechtigt wie in Sachen der Kunst oder des Glaubens oder jedes menschlichen Tuns. Ob sich der Empfangende — in diesem Fall der Leser eines Werkes, der ja immer auch sein Beurteiler sein wird — für Billigung oder Verwerfung der einzelnen neuen Sicht entscheidet, bleibt ihm überlassen. Hätte für mich eine Anzahl von Einzelgattungen der Spezialforschung zur Wahl gestanden, um an einer von ihnen ein eigens beweiskräftiges Beispiel für die entwickelnde Forschungsweise zu haben, so hätte ich mich für die Verwaltungsgeschichte entscheiden müssen, und die Geschichte der Finanzen hätte sich unter deren Einzelformen noch wieder besonders empfohlen; denn außer ihrer zentralen Bedeutung für alle Zweige des inneren Staatslebens war auf dem Gesamtgebiet der Neueren Geschichte bis dahin der Finanzgeschichte ganz ungewöhnlich selten solche monographische Berücksichtigung geschenkt worden. Innerhalb der deutschen Geschichtsforschung ist mir keine Arbeit bekannt, an die ich mich als ein Musterbild hätte halten können; in nächster Nähe fand sich wohl das Buch von Riedel über den brandenburgisch-preußischen Staatshaushalt, doch dies hätte sich nur als Gegenbeispiel verwenden lassen. War es auch nicht eine Leistung ganz roher Description, insofern es seinen Stoff in sachlich zusammengehörige Gruppen ordnete, so blieb es doch in solchem Bestreben auf halbem Wege stehen und hatte zu viel Respekt vor 3'

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den Sachzusammenhängen, wie sie sich in den Akten fanden. Mit anderen Worten, er getraute sich nicht, selbständige Sachteilungen vorzunehmen. Meine Aufgabe, wie ich sie auffaßte, war hingegen, so systematisch wie mir nur immer möglidi zu verfahren, zugleich aber doch die inneren Zusammenhänge, die ursächlichen Verkettungen der Einzelergebnisse nachzuweisen. Eine Verbindung von Querschnittund Längsschnitt-Darstellung erwies sich als notwendig und ließ sich bei einer solchen Spezialdarstellung zu großer Klarheit herausarbeiten. Man sieht leicht, wie hier schon der methodische Begriff der entwickelnden Geschichte, wie ich ihn später mit einiger Klarheit feststellte 1 , sich herausbildet, wenn er mir auch noch bei weitem nicht so sicher umgrenzt vorsdiwebte wie in den Zeiten meiner allgemeinen Forschungen.

Das Lehramt Der mehr vom Zufall der Zeitrichtung bedingte Verlauf meines Entwicklungsganges brachte es mit sich, daß mein Eintritt in das Lehramt zeitlich zusammenfiel mit einer Erweiterung meines Forschungsbereiches, die doch audi wieder nicht nur durch dies äußere, sondern durch ein inneres Geschehen bestimmt war. Es lag in meinem stark vorwärtstreibenden Entwicklungstempo, daß Beides zusammenwirkte. Mir ist noch bis auf den Ort im Zimmer von Schmoller und auf den Zeitpunkt — nach einer Gesellschaft bei ihm — erinnerlich, wie ich ihm die Frage vorlegte, ob ich midi habilitieren dürfe; nach einigem Besinnen und nach einigen Vorfragen seinerseits gab er mir seine Zustimmung. Es war in dem Winter, der dem Sommer 1892, das heißt dem Sommer meiner Habilitation, voraufging. Mit meinen schriftlichen Arbeiten war ich gerüstet; ich legte doppelt so viele Arbeiten vor, wie gebräuchlich war. Die mündliche Habilitationsprüfung, die eine Begleiterscheinung der schriftlichen war, machte mir wenig Unruhe; es kam sehr selten vor, daß ein zu ihr Zugelassener zurückgewiesen wurde. Die eigentliche feierliche Habilitation, die wiederum aus der Verlesung einer Abhandlung bestand, die Probevorlesung genannt wurde, war vollends nur von formeller Bedeutung. Es mußten der Fakultät von dem Kandidaten drei Themata zur Auswahl präsentiert werden, und die Probe, auf die sein K ö n nen gestellt wurde, bestand nur darin, ob er im Stande war, im 1 Vom Sein und Erkennen geschichtlicher Dinge I V : Das neue Geschichtsbild (1944) Zweites Buch: Die Theorie der entwickelnden Geschichtsforschung.

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Lauf der drei Tage betragenden Zwischenzeit eine Abhandlung dieses Umfanges abzufassen. Die Thesenverteidigung durch den Kandidaten war vollends nur ein Scheingefecht; denn die Opponenten — in der Regel Freunde des Kandidaten — erhielten die Gegenthesen, die sie zu verteidigen hatten, von diesem selbst, und der Scheinkampf, der sich abspielte, bestand daraus, daß sie ihrem Gegner zu bestätigen hatten, daß er Recht und sie Unrecht hätten. Der Ernst, der diesem Scheingefecht zugrunde lag, bestand daraus, daß eine neue Auffassung, die immer nur eine sehr spezielle Behauptung darzustellen braudite, geltend gemacht wurde. Meine Probevorlesung — Der Große Kurfürst und der Adel — beruhte auf sehr ernstlichen Studien und hat in ihrem Abdruck 1 viel Beifall gefunden. Der Fortschritt zum Lehramt war nicht das wichtigste in meinem damaligen Geschehen; das war vielmehr, daß ich mit der ersten Vorlesung, die ich ankündigte, eine wesentliche Erweiterung des Gesichtskreises meiner Forschung vornahm. Das Thema, das ich glücklicherweise noch in den Semesterkatalog bringen konnte, lautete: Über die soziale Entwicklung der führenden Völker Europas in der Neueren und Neuesten Zeit. Es war als einstündiges öffentliches Kolleg gedacht. Wie jede nach Regeln sich vollziehende Tätigkeit, erfordert das Lesen im Sinne des Kolleghaltens eine Technik. Doch wird dem Adepten dieser Kunst das Hineinwachsen in ein gewisses Maß von Fertigkeit einigermaßen leicht gemacht. Der Spruch von dem ,im Lehren lernen wir' gilt hier in einem doppelten Sinn. Die erste Stufe kann nur ein Lesen sein, das heißt ein Ablesen in buchstäblichem Sinn. Aber immerhin ist doch die Regel, daß die Kunstfertigkeit des Lesens langsam und stufenweise erlernt wird. So ging es mir, und nach einer Anzahl von Jahren hatte ich es so weit gebradit, daß ich oft und mühelos die volle Stunde eines Kollegs hinbringen konnte, ohne mich auch nur einer Zeile von irgendwelcher Niederschrift zu bedienen. Auch bin ich mir nicht bewußt, daß ich midi im Stilistischen, in der Sprachhaltung vernachlässigt hätte. Im Gegenteil, ich strebte danach, immer das mir erreichbare Höchstmaß der sprachlichen Sauberkeit und Steigerung innezuhalten. Ich muß aber ehrlicherweise hinzufügen, daß das Urteil meiner Zuhörerschaft einmal dahin ging, daß ich mir im ersten Monat auffällig mehr Mühe gäbe als im weiteren Verlauf des Semesters. Immerhin habe ich doch auch aus diesem späteren Verlauf von Semestern Erinnerungen, die vor mir stehen in der ganzen Fülle ausströmenden Sichgebens. Das Wesentlichste, das ich von dem ersten Semester meiner Lehr1

Augsburger Allgemeine Zeitung, 1892.

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tätigkeit zu berichten habe, bleibt doch dieses, daß ich die Gedanken, die als die leitenden in aller meiner Forschung bestehen bleiben, in diesem ersten H a l b j a h r schon gefaßt habe. Wenn ich diesen Gedanken eine Reihenfolge geben soll, so ist doch wohl derjenige, der sich am entschiedensten in den Vordergrund drängt, der Stufengedanke, das heißt diejenige Anordnung der an sich chaotischen Gegebenheiten aller Überlieferung, die nach inneren Grundsätzen getroffen war. Diese inneren Grundsätze aber waren abgeleitet von den Vorbildern, die sich aus dem germanisch-romanischen und dem griechischen, zuletzt auch dem römischen Entwicklungsgang ergaben, die mithin als Archetypi angesehen u n d nur nach den außereuropäisch-primitiven Vorstufen hin erweitert wurden. Im Spätsommer 1895, als drei Jahre seit meiner Habilitation verstrichen waren, hatte ich die Absicht midi zu verheiraten, hätte aber nie diesen Schritt unternommen ohne sichere Aussicht auf eine feste Anstellung. Ich stellte deshalb kurzerhand an Schmoller die Frage, ob ich noch als Privatdozent dieses Wagnis auf mich nehmen könne. D a er bejahte, wußte ich nun, daß dies erste Ziel meiner Laufbahn, über das ich damals nie hinausdachte, erreicht werden würde. Wie viel Wagnis ich aber auch als Forscher auf midi zu nehmen dachte, das hatte ich in dieser Zeit Gelegenheit zu bewähren: war es doch im Grunde sehr viel kühner, d a ß ich gerade in diesen Monaten den Entschluß faßte, alle meine Pläne zur deutschen Geschichte aufzugeben und zur europäischen Geschichte überzugehen. Es war die größte Entscheidung meines Lebens, und ich redine es mir an, daß ich mich zu ihr entschloß in einer so prekären äußeren Lebenslage. Immerhin sollte sich die äußere Schwierigkeit sehr bald lösen; an einem Februartag 1896 erhielt ich die Ernennung zum Professor.

Unterrichts-Politik Die nahe Beziehung, in die die damalige Ordnung der Dinge die Universitäten zu den obersten Stellen der Unterrichtsverwaltung setzte, brachte es mit sich, daß ein junger Gelehrter verhältnismäßig f r ü h in Berührung mit diesen Stellen kam. Ich wurde, sogar schon bevor ich an der Universität beschäftigt war, vom Ministerium unterstützt, insofern ich f ü r die wissenschaftlichen Publikationen, an denen ich beteiligt war und die doch nur ein unzureichendes H o n o r a r zahlen konnten, eine Zulage erhielt. Es war um diese Zeit, daß ich zum erstenmal über die etwas rauhen Formen klagen hörte, in denen sich der Verkehr zwischen Althoff, dem Leiter des Universitätsressorts

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im Ministerium, und den Professoren bewegte. Erich Mareks erzählte mir mit einem leisen Seufzer, daß Althoff ihm auf die Nachricht, daß er einen Ruf nach Freiburg angenommen habe, antwortete, er habe schon vorgehabt, ihn in Preußen zu ,verwenden'. Als ich von der Fakultät zum außerordentlichen Professor vorgeschlagen war — ein Beschluß, der mir durch einen Brief Treitschkes angekündigt wurde — hielt ich es für angebracht mich Althoff vorzustellen. E r war freundlich, sagte mir aber zuerst: „In solcher Zeit müssen Sie eigentlich das Ministerium meiden wie eine Pesthöhle. Aber es soll Ihnen doch nicht schaden, daß Sie hergekommen sind." Und dann ließ er sich in ein Gespräch mit mir ein, das dazu bestimmt war, mir Herz und Nieren zu prüfen, das aber in meine Wissenschaft nicht eben tief eindrang. E r sagte: „Sie sprechen langsam; das ist gut. Ich werde einmal bei Ihnen hospitieren kommen", eine Weissagung, die sich nie erfüllt hat. Ich vermute, Althoff verließ sich auf seine Menschenkenntnis, die zu erproben er ja reichlich Gelegenheit hatte. Schon im J a h r darauf ließ mich Althoff von neuem kommen und bot mir eine ordentliche Professur in Münster an. Ich lehnte sie ab, da mir alles daran gelegen war, die Hilfsmittel der Bibliothek, die in Berlin unvergleichlich viel reicher waren, zur Verfügung zu haben. Schmoller war dies nicht recht, und er sagte trocken: „Dann wird man also jeden Extraordinarius eine weitere Verpflichtung unterschreiben lassen müssen." Aber ich konnte ihm dies Zugeständnis doch nicht machen; für mich überwog das Interesse an der freien Forschung so sehr das am akademischen Amt, daß es in dieser Frage kein Zögern gab. Der Begriff des Karrieremachens war mir so fremd, daß ich ihn gar nicht in den Kreis meiner Erwägungen zog. Bei dem Temperament Althoffs war es sehr leicht, bei ihm Anstoß zu erregen. Ich sollte das erfahren. Delbrück war wegen einer kritischen Äußerung, die er über eine Maßnahme der Regierung in seiner Zeitschrift 1 veröffentlicht hatte, zur Disziplinaruntersuchung gezogen worden; ich meinerseits trat für ihn in einem Aufsatz 2 ein, in dem ich das Recht des Universitätsgelehrten auf politische Meinungsäußerung vertrat. Althoff bestellte mich auf sein Büro ad audiendum verbem magistri. D a auch die Manier, in der er das tat, charakteristisch war, erzähle ich diesen Vorgang in aller Ausführlichkeit an Hand meiner Aufzeichnungen unmittelbar nach der Unterredung. Ich hatte meinen Artikel nicht ohne manche Bedenken geschrieben. Preuß. Jbb., Bd. 33/34 (Mai 1896) S. 185. Die Freiheit politischer Äußerung und die Universitäten (Zukunft Hrsg. Maximilian Harden, Bd. 25 [ 1 8 9 8 ] ) . 1

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Idi hatte für Delbrück, den von der Regierung Bedrohten, wohl sachlich, aber nicht persönlich viel übrig. Ich erwog auch sehr ernsthaft, daß idi bei den regierenden Herren dadurch ein Übelbeleumundeter werden würde. Zuletzt überwog der Ingrimm — nicht so sehr über den einzelnen Willkürakt, aber über das gesamte politisch und noch mehr sozialpolitisch verblendete System —, der schon lange in mir gewühlt hatte. An Althoff dachte idi eigentlich gar nicht, ich hielt ihn nicht für besonders engagiert. Er ließ audi durchaus nichts von sich vernehmen, bis midi am 6. März eines der üblichen Formulare zu ihm beschied. Idi rüstete midi für alle Fälle, nahm mir vor allem vor, im Falle eines Rüffels die Frage zu stellen, ob es sich hierbei uin eine dienstliche Mitteilung handle. Idi hatte weniger als je zu warten und wurde zunächst durch ein plump maskiertes Eröffnungsgefedit überrascht. Althoff: „Sie haben dem Herrn Minister eine Druckschrift zugehen lassen?" Ich: erst nicht ganz sicher, ob eine ältere gemeint sei, dann: „Nein, in letzter Zeit nicht." Althoff: „Aber hier ist sie" — kramt in einem Aktenkonvolut, in dem ich Die Zukunft und meines Vaters Germanicus-Ausgabe sehe. Liest dann langsam die Aufschrift- Ich: „Aber dieses Budi ist von meinem Vater geschrieben." Althoff: „So" — ganz langsam fortfahrend „Alfred Breysig". Ich: „Ich heiße Kurt Breysig." Althoff: „So, dann stimmt das nicht." Ich (kann mir nicht verkneifen zu sagen): „Das ist doch wunderbar." Althoff (mit bösem Seitenblick): „Sie sehen ja, das ist ein Irrtum." Inzwischen hatte Althoff schon einmal einen Satz angefangen „Der Minister sieht darin nämlich eine gewisse Inkonsequenz . . . " , hatte aber nicht ausgesprochen. Nun Althoff (aufspringend): „Damit Sie aber aus Ihrer kühlen Ruhe herauskommen, will ich Ihnen doch sagen, daß der Herr Minister eine Inkonsequenz sieht in dem, was Sie da in Ihrem Artikel geschrieben haben, und dem, was Sie früher an uns geschrieben haben." (Blättert und nimmt mein Dankschreiben an ihn nach der Ernennung zum Professor, liest daraus vor ,Sie haben midi zu einem glücklichen Menschen gemacht'). „Das sind doch w i r hier im Ministerium." Ich (zu dem Satz): „Das glaube idi auch heute noch." Nun Althoff (heftig werdend): „Idi muß Ihnen doch sagen, ich habe von Ihrer Dankbarkeit nichts zu verspüren gehabt." Ich: „Aber worin hätte sich die beweisen sollen, Herr Ministerialdirektor?" (ganz ruhig wie bisher). Althoff (wieder ruhig, fast im Ton eines biederen, aber gekränkten Onkels): „Wenn Sie so etwas vorhatten und Sie haben einen Freund im Ministerium, so konnten Sie doch zu mir kommen

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und mich fragen über die Sache, aber nicht solchen Artikel schreiben, als wären wir hier gegen die Freiheit der Wissenschaft." Ich (sehr ruhig): „Verzeihen Sie, Herr Ministerialdirektor, S i e haben diese Eventualität zur Sprache gebracht. Ich kann keine Inkonsequenz in meinem Verhalten erblicken, ich sprach von der Regierung." Vorher hatte er schon an einer Stelle gesagt, die ich nicht mehr weiß: „Wie i c h über die Sache denke, wissen Sie ja gar nicht." Hätte idi nun die Dinge so im Moment übersehen wie später, so hätte ich noch allenfalls zufügen können: „Ich bin auch Ihnen persönlich dankbar, nicht dem Ministerium im Allgemeinen; aber meine politische Auffassung kann in dieses Verhältnis nicht hereingezogen werden". Hier war mir meine Ungewandtheit hinderlich; hätte ich auf jene biedere, freundliche Wendung erwidert: „Das würde ich gar nicht gewagt haben", so war der Konflikt beigelegt, und ich würde wahrscheinlich mit einer versöhnten Wendung von dem Generalgewaltigen entlassen sein. So aber sagte ich, ich hätte doch nicht ihn zur Rede stellen dürfen. Dieser Satz war wohl ungeschickt, aber gewiß nicht mehr. Es erfolgte aber in höchst zornigem Ton eine Wendung Althoffs, die besagte: Das würde ich mir auch sehr verbeten haben! Nun kam kurzab der Schluß. Althoff: „Mir scheint, unsere Anschauungen divergieren so weit, daß es keinen Zweck hat, weiter zu diskutieren." Ich: wiederhole noch einmal, daß ich ihn und den Minister nicht hätte identifizieren können. Darauf Althoff in persönlicher Grobheit: „Idi denke, es ist Zeit, diese Unterredung zu schließen." Ich (mich kurz auf den Hacken herumdrehend, ihm gerade ins Gesicht sehend und ohne Verbeugung): „Das tue ich mit besonderem Vergnügen." Bis ich zur Tür war, hatte er sich eben noch darauf besonnen mir nachzurufen: „Das glaube ich." — Ich mußte diese Unterredung damit bezahlen, daß ich auf lange hinaus keine Beziehungen zum Ministerium hatte. Nach etwa vier Jahren wendete mir jedoch Althoff wieder seine Gunst zu. Die Beförderung eines dem Dienstalter nach jüngeren Kollegen zum ordentlichen Professor gab mir Anlaß, bei Schmoller zu beantragen, daß man, wenn man mich schon nicht befördere, doch meine freie Forschung durch Zulagen zu meinem Bibliotheksfonds unterstütze. Schmoller bewirkte das, und so wurde ich von neuem zu Althoff bestellt. Er beschied mich in der Sache günstig, bewilligte mir eine dreijährige Zulage von je tausend Mark; aber er erinnerte sich doch meines letzten Zusammenstoßes mit ihm und hielt für nötig, sidi mit einigen für mich sehr unliebsamen Redewendungen schadlos zu halten. Er behauptete, idi wäre bei meinem letzten Besuch aus seiner

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Stube herausgelaufen und der Geheimrat Elster, der der Unterhaltung beigewohnt hätte, habe gesagt: ,Das ist ja ein merkwürdiger Bursche/ N u n war weder Elster Zeuge meines Gesprächs mit Althoff gewesen, noch hatte ich ihn je gesehen; ich hätte mich auch wohl zur Wehr setzen sollen gegen die f ü r einen Professor doch nicht eben schmeichelhafte Bezeichnung ,Bursche'; aber ich war der Sache müde, ließ es dabei bewenden zu sagen, daß ich Geheimrat Elster nie kennengelernt hätte. Man schildert Althoff gewöhnlich so, als ob er ein in Wahrheit höchst gutmütiger, nur besonders grober Polterer gewesen sei. Audi das mag sein; aber in seinem Wesen waren doch auch schädliche Dämonen wirksam, und auch seine Amtstätigkeit im Weiten und Großen blieb von ihnen nicht unberührt. Ich meine, man sollte ihm zum Vorwurf machen, daß er, der selbst eine so starke Persönlichkeit war, ein gut Teil seiner Amtsgewalt dazu gebrauchte, in den von ihm Abhängigen Persönlichkeit zu brechen. Es mag sein, daß er sich dieser seiner Wirkung auf Andere nur zum Teil bewußt war. Aber er handelte in böser Stimmung doch wie ein Mann, der mit dem Knüttel dreinschlug oder ihn doch wenigstens zur Drohung verwandte, während er mit ruhigem, gehaltenem Wort weit wirksameren und zugleich würdigeren Eindruck gemacht haben würde- Wir, die er als seine Untergebenen betrachten mochte, waren nicht die allein Betroffenen; einer meiner Kollegen hat einmal mit angehört, wie er einen Ministerialrat eine Viertelstunde lang mit den heftigsten Zornworten übergoß. Dennoch mag das Spottwort Herman Grimms von der Elster, die sich in das verlassene Nest des Adlers gesetzt habe, auch in seinem positiven Teil zutreffen.

Kollegen Wenn ein Gelehrter sein Leben lang an der gleichen Hochschule tätig bleibt, an der er den größten Teil seiner Studienjahre zugebracht hat, so muß dies bei normaler Seelenbeschaffenheit auf sein Verhältnis zu seinen Kollegen günstig einwirken. Ich hatte als Student die natürliche Verehrung, die dieser, wenn er gerade und richtig denkt, seinen Lehrern zollt. Die scharf kritische und meist überhebliche Einstellung, die ich in späteren Generationen beobachtet habe, war mir fremd. Ich hatte ein Verhältnis begeisterter Liebe zu Treitschke, eine begründete und tiefe Hochschätzung für Schmoller und einen Begriff von der ehrlichen Tüchtigkeit Kosers. Ausnahmen ließ ich zu. Den

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Hauptteil meines späteren Lebens brachte ich mit Männern als Kollegen zu, die ich ehemals als Lehrer zu schätzen gewohnt war. Die Eigenwilligkeit meiner wissenschaftlichen Laufbahn brachte es aber mit sich, daß mir Männer nahegerückt waren, die ihrem Amtsverhältnis nach wohl meine Kollegen, die zugleich aber auch meine Gegner waren. Ich habe Ursache, in diesem Zusammenhang Delbrücks zu gedenken. Ich war in seinem Seminar gewesen und erfreute mich damals seiner besonderen Beachtung. Sie hätte sich zu einem nahen Schülerverhältnis steigern können, wenn ich gewollt hätte. Eines Tages, an dessen Gespräche ich mich mit aller Deutlichkeit erinnere, forderte er mich auf, ihn auf dem sehr weiten Weg zwischen der Universität und seiner Wohnung zu begleiten. Während dieses Weges legte er mir nahe, mit meinem Studium das der alten Sprachen zu verbinden und dann in seinem Sinne die Kriegsgeschichte des Altertums zu betreiben. Er stellte mir vor, daß es fürs Erste genüge, die alten Kriegsschriftsteller in Übersetzungen zu lesen. Aber so hoch ich damals Delbrück schätzte und so ehrenvoll mir als Studenten sein Anerbieten sein mußte, so sprach doch alles in mir gegen diesen Plan. Mir war ein Studium der Altertumswissenschaft, das doch immer ein halb philologisches hätte sein müssen, innerlich denkbar fern; ich war ein begeisterter Anhänger der Neueren Geschichte und doch auch ganz der Schule Kosers zugetan. Ich habe in jener Zeit nur e i n e Vorlesung von Delbrück gehört, sie aber mit denkbar großer innerer Anteilnahme; es war eine Geschichte der Kriegskunst, sie behandelte also das Spezialgebiet, dem Delbrücks eigene Forschung gewidmet war. Obwohl ich damals noch keineswegs den Instinkt für die entwicklungsgeschichtliche Richtung in meinem Fache hatte, obwohl auch Delbrück an dieser Tendenz keinen, am wenigsten einen bewußten und ausgesprochenen Anteil hatte, so war der Sinn dieser Vorlesung im Grunde ihr doch nahe. Sie hätte als eine Vorstufe für diese Forschungsweise dienen können. Einige Jahre später brachte ich bei einer gelegentlichen Begegnung mit Delbrück das Gespräch auf diesen Gedankengang. Aber er lehnte ihn völlig ab: Schmoller hätte wohl Vorstellungen dieser Art; ihm aber lägen sie ganz fern. Ich habe nie den Fehler gehabt, mein Urteil über wichtige Menschen nach ihrem Verhältnis zu mir zu bemessen, eine Unsitte, die, bei Frauen vorherrschend, leider auch unter Männern sehr verbreitet ist. In der Folgezeit wußte ich wohl, daß Delbrück eine sehr wenig günstige Meinung über meine wissenschaftliche Stellungnahme hatte; trotzdem habe ich oft genug ausgesprochen, daß ich seine wissenschaftliche Leistung, insbesondere aber seine Arbeiten zur Geschichte der Kriegs-

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kunst sehr hoch schätzte. Delbrücks Verhältnis zu mir, das lange Zeit von kühler Distanziertheit war, steigerte sich im Lauf der Jahre zu betonter Ablehnung, ja sichtlicher Feindseligkeit. Als ich 1923 in die Fakultät eintrat, war sein Verhalten zu mir so, daß ich vermied, ihn zu grüßen. In den letzten Zeiten seines Lebens trat hierin aber eine grundsätzliche Änderung ein. Ich muß sie in Verbindung mit einer Ansprache bringen, die er in der Fakultät bei Gelegenheit einer Danksagung für die Glückwünsche hielt, die ihm zu seinem achtzigsten Geburtstage dargebracht worden waren. Er kam in ihr mit eigens starker Betonung auf die Änderungen zu sprechen, die sich in der geistigen Haltung einer Wissenschaft vollzögen und bei denen die Älteren oft den neuernden Jüngeren feindlich entgegenträten. „Ich", so fuhr er wörtlich fort, „muß mich in dieser Sache als einen argen Sünder bekennen". Ich vermag nicht mit Gewißheit zu sagen, daß er diese Worte in Hinblick auf mich gesprochen hat. Aber sie lauteten so, als seien sie auf midi gemünzt. Und dem entsprach, daß Delbrück schon geraume Zeit vor diesem Tage, sobald er mich in der Fakultät sah, auf mich zuging und mir mit nachdrücklicher Gebärde die Hand schüttelte. Ein analoges Geschehen steht in meiner Erinnerung im Hinblick auf Eduard Meyer verzeichnet. Ich wußte wohl, daß ich midi seiner Gunst nicht zu erfreuen hatte. Sachliche Gegnerschaft verwandelt sich ja so leicht in persönliche Feindschaft; so geschah es wohl auch hier. Allmählich aber muß sich diese Meinung Meyers geändert haben. Denn als ich ihn bei einem Nachmittagskaffee traf, den der Theologe Holl als Dekan veranstaltete und der mir in Erinnerung geblieben ist um eines eingehenden Gesprächs willen, das ich mit dem Philologen Eduard Norden hatte, redete midi Meyer mit einigem Wohlwollen an, und als ich etwa ein Jahr vor seinem Tode ihn in der Fakultät in Sachen eines Dritten ansprach, sah er mich mit so viel Wohlwollen, ja Güte an, daß ich die Gültigkeit jener früheren Haltung für ausgetilgt halten konnte. Harnacks Stellungnahme zu mir war von früh an die schlechthin entgegengesetzte. Ich habe im Sprechzimmer oft genug gute Gespräche mit diesem Forscher gehabt, der gewißlich von allen Historikern, ja von allen Männern der Geisteswissenschaften überhaupt, die zu meiner Zeit an der Berliner Universität lehrten, der stärkste Geist war. Man hat ihn als liberalen Theologen abstempeln wollen, und doch ist er mit dieser Kennzeichnung nur denkbar oberflächlich charakterisiert. Ich wurde vor ihr schon um deswillen bewahrt, weil ich ihn als Geschichtsforscher zu sehen alle Ursache hatte. Und zugleich band mich eine ganz lebensmäßige Erwägung an die Rolle, die er

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in dem weiten Kreis der Historiker spielte. Denn hätte es das Schicksal gewollt, daß er, was seiner geistigen Beschaffenheit nach leicht möglich gewesen wäre, dem engeren Kreis meiner Zunft angehört hätte, etwa als Vertreter der geistigen Kulturgeschichte, so wäre mein Leben im äußeren und vielleicht auch im inneren Sinne sehr viel leichter und günstiger verlaufen, als es wirklich geschah. Denn man darf den Wert harten und vielleicht ungerechten Erlebens nicht allzu hoch und die Erleichterungen, die einem Gelehrtenleben der Sonnenschein hellen Ergehens gewährt, nicht allzu niedrig einschätzen, wenn man die Summe eines Lebens wie des meinigen zieht, das an beiden Schicksalsformen genug aufzuweisen hat. Harnack steht vor meinem geistigen Auge als der Verfasser der Dogmengeschichte, und man begreift, wie hoch ich ihn — obwohl sie nicht das gelehrteste oder selbst das fundierteste seiner Werke war — als ihren Urheber schätzen mußte; denn sie verbindet mit einem erstaunlichen Maß von oft tiefgründiger Einzelforschung nicht nur eine Leuchtkraft der geistigen StofTbeherrschung, nein auch einen Fortschritt der allgemeinen historischen Methode, von dem es nicht wundernehmen kann, daß gerade ein Forscher meiner Richtung ihn aufs höchste bewertete. Immer aber war ich auch beeindruckt von der Wirkung dieser führermäßigen Persönlichkeit, die, wie sein Kopf, zugleich scharfkantig und doch wieder von wohlwollendem menschlichem Verstehen durchleuchtet war. Ich entsinne mich eines Gesprächs, soviel ich weiß des ersten, das ich mit ihm hatte. Harnack gab mir, was bei meiner Jugend — ich war noch nicht allzu lange Zeit außerordentlicher Professor — nur durch ein gütiges Entgegenkommen seinerseits möglich war, Gelegenheit, von meiner immerhin exponierten Stellung in meiner Zunft zu sprechen. Er ging darauf sehr wohlwollend ein, fügte aber hinzu: „Ich würde nur an Ihrer Stelle zwischen Ihren allgemeinen Schriften Abhandlungen von ausgeprägt monographischem Charakter erscheinen lassen. Und wenn Sie die Kieselsteine auf dem Schlachtfeld von Leuthen zählen sollten", so schloß er diese Darlegung, die mir um ihrer sehr vieldeutigen Zuspitzung willen bis auf den Wortlaut im Gedächtnis geblieben ist. Wie aber stand nun Harnack zu meiner Weise, Geschichte zu sehen? Was berechtigt mich, ihn und seine Geschichtsauffassung der meinigen nah zu sehen? Keine Äußerung, die mir von seinen Worten im Gedächtnis geblieben ist, habe ich mit so gewisser Sicherheit behalten wie die letzte, die ich ganz kurze Zeit vor seinem Tode aus seinem Munde vernommen habe. Ich sagte zu ihm ganz ohne Bitterkeit, meine Stellung in meiner Zunft sei zwar jetzt eine völlig konfliktlose

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und böte mancherlei persönlich höchst angenehme Beziehungen; aber ich sei doch überzeugt, daß die Mehrzahl meiner Kollegen mich für einen Ketzer halte. Darauf erfolgte von Harnacks Seite die Antwort: „Was wollen Sie? Nach der Meinung der Zwölf war Paulus auch ein Ketzer." Dieses Wort ist mir mit Harnades Gedächtnis immer verbunden geblieben. Ich darf es nicht so auslegen, als habe er sich mit ihm in den Gegensatz, der zwischen mir und der communis opinio der Zunft bestand, entschieden auf meine Seite stellen wollen. Solche Entschiedenheit war überhaupt seine Sache nicht. Wohl aber kann ich diese Äußerung so deuten, daß er diesen Zwiespalt mit der höchsten Unbefangenheit angesehen und für sich selber eher zu meinen Gunsten als zu denen meiner Gegner entschieden hat. Im Ganzen war seine Absicht seiner sehr konzilianten Natur nach immer weit mehr auf Vermittlung als auf entschiedene Stellungnahme gerichtet, und so ist denn auch seine Broschüre zur Theorie der Geschichtsforschung, die er mir wie viele andere Abhandlungen zusandte, durchaus unentschieden gehalten, auch dort, wo man ihr viel schärfere Prägnanz wünschen möchte. Aber dort, wo er, worauf es doch viel mehr ankam, seine Meinung praktisch zum Ausdruck brachte, wie in der Dogmengeschichte, da stellte er sich mit aller Entschiedenheit auf die Seite der methodisch-theoretischen Partei, der ich midi zuredinen mußte, ja für die ich eine Anzahl ihrer eigentlichen Losungen vorgeschlagen habe, der Partei der entwickelnden, der systematisch orientierten Geschichtsauffassung. Er war alles andere als ein Descriptor der Einzelheiten, der lediglich beschriebenen Tatsache.

BILDNISSE

Gustav Schmoller Obwohl ich im Lauf meiner Darstellung von meinem Lehrer Schmoller oft genug gesprochen habe, so muß ich die einzelnen Züge, die ich allenfalls zu seinem Bilde zusammentragen konnte, doch zu einer Gesamtcharakteristik zu vereinigen trachten. Noch heute schwebt mir das Bild der Stunde vor, in der ich zum ersten Mal ihn aufsuchte, um mich zur Aufnahme in sein Seminar zu melden. Mit seiner stets milden Stimme, die niemals den Klang seiner näher fränkischen als schwäbischen Heimat verleugnete und deren Tonfall mir aus seinen Vorlesungen her schon lieb und vertraut geworden war, fragte er mich zunächst nach meinen wissenschaftlichen Antecedentien, nicht ohne sie zugleich in ein starkes Buch zu schreiben, in das er offenbar die Namen und Notizen von langen Jahrgängen seiner Seminarmitglieder einzutragen gewohnt war. Schon hieraus sieht man, wie gewissenhaft er diesen Teil seiner Tätigkeit betrieb. Freilich hatte der Umfang seines Seminars, der damals fünfzehn oder zwanzig Mitglieder nicht überstieg, noch nicht die späteren Zahlen erreicht. Das Verfahren von Schmoller war zu der Zeit, in der ich midi bei ihm meldete, sicher in langer Praxis ausprobiert und bewährt; ich habe es für mein eigenes Verhalten in späterer Zeit genau kopiert. Und wie die Anfänge der Behandlung sorgfältig durchdacht waren, so auch die weiteren Stadien. D a ß auf dieser Grundlage, um die er sidi wahrlich genug Mühe gegeben hatte, eine ,Schule' entstand, ist nicht zu verwundern. Bei späteren Gelegenheiten hat mir Schmoller erzählt, wie viel Mühe er sich auch in Fällen gab, in denen es sich üm ältere, schon in Amt und Würden befindliche Angehörige seines Seminars handelte. So hat er mit Hilfe der Vermittlung von Althoff einmal einem etwas älteren Mann in einem ganz verzweifelten Fall — der Betreffende hatte sich der Bigamie schuldig gemacht — doch aus aller N o t herausgeholfen. Es war auf die Weise geschehen, daß Althoff, der noch im Elsaß beamtet war, in Uniform und geschmückt mit allen seinen Orden und Ehrenzeichen, den kurzen Weg zu dem mit der Angelegenheit befaßten

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badischen Staatsanwalt nicht gescheut und den Beklagten auch glücklich freigebeten hatte. In einem anderen, minder schwierigen, jedoch noch immer übel genug gelagerten Fall, in dem es sich um einen studentischen Übeltäter gehandelt hatte, war Schmoller selbst von Amtsstelle zu Amtsstelle in der Stadt herumgefahren, bis er den Schuldigen losgebeten hatte. Schmoller tat dergleichen nicht nur aus Pflichtbewußtsein, sondern auch aus echter Menschenfreundlichkeit. Er bekundete diese nicht mit vielen Worten, sondern durch die Tat. Aber schon der Ton seiner Stimme und die freundliche Form der Beurteilungen der Arbeiten flößte den Hörern das Gefühl ein, daß der Mann, der nicht nur auf ihr geistiges Wohl, sondern auch auf ihr menschliches Sein so viel Einfluß hatte, ein tiefes Wohlwollen für sie hegte. Die Geistigkeit, aus der heraus Sdimoller sein Lehramt mit Einschluß der Vorlesungen ausübte, bewegte sidi auf der Linie schönen Ebenmaßes und eines wohl abgewogenen Gleichgewichtes. Seine Hörer erhielten den Eindruck von einer nur durch äußersten Fleiß zu erringenden Breite der Fundierung seines Wissens, aber ebenso gewiß auch den von durchdringendem Scharfsinn im Aufbau und in den einzelnen Schlußfolgerungen seiner Darstellung. Sollte man die Begrenzung seiner Begabung angeben, so müßte man sagen, daß seine Weise weder von dem Feuer der Phantasie noch von irgend einer Stärke oder gar Heftigkeit des Temperamentes genährt war. Weder mit der hinreißenden rednerischen Gewalt Treitschkes noch auch mit der geistreichen Fülle und der stets zum Sprung bereiten Kraft von Grimms vielseitiger Betrachtung hatte er irgend etwas gemein. Ebenso ruhevoll, wie er sich im Gespräch verhielt, war die Form der Auffassung von Menschen und Dingen, die die Darlegungen seiner Vorlesungen widerspiegelten. Er war ein Lauschender, Horchender, Aufnehmender; er war durchaus geneigt, den mit ihm Sprechenden mit Gelassenheit, aber auch mit Empfänglichkeit in allem Umfang seiner Darlegungen anzuhören. Schmoller hat sehr selten über sich selbst gesprochen. Einmal aber hat er seine eigene Weise charakterisiert: er sagte, er habe sich immer bemüht, die wirtschaftlichen Vorgänge in ihrer konkreten Besonderheit als sinnlich greifbare aufzufassen und darzustellen. Und dies war wohl, was ihm die mittlere Stellung zwischen den Verteidigern der reinen oder doch überwiegend betonten Begrifflichkeit und den Anhängern der reinen oder doch überwiegend betonten Besdireibungslust verschafft, die unter den Nationalökonomen die ganz statistisch oder ganz historisch Interessierten vertreten. Zwischen Schmoller und den Vertretern der Wiener Begrifflichkeit, als deren Führer Menger angesehen werden kann, klafft ein tiefer Abgrund von geistigem Gegen-

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satz, ein Maß von Entfernung, das nahe an völlige Verständnislosigkeit grenzte. Aber auch von den zeitgenössischen und etwas älteren Vertretern der geschichtlich gerichteten Wirtschaftswissenschaft hob sich Schmollers wissenschaftliche H a l t u n g ab. Roscher, der allenfalls die letzte Etappe vor Sdimoller darstellt und der sciion die entschiedene Wendung zur geschichtlichen Betrachtungsweise innerhalb der Volkswirtschaftslehre darstellt, hatte doch eben weder die Fülle des geschichtlichen Wissens noch das plastische Anschauungsvermögen, die beide Schmoller zur Verfügung standen. Schmoller gewann zuerst die Erkennntnis, daß es, wenn beides gewonnen werden solle, darauf ankomme, Sonderfälle von geschichtlichen Entwicklungsgängen in eingängiger Untersuchung und unter Heranziehung aller erreichbaren Nachrichten darzustellen. So wurde er zu der Schilderung der Straßburger Tucher- und Weberzunft und so in seiner Berliner Zeit zur Erforschung der preußischen Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte geführt. U n d es gelang ihm, mit diesen Werken zwei Wissenschaften zu dienen. Denn einmal ließ er durch sie in den Körper der Wirtschaftslehre, von deren Bedürfnis er ausging, das warme Blut lebendiger Einzelschilderung einströmen, und sodann erwies er der Geschichtswissenschaft einen vielleicht noch reicheren Dienst, insofern er sie aus dem Stadium beschreibender Einzelschilderung in das wesentlich höhere der Forschungsweise hob, f ü r die er noch keinen N a m e n gefunden hatte und die ich entwickelnde Geschichtsforschung genannt habe. Wohl wird man im weitesten Überblick über die methodische Entwicklung der Geschichtsforschung sagen müssen, daß, soweit sich überhaupt ihr Verlauf in der neueren Zeit als ein Continuum nach rückwärts verfolgen läßt, die Kunstgeschichte hier den ersten Schritt vollzogen hat, insofern sie mit Winckelmanns Geschichte des klassischen Altertums das erste Werk geschaffen hat, das nicht in tastenden Anfängen, sondern sogleich in voller Reife das Wachstum dieser Forschungsweise bis zum Gipfel führte. Von Voltaire, Condorcet, Comte oder gar Hegel kann hier abgesehen werden; denn wenn all diesen Forschern auch sich wohl die Einsicht in das Wesen entwickelnder Geschichtsforschung erschloß, so mangelte ihnen allen doch die Fülle konkreter Erkenntnis, mit der alle Geschichte erst Fleisch und Blut gewinnt. Es ist höchst bezeichnend, daß nicht zuerst die sogenannte eigentliche, d. h. überwiegend politische Geschichtsforschung — die erst mit den Angehörigen von Schmollers Generation, vor allem mit Nitzsch sich an diesem Verlauf beteiligte — in dieses geistige Geschehen handelnd eingriff. Es wird vielmehr Schmollers unbestreitbares Verdienst bleiben, daß er als der erste im 4

Breysig, Tage

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Bereich der Geschichte weiteren Sinnes die Grundsätze der entwickelnden Geschichtsforschung verwirklicht hat. U n d z w a r ist ihm dies, recht wie es im Sinn dieses geistigen Geschehens lag, nicht allein in der Schöpfung von saftvoll konkreten Einzelschilderungen gelungen, sondern ebenso sehr auch in allgemeinen, ja schlechthin universalgeschichtlichen Abhandlungen. Es sind die Aufsätze über Arbeitsteilung und Klassenbildung, die eben zu der Zeit, als ich Mitglied seines Seminars war, erschienen und die deshalb mich besonders tief beeindruckten. Ich kann in voller Wahrheit behaupten, daß meine Anhänglichkeit an Schmoller nicht auf eigennützigen Beweggründen beruhte, etwa auf der Sorge für meine zukünftige Laufbahn. Für meinen Entschluß, Tübingen zu verlassen und nach Berlin zu gehen, war maßgebend nur die instinktive Annahme gewesen, daß ich hier die besten Lehrer finden würde; in Schmollers Vorlesungen aber f a n d ich bei weitem die breiteste Wissensgrundlage und eine mir gemäße ruhevolle Sachlichkeit. Wenn gerade dieser Lehrer so besorgt für das Fortkommen seiner Schüler war, so wußte ich davon, als ich mich f ü r ihn entschied, nichts; daß es sich aber so verhielt, muß ich als einen der glücklichen Zufälle meines Lebens ansehen. Mein persönliches Verhältnis zu Schmoller blieb immer ein betont sachliches. Ich habe nur in seltenen Fällen das Gefühl persönlich enger oder gar vertraulicher N ä h e zu ihm gehabt. Ich bin immer nur in seinen offiziellen Sprechstunden zu ihm gegangen; nie war ein Ton freier oder gar scherzhafter Unterhaltung zwischen uns, wie er zwischen mir und Grimm fast von der ersten Stunde an obwaltete. Vielleicht war das überhaupt Schmollers Weise, mit jüngeren Männern zu verkehren. Ich meinerseits habe ihm die Förderung, die er mir angedeihen ließ, mit lebenslanger Anhänglichkeit vergolten, die, ganz geistigen Ursprungs wie sie war, ganz gewiß im weiteren Verlauf unserer Beziehung die Dankbarkeit einschloß, die ich ihm f ü r die äußere Förderung meiner Laufbahn schuldete, aber niemals ihren eigentlichen Ursprung vergaß. Es entsprach dem sachlichen Verhältnis, in dem Schmoller zu mir stand, daß er nicht nur in den Verhandlungen der Fakultät, nein, auch vor der Öffentlichkeit f ü r mich und meine Geschichtsanschauung Zeugnis ablegte. Er tat es, insofern er von meinen allgemeinen Büchern, vornehmlich vom Stufenbau, in seinem Jahrbuch kritischen Bericht erstattete, sodann aber, indem er an einer grundsätzlichen und überragenden Stelle seines Hauptwerkes, seines Grundrisses 1 , meine Geschichtslehre im Ganzen würdigte. In der ersten Äußerung erhob er bei im allgemeinen sehr wohlwollender Haltung gegen manche Einzelbe1

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h a u p t u n g Widerspruch. D i e zweite Beurteilung, die er in seinem G r u n d riß veröffentlichte, w a r f ü r mich durchaus ehrenvoll. „Seine Geschichtsp a r a l l e l e n " , so s a g t er unter anderem, „gehören z u m Lehrreichsten, w a s neuerdings auf dem Gebiet der vergleichenden Staatengeschichte geschaffen w u r d e , u n d seine Antithese v o n Persönlichkeits- u n d G e meinschaftsdrang trifft sicherlich den Z e n t r a l p u n k t menschlichen Seelenlebens." Schmoller hebt meinen G e g e n s a t z gegen Lamprechts K o l l e k tivismus u n d meine A b w e i s u n g des marxistischen Materialismus als die A n g e l p u n k t e meiner Geschichtslehre hervor, unterläßt aber auch nicht, meine Einbeziehung des geistigen Lebens der V ö l k e r in das G e s a m t bild der Geschichte a n z u f ü h r e n . Schmoller w a r bei weitem der erste unter den M ä n n e r n seines Fachs. D e r G r u n d r i ß , mit dem er sein L e b e n s w e r k krönte, erwies, d a ß eine so großartige Vereinigung u n d Verschmelzung aller Einzelgebiete der N a t i o n a l ö k o n o m i e u n d des weiteren eine so eindringliche u n d zugleich u m f a s s e n d e V e r b i n d u n g v o n Geschichte u n d Wirtschaftslehre keinem Forscher in beiden Wissenschaftszweigen möglich gewesen w ä r e wie ihm. G e w i ß hat Schmoller den T r i b u t zahlen müssen, der jedem G e lehrten a b g e f o r d e r t w i r d , der es w a g t , ein so ungeheures D o p p e l g e b i e t zu umspannen, u n d der dabei nicht verzichten will auf die gründliche H e r a n z i e h u n g aller u n d jeder Einzelforschung. E r hat in Sonderheit verzichten müssen auf die Möglichkeit einer gleichmäßigen u n d einheitlichen begrifflichen D u r c h d r i n g u n g v o n so vielen E i n z e l f o r m e n des wirtschafts- u n d geschichtswissenschaftlichen Wissens. U n t e r allen den Ausstellungen, die seine K r i t i k e r gegen das große G e s a m t w e r k seines Grundrisses vorbrachten, haben wohl diejenigen die beste B e g r ü n d u n g , die die allgemeinsten D a r l e g u n g e n betreffen: es w a r nicht Schmollers N e i g u n g noch A n l a g e , die philosophischen G r u n d l a g e n seines Faches v o n neuem zu p r ü f e n oder ihnen g a r eine originäre P r ä g u n g zu geben. J a , er w a r dem rein begrifflichen Forschen ü b e r h a u p t nicht zugeneigt. Doch ging auch diese A b n e i g u n g nicht so sehr weit: er w a r auch in diesen G r u n d f r a g e n der Wissenschaft, wie es in seinem T e m p e r a m e n t lag, ein M a n n der abgewogenen Mitte. Schon d a ß er sein L e b e n s w e r k k r ö n t e mit einem d a s G a n z e seiner Wissenschaft u m f a s s e n d e n Werk, schon d a ß er in der A n l a g e dieses Werkes auch noch eine zweite D i s z i plin, die Geschichte, insofern sie die Wirtschaft anging, u m s p a n n e n wollte, läßt erkennen, wie er auch ein S y s t e m a t i k e r w a r . D e n n alles Streben zur V o l l s t ä n d i g k e i t bedeutet gewiß Liebe z u m S y s t e m . U n d wenn m a n bedenkt, wie weit Schmoller auch als Geschichtsforscher im A u s b a u des Entwicklungsgedankens ging, so w i r d m a n ihn auch hier v o n dem Sinn f ü r S y s t e m a t i k beherrscht finden. E r w a r d a n n , wenn er monographisch sein K ö n n e n an Einzelforschungen bewährte, g a n z 4*

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ebenso sehr, wie wenn er den vollen Umfang seiner beinahe universalen Sichten erreichte, Evolutionist. Gleichwohl wird, wenn man Schmollers Geistigkeit und seinen Rang in der Geschichte der Forschung seines Jahrhunderts bestimmen will, ihm doch als der Hauptwert seiner Leistung die Rolle angeredinet werden müssen, die er als Empiriker gespielt hat: er hat als Mann der erfahrenden Wissenschaft, der tiefdringenden Einzelarbeit seine besten Erfolge davongetragen, in der „Straßburger Tucher- und Weberzunft", in den „Einzelforschungen zur preußischen Verwaltungsgeschichte" und in den ganz weitgespannten, aber der wissenschaftlichen Gesinnung nach ebenso monographischen „Studien zur Geschichte der Arbeitsteilung und der Klassenbildung". In ihnen wird man auch das qualitative Hauptgewicht seiner Lebensleistung zu suchen haben. Vielleicht darf ich von mir rühmen, daß ich in allen den J a h r zehnten, in denen meine Lebenszeit mit der Schmollers zusammenfiel, ein Vollgefühl von seiner historischen Leistung bewahrt und es ihm, soweit sich das geziemte, zum Ausdruck gebracht habe. Wie weit Schmoller meine Anhänglichkeit erwidert hat, vermag ich nicht zu sagen. Seine Weise war es so gar nicht, seine Gesinnung zu äußern; am wenigsten wäre ihm beigekommen, seine Gefühle zu offenbaren: seine Wortkargkeit hätte ihn wohl in diesem Ding am letzten verlassen. Aber er zahlte in Taten, und ich habe genug Beweise dafür, daß er nicht säumig war, diese Eigenschaft auch an mir zu bewähren.

Herman

Grimm

Wenn ich von Schmoller so eingehend gesprochen habe, so muß ich auch von Grimm mit einiger Ausführlichkeit berichten. Nicht weil mein Verhältnis zu ihm ein irgend ähnliches gewesen wäre, sondern eher, weil es ein so ganz anderes, fast kann ich sagen ein entgegengesetztes gewesen ist. Mit Schmoller verband mich eine gänzlich sachliche Beziehung, gegründet auf die Verpflichtung, die ein empfänglicher Schüler einem Reiches spendenden Lehrer gegenüber empfindet; Grimm aber kam mir von der ersten Stunde ab mit einer Herzlichkeit entgegen, die ganz und gar aus menschlicher Sympathie entsprang und nie eigentlich eine wissenschaftliche, eine sachliche Verbundenheit in den Vordergrund stellte. Wohl waren die Gespräche, die wir führten und für die er, wie selbstverständlich, den Ton angab, erfüllt von wissenschaftlichen Erörterungen; aber er hatte in diesen Unterredungen immer eine leichte, gern spaßhafte Art: er liebte die Causerie, nicht aber die schwere Diskussion.

Bildnisse: Herman Grimm

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Ich hatte das Glück, in der ersten Zeit, nachdem ich Grimm kennengelernt hatte, einen Monat lang ihn fast täglich zu sehen unter Umständen, die einen freien, zwanglosen Verkehr besonders begünstigten. Ich hatte, ehe ich noch meinen Antrittsbesuch bei ihm machte, vor, einen längeren Erholungsaufenthalt im Hochgebirge zu nehmen und war dabei auf das dicht unterhalb, d. h. südwärts vom Brenner gelegene Gossensass verfallen. Der Zufall aber wollte es, daß Grimm dasselbe Gossensass gewählt hatte, für das er schon einen Kreis von Leuten — ausnahmslos Damen — um sich versammelt hatte. Hier also war Gelegenheit gegeben, mit dem von mir schon an sich verehrten Mann in eine Berührung zu kommen, die, so frei und zwanglos sie war, doch schon durch ihre etwa einen Monat währende Dauer eine gewisse Gewähr der Annäherung versprach. Keiner von den älteren Kollegen, in deren Reihe ich damals nach meiner Habilitation trat, wäre mir nächst Schmoller in diesem Sinne so willkommen gewesen wie Grimm. Gedenke ich seiner, so schwebt mir sein Bild im Hörsaal vor, wie er in den hell beleuchteten Kreis trat, den der Schattenwerfer schuf und von dem sich sein edles Greisenhaupt so scharf abhob; es war von schneeweißem Haar umgeben, das es mit wallenden Locken umrahmte. Dann fing er an zu sprechen, flüssig und ganz aufgelockert, so daß der Hörer immer das Gefühl hatte, daß der Sprechende mit ihm zusammensitze, um ihm zwanglos zu erzählen; allerdings faßte er auch den einzelnen Zuhörer ins Auge. Noch Student, war ich einmal in seiner damals kleinen Zuhörerzahl und hatte insofern Unglück, als ich durch Zufall eine Stunde getroffen hatte, in der Grimm nur Literatur anzugeben hatte. Sie hatte deshalb nicht ihr volles Maß, und ich glaubte zu bemerken, wie sich die Augen des Redners auf mich richteten, als wollten sie sagen: „Du Armer." Es waren herrliche Augen, die aus diesem Antlitz schauten, alte, aber noch nicht matte Augen, sondern strahlende, leuchtende; und das schöne, scharfe Profil gab diesem Kopf ein völlig ungewöhnliches Gepräge, das von dem vollen weißen Bart wahrlich nicht gemindert wurde. Wenn aber, wie es einmal geschah — der jüngere Andreas Heusler war dabei — von dem Verhältnis seines Profils zu seinem Bart die Rede war, so machte er uns, so neckisch wie es seine Art war, auf einen Mangel im Bau seines Kopfes aufmerksam und sagte, in seiner Jugend, als er noch keinen Bart getragen habe, „da hieß ich Herman das Hängemaul". Spaßhaft zu sein war eigentlich beständig seine Art. Es machte ihm Freude, von den „Histriokern" zu sprechen, und ich bewahre von seinen Äußerungen besonders viele lustig plänkelnde auf. Selbst wenn er ganz ernsthafte Charakteristiken zu überliefern gedachte, kleidete

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er sie wohl in eine spaßhafte Form. So gab er eine Schilderung von Treitschke in der folgenden Weise: „Treitschke ist imstande, mir, wenn es not täte, eines Tages zu eröffnen: ,Ja, mein lieber Grimm, es hilft Ihnen nichts, aber die Sache des Vaterlandes verlangt es, Sie müssen sich den Kopf abschlagen lassen'. Und wenn er dann eine Viertelstunde lang Zeit hätte auf midi einzureden, dann würde ich zum Schluß sagen: ,Ja, mein lieber Treitschke, ich sehe dies alles völlig ein; sorgen Sie nur dafür, daß alle Vorbereitungen pünktlich getroffen werden und daß Sie mich selbst zur rechten Zeit abholen.'" Unnachahmlich war, wie er die Kopfhaltung Mommsens in der Sitzung der Fakultät imitierte; dann stak er sich nach Art eines Vogels mit dem krummen Schnabel seiner Hakennase in die Schulter. Oder in furchtbarer Bitterkeit, wie er sie nur gegen Mommsen hegte, brach sein Temperament aus ihm los und er schalt: „Wenn die Mommsenschule zusammensitzt, dann trinken sie nicht Sekt, sondern moussierende Stiefelwichse", und er gab dann wohl ein Gespräch zwischen ihm und Mommsen wieder, das sich durch zufälliges Zusammentreffen bei einem Diner ergab und das schon in den Anreden, die sie sich gegenseitig gönnten, alle Ironie und alle sardonische Schärfe offenbarte, mit der sie sich gegenseitig behandelten. Es war schon geraume Zeit vergangen, daß Grimms Bruder Rudolf, der der Freund Treitschkes gewesen war, verstorben war. Doch war Fräulein Auguste Grimm übrig geblieben, die — da Hermans Frau schon lange nicht mehr lebte — ihren Haushalt mit dem seinen vereinigt hatte. Es war nicht so, daß immer dann, wenn ich Herman besuchte, auch Fräulein Auguste dabei geblieben wäre; sie stand bei unseren Zusammenkünften wohl eine Weile an unserem Tisch und mischte sich in unser Gespräch. Sie war darauf bedacht, schon in ihrer äußeren Erscheinung den Eindruck des Altmodischen, Längstvergangenen zu machen. Ich habe sie nie anders gesehen als angetan mit einem großen schwarzen Umschlagetuch und bedeckt mit einem breitrandigen schwarzen Kapotthut von völlig verschollener Mode. Aber diese Tracht wirkte nicht affektiert, sondern stand ihr ganz natürlich. Sie paßte gut zu den gardinenlosen Fenstern ihrer Zimmer. Es war ein trauliches Element reinen Wohlwollens, das sie in unsere Unterhaltung einfließen ließ. Die beiden Geschwister hatten die Bücherei des verstorbenen Bruders geerbt. Sie forderten mich auf, diesen Bestand zu mustern und die Bücher auszuwählen, die meiner Bibliothek noch mangelten. Es fand sich, daß Rudolf Grimm eine sehr gut ausgestattete Sammlung der neuzeitlichen deutschen Belletristik zusammengebracht hatte. J e mehr Bände ich aber herausgriff, desto mehr bemerkte ich zu meinem Schrecken, daß meine Begierde sehr viel größer war, als es

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sich mit Bescheidenheit und selbst Anstand vertrug. Aber immer, wenn ich mich an die Geschwister wandte und unsicher meinen Wünschen Einhalt tun wollte, ermutigten sie mich und hießen midi, nur tapfer zuzugreifen. So kam es, daß meine Bücherei einen Zuwachs erhielt, der in der schönen Literatur der neueren Jahrhunderte meinen schon vorhandenen Bestand überstieg. Ich ging als ein durch die Güte der Geschwister reich Beschenkter vondannen. Mein geistiges Verhältnis zu H e r m a n Grimm war ein ganz besonderes, einzigartiges in der Reihe meiner Bewirktheiten im Geist. Ich stand in keinerlei Schülerverhältnis zu ihm in dem Sinne, wie er sonst wohl gebraucht wird. Ich war nie in einem seiner Seminare; ich habe außer jenen einzelnen, erwähnten nicht einmal eines seiner Kollegien gehört. Seine Hörerschar war zur Zeit, als ich Student war, nur klein, allenfalls aus zwölf Zuhörern bestehend. D a in einem späteren Semester die Zahl sich verdrei- oder vervierfacht hatte, so kann man ermessen, mit welchem Erfolge nach dieser Seite seines Wirkens Grimm tätig gewesen ist; denn in jener Zeit gehörten kunstgeschichtliche Vorlesungen noch keineswegs zu der üblichen geistigen Ausrüstung von jungen Historikern, geschweige denn von Nationalökonomen oder Juristen; eher hat Grimms Lehrtätigkeit da eine Veränderung bewirkt. Sie ist um so bemerkenswerter, als er in der geistigen Nachbarschaft seines Fachs eher Anfeindung als Anerkennung fand. Es war ja nicht nur die Gegnerschaft der Philologen und die besondere Mommsens, gegen die er zwar nicht in den früheren, wohl aber in den mittleren Zeiten seiner Berliner Tätigkeit anzukämpfen hatte, sondern ihm wurde auch in seinem eigenen Fach, in der Kunstgeschichte, genug Abneigung, ja selbst Geringschätzung und erklärte Feindschaft entgegengetragen. U n d wenn nun Grimm auch als Zweifrontenkämpfer, als Literar- und Kunsthistoriker auftreten konnte, so bleibt noch fraglich, ob ihm diese Duplizität nicht als ein weiterer Mangel seiner Geistigkeit ausgelegt wurde. Es war fast noch mehr der Literar- als der Kunsthistoriker, dessen Einwirkung ich in diesen Jahren — es waren die ersten meiner Privatdozentenzeit — erfuhr. Denn unter dem lebendigen Eindruck der persönlichen Berührung mit Grimm in den Gossensasser Tagen ruhte ich nicht eher, als bis ich mir alle H a u p t w e r k e Grimms zu eigen gemacht hatte. Ja, ich sdiritt auch noch zu seinen Aufsätzen und Abhandlungen vor, in die er die Fülle seiner einzelnen Gedanken ganz ebenso wie in die großen Schriften verstreut hat. Ich hätte selbst heute, da ich meine Entwicklung ganz zu übersehen meine, Schwierigkeit, wenn ich mein geistiges Verhältnis zu Grimm des genaueren umschreiben sollte. Ich kann eigentlich nichts

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Präziseres angeben, als d a ß es Bewunderung seiner überreichen Geistigkeit w a r , die midi zu ihm trieb. Eben d a ß er in vollem Gegensatz zu dem oft doch engstirnigen Spezialismus seine Interessen so weit ausdehnte, machte mir seine Weise lieb u n d wert. U n d niemals verlor er sich in die Niederungen der P o p u l a r i t ä t ; er w a r immer geistreich, das W o r t in seinem ursprünglichen, tieferen Sinn verstanden. W e n n ich mit einiger Ausführlichkeit auf die Beschaffenheit meines geistigen Verhältnisses zu G r i m m zurückkomme, so geschieht es, weil ich es f ü r sachlich unterrichtend halte, d a ß ein solcher geistiger Z u sammenhang um der N a t u r seiner Verkettung willen dargestellt w i r d . D e n n je mehr ich über diese nachdenke, desto mehr werde ich gewahr, wie wenig es bedeutet, w e n n m a n die A r t einer solchen Abhängigkeit damit zu umschreiben gedenkt, d a ß man sie in ihrer Allgemeinheit feststellt, in dem Sinn also, d a ß G. auf B. stark eingewirkt habe. Deshalb will ich diese Bewirkung in der Zusammengesetztheit ihrer Einzellinien des genaueren analysieren. Das Ergebnis solcher U n t e r suchung ist vielleicht insofern überraschend, als sich die völlig entgegengesetzte Richtung einzelner dieser Bewirkungslinien herausstellt. Ich sagte, d a ß mich Breite u n d Vielgestaltigkeit der Geschichtsschreibung H e r m a n Grimms mit Bewunderung erfüllt habe; aber nicht einmal dieser Satz ist so zu verstehen, als habe mich das Vorbild Grimms dazu angetrieben, ihm in dieser Mannigfaltigkeit der Interessen nachzueifern: es w a r e n schon J a h r e vergangen, d a ß diese g r u n d sätzliche W e n d u n g meiner Geschichtsauffassung eingetreten w a r . Bereits zu dem Zeitpunkt, an dem ich noch vor meiner D o k t o r p r ü f u n g mich entschloß, eine deutsche Geschichte in dem Z e i t r a u m zwischen 1648 u n d 1740 zu verfassen, w a r ich willens, nicht nach der herrschenden Weise der politischen Geschichte den bei weitem überwiegenden Anteil in der Verteilung der Materien einzuräumen, sondern völlig gleichmäßig in der Einteilung der K a p i t e l vorzugehen u n d dem geistigen Geschehen ebenso viel Berücksichtigung wie dem staatlichen oder wirtschaftlichen zu gewähren. J a , wenn ich in der Reihe meiner Pläne noch weiter zurückgehe u n d da auf die Absicht stoße, eine Geschichte des H e r z o g t u m s Preußen unter dem G r o ß e n K u r f ü r s t e n zu schreiben, so w a r auch dieser P l a n schon von dem gleichen G e d a n k e n beherrscht. So k a m denn Grimms Einwirkung in diesen allgemeinsten Grundsätzen der Forschungsweise f ü r mich nicht im mindesten in Betracht. In anderen, nicht minder wichtigen Prinzipienfragen w a r mein Verhältnis zu ihm geradezu das der Gegnerschaft. M a n k ö n n t e bei oberflächlichem V e r f a h r e n leicht auf den G e d a n k e n kommen, d a ß ich v o n Grimms Kunstgesinnung beeinflußt w o r d e n wäre. Das Gegenteil w a r der Fall: ich habe mein Verhältnis zu ihr nie anders als das

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eines schroffen Gegensatzes gesehen. Und auf der anderen Seite war sein Verhältnis zu den ersten programmatischen Äußerungen meiner Kunstgesinnung das einer grundsätzlichen Ablehnung. Als ich ihm meinen Aufsatz über Stefan George 1 brachte, war ein höchlich befremdetes Kopfschütteln seine einzige Reaktion. Ich war nicht im mindesten mit Grimms Stellungnahme zu den Größten der bildenden Kunst, mit seiner Rafael-Verehrung, einverstanden, und ich sah die Schwäche, ja das vollkommene Versagen seiner Kraft in den Dingen der Architektur. Ich konnte mich kaum beruhigen, als ich fand, daß er anstelle einer gründlichen kunstwissenschaftlichen Würdigung von Sankt Peter als Lückenbüßer seine Sentiments gab, die ihm bei Gelegenheit einer Ersteigung der inneren Kuppel des Doms gekommen waren. Ich war gewissermaßen von vornherein überzeugt, daß ich von dieser Seite des kulturgeschichtlichen Schaffens von Grimm keinerlei Bereicherung zu erwarten hätte. Wenn es sich aber darum handelte, die eigentlich historischen Kapitel von Grimms Michelangelo zu würdigen, so war meine Anerkennung schlechthin schrankenlos, und seinen Goethe bewundere ich noch heute. Durch die drei Bände, in denen Grimm unter dem Namen Essays seine verstreuten Aufsätze und Abhandlungen gesammelt hat, zieht sich eine nie abbrechende Kette wertvoller Aperçus: wo immer man sie auch aufschlagen mag — selbst da, wo sie über einen Gegenstand von geringerer Bedeutung wie etwa über Varnhagen von Enses Tagebücher handeln — , fühlt man sich von ihnen gefesselt und vermag ihnen einzelne Bemerkungen von höchstem Wert zu entnehmen. Herman Grimm hatte in den letzten Jahren seines Lebens den Plan eines umfassenden Werkes gefaßt, in dem er die einzelnen Betrachtungen und Betrachtungsweisen sich vereinigen lassen wollte. Und da der Titel dieses Werkes sich ebenso hoch über den Durchschnitt historischer Leistung erhob wie sein Inhalt, so schließe ich mit dem Namen des Werkes. Es sollte Geschichte der deutschen Phantasie heißen.

Friedrich

Nietzsche

Ein von Leiden umstarrtes Leben war der Preis, den Friedrich Nietzsche für das teure Gut seiner Lehre, seines Werkes zahlte. Der königliche Stolz ihrer Forderungen dankt diesem Pathos seines Schicksals den Ursprung.

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Der Lyriker unserer Tage (1900) Die Zukunft, hrsg. v. Harden.

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Aus dem Zwang seiner so oft von Krankheit unterbrochenen Arbeit ist ihm das Bruchstück, der ganz kurze, auf wenige Blätter, oft nur ein, zwei Sätze gebannte Gedankengang die natürliche, zuletzt notwendige Form der Äußerung geworden. Er hat eine neue Prosa geschaffen, die einzige unseres endenden Jahrhunderts, die sich an Schönheit mit der Goethes vergleichen läßt. Er hat mit ihr ein großes Gut in den geistigen Besitz des heute aufwärtsstrebenden Geschlechts gefügt; denn obgleich sie weit weniger gefältelt dahinrauscht als die schwere Pracht der Sprache des älteren Goethe, ist sie imstande, das an Schattierungen reichere Ausdrucksbedürfnis unseres, des mit Nietzsche anhebenden Zeitalters zu befriedigen. Und ist er so ein Meister wissenschaftlicher, auseinandersetzender Darstellung geworden, so hat er darüber hinaus in seinen Zarathustrahymnen ein Denkmal gehobener Rede geschaffen, zu dem die Geschichte unseres Schrifttums kein Seitenstück aufzuweisen vermag; in seinen Liedern hat er den Reichtum der geistigen Farben mit strengem Stil vorbildlich vereinigt; er steht an den Pforten eines neuen Abschnitts unserer Sprachgeschidite. Nietzsche hat zwar früh aller Gelehrsamkeit für immer abgesagt; aber um Erkenntnis ist er bis zum letzten Tage seiner Schaffenszeit bemüht geblieben. Er hat nie aufgehört, sich wie Piaton als einen Freund der Weisheit zu bezeichnen; er hat nie ein Wort geschrieben, das nicht dem Wissen um die menschliche Seele und um das Weltgeschehen gedient hätte. Gewiß, auch da, wo er forschte, blieb er ein Schauender, ein Ahnender und, wenn man will, ein Künstler. Die großen Gedanken, die seine Schriften überschatten, der Plan einer Steigerung des Einzelmensdien über das heutige Maß seiner geistigen und mehr nodb seiner Willensfähigkeiten hinaus, die Ideendichtung der ewigen Wiederkunft, sie sind riesenhafte Projektionen in das Ungewisse, in den Weltraum der Zukunft hinein. Aber alle wahrhaft schöpferische Wissenschaft kann nur auf den Flügeln starker Phantasie ins freie Luftmeer der Gedanken und hoch hinaus über den sehr festen, aber auch sehr engen Boden der greifbaren Wirklichkeit aufwärtsdringen. Weder Piatons Zukunftsstaat noch seine Märchenlehre vom Ideenparadies wurzeln sicherer in der Erfahrung. Und noch auffälliger ist Nietzsches hellseherische Art, die mehr auf die eigene Deutung der Dinge vertraut als auf alle Beschreibung von ihnen; immer fliegt er über die weiten Reiche des Wissens dahin, in denen heute viel Tausende fleißiger Arbeiter an fast eben so viel tausend einzelnen Punkten am Werke sind; nirgends will er verweilen, überall das Entfernte zusammen sehen, nie auf Anderer Belehrung warten, nur im Fluge abwärts schauen, lieber ahnen, vermuten als beobachten oder gar messen und wägen. Er ist das Urbild

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bauender, begrifflicher Wissenschaft; nur daß seine Gedanken niemals den Farben- und Formenreichtum des Lebens verloren, niemals das tote Grau eines unnütz Begriffe scheidenden und spaltenden Hirnspiels annahmen. Daß eine solche Forschung in einem Zeitalter begeistert einseitiger Erfahrungswissenschaft viel Anfechtung erlitt, war selbstverständlich. Doch darf die Auseinandersetzung über die Irrtümer in Nietzsches Denken, wie mich dünkt, noch lange aufgeschoben bleiben, bis zu dem Tage nämlich, da seine Gegner ihn wirklich kennen. Alles, was er schrieb, dient im Grunde der Gesellschaftswissenschaft, einem Forschungszweige, der eben erst aufgeschossen ist und dem, so weit ich sehe, nur Comte, ihr Begründer, bisher eine ähnliche Fülle von großen Gedanken, von Einzelbeobachtungen und von Anregungen der Forschungsweise zugeführt hat. Über Nietzsche aber haben sich bis auf den heutigen Tag sehr viele Gelehrte anderer Herkunft, aber sehr wenige dieser Wissenschaft Angehörige ausgesprochen, und von ihnen hat noch keiner gegen Nietzsche gezeugt. Es wäre sehr unredlich, und es würde weder dem Ernst dieser Stunde noch dem Geist des großen Toten entsprechen, sollte hier verschwiegen werden, daß dieser Erforscher der großen Zusammenhänge die Gebiete geschichtlicher oder staatswissenschaftlicher Einzelerfahrung oft herrisch genug beiseite liegen ließ. Aber da er, auch wo er irrte, in großem Sinne irrte, da er überall, wo er uns den Kampf aufnötigt — und das geschieht oft genug —, sich aufwärts zurückzieht, da er gegen uns, die Angreifer, von immer höher gelegenen Standpunkten streitet, so zieht er auch uns empor. Der Gewinn ist zuletzt für die Sache größer als der Verlust. Unermeßlich aber ist die Fülle dessen, was dieser Eroberer an unbestreitbarer Erkenntnis oder Erkenntniskunst unserem Wissen von dem Menschen als Gesellschaftswesen zugefügt hat. Uberall da, wo sich Nietzsche die Möglichkeit der Selbstbeobachtung als Forschungsmittel anbot, ist er ein rastloser Beschreiber und Zergliederer geworden; wollte man ihn verkehrter Weise zum Fachgelehrten stempeln, man müßte ihn einen Erforscher des Seelenlebens der Gesellschaft nennen. Er hat in Wahrheit als Erster ganz weite Felder dieser Wissenschaft bestellt und auf den ersten Saatwurf reiche Ernten von ihnen heimgebracht; er hat Lichtstrahlen in tausend Abgründe des menschlichen Herzens geworfen, Wurzeln sittlich-gesellschaftlichen Handelns bloßgelegt. Ein Beispiel anzurufen, sei vergönnt: in einer der noch unveröffentlichten Schriften ist eine Darlegung zur Geschichte der sittlichen und gesellschaftlichen Ursprünge des Wissens und Glaubens gegeben, die man noch einmal als ein Wunder analytischer Geisteschemie ansehen wird. Eine jahrzehntelange Arbeit wird diese Belege häufen. In

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seinen Schriften sind Kräftemassen aufgespeichert, von denen das geistige Triebwerk ganzer zukünftiger Gelehrtenschulen gespeist werden könnte. Nietzsche gehört in die erlauchte Reihe der Denker, die nicht nur erkennen, sondern mehr noch befehlen wollen. Es sind die Herrschergestalten in der Geschichte menschlicher Wissenschaft; und diese Dynastie reicht von Fourier, Fichte und Rousseau über Piaton bis zu Heraklit zurück. Sie alle haben um die Erforschung des Kernes der menschlichen Dinge gerungen; aber sie wollten mehr: sie wollten die Menschheit, die sie beobachteten, erziehen und führen, sie wollten den Fluß der menschlichen Entwicklung ableiten und anderen Zielen zuführen. Die größte aller sozial-theoretischen Bewegungen, die je Macht im Leben der Völker erlangt hat, die unsere Tage durchzittert und das nächste Jahrhundert beherrschen wird, ist gleichen Wesens. Noch kein einzelner Denker aber hat so hohen Anspruch auf Feldherrn- und HerrscherRecht erhoben wie Nietzsche. Man hat von den heimlichen Kaisern Deutschlands gesprochen; hier hat ein Mann einen noch höheren Thron besteigen wollen, hier ist ein Bewerber um die Krone des Königs der Menschheit aufgetreten. N u r die großen Erzieher unseres Geschlechts, von denen die Religionsgeschichte erzählt, nur Buddha, Zarathustra und Jesus, haben gleich Großes gewollt und haben es in Wahrheit für ganze Völkergruppen und für Aeonen erreicht. Daß Friedrich Nietzsche diesen Jahrtausendmenschen wie ein Ebenbürtiger entgegengetreten ist, daß er von seinem zu ihren Gipfeln hinübersah, gleich als habe sich alles Dichten und Trachten auf den dazwischenliegenden Höhen der Menschheit im Tale abgespielt, hat man ihm mehr verdacht und gehässiger ausgelegt als alles andere; aber es ist zuletzt nicht nur der Ehrgeiz seines Wollens, sondern auch der tiefste Sinn seines Werkes. Und wer will es wagen, über diesen Anspruch, über sein Recht oder Unrecht ein endgültiges Urteil abzugeben? Wir, die den Urheber lieben, stehen ihm der Zeit und dem Herzen nach zu nah, um es uns zu erlauben. Aber das eine dürfen wir mit aller Wahrhaftigkeit seinen Gegnern zurufen: von dem Standpunkt der Geschichte des Gesellschaftslebens der Menschheit aus gesehen läßt sidi als unumstößlich aufrechterhalten: die Botschaft, die aus diesem nun verstummten Munde laut wurde, ist so noch nie verkündet worden; und sie steht in einem vollkommenen begrifflichen Gegensatz zu mindestens einer von jenen Lehren, zu der, die Jesus' großes und gütiges Herz der Menschheit gebracht hat. Denn was ist Beginn und Beschluß der Mahnung Nietzsches? Nidit in dem weichen und leisen Glück aller Hingabe, alles Zusammenhalts der Mensdien besteht das ruhmwürdige Ziel der Menschheitsentwick-

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lung, sondern in dem Emporwachsen bevorzugter und besonderer Einzelner. D a r u m ist alles zu fördern, was diesen Einzelnen den Ehrgeiz u n d das Stärkerwerden, das Höherdringen, die Herrschertriebe mehrt, und alles niederzudrücken, was im Herzen oder Verstände starker Menschen f ü r die entgegengesetzten Instinkte des Zusammenschlusses, des Staatssinnes spricht. Hier ist der strikte Gegensatz zu Jesus' Lehre gegeben, und niemand hat je vor Nietzsche diese Gedanken in solcher Folgerichtigkeit und Allgemeinheit zu Ende gedacht. Die wenigen Bruchstücke sophistischer Ichlehre, die erhalten sind, wird man ihnen im Ernst eben so wenig an die Seite stellen dürfen wie die gelegentlichen Bemerkungen Macchiavellis oder anderer Renaissance-Ethiker. Von den Sophisten und von dem oft berufenen Stirner trennt Nietzsche eine hohe Schranke: Jene wollten die Genußsucht des Ichs auf den Thron erheben, Nietzsche hat immer nur die Größe des starken Einzelnen, niemals seine satte Lust als Ziel und Preis seines Laufes gesetzt. So ist denn f ü r die weit in die Jahrhunderte hinausfliegende Phantasie Nietzsches der höhere Mensch zum Schluß und Endpunkt aller Menschheitsentwicklung geworden. Alles, was in seiner Lehre fordernde, befehlende Bedeutung hat, ist diesem einen Gedanken untergeordnet. Selbst seine Gottesleugnung nimmt sich wie eine notwendige Folgerung aus dieser einen Voraussetzung aus. U n d die Idee der ewigen Wiederkunft erscheint zuletzt nur wie das Paroli, das heiße Erdenlust der Sterbensfreudigkeit des alten Glaubens geboten hat; dem ewigen Leben über der Erde dort ist hier der Gedanke eines nie endenden Lebens auf der Erde entgegengestellt. Alle sittliche Forderung aber, aller Kampf gegen Volksherrschaft und Gütergemeinschaft, alle Verachtung von Staatssinn, Nächstenliebe und Weibesgüte sind Glieder derselben Gedankenkette. Es ist eine furchtbar lange Reihe von Opfern, die dieser eisernste der Denker auf dem Altar des großen Menschen darbringen wollte. Unter uns wird kaum einer sein, der sie alle gleich ihm hingeben möchte. Ich stünde — das zu bekennen fordert die Pflicht der Wahrheitsliebe — als Lügner an dieser Stelle, wollte ich nicht bezeugen, daß ich die geistige Kraft aller dieser Folgerungen bewundern, aber daß ich mich sehr vielen von ihnen nicht beugen kann. Ich glaube am wenigsten an die Möglichkeit eines starken Baumwipfels, dessen Wurzeln schlecht ernährt werden. U n d da zu allen höheren Stufen menschlichen Schaffens immer wieder die Einzelnen auch aus den niederen Schichten der Völker emporsteigen, so wird die starke Kraft der Großen nie dauernd gedeihen können, wenn sie den Schwachen und Kleinen nicht fort und fort zu Hilfe kommt. U n d dennoch meinte ich, an diesem Platz stehen zu dürfen. Denn

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so gewiß ich glaube, daß der romantische Urzeitbegriff, den Friedrich Nietzsche vertreten hat, als Gesellschaftszustand nicht zu verwirklichen ist und daß am wenigsten die Entwicklung der nächsten Jahrhunderte diesen L a u f nehmen wird, so gewiß glaube ich, daß diese U t o p i e auf den G a n g der Menschheitsgeschichte Einfluß, segensreidien Einfluß gewinnen wird. Denn dieser Fackelträger hat ein Fanal angezündet, das über die Völker, über die Jahrhunderte fortleuchten wird. Er hat gelehrt, ein wie unermeßliches G u t die große Persönlichkeit ist, und daß sie nicht nur ,höchstes Glück der Erdenkinder', sondern mehr noch ihre höchste Pflicht sei. Er hat dem einen Pol allen Menschentums, der Hingabe, den anderen der Herrenmacht des Ichs entgegengesetzt. U n d wenngleich alles H a n d e l n der Menschen von Anbeginn unseres Geschlechts zwischen diesen zwei Gegensätzen hin und her geschwankt hat, so hat hier die tiefe Einsicht des Weisen endlich zu dem längst erkannten ersten G r a vitationspunkt nun auch den zweiten benannt. U n d auch dies ist gewiß, daß von der neuen Lehre ein unabsehbarer Strom lebendiger Wirkung auf ganze Geschlechter von Aufwärtsstrebenden ausgehen wird. Auch wer nirgends die Schranken überkommener Sittlichkeit niederreißen möchte, kann an diesem Gebot sich aufwärts recken. Wie viele edle Geister mögen nicht schon in dieser kurzen Spanne Zeit K r a f t gesogen haben aus dieser Gesinnung, wie viele haben sich aus ihr M u t geschöpft zu kühner Neuerung und Stärke zu eigenem Wachstum, wie viele Tausende werden es in Zukunft tun! Ist es zu viel behauptet, wenn ich sage, daß die große geistige Bewegung, die in dem letzten Jahrzehnt sich der Künste, der Dichtung bemächtigt hat und die schon hinüberzüngelt in das Reich der Wissenschaft, in Friedrich Nietzsche auch in diesem Sinne ihren geistigen Vater sehen d a r f ? Wer w a g t zu sagen, wie lange das Feuer ausdauern wird, das die H ä n d e dieses neuen Lichtbringers entzündeten? Wer vermag zu wissen, ob nicht in zukünftigen Jahrhunderten, wenn die jetzt anschwellende Woge des steigenden Gemeinschaftsgeistes im Strom der Menschheit wieder zurückebbt, neue Geschlechter mit ganz anderen Augen auf das Vermächtnis dieses Geistes blicken werden? Noch jedes Zeitalter hat sein eigenes Urteil über die größten Denker der Vergangenheit gefällt; wollen wir uns unterfangen, f ü r alle Zeit Ziel und Grenzen des G i g a n tenwerkes auszumessen, das erst heute abgeschlossen ist? Wir müssen uns bescheiden in der Verehrung dessen, was als die greifbare ungeheure Leistung dieses Lebens vor uns liegt, und in dem Schauder der Ehrfurcht vor der Größe aller der Zukunftswirkung, die wir nur ahnen können. Von Friedrich Nietzsche wird nicht die Geschichte unseres Volkes noch auch unseres Jahrhunderts nur, sondern die der Menschheit erzählen.

Bildnisse: Friedrich Nietzsche

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Aber hinter diesem einzig großen Werke stand ein Mensch, ein vielleicht noch einzigerer. Was dünkt uns um ihn, der uns nun entrissen ist? Wie müßten wir klagen, wenn wir klagen wollten! Zuerst um das Eine, Härteste, daß dieses Leben nicht zu Ende gelebt ist, daß dieser beste Läufer die Bahn nur halb hat laufen können. D a n n um die quälende Krankheit, die ihn in allen Jahren seines besten Schaffens nicht aus den Klauen ließ und seinem Werke immer wieder Zeit und Kraft stahl; um die entsetzliche Einsamkeit, aus der er immer lauter, immer gellender rufen mußte, weil er so viel verstockte Taubheit um sich sah; um seine Einsamkeit, die niemals müßiges Geschwätz oder wohlfeiler Tagesruhm, wohl aber hilfsbereite Freundschaft, willige Gefolgschaft, verstehende, ernste Beurteilung, ja auch unvoreingenommene Gegnerschaft zuweilen hätte unterbrechen müssen. Wir müßten klagen um den schlimmsten Stachel, den dieses Unheil in das Herz Friedrich Nietzsches eingebohrt hat, um den Zwiespalt, der zwischen ihm und seinem Volke aufkam. D a ß er dem deutschen Staat nicht hold war, ist aus allen Voraussetzungen nietzscheschen Denkens vollauf zu erklären; aber d a ß er dem Volk, das Goethe und Beethoven hervorgebracht hat, d a ß er dem Volk der kühnsten und doch stilstrengsten Baukunst, der Gotik, und des tiefsten Schauens und Grübelns abschwor, ist ewig zu beklagen. U n d nicht ihm, der so sehr Schauender und Bildender war wie kein anderer unserer Denker, wird die Sdiuld dafür zuzuschreiben sein, sondern denen, die nur f ü r eine kurze, aber freilich die entscheidende Spanne Zeit eine Scheidewand tödlichen Schweigens zwischen ihm und den Empfänglichen seines Volkes aufgerichtet haben. Doch gerade diese Leiden waren es, aus denen er sich die festesten Steine f ü r den Künstlerbau seines Lebens schuf. Denn der war von eben so herber Hoheit wie seine Lehre; und wer will sagen, ob nicht beiden viel von dem edlen Pathos ihrer starren und steilen Schönheit geraubt worden wäre, wenn ihr Urheber in minder hartem Wetter, auf nicht so schwindlig hohen Pfaden, in nicht so unwirtlicher Einöde dahingeschritten wäre? Friedrich Nietzsche ist selbst nie ein Handelnder gewesen. Die zarte Blüte seines Künstlertums war dem Lärm des Lebens ganz abgewandt und hätte nie in ihm gedeihen können. Aber was immer an Kämpfen der Seele von einem Mensdienherzen ausgefochten werden kann, das ist ihm auferlegt gewesen, das hat er sidi auferlegt. Denn eben sein H e r z machte ihn zu seiner rauhen Aufgabe so wenig geschickt, wie nur zu erdenken ist. Den Kampf gegen den Glauben der Väter, den schon ein Jahrhundert zuvor die Aufklärung mit kühler Eleganz begann und den die nüchterne Wissenschaft unserer Zeiten sehr viel ernsthafter, aber eben so wenig gefühlsmäßig geführt hat, er hat ihn mit

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allen Fibern eines zuckenden Herzens durchgekämpft. Er, der Zarte, Weiche, Liebreiche und nach Liebe Dürstende, hat sich zu einer Sittenlehre durchgerungen, die immer nur von Macht und Willen, von Stärke und Härte, niemals von Herz und Fühlen, von Hingabe oder Anlehnung redet. Er, der so gütig war wie selten ein Großer des geistigen Schaffens, hat, nur um dem hohen Menschenbilde recht zu dienen, das ihm vorschwebte, sein empfindsames Herz verhärtet gegen die Klagen der Niedrigen, der Beladenen. Er hat aber auch — und das wollen wir heute allen Böswilligen unter seinen Gegnern und allen Unreinen unter seinen vorgeblichen Anhängern entgegenhalten — von aller schlaffen und unbeherrschten Sinnenlust immer nur mit Verachtung gesprochen; er hat die schlimmen Listen und Tücken, die er den Starken für den Kampf mit den Gewalten des Schicksals empfahl, in keinem Sinne selbst geübt und hätte jede Berufung auf seine Worte durch die kleinen Vorteilerspäher des Lebens weit von sich gewiesen. Über dies alles aber erhebt sich das eine, daß er sein Leben ebenso wie seine Lehre, die doch beide dem Wirken für den Herrenwillen der starken Persönlichkeit geweiht waren, frei gehalten hat von aller niedrigen, genüßlichen Selbstsucht. Er, dessen überreiche Gaben ihn auf jedem Wege zu Zielen satten Ruhmes hätten führen können, hat das Vorbild eines armen, nur nach Wahrheit suchenden Weisen gegeben. Gewiß nicht aus Selbstlosigkeit, wie angelernte Gewohnheitstäuschung zu sagen pflegt: uns von diesem einschläfernden Wiegenlied bequemer Selbstgefälligkeit zu befreien, hat er uns besser als jeder andere gelehrt. Sondern er hat dieses härtere Los gezogen, weil seine Natur und der beste Gewinn, den er aus seinem Geschicke ziehen konnte, es forderten. Gerade aus den strengsten Zügen, die die Sphinx seines tragischen Schicksals trägt, schimmert uns die Erinnerung an tausend durchfochtene Herzenskämpfe, Herzenssiege entgegen. Dies, was Ihr Unglück nennt, habe ich so gewollt, ich, trotz aller Unbill, nein, mit aller Unbill der Herr meines Schicksals, so ruft die hohe Herrlichkeit dieser edelsten Runen in dem Bilde seines Lebens. Meine Leiden wurden mir der Wegführer aufwärts zu den Höhen meiner Erkenntnis nicht nur, nein, meines Lebens auch; meine Freude an Gefahren, die unbesiegbare Kühnheit meiner Seele, sie haben mich immer wieder über mich selbst und über meine Absichten von gestern gehoben; meine Einsamkeit wurde mir zur Gebärerin meiner besten Gedanken. Wen hätte ich auch neben mir haben sollen auf den steilen Gipfeln meines Ahnens und an den Abgründen meines Denkens? Und so ist er doch ein Mann der großen, der größten Tat geworden, ob er auch nie die Stille seines Denkerplanes, seiner einsamen Berghänge verlassen hat. Er, der kein höheres Amt kannte, als dem Einzel-

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Bildnisse: Stefan George

menschen neue, weitere, höhere Ziele zu setzen, war selbst ein höherer Mensdi, und er war es in echterem, zukunftssichrerem Sinn als die romantischen Dämonen, von denen er träumte. Unser Stolz aber sei, daß wir ihm, dem Großen, noch eine Ehre, und sei es die letzte, erweisen dürfen.

Stefan

George

Von George und meinem Verhältnis zu ihm zu reden, habe idi viel mehr Ursachen des Geistes als des Lebens. Seit der Zeit, da ich ihn kennenlernte — gegen Ende 1899 — , ist meine Freude an seinem dichterischen Tun fast immer die gleiche geblieben. Von dem Aufsatz 1 , den ich damals schrieb und der ihn nach meiner Weise in den Strom einer wenn nicht breit, so doch tief fließenden europäischen Bewegung stellte und ihn als den stärksten Ausformer einer neuen formwilligen und von der herrschenden Wirklichkeitsbeschreibung und -Spiegelung abgewandten Kunst zu verkünden unternahm, bis zu meinem 1932 erschienenen Buch Vom deutschen Geist, das einen 1916 geschriebenen Abschnitt von gleicher Gesinnung aufrecht erhalten hat, und bis heute ist meine Wertung seines Künstlertums gleich hodi geblieben. Wohl fällt in diesen langen Zeitraum eine Reihe von Jahren, in denen diese meine Schätzung sich nicht in gleich starker, ja überhaupt kaum in dauernder Nähe zu dem Werk Georges auswirkte: ich blieb ihm damals fern, nicht aus geistiger Abneigung, wohl aber aus völliger Lebensferne. In jenen frühen Zeiten, die ungefähr ein halbes Menschenalter umfassen, war dagegen zu öftest meine Empfänglichkeit für Georges Werk die offenste und freudigste. Ich näherte midi ihm in freiem Gefallen, am meisten umstrickt von der unerhörten Neuheit und dem überstarken Sprachvermögen dieser Formenkunst. Ich war sehr wählerisch und wie von Zufall und Laune beherrscht bei der Auswahl derjenigen Gedichte, die ich oft las und liebte. In jedem Bande waren es immer nur wenige Werke, die ich kannte. Selbst in Der Teppich des Lebens, den ich bei weitem am meisten las, war es nur ein Viertel oder ein Drittel, das ich heraushob. Ganz und gar nicht kümmerte ich mich um die geistige Struktur, den Gedankenaufbau: ich badete mich im Reiz der Wortfügungen, der Klanggebilde und fragte wenig nach den Inhalten, an

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Der L y r i k e r unserer T a g e (Zukunft Bd. 3 0 ) 1900. Über die Lebensbezie-

hung Breysigs zu Stefan George berichtet K u r t Breysig / Stefan George, Gespräche

• Dokumente

5 Breysig, Tage

(Castrum Peregrini-Presse, Amsterdam

1961).

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denen mich höchstens die Vornehmheit der Gesinnung, der Adel der Lebenshaltung entzückte. Mein Verhältnis zu dem Werk dieses Dichters war ein einzigartiges; selbst das zu Goethe, der im letzten Jahrzehnt mein einziger Dichter geworden ist, kam ihm bei weitem nicht gleich; nur Hofmannsthal und einige Verwandte liebte ich nebenher. So war mein Verhältnis zu George dem innersten Kern nach ein rein geistiges, ja, ich kann sagen, auf ein lediglich dichterisches Genießertum gestelltes. Aber es mischte sich ein Persönliches hinein, das zuerst völlig von George ausging. Er veranlaßte eine Zusammenkunft bei einem uns beiden befreundeten Maler, er umgab mich bei diesem ersten Sehen mit den Formen einer persönlichen Artigkeit, ja Deferenz, die mich wundernahm; er besuchte midi bald in meinem Hause; er sandte mir die damals schon lange Reihe der erschienenen Blätter für die Kunst zu. Es mag wohl sein, daß ihm die Abfassung des schnell darauf erschienenen Aufsatzes erwünscht war. Dann folgte ein Jahrzehnt, in dessen Verlauf er jedes Jahr, wenn er nach Berlin kam, mich des öfteren besuchte, und es entstand eine Beziehung, die auf meiner Seite eine, wie es meine Art ist, von keinen Rücksichten umschränkte Verehrung für Georges Größe, auf seiner eine herzlich freundschaftliche Weise eines ganz menschlichen Sichgebens bedeutete. Er las mir neue Werke, es gab unendlich lang sich hinspinnende Gespräche, die zumeist den Stand der gegenwärtigen deutschen Kunst, noch öfter das geistig-persönliche Erleben Georges, vorzüglich aus früheren Zeiten, zum Gegenstand hatten. Immerhin hatten diese Gesprädie, die oft halbe Tage lang dauerten, sehr bestimmte Grenzen. Nie berührten sie die augenblicklichen Beziehungen Georges zu Anderen. Insofern stand ich dem Kreise, der sich um ihn damals wie zu allen Zeiten schloß, ganz fern; wohl lernte ich gelegentlich den einen oder anderen der ihm Zugehörenden kennen, aber ich wußte nichts von ihren besonderen Beziehungen zu George. Das Interesse unserer Besprechungen war zu sachlich, mein Wunsch, von allen diesen Dingen zu erfahren, viel zu gering, als daß sie in den Bereich unserer Unterredungen hätten einbezogen werden sollen. Dies wird den, der Georges und vielleicht auch meine Weise kennt, nicht wundernehmen. Dagegen ist vielleicht nicht so selbstverständlich, daß auch unsere sachlichen Berührungen in Schranken eingeschlossen waren, die an sich nicht gegeben waren. So gut wie nie sprachen wir von Dingen gesellschaftlich-staatlicher Natur, vor allem nicht von etwaigen Gestaltungen dieser Ordnungen des Lebens in der Zukunft. Daß George an meinem Schaffen nicht den mindesten Anteil nahm, wird niemanden wundernehmen, der die Weise der Künstler kennt. Von ihnen pflegen schon Männer sehr viel geringeren Grades als Ge-

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orge der Wissenschaft das d e n k b a r geringste M a ß v o n A n t e i l n a h m e entgegenzubringen: ihr Interesse pflegt so ausschließlich auf ihr eigenes T u n u n d Schaffen gerichtet zu sein, d a ß ihnen darüber alle anderen D i n g e des Geistes nie erheblich erscheinen. Wenn ich im Verkehr mit K ü n s t l e r n gewohnheitsmäßig d a r a u f verzichtete, v o n meinen D i n g e n z u spreshen, so h a t mich dies nie verdrossen. M i r schien d a immer wichtiger, zu nehmen als zu geben, und w o die Wichtigkeit des v o n dem A n d e r e n Mitzuteilenden so außerordentlich groß w a r wie bei G e o r g e , erschien mir die B e f o l g u n g meiner Regel u m so selbstverständlicher. E s w ä r e auch k a u m möglich gewesen, hier Brücken zu schlagen. G e o r g e hatte wohl nur sehr wenig K u n d e v o n Wissenschaft u n d nocli weniger N e i g u n g zu ihr. Wenn L i t e r a t u r g e r e d e sidi d a z u verstiegen hat, v o n einer M e t a p h y s i k Georges zu reden, so ist dies im eigentlichen Sinne gegenstandslos. G e o r g e sagte mir einmal v o n einem A u f s a t z Simmeis, der noch d a z u v o n ihm selbst, v o n G e orge, h a n d e l t e : „Ich verstehe nicht eine Zeile d a v o n . " A b e r auch alles Geschichtliche l a g ihm fern, v o n S t a a t s - u n d Gesellschaftslehre gar nicht zu reden. S o k a m mir auch v o m Wesen dieser D i n g e her selbst g a r nicht in den Sinn, über sie mit ihm zu verhandeln. G e o r g e w a r mir Dichter, ein S p e n d e r v o n Schönheit, ein B o r n der Lebensfreude. U n d ich m u ß freilich auch gestehen, d a ß ich in jenen ersten a n d e r t h a l b J a h r z e h n t e n nie nach dem K e r n v o n prophetisch befehlenden, lebenordnenden Weisungen geforscht habe, der allerdings auch d a m a l s schon hinter F o r m u n d Schönheit seines Werkes zu vernehmen w a r . Ich entsinne mich noch, wie sehr mich berührte, als er mir — gegen E n d e dieser Zeit — eines T a g e s in hoher S t u n d e d a r legte, wie jedes seiner Gedichte in seiner G e d a n k e n f o l g e straff u n d streng a u f g e b a u t sei. I d i gestand ihm, in diesem Sinne sei mir seine Dichtung nie n a h e g e k o m m e n : sie sei mir eher wie das unbestimmte, ahnungsvolle Wehen u n d Flüstern eines heiligen H a i n e s gewesen. Selbst v o n bildender K u n s t zu sprechen, w a r selten Gelegenheit. Ich entsinne mich als einer besonderen A u s n a h m e noch eines Gespräches über das Wesen des R e a l i s m u s : ich b e z o g m i d i als auf ein sehr lebendiges Beispiel f ü r meine B e h a u p t u n g , d a ß doch auch er bei völliger O b e r flächenschilderung hohe R e i z e der F o r m entfalten könne, auf Vermeers bekanntes B i l d im Mauritshuis im H a a g , das sein Delft in der T a t u n d völlig wiedergibt, H ä u s e r u n d Werften höchst getreu abschildert. Wohl k a m es bei dieser Gelegenheit zu einer Einigung, aber nicht immer geschah das. G e o r g e n a h m frühzeitig A n s t o ß an meiner Begriffsscheidung v o n S t o f f k u n s t u n d F o r m e n k u n s t . U n d er beharrte so fest auf seiner abweichenden Meinung, d a ß er in einem der später erscheinenden H e f t e der Blätter f ü r die K u n s t gegen diese L e h r e pole5«

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misieren ließ. Es geschah, ohne meinen Namen zu nennen; doch verletzte es mich. Es war eine der ihm eigentümlichen Rauheiten: sein Wesen w a r viel zu kantig und felsig, als daß er dies nicht auch gegen Nahe hätte spürbar werden lassen. Ich sagte ihm das auch sehr unumwunden. Es kam indessen darüber zu keinem Mißverständnis. Meine Verehrung für George war zu stark, seine freundschaftliche Liebenswürdigkeit zu groß, als daß ein so formaler Dissens hätte zum Zwist anwachsen können. Man wird vielleicht verwunderlich finden, daß ich nicht den Kern von Georges Dichtung, der wahrlich das handelnde Leben schon damals anging, zum Ausgangspunkt von Diskussionen über Volk und Gesellschaft machte. Aber vielleicht widersprach dem unbewußt mein Forschergefühl; Georges Dichtung und so auch seine Persönlichkeit war mir zu sehr der Inhaber der Schönheit, nach der ich mich als einem Gegensatz zur Wissenschaft sehnte, zu sehr Fest und Feierabend, als daß ich mein ganz mittägliches Wirken und seine Gegenstände mit ihm hätte in Verbindung bringen sollen. Es waren die Zeiten des Siebenten Ringes, in denen der Prophet in George den Poeten doch erst zu verdrängen begann. Allerdings entstand für mich aus dieser Fernhaltung die vielleicht für unser Einverständnis mißliche Folge, daß ich auch von den Gedanken über die zukünftige Formung des Lebens, die ich in jenen Jahren mit Leidenschaft hegte und die seiner Sinnesweise vielleicht am nächsten waren, zu George nicht sprach. Es waren die Zukunftsbilder, die unter dem Namen Noch-nirgend-Heim durch meine Aufzeichnungen gingen. Aber auch dies geschah ganz dem Willen meines Lebens gemäß: da diese Pläne nie zur Vollendung reiften, haben sie auch nicht in persönlicher Nähe wirken können. Von Georges Wesen ging eine Wirkung aus, die ich immer wie einen sehr augenfälligen Gegensatz zu der besonderen Weise seiner Kunst empfunden habe: die großer Schlichtheit. Schlichte Würde, das kennzeichnete ihn im Hause und im Verhältnis zu Befreundeten. Aus Georges Schule sind nicht selten Äußerungen hervorgegangen, die man als solcher Sicht entgegengesetzt empfinden muß. In Gundolfs so vielfach anfechtbarem Goethebuch wird der Leser empfangen mit einer hochmütigen Abweisung von aller Nähe zu Goethes Menschentum; er wird darüber belehrt, daß zwischen ihm und der Unnahbarkeit Goethes ein Spalt aufklaffe, der ihm nie ermöglichen könne, sich ihm zu nähern. Meine Vorstellung von Goethe ist anders: mir ist die Größe seines Werkes so undiskutierbar, wie sie nur höchster Verehrung sein kann. Und doch empfinde ich den Schöpfer dieses Werkes als immerdar menschhaft und insofern mir nah und vertraut. So über alles Menschenmaß hinaus der Wipfel dieses Baumes gewachsen ist, so ganz mensch-

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lieh und jedem Wohlgeratenen nah verwandt erscheint mir das Menschentum dieses Größten, und wahrlich, mir mindert diese Vertrautheit nichts an meiner Ehrfurcht und vermehrt meine Empfänglichkeit. Die Zauberkraft eines Größten scheint mir so nicht geringer, sondern größer. In George war — so erkläre ich mir die Schlichtheit seines Wesens — die tiefe Sachlichkeit eines Werkmeisters lebendig. Es kam ihm so ganz auf das Erschaffen seines Werkes an, daß sich davon seinem Sein etwas von der Unmittelbarkeit einer ganz auf das Tun gestellten Weise mitteilte. George hat, das weiß ich wohl, einen großen Teil seiner Selbstdarstellung darin aufgehen lassen, Entfernung zwischen sich und den Menschen zu schaffen; er konnte schroffen Hochmut zeigen, weil er sich selbst den höchsten Rang beimaß; dennoch war er so sehr von dem beständigen Wirken an seinem Werk beherrscht, daß ein Teil dieser Werkhaftigkeit in seine Haltung überging. Ich meine dies im höchsten Sinn: so wie man von Michelangelo gesagt hat, er habe immer etwas vom Handwerksmeister an sich gehabt. Wenn in Georges Kopf, wie er mir einmal sagte, hundert Gedichtanfänge bereit lagen, damit er, wenn die Stunde kam, an ihnen fortspinne, so begreift sich das wohl. Die Liebenswürdigkeit seines Wesens für den nahen Verkehr, die warme Tönung seiner Sprache mit dem Klang seiner rheinpfälzischen Mundart nährte sich an dieser Schlichtheit, die die leichte Stunde ohne allen Pomp oder irgend welches Zeremoniell verbringen wollte. Wie ein sehr äußerliches, aber für ihn bezeichnendes Symbol seiner praktischen Lebensweisheit mag man ansehen, daß er, wie er mir einmal sagte, ein bescheidenes Los wie das eines Bankbeamten gewählt haben würde, wenn er für sein Einkommen hätte sorgen müssen, natürlich nur in dem Gedanken, so dem Verderb des Literatentums zu entgehen. Am bezeichnendsten war die Leichtigkeit, ja der Frohsinn, mit dem er die Geselligkeit des Alltags pflegte. Wohl habe ich einmal erlebt, wie George beim Speisen zwei junge Götterknaben, wie er sie nannte, aufforderte, ihn zu bedienen. Aber ich habe daran keinen Anstoß genommen: die schlichte Würde war nur in die feierliche Würde übergegangen. Und wer hätte mehr Anspruch auf sie machen können als er! Nur ein Grundzug in Georges Weise hat mich immer fremd angemutet: es war das, was ich das Politische in seinem Verhalten nennen möchte. Er war darauf bedacht, jeden, aber auch jeden kleinsten Schritt seines Verhaltens dem Endzweck seiner doch auch auf Lebensmacht gestellten Sendung anzupassen. Doch möchte ich mir darüber kein Urteil beimessen; es mag zu den großen Schwierigkeiten seines Amtes gehört haben, die Grenzen und die Hoheit seines Reiches gegenüber den Anfechtungen, an denen es ihm wahrlich nicht fehlte, aufrecht zu erhalten.

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U n d es entsprach der Durchdachtheit all seines Tuns, gerade diese Dinge ganz regelhaft und verstandesmäßig zu ordnen. Immer stand in den Stunden, die ich mit George allein verbrachte, sein Werk und, selten genug, sein Leben im Mittelpunkt allen Redens. Am meisten liebte er es, in einem Liegestuhl oder auf einem Ruhebett liegend zu sprechen. Von seinem Erleben sprach er nur in Ausnahmefällen: so am meisten nach dem Tode Maximins, der ihn so tief und jäh getroffen hatte. Ich denke noch heute mit Bewegung daran, wie er seinen Kopf tief herabneigte, damit ich sehen sollte, wie viel graue H a a r e sich in die dunklen auf seinem H a u p t e gemischt hatten. Er erzählte mir von der Gestalt und dem Wesen des jungen Freundes, und wie er sich ihm genähert hatte. Als er das Werk, das er ihm als Denkmal errichtete, vollendet hatte, brachte er es mir und verflocht nun in die Gedichte des Entrückten und die eigenen, die er zu Ehren von ihm geschaffen hatte, die Legende von seinem kurzen Leben und der Sendung, die ihm vom Schicksal zugedacht gewesen sei. Er war des Glaubens, daß Maximin erst der wahrhaft Erfüllende hätte werden sollen, ihm selbst dann aber Amt und Aufgabe eines Johannes zugefallen sein würde. Am herrlichsten aber füllten sich die Stunden, wenn George mir die neu entstandenen Werke las: eines darunter auch, von dem ich nicht weiß, ob es je gedruckt worden ist, Mein Sohn, um deswillen ergreifend, weil es an Möglichkeiten des Lebens rührte, die ihm sehr nahe gingen. D a n n wieder solche, die ihm eigens wertvoll waren — so die Dichtung von dem jungen Fürstenpaare, das sich nur in e i n e r Stunde des Jahres in einem Zaubergarten begegnet. D a sagte er in seiner liebenswürdig-schlichten Weise, ehe er es las: „Das ist so schön, das ist gar nicht von mir." Ich war ein voll empfangender Hörer, vornehmlich um deswillen, weil ich diese Bild- und Klanggefüge, die den Reiz des zuvor nie Erschaffenen mit der Endgültigkeit des Vollkommenen verbanden, doch eben nicht nur zu höchst verehrte, sondern aus der Tiefe des Herzens liebte. N u r so kann, so glaube ich, zwischen dem Dichter und dem Empfänger seines Werks die letzte, nächste Wirkung entstehen. Ich machte George nie ein Hehl aus dieser meiner Gesinnung. Ich empfand es als eine Gegengabe seines Vertrauens, als er mich in einem dieser Jahre aufforderte, seinen Sommeraufenthalt in einem Schweizer Hochtal, wo er mit einigen Freunden sommerliche Fest- und Feierwochen verbrachte, zu teilen. N u r erlaubten dies die anderen Gegebenheiten meines Lebens nicht. Mit hohen Menschen gipfeln sich die Berührungen der Seele zu letzten, höchsten Stunden. In mir lebt das Gedächtnis von einer von ihnen

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in unauslöschlicher Stärke. Es war von jener Woche, die George einmal in meinem Hause verbrachte, der letzte Abend, und es kam zu einem eigens eindringlichen Gespräch, in dem George zuerst darlegte, wie streng seinem Gedankenbau nach jedes seiner Gedichte sei. Er wehrte ab, daß auch nur eines von ihnen lediglich um seiner Klangform willen oder als Ausdrude von etwas Unbestimmt-Ahnungsmäßigem aufgenommen werde. Er sprach dann von seinem Verhältnis zur Bildhauerei und daß sie die einzige Kunst sei, für die er sich allenfalls auch hätte entscheiden können. Es war mit keinem Wort von Persönlichem, auf uns beide Bezogenem die Rede. Dennoch war ich von unserem Gespräch wie von etwas eigens Nahem erwärmt und umfangen. Es mag sein, daß es die Zutraulichkeit war, mit der er von dem Geheimnis seines dichterischen Schaffens sprach, oder was immer im Laufe des Gesprächs an geistiger Berührung stattfand: ich war in einer Stimmung des Durchglüht- und Erhobenseins, daß ich dem Geber so großer Gaben sagen mußte, wie ich eben jetzt ein Gefühl einzigartigen Erlebens und tiefer Entflammung vom Geist der Stunde verspüre. George sagte nur nach seiner stillen Weise: „Dann ist der Gott nahe." Ich hatte an jenem Abend die Empfindung von ganz hingegebener Verehrung, und ich spürte die halb-göttliche Wesenheit eines Menschen von so unermeßlicher Gewalt des Seins. Es kamen dann Jahre, in denen ein Geschehen, das mein ganzes Sein umstürzte, mich zu sehr auf mich selbst verwies, als daß nicht diese wie jede andere Beziehung in die Peripherie meines Lebens gedrängt werden sollte. Ich habe George in den nächsten Jahren nur noch selten, etwa jährlich einmal gesehen. Er besuchte mich nur einmal noch, bei welcher Gelegenheit er mir eine aus jener Krisis stammende Unachtsamkeit der äußeren Form verübelt haben mag. Dann sah ich ihn bei Lechter und anderen Freunden, suchte ihn auch in Jahresabständen auf. Es kam noch zu Gesprächen persönlicher Näherung; aber zuletzt wurde ebenso oft Gegensatz und Fremdheit der beiderseitigen Neigungen fühlbar. Ich hatte schließlich nicht mehr das Gefühl der Notwendigkeit dieser Begegnungen und stellte diese Besuche ein. Von der letzten Unterhaltung habe ich noch eine eigens freundliche Äußerung in Erinnerung: George sagte, er sei mir dankbar; er meinte wohl mein frühes Eintreten für seine Kunst. Aber andere Wendungen des Gesprächs zeugten von Fremdheit. Ich ging in dieser Stunde, von George freundlich zur Haustür geleitet, mit dem Bewußtsein fort, daß ich ihn nie wieder sehen würde. Mir verblieb ganz ungeschwächt die Verehrung für den Dichter und sein Werk: ich habe noch in jenen letzten Zeiten die Blätter niedergeschrieben, die in meinem Buch Vom deutschen Geist von George

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handeln. Aber idi hörte von da ab nur selten und aus weiter Ferne von seinem Ergehen. Aus den späten Gesprächen muß ich einiges aufbewahren. George hob einmal den Gegensatz zwischen ihm und mir hervor und bezeichnete ihn als einen der Generation. Bei unserer nächsten Begegnung sagte ich ihm zur Erwiderung, wir seien doch alle Nietzsche-Söhne. Seine Entgegnung war: da wolle ich ihn zu einer Antwort nötigen, die ihm nicht zum Vorteil gereiche. Und doch war gerade diese Angelegenheit eine Ursache zu einigem Widerspruch, nicht gegen George oder sein Auftreten, aber gegen das Verhalten seiner Schule. Bei ihr machte sich, schon um 1910, ein Bestreben geltend, das Ansehen der geistigen Wirkung Nietzsches zugunsten Georges in den Schatten treten zu lassen. Man erweckte schon durch chronologische Anordnung den Anschein, als sei das Auftreten Nietzsches erst von der Herausgabe seiner Werke und also nach seinem Tode zu datieren, so daß dann die Wirkung Nietzsches mit der Georges ungefähr gleichzeitig begonnen haben würde, während in Wahrheit doch schon der lebende Nietzsche, zum mindesten aber der nach 1885 hervortretende Nietzsche, für die Wissenden zu wirken begonnen hatte. Ich empfand dies wie ein geschichtliches Unrecht, und so wenig mir je hatte in den Sinn kommen können, Georges Geltung von mir aus zu beneiden — ich hatte immer das volle Bewußtsein meiner sehr viel bescheideneren Grenzen —, so empfand ich in die Seele des toten Nietzsche hinein etwas wie Eifersucht. Das gelassene Urteil späterer Zeiten wird nie verkennen können, daß vielleicht das Wie von Georges Kunst nur selten, um so gewisser aber das Was seiner Lebensgesinnung von Nietzsches Wirkung her Einfluß erfahren hat. In dem wertvollsten Besitz, in dem Eifern für die Schönheit und Stärke des Adelsmenschen, war er in Wahrheit ein Erbe Nietzsches. Daß Georges geistiger Geltung durch die Anerkennung dieses geschichtlichen Zusammenhangs Abbruch geschehe, kann ich nicht zugeben. Sein Eigenbesitz ist wahrlich groß genug. Nach Georges Tod ist die Meinung laut geworden, es sei für ihn ein tragisches Verhängnis gewesen, daß er zwar auch ein Führeramt im handelnden Leben seines Volkes erstrebt, es aber nie erreicht habe. Darüber ein Urteil zu fällen, fehlt es mir an jeder Befugnis. Nur eine in dieser Richtung gehende Äußerung bewahre ich auf, die um 1916 fiel. George sprach über die Möglichkeit, daß ihm selbst das Amt, das damals Bethmann-Hollweg verwaltete, zufallen könnte. Er deutete an, daß Männer in sehr hoher Lebensstellung — man mochte an einen Prinzen denken — schon dafür einträten. Ich sagte ihm sehr freimütig,

Bildnisse: Stefan George

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aber aus sehr guter Meinung: wenn es dazu nicht komme, so könnten dies seine Freunde nur begrüßen; denn falls er zu solchem Amte gelange, so würden, davon sei ich überzeugt, ganze Kolonnen von Gegnern gegen ihn aufstehen und unter dem Feldgeschrei: herunter mit diesem Menschen! ihn zu stürzen trachten. Wenn ich eine Vermutung äußern darf, so halte ich nicht für wahrscheinlich, daß George im Ernst und dauernd solche Pläne gehegt hat. Er, der in jedem Sinne so klug die Realitäten seines Lebens bemaß, wie hätte er sich so sehr über die Möglichkeiten eines solchen Weges für ihn täuschen sollen. Er war Poet, Prophet, ein geistiger Former von Menschentum, aber nicht ein Kenner, geschweige denn ein Lenker staatlicher Dinge. Er hat im vollsten Maße die Möglichkeiten ausgeschöpft, die ihm Wort und Leier darboten, um seinem Volk Wege in die Zukunft zu weisen; er hat die edelste Auslese einer Jugend für sich und seine Lebensform gewonnen und hat von ihr aus sogar auf den weiteren Umkreis derer, die von ihm und seiner Kunst nichts wußten und nichts wissen konnten, einen aufrichtenden Einfluß gewonnen. Das war eine reiche Ernte auch für dies hohe Leben, und ich sehe auch hier an seinem Schicksal nicht Mißlingen, sondern die Vollkommenheit eines großen Erreichens und die Erfüllung aller wesentlichen Ziel- und Strebensbilder.

MATERIAL F Ü R G E P L A N T E BILDNISSE Heinrich

v.

Treitscbke

Der große Eindruck meines ersten Studienjahres waren die Vorlesungen Treitschkes: ich war voller Begeisterung für den hinreißenden Strom seiner Beredsamkeit. Treitschkes Wesen vereinigte hohen Ernst und eine in dieser Verbindung doppelt beglückende Heiterkeit. So wäre er nicht Treitschke gewesen, wenn er sich ein so langweiliges Geschäft, wie ein Examen es ist, nicht mit einigen Lustbarkeiten auszuschmücken versucht hätte. Er hatte mich bei der Doktorprüfung nach den Gründen gefragt, aus denen sich Rußland am Siebenjährigen Krieg beteiligte, und ich hatte sehr präzise darauf geantwortet, selbst mit den Daten der beiden Bündnisverträge, die Rußland damals mit Frankreich schloß; mit dem freundlichen Lächeln, das seine Züge so oft verschönte, entließ er mich mit den Worten: „Und wissen Sie, wenn Friedrich den Großen der Teufel ritt, so sagte er, wenn er auf diese Gründe zu sprechen kam: ,Die Launen eines besoffenen Weibes'." Ich höre noch den tiefen Klang seiner Stimme bei dieser Äußerung. Drei Jahre später, 1892, schloß Treitschke meine Habilitationsprüfung in starker Betonung, gleich als wolle er seine große Parole auch hier wiederholen, mit den Worten: „Männer machen die Geschichte." E r gab damit zu verstehen, daß ich mit meiner Habilitationsarbeit, die den Kampf des Großen Kurfürsten mit den preußischen Ständen zum Gegenstand hatte, allzusehr im Sachlichen Stedten geblieben und allzu wenig auf die führenden Persönlichkeiten eingegangen sei. In der Tat war das richtig und entsprach ja im Grunde nur der Wandlung, die sich zumeist unter dem geistigen Einfluß von Schmoller in diesen Jahren in der deutschen Geschichtsauffassung vollzog und die ein Uberwiegen der sachlichen Gesichtspunkte über die persönlichen zur Folge hatte. Von Herbst 1892 ab nahm ich als junger Dozent oft die Gelegenheit wahr, an Treitschkes Donnerstag-Abenden in einem Lokal der PrinzAlbrecht-Straße teilzunehmen. Treitschke erzählte von seiner Jugend, wie seine Mutter immer von den Helden der Befreiungskriege gesprochen habe; ein alter Militär-

M a t e r i a l für geplante Bildnisse:

Treitschke

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mantel seines Vaters spielte eine Rolle dabei als ,Blüchermantel'; danach hätten ihm die Heroen unter den sächsischen Fürsten so gar keinen Eindruck gemacht: also Preuße von Anfang an. Auf der Schule als Tertianer war er mit dem Primaner Gutschmid — dem Tübinger Altphilologen — eng befreundet; er erzählt Drolliges von dessen gescheiter, naseweiser, prosaischer Art. Da Treitschke schon auf der Universität gar nicht mehr hörte, hat er Dahlmanns Vorlesungen über Politik nur nach Gutschmids vortrefflichen Heften studiert. E r sprach bei dieser Gelegenheit von einer Technik, die von den Universitäten angewandt werde und die den Gegensatz zum ,Fort-Loben' ausmache; es sei das ,Da-Tadeln'; dies habe man bei Gutschmid getan, um ihn Tübingen zu erhalten. Treitschke äußert sich doch trübe über sein Leiden, lehnt es ab, auf den Historiker-Kongreß zu kommen: „Die Natur hat mich nun einmal zur Einsamkeit verdammt." Er spricht auch traurig über seine Augenkrankheit: „Daß mir auch dies noch auferlegt wurde!" Aber das ist nur ganz temporär, gleich darauf die herrliche Heiterkeit wie gewöhnlich. Auf Wilhelm I I . schilt Treitschke immerfort erbittert, ist gegen die Heeresvorlage, die Gymnasial-, Kolonial-, Handelspolitik. Aber die persönlichen Verdienste des Kaisers in Ernennung Bronsart von Schellendorfs zum Kriegsminister und Bülows zum Botschafter beim Quirinal (beides Nachrichten Schiemanns) erkennt er an. Schlözer paßte nach Äußerungen Treitschkes über die achtziger und neunziger Jahre ausgezeichnet für den Vatikan; er gab treffliche Diners, ausgezeichnet dem Inhalt nach, aber nicht in protzig-luxuriöser Form, ganz nach dem Geschmack der Kardinäle. Er hat Treitschke selbst erzählt, wie herrlich er sich mit den Kardinälen angelegt hat. Treitschke meint: „Schlözer stand den Kardinälen innerlich so nah; er war in allen Glaubenssachen so kalt wie eine Hundeschnauze." Eines Abends im März 1895 erzählte ich von Gottfried Kellers Atheismus. Treitschke führt Gustav Freytag an, der auch Atheist sei, aber kein Geräusch davon mache. Er sagt — als Antwort auf meinen Zettel — , er habe nie bezweifelt, daß Atheisten reine Sittlichkeit haben könnten. Das Gespräch wird — wie alle Gespräche mit Treitschke auf Zetteln — von mir weitergeführt; er schilt (wie nach Erzählungen des jungen Vielhaber oft auch im Kolleg) auf die hiesigen Professoren, die verlangen, „daß man auf Kaftans Kolleghefte seine Religion bauen soll". Er spricht von seinen Erfahrungen — offenbar aus vollendeter Unkenntnis Ritschis. Hinneberg und ich protestieren eifrig; ich exemplifiziere auf Göhres warm religiösen Enthusiasmus. Treitschke bleibt dabei, nur die Positiven hätten werktätiges Christentum. Er ereifert

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sich dann gegen die Protestanten, die an den Glauben Anmutungen stellen und dabei fordern, daß man die alten Grundlagen aufgebe. Ich frage ihn, ob er nicht an der Dreieinigkeit Anstoß nehme. Er: Nein! Man müsse ja nicht das Grob-Sinnliche glauben. (Lachend sagt er mit seiner tiefen Stimme: „Man braucht ja nicht gerade an die Taube zu glauben!") Aber die Versöhnungsidee durch Gottes Sohn befriedige ihn durchaus. Ich schreibe: „Als Sie Die Freiheit schrieben, dachten Sie doch wohl anders?" Treitschke antwortet mit seiner hoheitsvollen und freundlichen Liebenswürdigkeit: „Ja, in vielen Punkten." Er habe aber durch das Leben sich gewandelt; die Schwachheit und Abhängigkeit aller Kreatur führe dazu und die große Befriedigung, die das Gefühl der Gotteskindschafl gewähre. Bei dem Tode eines geliebten Kindes — so sagt er mit Tränen in den Augen — müsse man an die Unsterblichkeit glauben. Zu mir sagt er: „Ich nehme Ihnen gar nicht übel, daß Sie jetzt anders denken; aber die Erfahrungen des Lebens ändern viel!" Ich spreche weiter über den Atheismus. Er: „Was wollen Sie mit den Kirchen machen? Sonntagsschulen? Wollen Sie auf das Geläut der Glodcen verzichten?" — Merkwürdig aesthetische Motive; ähnliches bei Keller irgendwo im Grünen Heinrich. Ich klage, daß dem ungläubigen Gebildeten durch die herrschenden Kirchlichen so viel Heudielei auferlegt werde. Er sagt: „Ja, eine religiöse Einwirkung ist nur möglich durch Einsetzen der Persönlichkeit. Man darf es nicht machen wie Zeller und bloß aus der theologischen in die philosophische Fakultät übertreten." Ich wende ein (meinetwegen): „Wie kann man jemandem, der bloß still seine Uberzeugung haben will, zumuten, seine ganze bürgerliche Existenz aufzugeben!" Darauf Treitschke: „Nun ja, das ist ja das Charakteristische bei Euch, daß Ihr gar keine gemeindebildende Kraft habt." Ich beteuere auch, daß ich mich immer bemühe, alles Religiöse zu verstehen, es unbefangen zu würdigen. Das ist ja meine Pflicht als Historiker. Treitschke sagt von Christus: „Welch ein Leben! U n d dazu eigentlich gar kein Handeln; er wirkte nur durch das reine Sein!" Ich war froh über das Gespräch: daß Treitschke doch ganz feste religiöse Anschauungen hat; ich hatte sie f ü r schwankender, schillernder gehalten. Und höchst erfreut war ich über seine ausnahmsweise ausgiebige Art — ich habe noch nie ein so langes Gespräch mit ihm gehabt — und über seine wie immer sehr liebenswürdige, nie von oben her abweisende oder anmaßliche Weise. Am Tage nach meiner Ernennung zum Professor — im Februar 1896 — ging ich, um recht aus vollem Herzen heraus zu danken, erst

Material für geplante Bildnisse:

Treitschke

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zu Sdimoller, dann zu Treitschke. Ein großer Abstand, ein unendlich viel kühleres Verhältnis. Er hat gar nidit die Fähigkeit, an Anderen, ihm nicht ganz nahe Stehenden, teilzunehmen. Ich danke ihm für seine Anregung, von der Althoff mir sagte. Anwort: „Wir haben es ja alle befürwortet." Er gratuliert mir zu Anfang und am Schluß herzlichst — das war alles. Wenige Monate später — im April — kommt ein Brief von Hinneberg mit der entsetzlichen Nachricht, daß Treitschke nur noch höchstens drei Monate zu leben hat. Brightsche Nierenkrankheit. Es geht mir sehr nahe. Lange Zeit kommen immer wieder wehmütige Erinnerungen. Von Treitschkes jüngster Tochter erhielt ich ein kleines Andenken an ihn, nichts Individuelles, aber mir doch lieb und rührend. In meinem Dankbrief resümierte ich, was ich ihrem Vater verdanke: die erste auf der Universität empfangene Anregung zu meinem Beruf (vorher ging ja anderes) und zwei Leitsterne: erstens „Der Historiker soll nicht bloß Gelehrter, auch Künstler sein" und zweitens: „Er soll urteilen!" Treitschke hat sich — was ich mit angehört habe — den Druck seiner Kolleghefte ausdrücklich verbeten. Er hob seine Hefte in die Höhe: „ D a sollen sie einmal etwas daraus drucken!" Indessen ist wohl der eigene Wille nicht unumstößlich. — Treitschkes Tod hat uns um Schriften gebracht, deren Verlust unsere Geschichtsschreibung und Literatur zu beklagen gleichermaßen Ursache haben. Wohl sprach aus ihm stets der Mann von 1860, 66, 70; sein Blick war stets dem großen Werk der Einigung Deutschlands zugewandt, dessen Herold er gewesen war und dessen treuer Hüter er bleiben wollte. Uber die längst sich vollziehenden Wandlungen im sozialen und im aesthetischen Leben sprach er kaum: die Leidenschaft dieses starken Menschen war und blieb gebannt an die eine große Frage, die seine Jugend und sein frühes Mannesalter so stark bewegt und in Anspruch genommen hatte. Um so größer war die Wirkung, die er hervorbrachte. Uberall spricht aus Treitschkes Schriften dasselbe echte, edle Pathos, mit dem seit Schiller kein Anderer die deutschen Herzen so bewegt hat wie er. Treitschkes ältere Schriften1 haben dicht nach seinem Tode einen noch größeren Leserkreis gefunden, als es ihm — hierin ein Günstling des Glücks — schon von je beschieden war; ein nicht geringer Erfolg, da diese Schriften im heißen Kampf des Tages auch für den Tag geschrieben waren und, mehr noch, da sie von einem schroffen, heißblü1

Treitschke, 1898, 13).

Zehn Jahre

deutscher K ä m p f e 3

(Anzeige

Liter.Zentr.bl.

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tigen Mann in die Welt geschickt waren, der wenig danach fragte, wieviel Feinde er sich durch eine Zeile, ein spöttisch gespitztes Wort machen werde. Diese Bände werden auch jetzt wieder ihre Anziehungskraft bewähren, nicht nur durch ihren sachlichen Inhalt; zuerst reißen sie hin durch ihre formale Vollendung. Wer einmal eine Psychologie des sieghaften Publizisten schreiben will, wird diese Bände analysieren müssen. Nur einer ist Treitschke in diesem Stück zu vergleichen: Macaulay, der in vielen Hinsichten die merkwürdigste Ähnlichkeit mit Treitschke hat. Und es ist selbstverständlich, daß man bei einem solchen Experiment auch die Narkotika auffinden wird, über die der Publizist verfügen muß, will er anders Erfolg haben. Unglücklich der Publizist, der nicht innerlich und aus Uberzeugung einseitig ist bis zur Ungerechtigkeit, ja bis zur Verblendung. Wie barsch und herrisch Treitschke über jede auch nur im mindesten ihm entgegengesetze Meinung urteilte, wie wenig er fähig war, die guten Gründe seiner Gegner auch nur zu sehen, davon predigt jede Seite dieser Bände. Treitschke hat mit seinem heißen Blut oft auch auf der Seite gestanden, der kein Erfolg beschieden war oder von der er sich später halb oder ganz abgewandt hat. Er war ursprünglich Freihändler in einem Maße, daß ihm Protektionist als grobes Schimpfwort galt. Er sprach noch 1884 im Kolleg von konservativen, aber sonst ganz vernünftigen Leuten' und ist doch gegen Ende seines Lebens kaum noch von einem Hochtory zu unterscheiden. Er hat den aufkeimenden Staatssozialismus scharf bekämpft und hat doch zuletzt sich zwar keineswegs zum Gegenteil bekehrt, sich aber doch jedes Kampfes gegen diese Meinungen enthalten. Er war einst, da er Die Freiheit schrieb, fast ein freier Denker und zuletzt ein orthodoxer Gläubiger. Aber diese Anschauungswechsel sind immer aus innerster Überzeugung hervorgegangen. Treitschke war alles andere als ein systematischer Kopf. Er war kein schöpferischer Staatstheoretiker; aber für eine aristokratisch-individualistische Staatsanschauung, wie sie heute schon im Schwinden begriffen ist, und für eine gänzlich unsoziologische Periode der politischen Wissenschaft werden seine Schriften immer ein trefflicher Typus sein: Zeugnisse der Gefühle seines Lebens und seiner Zeit.

Jakob

Burckhardt

Im März 1896 besuchte ich Jakob Burckhardt in Basel in seiner Wohnung. Ein schlichtes Haus in schöner Hauptstraße. Ganz einfache

Material für geplante Bildnisse: Burckhardt

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Einrichtung — ein großer Tisch aus ungeheiztem Tannenholz dient als Schreibtisch — ; aber ein schöner Altan, das Dach des Nebenhauses. Schon auf den Flur heraus kommt mir ein gebückter Greis entgegen; er führt mich hinein an seinen Schreibtisch, vor dem er die ganze Zeit über sitzt, starr vor sich hinsehend. Ich spreche ihm meine hohe Verehrung aus, sage, daß ich komme, mir seinen Segen für meine erste Reise nach Italien zu erbitten. Ich äußere die Meinung, daß ihm in der Geschichte der Historiographie einmal ein sehr hoher Platz angewiesen werden wird, verglichen mit Sybel. Burckhardt wehrt sehr bescheiden ab: „Was habe ich denn getan? Ich habe zusammengerafft von allen Seiten. — Ich bin ganz zufrieden: mir ist es immer sehr gut gegangen." Auf den Vergleich mit Sybel antwortend, sagt er: „Es kommt immer darauf an, ob ein Historiker der herrschenden Richtung angehört!" Später: „Ich bin nie in großen Städten gewesen." Ich sage ihm, daß ich in der Geschichte der Geschichtsschreibung darauf gekommen bin, daß er eine ganz originale Stellung einnimmt. Er widerspricht, sagt: „Aber die Franzosen!", nennt Guizot, Geschichte der Zivilisation, und Thierry; die habe er gelesen, auch sonst Franzosen. Für politische Geschichte habe er sich nie sehr interessiert, er sei nicht dafür veranlagt. Vorher aber sagt er einmal: „Es kam eben darauf an, einmal geistpolitische Geschichte zu schreiben." Ich sage ihm einzelnes; darauf er: „Ja, das sind sehr delikate Dinge." Und weiter: „Das findet man nicht in Archiven, sondern nur dadurch, daß man Chroniken und ähnliches immer wieder liest." Ich sage ihm, daß seine Anregungen doch noch wenig ausgebeutet sind. Er habe, sagt Burckhardt, die Geschichtsforschung nicht verfolgt seit zehn Jahren, seit er nicht mehr lese. Es werde so ungeheuer viel geforscht. Darauf ich: „Aber nur ganz Wenige haben neue Gedanken." Er kommt auf die Franzosen: es gebe da viel tüchtige Arbeit; oben aber herrschten üble Zustände, ein unsäglicher Nepotismus. Auf meine Frage erwidert er, er glaube nicht, daß sonderlich viel gestohlen werde; aber es bestände ein ertötender Bürokratismus. Auf meine Einwendung: „Bei uns auch viel", sagt er: „Ja, aber Sie haben eine Monarchie!" Der Krieg sei seit 1866 eine Notwendigkeit gewesen. 1867 habe ihm ein französischer Oberst gesagt: „Wir arbeiten unausgesetzt." Ich erzähle Burckhardt von meinen vergleichenden sozialhistorischen Forschungen, von der Kombination von Sozial- und Geistesgeschichte; ich sage ihm, dies sei ganz summarisch, sehr wenig spezialistisch.

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Er antwortet: „Ja, man muß nur einmal wieder in Gottes Namen epatant sein." Daß ich so summarisch verfahren will, hat seine Billigung. Ich frage nach Nietzsche. Burckhardt antwortet, er habe Nietzsche nicht viel sein können: „Man hatte immer das Gefühl: dem kann man mit seiner Prosa nichts Neues sagen; der steckt unsereinen hundert Mal in den Sack!" Ich frage: „Sie halten ihn also auch für einen der ersten Köpfe?"; er antwortet: „ J a ! " Er sagt, Nietzsche habe fälschlich von ihm, Burckhardt, vermutet, er werde noch einmal eine Griechische Kulturgeschichte schreiben; er habe sie aber nur gelesen. Nietzsche habe ihn oft um seine Meinung angegangen; er habe aber wenig sagen können: er, Burckhardt, sei kein philosophischer Kopf, und er habe bei Nietzsche immer das Gefühl gehabt, daß nur ein solcher ihm genüge. Er sagt von Nietzsches griechischen Ideen: er habe kühne Gleidinisse gehabt. Wir sprechen über kleine Universitäten: er tröstet sich, man könne sich zurückziehen. Ich betrachte die ganze Zeit mit Bewunderung diesen wunderbaren Greisenkopf: höchst bedeutende, weit ausladende Stirn, alles sonstige tritt zurück. Beim Greise ist überhaupt der Gedanke auch körperlich am meisten hervortretend, wie auch das dauerhafteste, das Knochengerüst. Alles Sinnliche fällt ab. Er fragt mich nach seinem Freunde Herman Grimm. Von sich erzählt er, er sei 78 Jahre, herzkrank, könne nur wenig arbeiten; er sammle und raffe zusammen. Burckhardt geleitet mich zur Treppe, gibt mir nur sehr zögernd die Hand, die ich küsse; er: „O bitte!". Ich sage ihm, schon unten stehend, wie ich ihm danke. Er: „Ich bin 78 Jahre; da tut man, was man kann." Mir war das Herz voll von diesem einfachen, großen Menschen. Und wie viel schöner klingt ein Denkerleben aus als das eines Mannes der Praxis! Am vorletzten Sonntag 1 wagte ich es, an Jakob Burckhardt ein Schreiben zu senden, das einen gütigen Brief von ihm zu beantworten bestimmt war. Es geschah sehr spät — aus einer der törichten kleinen Nachlässigkeiten, die uns nachher mehr drücken als viel wichtigere Versehen —: zu spät. Er ist an diesem selben Tage dahingeschieden. In Burckhardt starb uns einer der wenigen wirklich großen Menschen der Wissenschaft. Ihm kommt eine originale Bedeutung zu. Er hat die Tradition des achtzehnten Jahrhunderts, die Tradition Herders und Winckelmanns, bei uns neu belebt und dabei an die Geschichtsschrei1

Aus dem Nachruf (Zukunft Bd. 20, 21. August 1897).

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bung eines Volkes angeknüpft, das diese Überlieferung nie so jäh und überhastig abgeschnitten hat, wie unsere beiden großen politischen Historiker, wie Niebuhr und Ranke es getan haben: an die Geschichtsschreibung der Franzosen, an die Werke Augustin Thierrys und Guizots. Aus diesem Geiste heraus ist er unser erster Kulturhistoriker geworden; er zuerst hat den Geist einer Epoche in seiner Tiefe und Eigentümlichkeit erfaßt; er zuerst hat unter den Deutschen den Gesamtcharakter eines Zeitalters analysiert. Burckhardt hat mit wunderbarer geistiger Kraft nicht — wie die meisten unserer Literatur- und Kunsthistoriker — nur das Gebiet der geistigen Tätigkeit eines großen Volkes in großer Zeit zu übersehen vermocht, sondern den Blick in die Weite über ganz andere Felder der Historie schweifen lassen und ihn zugleidi in die Tiefe gekehrt, in jene Tiefe, wo geistige und politische und materielle Geschichte in e i n e r Wurzel verbunden sind. Es wollte doch etwas sagen, daß ein Mann von so ausgeprägt aesthetischer Grundrichtung als den Haupttriumph seines Forschens die Erkenntnis des sozialen Wesens einer Zeit davontrug: die Renaissance als das Zeitalter des Individualismus, das ist das große Leitmotiv und zugleich das hohe Ziel von Burckhardts Kulturgeschichte. Damit war etwas Großes geleistet, nicht nur für die Geschichte dieses Zeitalters, sondern für die Methode der Wissenschaft selbst. Freilich, kein neues Handwerksmittel war damit ersonnen — Burckhardt ist bei aller Exaktheit, bei aller Beherrschung der Technik nie Kärrner, sondern immer König gewesen —; aber der Historie war damit eine neue große Aufgabe gestellt. Es galt fortan wieder, die großen Zusammenhänge aufzusuchen und nicht bei dem Fragment stehenzubleiben. Ich kenne kein Blatt der deskriptiv-individualisierenden politischen deutschen Geschichtsschreibung, das irgend sich an seelenkündender Tiefe mit Burckhardts soziologischer Analyse des geistigen, des geselligen Lebens im Quattro- und Cinquecento messen könnte. Wie er ausführt, daß der Ruhm damals wieder ein Agens wurde in der Geschichte, ist nur eine seiner vielen unübertrefflichen Schilderungen und Darlegungen. Burckhardts Cicerone ist, von Bode aufs sorgfältigste fortgeführt, dem deutschen Italienfahrer ein unentbehrlicher Reisebegleiter. Dies Werk hat immer und überall den zeitlichen Zusammenhang im Auge. Seine Geschichte der Renaissance aber ist ein Muster entwickelnder Kunstgeschichte; wie hier im großen und im kleinen, an den Grundrissen wie an dem letzten Gesimse, die Abwandlung des Stils verfolgt ist, wird immer ein Typus methodischer Architekturgeschichte bleiben. Schon die Anlage, die im wesentlichen nicht chronologisch, sondern systematisch ist, ist charakteristisch; er sah überall nicht die individu6

Breysig, T a g e

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eile, sondern die zeitlich bedingte Leistung, das Glied in der Kette der Entwicklung. D a ß diese Betrachtungsweise einer Ergänzung bedarf, ist offenbar; aber diese ergibt sich am ehesten nicht aus der Deskription des einzelnen, sondern aus einer Gesamtschilderung. Und es war in diesem Falle unendlich viel schwerer, zu diesem Überblick zu gelangen, als das einzelne noch so fein zu interpretieren. Was hat jedes dieser kleinen Kapitel — Der isolierte Altar, Die Gewölbe der Hochrenaissance — für unsägliche sammelnde und sichtende Arbeit gekostet, und wieviel Scharfblick und historischen Sinn setzt jedes von ihnen voraus! Diese beiden großen Ergebnisse von Burckhardts Leben und Forschen hängen aufs innigste zusammen. Sie sind beide geboren aus einer systematischen Veranlagung, einem Geist, der in dem einen Fall in der Ausbreitung ins Weite, über alle Manifestationen einer Epoche hin, im anderen in der Vertiefung in den zeitlichen Zusammenhang sein Genügen fand. Der Entwicklungsgedanke und die Idee einer wahrhaft allgemeinen Geschichte gehen auch hier wieder zusammen. Sie sind beide aus dem Drang nach Vollständigkeit der Erklärung entstanden: die eine trachtet nur da nach der Herstellung eines Querschnittes, wo der andere zum Längsschnitt drängt. Als ich Burckhardt nach jenem Besuch verließ, sah ich noch von fern die Gestalt des einsamen Mannes auf dem Altan seines Hauses wandeln. Dies verschwimmende Bild, das ich vor einem Jahre sah, ist mir im Gedächtnis geblieben, und es wird schwerlich je daraus entschwinden. Die Verlassenheit und Stille des Alters hat etwas Erschreckendes, Tragisches. Und doch, welch schöner Lebensabend ist den Kämpen des Denkens beschieden; noch damals war der große Forscher, der — so gebrechlich — doch tapfer und zäh aushielt, beschäftigt, an seinem Werk zu bessern und zu feilen, und ein freundliches Geschick hat ihn nicht auf dem Krankenbett, sondern im Lehnstuhl — vielleicht kurz nach getaner Arbeit — einen guten Tod finden lassen. Ein Gelehrter kann auch als Neunundsiebenzigjähriger noch auf seinem Schlachtfeld als Kämpfer sterben.

Karl

Lamprecht 15. August 1896

Dieser Tage kam eine freundliche, warme Karte von Lamprecht: „Lassen Sie uns nur zusammenhalten." Ich hatte ihm unter anderem geschrieben, ich möchte nie in Streit mit ihm geraten — bei aller Richtungsgemeinschaft seien doch viele Differenzen vorhanden. Darauf diese Anwort. Korrespondenz mit ihm wegen eines kleinen methodi-

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Lamprecht

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sehen Aufsatzes 1 ; so eng die Zeit ist, es läßt mir jetzt keine Ruhe mehr. Man nimmt mir sonst zu viel vorweg. Die Dinge, die ich darüber zu sagen habe, liegen in der Hauptsache klar in meinem Kopfe, zum Teil sogar skizziert in meinem Kolleghefte. Es handelt sich vor allem um den alten Gegensatz: politische und allgemeine Geschichte, und den neuen: Entwicklungs- und deskriptive Geschichte. 22. Januar 1899 Am 21. Januar abends war im Gespräch mit Lamprecht mehrfach die Rede auf sein wissenschaftliches Verhältnis zu mir gekommen. Ich sagte ihm, daß jetzt auch ich ganz allgemeine Studien treibe. Ich sagte, ich freute mich trotz unseres Parallelismus dieses Sachverhaltes, denn ich glaubte, daß ich über ganz dieselben Dinge aus ganz anderem Gesichtswinkel reden könnte (exemplifiziere auf die niederländische Malerei, wozu er lebhaft zustimmte). Nachher, auf dem Wege von meinem Hause zur Bahn, schlage ich das Thema noch einmal an. Worauf er: „ J a , wir gehen nebeneinander her, nur daß ich einige Jahre Vorsprung habe." Ich: „Man hat mich zu Ihrem Schüler stempeln wollen, und das bin ich doch wirklich nicht." Lamprecht: „Aber natürlich nicht. Das Verhältnis ist ja klar: wir gehen nebeneinander." 31. Dezember 1900 Mit Lamprecht, der sofort eine kurze 2 und eine lange 3 Anzeige meiner Kulturgeschichte schickte (65 Ms.-Seiten), umfassender Briefwechsel; seine Zentralblatt-Anzeige will zwar vor allem den Eindruck hervorrufen: meine Schule; aber sie ist sehr loyal und freundlich einem jüngeren Rivalen gegenüber. Die längere Anzeige 2 will meine sozialpsychologische Einstellung angreifen — verwirft sie als zu allgemeingültig, systematisch, unhistorisch, zu soziologisch. Lamprecht redet von seinen Entwicklungsstufen als den besseren, weil geistiger. D a ß seine Praxis neben vielen Mängeln begriffsmäßiger Durchbildung auch den hat, diese Stufen gar nicht wirklich deutlich zu machen, und daß sie im übrigen radikal wirtschaftsgeschiditlich ist, übersieht er völlig. Aber dieser Meinungsaustausch ist doch trefflich und objektiv fruchtbar. Ich fand in den besten seiner kulturgeschichtlich-methodischen Affichen jetzt in den letzten Tagen eine vorzügliche Auseinandersetzung seines Stufenprinzips. Für mich eine Überraschung, 1897 habe ich diesen Teil nicht appereipiert, auch wohl nicht gelesen. Meine Stufen habe ich empirisch ausgebildet. Aber ich begreife nun, wie verwandt er seine 1 Über Entwicklungsgeschichte (1. Das Objekt; 2. Die Methode) Dtsch. Ztschr. f. Geschichtswiss. 1. Jhg. Heft 1, 2 (1896). 2 Liter. Zentrbl. (1900). 3 Erscheinungsort nicht ermittelt.

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Ideen meiner Praxis fühlen muß — nur war er darin fast allein Theoretiker. Sein letzter Brief deutet gemeinsame Zeitschriftgründung an — mit Ratzel. Ähnlich Stefan George 1 . Trauerfeier für Lampredit, 14. Mai 1915 Himmelfahrt. Sankt-Pauls-Kirdie. Aufbahrung im Hohen Chor im Sinne stattlicher Konvention. Banner, feierlich straff stehende Studenten. Hauck als Geistlicher wohlwollend-nüchtern. Wundt in der Sadie näher, aber noch trockenere Greisensichten. Nirgends starke Teilnahme, nirgends auch nur die Absicht zu Pathos der Trauer oder der Huldigung. Als ersten sah ich Seeliger am Sarge. Er redete anerkennend für die Historische Kommission, alles aber bürokratisch-banal abgedämpft. Lamprecht — erzählt mir sein Schüler, Japanforscher — hat an Anämie gelitten; daraus dann Leber-, Nierenstörungen. Also erlegen unter der Last. Abends bei Stieda, behaglich-wohlwollend freundlich. Er erzählt über Lampredit, zu dem er immer hielt. Ältere Kollegen hätten über seine UnZuverlässigkeit geklagt — ein Kollege habe jetzt gesagt: ,Lamprecht war immer mehr subjektiv.' Einige alte Professoren hätten, als er, Stieda, vor Jahren nach Leipzig gekommen sei, Lamprecht nicht die H a n d gegeben. 25. Juni 1915 (an Driesch) Der T o d Lamprechts greift tief in mein inneres Leben ein. Idi verliere an ihm den einzigen unter den etwas älteren Geschichtsforschern, der mit mir die begrifflichen Ambitionen teilte. Andererseits löst sidi damit eine Spannung, die mich innerlich beunruhigte. Lampredit wollte eine Weltgeschichte — ganz kurz — schreiben; das bedrängte mich bei der Arbeit an meinem ja vor 13 Jahren schon in Angriff genommenem Werk. Aber freilich, der Preis ist viel zu hoch. Jetzt kann ich mit dem Volksfeind von Ibsen sagen: ,Jetzt bin ich der stärkste Mann in der Stadt, jetzt bin ich ganz allein'. K a r l Lamprecht 2 war einer der großen Folgerichtigen: er hat von dem Jugendwerk des Zweiundzwanzigjährigen an, das auch in der Lebens- und Wirkensgeschichte eines Großen wie ein unwahrscheinlich frühes Zeugnis seiner K r a f t wirkt, bis da er sein Werk vollendete, immer den gleichen Weg, das gleiche Schrittmaß verfolgen können, 1 Vielleicht ein erstes Auftaudien des Planes der 'Jahrbüdier', den George 1910 verwirklichte. 2 Aus dem Nachruf. T a g Ausg. B., 19. Mai 1915.

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nicht aus jener Treue, die das Wollen einer vielleicht noch unmaßgeblichen Jugend zu Ziel und Richte eines ganzen Lebens macht und die die Tugend der Armen ist, sondern aus dem unerzwungenen Drang, sich selbst, sein ganzes Selbst, auszuschöpfen, der die Eigenschaft eines Reidien ist, der so viel zu sagen hat, daß nur ein Leben — kaum ein Leben! — dafür genügt. Und sein Werk? Eine Geschichte seines Volkes, die schon die Vielgegliedertheit und die Weiträumigkeit ihres Grundplanes zu einer Einzigkeit in dem gesamten gesdiiditlichen Schrifttum unserer Zeit macht. Daß ein Forscher Kraft und Atem seines ganzen Lebens an e i n Buch setzt, daß er fast zweimal zehn Bände, die Abschilderung der ganzen Vergangenheit und dazu der Gegenwart eines reichen, großen Volkes unter den herrscherlichen Zwang eines gründenden und rahmenden Gedankengefüges stellt und an diesem zwanzig Jahre hindurch festhält, schon dies bedeutet Wollen und Leistung hohen Ranges. Dies Werk ist vieltürmig und vielgipflig und kaum übersehbar zacken- und giebelund spitzenreich anzusehen wie eine gotische Hochkirche, aber auch ebenso straff geeint und ebenso folgerichtig einem Baugedanken unterworfen wie sie. Und so großes Lob schon solcher Satz behauptet, so ist damit doch erst ein Bruchteil dessen ausgesagt, was Inbegriff und Summe dieses Werkes ausmacht. Karl Lamprechts Buch bedeutet im Zuge der großen deutschen Geschichtswerke eine Neuerung, die es sehr sichtbar gegen alle seine Vorgänger abhebt: es steht im Bann einer begriffliehen Durchdringung des geschichtlichen Stoffes, die nie zuvor einer von ihnen sich mit solcher Schroffheit und solcher Folgerichtigkeit zum Ziel gesetzt hatte. Es ist der bauenden Kraft Hegels verwandt, nicht dem Starrsinn seiner allzu oft sich wiederholenden Formeln. Es sucht immerdar, an die Stelle von Bild und Abschilderung der Geschehnisse die Abfolge gedanklicher Umgrenzungen und Ausschöpfungen der Geschehensgruppen zu setzen. Es vergißt durchaus nidit, der Anschauung Zeichnungen und Gemälde zu geben; aber diese sind ihm nur Mittel zum Zweck. Ein Prologus des ersten Bandes schon hat unter dem Namen einer Geschichte der deutschen Volksbewußtheit — die doch wieder nur als Bild und Zeichen des Ganzen zu gelten hat — das Ziel des Jahrzehnte- und bandzehntelangen Weges abgesteckt. Dieses innerste Wesen des Werkes gibt ihm Rang und Adel, Reichweite und Grenze seiner Wirkung. Sehr deutlich trägt es die Spur seiner Entstehungszeit: kein noch so Starker kann sich diesem Zoll an die vergänglichste und zugleich ewigste Eigenschaft seines Wirkens, die Stunde seiner Geburt, entwinden; dies Buch ist von einem Glied der Generation von der Jahrhundertmitte geschrieben, und es ist empfan-

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Aus meinen Tagen und Träumen

gen im vorletzten und geboren im letzten Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts, in dem Zeitalter des Naturalismus und des Sozialismus, in dem Zeitalter äußerster Hingabe des sdiauenden Ichs an die Außenwelt, an ihre greifbarsten, sichtbarsten, körperlichsten Eigenschaften, in dem Zeitalter der leidenschaftlichen Betonung von Wert und Notwendigkeit der allerirdischsten, der allergreif barsten Güter, in dem Zeitalter, das wie kein anderes je zuvor den Ruf nach Heil, ja Herrschaft der Massen ertönen ließ. Von dieser ihrer Entstehungszeit trägt Lamprechts Deutsche Geschichte ihren Stempel; sie ist von einem Forscher geschrieben, dem die harte, sichere Untergrundswirklichkeit der wirtschaftlichen Gegebenheiten der Gegenstand seines scharfsinnigsten, seines sidiersten Erkennens ist. Ein leidenschaftlicher Drang nadi Vollständigkeit und Allseitigkeit — Folgerung und Schluß aus seinem Streben nach Begriff — leitet ihn dazu, alle Bezirke des Tuns und Leidens seines Volkes zu durchmessen. Aber immer kehren seine Gedanken wieder zu jenen untersten, erdhaftesten Grundvesten von Ackerbau und Gewerbe, Handel und Verkehr zurück, und noch Walther von der Vogelweide erscheint ihm zuerst zwar als ein Sänger süßer Lieder, zuletzt aber auch als ein Erzeugnis der Geldwirtschaft. Und wie sein Sehnen und Suchen vorzüglich den weitesten, den größten Gruppen des Geschehens gehört, wie er immerdar Sammelbilder jedes Teiles wie des Ganzen der Geschichte eines Zeitalters zu formen trachtet, so wird er Massenbeobachter, Massenforscher und zuletzt fast Massenprophet; er ist in seinem Bezirk ein Anwalt des Massengeschehens, der — wie alle Gruppen des Sozialismus, vom marxistisch-materialistischen bis zum bürgerlichen Kathedersozialismus — unter dem übermächtigen Eindruck von Massenwohl, Massenwirtschaft, Volksherrschaft steht. Er ist der Geschichtsschreiber eines in Tat wie Geist kollektivistischen Zeitalters geworden. Er hat darüber nicht die Welt des Staats und der Staats- und Kriegsmänner in Vergessen oder gar ins Unrecht setzen wollen. Er hat auch den ewigen Widerspruch zwischen Mann und Masse, Führer und Herde — aller Geschichte und aller Geschichtsforschung tiefsten Zwiespalt — zu überwinden getrachtet; aber hier mußte sich Streit und Gegensatz des Übergangszeitalters, in das er gestellt war, offenbaren. Hier fand er die einende Lösung nicht, ließ sie bewußt beiseite. Er redet und zeugt von K a r l und Luther, Friedrich und Bismarck, aber ihre Gestalten stehen wie Standbilder am Rande der breiten Geschehensströme. Und dennodi wurde sein Werk ein Ruhmlied auf die Kraft des Schaffenden, des Führers im Geist. Denn in e i n e m Stück war dieser

Material für geplante Bildnisse; Lampredit

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Gesdiichtsschreiber des Sammelgeschehens ganz Anwalt und Verkünder der Persönlichkeit: in Wie und Weg seines eigenen Werkes. Wovon sein Mund nicht sprach, wovon sein Hirn nichts wissen wollte, von dem Königsrecht des starken Einzelnen, davon legt sein Werk stummes und doch beredtes Zeugnis ab. Nur die höchste Willkür von einem von jenen, die allein zu solcher Freiheit das Recht haben — großen Bildnern im Traumreich des Gedankens, Formern, die aus dem Erdenkloß des dumpfen Stoffes, der rohen Nachrichtenmasse Gestalten zu schaffen und ihnen den Atem eines zweiten Lebens einzuhauchen vermögen —, konnte die Überlieferung eines Volkes zum Bau der Lebensgeschichte, der Lebensalterfolge dieses Volkes umschaffen, als die heut unser messender, liebender, rühmender Blick Karl Lamprechts Werk erkennt. Er hat die Kärrner und ihr Geschick geliebt; er selbst war ein König. Nach allen höchsten Zielen der Geschichtsforschung langte noch sehnsüchtig das letzte Wünschen dieses reichen Lebens. Auf seine Setzung, die der Geschichte der Deutschen Maß und Regel der Altersfolge aller Völker entlehnen wollte, trachtete er den lebendigen Beweis aufzubauen, zu dem Einzelfall der Volksgesdiichte die Gesamtheit einer Weltgeschichte zu stellen. Da setzte diesem Unermüdeten das stets vom Leib her den Geist bedrohende Schicksal die Grenze und das Ende. Uns, den trauernd Zurückbleibenden, läßt er die schwere Last unendlicher Aufgabe; uns, den überreich von ihm Beschenkten, bleibt seine Gestalt gewaltig, wuchtig, kraftumwittert genug als die des Geschichtsschreibers der Deutschen, der selbst ein Deutscher war vom Blute Hegels und des Alexander Humboldt, der den ,Kosmos' schuf, durch Zorn und Zepter ein Enkel Bismarcks und von Luther.

ENTSCHEIDENDE JAHRE

Erfurt (auf der Reise), 11. März 1896 Hinter mir liegt ein Halbjahr, das so voll von inneren Ereignissen und Entwicklungsetappen ist wie kaum eines meines bisherigen Lebens. Bisher verlief alles in ziemlich gerader Richtung — jetzt kurz vor dem Abschluß meines dreißigsten Lebensjahres und zugleich des vorbereitenden Stadiums in meinem Berufe tritt auf einmal eine schroffe Wendung ein. Meine Neigung zu historischen Studien setzte f r ü h ein. Schon als Obertertianer wurde mir Beckers Weltgeschichte geschenkt, ohne daß ich sie freilich viel gelesen hätte — sie war mir zu trocken; in Unterund Obersekunda betrieb ich ziemlich rohe chronologisch-genealogische Studien. D a n n in Prima Durchbruch: Lektüre Rankes, Häussers, Treitschkes. Preisarbeit. Sehr früh — ich denke Herbst 1885 (nach dem vierten Semester) — Ideen einer Deutschen Geschichte, erst von 1648—1740, dann seit 1648. Von da an habe idi immer an diesem Gedanken festgehalten in mannigfachen Plänen — wenig niedergeschrieben, doch immerfort innerlich ausgebaut. Die erste Umwandlung wurde herbeigeführt durch mein erstes Kolleg: Vergleichende Sozialgeschichte der neueren Zeit. Aber nur als Episode, als Essayplan; dann seit Sommer 1894 als Plan eines Buches, das auch als Versuch betitelt werden sollte. Für dieses Buch nun unter vielen anderen geistesgeschichtlichen Studien im vorigen Sommer vielfache Lektüre Nietzsches: sie erregt in mir das stärkste Interesse an soziologischen, ethischen Dingen überhaupt. Im Juli etwa oder Juni taucht der Gedanke einer Soziologie auf. Nietzsches tausend Anregungen sollen ausgebeutet, Spencer herzugezogen, das ganze Schwergewicht meiner historischen Studien hineingeworfen werden. Alles nehme ich leidenschaftlich in mich auf, kämpfe alles sehr durch: so im Oktober/November 1895 die Frage, ob Buch oder Aufsatz über Sozialgeschichte; ich habe damit Wochen lang gerungen. Zuerst war ich f ü r das Buch entschieden, dann f ü r Aufsätze — aus Furcht vor zünftiger Anfeindung. Idi spinne den Gedanken einer Soziologie immer weiter aus. Im Januar kam ich zu dem Titel „Das Ich und die Menschheit" — etwa mit dem Zusatz „Entwurf einer Gesellschafts-, Staats- und Sittenlehre".

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Die Idee war, Soziologie, Politik und Ethik, die ich als untrennbare Einheit ansehe, zusammenzufassen. Ich war auch schon von der Notwendigkeit überzeugt, die praktische Politik und Ethik aller geistesverwandten Völker heranzuziehen — von den modernen abgesehen vor allem die der Hellenen und Inder, aber auch der Chinesen als ältester Rationalisten der Erde. Eine Kapitelüberschrift fiel mir ein: Die Lehren der heiligen Bücher. Dieser Abschnitt sollte also eine vergleichende Moral der Religionen umfassen. Sonst kam ich noch nicht zu weiteren Dispositionen. Aber dieser Plan übte nun wieder eine Rückwirkung auf meine historischen Projekte. Ich ward immer mehr inne, daß idi doch vielleicht nicht am besten täte, fünfzehn bis zwanzig Jahre meines Lebens in Archiven zu versitzen (wie es Treitschke tut) — selbst nicht um eines großen umfassenden Werkes willen, das nebenher noch sehr viel Kulturgeschichte enthalten sollte und das von jeher als Kombination von politischer, Kultur- und materieller Geschichte gedacht war. Ich gelangte zu der Auffassung, daß ich besser daran täte, meinem innersten Drange zu folgen, das zu tun, was mir den größten Genuß gewährt: meinen Gedanken ü b e r die Dinge nachzugehen, neue Zusammenhänge aufzuspüren, allem Großen und Ganzen nachzutrachten und nicht dem Kleinen. Der Schritt von einer Soziologie zur archivalischen Kleinarbeit wäre unmöglich. Überall spüre ich auch dabei den hebenden Einfluß Nietzsches: neue Probleme — die Geschichte der praktischen Sittlichkeit, seine Auffassung der Griechen —. Dem allen möchte ich nachgehen, auch in der Literatur den Größten nachgehen, nicht den kleinen und den mittleren Menschen eines bestimmten Zeitalters. Das alles leitet ohne weiteres zu der Idee einer Geschichte der Menschheit — Kleineres dürfte es nicht sein; denn Religion, Kunst, Dichtung, Wissenschaft läßt sich einmal nur universal im Ganzen darstellen, und sodann sind die höchsten Leistungen und Menschen in jedem Zeitalter nicht so häufig gesät. Es sind die beiden größten oder doch wenigstens weitest gespannten Unternehmungen, die auf dem Gebiete der Geisteswissenschaften zu ersinnen sind, die ich mir vornehme: es sind die menschlichen Dinge im systematischen Quer- und im historischen Längsschnitt. Was midi von Philosophie interessiert, ist darin: Ästhetik, Psychologie ist dabei zur Genüge herangezogen. Ob ich wirklich ein im höchsten Sinne produktives Ingenium bin, ich weiß es nicht. Wohl aber ist mir sicher, daß ich recht wohl befähigt bin, sehr verschiedenartige Fäden zu einem Gewebe zusammenzuknüpfen. Systematischer als Nietzsche werde ich schon verfahren. Aber ich möchte außer seinem Gebet: ,Gib, das Tagwerk meiner Hände, Gro-

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ßer Geist, daß ich's vollende' 1 noch ein anderes zum Weltgeist aufsteigen lassen: Gib mir große Gedanken. — Eine Unmasse habe ich noch zu bewältigen; aber es ist alles genußvolles Studium, denn es ist großen und nicht kleinen Dingen gewidmet. In der Soziologie meine ich, die Religion in ihrem ethischen Grundgehalt heranziehen zu können, die innersten Grundlagen des Rechts und des Staates begrifflich zu ergründen, ohne irgend die historische Induktion vermissen zu lassen. Für die universale Geschichte aber denke ich mir als die wichtigste Aufgabe: neue Aufgaben zu finden. Höher, immer höher! Die großen Entwicklungsphasen in ihrem Charakter zu erkennen — das soziale Moment im tiefsten Sinne zu ergründen — Einzelmensch und Genossenschaft einander gegenüberstellen — die Epochen des wechselnden Einflusses der einzelnen geistigen Seiten des Menschen auf seine Handlungen zu finden (Verstand, Gemüt, Phantasie) — die innersten Errungenschaften der Literatur, des Rechts, der Religion, der Kunst aufzuspüren — im tollen Wirrwarr der politischen Geschichte das Allgemeine abzuschöpfen (niemals einzelne Kriege, einzelne Könige schildern wie die bisherige Historie, sondern das Typische zu finden, ohne doch die ganz großen Einzelmenschen — Napoleon etwa — zu vernachlässigen). Ich kann noch kaum ganz scharf abgrenzen, was ich vorhabe. Vom Zeitalter Ludwigs des X I V . würde ich z . B . die charakteristischsten Züge sammeln, aber nicht die einzelnen Begebenheiten erzählen. Wo eine gewaltige Persönlichkeit eingreift, müßte sie die ganze Darstellung durchbrechen. Wie großartig würde wirken unter lauter ganz allgemein gehaltenen Abschnitten ein Kapitel: Napoleon! Aber die geistige Kultur würde mich am meisten anziehen: voran das Verhältnis zur Gottheit, dann die Literatur als Spiegel der privaten Verhältnisse ebenso sehr wie um ihrer selbst willen; die größten Menschen auch hier voran. Dann das Recht als soziales Phänomen, die Kunst in ihrer ästhetischen Stufenfolge, die Erziehung, und so fort. Vor allem Nietzsches Programmforderung der Geschichte der praktischen Sittlichkeit. Alle bisher links liegengelassenen Kulturvölker — Chinesen, Inder, Altmexikaner — heranzuziehen. Von den Barbaren wäre nur weniges zu sagen (Fühlung mit Bastians Forschungen!). Schwarze — nicht. Hellenen; Neuere Zeit! Für die Soziologie denke ich mehr an Deskription als an Normen. Doch werden sie nicht ausbleiben. Möchte ich doch beides vollenden dürfen! Vielleicht genüge ich so nicht nur meiner Neigung zum System, son1 So — nach Goethe — Nietzsche an Rohde 2. Jan. 1872 (Hist. krit. Gesamtausg., Briefe. Bd. 3 S. 191).

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dern auch zur Praxis. Zum wirklichen praktischen Eingreifen tauge ich nicht, das sehe ich jetzt ein. Ich bin zu wenig einseitig, kann mir nicht die Befangenheit künstlich acquirieren, die — immer — dazu nötig, sehe die Dinge immer gleich von zwei Seiten, liebe und hasse nicht stark genug! 7. Juni 1896 Zuerst von einem weiteren Plan, der mir seit ein oder zwei Monaten hinter den beiden anderen großen Unternehmungen dämmert — also eigentlich f ü r mein Alter —: eine Ästhetik. Unsere Sinne und die Kunst scheint mir d a f ü r ein guter Titel zu sein. Wenn ich's recht bedenke, ein ganz organischer A u f b a u : meine Weltgeschichte würde, wenn sie wird, was ich will, vor allem Sozial- und geistige Kulturgeschichte werden. Ziehe ich von beiden Substanzen die systematischen Konsequenzen, so muß sich neben einer Soziologie audi eine Ästhetik ergeben. Aber ich meine, doch zuerst an die Geschichte der Menschheit gehen zu sollen. Ich denke, es ist besser, erst das empirische Material zu sammeln, auf dem sich die Soziologie (Das Ich und die Menschheit. Eine Sitten-, Staats- und Gesellschaftslehre oder Ethik, Politik, Soziologie als Untertitel) aufzubauen hätte. Es ist eine herrlich weite Welt von Plänen, in die ich schaue. Wenn ich sie doch aufbauen könnte! Die Geschichte der Menschheit denke ich mir kurz: großes Format, aber nur zwei mäßige Bände. Anmerkungen f ü r sich. Ein Band bis zum Tode Shakespeares reichend und von dem zweiten der größere Teil dem 19. Jahrhundert gewidmet. Wenn mir doch ein edler, monumentaler Stil gelänge! Ich habe einen Durst nach allem Wissen und nach der schönsten Form — werde ich ihn mir selber stillen können? 5. Juli 1896 5. Juli — 30 Jahre: ein Stufenjahr des Lebens. Fünfzehn Jahre vielleicht bewußten Denkens, zehn Jahre eigener Arbeit liegen zurück. Der innere Einschnitt trifft fast mit diesem J a h r zusammen: voriges Jahr vom Sommer ab die Wandlung. Die neuen Pläne bis Januar 96 ersonnen. Ich habe doch wohl das definitive Fundament meines Lebens in dieser Grundlage gefunden. 29. August 1896 . . . Mir schwillt das H e r z von meinen weiteren Plänen: zuerst Abrundung der Historikaufsätze unter H i n z u f ü g u n g von Aufsätzen Historische Gesetze und starker Erweiterung des historischen Teils. Demnächst Moderne Soziologie — erweitert von Rousseau bis auf Nietzsche:

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Fergusson, Adam Smith, Comte, Humboldt, Leo, vielleicht auch Treitschke. D a n n aber Die Geschichte der Menschheit. Nach Indern, Christus, Buddha, Mohammed und allen H ö h e n blicke ich schon jetzt sehnend. U n d in der Form möchte ich das höchste erreichen: Scheerbarths schöne Sprache — einfach, monumental — und selbst Hartlebens gewählte Prosa eifern mich an. 28. Sept. 1896 Teil I und I I — in den letzten Tagen auch I I I — der Aufsatzsuite über Methodik sind entstanden. Die sehr weitläufigen Vorarbeiten für Teil I I der Sozialen Entwicklung, der am 15. Oktober an Schmollers Jahrbuch abgehen soll, haben midi nicht allzu sehr aufgehalten. Ich exzerpiere gar nicht, sondern lebe ganz von der H a n d in den Mund. Das beste ist, daß dies alles geborene Kolleghefte sind, nur freilich viel besser, genauer und gründlicher als gewöhnliche. Ich habe ein halb Dutzend kleine Pläne, von den großen abgesehen; ich denke, man muß solche Zeiten voller K r a f t ausnutzen. D a z u hundert kleine Einfälle für künftige Schriften, die nach meinem Zettelsystem alle sofort gebucht werden. 31. Okt. 1896 Mittagessen bei Frau Förster-Nietzsche; D r . Kögel auch da und D r . R u d o l f Steiner; ersterer gibt die Werke heraus. Wesentlichste Nachrichten: das letzte Werk, Der Wille zur Macht, scheint vollständig da zu sein. Sie lassen es wunderbarerweise bis zuletzt. 8. Nov. 1896 Brief an Frau Förster-Nietzsche — stelle ihr vor, ob nicht doch Der Wille zur Macht zuerst gedruckt werden sollte! Neue innere Wandlungen: in der Schulfrage starke Zweifel an den allein-seligmachenden alten Sprachen. Stärkste Bedenken über unsere und meine vielen Fremdwörter. Ich habe versucht, V2 Bogen lang ( K o r rektur der Sozialen Entwicklung) sie auszumerzen: erschreckend viele entbehrlich — fast alle — , und manchmal dabei durch Verdeutschung auch Verbesserung. 17. Dez. 1896 Heute Ferien: die Studenten trampelten eifrig und mit besonderer W ä r m e — mein kleiner Heerhaufen hat ganz treu und beständig bei mir ausgehalten. Ich hatte eben — und wirklich im Innersten begeistert — von J a k o b Grimm gesprochen und seinen großen wissenschaftlichen Taten.

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D a n n sprach ich im Seminar mit Schmoller. E r sagte mir eigentlich nichts Besonderes u n d ausdrücklich Schmeichelhaftes; es handelt sich u m die nächste Lieferung der Sozialen Entwicklung f ü r sein Jahrbuch, u n d ich h a t t e im G a n z e n den instinktiven, aber sehr bestimmten Eindruck, als habe ihm die Sache bisher sehr zugesagt. Ich w a r recht von H e r z e n f r o h ; denn Schmoller ist der kompetenteste Urteiler darüber, den es gibt; er f a ß t diese Dinge mit den zahlreichsten u n d feinsten F ü h l f ä d e n a u f ; er ist einer v o n den ganz wenigen, an die ich a m meisten beim Schreiben denke. Hagen i. W., 24. März 1897 Diese Blätter sollen nicht nur v o m Angenehmen berichten. Dicht vor A n t r i t t unserer Reise w a r ich bei Schmoller. Ich brachte die Rede auf Münster — er sagte sogleich, er habe bedauert, d a ß ich die Berufung dorthin abgeschlagen habe. D a n n weiter: es sei doch ein echec f ü r mich, d a ß ich weder auf die Marburger Liste noch auf die Freiburger gekommen sei, auf der ich zweimal gewesen sei. U n d er meine, das komme daher, d a ß die Leute hier in E r f a h r u n g gebracht hätten, d a ß ich wenig Zuhörer habe. Ich machte ihn auf meine willkürlich gewählten Kollegthemata a u f m e r k sam u n d sagte dann, ich empfinde das keineswegs als Mißgeschick; ich fühle mich so hier sehr wohl. D a r a u f er, ich müsse doch einmal f o r t ; m a n könne nicht immer Extraordinarius bleiben; m a n müsse f ü r seine Schüler in der F a k u l t ä t eintreten k ö n n e n ; m a n habe auch erst als Ordinarius rechten Lehrerfolg. D a n n Ratschläge oder eigentlich mehr Monita über meine geringen Lehrerfolge. Die einleitende W e n d u n g seinerseits w a r : „Sie haben gar nichts Rhetorisches in I h r e m Wesen." Er w a r bei alledem auch recht freundlich; ich h a t t e durchaus den Eindruck des väterlichen Ratschlags — nur sagte er wohl, was er sagen wollte, etwas u n u m w u n d e n e r , weil ihn meine Ablehnung der Berufung verdrossen h a t . Er sagte geradezu, m a n müsse die Stelle hier in Berlin z u m Aufrücken haben. Früher h ä t t e Althoff jeden einen Revers unterschreiben lassen, d a ß er jedes O r d i n a r i a t in der P r o v i n z annehmen wolle. Ich hob hervor, d a ß dies f ü r mich durchaus kein prinzipieller E n t schluß sei; ich h ä t t e bei dem, was ich schon über Religiöses gesagt hätte, nicht in dieses katholische Münster gehen können. Dagegen wolle er auch nichts sagen. Aber sonst hätten sich alle die, die nicht nach auswärts hätten gehen wollen, ihre Karriere verdorben: Grimm, Delbrück, ich glaube, er n a n n t e auch P o m t o w . Er wolle mit mir wetten, d a ß ich später auch O r d i n a r i u s hier werden wolle. Dagegen aber müsse sich

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die Fakultät mit Händen und Füßen sträuben, daß die Leute nicht fortgehen wollten. Ich sprach von den Übelständen der kleinen Orte — d.h. nur Bibliothek betreffend, nicht mein altes Gravamen, die kleinliche Geselligkeit mit ihren Feindschaften und Rankünen — ; er leugnete das ab. Woran mir eigentlich im Leben liegt, konnte ich ihm nicht wirklich sagen: daß ich die ,Karriere' nidit am höchsten schätze oder das Hochgefühl, in einer Fakultät über Doktorpromotionen zu beraten. Ihm liegt selbst zu viel an Macht und praktischem Eingreifen, als daß er das recht mitfühlen könnte. Ich weiß, daß ich sachlich sehr oft mein Bestes im Kolleg gebe, und innerlich wenigstens bin ich nicht nur dabei, sondern leidenschaftlich erregt. Ich möchte auch mit einigem Erfolg lesen; aber alles kommt mir auf meine innere Entwicklung an. Meine Arbeit habe ich leidenschaftlich geliebt von meinen Universitätsjahren (Tübingen) an; seit zwei bis drei Jahren aber lebe ich eigentlich nur für sie. Alles was idi lese, was ich sehe, erlebe, bezieht sich darauf; alles möchte ich zum Material dafür machen. Vor zwei Jahren machte ich mir noch kein Gewissen daraus, einen Nachmittag zu verplaudern; heut rechne ich mit den Stunden. 29. März 1897 K ö l n : ganz veränderter Eindruck, die gotische Malerei habe ich diesmal weit höher geschätzt, die gotische Baukunst etwas tiefer gewertet. Augen, die St. Peter gesehen haben, sehen diesen Dom doch anders. Der erste Eindruck war dabei maßgebend: im Inneren machte im Augenblick des Eintretens das überhohe Mittelschiff den Eindruck des Engbrüstigen, allzu Himmelnden, Christelnden. Zuletzt entdeckt man auch in der Außenarchitektur dieses Streben von der breiten festen Erde weg; etwas von der Keller- und Gräberluft des Inneren weht auch um all diese Spitztürme, Stützen und Fialen. Die romanischen Kirchen — meist wenig rein im Äußeren — heben sich doch auch hier erfreulich von der Gotik ab durch ihre stärkere, festere, stämmigere Sinnesart. Sie wurzeln noch tiefer in der Erde! Freilich sind ja auch sie eine Renaissance — haben noch altheidnische Kunst als Erbe fortgebildet. Das Oktogon des Aachener Doms repräsentiert die älteste deutsche Kunst: sie baute noch mit der Bärentatze. 31. August 1897 Gestern morgen in Quedlinburg: wieder einige schöne Holzhäuser; hoch oben aber das Schloß — einfache Renaissance —, davon umschlossen die Schloßkirche: herrlicher altsächsisdier romanischer Stil in aller 7

Breysig, Tage

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Reinheit. Äußeres erinnert an St. Godehardi, Inneres breiträumiger — prachtvoll wuchtig, in sich gefestet: vielleidit Höhe aller deutsdien Baukunst. Starker eigener Stil: die Kapitäle mit ihren Tier- und Pflanzenornamenten; kein Stück ist hier Antikenkopie. Unzulänglich nur die Decke — gerade, flach. Alles ist voll von Erinnerungen an Heinridi I . und Otto I . — die stärkste Kaiserzeit. Die K r y p t a noch ungefüge; darunter eine lichtlose Kerkerzelle (Bischof Bernward von Magdeburg saß hier gefangen, weil er nicht die Gründung des Halberstädter Bistums zugeben wollte) und die Marterzelle. Die ganze Zeit steigt auf! 21. Jan. 1898 Meine äußeren Verhältnisse sind geordnet. Ich habe nun seit fast 2 Jahren diese kleine Professur (die midi aber immerhin nährt) und damit die Basis, die Ruhe für alles weitere, die ich unbedingt brauche. Mein akademisches Amt ist mir lieb, ich übe es sehr gern aus; aber es ist nidit das, worauf mein Leben gestellt ist. Das ist mein schriftstellerisches Planen. Bisher floß dieses nur ruhig weiter, neuerdings hat dieser Fluß mehrere jähe Windungen durchgemacht. Bis zum Jahre 1890 etwa war ich ein begeisterter Monarchist, national, konservativ, selbst für den Adel sehr eingenommen. So hatte midi meine Erziehung oder besser die Luft, die idi damals einatmete, werden lassen, so mich später das sinkende Zeitalter Wilhelms I . und Bismarcks fest geprägt. Audi die Zeiten Wilhelms I I . und Caprivis, die dann anhoben, haben mich nicht wesentlich verändert. Wir übten höhnische Kritik an diesem Regime, ohne doch an den Institutionen zu zweifeln. Treitschke dachte so und übte damals noch den mächtigsten Einfluß auf midi aus. Mir war Caprivi als Freihändler verhaßt, die Arbeiterkonferenz 1890 sah idi mit sehr skeptischen Augen an; Bismarcks Brille saß mir auf der Nase. Ich war wütend über seine Entlassung; ich weiß den Tag nodi: ich hatte die Empfindung, das sei das erste ganz wichtige und furchtbare Ereignis meines Lebens. So blieb es noch lange — nodi vor zwei, drei Jahren hatte idi ein Gesprädi, in dem mein Partner Republik und demokratischen Adelshaß nicht sehr glücklich vertrat; idi fehdete ihn heftig an. Zu Ostern 1896 begann ich einen Aufsatz zu schreiben, in dem idi einen ständischen Parlamentarismus — nach Berufen gegliedert — verteidigte. Ich war zu jener Zeit sehr für eine Flottenvermehrung eingenommen, für die sich damals oben noch keine Hand rührte. Hartleben verteidigte einmal zwischen 2 und 4 Uhr nachts kurz und bündig die sozialistische Demokratie; es war im Sommer 1896. Als ich n a r l l H a r u p lr-am

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diese Ideen ganz einnehmen. Ich war von da ab ihnen gegenüber vorurteilsloser. Ich habe vom 1. Okt. 1897 ab den Vorwärts und Die Neue Zeit gelesen, um mich über sie zu unterrichten, las auch eine Weile die Göhre-Naumannsche Zeit. Schon seit jenem Gespräch nahm ich ruhig derartige Gedankengänge in mich auf. Ich habe mich nun inzwischen nicht zu diesen Dingen bekehrt. Aber sie haben so weit auf mich eingewirkt, daß ich die Welt auch einmal von daher betrachten lernte, daß ich zu der Vermutung kam, der Strom der Zeit treibe dahin und daß ich in meinem Eifer für andere soziale und politische Meinungen erkaltete. Analysiere ich mich heute recht ehrlich, so bin ich nicht mehr radikal nationalistisch gesonnen. Ich liebe mein Volk und mein Volkstum noch so inbrünstig wie zuvor, aber auch die Menschheit. Ich glaube nidit mehr an die Ewigkeit der Staatsgrenzen von heute, nicht mehr an den ewigen Krieg. Ich war schon lange kein Christ mehr; Nietzsdie hatte keine Liebe in mir zu überwinden, keine Anhänglichkeit an das Christentum. Ich verehre Nietzsche als Sprachformer, als soziologischen Denker, aber ich widersetze mich seinem Hyperindividualismus. Ich kann nicht die Krone des Baumes pflegen wollen und seine Wurzel vernachlässigen. Ich träume von einem Staatssozialismus als nächstem Stadium der Entwicklung, aber widersetze mich der Gleichheitsschwärmerei der Sozialisten. Ich möchte aber Gleichheit der Voraussetzungen, gleiche Luftund Lichtmenge für alle — daher ungeheure soziale Reformen, doch nidit nachherige Gleichheit. Alle sollen dieselbe Rennbahn vor sich haben, aber nicht alle denselben Preis erhalten. Darum Beseitigung der heutigen Klassenunterschiede, darum größere Zentralisierung der Arbeit; aber alle erdenklichen Klauseln zugunsten der Individualität. Für heute aber auch möglichste Abschwächung der nationalen Gegensätze, Vorbereitung des dauernden europäischen Friedens, friedliche Zivilisierung der Welt. Gegen Adel (trotz vieler Verluste) und gegen Erbrecht. Keine Agrar-, keine Handwerker-, keine Deutsche-Reich-Romantik. Großbetriebe in Industrie und Kleinhandel zu fördern; für den Ackerbau schwebt mir auch ein, wie midi dünkt, nidit unmöglicher Modus vor. Dieser Wandel beeinflußt nun meine Studien zunächst nur, insoweit midi dies alles unparteiischer macht, wie es dem wahrhaftigen Historiker geziemt. N u r zuweilen plagt mich der Gedanke, ich müßte aktiv hervortreten. Nicht als Politiker, ich sehe mehr und mehr, daß ich dazu nicht tauge, zu empfindlich und zu theoretisch-uneinseitig bin. Aber ob ich nicht mit meinen Waffen, Broschüren, eingreifen sollte? Ich glaube, ich werde auch das zurückstecken. Meine großen Aufgaben dürfen nicht leiden. Ich denke an sie T a g und Nacht; will sie auch V

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durch unnützes Mich-Exponieren nidit in Frage stellen. Denn die Zeiten werden der Reaktion von 48 immer ähnlidier. N u r werde idi mir niemals die Freiheit nehmen lassen, als Historiker auch über die jüngst vergangenen Zeiten offen zu reden. Aber dies alles berührt mehr die Peripherie meines Wesens und Wirkens oder besser Wirkenwollens. 19. Dez.

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Juni

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Ich habe soeben in einem der programmatischen Abschnitte der Einleitung zu meinen Führenden Völkern noch einen Passus eingeschoben, der begründet, warum von den Einzelnen, von den Menschen in diesem Buche nur insoweit die Rede ist, als sie die Träger der Entwicklung sind. Ich habe dabei aber nicht aussprechen können, wie ich mir die Möglichkeit denke, von Personen zu reden und doch Entwicklungsgeschichte zu schreiben. Seit dem Jahre 1896 aber habe ich einen Plan — der als Geschichte des Menschen dieses Problem lösen soll. Nur dies möchte ich heute und hier zu Protokoll geben.

Politische Moral und Geldinteresse: Es wäre einmal gegen die Hypokrisie zu schreiben, mit der man immer auf Händler-Politik etc. schilt. Was wollen die Staaten anders, was wollen Agrarier, Sozialisten anders, als für ihr wirtschaftliches Interesse eintreten? Man ist darin sehr zimperlich; das alte Rittertum — Raubrecht, alte Ehe — ließ all dieses ökonomische Interesse viel stärker hervortreten. Die Nationalliberalen mit ihrer Fassade von Sittengeist (Idealisten, die gegen das Überwiegen der materiellen Interessen wüten und eifern, und hinten ihre Interessenpolitik), Konservative, Freisinnige —, sollen dies nun alles Schurken sein? Soll, was für das Vaterland erlaubt ist, für die Klasse ein Verbrechen sein? Beides sind soziale Gruppen! Nationalismus, Krieg und Ethik: Man hat gesagt, die Unsittlichkeit des Krieges werde durch das Einstehen für eine große Gesamtheit (Volk, Staat) aufgehoben; eine der zahlreichen Hypokrisien, mit denen wir, wie unser privates, so auch unser öffentliches Leben umschleiern. Es ist immer nodi die alte Lust am Sdilagen und Kämpfen, die Männer und Völker in den Streit treibt. 30. Dezember

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Was tat mir dies Jahr? Es ließ midi der Natur näher rücken als je zuvor, denn idi sah ihr täglich ins Auge von meinem Arbeitstisch aus. Den Dichtern kam idi näher und der Poesie selbst: das hat Stefan George und wieder die Natur bewirkt, der Wald, dessen Farben idi besser sah, und die Farben der Ackerfurchen, der Abendröten und der

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Gartenblumen. Ich werde nach diesem reiselosen J a h r alle auswärtigen, alle fremden Gaben der Landschaft weit mehr genießen. Mein Buch 1 hat den äußeren Abschluß, den ich von diesem Jahre sehnlicher noch als allen vorangegangenen seit 1896 mir erwünschte, nicht erhalten. Aber es ist rasch gewachsen und hat mein Wissen sehr geklärt und geordnet und weitergeführt. Ich habe ästhetische Grundansichten gewonnen und einige wissenschaftstheoretische; ich habe sie mit den sozialwissenschaftlichen in eins zusammengeschlossen zu einem festen Knochenbau, um den nun Fleisch und Muskeln wachsen sollen. Ich habe die Geschichte der internationalen Politik und des Rechts bewältigt und meinem methodischen System einverleibt; ich habe die Staats- und Gesellschaftsgeschichte von Griechenland und Rom nüchtern, die des griechischen Geistes etwas reicher angegliedert. Ich bin darüber zu anderen Grundanschauungen vom Wirken der Persönlichkeit gekommen, die ich — determiniert wie sie ist — höher stelle als früher. Ich habe zuletzt meine geschichtstheoretischen Ansichten etwas geändert: Entwicklung und Kausalität treten mir zurück; der Gegensatz von beschreibender und begrifflich ordnender Geschichte ist mir aufgegangen. Die Freundschaft mit der redenden Kunst hat mich eine Zeitlang immerfort erschüttert — als könnte ich selbst ein Dichter werden. Die Betrachtung Stefan Georges hat mich dann geheilt; ich würde nur ein Nachempfinder sein, kein Präger eigener Münzen werden. Ich hoffe freudig, mein großes Vorläuferwerk beendigen zu können, und sehne mich nicht mehr so ungeduldig wie letzlich nach meinem Menschheitsbuche, nach der Geschichte des Menschen, an die ich alle künstlerische Kraft, die mir doch etwa innewohnt, setzen will. Soziologische Probleme sollen nebenher gelöst, Geschichtstheorie gepflegt werden. Hitziger Anfeindungen bin ich gewiß — man wird mich Konstrukteur schelten und mein Buch allzu schematisch und abstrakt; auch einzelne Fehler werde ich in dem ungeheuer weiten Arbeitsfeld nicht vermeiden. Aber ich weiß, daß ich mit diesem Werk eine Funktion des Zeitalters versehe, — und ist's diesmal ein Karton, so soll in zehn Jahren ein feuerfarbiges Gemälde entstehen . . . Ich war sehr glücklich und brauchte die Menschen weniger als je in meinem schönen Schaffen. 11. April 1900 Völkerkraft und -sterben: Ist eigentlich gerecht, Zeiten höchster 1 Die Kulturgeschichte der Neuzeit. Vergleichende Entwicklungsgeschichte der führenden Völker Europas und ihres sozialen und geistigen Lebens.

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Blüte — 5., 4. J h . der Griechen — als M a ß s t a b anzunehmen, alles andere als Verfall? 22. Dezember 1900 O b Persönlichkeits- oder Massengeschichte ist nicht eine Prinzipien-, sondern eine T a t f r a g e , die je nach Beschaffenheit der einzelnen Zweige der geschichtlichen Entwicklung zu entscheiden ist. Immer sind beide am Werke, auch im sdieinbar kollektivsten wie Sprach- u n d Reditsgeschichte. Also graduelle Unterschiede! Am Tage des ]ahrhundertendes, 31. Dezember 1900 — doch sollen diese Zeilen nicht v o m J a h r h u n d e r t , weder v o m k o m menden noch vom scheidenden reden, sondern n u r v o m J a h r , von meinem J a h r . . . . I m Sommer Nietzsches T o d u n d die Rede am Sarge — ein H ö h e n m o m e n t in meinem Leben. G r o ß an der Feier nur das Antlitz des Toten. Die Stirn vor allem herrlich. Das Begräbnis am andern Tage leider etwas familiär, christlidi-kleinbürgerlich. Aber ein herrlicher Spätsommertag, u n d die goldenen Z a r a t h u s t r a w o r t e , die in Wechselreihen am offenen G r a b e gesprochen wurden, machten vieles gut. Zuerst gedachte ich im O k t o b e r beide H e f t e meines zweiten K u l t u r geschichtsbandes auszugeben; ich arbeitete sehr eifrig, nachdem ich Bondis Zustimmung zu dieser ursprünglich nicht in Aussicht genommenen Teilung erlangt hatte, an der Ausfüllung der wirtschafts- u n d klassengeschichtlichen Lücke. D a n n Paris, k u r z e zehn Tage d o r t ; dieses Mal nur Palais des Beaux A r t s : moderne französische Malerei u n d Bildnerei. D a n n auf Bie's A u f f o r d e r u n g , die mir sehr recht w a r , ein A u f satz über das 19. J a h r h u n d e r t 1 , den ich mit dem Titelzusatz ,in der Stufenfolge der Zeiten' zu einem P r o g r a m m p r o s p e k t meiner K u l t u r geschichte umgestaltete, zur Bewährung vor allem meiner Parallele zwischen griechisch-römischer u n d germanisch-romanischer Geschichte. Eine eigentliche sozialpsychologische Analyse des Zeitraumes soll noch folgen: K u l t u r und Gesellschaft des 19. J a h r h u n d e r t s . Einen V o r l ä u f e r stellte D e r Imperialismus dar, den ich Mönckeberg f ü r seine erste L o t s e n - N u m m e r schrieb; als N a c h l ä u f e r soll folgen D e r K a m p f der Völker u n d seine Formen (Geschichte des Friedens in Europa). Das eigentliche äußere Ereignis dieses Jahres w a r das Erscheinen meiner beiden Kulturgeschichtsbände — doch eine große Freude — am 23. O k t o b e r . A m 25. brachte ich sie Schmoller, am 26. W i l a m o w i t z u n d Diels. Auch alle Rezensionen im alten J a h r w a r e n erfreulich — alle 1

Neue Deutsche Rundschau XII (1901) S. 1—40.

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lobend, viele sehr. Aber außer Lamprecht kein Kompetenter — wird auch keiner nachfolgen. Nun aber endlich, endlich die Hauptsache: das Vollendete gehört der Vergangenheit an, wichtig ist allein die Zukunft. So ist denn das eigentliche Ergebnis dieses Jahres, daß ich den Plan einer Weltgeschidite gefaßt habe. Im Frühling 1896 plante ich wohl die Geschichte d e s Menschen — also nur Geschichte der Persönlichkeit — ; am 23. März 1900 aber, am selben Tage, an dem ich das Vorwort der Kulturgeschichte unterschrieb, zog ich die einzig mögliche Konsequenz meines bisherigen Zeitalterparallelismus und beschloß, alle Völker des Erdballs heranzuziehen. Meine systematische Neigung will Vollständigkeit. Im Frühling schwankte ich noch; aber die bisher gute Aufnahme meiner doch auch reichlich summarischen Geschichte des Altertums hat mich ermutigt, und im Herbst [am 29. Sept. (1. Tag des „Lotsen")] schrieb ich einen zweiten Plan — mit den schönen Titeln für die zwei ersten Bände einer solchen Weltgeschichte nach Entwicklungsstufen I : Die Völker ewiger Urzeit und der halbreifen Kulturen, I I : Geschichte der Alten und der ersten Blüte Europas. Zugleich reifte mir im Herbst der Gedanke einer qualitativen Erweiterung meines Programms. Für das Winterkolleg (Französischenglische Geschichte 1483—1789) arbeitete ich als erstes Kapitel eine Geschichte der Persönlichkeit aus: 1. Renaissance-Könige und 2. Die Männer der zweiten Reihe. Und ich bin nun fest entschlossen, wenigstens vom I I I . Band an auch dieses Thema aufzunehmen 1 . Gewiß, ich nehme mir dadurch den Stoff meiner für spätere, ruhigere und künstlerischer gestimmten Zeiten geplanten Geschichte des Menschen fort. Aber es ist unmöglich, eine als richtig erkannte Programm-Ergänzung jahrzehntelang zu unterdrücken. Auch bin ich zu dem Gedanken gekommen, daß dieses Buch einer ruhevolleren Zukunft seiner innersten Natur nach nicht so sehr wissenschaftlich und also begrifflich, sondern künstlerisch und also beschreibend ausfallen muß. Neujahrsmorgen 1901 Gestern war Stoeving 2 — außer Vater und Mutter — da. Ich erzähle ihm von meinen neuesten Funden. Ich habe in Adlers Denkmalen der Baukunst ein Werk entdeckt, das mir die beste Handhabe für mein bauhistorisches Steckenpferd darbietet: die Maßfeststellung für die Gesamtstruktur des Gebäudes und die Ästhetik des Innenraums (durch 1

2

In Die Geschichte der Menschheit I (1936), II (1939) und I I I — V (1955) ist das Thema überall durchgeführt Architekt, später Erbauer von Breysigs Haus in Rehbrücke bei Potsdam.

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Geheimrat Meyrenbauer). Ich bin sehr froh darüber; ich kann auch meine Gesamtdarstellung der Gotik mit Norddeutschland, Nordostfrankreich und Südengland beweisen. Alles soll im Straßburger Münster gipfeln und in Dante. Aber es reißt mich nach allen Seiten: am liebsten möchte ich die Weltgeschichte sogleich anfangen. Mir ist sehr zukunfts- und schaffensfroh, ich wünsche mir nur Kraft und Gesundheit, meine Pläne auszuführen. Als die Glocken schlugen, sagte ich: Jetzt fängt ein neues Jahrhundert an; das soll unser Jahrhundert werden. 2. ]anuar 1901 Entwicklungsgeschichte und Einzelereignis: das Wesentliche ist hier die Zusammenfassung großer Einzeltatsachen-Gruppen, die Herstellung von Zustandsbildern; dann die Aneinanderreihung von diesen, die Aufweisung der Verwandlung. Ein ganz anderer Prozeß als bei deskriptiver Aneinanderfügung immer neuer Einzelfakten! 29. Mai 1901 Systematische und Erfahrungs Wissenschaft, systematisdie und deskriptive, unterscheiden sich in den Geisteswissenschaften dadurch, daß die Deskription mit ihren einfachen und festen Methoden weit eher zu gemeinschaftlichem Betrieb führt und zu gemeinsam anerkannten Ergebnissen als die kühnere, subjektivere Begriffswissenschaft. 9. Juli 1902 Die Geschichte der Menschheit: Zum Vorwort. Vier Ziele verfolgt dieses Werk: 1. die Austilgung aller Beschreibung um der Beschreibung willen; begriffliche Ordnung, 2. die Gleichstellung geistiger und gesellschaftlich-staatlicher Geschichte, 3. die Vergleichung aller einzelnen Volkstumsentwicklungen, 4. die gesellschaftsseelische Deutung. Zu 3. Idee des Stufenbaus; kurze Abweisung der synchronistischen sowie der geographischen, sowie der allenfalls noch möglichen RassenEinteilung. Schluß: Erinnerung an Herder, seinen Versuch; kein einziger der Göttinger; Ranke rückwärts wirkend, beschreibend, politisch, zu enger Bereich. Heute ist die Bahn frei. Kulturgeschichte war zu eng. Derartige Arbeiten erfordern eine fortwährende Entsagung: alle farbigen, bunten Einzelzüge sind fortzulassen. Will man sie beibehalten, so käme ein willkürliches Durcheinander von Einzelheiten

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heraus, das gar keine inneren Beziehungen zu dem Begriff Weltgeschichte hat. Es gibt dafür Beispiele großen und kleinen Umfanges: sie addieren nach Belieben eine Anzahl Volksgeschichten, sind keine Weltgeschichte. 27. März 1903 Verhältnis zur Einzelforschung: Man tadelt heute heftiger als je so allgemeine Unternehmungen. Man erklärt, sie seien verfrüht und trügen ein allzu vorläufiges Gepräge an sich. Aber einmal wird kein Zeitalter zugeben dürfen, daß es auf einen Uberblick über seinen Gesamtbesitz in einer Wissenschaft verzichtet; sodann ist jeder solcher Überblick — behaupte ich — im selben Sinne Forschung wie jede andere, noch so eingeschränkte Einzelfeststellung. Vorläufig ist all unser Denken: eine Einzelforschung, die vor 50 Jahren erschien, besteht heut in der Regel ebensowenig zu Recht wie eine allgemeine Darstellung. Endlich dient die allgemeine der Einzelforschung; durch ihr Zusammendenken gelangt sie zu Fragstellungen, die dieser erst die Richtung für ihre Fortarbeiten weisen, sie vor Erstarrung bewahren, ihr neue Antriebe geben. 17. Juli 1903 Lebensplan Buch der Menschheit: 1. Weltgeschichte — Geschichte der Menschheit. Fertig 1916: 50 Jahre. Ergebnisband: Geschichtswissenschaft1. 2. Menschheitslehre: I. Gesellschaftswissenschaft (Staat einschließend). II. Geisteswissenschaften (Glaubens-, Kunst-, Wissenschaftswissenschaft): 50 bis 60 Jahre. Nach 60 noch einmal das ganze Wesen bedenken! 21. Dezember 1903 Der Nachruhm (Kepler, Vico) ein unschlüssig unsicherer Besitz — von seinem Eigentümer schwebend, schwankend geahnt. Aber dieser Vorschimmer einstigen Glanzes ist doch das Einzige, was sein Inhaber selbst fühlt, besitzt. In ihm brennt doch diese Flamme — die später noch durch Jahrhunderte ihren Schein werfen soll: ich meine ein ahnendes Bewußtsein dieses Über-Sich-Selbst-Hinauswirkens. Neujahrs-Nacht 1903 auf 04 Das Jahr, in dem ich — im Mai — Hand anlegte an meine Menschheitsgeschichte, zuerst noch immer tastend und suchend, jetzt aber voll von schaffender Freude, voll Zuversicht auf ein gutes Gelingen und 1

Von 1908 an als Gesdiichtslehre bezeichnet.

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voll stolzer Hoffnung auf noch größeren Plan. Ein Jahr aber auch, das mir eine neue Wirkensform gab: auf Schüler, Jünger, Freunde.

7. September 1904

Heute völliger Plan für Ergebnis-Band 1 II: Entwicklungs-Mechanik der Weltgeschichte. Das Ziel! Hinter das Geheimnis der Verursachung des Welt-Prozesses kommen! Ich hatte den Gedanken eines Oberbaues über den Ergebnis-Band I schon seit ein paar Monaten. Die Zusammenfassung dort, so weit gespannt ich auch die Aufgabe steckte, war mir noch immer zu beschreibend. Nun habe ich in e i n e m Wurfe ein ganzes System der Fragen aufgestellt, mit denen ich das Rätsel bestürmen will. Vermutlich wird es auch nicht e i n e große Antwort geben, sondern sehr viele einzelne Teil-Antworten.

8. September 1904

Immerfort umschweben meine Gedanken das Ziel: ein nächstes Band I der Weltgeschichte, von dem ich nun, seit ich Glauben und Wissen in Angriff genommen, hoffe, daß er auch eine eigene Wirkung tun werde, in das Weitere, aber auch bei Gelehrten; denn er ist unvergleichlich viel mühseliger und sorgfältiger fundamentiert worden als die beiden Bände Kulturgeschichte. Dies ist geschehen, ohne daß ich es mir irgend vorgenommen hätte — so stark arbeitet das Es in uns, das Unbewußte, sagt Hartleben, die Entwicklung, die Sache, sage ich. Das zweite Ziel: das erste Heft des I. Ergebnis-Bandes: Urzeit. Dahinter die Entwicklungs-Mechanik, wie ich sie nach einem biologischen Buch nenne, der II. Ergebnis-Band. Das dritte, verdämmernde Ziel: das ganze Werk!

17. Dezember 1904 Weihnachtsfeier in Pankow 2 . Große Fröhlichkeit. Wolters' Ansprache. Gibt mir einen Pokal, lichtes blaues Glas, das Blau in Buckeln . . . Da die Stimmung gefaßt, spreche ich: von dem Guten, was uns unsere Einung geschenkt, von dem Besseren, was wir ihr noch abringen sollen. Kunst sei nicht das Ziel, sondern vornehmlich die Kunst das Leben zu gestalten. Wolters spricht sehr schön, feierlich: er werde immer kommen, wenn ich ihn rufe. Werde, wenn ich ein inneres J a wolle, kein Nein sagen. Vallentin schließt sich an. Vor kurzem sagte mir Wolters: „Universalgeschichte zu schreiben, erscheint mir so wichtig, daß ich es selbst unternehmen müßte, wenn Sie es nicht täten." 1 2

Zu dem Plan der Ergebnisbände vgl. Eintragung v. 17. 7. 1903. Als Gast des engeren Kreises der Seminarmitglieder.

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Ende Dezember 1904 Unterredung mit Dilthey. Auf seinen auffordernden Brief zu ihm gegangen. Erst anderthalb Stunden in der Wohnung, dann eine Stunde im Tiergarten. Ich: ich hätte mich offen gestanden gewundert, daß er jetzt für mein Tun sei. Er (Zusammenziehung): Seine Stellung zu mir sei sauer-süß; er habe lange gekämpft gegen Gesetzemadierei etc. (Idi: Wie ein Hegelianer? — Er: Nein, wie Buckle eher!) — Andererseits gebe er Gesetzmäßigkeiten durchaus zu, soweit Organisationen, organisierte Entwicklungen in Betracht kämen. So stünde es in seiner Einleitung, er brauche in der 2. Auflage nichts, keinen Buchstaben zurückzunehmen. Nur dagegen verwahre er sich, einen Rhythmus der Weltgeschichte herauszuhören: den gäbe es nicht. — Ich: ich wäre froh ihn zu hören! Er: „Sie müssen unterscheiden zwischen Problem und Erreichbarem. Die Weltgeschichte ist ein Problem. Den Zusammenhang des ganzen Weltgetriebes möchte ich aucli erkennen!" Er wirft mir mein Verhältnis zu Lamprecht vor (hat sehr auf ihn gescholten). Ich setze ihm meine Nicht-Abhängigkeit von Lamprecht (wohl von Nitzsch, Burckhardt) und meine Abweichungen von Lamprecht auseinander. Dann habe ich eine Stunde lang den Heilbringer 1 vorgetragen; er hört sehr interessiert zu. 31. Dezember 1905 Ich weiß nicht, ob ich zu längerem Beridit komme, so sei dieser kurze gegeben. Der I. Band meiner Weltgeschichte kam noch immer nicht zustande. Die ersten 5 Monate wurden durch den Heilbringer 1 fortgenommen. Im Sommer schweiften meine Gedanken oft sehnsüchtig über die Grenzen meines Werks, ja der Wissenschaft hinaus. Jetzt komme ich mehr und mehr zu der Meinung, ich müsse midi einschränken in Arbeit und Leben, um diese bestimmte, an sich schrankenlos große Aufgabe zu lösen! Mein Kreis engt sich. Ersatz wenig in Fernen: Stefan George? Tiefe Berührung, aber keine Notwendigkeit. Viel geben mir nur die Getreuen: Wolters, Valientin. Der Monat mit ihnen in Alsen war schön. Von Fernen rückt mir Hintze etwas näher. Ich lebe mit meinem Werk Tag und Nacht, es entschädigt mich für alles. Er fordert Kraft. Mein Körper ist immer veränderlich: jetzt wieder müd. 19. Mai 1908 Unterredung mit Diels. Diels, wie immer bei persönlichem Zusam1

Die Entstehung des Gottesgedankens und der Heilbringer (1905).

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mentreffen sehr liebenswürdig, sagte kürzlich: „Wenn Sie mir einmal die Ehre schenken, mich zu besuchen . . . " Nun ging ich zu ihm; sagte ihm, ich käme nicht aus äußeren, nur aus inneren Gründen. Erinnerte ihn an alte Gespräche, eines, wo er mir sagte: vielleicht käme noch einmal ein Universalhistoriker; aber der müsse dann jeden Backstein wenigstens einmal in der Hand gehabt haben. Ich legte ihm mein Verhältnis zum Spezialismus dar — deutete einen Plan an, zu handbuchmäßigerer Zusammendrängung überzugehen, vor allem aber zu einer Morphologie der Staats-, Familien-, Glaubensformen zu gelangen. E r : eine Art Linné? Ich: ja. E r : eine solche Absicht halte ich nicht allein für wissenschaftlich, sondern für dringend. Er sagt mir, er hätte einmal einen Plan erwogen, nach Materien eine Ubersicht über die einzelnen Völkerschaften anzulegen. Ich sage ihm, wie idi dasselbe mir ausgedacht, nach Völkerschaften geordnet, wenn auch nur die bibliographischen Nachweise. Ich spreche davon, wie Schmoller mir beim Erscheinen der Geschichte der Menschheit gesagt hätte: ,Sie werden nur wieder ein neues Martyrium erleben.' E r : (offenbar Schmoller nicht sehr geneigt): „Schmoller ist ein alter Praktiker, der nur allzu sehr auf die Zeitgenossen achtet." Diels spricht vom Golden Bough Frazer's — er verehrt ihn offenbar sehr, erzählt von seinem bescheidenen Leben als Fellow (Frazers Frau macht Platten für Phonetik). Er hat ihn und seine Frau einmal im Kolleg begrüßt — die jungen Leute waren begeistert.

BRIEFE • G E S P R Ä C H E

Briefwechsel

mit Hans

Driesch

Harzburg, den 29. Mai 1912 Verehrter Herr Kollege, . . . Lassen Sie mich Ihnen zuerst zu Ihrer Ordnungslehre sagen, daß diese Weise des Philosophierens — die Ihre — die erste ist, die ohne alles Wollen, Sich-Zwingen, Mühen in mir widerklingt (von Nietzsche sehe ich hier ganz ab — billiger Weise, da er ja nicht Techniker ist). Mir kommt es vor, als sei Ihre Art reichlich scharf und gespitzt, aber sie macht mir nirgends Beschwer; ich finde sie von seltsam knappem, festem Schrittmaß der Folgerungen — ohne all das unnütze Nebenklappern des Denkapparats, das mich so oft bei Philosophen schon störte und das mir vorkommt wie das Scherenklappern beim Friseur, auch wenn er keine Haare mehr schneidet: nur ihm zur Lust. Ich deute mir das mit dem Selbstgefühl des Empirikers so, daß Ihrer geistigen Haltung unbeirrbar Ihr alter homo biologicus eingeprägt ist. Es ist eine matter-of-fact Weise des Philosophierens. Simmel las ich immer gern; aber er ist Maler. Sie sind Baumeister. Wo da mein tieferes Erfaßtwerden liegt, werden Sie nicht fragen, wenn Sie alles meines eigenen Mühens gedenken, für das ich mir keinen besseren Namen weiß als bauende Geschichtsforschung. Doch nun Ihr Werk selbst. . . . Ein ganz festes und zuständiges Verhältnis habe ich nur zu den Abschnitten vom Werden, oder besser gesagt denen, die an das geschichtliche Werden rühren. Sie subsummieren mich unter die häufenden Entwicklungslehrer: ich kann das nur zu etwa 3A zugeben. Sie finden in meinem Stufenbau auf einer der letzten Seiten die Formel Entwicklung der Menschheitsseele. Wichtiger ist, daß in meinen Verursachtheiten (vergl. die Form der Gesetze!) der Zwang, die Determiniertheit sehr stark betont ist — was für mich mehr die Bedeutung eines Schießens, eines Wachstums, als eines mühselig-darwinischen Geschoben-Werdens hat. Entwicklung habe ich immer gefaßt als Wachstum (des Sdiößlings zur Pflanze, der Knospe zur Blüte). Mein eigentliches Bild der Entwicklung ist die Spirale: d. h. die zwar zyklische und also wiederkehrende, aber in anderer Ebene wiederkehrende Bahn. (Vielleicht vergleichen Sie gegen den Schluß der Geschichtslehre die Dreistufen-Wiederholungen.) Das ist so:

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Urzeit: Demokratie Gemein Wirtschaft Allseelenglaube Naturalistische Kunst Gemeinschaftstrieb

Altertumssthfe: Königtum Privateigentum Königsgötter Stilkunst Persönlichkeitsdrang

Dies beides die erste Windung der Spirale Mittelalter: Adelsstaat Genossenschaften Mystik Zum Teil naturalistische Kunst Gemeinschaftstrieb

Neuere Zeit: Königsstaat Steigender Kapitalismus Abwendung vom Göttlichen (Sophisten, Aufklärung) Stilkunst Persönlichkeitsdrang

Dies beides die zweite Windung der Spirale Das dritte Gewinde ist die Neueste Zeit, die als Anfangsbewegung Demokratie (Athen, Rom, Frankreich), Hinbewegung auf Sozialismus und Kommunismus, deskriptive Wissenschaft, Naturalismus — nebenher auch eine kümmerliche Neu-Mystik, auch sozialistisches Christentum (Tolstoi) aufweist —, diese Bewegung auch bisher als Unterströmung beibehält, mit dem Imperialismus (Alexanders, Casars, Napoleons, in allen drei Reihen gleich stehend!) aber eine sofort einsetzende Gegenströmung aufweist, die des ferneren in Stilkunst, verschärftem Kapitalismus, letztlich in einem neuen Lebensaristokratismus, in bauender Forschung und theoretisch möglicherweise in neuem Deismus oder — was sozialpsychologisch trotz sachlicher Entgegengesetztheit ähnlich zu bewerten wäre — sehr gefestigtem und stolzem Atheismus teils sich auszuwirken im Begriff steht, teils vermutlich sich noch auswirken wird. Diese Spiraltheorie vereinigt die zyklische Anschauungsform mit der Ebenen-Veränderung: sie ermöglicht die Annahme von annähernden Wiederholungen; sie ist als Bahnbeschreibung richtiger als das Stufengleichnis (von dem ich immer gesagt habe: der Begriff Stufe lügt, ist zu ruhend, schließt nicht die Vorstellung einer stetigen Bewegung ein); sie umspannt die mir sehr notwendige Bemessung der Entwicklungsgeschwindigkeit (für die ich schon Wegmaße konstituiert habe — noch unveröffentlicht!); sie ermöglicht in guter Übersicht das Beobachten der Bewegungsunterschiede (Richtungs- und Geschwindigkeitsunterschiede) der Gewinde und ermöglicht konstitutive Vergleiche der Gewinde, eventuell Feststellung von progressiven Veränderungen (die in

Briefwechsel mit Hans Driesch

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allen drei Gewinden in wachsender Reihe zu finden wären). Sie verstattet endlich, das H i n und Her des Wechsels von mehr vom Gemeinschaftsdrang und von mehr vom Persönlichkeitstrieb beherrschten Zeitströmungen bildhaft zu veranschaulichen. Ganz eigentümlich ist, daß ich dicht vor Heidelberg in Bamberg (d. h. ehe ich Sie und Ihren Entelechiegedanken kennenlernte) einen Schritt weiter auf meiner Bahn machte, der Ihnen sympathisch erscheinen könnte. Ich hoffte bis dahin immer noch, Abfolgegesetze f ü r die einzelnen Bruchstücke des Geschehens aufzufinden; also etwa in der Urzeit die Abfolge Geschlecht aus H o r d e oder Vatergeschlecht aus Muttergeschlecht zu ,erklären', ihr ein Gesetz abzulauschen (Gesetz in Ihrem Sinn, nicht Regel, bei mir Gesetz zweiter Ordnung). Mein Bamberger Gedanke aber w a r : das ist nicht möglich; der Bahnverlauf läßt sich nur aus weiten Bahnstrecken, unter Umständen nur aus der gesamten Spirale erklären. Ich bitte nicht zu vergessen, daß es sich hier nur um ein stereometrisch-geometrisches B i l d handelt. Mich beschäftigen auf Jahre hinaus tausend detaillierte Einzel-Stammbäume von Gesellschafts- (namentlich Familien- und Staats-) und Geistes- (namentlich Glaubens-) Formen! Aber wohl erhellt auch aus ihm, daß ich dem geschichtlichen Gesamtverlauf eine starke Wucht des Vorwärtstreibens auf seiner Bahn beimesse: eine Wucht, die an sich der Finalitäts-Anschauung fast näher steht als einer Kausalitäts-Auffassung im Zufallssinne des Darwinismus. Der Entelechie-Gedanke, auf den Ihre Metaphysik ja wohl ersichtlich auch f ü r die Geschichte hinsteuert, hat f ü r mich viel Anmutendes. Für mein Werk (Herstellung einer entwickelnden [ = begrifflich geordneten und kausal verketteten] Beschreibung und einer theoretischen Mechanik der Geschichte) hat er zunächst keine einschneidende Bedeutung. Dennoch habe ich f ü r Ihren Gedanken eine innere Stimme, weil er aristokratisch, stark, blutvoll, lebenerfüllt ist, gerade wie der Darwinismus im Grunde krumm, schief, klein wie Sozialismus und Demokratie ist. Er hat die eminenteste Bedeutung f ü r die praktische Gesellschafts- und Staatslehre — wie Sie selbst betonen. Aber ein Aber: der Zustand der Ruhe, der Unveränderbarkeit. Das wäre mir Starre, wie Totsein! Näherungen an Ihren Entelechiegedanken werden vielleicht auch einzelne Ausführungen meines Büchleins Die Kraft1 bringen, das ich seit J a n u a r dieses Jahres neben meinen andern Forschungen schreibe. 1 Vom geschichtlichen Werden I: Persönlichkeit und Entwicklung (1925) Erstes Buch: Die Kraft, S. 1—44.

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Breysig, T a g e

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Briefe • Gespräche

Doch nur insofern es die vorwärts schießende Intensität des Geschichtsverlaufs stärker erscheinen läßt und die Entwicklungsreihen einheitlicher zusammenfaßt. Noch ein Detail: mir tut eigens wohl Ihre Scheidung Physik, Chemie hier — Biologie, Geologie, Astronomie, Geschichte dort. Ich bin dafür vor Jahren eingetreten. Ich möchte Ihnen noch hundert Dinge schreiben — aus, zu Ihrem Buch. Ich habe überall, wo die Metaphysik schon vorsticht, mit gespitzten Ohren gelauscht. Was ihr Brief so freundlich mit den Worten ausdrückt: der Anfang einer näheren Zusammengehörigkeit, das möchte dieser Brief wahr machen. Ich werde für Ihre Ordnungslehre, so weit ich es vermag, als ein sehr parteiischer Anwalt eintreten . . . Zehlendorf-Berlin, den 4. August 1912 Verehrter Herr Kollege, . . . Was die Frage Kumulationist oder nicht angeht, so war ich sicher im Prinzip einer, denn ich war reiner Kausalist (man konnte ja in diesem verworrenen Zeitalter kaum etwas anderes sein, wenn man nur dem Ding und nicht dem Begriff selbst lebt, wie Sie — der Sie eigentlich beides getan haben). Mich hat erst das Studium der Uexküllschen Wachstumseinheit und dann Ihre Einheitsfolgeverknüpfung (die mir der Centraibegriff Ihrer Lehre vom Werden und fast Ihrer Erkenntnislehre, vermutlich doch auch Ihrer Daseinslehre — Metaphysik — zu sein scheint) auf die Möglichkeit einer Final-Einheit gebracht. Eigentlich mehr im Unbewußten war ich in Ihrem Sinn Evolutionist. So fand ich dieser Wochen in einem Aufsatz von 1 8 9 6 — es ist der erste, den ich über Theorie geschrieben habe 1 — folgende Stelle: „wie denn überhaupt den Biographen von jeher die Entwicklungstheorie, oft vielleicht unbewußt, am ehesten zugänglich gewesen ist. . . . denn in der Natur ihrer Aufgabe liegt implicite ein gut Teil der Elemente, die das Entwicklungsprinzip ausmachen: die Voraussetzung einer innerlich zusammenhängenden Totalität und der Zwang möglichst weit zurückgreifender Motivation." Aber das tut im Grunde wenig zur Sache; denn Anschauungen, die so tief überdeckt liegen, sind wohl wirksam, aber sie werden sich nicht zu dem Schlußstein einer Gesamttheorie ausbilden. Mein Weg war zudem überlastet genug mit allgemeinen Aufgaben — bei deren Lösung ich bei jedem Schritt auf das ungläubige Lächeln, grobe Schelten oder mürrische Schweigen meiner Fachgenossen stieß. Bei der weitesten und 1 Über Entwicklungsgeschichte II Die Methode. Deutsche Ztschr. f. Geschichtswiss. Monatsblatt I S. 208.

Briefwechsel mit H a n s Driesch

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doch straffsten Zusammenfassung (Stufenbau) kam ich auf eine Reihe von Gesetzen erster, eine kürzere (noch etwas bruchstückhaftere) zweiter Ordnung (die ich heute wesentlich vermehren und verbessern könnte, aber nicht will), in deren Formulierung noch mehr als Inhalt ich eigentlich eine in Ihrem Sinne evolutionistische Tendenz wittere — wie ich Ihnen schon neulich schrieb. Die Gesetze der 1. Ordnung beschreiben eigentlich alle ein Wachstum: ihr Müssen, auch ihr Befreitsein von allen Nebenvoraussetzungen, ihre Allgemeingültigkeit, das sind alles Eigenschaften, die sich nicht mit der landesüblichen Kausalitätsauffassung vertragen, sondern mehr den Gedanken der Entwicklung (in meinem indifferenten Sinn) hineintragen. In Wahrheit gehört ja die Frage — evolutive oder kumulative Entwicklung — nicht in unsern, der Geschichtsforscher Bezirk. Es ist eine Form des Sehens der Gesamtreihe der Geschichte — die idi von je als Einheit sah (daher immer mein Drängen auf längste Entwicklungsreihen von früh an), die ich aber nur als Ursachen- und WirkungenReihe sah, während Sie sie nun als Final-Reihe sehen wollen. Ob dies richtig ist, das zu entscheiden kann eigentlich unser, der Geschichtsforscher Sache nicht sein: mir scheint, es ist eine Angelegenheit der Erkenntnistheorie und Metaphysik. Und doch vermute ich, daß diese wieder die Sache nicht durchführen, nicht recht erfahrungsmäßig gründen können. So halte ich für möglich, daß eine Reihe von Kapiteln, die ich in den letzten Wochen schrieb, und die — wieder einmal — alles zusammenfassen, um einer Reihe von Problemen der Geschichtsmechanik beizukommen, Ihnen brauchbaren Stoff abgeben kann . . . Lassen Sie mich Ihnen doch auch noch einmal stark zum Ausdrude bringen, wie viel mir auch Ihr Philosophieren ist. Im Grunde war es doch seltsam genug, daß die Philosophie sich um das zentrale Problem der Zeit so gut wie gar nicht kümmerte: um die Entwicklung. Dilthey erschien mir eine Zeit lang als Ausnahme; aber ich bin nie von ihm so berührt worden, wie ich jetzt von Ihnen berührt werde: als würden da m e i n e Sachen verhandelt. Simmel fand ich immer interessant, brillant; aber Geschichtsphilosophie — nein! Mir will scheinen, es ist Ihre Sendung als Philosoph, den beiden stärksten Einzelwissenschaften von heut, Biologie und Geschichte, genugzutun. Wie denkwürdig, daß doch eigentlich nur Sie als einstiger Empiriker das konnten, nicht aber ein Fachphilosoph . . . In guter Gesinnung der Ihrige Kurt Breysig. Heidelberg, den 8. September 1912 Sehr geehrter Herr Kollege! . . . Alles, was Sie schreiben, geht mich nahe an . . . Sie haben recht: 8*

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der Begriff der Einheitsverknüpfung ist in der Tat das Centrum meiner ganzen Philosophie. . . . Vor der Einheitsverknüpfung aber verlieren alle „Gesetze" ihre Selbständigkeit und werden zu bloßen Verhaltensweisen jenes seltsamen Einen, welches das Gesetz ist. Gewiß soll man „die Gesetze" suchen, aber nur um das Gesetz zu kennen. „Die Geschichte als Gesetz", so habe ich ja schon in der Ordnungslehre gesagt. Deskriptivismus, als letztes Ziel proklamiert, sei er auch auf Werte bezogen, ist nach meiner Ansicht Verzicht auf „Wissen". . . . Meine Unterscheidung von Kumulation und Evolution f a n d zu meiner Freude bei verschiedenen Denkern Beifall. Abgesehen von Ihnen z. B. auch bei Bergson, der aber nun seltsamer Weise gerade im Begriff der Kumulation den Schlüssel zur Geschichte sieht trotz seiner evolutionistischen Biologie. . . . Er sieht nur eine Summe von Zufall in der Geschichte; seltsam! Die Hauptwendepunkte der Geschichte hätten immer an irgend einer zufälligen Gleichgültigkeit gehangen. . . . Mit herzlichen Grüßen Ihr ergebener Hans Driesch. Zehlendorf-Berlin, den 25. Oktober 1912 Verehrter H e r r Kollege, . . . Nach Ihrer Farbenwahl komme ich mir in meinen früheren Aspekten doch evolutiver vor. Alle die Gesetzesabfolgen des Stufenbau — die immer wieder von der Klausel durchschossen sind: bei genügender Lebenskraft — bedeuten doch nichts anderes als die Gesamtheit eines Wachstums, dessen Verlauf durch seine einzelnen Strecken verfolgt wird. Niemals ist gesagt: dadurch daß sich nun dieser Zustand über die alten häufte (um in Ihrem Bilde zu bleiben), mußte dies oder das Spätere eintreten; sondern es ist eine Abfolge von Zuständen als notwendig konstatiert. Aber wenn nun dieser evolutive Charakter weiter herausgetrieben wird, so bleibt ein Zusammenwirken dennoch: das ist die geographisch umschriebene Umwelt. So daß Rassen und Volkstümer zum größeren Teil durch die Verschiedenheit dieser von außen wirkenden Verumständungen entstanden sind. Ich würde mir dies Zusammenwirken nun so denken: meine Spirallinie ist der eingeborene Wachstumslauf — er ist an sich das stets gültige Gesetz, dessen Wirkung zunächst selbstverständlich durch traumatische Schädigung oder gar Zertrümmerung eingeschränkt oder aufgehoben werden kann, dessen Wirkung aber in tausendstufiger Leiter auch modifiziert, bedingt wird durch das Zusammentreffen mit dem ganz unterschiedenen Voraussetzungsboden des geographischen Milieus. So entsteht (dazu noch durch die Durchkreuzungen und Beeinflussungen staatlicher und geistiger Unterwerfungen) die scheinbare

Briefwechsel mit Hans Driesch

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Regellosigkeit des Geschichtsverlaufs. Der Reichtum des Völkergeschehens ist bewirkt durch diese Differenzierung durch Boden und Himmel; sie greift tief in das Seelische: arischer Glauben ist in Indien so ganz anders als in Meister Eckeharts Straßburg! Dabei gilt aber immer ein Vorbehalt: daß ein Teil dieser Differenzen auch rein blutmäßig — durch die Verästelung des Rassen- und Völkerstammbaums — bewirkt ist. Zehlendorf, den 24. Februar 1913 Verehrter Herr Kollege, . . . Inzwischen war ich im Herbst und zu Winters Anfang in anderen Geistesbezirken zu Gast. Von einem dieser Flüge möchte ich Ihnen ein Wort sagen. Nach manchem Jahr immer neu einsetzender, immer neu sich richtender Arbeit zur allgemeinen und vergleichenden Geschichte bin ich einmal wieder Einzelforscher geworden, und zwar in Hinsicht auf einen Gegenstand der Kunst, will sagen der Baukunst, will sagen der Kirchenbau-Geschichte 1 . Eine Frage ist es, die sich vor dreizehn Jahren schon im Anno Santo zu Rom in San Paolo fuori le mura auf mich niederließ und die die Gestaltung kirchlicher Innenräume angeht. Ich wollte eigentlich nicht (denn dergleichen macht mir fast Sorgen als ein Hinter-die-Schule-Laufen von meinem eigentlichen Amt und Werk universeller Betrachtung fort); aber e s wollte in mir, und so mußte ich. Fast hoffe ich, Sie mir auch auf diesem Seitenweg zum Zuhörer zu gewinnen, so merkwürdig ist methodisch die hier gebotene Möglichkeit vermittelt, aus einer Reihe ganz einzelner, ein einziges Detail angehender Angaben (die noch dazu zum Teil ihre Zusammendrängung in Zahl und Formel zulassen) sehr weitgehende Schlüsse auf den Zug der allgemeinen Entwicklung der Bauweisen zu machen. Und ist Spezialforschung s o möglich, dann fällt sie mir weit leichter. Freilich — und lassen Sie mich einmal diesen Stoßseufzer tun — alle 6, 7 Jahre einmal kommt eine schwere Sehnsucht nach dem verlassenen Land der Einzelforschung über mich. Mein Weg als ein erster Sichwagender in der vergleichenden Universalhistorie ist zuweilen hart und einsam genug. Es gewährt große Freuden genug, auf sich gestellt zu sein und sich allein auch das Gesetz des Werkes zu geben; aber auf manche kleinere und menschlichere Freude verzichtet man doch. Wäre ich die Bahn weiter gegangen, die ich in dem ersten Jahrzehnt meines forscherlichen Lebens zu laufen begonnen hatte, so wäre mir alle Zukunft glatt und geebnet gewesen. Es sind auch nicht die äußeren Mängel 1 Die Grundmaße kirchlicher Innenräume. Ztschr. f. Aesthetik u. Kunstwissensch. X (1915) 48; Vom geschichtlichen Werden II (1926) 4 7 8 — 4 9 9 .

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Briefe • Gespräche

eines solchen Solitärdaseins allein (das Verzichtenmüssen auf den Zuspruch von Nebenmännern und derlei mehr); auch die Möglichkeit geistige Macht auszuüben ist dort im engen Bezirk intensiver gegeben. Indem ich diese Zeilen niederschreibe, geht mir durch den Sinn, wie viel Ähnlichkeit Ihre Lebensbahn in vielem Betracht mit der meinigen hat. Aber ich glaube, da Sie Philosoph geworden sind und werden konnten, werden mußten, wird sich für Sie alles leichter und freundlicher gestalten, als wenn Sie — wie ich — Empiriker einer sehr eigenwilligen Richtung geblieben wären. Wohl Ihnen! Zehlendorf, Juni 1913 Verehrter Herr Kollege, . . . Über die Bestimmbarkeit geschichtlicher Entwicklungsbahnen habe ich mancherlei gedacht und geschrieben — meine Meinungen hierüber sind wesentlich kasuistischer und gestufter als die Ihren, wie ganz notwendig aus Ihrer biologischen, meiner geschichtlichen Operationsbasis folgt. Gerade für die gröbsten Kehren und Wenden des Bahnengewindes der Geschichte möchte ich — eben aus dem Ganzen des Baus — eine annähernde Vorbestimmtheit und also — mit vielen Körnern Salz verstanden — auch eine natürlich noch minder gewisse Vorausbestimmbarkeit fordern. So würde ich — exempli gratia —meinen Kopf dafür einsetzen, daß die individualistische — sei es imperialistische, sei es aristokratische — Gegenbewegung von jetzt an ansteigen wird im Kampf wider Demos und Sozialismus, (ansteigen, nicht mehr, nicht weniger — doch halte ich ihren virtuellen Sieg für sehr wahrscheinlich, ihren äußeren für nicht ausgeschlossen!) Ich schiebe diese plumpe Verschwörung nur als argumentum ad hominem ein; meine Beweisführung ist und muß viel kasuistischer und differenzierter sein. Die letzte Schwierigkeit bietet hier der Zufall dar — viel größer als in der Geschichte des ßiog. (Napoleon 1808 durch einen Ziegelstein erschlagen — eines der mehreren Attentate die geplant wurden — nicht so schwierig: sie kamen ja eben nicht zustande!) Das ist eine Irritation der Bahn. Hiervor wird man, so sauer es der Kreatur fällt, haltmachen müssen. Doch, vermeine ich, bleibt die weiteste Bahnlinie erhalten. Sie werden sehen müssen. In einem der Schlußabschnitte meiner Abhandlung will ich Stellung zu Ihrer Lehre nehmen; damit wird sich dann meine geplante Anzeige auf das beste einen. O b ich aber — um Ihnen das hauptsächlichste zu sagen — aus Ihrem Entelechiegedanken irgend eine bestimmte Folgerung für die Geschichte ziehen darf, ob ich ihm gar etwas zufügen kann, das ist mir heute noch völlig undurchdringlich — ich bin noch nicht so weit mit meinen Gedanken.

Briefwechsel mit Hans Driesch

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. . . Was Sie über den Parallelismus Ihres und meines Weges sagen, war mir wichtig. Was mein Geschick angeht, so wurde für midi die eigentümliche Doppelgesichtigkeit aller Geschichte bestimmend. Man würde mir von seiten des Spezialismus noch zur N o t verziehen haben (wenn auch ebenso wenig verstanden haben), wenn ich über Universalgeschichte Untersuchungen, Abhandlungen geschrieben hätte; da ich aber große Darstellungen unternahm, wurde der Rückschlag viel stärker. Dies aber konnte gar nidit anders sein: in Rankes, Treitschkes Schatten war nichts anderes denkbar als Darstellen. Zu so reiner Begrifflichkeit wie Sie bin ich nie aufgestiegen. J a , ich werde meine Tage vermutlich noch einmal mit einer Periode ganz quellensicherer Einzelforschung beschließen. Meine Weltgeschichtspläne trachte ich in möglichst summarischer Form und so rasch, als es angeht, zu verwirklichen. Ich hoffe, der Sache des Gedankens auch dann noch Dienste zu tun, wenn ich noch einmal den Pflug ganz tief in den Acker drücke — nadi 2 Jahrzehnten sehr extensiver Wirtschaft. . . . Zehlendorf, 26. September 1913 Verehrter Herr Kollege, . . . Pflichtmäßig und mit einigem Seufzen bin ich unter freundlicher Begleitung meiner Frau vier Wochen in Tabarz jeden Tag eine Anzahl Stunden gestiegen — mit dem Schlußerfolg eines sehr lebendigen Zweifels, ob meinem Bruder Leib diese Medizin wirklich so wohltätig ist, wie die Medizinmänner zu behaupten pflegen. Ich habe den Eindruck, als ob diese Herren auch hierin, wie so oft, die Rechnung ohne den Wirt Geist machen. Die Enthaltung von aller Aktivität geistigen Tuns, das doch vermutlich eines der feinsten Erregungs- und Lebens-Mittel des Leibes ist, bringt vermutlich mehr Defizit hervor als das Steigen Plus. Jedenfalls machte mich das Umherreisen von Stadt zu Stadt, das ich nach alter Gewohnheit die letzten IV2 Wochen wieder aufnahm und das alles andere als Ruhe und Bequemlichkeit bedeutet, um vieles froher. Wir machten eine Fahrt in das Land des Rokoko, zuerst noch ein wenig des hessisch-fränkischen, später des schwäbisch-bayrischen — dies für mich Neuland. Und Sie glauben nicht, wie viel Entdeckungsreisen in Deutschland möglich sind. Hersfeld — eine gute romanische Abtei-Ruine, das wüßt ich. Aber Fulda als lustbare Residenz von 1760 war mir neu, obwohl ich schon einmal da war (um stier und starr nur auf die Michaelskirche zu sehen). Dom und Schloß von Joh. Dientzenhofer — ein verträumter Park und die Orangerie, einer der besten Nicht-Zweck-Bauten des 18. J h . Und dann nach kurzer Unterbrechung durch alte Reichsstädtchen — Gmunden, Wertheim, Tauberbischofsheim — wieder fränkisches Rokoko, zwei Werke meines altgeliebten

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Briefe • Gespräche

Balthasar Neumann: Mergentheim, Neresheim, und ein altes Schloß, seit 1768 nie bewohnt und doch erhalten: Weikersheim, wo RokokoPlafonds von letzter verhauchender Schönheit. Und dann eine ganze Perlenschnur von Abteien und Wallfahrtskirchen der schwäbischen und bairischen Rokokomeister: Schönenberg (ob Ellwangen), Günzburg, Obermarchtal, Zwiefalten, Wiblingen, Ottobeuren, Weltenburg. Teils noch die einfache Handschrift der frühen Meister — Michael Thumb, Christoph Thumb, Franz Beer (Vorarlberger Schule) —, teils die reife Stärke des Dominicus Zimmermann, eines Schwaben, und des Baiern Joh. Michael Fischer — eines Gewaltigen, der in Zwiefalten dem Balthasar Neumann fast ebenbürtig ist —, teils der Malertraum des Baiern Asam: in Weltenburg beugt sich wahrlich die mondäne Eleganz und doch germanische Leidenschaft des Rokoko zum großen Mysterium der Gotik zurück, und der Heilige Georg reitet lebensgroß als Monument aus einem unbestimmt verschwimmenden Bild im hinteren Grunde in goldener Rüstung auf silbernem Pferd über den Hochaltar, und der Farbentraum des Kreisrunds der Kirche geht ein in den Traum der Vision! Die Linie sinkt bei dem Bregenzer Specht zu nüchternem Klassizismus und — schlimmer — haltloser Unform (in Wiblingen). Eine so geschlossene Reihe von Eindrücken ist möglich, sobald man nur ein wenig abweicht von dem Pfad des gebildeten Germany-trotters. (In Ulm verhärtete ich mir freilich Aug und Sinn gegen das Münster!) Für midi ein neuer Grundstein meines Vorurteils für das Rokoko als der Zeit und dem Range nach zweiten Blüte germanischen Kunstgeistes — der Gotik nicht ebenbürtig, ihrer aber auch nicht ganz unwürdig. Und wieder ein Erzeugnis der alten Kirche — fast ganz katholische Kunst — und in einem Rausch der Begeisterung auch der Menschen, die da bauen wollten, geschaffen. Denken Sie nur, Dutzende großer alter Kirchen wurden damals niedergerissen, um die neuen bauen zu können — und Ottobeuren ist auch an Größe ein Vetter von St. Paul's in London. So viel vermochte dann e i n e Abtei!

Zehlendorf,

den 6.¡7. November 1913

. . . Von den zwei Seelen, die in mir wohnen, ist die der Freude an den gewachsenen Dingen sicher die stärkere. Ich habe die Gegensätzlichkeit dieser inneren Strebungen nie so stark empfunden wie in diesen letzten Wochen. Ich schrieb Ihnen schon, wie eine unbezähmbare Sehnsucht in mir aufgewacht ist, einmal wieder zurückzukehren zu einer Form der Arbeit, die ein in die Tiefe gehendes, herrscherliches, das ganze Rund einer Zeit- und Lebenseinheit umspannendes Kennenlernen ermöglicht. Zur Anbahnung dieses neuen Stadiums — das die Vollendung einer sehr gekürzten Menschheitsgeschichte nicht in Frage stellen

Briefwechsel mit Hans Driesch

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soll — habe ich eine neue Form von Vorlesungen mit diesem Winter begonnen: deutsche Geschichte statt wie bisher fast durchgängig europäisch-vergleichende. Einleitungsweise konnte ich dabei das Zeitalter behandeln, das mir von den Anfängen meiner wissenschaftlichen Laufbahn her bei weitem am meisten am Herzen liegt: das Jahrhundert nach dem Westfälischen Frieden; es ist das erste einer nicht mehr überwiegend christlich-religiös gefärbten, das erste einer profanen Kultur in unserer Geschichte. Und nun erfahre ich selbst in den ersten Stunden meiner neuen Vorlesung die starke Spannung — Mehrspannung — einer so viel intensiveren Betrachtung. Ich habe mein oberstes Gesetz — die Zusammenfassung aller oder doch der meisten Bezirke des Lebens zu einer Einheit — natürlich beibehalten; ich habe, gemäß meiner Anschauung von der Kraft, die Persönlichkeiten in den Vordergrund gerückt statt der kollektiven Beobachtungen; und nun schießen die Fäden mit einer Wucht zusammen, wie ich sie selbst kaum erwartet, erhofft hatte. Immerhin will ich Ihnen doch auch gestehen, daß, nun ich aus dieser bunteren, farbenvolleren Welt zu meinen Versuchen zur Geschichtslehre (so nenne ich meine Mechanik der Geschichte) zurückkehre, ich doch auch davon wieder tiefe Freude habe. Rehbrücke bei Potsdam, 13. Juli 1914 Lieber und verehrter Herr Kollege, wie kann ich Ihnen nur begreiflich machen, daß es nicht nur nicht Saumseligkeit war, sondern daß ich sogar immer Ihrer gedachte, und daß ich doch nun erst heute dazu gelange, Ihnen wieder zu schreiben. Es mag midi auch bei Ihnen entschuldigen, daß ich in dem letzten Halbjahr in einem für midi fast unerträglichen Maße durch die unausgesetzte künstlerische und geschäftliche Sorge für den Hausbau in Anspruch genommen war — als dessen Endergebnis sich die seit Mitte März erreichte obige Adresse darstellt. Denn Sie mögen sich denken, wohin ein Gelehrtenwesen gerät, das sonst schon nicht mit den rinnenden Stunden, Tagen, Monden auch nur im mindesten auskommt, wenn ihm die volle Hälfte seiner Zeit genommen wird. Dazu kommt jene Umwälzung meiner Vorlesungen, von der ich Ihnen sdion schrieb, die mir auch ein nie gewohntes Maß von Vorbereitung kostet, so daß ich mit einer gewissen zähen Verzweiflung den letzten Rest dieser von zwei Seiten angefressenen Zeit-und Arbeitssumme festzuhalten trachte. . . . Was ich Ihnen als Last und Hindernis nannte, der Bau, war doch auch Freude und wohltuende Erregung. Ich habe dabei manches Neue erlebt, manches Erlebte neu beobachtet. Eines ist mir das Augenfälligste: die Farben aller Dinge, zu denen wir in den Beziehungswinkel des bemühten und beeiferten Besitzers treten, erfahren eine äußerste

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Briefe • Gespräche

Aufhöhung, ihre Linien eine Verschärfung, die sie uns wie neu erobert, als früher nie recht erkannt erscheinen lassen. In Wahrheit wird man als Mensch so bereichert: noch ein Haufen Kies sieht sich anders an, wenn man weiß, wie viele Arten und Farben Kies es gibt. An einigen Eibenbäumen, die wir uns in dem geometrischen Sinn, den Garten und Haus streng einhalten, seitlich vor unseren Bau gepflanzt haben, habe ich unbeschreibliche Freude um ihres nächtigen Grüns, ihrer Pyramidenform willen, und nicht zuletzt, weil diese ganz südlich erscheinenden Nadelbäume uralter Besitz unseres Bodens, unseres Volkes, der Zauberbaum der Urzeit sind. Die Mühe und die seelische Spannung aber, die ich an das Haus und jede seiner Linien, jedes seiner Verhältnisse gesetzt habe, bringen nun hundertfältige Frucht: ihre das eigene Selbst bestätigende und vermehrende Kraft drängt sidi immer von neuem bewußten, aber auch unbewußten Stimmungen auf . . . Anderes hätte ich noch vieles zu sagen — es hängt aber auf das tiefste mit noch nicht ganz Ausgesprochenem in meiner Geschiditslehre zusammen. Ich habe immer das Empfinden, alle meine Beobachtungen des geschichtlichen Werdens fangen ungefähr da an, wo Ihre erkenntnisund daseinswissenschaftlichen Forschungen aufhören. Ein gemeinsamer Grenzstreifen ist immerhin vorhanden. Noch einmal möchte ich klagweise verlautbaren, daß ich bei meinen Forschungen mehrere logische Bedürfnisse von der Philosophie unerfüllt fand. Z. B. was ist eine mehrgliedrige Einheit? Man muß doch einen Begriff finden, der Sternhaufen — Bataillon — Staatengesellschaft — philosophisches System — Leib — Pflanze — Art unter sich zwingt. Ich meine, geteilte Ganzheit — also im Querschnitt des begrifflichen Nebeneinanders einen ähnlich biegsamen und brauchbaren Begriff wie Ihre Folgeverknüpftheit im zeitlichen Nacheinander (für den ich Ihnen besonders verpflichtet bin). Ich tue doch wohl Ihrer Ordnungslehre nicht unrecht, wenn ich sage, ich hätte auch von ihr da keine Antwort erhalten? . . .

Rehbrücke bei Potsdam, den 25. November

1915

Verehrter Herr Kollege, nun endlich, endlich komme ich dazu, Ihnen wieder einmal umständlich Nachricht zu geben. Kennen Sie nicht auch diese dämonische Macht des Arbeitsteufels, der vorwärts, immer vorwärts treibt? Meine Bitte angehend, die mehrgliedrige Einheit betreffend, so scheint mir Ihr Vorschlag „Begriff" zu sagen insofern sehr schwer ausführbar, weil Begriff ja nach mehr als einer Richtung längst festgelegt ist. Und das N o t wendigste von der Welt für einen neuen Begriffsausdrudk (terminus tedinicus) scheint mir möglichste Einzigkeit und damit Eindeutigkeit

Briefwechsel mit Hans Driesch

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zu sein. Als ein froher Naturbursch der Nichts-als-Erfahrungswissensdiaft habe ich mir inzwischen selbst solch ein Wortding zurecht gemacht: es heißt Gliederganzes. Schrieb ich Ihnen schon von dem neuen Buch, das ich unter der Einwirkung des Krieges zu schreiben begonnen habe, und das der auswärtigen Staatsgeschichte 1 gilt? Hervorgegangen aus einer der überflüssigen Enqueten (für die italienische Scientia) ist dieses Geschreibsel angeschwollen wie der Pudel im Faust und zählt nun auch leider schon etwa 300 Druckseiten oder 350 und denkt nicht daran, fertig zu sein. Nun ist es mir mit diesem Kreisausschnitt des geschichtlichen Geschehens schon lange seltsam gegangen. Gerade weil er der abgedroschenste ist, reizt er mich immer auf die Dauer. Ich bilde mir ein, dieses eigentümlich willensgefüllte und geistentleerte Tun völlig dem Entwicklungsgedanken unterworfen zu haben (während es bei Lamprecht noch eine indigesta moles bleibt), und zwar schon in Aufsätzen von vor 1900. Natürlich versuche ich, unter der Hülle eines stets leise klappernden, im Krieg laut donnernden Außenapparates das treibende Uhrwerk von Regel und Gesetz zu finden. Doch es ist mühselig, sich durch alle die sehr zahlreichen Einzelwindungen und -Wendungen dieses Geschehens durchzuarbeiten, von denen jede einmal kurz betrachtet werden muß, da in ihr vielleicht sich etwas von dem Triebwerk deutlicher als sonstwo offenbart. Ich habe schon eine Anzahl Erträge, bin aber noch nicht zufrieden mit dem Ding und mir. In Wahrheit aber ist doch gerade dies Arbeiten auf den Grenzen von erfahrender und bauender, begrifflicher Forschung meine ganze Lust. . . . 4. März 1916 Immerhin habe ich nun die Reihe meiner Beobachtungen der auswärtigen Staatskunst bis zum europäischen Kriege fortgeführt. Schon früher ging es mir mit ihr seltsam: ich hatte sie in meine erste Abfolge von Versuchen zur vergleichenden Gesamtgeschichte (Schmollers Jahrbuch) noch gar nicht aufgenommen aus Abneigung gegen dies einzig bevorzugte, überhaupt für d i e Geschichte erklärte Teilgebiet. Zum Band I I 2 der Kulturgeschichte gelangt, holte ich dies Versäumnis nach und fand — sicher, weil hier meine Weise im ausgeprägtesten und schärfsten Gegensatz zu der üblichen steht — sogar eigens starken Geschmack an diesem Stoff. Nun ist mir merkwürdig zu beobachten, wie meine Absicht allmählich weiter um sich gegriffen hat. U m bis 1815 eine Brücke von 1519 herzustellen (bis dahin war ich seinerzeit ge1 Geschichte der europäischen Staatengesellschaft (unvollendet). Die Abschnitte Auswärtige Staatskunst in Die Gesdiidite der Menschheit I V und V (1955) entstammen diesem Werk.

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Briefe • Gesprädie

langt), habe ich eine Einleitung geschrieben, die doch eigentlich nur eine der älteren Beobachtungsreihen (über die Häufigkeit der Kriege, die zugleidi Hauptzeichen der Dichtigkeit der Staatengruppe ist) fortsetzt, dazu dann neue gefügt über die innere Verfassung der Staatengesellschaft: Monarchie eines Vormachtstaats bis 1715, dann Aristokratie der Großmächte — das Rokoko als auswärtige Staatskunst (kühl, elegant, spielerisch, in jedem Sinn aristokratisch). Im 19. Jh. aber setzt nun die große Revolutionierung auch der auswärtigen Staatskunst ein; den Kampf ihrer neuen, demokratisch-nationalistischen Form mit den Resten der alten Weise galt es zu beschreiben. Demnächst aber habe ich die Entwicklung des Innenbaus der Staatengesellschaft zu erforschen getrachtet — vor allem die Geschichte der Staatenparteien. Mein Ziel aber ist, doch wenigstens zu den Anfängen einer Theorie des Aufeinanderwirkens der Staats- (Land- und Macht-) Massen auf einander zu gelangen. Immer wieder drängen sich hier mechanische Gleichnisse auf; doch hoffe ich auch zur Biologie des Staatenwachstums und zur Psychologie ihres Verhaltens zueinander Beiträge zu geben. Ich habe eine unersättliche Freude daran, dieses Scheuerstroh des deskriptiven Stoffes in f ü r mich eßbare und verdauliche N a h r u n g zu verwandeln. . . . Rehbrücke, den 23. November 1916 Verehrter H e r r Kollege, . . . H a f t e t nicht erfahrungsgemäß allen sehr begrifflichen, d. h. zunächst mit sehr wirklichkeitsentleerten Begriffen als Stoff beginnenden und demnächst mit ihnen — weit von der Wirklichkeit — rein begrifflich schließenden und bauenden Untersuchungen eine Vergänglichkeit an, die zu denken gibt? U n d zwar doch wohl deshalb, weil sie allzu zeitgemäß, allzu zeitgebunden in Was und in Wie dieser Begrifflichkeiten sind? Schulfall (auch genügend ,überwunden') die Scholastik: glänzende geistige Mittel und Kräfte, doch heute siriusfern — zuweilen freilich wieder ganz nahe. Ich meine so: mit der Wirklichkeitsferne wächst die Herrscherlichkeit des bauenden Forschers, damit seine Personal-, aber auch seine Zeit-Subjektivität. Mein Argument: wäre die rein logische Ausmachung unbedingt zuverlässig, so gäbe es keine N o t der Welt, will sagen der Wissenschaft, in der man nicht sich nur an den nächsten oder besten Philosophen wenden würde, könnte, ja müßte, indem man ihm alle Empirika hinbrächte und zu ihm sagte: nun vollende du das Werk mit der unfehlbaren Sicherheit deines Schließens. Dies geschieht fast nie. Im Gegenteil, alle Fachwissenschaften haben einen horror philosophendi. In einem Gespräch mit Reuber 1 , der im 1

Schüler Breysigs und Drieschs, gefallen.

Briefwechsel mit Hans Driesch

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Hinblick auf die Staatslehre eine solche Forderung aufstellte, wandte ich ihm ein, ich hätte deshalb ein tiefes Mißtrauen gegen diesen Weg, weil er bei aller Vorzüglichkeit seiner denkerischen Mittel immer seine Richtung vorgeschrieben erhalten würde durch seinen Ausgangspunkt. Mit anderen Worten, das Mindestmaß von Zeit-, Klassen-, Parteimeinung, mit dem dieser logische Staatslehrer den Weg antritt, wird — womöglich noch ihm unbewußt — ihn mehr beeinflussen, als je seine überlegene Schlußfähigkeit wieder verbessern kann. Daß dies alles gar keinen Bezug auf Ihr Forschen hat, versteht sich für Sie von selbst. Im Gegenteil, Ihre besondere Philosophengestalt — Philosophenhaupt auf dem biologischen Tierleib, wenn ich Sie so sphinxisdi anreden darf — lockt und legitimiert midi, gerade Ihnen dies zu sagen, und, wenn ich hinzufügen darf, gerade mich, der ich als Empiriker so viel begriffliche Ehrgeize habe. Ihr Buch1 begleitet midi noch lange; so sind Sie vor ferneren Eruptionen nicht sicher. Eine Voranfrage, die mir bei der Aufgipfelung kam — schon bei der Etikette: haben Sie je zu Diltheys Akademie-Abhandlung 'Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie'von 1894 Stellung genommen? Sie erschien mir (um 1900) als das Meisterwerk eines großen Bauplans. Zuletzt, als Dilthey mir die große Abhandlung seiner letzten Hand schickte, hatte ich freilich den trauervollen Eindruck gänzlicher Vereinsamung des tiefen Mannes. Er ließ alles werktätig Verwandte achtlos beiseite. . . . Einen Gedanken bilde ich mir jetzt aus, der Ihnen vielleicht Teilnahme abgewinnt — angeregt durch ein Gespräch mit dem jungen Philosophen Schmalenbach. Er sprach mir von einem Aufsatz über die Bedeutungslosigkeit der Zeit für die Historie. Den Grundgedanken werden Sie — wie ich — sogleich erraten: das begriffliche Nebeneinander der — nur accidentiell in der Abfolge der Zeit zur Erscheinung kommenden — Entwicklungsmassen. Mir ist darüber der Gedanke gekommen, die Geschichtsform der Entfaltung über die der Entwicklung zu stellen. Der wirkliche Geschichtsvorgang vermischt natürlich immerfort beide. . . . Heidelberg, 9. 12. 1916 Verehrter Herr Kollege: . . . Was Sie über die Zeitbeschränktheit und Vergänglichkeit alles Theoretisierens und Philosophierens sagen, unterschreibe ich durchaus. Wenn ich von mir selbst reden darf, so sage ich dieses: idi halte meine embryologischen Experimente (allerdings einschließlich der unmittel1

Leib und Seele.

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Briefe • Gespräche

baren analytischen Folgerungen, bis zum Begriff des harmonisch-äquipotentiellen Systems als Begriff) für bei weitem das Wesentlichste, was ich habe machen dürfen. In zweiter Linie kommt mir die Analyse (nur diese!) der Handlung in Band II der Philosophie des Organischen und das Mannigfaltigkeits-Argument in Leib und Seele. Alles rein Philosophische tritt für mich selbst dahinter zurück. Glauben Sie mir: würde mir irgend eine Versuchsanordnung einfallen, welche neue biologische Sachverhalte in neuer Form analytisch zu schauen gestattete — ich würde sofort wieder Biologe. Freilich, das a n a l y t i s c h e Schauen muß dazu kommen, also Beschreibung im höheren Sinn des Wortes (Beispiele: Galilei, Newton, Faraday), mechanischer: Wissenstheorie. Ich bin unbescheiden genug zu sagen, daß meine embryologischen Experimente m i t ihrer Analyse in diesen Zusammenhang gehören. Es ist seltsam, wie wenig Verständnis im Allgemeinen für dieses Wesentlichste vorhanden ist. Man schätzt entweder reine, unverarbeitete Tatsachen oder reine Philosophie. Goethe hat, glaube ich, das wertvolle Mittelgebiet klar gesehen. Mein „biologischer Tierleib" ist es, glaube ich, der mich vor jedem Dogmatismus behütet. . . . Ihr Hans Driesch Rehbrücke, den 14. Januar 1917 . . . Den großen, soi-disant ewigen Frieden der Zukunft, von dem ich denke, daß er — aus weiten Entwicklungsnotwendigkeiten — nach Ablauf des jetzigen Krieges und seiner Folgeerscheinungen (also unter Umständen auch von Folgekriegen) kommen wird, . . . denke ich mir kommend auf dem Wege des Wachstums unserer Staatengesellschaft über die großen Staatenverbände hinaus (die zunächst wohl lange Zeit noch dauern werden) zu einer organisierten Staaten g e s e l l s c h a f t

Rehbrücke, den 17. März 1917 Mit meinen Arbeiten steht es so: ich erlebe an meinem Buch über die äußere Staatskunst (wie immer von neuem in meinem Gesamtwerk, der Gesamtgeschichte, als deren Teil ich natürlich auch dies wieder ansehe), daß die unerhörte Mannigfaltigkeit des Geschehens midi brutalisiert. Die schlechthin furchtbare Alternative, die mich da bedroht (es ist das Kreuz meiner Sendung), ist die: entweder von oben her sehen und dabei leicht obenhin, oder aber sich einlassen in die Zahllosigkeit des Einzelgeschehens und dann um unwiederbringliche Jahre betrogen werden. In Wahrheit wäre ja meine Aufgabe nur zu lösen, wenn ich 120, noch lieber 200 Jahre alt würde! Und nun ist wirklich der aufreibende Kampf meines Werks und meines Lebens, die Mittellinie zu

Briefwechsel mit Hans Driesch

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finden, die jene Möglichkeit (meiner Jahre, meiner Arbeitskraft) und die Sicherheit (meiner Forschung) vereinigt. Sie glauben nicht, wie oft und wie tief ich midi mit dem Dämon dieses Zwiewegs herumschlage. Natürlich ist diese Alternative auch ein sachlicher Gegensatz; aber an ihm leide ich gar nicht. Denn ich bin ganz und gar geschaffen für die Freuden letzter Zusammenfassungen und finde doch den Stoff der Geschichte bis in seine feinsten Verästelungen hinein unglaublich anziehend. Und ich kann nur leben, wenn ich beides verbinde. Sechs, sieben Bände druckbarer Handschriften umlagern mich. Aber alles ist im Werk, noch der Umarbeitung, Kürzung, Vollendung bedürftig. Rasten tue ich nie, außer wenn meine Nerven versagen. Herausgeben möchte ich während des Krieges nicht; es wird aber auch ohnedies nichts früher fertig werden. Rehbrücke, den 23. Juni 1917 Verehrter Herr Kollege, . . . Inzwischen habe ich — in persona und in literis — Scheler kennengelernt; auch Vaihinger, dessen Als Ob mich recht bewegt — ich finde es sehr fruchtbar. Für mich war besonders überraschend zu finden, in wie großem Umfange sich mein geschichtliches Denken in Fiktionen (Vaihingersdier Prägung) bewegt. Dazu ist gewaltig zu denken, wie eisern die Fesseln sind, in die für Jahrtausende der forschende Geist geschlagen ist durch die doch reichlich willkürliche Wahl der endgültig gewordenen Fiktionen (aber auch aller Begriffsbildungen). Es scheint mir an Schicksalsmäßigkeit nur damit zu vergleichen, daß etwa der Kohlenstoff die entscheidende Rolle in dem chemischen Dasein zuerteilt erhalten hat, während es, wie Arldt 1 versichert, ebenso gut hätte geschehen können, daß im Aufbau der Pflanzen-und Tierkörper Siliciumverbindungen im selben Sinne überwögen. Scheler ist ein Mensch von eigentümlicher Mächtigkeit — es ist, als ob er Pulver und Dynamit im Leibe hätte, d. h. im Geist. Ein unerhörter impetus steckt in ihm. Seine Abhandlungen, namentlich die über das Ressentiment, fand ich sehr wertvoll. Mir ist besonders bewegend, daß ich hier zum ersten Mal einen Denker von Wert und Stärke finde, der Nietzsches Erbe zu verwalten und zu mehren weiß — trotzdem seine Weltanschauung ihn fast zum Gegner Nietzsches bestimmt: er ist ja Theist, Katholik und fast kirchlicher Katholik. Meine Ubereinstimmungen sind wesentlich politische (das Wort in höherem Sinn verstanden): antidemokratische. Vielleicht lesen Sie ein1 Theodor Arldt, Die Entwicklung der Kontinente und ihrer Lebewelt (1907).

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Briefe • Gesprädie

mal Schelers Ressentiment-Aufsatz und teilen mir mit, was sie wohl dazu sagen. Es wäre vielleicht auch für Sie eine solche Berührung merkwürdig, vor allem deshalb, weil Sie ein Denker sind, der aus der Kühle der naturwissenschaftlichen Hemisphäre des Geistes kommt, hier aber einer spricht aus allen Leidenschaften und Parteinahmen der menschenbeobachtenden, aber auch aller Menschlichkeit näheren Halbkugel dessen, was wir Geisteswissenschaften nennen. . . .

Rehbrücke, den 3.14. November

1917

Verehrter Herr Kollege, . . . Sie müssen mein Atem-Ausgehen bei dem Mitgehen auf den Pfaden Ihres reinen Subjektivismus durchaus als das ansehen, was es ist, — nicht als ein logisches Hesitieren, sondern weit mehr als aus der Verschiedenheit der persönlichen Grundgestimmtheit hervorquellend. Meine Heimat ist an den Grenzen zwischen Begriff und Wirklichkeit. Sie sind nun mit einer Entschlossenheit, die ich als Ereignis der elementaren Seelenkunde durchaus begreifen kann, aus dem Lande der Wirklichkeiten hinausgegangen und sind nun, so tief Sie nur immer konnten, drüben eingedrungen in das andere Land. Sie haben auf einen ,Kanten' anderthalben gesetzt und sind mit Feuer und Schwert für die letzte Reinigkeit und Folgerichtigkeit der Kantischen Prämissen zu Felde gezogen. Nun — und das darf Sie nicht verwundern — wird gerade Jemandem, der — wie ich — Ihren Weg in der Vorstellung mit großer Anteilnahme mitwandert, der Gedanke lebendig: wie würde mir — dem Mitfühlenden — zu Mute sein, müßte ich diese Luft aus reinem Sauerstoff atmen! Daher mein Reiben —. Noch dies: an sich ist mir Ihr gänzlich egozentrisches Bauen höchst verwandt — schon um deswillen, weil mir alles im Leben auf Bau und Bildung des starken Einzelnen anzukommen scheint. Aber was mich hemmt, diesen Weg zu gehen, das ist die starke Sehnsucht nach Wirklichkeit und Wirklichkeitsbetrachtung. Und diese beiden erscheinen mir durch Ihren Kantianismus wie bedroht.

Rebbrücke, den 8. Februar 1918

. . . Augenblicklich bin ich bei einem Buch, über das ich um völlige Diskretion bitte und dessen Untertitel heißt: Umrisse einer zukünftigen Geschichtslehre1. Es ist ein Werk der Ungeduld — mittwegs entworfen, statt erst mit 65, 70 Jahren — , aber in mir nicht zu unterdrücken, weil ja schließlich doch nur das Ganze der Geschichte das Ziel meiner Forschung ist und vom Ganzen wieder die Regel, das 1

V o m geschichtlichen W e r d e n

(1925—1928).

Briefwechsel mit H a n s Driesdi

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Geheimnis des Werdens. Aus seiner Entstehungsgeschichte mag Sie dieses interessieren, daß ich im März 1912 in meinen an sich noch nicht ad hoc, sondern mußevoll in stetem Gedankenwachstum betriebenen Erwägungen bis zu dem Schluß gekommen war, daß es vielleicht möglich sei, den Bahnenbau der Menschheitsgeschichte und damit letztlich auch die führende Grundkraft, die Einzelstrecke an Einzelstrecke gefügt hat, nicht, wie ich bis dahin grundsätzlich angenommen hatte, aus dem Auf- und Auseinander der kleinen und kleinsten Einzelstrecken, sondern aus dem Linienzug ihres Gesamtverlaufs in Gedanken nachzubauen und zu erklären. Als in Bamberg gefunden, habe ich diese Vorstellung in meinen Papieren als den Bamberger Gedanken bezeichnet. Sie kennen ja mein Spiralen-Symbol; auf dies abgetragen dachte ich jeden Einzelabschnitt der Entwicklungsbahn. Nun aber gingen wir von Bamberg nach Heidelberg, idi lernte Sie kennen, und fast das erste, was Sie mir von Ihren die Geschichte berührenden Gedanken auseinandersetzten, war Ihre Unterscheidung zwischen akkumulierender und evolutiver Entwicklung. Sie können sich vorstellen, wie wichtig mir war, daß überhaupt ein Philosoph sich mit der Lehre vom Werden als solcher abgab. Ich sah in dieser Tatsache eine Zeiterscheinung, und bei den etwas schmerzvollen Erwägungen, die ich anstellte, ehe ich mich entschloß, aus meiner Menschheitsgeschichte für einige Monate (wie ich damals wähnte) herauszugehen, um meine allgemeine Geschichtslehre irgendwie zu umreißen, gehörte diese Tatsache zu den für die Dringlichkeit eines solchen Unternehmens sprechenden Punkten. Nun sind die Gedankenkristallisationen, die zuerst die führenden waren, nicht nur selber gewachsen, sondern es haben sich auch neue zu ihnen gefunden. Drei Gruppen bestanden zuerst: die erste, die die Antinomie der Persönlichkeit und der Entwicklung zum Ausgleich bringen will — nach meinem Gefühl das heimlich quälende Grundproblem heutiger Geschichtsschreibung, das aber entweder schlaff beschwiegen wird, oder mit dröhnenden Losungen (Marx: Massen, Treitsdike: Männer machen die Geschichte) ganz ungelöst gelassen wird, oder — wie bei Lamprecht — im irrationalen Nebeneinander unverbunden bleibt; die zweite, die von neuem einen Aspekt des Gesamtverlaufs der Geschichte gibt und einige allgemeine Beobachtungen aufstellt; die dritte, die eine Theorie des Werdens versucht. Aber gerade jetzt, da ich — angeregt vom Wiederholen meines Kollegs Geschichtslehre — an den I. Band letzte Hand anlegen wollte, erschien mir eine vierte Gruppe noch durchaus notwendig: eine Auseinandersetzung mit allen ernsthaften Kollektivismen — vorzüglich mit Karl Marx. Das schreib ich nun, bin schon im 3. Monat, ohne doch ganz fertig zu sein. 9 Breysig, Tage

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Briefe • Gespräche

Einen Band, der eine Gesamtanalyse des deutschen Wesens versucht 1 , schrieb ich während des Krieges, dazu das dumme Buch, das ich Ihnen schon anzeigte — d. h. ein f ü r meine Verhältnisse überaus deskriptives: die auswärtige Staatskunst angehend. Das ist etwas viel nebeneinander, aber alles ging ganz natürlich her. Jetzt aber habe ich eine unwiderstehliche Sehnsucht, wieder an meine Menschheitsgeschichte zurückzukehren, nach fünfjähriger Unterbrechung. Doch dient letztlich jede Zeile, die ich schreibe, diesem Werk. . . . Rehbrücke, den 23. März 1918 Verehrter H e r r Kollege, damit nicht auch dies Mal ein unliebsamer Zeitraum aufklaffe, beginne ich meinen Brief schon heute (den 24. Februar) und zwar um deswillen, weil ich Ihnen — durch Ihre Wirklichkeitslehre — dieser Tage eigens nah war. Am meisten hat mich beeindruckt, daß so viele Ihrer hier grundlegenden Begriffe schon (wie ich fast meine) in der Ordnungslehre so geformt sind, d a ß sie die im H a u p t des Verfassers schon prästabilierte metaphysische Funktion auszuüben vermöchten. So Ganzheit. Hinter ihrem leuchtenden erkenntnistheoretischen Fell verbirgt sie wahre Abgründe metaphysischer Endabsichten. (Fast schrieb ich End-Listen!) Frage des Roh-Empirikers: schmieden die schon so kunstvoll und keineswegs absichtslos geformten Hämmer nicht allzu zwangsläufig? Gäbe es nicht ein dem Ihren entgegengesetztes Ideal von Werkzeugen, die freier schlagen könnten (ich sage nicht frei; denn das ist natürlich unmöglich)? Mein Anlaß zu dieser Bemerkung ist natürlich Ihre Setzung, d a ß die Geschichte Ihrem Ganzheitsbegriff so wenig genug tut, daß Sie ihr ein jenseitiges Urbild geben wollen, das wahre Entwicklung sei — von dem dann irdisches Geschehen nur Fragment oder verwirrtes Abbild sei. Für mich ist dieses Ihr Postulat, um es einmal grob menschlich auszudrücken, schmerzlich. Nicht, weil ich nicht die Geschlossenheit Ihres ganzen Baus ahnte, wertete und schön fände — aber weil diese Transcendenz meinem ganzen (völlig erdumschränkten) Wesen durchaus fremd ist. U n d — seien Sie mir nicht böse — ich halte f ü r damit als möglich gegeben irgendein Brentano-Schicksal am Ende Ihrer Bahn. Ich drücke meine Empfindung positiver aus: ich bin so froh — immer von neuem wieder — einen Daseinsforscher (das ist mein natürlicher Ausdruck f ü r Philosoph) zu finden, der wirklich das Grundproblem aller Geschichtsforschung, das Werden, a n f a ß t ; aber kaum verweilt er, da eilt er schon mit raschen Schritten in jenseitige Fernen, in die ihn 1

V o m deutschen Geist und seiner Wesensart (1932).

Briefwechsel mit Hans Driesch

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eigentlich nur mein Schauen begleiten kann. Denn ich glaube, ich werde nie einen anderen Wunsch haben, als Wirklichkeiten auszudeuten. . . . N u n bin ich im Besitz Ihres Briefes und freue mich Ihrer Teilnahme an dem Schicksal meiner Schriften. Ich will aber zunächst an diejenigen Ihrer S ä t z e anknüpfen, die das Thema fortspinnen, das ich eben anschlug. Mich beschäftigt es durchaus am tiefsten in unserem Meinungsaustausch: es ist ja eigentlich d a s Thema. Aber wie weit bin ich doch von der Sinnesweise entfernt, die sich in Ihrer Formulierung ausdrückt, daß ich nach dem Verhältnis von Person und Uberperson forsche! Ich mühe mich eben vergebens mit der Auslegung des Wortes Uberperson in Ihrem Brief: ist's ein Sachliches, dann läßt sich allenfalls mein Begriff Entwicklung noch hineinschreiben; ist's ein Persönliches, irgend an G o t t Grenzendes, dann gar nicht. U n d fast scheint mir doch die zweite Deutung die rechte? D a r f ich noch ein ganz Allgemeines sagen: ich finde eine so schwer schicksalhafte Verkettung zwischen den Anfängen und den jetzigen Schlüssen Ihrer Bahn. Ihr Ganzheits-Begriff — wenn ich recht sehe, eigentlich die Mitte Ihrer Lehre — ruht ganz auf den Biologismen Ihrer Anschauung des Weltgeschehens, und wiederum Ihre N e i g u n g zur Annahme des Gottes wächst aus Ihrem Ganzheitsbegriff hervor. N u n ist meine Sorge, Sie legen sich für die K r ö n u n g Ihres Gebäudes — eben die Gott-Vorstellung — zu früh fest, früher jedenfalls, als bis die Debatte darüber auch nur eröffnet, geschweige denn geschlossen ist, ob jene Biologismen wirklich jedem Einspruch standhalten. A n dieser Debatte würde ich mich meinerseits — wenngleich logisch gewiß nicht genug gewappnet — beteiligen. Aber ich muß selber erst wieder meine Gedanken völlig ordnen und rüsten, ehe ich hier sprechen darf. Ich meine so: fügt es nicht vielleicht der G a n g Ihres Schaffens so, daß Sie jetzt erst noch einige J a h r e andere Mauern Ihres Gebäudes bearbeiten? Ich habe nämlich — ganz naiv gesprochen — Sorge, Sie gehen in der Deifizierung Ihrer Lehre jetzt ganz rasch weiter, noch weit über die Hesitationen und die Problematik des Schlusses Ihrer Wirklichkeitslehre hinaus, und das würde mir bedenklich erscheinen. Sie stehen, wenn ich auch dies noch ebenso freimütig hinzufügen darf, doch auch unter den Gesetzen der Seelenkunde des Forschers: aus starken Repuls-Gedanken gegen die Kümmerlichkeiten des heutigen Monismus und gegen die Gleichgültigkeit der Philosophie gegen den G o t t liegt jetzt ein unendlicher Reiz für den Denker — wenigstens den von dem starken Zeit-Empfinden, wie es Ihres ist — darin, sich diesem Pol wieder zu nähern. 9*

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Nicht w a h r , Sie werden diese Bemerkungen nicht als einen — an sich ganz unzulässigen — Versuch, in die Wesenheit Ihrer Lehrentwicklung einzudringen, ansehen, sondern nur als den ganz f r e u n d schaftlich ausgesprochenen Reflex einer Sorge, Sie möchten einer inneren Heterogonie der Zwecke verfallen. H a b e ich auch damit meine Zuständigkeit überschritten, so müssen Sie es mir offen sagen u n d es mir nicht nachtragen . . . Heidelberg, den 27. März 1919 . . . Mit der Zulassung der Evolution bin ich sehr vorsichtig, ja ich bin nahe am leugnen derselben (natürlich n u r f ü r Geschichte, nicht f ü r Polygenese). Beachten Sie, wie ich die Frage a u f w e r f e (Wirklichkeitslehre S. 208): ,Könnte nicht auch lediglich die Tatsache des I r discher-Mensch-sein nur einen Entwicklungsschritt des unbekannten G a n z e n bedeuten?' D a setze ich aber hypothetisch das Evolutive nur in der metaphysischen Grundlage der Phylogenie . . . D a gibt es irdisch, d. h. auf der Erde, ü b e r h a u p t keine Entwicklung in der Geschichte. . . . Hypothetisch w i r d nur f ü r das Wissenswerden (in der Seele!) Evolution zugelassen. E v o l u t i v Werden tut natürlich nicht das Wissen seinen eigentlich erfüllenden Wissensinhalten nach; die hängen vom Äußeren, also v o m Z u f a l l ab. Evolutiv Werden tut dagegen das Wissen — immer im u n b e w u ß t Seelischen, nicht im eigentlichen Bewußtseinssinne genommen —, insofern es ein Schauen von Problemen ist. I n bezug auf die Problemschau, die sie erfüllen möchten, ,entwickeln' sich die Seelen. Es ist ihnen sowohl die Schau selbst wie der Wille, das Problemschema zu erfüllen, evolutiv gegeben. Von wem? V o m Uberpersönlichen. Dieses entwickelt sich im G r u n d e selbst (bezüglich der Schau der auf sich selbst gerichteten Probleme) u n d stellt jeweils ein Stadium dieser Entwicklung in einer Person oder auch in gewissen Stadien einer Person dar. Die u n b e w u ß t e (seelische) G r u n d lage meines bewußten Problemschauens u n d -wollens ist es also, welche sich entwickelt, oder besser, Ausdrücke der Stadien eines sich entwickelnden Überpersönlichen ist. Ich bin ü b e r h a u p t nur überpersönlich verankert, insofern ich sozusagen Neu-Schau habe. I m übrigen bin ich auch ,reine Person'. Die meisten Menschen ü b e r h a u p t u n d die wenigen Evolutivmenschen in den meisten Momenten ihres Daseins sind n u r ,reine Personen'. N u r in seltenen Momenten sind seltene Menschen Uberpersönlichkeitsträger. . . . D a ß ich die W o r t e Wissen u n d Problemschau sehr weit nehme u n d z. B. alles Sittliche u n d Ästhetische einschließe, ist selbstverständlich. Sie sagen, d a ß Sie in geschichtlichen Dingen sehr viel stoffreicher

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seien als ich. Glücklicherweise! Darum erhoffe ich mir ja gerade so viel von Ihren künftigen Werken. Die Kuh will fressen! Sie meinen, durchschaubar wäre Geschichte auch ohne Evolution. Gewiß; aber dann wäre sie nur psychologisch durchschaubar und hörte im Grunde auf, Wissenschaft sui generis zu sein. Sie wäre psychologisch erhellte Aufzählung. Vieles an Geschichte kann sicherlich nicht mehr sein als das. Aber die Frage bleibt doch, ob garnichts mehr sein kann. Was Sie von meinem listig aufgestellten Begriffsnetz sagen, freut midi. Ich glaube, das trifft zu. Nächstens kommt noch eine Menge solcher Netzarbeit. . . . Ihr aufrichtig ergebener Hans Driesch. Rehbrücke, den 30. Juni 1919 Lieber Herr Kollege (obwohl das eigentlich eine greuliche Anrede ist, da man sie auf die gleichgültigsten, ja die gefährlichsten Menschen applizieren muß!) — ich habe Ihnen wieder, wie gewöhnlich, eine Welt zu schreiben. Ein Erlebnis: Hegel. Natürlich nur die Philosophie der Geschichte und zwar die Einleitung, von der ich vermute, daß sie für mich mehr bedeutet als der Weltdialog des Corpus. Zuerst wie immer mein allgemein-geistiger Eindruck: ein Kaiser — ein Mensch, der es wagt, sich neben den Thron Gottes zu stellen und von dort aus das Weltgeschehen nicht noch einmal zu sehen, sondern noch einmal zu entwerfen! Ich bin von dieser Einleitung ganz eingenommen. Es ist ja selbstverständlich, daß ich mit dem Gang und den Einzelheiten jenes Weltdialogs im Text immerfort in Konflikt gerate; aber diese Einleitung ist wie ein Meer, das Korallen und Perlen auswirft. Diese einzelnen Kleinodien sind groß, aber das Meer ist noch größer. Trotzdem ich auch hier immerfort nicht Widerspruch, aber Distanz erkenne: ich habe noch bei keinem Menschen so viel Starkes gefunden, das meinen höchsten Anschauungen von Geschichte so nah, so verwandt ist. Doch, nicht wahr, diese Verwandtschaft war rein objektmäßig empfunden. Was das Ich angeht, so war mein erstes Gefühl: wollen wir nicht die Feder niederlegen, wenn ein so großer Mensch über die Geschichte als Ganzes sprach und schrieb! Alles dies wollte ich Ihnen seit Wochen schreiben; da stieß ich heut morgen, als ich Ihren Aufsatz durcheilte, auf Ihren Protest gegen Hegel. Daß Sie ihm sein Weltgedicht nicht nachdichten wollen, begreif ich. Aber seine Philosophie der Geschichte würden Sie ganz anders beurteilen, müßten Sie sie, wie ich, als Ihr eigenes Gebiet ansehen. (Oder haben Sie gar nicht an sie gedacht?) Vorzüglich die leitende Gesamtanschauung von der Einheit aller Geschichte ist Ihnen viel zu nahe, als daß Sie sie so radikal verwerfen könnten.

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Ich glaube, näher als ich dieser Schrift in meinem wissenschaftlichen Fühlen, Ahnen, stehe, kann man nach 100 Jahren gar nicht einer Schrift stehen. Wären Sie hier, ich würde Ihnen ganze Reihen von Ideen zur Überzeugung vorlesen! Und dann — ich komme darauf zurück — die Luft, das Ungreifbare, aus dem heraus er schreibt, ist mir bis zum kaum Verstehbaren wohltuend, willkommen. Ich bin sehr froh, daß mir der Gedanke, im Verlauf eines Einzelabschnittes 'Begriff und Entwicklung' auf Hegel als vornehmstes Beispiel einer Logifizierung der Geschichte zu kommen, diese tiefe innerste Berührung eingetragen hat. Sie wird mir über die im Allgemeinen notwendig ehrfurchtsvoll-ablehnende, an sich rein geschichtliche, beispielhafte Behandlung hinaus, an die ich zunächst nur dachte, viel Früchte eintragen. . . . Noch ein Wort. Es gibt zwei Hegel, nicht nur nach-, sondern auch nebeneinander: der eine, der zu einer der Welt (der Natur und der Geschichte) innewohnenden Vernunft als einer, und zwar der höchsten, Qualität der Wirklichkeit neigt, und der andere, der in einer — mir ganz schrecklichen — Annäherung an den Gott der Christen diese Weltvernunft deifiziert. Der erste ist mir so nahe, wie der zweite mir fremd und fern ist. Der erste ist sicher der jüngere Hegel. Der Unterschied zwischen diesem und dem älteren wird klar in der Ausgabe der Naturphilosophie in den posthumen sämtlichen Werken. Da steht der — aus den Vorlesungen beigedruckte — Zusatz (etwa von 1828 oder so) gegen den Text von etwa 1816 in dem schroffsten Gegensatz. Und in diesen an Stelle des Geistes nunmehr überall den Gott nennenden Kollegbruchstücken ist so viel Politik — freilich größten Stiles. Er wollte wohl weniger dem Christentum sich anpassen, als ihm die Bekenner nehmen. Und paßte sich doch an . . . Nun schließe ich diesen Mammut-Brief, mir doch noch Antwort auf bestimmte Stellen Ihres so reichen Buches vorbehaltend. Mit vielen guten Grüßen der Ihrige Kurt Breysig. Heidelberg, den 18. Juli 1919 Lieber Freund: . . . Ist Ihnen Hegel in seiner Geschichtsauffassung wirklich so verwandt? Ich glaube es gar nicht, jedenfalls nicht, so weit Sie Gesetzessucher sind. Er will ja gerade das Einmalige, die e i n e Linie. Das bringt ihn meinem Suchen nach Evolution (Geschichte wie eine Ontogenese) nahe, wobei mich aber seine völlige Kritiklosigkeit und sein Mangel an intellektueller Selbstzucht abstößt. . . .Wir wissen nicht, ob Geschichte Evolution ist; es ist bis jetzt nur unsere Aufgabe, diese Evolution neben dem kumulativ Gesetzlichen zu d e n k e n . Daß die Gesetze da sind, ist sicher. Und das ist bis

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jetzt das einzige Wertvolle an dem ganzen Geschichtsbetrieb. M a n darf nur etwas gegen sie sagen, wenn man Besseres (nämlich die sicher nachgewiesene Evolution) an ihre Stelle setzen kann! . . . Jedenfalls sind die Gesetze etwas solide nachgewiesenes, was es g i b t . Ich selbst vermute nur, wie Sie wissen, in der W i s s e n s l i n i e das Evolutive, und zwar, wie Sie mit Recht sagen, nicht in dem eigentlich aktuellen Wissen, sondern im Werden des ihm unterliegenden U n - und Unterbewußten. D i e Reihe der Aufgabenschauer: das ist die evolutive Geschichte. D a ß diese Person A (also etwa K a n t ) eine neue Aufgabe schaut (und lösen will), das stammt aus der Evolution des überpersönlich Unbewußten her und blitzt in der Person A sozusagen auf. Freilich: alles ist mir hier in erster Linie subjekthaft. I n den Subjekten ihrem Schauen nach zeigt sich Evolution. Was sie dann m a c h e n , ist Abfall davon. . . . Ich glaube, Sie müssen mir da im Grunde zustimmen. Menschliche Seelen in ihrer Typenabfolge sind es ja doch, mit denen sich letzten Grundes jeder Geschichtsforscher beschäftigt, ganz gleichgültig, ob er Sprachen, Kunstwerke, Staatsformen oder was sonst studiert. D i e Produkte sind nur Anzeichen von seelischen Q u a litäten . . . Lassen Sie recht bald wieder von sich hören. Ihr Hans Driesch. Rehbrücke, den 14. Oktober 1919 Lieber Freund! . . . Hegel hat mich all diese Monate zu innerst beschäftigt. J a , doch, verwandt, sehr verwandt empfinde ich ihn. Mich bezaubert die große Kühnheit seines bauenden Meistertums, und bewunderungswürdig ist mir sein Imperatorenstolz, der ihm, wie einem Napoleon im geistigen Reich, den M u t gibt, eine zweite Welt neben die wirkliche zu stellen. Dies sind meine Bewunderungen. Das Verwandtschaftsgefühl kann nur seine Geschichtslehre angehen, und da knüpft es fürs erste nur an die Tatsache an, daß hier ein Philosoph, der wirklich das gesamte Kreisrund damaliger Geschichtskenntnis umspannte, so ganz von dem Gedanken der Entwicklung beherrscht ist. Das habe ich immer als meine eigene Losung empfunden (mit Lamprecht zusammen) gegen alle eigentliche Historik, die durch R a n k e bis heute völlig deskriptivistisdi abgestempelt ist. Das was mein Denken im K e r n bestimmt, ist die Bestimmtheit alles geschichtlichen Werdens — der weite, weiteste Zusammenhang von allem Geschehen in sich von Anfang bis heute. Die Einheit aller Geschichte — das, was ich Entwicklungsgeschichte nannte. U n d dies finde ich bei Hegel als den großen, bewegenden, belebenden Gedanken einer

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umfassenden Geschichtsanschauung. Gut, daß ich dies in dieser Präzision erst heute weiß — ich hätte mich sonst immer für verpflichtet gehalten, an ihn zu erinnern, obwohl ich tatsächlich unmittelbar niemals von ihm beeinflußt wurde. Alle meine Bewunderungen und Übereinstimmungen hindern mich natürlich nicht, überall da laut Widerspruch zu erheben, wo ich bei Hegel Denkfehler oder Beobachtungsfehler finde. Es mangelt nicht an sehr schweren. In die metaphysischen Wurzeln der Hegeischen Geschiditslehre versuchte ich einzudringen und habe sie größtenteils abgelehnt; namentlich die Konstruktion seines Weltgeistes ist unmöglich. Ihrer Verwerfung der Selbst-Verwirklichung des Geistes (Wirklichkeitslehre 198 f.) stimme ich durchaus zu. Ich sehe im Vorhinein alle solche Setzungen Hegels so an: was läßt sich von ihnen noch halten? Was kann man aus ihnen d o c h entnehmen? . . . Leipzig, den 27. August 1922 Verehrter und lieber Freund! Vielen Dank für den Brief vom 3.1 Die lange Pause in unserem Briefwechsel ist mir nun erklärt. . . . Sie sdireiben, daß Sie vieles % oder 9 / 10 fertig haben. Machen Sie also von den 9/10-Sachen einiges ganz fertig! Sie kämen ja mit Ihrer Geschichtsphilosophie gerade in die richtige Zeit! Wie groß das Interesse gerade für diese Dinge jetzt ist, läßt sich gar nicht sagen. Daß Sie auch zu Kant kommen, freut mich. Man hat immer etwas von ihm, auch wenn man widerspricht, was icli selbst allerdings von Jahr zu Jahr mehr tue. Überall (wenigstens bei den Besseren) gibt's jetzt dieses philosophische Interesse, namentlich das Kreisen um den Begriff Apriori. Anders gesagt: Wissenschaft wird auf allen Gebieten zu Philosophie. Das ist gut; es hat aber auch eine Gefahr: es lähmt die Naivität der eigentlichen Sachforsdiung, des Erforschens neuer Tatsachen, kurz die Entdeckerfreude. Und die neuen Tatsachen müssen auch sein, sonst gibt's eine neue Sdiolastik. Die Frage, ob nicht architektonisch relativ Dasselbe autogen an verschiedenen Orten entsteht, ist mir auch schon oft gekommen. Dasselbe Problem besteht phylogenetisch! . . . Ihr freundschaftlich ergebener Hans Driesch. Rehbrücke, den 26. März 1923 Lieber und verehrter Freund, . . . Ihre Ordnungslehre zweiter Faktur kommt bei mir wieder als 1

Nicht erhalten geblieben.

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Saat in eigens bereiten Boden. Sie wissen, ich habe eine große Vorliebe für dieses Ihr erstes Philosophen-Werk: es ist ebenso sehr Monument wie Ihre Wirklichkeitslehre tastendes, vorsichtiges Suchen. Zum Einzelnen, wo ich besonders beteiligt bin, zur Geschiehtslehre: was werden Sie sagen zu der Phalanx meiner so viel zahlreicheren, differenzierteren Fragestellungen? Es kann ja nicht anders sein: was bei Ihnen nur die eine, letzte Ausfaserung Ihres Gedankenwachstums ist — die Gabelung kumulativ-evolutiv (die, gleichviel ob anzunehmen oder halb anzunehmen oder nicht, von eminentestem cisagogischem Wert ist) —, ist für mich ungefähr die Zone, wo meine Fragen und meine Antwortversuche anfangen sich zu entfalten und zu spalten, spalten, spalten . . . Wieder, indem ich Ihre Ordnungslehre hier und hier, dort und dort einsehe, wird mir deutlich, ein wie Großes ich der Berührung mit Ihnen verdanke. Ihre Wirkung auf mich ist indirekt, aber um so tiefer: Sie wurden für mich der Mahner zu immer neuer Schärfung meiner an sich grundsätzlichen Begrifflichkeit, ein stets Ladender, Lockender zum Hinüberschauen in die weitesten Reiche der reinen Denkarbeit. Man könnte sagen: ,aber es gibt ja genug Philosophie!' Schon, schon; aber nur daß ein lebender, starker und mir verwandter, zu mir hinwirkender Philosoph da war, hat mich so weit bewirken können, daß ich ein Halbjahr Hegel, ein Vierteljahr Kant las, litt, annahm, befehdete, richtete, daß jetzt meine Geschichts- und meine Gesellschaftslehre beide immer kosmologischer werden. . . . In Freundschaft der Ihrige Kurt Breysig. Peking, China, den 12. Mai 1923 Verehrter und lieber Freund: Ihr Brief vom 26. März erfreut mich s e h r . . . Sie wissen, man erwartet viel von Ihnen . . . Nun bringen Sie aber wirklich bald Ihre Gedanken heraus. Ich hoffe, hoffe dringend, daß sie erheblich von meiner Evolution-Kumulation-Schematik abweichen und dadurch midi selbst weiterbringen! Ein Schema, in dem man lange lebt, wird öde für einen selbst. . . . In alter Freundschaft Ihr Hans Driesch. Rehbrücke, den 3. Januar 1925 . . . Politische Hintergedanken habe ich gar nicht; ich befehde den Kollektivismus der Sozialisten, nicht den Sozialismus. Ich stehe politisch mit Ihnen sehr weit links; nur daß mein Radikalismus liberal (Ihrer wohl sozialistisch) ist. Ich freute mich sehr über die Entschlossenheit, mit der Sie jüngst für den europäischen Gedanken eintraten.

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Gleichzeitig sende ich Ihnen ein Buch meines früheren Schülers und jetzigen Freundes Fritz Klatt. . . . Ich schätze ihn sehr hoch: er ist einer der bedeutendsten Führer der neuen radikalen Jugendbewegung. . . . In immer gleicher, immer der alten, guten Gesinnung, Ihr ganz ergebener Kurt Breysig. Rehbrücke, den 13. Januar 1925 Lieber und verehrter Freund, Ihr freundliches Erwiderungsschreiben 1 hat mich recht froh gemacht: ist es doch der erste Widerhall dieses Rufens in der Welt. D a Sie ja wissen, wie hoch ich Ihr Urteil schätze, so ermessen Sie, daß es mir eine große Bestätigung ist, wenn Sie die Richtung billigen und das Wie des Gehens loben. Ich bin, wie schließlich wohl jeder, der neue Dinge unternimmt, meinen Weg immer sehr allein gegangen; um so Leben bestätigender, Leben bestärkender empfinde ich so guten Zuspruch. Als wahrhaft freundschaftlich empfinde ich auch, daß Sie als das Wesentlichste vermerken, daß der Eisgang nun endlich begonnen hat und die starre Decke der nicht ganz vollendeten und zum Teil ja über ein Jahrzehnt zurückgehaltenen Schriften endlich ins Schwimmen kommt. Sie haben gewiß oft besorgt, es möchte dazu gar nicht kommen, oder die Dinge seien minder vollendet, als ich selbst annähme. In Wahrheit aber ist mein Arbeitstempo an sich immer das schnellste und gespannteste gewesen (einige Lebens-Pausen abgerechnet), und ich schreibe stets prima vista, so daß nachher alles stehen bleibt. Es war nur ein Zuviel des Nebeneinander-Unternehmens und der im Krieg angewöhnte Mangel an Drang des Fertigmachens, Hinausstoßens. An Arbeitsfreude, Arbeitswunsch aber war immer zu viel, nie zu wenig . . . Leipzig, den 4. April 1925 Verehrter und lieber Freund! Als ich vor etwa 10 Tagen von einer mehrwöchentlichen Reise zurückkam, fand ich Ihr Buch 2 vor, und vor ein paar Tagen kam auch Ihr Brief. Ich habe Ihr Buch gleich nach meiner Rückkehr vorgenommen und heute beendet. Vielen h e r z l i c h e n Dank für die Widmung. Jetzt, wo ich das ganze Buch kenne, ist diese Widmung eine wirklich echte Freude für mich. Denn das Buch ist geistreich, schön, klar und, was 1 Auf die Übersendung der Aushängebogen von Vom geschichtlichen W e r den I. Nicht erhalten geblieben. 2 Vom geschichtlichen Werden I: Persönlichkeit und Entwicklung (1925).

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die Hauptsache ist, wahr. Ihre Auffassung der Masse ist geradezu glänzend. Sie haben da absolut recht. Was ich mit dem „begnadeten Einzelnen" meine, das meinen auch Sie. Gestrichen wird damit auch bei Ihnen das Uberpersönliche doch wohl nicht; es äußert sich eben i n gewissen Einzelnen (vielleicht nur in kurzen Augenblicken ihres Daseins). Die Frage Evolution oder Kumulation bleibt nun freilich noch offen . . . Ich selbst bin der Evolution gegenüber skeptischer geworden als früher. Vielleicht gibt es sie (in meinem Sinne) nicht. Vielleicht bringt die Begnadung nur gewisse Seiten immer desselben Wesens zum Ausdruck. Der Begriif der Ganzheit und Überpersönlichkeit als solcher brauchte ja nicht gestört zu werden, wenn Evolution (in meinem Sinne) fällt. Sehen Sie ja, daß die weiteren Bände Ihres Werkes bald kommen. Lange Zwischenräume sind hier in jeder Beziehung ungünstig, sdion allein, weil sie oft stilistische Disharmonien, unbemerkt für den Autor, mit sich bringen. . . . Ihr alter Freund Hans Driesch

Rehbrücke, den 16. September

1925

Lieber und verehrter Freund, . . . Im Lauf der letzten Jahre bin ich mir mehr und mehr der Wesensgründe (so sag ich lieber als der Denkgründe) meiner Weltsicht bewußt geworden und hoffe, sie — so gut oder so schlecht, als ich es vermag — als die Wurzel meiner Geschiehts- wie noch mehr meiner Gesellschaftslehre einmal bloßlegen zu können. Bei Ihnen, auf dessen Urteil ich so viel gebe, muß ich mich dabei freilich gleich von Anbeginn als einen braven, tölpischen, empirisch-dummen Bauernknaben angeben. Mehr gibt's einmal nicht her. Mein Gemüt ist weltgläubig, weltfromm, und die superbia idearum ist mir ganz fern und fremd. In meiner nächsten Nähe vertritt sie aufs schärfste mein Freund Sombart, auch einer von den Einzelforschern, die der modische morbus philosophandi schwer ergriffen hat. Er ist wie Scheler stark von der Phänomenologie her beeinflußt (ohne alles ,Schauen' übrigens), nennt seine selbstgemachte Uberzeugung Noologismus und will als deren Vertreter also eine eigene Schule in der aprioristischen Kirche gründen. Dieser gehören Sie doch nun ganz sonder Zweifel auch an; trotzdem habe ich gegen Ihre Ördnungslehre — die doch im Grunde e i n Apriori (all over) ist — so gar keine Gegenempfindungen. Sehr begreiflich dann, wenn man die von Ihnen so unendlich fein zergliederten Organisationen unseres aufnehmenden Verstandes als geschichtliche, gewordene Erzeugnisse eines Jahrtausende dauernden Prozesses

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und Progresses der Gedankenwerdung ansieht, was Sie mir ja schließlich nicht verwehren können. Ich möchte fast vermuten, diese — fast apriorische — Nähe und Vertrautheit, in der ich Ihre Gedankengänge empfinde, rührt davon her, daß Sie von einer so ganz empirischen Zone herkommen. Ganz glaube ich auch — geschichtlich — zu verstehen, warum Sie als Empirist Ihren so ganz kantianischen Ausgangspunkt wählten: ,sicher nur das Denken, sicher nur, was sich im Bereich des Innenichs abspielt.' Aber mit dieser echt kantischen Anfangs-Stellungnahme erneuert sich doch auch die alte von Kant aufgerissene Kluft zwischen dem denkenden Ich und der erfahrbaren Wirklichkeit. Ich hatte, als ich Ihre Ordnungslehre am kontinuierlichsten las (vor 14 Jahren), alle diese Gesichtspunkte noch gar nicht inne und gehe nun mit größter Spannung an eine neue Lesung mit der Absicht, mich ganz eingehend in den Besitz der Methode zu setzen, nach der Sie Ihre Brücken schlagen, ganz eingehend auch die einzelnen Brücken kennenzulernen, die in Ihrem Gedanken-Reich vom reinen Denken zu den Begriffen führen, die, wie ich glauben möchte, gar nicht ohne Beihilfe der Erfahrung zu gewinnen sind, z. B. Entwicklung. . . . Gardone (Lago di Gar da), den 5. Oktober 1925 Lieber und verehrter Freund! Es ist ganz so gekommen, wie ich dachte: der Ideenkreis der eigentlichen Grundfragen der Erkenntnislehre hat mich alle die Tage nicht losgelassen. Er ist mir aber so verknüpft mit Ihrer Ordnungslehre, daß ich mich beständig mit ihr auseinandersetze. Ich schrieb Ihnen meine Fragestellung: wo macht sich bei Ihnen das Hinüberwirken der Welt auf das Denken (die Formen des Denkens) geltend? Ich finde nun, diese Frage an Sie ist unmöglich. Ihr ganzer Gedankenaufbau lehnt sie als solche ab . . . Darf ich einige meiner Gegeninstinkte hier aufreihen — alle nur auf das Instrumentarium des Denkens bezogen: I. Starrheit, Unerreichbarkeit des Erkennens gegenüber der außermenschlichen Umwelt. Schaffen Sie hier nicht die Kantische Kluft zwischen Geist und Welt und die Unerreichbarkeit des Geistes von drüben her zum andern Male? II. Starrheit, Unalterabilität gegenüber der menschlichen Umwelt. Für mich sind alle Denkformen (mit Einschluß aller Kantischen a prioris) Erzeugnisse einer in beständigem Wandel befindlichen Geschichte des Denkens, und diese Geschichte ist in jedem Einzelstück zwar Erzeugnis von Einzelnen, aber sofort sich bildendes Diapason, also Gemeingut von Gemeinschaften.

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I I I . Ignorierung des Leibes — ist er nicht eo ipso gänzlich, tausendfach abhängig von der Außenwelt, uns höchst spürbar? Der Leib ist doch nicht ein Schau-Objekt für das denkende Idi! Sie sehen — alle meine Bedenken richten sich gegen die Prämissen Ihres Gedanken-Gefüges, an dem ich das Ganze wie vieles Einzelne bewundere (den Begriff 'Mitsetzend' — die Gruppe der Urgeheimnisse — die Forderung der Denksparsamkeit) und das ich als Ganzes annehmen kann, sobald das Instrumentarium das des heutigen Denklehrers mit den und den und den geschichtlichen Gegebenheiten ist. Wogegen sich mein Empirismus am tiefsten sträubt, ist der Absolutismus des 'ewigen' Gedankens, der so ganz ungeschichtlich (unwerdensmäßig) ist . . . D a ß ich dies alles so unverhüllt Ihnen darlege, geschieht ganz aus einer Freundschaft, die auf Ihre Freundschaft vertraut. In Wirklichkeit tue ich es wie selbstverständlich — alles früheren so guten Austauschs im Wahrheitsuchen gedenkend . . . Ihr Ihnen treulich ergebener Kurt Breysig. Rehbrücke, den 28. Dezember 1925 Lieber und verehrter Freund, . . . Liegt nur erst einmal der I. Band meiner Gesellschaftslehre — und zwar gerade in den schon längst vollendeten Teilen — vor Ihnen, so werden Sie finden, daß ich auf um Siriusweiten von den Ihren entlegenen Wegen doch letztlich zu sehr ähnlichen Endergebnissen gekommen bin. Daß es geschah ohne alle Beeinflußtheit durch Ihre Thesen, vermehrt sicher den objektiv-wissenschaftlichen Wert dieser letzten Zusammentreffen. Mir aber ist es ein neuer höchst erfreulicher Beweis dafür, wie im tiefsten verwandt in einigen Grundspannungen meine Forschungsweise der Ihrigen ist. Ich glaube, es ist eine Mischung von großer geistiger Kühnheit in den Zielen und äußerster Liebe zur Einzelbegründung auf den Wegen zu ihnen, die uns gemeinsam i s t . . . . Macht es Ihnen vielleicht Freude zu hören, daß der mir hier eigens nahestehende Romanist Wechssler in seinem neuen Buch Esprit und Geist (Vergleich deutscher und französischer Geistigkeit) sehr nachdrücklich auf Ihre Philosophie des Organischen eingegangen ist? — Vorgestern sprach ich den jungen Ansorge: er gefällt mir seit langem; er ist Ihr sehr anhänglicher Schüler. . . . Leipzig, den 18. Juli 1926 Lieber und verehrter Freund! Mit der Antwort auf Ihren freundlichen Brief kann ich Ihnen nun

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heute zugleich etwas über Ihr schönes Werk 1 sagen. Ich weiß nadi erstem Lesen wenigstens in großen Zügen, was Sie wollen. Zu ihrer Marxkritik habe ich insofern nicht viel zu sagen, als ich sie schlechthin für richtig halte. Wer Ihren ersten Band billigte — wie ich es tue — , der muß ja auch diese Kritik annehmen. Die große Hegelkritik — wohl die eindringendste, weldie es gibt — hat mich aufs äußerste gefesselt. Ganz besonders bedeutsam ist an ihr für mich, daß Sie bei großer Bewunderung für den Mann — welche ich, wie Sie wissen, nicht teile, denn ich halte Hegel nicht für intellektuell gewissenhaft — doch sachlich zu ganz demselben Schluß kommen wie ich. Ihre Bewunderung verflüchtigt sich im Grunde doch zu einer bloß ästhetischen, und was, nach Ihrer Kritik, sachlich von Hegel über bleibt, ist — abgesehen von dem ,voluisse' — nichts, aber auch gar nichts. Sie erklären doch eigentlich alles für unrichtig, ganz besonders die Identifizierung der Phasen mit den Völkern (worauf es Hegel ja ganz vorwiegend ankam), ebenso die Unklarheiten des Freiheits-Begriffs, sodann das Fehlen des Dynamischen, etc. etc. Es bleibt nur Hegel als Anreger — aber war das nicht, in viel weniger prätenziöser Form, schon Herder gewesen? Ich hoffe, Ihre Hegelkritik wird dem Überhandnehmen des modernen Hegelismus einen ordentlichen Riegel vorschieben. Es täte not! O b Sie diese Wirkung nun freilich gewollt haben? Was Sie sodann über unbewußte Faktoren in der Geschichte sagen, hat midi sehr gefesselt und mußte es wohl angesichts meiner Lehre, daß das Bewußte ,Soseins-ineffektiv' ist und nur allenfalls (?) zu gegebenen Inhalten „nein" sagen kann. Hier haben Sie ein Gebiet eröffnet, an dem alle theoretischen Historiker sonst vorbeizugehen pflegen — wenigstens in Deutschland. Alles Treibende, Dynamische liegt wirklich n u r im Un- oder Unterbewußten. Aus der wahren modernen Psychologie (nicht der öden akademischen) könnten Sie hier wohl noch viel mehr herausholen. Der Begriff des Komplexes im Freudschen und im Coueschen Sinne stellt sich als Erklärungsprinzip ein, wobei natürlich nicht an eigentlich Pathologisches zu denken ist (das Pathologische ist stets nur das outrierte Normale). Wer die historischen Größen 'analysierte' — soweit das aus den Taten möglich ist — , der hätte so viel von Erklärungsmöglichkeiten in der Hand! . . . Sie haben noch viel vor. Möge Ihnen vor allem Ihre Gesundheit erhalten bleiben. Ihr alter Freund Hans Driesch. 1 Vom geschichtlichen Werden I I : Die Macht des Gedankens in der Geschichte. In Auseinandersetzung mit M a r x und mit Hegel (1926).

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Tabarz (Thür.), den 26. August 1926 Lieber und verehrter Freund, . . . Hegel gehört für mich in die Reihe der großen Imperatoren des Geistes — weit über irgend einer fachmännischen Ebene, auch der der Philosophen. So kann ich ihm die Politik, die er im Geiste treibt, nicht vorwerfen. Er war eine geistige M a c h t und handelte als solche. Sein Einfluß auf das staatlich-gesellschaftliche Geschehen war ungeheuer: allein durch den Kanal Marx, demnächst aber durch die preußische Staatsgesinnung. Ich kann wohl denken, daß Sie auch das nicht lieben; ich als Geschichtsforscher, als berufsmäßig die Menschen — die großen Menschen — Liebender, verzeichne es nur. (Selbst seine Versatilität gegen das Christentum, das er mit linder List überwältigen wollte.) Als ich an Hegel heranging, erwartete ich viel Strengeres, Logischeres von seiner Geschichtsphilosophie und hielt mich deshalb für verpflichtet zu prüfen, ob nicht von ihm zu nehmen sei. Für mich, vielleicht auch für die Geschichtswissenschaft, war solche Prüfung nötig. Mir hat er den Weg zu Kant (formal) gebahnt. Das Fehlen des Dynamischen möchte ich bei ihm aus Gründen der Entwicklungsgeschichte der Wissenschaft nicht monieren. So weit war man damals noch nicht. Selbst für mich Heutigen ist es das innerste Bollwerk der Burg der Geschichtslehre, dem ich mich auf das vorsichtigste nähere. Über das ganz oder halb Unbewußte in den geschichtlich-menschheitlichen Motivationen habe ich in dem fertiggestellten Band-Teil von Soziologie I eine zusammenhängende Gedankenfolge, der Sie, wie ich vermute, sehr zustimmen werden. Wunderlich werden Sie nur daran finden, daß ich mich, als ich ihn schrieb (1923), lang und breit einleitungsweise entschuldigte, daß ich etwas so „Außer- oder Vorwissenschaftliches" täte. Mit einiger Genugtuung aber erfüllt mich heute, daß meine historische Gesellschafts-Seelenkunde (in Bd. I der Kulturgeschichte der Neuzeit) alle geschichtliche Betrachtung und Periodenteilung aufbaut auf den unterbewußten Kräften (Trieben, insbesondere Persönlichkeitsdrang und Gemeinschaftstrieb). Damals a b e r — 1 9 0 0 — hat kein Mensch davon mit Nachdruck weiter gesprochen. Der einzige Forscher von Rang, der um diese Zeit tanti war, um derlei zu würdigen, Dilthey, wollte davon nichts wissen, während er das Grundprinzip des Stufenbaus billigte. Seltsam! . . . Rehbrücke, den 10./14. Juni 1927 Lieber und verehrter Freund: . . . Wie ich mir die für das Insgesamt der Geschichte gültige Wer-

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densform denke? — Ich glaube (beweisen kann ich es nur teilweise) allerdings an dynamische, an Werdenskräfte, die den Gesamtverlauf der Geschichte auch in seinen entscheidenden Richtungswediseln bestimmen. Doch freilich: ich sehe nur das G e w i r k t e dieser Kräfte; über ihr Wesen ist nicht viel mehr auszusagen, als sich aus dieser an sich rein deskriptiven Erkenntnis des bisherigen Geschichtsverlaufs ergibt; über ihren Ursprung noch weniger. U n d selbst dieser bescheidene Kern einer geschichtlichen Dynamik ist übel verschattet durdi den Umstand, daß unsere Kenntnis vom Geschichtsverlauf auf die kümmerlich kurzen, morphologisch im Grunde nicht ausreichenden sechs J a h r tausende, die wir allenfalls übersehen, beschränkt ist. Alles, was man heut auf diesem empirischen Weg sagen kann, ist eigentlich nur sub reservatione zu verstehen: unter dem Vorbehalt, daß diese wie jede andere Aussage über Beschaffenheit und Gesetz des geschichtlichen Geschehens sich nur auf die bisher erfahrenen Geschichtsvorgänge gründet, nicht aber mit der gleichen Sicherheit wie ein physikalisches oder auch nur ein astronomisches Gesetz ausgesprochen werden kann. . . . Sehr lieber und sehr verehrter Freund 1 , zu Ihrem Tage lassen Sie sich, so bitte ich, jedes Glück des Lebens und jeden Erfolg des Leistens von mir wünschen. Zu dem frühen Ruhm, den Sie sich als Naturforscher erwarben, hat die Mitte Ihres Lebens und eine Kette starker Werke den Kranz eines hohen Lehrers der Daseins- und Erkenntniswissenschaft gefügt. Ihr Schaffen steht in vollem Saft, Sie bescheren uns eben jetzt ein neues großes Buch — keines der Zeichen weiß von Abend und sinkender K r a f t zu melden. So leuchtend von der Stärke des Geistes und blitzend von Strahlen der Kraft, wie ich Sie auf dem Katheder sah, sehe ich Sie heut Ihren Weg zu immer neuen, immer höheren Zielen schreiten. Die Frucht meiner Forschung 2 , die ich in das Ihnen dargebrachte Gewinde Ihrer Freunde und Verehrer eingefügt habe, kommt im Verlauf der Veröffentlichungen meiner Arbeit etwas zu früh. Sie hat die Kernlehre meines III. Bandes 3 von der spiralisch gewundenen Bahn zur Voraussetzung und sucht von ihr insofern die Summe zu ziehen, als die Frage untersucht wird, ob und inwieweit das I n s g e s a m t des Werdeganges der Geschichte, so weit es bisher zu übersehen ist, als 1

Ohne Datum, zum 60. Geburtstag Drieschs am 28. Oktober 1927. Geschichtliche Dynamik, in: Festschrift zum 60. Geburtstag von Hans Driesch (1927) und in: Breysig, Gesellschaftslehre -Geschichtslehre (1958). 3 Vom geschichtlichen Werden III: Der Weg der Menschheit (1928). 2

Briefwechsel mit H a n s Driesch

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Auswirkung einer oder mehrerer Kräfte, also als ein dynamisch bedingtes Geschehen angesehen werden kann. Es ist mein alter ,Bamberger Gedanke', den ich 1912 dicht vor meiner ersten Begegnung mit Ihnen faßte und der mit Ihren biologischen Telos-Gedanken — ohne selbst teleologisch gemeint zu sein — eine so seltsam nahe Verwandtschaft hat. D a ß ich ihn jetzt aus einem Bande meines Epilog-Werkes 1 vorwegnahm und für Sie bearbeitete, ist veranlaßt worden durch Ihre Bemerkung über meine Hegel-Diskussion, daß durch sie der Mangel an dynamischer Auffassung bei Hegel erwiesen sei. So ist meine Gabe, gleichviel wie groß oder gering ihr beständiger Wert sei, jedenfalls ganz für Sie und auf Sie hin geschaffen worden. Einen General-Vorbehalt muß ich zu der Grundauffassung der Abhandlung machen: die Begriffe Sirvajug, Kraft setze ich hier nur als vorläufige, als Ersatz-Stücke ein. Denn was ich über die Problematik des Begriffs Kraft innerhalb der Physik gesagt habe, hat eher noch erhöhte Bedeutung innerhalb der Geschichte. Die objektiveren Begriffe Geschehensform, Werdensform liegen mir näher. Ich werde hierüber noch viel nachzudenken haben. In der Soziologie gebrauche ich Dynamik längst und, wie ich glaube, gefahrlos; aber da ist alles anders gelagert. In treuer und anhänglicher Gesinnung der Ihrige Kurt Breysig. Rehbrücke, den 12. Mai 1928 Lieber und verehrter Freund, . . . Seit etwa einem Jahr bin ich beschäftigt, in möglichst glühenden Nebenstunden einen Entwurf von Sittengeboten aufzuzeichnen von meinem — wie Sie denken können — ganz empirischen, fast materialistischen Standpunkt her. Doch wird er sicher erst nach Jahren ans Tageslicht kommen 2 . . . . 21. V. 28. Leipzig Lieber und verehrter Freund! Zu danken habe ich Ihnen für Ihre Karte aus Griechenland, für Ihren freundlichen Brief vom 12. d. M. und für den dritten Band Ihres großen Werkes 3 . Ich habe gestern abend das Studium des Werkes beendet und will Ihnen nun gleich ein paar Worte sagen. Besonders

1

Werden, Wachstum und Entwicklung (unvollendet).

2

Der Wille der W e l t an unserem T u n ( 1 9 4 2 ) .

3

V o m geschichtlichen Werden I I I ( 1 9 2 8 ) : Der Weg der Menschheit.

10 Brevsie, Taee

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Briefe • Gespräche

gefesselt hat mich das sehr glückliche Bild der Spirale, die Messung historischer Zeiten, der Begriff Geschwindigkeit und (wie schon früher) die große Bedeutung, die Sie dem Einzelnen zuschreiben. Mir scheint, Sie haben überall das Richtige getroffen. Sehr erfreulich berührt auch Ihre große Vorsicht: da können sehr viele ,Kulturphilosophen' — Sie, als editer Philosoph, geben sich diesen etwas protzigen N a m e n nicht! — von Ihnen lernen. Was nun die Seiten 206—212, also Ihre Stellung zu den Begriffen Evolution und Kumulation, angeht, so gebe ich Ihnen ohne weiteres zu, daß Geschichte weder mit der (evolutiven) Embryologie — falls man überhaupt von geschichtlicher Evolution reden will — noch mit einer in der N a t u r , im engeren Sinn des Wortes, aufgedeckten Kumulation, etwa der geologischen, im einzelnen verglichen werden kann. Aber meine Begriffe Evolution und Kumulation sind rein logisch gemeint, also viel weiter als ihre Anwendungen auf Embryologie resp. Geologie. U n d da meine ich nun, in diesem Sinne müsse sich geschichtliches Werden dem einen oder dem anderen, oder zum Teil dem einen, zum Teil dem anderen zuordnen lassen. Denn es handelt sich logisch um eine vollständige Disjunction und daher um ein tertium non datur. Kumulation ist, was sich aus Wirkungen zwischen Teilen verstehen läßt, Evolution, was sich nicht so verstehen läßt. Evolution ist also zunächst nur negativ definiert. Man wird dann freilich weitergehen zum Positiven und wird sagen: Nicht Teil/Teil-Wirkungen, a l s o Regulierung des Geschehens von einem Ganzen her (personaler Art in der Embryologie, überpersonaler in Phylogenie und vielleicht Geschichte). Faktisch scheinen mir nun Ihre Darlegungen sehr d a f ü r zu sprechen, daß geschichtlich alles psycho-kumulativ, d. h. aus den Wirkungen der Menschen, als Teile, auf einander verständlich ist, d a ß ich also meine (stets nur hypothetisch hingesagte!!) 'Wissenslinie' zu streichen habe. Ich habe sehr stark den Eindruck, daß auch Sie von einem überpersönlichen Ens, das, menschlich gesprochen, die Geschichte als einen großen Verlauf 'lenkt', nichts wissen wollen. Würde das stimmen, so wären wir sachlich einig. Natürlich muß nun der specifische Begriff der historischen Kumulation gründlich durchgearbeitet werden, namentlich in seinem Unterschied von der geologischen und auch der im engeren Sinn biologischen, die im Gebiet der Biologie ja neben der Evolution besteht; denken Sie an Anpassungen und ihre eventuelle Vererbung. Das zu leisten, sind Sie ja aber selbst auf bestem Wege.

Briefwechsel mit Hans Driesch

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Vielen Dank für die große Anregung, die mir Ihr Werk gab. Ihr stets freundschaftlich ergebener Hans Driesch P. S. Schelers Tod bedeutet einen großen Verlust! Er hatte noch so viel vorbereitet. Hoffentlich finden sich Manuskripte, die brauchbar sind. Rehbrücke, den 16. Juli 1936 Lieber und sehr verehrter Freund, eigentlich hatte ich Ihnen vor meinem Band 1 als Vorspruch und Geleit einen Brief schreiben wollen — um so nötiger ist, ihn jetzt zu beeilen. Sie werden beobachtet haben, daß ich mit diesem neuen ersten Menschheitsband (in keiner Zeile identisch mit dem Bd. I von 1907) eine ganz neue Reihe anfange. Im Grund ist es nur die Wiederaufnahme des etwa 1896 begonnenen Hauptwerkes, das eigentlich mein Lebenswerk werden sollte. Als solches sollte es lediglich erzählend sein. Dann hat sich die Zwischenschicht meines Lebens dazwischen geschoben, die fast durchweg der Geschichtstheorie gewidmet gewesen ist: in den Jahren 1925—1936 habe ich 12 Bände veröffentlicht, die alle in dieser Richtung gehen. Einige Sdilußbände fehlen noch. In der Hauptsache aber will ich nun — in meinem 70. Jahre — mich zur Weise meiner Frühzeit zurückwenden: zur reinen Schilderung. Das sollen 8 Bände werden, und da in der Vorform doch etwa 5 schon vorliegen, so hoffe ich, damit bei langer Lebenskraft noch durchkommen zu können. Sie werden denken, daß ich von Ihnen, dem reinen Begriffsforscher, damit denkbar weit fortrücke. Das ist auch in so weit richtig, als ich ein Bilderbuch der Weltgeschichte zu schaffen gedenke. Dennoch bleibe ich auch Ihrem Pol insofern nahe, als die Geschichte der Menschheit doch nicht nur und nicht vorzugsweise die Auf- und Auseinanderfolge der Menschheitszustände darlegen soll, sondern ebenso sehr auch die Kompaß-Rosette aller Menschheitsformen zur Erkenntnis bringen soll. Und das ist doch auch eine Begriffs-Obersicht, die im letzten Sinn ebenso sehr ein Neben- wie ein Nacheinander darbieten soll. Und da Begriff und Nebeneinander innig miteinander verbunden sind, so bilde ich mir ein, ich bin insofern Ihnen doch wieder näher. Es würde mich nun sehr froh machen, wollten Sie auf Grund meines I. Bandes mir Ihre Meinung zu dieser Grundabsicht meines Werkes mitteilen. Mein Geburtstag verlief warm und schön: wenig Menschen, aber meine nächsten und engst Verbundenen. Große Ehren: an der Fest1

10'

Geschichte der Menschheit I: Anfänge der Menschheit (1936).

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Briefe • Gespräche

schrift1 haben Planck 2 , Sombart 3 und von Dichtern Benn 4 mitgearbeitet. Dazu Klatt 5 und jüngere Folger. Eine Biographie 6 ist fertig. Wo steht Ihr Arbeiten jetzt? Ich möchte gern davon wissen. In alter Treue und Freundschaft der Ihrige

Kurt Breysig

Saßnitz, den 2. August 1936 Verehrter und lieber Freund! . . . Daß Ihr großes neues Werk auf einer ganz anderen Bahn läuft als Ihre in den letzten Jahren veröffentlichten Bücher, zeigt so recht deutlich, daß Sie beiden Seiten des wahren Gelehrten gerecht werden: der pragmatischen und der theoretischen. Beiden Seiten gerecht zu werden aber ist nötig, und zwar muß die pragmatische mit äußerster Gewissenhaftigkeit betrieben werden, soll nicht das Theoretische — wie z. B. an vielen Stellen bei Spengler — in der Luft schweben. . . . Ich selbst habe ziemlich viel zu psychologisch-metaphysischen Problemen niedergeschrieben. An Veröffentlichung denke ich aber fürs erste nicht. Gegenwärtig hat man ja nur für Rassefragen Interesse . . . Es gilt zu warten und zu hoffen. In alter Freundschaft Ihr Hans Driesch Rehbrücke, den 8. August 1936 Lieber und verehrter Freund, . . . Der Sinn meines großen Planes ist im tiefsten folgender. Ich möchte das ganze Kreisrund aller Geschichte umfassen, und ich hoffe, damit in dem Gesamtball alles menschlichen Tuns ein ähnlich volles Rund zu umschreiben wie der Philosoph. Für den Wechsel der Geschehensrichtungen habe ich das Gleichnis der Kompaßrosette. Das ist Dynamik. Ich meine aber auch statisch die Fülle aller Möglichkeiten menschlichen Wirkens. Die große Anzahl dieser Möglichkeiten muß in ihrer Gesamtsumme ein Gesamtfazit menschlichen Dichtens und Trachtens ergeben. Ob Sie in Band I Anfänge meines großen Möglichkeitenbaues sehen? . . . In alter Treue und Freundschaft der Ihrige Kurt Breysig 1 Die Festschrift, als Manuskript überreicht, ging vor der Drucklegung verloren. 2 Ursprung und Auswirkung wissenschaftlicher Ideen (Vortrag, 1933 im Verein dtsch. Ingenieure, Berlin. Physik. Abhdlg. u. Vorträge Bd. I I I [ 1 9 5 8 ] ) . 3 Unveröffentlichte Rechenschaft über die eigene forscherliche Entwicklung. 4 Zwei Gedichte: 'Du mußt dir alles geben' und 'Anemone'. 5 Breysig als Erzieher. 6 Ernst Hering: Das "Werden als Geschichte (1939).

Gespräche mit Werner Sombart

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Leipzig, den 4. September 1936 Verehrter und lieber Freund! Jetzt habe ich Zeit gefunden, Ihr großes Werk ganz durchzulesen, es zum größeren Teil genau zu lesen, und sage Ihnen gern, erstens, daß ich geradezu verblüfft bin von der Fülle Ihres Wissens; zweitens aber, daß ich, wie ich glaube, Ihre Absicht durchaus verstehe: das neue große Werk soll sozusagen eine pragmatische Illustration Ihrer Lehre von den Stufen werden. Sie arbeiten jetzt, wie ich es nennen möchte, die Typik aller Stufen sachlich, auf Grund eines ungeheuren Materials, heraus und zeigen damit ihr ontologisches Wesen, das o h n e Wechselwirkung (vgl. die Anhänge!) immer wiederkehrt. Es gibt viele biologische Analogien zu dieser Wiederkehr des Gleichen ohne Beeinflussung. Wie gespannt ich auf die folgenden Bände bin, kann ich kaum sagen. Wie gut, daß schon so vieles der Vollendung nahe ist und wohl bald erwartet werden kann. Hoffentlich stören nicht europäische Wirren, deren Kommen ich sehr befürchte, die rasche Ausgabe der nächsten Bände 1 . Dies Werk u n d Ihre Stufentheorie geben erst den ganzen Breysig! . . . Ihr alter Freund Hans Driesch

Gespräche mit Werner

Sombart

Oberscbreiberhau, den 26. August 1919 Ein Gesetz — nach Sombart — ist immer nur hypothetisch, ist nie im Sein, nur im Wissen. Empirische Gesetze seien Regeln. Ein geschichtliches Gesetz sei nur dann aufzustellen, wenn man die Ursachen der geschichtlichen Regeln sagen kann. 8. Dezember 1925 Das Hervorbrechen der Kraft des Einzelnen und das geschichtliche Gesetz: das Verhältnis zwischen beiden könnte — wie Sombarts nahekommenden Reden allenfalls andeuten — als Gegensatz empfunden werden. Dem ist entgegenzuhalten die Faktizität aller Beobachtungen, die meiner Aufstellung von Gesetzen zugrunde liegen. Die Einzelnen s i n d die Entwicklung, sie s i n d auch das Gesetz! Beispiel: Alexander, Caesar, Napoleon. Typisch ist: alle drei be1 Der II. Band der Geschichte der Menschheit erschien 1939, die aus dem hinterlassenen Material zusammengestellten drei Folgebände (bis 1900 reichend) 1955.

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Briefe • Gespräche

deuten Wegkehren, leiten große Zeitalter ein; alle drei erscheinen pünktlich an der Stelle, wo sie für diese tatsächliche Verbindung nötig sind. Unregelmäßigkeiten der Hinwendung der starken Einzelnen zu den verschiedenen Zweigen etwa des geistigen Schaffens — etwa daß im Zeitalter Dürers keine deutschen Dichter auftreten — : Frage in einem Gespräch bei Sombart. Ich antworte: dies kann nur durch die Hinwendung der noch unausgeformten Kraft nach dieser Seite der Merkwelt erklärt werden. Die Malerei war ja zu dieser Zeit die Losung der Künstlerischen. Friedrichroda, den 21. August 1927 Gespräch über Begriff und Wirklichkeit, deduciert am Werden. Ich: „Ich will die Totalität der Geschichte, meine Gegner nur Fragmente." Sombart: „Nein, die wollen Sie nicht; sondern Sie wollen an der Totalität nur das Werden, also ein Abstractum, ermitteln." Nachdem die hier zugrunde liegende Verwechslung zwischen dem e i n e n Buch Vom geschichtlichen Werden und meiner Gesamtabsicht behoben worden war, drehte sich das Gespräch doch noch weiter darum, was Werden sei: ein Abstractum (ein Begriff also) — wie Sombart wollte —, oder eine Geschehensform, ein Wirkliches, wie ich behauptete. Meine Argumente: I. Wäre ich eine Stunde der allmächtige Gott und wollte der Menschheit eine eigene Wonne des Geistigen bereiten, so verliehe ich ihr die Fähigkeit, das ganze Geschehen der Menschheit oder der Welt mit e i n e m Blick zu übersehen. Dann würde sie das Werden s e h e n . Audi würde, wenn der Blick sich darin übte, das Werden als solches (wie der rote Faden in den Tauen der englischen Marine) hervortreten. I I . Ähnlich, wenn man in kinematographischer Verkürzung das Wachstum einer Pflanze in zeitlicher Synkope sähe. I I I . Viel Irrtum entsteht hier lediglich durch die Armut der Sprache, die wie für viele andere wichtige Vorstellungen dasselbe Wort (Werden) braucht, um a) den Begriff Werden, der allerdings durch Abstraktion geschaffen ist, b) das Geschehen Werden, das ein Concretissimum ist, insofern es eine Geschehens a r t ist, zu benennen. Beide Anwendungen sind um so inniger und häufiger verbunden, als der Begriff Werden für uns die unifizierende Formel, der Griff ist für das Gefäß des Geschehens Werden. In Hinsicht auf das Gespräch sei festgestellt, daß ich annahm, daß Sombart es von Anfang an dahin treiben wollte, die Begrifflichkeit als auch meine Sehweise beherrschend zu erweisen. Dies war der

Gespräche mit Werner Sombart

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Fall, doch auch mit der Nebenabsicht, daraus dann wieder zu einem Absolutum Werden zu gelangen, um damit seinen Noologismus zu erweisen. Dies stellte er zuletzt in Abrede. Mehr: meine Deduktion beeindruckte ihn so stark, daß er Werden als Geschehen zugab. (Er gab vorher eine Unterscheidung von Universalia ante animam, in anima, post animam.) Tabarz, den 2. September 1927 Die Ideen im platonischen Sinn behaupten endgültig zu sein. Den Einwand aber, daß sie ja doch gänzlich zeitbestimmt seien, könnte man (wie ich Sombart selbst an die Hand gab) dadurch entkräften, daß man die gemachten Formulierungen herabsetzt zu Versuchen, den eigentlichen Ideen nahezukommen. Aber auch die höchste, letzte Formulierung würde doch auch nur annähernd sein, wird wieder übertrofFen werden; also aus dem relativen, historischen, zeitgeborenen Charakter kommen sie nie heraus. 30. Juli 1928 Begriff und Wirklichkeit, genauer: Ordnung der Begriffe und Ordnung der Wirklichkeit. (Ausgehend von einem Gespräch mit Sombart Winter 27/28.) Sombart: „Blatt ist ein Begriff; die Natur weiß nichts von Blättern; erst durch den menschlichen Geist wird der Begriff Blatt gefunden, d. h. Blatt als Blatt gesehen." Hier unterläuft immer wieder der alte anthropozentrische Fehler des Noologismus: der uns sinnlich erkennbare Tatbestand der Natur wird verwechselt mit den Formulierungen unseres Weltbildes. Diese treten notwendig erst nach jahrhundertelangen tastenden Versuchen und Regelungen unseres Erkennens ein, sind deshalb auch abhängig von dem jeweiligen Status unsrer Erkenntniswerkzeuge und Erkenntnisergebnisse. Aber das ist für die Tatsache der in der Natur gegebenen Blattordnungen ein verhältnismäßig gleichgültiger Sachverhalt. Die Tatsache Blatt besteht ganz unabhängig von unserem Erkennen und unserem Erkenntniswerkzeug, dem Begriff Blatt. Sombart sagt ausdrücklich: „Die Natur schafft ein wildes, wirres Meer von Tatsachen, in das wir erst Ordnung hineinbringen, unter anderem durch den Begriff Blatt, der nur .in unserm Geist, nicht in der Wirklichkeit besteht." Ich sage: „Die Natur, die Blätter in unsäglicher Vielfachheit, in unsäglich zahlreicher Multiplizität erschuf — im wesentlichen uniform, nur in einem Mindestteil verschieden (variiert) —, erzwang in uns den Begriff Blatt, ebenso, wie sie vorher von uns den Drang zu geordnetem

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Briefe • Gesprädie

Sehen erzwang durch die unendliche Häufigkeit ihrer faßlichen Geordnetheiten." Nun aber wäre es unendlich töricht anzunehmen, daß dem unsäglich geordneten Tatbestand der Natur auch nur das leiseste fortgenommen oder hinzugefügt werden könnte durch die für ihn ganz peripherischindifferente Tatsache, daß wir den Begriff Blatt geformt haben, der ja nur unser Weltbild ordnet, nicht aber die Welt selbst. Es kommt ja nicht darauf an, daß der Begriff Blatt existiert, sondern daß die Tatsache Blatt in unendlicher Vielfachheit vorkommt, mit überwiegender Einförmigkeit, mit ignorierbaren Abweidlungen. 31. Juli 1928 Gesichertheit des Weltseins und seiner Ordnungen durch die besondere Beschaffenheit unserer Empfangsorgane? I. Hier müssen wir einen großen Vorbehalt machen. Jedes rein erfahrungsmäßige Erkundenwollen der Welt, jeder Empirismus, ist von der Bedingtheit seiner Sinneswerkzeuge abhängig, ebenso wie von dem jeweiligen Status der Ausbildung seiner Denkwerkzeuge. Es muß also ein für allemal von uns der Vorbehalt gemacht werden: das Weltbild ist gleich Weltsein ± Sinnesbeschaffenheit. Also das durch unser W e l t b i l d wiedergegebene Weltsein ist abhängig von Minderungen oder Zusätzen, die durch unsere Sinneswerkzeuge an ihm vorgenommen sind. So müssen wir in allen Einzelwissenschaften vernünftigerweise den Vorbehalt machen — etwa in der Geschichte —: so und so war dieser Zusammenhang, vorausgesetzt, daß unsere heutigen Erkenntnisweisen richtig und vollständig sind — was sie sicherlich nicht sind —. Die Fatalität ist, daß wir keine erdenkliche Möglichkeit haben, auch nur die Richtung dieser Abweichungen zu erkennen. II. Das Verhältnis zwisdien dem als wirklich anzunehmenden Weltsein und unserm Weltbild. Wahrscheinlich so: ein Kreiskern ist wirklich, der Kreisgürtel rund um ihn verändert. (Das Gleichnis nicht geometrisch zu nehmen!) Analogie: gesetzt, unser Auge, nur für eine von zwölf Oktaven Strahlen empfänglich, würde auch die ultravioletten Strahlen 'sehen'; es würde unser ganzes Farbenbild von der Welt ändern. Veränderungen unseres Weltbildes in alle Zukunft hinein sind wahrscheinlich. III. Weder über die Grenzen zwischen dem Seinskern und dem Scheingürtel noch über die zukünftige Gestaltung des Seinskerns sind uns Annahmen erlaubt!

Gesprädie mit Werner Sombart

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8. März 1929

Geschichtsgesetze metaphysisch? Sombart contra me (Nach dem Soziologen-Rat). Sombart: Selbst wenn meine Gesetze als für alle Völker gültig nachgewiesen seien, hätte ich doch als Empiriker nicht das Recht, sie als Gesetze zu verkünden. D e r Grund: Ich behandele die Tatbestände dann wie Naturvorgänge, als ob man sie [nach Diltheys Unterscheidung] nur begreifen, nicht auch verstehen könne. E r verlangt also, daß die von mir unter Regeln gebrachten V o r gänge kausal, d. h. also psychologisch, begründet werden sollten. Erst dann würden sie ihre zulängliche Erklärung finden. Ich: „Wir g e s c h e h e n auch." Sombart: „Wir haben aber für jedes Handeln unsere M o t i v e . " Ich: „ J a , für die nächsten paar Schritte; wohin wir aber im Ganzen gehen, wissen wir nicht . . . Es gibt ein immanentes Vorwärtsgetriebenwerden der Geschichte, für das dies psychologische Geschehen nur Werkzeug ist."

11. März 1929 Gegen Sombart ist zu sagen: 1. D a ß Gesetz nicht Metaphysik, sondern eine erfahrungsmäßig aus dem Naturgeschehen abgeleitete Erkenntnis ist. D a ß entscheidend ist, daß die N a t u r gesetzmäßig (d. h. immer genau wiederholt) geschieht. 2. Warum ist eigentlich geboten, daß wir das Menschheitsgeschehen auf die seelische Ursache zurückzuleiten haben? Die Faktizität des Menschheitsgeschehens genügt. Weshalb sollen wir hier auch verstehen und nicht nur begreifen? Das Geschehen ist die Hauptsache, unsere Spiegelungen von ihm eine kleine Folge-Erscheinung.

26. April 1929 Gesdiiditsgesetze metaphysisch? (Debatte mit Sombart am 8 . 4 . 1 9 2 9 ) . Sombart erklärt, daß statistische Gesetze auch für die Geschichte möglich sind (rein a posteriori, also als bisher immer zutreffende R e geln des Geschehens). Von ihnen aber zu behaupten, daß sie auf einem Müssen beruhten, das sei Metaphysik. Ich: „Meine Gesetze erster Ordnung sind Regeln des bisher beobachteten Geschehens (Wachstumsregeln); die zweiter Ordnung sind mehr. Mein 'Müssen' soll nicht mehr umfassen als das: es muß geschehen, 'wie es eben geschieht'."

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Briefe • Gespräche

(Innerlich mit Protest und Schranken gegen jede Kausalitäts-Erklärung.) Über die Debatte, die mich nicht irre machte — Endophysik ist nicht Metaphysik —, ist mir aber wohl der fragende Gedanke gekommen: ist denn Gesetz überhaupt eine Fragestellung, die aus meiner eigenen Sehweise hervorgeht? Ist der Begriff nicht zu sehr von Legislation, also zu anthropozentrisch eingegeben — zu sehr von außen herangetragen? Sollte man nicht für das Müssen aller dieser Gesdiehensformen einen mittleren Begriff finden nach Art von Wachstumsregeln, aber noch höher reichend? Dies alles ist aufs schärfste durchzudenken, ehe von neuem auf eine Gesetzelehre zurückgekommen werden kann. Jede Regel ist ja schon (zwar nicht metaphysisch, wohl aber erkenntnismäßig) herausgerissenes Erkennen aus dem cohärenten, fließenden Zusammenhang jedes Geschehens.

18. Januar 1930 Gesetz in der Natur (wie in der Geschichte) ist ein Doppeltes: 1. ein nur im Geist Formiertes — was Sombart, falsch, Metaphysisches nennt — ; 2. ein immanent den Dingen Innewohnendes! Auf dies Letzte kommt alles an.

Briefwechsel mit Niels Bohr Rehbrücke bei Berlin, den 27. Dezember 1925 Hoch verehrter Herr Bohr, erlauben Sie wohl einem Forscher auf ganz anderem und scheinbar weit entferntem Gebiete, an Sie eine Frage zu richten, für deren Beantwortung er Sie für die höchste und Ausschlag gebende Instanz hält. Der Grund meiner Frage ist von rein wissenschaftlichem Ernst, die Antwort für viele meiner Gedankenreihen entscheidend. Mein Lehrauftrag an der Universität lautet auf allgemeine Geschichtswissenschaft und Gesellschaftslehre: beide Forschungszweige drängen mich beständig auf die Problemkomplexe des menschlichen Werdens, die ich das eine Mal als den genetischen Teil einer soziologischen Dynamik, das andere Mal als Geschichtslehre, d.h. als die Wissenschaft von dem Wesen und den Formen des geschichtlichen Werdens, zu behandeln habe. Für sie aber gewähren die Formen des außermensdilichen Werdens nach meinem Bedünken die wichtigsten

Briefwechsel mit Niels Bohr

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wegweisenden Fingerzeige. So wenig ich auch als Laie befugt bin, mir in Dingen der Physik ein eigenes Urteil zu bilden, so notwendig ist es mir, die gegründeten Meinungen der ersten Sachkenner über Wesen und Formen genetischer Vorgänge im anorganischen Reich zu erkunden. Als das Centrum des heutigen physikalischen Weltbildes gilt mir Ihre Lehre vom Atombau. In Ihren Schriften, von denen ich namentlich die ,Drei Aufsätze', so weit als ich es bei meinen sehr mangelhaften Vorkenntnissen vermochte, für meine Zwecke auszunützen getrachtet habe, finde ich nun immer wieder Stellen, die von dem Aufbau des Atoms, von dem Einfangen neuer Elektronen sprechen. Ich fügte diese Redewendungen, die doch unzweifelhaft eine genetische Bedeutung haben, in die erste große Sicht ein, die Mendelejeff und Lothar Meyer über die Ordnung der Elemente eröffnet haben 1 . Das periodische System ist von den beiden Forschern ja unzweifelhaft im genetisch-historischen Sinn aufgefaßt worden, und der Ausdruck periodisch doch wohl auch im Zeitsinne gewählt: als ein Stammbaum der Elemente. Ihre Lehre, von dorther gesehen, nimmt sich dann vollends wie eine höchste Bestätigung solcher genetischen Auffassung aus. Vom Wasserstoff aufsteigend als dem einfachsten zusammengesetzten Element müßte dann ein stoßweise vorschreitendes Entstehen und Sich-Erweitern der Elementen-Reihe und damit des Urgeschehens der Welt angenommen werden. Ich habe nun durch mündliche Erkundigung bei hiesigen Physikern festzustellen gesucht, ob diese meine Interpretation auch wirklich der Wissenschaft und insbesondere Ihrer Meinung entspricht. Doch wurde icii mit sehr weit von einander abweichenden Antworten beschieden: einer der Herren von der physikalisch-technischen Reichsanstalt bestätigte mir meinen Glauben; Herr Nernst aber, mit dem ich ein sehr eingehendes Gespräch hierüber hatte, sagte mir ganz das Gegenteil. Er gestand mir zwar zu, daß Mendelejeff und L. Meyer diese historisch-genetische Auffassung gehabt hätten, gab aber wenig darauf und sagte mir, indem er sich zugleich auf Ihre Meinung berief, die Ausdrücke Einfangen, Aufbau und ähnliche in Ihren Untersuchungen seien nur 'begrifflich' zu verstehen, nicht aber genetisch. Zur Unterstützung seiner Meinung verwies Herr Nernst darauf, daß man empirisch auf der Erde nur Abbau-Vorgänge beobachtet habe (Stickstoff/ Kohlenstoff, Quecksilber/Gold, Uran/Radium), ferner auf die Beschaffenheit der Meteoriten. 1 D. D. Mendelejeff; Grundlagen der Chemie (1869). Lothar Meyer; Die Natur der chemischen Elemente als Funktion ihrer Atomgewichte (1869).

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Aber hierüber sind mir wieder Bedenklichkeiten aufgestiegen: 1. Der experimentell bewirkte Abbau braucht an sich dem erdgeschichtlichen genetischen Vorgang nicht zu entsprechen. Er ist absichtlich herbeigeführt und umgreift also an sich noch nicht den natürlichen Hergang. (Wie etwa im organischen Reich der experimentell bewirkte Abbau des Eiweißes nicht an sich auf den Gedanken leiten wird, daß die organischen Verbindungen im Wege des Abbaus entstanden sind.) 2. Alle übrigen Werdensformen bewegen sich in aufsteigender Linie, in Sonderheit alle Phylogenese. 3. Sollte für den jetzigen Planeten Erde doch eine absteigende Bewegung nachzuweisen sein, so läge immer noch nahe, dieser absteigenden Kurve eine ansteigende als die zuerst grundlegende vorzulagern, beide lange Zeiträume umfassend. 4. Die kosmogonische Hypothese der Astronomen von der Entstehung der Weltkörper aus Wasserstoff-Nebeln entspricht dem Aufbau, nicht dem Abbau. 5. Wenn Ihre Lehre immerfort von Aufbau und Einfangen spricht, erweckt sie durchaus den Eindruck, als ob sie selbst von der AufbauAuffassung aus gesehen sei, und man sieht schwer, wie sie ohne grundstürzende Änderungen noch als Grundlage für eine geschichtliche Abbau-Theorie benutzt werden könnte. Es liegt wohl eine gewisse Zumutung darin, wenn ich Sie bitte, auf die unsicheren Gedankengefüge eines Laien sich zu äußern. Den Mut zu dieser Bitte aber gibt mir einmal der ernste Zweck meiner 'Neugierde', sodann aber die große Verehrung, die ich aus der elementaren Kenntnis Ihrer Lehre für ihren Urheber gefaßt habe. Ihr AtomModell scheint mir die letzte und für mein Empfinden stärkste der Umbildungen zu sein, die die Naturforschung an unserem Weltbild vorgenommen hat. Als ich sie kennenlernte, war dies eine der großen Freuden, die mir das Erkennen als solches — also ohne alle Verbindung mit eigenen, ichmäßigen Schaffensfreuden — geschenkt hat: es war die für mich erregendste und doch gewiß nachhaltigste von allen. Ich sagte schon Herrn Nernst, ich habe den einen Wunsch, daß, so lange ich lebe, an der Atom-Theorie von Niels Bohr nicht gerüttelt wird. Und er machte mich froh, als er mir sagte, das sei nicht möglidi. Von meinen Zuhörern aber bin ich die gleiche Wirkung gewohnt — immer wenn ich aus irgendwelchen Analogie-Anlässen Ihr Werk kurz umreiße, herrscht atemlose Stille. Darf ich Ihnen sagen, daß audi die Schönheit des von Ihnen geschaffenen Seins-Bildes mich auf das tiefste ergriffen hat. Innen, tief im innersten Kern aller Welt-Wirklichkeit, die Urkörper nach den-

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selben großen, erzenen Gesetzen ihre Wandelreigen abschreitend wie draußen die großen Weltkörper, die Gestirne. Wie glücklich wäre Goethe gewesen, wenn er, der immer ins Naturerkennen sich Sehnende, Drängende, mit seinen Augen noch dies Gedankenbild geschaut hätte. Sollten Sie auf Ihrer Durchreise in Berlin Aufenthalt nehmen, so wäre ich sehr dankbar, könnten Sie mir in einer kurzen Unterredung Gelegenheit geben, einige Fragen an Sie zu stellen. In größter Verehrung Ihr sehr ergebener Kurt Breysig. Kabenhavn, den 13. Januar 1926 Sehr geehrter H e r r Kollege! Ich danke Ihnen f ü r Ihren freundlichen Brief, den mir H e r r Franck nachgeschickt hat, und bitte Sie zu entschuldigen, daß es mir erst jetzt möglich gewesen ist, Ihnen zu antworten. Die Gesichtspunkte Ihres Briefes haben mich sehr interessiert. Sicherlich drängen sich beim Studium der neueren Entwicklung der Physik und Chemie Analogien zu Erscheinungen in der lebenden N a t u r auf; denn ein charakteristischer Zug dieser Entwicklung ist ja eben die Verfolgung und Deutung der tiefgehenden Verwandtschaft der Elemente, die sich in ihren Eigenschaften äußert. Gleichzeitig ist aber diese Verwandtschaft wohl in ein etwas anderes Licht gekommen, als sie in Mendelejeffs Zeit erscheinen mußte; denn nach der Entdeckung der Kernstruktur des Atoms wissen wir ja, daß kein direkter Zusammenhang zwischen den Eigenschaften zweier Elemente wie Silber und Gold besteht, in dem Sinne, daß in diesen Eigenschaften sich Stufen einer genetischen Entwicklung der Elemente abspiegeln. Denn eine solche müßte sich ja auf den A u f b a u der Atomkerne beziehen, während wir in den physikalischen und chemischen Eigenschaften der Elemente die Beschaffenheit des an den Kern angelagerten Elektronengebäudes erkennen, dessen Vorhandensein f ü r die Existenz des Kerns keine notwendige Bedingung ist. Der Gebrauch von Worten wie Entwicklung und Aufbau, von denen in den neueren Theorien so viel die Rede ist, ist wohl in erster Linie als technisches Mittel zur Aufdeckung von Analogien aufzufassen, deren Vorhandensein im Grunde auf rein geometrischer Gleichförmigkeit beruhen dürfte. Es muß aber zugestanden werden, d a ß die technischen Hilfsmittel unserer Naturbeschreibung eben durch die Quantentheorie eine Entwicklung durchgemacht haben, die immer mehr Berührungspunkte aufweist mit den begrifflichen Mitteln, die bei Beschreibung der Vorgänge in der lebenden N a t u r in dem Vordergrund stehen. Mit Rücksicht darauf, daß jede beobachtbare Eigenschaft eines Atoms in unmittelbaren Zusammenhang gebracht wird mit der

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Briefe • Gespräche

Möglichkeit der Uberführung des Atoms von einem zu einem anderen Zustand, kann man vielleicht sagen, daß die quantentheoretische Beschreibung einen genetischen Zug enthält. Ich bin aber nicht sicher, ob die letztere Analogie in dem Sinne aufzufassen ist, wie er Ihrer allgemeinen Einstellung entspricht. Mit vorzüglicher Hochachtung Ihr sehr ergebener N . Bohr

Briefwechsel und Unterredungen

mit Max Planck

Berlin-Grunewald, 25. 6. 1926 Hochverehrter Herr College! Sie haben mir durch die freundliche Zusendung Ihres neuerschienenen Werkes über das geschichtliche Werden 1 ein überaus kostbares Geschenk gemacht, und ich bin sicher, daß ich nicht einmal im Stande bin, seinen Wert voll zu würdigen. Das soll mich aber nicht hindern, Ihnen mit meinem aufrichtigsten Dank auch meine Freude darüber auszusprechen, daß Sie aus dem Gebiet der Naturwissenschaft: Material und Anregung zu Ihren Studien gewonnen haben, und, wie ich nicht zweifle, auch fernerhin gewinnen werden. Denn ich teile mit Ihnen die Überzeugung, daß es das Ziel einer jeden wirklich umfassenden Untersuchung der Wirklichkeit sein muß, die Geistes- und die Naturwissenschaft als eine Einheit zu begreifen, und weiter, daß der einzige sichere Weg zu diesem Ziel über die geschichtliche Werdenslehre geht. In vorzüglicher Hochachtung Ihr ergebenster M. Planck. Unterredung, 7. März 1926 Ich: Zuerst Einleitung. Lese von Seite 1 des Briefes von Bohr bis Seite 2 oben. Erläutere kurz mein Interesse. Planck: J a , so sieht das Bohr. Er ist sehr vorsichtig. Als ich auf sukzessive Einfangung und Bindung hinweise — das sei doch genetisch — , Planck: Gewiß — aber Bohr meint es eigentlich nicht so, sondern braucht diese Ausdrücke nur als besonders deutliche. Das Genetische interessiert Bohr gar nicht. Ich: rede vom Gegensatz zwischen Sein (Begriff) und Werden (Erfahrung, Geschehen); frage, was er, Planck, sich wohl denkt. Er hatte den Ausdruck gebraucht: 'das ist Geschmackssache'. Planck: Ich denke mir den Aufbau auch so wie Meyer und Mendelejeff 2 . Ich: Auch mit Anschluß an die Kosmogenien? Planck: J a . Ich: Die Nernstsche Idee 1 Vom geschichtlichen Werden I I : Die Macht des Gedankens in der Geschichte (1926). 2 Lothar Meyer, Die Natur der diemischen Elemente als Funktion ihrer Atomgewichte (1869). D. D. Mendelejeff, Grundlagen der Chemie (1869).

Briefwechsel und Unterredungen mit M a x Planck

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eines Abbaus ist ja unmöglich. Planck: Ja. Ich: Nähme man sie für jetzt an — daß er jetzt in Gang befindlich ist —, dann müßte man doch annehmen, daß ein Aufbau vorangegangen ist? Planck: Ja. Nernst hat sich hierüber eine eigene Theorie gebildet: er glaubt nur an Abbau. Ist der zu Ende, so erfolgt nicht rückläufig ein allmählich fortschreitender Aufbau; sondern es macht einen Sprung gleich wieder zu den schwersten Atomen, zum Uran. Es ist wie ein Kreis, der den Vorgang langsam zur Hälfte, dann aber die zweite Hälfte mit einem Sprung zurücklegt. Ich: Ja, der Kreis hat dann hinten ein Nichts. Und die Begründung? Planck: schweigt. Ich frage: wie er, Planck, sich dies denke? Planck: Langsamer Aufbau — dann langsamer Abbau bis zum Wasserstoffatom zurück. Dann (also in einem beständigen Auf und Ab — Planck macht mit dem Finger eine Wellenlinie —) wieder Aufbau. Ja, so denke ich es mir. Fest ist das natürlich nidit. Ich frage nach der Bewegtheit der Elektronen: Alle sind doch in Bewegung? Planck: Ganz absolut kann man das nicht sagen. Wenn es auf der Welt nur ein Elektron gäbe, könnte man sagen: es ruht. Sind mehrere, so kann von ihrer Bewegtheit immer nur in Hinblick auf die anderen gesprochen werden. Ich: Aber man kann sich doch einen absoluten Punkt denken? Planck: Nein. Ich (beharrend): Ich sollte doch meinen, man kann ihn denken. Planck (einräumend): Ja, denken kann man ihn schon. Aber es gibt ihn nicht in der Welt wirklich. Das ist die Relativitätsauffassung. Ich wiederhole meine Frage nach der Bewegtheit der Elektronen. Planck: Sehr wohl kann ein Elektron ruhen: wir bewegen uns mit der Erde, und das Elektron geht gerade so, daß es doch still steht. Ich: Also daß es durch seine eigene Bewegung unsere Bewegung kompensiert? Planck: Ja. Idi: Aber das ist ein Sonderfall. Im allgemeinen bewegen sich die Elektronen dodi beständig? Planck: Ja, gewiß. Alles bewegt sich um uns. Ich frage, ob Planck das Bohrsdie Atommodell annimmt. Planck: Ja, gewiß. Ich: Es ist auch so schön. Planck: Ja, schön ist es! Ich: Ganz unlösbar sind doch bestimmte Dinge: für das Coulombsche Gesetz gibt es keine Erklärung? Planck: Nein 1 . Es ist nicht einmal richtig. Für das Elektron ist es nicht richtig! Ich: Aber das Einfangen stimmt doch? Planck: Ja, das sdion, aus weiterer Entfernung. Aber innerhalb des Atoms gilt es nicht. 1 Breysigs Niederschrift vermerkt hier: „Keine Erklärung für das Coulombsche Gesetz! Also causa occulta." S. Naturgeschichte und Menschheitsgeschichte (1933) 3 9 2 — 4 0 7 : Namenlose Gewalten, 4 0 7 — 4 2 3 : Die Grenzen des Reichs der Verursachung.

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Briefe • Gespräche

Ich sprach zu Anfang von Bohrs Einwand, es käme alles auf den Kern an, der ja wichtiger ist bei der Struktur. Aber das heißt doch nur, die Sache auf eine andere Ebene hinschieben? Planck: Ja, hier ist ja eine große Ungewißheit. Ich: Wenn ein Elektron eingefangen wird, muß doch gleichzeitig etwas am Kern geschehen? Planck: Nein, sogar vorher. Erst muß der Kern eine solche Ladung haben, daß er ein Elektron mehr einfangen k a n n . Eher ist dies nicht möglich. . . . Nach einer halben Stunde, beim Abschied, ich: Sie können denken, daß ich alle diese Fragen nur aus der Distance eines großen Respektes an Sie gerichtet habe. Planck (mit abwehrender Handbewegung, zu meinem Paletot im Vestibül gehend, um ihn mir zu reichen): O, denken Sie doch, was allein in Ihrem Fach schon geleistet ist; da muß man mindestens ebenso viel Respekt haben! Ich ging sehr glücklich von dannen — über die Antwort und über den Mann: gekühlt, silbern, einfachstolze, edle Persönlichkeit. Unterredung, 2. Februar 1927 Ich: Werden rechnungsmäßig die Energien der Vorwärtsbewegung lang bewegter Körper als dauernder, befestigter, stärker angesehen? Planck: Nein. Die heutige Physik will immer nur den momentanen Zustand ins Auge fassen. Am Eisen unterscheidet man ja wohl bei einem Zustand die Genesis — aus vorher durchgemachten Zuständen. Ich: J a ; aber das ist doch ein chemischer, also viel compositerer Zustand? Planck: gibt auf meinen Einwand zu, daß man bei tieferer Einsicht in den 'momentanen' Zustand ihm eine soldie 'genetische' Bewirktheit abmerken könnte. Er braucht vom Eisen den Ausdruck: wie Erinnerung an die früheren Zustände. Ich: Ja, wie Mneme. Planck stimmt zu. Ich: Läßt sich die Einwirkung der Wiederholung einer von der Geraden abweichenden Bewegungsrichtung im Bahnlauf eines Körpers — etwa im Kreislauf — auf die weitere, festere Innehaltung dieses Kreislaufs nachweisen? Planck: Nein; hier gibt es in der Physik keinen Unterschied; was von der geradlinigen Bewegung gilt, das gilt von jeder Bewegung. Ich: Auch von Spirallinien? Planck: J a ; das Elektron macht im magnetischen Feld Spirallinien. Ich: Aber immer nur unter äußerer Einwirkung? Planck: Ja. — Ich: Ist der Kreislauf etwa von Elektronen (oder Planeten) lediglich durch Einwirkung von außen zu erklären? Durch Anziehungskraft und Zentrifugalkraft? Planck: Ja, nur. Ich: Oder gibt es eine innewohnende Kreisbewegung, analog zu Newtons geradlinigem Trägheitsgesetz? Planck: Nein! Nichts Innewohnendes.

Briefwechsel und Unterredungen mit M a x Planck

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Ich frage nach dem Begriff Energie: die Umschreibungen gehen doch lediglich von äußerem Geschehen aus? Planck: Man kann Energie nicht selbst messen. Sie kann immer nur an ihren Auswirkungen gemessen werden. Ich: Meine Definition: ein nicht apperzipierbares Innengeschehen, das die Ursache des äußeren Geschehens ist. Planck: unbestimmt zustimmend. Ich: Es ist ja nur eine Tautologie . . . Ich: Erstreckt sich das Gesetz von der Erhaltung der Kraft auch in den Bereich der elektrophysischen Erscheinungen? Planck: J a , durchaus. Ich: Ist nicht potentielle Energie nur ein Begriff der Physik der großen Körper — nicht aber der Elektrophysik? Ich: frage noch weiter: ist da nicht irgend eine Vibrationsbewegung anzunehmen? Planck: Nein. Darum hat man sich sehr viel Mühe gegeben; aber man hat nichts dergleichen gefunden. Ich frage: Wie ist es nun mit Bohrs Atommodell und den Göttingern (Heisenberg)? Planck: Wir sind da mitten in einer Umwälzung begriffen. Das Elektron ist nicht vorzustellen als ein bestimmter Punkt im Raum, sondern als Welle und mehr zusammengesetzt, wie eine Welle. Bohr ist nicht dagegen. Es bleibt von seinem Modell noch genug. Er hat sich Heisenberg nach Kopenhagen geholt. Ich: Aber alles wird minder schön. Planck: Nein, sogar noch schöner! Unterredung am 21. Juli 1932 . . . Ich (zum Schluß): Hoffentlich habe ich nicht zu dumm gefragt. Ich hatte mich sehr sorgfältig vorbereitet. Planck: Wo denken Sie hin! Wir sind froh, daß ein Philosoph sich so weit für unsere Dinge interessiert. Ich: Ich bin ja Historiker . . . Planck: Nun ja, aber doch auch schon Philosoph. Ich: Ich bin dafür, daß wir Empiriker uns die Erkenntniswerkzeuge — die Begriffe — selbst zurechtmachen. Und wenn wir es auch als Naturburschen tun, so wird es doch helfen. Ich denke, Sie haben doch auch diese Neigung? Planck: Ich versuche es ganz wie Sie. Ich: Kann das Elektron ruhen? Planck: Es kann auch ruhen, doch! Ruhe O ist exceptionell. Das Elektron wird von dem Atom vorwärtsgetrieben; ein Atom kann ruhen — etwa beim Stoß an ein anderes; es ruht auch nicht lange. Ich frage nochmals nach einem immanenten Bewegungsantrieb. Planck: Bewegung entsteht nur durch Anstoß. Es gibt keine Eigenbewegtheit. Nur von außen kommende Kräfte setzen das Elektron in Bewegung. Die Physik kennt keine immanente Bewegung. (Er winkt ab.) Also Zerstörung der Eigenbewegtheit! 11 Breysig, Tage

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Briefe • Gespräche

28. Juli 1932 Planck: Es gibt keine autogene Bewegung, keine frei dahineilenden Elektronen — aus eigener Kraft. Warum und wodurch Bewegung entstanden ist, ist kein Problem der Physik. Das kann man nicht wissen. Über die Uranfänge kann man nichts sagen — das ist nicht Aufgabe der Physik; diese will nur den bestehenden Zustand schildern. Rehbrücke, den 13. Juli 1933 Hoch verehrter Herr Geheimrat, mit der gleichen Post übersende ich Ihnen den nun endlich fertig gewordenen ersten Band 1 einer Werkereihe, die versuchen will, Ergebnisse der Naturforschung, insbesondere der Physik, f ü r meine Wissenschaft, für eine theoretisch geordnete Lehre vom Wesen und von den Formen des geschichtlichen Werdens, auszunutzen. . . . Die kühnste meiner Auslegungen, die ich die Lehre von der Eigenbewegtheit nenne, ist mir eigentümlich unbewußt aufgestiegen: ich glaubte, diese Auffassung entspräche ganz und gar den Ergebnissen der Physik. Und erst eine gelegentliche Wendung des letzten SchloßGespräches, das ich mit Ihnen haben durfte, belehrte midi darüber, daß dies durchaus nicht der Fall ist. N u n möchte ich sie aus dem im Buch angegebenen Grunde doch vorlegen: sie schließt sich mit den — ganz sicheren — Tatbeständen im biischen und menschheitlichen Reich zu faszinierend zusammen, als daß ich der Aufrechterhaltung meiner Hypothese hätte widerstehen können. War es Irrtum, so nützt vielleicht doch, daß er einmal ausgesprochen wurde. In Wiederholung meines Dankes Ihr verehrungsvoll ergebener Kurt Breysig

1

Naturgeschichte und Menschheitsgeschichte.

ERDGEDANKEN

5. März 1917. Leben wir unser Leben zu wenig im Längsschnitt, zu wenig geschichtlich, so daß wir seine Gradation verkennen? Es entstehen so fortwährende Selbstwidersprüche: Änderungen der Gesinnung, der Haltung, dabei aber die Selbsttäuschung, alles sei beim alten, oder man habe alles schon von je gewußt. Vom Pole Leben her aber kann man einwenden: das Leben hat größeres Recht als jeder Längsschnitt, jeder Rückblick; es steht im Widerspruch zu ihm. Die Stunde, der Augenblick ist wesentlich im Leben des Einzelnen wie der Völker. Eine recht fragwürdige Folgerung für die Funktion der Geschidite im Leben ergibt sich: die Schäden des Historismus. Bei Völkern und Einzelnen ist das Alter am meisten historisch — und sittenrichterlidi — belastet. 15. Januar 1922. Mneme 1 : eine unbewußte Erinnerung an alles N a turgeschehen kreist uns in Blut und Wesen. Auch das Herrschertum der großen Könige oder Michelangelos oder Shakespeares Gewalt kreist uns Heutigen in Blut und Wesen. 23. Mai 1925. Der Tod ist das Erbe des Menschen vom organischen Reich her. Das Leben ist — schon für Pflanze und Tier —, gesehen vom anorganischen Dasein aus, nur eine zeitlich begrenzte Ausnahmeerscheinung. Alle Sauerstofferscheinungen sind ein Aufbrausen, Aufschäumen. Bestimmten Einzelkomplexen erlaubt das anorganische Dasein dies Abenteuer des Lebens. Aber nur unter der Bedingung, sie nadi Ablauf ihrer erst auf-, dann absteigenden Kurve wieder an sich und in sich zu ziehen — wenigstens die Individuen; nidit die Arten: Sexus und Filiation sind Pforten zum Entrinnen. Der Unsterblidikeitsgedanke — als Seelenehrgeiz begreiflich — ist die Verkennung dieses Grundverhältnisses und eine Versündigung am tiefen Weltgeschehen. Nur die Gewalten des Weltgeschehens selber haben diese Unsterblichkeit. März 1926. Wenn Individualisation (der Tätigkeit) und Unterschiedenheit (des Baues) die beständig zunehmende Tendenz der Entwick1

Richard Semon, Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wedjsel des organischen Lebens (1904).

166

Erdgedanken

lung durch Welt- und Menschheitsgeschichte hindurch ist, so ist die höchst besondere, d. h. die ganz genialische Persönlichkeit der höchste Gipfel. 25. Juli 1926. Vertrauen in die Einheit der Welt: dieses Vertrauen ist dem Einheitszwang des Hegeischen Geist-Monismus um ebensoviel überlegen wie dieser den Monotheismen, die ja ihrerseits eine Form formaler Vereinheitlichung des Weltbildes sind. 17. März 1927. Es ist ein Beweis gegen die Wichtigkeit des individuellen Todes, daß gerade die Stärksten, die Schöpferischen, über die vor ihnen liegenden Jahre wegeilen, der Vollendung ihres Werkes entgegen — nicht achtend, daß diese zugleich auch das Ende ihres Lebens bedeutet. Auch ist es ein Beweis für die Übermacht des Weltwillens in uns, daß die Schöpferischen so oft die Sache wollen müssen gegen ihr Interesse — aus ihrem Es. 1929. Geschieh! Das heißt Wirken. Werden kommt von sich. 31. Mai 1930. Aus dem Anblick des Weltgeschehens, der unabänderlich rastlosen Bewegtheit der Einzelteilträger des Weltgeschehens, ergibt sich, übersetzt in ein auf uns selbst bezogenes Sittengebot, das Gebot, zu schaffen, zu wirken, uns hierfür stark zu halten; zugleich aber die Beruhigung, daß wir, wenn wir dies in der uns möglichen Stärke erfüllen, der einzigen Pflicht genügen, die es gibt, der Pflicht gegen den Willen der Welt. Auch dein bewußtes Handeln ist dem Gesetz der Welt unterworfen. Du weißt es nicht und vollziehst — es nicht wissend — doch sie im wissenden, wollenden Handeln. Ob das Tun in das Geschehen übergreifen kann? Frage aller Fragen, der keine Antwort zu finden ist. 25. Dezember 1932. Nimm Richte und Weisung für dein Wirken und, wenn du es vermagst, für dein Schaffen nicht von den Folgerungen und Schlüssen deines Ichs, sondern von den dunkleren Stimmen deines Es. So wirst du nicht den Berechnungen deines Verstandes noch den Geboten Anderer folgen. So wirst du den Willen der Welt an deinem Tun erfüllen. So wirst du ausschöpfen, was von deinem Sein gewachsen, was von deinem Können echt ist. 11. August 1933 Mich berührt tief, daß Nicolai Hartmann Anstoß nimmt an meiner Anwendung des Begriffs Vernunft auf das Weltgeschehen1. Sollte hier 1 Naturgeschichte und Menschheitsgeschichte Weltgeschehen, S. 3 9 — 7 6 .

(1933):

Die Vernunft

im

Erdgedanken

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nicht wie so oft die Wortarmut unserer Wissenschaftssprache Schuld sein an dem Entstehen von Mißverständnissen? Versteht man als Vernunft die Fähigkeit, ein Geschehen zu spiegeln und dann zu ordnen oder gar ein eigenes Handeln geordnet einzurichten, so hat die Welt selbstverständlich keine Vernunft. (Dieser Irrtum wird abgewehrt S. 43 u.) Wird aber Vernunft auch die Eigenschaft eines Geschehens dann genannt, wenn es in sich den Regeln entspricht, die wir als unserer Vernunft gemäß vernünftig nennen, dann hat die Welt Vernunft, insofern ihr Geschehen diesen von unserer Vernunft gefundenen Regeln entspricht. Man könnte sagen, die Welt hat keine (Menschen-) Vernunft, aber sie geschieht vernünftig. D a ß aber das Geschehen der Welt diesen Regeln unserer Vernunft gemäß ist, wen dürfte es wundern, da alle diese ordnerischen Regeln der (Menschen-) Vernunft von den Wirklichkeits-Regeln des Weltgeschehens abgeleitet sind und desto richtiger sind, je näher sie ihnen kommen. U m so nachdrücklicher ist, dünkt mich, bei K a n t und Anderen der Anspruch des menschlichen Geistes abzulehnen, ein maßgebliches Urteil über Vernunft oder Unvernunft des Weltgeschehens abzugeben oder gar zu behaupten, daß die Ordnungen des Weltgeschehens erst von ihm in dieses hineingesehen seien. 11.113. Dezember 1933 Mein Verhältnis zur Welt als Sein Als einen der dringlichsten Anlässe, die mich zur Abfassung der Erinnerungen aus meinen Tagen und Träumen antrieben, muß ich die Gedankenfolge betrachten, der die nächsten Blätter nachgehen sollen. Es ist so schwer, auch ein verhältnismäßig geschlossenes und folgerichtiges Leben, wie das mir beschiedene, in seiner inneren Einheit zu erfassen. Nicht so sehr, weil diese Einheit — vornehmlich gegen den Schluß der Bahn — sich nicht als Dominante zur Geltung brächte, als weil die Anfänge an sich dunkler und oft sich im Unbewußten verlierende sind. Ich will sprechen von meinem Verhältnis zum Sein der Welt, von der Herrschaft ihrer Wirklichkeit über mein Denken. Ich will Zeugnis d a f ü r ablegen, d a ß es in der Gestalt, wie es mich von den Anfängen einer ersten Aufhellung meiner Stellung zur Welt an begleitet hat, nur seine letzte Entfaltung in den Werken meiner Reifezeit, in Sonderheit in dem Buch von Naturgeschichte und Menschheitsgeschichte fand. Es war gewiß nicht eine ausgebildete Sicht auf Welt und Wirklichkeit, mit der ich begann; aber die Richtung, in der ich mich damals tastend vorwärtsbewegte, war die gleiche, die mich später zu meinem Ziel führte.

168

Erdgedanken

In meinen Jugendjahren wandte ich mich sehr früh der Geschichte zu. In meinen Studienjahren folgte ich, getreu den Weisungen meiner Universitätslehrer, der vorgeschriebenen Bahn der Vorbereitung und der ersten Anfänge eigenen Forschens. Anregungen von der Philosophie her wurden mir nicht zu Teil; auch religiöse Widersprüche bedrängten mich nicht. Aber vielleicht darf ich in der naiven, vollkommenen Hingabe an eine so mit Realität gefüllte Wissenschaft wie die Geschichte einen ersten, starken Beweis der Hingabe an die Wirklichkeit schlechthin erkennen. Keine Welt hinter der Welt der lebendigen Menschheit beunruhigte mich. Der erste Philosoph, der an und in midi drang, Nietzsche, war mir wie eine Bestätigung meiner schrankenlosen Gläubigkeit an die Welt und ihre Wirklichkeit, aber nur eine solche, nicht etwa das Fundament, auf dem ich mir eine Weltanschauung erbaut hätte. Zwei Enthusiasmen haben midi in den Jahren nach 1892 und nach 1899 ergriffen: der für Nietzsches Verkündung und der für Georges Dichtung, und sie stehen beide in einem gewissen Gegensatz zu jener naiven Weltgläubigkeit, die meinem Wesen und meiner Forschergesinnung entsprach. Nicht eigentlich um eines Was der Weltanschauung willen, das ja bei Nietzsche und bei George sich in irgend einem für mich fühlbaren Sinne nicht als Gegensatz geltend machte, sondern insofern das Wie der geistigen Form bei Nietzsche, der künstlerischen bei George in einer Art von Widerspruch zu meiner gelassenen und wenn man will gläubigen Hingabe an Welt und Wirklichkeit stand; denn es war ja beide Male ein Geschehen von äußerster Leidenschaftlichkeit und von letzter Ichmäßigkeit, für das ich mich einsetzte. Nun war, wenn ich recht sehe, in meinem forscherlichen Wollen immer ein Doppeltes mächtig: eine große liebende Hingegebenheit an den erwählten Stoff, ein Erfassenwollen der gegebenen Wirklichkeit, das sich nie anders als an einer universalen Umspannung des Ganzen ersättigen wollte und konnte, sodann aber ein ebenso starker Drang, dieser Stoffmassen Herr zu werden durch ein gleichmäßig verfolgtes Aufbauen von teilenden und zusammenzwingenden Ordnungen. Diese Mischung war mein Besitz von Anbeginn; sie ist durch keinen von außen kommenden Einfluß bedingt und geändert worden. So waren denn diese beiden an sich sehr erregten Anteilnahmen für midi Ereignisse des genießenden Lebens, nicht aber solche, die die Grundlinien meiner Geistesrichtung hätten ändern können. Da, wo mir der Anlaß dazu gegeben schien, habe idi selbst in den Dingen der Gesellschaftsanschauung — also einem Was von weit geringerer Bedeutung als das Wie der Geistigkeit — gewisse Abweichungen zum Ausdruck gebracht. So, als ich in meiner Rede an Nietzsches Toten-

Erdgedanken

169

bahre erklärte, daß ich zum Lügner an dieser Stelle werden würde, wollte ich nicht bekennen, daß ich in meiner Meinung von dem Verhalten zu den Niederen und Bedrückten ganz anderen Sinnes sei als der Tote. Es sollte noch lange dauern, bis mich mein Weg dazu führte, mein Verhältnis zu Welt und Wirklichkeit zu einem wissenschaftlichen Bekenntnis auszuformen; aber es hat sich in der Zwischenzeit nicht verändert. Und ich darf sagen, das jene naive Daseinsgläubigkeit, von der ich als meinem Ausgangspunkt sprach, mich bis zu der Ausprägung dieses forscherlichen Bekennertums und bis auf den heutigen Tag beherrscht hat. D a ß mich diese Gesinnung jeder Form von Metaphysik entfremdete, war nicht zu vermeiden. Und ich kann nicht leugnen, daß in einzelnen Fällen, wie in meinem Verhältnis zu Kants Transzendentaler Ästhetik, sich diese Fremdheit zu heftiger Abneigung steigerte. Aber ich glaube, dort, wo meine Pflicht als Geschichtsforscher es von mir forderte, ein volles Maß gerechter Würdigung nicht verabsäumt zu haben, und ich habe dann, wenn ich auf eine Geistigkeit traf, die liebenden Wirklichkeitssinn mit der Einbildungskraft einer völlig frei bauenden Daseinslehre verband — wie bei Hegel — mit Begeisterung midi ihr hingeben können. 1936, bei Gelegenheit von Gottfried Benns Gedicht „Das Ganze". Das Abgründig-Tiefe, Ungewisse, kämpft gegen alle Präzisiertheiten der Oberfläche und der allzu genauen Genauigkeiten. Alle Wissenschaft, die nur nach diesen beurteilt würde, würde falsch gesehen werden. Nicht bloß Herder oder Hegel, auch schon Moser haben Untergründigkeiten, die erst ihr wahres Wesen enthalten. Indem ich mein Schreiben betrachte, möchte ich, daß man auch dieses nach solchen Untergründigkeiten durchforsche. Man wird sie finden — auch außerhalb meines Buches vom Willen der Welt.

NACHBERICHT

Dies Budi enthält eine Auswahl aus der großen Menge dessen, was an authentischen Äußerungen Breysigs über sein Forscherleben vorhanden ist. Der gesamte schriftliche Nachlaß soll später an die Bibliothek der Freien Universität Berlin (Dahlem) übergehen, auch meine Aufzeichnung eines Bildes des Menschen Kurt Breysig, wie er in seinen Wesensgegebenheiten und Lebensverflechtungen mir vor Augen steht. Die Universitätsbibliothek bewahrt jetzt schon einige Kisten mit unbearbeitetem Nachlaßmaterial. Der hier vorgelegte Band verdankt seine Entstehung dem Berliner Philosophiehistoriker Michael Landmann. Er gab nicht nur die entscheidende Anregung zum Aufbau des Buches aus Selbstzeugnissen, sondern er war auch ein stets bereiter Erwäger und Bestimmer der Einzelausführung. Die Niederschrift der Autobiographie trägt als frühestes Datum über dem Stück Stefan George 1 die Eintragung: „Grunewald, November 1933, in Tagen noch schwerer Krankheit." Die zweite Eintragung: Mein Verhältnis zur Welt als Sein (11./13. Dezember 1933)2 nennt im Text den Titel des Werkes, der auf ein Blatt von 1910 zurückgreift: „Aus meinen Tagen — guter Titel für meinen Lebensbericht, oder: Aus meinen Tagen und Träumen." Die späteste Eintragung — hier Das Lehramt überschrieben3 — ist datiert vom 4. März 1939. Den Titel Bildnisse entnahmen wir einem Umschlag von 1933: Bildnisse der Autobiographie, den Titel der späten Lebensrechenschaften einem Blatt von 1898: „Erdgedanken. Unter diesem Titel am Schluß des Lebens alles zusammenzufassen." Auch der Untertitel des Bandes geht auf ein Blatt Breysigs zurück: „ . . . Tagebücher, Memoiren, Briefwechsel zu publizieren" — damals (1913) im Sinne einer durch die Gesamtgeschichte hindurch zu verfolgenden Geschichte der Persönlich-

1 S. o. 65 ff. Im ganzen Bande stammen, wenn nicht anders vermerkt, die Anmerkungen von den Herausgebern. 2 S. o. 167 ff. 3 S. o. 36 ff.

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Nachbericht

keit geplant, zu der doch auch diese Veröffentlichung ein Beitrag sein möchte. Die Handschrift der Autobiographie wurde mit einigen Kürzungen wiedergegeben; Polemisches wurde ausgemerzt entsprechend der ganzen Haltung Breysigs in seinen späteren Jahren und einem früh einmal vermerkten: „Alles Polemische weglassen. Wozu?" Es schien uns gerechtfertigt, das Bekenntnis zu dem damals noch fast ungekannten Nietzsche unter die Bildnisse einzureihen; es ist aus dem am 27. August 1900 an der Bahre Nietzsches gesprochenen Nachruf entnommen. Von dem Briefwechsel mit Driesch konnte nur ein Auszug gegeben werden; es sind insgesamt etwa hundert Briefe vorhanden. Eines der sehr vielen ,rangierten Gespräche' mit Sombart — schon beim Hören als besonders charakteristisch empfunden — schwebt mir im Wortlaut vor. Sombart begann es mit der These: „Unter wissenschaftlicher Bearbeitung eines Themas verstehe ich erstens die Kenntnisnahme von allem, was über den Gegenstand schon gesagt ist; zweitens die Auseinandersetzung mit den Vorgängern; drittens den eigenen Beitrag zum Thema." Breysigs ruhevolle Antwort war: „Mein Teuerster, Sie wissen, daß das nicht meine Auffassung ist. Mein wissenschaftliches Tun besteht darin, daß ich, was mir zu sagen aufgetragen ist, nach Möglichkeit unkontaminiert von fremdem Gedankengut bewahre und zum Ausdruck bringe." Der Gegensatz war hier so klar und zugleich lebensmäßig so tief begründet, daß nach einem „Ja " ohne alle Sombartsche Schärfe der Gegenstand fallengelassen wurde. Der Abschnitt Erdgedanken enthält späte Lebensrechenschaften Breysigs, wie sie ,im Laufe der Zeit nicht ad hoc, sondern in ruhigem Wachstum der Gedanken' aufgezeichnet sind in den Vorbereitungs- und Entstehungsjahren des 1942 posthum erschienenen Buches Der Wille der Welt an unserem Tun. Die Physiker-Briefwechsel und -Unterredungen sind Zeugnisse von Gedanken, die Kurt Breysig als einen Gipfel seines Forscherlebens empfand: seiner Lehre von der Eigenbewegtheit 1 . Eine erste Fassung des Gedankens lautet auf einem Blatt von 1922: ,Eigenbewegtheit als durch die drei Reiche gehendes Prinzip zu sichern. Im Anorganischen: Bewegung und Wandel. Im Leben: Wachstum (inklusive Fortpflanzung) und Abspaltung neuer Arten, das heißt neuer Wachstumsformen. In der Menschheit: Wirken und Abspaltung neuer Wirkensformen. Wie ein kontinuierlicher Strom des Bewegtseins geht dieser Stammbaum 1

Naturgeschichte und Menschheitsgeschichte (1933) 246—345.

Nachbericht

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von Bewegtheiten ohne Unterbrechung durch die Welt als Bewegung und Bewegungserneuerung.' Daß Geschichte geschehe, daß ein ununterbrochener Strom von Geschehen und von Entwicklung neuer Geschehensformen durch die Geschichte der Menschheit fließe, dies nannte Breysig das eigentliche Wunder der Geschichte, das sich unterhalb der kausal bedingten Einzelereignisse begebe. Diese eigene Urbewegtheit der Menschheitsgeschichte sah er als die — sich auf neuer Formenebene vollziehende — Fortführung einer durch die Formenebene des Organischen hindurch sich fortpflanzenden spontanen, d. h. nicht von außen verursachten Eigenbewegtheit der anorganischen Welt und ihrer innersten Körper. Auf die den Unterredungen mit Planck zugrundliegende Frage Breysigs: Rechnet die Physik mit dem Faktor einer unverursachten, den Urkörpern innewohnenden Selbstbewegtheit? konnte es 1927 und 1932 nur die Antwort Plancks geben: „Nein; ein solcher Faktor ist in keine unserer Berechnungen einbezogen." Die zweite Frage: „Herrscht der Gedanke der Verursachtheit, der Kausalität, auf dem gesamten Gebiet der Physik?" wurde damals noch von Planck mit „ J a " beantwortet. Aber schon wenige Jahre später, 1935, muß sich Planck mit Physikern auseinandersetzen, die sich veranlaßt sahen (heißt es in einem Vortrag Plancks), „die Frage nach der Kausalität der einzelnen Ereignisse auf dem Gebiete der Atomphysik für physikalisch sinnlos zu erklären"; Planck selber bestätigt „ein Zeichen für das Walten einer neuartigen Gesetzlichkeit für jede elementare Konstante — jede absolut gegebene Größe" 1 . Darf man also sagen, daß die Antworten der großen Physiker in den Jahren 1925 bis 1932 auf die ihnen von Breysig gestellten Fragen — so fern diese den eigentlichen Problemstellungen der Physik sein mochten — doch ein Zeitdokument auch in der Geschichte des physikalischen Denkens sind? Es gibt Grenzen der Gewährungen des Lebens. Was Kurt Breysig an Bestätigung seiner Werdenssicht von Seiten der Physik vergebens erhofft hatte, das lag — ihm unbekannt, zum großen Teil nur in Abschriften verbreitet — in jenen Jahren schon vor in den ganz vom Entwicklungsgedanken durchwalteten Forschungsergebnissen des Biologen und Paläontologen Pierre Teilhard de Chardin. Zwar die Teilhards umfassende empirische Forschung überbauende Vision von einem Endziel der kosmischen und innerhalb ihrer der menschheitlichen Entwicklung ist der Breysigschen Vorstellung einer weder ziel- noch 1 Planck, D i e Physik im K a m p f um die Weltanschauung ( V o r t r ä g e und Erinnerungen [1949] 292).

176

Nadibericht

zweckbestimmten, aus sich selbst und nach innewohnenden Gesetzen geschehenden Welt- und Menschheitsgeschichte ganz fremd und fern. Aber es ist kaum möglich, die Absicht von Breysigs Werk Naturgeschichte und Menschheitsgeschichte klarer zu umschreiben, als es durch Teilhards Forderung geschieht, daß die Anthropologie endlich nicht mehr dem Menschen als vereinzeltem, isoliertem Beobachtungsgegenstand frontal begegnen möge (wenn nicht gar per descensum von philosophischen oder Gefühlsstandpunkten her), sondern per ascensum, vom kleinsten Teil der Materie aus, und daß sie in dem natürlichen genetischen Verlauf dessen, was wir heute Entwicklung nennen, eine Verbindung notwendig energetischer Natur erkennen möge, welche den von unten nach oben gerichteten fließenden Zusammenhang zwischen dem physikalischen Phänomen und dem menschlichen Phänomen hervorlockt 1 . Hier spricht das gleiche Verlangen nach Einheitlichkeit des Weltbildes, das Planck in seinem ersten Schreiben an Breysig sagen ließ: „Ich teile mit Ihnen die Überzeugung, daß es das Ziel einer jeden wirklich umfassenden Untersuchung der Wirklichkeit sein muß, die Geistes- und die Naturwissenschaft als eine Einheit zu begreifen, und weiter, daß der einzige sichere Weg zu diesem Ziel über die geschichtliche Werdenslehre geht" 2 , das gleiche Einheitsverlangen, das Breysigs Geschichtslehre zu einer Lehre vom menschheitlichen Werden als Teil des kosmischen Werdens erweiterte. Berlin-Charlottenburg, Oktober 1961

1 2

Gertrud Breysig

P. Teilhard de Chardin, Oeuvres I I I : L a vision du passe (1957) 365. S . o . 158.

ANHÄNGE

KURT BREYSIGS F O R S C H U N G E N U N D VORLESUNGEN • TEIL II 1 Der Werkbericht über seine Jahre 1928—1939 und die Veröffentlichungen aus dem Nachlaß 1940—1961. Nachweis der Literatur über Kurt Breysig. Bearbeitet von Friedrich Schilling

Vorbemerkung Die Anordnung folgt der Anlage des Teiles I (im Folgenden zitiert: Werkbericht I, s. unten F 23). Hinzugefügt worden ist als Abschnitt F ein N a d i weis der Literatur über Kurt Breysig. D a die älteren Handexemplare von Teil I, die Kurt Breysig selbst, Frau Gertrud Breysig und der Bearbeiter ergänzt hatten, im Kriege verlorengegangen sind, enthält die nachfolgende Bibliographie nur Vereinzeltes zur Korrektur von Teil I.

A. Schriften

I.

GESCHICHTE

DER

GESCHICHTSSCHREIBUNG

UND

GESCHICHTSWISSENSCHAFT

1]

Ein Besuch bei Jacob Burckhardt (Tagebuchaufzeichnung 1896. Vorveröffentlichung aus: Aus meinen Tagen und Träumen S. 78—80). — Die T a t (Beilage Die literarische T a t , hrsg. von Max Rydiner), J g . 26 v. 21. 1. 1961.

2]

Ernst Haeckel. Personalartikel in: Encyclopaedia of the Social Sciences. Bd. V I I / V I I I (New York 1932) S. 240 f.

3]

Mein Verhältnis zur 'Welt als Sein. 1933. (VorVeröffentlichung aus: Aus meinen Tagen und Träumen. S. 167 ff.). — Die T a t . J g . 26 vom 21. 1. 1961.

4]

Die Meister der entwickelnden Geschichtsforschung. Breslau (Berlin) 1936. X I X , 267 S. (Vom Sein und Erkennen geschichtlicher Dinge. 2.)

5]

Gestaltungen des Entwicklungsgedankens. Berlin 1940. X V I , 223 S. (Vom Sein und Erkennen geschichtlicher Dinge. 3.)

6]

Das neue Geschichtsbild im Sinne der entwickelnden Geschichtsforschung. Berlin 1944. X V , 230 S. (Vom Sein und Erkennen geschichtlicher Dinge. 4.)

1

12

Nachweis von Teil I des Werkberichts: s. unten Abschn. F 2 3 . Breysig, T a g e

Anhänge

180 II.

FORSCHUNGSLEHRE

7]

Aufgaben und Möglichkeiten des Geschichtsunterrichts. Gekürzter Neudruck der Abhandlung von 1926: Werkbericht I A 2 2 . — Geschichtsunterricht in unserer Zeit. Grundfragen und Methoden. Hrsg. von der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Lehrerverbände. Braunschweig 1951. S. 16 bis 28.

8]

Das geistige Schaffen als Gegenstand der Gesellschaftslehre. Vortrag auf dem 7. Deutschen Soziologentag in Berlin 1929. (Schriften der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Berlin [ 1 9 3 1 ] : Verhandlungen des 7. Deutschen Soziologentages. Aufgenommen in Nr. 28, S. 9—17.)

9]

Der Aufbau der Persönlichkeit von Kant, aufgezeigt an seinem Werke. Ein Versuch der Seelenkunde des Gelehrten. Stuttgart 1931 1 . X I I , 142 S. (Forschungen zur Geschichts- und Gesellschaftslehre. 3.) III.

GESCHICHTSDARSTELLUNG

Einzelforschung 1. B r a n d e n b u r g i s c h - p r e u ß i s c h e

Geschichte

Nachtragsbemerkung zu Werkbericht I: Der Große Kurfürst und der Adel. Antrittsvorlesung 1892. Beilage Nr. 252 zur Allgemeinen Zeitung v. 27. 10. 1892 (Nr. 299) S. 1—5 (so zu berichtigen die Angabe in: Werkbericht I A Abschn. I I I 1 Nr. 29 a). Allgemeine

und vergleichende

2. G e s c h i c h t e 10]

3.

Geschichtsforschung

des S t a a t e s

(Europa)

Die Abenteuer der Staatskunst. (Zur Vorgeschichte des Kriegsausbruches von 1914.) I n : Vom deutschen Geist und seiner Wesensart. Stuttgart 1932. S. 159—214 (s. unten Nr. 18). Im Berliner Lizenzdruck (s. unten Nr. 19) ist dieser Abschnitt fortgelassen. Geschichte

der

Kunst

11]

Geleitwort zu dem W e r k : Der Bronzeleuchter von Sankt Marien zu Frankfurt an der Oder. Aufgenommen und in Lichtbildabzügen herausgegeben von Rudolf Grunemann. Frankfurt a. d. Oder (1929). S. 2. 12] Mystik und Kunst in der deutschen Gegenwart. — Der Literarischen Welt neue Folge und Die Große Obersicht. Jg. 14 (Berlin 1938) S. 11 bis 18.

4.

Vergleichende

europäische

und

Menschheitsge-

schichte 13]

Die Geschichte der Menschheit. Bd. 1. 2. Breslau (Berlin) 1936 u. 1939. 1: Die Anfänge der Menschheit. X V , 440 S.

1

Nicht „1929", wie in A 28 S. 163 Anm. 1 und S. 230 angegeben.

Bibliographie

181

2 : Völker ewiger Urzeit. X I I I , 374 S. Buch I und I I dieses Bandes bilden die umgearbeitete und verkürzte 2. Aufl. des 1. Bandes der „Geschichte der Menschheit " von 1907 (Werkbericht I A 72). 14] Die Ausbreitung des Europäertums. Eckart. Hrsg. von Kurt Ihlenfeld und Heinz Flügel. Jg. 21, 1951/52. S. 169—173. 15] Die Geschichte der Menschheit. Mit einem Vorwort von Arnold J . Toynbee (hrsg. von Gertrud Breysig). Bd. 1—5. Berlin 1955. 1: Die Anfänge der Menschheit. 2., im T e x t unveränd. Aufl. der Ausgabe von 1936. X V I I , 440 S. 2 : Völker ewiger Urzeit. 2., im T e x t unveränd. Aufl. der Ausgabe von 1939. X V , 374 S. 3: Frühe Hochkulturen. X V I , 303 S. 4 : Jugend der germanisch-romanischen Völker. X I , 261 S. 5 : Herrschaft der Könige. Herrschaft der Völker. X V , 289 S. IV.

GESELLSCHAFTSGESCHICHTE

Nach 1908 nicht monographisch fortgesetzt. V.

SEELENGESCHICHTE

16]

Die deutsche Sehnsucht nach dem Götterbild der Antike. Velhagen und Klasings Monatshefte. Jg. 4 (1928) S. 374. 17] Die Geschichte der Seele im Werdegang der Menschheit. Breslau (Berlin) 1931. X X X V I I , 526 S. 18] Vom deutschen Geist und seiner Wesensart. Stuttgart 1932. 290 S. 19] Vom deutschen Geist und seiner Wesensart. (Lizenzausgabe der Deutschen Buchgemeinschaft.) Berlin o. J . 295 S. Um S. 159—214 der Originalauflage verkürzte Ausgabe (s. oben Nr. 10). VI.

GESELLSCHAFTSLEHRE

Nachtragsbemerkung

zu Werkbericht

UND

GESELLSCHAFTSSEELENKUNDE

1 A Nr.

100

Einheit als Geschehen: aufgenommen in Nr. 28 S. 35—54. 20] Gesellschaftslehre. 1: Mechanik: Bau und Werden der Gesellschaft. Größtenteils vernichtetes Nachlaßmanuskript. Erhaltengebliebenes aufgenommen in Nr. 28. Erhaltenes Gesamtinhaltsverzeichnis abgedruckt ebendort S. 211—216; Nachweis der Textgrundlage: dort S. 229. 21] Seelenformen, Gesellschaftslehre und Geschichtswissenschaft. Schmollers Jahrbuch f. Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reiche. Hrsg. von A. Spiethoff. Jg. 53 (1929) S. 1—31. Vgl. in Nr. 28: Textunterlagen, S. 227. 22] Seelenbau, Geschichts- und Gesellschaftslehre. Kölner Vierteljahrshefte f. Soziologie. Hrsg. v. L. von Wiese. Jg. 8 (1930) S. 1—26. Vgl. in Nr. 2 8 : Textunterlagen, S. 227. 23] Seelentypen, Gesellschaftslehre und Geschichte. Philosophie und Leben. Hrsg. von August Messer. Jahresbd. 6 (1930) H . 4 S. 91—99. Vgl. in Nr. 28: Textunterlagen, S. 227. 12»

Anhänge

182 24] 25]

26] 27] 28]

Empire. Realartikel in: Encyclopaedia of the Social Sciences. Bd. V/ VI (New York 1931) S. 497—506. Ordnung und Willkür im Leben der Gesellschaft. Kölner Vierteljahrshefte für Soziologie. Hrsg. von L. von Wiese. J g . 12 (1934) S. 3—4. — Aufgenommen in Nr. 28. S. 107—108. Der Wille der Welt an unserem Tun. Berlin 1942. VI, 231 S. Das Recht auf Persönlichkeit und seine Grenzen. Berlin 1944. X V , 364 S. Gesellschaftslehre. Geschichtslehre. (Hrsg. von Gertrud Breysig.) Berlin 1958. X X I X , 229 S. — Nachweis der Textunterlagen: dort S. 227 f. VII.

GESCHICHTSLEHRE

Nachtragsbemerkung: Zeit und Begriff als Ordnungsformen des geschichtlichen Geschehens ( W e r k bericht I A 109): nicht Vorveröffentlichung zu Buch IX des Werkes „Vom geschichtlichen Werden", Bd. 3, sondern erst aufgenommen in Nr. 28 S. 123 bis 161. 29] Der Stufenbau und die Gesetze der Weltgeschichte. 2., stark verm. Auflage. Stuttgart 1927. X X , 337 S. 30] Geschichtliche Dynamik. In: Festschrift für Hans Driesch zum 60. Geburtstag. Bd. 1 (1927) S. 171—201. Aufgenommen in Nr. 28 S. 118—122 (Geschehen und Kräfte des Geschehens) und S. 195—208 (Bahnenbau und bahnbestimmende Kräfte des Gesamtverlaufs der Geschichte). 31] Vom geschichtlichen Werden. Bd. 1—3. Berlin, Stuttgart 1925—1928. 1: s. Werkbericht I A 108. 2: s. Werkbericht I A 108. Der Titel lautet vollständig: Die Macht des Gedankens in der Geschichte. In Auseinandersetzung mit M a r x und mit Hegel. 3: Der Weg der Menschheit. 1928. X X V I , 451 S. 32] Vorwort zu: Richard Peters, Der Aufbau der Weltgeschichte bei Giambattista Vico. 1929. (S. unten Abschn. E l . ) 33] Naturgeschichte und Menschheitsgeschichte. Breslau (Berlin) 1933. X X X I I , 475 S. 1 34] Die Stufenfolge der Menschheitsgeschichte als Ausleseerscheinung. — Schmollers Jahrb. f. Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reiche. Hrsg. von A. Spiethoff. Bd. 58 (1934) S. 129—155. 35] Vom Sein und Erkennen geschichtlicher Dinge. Bd. 1—4. Breslau, Berlin 1935—1944. 1 Naturgeschichte und Menschheitsgeschichte (Nr. 33), Vom Naturgeschehen zum Geistgeschehen (Nr. 36) und Werden, Wachstum und Entwicklung (Nr. 39) wurden von Breysig seinem Verleger Theodor Marcus gegenüber ein dreibändiges, als Naturgeschichtsreihe bezeichnetes Werk genannt.

Bibliographie

183

1: 2: 3: 4:

36] 37]

38]

39]

Psychologie der Geschichte. Breslau (Berlin) 1935. X X , 194 S. s. oben Nr. 4. s. oben Nr. 5. s. oben Nr. 6. Der Werdegang der Menschheit vom Naturgeschehen zum Geistgeschehen. Breslau (Berlin) 1935. X X V I I I , 444 S. Die menschheitliche Entwicklung als Begriff und als Geschehensform. — Scientia (Mailand) Jg. 1939, Juliheft. Vorveröffentlichung aus Nr. 39. Enthalten in Nr. 28 S. 95—106. Der Stufenbau der Weltgeschichte. 3., verkürzte Auflage von Werkbericht I Nr. 105 und oben Nr. 29. Berlin, Hannover 1950. 82 S. (Lizenzausgabe.) Werden, Wachstum und Entwicklung. Großenteils vernichtetes Nachlaßmanuskripte. Erhaltengebliebene Handschriften, Inhaltsverzeichnisse, Vorveröffentlichungen s. Nr. 28, Zweiter T e i l : Geschiditslehre S. 95—208, 217—226; Nachweis der Textunterlagen: dort S. 228 f. VIII.

40]

KULTURPOLITIK

Die Not der deutschen Wissenschaft und ein Mittel zu ihrer Abhilfe. — Kunstwart. Jg. 41 (1928) S. 390—394. I X . ZEITGESCHICHTE UND POLITIK

Vergleiche oben Nr. 10. X.

41]

GEDENKBLÄTTER

Nachruf auf Frau Elisabeth Foerster-Nietzsdie (f 8. Nov. 1935). Bibliographisch noch nidit nachgewiesener Aufsatz in Zeitung oder Zeitschrift.

B. Buchbesprechungen 42]

Menschenbildnertum und Geistüberstrahlung. Zu: Fritz Klatt, Freizeitgestaltung. — Vossische Zeitung 1929. 43] Wissenschaft und Leserwelt. Zu Adolf Ermans Erinnerungen. — Vossische Zeitung vom 23. 2. 1930.

C. Vorlesungen I.

GESCHICHTSDARSTELLUNG

1. B r a n d e n b u r g i s c h - p r e u ß i s c h e Nach W . S. 1921/22 nicht mehr gelesen.

Geschichte

2. D e u t s c h e G e s c h i c h t e Nach W . S. 1922/23 nicht mehr gelesen. 3. G e s c h i c h t e d e s d e u t s c h e n G e i s t e s i m b e s o n d e r e n 1] Der Entwicklungsgang des deutschen Geistes, verglichen mit dem der anderen führenden Völker Europas (vgl. Werkbericht I: C 13). W . S.

184

Anhänge 1927/28 bis W . S. 1929/30. S. S. 1931. W . S. 1933/34, S. S. 1934 angekündigt, nicht gelesen.

4.—6. E u r o p ä i s c h e N r . 14 — 32)

Geschichte

(vgl.

Werkbericht

I:

C

Nach W . S. 1921/22 nicht mehr gelesen. 7.

Geschichte

der

Menschheit

2]

Die Geschichte der Menschheit. 1. T e i l : Die außereuropäischen Völker. W . S. 1927/28. S. S. 1933 (unter dem T i t e l : Aufriß der Weltgeschichte. I : Urzeitvölker).

3]

Gesellschaftslehre (stets auf mehrere Semester verteilt nach den großen Gliederungsgesichtspunkten: I. Mechanik: Bau und Kräfte der Gesellschaft. — I I . Seelenkunde der Gesellschaft. — I I I . Formenlehre, unter den speziellen Ankündigungstiteln: Grundlegung — Bau — der Gesellschaft; D y n a m i k : Kräfte des Gesellschaftslebens; Psychologie: Gesellschaftsseelenkunde; Staatslehre: Auswärtige Staatskunst; Individualismus und Sozialismus). S. S. 1928 bis S. S. 1932. ( W . S. 1933/34, S. S. 1934, S. S. 1935: angekündigt, nicht gelesen.)

I I . GESELLSCHAFTS- UND STAATSLEHRE

III.

GESCHICHTSFORSCHUNGSLEHRE

Nach 1901 nicht mehr gelesen. IV.

GESCHICHTE

DER

GESCHICHTSLEHRE

4]

Geschichte der Geschichtslehre und der Philosophie der Geschichte (z. T . mit der Abgliederung: Die Geschichtsphilosophie von Hegel, Comte, M a r x und die Geschichte der Geschichtslehre in der neuesten Zeit). S. S. 1928 bis W . S. 1929/30.

5]

D i e Gesellschafts- und Geschichtslehre von Karl M a r x . S. S. 1930. W . S. 1930/31.

6]

Geschichtslehre (stets auf mehrere Semester verteilt nach den großen Gliederungsgesichtspunkten: Die erkenntnis- und daseinswissenschaftlichen Grundlagen der Geschichtswissenschaft und der Gesellschaftslehre; Psychologie: Die Seelenkunde der Weltgeschichte; D y n a m i k : Die Kräfte des geschichtlichen Lebens; Entwicklungslehre: D e r Bahnenbau der Menschheitsgeschichte; Genetik oder Werdenslehre: Naturgeschichtlichcs und menschheitsgeschichtliches Werden). S. S. 1928 bis W . S. 1929/30. S. S. 1931. W . S. 1931/32. S. S. 1932 (in diesen beiden Semestern unter dem Vorlesungstitel: Theoretische Geschichtswissenschaft — Lehre vom Wesen und von den Formen des geschichtlichen Werdens — : Gesamtdarstellung). S. S. 1933. (S. S. 1935: Philosophie der Geschichte; angekündigt, nicht gelesen.)

V.

GESCHICHTSLEHRE

Bibliographie

185

D. Übungen 7]

Übungen zur E i n f ü h r u n g in die vergleichende Sozialgeschichte bzw. in die Gesellschaftslehre. W . S. 1927/28 bis S. S. 1932. S. S. 1933 (Übungen zur E i n f ü h r u n g in die Geschichts- und Gesellschaftslehre). (W. S. 19331 1934, SS. 1934: Übungen zur E i n f ü h r u n g in die vergleichende Sozialgeschichte, angekündigt, aber nicht gehalten; S. S. 1935: Geschichtliche Übungen, angekündigt, nicht gehalten.)

E. Auf Kurt Breysigs Anregung oder unter seiner Führung entstandene Arbeiten (Dissertationen) Nachtragsbemerkung

zu Werkbericht

I E Nr. 18:

Die angekündigte Gesamtveröffentlichung der Arbeit über Madiiavelli ist nicht erschienen, das Manuskript der 1928 nicht gedruckten H ä l f t e der U n t e r suchung im Gefolge der Kriegswirren verlorengegangen. Forschungen zur Geschichts- und Gesellschaftslehre. Hrsg. von K u r t Breysig. Bd. 1—5. Stuttgart 1929—1932. 1: s. Peters, Richard: folgende N r . 1. 2: s. Ayad, M. Kamil: folgende N r . 2. (3.: s. oben A II N r . 9.) 4: s. Mielcke, K a r l : folgende N r . 3. 5: s. Heider, W e r n e r : folgende N r . 4. 6: s. Marcuse, Alexander: folgende N r . 5. 1]

2]

3]

4] 5]

Peters, Richard: Der A u f b a u der Weltgeschichte bei Giambattista Vico. Stuttgart 1929. X I V , 215 S. (Forschungen z. Geschichts- und Gesellschaftslehre. 1.) Ayad, M. Kamil: Die Geschichts- und Gesellschaftslehre Ibn H a l d ü n s . Stuttgart 1930. X , 209 S. (Forschungen z. Geschichts- u n d Gesellschaftslehre. 2.) Mielcke, K a r l : Deutscher Frühsozialismus. Gesellschaft und Geschichte in den Schriften von Weitling und H e ß . Stuttgart 1931. X I I , 199 S. (Forschungen z. Geschichts- und Gesellschaftslehre. 4.) Heider, W e r n e r : Die Geschichtslehre von Karl Marx. Stuttgart 1931. V I I I , 201 S. (Forschungen z. Geschichts- und Gesellschaftslehre. 5.) Marcuse, Alexander: Die Geschichtsphilosophie Auguste Comtes. Stuttgart 1932. X I I , 182 S. (Forschungen z. Geschichts- u n d Gesellschaftslehre. 6.)

F. Veröffentlichungen über Kurt Breysig, Buchbesprechungen, Widmungsgaben, Selbstzeugnisse Widmungsgaben 1]

Geist und Gesellschaft. K u r t Breysig zu seinem sechzigsten Geburtstage. Hrsg. von Richard Peters in Gemeinschaft mit J o h a n n a Schultze, Fritz Klatt u n d Friedrich Schilling. Bd. 1—3. Breslau 1927—1928.

186

Anhänge

1: Geschichtsphilosophie und Soziologie. 1927. V, 103 S. Mit 1 T a f . 2: Geschichte und Gesellschaft. 1927. I I I , 176 S. 3: Vom Denken über Geschichte. 1928. 216 S. Mit 2 T a f . 2] Krammer, Mario: Kulturgeschichte als Aufgabe der Zeit. Betrachtungen aus der Werkstatt eines Historikers. Berlin, Hannover 1949. — (Schriftenreihe f ü r Volkshochschulen. 3.) S. 3 f., 6, 8, 10, 26 ff., 30, W i d mungsvorrede an K. B. und Bemerkungen über K. B. Veröffentlichungen über Kurt Breysig und sein Werk Anordnung nach der alphabetischen Folge der Verfassernamen 3]

4] 5]

6] 7]

8] 9] 10] 11] 12] 13] 14]

15]

16]

Bäuml, A. W.: Breysigs Kritik an der materialistischen Geschichtsauffassung. Diss. der Fr. Univ. Berlin 1950. Hauptteil I: Darstellung der Lehre von Breysig, S. 5—50. Hauptteil I I : Breysigs Auseinandersetzung mit Marx und Hegel, S. 51 bis 118. Beschrijvende Wetenschap en Ontwikkelingswetenschap. De Weg tot Kurt Breysig. — Synthese (Laren, Niederlande). Jg. 1938, Augustheft. Breysig, Gertrud: Der Stufenbaugedanke in Breysigs Gesamtwerk. Nachwort zu: Kurt Breysig, Der Stufenbau der Weltgeschichte. 3., gekürzte Auflage. 1950. S. 79—82. Dieselbe: (Umriß von Breysigs Gesamtwerk und Leben.) Vorwort in: Kurt Breysig: Gesellschaftslehre. Geschichtslehre. 1958. S. V — X X I . Gottschalk, Herbert: Ein Vorläufer Spenglers. Kurt Breysig und seine Geschichte der Menschheit. (Buchbesprechung.) — Die Pforte. Monatsschrift f ü r Kultur. Jg. 8 (H. 88/89). 1958. S. 339—344. Derselbe: K. Breysigs „Geschichte der Menschheit". (Buchbesprechung.) — Deutsche Kommentare. 25. Aug. 1956. Hartig, Paul: Betrachtungen zu Kurt Breysigs Geschichte der Menschheit. — Pädag. Blätter. Jg. 7 (1956), H . 13/14, S. 201—208. Hering, Ernst: Das Werden als Geschichte. Kurt Breysig in seinem Werk. Berlin 1939. I X , 208 S. Knoll, Samson B.: K u r t Breysig. A Bibliographical Outline. 1958. Als Ms. veröffentlicht. Derselbe: Einführung in K. B.s Werk. I n : F N r . 31 S. 49—64. Krammer, Mario: K u r t Breysig als Begründer der modernen Kulturgeschichte. — Deutsche Rundschau. Jg. 69, S. 57—61 (Juli 1946). Derselbe: Große Geschichtsschreiber im Leben Berlins. — Jahrb. d. Vereins f. Geschichte Berlins. 1953. S. 48—69: Das Aufkommen der Kulturgeschichte; S. 54—62: über K. B. Lamprecht, Karl: Besprechung der „Kulturgeschichte der Neuzeit". Literarisches Zentralblatt. Jg. 1900, Sp. 1971—1974 (über Bd. I u. II, 1); Jg. 1901 Sp. 2061—2063 (über Bd. II, 2). Landmann, Michael: Der Kampf um die Wissenschaft. — I n : F N r . 31, S. 65—90.

Bibliographie

187

16a]

Misch, C a r l : Ein deutscher Toynbee. (Besprechung der „Geschichte der Menschheit".) — Aufbau (New Y o r k ) v. 10. 1. 1958. 17] Mitsdierlich, Waldemar: Grundgedanken der Geschichtsphilosophie Kurt Breysigs und ihre Systematisierung. Ein Versuch. Dem Freunde zum Gedenken. — J a h r b . f. Nationalökonomie und Statistik. Bd. 152 (1940) S. 4 4 6 — 4 6 0 . 18] Derselbe: Das neue Geschichtsbild im Sinne der entwickelnden Geschichtsforschung. (Buchbesprechung.) — Hist. Zeitschrift. Bd. 169 (1950). S. 5 6 1 — 5 6 7 . 19] Oppenheimer, F r a n z : Breysigs Kulturgeschichte. (Buchbesprechung.) — Zukunft. Hrsg. von Maximilian Harden. Bd. 37 (1901). S. 103—114. 19a] Peters, Richard: Geschichte der Türken. Stuttgart 1961. Anhangskapitel: Die Frühgeschichte der Türken in der Sicht der Geschichtslehren von K . Breysig und B. Croce, und: Die ural-altaischen Sprachen in Amerika im Anschluß an das Kapitel Breysigs über die Sprache der Tschuktschen (Geschichte der Menschheit I, 1936, S. 7 4 — 8 5 ) . 20] Romein, J . M . : Besprechung der „Geschichte der Menschheit". — D e nieuwe Stem. J g . 11 (1956), H . 9, S. 541. 21] Salomon-Delatour, Gottfried: Kurt Breysig ( 1 8 6 6 — 1 9 4 0 ) . (Zugleich Besprechung von „Gesellschaftslehre. Geschichtslehre".) — Zeitschrift f . Religions- und Geistesgeschichte. J g . 11 (Köln 1959) S. 80—85. 22] Schickel, Joachim: Universalgeschichte heutzutage. Besprechung der „Geschichte der Menschheit" im Nordwestdeutschen Rundfunk. Sendung vom 20. 11. 1956. 23] Schilling, Friedrich: Kurt Breysigs Forschungen und Vorlesungen. Der Werkbericht über seine J a h r e 1889—1927. (Geist und Gesellschaft. Hrsg. von R . Peters in Gemeinschaft m. a. Bd. 3, 1928, S. 179—215.) 24] Sethe, Paul: Geschichte voll von Zuversicht. (Besprechung der „Geschichte der Menschheit".) — Die Welt. J g . 1956, N r . 151. 25] Simon, Ernst: K . B.s „Vom geschichtlichen Werden". (Besprechung.) — Hist. Zeitschrift. Bd. 146 (1930) S. 86—90. 26] Derselbe: Die Geschichte der Menschheit. (Besprechung.) — Ijjun ( J e rusalem). J g . 1956, Oktoberheft. 27] Toynbee, Arnold J . : Vorwort zu K . B.s „Geschichte der Menschheit", Bd. 1 (1955). (S. oben Abschn. A N r . 15.) 28] Wiese, Leopold von: K u r t Breysigs „Naturgeschichte und Menschheitsgeschichte". (Buchbesprechung.) — Kölner Vierteljahrshefte für Soziologie. J g . 12 (1933) S. 1 0 9 — 1 1 4 . 29] Ziehen, Eduard: Kurt Breysig (Nachruf) — Weg zur Vollendung. Hrsg. von Hermann G r a f Keyserling. J g . 8/9 (1940/41) S. 9 1 — 9 5 . 30] Derselbe: Nachruf. — Forschungen zur brandenbg. u. preuß. Geschichte. J g . 53 (1941) S. 382 ff.

Selbstzeugnisse 31]

Kurt Breysig/Stefan George: Gespräche • Dokumente. — Peregrini. Heft X L I I . Buchausgabe. Amsterdam 1960.

Castrum

PERSONENREGISTER Althoff, Friedrich, 25, 33, 38—41, 47, 77, 96 Ansorge, Arnulf, 141 Arldt, Theodor, 127 Ayad, M. Kamil, 185 Bailleu, Paul, 23 Bastian, Adolf, 93 Bäuml, A. W., 186 Benn, Gottfried, 148, 169 Berson, Henri, 116 Bethmann-Hollweg, Theobald v., V I I , 72 Bie, Oskar, 102 Bismarck, Otto v., 86 f., 98 Bode, Wilhelm v„ 81 Bohr, Niels, 154—158, 159 ff. Bondi, Georg, 102 Breysig, Alfred, 3 f., 6, 40 —, Clara, 4, 6 —, Gertrud, 181, 182, 186 Bronsart v. Schellendorf, Paul, 75 Bülow, Bernhard v., 75 Burckhardt, Jacob, V I I , 7 8 - 8 2 , 107 Caprivi, Leo, Graf, 98 Coue, Emile, 142 Croce, Benedetto, 187 Delbrück, Hans, 14, 39 f., 43 f., 96 Dessoir, Max, V I I I Diels, Hermann, 107 f. Dilthey, Wilhelm, 107, 115, 125, 143 Driesch, Hans, V I I , 111—149, 174, 182 Elster (Geh. Ministerialrat) 42 Erman, Adolf, 183

Flügel, Heinz, 181 Foerster-Nietzsche, Elisabeth, 95, 183 Franck, James, 157 Frazer, James George V I I , 108 Freud, Sigmund, 142 Freytag, Gustav, 75 Geldner, Karl Friedrich, 13 George, Stefan, V I I , I X , X , X I I , 57, 65—73, 84, 100 f., 107, 168, 173, 187 Göhre, Paul, 75, 99 Gottschalk, Herbert, 186 Grimm, Auguste, 54 —, Herman, 20, 42, 48, 50, 52—57, 80, 96 —, Rudolf, 54 Grunemann, Rudolf, 180 Gundolf, Friedrich, 68 Gutschmid, Alfred v., 75 Harden, Maximilian, 39, 187 Harnadt, Adolf v., 44 ff. Hartig, Paul, 186 Hartleben, Otto Erich, 95, 98 Hartmann, Gustav, 12 —, Nicolai, 164 Hegert (Archivrat), 23 Heider, Werner, 185 Heisenberg, Werner, 161 Hering, Ernst, 186 Heusler, Andreas, 53 Hinneberg, Paul, 75, 77 Hintze, Otto, 107 Hoffmann, Ernst Wilhelm, V I I I Hofmannsthal, Hugo von, 66 Holl, Karl, 44

190

Anhänge

Ihlenfeld, Kurt, 181 Kaftan, Julius, 75 Keller, Gottfried, 75 f. Keyserling, Hermann, Graf, 187 Klatt, Fritz, 138, 148, 183, 185 Kögel, Fritz, 95 Köslin, Karl Reinhold, 12 Koser, Reinhold, 14 f., 17 f., 42 f. Krammer, Mario, 186 Kugler, Reinhard, 11 f. Lamprecht, Karl, 32, 51, 82—87, 103, 107, 123, 129, 135, 186 Landmann, Michael, 173, 186 L e i t e r , Melchior, VII, X Mareks, Erich, 39 Marcus, Theodor, 182 Marcuse, Alexander, 185 Meitzen, August, 17 f. Menger, Carl, 48 Messer, August, 181 Meyer, Eduard, 44 Mielcke, Karl, 185 Misch, Carl, 187 Mitscherlich, "Waldemar, 187 Mönckeberg, Carl, 102 Mommsen, Theodor, 54 Morgan, Lewis Henry, 15 Naumann, Friedrich, 99 Nernst, Walter, 155 f., 158 f. Nietzsche, Friedrich, IX, X I I f., 14, 57—65, 72, 80, 91 ff., 94, 99, 102, 127, 168, 174 Nitzsch, Karl Wilhelm, VII, 49, 107 Noelle, Ernst, 19 Nolde, Emil, VII, X Norden, Eduard, 44

Pomtow, Max, 96 Ranke, Leopold, 12 f., 20, 22, 91, 104, 119, 135 Ratzel, Friedrich, 84 Reuber, Albrecht, 124 Riedel, Adolf Friedrich, 35 Ritsehl, Albrecht, 75 Rohde, Erwin, 14, 93 Romein, J. M., 187 Roscher, Wilhelm, 49 Rychner, Max, 179

Salomon-Delatour, Gottfried, 187 Scheerbarth, Paul, 95 Scheler, Max, 127 f., 139, 147 Schickel, Joachim, 187 Schiemann, Paul, 75 Schilling, Friedrich, 185, 187 Schlözer, Kurd v., 75 Schmalenbach, Hermann, 125 Schmoller, Gustav, VII, 15 ff., 21 ff., 24 f., 33 f., 36, 38 f., 41 ff., 47 bis 52, 74, 77, 96, 102, 108 Schultze, Johanna, 185 Seeliger, Gerhard, 84 Semon, Richard, 165 Sethe, Paul, 187 Simmel, Georg, VIII, 67, 111, 115 Simon, Ernst, 187 Sombart, Werner, 139, 148, 149 bis 154, 174 Spengler, Oswald, 186 Spiethoff, August, 181, 182 Steiner, Rudolf, 95 Stieda, Wilhelm, 84 Stoeving, Curt, 103 Stramm, August, X Sybel, Heinrich, 20, 79

Oppenheimer, Franz, 187 Peters, Richard, 182, 185, 187 Pflugk-Hartung, Julius v., 13 Planck, Max, 148, 158—162, 175 f.

Toeppen, Max, 26, 28 Tolstoi, Lew N., 112 Toynbee, Arnold J., 181, 187

Personenregister Treitsdike, Heinrich v., 11, 13 fi., 22, 39, 42, 48, 54, 74—78, 91, 95, 98, 119, 129 Teilhard de Chardin, P.Pierre, 175f. Uexkull, Jakob v., 114 Vaihinger, Hans, 127 Vallentin, Berthold, 106 f. Vielhaber, Walther, 19

191

Wedissler, Eduard, 141 Wiese, Leopold von, 181, 182, 187 Wilamowitz, Ulrich v., 102 Wilhelm I., 98 Wilhelm II., 75, 98 Wolters, Friedrich, 106 f. Wundt, Wilhelm, 84 Zeller, Eduard, 76 Ziehen, Eduard, 187

KURT BREYSIG

DIE G E S C H I C H T E DER M E N S C H H E I T Abgeschlossen in fünf Bänden Mit einem Vorwort von Arnold J . Toynbee Groß-Oktav. 1955. Ganzleinen je Band D M 3 0 , — B a n d l : Die Anfänge der Menschheit: Urrassen — Nordasiaten — Australier — Südamerikaner 2., unveränderte Auflage. X V I I , 440 Seiten Band I I : Völker ewiger Urzeit: Nordländer — Nordwestamerikaner — Nordostamerikaner 2., unveränderte Auflage. X V , 374 Seiten Band I I I : Frühe Hochkulturen: Außereuropäische Altertums- und Mittelalterkulturen — Die Griechen Die Römer — Die Entstehung des Christentums X V I , 303 Seiten Band I V : Jugend, der germanisch-romanischen Völker Frühzeiten — Frühes Mittelalter — Das Jahrhundert des Übergangs Vom Frühen zum Späten Mittelalter — Das Späte Mittelalter X I , 261 Seiten B a n d V : Herrschaft der Könige — Herrschaft der Völker Die Herrschaft der Könige — Die Herrschaft der Völker X V , 298 Seiten Der Aufbau des ganzen Werkes beruht auf der 1905 erstmalig veröffentlichten Schrift

DER S T U F E N B A U DER W E L T G E S C H I C H T E Oktav. 3., verkürzte Auflage. 84 Seiten. D M 2 , —

WALTER DE G R U Y T E R

& CO.

BERLIN

W 30

vormals G. J. Gösdien'sdie Verlagshandlung / J. Guttentag, Verlagsbudihandlung Georg Reimer / Karl J. Trübner / Veit & Comp.

KURT

BREYSIG

GESELLSCHAFTSLEHRE

-

G E S C H IC HTS L E H R E Groß-Oktav. X X I X , 229 Seiten. 1958. Ganzleinen D M 30,—

„Die beiden hier in einem Band vereinigten Werke kommen aus dem Nachlaß Kurt Breysigs und bilden nach dem Vorwort die geretteten Substanzen von zwei großen Arbeiten, die im Krieg vernichtet worden sind. In der vorliegenden Form bildet das Buch trotzdem eine sinnvolle Einheit und bietet eine organische Darlegung all der Gedanken, die für die kosmologische Betrachtungsweise des Soziologen und Geschichtsphilosophen von Bedeutung sind. Breysigs Anliegen ist nicht gering. Es geht ihm um die Ganzheit der Welt, ihrer Entwicklung und die Stellung des Menschen innerhalb ihres geschichtlichen Verlaufs."

Bücherei und Bildung

WALTER DE G R U Y T E R

& CO.



BERLIN

W30

vormals G. J. Göschen'sdie Verlagshandlung / J . Guttentag, Verlagsbudihandlunq I Georg Reimer / Karl J . Trübner / Veit & Comp.

KURT BREYSIG

• STEFAN

GEORGE

GESPRÄCHE-DOKUMENTE 112 Seiten. D M 8 , 2 5

Aus dem Inhalt: Gertrud

Breysig:

Aufzeichnungen über K u r t Breysig;

Kurt

Breysig: Begegnungen mit Stefan George, Gespräche (Tagebudiblätter); Samson B. Knoll: K u r t Breysig, Eine E i n f ü h r u n g in seine Gedankenwelt; Michael Landmann:

U m die Wissenschaft, Dokumente zur Auseinandersetzung Brey-

sig—George; Kurt Breysig:

Die schöpferische Macht der Wissenschaft. Zwei

unveröffentlichte Lichtbilder von St. George u n d K. Breysig. Breysigs Gespräche mit George (von 1899 bis 1916) dokumentieren einen oft spannungsreichen streitbaren Zusammenschluß zweier sehr unterschiedlich gearteter Persönlichkeiten. Den geistesgeschichtlichen Rahmen der Gespräche gibt Michael Landmann. Ausführlich belegt w i r d die Frage nach dem Sinn der Wissenschaft, die Breysig, seine beiden Schüler Friedrich W o l ters und Berthold Vallentin sowie M a x Weber, Erich v. Kahler und A r t h u r Salz verschieden stellen und beantworten.

CASTRVM P E R E G R I N I P R E S S E • A M S T E R D A M P O S T B O X 645