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German Pages 355 [356] Year 2023
Sara Landa Chinesisch-deutsche Lyrikdialoge
spectrum Literaturwissenschaft/ spectrum Literature
Komparatistische Studien/Comparative Studies Herausgegeben von/Edited by Moritz Baßler, Werner Frick, Monika Schmitz-Emans Wissenschaftlicher Beirat/Editorial Board Peter-André Alt, Aleida Assmann Marcus Deufert, Terence James Reed, Simone Winko, Bernhard Zimmermann, Theodore Ziolkowski
Band 83
Sara Landa
Chinesischdeutsche Lyrikdialoge Annäherungen an die chinesische Dichtung vom Expressionismus bis zur Gegenwart
Die Arbeit wurde an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg als Dissertation angenommen. Sie wurde ausgezeichnet mit dem Gerhart-Baumann-Preis für interdisziplinäre Literaturwissenschaft der Universität Freiburg (2022) und mit dem Manfred-Lautenschläger-Preis für Geistesund Kulturwissenschaften der Heidelberger Akademie der Wissenschaften (2023).
ISBN 978-3-11-104301-2 e-ISBN (PDF) 978-3-11-104408-8 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-104479-8 ISSN 1860-210X Library of Congress Control Number: 2023937073 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
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题西林壁 (苏东坡) 横看成岭侧成峰 远近高低无一同 不识庐山真面目 只缘身在此山中
Der Mauer des Xilin-Klosters eingeschrieben (Su Dongpo) Horizontal gesehen eine Bergkette, von der Seite wird es ein Gipfel, Von fern, nah, oben, unten immer anders, Das wahre Angesicht des Lu-Bergs ist nicht zu erkennen, ist man selbst nur in seiner Mitte.
Danksagung | VII
Danksagung Diese Arbeit wäre ohne die Hilfe, kritische Unterstützung und die zahlreichen Anregungen vieler Menschen nicht entstanden. Einige wenige seien stellvertretend genannt. Den Impuls zur Auseinandersetzung mit den chinesisch-deutschen Lyrikbeziehungen erhielt ich durch ein Seminar von Prof. Dr. Werner Frick und Prof. Dr. Wu Xiaoqiao an der Universität Freiburg. Ersterer hat meine Arbeit an diesem Thema als Erstbetreuer in allen Phasen begleitet. Seiner großen Offenheit, dem kritischen Blick auf alle Aspekte dieser Arbeit von der Gesamtkonzeption bis in sprachliche Details ist geschuldet, dass die Promotionsphase ein kontinuierlicher Lern- und Entwicklungsprozess war und ich dennoch nie daran verzweifelt bin. Prof. Dr. Wu Xiaoqiao hat mich sowohl bei einem China-Aufenthalt als auch durch viele Hinweise und die Unterstützung bei der Literaturrecherche mit großem Engagement unterstützt. JProf. Dr. Lena Henningsen hat mir als Zweitbetreuerin mit umfangreicher sinologischer Expertise und kritischem Blick zur Seite gestanden. Prof. Dr. Dieter Martin danke ich für die aufmerksame Lektüre und kritisch-produktive Vorschläge im Drittgutachten. Prof. Dr. Peter Philipp Riedl hat als Vorsitzender der Disputation dafür Sorge getragen, dass ich aus diesem Gespräch zahlreiche Anregungen für die Überarbeitung der Arbeit ziehen konnte. Profitieren konnte ich in einzelnen Fällen auch vom direkten Austausch mit Übersetzern und Dichtern, ertragreich waren für mich insbesondere Gespräche mit Lea Schneider und die schriftliche Korrespondenz mit Eva Müller. Über die Semester hatte ich mehrfach Gelegenheit, sowohl die Gesamtkonzeption als auch einzelne Kapitel meiner Arbeit in den Freiburger Kolloquien von Prof. Dr. Werner Frick, JProf. Dr. Lena Henningsen und Prof. Dr. Nicola Spakowski vorzustellen. Den Teilnehmern dieser Kolloquien sei für Rückfragen und engagierte Diskussionen gedankt. Wichtige Hinweise gaben mir darüber hinaus u.a. Dr. Liu Huiru (Trier) und Dr. Guo Li (Freiburg). Letztere bleibt für mich zudem bis heute der Inbegriff einer Literaturübersetzerin aus Leidenschaft, eine der vielen hochengagierten und noch viel zu wenig gewürdigten Menschen, die Literatur Grenzen unterschiedlichster Art überqueren lassen. Dass ich den Großteil meiner Promotionszeit als „Cusanerin“ verbringen konnte, war eine Ehre und eine Freude. Ich danke dem Cusanuswerk sowohl für die finanzielle Unterstützung während dieser Zeit als auch für die Gelegenheit zu zahlreichen Begegnungen im Rahmen des Bildungsprogramms. Ganz besonders hervorzuheben ist dabei das große Entgegenkommen und die Unterstützung in meiner familiären Situation.
https://doi.org/10.1515/9783111044088-202
VIII | Danksagung
In der Abschlussphase meiner Arbeit war ich bereits im Projekt „Epochale Lebenswelten“ an der Universität Heidelberg tätig. Ich danke meinen dortigen Kollegen für ihre Unterstützung und kritischen Hinweise sowie dem BMBF für die Unterstützung in dieser Endphase und einen Druckkostenzuschuss zu dieser Arbeit. Begleitet wurde der Publikationsprozess durch mehrere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von de Gruyter, die mir mit Expertise immer zur Seite standen. Zu danken habe ich auch für die Gegenlektüre und Korrektur, allen voran der unermüdlichsten aller Korrekturleserinnen, meiner Mutter, die die Arbeit als Ganzes gelesen hat, sowie allen Mitstreitern, Freunden und Kollegen, die Teile daraus kommentiert und korrigiert haben. Meinem Mann danke ich dafür, dass ich mich in den ersten Wochen meines China-Studienaufenthaltes nicht habe entmutigen lassen, sowie für Gespräche, gemeinsame Lektüren und vor allem dafür, dass wir die Erfahrungen der Studienund Forschungsaufenthalte teilen konnten. Unsere drei Kinder sorgten dafür, dass ich bei allem Forschungsinteresse nie auf den Gedanken kam, das Setzen von Fußnoten sei das Wichtigste im Leben. Aber dennoch sei all jenen gedankt, die durch die Unterstützung unserer Familie mir die Freiräume schaffen konnten, in denen ich gelegentlich so tun konnte, als ob. Heidelberg, im Juli 2023
Sara Landa
Inhalt Einleitung | 1 1 Fragestellung | 1 2 Chinesische Dichtung und poetische Reorientierungen seit der Moderne | 4 3 Horizonte und Annäherungen | 7 3.1 Weltliteratur im west-östlichen Dialograum | 8 3.2 Übersetzung, Nachdichtung, Adaption, Transformation? Spielarten intertextueller und interlingualer Dialogizität | 13 3.3 Fremdbilder und Selbstporträts | 21 4 Fallstudien | 23 5 Hinweise zu chinesischen Namen, Begriffen und Zitaten | 26 1 1.1 1.2 1.3
2 2.1 2.2
3 3.1 3.2 4 4.1 4.2
Flucht in fremde Welten? Literarische Aufbrüche nach China seit der Jahrhundertwende | 27 ‚Ausbeutungen‘ chinesischer Dichtung im frühen 20. Jahrhundert | 27 „Unsterblich nur ist Li-tai-pe“: Lebensrausch und Weltflucht | 35 Krieg, Sozialkritik und Revolution: Chinesische Lyrik unter dem Eindruck von Weltkrieg und politischem Wandel | 38 Lyrische Kampfgenossen? Chinesische Dichtung bei Bertolt Brecht und Heiner Müller | 48 Bertolt Brechts Suche nach weltliterarischem Halt und neuen Formen | 48 Heldentum, Widerspruch, Aufbau: Heiner Müllers Dialog mit der chinesischen Dichtung | 73 Mittler und Provokateure: F. C. Weiskopf und Klara Blum/Dschu Bailan zwischen Tradition, Moderne und Revolution | 82 Literarischer Diplomatendienst: F. C. Weiskopf | 82 Zwischen mehreren Fronten: Klara Blum/Dschu Bailan | 99 Dichterrevolutionäre? Mao Zedong und seine deutschen Nachdichter | 117 Träume von China | 117 Rebell, Revolutionär, Staatsmann: Einführung des Dichters Mao im deutschsprachigen Raum | 124
X | Inhalt
4.2.1
4.2.2 4.3 4.4 5 5.1 5.2 5.3 5.4
6 6.1 6.2 6.3 6.4 7 7.1 7.2
7.3
Vom Revolutionär zum ‚Großen Vorsitzenden‘: Erste Transformationen von Maos „Schnee“ durch Fritz Jensen und Bertolt Brecht | 124 Sensibler Ästhet, stählerner Kämpfer, weiser Staatsmann? F. C. Weiskopfs lyrische Mao-Biographie | 131 Aufstieg und Fall Mao Zedongs in der DDR-Lyrik der späten 1950er Jahre | 145 ‚Kulturrevolutionäre‘ der 1960er und 1970er Jahre | 156 Günter Eichs Reorientierungen in Ost und West | 164 Ästhetische Suchbewegungen in der Nachkriegszeit | 164 Su Dongpo als Alter Ego Eichs? | 172 Lyrik im Dialog: Günter Eich als Übersetzer für Lyrik des Ostens | 186 Übersetzen, Schweigen, Ironisieren: Eichs Suche nach den ‚Urtexten‘ | 194 „Erkenntnis-, Leidens- und Bündnisfähigkeit“: Neuverortungen Lu Xuns im Umfeld der ‚Neuen Subjektivität‘ | 197 Lu Xun in den Literaturdebatten um und nach 1968 | 197 Gespräche über Bäume, Blumen und Gewalt. Privatraum und öffentlicher Raum im Spannungsverhältnis | 208 Zum Interpretationspotenzial beim kooperativen Übersetzen: Drei Versionen eines Lu Xun-Gedichts | 218 Deutsche Gedichte „chinesische[r] Art“? | 228 Krisen, Konflikte, Annäherungen: Chinesische Lyrik beim DDR-Verlag Volk und Welt | 233 Übersetzung chinesischer Literatur in der DDR: Rahmenbedingungen der Kultur- und Außenpolitik | 233 Lyrikübersetzung als diplomatische Strategie und Propagandamedium? Heut erntet man Lieder mit riesigen Körben (1962) | 241 Lyrische Grenzüberschreitungen: Ai Qing zwischen West- und Ostdeutschland | 252
Inhalt | XI
8 8.1 8.2 8.3 8.4 8.5 8.6 8.7
8.8
Umbrüche, Aufbrüche: Reziproke Übersetzungen, Gegengedichte, deutsch-chinesische Sprachspiele | 261 Revolution am Ende oder Anfang? Volker Braun und das ‚erwachende‘ China | 261 Postmaoistische Lyrik im internationalen Dialog | 265 Lyrik als Widerstand, „Selbstbehauptung“ und kulturelle Erinnerung | 271 Politische Kritik und Zeitkommentar: Martin Winter und Yi Sha | 280 Sprachspiele und Sprachbegehren zwischen Ost und West: Jan Wagner und Yang Lian | 290 Intertext und Gegentext: Lea Schneiders Lyrik „made in China“ | 296 Chinesische Klassik und/oder westliche Postmoderne? Horizontund Perspektivverwischungen in Marion Poschmanns Geliehenen Landschaften | 299 Flugversuche in weltliterarischen Zwischenräumen | 304
Chinesische Dichternamen und zitierte Varianten | 307 Literaturverzeichnis | 309 Register | 339
Einleitung 1 Fragestellung „Wer ihnen näher wäre, wüßt ihr Was und Wie / Die Ferne läßt sie unsern Dingen gleichen“, übersetzt Günter Eich ein Verspaar des Song-Dichters Su Shi 苏轼/ Su Dongpo 苏东坡 (1037–1101) aus dessen Gedicht „Ich sehe auf nächtlicher Fahrt die Sterne“ (夜行观星).1 Su Dongpos Gedicht reflektiert die Wahrnehmungs- und Versprachlichungsmöglichkeiten des Kosmos, der Sternbilder, die nur aufgrund der großen Distanz und des damit einhergehenden Miss- und Unverständnisses überhaupt in den trügerischen Erfahrungsraum der menschlichen Sprache integriert werden können, zugleich aber immer auf das verweisen, was jenseits davon liegt. Als ebenso unvollständig und illusorisch mag sich indessen die absolute Nahperspektive auf die Dinge erweisen, wie der Dichter in einem anderen Gedicht, „Der Mauer des Xilin-Klosters eingeschrieben“ 题西林壁,2 das als Motto dieser Studie vorangestellt wurde, zu bedenken gibt: Mit jedem Perspektivwechsel ändert sich das Konzept des Beobachteten, und gerade die Nähe mag auch den Blick versperren: „Das wahre Angesicht des Lu-Bergs ist nicht zu erkennen, / ist man selbst nur in seiner Mitte“.3 Wie kaum ein anderes Werk umkreist die Dichtung des vielgereisten und mehrfach verbannten Su Dongpo das Wechselspiel und die Ambivalenz von Annäherungs- und Distanzierungsprozessen, von Erkenntnisinteressen und deren Begrenzungen. Der Komparatist Zhang Longxi liest dieses Gedicht über den Lu-Berg treffend als Sinnbild transkultureller Hermeneutik, als Reflexion der Standortbezogenheit jeder (ästhetischen) Wahrnehmung und der ebenso notwendigen wie unaufhebbaren Dynamik des Perspektivwechsels.4 In der vorliegenden Arbeit wird es um solche Dynamiken gehen, um Annäherungen und Distanzierungen in der produktiven Rezeption chinesischer Dichtung, in der das Verhältnis zum ‚Eigenen‘ und ‚Fremden‘ gleichermaßen infrage
|| 1 Vgl. Su Shi 苏轼, Su wen zhong quan ji 苏文忠公全集 (Komplette, getreue Ausgabe der Schriften Sus), digitale Edition der Datenbank China Ancient Books 中国基本古籍库, Bd. 1, S. 1004: 迫 观知何如, / 远想偶有以. Die Übersetzung Eichs findet sich in: Günter Eich, Gesammelte Werke in vier Bänden [künftig GW], hg. von Axel Vieregg und Karl Karst. Frankfurt a.M. 1991, Bd. 4, S. 430. Vgl. dazu weiter Kapitel 5 dieser Arbeit. 2 Su Shi, Su wen zhong, Bd. 13, S. 145. 3 Ebd. 4 Vgl. Zhang Longxi, „The True Face of Mount Lu: On the Significance of Perspectives and Paradigms“, in: History and Theory 49/1 (2010), S. 58–70. https://doi.org/10.1515/9783111044088-001
2 | Einleitung
gestellt wird und genau aus dieser doppelten Problematisierung ein kreatives Potenzial zur „proliferativen Differenz“ entsteht.5 Im Rekurs auf fremde Texte und ästhetische Traditionen vollzieht sich eine doppelte Distanzierung in sprachlicher, kultureller und historischer Hinsicht; zugleich wird eine Neuannäherung möglich: Aus ihren ursprünglichen Kontexten gelöst, werden chinesische Texte von deutschen Dichtern interpretiert, umgedeutet, umgeformt, absichtlich und unabsichtlich missverstanden oder jenseits gängiger Deutungstraditionen gelesen. Mit der ‚Außenperspektive‘ eröffnen sich ergänzende Blickwinkel auch auf die Ursprungstexte selbst. David Damrosch hat diese zweipolige hermeneutische Wechselbewegung als „elliptical refraction“ bezeichnet.6 Gleichzeitig impliziert die „ästhetische Extraterritorialität“,7 der „Möglichkeitsraum der Distanz“,8 eine Entfernung vom eigenen (literar-)historischen Standort und ermöglicht wiederum eine Bewegung auf diesen zu: „Wer als Poet andere Poesie zu übertragen unternimmt, macht den Versuch, von sich fortzukommen, und weiß dabei genau, daß der Moment eintritt, in dem man ohnehin von sich selber wieder eingeholt wird“, formuliert es Karl Krolow.9 So entfaltet sich die Auseinandersetzung mit der chinesischen Dichtung nicht zufällig gerade in (literar-)historischen Umbruchskonstellationen und an werkbiographischen Wendepunkten. Das Zusammentreffen von „close reading“ bzw. „the most intimate act of reading“, wie Spivak das Übersetzen bezeichnet,10 und „distant reading“ zugleich – hier eher wörtlich verstanden als Lesen über
|| 5 So Aleksey Tashinskiys Metapher für die ‚wuchernde‘ Dynamik in der „Berührung von Texten“ („Das Werk und sein Übersetzer. Translatorische Text-Person-Relationen im Kräftefeld des Originaldispositivs“, in: Andreas F. Kelletat/Aleksey Tashinskiy/Julija Boguna [Hg.], Übersetzerforschung. Neue Beiträge zur Literatur- und Kulturgeschichte des Übersetzens [Arbeiten zur Theorie und Praxis des Übersetzens und Dolmetschens 85]. Berlin 2016, S. 307–348, hier S. 340). 6 David Damrosch, What is World Literature (Translation/Transnation). Princeton/Oxford 2003, S. 282. 7 Sandra Richter, Eine Weltgeschichte der deutschsprachigen Literatur. München 2017, S. 480. Frank und Kittel sprechen ähnlich von einer „Art Doppelexistenz“: Armin Paul Frank/Harald Kittel, „Der Transferansatz in der Übersetzungsforschung“, in: Armin Paul Frank/Horst Turk (Hg.), Die literarische Übersetzung in Deutschland. Studien zu ihrer Kulturgeschichte in der Neuzeit (Göttinger Beiträge zur Internationalen Übersetzungsforschung 18). Berlin 2004, S. 3–67, hier S. 60. 8 Arne Klawitter, Ästhetische Resonanz. Zeichen und Schriftästhetik aus Ostasien in der deutschsprachigen Literatur und Geistesgeschichte. Göttingen 2015, S. 32. Vgl. auch ebd., S. 26. 9 Karl Krolow, „Der Lyriker als Übersetzer zeitgenössischer Lyrik“, in: Bayerische Akademie der schönen Künste (Hg.), Die Kunst der Übersetzung. München 1963, S. 109–134, hier S. 119. 10 Gayatri Chakravorty Spivak, „The Politics of Translation“, in: Dies., Outside in the Teaching Machine. New York/London 1993, S. 179–200, hier S. 183.
Fragestellung | 3
große Entfernungen jeglicher Hinsicht hinweg, häufig auch unter Zuhilfenahme von vermittelnden Übersetzungen11 – eröffnet einen hybriden poetischen Experimental- und Verhandlungsraum. Höchst unterschiedlich sind die Texte, die vor dem Hintergrund wechselnder politischer, gesellschaftlicher und literarhistorischer Konstellationen daraus hervorgehen: Vielfach als Übersetzungen oder mit dem vagen Terminus der ‚Nachdichtung‘ ausgewiesen, zeugen sie von einem breiten Spektrum an Zugängen und intertextuellen Verflechtungen, von Versuchen, chinesische Schreibweisen und lyrische Weltzugänge im Deutschen zu adaptieren, die Spannungen verschiedener Literaturen greifbar zu machen und die Rolle des Dichters in der Gesellschaft auszuhandeln. Die Forschung hat solche Prozesse mit Blick auf die jüngere und jüngste deutschsprachige Lyrik bisher kaum in den Blick genommen: Während Aneignungen chinesischer Lyrik von Goethe über Friedrich Rückert bis hin zu Albert Ehrenstein, Richard Dehmel und Klabund verhältnismäßig viel Aufmerksamkeit erfahren haben, sind die Austauschprozesse nach dem Abflauen der ‚Chinamode‘ seit den 1920er Jahren noch kaum zureichend untersucht worden. Eine gewisse Ausnahme bilden hier allenfalls Bertolt Brecht und Günter Eich, aber selbst für ihre jeweiligen Werkzusammenhänge kann die Frage nach dem Stellenwert der China-Rezeption noch keineswegs als abschließend geklärt gelten. Vollends sind die einschlägigen Adaptionen seit den 1970er Jahren von der Forschung noch fast gar nicht beachtet worden. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, diesem Desiderat abzuhelfen und in einer Reihe von Fallstudien produktive Spielarten des Zusammentreffens von chinesischer und deutscher Lyrik im 20. und frühen 21. Jahrhundert zu verfolgen. Damit verbindet sich die Hoffnung, die Geschichte einiger zentraler Umbruchsphasen der Lyrik in diesen hundert Jahren unter veränderter Perspektive neu und facettenreicher, nämlich als Zeit der Begegnung und kreativen Auseinandersetzung mit der fernöstlichen Dichtung, zu erzählen.
|| 11 In diesem Sinne weiche ich von Franco Moretti ab, der den Begriff als literaturwissenschaftliches Forschungsparadigma zum Umgang mit umfangreichen Textkorpora eingeführt hat, die mithilfe der Techniken der Digital Humanities und basierend auf Sekundärliteratur statt Primärliteraturanalyse analysiert werden (vgl. Franco Moretti, Distant Reading. London 2013).
4 | Einleitung
2 Chinesische Dichtung und poetische Reorientierungen seit der Moderne „[T]he inventor of Chinese poetry for our time“ sei Ezra Pound, so eine berühmte Äußerung T. S. Eliots. Pound hatte in Cathay (1915) die Dichtung der chinesischen Klassik durch das Experimentieren mit Techniken der Komprimierung und der Versprachlichung visueller Momentaufnahmen in die ästhetischen Suchbewegungen der Moderne überführt.12 Die vielzitierte Charakterisierung des Dichterkollegen fasst die Anerkennung von dessen großer und eigenwilliger dichterischer Leistung ebenso zusammen wie die Begrenzungen dieses ästhetischen Zugangs durch seine Zeit- und Kontextgebundenheit:13 Pounds ‚Erfindung‘ stellte eine enorm wirkmächtige, ästhetisch vielseitige Art der Transformation chinesischer Dichtung dar. Entgegen dem durch Eliots Diktum nahegelegten Eindruck war sie aber keineswegs die erste einflussreiche Zusammenführung von Moderne und chinesischer Dichtung, noch hielt sie zeitgenössische Dichter davon ab, die Möglichkeiten der Adaptionsprozesse in verschiedenste Richtungen auszuloten. Im angloamerikanischen Raum war es der Autodidakt Arthur Waley, Mitglied der Bloomsbury Group, der mit freirhythmischen, prosanahen Übertragungen sich ebenso von vorangehenden, auf traditionelle englische Versmuster rekurrierenden Zugängen absetzte wie von Pounds im Zeichen des Imagismus konzipierten Verdichtungen. 14 In Frankreich war das Livre de Jade der Parnassienne Judith Gautier schon seit 1867 zum Vorbild einer suggestiv-sinnlichen, die Grenzen von Prosa und Lyrik auslotenden Dichtung avanciert.15 Im deutschsprachigen Umfeld
|| 12 T. S. Eliot, „Introduction: 1928“, in: Ezra Pound, Selected Poems, hg. von T. S. Eliot. London 1968, S. 7–21, hier S. 14. 13 Vgl. Robert Kern, Orientalism, Modernism, and the American Poem. Cambridge 1996, S. 3. „[F]or our time“ ist also in der Wertung durchaus ambivalent und weist auf das Zeitgemäße der Pound’schen Übersetzungen hin, erkennt aber auch deren Beschränkung an. 14 Zur Kontrastierung von Pound und Waley siehe u.a. Hugh Kenner, The Pound Era. London ²1975, S. 195; Eugene Eoyang, „Waley or Pound? The Dynamics of Genre in Translation“, in: Tamkang Review (1988), S. 441–465; Ming Xie, „Pound, Waley, Lowell, and the Chinese ‘Example’ of Vers Libre“, in: Paideuma 22/3 (1993), S. 39–68, hier S. 44f.; Li Furong 李富荣, „Cong Longde he Weili han shi ying yi kan shige fanyi duoyangxing de biyaoxing“ 从庞德和韦利汉诗英译看诗歌 翻译多样性的必要性 (Über die Notwendigkeit von Vielseitigkeit in der Übersetzung am Beispiel der englischen Übersetzungen chinesischer Lyrik durch Pound und Waley), in: Qingchun suiyue 21 (2012), S. 38f. 15 Vgl. Muriel Détrie, „Translation and Reception of Chinese Poetry in the West“, in: Tamkang Review (1992), S. 43–57, v.a. S. 49–53; Pauline Yu, „Judith Gautier and the Invention of Chinese Poetry“, in: Paul W. Kroll (Hg.), Reading Medieval Chinese Poetry. Text, Context, and Culture (Sinica Leidensia 117). Leiden/London 2014, S. 251–288, hier v.a. S. 283f.; Yu Wang, La Réception
Chinesische Dichtung und poetische Reorientierungen seit der Moderne | 5
wiederum griffen Autoren wie Richard Dehmel, Arno Holz, Otto Julius Bierbaum, Klabund und Albert Ehrenstein die Impulse aus dem Englischen und Französischen auf, versuchten aber vor dem Hintergrund der umfassenden soziopolitischen Umbrüche und der damit einhergehenden Reorientierungen der Literatur jeweils eigene Wege zu gehen, um die chinesische Dichtung mit deutschen Strömungen der lyrischen Moderne zusammenzuführen. Für das breitere Publikum stellte freilich Hans Bethges Chinesische Flöte (1907) die chinesische Lyrik als Inbegriff einer scheinbar zeitlosen Lyrik voller Naturbetrachtung, Kontemplation und Freundschaftsbekundungen dar. Stärker noch als im englisch- und französischsprachigen Raum, wo vor allem Pound und Gautier frühere Rezeptionen in Vergessenheit geraten ließen bzw. andere Übersetzer und Aneigner zwangen, sich an ihren Fußstapfen zu messen oder aber prononciert gegen sie abzusetzen, entwickelte sich die lyrische Chinarezeption des frühen 20. Jahrhunderts hier von vornherein im Zusammen- und Widerspiel vieler Stimmen. Der kreative Impuls, der von der Auseinandersetzung mit der chinesischen Dichtung in den europäischen Literaturen ausging, speiste sich somit aus der Dynamik der unterschiedlichen Ansätze.16 Die Impulse spielten wiederum teilweise nach China zurück, wo einige Autoren aus dem Umfeld der sog. Vierten-Mai-Bewegung (五四运动), die ihrerseits nach neuen Ausdrucksformen suchten, westliche Ansätze zur Entwicklung moderner freier Versformen intensiv rezipierten, oft ohne zu wissen, dass die westliche Moderne zentrale Anregungen von der Tradition erhalten hatte, von der sie sich zu befreien suchten.17
|| des anthologies de poésie chinoise classique par les poètes français (1735–2008) (Études de littérature des XXe et XXIe siècles 64). Paris 2016, S. 32–35, S. 142–202. 16 Vgl. u.a. ebd., S. 683. 17 Vgl. Wolfgang Bauer, Western Literature and Translation Work in Communist China. Berlin 1964, S. 2f.; Wolfgang Kubin, „Das geliehene Ich. Chinas Suche nach der verlorenen poetischen Form“, in: Ders. (Hg. u. Übers.), Nachrichten von der Hauptstadt der Sonne: Moderne chinesische Lyrik 1919 – 1984 (Edition Suhrkamp 1322 = N.F. 322). Frankfurt a.M. 1984, S. 7–23. Eliot Weinberger, 19 Ways of Looking at Wang Wei (With More Ways). New York [1987] 2016, S. 27f.; Shouhua Qi, Western Literature in China and the Translation of a Nation. New York 2012, v.a. S. 56. Hu Shis 胡适 berühmte 1917 vorgebrachten Anstöße zur literarischen Reform durch Absetzung von der Imitation der Klassiker und der Nachahmung überkommener Gefühlsposen entstanden unter anderem in Auseinandersetzung mit Pound (vgl. ebd.). Das heißt nicht, dass die chinesische literarische Moderne vom Westen initiiert wurde; solchen Vorstellungen tritt David Der-wei Wang überzeugend entgegen und weist auf sich aus der chinesischen Tradition und den konkreten historischen Bedingungen entwickelnde Impulse hin (ders., „Introduction: Worlding Literary China“, in: Ders. [Hg.], A New Literary History of Modern China. Cambridge, MA/London 2017, S. 1–28). Zudem gewann die chinesische Moderne auch Impulse aus älteren westlichen Dichtungsepochen; der Einfluss von Goethes Sturm und Drang-Lyrik auf das frühe Schaffen Guo
6 | Einleitung
Die Jahrhundertwende und das frühe 20. Jahrhundert sind die Phasen der Begegnung, denen die Forschung intensive Aufmerksamkeit gewidmet hat. Aber obgleich der (quantitative) Zenit der europäischen ‚Chinamode‘ des 20. Jahrhunderts nach den 1920er Jahren wohl überschritten war, kam der chinesisch-westliche und auch der chinesisch-deutsche lyrische Dialog keineswegs zum Stillstand. Nun galt es, unter veränderten zeit- und literarhistorischen Bedingungen wieder neue Zugänge zur chinesischen Dichtung zu finden. Für den Bereich der englischen und französischen Lyrik liegen dazu relativ viele Studien vor.18 Dagegen hat die bisherige Forschung zum deutschsprachigen Raum noch einen erheblichen Nachholbedarf. Denn tatsächlich erweisen sich chinesische und deutsche Dichtung im mittleren und späteren 20. Jahrhundert bis in die Gegenwart hinein als deutlich intensiver und vielseitiger miteinander verflochten, als dies bisher angenommen wurde. Diese komplexen Vernetzungen im deutschsprachigen Raum sind es daher, denen die vorliegende Arbeit ihr Hauptaugenmerk widmet. Die Rezeption chinesischer Lyrik bot insbesondere in Krisen- und Umbruchszeiten den deutschsprachigen Autoren Anregungen, Impulse und Möglichkeiten der Selbstreflexion und der Erprobung ästhetischer Ansätze. Dabei trat neben die Faszinationskraft der klassischen (v.a. Tang- und Song-)Lyrik ein Interesse an der chinesischen Dichtung des 20. Jahrhunderts. Diese war ihrerseits schon in einen internationalen Dialog eingebunden, entwickelte eigene Formen ungebundener Versdichtung, versuchte aber auch, Fusionen von Moderne und Tradition auszuloten. Jenseits des Kanons, der dem frühen 20. Jahrhundert als Inbegriff der chinesischen Dichtung galt, reagierte die deutsche Dichtung also auch auf die internen Reorientierungsversuche der chinesischen zeitgenössischen Dichtung. Sie griff diese fremden Perspektiven auf das Spannungsfeld zwischen Tradition und Innovation auf, um Positionen zu legitimieren oder sich andere Ansätze zur ästhetischen Reform zu erarbeiten. Untrennbar mit diesen innerliterarischen Perspektiven verbunden ist die Frage des Verhältnisses zwischen Lyrik, Politik und Gesellschaftskritik vor dem Hintergrund der chinesischen Revolutionsereignisse, des Bürgerkriegs und der || Moruos 郭沫若 ist eines der bekanntesten Beispiele. In China ist die Frage nach dem ‚westlichen‘ Einfluss auf die moderne Dichtung kontrovers, der Zusammenhang wurde und wird oft in Angriffen gegen die neuere Dichtung als Kritikpunkt hervorgebracht, vgl. Michelle Yeh, „Chinese Postmodernism and the Cultural Politics of Modern Chinese Poetry“, in: Wen-hsin Yeh (Hg.), Cross-cultural Readings of Chineseness. Narratives, Images and Interpretations of the 1990s (China Research Monograph 51). Berkeley 2000, S. 100–127, v.a. S. 114f. u. S. 120f. 18 Vgl. insbesondere Wang, La Réception; Josephine Nock-Hee Park, Apparitions of Asia. Modernist Form and Asian American Poetics. Oxford 2008.
Horizonte und Annäherungen | 7
Gründung und Entwicklung der Volksrepublik. Die deutschen Autoren verhandelten in der Auseinandersetzung mit der chinesischen zeitgenössischen Lyrik neue, fremde und eigene Gesellschaftsentwürfe und sozialistische Utopievorstellungen. Der Rückgriff auf jüngere chinesische Lyrik durch deutsche Autoren im 20. Jahrhundert impliziert in diesem Sinne beinahe zwangsläufig eine Stellungnahme zu den Visionen und politischen Leitlinien des neuen Staates (nie ohne Blick auf die eigenen politischen Kontexte) und zur Rolle der Dichter in diesen Zusammenhängen. Nicht zuletzt spielten kulturpolitische Institutionen und Akteure eine beträchtliche Rolle als Förderer und Zensoren der lyrischen ChinaRezeption namentlich in der DDR, so dass die Lyrik im Kontext des literarischen „socialist cosmopolitanism“ 19 als kulturpolitisches Instrument zu Propagandazwecken, zur Stärkung und Definition der deutsch-chinesischen Beziehungen eingesetzt wurde – was nicht ausschloss, dass allzu einseitige Indienstnahmen durch Mehrdeutigkeiten wiederum gezielt unterlaufen werden konnten. Im lyrischen Dialog spiegelt sich entsprechend auch das Fragwürdigwerden von Maoismus, postmaoistischem ‚Sozialismus mit chinesischen Charakteristiken‘ ebenso wie deutschen sozialistischen Visionen, so dass spätestens nach der Wende und dem Tian’an-men-Massaker vor allem regierungskritische Dichter rezipiert wurden. Jüngst zeigen sich aber auch verstärkt Versuche, die chinesische Lyrik jenseits einseitig politischer Kategorisierungsversuche wieder stärker in ihrem ästhetischen Gehalt in den Vordergrund zu rücken und damit vereinseitigenden medialen Repräsentationen von ‚Dissidententum‘ entgegenzuwirken.
3 Horizonte und Annäherungen Die einzelnen Kapitel der vorliegenden Arbeit werden, je nach Textmaterial und thematischem Fokus, unterschiedliche Blickwinkel auf die chinesisch-deutschen Transfer- und Transformationsprozesse im Interaktionsfeld von Ästhetik, Politik und Gesellschaft entwerfen. Im Zentrum steht dabei immer die konkrete, vergleichende Textanalyse vor dem Hintergrund spezifischer historischer und literaturgeschichtlicher Konstellationen. Bei der Auseinandersetzung mit diesen Themenkomplexen profitiert die Arbeit von einem reichen Spektrum an Methoden und Verfahrensweisen der literaturwissenschaftlichen Komparatistik, insbesondere der west-östlichen Komparatistik, der Intertextualitäts- und Weltliteratur-
|| 19 Nicolai Volland, Socialist Cosmopolitanism. The Chinese Literary Universe, 1945–1965. New York 2017.
8 | Einleitung
theorie, der Übersetzungsforschung und der Imagologie, deren Theorien und Zugänge die Analyseperspektiven befruchten.
3.1 Weltliteratur im west-östlichen Dialograum In der Untersuchung der diversen zeit-, sprach- und kulturübergreifenden Vernetzungen von Literatur wird diese Studie an nichtkanonische Konzepte der World Literature Studies anschließen, insbesondere an David Damroschs Verständnis von ‚Weltliteratur‘ als dynamischem ‚Zirkulations- und Lesemodus‘.20 Weltliteratur gilt Damrosch – den Verfechtern der Unübersetzbarkeit von Poesie zum Trotz – als „writing that gains in translation“.21 Der Begriff des Originals oder
|| 20 Damrosch, World Literature, v.a. S. 5. 21 Ebd., S. 281, S. 288. Am bekanntesten (und Bezugsfolie für Damroschs Aussage) ist Robert Frosts kolportiertes Bonmot „Poetry is what is lost in translation“. Gottfried Benn konzipiert ähnlich das Gedicht als „das Unübersetzbare“ („Probleme der Lyrik“, in: Ders., Gesammelte Werke in vier Bänden, hg. von Dieter Wellershoff. München ²1962–1966, Bd. 1, 1965, S. 494–532, hier S. 510). Im vorliegenden Zusammenhang soll das Problem der ‚Unübersetzbarkeit‘ von Poesie keinesfalls pauschal in Abrede gestellt oder in seiner literaturtheoretischen Relevanz bestritten werden. Emily Apter beispielsweise fürchtet mit bedenkenswerten Argumenten eine Einebnung und Überspielung von Differenz (Against World Literature. On the Politics of Untranslatability. London/New York 2013). Vorbehalte gegen eine Dominanz des Übersetzbaren und gegenüber einer seines Erachtens nach ästhetisch anspruchslosen, mit Lokalkolorit versehenen und auf internationale Zugänglichkeit hin geschriebenen „world poetry“ hat auch der renommierte Sinologe Stephen Owen in seinem provokativen Essay „What is World Poetry. The Anxiety of Global Influence“ (in: The New York Republic, 19. November 1990, S. 28–32) angemeldet und damit eine polemische Debatte angestoßen. Deutlich differenzierter, wenn auch ebenfalls um Entkontextualisierung und die Aufgabe der Alterität besorgt, argumentiert dagegen Martin Kern, der „world literature“ im Sinne eines Dialogs auf Basis von Inkommensurabilität, wie er ihn bei Goethe verwirklicht sieht, von einer gleichmachenden „global literature“ v.a. der jüngeren Zeit abgrenzt (ders., „Ends and Beginnings of World Literature”, in: Poetica 49 [2017/2018], S. 1–31). Das Phänomen von Werken, die als ‚born-translated‘ eingestuft werden können, für Übersetzung geschrieben hat, hat eingehend und unter Herausstellung von durchaus kreativen Aspekten des Phänomens Rebecca Walkowitz analysiert: Rebecca L. Walkowitz, Born Translated. The Contemporary Novel in an Age of World Literature. New York 2015. – Dass Übersetzen als Abstandsschaffung sowohl Gewinn und Verlust mit sich bringt (vgl. Hans-Georg Gadamer, „Lesen ist wie Übersetzen“ [1989], in: Ders., Gesammelte Werke. Tübingen 1985–1995, Bd. 8, 1993, S. 279–295, hier S. 280), soll nicht geleugnet werden, auch Damrosch thematisiert im übrigen übersetzungsbedingte Bedeutungsverluste (vgl. ders., World Literature, S. 289); diese Verlusterfahrungen können natürlich bis zur Unübersetzbarkeit gehen. Andererseits wird auch diese Arbeit noch mehrfach zeigen, wie aus scheinbar unübersetzbaren Konstellationen produktive transkulturelle Lyrik-Dialoge werden können.
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mindestens dessen überragende Hoheit wird unter diesem Blickwinkel infrage gestellt, an seine Stelle tritt, wie oben bereits angedeutet, die Fokussierung der wechselseitigen Reperspektivierung oder „refraction“ der Texte.22 Das intertextuelle Verhältnis entfaltet sich dabei vor dem Hintergrund des Wechselspiels zwischen weiteren Akteuren und Faktoren. Matthias Freise sieht Leser, Produzent, Text und System als konstitutive Faktoren des „network of relations“, das Weltliteratur ausmache;23 Annette Werberger fordert unter Anknüpfung an Theorien der shared history und der Netzwerkanalyse, Literaturgeschichte als „Verflechtungsgeschichte“ zu schreiben.24 Mit Blick auf China hat Nicolai Volland überdies die zentrale Rolle politischer Kräfteverhältnisse herausgestellt: Weltliteratur sei eine „reflection of forces that lie beyond the text yet imbricate it and the politics of reading and writing.“.25 Nicht zuletzt stehen in der unmittelbaren Gegenwart viele deutsche und chinesische Dichter in einem regen persönlichen Austauschverhältnis. Damit kommt die interpersonale Dimension der Weltliteratur, die schon für Goethe eine zentrale Komponente des vielschichtigen und suggestiven Begriffs ausmachte,26 beständig zum Tragen.
|| 22 Vgl. ebd., sowie Teilkapitel 1 oben. Vgl. zur Hinterfragung des monolithischen Originals auch z.B. Adrian La Salvia, „Der Übersetzer als Dichter des Dichters“, in: Willi Hirdt (Hg.), Übersetzen im Wandel der Zeit (Romanica et comparatistica 22). Tübingen 1995, S. 140–161; Rüdiger Görner, „Zwölf Reflexionen über das Übersetzen (auch am Beispiel Paul Celans)“, in: Literatur und Kritik 38 (2003), S. 57–71, hier S. 59; vgl. auch Eugene Chen Eoyang, The Transparent Eye. Reflections on Translation, Chinese Literature, and Comparative Poetics. Honolulu 1992, v.a. S. 3. Das Konzept des Originals ist freilich von vornherein stark von kulturellen Paradigmen abhängig. So stellt Byung-Chul Han westlichen Originalitätsvorstellungen das Konzept einer „Praxis der Fortschöpfung“, ausgehend von der chinesischen (v.a. Kunst-)Tradition, entgegen (ders., Shanzhai 山寨. Dekonstruktion auf Chinesisch. Berlin 2011, S. 41). Allerdings gerät er bei seinen philosophischen Ausführungen gelegentlich in historisch fragwürdige essentialistische Deutungen, so etwa in der Annahme, das Konzept sei beispielsweise „nur in einer Kultur denkbar, die nicht von revolutionären Brüchen und Diskontinuitäten, sondern von Kontinuitäten und stillen Wandlungen […] überzeugt ist“ (ebd., S. 41f.). 23 Matthias Freise, „Four Perspectives on World Literature. Reader, Producer, Text and System“, in: Weigui Fang (Hg.), Tensions in World Literature. Between the Local and the Universal. Basingstoke 2018, S. 191–206, hier S. 191. 24 Vgl. Annette Werberger, „Überlegungen zu einer Literaturgeschichte als Verflechtungsgeschichte“, in: Dorothee Kimmich/Schamma Schahadat (Hg.), Kulturen in Bewegung. Beiträge zur Theorie und Praxis der Transkulturalität. Bielefeld 2012, S. 109–141. 25 Volland, Socialist Cosmopolitanism, S. 193. Vgl. auch Gisèle Sapiro, „How do Literary Works Cross Borders (or Not)? A Sociological Approach to World Literature“, in: Journal of World Literature 1 (2016), S. 81–96, hier S. 83f. 26 Dieter Lamping sieht darin den Kern des Goethe’schen Weltliteraturbegriffs, auch wenn er die Vagheit anerkennt, die Goethes durch Eckermann festgehaltene Ankündigung des
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Indem die Arbeit einen komparatistischen Rahmen spannt, der große räumliche wie kulturelle Distanzen übergreift, situiert sie sich in einem Forschungsfeld, das in jüngerer Zeit deutlich an Kontur gewonnen hat. Die Komparatistik als ursprünglich weitgehend auf innereuropäische oder euroamerikanische Vergleichs- und Einflussstudien zentrierte Disziplin hat sich in den letzten Jahrzehnten deutlich globaler definiert, nicht zuletzt aufgrund von Beiträgen von Forschern, deren persönliche und akademische Hintergründe jenseits des euroamerikanischen Raums liegen, auch wenn die Überschreitung bzw. Modifizierung einseitig westlicher Theorierahmen nach wie vor eine zentrale Herausforderung bildet.27 Meilensteine von chinesischer Seite waren die Forschungen Qian Zhongshus und Zhang Longxis, die intertextuelle Beziehungsgeflechte ebenso untersuchen wie Affinitäten, Resonanzfelder und Unterschiede in ästhetischen Grundkonzepten.28 Im Rahmen der hier vorgelegten Studie soll insbesondere die Frage nach ästhetischen Ausgangshorizonten, Konventionen und Ausdruckspotenzialen der Literatursprachen die konkrete Dynamik im produktiven || unaufhaltsamen Andrängens der Weltliteratur wohl gezielt behält (Dieter Lamping, Die Idee der Weltliteratur. Ein Konzept Goethes und seine Karriere [Kröner Taschenbuch 509]. Stuttgart 2010, insbes. S. 105, S. 112). 27 Dass sowohl chinesische als auch europäische und amerikanische Forschungen oft unkritisch westliche Theoriemodelle auf asiatische Texte übertragen, wurde vielfach bemängelt: Vgl. u.a. A. Owen Aldridge, The Reemergence of World Literature. A Study of Asia and the West. Newark 1986, S. 59; Wai-lim Yip, Diffusion of Distances. Dialogues between Chinese and Western Poetics. Berkeley/Los Angeles 1993, S. 3, S. 209 (Anm.); Yingjin Zhang, „Engaging Chinese Comparative Literature and Cultural Studies“, in: Ders. (Hg.), China in a Polycentric World. Essays in Chinese Comparative Literature. Stanford 1998, S. 1–17, hier S. 3; Zhang Longxi, „The Challenge of East-West Comparative Literature“, in: Ebd., S. 21–35, hier S. 34; Xiaoyi Zhou/Q. S. Tong, „Comparative Literature in China“, in: Steven Tötösy de Zepetnek (Hg.), Comparative Literature and Comparative Cultural Studies. West Lafayette 2003, S. 268–283, hier S. 278–280. 28 Vgl. Zhang Longxis Aufruf zu einer west-östlichen Hermeneutik, die ästhetische Kommensurabilitäten jenseits aller kontextueller Differenzen aufzuzeigen sucht: The Tao and the Logos. Literary Hermeneutics, East and West. Durham 1992, v.a. S. iv–xviii. Qian Zhongshus 钱锺书 auf Chinesisch verfasste Hauptwerke sind inzwischen in wesentlichen Teilen in Übersetzung zugänglich: Qi zhui ji 七缀集 in der Übersetzung Duncan M. Campbells: Patchwork. Seven Essays on Art and Literature (East Asian Comparative Literature and Culture 1), übers. von Duncan M. Campbell. Leiden/Boston 2014; Guan zhui bian 管锥编 in einer Auswahledition Ronald Egans: Limited Views. Essays on Ideas and Letters (Harvard-Yenching Institute Monograph Series 44), hg. und übers. von Ronald Egan. Cambridge/London 1998. Qian Zhongshu ist tatsächlich einer der wenigen auf Chinesisch schreibenden Komparatisten, die in der westlichen Forschung intensiv wahrgenommen werden. Die Komparatistik in China ist spätestens seit den 1980er Jahren ein blühendes Fach, vgl. für eine Übersicht über Geschichte und Stand der Komparatistik in China Daiyun Yue, China and the West at the Crossroads. Essays on Comparative Literature and Culture, übers. von Geng Song und Darrell Dorrington. Singapur 2016.
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Dialogverhältnis zwischen einzelnen Texten, deren „reverberation“,29 perspektivieren. Mit Blick auf die Tang- und Song-Lyrik, auf der bis zur Jahrhundertmitte das Hauptaugenmerk der deutschen Dichter liegt, wurde mehrfach betont, dass deren ‚Repräsentationshorizonte‘30 sich zum Teil grundlegend von denen der euroamerikanischen Literaturen unterscheiden. Die Lyrik dieser Zeit treibt Eigenheiten der klassischen chinesischen Literatursprache gleichsam auf die Spitze: Die fünf- oder siebensilbigen sogenannten Shi-Gedichte (诗)31 erreichen aufgrund der Tendenz zu einsilbigen Wörtern, des Fehlens von Flexion und der Neigung zur Ellipse und sprachlichen Gedrängtheit einen Grad an Komprimierung und gleichzeitiger Vieldeutigkeit, der in westlichen Sprachen schwer zu fassen oder nachzubilden ist.32 Die vor allem in der Song-Zeit zur Hochblüte gelangende CiDichtung (词), ein vom zentralasiatischen Raum beeinflusstes, ursprünglich liedhaftes Genre, ist formal etwas weniger streng festgelegt, arbeitet aber grundsätzlich mit ähnlichen Techniken der Verdichtung, Parallel- und Kontrastsetzung. Hinzu kommt, dass ein lyrisches Ich in den Gedichten dieser Zeit (im Gegensatz zu anderen Genres und Epochen) nur selten vorkommt, selbst wenn oder gerade weil viele Gedichte durchaus eine Art Gelegenheitslyrik sind bzw. auf konkrete autobiographische Anlässe anspielen. Darin ist nicht nur ein anderes, auf buddhistische, daoistische und konfuzianische Vorstellungen zurückgreifendes Verständnis der Stellung des Menschen im Kosmos abgebildet,33 es ändert sich auch die Grundperspektive: Die Sprecherinstanz ist zwar insbesondere in ihrer emotionalen Reaktion auf ihre Umwelt greifbar,34 allerdings selten explizit genannt,
|| 29 Heh-Hsiang Yuan, „East-west Comparative Literature: An Inquiry into Possibilities“, in: John J. Deeney (Hg.), Chinese-Western Comparative Literature Theory and Strategy. Hongkong 1980, S. 1–24, hier S. 14. Vgl. auch Klawitters Resonanzbegriff im Aufeinandertreffen verschiedener „Wahrnehmungsraster und Wissensordnungen“: Ders., Ästhetische Resonanz, S. 24. 30 Vgl. Yip, Diffusion, S. 29–62. 31 Shi-Gedichte haben wahlweise vier Silben, wie im Shijing 诗经, dem Buch der Lieder, oder fünf oder sieben Silben, wie in den klassischen Tang-Gedichten. Die Verse wiederum unterteilen sich in einzelne zusammengehörige Segmente; Reimschemata sind festgelegt, die tonale Struktur kann unreguliert sein, wie im sogenannten Shi alten Stils (guti shi 古体诗) oder streng festgelegt, wie im neuen Stil (jinti shi 近体诗) der Tang-Zeit. 32 Vgl. u.a. William Tay, „The Substantive Level Revisited: Concreteness and Nature Imagery in T’ang Poetry“, in: Ders./Ying-hsiung Chou/Heh-hsiang Yuan (Hg.), China and the West: Comparative Literature Studies. Hongkong 1980, S. 127–149, hier S. 146f. 33 Vgl. Kubin, „Das geliehene Ich“. 34 Das Ineinandergreifen von Gefühlsreaktion (qing 情) und konkreter Landschaftsbeschreibung (jing 景) ist zentral für die chinesische klassische Dichtung und ihre Reflexion der Stellung des Menschen im Kosmos. Vgl. auch Cecile Chu-chin Sun, „Comparing Chinese and English Lyrics: The Correlative Mode of Presentation“, in: Tamkang Review 14 (1983), S. 487–507.
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während der Leser Perspektivwechsel vollziehen kann: „Not to determine fixed viewing locations, or not to use syntax to articulate such relationships, is to give back to the reader-viewer the freedom of moving into and about the scene, simultaneously engaging with and disengaging from the objects therein“, 35 so der Dichter und Literaturwissenschaftler Wai-lim Yip, der in diesem Zusammenhang noch eine weitere Eigenart der chinesischen Literatursprache und -konzeption für zentral erachtet: die Nicht-Festlegung des Tempus. Der Übersetzer kann unter solchen Vorzeichen also je nach Tempuswahl beispielsweise reflexive oder narrative Komponenten, ‚Zeitloses‘, Gegenwartsdeutung oder Erinnerung forcieren bzw. stärker zurückstellen oder aber versuchen, mit der temporalen Vieldeutigkeit zu spielen. Obgleich nur wenige der deutschen Dichter unseres Untersuchungszeitraums einen direkten sprachlichen Zugang zu den chinesischen Originaltexten hatten, waren sich die meisten einiger Grundvoraussetzungen der chinesischen Lyriksprache durchaus bewusst. Viele von ihnen arbeiteten intensiv mit Kennern der chinesischen Sprache zusammen. Die ästhetischen Antworten auf diese Herausforderungen fielen, wie noch zu zeigen sein wird, höchst unterschiedlich aus. Selbst wenn die Autoren über geringere Kenntnisse verfügten, stellt sich unverändert die Frage, wie der chinesisch-deutsche Dialog zum Überdenken von Kategorien wie der der ‚lyrischen Subjektivität‘ anzuregen vermag. Die chinesische Dichtung des 20. und 21. Jahrhunderts, die sich in unterschiedlichem Maß an der gesprochenen Umgangssprache orientiert, macht sich die ästhetischen Strategien der klassischen Lyrik auch in freieren Versformen noch teilweise zunutze bzw. kann aufgrund der Flexions- und Deklinationslosigkeit der chinesischen Sprache und der größeren Freiheit zur Aussparung spezifische Interpretationsspielräume eröffnen. Hinzu kommt als weiteres markantes Differenzmerkmal (und als Herausforderung für jede poetische Transformation) die Tonalität der Sprache, die in der klassischen Lyrik, in der Tonmuster relativ streng festgelegt waren, eine zentrale Rolle spielt, aber auch noch in der jüngeren Lyrik Rhythmus und Melodik mitgestaltet. Die Frage nach den unterschiedlichen Schriftsystemen wird im Folgenden demgegenüber eine geringere Rolle spielen. Dass der ‚ideographic myth‘ und die Faszination an dem Unlesbaren, Entsemiotisierten, das man doch visuell zu
|| 35 Yip, Diffusion, S. 31; vgl. auch Xue Siliang, Möglichkeiten und Grenzen der Übersetzung klassischer chinesischer Lyrik ins Deutsche. Ein Beitrag zur Übersetzungswissenschaft und zur Übersetzungskritik. Heidelberg 1992, S. 120–122; Günter Debon, „Formen und Wesenszüge der chinesischen Lyrik“, in: Ders. u.a. (Hg.), Ostasiatische Literaturen (Neues Handbuch der Literaturwissenschaft 23). Wiesbaden 1984, S. 9–38, hier S. 17.
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greifen vermeinte, sowohl im Englischen als auch im Deutschen die Fantasie von Schriftstellern vielfach beflügelt hat, wurde bereits mehrfach aufgezeigt. 36 Seit dem mittleren 20. Jahrhundert tritt dies jedoch insofern zurück, als die Schriftzeichen bei aller ästhetischen Faszinationskraft gewissermaßen ‚entzaubert‘ wurden und die meisten Schriftsteller ein Grundverständnis ihrer Konstruktion aus Laut- und Sinnelementen hatten. Die Frage nach der Zeichenkomposition wird in den nachfolgenden Zusammenhängen daher vor allem dann aufkommen, wenn es konkret um Sprachspiele und metasprachliche Reflexion geht.
3.2 Übersetzung, Nachdichtung, Adaption, Transformation? Spielarten intertextueller und interlingualer Dialogizität Dass etliche der nachstehend untersuchten Texte sowohl von Seiten der Translatologie als auch der Komparatistik behandelt wurden, zeugt von der Notwendigkeit, die literarischen Aneignungen unter verschiedenen Perspektiven in den Blick zu nehmen, stehen diese doch oft in einem komplexen Spannungsverhältnis zu den chinesischen Originalen oder oft auch den Erstübersetzungen. Während manche der hier untersuchten Gedichte u.a. paratextuell das Moment der Abweichung vom Ursprungstext, der Anpassung an eigene ästhetische Ansätze prononcieren, sind viele Texte als Übersetzungen ausgewiesen und fordern damit eine Rezeptionshaltung ein, die die kulturelle und oft auch zeitliche Distanz miteinbezieht und die fremde Autorschaft stärker akzentuiert. Vielfach lassen sich durchaus Strategien erkennen, ein Moment der Differenz ins Deutsche zu transportieren, ohne indessen dem Text die eigene Schreibart gewaltsam ‚überzustülpen‘. Andererseits kann aber auch die Kennzeichnung eines Gedichts als Übersetzung, das Herunterspielen der Umformung eine Strategie der Legitimation eigener ästhetischer Ansätze durch Verweis auf (angebliche) Vor- und Spiegelbilder darstellen; ein als ‚fremd‘ ausgewiesenes Gedicht kann gezielt aus dem aktuellen deutschen literarhistorischen Kontext gelöst werden, um mehr Experimentierfreiheit zu generieren, Darstellungstechniken zu erproben, aber auch weltanschauliche und persönliche Positionen in Umbruchszeiten erst einmal tastend anzunähern, ohne sich bereits unter eigenem Namen dazu bekennen zu müssen. Und schließlich kann ein als ‚Übersetzung‘ markierter Text Freiheiten gegenüber der Zensur eröffnen, dem Leser aber doch die Möglichkeit einer
|| 36 Vgl. insbesondere Christopher Bush, Ideographic Modernism. China, Writing, Media. New York 2012; Zongqi Cai, „Ideographic Myth and Misconceptions about Chinese Poetic Art“, in: Fang (Hg.), Tensions, S. 253–264; Klawitter, Ästhetische Resonanz.
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Deutung auf eigene Kontexte hin gestatten. Gerade die Tatsache, dass die chinesische Sprache und Literatur den meisten Lesern nicht vertraut sind, das Verhältnis zum Original (oder der Nachweis von dessen Existenz) daher deutlich schwerer überprüfbar ist als im Falle europäischer Ausgangssprachen, schafft hier Freiheitsspielräume und Deutungslizenzen. Im Rahmen der Schwerpunktsetzung dieser Arbeit würde eine klare Abgrenzung der ‚Übersetzung‘ von der ‚Bearbeitung‘ bzw. anderen Modi der Aneignung, wie sie einige Vertreter der Übersetzungswissenschaft wie Michael Schreiber fordern,37 den Dynamiken der untersuchten Austauschprozesse nicht gerecht. Sachgerechter scheint es, übersetzungswissenschaftliche Ansätze mit skalar ausgerichteten Ansätzen der Intertextualitätstheorie zu verknüpfen, wie sie in der deutschsprachigen Forschung v.a. von Ulrich Broich und Manfred Pfister vorgeschlagen wurden, um das Spannungsverhältnis zwischen Prä- und Posttext konkreter zu beschreiben.38 Dabei wird von Fall zu Fall darzustellen sein, wie in den jeweiligen Gedichtbeziehungen Potenzial und Grenzen übersetzerischer Aneignung ausgelotet und überschritten werden und wie vom Modus der Übersetzung ausgehend weitere intertextuelle Dynamiken erzeugt werden können. Dieses Verfahren knüpft an methodische Überlegungen von Li Shuangzhi an, der das intertextuelle Spektrum als „signifikantes Interaktions- und Beziehungssystem“ fasst, „in dem Poesie und Wissen, das Fremde und das Eigene, Sprachen und Weltbilder sowie Poetiken und Ideenwelten auf vielschichtige Weise miteinander interagieren.“ 39 Die Übergänge erweisen sich mithin vielfach als äußerst fließend, oft bei ein- und demselben Autor oder in ein- und demselben Text. Entscheidungen, die sprachlich eher als kaum merkliche Eingriffe erscheinen mögen, können vor einem spezifischen literarhistorischen Hintergrund drastische Verschiebungen der interpretatorischen Implikationen eröffnen. Ein Rückgriff
|| 37 Vgl. insbesondere Michael Schreiber, Übersetzung und Bearbeitung. Zur Differenzierung und Abgrenzung des Übersetzungsbegriffs. Tübingen 1993. 38 Vgl. den einschlägigen Band von Ulrich Broich/Manfred Pfister (Hg.), Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Tübingen 1985, darin insbesondere Pfisters Diskussion der Intensitätsgrade von Intertextualität anhand der Kriterien ‚Referentialität‘ (Offenlegung der Eigenart des Prätextes), ‚Kommunikativität‘ (Bewusstheit des Bezugs bei Autor und Leser), ‚Autoreflexivität‘ (Metareflexion der Intertextualität), ‚Selektivität‘ (Pointiertheit und Abstraktionslevel des Bezugs) und ‚Dialogizität‘ (semantische und ideologische Spannungen): Ders., „Konzepte der Intertextualität“, S. 1–30, v.a. S. 26–29. 39 Shuangzhi Li, „Konkurrenz und Konnex. Eine Beobachtung zur Übersetzung chinesischer Lyrik durch deutsche Dichter und Sinologen im frühen 20. Jahrhundert, in: Gerhard Lauer/Yixu Lü (Hg.), West-östliche Wahlverwandtschaften. Hans Bethge und die historischen und ästhetischen Konstellationen um 1900. Würzburg 2000, S. 159–175, hier S. 163.
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auf die im historischen Übersetzungsdiskurs so gängigen Klassifikationen wie die der ‚treuen‘ oder ‚freien‘, ‚einbürgernden‘ oder ‚verfremdenden‘ Übersetzung mag einer intuitiven Einordnung der Gedichte entgegenkommen, verspricht aber kaum begriffliche Präzisierung. Vergleichbare, teilweise westliche Theorien rezipierende Debatten wurden im Chinesischen um die Gegensatzpaare zhiyi 直译 (‚direktes Übersetzen‘) oder auch yingyi 硬译 (‚hartes‘/‚steifes‘ Übersetzen) versus yiyi 意译 (‚Sinnübersetzen‘) bzw. ouhua 欧化 (Europäisierung) vs. hanhua 汉 化 (Sinisierung) geführt.40 Ebenso wenig ist der Begriff der ‚Nachdichtung‘ einer Abgrenzung dienlich, dessen Verwendung durch Zeitgenossen in gänzlich unterschiedliche Richtungen weisen konnte. Wenn Autoren selbst Texte als ‚Nachdichtung‘ deklarieren, kann dies der Markierung und Rechtfertigung stärkerer Abweichungen vom Original dienen; teilweise impliziert es einen Anspruch auf höhere poetische Qualität im Gegensatz zu ‚trockenen‘ Übersetzungen. 41 Kritiker
|| 40 Vgl. dazu auch Qi, Western Literature, S. 69; zu den Begriffen der ‚Europäisierung‘ und ‚Sinisierung‘ vgl. Qian Zhongshu, unter direkter Bezugnahme auf Schleiermacher: „Lin Shu’s Translations“, in: Ders., Patchwork, S. 139–188, hier S. 140 (im Original „Lin Shu de fanyi“ 林纾的翻 译 [Lin Shus Übersetzungen], in: Ders., Qi Zhui ji 七缀集 [Sieben gesammelte Stiche]. Beijing 2001, S. 89–133, hier S. 90); der Terminus der ‚harten‘/‚steifen‘ Übersetzung entstammt der in den späten 1920ern und frühen 1930er Jahren hitzig geführten Debatte um die stark der Sprache des Originals verhafteten Übersetzungen Lu Xuns 鲁迅 (1881–1936), des ‚Vaters der chinesischen Moderne‘ (vgl. Leo Tak-hung Chan [Hg.], Twentieth‑century Chinese Translation Theory: Modes, Issues and Debates. Amsterdam 2004, S. 179f.; Wang Hongzhi 王宏志, Chong shi „Xin da ya“. Ershi shiji Zhongguo fanyi yanjiu 重释“信达雅” 二十世纪中国翻译研究 [Eine Neubetrachtung von „Treue, Flüssigkeit, Eleganz“. Chinesische Übersetzungsforschung im 20. Jahrhundert]. Shanghai 1999, S. 218–239). Zu Lu Xun siehe auch unten, Kap. 6. Den Hauptausgangspunkt chinesischer übersetzungstheoretischer Überlegungen im 20. Jahrhundert (und teilweise bis heute) bilden vor allem die von Yan Fu 严复 in seinem Vorwort zu Thomas Henry Huxleys Evolutions and Ethics 1897 erstmals aufgeworfenen Kriterien bzw. „Schwierigkeiten“ (nan 难): xin 信 („Treue“), da 达 („Flüssigkeit“, „Verständlichkeit“) und ya 雅 („Eleganz“) (Yan Fu 严复, „Yi liyan“ 译例言 [Einführung des Übersetzers], in: Hexuli 赫胥黎 [Huxley], Tianyan lun 天演论 [Evolutionstheorie]. Beijing 1981, S. xi–xiii, hier S. xi); eine englische Übersetzung des Vorworts liegt inzwischen vor: Yan Fu, „Preface to Tianyanlun [Evolution and Ethics] [1901]“, übers. von C. Y. Hsu, in: Chan (Hg.), Chinese Translation Theory, S. 69–71. Trotz zahlreicher Versuche der Umdeutung und Präzisierung (vgl. bspw. noch Wang Ning, „Studies in the Context of ChineseWestern Comparative Culture Studies“, in: Ders., Globalization and Cultural Translation [Materializing China Series]. Singapur 2004, S. 70–78, hier S. 74f.) sind diese Kategorien von begrenztem Analysewert, insbesondere als Grundlage für Definitions- und Abgrenzungsversuche (vgl. auch Wang, Chong shi „Xin da ya“, S. 3f.); zentral sind sie vor allem für ein Verständnis des historischen Übersetzungsdiskurses in China. 41 Insbesondere in der DDR, wo es zu intensiver Zusammenarbeit zwischen Sprachkennern und Dichtern kam, wurde der Begriff aufgewertet. Vgl. Stephan Krause, „Art. Nachdichtung“, in:
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haben den Terminus ‚Nachdichtung‘ aber durchaus auch derogativ eingesetzt, um Übertragungen als inadäquat zu charakterisieren. Auf den Begriff wird in diesem Sinne allenfalls Bezug genommen, um Selbstcharakterisierungen der Übersetzer nachzugehen bzw. auf den Übersetzungsdiskurs einer Zeit zu referieren. Eine Kategorisierung der Texte nach der Dominanz von Varianz- oder Invarianzkriterien42 birgt für die Fragestellung dieser Arbeit also letztlich nur einen beschränkten Erkenntniswert. Sinnvoll erscheint demgegenüber nur eine präzise Beschreibung des interpretatorischen Differenzpotenzials in der Beziehung der Texte. Auch dies soll nicht im Sinne einer ‚gotcha-Mentalität‘43 zur Bestätigung der (scheinbaren) philologischen Überlegenheit des Forschers geschehen. Es geht nicht darum, Missverständnisse bloßzustellen, mangelnde Sprach- und Kulturkenntnisse oder Exotismen zu kritisieren. Unkenntnis bzw. vage Vorstellungen des Originals können teilweise durchaus kreative Energien freisetzen und in mancher Hinsicht den Dichterdialog erst möglich machen.44 Qian Zhongshu hat zudem aufgezeigt, wie in der chinesischen Begriffsetymologie des ‚Übersetzens‘ Fehldeutung und Verführungsmacht untrennbar verbunden sind: The interrelated and mutually denotative meanings of the words ‘translate’ (yi), ‘inveigle’ (you), ‘decoy’ (mei), ‘misrepresent’ (e) and ‘transform’ (hua) constitute what scholars of poetic diction call ‘polysemy’ or ‘manifold meaning.’ This spectrum of meanings serves to tease out all the various aspects of translation; its function (‘inveiglement’), its unavoidable shortcoming (‘misrepresentation’) and its highest sphere to which it can aspire (‘transformation’).45
Zugleich soll den Autoren auch nicht, wie dies immer wieder geschieht, eine ‚kongeniale‘ Annäherung unter Ausblendung weltanschaulicher und ästheti-
|| Michael Opitz/Michael Hofmann (Hg.), Metzler-Lexikon DDR-Literatur. Autoren ‒ Institutionen ‒ Debatten. Stuttgart 2009, S. 233–235, hier S. 234. 42 Dies ist der Definitionsansatz Schreibers, vgl. ders., Übersetzung, insbesondere S. 43 und S. 105. 43 So der Kafka-Übersetzers Marc Harmann über das Aufspüren von ‚Fehlern‘ durch Forscher, zit. nach Michelle Woods, Kafka Translated. How Translators Have Shaped our Reading of Kafka. New York 2014, S. 5. 44 Für die Produktivität des (gezielten) Missverständnisses hat Harold Bloom längst ein Plädoyer abgelegt (The Anxiety of Influence. A Theory of Poetry. New York 1973; ders.: A Map of Misreading. New York 1975). Mit Blick auf produktive Fehllektüren in der chinesischen Dichtung vgl. u.a. Kern, Orientalism, S. xi; Wolfgang Bauer, „Die Rezeption der chinesischen Literatur in Deutschland und Europa“, in: Debon (Hg.), Ostasiatische Literaturen, S. 159–192, hier S. 161, S. 181. 45 Qian Zhongshu, „Lin Shu’s Translations“, S. 139; vgl. ders., „Lin Shu de fanyi“, S. 89.
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scher Differenzen attestiert werden. 46 Diese Suggestivformel ist unpräzise und nicht hinreichend, um das Wechselspiel aus Annäherungen und Spannung zu fassen, das sich innerhalb des zeit- und kulturübergreifenden Resonanzraums vollzieht. Der Begriff der Übersetzung oder Übertragung wird daher im Folgenden in einem eher weiteren Verständnis verwendet und das konkrete Verhältnis zwischen spezifischen Texten in den Einzelanalysen herausgearbeitet. Oft wird der Transformationsbegriff als neutrale, dynamisch konnotierte Überkategorie bevorzugt,47 um Aneignungsprozesse und Posttexte zu bezeichnen, die Prätexte zugleich in sich integrieren, vermitteln und mit ihnen in einen Dialog treten, die also oft nicht nur „in Ketten tanzen“,48 sondern vielfach an diesen Ketten rütteln und sie zu sprengen oder abzuwerfen suchen. In einzelnen Fällen werden darüber hinaus auch Pseudo-Übersetzungen behandelt bzw. es wird diskutiert, inwiefern Texte als solche eingestuft werden sollten.49 Zu bedenken ist ferner, dass ein erheblicher Teil der hier betrachteten Transferprozesse sich nicht unilateral zwischen zwei Sprachen und Kulturräumen abspielt, sondern ‚Zwischenetappen‘ voraussetzt, so dass also zum Verständnis der Strategien der Dichter der Vergleich mit den konkreten Vorlagen und deren Deutungspotenzial zentral ist. Neben Transformationsprozessen zweiter Hand sind es, verstärkt seit der Jahrhundertmitte, aber auch Kooperationen zwischen deutschsprachigen Dichtern und Sinologen, Chinesisch-Muttersprachlern oder den chinesischen Originalautoren, die die Annäherungen an die chinesische
|| 46 Der Begriff fällt insbesondere im Kontext von Brechts China-Rezeption häufig, vgl. Kapitel 2 der Arbeit. 47 Auch Schreiber verwendet ihn als Überbegriff (Übersetzung, S. 7). Qian Zhongshu spricht ebenfalls von ‚realm of transformation‘ (huajing, 化境, bzw. „transformierende Perfektionierung“, der Begriff entstammt buddhistischen Diskursen), allerdings in einem wertenden Sinne als Ideal einer Übersetzung, die nicht mehr als solche erkennbar ist, dennoch aber die ‚Seele‘ (jinghun, 精鬼) des Ursprungstexts bewahrt (vgl. Qian Zhongshu, „Lin Shu’s Translations“, S. 139f.; im Original: „Lin Shu de fanyi“, S. 89). André Lefevere, der sich intensiv mit den Dynamiken zwischen verschiedenen kreativen Modi befasst hat, benutzt im Englischen den Begriff des „rewriting“ als Überkategorie für ineinander übergehende Aneignungsformen (Translation, Rewriting, and the Manipulation of Literary Fame [Translation Studies]. London 1992, S. 2); ein deutsches Pendant wie „Umschreibung“ wäre freilich verwirrend. 48 Nietzsches Vorwurf an die griechischen Künstler (Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. von Giorgio Colli u.a. Berlin 1967ff., Abt. 4, Bd. 3: Menschliches, Allzumenschliches 2, 1967, S. 250) wurde vielfach auf die Übersetzer übertragen, vgl. u.a. Gabriele Leupold (Hg.), In Ketten tanzen. Übersetzen als interpretierende Kunst. Göttingen 2008. 49 Vgl. zum Phänomen der Pseudo-Übersetzungen Gideon Toury, Descriptive Translation Studies – and beyond. Revised Edition. Amsterdam/Philadelphia 2012, S. 47–59.
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Literatur ermöglichen. Indirekte Transformationsprozesse, die historisch eher die Regel als die Ausnahme darstellten, im 20. Jahrhundert jedoch eine starke Delegitimierung erfuhren, sind seit den 1970er Jahren, u.a. mit der Entwicklung der nicht-normativen Descriptive Translation Studies50 und mit den Forschungen Jürgen von Stackelbergs und des Göttinger SFBs „Literarische Übersetzung“, als zentraler und vielseitiger Forschungsgegenstand literarhistorisch ausgerichteter Übersetzungsforschung ausgewiesen worden,51 auch wenn Vorbehalte weiterhin in vielen Studien spürbar sind. Ebenso haben jüngere Übersetzungsforschungen, insbesondere die Arbeiten von Belén Bistué, Anthony Cordingley und Céline Frigau Manning, den Mythos des ‚einsamen‘ Übersetzers als in der Renaissance erschaffenes und immer wieder variiertes Konstrukt entlarvt, dem eine Vielzahl von Formen der Zusammenarbeit in der Übersetzungspraxis entgegensteht.52 Insofern soll es auch in der folgenden Studie weniger darum gehen, zu fragen, ob eine Annäherung an fremde Texte ohne umfassende Sprach- und Kulturkenntnisse überhaupt möglich und angemessen ist, als vielmehr nachzuzeichnen, auf welche Weise diese Annäherung im jeweils konkreten Einzelfall tatsächlich geschieht und welches Potenzial sich daraus eröffnet. Entsprechend fokussiert diese Arbeit ‚Dichterübersetzer‘ als Figuren, die im literarischen System eine Doppelrolle innehaben. Dichterübersetzungen stellen einen, obgleich nicht seltenen, Sonderfall literarischen Übersetzens dar, der die Literaturgeschichte zentral mitgeprägt hat. Für den deutschsprachigen Raum haben Studien zu Autoren wie Paul Celan wesentlich dazu beigetragen, die Perspektiven der Übersetzungsforschung jenseits traditioneller linguistischer Vorstellungen von Äquivalenzbezügen hin zu kreativen Fortschreibungen zu öffnen.53 Dass || 50 Vgl. grundlegend: Ebd., v.a. S. 161–178. 51 Vgl. Jürgen von Stackelberg, Übersetzungen aus zweiter Hand. Rezeptionsvorgänge in der europäischen Literatur vom 14. bis zum 18. Jahrhundert. Berlin 1984 sowie die Sektion „Indirect Translation in Eighteenth-Century Germany“ mit Beiträgen von Wilhelm Graeber, Geneviève Roche und Harald Kittel in: Harald Kittel/Armin Paul Frank (Hg.), Interculturality and the Historical Study of Literary Translations. Berlin 1991, S. 3–35. Schon 1934 hatte Marce Blassneck eine umfassende Studie zu indirekten Übersetzungen vorgelegt, die dann erst im Umfeld des Göttinger SFB hinreichend Beachtung fand: Frankreich als Vermittler englisch-deutscher Einflüsse im 17. und 18. Jahrhundert (Kölner anglistische Arbeiten 20). New York 1966. 52 Vgl. Belén Bistué, Collaborative Translation and Multi-Version Texts in Early Modern Europe. Fanham 2013. Anthony Cordingley/Céline Frigau Manning, „What Is Collaborative Translation“, in: Dies. (Hg.), Collaborative Translation. From the Renaissance to the Digital Age. London u.a. 2017, S. 1–32. 53 Pionier war hier insbesondere Peter Szondi, „Poetry of Constancy ― Poetik der Beständigkeit. Celans Übertragung von Shakespeares Sonett 105“, in: Sprache im technischen Zeitalter 37 (1971),
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Übersetzen zumeist nicht unabhängig von anderen dichterischen Tätigkeiten steht, erstaunt nicht: Dichter können im Übersetzen neue schriftstellerische Mittel finden oder erproben, zugleich aber auch unkonventionelle Übersetzungstechniken erarbeiten oder Grenzen ausloten.54 Wenn die hier vorgelegte Studie die Übertragungen der Dichterübersetzer herausstellt, so kann dieses Wechselverhältnis in konkreten Fallstudien intensiv erforscht werden. Eine umfassende Geschichte der Übersetzung chinesischer Lyrik bleibt gleichwohl ein Desiderat; eine derartige Ausweitung der Fragestellung hätte aber den Rahmen der vorliegenden Untersuchung bei weitem gesprengt und es nicht mehr gestattet, den Vernetzungen zwischen den Literaturen in der erforderlichen Intensität nachzuspüren.55 Dass ‚dichterische‘ und ‚philologische‘ Übersetzungen keineswegs polare Gegensätze sind – die einen frei, ungenau, mit hohem ästhetischen Eigenanspruch oder kongenialem Gespür, die anderen präzise, trocken, ohne literarischen Reiz –, wurde an anderer Stelle ausführlicher
|| S. 9–25. Vgl. insbesondere auch Leonard M. Olschner, Der feste Buchstab. Erläuterungen zu Paul Celans Gedichtübertragungen. Göttingen 1985. 54 Vgl. u.a. Susan Bassnett, „Writing and Translating“, in: Dies./Peter Bush (Hg.), The Translator as Writer. London 2007, S. 174–183; Judith Woodsworth, „Writers as Translators“, in: R. Kelly Washbourne/Benjamin van Wyke (Hg.), Writers as Translators. London 2019, S. 369–381. – Als kategorial unterschiedlich begreift dagegen Walter Benjamin die Aufgabe des Dichters und Übersetzers in seinem berühmten Essay „Die Aufgabe des Übersetzers“ (in: Ders., Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M. 1972–1999, Bd. 4.1, 1972, S. 10–21): Die Intention des Dichters ziele „allein unmittelbar auf bestimmte sprachliche Zusammenhänge“, die des Übersetzers darauf, die „Intention auf die Sprache, in die übersetzt wird, zu finden, von der aus ihr Echo des Originals erweckt wird“ (S. 16), sie zeuge von einer überhistorischen „Verwandtschaft der Sprachen“ (S. 12) und damit von einer Art messianischen, nicht mehr kommunikativ ausgerichteten „reine[n] Sprache“ (S. 14). Benjamins Essay, der, wie Antoine Berman äußert, „Erleuchtung“ und „Obskurität“ untrennbar zusammenbringe („illumination liée substantiellement à l’obscurité“, Antoine Berman, L’âge de la traduction. La tâche du traducteur de Walter Benjamin, un commentaire, hg. von Isabelle Berman und Valentina Sommella. Saint Denis 2008, S. 28), ist sicher einer der interessantesten und radikalsten Versuche, Übersetzung jenseits der gängigen Konzepte von Treue und Freiheit zu lesen, aber in seiner mystischen Grundierung nur schwer in die konkrete Untersuchungspraxis zu überführen, auch wenn seine eingängigsten Sätze zu den meistzitierten der Übersetzungstheorie zählen. 55 Mit Blick auf die Geschichte der Übersetzung klassischer chinesischer Lyrik sei insbesondere auf die umfangreiche, oben zitierte übersetzungswissenschaftliche Arbeit von Xue Siliang (Möglichkeiten) verwiesen. Unter der Perspektivstellung ihrer Arbeit kann Xue freilich auf die Wechselwirkungen zwischen Übersetzung und eigener Dichtung nur begrenzt eingehen und verweist auf eine solche Studie als Forschungsdesiderat (ebd., S. 273).
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dargestellt und wird auch im Rahmen dieser Arbeit anklingen.56 Das Verhältnis zwischen Dichtern und Philologen ist sehr häufig kompetitiv und kooperativ zugleich und lässt in seinen konkreten Ausformungen sehr unterschiedliche Konstellationen zu. Trennscharf ist die Abgrenzung zwischen Dichtern und anderen Übersetzern in diesem Sinne keineswegs, 57 auch wenn Dichter viel stärker als Zweitautoren oder gar als ‚Autoren eigenen Rechts‘ wahrgenommen werden als die oft ein Schattendasein fristenden ‚normalen‘ Übersetzer58 und ihnen oft ein größerer Freiraum zugestanden wird. Das Hauptaugenmerk der Arbeit auf Dichterübersetzern soll also keine pauschal kategoriale oder wertende Unterscheidbarkeit von Dichter- und Philologenübertragungen suggerieren, auch wenn die Interaktion zwischen eigener Dichtung und Übersetzung experimentellere und eigenwilligere Zugänge in der Grundtendenz durchaus befördert. Einzelne Übersetzer, die nicht primär als Dichter bekannt sind, kommen zu Wort, insbesondere dann, wenn ihre Übertragungen den Dichtern Anregungen lieferten (wie im Falle Erwin Ritter von Zachs), sie in literarischen Kreisen aus anderen Gründen wirkmächtig waren (wie Joachim Schickel im Kursbuch-Umfeld) oder Kontrastperspektiven bieten. ‚Dichtersinologen‘ wie Wolfgang Kubin sind dabei noch einmal ein Sonderfall. Andere Übersetzer, selbst so profilierte wie Günter Debon, die eigene Studien verdienten, konnten unter der Fragestellung dieser Arbeit nicht angemessen gewürdigt werden. Die Gesamtgeschichte der Übersetzung chinesischer Dichtung ins Deutsche und in andere europäische Sprachen muss erst geschrieben werden; die vorliegende Studie mag die eine oder andere Facette dieser Geschichte aber beleuchten und einer größeren künftigen Gesamtdarstellung zuarbeiten.
|| 56 Vgl. Sara Landa, „On the Interplay between Poets’ and Philologists’ Translations of Chinese Poetry into German“, in: Comparative Critical Studies 17/2 (2020), S. 245–262; sowie Li, „Konkurrenz und Konnex“. 57 Vgl. auch Hans Peter Hoffmann, „Klabunds Nachdichtungen chinesischer Lyrik. Tempelschändung oder Gegenübersetzung?“, in: Kelletat/Tashinskiy/Boguna (Hg.), Übersetzerforschung, S. 89–105; sowie Antoine Berman, L’épreuve de l’étranger. Culture et traduction dans lʼAllemagne romantique. Paris 1984, S. 164. Berman sieht in August Wilhelm Schlegel einen der letzten Literaten, der als Dichter und Philologe gleichermaßen auftreten konnte, ehe diese beiden Berufe im Laufe des 19. Jahrhunderts als immer stärker getrennt wahrgenommen wurden (vgl. ebd.). Vgl. zu der in vieler Hinsicht polemisch grundierten Unterteilung in „Dichter, Dilettanten, Sinologen“ auch Hans Stumpfeldt, „Dichter, Dilettanten, Sinologen. Traditionelle chinesische Dichtung in deutscher Übersetzung“, in: Neue Sirene 7 (1997), S. 140–152. 58 Zur Metapher des Übersetzers als ‚Schatten‘ siehe Wolfgang Kubin, Die Stimme des Schattens. Kunst und Handwerk des Übersetzens. München 2001.
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3.3 Fremdbilder und Selbstporträts Natürlich stehen auch Übertragungsprozesse in einer Wechselbeziehung zu Diskursen über China und dessen politisches System,59 dies umso mehr, als viele der ‚chinesischen‘ Textzyklen und -anthologien suggerieren, über das Medium der Dichtung eine Art Quintessenz der chinesischen Kultur oder chinesischer politischer Visionen zu vermitteln.60 Durch die Entscheidungen bei der Textauswahl, die jeweiligen Aneignungsverfahren und vielfach auch die paratextuelle Kommentierung in Vor- und Nachworten oder Anmerkungsapparaten werden unterschiedliche Vorstellungen aufgegriffen, Klischees und Topoi verwendet oder widerlegt. Das fremde Land wird zum eigenen Kontext in Beziehung gesetzt, als Korrektiv verwendet, mit diesem kontrastiert oder an diesen angenähert.61 Die sozialistische Gesellschaftsutopie Chinas ergänzte für viele Autoren des betrachteten Zeitraums zunächst die sowjetische oder galt als Gegenentwurf zu dieser. Insofern begreift die literarische Rezeption vielfach Utopieentwürfe ein oder verweist auf deren Scheitern; sie verhandelt Gesellschaftsentwürfe und -vergleiche. Die Vorstellung des Landes spielt zudem mit der Wahrnehmung oder Imagination von Rolle und Funktion der Dichter in dieser Gesellschaft zusammen, Übersetzung, Biographie- und Gesellschaftskonstruktionen sind somit untrennbar miteinander verbunden. Befördert wird dies auch durch die hohe Zahl an autobiographischen Referenzen in vielen chinesischen Gedichten. Es überrascht
|| 59 Vgl. Mechthild Leutner, „Text – Übersetzung – Weltanschauung. Anmerkungen zum Stellenwert und zur weltanschaulichen Prägung von Übersetzungen“, in: Bochumer Jahrbuch zur Ostasienforschung 21 (1997), S. 13–28. 60 Zur Dominanz ‚repräsentationistischer‘ Rezeptionsmodi im Umgang mit der chinesischen Lyrik vgl. Michelle Yeh, „‘There are no Camels in the Koran’: What is Modern about Modern Chinese Poetry“, in: Christopher Lupke (Hg.), New Perspectives on Contemporary Chinese Poetry. New York 2008, S. 9–26, v.a. S. 9–13. 61 Vgl. u.a. Wolfgang Kubin, „The Importance of Misunderstanding. Reconsidering the Encounter between East and West“, in: Monumenta Serica 53 (2005), S. 249–260; Helmuth F. Braun/Wolfgang Kubin, „Vorwort“, in: Zeitschrift für Kulturaustausch 36/3 (1986), S. 307–309; in demselben Band mit teilweise starker Wertung Lutz Bieg, „Der deutsch-chinesische Literaturaustausch im 20. Jahrhundert“, S. 333–337; daneben Thomas Lange, „China als Metapher – Versuch über das Chinabild des deutschen Romans im 20. Jahrhundert“, S. 342–349; Dietrich Harth, „China – Monde imaginaire der europäischen Literatur“, in: Ders. (Hg.), Fiktion des Fremden. Erkundung kultureller Grenzen in Literatur und Publizistik. Frankfurt a.M. 1994, S. 203–223; Thomas Harnisch/Hans Kühner, „Vorwort“, in: Dies. (Hg.), China übersetzen. Referate der 9. Jahrestagung 1998 der Deutschen Vereinigung für Chinastudien (DVCS) (edition cathay 51). Bochum 2001, S. 7–10, hier S. 8.
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daher nicht, dass produktive Rezeption und das Verfassen von Dichtergedichten oft Hand in Hand gehen.62 Insbesondere seit den 2000er Jahren sind die literaturwissenschaftliche Imagologie und allzu dichotomisch konstruierte postkoloniale Ansätze, auf die diese gelegentlich zurückgreift, in die Kritik geraten. Durchaus zu Recht wurde bemängelt, dass der Eigengesetzlichkeit und Vieldeutigkeit der Literatur sowie den spezifischen Funktionen der ‚images‘ im jeweiligen Text nicht hinreichend Rechnung getragen wurde. 63 Anstatt sich gegenüber den Autoren als überlegen zu präsentieren, deren Fehldeutungen, Klischeevorstellungen oder Sehnsuchtsund Angstprojektionen an einem angeblich historisch-faktischen China zu messen und festzustellen, „daß China- und Chinesenbilder nichts anderes sind als ein Spiegelbild, an dem zeittypische, statische Denkschemata Europas abzulesen sind“, 64 können Vorstellungen zu interkulturellen Konstellationen eher als
|| 62 Zu Terminus und Funktion des Dichtergedichts siehe Heinz Schlaffer, „Das Dichtergedicht im 19. Jahrhundert. Topos und Ideologie“, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 10 (1966), S. 297–335, ergänzend Ralf Sudau, Werkbearbeitung, Dichterfiguren. Traditionsaneignung am Beispiel der deutschen Gegenwartsliteratur. Tübingen 1985. Das Zusammenspiel von Übersetzungen und Dichtergedichten habe ich in Ansätzen bereits darzustellen versucht: „Von Li Bai bis Mao Zedong: Chinesische Dichterhelden in der Lyrik des 20. Jahrhunderts“, in: Achim Aurnhammer/Zhuangying Chen (Hg.), Deutsch-chinesische Helden und Anti-Helden: Strategien der Heroisierung und Deheroisierung in interkultureller Perspektive (Helden – Heroisierungen – Heroismen). Baden-Baden 2020, S. 197–210. 63 Vgl. Manfred S. Fischer, „Literarische Imagologie am Scheideweg. Die Erforschung des ‚Bildes vom anderen Land‘ in der Literatur-Komparatistik“, in: Günther Blaicher (Hg.), Erstarrtes Denken. Studien zu Klischee, Stereotyp und Vorurteil in englischsprachiger Literatur. Tübingen 1987, S. 55–71; Dietrich Harth, „Über die Bestimmung kultureller Vorurteile, Stereotypen und images in fiktionalen Texten“, in: Wolfgang Kubin (Hg.), Mein Bild in deinem Auge. Exotismus und Moderne. Deutschland – China im 20. Jahrhundert. Darmstadt 1995, S. 17–42; Walter Gebhard, „Einführung“, in: Ders. (Hg.), Ostasienrezeption zwischen Klischee und Innovation. Zur Begegnung zwischen Ost und West um 1900. München 2000, S. 7–23; Wolfgang Kubin, „Das traurige Zeitalter. Exotismus und Heilsgeschichte“, in: Ebd., S. 169–183; ders., „‚Kein Notausgang Peking‘. Zum Problem der Repräsentation von China in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur“, in: Walter Gebhard (Hg.), Ostasienrezeption in der Nachkriegszeit. Kultur-Revolution – Vergangenheitsbewältigung – Neuer Aufbruch. München 2007, S. 21–36; Ruth Florack, „China-Bilder in der deutschen Literatur? Überlegungen zur komparatistischen Imagologie“, in: Literaturstraße 3 (2002), S. 27–45. Ansätze aus dem Umfeld von Saids Orientalism werden in diesem Zusammenhang teilweise kritisch revidierend gewürdigt (bei Gebhard und Florack), teilweise auch stark kritisiert (in den Beiträgen Kubins). 64 So Zhang Zhenhuan, „‚Chinesen sind Chinesen, und damit war alles gesagt.‘ Die Struktur der China- und Chinesenbilder in der deutschen Unterhaltungsliteratur“; in: Harth (Hg.), Fiktion des Fremden, S. 224–241, hier S. 238. Vergleichbare Aussagen finden sich vielfach im Bereich der Erforschung literarischer China-Bilder. Vgl. dazu auch Florack, die nachweist, wie in solchen
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dynamische „Denkmodelle“ 65 betrachtet werden, die eigene und fremde Kontexte im imaginativen Raum zusammenführen und Möglichkeiten der Deutung beider eröffnen.
4 Fallstudien Um in den nachfolgenden Fallstudien unterschiedliche ästhetisch-politische Konstellationen mit variierender Akzentsetzung in den Blick nehmen und dem umfangreichen Gesamtkorpus des vorliegenden Materials gerecht werden zu können, werden bei der Strukturierung der Arbeit sowohl chronologische als auch systematische Faktoren berücksichtigt: Das erste Kapitel widmet sich noch einmal in knapper Rekapitulation den Aneignungsprozessen in der Hochphase der Chinamode von der Jahrhundertwende bis in die 1920er Jahre hinein und soll die Spannweite an Rezeptionsweisen aufzeigen, die Ausgangspunkte für spätere Transferprozesse abstecken. Kapitel 2 wird die lyrische Chinarezeption Bertolt Brechts und Heiner Müllers diskutieren. Das Thema ‚Brecht und China‘ ist tatsächlich bereits vielfach behandelt worden. Dennoch ist bis heute umstritten, welche Rolle die Begegnung mit der chinesischen Lyrik für Brechts Exildichtung und das Spätwerk spielte und inwieweit die chinesische Lyrik bzw. die ästhetischen Konzepte, die vor allem Arthur Waley in der Übersetzung entwickelt und auf die Brecht reagiert, für die Ausbildung der ‚reimlosen Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen‘ maßgeblich waren. Heiner Müller, dessen Werk maßgeblich von den Impulsen Brechts zehrt und sich zugleich davon freizuschreiben sucht, wählt sich wie Brecht chinesische Dichterkampfgenossen, allerdings bereits im Zwiespalt zwischen der Konstruktion einer sozialistischen Utopie und deren Problematisierung und Infragestellung. Kapitel 3 ist dem Schaffen zweier deutscher Dichter gewidmet, die sich zeitgleich in China aufhielten und doch ein jeweils eigenes China zu vermitteln oder zu konstruieren suchten: F. C. Weiskopf und Klara Blum. Während Weiskopf als Diplomat der Tschechischen Republik als politischer Akteur in China auftrat und lyrische und politische Tätigkeit in Einklang zu bringen suchte, fand Blum || Studien ein scheinbar kohärentes Chinabild der Autoren erst ‚extrahiert‘ und dadurch hergestellt wird („China-Bilder“, S. 34–38). Eine differenzierte Darstellung zu dominanten Diskurstopoi, aber auch Ambivalenzen, die sich gerade in literarischen Darstellungen ergeben, bietet der Sammelband von Lü und Lauer zu Hans Bethge und seinem Umfeld, vgl. dies. (Hg.), West-östliche Wahlverwandtschaften. 65 Kubin, „‚Kein Notausgang Peking“‘, S. 22.
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aufgrund einer Liebesbeziehung, aber auch aus politischen Überzeugungen nach China und entwarf sich eine neue literarische Heimat und Dichteridentität unter Bezugnahme auf chinesische Dichterfiguren der Vergangenheit und Gegenwart. Beide Autoren sind bestrebt, die Spannung zwischen Tradition und Moderne, die den chinesischen Literaturdiskurs kennzeichnet, für die Erarbeitung einer neuen deutschsprachigen sozialistischen Literatur fruchtbar zu machen, gelangen dabei aber zu konträren Entwürfen, die jeweils zu diskutieren sein werden. Das vierte Kapitel untersucht verschiedene Stationen aus der lyrischen Rezeptionsgeschichte des ‚Dichterrevolutionärs‘ Mao Zedong zwischen den 1950er und 1970er Jahren in Ost- und Westdeutschland. Die Übersetzungen und Variationen von Maos Lyrik suchen dessen lyrische (Selbst-)Porträtierung fort- oder umzuschreiben. Die Auseinandersetzung mit Maos Dichtung bot aber auch die Möglichkeit, die Implikationen des Maoismus und den chinesischen und deutschen Mao-Kult in der frühen DDR und der BRD der 1970er Jahre kritisch oder ironisch zu hinterfragen und sein Gewaltpotenzial anzudeuten. Kapitel 5 setzt sich mit Günter Eich auseinander, der dank seines Sinologiestudiums eine intensive Beziehung zur chinesischen Dichtung unterhielt. Gerade in den frühen Nachkriegsjahren eröffneten die Übersetzungen Eich die Möglichkeit, das Potenzial und die Grenzen verschiedener lyrischer Ausdrucksformen in Zeiten des Umbruchs zu überdenken. Einige der Texte sind offenbar zwar in Auseinandersetzung mit der chinesischen Dichtung entstanden, lassen sich aber nicht mehr auf greifbare Originale zurückführen, sondern deuten eher darauf hin, dass Eich den vorgeblich übersetzenden Schreibmodus nutzte, um ästhetische Mittel und Themen in einem Raum kultureller und historischer ‚Extraterritorialität‘66 zu erproben und dann wieder mit der eigenen Gegenwart zu konfrontieren. Kapitel 6 widmet sich der Rezeption eines Schriftstellers, der nicht nur als ‚Vater‘ der chinesischen Moderne und bedeutendster Autor Chinas im 20. Jahrhundert gilt, sondern zudem selbst als Übersetzer (allerdings v.a. erzählender Literatur) hochproduktiv war: Lu Xun. Während sein eigener Zugang zur Weltliteratur in weiten Teilen über das Deutsche führte,67 wurde er im deutschsprachigen Raum mehrfach entdeckt und wieder vergessen; insbesondere für die Reorientierung der Autoren der 68er Generation spielte er dabei eine wichtige Rolle. Seine
|| 66 Vgl. zu dem Konzept Anm. 1. 67 Vgl. für einen einführenden Überblick ins übersetzerische Werk Lu Xuns Lennart Lundberg, Lu Xun as a Translator. Lu Xun’s Translation and Introduction of Literature and Literary Theory, 1903-1936 (Skrifter utgivna av Föreningen för Orientaliska Studier 23). Stockholm 1989 und siehe weiter Anm. 40.
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Lyrik faszinierte vor allem Jürgen Theobaldy, einen der Autoren, die sich dezidiert mit dem hochkontroversen Konzept einer ‚neuen Subjektivität‘ identifizierten. Theobaldy sieht in der Dichtung Lu Xuns einerseits ein überzeugendes Beispiel der Zusammenführung von Privatem und Politischem. Er stellt sich andererseits der übersetzerischen Herausforderung, dass Lu Xun diese Engführung vor allem in der Lyrik nach klassischen Mustern gelingt, und nimmt diese zum Anlass für eigene formalästhetische Experimente. Diskutiert werden soll dabei auch, wie über die Übersetzung der Versuch gemacht wird, Lu Xun aus den vereinnahmenden politisierten Interpretationsschemata, die sich in China etabliert hatten, zu befreien. Schließlich bietet das Kapitel die Möglichkeit eines Vergleichs dreier Fassungen desselben Gedichts, die Jürgen Theobaldy, Sarah Kirsch und Gisela Kraft zusammen mit Sinologen für eine Lu-Xun-Ausstellung erstellt hatten. Die Untersuchung erlaubt Einblicke in das Phänomen kooperativen Übersetzens, dessen Spielräume, Potenziale und Grenzen. Kapitel 7 geht weniger von individuellen Autoren als von institutionellen und politischen Gesamtzusammenhängen aus und untersucht Lyrikübersetzungen beim Hauptverlag für Übersetzung der DDR, Volk und Welt. Dabei werden zwei Gedichtbände untersucht, für die der Verlag Dichter zur Zusammenarbeit mit Philologen bestellt hatte und die durch ihre Entstehung in historischen Umbruchskonstellationen – einerseits in der Phase des sich zuspitzenden Konflikts zwischen China und der Sowjetunion und der DDR in den frühen 1960er Jahren, andererseits kurz vor der deutschen Wende – verschiedenste Spannungen der Zeit, ein Wechselspiel aus Annäherung an und Abgrenzung von China bezeugen und zugleich doch erkennen lassen, wie Lyrikübersetzungen als kritischer Zeitkommentar genutzt werden konnten. Kapitel 8 schließlich widmet sich einschlägigen Konstellationen der Gegenwartslyrik. Seit den 1990er Jahren, nach dem Ende der DDR und einer durch das Tian’an-men-Massaker veränderten Wahrnehmung Chinas, zogen sich viele Dichter zunächst eher von China zurück. Gleichwohl kann dieser Zeitraum als eine hochproduktive Phase der Lyrikübersetzung gelten, da insbesondere zwei Sinologen, die beide auch selbst Lyriker sind, Wolfgang Kubin und Hans Peter Hoffmann, die postmaoistische Dichtung ins Deutsche übertrugen. Zehrte diese neue chinesische Lyrik zur Überwindung des ‚Mao-Speak‘ selbst aus der Lektüre verschiedener Dichtungen der internationalen Moderne, so führen die Übertragungen ihrerseits Techniken der chinesischen und europäischen Moderne und Postmoderne zusammen. Neben Dichtern aus der VR China gelangen nun zudem auch Exildichter und Autoren aus Hongkong und Taiwan im deutschen Sprachraum zu Wort. Diese Übersetzungen bereiteten damit den Boden für den jüngsten Aufschwung der chinesischen Dichtung: Gerade im letzten Jahrzehnt wird die
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chinesische Lyrik wieder intensiver und vielseitiger rezipiert. Dabei treffen hochpolitische Ansätze mit Versuchen aufeinander, Lyrik jenseits der Festlegung auf politische Stellungnahmen zu rezipieren; Traditionelles und Postmodernes wird spielerisch verflochten; Autoren, die sich nun oft persönlich kennen und zusammenarbeiten, übersetzen sich teilweise wechselseitig.
5 Hinweise zu chinesischen Namen, Begriffen und Zitaten Einige wenige Erläuterungen zum Umgang mit den chinesischen Quellen und Namen in den nachfolgenden Analysen mögen genügen: Die Schreibweisen chinesischer Namen bei den deutschen Dichtern variieren erheblich. Um eindeutige Zuordnungen zu ermöglichen, wird, sofern es sich nicht um direkte Zitate handelt, auf die heute gängige Pinyin-Umschrift zurückgegriffen; bei der Erstnennung werden die chinesischen Schriftzeichen beigefügt. Im Anhang zu dieser Studie findet sich eine tabellarische Übersicht mit den Namen und ihren Umschriftvarianten. Chinesische Gedichte werden für den Vergleich vielfach im Original zitiert. Auf Interlinearversionen oder Pinyin-Versionen ganzer Gedichte wurde dabei verzichtet; im Rahmen des jeweiligen Argumentationszusammenhangs werden die relevanten Passagen durch Behelfsübersetzungen, gegebenenfalls vereinzelte Transliterationen und Erläuterungen angenähert, so dass diese Arbeit nicht nur solchen Lesern zugänglich ist, die beide Sprachen lesen, sondern auch einem breiteren literaturwissenschaftlich interessierten Leserkreis Anregungen zu bieten vermag. Grundsätzlich werden die chinesischen Texte der Übersichtlichkeit und Einheitlichkeit halber von links nach rechts und in vereinfachten Schriftzeichen zitiert, auch wenn das nicht dem klassischen chinesischen Darstellungsformat oder den verwendeten Ausgaben entspricht. Sofern die Verwendung von komplexen Schriftzeichen in Texten nach der Schriftreform der VR China in den 1950er Jahren auf einen Publikationsort außerhalb Festlandchinas verweist und gegebenenfalls politische Implikationen hat, wird darauf hingewiesen.
1 Flucht in fremde Welten? Literarische Aufbrüche nach China seit der Jahrhundertwende 1.1 ‚Ausbeutungen‘ chinesischer Dichtung im frühen 20. Jahrhundert Erzürnt äußerte sich der Sinologe und Übersetzer Leopold Woitsch 1924 anlässlich Albert Ehrensteins Veröffentlichung einer Auswahl von Gedichten Bai Juyis 白居易 (772–846) über ein Phänomen, das er in den letzten Jahren überhandnehmen sah: Leider ist es, seitdem der Gang der Ideen so vielfach nach dem Osten gerichtet ist, Mode geworden, daß Leute, denen ersichtlich jede Berechtigung und jedes Verständnis auf dem Gebiet der Sinologie und was damit zusammenhängt fehlt, sich der sinologischen Arbeiten anderer bemächtigen und sie rein nur zu Geschäftszwecken ausbeuten […].1
Kritiken dieser Art und eine ganze Fülle von Parodien auf chinesische Übertragungen, wie Kurt Schwitters „Banalitäten aus dem Chinesischen“ (1922),2 reagierten auf die oft als Modeerscheinung wahrgenommene Welle an indirekten Aneignungen aus dem Chinesischen durch verschiedene Dichter von der Jahrhundertwende bis in die 1920er Jahre hinein. Hatten schon Goethe und Rückert sich über bestehende Übersetzungen ins Englische bzw. Lateinische an die chinesische Dichtung angenähert, gewann die Beschäftigung mit der chinesischen Lyrik – vor allem die der Tang-Zeit – im frühen 20. Jahrhundert eine neue Dimension; die Transformationen wurden zu einem zentralen Experimentierraum und Ort der Reflexion der Rolle des Dichters. Dabei war die öffentliche Wahrnehmung des Reichs der Mitte zu dieser Zeit höchst ambivalent. Die in Herders vielzitiertem Verdikt, China sei eine „balsamierte Mumie, mit Hieroglyphen bemalt und mit Seide umwunden“,3 gespiegelte Vorstellung von einem Land des
|| 1 L[eopold] Woitsch, „[Rez.] Albert Ehrenstein: Pe-Lo-Thien. Berlin 1923, Ernst Rowohlt Verlag“, in: Asia Major 2/1 (1924), S. 194–196, hier S. 196. 2 Zu den Parodien ‚chinesischer‘ Lyrik vgl. Ingrid Schuster, China und Japan in der deutschen Literatur 1890–1925. Bern/München 1977, S. 159. 3 So Herder in den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (Johann Gottfried Herder, Werke in zehn Bänden, hg. von Martin Bollacher, Günter Arnold u.a. Frankfurt a.M. 1985– 2000, Bd. 6: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, 1989, S. 438). Zum großen Einfluss von Herders Äußerungen auf die literarische Rezeption der folgenden Jahrzehnte sowie https://doi.org/10.1515/9783111044088-002
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Stillstands hielt sich hartnäckig, während zugleich das Schlagwort der ‚Gelben Gefahr‘ kursierte.4 Die chinesische Revolution schien vielen jungen Sozialisten wegweisend, während zugleich traditionelle Philosophien und Denkmodelle, vor allem der Daoismus, zum neuen Heilsversprechen der ‚transzendental Obdachlosen‘ avancierte. 5 Sinologische Übersetzungen ins Deutsche lagen zu diesem Zeitpunkt wenige vor,6 nicht zuletzt, da sich diese Philologie in Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Ländern erst langsam entwickelte.7 Während im Bereich der Philosophie die sprachmächtigen, an biblische Redeweisen angelehnten Übertragungen des Missionars Richard Wilhelm hohe Auflagen erlebten,8 rezipierte man chinesische Lyrik vor allem über Übertragungen zweiter oder auch dritter Hand, insbesondere diejenigen Hans Bethges (die durch die Vertonungen Gustav Mahlers zusätzlich an Popularität gewannen) und Klabunds.9 Die
|| zur historischen Kontextualisierung seiner China-Abwertung vgl. u.a. Adrian Hsia, „Chinesien: Zur Typologie des anderen China mit besonderer Berücksichtigung des 20. Jahrhunderts“, in: Ders./Sigfrid Hoefert (Hg.), Fernöstliche Brückenschläge: Zu deutsch-chinesischen Literaturbeziehungen im 20. Jahrhundert. Bern u.a. 1992, S. 17–48, hier S. 27; sowie Weigui Fang, Das Chinabild in der deutschen Literatur, 1871–1933. Ein Beitrag zur komparatistischen Imagologie (Europäische Hochschulschriften I/1356). Frankfurt a.M. u.a. 1992, S. 107f. 4 Vgl. u.a. Andreas Steen (Verf.)/Mechthild Leutner (Hg.), Deutsch-chinesische Beziehungen 1911–1927. Vom Kolonialismus zur „Gleichberechtigung“. Eine Quellensammlung. Berlin 2006, S. 495–501. 5 Zur Daoismus-Begeisterung des frühen 20. Jahrhunderts vgl. auch Schuster, China und Japan, S. 147–155; Harth, Monde imaginaire, S. 215–217. 6 Zu nennen wären aber insbesondere die Übertragungen Leopold Woitschs, August Pfizmaiers, Alfred Forkes und Erwin Ritter von Zachs. 7 Vgl. Birgit Linder, „China in German Translation: Literary Perceptions, Canonical Texts, and the History of German Sinology“, in: Leo Tak-hung Chan (Hg.), One Into Many: Translation and the Dissemination of Classical Chinese Literature (Approaches to Translation Studies 18). Amsterdam/New York, S. 243–283, hier S. 250–260. 8 Heinrich Detering, „Anfänge einer modernen Chinarezeption in deutschen Kulturzeitschriften um 1900“, in: Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (2009), S. 402–418, hier S. 415. 9 Vgl. zur Popularität dieser beiden ‚Nachdichter‘ den Kommentar in: Klabund [Alfred Henschke], Werke in acht Bänden, hg. von Christian von Zimmermann. Heidelberg 1998–2003 [künftig als KW im Fließtext nachgewiesen], Bd. 7: Übersetzungen und Nachdichtungen, 2001, S. 245. Zu Bethge vgl. weiter Gerhard Lauer/Yixu Lü, „Die Ästhetisierung der Lebenswelt und der Orientalismus um 1900. Das Beispiel Hans Bethge“, in: Dies. (Hg.), West-östliche Wahlverwandtschaften, S. 7–13. Die beiden waren auch zentrale Mittlerfiguren für die Rezeption chinesischer Dichtung in anderen europäischen Ländern, beispielsweise basierten viele der niederländischen Übertragungen auf ihren Fassungen, vgl. Wilt L. Idema, „Purpose and Form. On the Translation of Classical Chinese Poetry”. In: Maghiel van Crevel/Lucas Klein (Hg.), Chinese Poetry and Translation: Rights and Wrongs. Amsterdam 2019, S. 89–109, hier S. 93f.
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deutschen Dichter bezogen sich dabei auf fremdsprachige (vor allem französische, aber auch lateinische und englische) Übertragungen ebenso wie auf vorangehende deutsche Fassungen, die sie umformten. Je mehr deutschsprachige Direktübertragungen zur Verfügung standen, desto weniger ließen sich natürlich die indirekten Übertragungen unter dem Anspruch legitimieren, unzugängliches Material aus der Fremdsprache den deutschsprachigen Lesern überhaupt nahezubringen; implizit ging mit der Weiterverarbeitung der Anspruch auf eine ‚bessere‘, dichterisch sensiblere Aneignung einher. Kontrovers war diese Art der Aneignung, wie oben angedeutet, längst. Nicht nur war bald aufgrund der Flut an ‚chinesischen Gedichten‘ und einhergehenden Klischees „die literarische Vorliebe für China in dem engen Bereich zwischen Erhabenem und Lächerlichen angesiedelt“. 10 Auch spiegelte sich die empfundene Konkurrenz zwischen ‚legitimer‘, also direkter Übertragung eines Textes von Seiten philologisch geschulter Fachmänner, und einer Weiterverwendung solcher Texte durch Dichter in Angriffen dieser und Rechtfertigungsversuchen jener, in Berufungen auf Chinaexperten und Sinologen bis hin zu Angriffen auf die Vertreter der Sinologie. So betont Klabund in einer Antwort auf einen vernichtenden Kommentar des Kritikers Robert Neumann, 11 seine Texte seien von einem Chinakenner durchgesehen worden.12 Albert Ehrenstein, der mit den englischen und österreichischen China-Forschern Arthur Waley und Erwin Ritter von Zach in Verbindung stand, wirft gar der Mehrheit der Sinologieprofessoren „Vergewaltigungsgesuche[]“13 der chinesischen Lyrik vor. Beinahe apologetisch rechtfertigt er eine geplante Auswahl von Tang-Gedichten zugleich „nur als Vorläuferin und Bahnbrecherin der wörtlichen Übertragungen“ von Zachs.14 Kooperativ und kompetitiv war die Beziehung zwischen Dichtern und Philologen somit.15 Zudem kam mit den Mehrfachübertragungen durch Dichter auch || 10 Wolfgang Bauer, „Die Rezeption der chinesischen Literatur in Deutschland und Europa“, in: Günter Debon (Hg.), Ostasiatische Literaturen (Neues Handbuch der Literaturwissenschaft 23). Wiesbaden 1984, S. 159–192, hier S. 181. 11 So wirft Neumann Klabund vor, er mache aus Li Bai einen schlechten Expressionisten: „Er bietet ein Gemenge aus Expressionismus, Schnoddrigkeit und Exotik – bekömmlich für den literarischen Snob, der heute noch als Käufer in den Buchladen tritt.“ („Li Tai Po: Ein deutscher Dichter“, in: Die neue Bücherschau 6 [1928], S. 77–81, hier S. 79). 12 Vgl. zum Streit zwischen Klabund und Neumann Guido von Kaulla, Brennendes Herz Klabund. Legende und Wirklichkeit. Zürich/Stuttgart 1971, S. 79–82. 13 Albert Ehrenstein, Werke, hg. von Hanni Mittelmann. München 1989–2004, Bd. 5: Aufsätze und Essays, 2004, S. 417. 14 Albert Ehrenstein, Werke, Bd. 1, S. 274. 15 Vgl. auch die Anmerkungen in der Einleitung sowie meinen Aufsatz „Interplay“ und Lis zeitgleich erschienenen Beitrag „Konkurrenz und Konnex“.
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hier eine Art Konkurrenzverhältnis auf. Beispielsweise äußert sich Ehrenstein verächtlich unter anderem über Klabunds Versionen der chinesischen Gedichte als „pseudo-originäre[n] Exotismus“.16 War die Beschäftigung mit China wenig vorher nur auf einen kleinen Kreis von Fachleuten und interessierten Laien beschränkt gewesen, entstand nun ein gewisser Kampf um die Deutungshoheit über die chinesischen Texte – und um deren Potenzial als Impulsgeber und Erneuerer der deutschen Dichtung. Denn nicht zufällig kam das Interesse an der Lyrik des kulturell fernstehenden Landes verstärkt in einer Phase historischer, geistesgeschichtlicher und literaturästhetischer Umbrüche und Neuorientierungen auf. Das Nebeneinander und Ineinandergreifen verschiedener literarischer Strömungen und Epochen, die Ambivalenz zwischen deklariertem Traditionsbruch und der Schwierigkeit, sich von diesen Traditionen zu lösen, boten einen Nährboden für Anregungen aus anderen Literaturen. Ebenso beförderten die „Strukturkrise des modernen Ich“17 vor dem Hintergrund einer akzelerierten Modernisierung, die „Umwertung aller Werte“ sowie die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs die Hinwendung zu fremden Kulturen und deren literarischen Weltzugängen – auch als Gegen- und Komplementärentwürfe zur eigenen Tradition.18 Diese komplexen Aushandlungsprozesse lassen sich nicht erfassen, indem man das Phänomen der Ostasienbegeisterung als bloßen „zivilisationsflüchtige[n] Exotismus“ einstuft,19 China und seine Lyrik zum „Fluchtziel“ degradiert.20 || 16 Die Formulierung findet sich in Ehrensteins Aufzeichnungen (zit. nach Ming Jian, Expressionistische Nachdichtungen chinesischer Lyrik [Europäische Hochschulschriften I/1210]. Frankfurt a.M. u.a. 1990, S. 56). Allerdings dürften auch Klabunds Übertragungen mindestens kleinere Spuren im Werk Ehrensteins hinterlassen haben, vgl. Anm. 70. 17 Silvio Vietta/Hans-Georg Kemper, Expressionismus. München 61997, S. 18. 18 Vgl. zu den geistes-, wissens- und literaturhistorischen Grundzügen der Epoche, die eine Hinwendung zu außereuropäischen Traditionen beförderten, Thomas Anz, Literatur des Expressionismus (Sammlung Metzler 329). Stuttgart/Weimar ²2010, v.a. S. 9, S. 57 und S. 179; Viktor Žmegač, „Zum Begriff der Jahrhundertwende“, in: Ders. (Hg.), Deutsche Literatur der Jahrhundertwende (Neue wissenschaftliche Bibliothek 113; Literaturwissenschaft). Königstein 1981, S. IX–LI sowie Vietta/Kemper, Expressionismus, S. 14–40 und S. 114–123. 19 Ebd., S. 57. Hervorh. im Original durch Fettung. 20 Horst Hammitzsch, „Ostasien und die deutsche Literatur“, in: Wolfgang Stammler (Hg.), Deutsche Philologie im Aufriss. Berlin ²1967, S. 599–611, hier S. 610. Vgl. auch Jia Ma, Döblin und China: Untersuchung zu Döblins Rezeption des chinesischen Denkens und seiner literarischen Darstellung Chinas in „Drei Sprünge des Wang-lun“ (Europäische Hochschulschriften I/1394). Frankfurt a.M. u.a. 1993, S. 23 und S. 27; Kuei-Fen Pan-Hsu, Die Bedeutung der chinesischen Literatur in den Werken Klabunds. Eine Untersuchung zur Entstehung der Nachdichtungen und deren Stellung im Gesamtwerk. Frankfurt a.M. 1990, S. 2 und S. 41; Uwe Laugwitz, Albert Ehrenstein: Studien zu Leben, Werk und Wirkung eines deutsch-jüdischen Schriftstellers (Hamburger Beiträge zur
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Dass gängige Vorstellungen wie die eines unversehrten, von westlich-analytischem Denken verschonten ostasiatischen Einheitsempfindens in der Auseinandersetzung mit der chinesischen Literatur bei vielen Autoren eine wesentliche Rolle spielen, ist freilich nicht von der Hand zu weisen.21 So äußert Klabund in seinem Nachwort zu seinen Sprüchen Laozis 老子: „Der östliche Mensch beruht in sich und hat seinen Sinn nur in sich“, während der westliche, zerrissen von analytisch-rationalistischem Denken, sich wieder nach einer östlichen Ganzheit zurücksehne, „nach einem wahren Frieden der Seele, dem absoluten Sinn in sich und an sich“ (KW 7, 2001, S. 163).22 Beim Publikum besonders populär waren jene Gedichte und Anthologien, die „etwas Zartes, Mondscheinhaftes, eine blumenhafte Grazie der Empfindung“23 sowie eine „weltschmerzliche Melancholie“24 in den Vordergrund rücken. Liebe und Erotik, ein in der traditionellen chinesischen Lyrik nach dem Shijing im Vergleich zur westlichen Literatur eher nachrangiger Themenkomplex, stehen stark im Vordergrund, 25 ebenso ein emphatisches Naturempfinden, das an zeitgenössische naturlyrische Bewegungen und traditionelle Naturlyrik durchaus anschließt bzw. eine gewisse Suche nach umfassender kosmischer Einheit zu
|| Germanistik 5). Frankfurt a.M. u.a. 1987, S. 240. Die Beispiele ließen sich mehren. Dagegen wenden sich aber u.a. Yunru Zou, Schi-King, das ‚Liederbuch Chinas‘ in Albert Ehrensteins Nachdichtung. Ein Beispiel der Rezeption chinesischer Lyrik in Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts (Mannheimer Studien zur Literatur- und Kulturwissenschaft 39). St. Ingbert 2006, S. 12 oder Karl Markus Gauß, „Von Barbaropa nach China – Albert Ehrenstein und die chinesische Literatur“, in: Zeitschrift für Kulturaustausch 36/3 (1986), S. 395–398, hier S. 396. 21 Vgl. dazu allgemein Thomas Lange, „China – Fluchtort vor dem europäischen Individualismus. Über ein philosophisches und literarisches Motiv der 20er Jahre“, in: Hsia/Hoefert (Hg.), Fernöstliche Brückenschläge, S. 49–73, Walter Gebhard (Hg.), „Einführung“, in: Ders. (Hg.), Ostasienrezeption zwischen Klischee und Innovation: Zur Begegnung zwischen Ost und West um 1900. München 2000, S. 7–23, hier S. 12, Wolfgang Kubin, „Das traurige Zeitalter. Exotismus und Heilsgeschichte“, in: Ebd., S. 160–183 sowie Christiane C. Günther, Aufbruch nach Asien: Kulturelle Fremde in der deutschen Literatur um 1900. München 1988, S. 184. 22 Klabund bezieht sich dabei allerdings nicht nur auf ein chinesisches Vorbild, sondern verschränkt diese Fernostrezeption mit der europäischen mystischen Tradition, wenn er im Titel des Bändchens Angelus Silesius zitiert: „Mensch / werde wesentlich! Laotse – Sprüche“. 23 Hans Bethge, Die chinesische Flöte. Nachdichtungen chinesischer Lyrik. Heidenheim 191980, S. 95. 24 Hans Heilmann, Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart (Die Fruchtschale 1). München/Leipzig 1905, S. XLIV. 25 Vgl. bspw. Ming Jian, „Europäisierung, Subjektivierung und Erotisierung – Chinesische Liebeslyrik in deutschen Nachdichtungen“, in: Kubin (Hg.), Mein Bild, S. 219–244.
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bedienen scheint. 26 Exotische Motive wie Jade, Seide oder Pflaumenblüten häufen sich insbesondere bei Bethge. Die Gedichte werden bei ihm nicht historisch eingeordnet, so dass eine entkontextualisierte, überzeitliche Gültigkeit und Konstanz der chinesischen Literatur suggeriert wird. Auffallend ist ebenso eine zum Teil archaisierende Sprache, ein vielfach pathetischer Duktus und eine expressive Emotionalität: So hold sind deine Hände, daß Die Blume Lan aus deinen Händen Erblühen sollte. Also würde Die Blume Lan am schönsten sein.27
Das Epitheton „hold“ findet sich vielfach in Bethges Übertragungen, die durch diese poetischen Archaisierungen, die Superlative und die Blumen- und Naturvergleiche eine Erhabenheit der Sprache suggerieren. Traditionell ist Bethge also in Themen- und Metaphernwahl, Stil und Register; zugleich verzichtet er jedoch auf festes Metrum und Reim, experimentiert insofern schon mit den Möglichkeiten, vertraute lyrische Bildgefüge aus den damit verbundenen gängigen Versmustern zu lösen. Indem das chinesische Wort in der „Blume Lan“ (Orchidee) unübersetzt bleibt, werden gezielt vage exotische Vorstellungen aufgerufen, ein Moment der Fremdheit in dem ansonsten problemlos zugänglichen Text suggeriert; Yixu Lü spricht von einer „strategische[n] Synthese von Exotik und alt Vertrautem“.28 Die Popularität der Gedichte dürfte tatsächlich auch daraus zehren, dass traditionelle Topoi der deutschen Lyrik, die zeitgleich vor allem in der expressionistischen Lyrik einer Umwertung unterzogen werden und dadurch im eigenkulturellen Kontext fragwürdig geworden sind, wie beispielsweise der
|| 26 Zu diesem Streben nach Einheit vor dem Hintergrund einer zunehmend wahrgenommenen Fragmentierung und eines Zerfalls von Ich und Wirklichkeit vgl. Wolfdietrich Rasch, „Aspekte der deutschen Literatur um 1900“, in: Žmegač (Hg.), Deutsche Literatur der Jahrhundertwende, S. 18–48. 27 Bethge, Die chinesische Flöte, S. 87. Der Originaltext bzw. der Originalautor (laut Bethge „Schei-min (1858–1901)“ [ebd.]) konnte nicht identifiziert werden, auch nicht von Gu Zhengxiang (Übersetzte Literatur in deutschsprachigen Anthologien, Bd. 6: Anthologien mit chinesischen Dichtungen. Stuttgart 2008, S. 186). Es könnte sich hier um ein pseudo-chinesisches Gedicht handeln. 28 Yixu Lü, „Hans Bethges Nachdichtungen chinesischer Lyrik“, in: Lauer/Lü (Hg.), West-östliche Wahlverwandtschaften, S. 31–49, hier S. 48. Der Titel des Aufsatzes ist im Inhaltsverzeichnis abweichend als „Hans Bethges Arbeit an der chinesischen Lyrik“ angegeben.
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Mondschein, 29 in den ‚fremden‘ Gedichten ohne Vorbehalt als Emotionsträger fungieren können.30 Spannungsvoller gestaltet sich der Rückgriff auf traditionell poetische Topoi im exotischen Gewand bei anderen Autoren der Zeit, insbesondere dem Expressionismus verbundenen. Die meisten deutschen Dichter hatten über die Beschäftigung mit anderen Vorlagen und Literaturgeschichten ungefähre Vorstellungen von der in der klassischen chinesischen Lyrik besonders ausgeprägten Prägnanz und Verknappung, der stärkeren visuellen Konkretheit und der Verwendung parallelistischer, inhaltlich teilweise antithetischer Parataxen entwickelt.31 Die ausgeprägte Formstrenge der Tang-Gedichte vor allem des jintishi-Stils mit ihrem intensiven Wechselspiel aus Kontrast und Parallelisierung auf Ton-, Bild- und Syntaxebene blieb den deutschen Autoren natürlich noch weitgehend unzugänglich. So spielt beispielsweise Klabund mit den Möglichkeiten elliptischer Verknappung im Deutschen, wobei diese in seinen Übertragungen wesentlich ausgeprägter sind als in seinem ‚eigenen‘ Werk. Das vorgefundene Material erlaubt ihm also ein Experimentieren mit Sprache und einer fremden Dichtungskonzeption, schließt aber zugleich an zeitgenössische Versuche einer sprachlichen Reduktion in Expressionismus und Dadaismus an. 32 So werden mehrfach Verben oder Artikel in Versen wie „Aber Krieg von Sonne warm“ (KW 7, S. 28)33 ausgelassen, bis hin zur knappen Reihung von Substantiven: „Wolke Kleid / Und Blume ihr Gesicht“.34 Hier wird ein Deutungsraum für verschiedenartige Verknüpfungen der Bildeindrücke eröffnet.
|| 29 Vgl. u.a. Kemper/Vietta, Expressionismus, S. 53. 30 Vgl. auch Lauer/Lü, „Ästhetisierung“, S. 12. 31 Vgl. zu Anknüpfungspunkten und Kontrasten in Bildstrukturen und Sprachgestaltung von Expressionismus und klassischer chinesischer Lyrik auch Jiang Aihong, „Vergleichende Untersuchungen der traditionellen chinesischen und der expressionistischen Lyrik“, in: Literaturstraße 4 (2003), S. 129–146, Dagmar Yu-Dembski, „West-östliche Spiegelungen. Kulturbegegnungen in der Zwischenkriegszeit (Klabund – Lin Fengmian – Li Jinfa“, in: Almut Hille/Gregor Streim/Pan Lu (Hg.), Deutsch-chinesische Annäherungen. Kultureller Austausch und gegenseitige Wahrnehmung in der Zwischenkriegszeit. Köln u.a. 2011, S. 35–48, hier S. 38f. sowie Fang-hsiung Dscheng, Alfred Döblins Roman „Die drei Sprünge des Wang-lun“ als Spiegel des Interesses moderner deutscher Autoren an China (Europäische Hochschulschriften I/305). Frankfurt a.M. u.a. 1979, S. 80 und Jian, Expressionistische Nachdichtungen, S. 53. 32 Vgl. ebd., S. 98–103. 33 Das Gedicht „Winterkrieg“, das Forke als „Nordfeldzug“ übersetzt hatte, geht von Li Bais „In den Norden marschieren“ (北上行) aus. Vgl. Pan-Hsu, Bedeutung, S. 277. 34 Ebd., S. 46. Der chinesische Gedichttitel ist tatsächlich mit regulärer deutscher Grammatik schwer wiederzugeben, will man ihn nicht explikativ erweitern: „Bei Wolken an die Kleidung
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Wenn auch parataktische Reihungen, das Nebeneinander verschiedener visueller Eindrücke und Verknappungen der Form insbesondere in den expressionistischen Versuchen, Simultaneität zu artikulieren, eine beträchtliche Rolle spielen,35 steht doch die Harmonisierung oder das Zusammenwirken der Gegensätze in vielen ‚chinesischen‘ Gedichten den oft grellen Kontrasten, dem ungebundenen Nebeneinander disparater Eindrücke und Erlebnisse in den expressionistischen Gedichten entgegen. 36 Pauschal davon zu sprechen, Klabund oder Ehrenstein würden expressionistische Texte aus ihren Vorlagen machen, ist eine starke Vereinfachung. Unter den Übertragungen sind durchaus solche, die sich keineswegs nahtlos dem eigenen Werk einfügen lassen würden, in der Mehrzahl der Übertragungen wird beispielsweise der Natur noch eine Rückzugs- und Schutzfunktion, ein Moment des Idyllischen beigemessen, wie sie in der modernen Großstadtlyrik als Illusion entlarvt wird. Das trifft keineswegs nur auf Autoren wie Bethge zu, auch bei Ehrenstein wird in den späteren Texten mindestens die temporäre Möglichkeit eines Refugiums thematisiert (s.u.). Andererseits gibt es natürlich Rückwirkungen von der eigenen Lyrik auf die Übertragungen, in die beispielsweise Dissonanzen eingefügt werden. So weckt ein Gedicht Ehrensteins nach Bai Juyi unter dem Titel „Stille“ noch traditionelle Erwartungen, die ersten beiden Verse „Nachts allein am Fuß des Hügels. / Langsam wandere ich im Mondlicht.“ 37 bieten mit dem einsamen Wanderer in der Natur, der Nachtatmosphäre und dem Mond noch Topoi auf, die dem deutschen Leser chinesischer Lyrik mehr als geläufig sind. Umso drastischer wirkt der Kontrast zu den folgenden beiden Versen des Vierzeilers: „Strom entlang hallt überall der Schall der Mühlen, / Mondnacht stirbt im Gedröhn der Glimmerstampfen.“ Die Mondnacht mit ihrem umfangreichen Konnotations- und Assoziationshorizont aus der traditionellen Dichtung wird explizit zu Grabe getragen; Einsamkeit, Kontemplativität und Stille finden ihr jähes Ende in einer Art vorindustriellem Lärm, der in der Häufung von Alliterationen und Assonanzen herausgestellt wird. Der Begriff „Gedröhn“ lässt ebenso wie der Neologismus „Glimmerstampfen“ eher an
|| denken, bei Blumen an das Gesicht“ (清平调·云想衣裳花想容), vgl. zur Identifikation Ma Zuyi 马祖毅/Ren Rongzhen 任荣珍, Hanji waiyi shi 汉籍外译史 (Geschichte der Übersetzungen chinesischer Schriften). Wuhan 1997, S. 307. 35 Vgl. zu diesen Formen vor dem Hintergrund veränderter Wahrnehmungsvoraussetzungen allgemein Vietta/Kemper, Expressionismus, S. 31–39. 36 So betont Jian zu Recht, den Übertragungen Ehrensteins und Klabunds fehle „das Jähe, die dissonante Spannung, das Dämonische, die Inkohärenz und der Zerstörungswillen vieler expressionistischer Gedichte“ (dies., Expressionistische Nachdichtungen, S. 53). 37 Ehrenstein, Werke, Bd. 3/1, S. 371. Die Vorlage des Gedichts ist nicht ganz klar, eventuell greift Ehrenstein hier tatsächlich einzelne Motive aus anderen Texten auf und ergänzt sie.
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Fabriklärm und Funkensprühen an den Maschinen des 20. Jahrhunderts denken. Gezielt werden hier Erwartungshorizonte eröffnet und ein Rückzug in eine ruhigere Vergangenheit verweigert bzw. diese (literarische) Vergangenheit durch die Vorausdeutung der Moderne als todgeweiht präsentiert.38 Nichtsdestotrotz bleibt letztere als Vergleichsfolie, auch als Sehnsuchtsziel, durchaus erhalten, wird eine ambivalente Haltung zu Sehnsuchtsprojektionen in dieser Konfrontation reflektiert. Neben Naturgedichten sind vor allem zwei Themenkomplexe für die Autoren des frühen 20. Jahrhunderts von hohem Interesse und erlauben eine teilweise spannungsvolle Verflechtung mit eigenen Texten: Rausch und Kriegs- und Sozialkritik.
1.2 „Unsterblich nur ist Li-tai-pe“: Lebensrausch und Weltflucht Li Bai 李白 (701–762), der für seine lyrisch inszenierten Trunkenheitszustände und spielerischen Selbsterhöhungen bekannte Dichter der Tang-Zeit,39 der neben Du Fu 杜甫 (712–770) als wichtigster Dichter der chinesischen Tradition gilt, übte eine enorme Faszinationskraft auf die deutschen Autoren aus. Die Mythen um Li Bai spann man im Europa des 20. Jahrhunderts lustvoll weiter: Als „ewig trunkener, ewig heiliger Wanderer“ und „erlauchter Vagabund“ (KW 7, S. 65) wurde er zur Identifikationsfigur, zum Prototyp eines sich weder Macht noch Gesellschaft unterwerfenden Freigeists, zum genialischen Provokateur, der im Alkoholrausch kühne Texte entwirft, in denen er sich selbst, seine Genialität ebenso wie sein Leiden an der Nichtigkeit des Daseins in den Mittelpunkt stellt. Der chinesische Dichter rückt insbesondere bei Klabund in die Nähe François Villons.40 Villons trunkene Selbstgewissheit, „Es wird mein Leichnam erst auf Lorbeer ruhn“ (KW
|| 38 Vgl. für weitere Beispiele ‚expressionistischer‘ Bilder in den ‚chinesischen‘ Gedichten Xiuli Jin, „Tang-Gedichte im deutschsprachigen Expressionismus. Zu Ehrensteins und Klabunds Nachdichtungen von Gedichten Pe-Lo-Thiens“, in: Komparatistik (2008/2009), S. 141–154. 39 Dass Li Bais umfangreiches Œuvre wesentlich vielseitiger ist, muss wohl kaum erwähnt werden. Noch dazu ist der Begriff der Trunkenheit in der chinesischen Dichtung anders konnotiert und zielt weniger auf Exzess, Bruch mit gesellschaftlichen Normen oder heitere Geselligkeit, sondern betont vor allem die Loslösung aus dem Alltag und der sonstigen Umgebung (vgl. einführend James T. C. Liu, The Art of Chinese Poetry. London 1962, S. 59). Unabhängig davon bot das rekurrente Motiv des Trinkens und des Rausches aber eine Möglichkeit, die Lyrik Li Bais mit dem zeitgenössischen deutschsprachigen Literaturkontext in einen Dialog zu bringen. 40 Zur Stilisierung Li Bais bei Klabund vgl. auch Dscheng, Alfred Döblins Roman, S. 71.
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4.1. S. 133), scheint auch der Li Bai Klabunds zu teilen. So lässt Klabund den Dichter in „Der ewige Rausch“ sein eigenes trunkenes Genie ironisieren: Glockenton am Morgen, Trommel im Krieg, Reis im Haus sind unentbehrlich – Ach, Brüder, laßt uns auf einen Rausch, der kein Ende nimmt, hoffen! Vergangenheit ist tot. Die Zukunft ungefährlich. Unsterblich nur ist Li-tai-pe [Li Bai] – wenn er besoffen. (KW 7, S. 46)
Im Original nennt sich Li Bai nicht selbst, impliziert sich aber definitiv in der Aussage, nur die Trunkenen hinterließen ihre Namen (惟有饮者留其名).41 Eine betonte Gelassenheit, der lapidar-umgangssprachliche Ton und ein Hang zur dezidierten Unbescheidenheit, hier mit einer selbstironischen Note, lassen den Li Bai Klabunds zu einem chinesischen Pendant des französischen Vagabundendichters werden.42 Bereits Richard Dehmel hatte Li Bai als trunkenes Genie, das sich im Rausch der Nichtigkeit und dem Übel des Irdischen zu entziehen sucht, rezipiert. Diesem Rückzug setzt Dehmel jedoch eine andere Art von Rausch entgegen: So schreibt er seiner Fassung von Li Bais Gedicht „Worte beim trunkenen Erwachen an einem Frühlingstag“ (春日醉起言志), hier unter dem Titel „Frühlingsrausch“, den Dialog mit dem Prätext sichtbar ein, indem er dem eigentlichen Schluss, in dem sich das aus der Trunkenheit erwachende Ich in Anbetracht der Nichtigkeit und Illusionshaftigkeit des Daseins wieder dem Rausch hingibt,43 eine weitere Strophe hinzufügt. Hans Heilmanns Version, die Dehmel als Vorlage gedient hat,44 endet noch mit den Versen: „Doch wieder gieß ich mir den Becher voll. / Mit lauter Stimme sing ich, bis der Mond erglänzt. / Und wenn mein Sang erstirbt, hab ich auch wieder die Empfindung für die Welt und mich verloren.“45 Auch bei Dehmel greift das lyrische Ich zunächst noch einmal zum Becher: „Wenn dann mein
|| 41 Der Originaltitel lautet „Bringt den Wein herein“ 将进酒, siehe Li Bai 李白, Li Bai ji jiao zhu 李白集校注 (Kritische, kommentierte Edition der Werke Li Bais). Shanghai 1980, Bd. 2, S. 225. Vgl. zur Identifikation des Originals Pan-Hsu, Bedeutung, S. 279. 42 Es überrascht nicht, dass auch bei Brecht die beiden Dichter in „Besuch bei den verbannten Dichtern“ noch zusammen auftreten, dort allerdings weniger unter Betonung der Provokativität und des Rausches, denn vielmehr als von der Gesellschaft ausgestoßene Autoren, die im Schreiben versuchen, ihrer widrigen Zeit kritische und diese überdauernde Werke entgegenzusetzen. Vgl. dazu weiter Kapitel 2 dieser Arbeit. 43 Vgl. Li Bai, Li Bai ji jiao zhu, Bd. 3, S. 1348. Zu Original und möglichen Bezugsübersetzungen siehe Pan-Hsu, Bedeutung, S. 278. 44 Vgl. den Brief an Rudolf Frank vom 2. Oktober 1906, in: Richard Dehmel, Ausgewählte Briefe aus den Jahren 1902 bis 1920. Berlin 1923, S. 114. 45 Heilmann, Chinesische Lyrik, S. 29.
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Mund ausruht, ruht auch mein Groll, / ruht alles, was ich will und kann und soll, / ruht rings die Welt – o ruhte auch die Seele!“46 Nicht nur der optative Konjunktiv stellt den Alkoholrausch als Mittel der Weltflucht in Frage. Dehmel ergänzt eine weitere Strophe: Wer aber kann mit Wein den Gram verjagen? wer kann das Meer mit einem Schluck verschlingen? Der Mensch, in diesen Lebensrausch verschlagen, in dem sich Sehnsucht und Erfüllung jagen, kann nichts tun als in einen Nachen springen, mit flatterndem Haar im Wind die Mütze schwingen und, während ihn die Elemente tragen, sich ihrer Willkür stolz zum Opfer bringen!47
Dehmel fügt hier also keineswegs, wie er selbst behauptet, nur Motive aus verschiedenen Gedichten Li Bais zu einem einzelnen Gedichttext zusammen,48 sondern formuliert vielmehr eine vitalistische Antwort auf die daoistisch ausgerichtete Weltflucht, eine Selbstbehauptung des Ich in der bewussten Annahme des eigenen Untergangs im vollen Exzess. An die Stelle des alkoholischen Rausches als temporäre Lösung aus den irdischen Zuständen tritt der „Lebensrausch“, wobei sich die neugewonnene Vitalität auch im Wechsel von den unregelmäßigen Metren und Rhythmen des vorangehenden Gedichts zum vorwärtsdrängenden fünfhebigen Jambus dieser Strophe abzeichnet. Als eigener Zusatz ist diese dritte Strophe nicht markiert, dennoch handelt es sich um ein bekanntes, um die Jahrhundertwende vielfach aufgegriffenes Gedicht. Je nachdem, ob dem Leser andere Versionen bekannt sind, kann er die Wendung von Weltflucht zur geforderten intensiven Lebens- und Leideserfahrung Li Bai selbst zuschreiben, oder aber darin einen Dialog erkennen. Nähe zum Fremden und Distanzierung von selbigem sind ihm dann gleichermaßen eingeschrieben. Die Auseinandersetzung mit der fremden Dichtung wird damit gerade nicht zum Flucht- oder Schutzraum, sondern zum Ausgangspunkt der Konfrontation der Gegenwart.49
|| 46 Richard Dehmel, Gesammelte Werke von Richard Dehmel. Berlin 1907–1912, Bd. 2: Aber die Liebe: Zwei Folgen Gedichte, 1912, S. 65. 47 Ebd. 48 Vgl. den zitierten Brief an Rudolf Frank vom 2. Oktober 1906. 49 Vgl. auch meine Ausführungen in: „Von Li Bai bis Mao Zedong“, S. 202.
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1.3 Krieg, Sozialkritik und Revolution: Chinesische Lyrik unter dem Eindruck von Weltkrieg und politischem Wandel Möglichkeiten der Konfrontation der eigenen Gegenwart über die Auseinandersetzung mit den fremden Texten boten aber insbesondere die chinesischen sozial- und kriegskritischen Texte. Vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs, der gesellschaftlichen und politischen Umbruchskonstellationen der 10er und 20er Jahre in Deutschland und der Xinhai-Revolution in China gewann eine „Faszination des Häßlichen im Exotischen“ an Raum.50 Zwar fanden sich lyrische Anprangerungen von Kriegsleid und Unrecht schon vorher vereinzelt in anderen ChinaAnthologien.51 Klabund und Ehrenstein stellten aber erstmals Sammlungen zusammen, die ausschließlich oder zentral diejenigen chinesischen Gedichte fokussieren, die sich mit Krieg und insbesondere Kriegsleiden und sozialer Ungerechtigkeit auseinandersetzen. 52 Damit wurden Themenbereiche exponiert, die der Vorstellung einer zeit- und geschichtsenthobenen, von sensibler Empfindung, erhabener Betrachtung oder rauschhafter Melancholie geprägten Dichtung diametral entgegengesetzt waren. Wiederum lag der Schwerpunkt eindeutig auf den Tang-Klassikern, allerdings trat hier Li Bai stärker in den Hintergrund, während Du Fu bei Klabund in den Vordergrund rückte und Albert Ehrenstein die Grundlage für die Rezeption Bai Juyis als des sozialkritischen Autors der chinesischen Geschichte legte.53 Dass Klabund sich gerade 1915 mit chinesischer Kriegsdichtung auseinanderzusetzen begann, ist nicht verwunderlich. Hochinteressant ist jedoch, wie die Texte seiner ‚chinesischen‘ Sammlung Dumpfe Trommel und berauschtes Gong mehrheitlich eine Gegenstimme zu Klabunds eigener Dichtung in den Soldatenliedern (1914) und in Dragoner und Husaren (1915) entfalten. So wurden die || 50 Jian, Expressionistische Nachdichtungen, S. 44. 51 Judith Gautiers Sammlung enthält sogar eine Abteilung „Guerre“, die allerdings nur sieben Texte einbegreift, im Gegensatz zu „Les Amoureux“, der längsten Abteilung, mit 17 Texten. Zudem beschäftigen sich die Texte primär mit der Trennung von Mann und Frau durch den Krieg (vgl. Judith Walter [d.i. Judith Gautier], Le Livre de Jade. Paris 1867, S. 127–139). 52 Vgl. zu Ehrensteins Rezeption Chinas als „Land des Unrechts und der Empörung gegen das Unrecht“ allgemein u.a. Gauß, „Von Barbaropa nach China“, S. 395f. 53 Inwieweit beispielsweise Brecht auch auf Ehrenstein rekurriert bzw. diesen „exploitiert“, wie Ehrenstein es formuliert (Brief an Felix Braun vom 9. März 1950, in: Ders., Werke, Bd. 1, S. 451), wird weiter zu klären sein, jedenfalls aber legen Klabund und Ehrenstein die Grundlage dafür, dass die traditionelle chinesische Lyrik im deutschen China-Diskurs auch als eine kritische, Kampf und Leid reflektierende, wahrgenommen wird. Neben Ehrenstein vermittelte in den 1920er Jahren zudem Hans Böhm Bai Juyi über die englische Vorlage Waleys ins Deutsche (Lieder aus China. Nachdichtungen chinesischer Lyrik. München 1929).
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‚chinesischen‘ Kriegsgedichte mehrfach in Zusammenhang mit der Artikulation von Klabunds Wandel vom Kriegsbegeisterten zum Pazifisten gebracht. Pan-Hsu und Jian sehen darin einen Impulsgeber für den Wandel,54 vorsichtiger zeigt sich Zimmermann: „Eine Distanz zum Hurra-Patriotismus der Kriegszeit ist bei Klabund allemal zu erkennen, eine pazifistische Haltung läßt sich aus diesen Gedichten noch nicht ablesen.“55 Zwar ist auch die in den Übertragungen erkennbare Haltung zum Krieg nicht immer nur negativ,56 jedoch trägt die Sammlung in ihrer Gesamtheit deutliche kriegskritische Züge bzw. stellt vor allem das Leid des Krieges heraus. Jüngst hat insbesondere Mario Zanucchi herausgearbeitet, wie Klabund die kriegskritischen Töne steigert und wohl auch ganze Gedichte erfindet, um mit dieser „klandestine[n] Autorschaft“ subversive Elemente in den Kriegsdiskurs einzubringen und nicht zuletzt seine eigenen Positionen zu hinterfragen: „Unter dem Deckmantel der Nachdichtung erprobt Klabund neue, unheroische Perspektiven auf den Krieg und problematisiert damit auch seine beinahe zeitgleich entstandene kriegsaffirmative Lyrikproduktion.“ 57 Dumpfe Trommel und berauschtes Gong (1915) und Klabunds Soldatenlieder (1914) sowie Dragoner und Husaren (1915) stehen sich also mindestens in Teilen schroff entgegen: Heißt es bei Klabund noch: „Hebt das Herz empor: Kriegsfreiwillige vor!“ (KW 4.1, S. 41), so unterläuft die große Mehrzahl der Übertragungen mit Titeln wie „Fluch des Krieges“ (KW 7, S. 29)58 diese Kriegsbegeisterung deutlich. In Anbetracht von Klabunds auch sonst oft weit von den Vorlagen divergierenden Fassungen und mehreren Fehlern bei der Autorzuordnung59 ist es gar nicht so leicht, mit Sicherheit
|| 54 Vgl. Pan-Hsu, Bedeutung, S. 87f.; Jian, Expressionistische Nachdichtungen, S. 71f. 55 Christian von Zimmermann, „Klabund: Ein Dichter der Jazz-Zeit und seine Rezeption fernöstlicher Literaturen“, in: Wei Maoping/Wilhelm Kühlmann (Hg.), 中德文学关系研究 Zhongde wenxue guanxi yanjiu/Deutsch-chinesische Literaturbeziehungen. Vorträge eines im Oktober 2003 an der Shanghai International Studies University abgehaltenen bilateralen Symposiums. Shanghai 2005, S. 100–143, hier S. 112. 56 Vgl. Jian, Expressionistische Nachdichtungen, S. 72. 57 Mario Zanucchi, „‚Was bleibt vom Heldentum?‘ Klandestine Autorschaft in Klabunds chinesischen Nachdichtungen Dumpfe Trommel und berauschtes Gong, in: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 11/1 (2020), S. 25–41, hier S. 25 bzw. S. 30. 58 Vgl. zur Steigerung der Kritik (unter anderem durch die Änderung des Titels) im Vergleich mit der Vorlage Alfred Forkes, „Elend des Krieges“ und dem Original, „Südlich der Kriegswälle“ 战城南, Zanucchi, „Klandestine Autorschaft“, S. 34; vgl. weiter Sara Landa, „(Alb-)Träume von China: Transformation und Imagination des neuen China in der deutschen Lyrik des 20. und 21. Jahrhunderts“, in: Dominik Pietzcker (Hg.), Drachenspiele. Historische und aktuelle Figurationen europäisch-chinesischer Beziehungen. Baden-Baden 2022, S. 305–322, hier S. 309f. 59 Vgl. Pan-Hsu, Bedeutung, S. 57, S. 61, S. 111–114; Han, China-Rezeption, S. 137; Jian, Expressionistische Nachdichtungen, S. 60.
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zu sagen, ob die nicht zuordbaren Gedichte Pseudo-Übersetzungen im engeren Sinne sind bzw. wo die Grenzen zwischen der Variation bestehender Texte und der Eigenschöpfung verlaufen.60 In jedem Fall ist der übersetzende Modus und die Annahme einer korrespondierenden Rezeptionshaltung die Voraussetzung für die Artikulation von Positionen, die dem zeitgenössischen Diskurs widersprechen, derer sich Klabund aber auch persönlich noch nicht sicher gewesen sein mag. Das ‚Erproben‘ (um mit Zanucchi zu sprechen) dieser tendenziell kriegskritischen, mindestens ambivalenten Haltung hat also zwei Dimensionen: Einerseits, was Zanucchi primär hervorhebt, das gezielte Unterlaufen des Kriegsdiskurses unter Umgehung der Zensur. Andererseits spiegelt sich darin wohl auch eine persönliche Unsicherheit. So war der Wandel der Einstellung zum Krieg bei vielen Intellektuellen, wie Hermann Korte hervorhebt, „kein gradliniger, sondern ein widerspruchsvoller, langsamer, zum Teil recht inkonsequenter, nicht abgeschlossener Prozeß“.61 Das Schreiben von Texten, in denen sich fremde und eigene Stimme mischen, bot sicher auch die Gelegenheit, neue Haltungen zunächst einmal als Denkmodelle einzuführen, ohne sich letztgültig für sie entscheiden zu müssen bzw. ein Schwanken und eine Ambivalenz zu artikulieren, die man angesichts polarer Haltungen im öffentlichen Raum schwer vertreten konnte. Im Juli 1915 schrieb Klabund in einem Brief an den älteren Freund Walter Heinrich, er habe solche chinesischen Kriegslieder ausgewählt, die einen „rein künstlerischen unaktuellen Wert haben“, 62 versucht also auch im privaten Bereich, die Sprengkraft der Texte zunächst zu relativieren und sich nicht auf sie festzulegen. Albert Ehrensteins Übertragungen entstanden nach dem Ersten Weltkrieg, ab den frühen 1920er Jahren. „Krieg“ ist eine der Untersektionen, in die Ehrenstein sein Schi-King [Shijing] (1922) gliedert, allerdings entfällt auf das Kapitel „Liebe“ dort noch die bei weitem größte Zahl der Gedichte. 63 Prägend werden Kriegs- und vor allem Sozialkritik in den Veröffentlichungen Pe-Lo-Thien (1923),
|| 60 Zanucchi betont auch, dass einige nicht chinesische Gedichte wohl insbesondere aus Judith Gautiers Feder stammen (ders., „Klandestine Autorschaft“, S. 27, Anm. 5); freilich waren diese für Klabund ebenso ‚chinesisch‘ wie die Texte, die über eine reale chinesische Vorlage verfügten. 61 Hermann Korte, Der Krieg in der Lyrik des Expressionismus. Studien zur Evolution eines literarischen Themas (Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft 315). Bonn 1981, S. 126. 62 Klabund [Alfred Henschke], Briefe an einen Freund, hg. von Ernst Heinrich. Köln/Bonn 1963, S. 101. 63 Zur Struktur und Themenwahl in Schi-King vgl. v.a. Zou, Schi-King, S. 33–47.
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China klagt (1924) und Po Chü-I (1924).64 Gelangten bisher die chinesischen Gedichte vor allem über die beiden französischen Anthologien Poésie de l’époque des Thang von Marquis d’Hervey Saint Denis und das Livre de Jade von Judith Gautier bzw. die auf diese zurückgehenden deutschen Sammlungen ins Deutsche,65 stützte sich Albert Ehrenstein ab den mittleren 1920ern vor allem auf die deutschen und englischen Übertragungen August Pfizmaiers und Arthur Waleys sowie auf die umfang- und detailreichen Prosaübertragungen Erwin Ritter von Zachs.66 Insbesondere Pfizmaier und Waley widmen sich dem bisher kaum wahrgenommenen Bai Juyi. Gedichte mit soziopolitischem Themenschwerpunkt nehmen dabei einen großen Umfang ein. Bai Juyi, auch unter dem Namen Bai Letian 白乐天 bekannt, den die beiden Titel von 1923 und 1924 nennen, gilt Ehrenstein vor allem in den frühen 1920er Jahren, wie Brecht später, als „Ankläger, der den Übermut und die Verschwendung der Mandarine und Fürsten geißelte, den Schrei der leidenden und hungernden Massen ausstieß“. 67 Seine Dichtung wird eingebettet in eine mit dem Shijing beginnende Tradition der Klage und Anklage in der Literatur. Angedeutet wird dabei ein Zusammenhang zwischen dieser Literatur und der chinesischen Revolution, zu der sich Ehrenstein kaum näher äußert. Dennoch suggeriert nicht nur der Untertitel von China klagt. Nachdichtungen revolutionärer chinesischer
|| 64 So sieht Arne Klawitter in Ehrensteins Übertragungen einen „Übergang von der poetischen Nachdichtung […] zur politisch motivierten Umdichtung“ (Arne Klawitter, „Wie man chinesisch dichtet, ohne chinesisch zu verstehen. Deutsche Nach- und Umdichtungen chinesischer Lyrik von Rückert bis Ehrenstein“, in: Arcadia 48/1 [2013], S. 98–115, hier S. 110). 65 Vgl. zur Rezeption der beiden französischen Anthologien Schuster, China und Japan, S. 90– 96 sowie Wolfgang Bauer, „Die Rezeption der chinesischen Literatur“, S. 177. 66 Erwin Ritter von Zach, der sich im Dauerstreit mit den meisten damaligen Sinologen befand und erst postum gewürdigt wurde, verfasste Prosaübersetzungen, die vor allem als Hilfestellung zur präzisen Erfassung der Bilder gedacht waren, vgl. zu Werk und Vorgehensweise Xue, Möglichkeiten, S. xviif.; Frank Kraushaar, Rez. „Li T’ai-po: Gesammelte Gedichte. Übersetzt von Erwin Ritter v. Zach. Herausgegeben von Hartmut Walravens (Wiesbaden 2000)“ in: China Review International 8/2 (2001), S. 562–565; sowie Jun He, „Übersetzung, Nachdichtung oder Umdichtung? Zur Rezeption der chinesischen Lyrik im deutschsprachigen Raum zu Beginn des 20. Jahrhunderts“, in: Norbert Bachleitner (Hg.), Literary Translation, Reception, and Transfer (The Many Languages of Comparative Literature 2). Berlin/Boston 2020, S. 125–137, hier S. 127–129. 67 Albert Ehrenstein, China klagt: Nachdichtungen revolutionärer chinesischer Lyrik aus drei Jahrtausenden (Malik-Bücherei 8). Königstein 1981, S. 5. Der Band wird im Folgenden mit dem Kürzel CK im Fließtext zitiert. Er wird nicht nach der Werkausgabe zitiert, da diese einzelne Gedichte nur in ihrem Erstveröffentlichungskontext aufführt und daher nur eine Auswahl aus China klagt enthält und die anderen, teilweise bereits veröffentlichten Gedichte anderweitig zuordnet.
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Lyrik aus drei Jahrtausenden, sondern auch das Vorwort jenes Bandes eine Wirkkraft der Dichtung auf das politische Geschehen: Es ist selbstverständlich, daß ein von Traditionen und deren Schöpfern und Nutznießern so bedrücktes Volk wie die Chinesen, im Kaiser auch den obersten Priester ihres Ahnenkults verehrend, Zeit brauchte, ehe es den Mut fand, seine Parasiten anzutasten. Trotzdem geschah das in Schrift und Tat bereits früh und energisch. (CK, S. 5)68
Ehrenstein geht von einer engen Verflechtung von „Schrift und Tat“, von Dichtung und Politik aus. Er wandelt dabei die Kritik in Texten wie „Der Kaiser“ (nach Du Fu) zur expliziten Drohung: „Kaiser, verlaß den Palast, dein sicheres Tor: / Am Ufer des grauen Meeres Ku-ku-nor / Unbegraben drohen dir Totengebeine“ (CK, S. 30). Bei Du Fu selbst ist die Klage über Kaiser Tang Xuanzongs 唐 玄宗 Feldzüge aber bereits scharf: „Seht Ihr nicht/Ihr seht nicht, dass beim Qinghai-See seit alters weiße Knochen liegen, die niemand einsammelt“.69 In Hans Heilmanns Version, die Version Ehrensteins Gedicht zugrunde liegt, 70 ruft die Sprecherfigur den Kaiser noch in einer Mischung aus Anklage und Flehen an: O Kaiser, sähest du die Ufer des blauen Meeres von Ku-ku-noor, Wo die Totengebeine bleichen, die keine fromme Hand gesammelt, Wo die Geister der jüngst Gefallenen den Geistern längst begrabener Toten mit ihren Klagen die heilige Ruhe stören. Trüb ist der Tag und eisig der Regen an jenem grausigen Gestade, und Ächzen und Wimmern hörst du von allen Seiten.71
|| 68 Vgl. weiter He, „Übersetzung“, S. 133f. 69 君不见,青海头,古来白骨无人收。 (Du Fu 杜甫, Du Fu xiang zhu 杜甫详注 [Du Fus Werke mit detailliertem Kommentar], digitale Edition der Datenbank China Ancient Books 中国基本古 籍库, Bd. 2, S. 74–76, hier S. 76). Zur Identifikation des Gedichts „Die Kriegswagen ziehen“ (兵 车行) siehe Pan-Hsu, Bedeutung, S. 276. 70 Ehrenstein nennt die Quellen für die Shijing-Gedichte (Rückert) und Bai Juyi (Pfizmaier), für die zwei Gedichte nach Du Fu allerdings nicht (vgl. CK, S. 5). Dem Gedicht „Der Kaiser“ liegt sicher vor allem Heilmanns gleichnamige und in vielen Formulierungen ähnliche Version zugrunde. Das andere Du-Fu-Gedicht, „Der Werber“, geht wohl auch insbesondere auf diesen zurück, plausibel scheint, dass Ehrenstein zudem Klabund zu Rate gezogen hat. So tragen beider Versionen denselben Titel (bei Heilmann noch „Der Rekrutenjäger“). Während Heilmanns Werber geht, heißt es bei Klabund: „schlich“ und bei Ehrenstein „Einen Schleicher, einen Werber“ (vgl. Heilmann, Chinesische Lyrik, S. 61f., KW 7, S. 15f. und CK, S. 29f. Ehrenstein, der gerne seine Konsultation China-Gelehrter betont, unterschlägt hier wohl geflissentlich die Quellen. 71 Heilmann, Chinesische Lyrik, S. 60. „Ku-ku-noor“ bezieht sich auf den Qinghai-See, mongolisch Koko Nor. Mit der Häufung der dunklen Vokale klingt diese Variante bedrohlicher. „Blaues Meer“ bzw. „blauer See“ ist die wörtliche Übersetzung des Namens aus beiden Sprachen.
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Die bei Heilmann noch mitschwingende Hoffnung, der Kaiser würde etwas an der Situation ändern, wenn er sich die Kriegsrealität vor Augen hielte, ist bei Ehrenstein in der Drohgebärde der Toten schließlich aufgegeben; andererseits wirkt diese angesichts des jüngst tatsächlich erfolgten Sturzes des Kaisertums als machtvolle, den Geschichtsverlauf vorwegnehmende Geste. Der Schwerpunkt ist damit von der Klage viel stärker zur Anklage hin verschoben. Ähnliche Verfahrensweisen lassen sich später bei Brecht beobachten. Gerade durch eine Steigerung bzw. Explizitmachung der politischen Stoßrichtung wird eine lange Traditionslinie chinesischer anklagender Dichtung, die auf den Umsturz des Kaisertums im 20. Jahrhundert zuzulaufen scheint, suggeriert. Entsprechend stehen am Anfang des Bandes China klagt zwei Gedichte, „Kampflied der Chinesen“ und „An die Freiheit“, die bereits den Zielpunkt der literarischen Teleologie markieren: die Selbstbefreiung des Volkes in der Revolution. Deren Autorschaft wird nicht ausgewiesen. Der Band legt damit nahe, es seien jüngere chinesische Gedichte. Chinesische Revolutionsdichtung hatte allerdings den Weg noch nicht nach Europa gefunden. Das „Kampflied der Chinesen“ variiert nur minimal Hoffmann von Fallerslebens „Herbstlied eines Chinesen“ (1841), 72 das bereits im äußerst durchsichtigen chinesischen Deckmantel der Trägheit und Unmündigkeit des Volks dessen Kampfesmut entgegensetzt:73 Herbstlied eines Chinesen (Hoffmann von Fallersleben)
„Kampflied der Chinesen“ (Albert Ehrenstein)
Wir sind nicht reif! Das ist das Lied, das sie gesungen haben Jahrhunderte lang uns armen Waisenknaben, Womit sie uns noch immer beschwichten, Des Volkes Hoffen immer vernichten, Den Sinn der Bessern immer bethören Und unsre Zukunft immer zerstören.
Wir sind nicht reif? Das ist das Lied, das sie gesungen haben Jahrhundertelang uns armen Waisenknaben, Womit sie uns beschwichten,
[…]74
Des Volkes Hoffen vernichten, Des Bessern Sinn betören, Die Zukunft uns zerstören. Wir sind nicht reif? […] (CK, S. 7)
|| 72 Vgl. Wei Maoping 卫茂平, Zhongguo dui deguo wenxue yingxiang shishu 中国对德国文学影 响史述 (Geschichte des Einflusses der chinesischen auf die deutsche Literatur). Shanghai 1996, S. 402f. 73 Vgl. Ernst Rose, „China as a Symbol of Reaction in Germany, 1830–1880“, in: Comparative Literature 3/1 (1951), S. 57–76, hier S. 67; Landa, „(Alb-)Träume“, S. 310–312. 74 August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, Unpolitische Lieder. Hamburg 1841f., S. 144.
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In beiden Kontexten setzen die Texte Vorstellungen eines statischen China und phlegmatischen Volkes voraus, die durch die jüngste Geschichte des Landes infrage gestellt wurden; Hoffmann von Fallerslebens Gedicht entstand zur Zeit des Ersten Opiumkriegs, Ehrensteins Variation nach dem Sturz der Qing-Regierung und dem Boxer-Aufstand. Durch die Titeländerung und den Wechsel vom Ausruf zur herausfordernden Frage ist Ehrensteins Fassung noch leicht verschärft; zudem sind die Verse gestrafft. In beiden Fällen werfen die Gedichte natürlich die Frage der Übertragbarkeit auf den deutschen Kontext auf. Im Gegensatz zu Hoffmann von Fallersleben, der das Chinesische offensichtlich als eine Art Maske einsetzt, ist das Gedicht bei Ehrenstein in der Sammlung intertextuell enger mit der chinesischen Dichtung verbunden, beansprucht insofern durchaus, auch mit der Stimme des chinesischen Volkes zu sprechen, ebenso wie das folgende Gedicht, wohl gänzlich Ehrensteins Werk, in dem die Freiheit in einer pathosgeladenen Apostrophe angerufen wird: „Freiheit, höchste Segnung des Himmels / Vereint mit dem Frieden, / Wirst du auf Erden / Wirken zehntausend Zauberwunder des Neuen.“ (CK, S. 8) Von diesem (scheinbaren) Endpunkt gedacht greift der Band zurück auf Gedichte aus dem Shijing, solche Du Fus und vor allem Bai Juyis. In Ehrensteins Auswahl aus Bai Juyis Lyrik wird der Kontrast zwischen Arm und Reich einerseits über den Topos des wohlhabenderen Beamten, der selbst das Unrecht der ungleichen Verteilung der Güter erkennt – „Ich schäme mich etwas zu essen / ich kann die Armen nicht mehr vergessen!“ (CK, S. 41) – und andererseits durch die kritische Gegenüberstellung von Arm und Reich durch einen externen, selbst nicht näher spezifizierten Beobachter herausgestellt: Man schlang sich satt, ohne Geist – wie zuvor – Weinerfreut, herzblind, schimmelbeschneit. Aber in diesem Jahr war in Kiang-nan Dürre. Die Menschen von Khiü-tscheu aßen Menschen. (CK, S. 39)75
Mitleid und Kritik spielen in den späteren Übertragungen Ehrensteins zwar noch eine Rolle, treten aber stark zurück. So reflektieren die Gedichte des Gelben Lieds || 75 Ehrenstein orientiert sich hier einerseits stark an Pfizmaier, die beiden Schlussverse sind beinahe identisch: „In diesem Jahre war in Kiang-nan Dürre, / Die Menschen von Khiü-tscheu assen Menschen.“ (August Pfizmaier, „Der chinesische Dichter Pe-Lo-Thien“; in: Denkschriften der kaiserlichen Akademie der Wissenschaft 36 [1888], S. 1–80, hier S. 34, nach dem Originalgedicht „Wohlstand“ [轻肥]) Die Ballung von Adjektivkomposita mit so eigenwilligen Wendungen wie „schimmelbeschneit“ (die das Bild der rennenden Pferde einfangen soll, bei Pfizmaier: „Die laufenden Pferde sich entfernen wie Wolken.“ [ebd.]) geht allerdings auf Ehrenstein zurück und lässt den Text ‚expressionistischer‘ scheinen.
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(1933)76 und der Exilzeit vor dem Hintergrund der zerfallenden Weimarer Republik, der Machtübernahme der Nationalsozialisten und des eigenen Exils wieder stärker die eigene Einsamkeit, vielfach auch die Spannung zwischen einem Wunsch nach Rückzug aus dem politischen Geschehen, einem Streben nach Einsiedlertum und den Verpflichtungen gegenüber Gesellschaft und Staat. Andere Texte greifen wieder das Thema des Rausches auf, den Versuch des Einswerdens mit der Natur, Freundschaft und Abschied, wobei Li Bai erneut wichtiger wird. Insgesamt wird der Ton persönlicher, gewinnt das lyrische Ich gerade auch durch kleine Momenteindrücke und Alltagsgeschehnisse stärker an Kontur. Zugleich sind diese späteren Texte, die vielfach prosanah gehalten werden, auch stilistisch anders gestaltet als die z.T. exzessiv mit Klangkorrespondenzen, Wortspielen und Binnenreimen angereicherten früheren Texte; das Moment des Spielerischen tritt stark zurück. Damit erhält auch Bai Juyis Lyrik für den deutschen Lyriker, der durchaus für seine obsessiven Ich-Darstellungen bekannt ist,77 eine neue Funktion. In der Zeit des Exils lässt die Darstellung anderer Dichterfiguren noch auf einen veränderten Modus der Selbstreflexion schließen. Dabei geht es nicht mehr nur um den Dichter als Kämpfer, sondern vor allem auch als den von der Gesellschaft Ausgestoßenen, Einsamen. Die Auseinandersetzung mit den chinesischen Dichtern diente ihm – wie später noch weiteren Dichtern – auch zur Selbstvergewisserung und ermöglicht ein Spiel mit Ich-Entwürfen und -darstellungen über kulturelle und zeitliche Grenzen hinweg. 78 Ehrenstein bearbeitete vermehrt längere Texte mit einer betont autobiographischen Note, die das lyrische Ich und dessen Befindlichkeit prominent herausarbeiten. Verstärkt tritt nun das Thema der Einsamkeit hervor, ein Außenseitertum in der Gesellschaft: Ich lebe im Dorf, das keiner besucht, Die Fenster sind lichtlos, Aus dem Tor führt kein Weg, Kehre ich heim, Bin ich allein.
|| 76 Der Text wurde gedruckt, aber nicht mehr ausgeliefert. 77 Vgl. Matthias Huff, Selbstkasteiung als Selbstvergewisserung. Zum literarischen Ich im Werk Albert Ehrensteins. Stuttgart 1994 sowie Jörg Drews, Die Lyrik Albert Ehrensteins. Wandlungen in Thematik und Sprachstil von 1910 bis 1931. Ein Beitrag zur Expressionismus-Forschung. Diss. München 1969, v.a. S. 193–209. 78 Auch Jia Ma weist auf „Ehrensteins Selbst-Projektionen in seinen chinesischen Nach- und Umdichtungen“ hin (Döblin und China, S. 31, vgl. auch Alfred Beigel, Erlebnis und Flucht im Werk Albert Ehrensteins. Frankfurt a.M. 1972, S. 85). Allerdings handelt es sich wohl nicht nur um Projektionen, sondern auch ein gewisses Spiel mit Ich-Entwürfen eines Autors, dessen Werk von „dissonante[n] Ich-Gesten“ (Huff, Selbstkasteiung, S. 192) geprägt ist.
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Ich habe keine Gefährten. Wenn der Wein mich nicht freut, Mit wem soll ich sprechen?79
Dabei zeigt sich ein Wechselspiel zwischen Versuchen, voller Gelassenheit den Lebenswandel hinzunehmen und sich selbst emotional davon zu lösen – „Gefügig schlägt mir das Herz. / Zustimmend dem Worte des Schicksals“, heißt es beispielsweise in „Mein eigenes Selbst“ –,80 und dem Scheitern des Rückzugs aus der mondänen Sphäre: Noch kann ich nicht heraus aus Staub und Lärm. In sieben Jahren dreimal lief ich fort Und immer kam ich wieder. Wie kann, wie könnte ich Andere Menschen verlachen?81
So wird eine Art von Wirklichkeitsflucht nicht unbedingt in den chinesischen Texten gesucht, aber durch sie reflektiert, ohne dass das lyrische Ich jedoch tatsächlich diesen Rückzug vollzöge. Gerade diese Spannung zwischen sozialem und politischem Engagement einerseits und intensiver Selbstschau eines vereinsamten und enttäuschten Ich, die Ehrenstein in den Texten Bai Juyis ausmacht, lässt den chinesischen Dichter so über die Jahrzehnte hinweg zum wesentlichen Bezugspunkt Ehrensteins werden. Ohne im Detail auf die Komplexität der Wechselbeziehungen zwischen den Vorlagen und den Übertragungen eingehen zu können, die in der jüngeren Forschung vermehrt Aufmerksamkeit findet, ist es mit Blick auf die kommenden Phasen der Rezeption der chinesischen Dichtung wichtig zu betonen, dass letztendlich die Aneignungsprozesse auch schon im frühen 20. Jahrhundert wesentlich facettenreicher sind, als dass sie als exotistische Schwärmerei und Realitätsflucht abgetan werden könnten. Der Umgang mit den Vorlagen, die Art der Präsentation der chinesischen Lyrik ist auch bei ein- und demselben Autor keineswegs einheitlich. Die Aneignung der chinesischen Lyrik schließt Spielerei und Sehnsuchtsprojektionen ebenso ein wie eine intensive Auseinandersetzung mit der eigenen soziopolitischen Realität bzw. den literarischen Gestaltungs- und Ausdrucksmöglichkeiten derselben auf der Vergleichsfolie der chinesischen, vor || 79 Ebd., S. 140. Vgl. die zweisprachige Vorlage in: Pfizmaier, „Der chinesische Dichter“, S. 78. 80 Ebd., S. 224. Vgl. August Pfizmaier, „Die elegische Dichtung der Chinesen“, in: Denkschriften der kaiserlichen Akademie der Wissenschaft 36 (1988), S. 211–282, hier S. 282. 81 Ebd., S. 211. Vgl. Pfizmaier, „Pe-Lo-Thien“, S. 67.
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allem traditionellen Lyrik. Sicherlich bietet dabei die relative Unzugänglichkeit der Originale einen größeren Gestaltungsspielraum, die Möglichkeit, einzelne Dimensionen der chinesischen Lyrik verstärkt herauszuarbeiten, kritische Töne zu verschärfen oder zu relativieren, nach Vorbildern und Leidensgenossen zu suchen bzw. diese zu gestalten, oder aber auch den Übertragungen selbst die Spannung zwischen eigener Gegenwart und fremder Tradition einzuschreiben. Unabhängig davon, wie wenig noch über China bekannt ist und wie sehr die Rezeption von „Unkenntnis beflügelt“ wird,82 ist das Reich der Mitte im ganz konkreten Rückgriff auf aus dem Chinesischen vermitteltes Material nicht mehr das „ganz Andere[]“.83 Schon die Texte des frühen 20. Jahrhunderts zeugen von einer vielstimmigen, spannungs- und kontrastreichen Aneignung chinesischer Dichtung. Nach dieser intensiven Phase der Suche nach fremden literarischen und philosophischen Modellen nimmt die Zahl der Übertragungen durch deutsche Dichter zwar ab. Dennoch erweist sich die Auseinandersetzung mit der chinesischen Literatur für einzelne Autoren als überaus fruchtbar. Diesen späteren Rezeptionsformen soll daher in den folgenden Kapiteln nachgegangen werden.
|| 82 Bauer, „Die Rezeption der chinesischen Literatur“, S. 181. 83 Helmuth F. Braun/Wolfgang Kubin, „Vorwort“, in: Zeitschrift für Kulturaustausch 36/3 (1986), S. 307–309, hier S. 307.
2 Lyrische Kampfgenossen? Chinesische Dichtung bei Bertolt Brecht und Heiner Müller 2.1 Bertolt Brechts Suche nach weltliterarischem Halt und neuen Formen Kaum einem Thema des chinesisch-deutschen Literaturaustauschs wurde so viel Aufmerksamkeit gewidmet wie der Rezeption chinesischer Literatur bei Bertolt Brecht. Sich noch einmal dem Komplex „Brecht und China“ zuzuwenden, bedarf inzwischen fast einer gewissen Rechtfertigung. In zahlreichen Monographien und Aufsätzen hat insbesondere Anthony Tatlow, der erstmals auch die Originalgedichte der „chinesischen Gedichte“ nachgewiesen hat,1 dem Thema zu großer Prominenz in der literaturwissenschaftlichen Forschung verholfen. Die Rezeption der chinesischen Dichtung setzte gerade in der Zeit des Exils ein. Dort entstanden zunächst die „Sechs chinesische[n] Gedichte“ (1938). In der Phase der Neuorientierung nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die Sammlung unter dem Titel „Chinesische Gedichte“ um drei Texte erweitert. Dass die Begegnung mit der chinesischen Lyrik eine Rolle für Brechts Selbstvergewisserung als Dichter spielte, ist anerkannt. Umstritten ist jedoch einerseits das Verhältnis Brechts zu seinen Vorlagetexten und den Originalen: Der Umgang mit Brechts Übersetzungen ist sicherlich ein Paradebeispiel dafür, wie stark indirekte Übersetzungen unter Legitimationszwang stehen und zu polemischen Konfrontationen zwischen Verfechtern ‚philologischer‘ Texttreue und solchen ‚dichterischer‘ Kongenialität führen. Insbesondere Tatlow wertet mit dem vagen Konzept der Kongenialität Brechts Versionen gegenüber den Vorlagen Arthur Waleys auf, indem er allen zeit- und literaturhistorischen Unterschieden zum Trotz annimmt, dass Brecht eine intuitive Nachbildung der Originale gelänge – und dass dies auch seiner Intention entspräche.2 Demgegenüber stehen Forschungen vor allem von
|| 1 Vgl. Anthony Tatlow, Brechts chinesische Gedichte. Frankfurt 1973. Die Originalgedichte sind dort zusammen mit Interlinearversionen neben Brechts Fassungen gestellt. Einzelne Fehler bei Titeln bzw. fragwürdige Zuordnungen werden unten diskutiert. 2 Vgl. insbesondere ebd. Dieselbe Grundthese wird in mehreren anderen Publikationen desselben Autors vertreten: Vgl. v.a. ders., „Stalking the Dragon: Pound, Waley and Brecht“, in: Comparative Literature 25/3 (1973), S. 193–211; „The Hermit and the Politican [!]: On the Translation of Chinese Poetry“, in: Brecht heute – Brecht Today 3 (1973), S. 198–209; The Mask of Evil. Brechtʼs Response to the Poetry, Theatre and Thought of China and Japan. A Comparative and Critical Evaluation. Bern u.a. 1977; Brechts Ostasien: feng, meet, begegnen. Berlin 1998, v.a. S. 33–35. Vgl. weiter, wenn auch im Vergleich zu Tatlow mit weniger scharfer Kritik, Patrick https://doi.org/10.1515/9783111044088-003
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Seiten chinesischer Germanisten, die wiederum das Moment der Differenz stark machen oder sogar Brecht im Vergleich zu Waley grobe Missverständnisse und inadäquate Aneignungen einer ihm fremden Literatur vorwerfen; zu nennen wäre hier vor allem die Dissertation Shi Jies.3 Ebenso kontrovers diskutiert wird andererseits bis heute die Frage, ob oder inwiefern die Rezeption der chinesischen Dichtung bzw. der Übertragungen Waleys Einflüsse auf die thematische und formalästhetische Ausrichtung der mittleren und späteren Dichtung Brechts gehabt habe. Während die frühe Forschung ohne nähere Erläuterung davon ausging, Brechts Spätwerk sei „ohne das chinesische Vorbild nicht zu denken“ 4 und Kloepfer argumentiert, Waleys Übersetzungen seien zusammen mit der Prosa der Wilhelm’schen Übersetzungen chinesischer Philosophie die entscheidende Anregung für Brechts reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen gewesen,5 verwirft Tatlow solche Einflusslinien: Brecht habe in formaler Hinsicht die
|| Bridgewater, „Arthur Waley and Brecht“, in: German Life and Letters 17 (1963/64), S. 216–232; Bridgewater geht allerdings davon aus, Brecht habe die ‚Originale‘, die er offensichtlich mit Waleys Versionen gleichsetzt, verbessert (vgl. v.a. ebd., S. 229). 3 Shi Jie 史节, Bulaixite shige zuopin zhong de zhongguo wenhua yuansu 布莱稀特诗歌作品中的 中国文化元素 (Elemente der chinesischen Kultur in Brechts lyrischen Werken). Diss. Shanghai 2012. Vgl. auch Zhang Li 张黎, „Yizhi Wenming de duihua – Bulaixite yu Zhongguo wenhua“ 异 质文明的对话——布莱希特与中国文化 (Dialog fremder Zivilisationen – Brecht und die chinesische Kultur), in: Waiguo wenxue pinglun (2007), Nr. 1, S. 28–38, hier S. 30; Xie Fang 谢芳, „Wenhua jieshou zhong you xuanze de rentong – cong Bulaixite de Bai Juyi de si shou shi tan qi“ 文 化接受中有选择的认同——从布莱希特所译的白居易的四首诗谈起 (Ausgewählte Affinitäten in der kulturellen Rezeption – Anmerkungen zu vier von Brecht übersetzten Gedichten Bai Juyis), in: Waiguo wenxue yanjiu (2000), Nr. 3, S. 49–55; Tan Yuan 谭渊, „Bulaixite de ‚Liu shou zhongguo shi‘ yu ‚chuanbo zhenli de jimou‘“ 布莱希特的《六首中国诗》与“传播真理的计谋” (Brechts „Sechs chinesische Gedichte“ und ‚Strategien zur Weitergabe der Wahrheit‘), in: Jiefangjun Waiguoyu xueyuan xuebao (2011), Nr. 3, S. 105–109; Xue Song, Poetische Philosophie – philosophische Poetik. Die Kontinuität von Philosophie und Poesie in Brechts China-Rezeption. München 2019, S. 147, 163 u. passim. Andere chinesische Germanisten betonen die Gemeinsamkeiten in ästhetischer Hinsicht und in der soziopolitischen Ausrichtung der Gedichte stärker, vgl. bspw. Liu Ying 刘颖/Fu Tianhai 付天海, „Yu dongfang wenhua zhong huoqu linggan – cong Bulaixite yu zhongguo shige de guanxi tan qi“ 于东方文化中获取灵感——从布莱希特与中国诗 歌的关系谈起 (Inspiration aus der östlichen Kultur – über das Verhältnis von Brecht zur chinesischen Lyrik), in: Liaoning Xingzhengxue Xuebao (2006), Nr. 6, S. 216f. 4 Hans Mayer, Brecht in der Geschichte: Drei Versuche (Bibliothek Suhrkamp 284). Frankfurt a.M. 1971, S. 131. Ähnlich auch bspw. Reinhold Grimm, Bertolt Brecht und die Weltliteratur. Nürnberg 1961, S. 63. 5 Albrecht Kloepfer, Poetik der Distanz. Ostasien und ostasiatischer Gestus im lyrischen Werk Bertolt Brechts. München 1997, v.a. S. 50 und S. 114f.
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Waley’schen Texte vielmehr bereits entwickelten Konzepten angepasst und sei daher stark von Waley abgewichen.6 Tatsächlich verwundert die Umstrittenheit der Texte nicht, da Brecht selbst, wie im Folgenden ausgeführt werden soll, eine doppelte Strategie verfolgt: Einerseits suggeriert er eine große Nähe und weitreichende philologische Texttreue unter Verweis auf Waleys Autorität und befördert damit die Vorstellung, es sei ihm primär um die Vermittlung fremder Texte gegangen, die in einer gewissen ‚Resonanzbeziehung‘7 zu seinem eigenen Werk stünden. Andererseits wird dieser fernöstliche Referenzrahmen für sein eigenes Werk erst dadurch geschaffen bzw. deutlich gestärkt, dass Brecht sich diverse Freiheiten im Umgang mit seinen Vorlagen erlaubt, die vorhandenen Ähnlichkeiten schärfer herausstellt oder die den Texten eigene Kritik verschärft und auf andere Objekte lenkt. Dennoch werden die Texte dem Brecht’schen Werk keineswegs vollständig ‚einverleibt‘, ein Moment der Differenz bleibt bestehen. Dass Brecht ein „Virtuose[...] lyrischer Selbstrepräsentation und Selbststilisierung“8 ist, von den frivol-provokativen Augsburger Gedichten bis hin zu dem epochalen Gedicht „An die Nachgeborenen“, ist bekannt. Spielerische Selbstdarstellung und Legitimation der eigenen Rolle als Dichter gehen dabei ineinander über. Ebenso wird das Brecht’sche Ich immer wieder im Wechselspiel mit anderen Rollenentwürfen verhandelt, in der Frühphase insbesondere François Villon oder Baal.9 Gerade in der Zeit des Exils, abgeschnitten vom Publikum und vom direkteren Austausch mit anderen Autoren, aber auch vor dem Hintergrund der Grabenkämpfe der deutschsprachigen linken Schriftsteller im Zuge der
|| 6 Vgl. u.a. Tatlow, The Mask of Evil, S. 83f.; ders., Brechts chinesische Gedichte, v.a. S. 23f.; „Towards an Understanding of Chinese Influence in Brecht. An Interpretation of ‚Auf einen chinesischen Theewurzellöwen‘ und ‚Legende von der Entstehung des Buches Taoteking‘, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 44 (1970), S. 363–387. 7 Der Resonanzbegriff wird häufig im Zusammenhang mit kulturübergreifenden Rezeptionsphänomenen verwendet, vgl. u.a. Klawitter, Ästhetische Resonanz. 8 Werner Frick, „Selbstporträts mit Seitenblicken: Benn und Brecht vor dem lyrischen Spiegel“, in: Achim Aurnhammer u.a. (Hg.), Gottfried Benn – Bertolt Brecht: Das Janusgesicht der Moderne (Klassische Moderne 11). Würzburg 2009, S. 11–48, hier S. 13. 9 Vgl. zu Brechts Selbst- und Rolleninszenierungen v.a. ebd., insbes. S. 23, sowie ders., „‚Ich, Bertolt Brecht…‘. Stationen einer poetischen Selbstinszenierung“, in: Helmut Koopmann (Hg.), Brechts Lyrik – neue Deutungen. Würzburg 1999, S. 9–47; zur Bezugnahme auf andere Dichterfiguren auch Achim Aurnhammer, „Inszenierungen der Moderne im Traditionsbruch. Die lyrischen Anfänge von Benn und Brecht“, in: Ders. u.a. (Hg.), Benn – Brecht, S. 49–70. hier S. 69f.
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sogenannten ‚Expressionismusdebatte‘10 erschreibt sich Brecht einen weltliterarischen und zugleich biographischen Traditionszusammenhang, indem er seine eigene (stilisierte) Biographie mit der anderer rebellischer und kritischer Dichter vergleicht: Erstmals in „Die Auswanderung der Dichter“ imaginiert sich Brecht um 1934 explizit in einer „lange[n] historische[n] Ahnengalerie verfolgter und vertriebener, mit der Macht in Kollision geratener Dichter und Intellektueller“:11 Homer hatte kein Heim Und Dante mußte das seine verlassen Li-Po und Tu-fu irrten durch Bürgerkriege Die 30 Millionen Menschen verschlangen […] Den François Villon suchte nicht nur die Muse Sondern auch die Polizei „Der Geliebte“ genannt Ging Lukrez in die Verbannung So Heine und so auch floh Brecht unter das dänische Strohdach. (GBA 14, S. 256)
Die Konfrontation mit Staatsmacht und Gewalt wird durch die Parallelismen als eine sich über Jahrhunderte und Jahrtausende und über Länder- und Kulturgrenzen hinweg wiederholende Erfahrung präsentiert, in der sich der Dichter der Gegenwart zumindest in bester Gesellschaft weiß. Heine ist der einzige andere deutsche Dichter in dieser Runde, die bis zu Homer zurückreicht, Brechts Zeitgenossen und marxistische Mitstreiter jedoch komplett ausspart. Dagegen wird der Blick jenseits der europäischen Tradition mit Li Bai (hier Li-Po) und Du Fu (hier Tu-fu), den zwei bekanntesten Dichtern der Tang-Dynastie, geweitet. Brecht bezieht sich auf sie, im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen, nicht als Vertreter einer Gegentradition zur europäischen Literatur, sondern reiht sie selbstverständlich zwischen die europäischen Dichter als deren Schicksalsgenossen und als Teil seiner persönlichen Ahnenreihe ein. Waren Li Bai und Villon schon bei
|| 10 Zur Expressionismusdebatte vgl. Hans Jürgen Schmitt (Hg.), Die Expressionismusdebatte: Materialien zu einer marxistischen Realismuskonzeption (Edition Suhrkamp 646). Frankfurt a.M. 1973. Brechts Suche nach weltliterarischen Vorbildern und spezifisch die Auseinandersetzung mit Chinas Dichtung sind bereits mehrfach in diesen Zusammenhang gesetzt worden, vgl. u.a. den Kommentar in Bertolt Brecht, Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, hg. von Werner Hecht u.a. Berlin/Frankfurt a.M. 1989–2000 [künftig GBA], Bd. 11, 1988, S. 386; Shi, Bulaixite, S. 9. 11 Frick, „Selbstporträts“, S. 28.
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Klabund in eine gewisse Nähe gerückt worden,12 nennt auch Brecht die beiden wieder im Zusammenhang. Allerdings wird Li Bai hier nicht als Konventionen durchbrechender, genialischer und dem Weingenuss zugetaner Dichter präsentiert, ebenso wie Villon nicht mehr als provokanter Hedonist auftritt, sondern sich wie Brecht selbst existentiell bedroht sieht. Ein ähnliches Bild ergibt sich in dem 1938 entstandenen Gedicht „Besuch bei den verbannten Dichtern“, in dem das Autor-Ich sich zunächst einmal von Ovid infrage gestellt sieht – es hat seine Standhaftigkeit noch nicht hinreichend bewiesen –, ehe sich Bai Juyi (Po Chü-i) mit ihm solidarisiert: „Besser, du setzt dich noch nicht. Du bist noch nicht gestorben. Wer weiß da Ob du nicht doch noch zurückkehrst? Und ohne daß andres sich ändert Als du selber.“ Doch, Trost in den Augen Näherte Po Chü-i sich und sagte lächelnd: „Die Strenge Hat sich jeder verdient, der nur einmal das Unrecht benannte.“ Und sein Freund Tu-Fu sagte still: „Du verstehst, die Verbannung Ist nicht der Ort, wo der Hochmut verlernt wird.“ Aber irdischer Stellte sich der zerlumpte Villon zu ihnen und fragte: „Wie viele Türen hat das Haus, wo du wohnst?“ Und es nahm ihn der Dante bei Seite Und ihn am Ärmel fassend, murmelte er: „Deine Verse Wimmeln von Fehlern, Freund, bedenk doch Wer alles gegen dich ist!“ Und Voltaire rief hinüber: „Gib auf den Sou acht, sie hungern dich aus sonst!“ „Und misch Späße hinein!“ schrie Heine. „Das hilft nicht“ Schimpfte der Shakespeare, „als Jakob kam Durfte auch ich nicht mehr schreiben.“ – „Wennʼs zum Prozeß kommt Nimm einen Schurken zum Anwalt!“ riet der Euripides „Denn der kennt die Löcher im Netz des Gesetzes.“ Das Gelächter Dauerte noch, da, aus der dunkelsten Ecke Kam ein Ruf: „Du, wissen sie auch Deine Verse auswendig? Und die sie wissen Werden sie der Verfolgung entrinnen?“ – „Das Sind die Vergessenen“, sagte der Dante leise „Ihnen wurden nicht nur die Körper, auch die Werke vernichtet.“ Das Gelächter brach ab. Keiner wagte hinüberzublicken. Der Ankömmling War erblaßt. (GBA 12, S. 35f.)
Im Vergleich zu dem frühen Exilgedicht hat sich inzwischen die Situation verschärft. Der Stolz, sich die Strenge des Exils „verdient“ zu haben, wird konfrontiert mit der allzu realen Gefahr nicht nur des Todes, sondern auch des Versinkens in die absolute Namens- und Machtlosigkeit durch das endgültige Ab-
|| 12 Vgl. Kapitel 1.
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schneiden des Kontakts zum Publikum und die Vernichtung der Werke.13 Stärker als in der „Auswanderung der Dichter“ steht auch die Herrschaftskritik als Grund für das Exil im Zentrum, wobei sich Brecht gewisse Lizenzen bei den Biographien erlaubt bzw. die Lage für die Schriftsteller zuspitzt, unter anderem mit dem angeblichen Schreibverbot Shakespeares.14 Auch Bai Juyi wurde letztlich nicht außer Landes verbannt, sondern auf eine niedere Position außerhalb der Hauptstadt versetzt.15 Wie so oft bei Brecht ist der Übergang zwischen faktualer und fiktionaler Biographie ein fließender, nicht nur in seiner Selbstdarstellung, sondern auch im Entwurf fremder Lebensläufe. Um historische Korrektheit geht es weniger als um die Reflexion von Machtkonstellationen und Wirkungspotenzial von Dichtung. Der „Ankömmling“ bleibt hier anonym, so dass sich das Gedicht trotz einer eindeutig autobiographischen Komponente allgemeiner als Auseinandersetzung mit einer Grundproblematik herrschaftskritischen Dichtens lesen lässt. Zugleich verweist die Anonymität schon auf die Gefahr der Auslöschung des Namens. Während sich Brecht im ersten Gedicht selbstverständlich namentlich in die Reihe der Großen einfügt, ist die Mitgliedschaft in der Gemeinschaft hier doppelt bedroht, durch die Gefahr, sich der Herrschaft zu unterwerfen –ausgesprochen von Ovid – und das Risiko, in der zweiten Gruppe der zur Bedeutungslosigkeit verdammten Herrschaftskritiker zu landen. Nicht nur gehen in der Bezugnahme auf die literarischen Berühmtheiten anderer Zeiten und Länder „die Bekundung des eigenen Selbstbewusstseins und die Suche nach Halt und Orientierung in der welthistorischen Überlieferung […] Hand in Hand“.16 Der Blick auf die literarischen Vorfahren befördert auch die Einsicht in die eigene physische und literarische Bedrohtheit. Wieder spannt Brecht ein weites weltliterarisches Panorama auf, diesmal jedoch mit leicht verändertem Personal. Homer, Lukrez und Li Bai entfallen, dagegen komplettieren Ovid, Dante und Bai Juyi das Bild. || 13 Vgl. Ulrich Kittstein, Das lyrische Werk Bertolt Brechts. Stuttgart 2012, S. 222; Werner Frick, „‚…er hörte von dort Streit und Gelächter‘: Der Lyriker Bertolt Brecht im ‚Club der toten Dichter‘“, in: Koopmann (Hg.), Brechts Lyrik, S. 75–99, hier S. 97. 14 Zu den Lizenzen im Umgang mit den Biographien vgl. Christiane Bohnert, Brechts Lyrik im Kontext: Zyklen und Exil. Königstein 1982, S. 102; Kittstein, Das lyrische Werk, S. 221f. 15 Darauf weist auch Yuan Tan ihn: „Under the Chinese Mask: Brechtʼs ‘Six Chinese Poems’ Revisited / Unter der chinesischen Maske: Neue Studien zu Brechts ‚Sechs chinesischen Gedichten‘“, in: The Brecht Yearbook 36 (2011), S. 150–163. 16 Kittstein, Das lyrische Werk, S. 219. Vgl. zum Zusammentreffen von Stolz und Zweifel auch Hans Vilmar Geppert, „‚Warum soll mein Name genannt werden?‘ Ein lyrisch-politisches Programm im Exil“, in: Ders., Bert Brechts Lyrik: Außenansichten. Tübingen 2011, S. 13–28, hier S. 18f.; vgl. auch meine eigene Ausführungen in Sara Landa, „Von Li Bai bis Mao Zedong: Chinesische Dichterhelden in der Lyrik des 20. Jahrhunderts“, in: Aurnhammer/Chen (Hg.), Deutsch-chinesische Helden, S. 197–210, hier S. 197f.
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Dass Bai Juyi zum neuen Vorbild avanciert, verwundert kaum, da der Entstehungszeitraum mit dem der „Sechs chinesischen Gedichte“ zusammenfällt, in denen Variationen von Bai Juyis Gedichten die Hälfte der Texte ausmachen. Dichtergedicht und Übersetzungsarbeit greifen direkt ineinander. Tatsächlich legt Brecht eine gewisse Nähe zwischen sich und Bai Juyi auch in den „Anmerkungen“ zu den „Sechs chinesischen Gedichten“ nahe. Unter betonter mehrfacher Bezugnahme auf den Sinologen Arthur Waley präsentiert er ihn als Idealtypus eines sich mit den Massen solidarisierenden Herrschaftskritikers: Er stammte aus einer armen Bauernfamilie und wurde selbst Beamter. „Wie Konfuzius betrachtete er die Kunst als eine Methode, Belehrung zu vermitteln“ (Waley). Bei den großen Lyrikern Li Po [Li Bai] und Tu Fu [Du Fu] rügte er einen Mangel an Feng (Kritik an den Herrschenden) und Ya (moralische Anleitung für die Massen). Von sich sagt er: „Wenn die Tyrannen und Günstlinge meine Lieder hörten, sahen sie einander an und verzogen die Gesichter.“ Seine Lieder waren „im Mund von Bauern und Pferdeknechten“, sie standen geschrieben „auf den Wänden von Dorfschulen, Tempeln und Schiffskabinen“. (GBA 22/1, S. 454f.)
Indem Brecht, der sonst keinesfalls für einen peniblen Umgang mit Zitatmarkierungen bekannt ist, Waleys Worte explizit als Zitate herausstellt, bedient er sich der Autorität des anerkannten Sinologen und Übersetzers,17 um sein Bild von Bai Juyi zu stärken. Dass Waleys Vorwort eigentlich ein anderes Bild Bai Juyis präsentiert, ist insbesondere von Yuan Tan bereits herausgearbeitet worden.18 So relativiert Waley Bai Juyis sozialpolitisches Engagement als nur einen, der Zeit vor der ersten ‚Verbannung‘ zuzurechnenden Aspekt des Werkes und gerade
|| 17 Waleys Übersetzungen werden trotz vereinzelter Kritik in ihrer Gesamtheit bis heute geschätzt, auch von chinesischer Seite (vgl. bspw. Fan Cunzhong 范存忠, „Chinese Poetry and English Translations“, in: Waiguoyu [1981], Nr. 5, S. 7–24; Chen Hui 陈惠/Jiang Jiansong 蒋坚松, „Longde yu Weili hanshi yingyi zhi bijiao“ 龙德与韦利汉诗英译之比较 [Pounds und Waleys englische Übersetzungen chinesischer Lyrik im Vergleich], in: Waiyu yu waiyu jiaoxue [2009], Nr. 2, S. 45–48; Miao Zheng 缪峥, „Ase Weili yu zhongguo gudian shige fanyi“ 阿瑟韦利于中国 古典诗歌翻译 [Arthur Waley und die Übersetzung klassischer chinesischer Lyrik], in: Guoji Guanxi Xueyuan xuebao [2000], Nr. 4, S. 50–56). 18 Vgl. dazu insbesondere Yuan Tan, Der Chinese in der deutschen Literatur. Unter besonderer Berücksichtigung chinesischer Figuren in den Werken von Schiller, Döblin und Brecht. Göttingen 2007, S. 187; ders., „Brechts Sechs chinesische Gedichte“; ders., „Under the Chinese Mask“. Ich kann Tan aber nicht bis zu dem Punkt folgen, dass er in der Darstellung Bai Juyis ein „idealisiertes Selbstporträt“ (ibid., S. 150) Brechts erkennt, es geht meines Erachtens mehr darum, die Porträts zueinander in Beziehung zu setzen und eine gewisse Verwandtschaft herauszustellen bzw. zu verstärken. Vgl. weiter Kittstein, Das lyrische Werk, S. 221; Xue, Poetische Philosophie, S. 151– 158.
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denjenigen, der auf eher geringere Resonanz gestoßen sei. Auch waren es laut Waley nicht nur die niedrigen Bevölkerungsschichten, die Bai Juyi rezipierten, sondern alle vom Kaiser bis zum Tanzmädchen: „His poems were ‘on the mouths of kings, princes, concubines, ladies, plough-boys, and grooms.’ They were inscribed ‘on the walls of village-schools, temples, and ship-cabins.’“, so die vollständige Vorlage für Brechts selektives Zitat.19 Brecht betreibt hier also ein doppeltes Spiel in der Bezugnahme auf die philologische Autorität und der gleichzeitigen Kaschierung der Umstilisierung der Dichtervita. In der Hervorhebung der Autorität Waleys ist letztlich der Anspruch auf adäquate Vermittlung des Originals implizit, eine ostentative Zurückstellung der eigenen kreativen Leistung. Diese Strategie hat die Forschung immer wieder dazu verführt, Brechts Texte allzu ausschließlich auf das Verhältnis zum unbekannten Original hin zu lesen, anstatt genauer dem Wechselspiel aus Übernahme und Veränderung nachzugehen, dem Oszillieren „zwischen Übersetzung, Nachdichtung und Neudichtung“.20 Dies soll daher im Folgenden noch einmal versucht werden. Durch die Umschreibungen werden die Texte intensiver mit dem eigenen Werk verschränkt, ohne in diesem ganz aufzugehen. Brecht schafft aber einen fernöstlichen Traditionsrahmen für seine Dichtung. Ähnlich wie Albert Ehrenstein suggeriert er dabei eine Kontinuität sozialkritischen Dichtens in China, in deren Mittelpunkt zunächst der Tang-Dichter Bai Juyi steht. Diese Schwerpunktsetzung ist bis zum gewissen Grad, wie bei Ehrenstein, durch Arthur Waleys Übertragungen vorgegeben, in denen Bai Juyis Texte rund ein Drittel der Gedichte ausmachen, andererseits bieten gerade die frühen, stark narrativ geprägten Lieder aus Qin (秦中吟) und Neuen Yuefu/Musikamtsgedichte (新乐府) mit ihrem wachen Bewusstsein für gesellschaftliche Widersprüche und ihren kritischen Tönen gegenüber der chinesischen Bürokratie tatsächlich reichlich Material für Brecht.21 In den „Chinesischen Gedichten“ von 1949 werden die
|| 19 Arthur Waley, One Hundred & Seventy Chinese Poems [künftig unter dem Kürzel 170]. London 1919, S. 112. 20 Heinrich Detering, Bertolt Brecht und Laotse. Göttingen 2008, S. 94. Ähnlich auch Frick, „Club der toten Dichter“, S. 90. 21 Zu den Liedern aus Qin und den Neuen Yuefu vgl. bspw. die Überblicksdarstellungen bei Zhuang Min 庄敏,„Lun Bai Juyi fengyu shi de renminxing“ 论白居易讽喻诗的人民性 (Zu den allegorischen Gedichten Bai Juyis), in: Guangdong Bodianshi Daxue xuebao 22 (2013), Nr. 1, S. 91– 94; Wang Wendan 王文丹, „Jianlun Bai Juyi ‚Qin zhong yin‘ de sixiang neirong he biaoxian shoufa“ 简论白居易«秦中吟»的思想内容和表现手法 (Kurze Bemerkungen über den gedanklichen Gehalt und die Darstellungstechnik in Bai Juyis Liedern aus Qin), in: Xinxiang Xueyuan xuebao 33 (2016), Nr. 1, S. 27–29; Zhang Tian 张田, „Bai Juyi fengyu shi de chansheng yu fengge“ 白 居易讽喻诗的产生于风格 (Die Entstehung und der Stil von Bai Juyis allegorischen Gedichten),
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bisherigen Gedichte aus der Han-, Tang- und Song-Dynastie ergänzt um ein agitatorisches Gedicht gegen das Guomindang-Militär sowie eine Übertragung von Mao Zedongs Ci „Schnee“ (沁园春·雪),22 das bei Brecht den Titel „Gedanken beim Flug über die Große Mauer“ trägt und gewissermaßen den Endpunkt der Sammlung bildet: Dichtung und revolutionäre politische Handlung scheinen nun in der Person des Autors zusammengeführt.23 Damit ist eine Art Teleologie kritischer und revolutionärer Dichtung impliziert. Den Eingang beider Sammlungen bildet das anonyme Gedicht „Die Freunde“ nach Waleys Fassung „Oaths of Friendship“,24 das zunächst einmal ein Verständnis von sozialer Ungleichheit und Widerstand dagegen bzw. eine kurzfristige Aufhebung desselben, hier allerdings noch im privaten Bereich, thematisiert: Oaths of Friendship (Arthur Waley)
Die Freunde (Bertolt Brecht)
In the country of Yüeh when a man made friends with another they set up an altar of earth and sacrificed upon it a dog and a cock, reciting this oath as they did so:
Wenn du in einer Kutsche gefahren kämst Und ich trüge eines Bauern Rock Und wir träfen uns eines Tags so auf der Straße Würdest du aussteigen und dich verbeugen. Und wenn du Wasser verkauftest Und ich käme spazieren geritten auf einem Pferd Und wir träfen uns eines Tags so auf der Straße Würde ich absteigen vor dir. (GBA 11, S. 257)
(I) If you were riding in a coach And I were wearing a “li,” And one day we met in the road, You would get down and bow. If you were carrying a “tēng” And I were riding on a horse, And one day we met in the road, I would get down for you. (170, S. 37)
Brecht behält den einfachen, etwas naiv wirkenden Stil von Waleys Vorlage mit den parallelistisch-polysyndetischen Konditionalreihungen bei, löscht aller-
|| in: Hebei xuebao (1986), Nr. 2, S. 87–90; Xia Yunqiu 夏云秋, „Bai Juyi xin yuefu dui xushi shi de gexin“ 白居易新乐府对叙事诗的革新 (Neuerungen in der Erzähllyrik in Bai Juyis Neuen Musikamtsgedichten), in: Guilin Shifan Gaodeng Zhuanke Xuexiao xuebao 30 (2016), Nr. 1, S. 71–73. 22 Die Ci-Dichtung (Texte nach tradierten Melodien) Maos wird eigens in Kapitel 3 behandelt, so dass auf sie hier nicht weiter eingegangen wird. 23 Vgl. Kapitel 3 zu Mao Zedong. 24 Das Original ist als „Volkslied aus Yue“ (越谣歌) überliefert und ist abgedruckt in: Tatlow, Brechts chinesische Gedichte, S. 35.
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dings die Erläuterungen des rituellen Kontexts. Zugleich ersetzt er die transliterierten Begriffe, die Waley in den Fußnoten als kulturspezifische, auf den niedrigen sozialen Status des Trägers hindeutende Kleidung erläutert. Als vager Verweis auf China bleibt bei Brecht der Wasserverkäufer,25 den Brecht auch in Der Gute Mensch von Sechuan einsetzt; die temporale Distanz ist im archaisierenden Begriff des Rockes und durch die Nennung von Kutsche und Pferd als Fortbewegungsmittel markiert.26 Nicht nur lenkt Brecht damit den Blick von den Exotika des Waley’schen Textes weg auf eine in ihrer Dichotomie als universal wahrgenommene soziale Konstellation. Brechts Text wird durch das Fehlen des rituellen Kontextes auch doppeldeutig. Schon Waley verwendet für die Übersetzung der moduslosen chinesischen Verben den Konjunktiv und fügt die konditionale Konjunktion „if“ ein, die ein Moment der Unsicherheit hinzufügt bzw. verstärkt, das allerdings im Rahmen des rituellen Schwurvollzugs kaum von Bedeutung ist. Bei Brecht dagegen ergibt sich daraus eine gewisse Ambivalenz des Textes: Einerseits bleibt der repetitiven Sprache und der spiegelbildlichen Anordnung eine gewisse Formelhaftigkeit erhalten. In dieser Lesart wäre der Konjunktiv ein Irrealis, die mehrfachen und-Konstruktionen ein Hinweis auf die Steigerung der Konditionen ins Unglaubwürdige im Kontext einer Rede, die letztendlich nur ein theoretisches Gedankenspiel wäre; Sprecher und Angesprochener (als konkrete Person oder allgemeiner Typus eines Freundes) gehören offensichtlich derselben Gesellschaftsschicht an. Allerdings erhält Brecht die Möglichkeit, die Rede des Ich ernst zu nehmen, den Konjunktiv als Potentialis zu lesen – und damit mindestens eine temporäre Aufhebung sozialer Ungleichheit durch zwei Individuen, die sich dieser Unterschiede deutlich bewusst sind, denkbar werden zu lassen.27 Diese Aufhebung wird realisiert in einer gezielten Geste, die sich in ihrer Sichtbarkeit nach Außen – dem jeweiligen Absteigen des höher Gestellten – der Markierung sozialer Ungleichheit durch Kleidung und Statussymbole widersetzt. 28 Brecht geht dabei noch einen Schritt weiter als Waley, indem er nicht nur durch die Kleidung
|| 25 Vgl. dazu auch Tatlow, Brechts chinesische Gedichte, S. 37. 26 Andererseits kann man natürlich argumentieren, dass dadurch ein chinaspezifisches Element verlorengeht und der direkte Parallelismus des chinesischen Gedichts aufgehoben wird, vgl. Han-Yoon Yim, „Das Problem der sprachlichen und kulturellen Äquivalenz beim Übersetzen am Beispiel der Chinesischen Gedichte Brechts“, in: Jean-Marie Valentin (Hg.), Akten des XI. Internationalen Germanistenkongresses Paris 2005 ‚Germanistik im Konflikt der Kulturen‘, Bd. 3: Deutsch lehren und lernen im nicht-deutschsprachigen Kontext. Übersetzen im Kulturkonflikt (Jahrbuch für Internationale Germanistik, Reihe A: Kongressberichte 79). Bern u.a. 2007, S. 273–284, hier S. 277. 27 Vgl. Werner Frick, „Club der toten Dichter“, S. 90. 28 Vgl. ebd.
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auf die unterschiedlichen Status verweist, sondern in dem Kontrast zwischen dem arbeitenden Wasserverkäufer und dem „spazieren“ reitenden, also nicht auf Arbeit angewiesenen Reiter in der zweiten Szene den Gegensatz zwischen Arbeit und Freistellung schroff herausstellt. Eine gezielte Theatralität ist den spiegelbildlichen Modellszenen zu eigen, eine sichtbare Außerkraftsetzung ebenfalls äußerlich markierter Statusunterschiede. Stärker als Waley variiert Brecht zudem, wie mehrfach festgestellt worden ist, Metrum und Verslänge.29 Waleys Übersetzungsmethode besteht prinzipiell darin, auf jeweils ein chinesisches Zeichen eine Betonung entfallen zu lassen. Während die Zahl der Hebungen und die Reihenfolge der betonten und unbetonten Silben damit flexibel gehandhabt werden, strebt Waley doch ungefähr gleich lange Verszeilen an. In Brechts Version enthalten die Verse zwischen drei und fünf betonte Silben. Vor allem aber hebt sich das Metrum durch den Hebungsprall in der dritten und siebten Verszeile „Und wir träfen uns éines Tágs só auf der Stráße“ ab. Es entsteht eine unerwartete Pause, die auf der metrischen Ebene das Zusammentreffen der ungleichen Figuren als an sich widerspruchsgeladen darstellt,30 andererseits aber auch dem Zusammentreffen von Potentialität und Irrealität entspricht.31 Auf revolutionäre Änderungen der Verhältnisse zielt der Text auch in Brechts Version noch nicht ab. Wichtig ist vielmehr die Bloßstellung der Konstruiertheit von Unterschieden, die Option, diese nicht zu akzeptieren, und die Fragilität und Fragwürdigkeit der Freundschaft als „Gegenkraft“,32 die sich letztlich erst im tatsächlich eintretenden Fall ungleicher Verhältnisse beweisen müsste. Im Umgang mit einem Gedicht Su Dongpos bleibt Brecht ebenfalls eng an der Waley’schen Vorlage – nichtsdestotrotz scheint es einen „genuine[n] Brecht-Gestus“33 zu realisieren. Obwohl Brecht das Original nicht kannte, sei es hier doch einmal mitzitiert. Es handelt sich um eines der Gedichte, in denen es Waley am besten gelingt, die bittere Lakonie und das Widerspiel aus Parallelismus, Wiederholungsmustern und schroffer Antithese anzunähern:
|| 29 Lane Eaton Jennings, Chinese Literature and Thought in the Poetry and Prose of Bertolt Brecht. Diss. Harvard 1970, S. 124f.; Tatlow, Brechts chinesische Gedichte, S. 37. 30 So betont auch Braungart das Moment des Innehaltens als Voraussetzung zur Wahrnehmung des anderen, vgl. Wolfgang Braungart, „Brechts Poetik des ‚Chinesischen‘ – Eine These“, in: Wei/Kühlmann (Hg.), Zhongde wenxue guanxi, S. 236–260, hier S. 249. 31 Vgl. dazu auch ebd. 32 Tan, Der Chinese, S. 189; vgl. auch Frick, der Freundschaft in dem Gedicht als „utopische Ausnahme“ sieht, die „die Geltung der Hierarchie individuell“ suspendiere („Club der toten Dichter“, S. 90). 33 Ebd., S. 76.
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洗儿 (苏东坡)
On the Birth of His Son (Arthur Waley)
Bei der Geburt seines Sohnes (Bertolt Brecht)
人皆养子望聪明 我被聪明悞一生 惟愿孩儿愚且魯 无灾无难到公卿34
Families, when a child is born Want it to be intelligent. I, through intelligence, Having wrecked my whole life, Only hope the baby will prove Ignorant and stupid. Then he will crown a tranquil life By becoming a Cabinet Minister. (170, S. 98)
Familien, wenn ihnen ein Kind geboren ist Wünschen es sich intelligent. Ich, der ich durch Intelligenz Mein ganzes Leben ruiniert habe Kann nur hoffen, mein Sohn Möge sich erweisen als Unwissend und denkfaul. Dann wird er ein ruhiges Leben haben Als Minister im Kabinett. (GBA 11, S. 259f.)
Der Text spielt (in allen drei Fassungen) mit Erwartungen und Normen, die in der zynischen Schlusspointe konterkariert werden. Das Ich – im Chinesischen sogar explizit am Anfang von Vers 2 herausgestellt – nimmt für sich in betonter Unbescheidenheit selbst die Geltung eines gesellschaftlich anerkannten Wertes, der Intelligenz, in hohem Maße in Anspruch. Es widerlegt dann diese Wertung mit dem sarkastischen Hinweis, Intelligenz führe nur in den Ruin, während die Grundvoraussetzungen eines erfolgreichen Lebens, vor allem im politischen Bereich, gerade in der Abwesenheit jeglicher Denkfähigkeit liege.35 In der Frustration des Literaten und Kritikers mit den Folgen des eigenen Engagements rücken der exilierte Brecht und der chinesische Beamte zusammen, der sich insbesondere wegen seiner Widerstände gegen die Reformen Kaiser Shenzongs 宋神宗 und seines Ministers Wang Anshi 王安石 mehrere Versetzungen, einen Gefängnisaufenthalt und einen Prozess, der ihn das Leben hätte kosten können, zuzog.36 Wo das Original, ein Jueju 绝句, eine mit vier Versen à fünf Zeichen bereits auf Knappheit angelegte Strophenform, von der Prägnanz der klassischen chinesischen Dichtung zehren kann, bricht Waley jeden chinesischen Vers in zwei, um
|| 34 Su Shi, Su wen zhong, Bd. 2, S. 1042f. Das chinesische Original trägt den Titel 洗儿, „Bei der Waschung des Sohnes“, nicht, wie bei Tatlow fälschlicherweise angegeben 生儿, was eine Rückübersetzung des Brecht’schen Titels wäre. Vgl. Tatlow, Brechts chinesische Gedichte, S. 94; korrigiert bei Shi, Bulaixite, S. 59. 35 Vgl. weiter Frick, „Club der toten Dichter“, S. 76. 36 Bei dem Text handelt es sich um eines der am direktesten kritischen Gedichte Su Dongpos, vgl. Ronald C. Egan, Word, Image, and Deed in the Life of Su Shi (Harvard-Yenching Institute Monograph Series 39). Cambridge, MA/London 1994, S. 250. Zu Su Dongpo vgl. weiter auch die Ausführungen in Kapitel 5 dieser Arbeit.
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die Verse möglichst knapp zu halten, setzt die Zeilenbrüche aber gezielt so, dass mit dem Versübergang ein Überraschungsmoment einhergeht. Brecht verstärkt dieselben Effekte im Deutschen, indem er den Schlussvers ein weiteres Mal bricht und so die finale Pointe separat hervorhebt. Grundsätzlich ist Brecht mit Su Dongpo auf einen Dichter gestoßen, der ihm in gedanklicher Schärfe und sprachlicher Prägnanz Vorbild sein konnte, und so verwundert es nicht, dass dieser Text als einziger aus der ‚chinesischen‘ Sammlung in die Svendborger Gedichte aufgenommen ist (vgl. GBA 11, S. 264). Nicht nur thematisch fügt sich der Text dialogisch in Brechts Œuvre ein – man denke an die „Ballade von den Prominenten“ aus der Dreigroschenoper: Wie groß und weis war Salomon! Und seht, da war es noch nicht Nacht Da sah die Welt die Folgen schon: Die Weisheit hatte ihn so weit gebracht! Beneidenswert, wer frei davon! (GBA 11, S. 146)
Auch in der knappen, nüchternen Sprache, der scharfen Kontrastierung und der Selbstinszenierung eröffnen sich Berührungspunkte. Hier besteht also sicher tatsächlich eine gewisse Resonanzbeziehung über kulturelle, sprachliche und zeitliche Distanzen, die in der Übersetzung zum Klingen gebracht, aber nicht eigentlich durch sie generiert wird. Zentrale Bezugsfigur für Brecht bleibt dennoch Bai Juyi. Hier ergeben sich je nach Text unterschiedlich starke Spannungen zwischen Vorlage und Brecht’scher Transformation. Brecht hat sich mit zahlreichen Gedichten von Bai Juyi befasst. In die beiden ‚chinesischen‘ Publikationen eingegangen sind nur diejenigen Texte mit explizit sozialkritischen Themen, während Brecht zu Gedichten des späteren Bai Juyi, die auch Themen wie Vereinsamung und Resignation behandeln und für Ehrensteins spätere Rezeption wesentlich waren, zwar zum Teil eigene Versionen erstellte, diese aber nicht publizierte (vgl. GBA 15, S. 111f.). In den von Bai Juyi/Waley ausgehenden Texten wird jeweils eine Sprecherfigur geschaffen, deren eigene soziale Position nicht expliziert wird, die sicher selbst nicht den Unterschichten angehört, aber von einer kritischen Beobachterposition aus in Distanz zur Herrschaft und den reicheren Schichten tritt:
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The Flower Market (Arthur Waley)
Der Blumenmarkt (Bertolt Brecht)
In the Royal City spring is almost over: Tinkle, tinkle—the coaches and horsemen pass. We tell each other “This is the peony season”: And follow with the crowd that goes to the Flower Market. “Cheap and dear—no uniform price: The cost of the plant depends on the number of blossoms. For the fine flower,—a hundred pieces of damask: For the cheap flower,—five bits of silk. […]” Each household thoughtlessly follows the custom, Man by man, no one realizing. There happened to be an old farm labourer Who came by chance that way. He bowed his head and sighed a deep sigh: But this sigh nobody understood. He was thinking, “A cluster of deep-red flowers Would pay the taxes of ten poor houses.” (170, S. 126f.)37
In der Königlichen Hauptstadt ist der Frühling fast vorüber Wenn die Gassen sich füllen mit Kutschen und Reitern: die Zeit Der Päonienblüte ist da. Und wir mischen uns Mit dem Volk, das zum Blumenmarkt drängt. „Heranspaziert! Wählen Sie Ihre diesjährigen Blumen. Preise verschieden. Je mehr Blüten natürlich, desto höher der Preis. Diese weißen – fünf Stückchen Seide. Diese roten – zwanzig Ellen Brokat. […]“ Gedankenlos folgt jeder Haushalt dem teueren Brauch. Einen alten Landarbeiter, zur Stadt gekommen Zwei, drei Ämter aufzusuchen, hörten wir Kopfschüttelnd seufzen. Er dachte wohl: „Ein Büschel solcher Blumen Würde die Steuern von zehn armen Höfen bezahlen.“ (GBA 11, S. 261f.)
Brechts Änderungen in dem Text, der erst in die erweiterte Sammlung der „Chinesischen Gedichte“ eingegangen ist, beschränken sich auf wenige Umformulierungen, metrische und rhythmische Verschiebungen. Rein formal sind Brechts Verse durch wechselnde Zeilenlängen und eine Mischung aus Zeilenstil und durch Enjambements verbundenen Versen (im Gegensatz zu Waleys Zeilenstil) stärker variiert, akzeleriert und dynamisiert.38 In beiden Versionen wird zunächst das Geschehen zeitlich und räumlich situiert und eine lebendige Szenerie geschaffen, wobei Brecht auf das im Englischen verniedlichend klingende lautmalerische „Tinkle, tinkle“39 ebenso wie auf die wörtliche Rede innerhalb der nicht näher definierten Gruppe verzichtet und
|| 37 Das Original ist unter dem Titel “Blumen kaufen” 买花 sowie unter dem Titel „Päonien“ 牡 丹 veröffentlicht worden und Teil der bereits erwähnten Sammlung Lieder aus Qin (vgl. Bai Juyi 白居易, Bai Juyi shi ji jiao zhu 白居易诗集校注 (Kommentierte Edition der Sämtlichen Gedichte Bai Juyis). Beijing 2006, Bd. 1, S. 181). 38 Vgl. dazu allgemein auch Jennings, Chinese Literature, S. 214f., sowie Tatlow, Brechts chinesische Gedichte, S. 102. 39 Vgl. auch Tatlow, Brechts chinesische Gedichte, S. 103.
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sich eher auf die knappe Deskription beschränkt. Waleys „we“ folgt noch den anderen Leuten, Brechts Formulierung „mischen uns / Mit dem Volk“ dagegen suggeriert eine gewisse Absetzung, eine Beobachterposition, mit der man „unter das Volk“ geht, wobei das „Volk“ sich, wie die Kutschen und Pferde andeuten, auf dessen obere Schichten beschränkt. Das Gedicht leugnet dabei nicht den gehobenen sozialen Status des Sprechers. Auch wenn die Sprecherinstanz als erlebende in die Szene eingebunden ist, ist die Distanzierung vom Geschehen schon am Anfang markiert. Über die uneingeleitete wörtliche Rede des Marktschreiers gewinnt das Gedicht wieder eine starke szenische Komponente, erst das „gedankenlos“ bzw. „thoughtlessly“ leitet von der kommentarlosen Beobachtung zur wertenden Reflexion über. Mit der Figur des Landarbeiters wird das turbulente Treiben kontrastiert, wobei Brechts Sprecher im Gegensatz zu dem Waleys in seiner Rolle als externe Figur verbleibt. Er liest nicht dessen Gedanken, sondern schließt von der Gestik und dem Seufzen darauf, was dieser „wohl“ denken mag. Brechts Sprecherfigur ließe sich mit dem Konzept des personalen Erzählers annähern, Waleys mit dem eines auktorialen Erzählers. Bei Brecht ist damit die Solidarisierung zwischen Sprecherfigur und Landarbeiter selbst stärker in den Vordergrund gerückt. Das Gedicht lässt sowohl die Barriere zwischen den beiden erkennen, als auch den Versuch, die Perspektive des anderen zu erschließen und sich damit von der elitären Umgebung abzugrenzen,40 ähnlich wie es Brecht für sich in den „Nachgeborenen“ für sich in Anspruch nimmt: „Unter die Menschen kam ich zu der Zeit des Aufruhrs / Und ich empörte mich mit ihnen.“41 Bezeichnend ist für das Gedicht die Kombination aus Alltäglichkeit und deren kritischer Hinterfragung, aus Beobachtung und Deskription einerseits und einer knappen reflektierenden Pointe,42 in der der Sprecher den Text von der konkreten Situativität auf eine allgemeinere Problematik zurückführt und seine
|| 40 Im Original enthält das Gedicht eine weitere Differenzierung der sozialen Schichten, da der „Landarbeiter“ eigentlich ein Bauer ist, der annimmt, mit den Blumen könnte man die Steuern von mehreren Mittelschichtshöfen bezahlen, die wiederum oft die armen Bauern wie die erwähnte Figur ausbeuteten (vgl. Xue, Poetische Philosophie, S. 169f.). 41 So in „An die Nachgeborenen“, freilich nicht ohne gewissen (an Bai Juyi erinnernden?) selbstkritischen Blick auf die eigene immer noch privilegierte Position: „Aber wie kann ich essen und trinken, wenn / Ich es dem Hungernden entreiße, was ich esse, und / Mein Glas Wasser einem Verdurstenden fehlt? / Und doch esse und trinke ich.“ (GBA 12, S. 85). 42 So betont auch Gao You mit Blick auf das Originalgedicht, dass es die Kombination aus objektiver Phänomenbeschreibung und aphoristisch-rationalen Ausdrucksweisen sei, die Bai Juyis ‚allegorische‘, will heißen herrschaftskritische Schreibweise, kennzeichne (vgl. Gao You 高有, „Mudan xia tan buping“ 牡丹下叹不平 (Klage über die Ungleichheit unter den Päonien), in: Jining shizhuan xuebao 32 [2010], Nr. 1, S. 20f., hier S. 21).
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eigene Position darin mitreflektiert. Auffällig ist dabei der Tempuswechsel. Während das Chinesische keine Tempusmarkierung aufweist, entscheidet sich schon Waley im ersten Teil für das Präsens, das die Unmittelbarkeit, aber auch Repetitivität des Geschehens hervorhebt. Dagegen setzt sich der narrativere Modus des Schlusses ab: Das Schicksal des offensichtlich von diesem Treiben ausgeschlossenen Mannes, seine, wenn auch stumme, Reaktion, ‚stört‘ die Szenerie und stellt ihre Selbstverständlichkeit und Wiederholbarkeit infrage. Waley bietet Brecht mit seiner Fassung des Gedichts also eine Vorlage, die nicht nur die bestehende soziale Ungleichheit kritisch erfasst, sondern die soziale Konstellation in einer Form spiegelt, die sich durch eher dramatische Elemente wie die umfangreiche, uneingeleitete wörtliche Rede und eher narrative Zugänge wie am Schluss für Gattungsüberschreitungen hin öffnet. Beobachtende Wahrnehmung, direkte Wiedergabe von Dialogen, Erzählen exemplarischen Geschehens und kritische Reflexion können entsprechend in eine Wechselbeziehung gebracht werden, die sich schon bei Waley in einem einigermaßen flexiblen Rhythmus abbilden lässt. Brecht bringt dessen Potenziale dann noch stärker zum Tragen, indem er insbesondere am Schluss des Gedichtes die Pointe durch Zeilenbruch retardiert und an den Versübergängen „hörten wir / Kopfschüttelnd seufzen“ und „Ein Büschel solcher Blumen / Würde die Steuern von zehn armen Höfen bezahlen.“ die Narration in die Bewertung überführt beziehungsweise der Pointe ein Moment des Innehaltens vorangehen lässt, das die Irritation des Mannes spiegelt und die des Lesers hervorbringen soll. In manchen Fassungen Waleys – neben dem oben zitierten Gedicht insbesondere auch in dem ähnlich verfahrenden „The Politician“, bei Brecht als „Der Politiker“ übertragen,43 findet Brecht also ästhetische Techniken angewendet, die, wie Peter Paul Schwarz hervorhebt, Perspektivwechsel zwischen Alltag und politisch-sozialer Gesamtkonstellation, zwischen subjektiver Wahrnehmung und Abstraktion erlauben: Im Modus einer lakonischen Kritik werden Missstände entlarvt, wobei das lyrische Ich in seiner eigenen emotionalen Verfassung weniger im Vordergrund steht denn als Sprecherinstanz in der orchestrierenden Zusammenstellung von Eindrücken, Geschehen und Reflexion – und dadurch auch eine ‚externe‘ Perspektive auf die eigene Person erlaubt.44 In anderen Gedichten muss Brecht sich diese Konstellation durch starke Eingriffe erst erschreiben, so in „Die Decke“:
|| 43 Vgl. 170, S. 138f.; GBA 11, S. 257f. nach dem Originalgedicht „An den Einsiedler“ (寄隐者, vgl. Bai Juyi, Bai Juyi shi ji, Bd. 1, S. 128). 44 Vgl. Peter Paul Schwarz, Lyrik und Zeitgeschichte. Brecht, Gedichte über das Exil und späte Lyrik (Literatur und Geschichte 12). Heidelberg 1978, S. 46–48.
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The Big Rug
Die Decke
That so many of the poor should suffer from cold what can we do to prevent? To bring warmth to a single body is not much use. I wish I had a big rug ten thousand feet long. Which at one time could cover up every inch of the City. (170, S. 157)
Der Gouverneur, von mir befragt, Was, den Frierenden in unsrer Stadt zu helfen, nötig sei Antwortete: Eine zehntausend Fuß lange Decke Welche die ganzen Vorstädte einfach zudeckt. (GBA 11, S. 257)
Waleys Gedicht ist bereits eine stark gekürzte Fassung eines Gedichtes unter dem Titel „Lied über die Gefühle nach der Anfertigung eines neuen Seidenmantels“ (新制绫袄成感而有咏) von Bai Juyi, das ein weiteres ähnliches Gedicht, „Der neue Pelzmantel“ (新制布裘) leicht variiert.45 Kontrastiert der chinesische Text noch die Freude und Bewunderung über den neuen Kleiderstoff mit dem Leid der Armen und enthält somit eine (bei Bai Juyi in verschiedenen Formen öfter wiederholte) das Ich einbeziehende Kritik der Beamtenprivilegierung,46 reduziert Waley den Text auf die empathische, durch das naiv-hyperbolische Bild der überdimensionierten Decke und den Irrealis ins Sentimentalische kippende Klage des Höhergestellten um die Armen. Dagegen teilt Brecht die Rollen auf, ersetzt die abstrakte Reflexion durch das Erzählen einer konkreten, aber beispielhaften Begegnung, und schafft ein kritisch fragendes Ich, das den Vertreter der Macht konfrontiert. ‚Proletarier‘ ist das Ich sicher auch nicht, in seinem Zugang zur Welt der Mächtigen, seiner kritischen Distanzierung von derselben und Solidarisierung mit den Armen als deren Sprachrohr kommt ihm wieder eine Zwischenposition zu. Die Antwort des Gouverneurs lässt sich dagegen als Ausdruck von
|| 45 Vgl. Bai Juyi, Bai Juyi shi ji, Bd. 5, S. 2235 und Bd. 1, S. 122. Tatsächlich wird zum Teil auch von einigen chinesischen Forschern letzteres als Quelle Waleys angenommen. Hundertprozentig lässt sich das aufgrund der stark gekürzten Fassung Waleys und der sehr ähnlichen Schlussverse der Originale nicht entscheiden, doch die Erwähnung der Stadt in dem ersten Text deutet eher auf diesen hin (vgl. Shi, Bulaixite, S. 25f.). 46 Vgl. dazu auch Lu Shiyuan 吕世媛/Chen Yang 陈杨, „Qianxi Bai Juyi fengyu shi zhong de duibi shoufa“ 浅析白居易讽喻诗中的对比手法 (Eine kurze Analyse der Kontrastmethode in Bai Juyis allegorischen Gedichten), in: Xingtai xueyuan xuebao (2007), Nr. 4, S. 50–52, hier S. 51; Xue, Poetische Philosophie, S 163f. Das Gedicht, Teil des Alterswerks, enthält allerdings eine stark resignative Komponente (vgl. Shi, Bulaixite, S. 28). In der vollständigen, Brecht unzugänglichen Fassung erinnert der Text übrigens bis zum gewissen Grad an Brechts „Finnische Gutsspeisekammer 1940“, das mit dem pathetischen Lob der vollen Speisekammer einsetzt, um in den nicht von Selbstkritik freien Schlusssatz zu münden: „Oh, könnt ich laden euch, die überm Meere / Der Krieg der leeren Mägen hält!“ (GBA 12, S. 99).
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Verlegenheit und Überforderung lesen oder aber als bitterer Zynismus, indem suggeriert wird, die Regierung wolle die Probleme schlichtweg vertuschen.47 Brecht wendet so die Doppeldeutigkeit von „cover up“ zum Wortspiel, das bei Waley aus der Perspektive des Ichs noch nicht denkbar ist. Verschärft werden die Kontraste nicht zuletzt zudem dadurch, dass Brecht die Vorstädte dem Rest der Stadt entgegensetzt und eine räumliche Trennung zwischen Elend und Reichtum suggeriert, die mit den sonstigen Gegensatzstrukturen des Gedichts korrespondiert. „Die Decke“ ist sicher das Gedicht, in dem die Eingriffe Brechts am stärksten auffallen. Der mitleidsvolle Ton wird durch die lakonisch-konstatierende Nüchternheit Brechts ersetzt, Empathie durch Solidarisierung und der nur im Irrealis denkbare Versuch einer Milderung des Arm-Reich-Kontrastes durch dessen Infragestellung und die Andeutung von Kausalzusammenhängen. Insgesamt durchzieht somit ein Wechselspiel aus Übernahmen und kleinen bis größeren Eingriffen die Texte. Brecht erkennt und schafft einen weltliterarischen Bezugsrahmen für seine eigenen Texte. Bai Juyis Kritik, das muss noch angemerkt werden, war tatsächlich bisweilen direkt, ging aber doch auf eine konfuzianische Ethik und damit verbundene Vorstellungen gerechter Regierung zurück. Brecht treibt diese Anklagen in Richtung einer Systemkritik weiter. Für den Leser der Brecht’schen Gedichte sind die Eingriffe ohne den Vorlagenvergleich gewöhnlich nicht zu erkennen, eine gewisse Ausnahme bildet allenfalls das Gedicht „Der Drache des schwarzen Pfuhls“, in das Brecht eine Doppelparodie auf das katholische „Ave Maria“ und die wilhelminische Kaiserhymne „Heil dir im Siegerkranz“ einflicht:48 Gegrüßet seist du, Drache, voll der Gaben! Heil dir im Siegerkranz Retter des Vaterlands, du Bist erwählt unter den Drachen und erwählt ist Unter allem Wein der Opferwein. (GBA 11, S. 258)
Hier geht es nicht nur um die Aufrechterhaltung eines allgemeinen „Parodiegefühls“, wie Anthony Tatlow suggeriert,49 sondern um ein Wechselspiel aus konkreter Kritik, im Deutschen gegen die Institutionen der Kirche und eines auf einen || 47 Vgl. dazu auch Grimm, Weltliteratur, S. 66, Schwarz, Lyrik und Zeitgeschichte, S. 41. Warum Tatlow davon ausgeht, eine zynische Lesart sei nicht möglich, erschließt sich nicht (vgl. Tatlow, Brechts chinesische Gedichte, S. 45). 48 Vgl. dazu auch Yuan Tan, „Under the Chinese Mask“, S. 160; ders., Der Chinese, S. 193–195. 49 Tatlow, Brechts chinesische Gedichte, S. 83f. Auch Grimm spricht von der Wiederherstellung der „allein wirksame[n] Spannung zwischen Parodiertem und Parodie“ (ders., Weltliteratur, S. 67).
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Herrscher ausgerichteten Staates, und kultur- und zeitübergreifender struktureller Grundmuster von Machtmissbrauch. Der Ausgangstext wird von Bai Juyi vorsichtshalber als Satire über die Habgier der kleinen Beamten ausgewiesen. Darin wird die Gutgläubigkeit der Leute, die alles Geschehen einem nie gesehenen, aber für alles verantwortlich gemachten Drachen zuschreiben, überzeichnet; der Drache ist traditionell mit dem Kaiser assoziiert, Nutznießer des Glaubens sind hier die Füchse und Mäuse, deutbar als die Beamten, die sich selbst im Namen des Kaisers bereichern. Je nachdem, wieviel Kenntnis der Situation man dem Drachen zuschreibt, ist er freilich in die Kritik einbezogen: „Der sehr heilige Drache […] / […] weiß Er / Daß die Füchse ihn berauben und fressen seine kleinen Ferkel / Oder weiß er es nicht?“ (GBA 11, S. 259) Bei Brecht wird die Kritik durch die offensichtlich eigenkulturelle Parodie aktualisiert, der Kontrast zwischen ‚chinesischem‘ Setting und dem Bezug auf den eigenen Kontext fordert damit den Leser auf, gleichzeitig übergreifende Strukturen von Ausbeutung und Obrigkeitsglauben zu hinterfragen und konkret in Richtung der eigenen Kultur zu denken. Wenn Produktion und Rezeption hier also untrennbar ineinandergreifen, stellt sich natürlich die Frage nach Einflüssen oder Wechselwirkungen formaler und technischer Art, die keineswegs so eindeutig zu beurteilen ist, wie es die jeweiligen Seiten in der Forschungsdebatte suggerieren. Die frühe Forschung ist wohl unter dem Einfluss vager Vorstellungen von der Knappheit und Bildlichkeit asiatischer Dichtung von einem prägenden Einfluss der chinesischen Dichtung auf die epigrammartigen und knapp-lakonischen Texte des Spätwerks ausgegangen,50 ohne hier jedoch nähere Analysen zu erarbeiten. Kloepfer wiederum postuliert, wie erwähnt, dass Arthur Waleys ungereimte, zum Teil prosanahe Übertragungen zusammen mit der Sprache der Werke chinesischer Denker in der Übertragung Richard Wilhelms das entscheidende Vorbild für die Entwicklung der reimlosen Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen gewesen seien.51 Diese These
|| 50 Vgl. u.a. Edgar Marsch, Brecht-Kommentar zum lyrischen Werk (Brecht-Kommentar 1). München 1974, S. 256; Grimm, Weltliteratur, S. 63; Mayer, Brecht in der Geschichte, S. 131; Klaus Schuhmann, Untersuchungen zur Lyrik Brechts: Themen, Formen, Weiterungen. Berlin u.a. 1973, S. 106f.; ders., „Themen und Formen der späten Lyrik Brechts“, in: Weimarer Beiträge, BrechtSonderheft (1968), S. 39–60, hier S. 49f. 51 Kloepfer, Poetik der Distanz, v.a. S. 50, S. 114f. Kloepfer geht es letztlich darum, Brecht einen Rückzug aus dem Politischen in den Privatraum eines „asiatisch gefärbte[n] Refugium[s]“ (ebd., S. 126) zu unterstellen, damit schließt er an Tendenzen der älteren Brecht-Forschung an, den ‚Dichter‘ und empfindsamen Privatmann Brecht hinter dem politischen Schriftsteller zu suchen, anstatt das in den unterschiedlichen Werkphasen jeweils eigene Wechselspiel zwischen Privatem und Politischem in der Lyrik auszuloten. Auch andere Studien gehen von Einflüssen
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geht von einem zu linearen Einfluss aus. Wie Tatlow zu Recht bemerkt und wie auch oben zum Teil aufgezeigt wurde, setzen sich Brechts Rhythmen und Metren durch viel stärkere Variationen und insbesondere durch einen gezielten Einsatz von Enjambements zum Teil entscheidend von denen Waleys ab.52 Waleys Gedichte waren freilich auch keineswegs die einzigen Beispiele freirhythmischer Lyrik, die Brecht kannte. Die Prosa des Missionars Richard Wilhelm, die Kloepfer als zweite Hauptquelle benennt, zehrt ihrerseits wieder stark aus biblischen Formen,53 deren Rolle für Brechts Lyrik längst unbestritten ist. Tatsächlich geht Brechts Entwicklung hin zur reimlosen Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen eine lange Auseinandersetzung mit prosanahen Sprechweisen und Traditionen des freien Verses voraus.54 Während die Langverse der Psalmen noch die biblischen Psalmen parodieren und zugleich formal und inhaltlich aus Whitmans Leaves of Grass zehren,55 weichen diese Versformen wenige Jahre später im nun auch gesellschaftsanalytischeren Lesebuch für Städtebewohner kürzeren freien Versen und einem wesentlich nüchterneren, analytischen und oft dezidiert unterkühlten Sprachduktus: „Wir sind bei dir in der Stunde, wo du erkennst / Daß du das fünfte Rad bist / Und deine Hoffnung von dir geht. / Wir aber / Erkennen es noch nicht.“ (GBA 11, S. 158).56 Schon ab 1920 lassen sich jedoch weitere Experimente mit freien Versen nachweisen: „Ich gestehe es: ich / Habe keine Hoffnung. / Die Blinden reden von einem Ausweg. Ich / sehe“ (GBA 13, S. 189). Diese unterscheiden sich, wie Lamping zu Recht bemerkt, nur graduell von den späteren Formen.57 Erst ab den späten 1930ern werden die freirhythmischen, reimlosen Formen in den Sammlungen jedoch dominant, wird das Spannungsverhältnis zwischen Satz- und Verseinheiten durch ungewöhnliche Versumbrüche und den Wechsel zwischen kürzeren und längeren Zeilen zu einem markanten Merkmal der Lyrik Brechts: || Waleys auf die freirhythmische Lyrik aus, vgl. bspw. Frank Kraushaar, „In anderen Sprachen. Dichten und Übersetzen am Leitbild klassischer chinesischer Literatur bei Bertolt Brecht und Günter Eich“, in: Literaturstraße 3 (2002), S. 223–249, hier S. 235. 52 Vgl. die obigen Ausführungen und u.a. Tatlow, The Mask, S. 131f. 53 Vgl. dazu v.a. Detering, Bertolt Brecht und Laotse, S. 26, sowie ders., „Brechts Taoismus“, in: Mathias Mayer (Hg.), Der Philosoph Bertolt Brecht (Der neue Brecht 8). Würzburg 2011, S. 67–84, hier S. 71f. 54 Vgl. dazu Dieter Lamping, „Zu den Anfängen von Brechts Lyrik in freien Versen“, in: Wirkendes Wort 1 (1990), S. 67–73; Klaus Birkenhauer, Die eigenrhythmische Lyrik Bertolt Brechts. Theorie eines kommunikativen Sprachstils. Tübingen 1971. 55 Vgl. dazu den Kommentar in GBA 11, S. 293f. 56 Vgl. zu diesem Wandel in Brechts Lyriksprache allgemein beispielsweise Kloepfer, Poetik der Distanz, S. 41f. oder Frick, Selbstporträts, S. 27. 57 Vgl. Lamping, „Zu den Anfängen“, S. 72.
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Wo ich hinkomme, bin ich so gebrandmarkt Vor allen Besitzenden, aber die Besitzlosen Lesen den Steckbrief und Gewähren mir Unterschlupf. Dich, höre ich da Haben sie verjagt mit Gutem Grund. (GBA 12, S. 85)
Die Hinwendung zu den neuen Formen begründet Brecht in seinem Aufsatz Über reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen unter anderem damit, dass diese die Geschehnisse der Welt als „kampfdurchtobte“ (GBA 22/1, S. 359) zeigten, während die „ölige Glätte des üblichen fünffüßigen Jambus“ (GBA 22/1, S. 358) diese Widersprüche entschärfe. Wie weit Arbeitersprechchöre und Zeitungsausrufer als Vorbilder in die Entwicklung der lyrischen Formen hineinspielen, wie Brecht behauptet (vgl. GBA 22/1, S. 361), und wie weit dies bloße politische Fassade zur Rechtfertigung gegen weitere Angriffe im Zuge der literaturtheoretischen Diskussionen der späten 1930er Jahre war,58 sei dahingestellt. In jedem Fall lässt sich aber in dieser Zeit eine intensive Beschäftigung mit verschiedenen Dichtungen, die sich freier Verse bedienen, ausmachen. Dazu zählen nicht zuletzt die Übersetzungen, die sich Brecht in diesem Zeitraum aneignet. 1939 erwähnt Brecht zudem in seinem Tagebuch Carl Sandburgs Chicago Poems, in denen er eine „Verbindung zu chinesischen Formen“ sieht (GBA 26, S. 339)59 und die sich auch zum Teil durch eine starke Variation der Verslänge, abrupte Umbrüche und wechselnde Metren auszeichnen. Insgesamt scheint die Diskussion in der Form, in der sie bisher überwiegend geführt wurde, wenig fruchtbar. Eine lineare Einflussbewegung lässt sich kaum überzeugend nachzeichnen; ebenso wenig lassen sich Rezeptionslinien gänzlich leugnen.60 Die Gegenüberstellung Brecht versus Waley knüpft an Debatten wie ‚Pound versus Waley‘ an61 und verstellt letztlich den Blick auf die Dynamik zwischen den Texten. Nicht zuletzt ist es kaum sinnvoll, die Frage nach Metrik und Rhythmik losgelöst von anderen Strategien der Texte zu betrachten, insbesondere die von Schwarz hervorgehobene Narrativisierung der Gedichte unter Einbeziehung konkreter Alltagsepisoden und realistischer Details.62
|| 58 Vgl. Kloepfer, Poetik der Distanz, S. 110. 59 Vgl. auch Marsch, Brecht-Kommentar, S. 256. 60 Dies betont zu Recht auch Jennings, Chinese Literature, S. 234. 61 Vgl. die Ausführungen in der Einleitung. 62 Vgl. Schwarz, Lyrik und Zeitgeschichte, S. 46–48. Werner Frick bezeichnet dies als „Technik der historischen Synekdochen“ („Ich, Bertolt Brecht“, S. 33).
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So lässt sich wohl eine Konvergenzbewegung erkennen, die in dem Dreieck zwischen chinesischer traditioneller Lyrik, v.a. Bai Juyi, Arthur Waley und Bertolt Brecht, ihre spezifische Dynamik gewinnt. Waley versucht in seinen Übertragungen, den gedanklichen Gehalt der chinesischen Gedichte gerade in der Durchbrechung ihrer Formstrenge und durch Rückgriff auf freirhythmische, reimlose Dichtungstechniken zu aktualisieren.63 Diese Versuche sind wiederum vor dem Hintergrund der Entwicklungen der angloamerikanischen Moderne zu sehen: Arthur Waley war Teil der sogenannten Bloomsbury Group und mit Ezra Pound, seinem Mit- und Gegenspieler im Bemühen um die Fruchtbarmachung ästhetischer Techniken der chinesischen Dichtung, persönlich bekannt. Anstelle von Pounds Experimenten mit den ‚imagistischen‘ Qualitäten der chinesischen Lyrik setzt Waley auf sprachliche Schlichtheit, um prägnante Bildlichkeit und szenische Qualitäten der Gedichte in freirhythmischen Versen ihre Einprägsamkeit entfalten zu lassen. Die Artikulation von Gefühlen tritt meist zurück zugunsten eines skizzenhaften Tableaus, einer Alltagsszene, die schon Waley u.a. durch Verwendung direkter Rede oder Tempuswechsel mit stärker dramatischen und narrativen Elementen durchsetzt und die in ein Überraschungsmoment oder einen Denkimpuls münden. Brecht, der selbst längst, u.a. in Auseinandersetzung mit Techniken der angolamerikanischen Moderne, mit Rhythmen experimentiert hatte, die den Leser in ihrer Variabilität irritieren, die scheinbare Harmonie des Redeflusses entlarven, erkennt das Potenzial der chinesischen Gedichte also nicht zufällig in der Lektüre Waleys. Andere Annäherungen an Bai Juyi wie bei Ehrenstein mag der Vielleser Brecht gekannt haben, aufgegriffen hat er sie jedenfalls nicht. In seinen eigenen Übersetzungen, aber auch in eigenen Gedichten aus derselben Zeit und bis ins Spätwerk hinein verschärft Brecht dann das Zusammenspiel aus spannungsgeladener Rhythmik, dem Einsatz einer ‚Beobachter‘Sprecherinstanz, die als Bindeglied zwischen situativer Alltäglichkeit und deren Transparentwerdung auf größere politische Zusammenhänge hin fungiert:64
|| 63 Zu dem Paradox, dass gerade die formstrenge klassische chinesische Dichtung Anschlussmöglichkeiten zur Weiterentwicklung des freien Verses bot, vgl. Ming, „Pound, Waley, Lowell“. 64 Vgl. Frick, „Ich, Bertolt Brecht“, S. 32–34.
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Frühling 1938 I Heute, Ostersonntag früh Ging ein plötzlicher Schneesturm über die Insel. Zwischen den grünenden Hecken lag Schnee. Mein junger Sohn Holte mich zu einem Aprikosenbäumchen an der Hausmauer Weg von der Schrift, wo ich auf jene mit dem Finger deute Welche einen Krieg vorbereiten, der Den Kontinent, diese Insel, mein Volk, meine Familie und mich Vertilgen muß. Schweigend Legten wir einen Sack Über den frierenden Baum II Über dem Sund hängt Regengewölke, aber den Garten Vergoldet noch die Sonne. Die Birnbäume Haben grüne Blätter und noch keine Blüten, die Kirschbäume hingegen Blüten und noch keine Blätter. Die weißen Dolden Scheinen aus dürren Ästen zu sprießen. Über das gekräuselte Sundwasser Läuft ein kleines Boot mit geflicktem Segel. In das Gezwitscher der Stare Mischt sich der ferne Donner der manövrierenden Schiffsgeschütze Des Dritten Reiches. (GBA 12, S. 95)
Den zwei ersten Teilen dieses dreigliedrigen Gedichts ist im Vergleich zu früheren Werken Brechts ein neuer Fokus auf das Detail vor allem in der Naturbeschreibung zu eigen, wobei Natur und konkrete Umgebung als existentiell bedrohter Schutz- und Lebensraum mit der Zerstörungskraft des Krieges konfrontiert sind.65 Begonnen wird jeweils mit einer zeitlichen Verortung und der kommentarlosen Deskription, die allerdings jeweils schon auf eine gewisse Fragilität hindeutet. Skizziert ist jeweils die Übergangsphase zum Frühling, wobei das Erwachen der Natur, die damit einhergehenden Hoffnungsassoziationen, jeweils zurückgehalten werden, einmal durch die unerwartete Wiederkunft des Schnees, im zweiten Teil dann durch den drohenden Regen, der das idyllische Bild des golden leuchtenden Gartens unter Vorbehalt stellt, sowie durch den nur halb vollzogenen
|| 65 Vgl. Kittstein, Das lyrische Werk, S. 224–226; Schwarz, Lyrik und Zeitgeschichte, S. 54.
Bertolt Brechts Suche nach weltliterarischem Halt und neuen Formen | 71
Neubeginn des Naturzyklus: Den Bäumen fehlen jeweils noch Blüten oder Blätter, und auch das Sprießen der Dolden aus den dürren Blättern steht noch so sehr am Anfang, dass der Sprecher noch gar nicht weiß, ob es tatsächlich stattfindet oder es nur so scheint. Hoffnung und Bedrohtheit halten sich in den Anfangsbildern die Waage, erst im weiteren Verlauf wird diese Ambivalenz der Natur deutbar auf die weltpolitische Situation:66 Der Fatalismus, mit dem das Ich die unausweichliche Vernichtung seiner Familie und des ganzen Kontinents nüchtern als zwangsläufiges Ergebnis der jetzigen Entwicklungen (es „muß“ so kommen) darstellt, kontrastiert mit der wortlosen Hoffnungsgeste, indem gerade das Bäumchen, das konkrete Alltagsdetail, gerettet wird, auch unter Inkaufnahme einer temporären Unterbrechung des eigentlichen Kampfes in Form der literarischen Anklage. Die Verteidigung von Natur und konkreter Umgebung wird hier mindestens zum symbolischen Akt des Widerstands oder der Selbstbehauptung, ohne dass allerdings der vorangehende Fatalismus wirklich zurückgenommen würde.67 Das Gedicht bleibt vielmehr in der Schwebe. Ähnlich sieht es im zweiten Teil aus, auch hier fungiert die alltägliche Umgebung nicht einfach als Allegorie der weltpolitischen Situation, sondern bleibt durch ihre Bedrohtheit ständig als konkrete Umwelt auf jene rückbezogen.68 Gerade das idyllischste (oder klischeegeladenste) Bild des Textes, das Zwitschern der Vögel, markiert den Umbruch vom Alltag ins Politische, indem es durch das Donnern der Kriegsschiffe gestört wird, die zugleich ein Gegenbild bieten zu dem kleinen, geflickten Boot, das hoffnungslos ausgeliefert scheint. Der nüchtern-konstatierende Duktus, den der Text mit Übersetzungen wie „Der Blumenmarkt“ teilt, überspielt den Wechsel zwischen sicherer Todesaussicht und hoffnungsvoller Lebensbejahung, die Perspektivwechsel zwischen dem privaten, konkret greifbaren Einzelmoment und dem Ausblick auf die Zukunft der Weltgeschichte. Nicht nur in der Exillyrik werden solche Konstellationen greifbar, auch in einigen Gedichten der Spätphase lassen sie sich nachweisen. Man denke nur an „Heißer Tag“ aus den Buckower Elegien: Heißer Tag. Auf den Knien die Schreibmappe Sitze ich im Pavillon. Ein grüner Kahn Kommt durch die Weide in Sicht. Im Heck Eine dicke Nonne, dick gekleidet. Vor ihr
|| 66 Vgl. dazu weiter auch Kittstein, Das lyrische Werk, S. 226f. 67 Vgl. Schwarz, Lyrik und Zeitgeschichte, S. 54. 68 Vgl. ebd., S. 226.
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Ein ältlicher Mensch im Schwimmanzug, wahrscheinlich ein Priester. An der Ruderbank, aus vollen Kräften rudernd Ein Kind. Wie in alten Zeiten! denke ich Wie in alten Zeiten! (GBA 12, S. 308)
Dieser Text setzt, wie „Der Blumenmarkt“, mit einer auf den ersten Blick unverfänglichen, idyllischen Situation ein, die das Ich beobachtet, auch hier birgt der Titel zunächst keinerlei politische Implikationen. Wieder wird zunächst das Ich, dessen Schreibutensilien auf den Autor anspielen,69 in einer knapp skizzierten, konkreten Situation vorgestellt. Aus seiner Perspektive verfolgt der Leser, wie sich das Bild schrittweise entfaltet, erst einmal kommentarlos.70 Nur das Adverb „wahrscheinlich“ relativiert den Eindruck der objektiven Wahrnehmung etwas. Erst im lakonischen Schlusskommentar verlässt das Ich seine reine Beobachterposition und fordert zum Überdenken auf. Außerhalb der Brechtʼschen Dichtung mag der Kommentar „Wie in alten Zeiten!“ als sehnsuchtsvolles Zurückdenken an die ‚guten, alten Zeiten‘ gedeutet werden. Bei Brecht suggeriert er das genaue Gegenteil, das Entsetzen über die Stagnation. Der (mutmaßliche) Priester, der schon über das Adjektiv „ältlich“ auf die Vergangenheit verweist, und die dicke Nonne, deren dem Wetter unangemessene Kleidung auf einen Kontrast zwischen ihr und der sie umgebenden Welt anspielt, symbolisieren ein veraltetes System, dessen Machtverhältnisse sich in der Szenerie spiegeln, gegen das der Autor „[w]ie in alten Zeiten“ jedoch, wie schon die Mappe andeutet, immer weiter anschreibt. Die nur scheinbar realistische Szenerie deutet im Kontext der jungen DDR allerdings wohl weniger auf die Macht der Kirche hin. Vielmehr lässt sich das Gedicht zusammen mit anderen Texten wie „Böser Morgen“ nicht zuletzt vor dem Hintergrund des 17. Juni als Anregung zur Auseinandersetzung mit den alles andere als egalitären Verhältnissen des Arbeiter- und Bauernstaates lesen.71 Das Verhältnis Brechts zu dem chinesischen Konfuzianer und anderen chinesischen Dichtern ist somit, so lässt sich schließen, komplexer, als die Polarität der bisherigen Debatten suggeriert, die „Übergänge von Nachdichtung, Verschärfung und Gegenentwurf in Brechts Schreiben nach Modellen“ auch im Falle der
|| 69 Werner Frick spricht mit Blick auf diese skizzenhaften autobiographischen Hinweise in den Buckower Elegien von „Porträt-Miniaturen“ („Ich, Bertolt Brecht“, S. 42). 70 Zur Beobachterrolle in diesem Text siehe auch Klaus Detlef Müller, Bertolt Brecht. Epoche – Werk – Wirkung (Arbeitsbücher zur Literaturgeschichte). München 1985, S. 330. 71 Vgl. dazu auch Jürgen Link, Die Struktur des literarischen Symbols. Theoretische Beiträge am Beispiel der späten Lyrik Brechts. München 1975, S. 58f.
Heldentum, Widerspruch, Aufbau: Heiner Müller | 73
chinesischen Dichtung „sehr fließend“.72 Das kreative Potential der Texte entwickelt sich gerade in diesem Widerspiel aus Annäherung und Distanzierung. Kulturelle und weltanschauliche Differenzen sind durchaus vorhanden und dürfen auch nicht mit Vorstellungen der Kongenialität unter den Tisch gekehrt werden. Nicht zuletzt ist das Werk beider hochproduktiver Autoren ein sehr vielseitiges, das nicht von Widersprüchen und Neuorientierungen frei ist. Sicherlich ist der Bai Juyi, der sich dem Leser aus den Brecht’schen Texten herauskristallisiert, eine Konstruktion Brechts. Nichtsdestotrotz treffen in der Begegnung zwei Autoren und Schreibweisen aufeinander, die durchaus über Gemeinsamkeiten verfügen, zwei Dichter, die mithilfe einer klar-präzisen Sprache, eines kritischen, zwischen konkreter Detailbeobachtung und abstrahierender Analyse oszillierenden Blicks versuchen, durch die Dichtung in Politik und Gesellschaft einzugreifen.
2.2 Heldentum, Widerspruch, Aufbau: Heiner Müllers Dialog mit der chinesischen Dichtung Wenn Brecht Bai Juyi als Spiegelfigur seines eigenen Dichterkonzepts konstruiert und die chinesische Dichtung zum weltliterarischen Referenzpunkt für sein Schreiben wählt, so gestaltet sich das Verhältnis zur chinesischen Dichtung bei dem Autor, der wahlweise als Brechts Erbe oder als sein Gegenpol gesehen wird bzw. der Brecht selbst als seine „Kläranlage“ bezeichnet hat,73 noch einmal anders. Heiner Müllers frühe Lyrik und damit auch die damalige Aneignung der chinesischen Dichtung stehen stark im Zeichen der ständigen Auseinandersetzung mit Brecht: Viele seine [sic] frühen Gedichte, insbesondere aus dem Posthum veröffentlichten Nachlass, sind unschwer als mehr oder weniger gelungene Brecht-Imitationen zu erkennen. Dazu gehören Teile der erotischen Sonette, der ideologiekritischen Kommentare, aber auch die ‚chinesischen‘ Gedichte und schwarzen Kindergedichte Müllers.74
|| 72 Frick, „Club der toten Dichter“, S. 90. 73 So gegenüber Werner Heinitz, „Man muß nach der Methode fragen. Gespräch mit Werner Heinitz [1983]“, in: Heiner Müller, Werke [künftig: HMW], hg. von Frank Hörnigk. Frankfurt a.M. 1998–2011, Bd. 10: Gespräche 1. 1965–1987, 2008, S. 26–33, hier S. 27. 74 Marcus Kreikebaum, Heiner Müllers Gedichte. Bielefeld 2003, S. 38. Vgl. zur starken Abhängigkeit der frühen Lyrik Heiner Müllers von Brecht auch Michael Töteberg, „Vorgeschichte eines Autors. Über Heiner Müllers Anfänge: Journalistische Arbeiten, frühe Lyrik“, in: Christa Jordan (Hg.), In Sachen Literatur: 25 Jahre Text und Kritik. Eine Auswahl. München 1988, S. 117–124, hier S. 123; Thomas Zenetti, „Que faire du cercueil de Brecht“, in: Marie Silhouette (Hg.), Bertolt
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Müller sah sich dabei allerdings mit den neuen gesellschaftlichen Konstellationen der jungen DDR konfrontiert. Dies wirft die Frage auf, welches Potenzial die kämpferischen Texte der Vergangenheit für die Gegenwart des neuen Staates bargen. Katharina Ebrecht urteilt: „Müllers Versuch, den Ton der Exillyrik in die DDR-Gegenwart zu transponieren, scheitert, da zu diesem Zweck Brechts Widerstandsmodus in eine den Sozialismus bejahende Haltung überführt werden muß.“75 Ebrecht trifft hier sicher eine der zentralen Schwierigkeiten des frühen lyrischen Œuevres – auch wenn viele Texte nicht ‚scheitern‘, da die Spannung zwischen Traditionsanbindung und neuem gesellschaftlichem Kontext durchaus produktiv wird. Müller lässt sie durch die intertextuelle Verschränkung verschiedener Texte und Traditionen bewusst zum Tragen kommen und reflektiert darin das heikle Wechselspiel aus Lyrik als Kampf- und Widerstandsmedium und als Anstoß des sozialistischen Aufbaus, wie im Folgenden nachzuweisen sein wird. Heiner Müller hat neben einigen zeitgenössischen chinesischen Hymnen auf den jungen Sozialismus und Mao, die er als Auftragsarbeiten im Kontext der Weltfestspiele 1951 in Berlin angefertigt hat und die nicht Gegenstand dieses Kapitels sein sollen,76 Texte aus Waleys Lyrikanthologie in der deutschen Weiterübersetzung von Franziska Meister aufgegriffen sowie Übersetzungen von Gedichten Pu Songlings 蒲松龄 (1640–1715) durch den Sinologen Herbert Franke konsultiert.77 Der Großteil dieser Texte, v.a. mehrere Gedichte nach Bai Juyi, wurde erst im Kontext von Gedichtband 1992 publiziert oder blieb zu Lebzeiten Heiner Müllers unveröffentlicht. Allerdings gibt es zwei Texte, die in das Dramenfragment Traktor eingeflossen sind, einen nach Ruan Ji 阮籍 (210–263), der versehentlich Bai Juyi
|| Brecht. La théorie dramatique (Germanistique 12). Paris 2012, S. 123–140; Jürgen G. Sang, „Heiner Müller: A Lyric Poet? The Dialectic Process of Aesthetic Self-Recognition“, in: Gerhard Fischer (Hg.), Heiner Müller. ConTEXTS and HISTORY. A Collection of Essays from The Sydney German Studies Symposium 1994 Heiner Müller/Theatre-History-Performance (Studien zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur/Studies in Contemporary German Literature 2). Tübingen 1995, S. 259–269, hier S. 260 u. S. 267; Zum allgemeinen Verhältnis von Müller zu Brecht vgl. v.a. Marc Silbermann, „Bertolt Brecht“, in: Hans-Thies Lehmann/Patrick Primavesi (Hg.), Heiner Müller Handbuch. Leben ‒ Werk ‒ Wirkung. Stuttgart 2003, S. 136–146. 75 Katharina Ebrecht, Heiner Müllers Lyrik. Quellen und Vorbilder (Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft 359). Würzburg 2001, S. 27. 76 Vgl. aber Kapitel 4 zu Müllers lyrischer Auseinandersetzung mit dem Maoismus. 77 Arthur Waley, Chinesische Lyrik aus zwei Jahrtausenden, übers. von Franziska Meister. Hamburg 1951; Pu Sungling [Pu Songling], „Soziale Dichtungen“, übers. von Herbert Franke, in: Aufbau 4 (1948), S. 308–310. Die Quellen sind schon nachgewiesen bei: Ebrecht, Heiner Müllers Lyrik, S. 75.
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zugeschrieben wird,78 und einen, den Heiner Müller als Gedicht Pu Songlings ausweist, dessen Original oder Mittlervorlage allerdings noch nicht identifiziert werden konnte. Traktor ist in Grundzügen im Kontext der Verfassung von Die Schlacht bereits in den 1950er Jahren entstanden, bearbeitet und uraufgeführt wurde es erst 1974/75, nachdem die Zensurpraxis sich etwas gelockert hatte. Müller selbst spricht von dem „Versuch, ein Fragment synthetisch herzustellen.“79 Konfrontiert Die Schlacht den Zuschauer mit einer raschen Folge an Gräuel- und Gewalttaten im Nationalsozialismus, ohne dass Handlungen des Widerstands zum Thema würden, thematisiert Traktor, zunächst als Szene von Schlacht erarbeitet, dann losgelöst als eigenes Stück, das aber zumeist mit Schlacht zusammen aufgeführt wurde,80 den Aufbau der jungen DDR anhand der Geschichte eines jungen Traktoristen. Dieser pflügt wider besseres Wissen und trotz aller Skepsis gegen jeglichem Heroismus ein potentiell vermintes Stück Brachland und verliert bei der Explosion einer Mine ein Bein. Seinen Heldenstatus, den ihm die Gesellschaft zuschreibt, nimmt er nicht an, stattdessen aber erfindet er eine gefahrfreiere Pflugtechnik, um das Heldentum unnötig zu machen. Der bewusst im Fragmentcharakter belassene Text entfaltet seine Spannungskraft weniger auf der Handlungsebene als durch eine hohe intertextuelle Dichte.81 Handlungsfetzen und Zitate werden lose zu einem komplexen Geflecht gefügt, ohne sich miteinander vereinbaren zu lassen. Als Vergleichsfolie und Referenzrahmen dienen insbesondere Anna Seghersʼ Erzählung Der Traktorist und Paul Körner-Schraders Paul Arndt, die dieselbe Konstellation verhandeln, allerdings den Ausgang optimistischer gestalten und dezidiert auf Heroisierungsstrategien zurückgreifen.
|| 78 Vgl. dazu ebd., S. 76. 79 Heiner Müller, „Ein Brief“, in: Theater-Arbeit (Heiner Müller Texte 4). Berlin 1975, S. 124–126, hier S. 125. Zu Müllers Fragmenttechnik vgl. auch Arrigo Subiotto, „Literary Strategies in the Work of Heiner Müller“, in: Axel Goodbody (Hg.), Geist und Macht. Writers and the State of the GDR (German Monitor 29). Amsterdam/Atlanta 1992, S. 184–192, hier S. 188f. 80 Zum Entstehungsprozess und der Herausentwicklung aus der Szenenfolge Schlacht vgl. Patrick Primavesi, „Traktor“, in: Lehmann/Primavesi (Hg.), Heiner Müller Handbuch, S. 277–280, hier S. 277; Genia Schulz, Heiner Müller (Sammlung Metzler; M 197: Abt. D, Literaturgeschichte). Stuttgart 1980, S. 118, S. 123–125; sowie den Kommentar von Frank Hörnigk in: HMW 4, S. 585f. 81 Vgl. Klaus Teichmann, Der verwundete Körper. Zu Texten Heiner Müllers (Hochschulproduktionen Germanistik – Linguistik – Literaturwissenschaft 8). Freiburg i.Br. 1986, S. 108–119; Judith Wilke, „‚Was da ist, ist Übriggebliebenes‘ – Heiner Müllers Duell Traktor Fatzer am Berliner Ensemble“, in: Andreas Kotte (Hg.), Theater der Region – Theater Europas. Kongress der Gesellschaft für Theaterwissenschaft (Materialien des ITW Bern 2). Basel 1995, S. 385–396, hier S. 386; Kreikebaum, Heiner Müllers Gedichte, S. 114.
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Körner-Schraders Text erschien in dem Sammelband Helden der Arbeit.82 Zudem werden zahlreiche weitere Zitate eingeflochten, neben den beiden ‚chinesischen‘ Gedichten Zitate u.a. von Lenin und Thälmann. Ebenso finden sich kommentierende Einschübe, vor allem eine metaliterarische, lose assoziativ gefügte Passage, die den Fragmentcharakter des Stückes thematisiert und dabei die Frage des literarischen Erbes reflektiert: „Das Gefühl des Scheiterns, das Bewußtsein der Niederlage beim Wiederlesen der alten Texte ist gründlich“, heißt es darin, und zum Schluss: „Die Schutthalde der Literatur im Rücken.“ (HMW 4, S. 491f.) Die „alten Texte“ können dabei verstanden werden als die Entwürfe zu dem Stück selbst, das nach zwei Jahrzehnten, nachdem die Aufbauphase der DDR überholt ist, wiederbearbeitet wurde, aber auch als die verschiedenen Zitate aus anderen Texten, deren Brauchbarkeit für die Gegenwart und ihre Literatur zur Diskussion gestellt wird. Eine weitere intertextuelle Dimension ergibt sich aus der Spielpraxis, der Aufführung in der Konfrontation mit eigenen und fremden Stücken, nicht nur als Doppelstück mit Die Schlacht, sondern auch mit Herakles 5, Philoktet oder später als Duell Traktor Fatzer.83 Das Stück weist damit einen ausgesprochen offenen Charakter auf, der einer allzu glatten Interpretation zuwiderläuft. Die beiden ‚chinesischen‘ Texte stehen in jeweils unterschiedlichen Kontexten, die schon erahnen lassen, dass Heiner Müller nicht bereit ist, das Widerspruchspotenzial der Literatur im Umbruch vom Dritten Reich zum sozialistischen Aufbau aufzugeben: So steht das erste Gedicht, das Pu Songling zugeschrieben wird, in der ersten Szene, die zunächst noch kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs spielt: Die deutschen Soldaten verminen auf dem Rückzug vor dem russischen Heer ein Feld, einer der Soldaten weigert sich, mitzumachen, um das Feld nicht für die Zukunft unbrauchbar zu machen, und wird hingerichtet. Ohne weiteren Kommentar folgt der Text: Der Kaiser braucht Soldaten, Vater. Verstopf deine Ohren, Sohn Damit du die Trommel nicht hören kannst Und deck dich mit Mist über die Augen zu Damit du nicht geblendet wirst vom Glanz der Waffen. (HMW 4, S. 486)
|| 82 Vgl. Paul Körner-Schrader, „Paul Arndt“, in: Karl Grünberg u.a., Helden der Arbeit. Berlin 1951, S. 201–214; Anna Seghers, Anna Seghers Werkausgabe, hg. von Helen Fehervary und Bernhard Spies. Berlin 2000–2014, Abt. 2, Bd. 4: Erzählungen 1950–1957, 2009, S. 344–347. 83 Vgl. Primavesi, „Traktor“, S. 277 sowie Wilke, „‚Übriggebliebenes‘“, S. 386f.
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Auf das Gedicht wiederum folgt ein Zitat aus Schrader-Körners „Paul Arndt“, in dem der inzwischen als Held ausgezeichnete Traktorfahrer trotz des Verlusts seines Beines noch das Pflügen des Feldes zu Ende bringen will: „‚Aber die sechs Morgen reiße ich noch um. Das lasse ich mir nicht nehmen.‘“ (HMW 4, S. 486) Das Gedicht bildet gewissermaßen das Scharnier zwischen den beiden Zeitebenen und lässt sich also auch auf beide hin lesen: Es ruft zur Verweigerung der Teilnahme am Krieg auf, zum Durchschauen des angeblichen Ausblicks auf Ruhm und Heldentum. Im Zweiten Weltkrieg wäre diese Warnung aktueller denn je gewesen, danach wird sie aber keineswegs obsolet: Die Konfrontation des Zitats mit dem Pathos des ‚Arbeiterhelden‘, das dessen Versehrtheit überspielt, suggeriert eine Warnung vor den Heroismen auch des neuen Staates, die, so legt die Verschränkung nahe, bei der Unterschiedlichkeit der Staatsvisionen in der Rhetorik durchaus Kontinuitäten enthält.84 Das Gedicht selbst lässt sich nicht eindeutig auf eine der Übertragungen Frankes oder ein Original zurückführen, enthält mit der Losung aus dem Ersten Weltkrieg, „Der Kaiser braucht Soldaten“, auch eine weitere Referenz auf den eigenen Kontext, passt aber durchaus zu der scharfen Kritik an Unterdrückung, Ausbeutung und schlechter Regierung, die in Frankes Übertragungen zum Ausdruck kommt. Für die zeitgenössischen Leser/Zuschauer dürfte es sich nahtlos in die Vorstellung sozial- und herrschaftskritischer Dichtung, wie sie durch Ehrenstein, Brecht und Weiskopf (vgl. Kapitel 3) befördert wurde, gefügt haben. Das andere Gedicht nach Ruan Ji bildet das Verbindungsstück zwischen zwei konträren Passagen einer Szene, die mit „Aufforderung zum Tanz oder Der Kampf mit dem Engel“ überschrieben ist: Müllers Traktorist reflektiert vor der folgenreichen Entscheidung seinen Widerstand dagegen, auf das Feld zu fahren, im imaginären Gespräch mit seinem Freund, den die gleiche Tat das Leben gekostet hat: Mich wirst du nicht in deine Grube reiten. Ich bin kein Held. Geh mir vom Nacken, Wurmfraß. Der Minenpflüger, den sein Brachfeld pflügt. Wo ist dein Fleisch geblieben, alter Knochen. […] Und jetzt zeig ich dir, was du bist. Das bist du: Dreck unterm Stiefel, Acker, für den Pflug. (HMW 4, S. 488f.)
|| 84 Man hat freilich in der DDR versucht, den Bezug zu Paul Arndt ausschließlich affirmativ zu lesen, als Herausstellung des Muts des Traktoristen (vgl. Alfred Bergstedt, „‚Die Schlacht/Traktor‘“, in: Werkinterpretationen zur deutschen Literatur von einem Autorenkollektiv unter Leitung von Horst Hartmann. Berlin 1986, S. 243–256). Solche Interpretationen halten einer genaueren Lektüre der intertextuellen Verschränkungen allerdings nicht stand.
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Das Gegenstück dazu bildet die Geschichte Paul Arndts, der seinen Tod für die künftige Generation lässig in Kauf nimmt: Man wußte, daß dieses Gelände stark verseucht war. Sechzehn Minen hatte man schon geborgen. Man hatte das unheimliche Gefühl, daß dort noch mehr lagen. Die Kollegen suchten das Gelände noch einmal ab. Es war nichts zu finden, aber keiner wollte sich gern an die Arbeit wagen. Paul sagte: „Gut, da werde ich eben pflügen. Wenns mich trifft, ist es nicht so schlimm. Die Jungen haben das Leben noch vor sich.“ […] (HMW 4, S. 489)
Anstatt die Texte direkt gegenüberstellen, setzt Müller das ‚chinesische‘ Gedicht als Scharnier dazwischen: Reue (Waley/Meister)
Ich war ein Held, mein Ruhm gewaltig (Heiner Müller)
In meiner Jugend lernte ich fechten Und verstand mich besser darauf als Ch’ü ch’êng. Mein Geist erhob sich hoch wie die Wolken, Mein Ruhm hallte weithin über die Welt. Mit meinem Schwert durchzog ich die Wildnis, Mein Roß tränkte ich in den Neun Wüsten. Meine Flaggen und Banner schlugen im Wind, Und alles verstummte, wenn meine Trommeln erdröhnten.
Ich war ein Held, mein Ruhm gewaltig In meinen Bannern rauschten die vier Winde Wenn meine Trommeln lärmten, schwieg das Volk. Ich habe mein Leben vertan. (HMW 4, S. 489)
Doch Schlachten und Feldzüge stimmten mich traurig, Ein glühender Zorn brennt mir im Innern. Das Wissen, wie sehr ich mein Leben vertan, Zerreißt mir das Herz.85
Schon auf den ersten Blick fällt die deutliche Kürzung im Vergleich zum Prätext auf. Die Sprache ist wesentlich nüchterner, kondensierter.86 Müller nimmt die Quintessenz der hyperbolischen, durch Parallelismen und die Wiederholung des Possessivpronomens gesteigerten Reihungen von Waley/Meister im ersten Vers vorweg. Ein gewisses Pathos bleibt den Bildern des windrauschenden
|| 85 Arthur Waley, Chinesische Lyrik, S. 83. Es handelt sich um das 48. Gedicht der Gruppe Gedichte von Herzen (咏怀诗), Ruan Ji 阮籍, Ruan Ji ji 阮籍集 (Gesammelte Werke von Ruan Ji), hg. von Li Zhijun 李志钧 u.a. Shanghai 1978, S. 112. 86 Vgl. zu Müllers Techniken der Komprimierung im Umgang mit den chinesischen Gedichten auch Ebrecht, Heiner Müllers Lyrik, S. 76.
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Militärbanners und der Trommeln erhalten, allerdings schon mit Vorbehalt durch das pejorative „lärmten“ anstelle von „erdröhnten“ und den explizierten Kontrast zwischen Sprecher und Volk. Im Gegensatz zur prozesshaften Erkenntnis des Ich in der Vorlage und den Bildern drastisch-selbstdestruktiver Emotionalität – „glühender Zorn“, das ‚Zerreißen‘ des Herzens – konfrontiert Müller den Leser mit der nüchtern-faktisch vorgetragenen Erkenntnis des Irrwegs in dem verkürzten Schlussvers. 87 Nicht unähnlich dem von Brecht rezipierten Gedicht Su Dongpos wird mit gesellschaftlichen Erwartungen gespielt. Ruhm und Erfolg werden als Lebensverschwendung gewertet und das Pathos der ersten Verse dekonstruiert. Im Kontext der Szene und des weiteren Handlungsverlaufs lässt sich das Gedicht jedoch auf zwei Weisen lesen: Wie der andere (angeblich?) chinesische Text entlarvt es Heroisierungsstrategien, bestätigt damit die Widerstände des Traktoristen gegen ein heldenhaftes Verhalten, das ihn sein Leben zu kosten droht, und setzt auch eine ironische Note gegen die allzu glatte Heldengeschichte des Paul Arndt. Andererseits lässt der Text, der den Militärhelden dem Volk explizit entgegensetzt, eine weitere Deutung zu, die die Handlungsmotivation des Traktoristen, sich doch in Gefahr zu begeben, erklären mag: Der Traktorist selbst war Soldat im Zweiten Weltkrieg, das Stück endet mit dem Eingeständnis, er habe einen sowjetischen Soldaten getötet, der aus Rücksicht auf die Pflanzen des Landwirtschaftskollektivs den deutschen Soldaten nicht entkommen konnte: Ein Bauer wars. Warum? Ich habs vergessen. Das habe ich nicht vergessen: wie der Alte Bei seinem letzten Rennen noch drauf sah Daß er den Mais nicht umtrat. Wir sahn nicht drauf. […] Wir fragen, wo sein Feld ist. Sagt der Alte: HierallesmeinFeld. Wir: wo sein Feld war, Eh alles kollektiv war. Der zeigt bloß Wie ein Großgrundbesitzer ins Gelände Wo kilometerweit brusthoch der Mais stand. Der hatte wo sein Feld war glatt vergessen. (HMW 4, S. 504)
|| 87 Das Wechselspiel aus wörtlichen Übernahmen und Verdichtung beleuchtet Ebrecht, Heiner Müllers Lyrik, S. 76. Walter Gebhard stellt fest, Müller verweigere im Gegensatz zur Vorlage „sowohl Selbstexplikation samt psychologischer Aussprache wie auch den Gestus des Verstehens im Text“ („Ostasien in Heiner Müllers Lyrik. Weiterführung und Ende eines sozialistischen Universalismus“, in: Ders. [Hg.], Ostasienrezeption in der Nachkriegszeit. München 2007, S. 67–100, hier S. 78).
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Man kann also doch, allen Vorbehalten Müllers gegen Heroismen zum Trotz, in der letztlich erfolgenden Aufopferung des Traktoristen den Versuch erkennen, den eigenen Verbrechen unter dem NS-Regime, der verpfuschten Vergangenheit eine Handlung entgegenzusetzen, die von einer sozialistischen gesellschaftlichen Vision zehrt, 88 die in der Schlussgeschichte greifbar, wenn auch im Kontext des Gesamtstücks äußert fragil scheint.89 Wird der sich rein in Aggression bewährende Heroismus des Soldaten als eindeutig sinnlos markiert, muss der Leser/Zuschauer entscheiden, ob der zivile ‚Heroismus‘ ebenso eine Verschwendung von Leben darstellt. Dieses Handeln fügt dem einzelnen einen unwiderruflichen Schaden zu, mag sich für den Aufbau der Gesellschaft aber als unentbehrlich erweisen.90 In jedem Fall arbeitet der Text den rhetorischen Strategien der Heroisierung, die letztlich unter anderem auf die NS-Vergangenheit zurückweisen, entgegen. Eine Handlung unter Zurückstellung der eigenen Interessen wird bei Müller also nicht in ihrer mindestens potenziellen Sinnhaftigkeit negiert – nur im ‚Heldentum‘ an sich liegt kein Wert vor, der die Verluste aufzuwiegen vermag: Das ist der Widerspruch in der Geschichte, und er steht für ein Problem, das wir gern ausklammern. Wir müssen es uns aber leisten, so eine Frage ernst zu nehmen: wie ein Mensch zurechtkommt, dem so etwas passiert ist bei einer Arbeit, die er doch nicht für sich allein gemacht hat. Es gibt, wenn wir mit sozialistischen Normen ernst machen, so etwas wie den Zwang zur Sinngebung, das ist nicht immer möglich, aber man muß sich damit auseinandersetzen. Dann gibt es Fragen, die nicht zu lösen sind, Konflikte, die nicht aufhebbar sind, es gibt Wunden, die offen bleiben. Aber wir können es uns nicht leisten, sie zuzudecken.91
Heiner Müllers Umgang mit den chinesischen Intertexten bezeugt also nicht nur eine starke Nähe zu Brecht, den Versuch, die für diesen impulsgebenden Literaturtraditionen ebenfalls aufzugreifen, sondern auch das Bewusstsein, dass dieser Anschluss an die chinesischen ‚Kampfgenossen‘ unter veränderten Vorzeichen
|| 88 In diese Richtung geht, allerdings wiederum zu einseitig, die Interpretationen von Gottfried Fischborn, Stückeschreiben. Claus Hammel, Heiner Müller, Armin Stolper (Literatur und Gesellschaft). Berlin 1981, S. 113f. bzw. ders., „Intention und Material. Einige Aspekte zu Heiner Müllers ‚Schlacht‘ und ‚Traktor‘“, in: Weimarer Beiträge 3 (1978), S. 58–92, hier S. 75. Georg Wieghaus wiederum postuliert pauschal, das Stück thematisiere „die Widerstände bei der Überwindung bornierter Ich-Bezogenheit, die Müller als Kennzeichen und Ursache des gewöhnlichen Faschismus diagnostizierte.“ (ders., Heiner Müller [Autorenbücher 25]. München 1981, S. 25). Zwiespältiger zeigt sich Teichmann, der einerseits die intertextuellen Passagen als „Störungsmomente“ markiert (ders., Der verwundete Körper, S. 116), andererseits jedoch davon ausgeht, dass der Protagonist schlussendlich seinen Verlust „im Allgemeinen aufgehoben“ wisse (ebd., S. 113). 89 Schulz, Heiner Müller, S. 127. 90 Vgl. dazu weiter auch Kreikebaum, Heiner Müllers Gedichte, S. 103. 91 So Müller in einem erst postum gedruckten Gespräch, in: HMW 10, S. 659–666, hier S. 655.
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in seiner Spannungskraft ernst genommen werden muss. In ihrer unterschiedlichen Kontextualisierung schärfen die beiden ‚chinesischen‘ Zitate den Blick auf die Frage nach der Anwendbarkeit vergangener und fremder (bzw. an diese angelehnter) Texte und verweisen auf das Moment des Widerspruchs, das über die Jahrhunderte hinweg Aufgabe der Lyrik bleibt. Sie können daher nicht wie bei Brecht einfach in den eigenen Traditionshorizont eingebettet werden. Vielmehr muss angesichts eines neuen Gesellschaftssystems, dem Heiner Müller zeitlebens kritisch, letztlich aber doch loyal gegenüberstand, versucht werden, diese Ambivalenz der Texte gegenüber dem aktuellen soziopolitischen Kontext auszuloten. Indem Heiner Müller sich weigert, die verschiedenen intertextuellen Ausschnitte miteinander und mit der Dramenhandlung in eine schlüssige Harmonie zu bringen, deutet er somit auf weiterhin bestehende Widersprüche innerhalb einer Gesellschaft und, auf einer metaliterarischen Ebene, auf die hochkomplexe Frage nach der Rolle der Literaturtradition für den Aufbau einer neuen Literatur im Sozialismus.
3 Mittler und Provokateure: F. C. Weiskopf und Klara Blum/Dschu Bailan zwischen Tradition, Moderne und Revolution 3.1 Literarischer Diplomatendienst: F. C. Weiskopf Am 24. Januar 1950 schrieb Liu Shaoqi 刘少奇, damals noch stellvertretender Vorsitzender des Volksregierungsrates der vor drei Monaten gegründeten Volksrepublik China, später ihr Präsident, einen Begrüßungsbrief an den jüngst berufenen Botschafter der Tschechoslowakei. Dieser antwortete enthusiastisch: Ich komme aus Prag im Herzen Mitteleuropas, zehntausend Meilen entfernt vom Herzen Ostasiens, Beijing […]. Aber das ist nichts als eine geographische Distanz, denn im Bereich der Gedanken und Gefühle stehen sich unsere beiden Hauptstädte, unsere beiden Länder, unsere beiden Völker sehr nah. In den entbehrungsreichen langen Jahren Ihres großen, unter Blutvergießen geführten Kampfes haben wir mit Ihrem Land mitgefühlt, denn Ihre Feinde fürchteten nicht nur Ihre Freiheit und Unabhängigkeit, sondern bedrohten auch Würde und Macht der Menschheit.1
Für den Autor dieses Briefs, den überzeugten Sozialisten Franz Carl Weiskopf, dürften diese Worte mehr als bloße Höflichkeitsfloskeln gewesen sein. Der beinahe 50-jährige tschechisch-deutsche Autor hatte die Kriegsjahre im amerikanischen Exil verbracht und war danach in den diplomatischen Dienst der Tschechoslowakei eingetreten. Nach Stockholm und Washington war Beijing nun die dritte und letzte Station seines Botschaftsdienstes, ehe er 1952 nach Prag zurückkehrte, von wo aus er 1953 in die DDR übersiedelte. Dort verstarb er zwei Jahre später. „Weiskopf der Mittler“ nannte man ihn2 und tatsächlich ist F. C. Weiskopf
|| 1 我来自中欧的心脏布拉格,它离东亚的心脏北京相距万里 […]。但这不过 是地理上的距离 而已,子女为在思想与感情的领域内,我们两个首都,两个国家两个民族却彼此非常接近。当 你们在长年流血伟大斗争的艰苦岁月中,我们对贵国极为关怀,因为你们的敌人不仅害怕贵国 的自由和独立,而且危险人类的僔 [lies 尊, Anm. S. L.] 严和权力。 (Zhonghua Renmin Gongheguo duiwai guanxi wenjian ji 中华人民共和国对外关系文件集 [Dokumente zu den auswärtigen Angelegenheiten der Volksrepublik China]. Beijing 1957ff., Bd. 1, 1957, S. 35f.) Der originale tschechische oder deutsche Briefentwurf war mir nicht zugänglich. 2 So bezeichneten ihn unter anderem Hans Mayer, Lion Feuchtwanger und Bodo Uhse: Hans Mayer, „Weiskopf der Mittler. Anmerkung zu drei Büchern“, “, in: Neue Deutsche Literatur 9 (1957), S. 82–90; Lion Feuchtwanger, „Franz Weiskopf war immer zur Stelle“; in: Deutsche Akademie der Künste zu Berlin (Hg.), Erinnerungen an einen Freund. Ein Gedenkbuch für F. C. Weiskopf. Berlin 1963, S. 21f., hier S. 22; Bodo Uhse, „Erinnerungen an einen Freund“, in: Ebd., S. 116– https://doi.org/10.1515/9783111044088-004
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bis heute insbesondere für seine Verdienste bei der Vermittlung jüngerer tschechischer und chinesischer Dichtungen im öffentlichen Gedächtnis präsent. Lion Feuchtwanger sah als eine der größten Leistungen des Autors an, dass er „den Dichtern des neuen China den Weg ins Herz Europas“ geöffnet habe.3 In der Geschichte der chinesisch-deutschen Literaturbeziehungen kommt Weiskopf nicht nur durch die hohe Quantität seiner Übertragungen eine gewisse Sonderrolle zu, sondern auch als Autor, der entschieden den Schwerpunkt von der klassischen Lyrik hin zur modernen und Gegenwartsdichtung verlagerte. Dass u.a. Brecht schon versucht hatte, einen teleologischen Bogen von der Vergangenheit zur Gegenwart hin zu spannen, wurde bereits im zweiten Kapitel dieser Arbeit diskutiert. F. C. Weiskopf schlägt nun die Brücke andersherum, indem er jüngste Dichtung überträgt und dieser als Vorspann einzelne klassische Texte beigibt. Nicht ganz unbescheiden beanspruchte Weiskopf daher, seine erste Anthologie chinesischer Lyrik, Gesang der gelben Erde, 1951 in China entstanden und beim SED-Parteiverlag Dietz erschienen, sei „etwas Neues, in dieser Art noch nicht Dagewesenes“.4 Wie gut Weiskopf persönlich Chinesisch las, ist schwer festzustellen. 5 Er konnte sich in jedem Fall auf die Hilfe chinesischer Freunde und Bekannten verlassen, die durch Vorlesen und Erstübertragungen Vorarbeit leisteten.6 Zusätzlich stützte sich Weiskopf vielfach (wohl aber nicht ausschließlich) auf bestehende europäische, v.a. andere deutsche, englische und tschechische Versionen. Eine englische Fassung von vier Reden des Ersten Kongresses der chinesischen Schriftsteller und Künstler, auf die Weiskopf in Gesang der gelben Erde mehrfach zurückgreift, hatte beispielsweise die Beijinger Cultural Press 1950 veröffentlicht. Die auf dem Kongress vorgetragene, mehrere Gedichte enthaltende Rede des || 120, hier S. 116. Vgl. zur Mittlerrolle Weiskopfs auch Eva Müller, „Kunst und Politik. Deutschchinesische Literaturbeziehungen seit den 20er und 30er Jahren“, in: Kuo Heng-yü/Mechthild Leutner (Hg.), Deutschland und China. Beiträge des Zweiten Internationalen Symposiums zur Geschichte der deutsch-chinesischen Beziehungen Berlin 1991. München 1994, S. 253–264, hier S. 261f. 3 Feuchtwanger, „Franz Weiskopf“, S. 22. 4 F. C. Weiskopf, „Einleitung“, in: Gesang der gelben Erde. Nachdichtungen aus dem Chinesischen, hg. und übers. von dems. Berlin 1951, S. 9–14, hier S. 9. Der Band wird im Folgenden im Fließtext mit dem Kürzel Gesang zitiert. 5 Edda Gutsche behauptet, Weiskopf hätte kein Chinesisch gekonnt (vgl. dies., Das Glück meines Lebens. Prager Schriftsteller in Berlin. Berlin 2016, S. 111; Hongjun Cai wiederum erwähnt, Weiskopf hätte täglich Sprachunterricht gehabt (vgl. ders., „F. C. Weiskopf und China“, in: Ders. [Hg.], Neue Forschungen chinesischer Germanisten in Deutschland. Frankfurt a.M. u.a. 1997, S. 34–50, hier S. 41). 6 Vgl. ebd., S. 44.
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Literaturkritikers und Kulturpolitikers Zhou Yang 周扬 wurde 1950 von demselben Verlag zudem als Einzeldruck auch auf Deutsch veröffentlicht.7 Weiskopf zitiert aus der Rede nicht nur in seinem Vorwort zu Gesang der gelben Erde.8 Sämtliche von Zhou Yang in der Rede als beispielgebend aufgeführten Gedichte sind in Weiskopfs Sammlung eingeflossen (s.u.). Einige Gedichte Mao Zedongs, die er übersetzte, lagen in Übersetzungen ins Englische, Russische und Tschechische vor. Tian Jians 田间 (1916–1985) Erzählgedicht 赶车传, von Weiskopf unter dem Titel Des Tien Tschien Lied vom Karren 1953 veröffentlicht, war ein Jahr vorher von dem tschechischen Sinologen Jaroslav Průšek ins Tschechische übertragen worden. 9 Weiskopf variiert zudem, wie Brecht (vgl. Kapitel 4), Gedichtübertragungen des kommunistischen Arztes und Schriftstellers Fritz Jensen.10 Auch die traditionellen Gedichte bzw. Sprüche, die Weiskopf den vier Abteilungen „Der Bauer singt“, „Der Soldat“, „Der Arbeiter“ und „Der Dichter“ jeweils voranstellt, sind prinzipiell keine Erstübertragungen, sondern in Versionen Albert Ehrensteins, Klabunds, Arthur Waleys/Bertolt Brechts und Richard Wilhelms vorhanden, zeigen dazu aber eine unterschiedlich starke Nähe. Vielfach dürften die vorliegenden Übertragungen vor allem für die Auswahl maßgeblich
|| 7 Weiskopf vermerkt in seinem Tagebuch am 8. April 1950, er habe „einige Reden, die auf der allchinesischen Schriftstellerkonferenz im Herbst des vergangenen Jahres gehalten wurden“, gelesen und sei bei dieser Gelegenheit auf das Genre der „Gewehrkolbenverse“ gestoßen (F. C. Weiskopf, „Auszüge aus den Tagebüchern 1950 bis 1952“, in: Deutsche Akademie der Künste zu Berlin [Hg.], Erinnerungen, S. 187–204, hier S. 191). Neben der englischen Fassung lag auch eine tschechische vor: Venceslava Hrdličková, O nové činské literatuře. Prag 1950, vgl. dazu Jaroslav Průšek, Die Literatur des befreiten China und ihre Volkstraditionen, übers. von Pavel Eisner u. Wilhelm Gampert. Prag 1955, S. 9 Anm. Leider war mir Hrdličkovás Fassung nicht zugänglich. 8 Als Quelle angegeben ist hier die englische Fassung, vgl. Gesang, S. 10f. 9 Vgl. zu Weiskopfs Rückgriff auf Průšek Tu Tu 涂途, „Zou xiang shijie de zhandou gushou – Tian Jian shige zai guoji shang de chuanbo he yingxiang“ 走向世界的战斗鼓手———田间诗歌 在国际上的传播和影响 (Der Kampftrommler auf dem Weg in die Welt. Zur internationalen Verbreitung und dem Einfluss der Gedichte Tian Jians), in: Hunan Wenli Xueyuan xuebao 33/4 (2008), S. 93–96, hier S. 94f. 10 Der jüdischstämmige Arzt war zunächst für den Widerstand in Österreich und Spanien aktiv, floh dann nach China und arbeitete dort für das Rote Kreuz. Später engagierte er sich teilweise wieder in Österreich für die Kommunistische Partei, teilweise in Asien. Er starb 1955 bei einem Anschlag auf ein Flugzeug, der Zhou Enlai 周恩来 galt, und wurde in Beijing auf dem Heldenfriedhof Babaoshan beigesetzt. Vgl. zu Jensen Eva Barilich, Fritz Jensen. Arzt an vielen Fronten. Wien 1991. Weiskopf griff auf mehrere seiner Gedichtübertragungen zurück, vgl. „Das Lied vom armen Bauern“ (Fritz Jensen, China siegt. Berlin 1950, S. 81f.), bei Weiskopf unter dem Titel „Rat an einen armen Bauern“ (Weiskopf, Gesang, S. 18), sowie einige sog. Flintengedichte (Jensen, China siegt, S. 220f., die entsprechenden Texte bei Weiskopf, Gesang, S. 38 und S. 45f.). Zu Fritz Jensen, dessen Übertragungen Brecht ebenfalls nutzte, vgl. auch Kapitel 2 und 4.
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gewesen sein. Dass Weiskopf seine eigene Interpretation geschaffen hat, dabei vielfach auch den Originaltext konsultiert haben dürfte, lässt sich durchaus erkennen. Die „Kolbenverse“, die Weiskopf von Fritz Jensen (dort unter der Genrebezeichnung „Flintengedichte“) übernimmt bzw. die er möglicherweise sowohl in Jensens Fassungen als auch in den Übersetzungen von Zhou Yangs Rede gelesen haben dürfte, zeigen eindeutige wörtliche Übernahmen, wobei Weiskopf im Gegensatz zu Jensen Wert auf den Reim legt, vielfach noch Elemente hinzudichtet und ein umgangssprachlicheres Register wählt: [ohne Titelangabe] (Fritz Jensen)
Preis für dieselbe (F. C. Weiskopf)
Flachschußkanone – gutes Ding, Gut hast du geschossen Am Ufer des südlichen Sees. Schieße doch, Flachschußkanone, Das nächste Mal wieder so gut.11
Zweiundachtziger, Gut hast du geschossen Am Ufer des südlichen Sees. Nur weiter so, unverdrossen, Und weich wird der Feind Wie Bohnenkäs. (Gesang, S. 38)
Das Gedicht „Die unten leiden Hunger“, eigentlich ein Abschnitt des Daodejing 道德经, ist eindeutig stark an Richard Wilhelms Übertragung angelehnt: Der Schaden der Gier (Richard Wilhelm)
Die unten leiden Hunger (F. C. Weiskopf)
Daß die Leute hungern, ist, weil ihre Oberen zu viele Steuern fressen; darum hungern sie. Daß die Leute schwer zu leiten sind, ist, weil ihre Oberen zu viel machen; darum sind sie schwer zu leiten. Daß die Leute den Tod zu leicht nehmen, ist, weil sie des Lebens Überfluß erzeugen wollen; darum nehmen sie den Tod zu leicht. Wer aber nicht um des Lebens willen handelt, der ist besser als der, dem das Leben teuer ist.12
Die unten nagen am Hungertuch, Weil die oben so prassen, Darum nagen die unten am Hungertuch. Die unten begehren auf, Weil die oben zuviel begehren, Darum begehren die unten auf. Die unten nehmen den Tod so leicht, Weil ihnen das Leben so schwer gemacht wird, Darum nehmen sie den Tod so leicht. (Gesang, S. 51)
Die teilweise wörtlichen Übernahmen sind deutlich zu erkennen. Dass der Text sich schon bei Wilhelm teilweise brechtisch anhört, liegt in der Affinität Brechts
|| 11 Jensen, China siegt, S. 220. 12 Laotse [Laozi], Tao te king, übers. von Richard Wilhelm. Düsseldorf/Köln 1952, S. 79.
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zu Wilhelm und beider Nutzung biblischer Sprach- und Wiederholungsmuster begründet,13 wird aber von vorneherein durch die konzise Kontraststruktur und syntaktischen Parallelismen des Originals befördert.14 F. C. Weiskopf macht den Text gewissermaßen noch brechtischer: Die Kontraste werden expliziter durch die Antonyme „unten“ versus „oben“ herausgestellt, so dass das Gedicht die Nähe zur Deutschen Kriegsfibel herausstellt, die ständig mit dieser Antithetik arbeitet.15 Weiskopfs Diktion schöpft stärker aus dem umgangssprachlichen Register („prassen“, „nagen […] am Hungertuch“), während Wilhelm von umgangssprachlichen Ausdrücken („fressen“) hin zu gehobener, biblisch-literarischer Diktion wechselt, also ‚niedere‘ Gesinnung und Weisheit kontrastiert. Auf den bei Wilhelm eher schwer verständlichen Schlussteil verzichtet Weiskopf, ebenso ersetzt er den Ausdruck „weil sie des Lebens Überfluß erzeugen wollen“; in dem Wilhelm aus unklaren Gründen die Leute anstatt die Oberen zum Subjekt erklärt, das nach Überfluss trachtet. Anstelle einer wörtlicheren Übertragung arbeitet Weiskopf hier wieder mit einer Kombination aus Wiederholung („Leben“) und Antithese („leicht“ vs. „schwer“). Insgesamt wird der Rhythmus durch Kürzungen bei F. C. Weiskopf ausgeprägter und härter. F. C. Weiskopf greift auch Bai Juyis „Der neue Pelzmantel“ ((新制布裘) unter dem Titel „Der Rock“ auf. Das Gedicht ist in Teilen mit der Vorlage für „The Big Rug“/„Die Decke“ (vgl. Kapitel 2) identisch.16 Wie Waley in „The Big Rug“ geht Weiskopf nur auf den Schluss des Textes ein, streicht den Kontrast zwischen dem wohlhabenden Ich und dem armen, frierenden Volk und fügt stattdessen eine explizite Mahnung zum Humanismus und Altruismus ein: Willst du ein Mensch sein In des Wortes wahrem Sinn, Mußt du an andre, Nicht an dich bloß denken. Ich wünsch mir einen Rock Viel tausend Meilen weit,
|| 13 Vgl. Detering, Brecht und Laotse, S. 26 und S. 71f.; Kloepfer, Poetik der Distanz, S. 50 und S. 79. 14 Vgl. den chinesischen Originaltext mit Gegenüberstellung von Varianten auf https://ctext.org/text.pl?node=11666&if=en&show=parallel [06.01.2020]. 15 Vgl. z.B. Gedichte wie „Die Oberen sagen: / Es geht in den Ruhm. / Die Unteren sagen: / Es geht ins Grab.“ (GBA 12, S. 12). 16 Vgl. dazu Kapitel 2, Anm. 43.
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Um dann aus aller Welt Das Volk damit zu wärmen. (Gesang, S. 67)17
Wo Brecht auf die Konfrontation zweier Figuren setzt (vgl. Kapitel 2), betont Weiskopf wie Waley mehr das Mitgefühl. Der Anfang, der über keine Vorlage verfügt, stellt eine Ausdeutung der Lyrik Bai Juyis als Ausdruck eines auf einen ‚neuen‘ Menschen vorausweisenden, altruistischen Menschenverständnisses dar. Dass Weiskopf das Original durchaus konsultiert hat, beweisen der Ausdruck „Rock“ (als Übersetzung von 裘, „Pelzmantel“) und die Formulierung vom Volk aus aller Welt (im Original 天下, „alles unter dem Himmel“/„die ganze Welt“), beides entspricht nicht Waleys Übertragung (letztere Formulierung kommt auch nur in 新 制布裘 vor, nicht in dem von Waley übertragenen, stellenweise aber wörtlich gleichen Gedicht [vgl. 170, S. 122]). Der didaktische Moralismus, der Bai Juyi mit einer für Weiskopfs Übertragungen typischen imperativischen Konstruktion in den Mund gelegt wird, eröffnet gewissermaßen programmatisch die Sektion „Der Dichter“. Die traditionellen Gedichte bzw. Sprüche (die Sektion „Der Bauer singt“ wird mit einem Spruch aus den Frühlings- und Herbstannalen [Chunqiu 春秋] eingeleitet, „Der Soldat…“ mit einem Gedicht aus dem Buch der Lieder, dem Shijing [siehe Gesang, S. 17 und S. 35], „Der Arbeiter“ mit dem Daodejing-Ausschnitt) suggerieren, dass der Keim der heutigen chinesischen Dichtung durchaus in der Tradition liegt, sowohl in Volksdichtungen, als auch in den Schriften älterer Philosophen und Dichter. Damit bestätigt Weiskopf die Konzeption chinesischer Dichtung, die Brechts Sammlung ein Jahr zuvor zugrunde lag, wendet aber den Schwerpunkt zur Moderne und Gegenwart. Viele der jüngeren von ihm aufgegriffenen Texte dürften auch tatsächlich Erstübersetzungen ins Deutsche gewesen sein, sowohl in der „Dichter“-Sektion als auch bei den Bauer-, Soldaten- und Arbeitergedichten.18 Dem Brückenschlag zwischen Altem und Neuem entspricht die Synthese von Laiendichtung und ‚professioneller‘ Lyrik, die „Vereinigung der beiden Ströme,
|| 17 Die zweite Hälfte von Weiskopfs Gedicht bezieht sich auf die Schlussverse 安得万里裘, / 盖 裹周四垠? / 稳暖皆如我 / 天下无寒人。 (Bai Juyi, Shi ji, Bd, 1, S. 122): „Könnte es nicht einen zehnttausend Meilen weiten Pelzmantel geben, / um alles in den vier Grenzen einzuwickeln / Alle wären gewärmt wie ich / unter dem Himmel gäbe es keine frierenden Menschen.“ 18 Ich konnte weder sämtliche Originale ausfindig machen noch für alle Gedichte europäische Vorlagen finden; aufgrund der belegten Zusammenarbeit mit Muttersprachlern vor Ort (vgl. Cai, „Weiskopf“, S. 44) ist aber wahrscheinlich, dass einige Gedichte durchaus auf Empfehlungen chinesischer Bekannter von Weiskopf erstmals übertragen wurden.
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in die Chinas Dichtung geteilt war“.19 Die Frage, ob man zunächst die Teilhabe am Literaturbetrieb breiteren Schichten zugänglich machen oder aber den Schwerpunkt auf eine ästhetische Niveauhebung der sozialistischen Dichtung setzen sollte, wird bei dem von Weiskopf mehrfach zitierten Zhou Yang ebenso diskutiert wie in Mao Zedongs berühmt-berüchtigter Yan’aner Rede und ist natürlich in der Literaturkritik anderer sozialistischer Staaten ebenso zentral. Die Konzeption von Weiskopfs Band legt eine vorbildhafte Synthese beider Ansätze in der Volksrepublik nahe: Drei der vier Gedichtgruppen sind anonymen oder kaum bekannten Dichtern vorbehalten, die der jeweils besungenen Berufsgruppe entstammen, also (scheinbar) für sich selbst die Stimme erheben, Bauern, Soldaten und Arbeiter. Die vierte Gruppe umfasst die ‚professionellen‘ Dichter, neben Bai Juyi als Vertreter der Tang-Dynastie Lu Xun, der ‚Vater der Moderne‘ (vgl. Kapitel 6), sowie die Gegenwartsautoren Tian Jian, Wang Xijian 王希坚 (1918–1995), Tu An 屠岸 (1923–2017), He Jingzhi 贺敬之 (*1924), Ai Qing 艾青 (1910–1996), He Qifang 何其芳 (1912–1977) und Zou Difan 邹荻帆 (1917–1995). Daneben finden sich zwei Texte von Tian Jiaying 田家英 (1922–1966), der als Mao Zedongs langjähriger Sekretär einer der Hauptverantwortlichen für dessen Gesammelte Werke war und zum engsten Kreis der Führungsriege gehörte. 20 Weiskopf dürfte ihn wohl getroffen haben. Den Abschluss der Sammlung bilden zwei an anderer Stelle diskutierte Gedichte des als Politiker und Lyriker von Weiskopf bewunderten Mao Zedong (vgl. Kapitel 4). Die Volksdichtung bildet damit die Basis und den Nährboden für eine ‚professionelle‘ sozialistische Gegenwartslyrik, wobei die Gegenwartsautoren allesamt auch (kultur-)politische Funktionen innehatten.
|| 19 So Weiskopf in „Über chinesische Poesie“, in: F. C. Weiskopf, Gesammelte Werke [künftig WGW], hg. von der Deutschen Akademie der Künste zu Berlin. Berlin 1960, Bd. 8: Über Literatur und Sprache. Literarische Streifzüge. Verteidigung der deutschen Sprache, S. 80–85, hier S. 81. 20 Ich danke Liu Huiru (Universität Trier) für wichtige Hinweise bei der Suche nach den Originaltexten. – Die Identifikation von „Ho Dsin Tschi“ (Weiskopf, Gesang, S. 81) bzw. in der Werkausgabe „Ho Djing-dshʼ“ (WGW 5, S. 250) mit He Jingzhi ist nicht ganz eindeutig. Bei dem Gedicht „Frühlingswind“ (Weiskopf, Gesang, S. 81) handelt es sich um den einzigen Text der „Dichter“-Sektion, zu dem ich kein Original ausmachen konnte (ebensowenig wie Gu, vgl. ders., Anthologien, S. 125). Angeblich ist es ein „Gedicht, das nach der Schlacht von Stalingrad entstand“ und das Loblied der Roten Armee singt (ebd.). Es könnte durchaus sein, dass Weiskopf, der auch Mao Zedong eine Lobeshymne auf Lenin in den Mund legt (vgl. Kapitel 4) und dem offensichtlich an der Förderung der Beziehungen zwischen den sozialistischen Bruderstaaten sehr gelegen war, von einzelnen Motiven von He Jingzhi ausgehend die Vorbildfunktion der Roten Armee für den „Frühling“ Chinas beschwor. Da, wie die anderen Analysen zu Weiskopfs Vorgehen zeigen, Weiskopf gelegentlich das Original mehr als Ausgangspunkt nimmt denn als konkrete Vorlage, wäre dies durchaus möglich.
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„Der Dichter“ ist damit bei Weiskopf eine Person, die in der Kombination von politischer und dichterischer Arbeit für ihr Volk eintritt. Die Bauern-, Soldaten- und Arbeiterlieder reflektieren unterschiedliche Phasen der jüngsten Entwicklung, sie beklagen Ungerechtigkeit, bilden den Kampf dagegen und den Übergang in eine neue Gesellschaft ab. Im Falle der Bauerngedichte überwiegt noch das (An-)Klagelied, das lyrische Pendant zu den Bodenreformversammlungen mit ihrem „Beklagen von Bitternis“ suku 诉苦, der Klage über vergangenes Unrecht einhergehend mit der Anklage der Bodenbesitzer.21 Das Gros der Soldatengedichte sind sogenannte „Kolbenverse“ (qiangganshi 枪杆诗) und „Straßenrandverse“ (jietoushi 街头诗) als typische Beispiele einer scheinbar alltäglichen Gebrauchsdichtung, die Gegenständen (vielfach den Gewehren) eingeschrieben war. Weiskopf wählt damit eine Art von ‚Gebrauchslyrik‘, die im deutschsprachigen Raum kaum bekannt war, auch wenn Fritz Jensen, wie erwähnt, bereits einige „Flintengedichte“ veröffentlicht hatte, aus denen sich Weiskopf – ohne explizite Berufung – bedient. In der Betonung, es handle sich bei diesem Genre um eine „natürlich gewachsen[e]“ Dichtung, „echte[] Volksdichtung“, die als Folge der Alphabetisierung und neuer Partizipationsmöglichkeiten der unteren Klassen an der Literatur entstanden sei (vgl. Gesang, S. 12f.), unterschlägt Weiskopf, dass die Gedichte auf offizielle Aufrufe und Ausschreibungen und unter intensiver Förderung zahlreicher bekannter Dichter in den unter KP-Herrschaft stehenden Gebieten in den späten 1930er und frühen 1940er Jahren entstanden waren.22 Die Arbeiterdichtung des dritten Teils reflektiert schließlich schon aus der Perspektive der neuen Gesellschaft den Kontrast zwischen Unterdrückung und Befreiung und ruft zum Aufbau auf. Zentrale Feindfiguren der Texte sind der Typus des gierigen Grundbesitzers sowie Chiang Kaishek 蒋介石, der „graue[] Verräter“ (Gesang, S. 40). Den Gegenpart nehmen die „Sonne“ Mao Zedong (Gesang, S. 29) und die Armee ein (vgl. z.B. Gesang, S. 26). Entsprechend sind die Texte um verschiedene binäre Schemata konstruiert: Unterdrückung–Befreiung, Feind–Freund, Armut–Wohlstand, etc.:
|| 21 Einer der Texte wird sogar explizit ausgewiesen als auf den „Bitternisversammlungen“ gesungenes Lied, vgl. Gesang, S. 30. 22 Vgl. Zhou Jinxiang 周进祥, „Jietou shi zai Jinchaji“ 街头诗在晋察冀 (Straßenrandgedichte in der Shanxi-Chahar-Hebei-Region), in: Xin wenxue shiliao (1983), S. 200–208; Wang Wenjin 王文 金, „Jiefangqu shige yundong ji qi chuangzuo lüelun“ 解放区诗歌运动及其创作略论 (Eine kurze Diskussion der Lyrikbewegungen und ihres Schaffens in den Befreiten Gebieten), in: Henan Daxue xuebao (1988), Nr. 2, S. 19–23.
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印子钱 (anon.)
Zinseszinsen (F. C. Weiskopf)
为人其传印子钱, 一年借, 十年还, 剩个尾巴算不算? “不算!不算!” 过上几年脸一变, 又算你三万二万!23
Willst du nicht leben wie ein Tier, So rat ich dir, Borg nicht beim Reichen. Du borgst für ein Jahr Und brauchst auf ein Haar Zehn, um die Schuld zu begleichen. „Wie stehts um die Zinseszinsen“ frag ich Beim Bezahlen den dicken Mann. „Laß nur, ich bitte dich!“ Sagt er. Doch dann, Zwei Jahre später, Kommt er mit Gezeter Und fordert zwanzigtausend mehr. (Gesang, S. 19)
打仗要打新一军 (anon.) 砍树要砍根, 打仗要打新一军。 兵对兵, 将对将, 翻身的好汉, 那有打不过抓来的兵? 打垮新一军, 杜聿明门牙去一根。 三气周瑜周瑜死, 三气杜聿明放悲声。 生铁百炼成钢, 军队百战无敌挡。 敲掉蒋介石的老本钱, 我军主力更坚强。24
Sieg über die „Neue Erste Armee“ Tschiang Kai Scheks (F. C. Weiskopf)
Wenn du den Baum fällst, Vergiß die Wurzeln nicht. Wenn du den Feind fällst, Sieh zu, Daß die „Neue Erste“ zerbricht. Mann gegen Mann Gestellt, Was kann Ihr Söldner Im Feld Ausrichten Gegen unsereinen? Wir werden Die „Neue Erste“ zermahlen Wie Hirse Zwischen Mühlesteinen. Dreimal spucken wir in die Hände,
|| 23 Zit. nach Zhou Yang 周扬, Xin de renmin de wenyi 新的人民的文艺 (Literatur und Kunst des neuen Volkes). Beijing 1949, S. 20. 24 Ebd., S. 15.
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Und die „Erste“ ist am Ende, Dreimal holen wir dann aus, Und es bleibt nicht eine Laus Übrig von den Nachschubtruppen. Tschiang, gib acht auf deine Puppen!
Wir sind Eisen, das glüht, Unterm Hammer sprüht. Jedes Gefecht ein Hammerschlag. Das Eisen wird härter Von Tag zu Tag. Wer kann ihm noch wehren, Zu schneiden die Ähren Des Siegs? (Gesang, S. 42 f.)
Der weitgehende Verzicht der chinesischen Texte auf Pronomina und die gelegentliche Verwendung der 2. Person wie beispielsweise im ersten zitierten Gedicht25 kommt Weiskopf, der auch in der eigenen frühen Lyrik schon oft ein lyrisches Ich vermeidet, stark entgegen. 26 Der Modus der (Selbst-)Ansprache, des Appells wird in Weiskopfs Versionen hervorgehoben, die Mahnung oder Warnung eines Du, die Ansprache zur Solidarisierung einer Gemeinschaft, oder auch die Verwendung eines Du zur Darstellung typischer, sich wiederholender Konstellationen. Das persönliche Erleben tritt somit stark zugunsten einer auf Exemplarität und eindeutige Darstellung von Klassenzugehörigkeit setzenden Appelllyrik zurück. Weiskopf wählt bewusst eine an der Mündlichkeit orientierte, einfache und deutliche Sprache, wie sie auch die Originale kennzeichnet. Die Vergleiche und Metaphern schöpfen aus einem gängigen Repertoire an Topoi – das Ausrotten eines Baums mit Wurzeln, die Armee als Eisen etc. Andererseits verzichtet Weiskopf auf stärker chinesisch kulturell verankerte Bilder und auch auf die Nennung von Personennamen jenseits dem Chiang Kaisheks. Wenn das Original des zweiten oben zitierten Gedichts die Erzählung von General Zhou Yu 周瑜 aus der Geschichte der Drei Reiche (三国演义) aufgreift, der von seinem Gegenspieler dreimal so sehr in die Wut getrieben wird, bis er stirbt, nahelegend, man möge ebenso den Guomindang-General Du Yuming 杜聿明 ärgern, setzt Weiskopf an derselben Stelle die feindliche Armee mit Läusen gleich. Die Geste des In-die-Hände-
|| 25 Dort allerdings nur in der Schlusszeile, bis dahin enthält das Gedicht keine Pronomen. Weiskopf stellt das „Du“ dagegen deutlich heraus. 26 Vgl. dazu auch Ludvik Václavek, „Das lyrische Werk F. C. Weiskopfs“, in: Philologica Pragensia 8 (1965), S. 14–26, hier S. 15.
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Spuckens ist natürlich ebenso wenig dem Original entnommen, sondern übersetzt das Bewusstsein von Tatkraft und Siegesgewissheit in eine in der Zielkultur direkt zugängliche Geste. Alle deutschen Gedichtfassungen sind, wenn auch mit wechselnden Mustern, gereimt. Die Verse sind unterschiedlich lang, teilweise sogar auf ein bis drei Worte reduziert, eine Strategie, die Weiskopf in seiner eigenen frühen Lyrik schon angewendet hatte27 und die er, wie noch zu diskutieren sein wird, bei einem chinesischen Autor, Tian Jian, bestätigt findet, so dass er sie auch in anderen Gedichten nutzt. Weiskopf wählt auch dann freie Verse, wenn die chinesischen Texte mit klassischen 5-Zeichen-Zeilen o.ä. arbeiten. Der Rhythmus wirkt dadurch hart und abgehackt, trommelnd, während gleichzeitig die Enjambements ein vorwärtsdrängendes Lesen erzwingen. Anaphern, Parallelismen und Wiederholungen in Kombination mit den Reimen geben den Texten, die im Original oft auf Volksliedtraditionen zurückgreifen, eine ausgeprägte Liedhaftigkeit. Gelegentlich werden auch lautmalerische Elemente eingebunden: Wir flicken die Straßen, Eh-He-Yo! Wir flicken die Straßen, Das scheint nicht viel, Eh-He-Yo! Doch auf löchrigen Straßen Kommst du spät ans Ziel, Eh-He-Yo! (Weiskopf, Gesang, S. 56).28
Die Texte der „Dichter“-Abteilung sind stilistisch denen der vorangegangen Abteilung durchaus ähnlich. Der Unterschied zwischen strengeren und freieren Formen wird auch hier nicht markiert, selbst wenn im Original mehrere Gedichte auf klassische Versformen zurückgreifen, seien es chinesische oder adaptierte westliche. Weiskopf verzichtet beispielsweise darauf, das Sonett des chinesischen Dichters und Shakespeare-Übersetzers Tu An, „Gesang des befreiten Bauern“ (解
|| 27 Vgl. zum Beispiel das „Rebellantenliedchen“: „Es geht eine Trommel rumdibum, / Rumdibum: / Die Vielen sind stumm, / Die Vielen sind dumm, / Sie tun nur exerzieren/ Gehorsam attackieren, / Krepieren / Auf Befehl. / Rumdibum. / Warum? […]“ (WGW 5, S. 9). 28 Die Vorlage hierfür könnte folgender Text gewesen sein: Xi Yang 希楊/Yi Ming 怡明, „Xiu lu ge“ 修路歌 (Lied der Straßenreparatur), in: Renmin Yinyue (1950), H. 2, S. 61. Eindeutig identifizieren konnte ich das Original jedoch nicht, ein ähnliches Lied wäre denkbar. In jedem Fall enthält dieses chinesische Lied zahlreiche lautmalerische Füllsilben wie „wa“ (哇), „hei“ (嘿) oder „la“ (啦).
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放了的农名之歌),29 im Deutschen als solches wiederzugeben und damit die westöstliche, klassisch-moderne Fusion im Formalen zu übertragen. Die besonders (aber nicht nur) in den Texten der „Dichter“-Sektion im Original greifbare Spannung zwischen Tradition und Moderne wird damit zugunsten freierer Rhythmen aufgelöst, größtenteils sind die Verse gereimt, vielfach gibt es refrainartige Partien, die Nähe zum Volkslied und Kinderlied wird dabei wiederum über lautmalerische Gesangssilben wie „Ai-jo-ho“30 bis hin zu deutschen Kinderliedreimen wie „Eia, popeia“31 gestärkt. Weiskopf bekräftigt damit die schon im Titel der Sammlung betonte Sangbarkeit als ein Kernmerkmal chinesischer Dichtung, wie es in der deutschen Vorstellung spätestens seit Bethges Chinesischer Flöte und Gustav Mahlers Vertonungen dieser Gedichte verankert war, und sieht offenbar darin eine Stärke der Dichtung im politischen Kampf. Die Eingriffe in der „Dichter“-Abteilung sind jedenfalls ausgeprägter als bei der Übersetzung der Dichtung aus dem ‚einfachen‘ Volk. Mehrfach greift Weiskopf nur Teile längerer Texte auf oder kürzt die chinesischen Texte deutlich, erweitert sie aber andererseits um neue Bilder. Die beiden von Maos Sekretär Tian Jiaying abgedruckten Gedichte sind im Original beispielsweise keinesfalls selbständig, sondern Teile eines langen Erzählgedichts.32 Lu Xuns „Rat“ wiederum geht auf einen Doppelvers aus Lu Xuns „Selbstverspottung“ (自嘲) zurück, genau genommen auf zwei Verse, die Mao Zedong in seiner vielzitierten Yan’aner Rede aus dem Kontext reißt, um eine ‚korrekte‘ Haltung der Schriftsteller einzufordern, die sich den Feinden gegenüberstellen und der kommunistischen Sache strikt
|| 29 Vgl. das Original in Zhongguo sishi hang shi 1920–1987 中国四十行诗 1920–1987 (Chinesische Sonette 1920–1987), hg. von Qian Guangpei 钱光培. Beijing 1990, S. 208 und Weiskopfs Version in Gesang, S. 80. 30 So in dem He Jingzhi [?] zugeschriebenen Gedicht „Frühlingswind“. Zur Frage der Identifizierung dieses Autors und Textes siehe die obigen Ausführungen in Anm. 20. 31 So im „Wiegenlied“ nach Wang Xijian (Gesang, S. 76f.). Vergleichbare lautmalerische Einschübe finden sich hier nicht im Original (vgl. Wang Xijian 王希坚, „Cuimiange“ 催眠歌 (Wiegenlied), in: Ders. u.a., Dian hu lin. Shi xuan 佃户林。诗选 (Wald der Pächter. Ausgewählte Gedichte). Beijing 1950, S. 72–74), durchaus aber andere Wiederholungsmuster und Formulierungen wie „Kleiner Braver, Braver / schlaf schnell, schnell ein“ (小乖乖, / 快快睡 [S. 72]). Weiskopf greift mit der intertextuellen Referenz auf das deutsche Kinderlied „Eia popeia, was raschelt im Stroh“ wiederum bewusst auf genretypische Elemente der Zielkultur zurück. 32 Vgl. Tian Jiaying 田家英, „Bu tun’er“ 不吞儿 (Der Unverschluckbare), in: Ders., Tian Jiaying wenji 天家英文集 (Gesammelte Werke von Tian Jiaying). Changsha 1987, S. 135–185, die übersetzten Teile S. 136 und S. 137f.
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unterwerfen sollen.33 Die in Kapitel 6 behandelte Version von Jürgen Theobaldy wird dieses Gedicht gezielt aus der suggerierten Eindeutigkeit zu reißen versuchen und verschiedene Möglichkeiten der Haltung des Autors zu Gesellschaft und Politik auszuloten, Weiskopf dagegen schließt ganz an Mao Zedong an und fügt noch einen weiteren Vers hinzu, der seinem Zukunftsoptimismus entspricht: Rat Wende den Kopf mit kalter Verachtung Von den tausend winkenden Herrchen, Neig ihn den Kindern, den Vielen, zu, Wie ein williger Büffel, Pflügend für sie, denen die Zukunft gehört. (Gesang, S. 68)
Ästhetisch am nächsten dürfte sich Weiskopf Tian Jian, dem chinesischen „Trommler der Zeit“,34 gefühlt haben: 一百多个 (田间)
Ende und Anfang (F. C. Weiskopf)
向那边前进, 一百多个农民, 忿怒得很, 悲壮得很。
Mehr als hundert Bauern Marschieren heran. In ihren Adern brennt Zorn, Schmerzen feuern sie an.
敌人,你 即便你举起
Ihre hundert Gewehre Vernichtet vielleicht der Feind.
|| 33 Maos Rede war schon damals in mehreren Übersetzungen zugänglich. 1950 erschien eine deutsche Fassung des Beijinger Kulturverlags: Mao Tse-tung [Mao Zedong], Reden auf der Beratung über Literatur und Kunst zu Yenan. Beijing 1950. Knapp nach Weiskopfs Sammlung erschien eine DDR-Übertragung mit einem Vorwort von Anna Seghers: Mao Tse-tung [Mao Zedong], Reden an die Schriftsteller und Künstler im neuen China auf der Beratung in Yenan, übers. von Hermann T. Wiemann. Berlin 1952. 34 Das Epitheton geht auf einen Essay des Dichters Wen Yiduo 闻一多 zurück (bzw. wurde dadurch popularisiert): Wen Yiduo 闻一多, „Shidai de gushou – du Tian Jian de shi“ 时代的鼓 手 —— 读田间的诗 (Trommler der Zeit – beim Lesen der Gedichte Tian Jians), in: Ders., Wen Yiduo wenji. Shidai de gushou 闻一多文集。时代的鼓手 (Gesammelte Schriften von Wen Yiduo. Der Trommler der Zeit), hg. von Wang Lixin 王立信. Hainan 1997, S. 130–134. Die Bezeichnung impliziert natürlich auch die vielfach hervorgehobene Nähe zu Majakovskij, vgl. u.a. Guo Chao 郭超, „Lüe tan Tian Jian shige fengge xingshi de yanbian“ 略谈田间诗歌风格形式的演变 (Eine kurze Diskussion zu den Veränderungen in der stilistischen Form von Tian Jians Gedichten), in: Tang Wenbin 唐文斌 (Hg.), Tian Jian yanjiu chuanji 田间研究专集 (Gesammelte Forschungen zu Tian Jian). Hangzhou 1984, S. 271–280, hier S. 273.
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一万枝枪, 也打不倒他们。
Sie selbst kann er nicht vernichten, Sie bleiben aufrecht, vereint.
农民的心, 正在前进……
Die Herzen der Bauern marschieren Zu vieren, zu vieren. Vergessen ist alle Traurigkeit, Es endet die alte böse Zeit.
早晨: 他们 从南北村 前进…… 像队形, 又不像队形; 孩子,女人 一大阵。 ——在血还没有干的沙滩上, 农民的心 像无数的火星 要把春天唤醒。 毡帽头, 拉到眼边; 因为呀, 还没有作战。 梭标 坚在前面, 当作旗帜 在指挥; 要指挥 大队 —— 孩子,女人 走上战线。 “不怕烧, 也不怕杀, 我们要去找 找一路活路……” […] 他们的孩子 坐在雪上, 一抓到雪, 就往嘴里塞。
Sie heben ihre Waffen hoch Und lassen die Fahne wehn. Aus den Dörfern am Weg die Kinder und Fraun Wollen mit ihnen gehen. Sie fürchten das Feuer nicht, nicht den Tod, Sie suchen die neue Welt. Zwei Lebende füllen die Lücke aus, Wenn einer getroffen fällt. Die Herzen der Bauern marschieren Zu vieren, zu vieren. Es schreckt sie nicht die Winterzeit, Auch wenn es dichte Flocken schneit. Die Kinder sitzen draußen im Schnee, Sie essen Schnee statt Bohnen. Der Anblick treibt die Tränen ins Aug, Tränen sind Flinten, Patronen. Für eure Tränen mit seinem Blut Soll der Gutsherr zahlen, der Feind. Bald lacht ihr die Augen euch wieder blank, Ihr habt genug geweint. Die Herzen der Bauern marschieren Zu vieren, zu vieren. Es schmilzt der Schnee im warmen Wind. Die gelbe Erde zu singen beginnt. (Gesang, S. 71f.)
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现在—— 就是眼泪, 也变成了 武器! 它滴得多些, 敌人会死得多些, 他们 指着眼泪喊: “打倒敌人!” 风雪停止了, 一百多个 拨开新的雪片, 和新的血迹。 ——在血还没有干的沙滩上, 丁丁当当, 这一百多个人, 握起锄头歌唱 歌唱 反“扫荡!” 歌唱 开荒!35
Tian Jian und Weiskopf arbeiten beide mit einer einfachen, klaren Sprache und kurzen, vielfach auf mehrere Verse gebrochenen Sätzen und entsprechend hartem, stockendem Rhythmus. Weiskopf kombiniert dabei vor allem jambische und daktylische Versmaße und schafft so eine gewisse Dynamik. Einige von Tian Jians Versen sind bis auf zwei Zeichen verkürzt, der Staccato-Rhythmus dieser Kurzverse kontrastiert nur in den Strophen 6 und 20 mit dem deutlich längeren, dadurch hervorgehobenen Vers: ——在血还没有干的沙滩上 („auf dem Strand mit noch ungetrocknetem Blut“). Zwei Zeitperspektiven stehen einander hier scharf gegenüber, das lang andauernde Leiden und die Geschwindigkeit der Kampfhandlung.
|| 35 Tian Jian 田间, Tian Jian shi wenji 田间诗文集 (Gesammelte Gedichte von Tian Jian). Shijiazhuang 1989, Bd. 1, S. 244–247.
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Genau in der Kombination aus gereimtem, rhythmisiertem Vers und variabler Verslänge dürfte Weiskopf eine ideale Fusion von Moderne und Tradition gesehen haben. Weißkopfs Gedicht ist insgesamt kürzer, zahlreiche Verse korrespondieren tatsächlich relativ eng in der Bildlichkeit, Weiskopf erlaubt sich aber sowohl Kürzungen als auch Ergänzungen. Beide Gedichte zeigen den Aufmarsch der Bauern, die gezwungenermaßen zu Kämpfern werden und deren „Herzen“ (心) symbolisch nach vorne marschieren. Tian Jians Gedicht lässt die Bauernmenge noch weniger professionell wirken; die Aufstellung „gleicht einer Formation, / und gleicht doch keiner Formation“ (像队形, / 又不像队形). Bauern, Frauen und Kinder formieren sich zu einer großen Kampfestruppe, noch etwas unbeholfen, die Fellmützen über den Augen hängend, da sie noch nie gekämpft haben, Speere und Hacken zum Kampf erhoben. Sie suchen nach einem „Ausweg, um zu leben“ (活路), wo Weiskopfs Bauern die „neue Welt“ suchen. Weiskopfs Bauernsoldaten wirken deutlich siegesgewisser und professioneller, die Formation wird mit immer mehr Kämpfern aufgefüllt. Tian Jians Gedicht von 1939 stammt aus dem Kontext der „Ausrottungskampagnen“ (扫荡) der Japaner im japanisch-chinesischen Krieg, gegen die sich die Bauern irgendwie zu erwehren suchen und erwähnt diese auch in der letzten Strophe. Der Gesang, zu dem die Bauern am Schluss anheben, soll Ausdruck ihrer Siegesgewissheit sein, die sich auch in der Natur, dem Ende des Winters, spiegelt. Der Sprecher des Gedichts ist eine außenstehende Figur, die den Feind – durch die Erwähnung der „Ausrottungskampagnen“ im Chinesischen eindeutig die Japaner und ihre Verbündeten – anspricht und warnt; die Bauern selbst kommen mehrfach in direkter Rede zu Wort. Weiskopfs Version kann aus der Retrospektive den Optimismus deutlich erhöhen und das Gedicht unter das Motto „Ende und Anfang“ (im Original: „Mehr als hundert“) stellen. Der Sprecher weiß über den künftigen Sieg und spricht als überlegene Instanz die Bauern selbst an: „Bald lacht ihr die Augen euch wieder blank, / Ihr habt genug geweint.“ Der „Feind“ des Weiskopfʼschen Gedichts sind jedoch nicht die japanischen Truppen, sondern explizit „der Gutsherr“. Aus dem konkreten historischen Kontext gelöst, wirkt der Aufmarsch der Soldaten mehr wie ein allgemeiner allegorischer Revolutionsmarsch. Wie bei Tian Jian wird im Bild des beginnenden Frühlings der Übergang in eine neue Epoche angedeutet, Weiskopf lässt aber nicht die Bauern singen, sondern stellvertretend die „gelbe Erde“, wodurch die Perspektive vom konkreteren Kontext noch einmal stärker auf die allgemeine Erhebung des chinesischen Volkes gelenkt wird. „Gesang der gelben Erde“ ist auch der Titel von Weiskopfs Sammlung. Diese spannt so den Bogen zu
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Ehrensteins „Das gelbe Lied“ (vgl. Kapitel 1), bildet gewissermaßen den Antwortgesang auf die zweieinhalb Jahrzehnte vorher entstandene Sammlung.36 Insgesamt bieten für F. C. Weiskopf, der sich nach seinen lyrischen Anfängen auf die Prosa konzentriert hatte, die Nachdichtungen eine Möglichkeit, durch die relativ freie Bearbeitung der Texte wieder zum Gedicht zurückzukehren, wobei vielfach Texte mit stark narrativen Einschlägen gewählt werden. Auch der Appellcharakter zahlreicher Gedichte, das Zurücktreten des lyrischen Ich bzw. die Setzung eines Sprechers als kommentierende, distanzierte Instanz sowie vor allem Tian Jians freirhythmische Kurzverse dürften Weiskopf angesprochen haben. Mit Gesang der gelben Erde, später ergänzt durch einige weitere Übertragungen und Tian Jians Lied vom Karren, knüpft Weiskopf zwar einerseits durchaus an bestehende Rezeptionsstränge der chinesischen Dichtung von Klabund über Ehrenstein, Brecht und Heiner Müller an, verschiebt aber erstmals den Fokus ganz eindeutig zur Gegenwartsliteratur hin. Der Band ist offensichtlich auf einem Konzept politphilosophischer Teleologie fundiert, wobei die Dichtung sowohl Medium von dessen Reflexion ist als auch ein Agitationsmittel darstellt. Entsprechend kommen pragmatische Alltagsdichtung und lyrische Gesellschaftsanalysen der ‚großen‘ Literaten bzw. Literaten-Politiker zusammen. Diese Fusion überspielt freilich relativ stark die Breite des Spektrums der lyrischen Genres, derer sich die Originale bedienen und in denen sich die Vielfalt der chinesischen literarischen Landschaft im Versuch der Reorientierung zwischen Tradition und Moderne spiegelt.37 Ob F. C. Weiskopf schon mit dem Gedanken angereist war, aus China auch literarische Inspiration sowohl für sich als auch für das deutschsprachige Publikum zu ziehen, als er Liu Shaoqi versprach, „meine geringen Kräfte, Erfahrungen und Talente“ im diplomatischen Dienst einzusetzen, ist schwer zu sagen.38 Letzterer jedenfalls dankte ihm vor der Abreise explizit für seine „literarische Tätigkeit für China“. 39 Für Weiskopf gehörten die verschiedenen Bereiche seiner
|| 36 Auch der erste zur Diskussion stehende Titel spielte auf Ehrenstein an. So sprach Weiskopf in einem Brief an Louis Fürnberg davon, er arbeite an einem „Bändchen ‚China singt‘ oder so ähnlich“ (Brief an Louis Fürnberg vom 14. Februar 1951, in: Deutsche Akademie der Künste zu Berlin [Hg.], Erinnerungen, S. 239–241, hier S. 241). Der Titel wäre so als Replik auf Ehrensteins China klagt (1924) konzipiert gewesen, zugleich wohl auch als Pendant zu Jensens China siegt. 37 Vgl. zu dieser Spannung insbesondere Kapitel 6. 38 Vgl. den in Anm. 1 zitierten Brief in: Zhonghua Renmin Gongheguo duiwai guanxi wenjian ji, Bd. 1, S. 36. 39 Siehe F. C. Weiskopf, „Auszüge aus den Tagebüchern 1950 bis 1952“, in: Deutsche Akademie der Künste zu Berlin (Hg.), Erinnerungen, S. 185–204, hier S. 201.
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beruflichen Tätigkeit offensichtlich untrennbar zusammen. Und so notierte er über ein weiteres Abschiedstreffen, diesmal mit dem chinesischen Premierminister: …nachher kommt Tschou En-lai [Zhou Enlai] auf Kultur zu sprechen und bemerkt, daß ich wahrscheinlich in letzter Zeit mehr von chinesischer Kunst und Literatur „konsumiert“ habe als er. Ich gebe ihm ein Exemplar von „Gesang der gelben Erde“, und er beginnt interessiert darin zu blättern. „Ach“, sagt er, „Poesie… Wie hat sie sich mit den diplomatischen Noten vertragen?“ „Wie Poesie sich überhaupt mit dem Leben verträgt. In keinem Fall schadet sie dem andern, manchmal wird sie geschädigt.“40
3.2 Zwischen mehreren Fronten: Klara Blum/Dschu Bailan Genauso eng wie bei Weiskopf waren Poesie und Politik bei einer anderen Autorin verwoben, deren Lebensstationen sich mehrfach mit denen Weiskopfs kreuzten. Wenn F. C. Weiskopf den Zeitgenossen als „Mittler“ und Diplomat im Gedächtnis blieb, war seine Zeitgenossin Klara Blum für eine gewisse Kompromisslosigkeit und Starrköpfigkeit, aber auch ihren Kampfeswillen bekannt, ohne die ihr Werdegang nur schwer vorstellbar ist. Noch kurz vor Ausrufung der Volksrepublik war die jüdische, aus Czernowitz stammende Dichterin, die später den Namen Dschu [Zhu] Bailan 朱白兰 annehmen sollte, nach China emigriert, unter gänzlich anderen Umständen und durchaus auch aus politischer Überzeugung, zunächst aber aus privater Motivation. Über den äußerst ungewöhnlichen Lebenslauf der Schriftstellerin ist in den letzten Jahren in der Forschung einiges geschrieben worden: Klara Blum hatte im sowjetischen Exil während der Kriegsjahre eine kurze Liebesbeziehung zu einem chinesischen Regisseur, Zhu Rangcheng 朱穰丞, entwickelt. Als dieser plötzlich verschwand, versuchte sie, nach China auszureisen, wo sie ihn politischen Aufgaben gewidmet glaubte. Tatsächlich war er längst den stalinistischen Verfolgungen zum Opfer gefallen. 1947, beinahe eineinhalb Jahrzehnte nach dem abrupten Ende der Liebesbeziehung, gelangte Klara Blum über Umwege und unter widrigen Umständen nach China, wo sie den Rest ihres Lebens, ab 1954 auch offiziell als Chinesin, verbringen sollte.41 || 40 Ebd., S. 199. 41 Vgl. zu Blums abenteuerlichem Lebenslauf u.a. Zhidong Yang, Klara Blum – Zhu Bailan (1904–1971). Leben und Werk einer österreichisch-chinesischen Schriftstellerin (Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 55). Siegen 1996, S. 11–62; Franz Quilitzsch, „Legende von Dsche-Nu. Das Schicksal der deutschsprachigen jüdisch-chinesischen Schriftstellerin Klara
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1940 im sowjetischen Exil aus der Deutschen Sektion des Schriftstellerverbands wegen „Disziplinlosigkeit und Hysterie“ 42 ausgeschlossen, obgleich Johannes R. Becher in ihr eines der größten zeitgenössischen Talente sah,43 hatte sie Freunde und Feinde gleichermaßen in den einflussreichen Dichter- und Politikerkreisen und bekam immer wieder Publikationsschwierigkeiten. So wurde ihr Roman Der Hirte und die Weberin, der zeitgleich mit Weiskopfs Gesang erschien, zunächst mit relativ hoher Auflage genehmigt, dann wieder zurückgezogen, schließlich unter Intervention des DDR-Präsidenten Wilhelm Pieck, den Blum aus Moskauer Zeiten kannte, doch akzeptiert, allerdings unter der Bedingung, es solle bei einer einzigen Auflage bleiben.44 Sie publizierte eine Zeitlang noch deutschsprachige Texte in der DDR, ehe sie als inzwischen chinesische Staatsbürgerin die Zusammenarbeit mit dem Greifenverlag im Zuge der sich verschlechternden Beziehungen zwischen China und der DDR gänzlich und kompromisslos aufkündigte und damit sich selbst aufgrund ihrer (chinesisch-)patriotischen Integritätsvorstellungen die Einflussmöglichkeit im deutschsprachigen Raum jenseits einiger Publikationen in der österreichischen Roten Fahne (vgl. Kapitel 4) versagte. Einige ihrer Gedichte erschienen in Übersetzung in chinesischen Zeitschriften, Zeitungen und Anthologien, teilweise auch ausschließlich dort. Klara Blum war lange Zeit weitgehend in Vergessenheit geraten bzw. vor allem aufgrund ihrer ungewöhnlichen Biographie betrachtet worden, ehe Zhidong Yang durch eine Werkauswahl und eine Monographie umfassender auf sie aufmerksam machte.45
|| Blum“, in: Argonautenschiff 7 (1998), S. 203–215; Adrian Hsia, „Das Leben als Ballade – Liebe, Schaffen und Tod Klara Blums“, in: Ders., China-Bilder in der europäischen Literatur (Saarbrücker Beiträge zur vergleichenden Literatur- und Kulturwissenschaft 49). Würzburg 2010, S. 154– 172; Natalia Shchylevska, „Klara Blum – Zhu Bailan (1904–1971)“, in: Daniel Baric (Hg.), Identités juives en Europe centrale: Des Lumières à l‘entre-deux-guerres. Tours 2014, S. 245–262. Nicht unproblematisch und von Thomas Lange zu Recht bemängelt, ist, dass die Blum-Biographien vielfach auf den autobiographisch inspirierten Roman Der Hirte und die Weberin sowie andere scheinbar autobiographische Schriften zurückgreifen und Autorin und Figur weitgehend gleichsetzen (vgl. Thomas Lange, „Dschu Bailan oder: Wer war Klara Blum“, in: Das neue China 17 [1990], S. 30–33). 42 „Protokoll der Plenartagung der Deutschen Sektion vom 26. März 1940“, wiederabgedruckt in: Simone Barck, Johannes R. Bechers Publizistik in der Sowjetunion 1935–1945 (Literatur und Gesellschaft). Berlin 1976, S. 247–249, hier S. 248. Vgl. auch David Pike, Deutsche Schriftsteller im sowjetischen Exil 1933–1945. Frankfurt a.M. 1981, S. 205 sowie Yang, Klara Blum, S. 124. 43 Vgl. Johannes R. Becher, „Literatur im Exil [1939]“, in: Barck, Bechers Publizistik, S. 227–231. 44 Vgl. Yang, Klara Blum, S. 47. 45 Vgl. Klara Blum, Kommentierte Auswahledition [künftig: KA], hg. von Zhidong Yang. Wien/Köln/Weimar 2001, S. 473–501; Yang, Klara Blum.
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In Klara Blums Dichtung spielen von vornherein unterschiedliche kulturelle und sprachliche Einflüsse hinein, dafür war die Dichterin, die zunächst in der Bukowina, später in Wien aufwuchs, schon durch Herkunft und Umfeld prädestiniert. Zionismus, Sozialismus, Antifaschismus und internationaler Feminismus sind die Eckpfeiler, die ihr engagiertes Schrifttum kennzeichnen und sich zu einem Narrativ des solidarisierten Aufstands und Widerstands der Unterdrückten zusammenfügen, 46 das ihr wiederholt den Vorwurf platter Agitationsdichtung eingetragen hat.47 Insofern fügt sich der China-Komplex bei Blum in eine von vorherein internationale Ausrichtung des Werks ein. Ab den 1940er Jahren wird er zu einem der zentralen Themenfelder und zu einer Hauptinspirationsquelle. Klara Blum war durchweg als Mittlerin ausländischer Literatur aktiv. Für die deutsche Ausgabe der Moskauer Zeitschrift Internationale Literatur übertrug sie aus mehreren Sprachen, unter anderem aus dem Jiddischen, Lachischen und Ukrainischen.48 Das Chinesische kam (vermutlich zunächst vor allem über russische und englische Übertragungen und mithilfe von Zwischenübersetzungen) ab den frühen 1940er Jahren hinzu. Ein Teil der Übertragungen datiert in die Zeit vor Blums Migration nach China. In der Internationalen Literatur publizierte sie Versionen und Auszüge von Gedichten von Ai Qing49 und Lao She 老舍 sowie ein Lied aus der „Brigade Ting-Lings [d.i. Ding Ling 丁 玲]“, 50 des Weiteren eine
|| 46 Vgl. u.a. Amy Colin, „Jüdische Autorinnen der Bukowina im zwanzigsten Jahrhundert“, in: Cécile Cordon/Helmut Kusdat (Hg.), An der Zeiten Ränder. Czernowitz und die Bukowina. Geschichte, Literatur, Verfolgung, Exil. Wien 2002, S. 279–290, hier S. 283f.; Siglinde Bolbecher, „‚Vom Kinderblick der Zukunft überstrahlt…‘. Die Dichterin Klara Blum“, in: Ebd., S. 295–300, hier S. 299; Richter, Weltgeschichte, S. 373. 47 Kritische Töne finden sich insbesondere bei Thomas Lange, „Dschu Bailan“, S. 31; ders., „China als Metapher – Versuch über das Chinabild des deutschen Romans im 20. Jahrhundert“, in: Zeitschrift für Kulturaustausch 36/3 (1986), S. 341–349, hier S. 346; ders., „Exotische Wahlverwandtschaften. Dschu Bailans jüdisches China“, in: Kubin (Hg.), Mein Bild, S. 187–218. Sandra Richter verschweigt die propagandistische Dimension v.a. des Romans ebenfalls nicht, sieht aber auch eine Metareflexion derselben angelegt, vgl. dies., Weltgeschichte, S. 373. 48 Vgl. für einen guten Überblick die von Yang zusammengetragenen Beispiele in: KA, S. 473– 501. 49 Zur Ai-Qing-Rezeption im deutschsprachigen Raum vgl. u.a. Kapitel 7 dieser Arbeit. 50 So die Angabe in der Internationalen Literatur 11 (1941), S. 37. Im Band Wir entscheiden alles (Moskau 1941, S. 59) ist als Autor „Dshan-Ke“ [Zhan Ke?] angegeben. Das Original dieses Gedichts konnte ich nicht ausfindig machen. Klara Blum könnte sich für diese Übertragungen auf russische Zeitschriftenpublikationen bezogen haben, die ich nicht gefunden habe. Denkbar wäre auch eine Zusammenarbeit, mit wem, wäre aber unklar. Die Entstehungsdaten der Gedichte liegen nämlich teilweise nach dem Verschwinden Zhus (Ai Qings „Zur Sonne“ 向太阳 beispielsweise ist im Frühjahr 1938 erschienen, Zhu war seit 1937 verschollen, Blum war damals noch nicht in China).
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Fassung des berühmten Mulan shi 木兰诗. Dass insbesondere das Lied von Mulan die Frauenrechtlerin Klara Blum gereizt haben dürfte, liegt auf der Hand. In ihrer Übertragung des Erzählgedichts über die junge Frau, die anstelle ihres alten Vaters als Mann verkleidet in den Krieg zieht und wegen ihrer Heldentaten schließlich sogar vor den Kaiser berufen wird, greift Blum auf eine gezielt archaisierende Diktion und Personenkategorien des deutschen Mittelalters zurück, spricht vom „Mägdelein“ und „Ritter[n]“ – „Und die Ritter staunen fürwahr, / Ahnten nie im Kampf, in der Schlacht, / Daß der Held ein Mägdelein war“, bleibt aber insgesamt relativ nah am Original. 51 Das Motiv der sich im Kampf emanzipierenden Frau taucht wiederholt in ihrer eigenen Dichtung auf, Mulan fungiert gewissermaßen als Referenzfigur. Möglicherweise flossen dabei neben der Lektüre des Gedichts Impressionen aus weiteren Verarbeitungen des Stoffes ein, zuletzt unter anderem der Film Mulan tritt der Armee bei (木兰从军) von 1939.52 Explizit bezeichnet sie Mulan in ihrem Roman Der Hirte und die Weberin als „mittelalterliche[] Amazone“. Aber auch beispielsweise die Figur der jungen Ukrainerin Nina aus Blums Gedicht „Die Partisanin“ variiert das Motiv. Anstelle von Vater und Mutter, die bei Mulan für Kindheit, Geborgenheit und Heimat stehen, ist es hier das Kollektiv im „Kinderheim“. Die Motivation für den Kampf liegt nun auch nicht in der Kindespietät, sondern in dem bewusst kindlich-naiv formulierten Anspruch „Die Welt muß wieder schön und friedlich werden.“ Nina muss ihre weibliche Identität nicht mehr verstecken, weiß sich aber in der Männerwelt zu behaupten, „Dreißig Mann / Zählt Ninas kühnes Partisanenhäuflein“.53 Ihre Aufgabe ist nicht beendet, das Gedicht endet mit dem erneuten Appell zur Umwandlung der Welt. Mulan wirkt im Werk Blums also als eine Art Wegbereiterin des späteren Typus der kämpfenden jungen Frau.
|| 51 Auch hier ist nicht klar, ob Blum mit dem Original arbeitete. 1940 erschien in der russischen Ausgabe der Internationalen Literatur eine Übersetzung von Mulan („Mulanʼ. Narodnaja kitajskaja pesnja [Mulan. Ein chinesisches Volkslied]“, übers. von Georgija Piralova, in: Internationalʼnaja Literatura [1940], Nr. 7–8, S. 138), die Blum gelesen haben dürfte. Zudem hatte sie wohl Zugriff auf eine Fassung Chiang Hsüeh-Wens, die 1939 in der Zeitschrift Sinica abgedruckt wurde. Chiang betitelt Mulan wie Blum als „Amazone“ (ders., „Hua Mulan, eine Amazone aus der Zeit der Tang-Dynastie“, in: Sinica 1/2 [1939], S. 27–29), einzelne Formulierungen stimmen mit dieser Fassung überein (z.B. die Übersetzung von da er 大儿, als „erwachsene[r] Sohn“, wo das Russische von einem großen Bruder spricht („staršogo brata“), oder die Übersetzung statt Transliteration von Ortsnamen wie dem Heishan 黑山 als „schwarze[r] Berg“ (im Russischen „Hejšan“), vgl. das Original „Mulan shi“ 木兰诗, in: Yuefu shi ji (Gesammelte Yuefu-Lyrik), hg. von Guo Maoqian 郭茂倩. Beijing 1979, Bd. 1, S. 373f. 52 Für den Hinweis auf diesen Film danke ich Lena Henningsen. 53 Klara Blum, Schlachtfeld und Erdball. Moskau 1944, S. 18f.
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In China veröffentlichte sie insbesondere beim Fremdsprachenverlag noch eine deutsche Übertragung des damals sehr populären narrativen Langgedichts von Li Ji 李季, Wang Gue [Gui] und Li Hsiang-Hsiang [Xiangxiang] (王贵与李香)54 über eine Liebe, die durch die Despotie eines Großgrundbesitzers bedroht und durch die Revolution zu einem glücklichen Ende geführt wird. Während der Kulturrevolution bemühte sie sich vor allem noch um die Verbreitung von Mao Zedongs Lyrik, wobei sie mit diesen Texten durchaus aggressiv im sino-sowjetisch-ostdeutschen Konfliktgefüge Stellung bezieht (vgl. Kapitel 4). Neben F. C. Weiskopf gehört Klara Blum zu den wenigen westlichen Schriftstellerinnen und Schriftstellern, die sich über einen längeren Zeitraum in China aufhielten und den Übergang zwischen dem Bürgerkriegschina und der Volksrepublik bzw. die frühen Jahre derselben persönlich erlebten. Im Gegensatz zu Weiskopf zeigt sie sich aber deutlich weniger enthusiastisch gegenüber den Möglichkeiten der neuen Dichtung und ist vor allem an einer Neubewertung des chinesischen Erbes und den Möglichkeiten eines Zusammenführens von Tradition und Revolution interessiert. Entsprechend greift Blum, trotz einiger erwähnter Auseinandersetzungen mit jüngerer Dichtung, vielfach auf klassische Lyrik zurück, nicht nur in Übertragungen, sondern insbesondere in Zitaten innerhalb von Gedichten, Erzählungen und ihrem Roman Der Hirte und die Weberin. Hinzu kommen Dichtergedichte, über die Blum Dichterideale verhandelt. So beruft sich Blum auf den chinesischen Urtypus des politisch gescheiterten tragischen Dichters, Qu Yuan 屈原 (3. Jh. v. Chr.),55 den Autor des Klagegedichts Lisao 离骚, Trauer nach der Trennung,56 der sich nach seinen erfolglosen Bemühungen um politische Änderungen ertränkt haben soll. Blum greift das Bild des gegen alle Widerstände kämpfenden Dichters in „An einen chinesischen Klassiker“ auf, geht aber vor allem von der die Verse bei Qu Yuan strukturierenden Interjektion 兮 (xi) aus, einem Zeichen, das in dem Gedicht (und ähnlich insgesamt in der Sammlung Chuci 楚辞, der Lieder von Chu, in der es enthalten ist) eine vorwiegend musikalische, refrainartige Funktion erfüllt und jeweils am Ende der ungeraden Verse erscheint. 57 Blum schreibt diesem, wohl ausgehend von der
|| 54 Li Chi [Li Ji], Wang Gue und Li Hsiang-Hsiang, übers. von Klara Blum. Beijing 1954. 55 Zu Qu Yuans Rolle im kulturellen Gedächtnis vgl. Nicola Spakowski, Helden, Monumente, Traditionen. Nationale Identität und historisches Bewußtsein in der VR China (Berliner China-Studien 35). München 1999, S. 235–248. 56 So die Übersetzung des Titels u.a. bei Günter Debon, „Formen“, S. 12. 57 Vgl. einführend Fusheng Wu, „Sao Poetry: The Lyrics of Chu (Chuci)“, in: Zong-qi Cai (Hg.), How to Read Chinese Poetry. A Guided Anthology. New York 2008, S. 36–56, hier S. 36f.
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lautlichen Nähe der modernen Aussprache des Zeichens zum deutschen Kicherlaut „Hihi“ eine neue Bedeutung zu, macht es zum Sinnbild chinesischer Mentalität: Hinter Versen, zierlich aufgebaut, Knistert wie versteckt in Seidentüchern Deines Volkes anmutreichster Laut: Ein verhaltenes, entzücktes Kichern.58
An die Stelle des Klischees des höflich lächelnden Chinesen bzw. diesem eine andere Motivation zuschreibend tritt also das eines überlegen kichernden – die folgenden drei Strophen variieren das Leitmotiv zu einem „beherrschte[n], höhnisch feine[n] Kichern“, einem „teuren, sanften, klugen Kichern“ und einem „feine[n], weltenweise[n] Kichern“.59 Das verschiedene Ebenen aufweisende Kichern wird als Kern der Dichtung und als Ausdruck einer Volkseigenschaft ausgemacht. Der Volksbegriff findet sich denn auch in diesem Gedicht mehrfach, wie auch in anderen Übertragungen und in Klara Blums eigenen Chinagedichten. Mit dem Volk sieht sich Blums lyrisches Alter Ego doppelt verbunden. Es ist das „Volk[] meines fernen Gatten“.60 Andererseits setzt sich Blum (bzw. ihr autobiographisch inspiriertes lyrisches Alter Ego) mit ihrer Dichtung und dem in ihr zum Ausdruck kommenden Trotz und Kampfeswillen in einen Dialog mit der chinesischen Welt und in die Nachfolge Qu Yuans, „wie wir“ des Glückes beraubt: Und mich trennt von ihm [dem Geliebten/Gatten] die halbe Erde Und die ganze Erde trieft von Blut. Tausendfach vergehe ich und werde, Zuckt, verlischt und flammt aufs neu mein Mut. Wie ists möglich, Kü Yüan [Qu Yuan], erkläre, Daß ich noch mit so erschöpfter Kraft, So zerquält – noch lebe und mich wehre, Daß mein Blut noch hofft, mein Hirn noch schafft? – Hinter den Jahrtausenden hervor, Wie durch eine Wand von Seidentüchern Knistert deine Antwort an mein Ohr: Fernes, feines, weltenweises Kichern.61
|| 58 Klara Blum, „An einen chinesischen Klassiker“, in: Internationale Literatur 15 (1945), S. 48. 59 Ebd. 60 Ebd. 61 Ebd.
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Der Zusammenhang, den Blum hier mit deutlichem Pathos beschwört, ist also ein doppelter, ein privat-biographischer und ein dichterisch-politischer. Über die intertextuelle Bezugnahme zu Qu Yuan und die Neuinterpretation eines spezifischen Elements dieser Dichtung in einem Sprachspiel, das sich zwischen beiden Sprachen bewegt, kreiert Klara Blum ein eigenes Dichteridealbild, das Jahrhunderte zu überspannen scheint. Neben dem Rückgriff auf den über zweitausend Jahre älteren Dichter, der auch bis heute für chinesische Dichter eine zentrale Bezugsfigur zur Aushandlung ihrer dichterischen Identität ist, schafft sich Blum einen weiteren chinesischen Ahnherren: Du Fu. In „Zwei Dichter“ greift sie den Austausch zwischen den bereits mehrfach erwähnten Großmeistern der Tang, Li Bai und Du Fu (vgl. auch Kapitel 1 und 2 dieser Arbeit) auf. Die beiden Dichter schrieben bekanntermaßen mehrere Texte für- und übereinander. Klara Blum lässt innerhalb eines fiktiven dichterischen Briefwechsels die Dichter sich selbst und den jeweils anderen Dichter porträtieren. Zwei Dichtertypen, das lebensfrohe Genie und der empathische Kämpfer, werden dabei kontrastiert. Li Bai schreibt aus „unsrem Pavillon aus Porzellan“ – in Anspielung auf das in Europa zeitgenössisch bekannteste Li-Bai-Gedicht, das letztlich aber auf Judith Gautier zurückgeht –,62 voll Sorge um den Freund. Dabei stellt er explizit seine eigene Lebensleichtigkeit heraus: Wir hörten schmerzerstarrt von Deiner Not, Von Deinen Kummernächten, Hungertagen. Daß Du die Hilfe, die der Hof dir bot, Mit wild verstörtem Stolze ausgeschlagen. […] Da wünschte ich denn fast, mein leichter Sinn, Du Teurer, Ernster, wär auch Dir beschieden. Wenn ich getrennt von einem Weibe bin, Such in bei andern meiner Sinne Frieden.63
Diese Art Selbstbloßstellung dient letztlich der stärkeren Heraushebung des Idealbilds Du Fus, der nicht nur zum frühen Prototyp des sozial engagierten Dichters erhoben wird, sondern auch sein Volk als Ganzes repräsentierten darf: „Mein
|| 62 Vgl. Fusako Hamao, „The Sources of Gustav Mahler’s ‚Lied von der Erde‘“, in: 19th Century Music 19 (1995), S. 83–95, hier S. 92–94; Pauline Yu, „Your Alabaster in this Porcelain: Judith Gautier’s Le livre de jade“, in: Publications of the Modern Language Association of America 122 (2007), S. 464–482, hier S. 475. 63 Klara Blum, „Zwei Dichter“, in: Wir entscheiden, S. 12–14, hier S. 12. Vgl. zu Blums Wertung der beiden Dichter auch Yang, Klara Blum, S. 134–136.
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Bruder Li Tai-Po, Dir schreibt Thu-Fu. / Sei nicht besorgt um mich – ich bin Chinese.“ Du Fu, dessen ausgestellte Bescheidenheit Li Bais Dichtung scheinbar den Vorzug gibt, bleibt letztlich das letzte Wort und die moralische Überlegenheit im privaten wie im öffentlichen Raum vorbehalten: Und hast Du, Li, auch Tausende geliebt, Ich liebte mehr als Du – ich liebte Eine. Ein fernes teures Bild hält mich in Bann, Kristallner Vorhang rauscht herab vom Erker… So tret ich täglich denn zum Zweikampf an: Ich und das bittre Unrecht – wer ist stärker? Ist diese schwere Art auch nicht Dein Fall, So zürne mir doch nicht und nicht ergrimme, Daß Deinem Wohllaut, Chinas Nachtigall, Ich Antwort gab mit einer rauhen Stimme.64
Das Bild des „kristallne[n]“ Vorhangs entstammt ebenfalls einem der in Deutschland hochpopulären Gedichte Li Bais, „Groll [auf] der Jadetreppe“ (玉阶怨).65 Klara Blum knüpft also durchaus mit intertextuellen Versatzstücken an die Tradition westlicher Übersetzungen chinesischer klassischer Lyrik an. So verwebt sie auch im europäischen Raum gängige Stilisierungen der beiden Dichter – ergänzt um das Liebesthema – mit verschiedenen populären, mehr oder weniger chinesischen Metaphern, um eine Art Bilanzierung der klassischen chinesischen Dichtung vorzunehmen, die in der Abwägung zwischen rein ästhetischen Kategorien und moralischem Impetus letzterem den Vorzug gibt. Dennoch stellt Blum Li Bais Rolle für das kulturelle Erbe Chinas nicht infrage. In einem anderen Gedicht, „Brief nach Schen-Si [Shaanxi]“ variiert sie wiederum das (angebliche) Li-Bai-Motiv der zum Pavillon führenden Porzellanbrücke zur Metapher der grenzüberwindenden Liebe:66 Einst, vom klugen Auge Li Tai-Pos beglänzt, erschaut, War die Liebe ein [!] Brücke, porzellanleicht aufgebaut, Spiegelt sich verkehrt im Flüßchen, strahlt ein leises Glitzern aus, Wölbt zerbrechlich ihren Weg vom Nachbarhaus zum Nachbarhaus.67
|| 64 Ebd., S. 135f. 65 Blum übersetzt hier wörtlich 水晶帘, 65 Bethge beispielsweise hatte „Perlenvorhang“ gewählt, vgl. Bethge, „Die Treppe im Mondlicht“, in: Ders., Flöte, S. 31. 66 Vgl. auch Landa, „(Alb-)Träume“, S. 318. 67 Internationale Literatur 10 (1940), S. 44f.
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Wieder betont Blum das Zusammentreffen von persönlicher Liebe und Anschluss an das chinesische Volk: Es umschließt mein Farbenbogen Deines Landes Stolz und Qual. Dich und Deines Volkes Kinder, euch, Geschwister und Gemahl. Er umschließt den Weg, den weiten, über Wüste, Berg und Fluß, Den ich zu euch gehen werde, den ich zu euch gehen muß. Sehnsucht, Tatendurst, der Sorge phantasierende Gewalt, Daß durch jeden Liebestraum der Donner der Geschütze hallt – Sag, wie kommt es, daß mein Herz, so namenlos zerquält, zerbangt, Nicht in tausend Stücke bricht, bevor ich noch zu Dir gelangt? Weil die Liebe nicht wie einst in enger Zeit, zerbrechlich, leicht, Einer zierlich kleinen Brücke zwischen Nachbarhäusern gleicht, Weil sie wie ein Regenbogen jede Ferne überwand Und mit ihren zarten Farben machtvoll Ost und West umspannt.68
Das Zusammentreffen von Fantasie und Sehnsucht verweist auf den Regenbogen als Metapher des emotionalen ebenso wie literarischen Ausgreifens, durch das das [angeblich] alte Motiv transformiert und aktualisiert wird. Dem kulturellen Erbe und der damit verbundenen Kontinuität wird bei Klara Blum so eine zentrale Rolle beigemessen. Wenn F. C. Weiskopf zwar den Bogen von einzelnen Texten der Vergangenheit zur Gegenwart zu spannen sucht, betont er doch die große Rolle der Vierten-Mai-Bewegung für die Entstehung einer Literatur auf Grundlage der gesprochenen Sprache.69 Gerade die sonst als unversöhnlich charakterisierte Klara Blum spricht dagegen dem kulturellen, literarischen wie philosophischen Gedächtnis eine zentrale Rolle zu, die sich über politische Brüche hinaus als tragfähig erweise. Das kulturelle Erbe ist bei ihr Ausgangspunkt der Konstitution einer ‚Volksgemeinschaft‘, von dem internationale Völkerfreundschaft auf sozialistischen Prinzipien denkbar wird. Die zunächst als Zionistin aufgetretene Dichterin, deren Halbbruder nach Palästina ausgewandert war, stellt dabei durchaus Volkstypen als homogen gedachte Entitäten heraus, so in „Das nationale Lied“: Mein Volk ist alt und von Erinnerung schwer, Nomadenwildheit braust durch seine Sagen. Dein Volk ist uralt, und in seiner Mär, Siehst du die ersten festen Mauern ragen.
|| 68 Ebd. 69 Vgl. Gesang, S. 9–13 sowie die obigen Ausführungen.
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Mein Volk blickt mandeläugig, ohne Rast, Auf schwarzem Samte brennt ein Schmerz, ein stummer. Schlitzäugig blickt dein Volk, beherrscht, gefaßt Und lächelt höflich über seinen Kummer. Mein Volk spricht singend und an Ausdruck reich, Spricht kehlig rauh, als ob der Schlund ihm dorrte. Dein Volk spricht klingend, feinen Glocken gleich, Es teilt und spaltet zierlich seine Worte.70
Die Kombination aus Parallelismen und Antithese (wie sie ähnlich in der klassischen chinesischen Lyrik oft vorkommt), später auch die gezielte Verbindung von Wortwiederholung und Chiasmus ebenso wie der die zwei Strophenhälften jeweils verbindende Kreuzreim drückt Blums Verständnis eines Ineinandergreifens und Gegeneinanderstehens von Fremdem und Eigenem aus, in dem ein respektvoller Dialog einen aggressiven Nationalismus überwindet. „Das nationale Lied“ als Titel des im Jahr 1938 publizierten Gedichts ist insofern bewusst provokativ gehalten und stellt der aktuellen Realität das Ideal eines verbindenden Nationalismus entgegen: „So funkelt unser Witz, klingt unser Lied.“ „So tragen wir die Leiden, die uns drücken.“ Entzücken bringt uns jeder Unterschied, Und jede Ähnlichkeit bringt uns Entzücken. Man hat mir einst die ganze Welt verzerrt, Scheuklappen vorgehängt, die wirr mich machten, Man hat mich in mein eignes Volk versperrt, Und mich gelehrt, die andern zu verachten. Ich atme tief, vom alten Wahn befreit, Dein Auge leuchtet schräg, das schwarzgesternte. Ich liebte nie mein Volk so echt wie heut, Da ich die andern Völker lieben lernte.“71
Mit den „schwarzgesternt[en]“ Augen überträgt Blum schließlich das Bild des Judensterns auf den Chinesen und deutet damit eine Gemeinschaft in der Unterdrückung an. Sprache und Literatur werden für beide Völker metapoetisch als zentrale Medien der Konstruktion von Volksidentität hervorgehoben. Klara Blum
|| 70 Klara Blum, „Das nationale Lied“, in: Dies., Antwort, S. 67–69, hier S. 67. 71 Ebd., S. 68f.
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konzipiert den chinesischen literarischen Kanon als Grundlage der Volksgemeinschaft und damit als Voraussetzung der politischen Revolution. Selbst der Konfuzianismus wird bei Blum überraschend als positiv ausdeutbare Lehre bewertet. Der „Abendländer“, so Wolfgang Kubin, habe sich im 20. Jahrhundert „als größerer Freund der chinesischen Tradition erwiesen […] als der Chinese selbst.“72 Auf Blum trifft diese Aussage trotz ihrer eindeutig pro-revolutionären Ausrichtung zu. Durchaus bewusst stellt sie sich damit gegen weite Teile der chinesischen Linken, die im Konfuzianismus eine Hauptursache oder ein Legitimationsinstrument der Hierarchisierung der chinesischen Gesellschaft und nicht zuletzt der Geschlechterverhältnisse sahen. Blum spricht dem (Neo-)Konfuzianimus die Fähigkeit zu, die inhärenten Schwächen zu überwinden und als Garant von Selbstdisziplin und Stärke zu fungieren. „Die Jugend lehrt…“ erzählt die idealtypische Saulus-Paulus-Wandlung eines chinesischen Vaters, der das Patriarchat und die bestehende chinesische Gesellschaft zunächst verteidigt. Die ausbrechende und sich dem Kommunismus zuwendende Tochter überwindet ihre eigene Furcht und Abneigung im Eingedenken „an die Lehre Kong Fu Tses / Wie sich der Mensch beherrschen muß im Schmerz“, und schlägt dem Vater einen anderen Umgang mit dem kulturellen Erbe vor: „Die Schönheit vieler tausend Jahre, Vater, Die Weisheit vieler tausend Jahre will Der tückische Barbar zu Boden treten. Nichts darf uns mehr entzwein. Du bist Chinese, Ich bin Chinesin. Alles andre schweigt. Laß uns zusammenhalten, Vater, Kind, Arbeiter, Lehrer, Offizier und Bauer, Daß Japans Überfall an uns zerschellt Und Chinas Blume frei und friedlich blühe.“73
Entgegen allem in „Das Nationale Lied“ zur Schau getragenen Idealismus kommen hier mit dem „tückische[n] Barbar“ Japan unverstellt aggressiv nationalistische Züge zum Tragen, im Gedicht „General des Volks“ ist gar vom „Inselteufel“ die Rede.74 Diese Formulierungen müssen sicher vor dem Hintergrund der japanischen Angriffe gegen China bewertet werden, stecken aber in jedem Fall die Grenze von Blums Beschwörung von Völkerfreundschaft ab. Das kulturelle Erbe
|| 72 Wolfgang Kubin, „Aufbruchsphantasien. Bemerkungen zum Geist der 4.-Mai-Bewegung von 1919“, in: Die Horen 30 (1985), S. 80–82, hier S. 80. 73 Blum, Antwort, S. 59–62, hier S. 62. 74 Internationale Literatur 9 (1939), S. 119f., hier S. 119.
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aber wird in geläuterter Form zur Grundlage der Einheit ebenso wie zum Ansporn des Kampfes. Ähnlich wird auch die Figur der Mee-Tssjing in Blums (gelegentlich als Schlüsselroman gelesenem)75 Roman Der Hirte und die Weberin als Idealbild einer Versöhnung von Tradition und Fortschritt dargestellt, als junge Frau aus einer konfuzianischen Familie, die aus der alten Tradition primär den Aufruf zur Humanität entnimmt und bei aller Wahrung von Förmlichkeit und Sittlichkeit sich doch vom Elternhaus emanzipiert, ihren Sohn zum Revolutionär heranzieht und den ihr aufgezwungenen Ehemann voller Respekt und Freundschaft einer neuen Liebe freigibt. Tradition bleibt für Blum somit zentral, letztlich aber ein recht vages Konzept, mehr ein Referenzrahmen für bestimmte Ideale – Empathie, Respekt, (Selbst-)Disziplin, die sprichwörtliche chinesische Höflichkeit und Weisheit, die Wertschätzung von Kultur und Bildung. Tradition heißt auch formale Strenge, die Blum nicht nur in der eigenen Dichtung bewahrt, sondern auch als Zukunft der chinesischen Dichtung sieht. So habe der „Freiheitskampf“ „die hohen Werte der alten chinesischen Literatur aufs neue lebendig gemacht und ihnen eine breitere Basis geschaffen, als es jemals vorher möglich war“, formuliert sie in einer Einleitung zu ihren Übertragungen in der Internationalen Literatur 1941, und weiter: „Die chinesische Dichtung, die eine Zeitlang uferlos dahinströmte, beginnt sich aufs neue in fest umrissene Formen zu fügen, die der zeitgenössische heroische Inhalt um so heller durchleuchtet.“76 In einem anderen Aufsatz, „Der Chinese und die Wirklichkeit“, 1948 in der von Alfred Döblin herausgegebenen Zeitschrift Das goldene Tor veröffentlicht, reflektiert sie explizit die Spannung zwischen der ungebrochenen Faszinationskraft der chinesischen Tradition für Europäer und deren Infragestellung von Seiten der Chinesen: Das uralte und vielseitige chinesische Kulturerbe mit seiner Gedankentiefe und Formschönheit, seiner Subtilität und Skurrilität übt auf den Europäer nach wie vor eine faszinierende Anziehung aus. Dem Chinesen der augenblicklichen Epoche aber ist das alles beinahe unerträglich geworden. […] Für ihn ist alles mit bitteren Assoziationen verknüpft: mit dem Stillstand des chinesischen Reiches im 17. und 18. Jahrhundert, mit seinem Verfall im 19. Jahrhundert, der von einem eklektischen Leerlauf der Kunst begleitet war, mit kolonialen
|| 75 Klara Blum zeigte sich über diese Verwischung von Fiktion und Fakt entsetzt, vgl. ihren Brief an Dora Wentscher vom 20. Dezember 1959 in: Blum, Auswahledition, S. 542–544, hier S. 543. Andererseits fließen in die Hauptfigur der jüdischen Dichterin, die nach einer Beziehung zu einem chinesischen Kommunisten und Regisseur auf Umwegen nach China gelangt, offensichtlich biographische Erfahrungen, Selbststilisierungen und Sehnsüchte ein. 76 Klara Blum, „Chinesische Dichtung“, in: Internationale Literatur 11 (1941), S. 33f., hier S. 34.
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Demütigungen, feudalem Dunkelmännertum, mit der drückenden väterlichen Tyrannei, der verhängnisvollen Konvenienzehe, dem verhaßten Kotau […].77
Wiederum zeigt sie sich optimistisch, die „Revolutionäre der chinesischen Kunst“ würden bald wieder in größerem Maße ihr „ungeheures Kulturerbe […] sichten und auf einer neuen Ebene […] verarbeiten“.78 Blum zeigt denn auch tatsächlich wenig Interesse an chinesischer Dichtung in freien Formen und sprachlichen Experimenten. Ai Qings Langgedicht „Zur Sonne“ (1938) gibt sie nur in Auszügen wieder. Das Original lebt von dem Zusammenspiel verschiedener Zeitebenen und Zitatrückgriffen auf Ai Qings eigenes Gedicht „Sonne“ (太阳) von 1937, einer klaren, pathetischen Sprache und einer starken synästhetisch-sinnlichen Komponente, indem verschiedene Farbeindrücke sich dem Ich aufdrängen, Gesänge von unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen (Passanten, junge Frauen, Arbeiter, Soldaten) sich zusammenfügen. Der Rhythmus ist (außer in den regelmäßig gehaltenen Gesangseinlagen) stark variabel, wie auch die Verslänge, vielfach wird durch Zeilenbruch auf einem einzelnen Begriff verweilt, andererseits wird auf Punkte und Kommata verzichtet, so dass die verschiedenen Eindrücke und Assoziationen ineinander überzugehen scheinen. Das Zusammenspiel der einzelnen Teile und die Lichtmetaphorik, beklagt Zhidong Yang, gingen bei Blum verloren.79 Blum reduziert das Gedicht auf einen Vorher-Nachher-Kontrast und den pathetischen Lobgesang auf die neue Zeit („Krank war ich, krank – / Und bin genesen: / Über Millionen geliebter Köpfe / Ging die Sonne mir auf“),80 in der Arbeiter und Soldaten aufmarschieren und das Ich letztlich mitreißen und zum Künder der neuen Zeit werden lassen: Nun flieg ich Auf flammenden Schwingen Der neu erwachenden Schaffenskraft. Mich überflutet die Sonne, Nie gab es noch solch eine herrliche Glut, Sie taucht mich in Glanz und Feuer und Leben. Vor Leidenschaft stockt die Stimme und hebt sich Aufs neu zum Gesang:
|| 77 Klara Blum, „Der Chinese und die Wirklichkeit“, in: Das goldene Tor 3 (1948), S. 742–744, hier S. 742. 78 Ebd. 79 Vgl. Yang, Klara Blum, S. 141–144. 80 Ai Tssjin [Ai Qing], „Aus dem Poem ‚Zur Sonne‘“, übers. von Klara Blum, in: Internationale Literatur 11 (1941), S. 34–36, hier S. 34f.; vgl. Ai Qing 艾青, „Xiang taiyang“ 向太阳 (Zur Sonne), in: Ders., Ai Qing xuan ji 艾青选集 (Ausgewählte Werke Ai Qings). Huashan 1986, Bd. 1, S. 178– 197. Blum kondensiert hier verschiedene Elemente aus dem Original.
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Das Herz meiner neugeborenen Tage Öffnet der Strahlen brennende Hand.81
Pathos und die Flut an Metaphern aus dem Bildbereich Sonne, Licht und Feuer entsprechen zwar durchaus dem Stil des Originals, sind hier aber durch die stärkere Strukturierung mittels der Interpunktion, auf die im Chinesischen weitgehend verzichtet wird,82 letztlich in ihrem Fluss wiederholt unterbrochen; ebenso ‚bändigt‘ das Metrum, das in seiner Mischung aus Jambus und Anapäst doch relativ regelmäßig bleibt, den Begeisterungssturm. Das ‚uferlose Dahinströmen‘ von Versen behagt Blum offensichtlich nicht. Dem männlichen Protagonisten ihres Romans, Nju-Lang, legt Blum auch bewusst zwei Gedichte in den Mund, die „im klassischen Stil der Le-Sse (Lüshi 律诗, achtversige regelmäßige Shi-Gedichte) verfaßt“ seien: Meine Eltern haben Nju-Lang [牛郎, d.i. Hirte] mich genannt, Meinen Liebestraum zwischen die Sterne gebannt. Zwischen Sternen such ich mein Liebesglück Und finde nur schwer auf die Erde zurück. Vom Himmel leuchtest du, Weberin, mir In ewiger, zarter versponnener Pracht, Da weiß ich: es kommt die erwartete Nacht, Und endlich auf Erden begegne ich dir. (KA, S. 36)
Mit diesem ersten Gedicht wird das eine Kernmotiv des Romans eingeführt, die Geschichte der getrennten Liebe, die auf die chinesische Legende vom Hirten Niulang und der Weberin Zhinü83 anspielt, die aufgrund ihrer unerlaubten Liebe auf die zwei Seiten des Himmelsflusses (der Milchstraße) verbannt werden und sich nur einmal im Jahr sehen können. Mit dem zweiten, das erste variierenden Gedicht betont die Figur dann wiederum ihre Zugehörigkeit zum Volk:
|| 81 Ai Tssjin, „Aus dem Poem“, S. 36. 82 Vgl. z.B. den lose mit dem obigen Zitat korrespondierenden Passus: 我奔驰 / 依旧乘着热情 的轮子 / 太阳在我的头上 / 用不能再比这更强烈的光芒 / 燃灼着我的肉体 / 由于它的热力 的鼓舞 / 我用嘶哑的声音 / 歌唱了 (Ai Qing, „Xiang taiyang“, S. 196, „Ich eile / weiter fahre ich auf dem warmherzigen Rad / die Sonne über meinem Kopf / mit ihren Strahlen die nicht gleißender sein könnten / brennt sie in mein Fleisch / dank des Ansporns ihrer heißen Kraft / erhebe ich meine heisere Stimme / singe“). 83 Dshe-Nü [织女, d.i. Weberin] ist nicht nur der Name, mit dem die weibliche Protagonistin von Nju-Lang in seinem an sie gerichteten Tagebuch angesprochen wird, sondern auch der Name der weiblichen Figur in der oben zitierten Ballade „Die Jugend lehrt“. In beide Figuren fließen autobiographische Erfahrungen und Stilisierungen der Autorin ein.
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Meine Eltern haben Nju-Lang mich genannt Und doch nicht den Sinn dieses Namens erkannt: Ich gehöre zum Volk, das weidet und webt Und Eisen hämmert und Schächte gräbt. Von des Hirten und Handwerkers Schweiß und Blut Ward die seidene Welt meiner Ahnen ernährt. Ihre seidene Welt hat mich denken gelehrt. Und nun denk ich: wie mach ich das Unrecht gut? (KA, S. 36)
Die Absage an die eigene „seidene“ Klasse schließt wiederum nicht die Widerrufung ihres Schriftkanons ein, sondern hebt dessen Umdeutung hervor. Eine formale Adaption des chinesischen Lüshi-Genres, wie sie beispielsweise Jürgen Theobaldy erprobt (vgl. Kapitel 6), ist offensichtlich jedoch nicht intendiert – die Gedichte stehen eindeutig in der Tradition deutscher lyrischer Dichtung, ‚chinesische‘ Elemente finden sich nicht. Vielmehr geht es offensichtlich um die Behauptung der Möglichkeit der Fusion traditioneller Formen (inklusive Reim, festem Metrum und einer Fülle an Assonanzen und Alliterationen), nicht als Produkt elitärer Muße, sondern als ein der breiteren Volkskultur zugehöriges Ausdrucksrepertoire, und neuer Inhalte, die für das Chinesische und Deutsche gleichermaßen gelten soll. Entsprechend wohnt dem Verweis, es handle sich um ein Lüshi, das Postulat inne, die traditionellen Formen erfüllten in der jeweiligen Kultur ähnliche Funktionen, ohne dass ein Transfer in Bildkomposition, Rhythmik, Reim etc. angestrebt wird. Das Erneuerungspotential der eigenen Tradition wird gewissermaßen durch das (angeblich) fremde Beispiel legitimiert. Die lyrische Selbstcharakterisierung des männlichen Protagonisten wird im Roman dann mehrfach anzitiert und auch wiederum in die Literaturgeschichte eingebettet. Im Haus der Familie des Protagonisten finden sich nebeneinander mehrere Gedichtkalligraphien aufgehängt, einerseits die wohl bekanntesten Verse Du Fus gegen soziale Ungerechtigkeit: Drinnen hinter Scharlachtoren Läßt man Reis und Fleisch verderben. Draußen in den öden Gassen Läßt man Menschen Hungers sterben. (KA, S. 167)
Daneben steht das von Mao Zedong berühmt gemachte bzw. entstellte Zitat Lu Xuns, das, wie gesagt, auch Weiskopf übertragen hatte: Die Brauen scharf gefurcht entgegen tretʼ ich euch, Und mögen Tausende mit Fingern auch mich deuten. Gesenkten Hauptes müh’ ich mich dem Ochsen gleich: Den Kommenden will ich den Weg bereiten. (KA, S. 167)
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Die dritte Kalligraphie zeigt die oben zitierten Verse des verschwundenen chinesischen Liebhabers (vgl. KA, S. 167), sozusagen eingereiht in die Tradition von Chinas kritischer Dichtung in alter und neuer Zeit, ergänzt aber um das Motiv der persönlichen Liebesaussprache. Bei anderen Texten ist nicht ganz klar, ob es sich hier um Übersetzungen von Volksliedern handelt, die Blum in China kennengelernt hatte, oder ob sie die Lieder frei erfunden hat. In jedem Fall gestaltet sie sie als in bewusst einfacher Diktion gehaltene, regelmäßig rhythmisierte und gereimte Gedichte, unter anderem Lobeshymnen auf Mao.84 Klara Blum, die sich von den 1960er Jahren an vehement gegen die DDR wandte und nun nur noch über gezielt aggressiv formulierte Mao-Übertragungen in den dortigen Diskursraum einzugreifen suchte (vgl. Kapitel 4), war letztendlich sowohl Provokateurin als auch Mittlerin. Bertolt Brecht lehnte als Mitherausgeber von Das Wort Gedichte von ihr mit dem Hinweis ab, man möge lieber mehr Gedichte chinesischer Autoren bringen. 85 Blum hat zwar, wie gesagt, durchaus übersetzt, vor allem aber ist ihr Werk durchsetzt von chinesischen Zitaten und Allusionen, die der metapoetischen Selbstverortung und -legitimation dienen. Ganz unähnlich ist ihre Strategie der Brecht’schen aber nicht. Wie auch Brecht erschreibt sich Blum ihren chinesischen Traditionszusammenhang mithilfe von Übersetzungen, Dichtergedichten und sonstigen Bezugnahmen auf die chinesische Literatur. Im Gegensatz zu Brecht erdichtet sie sich aber nicht nur literarische Kampfgenossen in einer Art internationalem Bund; Blum versucht vielmehr, in ihrem Schreiben auf ihrer doppelten Volkszugehörigkeit zu insistieren und letztendlich ein Konzept eines literarisch-kulturellen Gedächtnisraums zu verteidigen, der der Tradition ganz explizit verpflichtet ist. Dieses Konzept wird für Judentum und chinesische Kultur bzw. deutsche und chinesische Literatur gleichermaßen behauptet, so dass ein persönlicher wie literarischer Brückenschlag möglich erscheint. Damit stellt sich Blum auch gegen alle chinesischen Versuche, mit der Tradition aufzuräumen, und beharrt auf der Vereinbarkeit klassischer Philosophie und Dichtung mit sozialistischem Gedankengut. Implizit verteidigt sie damit auch die Rolle des Schriftstellers und Intellektuellen als Führer im revolutionären Kampf.
|| 84 Sieh z.B. KA, S. 210: „Wehr ab den Wasserschwall, / Wehrt ab den Wüstensand. / Genosse Mao Tse-Tung, / Er lehrt euch Bäume pflanzen. / Dann wächst ein Wald heran / Und schützt das Ackerland. / Dann wächst dein Kind heran, / Im grünen Duft zu tanzen.“ 85 Vgl. Yangs Verweis auf einen Brief Brechts an die Wort-Redaktion vom 22. Mai 1938 im Zentralen Literaturarchiv Moskau (dies., Klara Blum, S. 124).
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Blum greift dabei durchaus auf sprachliches Pathos, Suggestivformeln und Klischees – wie das des höflichen, stillen Weisen – zurück und setzt idealtypische Überzeichnung ein.86 Wenn eine der Figuren in ihrem Roman der Protagonistin vorwirft, sie habe ihre literarische Karriere mit „gereimten Leitartikeln“ begonnen, zeugt dies von einem selbstironischen Bewusstsein um den Schematismus ihrer Dichtung. Spannungsfrei gestaltete sich auch Blums Vision des Nationalismus nicht, hier finden sich, wie gezeigt, mehrfach aggressive Töne, die sich gegen den Kriegsfeind Japan einerseits, gegen die Staaten der antichinesischen ‚Revisionisten‘ nach Verschärfung der sowjetisch-ostdeutsch-chinesischen Konfliktherde andererseits richten, wie im Kapitel zu Mao Zedongs Lyrik diskutiert werden wird. Blum brach für ihre Wahlheimat mit der DDR und den dortigen Publikationsorganen, stattdessen wurden vereinzelt Gedichte in chinesischen Zeitschriften gedruckt.87 Ein Gedicht – auf Deutsch unter dem Titel „Der leuchtende Spiegel. Antwort an Arnold Zweig“ verfasst – erschien 1964 in Übersetzung in der Renmin Ribao, der Volkszeitung, dem Hauptpublikationsorgan der KPC. Dort verteidigt sie die Chinesen – sich selbst in der ersten Person Plural einbegriffen – vor dem Hintergrund des Konflikts mit den Bruderstaaten explizit als ein aus der Demütigung und dem Elend erhobenes Volk. Adrian Hsia zitiert einen Abschnitt der deutschen Fassung aus dem Nachlass Blums: „Denn vor Chinas Tor / lärmt ein Anschwärzerchor / Nennt uns Streithengste, lüstern nach Krieg, / Und auch Deine Stimme tönt sinnlos im Chor. / Alter Lehrer! Den Lichtspiegel halte ich Dir vor! / Flieg nach Deutschland, Lichtwölkchen, flieg.“88 Auf Deutsch wurde das Gedicht nie veröffentlicht, es diente insofern weniger einer tatsächlichen Verteidigung als der internen Stärkung der Kommunistischen Partei – und wohl wiederum der Selbstvergewisserung Blums innerhalb des chinesischen Gefüges. Dass die so engagierte Blum in der Kulturrevolution dann erleben musste, wie der forcierte chinesische Nationalismus und der Widerstand gegen das eigene kulturelle Erbe nicht nur ihrem Plädoyer für die Bewahrung des Alten
|| 86 Vgl. dazu insbesondere auch Lange, „Wahlverwandtschaften“. 87 Vgl. Hsia, „Ballade“, S. 163; Yang, Klara Blum, S. 66. 88 Zit. nach ders., „Ballade“, S. 170; die Passage der chinesischen Fassung lautet: „我听到一阵 外来的诽谤, / 你呵也加入了他们的合唱,/ 说什么中国是好斗的公鸡, / 说什么中国渴望大 战, / 请看看这湖面放射的光芒!“ (Zhu Bailan 朱白兰 [Klara Blum], „Ming jing – da yi wei Deguo zuojia“ 明镜——答一位德国作家 [Leuchtender Spiegel – Antwort an einen deutschen Schriftsteller], übers. von Guo Dongye 郭东野, in: Renmin Ribao, 26. Mai 1964). Blums „uns“ ist hier durch „China“ (中国) ersetzt, stärkt also den nationalen Gedanken gegenüber der Zugehörigkeit des Sprechers/der Sprecherin, wobei die chinesische Fassung später durchaus auch die Sprecherfigur in einem „Wir“ (women 我们) einbegreift. Vgl. zu dem Gedicht auch Hsia, „Ballade“, S 170.
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radikal entgegenstand, sondern sich auch gegen sie persönlich richtete – ihre Wohnung wurde von Rotgardisten ‚durchsucht‘ –, war dann eine letzte bittere Wendung im Schicksal der Dichterin. F. C. Weiskopf und Klara Blum haben beide literarisches Zeugnis von den politischen und literarischen Umbrüchen und Spannungsfeldern der 1940er und 1950er Jahre abgelegt. Politisch standen sie einander zunächst noch nahe, ihre literarischen China-Visionen hatten trotz der mindestens teilweise unterschiedlichen Positionierungen zur Tradition und den literarischen Reformbewegungen seit dem Vierten Mai Berührungspunkte; persönlich verband die beiden Autoren wenig. Sie meide den ihr gegenüber unfreundlich auftretenden Weiskopf nach Möglichkeit, äußerte Blum in einem Brief an den Verleger Karl Dietz.89 Weiskopf sollte nicht mehr erleben, wie das von ihm glorifizierte China mit weiten Teilen der sozialistischen Welt in Konflikt geriet, Blum wiederum stand einmal mehr zwischen allen Fronten. Wo Weiskopf als Mittler in die Geschichte einging, wurde die vielfach kompromisslose Blum lange Zeit vergessen; umso mehr Interesse hat sie in jüngster Zeit erfahren, und die Spannungen in Werk und Biographie dürften die Forschung auch weiterhin beschäftigen.
|| 89 Vgl. den Brief vom 24. Dezember 1951, in: Blum, Kommentierte Auswahledition, S. 523–526, hier S. 526.
4 Dichterrevolutionäre? Mao Zedong und seine deutschen Nachdichter 4.1 Träume von China Wie suggestiv Träume von China gerade in ihrer Vagheit sein können, hat die „Traum“-Rhetorik der politischen Führung Chinas in den letzten Jahren gezeigt.1 Aber auch in westlichen China-Träumen können sich verschiedenste Wunschvorstellungen überlagern. Dies führt F. C. Delius in einem Gedicht von 1975 vor: „Ein Traum von China“ lautet der Titel des Textes, der nicht nur zwischen imaginierten deutschen und chinesischen Szenarien oszilliert, sondern auch chinesische und deutsche bzw. chinesisch ‚inspirierte‘ Dichtung sowie deren mediale Inszenierung gleichermaßen verwebt und parodiert:2 Als wir in China ankamen, war Frühling. Wir stiegen auf eine Weide und besahen China im Frühling. Vor seiner Hütte ein Bauer schnitt aus dem „Neuen Deutschland“ ein Mao-Gedicht aus. Soldaten griffen uns auf, halfen uns höflich in ihren Panzer und fuhren lange lange durch mehrere Bilderbücher und setzten uns endlich in einem deutschen Mischwald aus. Es dauerte lange, bis wir herausfanden. Erst ein chinesischer Förster wies uns den Weg, und schon waren wir wieder in China. Die Luft machte uns müde, du wolltest schlafen. Ein Motorradfahrer weckte uns, ein Telegramm: Brecht in Shanghai eingeschifft. Wir stritten, mitten im dichten Gedränge von unbekannten Chinesen, Elefanten, Autobussen, Silberschlangen, heißt „eingeschifft“ abgefahren oder eingetroffen? Es schneite. Unwichtig dieser viele Schnee,
|| 1 Vgl. David Kerr, „Introduction: China’s Many Dreams“, in: Ders. (Hg.): China’s Many Dreams. Comparative Perspectives on China’s Search for National Rejuvenation. London u.a. 2015, S. 1–9. 2 Vgl. auch Landa, „(Alb-)Träume“, S. 305–308. https://doi.org/10.1515/9783111044088-005
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sehr langsam und über die grünsten Berge fliegend verließen wir China.3
Ostentativ führt der Text verschiedenste deutsche (literarische) Phantasien über China ad absurdum, indem er mit dem Bild eines ländlich-idyllischen China einsetzt, das sich zunächst in traditionelle deutsche China-Vorstellungen einreiht, über den Lyrik lesenden Bauern dann in sozialistische China-Bilder übergeführt wird, auch wenn natürlich die Kämpfer des Sozialismus weiterhin klischeehaft „höflich“ sind. Nachdem sich diese Fantasien letztlich als Bilderbuchwelt entpuppen, finden sich die Protagonisten nach einem Nickerchen – oder weiterhin im Traum? – inmitten des turbulenten Lebens der chinesischen Großstadt wieder. An die Stelle der einzelnen Bauern und Soldaten tritt nun das anonyme Kollektiv. Schließlich springt der Text zurück in eine Landschaftsperspektive, in der Schneegestöber und Frühlingsgrün sich überschneiden. Das „China“ des Gedichts ist dabei permanent versetzt durch literarische Anspielungen und Zitate, insbesondere aus den Gedichten Mao Zedongs bzw. deren Übersetzungen. Die „Elefanten“ und „Silberschlangen“ sind Metaphern für die Berge und Plateaus Nordchinas aus Mao Zedongs berühmtestem Gedicht, „Schnee“ (沁园春·雪). „Unwichtig dieser viele Schnee“ ist ein Zitat aus der Übersetzung eines weiteren Gedichtes, „Kunlun“ (念奴娇·昆仑), durch den maoismusbegeisterten Sinologen und China-Journalisten Joachim Schickel,4 lässt sich aber zugleich wiederum als Andeutung auf „Schnee“ lesen. Auch das Schlussbild, der Blick aus dem Flugzeug über die chinesische Landschaft, greift noch einmal Maos „Schnee“ auf, das angeblich während einer Flugreise nach Chongqing entstanden ist und durch Bertolt Brechts Übertragung unter dem Titel „Gedanken bei einem Flug über die Große Mauer“ im deutschsprachigen Raum erstmals populär wurde. Brecht selbst sei auch nahe, wobei unklar ist, ob er „abgefahrn oder eingetroffen“ sei – man mag so das Gedicht als Hinweis auf das Widerspiel aus Annäherung an und Fortbewegung von China lesen, einerseits in Brechts freiem Umgang mit allem ‚Chinesischen‘ (vgl. Kapitel 2), andererseits bei Brechts ‚Erben‘, die sich mit und gegen ihn an China annäherten – und wieder davon entfernten. Ein Spiel mit Absurditäten, ein ironisch-parodistisches Durcheinander von China-Fantasien und China-Texten jeglicher Art prägt also das 1975 veröffentlichte Gedicht. „Mao-Gedicht[e]“ im Neuen Deutschland gab es da schon lange nicht mehr, der ‚Große Vorsitzende‘ war längst im Zuge der sino-sowjetischen
|| 3 F[riedrich] C[hristian] Delius, Ein Bankier auf der Flucht. Gedichte und Reisebilder. Berlin 1975, S. 68. 4 Mao Tse-tung, 37 Gedichte, übers. von Joachim Schickel. Frankfurt a. M. 1965, S. 26.
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und -ostdeutschen Auseinandersetzung seit den späten 1950ern als Vertreter „großmachtchauvinistische[r] und antisowjetische[r] Auffassungen“5 zum Feind des wahren Sozialismus erklärt worden. Dass Mao-Gedichte, die in der DDRStaatspropaganda verwendet wurden, den (wohl westdeutschen) Protagonisten des Textes weitergereicht werden, deutet auf Kontinuitäten in der Instrumentalisierung von Maos Lyrik von der frühen DDR zur westdeutschen 68er Generation hin. Aber auch die Faszination der westdeutschen Linken an dem Revolutionär, Staatsführer und Dichter hatte spätestens mit Beginn der 1970er Jahre massiv eingebüßt. Zwar blieben Bezüge auf Mao und den Maoismus in den ideologischen Konstrukten verschiedener linker bis linksextremistischer Gruppierungen noch bis zum Deutschen Herbst relevant. Mit der Lin-Biao-Affäre, einem verstärkten Skeptizismus gegenüber der Kulturrevolution und dem neuen Kurs der Annäherung Chinas an die USA hatte die Mao-Euphorie erheblich nachgelassen; hinzu kamen zunehmende Fraktionskämpfe der K-Gruppen.6 Der Text lässt sich damit vor allem als retrospektive Abrechnung mit einer diskursiven und literarischen Stilisierung Chinas und insbesondere Mao Zedongs lesen, die in den letzten zwei Jahrzehnten zunächst die DDR, dann die Intellektuellenkreise der BRD geprägt hatte.7 Eine selbstkritische Dimension enthält er dabei durchaus. Er stellt die Suggestivkraft der immer neu zusammenstellbaren diskursiven Versatzstücke heraus – betreibt diese aber letztlich auch mit Humor, als Spiel der Fantasie. So mag man den Text, in dem die Protagonisten nicht mehr zu wissen scheinen, was von ihren China- und Maoismusfantasien wahr und was irreal ist, ob sie wachen oder träumen, als Variation auf einen weiteren berühmten chinesischen Traum lesen, Zhuangzis 庄子 (4.–3. Jh. v.Chr.) Schmetterlingsparabel, in der der Philosoph
|| 5 So die Vorbemerkung von Seiten des SED-Parteiverlags Dietz in: Otto Braun, Chinesische Aufzeichnungen (1932–1939). Berlin 1973, S. 6. Otto Braun war ein ehemaliger Militärberater der chinesischen Kommunisten, dessen Aufzeichnungen nach der Eskalation des sino-ostdeutschen Konflikts (siehe auch Kapitel 7) zur Abrechnung mit Mao genutzt wurden. 6 Vgl. die Ausführungen unten unter 4.4. 7 Laut Christian Frankenfeld legt der Text „eine tiefe Kluft zwischen naiver Begeisterung linksgerichteter deutscher Studenten und den tatsächlichen Verhältnissen“ bloß („Friedrich Christian Deliusʼ Poetik des Utopischen: Wider die ‚Ja-Nein-Mensch-Maschine‘“, in: Alo Allkemper u.a. [Hg.], Poetologisch-poetische Interventionen: Gegenwartsliteratur schreiben. München 2012, S. 161–184, hier S. 164). Allerdings bietet der Text eben keine ‚realistische‘ Gegenperspektive, auch wenn er den Illusionscharakter des ‚China-Traums‘ offenlegt. Insofern geht es meines Erachtens weniger um die Kluft zwischen ‚Realität‘ und Traum als um das Zusammenwirken verschiedener diskursiver und literarischer Fragmente.
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nicht mehr weiß, ob er Zhuangzi ist, der davon träumte, ein Schmetterling zu sein, oder ein Schmetterling, der davon träumt, Zhuangzi zu sein.8 Das folgende Kapitel geht der Frage nach, wie die Dichtung Mao Zedongs eine Faszinationskraft auf deutschsprachige Dichter entfaltete, die in ihren Versionen jeweils zugleich auch Porträts des Revolutionsführers und Vorsitzenden schufen, maoistische Visionen eines neuen China fortschrieben, umschrieben, aber auch hinterfragten und dabei zugleich die Möglichkeiten des Zusammentreffens von revolutionärer Tätigkeit und Dichtung reflektierten. 9 Dass Stilisierungen verschiedener chinesischer Dichterfiguren als Vorbilder oder fernöstliche Bündnisgenossen vielfach mit der Aneignung ihrer Werke einherging, wurde bereits an den Beispielen der Inszenierung des genialischen Trinkers Li Bai u.a. durch Klabund oder des ‚Protorevolutionärs‘ Bai Juyi durch Albert Ehrenstein und Bertolt Brecht gezeigt (vgl. Kapitel 1 und 2). Wie bei keinem anderen chinesischen Dichter aber ist die Wahrnehmung der Persönlichkeit Mao Zedongs mit der Rezeption seines Werkes verbunden. Der ‚Glücksfall‘ des Dichterrevolutionärs markiert letztlich den Zenit eines Rezeptionsstrangs der chinesischen Dichtung als Literatur von Sozialkritik, Kampf und Widerstand, wie er seit der Jahrhundertwende in verschiedenen Spielarten variiert wurde. Mao Zedong selbst hat, bei aller vorgeblichen Zurückhaltung in der Publikation seiner Lyrik,10 diese immer wieder zur Stilisierung der eigenen Person im Inund Ausland, als politisches Instrument und Propagandamedium eingesetzt. 11 || 8 Im Deutschen popularisiert wurde Zhuangzis Schmetterlingstraum v.a. durch Richard Wilhelm und Martin Buber, vgl. Dschuang Dsi [Zhuangzi], Reden und Gleichnisse des Tschuang-tse, hg. von Martin Buber. Leipzig 1921 [1910], S. 9; ders., Das wahre Buch vom südlichen Blütenland, hg. u. übers. von Richard Wilhelm. Jena 1912, S. 21. Wie populär der Text im frühen 20. Jahrhundert war, lässt sich daraus erkennen, dass er wohl Karl Valentin als Bezugsfolie seines „Ententraums“ diente (vgl. Schuster, China und Japan, S. 210). 9 Teile der Ausführungen in diesem Kapitel greifen auf eigene, bereits veröffentlichte Aufsätze zurück, vgl. Sara Landa, „Poetry, Politics and Revolution: German Transformations of Mao Zedong’s Poetry“, in: European Journal of Sinology 9 (2018), S. 59–86; „Von Li Bai bis Mao Zedong“, S. 203–207; „(Alb-)Träume“, S. S. 305–308. 10 Mao Zedong stellte seine Gedichte ostentativ immer als eher ‚mittelmäßige‘ Leistung heraus, auch gegenüber ausländischen Vermittlern. Robert Payne, einer der westlichen Mao-Biographen, schreibt beispielsweise, Mao Zedong hätte seine Bitte um mehr Gedichte aufgrund ihrer minderen Qualität abschlägig beschieden (vgl. Robert Payne, „The Poetry of Mao Zedong“, in: The Literary Review 2/1 [1958], S. 77–81, hier S. 78). Richard Curt Kraus spekuliert, ob Mao Zedong nicht tatsächlich unsicher war, wie weit er seine Vorliebe für eine alte, ‚feudale‘ Kunst betonen sollte (Brushes with Power. Modern Politics and the Chinese Art of Calligraphy. Oxford 1991, S. 73). 11 Vgl. u.a. Wing-ming Chan, „The Changing Self-image of Mao Tse-tung: A Study of Selected Poems“, in: Asiatische Studien 31 (1977), S. 123–136; Harro von Senger, „Maos Gedichte – Versuch einer soziagogischen Analyse“, in: Hans-Christian Günther (Hg.), Political Poetry across the
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Die Texte sind durch die konkreten historischen Bezugnahmen, die räumliche und zeitliche Situierung sowie die Widmungen an verschiedene Weggefährten Maos stark autobiographisch gefärbt, wurden und werden als literarische Reflexion von Maos Leben bzw. der chinesischen Geschichte aus der Perspektive Maos gelesen. Das Ideal der Verknüpfung von literarischer Bildung mit militärischstrategischem und staatsmännischem Talent, auf das sich Mao in „Schnee“ denn auch explizit beruft, steht in China in einer langen Tradition. Entgegen allen postulierten Brüchen mit der Tradition griff Mao auf diese Tradition zur Legitimation und Festigung der eigenen Macht immer wieder zurück.12 Tatsächlich stehen die Texte an einem interessanten Schnittpunkt zwischen Tradition und Erneuerung, da Mao klassische Formen anwendet, um die revolutionären Umbrüche seiner Zeit zu verhandeln. In den früheren Texten greift Mao vor allem auf die Liedformen der Ci-Dichtung 词 zurück, eines Genres, das sich zunächst als ‚niederes‘ Genre der Unterhaltung entwickelte. Vielfach von Kurtisanen gestaltet und gesungen, wandten sich die frühen Lieder oft unter Verwendung weiblicher Personae Liebesthemen zu. Während der späten Tang- und Songzeit erfuhr das Genre thematische Ausweitungen und eine gewisse Sanktionierung als (wenn auch als minderwertig betrachteter) Teil der offiziellen Dichtung. Der sogenannte haofang-Stil (豪放) bzw. ‚heroische‘ Stil, für den unter anderem Xin Qiji 辛弃疾 (1140–1207) und Su Dongpo 13 berühmt waren, griff nun ‚große‘ Themen und Helden der Geschichte auf. In der Verwendung unterschiedlich langer Verse und einer eigenen Musikalität bietet das Ci, gegenüber den ShiFormen mit seinen je fünf oder sieben Zeichen pro Vers, mehr Variationsmöglichkeiten, ist aber nichtsdestotrotz als strenge Form zu verstehen, in der die Länge des Verses und der Wechsel der Töne entsprechend eines Kanons bestehender Muster festgelegt ist. In späteren Dichtungen erprobt sich Mao allerdings durchaus verstärkt in Shi-Formen. Freie Verse, wie sie seit dem frühen 20. Jahrhundert Eingang in die chinesische Dichtung gefunden haben, verwendete Mao nie. Die Forschung hat inzwischen die klare Trennung zwischen ‚neuer‘, in freien Formen und umgangssprachnaher Literatursprache, dem sog. baihua 白话, geschriebenen Gedichten und den von Vertretern dieser Richtung oft verpönten traditionellen, auf das klassische Literaturchinesisch wenyan 文 言 zurück-
|| Centuries (Studies on the Interaction of Art, Thought and Power). Leiden/Boston 2016, S. 141– 154; Kraus, Brushes, S. 68–70; Frank Kraushaar, Fern von Geschichte und verheißungsvollen Tagen. Neoklassizistische Cyberlyrik im ChinaNetz und die Schreibweise des Lizilizilizi (2000–2020). München 2022, S. 34–52. 12 Siehe die Ausführungen zu „Schnee“ unten. 13 Zu Su Dongpos Ci-Dichtung vgl. insbesondere das Kapitel zu Günter Eich.
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greifenden Formen stark relativiert. So ist kein wirklicher Bruch zu verzeichnen, sondern vielmehr ein Neben- und Miteinander klassischer Stile und neuerer Formen, vielfach sogar bei den traditionskritischen Autoren der Vierten-Mai-Bewegung. Zudem lassen sich die traditionellen Formen durchaus nicht als Sinnbild der Stagnation, einer rückwärtsgewandten, epigonalen Melancholie abqualifizieren, sondern erweisen sich in den Phasen des Umbruchs als überaus flexibles Medium der Reflexion dieser Epoche tiefgreifender Veränderungen. 14 Mao Zedong ist keineswegs der einzige (und sicher nicht der kreativste) ‚Neuerer‘, der von einer fundierten klassischen Bildung zehrt, aber derjenige, bei dem das Spannungsfeld zwischen Tradition und Neuerung am aufmerksamsten beobachtet wurde. Mao selbst hat im Zuge der ersten offiziellen Publikation von 18 seiner Gedichte in der Zeitschrift Shikan 诗刊 (Lyrik) 1957 die Frage der Form aufgegriffen. Zusammen mit seinen Gedichten wurde sein Brief an den Herausgeber Zang Kejia 臧克家 abgedruckt, in dem Mao betont, er schreibe zwar selbst in traditionellen Formen, rate jungen Autoren aber davon ab, sich deren Zwängen zu unterwerfen: Den Hauptteil der Gedichte sollten natürlich Gedichte im neuen Stil ausmachen, Gedichte im alten Stil kann man gelegentlich schreiben, aber der Jugend sollte man sie nicht anraten, denn dieser Schreibstil schränkt das Denken zu sehr ein, und ist nicht leicht zu erlernen.15
Dass die jungen Dichter von dieser halbherzigen Warnung kaum abgehalten wurden, sich in den alten Formen zu erproben und Maos Veröffentlichung eine Welle an Lyrik in traditionellen Formen auslöste, verwundert kaum.16
|| 14 Vgl. u.a. Xiaofei Tian, „Muffled Dialect Spoken by Green Fruits: An Alternative History of Modern Chinese Poetry“, in: Modern Chinese Literature and Culture 21/1 (2009), S. 1–44; Shengqing Wu, Modern Archaics. Continuity and Innovation in the Chinese Lyric Tradition, 1900– 1937. Cambridge/London 2013; Haosheng Yang, A Modernity Set to a Pre-Modern Tune. ClassicalStyle Poetry of Modern Chinese Writers (Ideas, History, and Modern China 14). Leiden/Boston 2016; weiter David Der-Wei Wang, „Worlding“. In der Gegenwart lässt sich auch auf institutioneller Ebene ein ‚Comeback‘ klassischer Formen verzeichnen, Lobgesänge auf die Partei stehen kritischen, vielfach diverse Sprachregister mischenden Texten einiger Autoren gegenüber, die vor allem unter Pseudonymen und im Internet veröffentlichen, vgl. Zhiyi Yang/Dayong Ma, „Classicism 2.0: The Vitality of Classicist Poetry Online in Contemporary China“, in: Frontiers of Literary Studies 12/3 (2018), S. 526–557, und jüngst Kraushaar, Neoklassizistische Cyberlyrik. 15 诗当然应以新诗为主体,旧诗可以写一些,但是不宜在青年中提倡,因为这种体裁束缚思 想,又不易学。 (Brief an Zang Kejia vom 12. Januar 1957, zit. nach: Mao Zedong 毛泽东, Mao Zedong shi ci xin shang 毛泽东诗词欣赏 [Die Lyrik Mao Zedongs und ihre Würdigung], hg. von Zhou Zhenfu 周振甫. Beijing 2013, S. 211). 16 Vgl. C. N. Tay, „Two Poems of Mao Zedong in the Light of Chinese Literary Tradition“, in: The Journal of Asian Studies 29/3 (1970), S. 633–655, hier S. 650.
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Zudem wurden die Gedichte im Kontext der Hundert-Blumen-Bewegung veröffentlicht, in deren Zuge Autoren und Intellektuellen kurzfristig größere Ausdrucksmöglichkeiten zugestanden wurden (um darauf, infolge der außer Kontrolle geratenen Kritik an der Partei, während der Anti-Rechts-Kampagne sogleich zurückgenommen zu werden). Der Kurs der Lockerung der Kulturpolitik und das verstärkte Wiederaufkommen traditioneller Formen wurde parteiintern mehrfach kritisiert, so dass Mao Zedongs Publikation der eigenen Gedichte, wie Sabine Dabringhaus herausstellt, durchaus auch als gewisse Provokation gegenüber diesen Kritikern und als Betonung der neuen Linie zu verstehen ist.17 Vor dieser ersten offiziellen Publikation, auf die weitere folgen sollten, war eine Reihe von Texten längst zirkuliert und nicht nur an die Öffentlichkeit, sondern auch ins Ausland gelangt. Schon der Journalist Edgar Snow hatte von seiner sensationserregenden, in Red Star over China verarbeiteten Reise in die kommunistischen Gebiete 1937 die Nachricht mitgebracht, der Revolutionsführer sei ein begabter Dichter, und eine erste Kostprobe geliefert.18 Der spätere britische Literaturprofessor Robert Payne, der Mao im Jahr 1946 traf, hatte wiederum gezielt versucht, für sein Porträt Maos mehr Gedichte aus den Händen seiner Parteigenossen und von Mao selbst zu erhalten und damit schon zentral das Bild des ‚Dichterrevolutionärs‘ mitgeprägt. 19 Auf Deutsch lag Paynes Mao Tse-Tung bereits 1950 vor, Snows Red Star over China erst 1970, obgleich der englische Text auch hier kursierte. Spätestens seit den 1950er Jahren war Mao Zedong in der internationalen Wahrnehmung somit als Politiker und Dichter präsent.
|| 17 Vgl. Sabine Dabringhaus, Mao Zedong (C.H. Beck Wissen). München 2008, S. 78. 18 Edgar Snow, Red Star over China. Revised Edition. [S.l.] 1939, S. 196. Es handelt sich um das Gedicht „Der lange Marsch“ (七律·长征), das später noch zu diskutieren sein wird. Zum Einfluss von Snow auf das westliche Mao-Bild vgl. S. Bernard Thomas, Season of High Adventure. Edgar Snow in China. Berkeley/Los Angeles/London 1996, S. 171–186; Julia Lovell, Maoism. A Global History. London 2019, S. 60–87; Sebastian Gehrig, „(Re-)Configuring Mao: Trajectories of a Culturo-political Tend in West Germany“, in: Transcultural Studies 2 (2011), S. 189–231, hier S. 190; Roman Luckscheiter, „Die Maobibel in der deutschen Literaturgeschichte. Imitationen revolutionärer Brisanz im Pathos der Parolen um 1968“, in: Literaturstraße 8 (2007), S. 269–277, hier S. 270f. Snow hatte Teile seines Berichts auf Drängen Mao übrigens umgeschrieben, so dass deutlich wird, wie gezielt Mao hier schon international ein spezifisches Selbstbild zu propagieren suchte. Vgl. Daniel Leese, „Mao the Man and Mao the Icon“, in: Timothy Cheek (Hg.), A Critical Introduction to Mao. New York 2010, S. 219–239, hier S. 221. 19 Siehe oben Anm. 10.
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4.2 Rebell, Revolutionär, Staatsmann: Einführung des Dichters Mao im deutschsprachigen Raum 4.2.1 Vom Revolutionär zum ‚Großen Vorsitzenden‘: Erste Transformationen von Maos „Schnee“ durch Fritz Jensen und Bertolt Brecht Auf deutschsprachiger Seite war der erste, der Maos Lyrik übertrug, der im vorangehenden Kapitel erwähnte Fritz Jensen. Die mithilfe seiner Frau Wu An 吴安 angefertigte Übertragung von Maos Ci „Schnee“ wurde zur Vorlage für Brecht. Hier seien alle drei Fassungen zitiert. 沁园春·雪 (毛泽东) 北国风光, 千里冰封, 万里雪飘。 望长城内外, 惟余莽莽; 大河上下, 顿失滔滔。 山舞银蛇, 原驰蜡象, 欲与天公试比高。 须晴日, 看红装素裹, 分外妖娆。 江山如此多娇, 引无数英雄竞折腰。 惜秦皇汉武, 略输文采; 唐宗宋祖, 稍逊风骚。 一代天骄, 成吉思汗, 只识弯弓射大雕。 俱往矣, 数风流人物, 还看今朝。20
|| 20 Maos Gedichte werden im Fließtext mit dem Kürzel Mao shi ci ji zitiert: Mao Zedong 毛泽东, Mao Zedong shi ci ji 毛泽东诗词集 [Gesammelte Gedichte von Mao Zedong]. Beijing 1996, S. 68.
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Chinesische Ode (Fritz Jensen)
Gedanken bei einem Flug über die Große Mauer (Bertolt Brecht)
Leuchtendes Bild der nördlichen Landschaft: Erde umschlossen Von tausend eisigen Meilen, zehntausend Meilen Geflügelten Schnees – und siehe:
Unter mit das Bild der nördlichen Landschaft Zehntausend Meilen geflügelter Schnee. Unbeweglich Der Gelbe Fluß, von solcher Höhe Nicht mehr reißend. Zwischen ihm und uns Hauchzarte Wolkenbündel aus Weiß und aus Purpur. Weidland und Äcker zu beiden Seiten Der Großen Mauer. Wie viele Freier schon Sich vor denen verbeugten!
Zu beiden Seiten der Großen Mauer streckt sich Die weite Unendlichkeit. Der Gelbe Fluß Unbeweglich, reißend nicht mehr, Und über ihm hauchzarte Bündel aus Purpur und Weiß. So lockten Ströme und Berge, geschmückt Mit überschwänglicher Grazie, Unzählige Werber, die verlangend sich neigten. Armselige Könige der Tsch’in und der Han, die zu wenig Begriffen. Und die Tang und die Sung, Leichtsinn im Übermaß. Dschingis Khan, hochmütiger Einziger Sohn einer Dynastie – er wußte nichts, Als den Bogen nach dem Adler zu spannen.
Alle die armseligen Könige der Tsch’in und der Han Die nur wenig wußten. Die Tang und die Sung, mit dem Leichtsinn im Übermaß! Und der hochmütige Einzige Sohn einer Dynastie, der Tschingis-Khan Mehr als den Bogen spannen Konnte auch er nicht. Alle verdarben. Aber auch heute Seht euch die großen Herren an: immer noch Voll der alten schlimmen Begehrlichkeit. (GBA 11, S. 265f.)
Sie alle verdarben – und siehe, auch heute All die großen, glänzenden Herren, immer noch So voll der alten Begehrlichkeit.21
„Schnee“ ist Mao Zedongs bis heute bekanntester Text und das Kerngedicht seiner literarischen Selbstinszenierung, das das Verhältnis zwischen Politik und literarischen Fähigkeiten explizit auf einer metapoetischen Ebene thematisiert. Entstanden ist es 1936 nach dem Langen Marsch und der Zunyi-Konferenz, also
|| 21 Jensen, China siegt, S. 130f.
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zu einem Zeitpunkt, als es Mao Zedong endgültig gelungen war, die Führungsrolle in Partei und Armee für sich zu beanspruchen, der Bürgerkrieg aber längst nicht entschieden war.22 Das Gedicht setzt ein mit den Eindrücken der Landschaft Nordchinas aus Perspektive eines von großer Höhe blickenden Beobachters und ruft dabei einerseits die Weite des chinesischen Territoriums und seine immense Schönheit auf, andererseits wird durch die Referenz auf historisch zentrale Elemente dieser Landschaft und der chinesischen Architektur – den Gelben Fluss und die Große Mauer – auf die Identität des chinesischen Volkes und die wechselhafte chinesische Geschichte verwiesen. Das Streben nach Macht über das Land wird mit dem Werben um eine schöne Frau gleichgesetzt, wobei sich die vergangenen ‚Kandidaten‘ allesamt als unwürdig erwiesen hätten. Die Kritik basiert erstaunlicherweise nicht auf den Ausbeutungsstrategien früherer Herrschaftsdynastien, sondern auf dem Vorwurf mangelnder Bildung und literarischen Talents. Qin Shi Huangdi 秦始皇帝, der erste Kaiser, und Han Wudi 汉武 帝, bekannt als große Kriegsherren, hätten nichts von „Schönheit des Stils“ (wencai 文采) verstanden, die Begründer der Tang- und Song-Dynastien (immerhin die Dynastien, die als Höhepunkt der chinesischen Dichtung gelten) ebensowenig von Feng und Sao 风骚, d.h. den Guofeng 国风 bzw. Volksliedern des Shijing und dem Klagegedicht Lisao 离骚 des legendären Fürstenmahners Qu Yuan.23 Die Genrebezeichnungen stehen metonymisch für literarische Bildung und eine Kenntnis der chinesischen Lyrikgeschichte. Der Bezug auf die Volksdichtung des Shijing und den angeblich aus Frustration über seine scheiternden Weisungen an den Herrscher schreibenden Qu Yuan implizieren aber natürlich eine bestimmte Art von volksorientierter Dichtung oder solcher mit politischer Dimension. Das letzte Beispiel eines unzureichend gebildeten Führers ist Chingghis Khan, auch er ‚nur‘ in Militärangelegenheiten erfolgreich. Im Gegensatz dazu, schließt der Text, müsse man für „herausragende, literarisch gebildete Personen“ (fengliu renwu 风 流 人 物 ) in die gegenwärtige Epoche blicken. 24 Inwieweit sich der Schluss als Selbstlob Maos lesen lässt oder als Hervorhebung der Helden des Kommunismus, ist kontrovers diskutiert worden.25 Mao Zedong gab dem Gedicht
|| 22 Zu der durchaus noch schwierigen Machtsituation Mao siehe auch Zhang Wei, Chinese Adaptations of Brecht. Appropriation and Intertextuality (Chinese Literature and Culture in the World). Cham 2020, S. 154f. 23 Vgl. zu Qu Yuan auch Kapitel 4. 24 Grundsätzliche Erläuterungen zu den Anspielungen und Bezugspunkten finden sich in Mao shi ci ji, S. 71f. 25 Vgl. u.a. Chan, „Changing Self-Image“, S. 125, Anm. 9; Ma Wen-yee, Snow Glistens on the Great Wall. A New Translation of the Complete Collection of Mao Tse-Tung’s Poetry with Notes and Historical Commentary. Santa Barbara 1986, S. 176; Karl-Heinz Pohl, „Mao Zedongs Lyrik. Form
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vorsorglich eine explizite Deutung mit, es handle sich um eine Kritik an den reaktionären Feudalherren der letzten zweitausend Jahre, deren Leistungen mit dem literarischen Vermögen des Volks kontrastiert werden; „andere Auslegungen“ seien „falsch“; „die letzten drei Verse“ bezögen sich „auf die besitzlose Klasse“ (Mao shi ci ji, S. 69f., Übers. S.L.). Selbst wenn man das Kollektiv in den Vordergrund rückt, bleibt aber selbstverständlich ein Bezug auf Mao selbst erhalten, der mit dem Gedicht mindestens implizit seinen Anspruch auf eine doppelte Führungsrolle, basierend auf einer literarisch-militärischen Doppelkompetenz, bestärkt. Damit bezieht sich Mao durchaus auf ein bestehendes Herrscherideal.26 Sein Gedicht suggeriert aber, dieses sei bisher noch gar nicht erfüllt worden. Dichtung und Herrschaft werden hier gewissermaßen als Pole aufgezeigt, die erst jetzt zusammenrücken können. Damit verteidigt Mao implizit freilich auch die traditionelle Dichtung gegen den Vorwurf, sie sei Teil des ‚feudalen‘ Unterdrückungssystems gewesen – und rechtfertigt damit auch die Form seiner eigenen Dichtung. Natürlich könnte man das Gedicht dann auch so lesen, dass sich Mao selbst als neuer Kaiser geriert,27 so dass es nicht verwundert, dass er von Anfang an bemüht war, lenkend in die Rezeption einzugreifen. Mit der übersetzerischen Transformation wird nicht zuletzt diese Deutungshoheit, wie sich noch zeigen wird, verunsichert. Gerade die metapoetische Ebene ist in Fritz Jensens Übertragung nicht mehr präsent. Dass Jensen nicht nur einige Stellen kürzt, sondern Wendungen falsch verstanden hat, haben insbesondere Tatlow und Shi Jie kritisiert.28 Allerdings ist nicht klar, auf welche Quelle Jensen sich berief; die unautorisierten Abdrucke des
|| als Aussage“, in: Albrecht Koschorke/Konstantin Kaminskij (Hg.), Despoten dichten. Sprachkunst und Gewalt. Konstanz 2011, S. 227–247, hier S. 233. 26 Vgl. Howard L. Boorman, „The Literary World of Mao Tse-Tung“, in: The China Quarterly 4/13 (1963), S. 15–38, hier S. 38; Chan, „Changing Self-Image“, S. 127f.; Pohl, „Mao Zedongs Lyrik“, S. 232f. 27 Vgl. Friedhelm Denninghaus, „Wie Brecht Mao übersetzte“, in: Sinn und Form 43/4 (1991), S. 675–687. Nicht zuletzt sind die letzten zwei Zeichen 今朝 doppeldeutig, lesbar als jinzhao, ‚heutige Zeit‘ oder jinchao, ‚gegenwärtige Dynastie‘. Mao-Apologeten wie Schickel verwahren den Vorsitzenden natürlich gegen solche ‚absurden‘ Lesarten: „Es fehlte nur noch, daß man chinesisch chin-chao, ‚jetziger Tag, heute‘, als chin ch’ao läse; die gleichen Charaktere meinten dann ‚die jetzige Dynastie‘, und Mao verstände sich als Kaiser von China.“ (Mao, 37 Gedichte, S. 115). 28 Vgl. Tatlow, Brechts chinesische Gedichte, S. 149; Shi, Bulaixite, S. 77f.; vgl. weiter Xue Song, „Brechts Rezeption Mao Tse-tungs in zwei Gedichten“, in: The Brecht Yearbook 44 (2019), S. 222– 240, hier S. 227f., S. 232f. Auch Zhang, Chinese Adaptations, S. 159, geht darauf ein, ohne allerdings die bisherige Forschung dazu zur Kenntnis zu nehmen.
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Gedichts durch mehrere Zeitschriften ab 1945 wiesen tatsächlich teilweise viele Fehler und Abweichungen auf.29 Jensen greift die anfängliche Landschaftsbeschreibung auf, wobei elliptischverknappte Syntaxkonstruktionen dominieren, die sicherlich eine gewisse Annäherung an den genretypischen, mit prägnanten visuellen Impressionen arbeitenden Stil sind. Die Bilder sind größtenteils statisch: Die Landschaft ist gefroren, der Gelbe Fluss scheint still zu stehen. Nur die leichten Bewegungen der fliegenden Schneeflocken und der Wolken deuten auf Bewegung hin. Ein Eindruck der Ruhe, des momenthaften Innehaltens entsteht so, auch wenn Jensen zugleich im Gegensatz zum Original über die fast durchgängige Verwendung von Enjambements dieser Statik etwas entgegenwirkt bzw. dadurch die Bilder ohne Pause ineinander übergehen lässt und versucht, die Einzeleindrücke zu einem durchgehenden Simultaneindruck zu verknüpfen und das Gefühl der Überwältigung durch die Erhabenheit der Landschaft stärker herauszustellen. Die Originalverse 8–10 mit dem Bild der mit dem Himmel wetteifernden silbernen Schlangen bzw. der Elefanten gleichenden Berge und Plateaus (Delius spielt darauf an) sind jedoch ausgelassen. Im zweiten Teil greift Jensen die Kritik an den vergangenen Herrschern auf, allerdings ist hier recht vage nur von Unwissenheit und „Leichtsinn“ die Rede. Der Begriff „Könige“ anstelle von „Kaiser“ ist etwas unglücklich, ebenso wie die Bezeichnung Chingghis Khans als „[e]inziger Sohn einer Dynastie“ (wohl eher ‚der vom Himmel erwählte einer Generation/Ära‘ yi dai [zhi] jiao[zi] 一代天[之]骄 [子], vgl. Mao shi ci ji, S. 72). Der Schluss, der das Verhältnis von alten zu neuen Persönlichkeiten diskutiert, wird, wie bereits mehrfach erwähnt worden ist, von Jensen in sein Gegenteil verkehrt, indem er fengliu 风流 nicht nur von der Bedeutung ‚herausragend, talentiert, literarisch begabt, gebildet‘ her auffasst, sondern auch von der Bedeutung ‚liederlich, zügellos‘, die das Adjektiv zwar hat, auf die aber hier kaum Bezug genommen wird, da die Gesamtkonstruktion fengliu renwu konventionalisiert positiv als Charakterisierung herausragender, kulturell gebildeter Person gedeutet wird. So taucht sie auch in Su Dongpos berühmten Ci „Erinnerung an die Rote Klippe“ auf (念奴娇·赤壁怀古), mit dem Mao Zedongs
|| 29 Vgl. die Anmerkungen in Mao shi ci ji, S. 69f. Mao Zedong hatte das Gedicht ursprünglich Liu Yazi 刘亚子, einem ebenfalls nach klassischen Mustern schreibenden Dichter, geschenkt, mit dem er sich trotz dessen anderer politischer Positionierung (Liu Yazi war lange als GuomindangFunktionär tätig, wenn auch in kritischer Opposition zum Kreis um Chiang Kaishek) über die Jahre hinweg immer wieder austauschte bzw. dem er mehrere Gedichte widmete und zukommen ließ. Zu Liu Yazi siehe auch Kapitel 6 sowie zum Austausch mit Mao Zedong Kraus, Brushes, S. 66.
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„Schnee“ intertextuell eng verknüpft ist.30 Genau genommen versucht Jensen der semantischen Polyvalenz von 风流 Rechnung zu tragen, indem er einerseits von den „großen, glänzenden Herren“ spricht und diese scheinbare Größe dann als illusionär disqualifiziert, tatsächlich seien die Machthaber noch immer „voll der alten Begehrlichkeit“. So mündet Jensens Gedicht nicht in ein Selbstlob oder die Beanspruchung eigener Überlegenheit, nicht in den Kontrast von Vergangenheit und Gegenwart, sondern in eine fortgesetzte Kritik an den Machthabern, von denen der Sprecher hier offenbar noch klar geschieden scheint. Damit artikuliert das Gedicht hier vor allem eine Widerspruchsposition zu Herrschaftskonstellationen zum Entstehungszeitpunkt des Gedichts, also insbesondere dem Machtdrängen der Guomindang. Eine Lesart, die das Gedicht aus seiner Entstehungszeit herausnimmt und für eine kritische Interpretation mit Blick auf die Machtkonsolidierung der KPCh zum Zeitpunkt der Übersetzung hin öffnet, befördert Jensen mindestens nicht explizit. Bei Brecht, dem Jensens Fassung als Vorlage diente, ist dagegen die temporale Doppelsituierung des Gedichts, die Porträtierung des kämpfenden, Macht opponierenden Mao und des Herrschers Mao über die junge Volksrepublik bereits deutlicher betont. Stärker als Jensen greift Brecht auf elliptische syntaktische Konstruktionen zurück, um die Reihungen an Momenteindrücken ebenso wie die Aufzählungen der ehemaligen Herrscher prägnant und knapp aufeinander folgen zu lassen.31 Wie auch im Falle der Bearbeitungen der Waley’schen Vorlagen variiert Brecht Verslänge und Rhythmus deutlicher und erreicht so einen gewissen Wechsel aus Akzeleration und Verlangsamung, besonders markant wohl in Vers 3, bestehend nur aus dem Wort „Unbeweglich“, in dem sich auch formal das Innehalten, eine plötzliche Statik, realisiert. Die Metrik spiegelt hier gewissermaßen das Wechselspiel aus historischem Umbruch, in dem die Figuren inbegriffen sind, und Momenten der Reflexion und temporären Erhebung über diese Bewegung. Diese Konstellation ist natürlich auch schon in dem Bild des Flugs, das einerseits
|| 30 Vgl. u.a. C.N. Tay, „From Snow to Plum Blossoms: A Commentary on Some Poems by Mao Tse- Tung”, in: The Journal of Asian Studies 25/2 (1966), S. 287–303, hier S. 287; Yong-Sang Ng, „The Poetry of Mao Tse-tung“, in: The China Quarterly (1963), S. 60–73. Gelegentlich haben Brecht-Forscher suggeriert, der Begriff sei wohl erst nachträglich in China ins Positive umgedeutet worden, das ist so nicht der Fall. Vgl. Denninghaus, „Wie Brecht Mao übersetzte“, S. 683; Friedemann Weidauer, „Brecht’s (Brush with) Maoism“, in: The Brecht Yearbook 36 (2011), S. 188–199, hier S. 192. Auch Jensens Korrektur in einer späteren Fassung dürfte insofern nicht, wie bei Weidauer suggeriert, eine Frage der politischen Korrektheit gewesen sein, vgl. ebd., S. 190f. 31 Vgl. weiter Jennings, Chinese Literature, S. 136f.
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Vorwärtsbewegung, andererseits Distanzierung impliziert, angedeutet. Zugleich verweist dieses Nebeneinander unterschiedlicher Geschwindigkeiten durchaus auch auf den doppelten zeitlichen Standpunkt des Gedichts, das lesbar wird als Zeugnis aus einer Kampfphase oder aber als sich abzeichnende Vorwegnahme künftiger Machtkonstellationen. Während nämlich weder das Original noch Jensens Übersetzung jemals den konkreten Standpunkt des Sprechers thematisieren, noch Personalpronomen verwenden – der Verzicht auf Personalpronomen und eine vage Perspektivierung sind, wie erwähnt, durchaus typisch für die klassische Dichtung –, gibt es bei Brecht nicht nur ein lyrisches Ich, es wird auch explizit positioniert. Gibt schon der Titel die Vogelperspektive als Betrachtungswinkel auf die folgenden Bilder vor, ersetzt Brecht Jensens Versanfang durch die Worte „Unter mir“. An exponierter Stelle am Gedichtanfang wird damit das Ich eingefügt und über die räumliche Situierung im weiterführenden Sinne als über den Dingen stehende, in einer gewissen Machtposition sich befindende Figur herausgestellt. Die Verse 4–6 betonen diese herausgehobene Position in der Distanz zum Fluss noch einmal, integrieren das „Ich“ aber in ein „Wir“: „Der Gelbe Fluß, von solcher Höhe / Nicht mehr reißend. Zwischen ihm und uns / Hauchzarte Wolkenbündel aus Weiß und Purpur.“ Brecht schreibt dem Textanfang somit eine Hierarchie der Machtansprüche ein: beginnend mit dem „Ich“, also Mao, übergehend zum „Wir“, den mit Mao reisenden Parteigängern, die ab Strophe 2 gewissermaßen die Stimme für das Volk (die dritte Machtebene) erheben, wobei nun entsprechend sämtliche Pronominalreferenzen auf die Sprecherinstanz entfallen. Wie bei Jensen ist der Schluss als Aufforderung zur kritischen Betrachtung der Machthabenden gestaltet, hier allerdings an eine im Plural und nicht im Singular angesprochene Instanz gerichtet: „seht“ statt „siehe“. Das Verhältnis zwischen Gedichtanfang und -ende bei Brecht ist aber deutlich ambivalenter: Positiv mag man es so lesen, dass das Ich und das Wir als Kritiker eines zum Zeitpunkt der Gedichtentstehung noch nicht überwundenen Systems die Stimme für das Volk erheben und es schließlich dazu auffordern, selbst in die Rolle des Kritikers zu schlüpfen. Umgekehrt verweist der Schluss aber auch auf die Gefahr, die dem Machtanspruch, der sich in Strophe 1 artikuliert, innewohnt. Gerade vor dem Hintergrund der tatsächlich gewandelten Machtkonstellationen kann der Leser die Aufforderung durchaus so verstehen, er möge auch dem neuen System gegenüber wachsam bleiben. Brecht mag sogar Mao eine gewisse Fähigkeit zur Selbstkritik zugetraut haben, so dass das Ich das Volk explizit zur Korrektivinstanz des eigenen Machtanspruchs ernennt.32 || 32 Vgl. auch Landa, „(Alb-)Träume“, S. 313–315.
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Nun muss man Brecht nicht zu viel weise Zukunftsvoraussicht unterstellen, Mao dürfte ihm sicherlich damals noch als großer Hoffnungsträger gegolten haben.33 Denninghaus’ These, Brecht müsse bei der Bearbeitung des Gedichts „sehr erschrocken gewesen sein, als er diesen ihm bis dahin verborgen gebliebenen [despotischen, Anm. S.L.] Zug in dem Charakter des Führers der zu jener Zeit bereits siegreichen Revolution erkannte“, 34 ist so zu einseitig. Denninghaus liest das Gedicht ausschließlich aus dem historischen Kontext post-1949, ohne zu berücksichtigen, dass Mao zum Zeitpunkt der Verfassung von der endgültigen Machtkonsolidierung noch viele Jahre trennten. 35 Schließlich spekuliert er, Brecht habe nach einer Interlinearversion gearbeitet, was so nicht der Fall war. Aber ausgehend von Jensens Abweichung vom Schluss des Originals baut Brecht dem Gedicht doch einen Vorbehalt ein, der einer linear-teleologischen Deutung zuwiderläuft. Dass es Brecht also bewusst gewesen sein mag, „Schnee“ könnte sich – in seiner Lesart – möglicherweise eines Tages gegen seinen Originalautor wenden und er diese Spannung gezielt in den Text integrierte, ist insofern durchaus plausibel. Maos Heldenbild ist somit sicherlich noch intakt, aber die ‚Mühen der Ebenen‘ und die der jungen VR China und ebenso der DDR drohenden Gefahr, dass auch in sozialistischen Herrschaftssystemen alte Machtmuster repetiert werden, sind ihm dennoch eingeschrieben.
4.2.2 Sensibler Ästhet, stählerner Kämpfer, weiser Staatsmann? F. C. Weiskopfs lyrische Mao-Biographie Subtile Vorbehalte wie bei Brecht kommen im Werk eines anderen frühen Vermittlers Mao Zedongs nicht zum Tragen. Nachdem bisher nur „Schnee“ im deutschsprachigen Raum bekannt geworden war, gelang es F. C. Weiskopf während seiner Diplomatentätigkeit in Beijing 1950 bis 1952, an weitere der inoffiziell kursierenden Texte zu gelangen. So kreisen die bereits im letzten Kapitel behandelten Übertragungen von Gegenwartslyrik in mehrfacher Hinsicht um Mao: als politische Führungsfigur und Adressat diverser panegyrischer Gedichte und als Dichter. Mao Zedong wird von F. C. Weiskopf zum beinahe alleinigen Umwandler
|| 33 Brecht war beispielsweise begeistert von Maos Schrift Über den Widerspruch (矛盾论) und setzte durchaus Hoffnungen auf Mao, vgl. u.a. Jennings, Chinese Literature, S. 136–143. Ebenso positiv ist seine Darstellung Maos in dem Gedicht „Die andere Seite“ von 1951, vgl. Xue, „Rezeption“, S. 223–226; Zhang, Chinese Adaptations, S. 145–152. 34 Denninghaus, „Wie Brecht Mao übersetzte“, S. 683f. 35 Ähnliches gilt für Weidauer („Brecht’s Maoism“, S. 190f.).
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der chinesischen Dichtung stilisiert, der Volks- und Gelehrtendichtung vereint habe und den kleinbürgerlichen Schriftstellern in seiner berühmten Yan’aner Rede den Weg in die wahre revolutionäre Praxis gewiesen habe: Ein in der Weltliteratur wohl noch nie dagewesener Prozeß der Umerziehung setzte ein: Hunderte von Schriftstellern, bereits fertige und erst anfangende, begannen das Leben der Bauern, Soldaten und Arbeiter zu teilen, mit den Massen zu verschmelzen, von ihnen zu lernen. Im Feuer der schwersten Jahre des Befreiungskrieges wurde aus dem alten Rohstoff ein neuer Schriftstellertypus herausgeschmolzen.36
Überschwängliche Lobeshymnen auf Mao bilden so letztlich den Vorspann für dessen eigene Gedichte; Fremdporträts und (scheinbare) Selbststilisierung greifen ineinander. So heißt es in einem der anonymen „Lieder vom Hwai-Fluss“: Mao, unsere Sonne, Die golden glüht, Rote Blume vom Eisenbaum, Der einmal in tausend Jahren blüht! Mao unser Familienvater, Großer Bruder, du, Lehrer und guter Berater, Du hältst den Hwaifluß im Zaum, Zwingst ihn zum Frieden […] Drum singen wir alle aus voller Lung: Zehntausend Jahre Mao Tse-tung! (WGW 5, S. 192f.)
Die von F. C. Weiskopf ausgewählten Gedichte, die teilweise bereits im letzten Kapitel betrachtet wurden, überbieten sich gegenseitig in ihren überschwänglichen Porträts von Mao. Die Reihungen hyperbolischer Metaphern und Epitheta für den Großen Vorsitzenden, wahlweise aus dem Naturbereich, bzw. in einer Kombination aus Naturmetaphorik und industriellem Bildfeld – Mao als Sonne (der Klassiker unter den Mao-Metaphern) und als „[r]ote Blume vom Eisenbaum“, als Beherrscher der Natur37 – und dem Familiären – Mao als Vater und großer Bruder (vgl. WGW 5, S. 192) –, entsprechen gängigen kommunistischen bzw. || 36 F. C. Weiskopf, „Über chinesische Poesie“, in: WGW 8, S. 80–85, hier S. 84. Als einziger anderer wichtiger Beiträger wird Lu Xun genannt, wobei Weiskopf hier Mao Zedongs Inanspruchnahme Lu Xuns als Kämpfer für die kommunistische Sache unkritisch übernimmt, vgl. F. C. Weiskopf, „Mao Tse-tung und die Schriftsteller im neuen China“, in: Ebd., S. 86–91, hier S. 87f. Zu Lu Xuns differenzierterer Haltung vgl. Kapitel 6 dieser Arbeit. 37 Die Rolle des Beherrschers des Flusses spielt auf den mythischen Da Yu 大禹 an, der China vor schlimmsten Überschwemmungen gerettet haben soll.
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maoistischen Mustern. Das Grundnarrativ der Texte ist der Gegensatz zwischen schlechter Vergangenheit und glücklicher Gegenwart und Zukunft. Mao ist der Befreier von allen Übeln und unangefochtener, allmächtiger Herrscher über Land und Leute, dabei immer auf das Wohl des kleinen Mannes bedacht. Die Sprache ist einfach, die Texte sind größtenteils explizit als Lieder gekennzeichnet und geprägt durch Wiederholungen und refrainartige Passagen. Sprecher ist jeweils ein dankbarer Bauer oder Angehöriger ehemaliger Unterschichten oder ein imaginiertes Volkskollektiv. Texte dieser Art sind zahlreich vor allem unter den anonymen Volksgedichten, die F. C. Weiskopf übertragen hat. Sie bilden gewissermaßen einen Rahmen für die Mao-Nachdichtungen. Während aber diese Volkslieder grundsätzlich chinesische Propagandastrategien perpetuieren, ist Weiskopfs Umgang mit den Vorlagen Maos eigenwilliger und zeugt von dem Versuch, spezifische Facetten von Maos Persönlichkeit (bzw. Weiskopfs Vorstellung derselben) stärker herauszustellen. Weiskopf hat vier Mao-Gedichte übertragen, die teilweise separat mehrfach abgedruckt wurden, in der postumen Weiskopf-Werkausgabe schließlich zu einer Art zusammenhängender Mao-Biographie zusammengefügt wurden.38 Sind die Gedichte einzeln als Momentporträt innerhalb eines Lebensabschnitts konzipiert, ergeben sie als Ganzes eine Art lyrisches Pendant zu einem Entwicklungsroman: Der jugendliche Rebell wird, konfrontiert mit den Lehren der internationalen kommunistischen Revolution, zum stählernen Kämpfer und Teil des Kollektivs und kann schließlich als weiser Staatsmann die glorreiche Zukunft des Landes bereits erkennen und das Land dorthin führen. Der erste Text der Gedichtgruppe greift das 1925 unter dem Titel „Changsha“ geschriebene Ci (沁园春·长沙) auf, das sich auf Mao Zedongs Erinnerungen an seine Studienzeit und frühe politische Tätigkeit in der Hauptstadt Hunans bezieht. F. C. Weiskopf verleiht seiner Version den Titel „Ein Jugendgedicht“:
|| 38 In Gesang der gelben Erde sind „Der lange Marsch“ und „Schnee“ bereits enthalten (S. 101– 104), das „Jugendgedicht“ wurde in der Neuen Deutschen Literatur 1/11 (1953), S. 91f. unter dem Titel „Ich stehe einsam“ abgedruckt, „Südwärts“ erstmals im Theater- und Filmkalender (1953), vgl. Franziska Arndt, Vorläufige Bibliographie der literarischen Arbeiten von und über Franz Carl Weiskopf (1900–1955). Berlin 1958, S. 76f. Die Publikation in der Werkausgabe erfolgte zu einem Zeitpunkt, als man Mao in der DDR schon einigermaßen kritisch gegenüberstand, 1960. Die Vorarbeiten zur Werkausgabe fielen in die Jahre davor, als Mao durchaus noch en vogue war. Ob die Texte bei einem anderen Verlag als dem vom Druckgenehmigungsverfahren ausgenommenen Dietz-Verlag zu diesem Zeitpunkt schon gestrichen worden wären, ist schwer einzuschätzen. Vgl. die Ausführungen zum sino-ostdeutschen Konflikt in Kapitel 7.
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沁园春·长沙 (毛泽东)
Ein Jugendgedicht (F. C. Weiskopf)
独立寒秋, 湘江北去, 橘子洲头。 看万山红遍, 层林尽染; 漫江碧透, 百舸争流。 鹰击长空, 鱼翔浅底, 万类霜天竞自由。 […]
Ich stehe einsam in des Herbstes erstem Frost. Der Siangfluß fließt rasch nach Norden hin. Vom Turm des Mandarineneilands seh Ich zehnmal hundert Hügelwellen ziehn In die vier Winde, bunt gesäumt mit Wald.
携来百侣曾游, 忆往昔峥嵘岁月稠。 恰同学少年, 风华正茂; 书生意气, 挥斥方遒。 指点江山, 激扬文字, 粪土当年万户侯。 曾记否, 到中流击水, 浪遏飞舟? (Mao shi ci ji, S. 6f.)
[…]
Die Häher stoßen in den Himmelsraum. Grün, klar wie Glas, dehnt sich das Wasserband; Es kämpfen tausend Boote mit dem Strom, Die Fische tummeln sich am flachen Strand – Ach, alles Leben drängt der Freiheit zu in diesem Herbst.
Einst schlenderten wir hier, Gefährte mit Gefährt. Wir hielten uns vertraulich an der Hand. Wie klar ist mir noch jedes Jahr im Sinn! Wir waren Schüler, außer Rand und Band Vor Übermut der Jugend. Alles war In uns noch Knospe: Herz, Talent, Verstand. Wir dachten nicht an Ruhm, an Laufbahn und Erfolg. Die Berge, Flüsse, zeigten wir uns wie im Rausch. Und trunken war das Wort. Nichts galt Uns Glanz, nichts Macht der Herrschenden. Sie waren Moder, Kot; sie waren alt! Ach, weißt du’s noch? Wie sich die Welle stürmisch hob Am Bug des Boots im stärksten Strom… (WGW 5, S. 271)
Bei allem revolutionären Pathos, das F. C. Weiskopf sonst im Zusammenhang mit Mao Zedong anstimmt, erstaunt, dass es gerade diese Dimension ist, die Weiskopf aus Maos frühem Ci größtenteils tilgt. Schon die Änderung des Titels ist symptomatisch: An die Stelle der konkreten Nennung der hunanesischen Hauptstadt als Station im Werdegang des jungen Revolutionärs und als ein im chinesischen Bürgerkrieg immer wieder umkämpfter Ort tritt die allgemeine Genrebezeichnung „Ein Jugendgedicht“, die weniger auf den konkreten politischhistorischen Kontext als auf einen menschlichen Grundkonflikt zwischen Jugend
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und Alter hindeutet. 39 Tatsächlich ist dieser Kontrast auch das Hauptmotiv in Weiskopfs Übertragung. Vor dem Hintergrund einer ambivalenten Herbst-Naturszenerie gedenkt das Ich einer uneinholbar vergangenen aufrührerischen Jugendzeit. Der Herbst als Markierung des Übergangs ins Alter und Zeit melancholischen Erinnerns kontrastiert mit den Bildern einer kraftstrotzenden, vitalen Natur, die Passivität des rückwärtsgewandten Ich mit der Dynamik der Naturgewalten und Tiere, aber auch der sich der Natur widersetzenden Menschen, auf die in der Metonymie der mit dem Fluss kämpfenden Boote hingewiesen wird. Zugleich steht diese Statik des Beobachtens einem früheren, rauschhaften Naturerleben entgegen, in dem sich das Ich und sein Gefährte (bzw. seine Gefährten) im Boot den Wellen zu widersetzen suchten. Wenn das erinnerte jugendliche Ich bei Weiskopf als Kämpfer präsentiert wird, so wird der Fokus doch vom Politischen fortgelenkt. Eine ausgesprochene Gleichgültigkeit kennzeichnet die Haltung gegenüber den Herrschenden: „Wir dachten nicht an Ruhm, an Laufbahn und Erfolg“; heißt es, und weiter, „Nichts galt / Uns Glanz, nichts Macht der Herrschenden. / Sie waren Moder, Kot; sie waren alt!“ Weniger um politische Umwälzungen geht es als um einen allgemein-rebellischen Gestus, ein Aufbäumen der Jugend gegen das Alter, des jungen, noch ziellosen Lebensdrangs – auch der „Verstand“ befinde sich erst im Entstehen – gegen den Zerfall des Alters, dessen nur scheinbarer Machtglanz mit den Fäkalausdrücken „Moder, Kot“ entlarvt wird. Im Mittelpunkt des rauschhaften Erlebens der Jugend steht dabei ein sinnesbezogenes Erleben der Natur als Gemeinschaftserfahrung. Körperlich eng verbunden und ganz der Muße hingegeben – die Freunde „schlender[n]“, betrachten und zeigen einander die Natur – steigern sie sich in ein intensiviertes Erleben hinein. Dieses ist, wie das Motiv des einsamen Erinnernden, die Ansprache eines offenbar fernen Du und das melancholische „Ach, weißt du’s noch?“ bezeugen, nur noch in der Erinnerung greifbar. Der Grundton des Textes ist entsprechend ein melancholisch-pathetischer, durchsetzt von zahlreichen Archaismen – „Mandarineneiland[…]“ oder „gesäumt“ – und wehmütigen Exklamationen, einhergehend mit einem weitgehend gehobenen Duktus mit stimmungsgeladenen Bildkomposita aus dem Naturbereich – „Hügelwellen“, „Wasserraum“ –, der nur in der letzten Strophe mit dem Fäkalvokabular als Ausdruck rebellischer Jugend scharf durchbrochen wird. Der
|| 39 Man könnte hierin natürlich auch eine gewisse Vorwegnahme der späteren diffusen Vereinnahmung Maos für den Generationenkonflikt der Achtundsechziger sehen, wie sie sich in Parolen wie „Sie sind alt, wir sind jung – Mao Tse-tung“ äußerte (zit. in: Gerd Koenen, Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967–1977. Köln 2001, S. 148).
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Text hält durchgehend ein jambisches Metrum ein.40 Einzelne Reime und Endassonanzen (vgl. insbesondere die o-Klänge am Schluss der letzten vier Verse) sorgen für eine starke Innenbindung der Strophen und verstärken die archaisierende Tendenz des Gedichtes. Revolutionär im politischen Sinne wirkt Weiskopfs Fassung mit Sicherheit nicht. Die Topoi sind bekannt, im Deutschen ebenso wie im Chinesischen bzw. der deutschen China-Dichtung: der Herbst als Setting für eine Reflexion über das Alter und Zeit des Erinnerns, der Kontrast zwischen kraftstrotzender Jugend und niedergehendem Alter, die Launen des Schicksals, die idyllisch-musische Knabenfreundschaft voller Rausch und Tatendrang, ein verschmelzendes Erleben der Natur und ein Aufbäumen des Ich gegen die Grenzen der Natur. In vieler Hinsicht erinnert der Text somit eher an die China-Nachdichtungen des frühen 20. Jahrhunderts, als dass er an die Darstellung eines sozialkritisch-politischen lyrischen China anknüpfte. Mao Zedong wird hier, wenn man dem Gedicht eine autobiographische Lesart unterlegen will, von Weiskopf als prärevolutionärer, musisch inspirierter Suchender imaginiert, der in einer gewissen Sehnsucht an eine scheinbar idyllische Jugendzeit zurückdenkt. Die Deutung ist etwas verwunderlich für einen politisch so eindeutig positionierten Autor wie Weiskopf. Tatsächlich stellt das Original das Ich keineswegs als apolitisch-sensiblen Jüngling vor, sondern vielmehr als beginnenden Revolutionär inmitten einer Gruppe gleichgesinnter Kämpfer. Eine gewisse Melancholie liegt dem Text durchaus zugrunde, ein Kontrast alter und neuer Bilder des Kampfes und der Ausdruck der Unsicherheit über Schicksal und Zukunft. Das Entstehungsjahr 192541 fällt in eine höchst wechselvolle Phase in Maos Revolutionstätigkeit und parteiinternen Machtkämpfen. Die KP hatte seit 1922 mit der Guomindang kooperiert, in der nach dem Tod Sun Yatsens 孙中山 1925 Chiang Kai-shek die Führung übernahm und begann, zunehmend gegen die Kommunisten vorzugehen. Innerhalb der Kommunistischen Partei wiederum führte Maos Fokus auf die revolutionären Kräfte innerhalb der Bauernschaft zu Spannungen mit der Gruppe um Li Lisan 李立三. 1924 hatte sich Mao angeblich aus gesundheitlichen Gründen zeitweise zurückgezogen. Von einer unumstrittenen Führerrolle ist Mao zu dieser Zeit ebenso weit entfernt wie China von einer internen Befriedung und Vereinigung.42
|| 40 Mindestens wenn man in Vers 2, vom Chinesischen ausgehend zwar falsch, hier aber wohl intendiert, „Der Si-ang-fluß“ liest, also [i] und [a] in zwei Silben statt [ja]. 41 Möglicherweise auch 1926, vgl. Jeremy Ingalls, Dragon in Ambush. The Art of War in the Poems of Mao Zedong. Lanham u.a. 2013, S. 135. 42 Vgl. Dabringhaus, Mao, S. 25f.
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Vor diesem Hintergrund gestaltet Mao Zedong selbst einen gewissen Kontrast aus rückwärtsgewandter Sehnsucht nach den eigenen, scheinbar ungebrochen optimistischen Anfängen als Revolutionär und einer fortgesetzten Kampfesbereitschaft unter gewandelten Umständen, wenn das Ich einerseits alleine dasteht, andererseits sich schon als herausragende Figur begreifen mag.43 Keine musische Zweimännerfreundschaft wird hier wachgerufen, kein gemütliches Schlendern, sondern die Erinnerung an das Schwimmen im Strom zusammen mit „hunderten von Gefährten“ (bailü 百侣), Studienfreunden bzw. „Revolutionsfreunden“.44 Vers 20, zhidian jiangshan 指点江山, ließe sich tatsächlich lesen als „Berge und Flüsse zeigen“, jiangshan 江山 kann aber im übertragenen Sinne auch „Land, Staatsmacht“ bedeuten, eine Interpretation, die durch den folgenden Vers nahegelegt wird, „Gut und Schlecht in den/durch die Schriften ausweisend“ – der also auf eine kritische Analyse des Texterbes hinweist oder auf eine kritische Deutung der Gegenwart durch das eigene Schreiben. Weiskopf hat hier jiyang 激扬 sicherlich mit Blick auf die Einzelkomponenten ji 激 „entfachen, begeistern“ und yang 扬 „heben, verbreiten, lobpreisen“ gelesen. Wenn Mao im Folgevers dann auf den „Kot, die damaligen hohen Beamten/Besitzenden“ (fentu dangnian wanhuhou 粪土当年万户侯) hinweist, bezieht sich das bei ihm direkt auf die Kritik, die die jungen Menschen übten, während Weiskopf hier die Welten von Natur und Literatur mit der Illusionarität des Lebens der Mächtigen kontrastiert. Durch die Hinzufügung der Begründung „sie waren alt!“, noch dazu als entrüsteter Ausruf, wird die Frage nach Macht und Verantwortung ausgeklammert. Maos Original endet zudem nicht mit der melancholischen Erinnerung des Uneinholbaren. Auch hier wird noch einmal eine Erinnerung wachgerufen, an das kraftvolle „Schlagen“ (ji 击) des Wassers, das sogar Boote aufzuhalten vermochte (langʼe fei zhou 浪遏飞舟). Die Formulierung spielt auf eine patriotische Anekdote über die Überquerung des Jangtse durch chinesische Truppen der Jin-Dynastie an, appelliert also an Heldenmut und Patriotismus angesichts einer bedrohten Heimat. 45 Spannungsvoller als bei Weiskopf ist allerdings das Verhältnis zwischen Erinnerung und Weiterkämpfen in der Gegenwart, das sich ja bereits am Anfang des Textes durch das Wechselspiel aus Herbstlandschaft und dem Kämpfen und Streben der verschiedenen Tiere angedeutet hatte. Weiskopfs „Ach, alles Leben drängt der Freiheit zu in diesem Herbst“ scheint durch den traurigen
|| 43 So liest Ingalls du li 独立 („allein stehen[d]“), womit das Gedicht einsetzt, als impliziten Herrschaftsanspruch, vgl. ders., Dragon, S. 135. 44 Geming youhao 革命友好 (siehe den Kommentar in Mao shi ci ji, S. 7). Vgl. auch Mao Zedong, Shi ci xin shang, S. 10f. 45 Vgl. Chan, „Changing Self-Image“, S. 123f.
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Ausruf das Ich selbst aus diesem Streben auszunehmen. Bei Mao ist dies nicht der Fall, vielmehr verweisen die Naturkämpfe der Tiere (bzw. Menschen im Wasser) wohl durchaus auf das Ich und seine, obzwar fernen, Gefährten von damals; vor allem die Adler, die mitten in den Himmel hinein stoßen, wörtlich ‚angreifen‘, erinnern an die jungen Schwimmer, die in den Strom hineinschwimmen, in beiden Konstruktionen ist auch das Zeichen für ‚angreifen, schlagen‘, ji 击 enthalten. Die Erinnerung ist bei Mao daher viel ambivalenter, verweist auf Sehnsucht des Verlorenen wie auf die Parallelen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, in der der Kampf unter verschärften Bedingungen weitergeführt wird. Es lässt sich schwer sagen, welche Umwandlungen Weiskopfs Missverständnissen geschuldet sind und welche Ergebnis gezielter Umschreibungen sind. Auf alle Fälle dürfte in Weiskopfs Deutung die Darstellung von Emi Siaos/Xiao Sans Kindheit und Jugend Mao Tse-tungs (毛泽东同志的青少年时代) bzw. wiederum eine übersetzend-interpretierende Lesart dieses Textes hineingespielt haben. Mit Emi Siao und seiner österreichischen Frau Eva Siao waren die Weiskopfs wohl bekannt, die Übersetzung der Biographie nach russischen und tschechischen Vorlagen stammt von Weiskopfs Frau Grete Weiskopf alias Alex Wedding. Siao thematisiert durchaus eine Art unruhiger Wanderjahre Mao Zedongs, den ständigen Wechsel der Schulen und Berufswünsche, wenn er Mao auch eindeutig zu jedem Zeitpunkt als angehenden Revolutionär inszeniert. Nichtsdestotrotz finden sich Passagen über weite Wanderungen im Kreis zweier und später mehrerer Freunde, gemeinsame körperliche Ertüchtigungen, Gedichtrezitationen im Freien und ein genussvolles Betrachten der Natur: Eines Abends im Herbst unternahmen die Freunde eine Bootsfahrt auf dem Siang-Fluß. Es war die Zeit des Vollmonds, und die jungen Leute konnten sich nicht satt sehen an den im silbernen Mondlicht schimmernden sanften Hügeln, weißen Wegen, dunklen Weiden- und Birkenzweigen.46
In diesem Kontext ist der Biographie auch das obige Mao-Gedicht, auf Deutsch natürlich in der Fassung Weiskopfs, eingefügt,47 in der Biographie mag Weiskopf auch überhaupt auf das Gedicht gestoßen sein.
|| 46 Emi Siao, Kindheit und Jugend Mao Tse-Tungs. Deutsche Fassung mit Nachwort und Anmerkungen von Alex Wedding. Berlin 1953, S. 72. Vgl. Xiao San [Emi Siao] 萧三, Mao Zedong tongzhi de qingshao nian shidai 毛泽东同志的青少年时代 (Kindheit und Jugend des Genossen Mao Zedong). Beijing 1949, S. 63f. Siao hatte lange Zeit in der Sowjetunion gelebt; im Westen ist er entsprechend unter dem Namen Emi Siao bekannt. 47 Vgl. Siao, Kindheit, S. 73.
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Weiskopf verknüpft also verschiedene Elemente der Biographie Maos mit Topoi der Literaturgeschichte. An die Stelle der Selbstporträtierung eines einsamen Revolutionärs, der seiner Anfänge und seiner verstreuten Kameraden gedenkt und daraus wohl ebenso Kraft schöpft wie von Trauer erfüllt wird, tritt die resignierende Erinnerung eines älter werdenden Mannes an seine Jugendjahre, wobei das Ich der Vergangenheit einer Art kontextlosem, zeit- und kulturübergreifendem Typus des kraftsprühenden, rebellischen Jungspunds entspricht. Die formale Regelmäßigkeit und Orientierung an traditionellen Formmustern sowie die Archaismen mögen dem Versuch geschuldet sein, für Maos Schreiben nach klassischen Liedformen ein deutsches Pendant zu finden, verschärfen aber den durch das Aufrufen zahlreicher Topoi bereits gegebenen Eindruck der Wiederholung stereotyper Muster. Bis zum gewissen Grad mag auch das gezielt geschehen sein, um eine Art breiten Identifikationsrahmen für Leser zu schaffen, das Bild einer universellen Jugendrebellion, die dann im nächsten Text, sozusagen der nächsten Station in Weiskopfs lyrischer Mao-Biographie, in die entsprechenden politischen Bahnen gelenkt wird: Das Original ist nach dem Liupan-Berg betitelt (清平乐·六盘山) (Mao shi ci ji, S. 65f.), und bezieht sich auf eine Station auf dem Langen Marsch. Weiskopfs Version ist mit „Südwärts“ überschrieben, zielt also schon stärker auf die Richtung, die Weiterentwicklung. Drastisch unterscheiden sich die Texte in ihrer Länge: Das Original ist acht Verse lang, Weiskopfs Gedicht mit 38 Versen fast fünfmal so umfangreich. Das Originalgedicht wird auf Oktober 1935 datiert, kurz vor Ende des Langen Marsches, als die Rote Armee den Liupan-Berg überquerte und die GuomindangTruppen in mehreren Schlachten schlug.48 Maos Ci setzt wieder ein mit einer Naturbeobachtung vom Berg in Richtung Himmel und Ferne, zum Zielpunkt der Großen Mauer, deren Erreichen erst einen Heldenstatus rechtfertigen wird: 不到 长城非好汉 (bu dao changcheng fei haohan: „Wenn [wir] nicht die Große Mauer erreichen, sind [wir] keine Helden“). Auf dem Gipfel des Liupan-Bergs wehen aber schon die Banner im Wind, was die Frage aufwirft, wann es gelingen wird, den „dunkelgrünen Drachen/Feind“ (cang long 苍龙), sprich Chiang Kai-shek, zu binden.49 Ein lyrisches Ich tritt im Original nicht explizit in Erscheinung. Ein gewisses Pathos geht mit der Bildlichkeit natürlich einher, der grandiosen Naturschau, dem Streben nach Heldentum, der Betonung der zurückgelegten riesigen
|| 48 Vgl. den Kommentar in Mao shi ci ji, S. 66. 49 Der Kommentar zur Werkausgabe argumentiert, vor diesem konkreten historischen Kontext sei der grüne Drache nicht als Verweis auf die japanischen Truppen zu verstehen, den anderen Hauptfeind, da der Konflikt mit Chiang klar im Vordergrund stand (Mao shi ci ji, S. 66f.).
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Strecke und den im Wind flatternden Bannern auf dem Berggipfel. Trotzdem bleibt die Sprache von einer nüchternen Knappheit, das Gedicht endet mit der oben genannten Frage, die durch das „wann“ zwar Siegesgewissheit impliziert, aber dennoch eine gewisse Offenheit behält. F. C. Weiskopfs Version stellt das lyrische Ich ganz zentral in den Vordergrund und gestaltet das Gedicht als eine Art Zwiegespräch des Ich mit sich selbst, das aus dem Leid und der Entbehrung heraus den Entschluss zum fortgeführten Kampf zieht: Da nun sage ich mir: Auch für uns wird es Zeit, Südwärts zu richten den Schritt. Kampf ist der Schlüssel zum Weg, Der uns nach Süden führt, Bitterer Kampf. Es hält Meine Hand schon umspannt Fest das Gewehr. Es fragt Mich mein eigenes Herz: Wann gelingt uns der Schlag, Der letzte, entscheidende, der Des Feindes Horden zersprengt? (WGW 5, S. 273)
Der Blick wird hier auf die Gefühlslage und den schrittweise gesteigerten Heldenmut des Ich gelenkt. Dieses wird nicht nur mehrfach explizit erwähnt, sondern vor allem über Pars-pro-toto-Konstruktionen als zugleich fühlendes und handelndes inszeniert: „Mein Herz“ tritt als externalisierter Gesprächspartner auf und wird damit gesondert hervorgehoben. Neben den heroischen Mut tritt dann der handelnde Körper, „meine Hand“. Nur die letzten drei der hier zitierten Verse beziehen sich in irgendeiner Form auf Formulierungen im Original. Bildet diese Frage bei Mao den offenen Schlusspunkt des Gedichtes, wenn auch das vorangehende Bild der wehenden Fahnen einen starken Optimismus impliziert, kehrt Weiskopf die Reihenfolge um und lässt das Bild der wehenden Fahnen, als „Antwort“ ausgewiesen, auf die Frage folgen: Da – wie Antwort [!] darauf, Stumm und doch laut erblüht Unsere Fahne rot Auf dem felsigen Hang Mir gegenüber. Es blühn Andere hinter ihr auf, zahllose
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Wie der Unseren nimmer zu zählende Scharen: Welle um Welle von hier Bis an den Horizont. Ja, jetzt weiß ich’s, Jetzt weiß es mein Herz: wir werden siegreich nach Süden ziehn, Unaufhaltsam, den Wogen gleich Des gewaltigen Meers. Und im Wind über uns, Rot im Wind über uns Werden die Fahnen wehn, Die einst Lenin gepflanzt. (WGW 5, S. 273 f.)
Banner und Menschen, Militärsymbol und Soldaten, werden als eine Art unaufhaltsame Naturgewalt ausgewiesen: Die Fahnen „erblühn“ bzw. „blühn“, die Soldaten wiederum reihen sich „Welle um Welle“. Noch einmal gesteigert wird dieses Heldenbild in der letzten Strophe, die die Siegesgewissheit ausspricht. Das Schlussbild einer Zukunft der wehenden roten Fahnen ergibt sich dabei aus einer marxistischen Teleologie, die künftigen Fahnen sind letztlich schon von „Lenin gepflanzt“ – Mao selbst erwähnt Lenin in seiner Dichtung nicht. Noch einmal greift Weiskopf auf Naturmetaphorik zurück, um das scheinbar natürliche, nicht aufzuhaltende Wachstum des Kommunismus hervorzuheben und die chinesische Entwicklung in einen internationalen Zusammenhang zu überführen. Deutlich wird an diesem Text im Vergleich mit dem Original, wie stark es Weiskopf um die Porträtierung einer Heldenfigur geht. Das ganze Gedicht ist getragen von einem Pathos, das durch die Bildlichkeit – die Gleichsetzung von Naturgewalt und kommunistischen Kräften – ebenso wie durch Ausrufe, explizite Gefühlserwähnungen und zahlreiche Wiederholungen getragen wird. Verstärkt werden die Effekte durch den vorwärtsdrängenden Rhythmus der kurzen, vielfach durch Enjambements verbundenen Verse mit üblicherweise drei Hebungen, die größtenteils daktylisch oder trochäisch mit einer Betonung beginnen und in männlicher Kadenz enden. Weiskopfs Mao bleibt gefühlsbetont, nun aber nicht mehr als jugendlicher Draufgänger, sondern als marxistisch-leninistisch geschulter Kämpfer, der sich selbst mit Leib und Seele reflektiert der Revolution verschreibt und ihren künftigen Sieg voraussieht. Eine Bestätigung dieser Siegesgewissheit erfolgt dann in „Der lange Marsch“, das nun die Persönlichkeit eines politisch gereiften Revolutionsführers voraussetzt, die ins Kollektiv der Armee eingegangen ist. Insofern richtet sich die Heroisierung nicht mehr auf die Einzelfigur Maos, sondern auf die Rote Armee als
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Ganzes, die sich sämtlichen Widrigkeiten und Hindernissen der Natur zum Trotz durchgeschlagen hatte: Keine Mühsal des langen Marsches, Weder der zehntausend Berge Hürden, Noch die Gräben der zehntausend Ströme Schreckten die Rote Armee. (WGW 5, S. 275)50
Im Gegensatz zu den bisherigen Gedichten tilgt Weiskopf in diesem Text nicht die konkreten Ortsangaben und historischen Anspielungen, sondern erwähnt verschiedene berüchtigte Berge und Flussüberquerungen sowie die in einer legendären Schlacht überquerte Luding-Brücke und den Berg Minshan als Endpunkt des Langen Marsches. Im Vergleich zu den anderen Texten hält sich Weiskopf dabei deutlich näher an das Original, in diesem Fall ein siebensilbiges Shi-Gedicht und an dessen rhetorische Überhöhung der Leistungskraft der Soldaten, vor der die Bergkämme sich ausnehmen wie „Wellen, aufgeworfen vom Pflug“ (WGW. 5, S. 275).51 Nur der Schluss weicht noch einmal stark von dem Maos ab, der im Original den Text mit der Freude der Soldaten über die Überwindung des Minshan beendet.52 Weiskopf dagegen lässt nicht nur die Soldaten sich freuen, sondern auch den Berg selbst. In der Anthropomorphisierung der Natur verbünden sich so die vorher entgegengesetzten Kräfte Mensch und Natur, nachdem letztere ihre Niederlage willig hingenommen hat, ihren Meister sozusagen erkannt hat: Alle Schwere versank im Jubel der glücklichen Ankunft Jenseits des Grats Min-shan, Als der bezwungene Berg selber zu lächeln begann Unter der gleißenden Haube von ewigem Schnee. (WGW 5, S. 275)
Die ausmalenden Schlussverse Weiskopfs weichen damit von den vorangehenden auflistenden, zum Teil elliptisch verknappten Sätzen ab und versuchen, das
|| 50 Im Original: 红军不怕远征难, / 万水千山只等闲: „Die rote Armee fürchtet nicht die Schwierigkeiten des weiten Marsches, / zehntausend Wasser tausend Berge nur ein Zeitvertreib“, Mao shi ci ji, S. 55). 51 Im Original: 腾细浪‚ „tanzende, feine Wellen“, siehe Mao Zedong, Shi ci ji, S. 55. 52 更喜岷山千里雪, / 三军过后尽开颜, wörtlicher: „Umso mehr freuten [sie] sich über die zehntausend Schneemeilen des Minshan / nachdem die dritte Armee sie überquert hatte, fing [sie] schließlich an zu lächeln“, Mao shi ci ji, S. 55). Dass sich das Lächeln nicht auf die Armee, sondern auf den Berg bezieht, ist eher unplausibel. Weiskopf kannte sicher Snows Fassung, die mit den Worten endet: „Three Armies smiled“ (Snow, Red Star, S. 196), dürfte sich also bewusst für die Verschiebung entschieden haben.
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Gedicht noch in eine Art umfassende Harmonie zu überführen, die die fundamentale Richtigkeit dieses Sieges bestätigt – freilich aber in ihrem naiven Pathos das Gedicht ins Unfreiwllig-Komische zu ziehen droht. Letztlich verweist der Schluss aber auch wieder zurück auf den ‚Naturjüngling‘ Mao des ersten Gedichts, dessen Züge in der letzten Weiskopf-Übertragung, seiner Fassung des von Jensen und Brecht bereits aufgegriffenen „Schnee“, dann noch einmal verstärkt hervortreten: Schnee Nördliche Landschaft, Meilen gefesselt vom Eis, Meilen bedeckt vom Schnee. Diesseits der Langen Mauer und jenseits Nichts als Öde. Träg fließt der Gelbe Fluß, […] Doch erst wenn die linderen Tage kommen, Enthüllt sich uns voll Dieser Landschaft bezaubernde Schönheit. Ach, wieviel Krieger Haben um diese lieblichen Hügel, Diese zärtlichen Flüsse gefreit! Bedauernswert ihr, Könige aus dem Geschlecht der Tjin Und der Han, Die ihr so wenig wußtet, Und ihr Tangs und Ssungs, Stumpf, ohne Liebe zur Poesie! Ja, selbst er, Der sich Stolz des Himmels nannte, Schingis-Khan, Was sonst verstand er, Als Adler zu schießen Mit seinem Bogen? Dahin sie alle, dahin. Die großen Menschen, Die wahrhaft großen, Wird unser Jahrhundert Erst gebären. (WGW 5, S. 276f.)
Das Gedicht markiert den Schlusspunkt der Reihe, in dem nun eine Art weiser, über den Dingen stehender Beobachter eine umfassende Bilanz über Land und Geschichte zieht. Das Ich ist greifbar als Betrachter und wertende Figur, wird selbst aber nicht thematisiert und ist in einem Wir („uns“) aufgehoben. Im
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Gegensatz zu Jensen und Brecht hebt Weiskopf weniger auf das Majestätische der Landschaft ab, sondern kreiert vielmehr einen Kontrast zwischen einer trüben Winterlandschaft und der Hoffnung auf das Einsetzen des Frühlings. Die Landschaft ist „gefesselt“, eine „Öde“, der Gelbe Fluss „[t]räg“. Eine gewisse Andeutung der eigentlichen Größe dieser Landschaft enthalten vor allem die Verse 8– 10: „Und die Berge, riesige Elefanten / Mit Rücken von glitzerndem Wachs übergossen, / Reichen hinauf ins Firmament“. Insgesamt aber dominieren Statik und Leere, das Gefühl einer zurückgehaltenen, unterdrückten Natur.53 Weiskopf kontrastiert diesen Eindruck mit der Hoffnung auf den Frühling, in dem sich die eigentliche Schönheit der Landschaft entfalten werde – eine Gegenüberstellung, die im Original in keiner Weise vorhanden ist und eine veränderte Interpretation des Gedichts bewirkt: Der Kontrast zwischen Winterlandschaft und erhofftem Frühling lässt sich auf das Land als Ganzes übertragen und korrespondiert mit der später folgenden Geschichts- und Zukunftsperspektive. Bei der weiteren Charakterisierung der Natur verzichtet Weiskopf auf die bei Mao selbst noch dominierenden Bilder einer mächtigen, kraftvollen Natur und greift stattdessen auf verniedlichende Topoi der Landschaftsbeschreibung zurück. Schon das archaisierende Adjektiv „linderen“ weist in diese Richtung, fortgesetzt wird dies in den Diminutiven „lieblichen“ und „zärtlichen“. Auch der Ausruf „Ach“ deutet wieder in die Richtung einer empfindsam-sensiblen Naturbetrachtung. Weniger ausgeprägt als in „Ein Jugendgedicht“, aber dennoch deutlich spürbar, spielen hier also traditionelle Topoi der Naturdichtung und der frühen deutschsprachigen China-Dichtung hinein, wird dem Beobachter ein Zug ins Sentimentalische eingeschrieben. Der zweite Teil des Gedichts widmet sich nun wieder der Aufzählung der Militärgrößen der Geschichte, der Kritik an deren Unwissen, wobei bei Weiskopf im Gegensatz zu Jensen und Brecht die metapoetische Ebene mindestens in Vers 23 durchscheint, indem den „Tangs und Ssungs“ bzw. wohl eher deren Herrschern, vorgeworfen wird, „ohne Liebe zur Poesie“ gelebt zu haben. Der Schluss wendet dann den Blick wieder von der Vergangenheit auf die Zukunft: „Die großen Menschen, / Die wahrhaft großen, / Wird unser Jahrhundert / Erst gebären.“ Wenn vorher bereits auf der metaphorischen Ebene eine Art Zukunftshoffnung aufgerufen wurde, wird sie hier als geschichtsteleologischer Ausblick realisiert. Durch die Verwendung des Futurs scheint hier auch weniger Eigenlob implizit, es geht mehr um eine geschichtliche Gesamtbilanz. Möglicher-
|| 53 Weiskopfs Übertragung von Ai Qings „Schnee fällt auf China“ (雪落在中国的土地上, vgl. WGW 5, S. 252–255) mag hier hineingewirkt haben. Hier ist das Bild deutlich trister, statischer.
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weise umgeht Weiskopf hier auch gezielt das Dilemma, inwieweit der Schluss im Eigenlob Mao als Endpunkt der Geschichte darstellt. Mit dem Gedicht schließt sich der Kreis von Weiskopfs Mao-Biographie. In seiner Version von „Schnee“ finden sich einerseits noch gewisse Züge des naturbegeisterten Jünglings aus „Ein Jugendgedicht“, andererseits spricht hier deutlich ein distanzierter Beobachter mit Weitblick über Chinas Transformation vom „gefesselten“ Land zu einem utopischen Staat. Greifbar bleibt die Sprecherfigur in jedem Fall, nun als gereiftere, erfahrene Persönlichkeit mit weitem Ausblick, hinter der sich der Leser den vom jungen Rebellen zum Revolutionsführer und angehenden Staatsmann gewandelten Mao vorstellen mag. Weiskopfs Gedichtversionen versuchen also, in der Figur des Dichterrevolutionärs ein Doppelideal zu etablieren, wobei je nach Gedicht die eine oder andere Seite stärker herausgestellt wird oder, liest man die Gedichte als kleine lyrische Autobiographie, eine Entwicklungslinie sichtbar wird, in der aber letztlich doch der weise Herrscher die Sehnsüchte seiner Jugend nicht eingebüßt hat. Wie spannungsfrei sich kommunistische Rhetorik und die Versatzstücke einer an Hans Bethge erinnernden Chinadichtung zusammenfügen, ist freilich eine ganz andere Frage. Der Schematismus ist sicherlich mehrfach deutlich überstrapaziert. In diesem Versuch, Mao in verschiedene Muster einzupassen, dem deutschen Publikum zu suggerieren, es gäbe hinter der Schale des harten Kämpfers noch einen ganz anderen Mao, der, wenn ihn nicht die Pflicht riefe, sich wohl ganz der enthusiastischen Naturbetrachtung ergeben würde, gibt Weiskopf nicht nur einiges an der poetischen Eigenart der Originale preis, er unterläuft auch bis zum gewissen Grad Maos Selbstinszenierung.
4.3 Aufstieg und Fall Mao Zedongs in der DDR-Lyrik der späten 1950er Jahre Nach diesen ersten Aneignungen von Mao Zedongs Lyrik folgte eine Welle von Publikationen im Anschluss an Maos offizielle Veröffentlichung von 18 bzw. 19 seiner Gedichte 1957/1958, die auch von chinesischer Seite bereits über den Fremdsprachenverlag Beijing 1958 in den englischen Übersetzungen von Andrew Boyd und Gladys Yang gezielt einem internationalen Publikum zugänglich gemacht wurden.54
|| 54 Zur frühen Geschichte des Fremdsprachenverlags als Institution mit zweifacher Zielsetzung: „(1) to monopolize the outward flow of information about China, and (2) to present an image of
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Neben diversen Einzelveröffentlichungen von Gedichten in den Publikationsorganen der DDR55 übersetzten innerhalb eines Jahres Rolf Schneider (als Auftragsarbeit anlässlich des 5. Parteitags der SED) und Ernst Schumacher die gesamte bis dato vorliegende Gedichtgruppe ins Deutsche. Damit lagen kurz nach der chinesischen und englischen Publikation auch im Deutschen zwei Versuche vor, den ersten ‚offizielleren‘ lyrischen (Auto-)Kommentar zu Maos Leben vorzulegen. Die Gedichte umfassen eine Spanne von drei Jahrzehnten, von Mitte der 1920er Jahre bis in die jüngste Gegenwart, einsetzend mit dem bereits von Weiskopf aufgegriffenen „Changsha“ bis hin zu Gedichten aus den mittleren 1950er Jahren. Sie spannen damit einen breiten Bogen quer durch Maos revolutionäres Leben bis hin zu seiner neuen Rolle als Lenker eines neuen China, thematisieren Kampf und Entbehrungen, Schlachten und Heldentaten, Hoffnungen auf die Erfüllung der revolutionären Wünsche und Verteidigung des Landes und schließlich deren Einlösung in den Gedichten nach Staatsgründung, die in verschiedenen Variationen ein verändertes China beschwören: „Und die Göttin der Berge, / wenn sie noch da ist, / Wird erschreckt sein: ihre Welt so verwandelt zu finden.“56 Rolf Schneiders Sammlung erschien 1958 und griff auf Andrew Boyds Übersetzung in der vom Pekinger Fremdsprachenverlag herausgegebenen Zeitschrift Chinese Literature zurück.57 Der bayerische, später in die DDR übersiedelte Kommunist und Theaterwissenschaftler Ernst Schumacher wiederum hatte 1956 China besucht und dort u.a. Premierminister Zhou Enlai getroffen. Seine Verarbeitungen dieser Reise erschienen in Form eines Reiseberichts, Lotosblüten und Turbinen (1958), und eines den Wandel Chinas preisenden Gedichtbands, Eurasische Gedichte (1957), in der DDR. In der Neuen deutschen Literatur ergänzte Schumacher 1959 sein Plädoyer für das maoistische China durch die Veröffentlichung eigener Fassungen der Gedichte Maos, wobei Schumacher auf die inzwischen um ein Gedicht ergänzte, leicht veränderte und umfassender kommentierte
|| China for outside consumption“ siehe Bonnie S. McDougall, Translation Zones in Modern China. Authoritarian Command versus Gift Exchange. Amherst 2011, S. 25–44, hier S. 29. 55 Vgl. z.B. einen Abdruck von „Der lange Marsch“ in der Berliner Zeitung vom 8. August 1958 und dem Neuen Deutschland vom 30. September 1959. Auch in Sinn und Form erschienen wiederholt Mao-Gedichte. 56 So der Schluss des letzten von Schneider bearbeiteten Gedichts, „Schwimmen“ (水调歌头· 游泳): Mao Tse-tung [Mao Zedong], Gedichte, übers. von Rolf Schneider. Berlin 1958, S. 23. Vgl. Mao Tse-tung [Mao Zedong], „Neunzehn Gedichte“, übers. von Ernst Schumacher, in: Neue deutsche Literatur 4 (1959), S. 37–48, hier S. 46. 57 Mao Tse-tung [Mao Zedong], Eighteen Poems, übers. von Andrew Boyd, in: Chinese Literature 8/3 (1958), S. 3–15.
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Buchpublikation des Fremdsprachenverlags ebenso zurückgriff wie auf eine Interlinearversion der Sinologin Helga Scherner.58 Schumacher kannte Schneiders Fassungen. Er und die Herausgeber der Neuen Deutschen Literatur waren jedoch bemüht, die Versionen voneinander abzugrenzen: Es scheint uns interessant und fruchtbar, unseren Lesern einen Vergleich zwischen den beiden deutschen Fassungen zu ermöglichen, einen Vergleich, der keineswegs nur Fragen ästhetisch-stilistischer Art aufwirft, sondern außerdem, ganz offenkundig, Fragen des Standpunkts und der Parteilichkeit.59
Grundsätzlich sind bei Schumacher Kontext und Gedicht über den Paratext sehr viel expliziter und enger verknüpft. Jedem Gedicht wird ein Absatz über Entstehungszusammenhang und Interpretationsansätze beigegeben, während Schneider sich auf wenige Endnoten beschränkt, die Gedichte daher eher lose kontextualisiert und damit wohl bewusst ein ästhetisches Interesse gegenüber dem politischen überwiegen lässt. 60 Ein besonderes Augenmerk Schneiders gilt der „ungemein suggestiven Bildhaftigkeit“, der Verknüpfung von Dichtungstradition und Revolution,61 die er, obgleich des Chinesischen selbst nicht mächtig, in den Texten aus der Revolutionszeit durch einen pathetischen, gelegentlich archaischen Stil anzunähern versucht, der eine gewisse vorwärtsdrängende Dynamik mit elliptischen, oft abgehackt wirkenden Konstruktionen verbindet. Schumacher entscheidet sich für einen prosanäheren freien Vers. Tschangscha (Rolf Schneider)
Tschangscha (Ernst Schumacher)
Ich stehe, allein, in der Kühle des Herbstes, Verfolgend den nördlichen Weg des Flußes Vorüber am Riff der Orangeninsel… Und sehe: Berge, Myriaden, rot überhöht, Und Zone um Zone blutfarbener Wälder Und des breiten Stromes dichtestes Blau Und das Treiben von hundert erschütterten Barken.
Einsam in der Kälte des Herbstes blicke ich von der Orangeninsel nordwärts auf Fluß und Berge mit den gestuften Wäldern in Rot. Auf dem smaragdenen Grün gleitet Boot an Boot. Adler durchstoßen die dünne Luft, Fische schnellen über die Untiefen.
|| 58 Mao Tse-tung [Mao Zedong], Nineteen Poems. With Notes and Appreciation. Beijing 1958. Vgl. Mao, „Neunzehn Gedichte“, übers. von Schumacher, S. 37. 59 Ebd. 60 Dies wurde ihm in Rezensionen teilweise durchaus angekreidet, vgl. Siegfried Behrsing, „Gedichte von Mao Tse-tung“, in: Neues Deutschland, 15. November 1958. 61 Vgl. Schneiders Kommentar zum Teilabdruck der Gedichte in: Aufbau 14 (1958), S. 85–88, hier S. 88.
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Es gleiten Adler in wirbelnde Luft. Es rinnen Fische über die Sandbank. Und: Millionen Wesen, unter frierendem Himmel, ringen um Freiheit. […]
Hier war ich. Vergangene Tage. Ein Kreis von Gefährten. Monate, Jahre: Überfüllt von Bemühung. Lernende alle. Jung alle. Unsre Haltung: stolz. Unsre Körper: kraftvoll. Unsre Ziele: wahrhaftig dem Geist des Gelehrten Gerecht und aufrecht, fessellos, furchtlos, Mit Fingern deutend auf unser Land, Preisend, verdammend geschriebenes Wort, Achtend Ehre und Amt nicht als den Staub, Aber – erinnerst du dich, Wie, in der Mitte des Stroms, wir die Wasser schlugen? Wie die Wellen aufhielten das eilende Boot?62
Myriaden Geschöpfe kämpfen unter diesem eisigen Himmel. […]
In vergangenen Tagen war ich hier mit vielen Gefährten, jeder von uns ein Lernender, jeder von uns jung. In jenen gehäuften Monaten und Jahren waren wir stolz, war unser Wille stark. Gerecht und aufrecht, furchtlos und frei wiesen wir auf unser Land, priesen und verdammten wir mit dem geschrieben Wort. Und in jenen Tagen galten uns Ämter und Herren nicht mehr als Staub. Aber erinnert ihr euch nicht, wie wir in der Mitte des Flußes die Wasser schlugen, wie die Wellen die Eile des Bootes brachen?63
Im Gegensatz zu Weiskopfs Fassung ist hier in beiden Fällen schon ein aufkeimender Revolutionär erkennbar, wenn auch das Verhältnis zwischen Natur, ästhetischer und philosophischer Anschauung und politischer Handlung unterschiedlich ausgelotet wird. Während Schneider nur einen kurzen Hinweis gibt, dass Mao zwischen 1913 und 1918 in Changsha studiert habe, stellt Schumacher, ausgehend von der erweiterten kommentierten Ausgabe, dem Gedicht eine längere biographische Notiz voran. Er betont Maos früheste revolutionäre Handlungen, die Kritik an den „Militärdespoten“ und „Marionetten“, beschreibt die leitende Teilnahme an „allen patriotischen Aktionen der Studenten“ und die Gründung der „Gesellschaft des neuen Volkes“.64 Über den Paratext wird somit die Interpretationsrichtung bereits klar vorgegeben und die Naturmetaphorik von vornherein auf eine gesellschaftliche Lesart festgelegt. Auch in der Gesamtdiktion ist Schumacher kämpferischer, die Naturbildlichkeit aggressiver: Während bei Schneider die Adler „gleiten“, „durchstoßen“ sie bei Schumacher die Luft, ebenso wie die Fische nicht ruhig „rinnen“, sondern „schnellen“. Ein „Lernender“ ist Schumachers Mao zwar
|| 62 Mao, Gedichte, übers. von Schneider, S. 5. 63 Mao, „Neunzehn Gedichte“, übers. von Schumacher, S. 37f. 64 Ebd., S. 37.
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auch. Den Verweis auf das Gelehrtentum, dessen Ideal Schneider nach Boyd noch beschwört, lässt er entfallen, anstelle der starken Jugendkörper betont er den „Wille[n]“ als entscheidendes Moment der jungen Rebellen. Die Ersetzung von „Ehre und Amt“ durch „Ämter und Herren“, also die Verschiebung von dem eigenen Verzicht auf eine hohe Position hin zur Kritik der Mächtigen, ist durch die Änderung in der späteren englischen Vorlage bereits vorgegeben, die anstelle des Verses „And in those days we counted honours and high positions no more than dust“ durch „And those in high positions we counted no more than dust“ ersetzt,65 Schumacher schafft eine Kombination aus beidem. Schumacher arbeitet – im Gegensatz zu seiner Vorlage – mit knapper gehaltenen Versen und erhöht die Geschwindigkeit des Textes durch den vielfachen Einsatz von Enjambements. Schneider verfolgt eine doppelte Strategie, indem er in der ersten Strophe vor allem mit Aufzählungen und Parallelismen arbeitet, die Natureindrücke in den zahlreichen „und“-Konstruktionen aufeinanderfolgen lässt und dadurch den Eindruck einer überwältigenden, nicht zur Ruhe kommenden Natur betont. Die zweite Strophe arbeitet dann verstärkt mit elliptischer Syntax, knappen Charakterisierungen durch einzelne Epitheta: „Lernende alle. Jung alle. / Unsre Haltung: stolz. Unsre Körper: kraftvoll. Unsre Ziele: wahrhaftig dem Geist des Gelehrten.“ Solche Konstruktionen erinnern durchaus an Brecht’sche Strategien bei der Übertragung chinesischer Dichtung.66 An die Stelle von regulären Verbalsätzen treten bei Schneider zudem vielfach Partizipialkonstruktionen: „Mit Fingern deutend auf unser Land, / Preisend, verdammend geschriebenes Wort“. Schneiders Fassung gestaltet so ein gewisses Wechselspiel aus die Verse verbindender, vorandrängender Dynamik und abgehackter Kondensation. Eine Ausnahme bilden hier Anfang und Schluss des Gedichts, die jeweils einen kontemplativeren, ruhigeren Rahmen bilden: „Ich stehe, allein, in der Kühle des Herbstes, / Verfolgend den nördlichen Weg des Flußes / Vorüber am Riff der Orangeninseln…“ und „Aber – erinnerst du dich, / Wie, in der Mitte des Stroms, wir die Wasser schlugen? / Wie die Wellen aufhielten das eilende Boot?“ Inmitten dieses Rahmens dominiert allerdings eine ausgeprägte, auf die dauernde Bewegung der Natur ebenso wie auf die jungen, stürmisch kämpfenden Revolutionäre verweisende Unruhe. Ist Schumacher darauf bedacht, die Texte relativ explizit mit ihrem biographischen und politischen Kontext zu verbinden, versucht Schneider, das ‚Revolutionäre‘ in Rhythmik und Syntax zu übertragen, dabei wohl bis zum gewissen
|| 65 Vgl. Mao, „Eighteen Poems“, S. 4 und ders., Nineteen Poems, S. 9. 66 Siehe z.B. Brechts Version „Der Politiker“ nach Bai Juyi: „Gesicht: grau. Blick: gejagt.“ (in: GBA 12, S. 257f., hier S. 258).
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Grad auch die stark kondensierte, lose Syntax der klassisch-chinesischen Dichtung anzunähern, die Übertragungen also gewissermaßen auch als experimentelles ästhetisches Material zu nutzen. Ruhiger werden bei beiden die Verse des Staatsmannes Mao Zedong nach 1949,67 beispielsweise in einem Liu Yazi gewidmeten Gedicht von 1949 (七律·和 柳亚子先生): Für Liu Ja-dse (Rolf Schneider)
Für Herrn Lju Ja-dsʼ (Ernst Schumacher)
Unvergeßlich, wie wir Tee tranken, zusammen, in Kanton. Wie wir Verse tauschten in Tschungking, da die Blätter gilbten. Dreißig Jahre und eines vergingen seitdem. Und zurück in der alten Hauptstadt Lese ich deine anmutigen Zeilen zur Zeit der fallenden Blüten. Sei achtsam, daß dein Herz nicht breche unter maßloser Trauer. Und das Weitweisende sei es, das wir sehen im Wandel der Welt. Sprich nicht davon, daß das Wasser des Kunming-Sees flach sei.68 Denn besser als im Futschun-Fluß sind hier die Fische zu sehen.
[…] Ich kann nicht vergessen, wie wir in Kanton Tee tranken Und in Tschungtjing Verse tauschten, als die Blätter gilbten. Nach einundreißig Jahren bin ich zurückgekehrt in die alte Hauptstadt. Achten Sie, daß Sie Ihr Herz nicht brechen durch zuviel Kummer. Fernsichtige Blicke gilt’s auf die Wege der Welt zu werfen. Sagen Sie nicht, die Wasser des Kunming-Sees seien zu untief. Den Fischen zuzusehen, sind sie geeigneter als der Futschun-Fluß.69
Der englische Vorlagentext ist in diesem Fall bis auf die umfassendere Kommentierung in der späteren Edition identisch. Im Gegensatz zu den Gedichten des Revolutionärs Mao wählt Schneider hier längere Verse und eine weitgehend vollständige Syntax. Auffallend ist ein Zug ins Archaisierende, der Wechsel in ein gezielt „poetisches“ Register, „da“ statt „als“, „Dreißig Jahre und eines“, Vokabeln wie „anmutig“. Die Gesprächssituation ist eine persönliche, zwischen zwei Freunden, der Sprecher wirkt hier nicht mehr wie ein inmitten harter Kämpfe stehender Revolutionär, sondern wie ein Weiser, bedacht auf Kontemplation und Erinnerung und mit einem distanzierten Blick auf das „Weitweisende“. Der Schluss erschließt sich in Schneiders Version dem Leser mit dem knappen Hinweis, der Kunming-See liege im Sommerpalast, wohl kaum, entspricht aber in
|| 67 Das liegt nicht zuletzt auch daran, dass Mao ab 1949 eher die regelmäßigere Shi-Dichtung, die klassische Dichtung für Staatsmänner, präferierte, vgl. Pohl, „Form“, S. 241. 68 Mao, Gedichte, übers. von Schneider, S. 19. 69 Mao, „Neunzehn Gedichte“, übers. von Schumacher, S. 45.
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seiner metaphorisch-dunklen Sentenzenhaftigkeit womöglich dem, was man sich unter einem chinesischen Weisen vorzustellen pflegte. Schumachers Version wiederum beginnt mit Interpretation und Kommentar. Seinen Versen stellt er ein Gedicht Liu Yazis (bzw. eigentlich Teile daraus) voran: Die Volksmassen beginnen sich zu befreien und über den Weg der Arbeiter und Bauern gibt es keine Zweifel mehr… In dreiundzwanzig Jahren haben wir uns dreimal die Hände geschüttelt. Berge stürzten nieder und Täler standen auf, umgewälzt sind dreitausend Jahre Geschichte. Wir selbst schrieben dieses kühne, schöne Epos.70
Liu Yazi, dessen politische Haltung, wie oben erwähnt, durchaus zwiespältig war, wird von Schumacher durch diese Verse und den darauffolgenden Kommentar als eindeutiger Kampfgenosse Maos präsentiert: Diese Verse schrieb Herr Lju Ja-dsʼ, der schon vor dem Sturz der Monarchie im Jahre 1911 an der Revolution teilgenommen hatte, im Jahre der siegreichen chinesischen Revolution für Mao Tse-tung. Trafen sie sich 1926 in Kanton – Mao Tse-tung hielt damals Kurse für Bauernfunktionäre ab – oder 1945 in Tschungtjing, so tauschten sie Verse aus. So auch in der „alten Hauptstadt“ Peking, die im Oktober 1949 zur „neuen Hauptstadt“ der jungen Volksrepublik werden sollte. Mao Tse-tung rät in seinem Gedicht Herrn Lju Ja-dsʼ freundschaftlich, in Peking zu bleiben und zu helfen, den neuen Staat aufzubauen, statt in seinen Heimatort Wudjang zurückzukehren und ein Leben in Zurückgezogenheit zu führen. Mao Tsetung drückt das durch ein Gleichnis aus: An den Futschun-Fluß weit vom Kaiserhof entfernt, zog sich zu Beginn unserer Zeitrechnung Jän Guang zurück, weil er lieber fischen und Felder bestellen wollte, als Beamter zu sein. Der Kunming-See aber liegt im Sommerpalast bei Peking.71
Während der Kommentar sich aus den Fußnoten der englischen Ausgabe speist, ist unklar, aus welcher Quelle Schumacher die Verse Liu Yazis bezog, hier mag möglicherweise wieder Helga Scherner Pate gestanden haben. Dabei irritiert der Kontrast zwischen dem euphorisch-pathetischen Ton des Gedichts, der Betonung von Lius Kampfgeist und Einsatz für die Revolution in der ersten Hälfte der Einführung und dem Wunsch nach Rückzug aus dem offiziellen Leben durchaus. Tatsächlich reagierte Mao Zedong mit seinem Gedicht auf ein Gedicht Liu Yazis, aber eben nicht das oben aufgeführte, sondern vielmehr eines, in dem sich Liu darüber beschwert, dass seine politischen Ambitionen in der jungen Volksrepublik nicht erfüllt wurden. Mao Zedong weist den Freund, der sich übergangen
|| 70 Mao, „Neunzehn Gedichte“, übers. von Schumacher, S. 44. 71 Ebd., S. 44f.
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fühlt, zurecht, er solle weniger engstirnig auf seine eigene Karriere sehen und sich angesichts der großen Perspektiven stattdessen in den Dienst des Volkes in Beijing stellen. 72 Schumachers Version geht auf dieses Gedicht nicht explizit ein, so dass der Wunsch nach Rückzug sich nicht in sein sonstiges Porträt des anderen Dichterrevolutionärs fügt. Eine gewisse Grundspannung bleibt dem Text dadurch bei Schumacher inhärent, die er durch die explizite Betonung der Leistungen für die Revolution zu kaschieren sucht. Aber auch Schumachers Mao wirkt im Vergleich zu früheren Gedichten ruhiger, kontemplativer, blickt auf Jahrzehnte der Erfahrung und Freundschaft zurück und gibt weise Ratschläge. Durch die Andeutung der Herbstlandschaft liegt der Schwerpunkt nun mehr auf der Bilanzierung des eigenen Lebens und der Freundschaft. Im Gegensatz zu Schneider ist das Verhältnis der Figuren zueinander schon durch die Wahl des „Sie“ distanzierter, was das Gedicht leichter von der persönlichen auf eine abstraktere Ebene übertragen lässt. Obwohl sich also durchaus unterschiedliche Strategien der beiden Übersetzer erkennen lassen, Schumacher den Texten deutlicher den ‚Standpunkt‘ einschreibt, markiert das Erscheinen gleich zweier vollständiger Übersetzungen von Maos damals vorliegendem Werk eine neue, wenn auch äußerst kurzlebige Hochphase der Mao-Rezeption. Nur kurze Zeit, nachdem in China durch die offizielle Publikation von Maos Gedichten der Dichter Mao in den Fokus der Öffentlichkeit geraten war, kreierten die beiden deutschen Autoren jeweils einen umfassenden lyrischen Lebenslauf Maos, der den Bogen vom Beginn der revolutionären Tätigkeit bis hin zur Gegenwart spannt. Persönlichere Töne mischen sich dabei mit revolutionärem Pathos, Selbst- und Fremdheroisierungen, insgesamt spiegelt sich in den Texten der Wandel vom jungen Kämpfer zum gereiften Staatsmann, der auf seine eigene Leistung bzw. die seiner Kampfgenossen zurückblicken kann. Ende der 1950er Jahre, als sich schon Spannungen zwischen der jungen Volksrepublik und der poststalinistischen Sowjetunion abzeichneten und mit Verzögerung und Einschränkungen auch die sino-ostdeutschen Beziehungen zu beeinflussen begannen (vgl. Kapitel 7), wurde damit Mao Zedong in der DDR noch einmal zum ‚Allroundtalent‘ deklariert, dessen Dichtung und politische Tätigkeit sich scheinbar symbiotisch zueinander fügen. Kritischer bzw. zwischen Faszination und Hinterfragung hin- und hergerissen zeigte sich damals schon Heiner Müller, dessen Mao-Lektüre von Brecht und Schneider ausging.
|| 72 Vgl. Mao Zedong, Shi ci xin shang, S. 81–85.
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1958 publizierte er zunächst einen Komplementärentwurf zu „Schnee“ (nach Brechts Fassung): Gedanken über die Schönheit der Landschaft bei einer Fahrt zur Großbaustelle „Schwarze Pumpe“ Wäldchen und Feldchen. Ochsen Plagen sich vor dem Pflug. Bauern Plagen sich hinter dem Pflug. Nach einer Stunde der erste Traktor. Der Traktorist raucht Pfeife. […] Gegen Mittag der Bauplatz, die neue schönere Landschaft: Schornsteine. Montagehallen. Stahl und Beton. Erde, aufgerissen, Berge, versetzt mit Maschinen und Händen. Lärm und Staub. Hier sammelten die Alten Reisig 5mal 100 Jahre lang. Hier werden die Brikettfabriken stehen in 5 Jahren und die neuen Kraftwerke.73
Nicht nur spielt der Titel auf „Gedanken bei einem Flug über die Große Mauer“ an, auch die Reihung knapper Momentimpressionen, das aufzählende Aufgreifen vereinzelter visueller Elemente und die für Brechts Rhythmen typischen, syntaktische Einheiten durchbrechenden Versübergänge rufen Brechts Version des Gedichts auf. Der Gegensatz zwischen dem Alten und dem Neuen am Schluss lässt ebenfalls das Mao-Gedicht assoziieren. An die Stelle des grandiosen Landschaftsentwurfs treten bei Müller jedoch Eindrücke aus dem dörflichen und industriellen Alltag, gerade die eigentliche „Landschaft“, das Dörfliche, wird bei Müller jedoch abgewertet, die Bauernarbeit als Plage charakterisiert und das Idyllische in den Diminutivformen „Wäldchen und Feldchen“ ironisch gebrochen – vielleicht auch nicht zuletzt in Reaktion auf die verniedlichenden „hauchzarte[] Wolkenbündel“ in Brechts Mao-Übersetzung (s.o.). Dagegen setzt Müller die „neue / Schönere Landschaft“ der Industrie und kehrt negativ konnotierte Elemente wie „Lärm und Staub“ in ihr Gegenteil um,
|| 73 Heiner Müller, Warten auf der Gegenschräge. Gesammelte Gedichte, hg. von Kristin Schulz. Berlin 2004, S. 129.
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präsentiert sie als Ausweise einer neuen Effizienz der Produktion, so dass ein gewandeltes ästhetisches Bewusstsein postuliert wird. Wendet sich „Gedanken über die Schönheit der Landschaft“ unter den Vorzeichen des damaligen Aufbaugedankens in einer Mischung aus Parodie und Nutzbarmachung bestimmter ästhetischer Strategien mehr gegen den Fokus des Gedichts, die Naturlandschaft, und legt deren Ersetzung durch das nur scheinbar Hässliche der Industrielandschaft nahe, zeigt eine weitere, damals unveröffentlichte74 Replik auf Maos Lyrik eine deutlich kritischere Perspektive auf die Person Mao Zedongs und des sozialistischen Utopismus: Unter dem Titel „Heroische Landschaft. Variation auf ein Thema von Mao Tse tung“ antwortet Müller auf das Pathos der Mao-Gedichte, konkret das Gedicht „Dabodi“ (菩萨蛮·大柏地) von 1933: Dabodi (Rolf Schneider)
Heroische Landschaft. Variation auf ein Thema von Mao Tse Tung (Heiner Müller)
Rot und orange. Jade und gelb. Blau. Indigo. Violett: Wer noch tanzt in den Himmeln, schleudernd das vielfarbene Band? Der Regen verging. Wiederkehrte die sinkende Sonne. Und Segment um Segment bläuen der Fluß und die Hügel.
Der siebenfarbige Hügel Gepflügt mit Kugeln mit Leichen bedeckt Ist schön wie vor der Schlacht In den Kriegen die kommen werden Erbleichen wird der siebenfarbige Hügel76
Einst raste eine verzweifelte Schlacht hier. Trichter der Kugeln. Pflügend die Wände des Dorfs. Welch bildhaftes Zeugnis! Und noch schöner Erscheinen uns heute die Hänge der Hügel.75
Müller nimmt die Pointe des Gedichtes letztlich zum Ausgangspunkt, um an die Stelle der stolzen Betrachtung in Erinnerung an die Heldentaten der Vergangenheit eine düstere Zukunftsvision zu stellen. Er kondensiert Schneiders Text, greift die Verbindung von Schlacht- und Landwirtschaftsvokabular im Bild des mit
|| 74 Veröffentlicht wurde der Text erst in dem Band Kopien 1. Müller publizierte zahlreiche Werke erst mit großem zeitlichem Abstand zur Entstehung. Viele frühe Gedichte wurden erst 1992 in Gedichte oder, seit der umfassenden Erschließung des Nachlasses, postum gedruckt. Vgl. die Anmerkungen in HMW 1, S. 332. 75 Mao, Gedichte, übers. von Schneider, S. 10. 76 Müller, Warten, S. 28.
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Kugeln ‚gepflügten‘ Hügels auf. Diese Metaphorik, die, in Kombination mit Schneiders pathosgeladenen Ausrufen einen spezifischen, Bauern und Soldaten verbindenden Heroismus suggeriert, ergänzt Müller um eine knapp-konstatierende, explizite Beschreibung der Schlachtfolgen: „mit Leichen bedeckt“. Im Gegensatz zu Maos Gedicht in Schneiders Fassung, das nur von den Einschlagsstellen als historischen Zeugen ausgeht, weigert sich Müller, die Leichen aus der Bildfläche zu nehmen. Die Beschwörung der Schönheit der Landschaft ist damit nicht mehr Ausdruck eines opferbewussten Heroismus, sondern wirkt zynisch bzw. suggeriert, dass eine solche Betrachtungsweise eigentlich schon im Original zynisch ist. Der Endpunkt der Schneider’schen Fassung bildet dann auch nur den Anstoß für die düstere Vorahnung noch opferreicherer künftiger Kämpfe, die Müller in seiner indikativischen Feststellung als unvermeidbar darstellt. Müller kehrt damit das Gedicht um, lässt den Heroismus ins Leere laufen und stellt der zufriedenen Erinnerung und dem Genießen einer erkämpften idyllischen Gegenwart eine Zukunftsvision der weiteren Steigerung von Tod und Gewalt entgegen. Der Utopie des Sozialismus wird damit die Gefahr ihres mindestens temporären Umschlagens ins Dystopische beigegeben.77 „Heroische Landschaft“ zielt damit auf eine doppelte Entlarvung: Müller intendiert wohl noch nicht eine Grundkritik am Maoismus, sehr wohl aber an der Verschleierung der Gewalt, die er der Geschichtsvision inhärent sieht. Das Gedicht legt den Preis der Kämpfe und die Gleichgültigkeit des Betrachters diesem gegenüber offen und verweigert sich einer beschönigenden Heldendarstellung, die die Brutalität des Krieges in der Ästhetisierung aufhebt.78 Ganz unkritisch war die Mao-Rezeption in der DDR also keineswegs. So oder so markierte der Höhepunkt der lyrischen Mao-Rezeption in den späten 1950er Jahren schon den Umschlag des Mao-Bildes in der DDR, wenn auch mit anderer Stoßrichtung als bei Heiner Müller: Zu Beginn des nächsten Jahrzehnts waren die deutsch-chinesischen Beziehungen bereits deutlich angespannter. Ein letzter Mao-Band, allerdings nur noch in Form einer Veröffentlichung der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst, wurde 1962 von Erhard und Helga Scherner publiziert. Nach 1963, als es endgültig zum Bruch innerhalb des sozialistischen Lagers kam, wurde der Mythos Mao in der DDR destruiert und durch sein Gegenteil ersetzt: Das einstige leuchtende Vorbild, der „große Staatsmann und
|| 77 Vgl. weiter Ebrecht, Heiner Müllers Lyrik, S. 98–100. 78 Vgl. zu diesen Ausführungen weiter Landa, „(Alb-)Träume“, S. 315f.
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Feldherr, der Dichter Mao Tse-tung“,79 galt nun als reaktionär-aggressiver Nationalist. Und selbst Ernst Schumacher konstatierte, die Tradition autokratischer Herrschaft zerstöre die Chancen des Kommunismus, am meisten in China, wo es früher immer den ‚Sohn des Himmels‘ gegeben habe: „Genauso führt sich jetzt Mao auf.“80
4.4 ‚Kulturrevolutionäre‘ der 1960er und 1970er Jahre Galt Mao im Ostdeutschland der späteren 1960er Jahre als Persona non grata, wurde sein Ruhm als Dichterrevolutionär bald im Westen wiederbelebt. Insgesamt spielten Maos Texte sowie eine oft vage Faszination an seiner Persönlichkeit eine wichtige, wenn auch wechselnde und oft inkonsistente Rolle in den linken Bewegungen der 1960er und 1970er Jahre.81 Teilweise liegt diese Anziehungskraft in den intellektuellen und literarischen Kreisen auch in der Doppelrolle Maos als Dichter und Poet begründet. Gerd Koenen, ehemaliger Aktivist, erinnert sich: Nicht zu vergessen Maos Gedichte. Mao verkörperte auf seine Art den Traum eines Künstlerpolitikers. Da atmete eine weite Seele. Natur, Geschichte, Gegenwart alles floss zusammen. Das machte schon Eindruck. Dadurch gewann er als Figur an Format und Kontur.82
|| 79 So Stephan Hermlin 1953 auf dem Allchinesischen Schriftstellerkongress: „Begrüßung an den II. Allchinesischen Kongress der Schriftsteller und Künstler“, in: Neue deutsche Literatur 1/11 (1953), S. 88–90, hier S. 90. 80 Ernst Schumacher, „Dokument 31: ‚herrscher aller reußen‘, ‚sohn des himmels‘ (4. Juli 1963)“, in: Ernst Schumacher, Ein bayerischer Kommunist im doppelten Deutschland. Aufzeichnungen des Brechtforschers und Theaterkritikers in der DDR 1945–1991 (Biographische Quellen zur Zeitgeschichte 24), hg. von Michael Schwartz. München 2007, S. 267–269, hier S. 267. 81 So betonen Graber/Spaulding die Schwammigkeit des Maoismus-Begriffs in Westdeutschland, der von vager Affinität mit China bis hin zu sehr konkreten Übernahmen politischer Doktrinen und Handlungsmodi reichte, vgl. Lauren Graber/Daniel Spaulding, „The Red Flag: The Art and Politics of West German Maoism“, in: Jacopo Galimberti/Noemi de Haro García/Victoria H. F. Scott (Hg.), Art, Global Maoism and the Chinese Cultural Revolution (Rethinking Art’s Histories). Manchester 2020, S. 109–127, hier S. 109; weiter Gehrig, „(Re-)Configuring Mao“; Luckscheiter, „Maobibel“; Felix Wemheuer, „Einleitung. Die vielen Gesichter des Maoismus und die Neue Linke nach 1968“, in: Sebastian Gehrig/Barbara Mittler/Felix Wemheuer (Hg.), Kulturrevolution als Vorbild? Maoismen im deutschsprachigen Raum. Frankfurt a.M. u.a. 2008, S. 9–23 sowie in demselben Band Laura K. Diehl, „Die Konjunktur von Mao-Images in der bundesdeutschen ‚68er‘-Bewegung“, S. 179–201. 82 Gerd Koenen/Laura K. Diehl, „‚Mao als Mona-Lisa der Weltrevolution‘. Erinnerungen an den westdeutschen Maoismus, in: Gehrig/Mittler/Wemheuer (Hg.), Kulturrevolution, S. 27–37, hier S. 32. Zur Faszinationskraft des ‚Dichterrevolutionärs‘ weit über die maoistischen Gruppen im
‚Kulturrevolutionäre‘ der 1960er und 1970er Jahre | 157
Und der marxistische Philosoph Hans Heinz Holz sah in den Gedichten, denen er in seiner Abhandlung über Widerspruch in China ein ganzes Kapitel widmet, eine Hauptquelle zur Durchdringung des maoistischen Denkens, „poetische[] Schönheit“ vereint mit „politische[r] Reflexion und politische[m] Appell“.83 Maos Bild als Dichterpolitiker war sicherlich von früheren Übersetzungen vorbereitet worden, insbesondere Brechts Mao-Gedicht dürfte bekannt gewesen sein. In den 1960er und 1970er Jahren wurde es aber beinahe ausschließlich von einer Person vorangetrieben, nämlich Joachim Schickel, einem literarisch ambitionierten Sinologen bzw. China-Journalisten, dem „Hausautor“ des Kursbuchs „für chinesische Fragen“. 84 Nach mehreren Veröffentlichungen einzelner Gedichte publizierte er eine kommentierte Ausgabe von Maos 37 bis 1965 bekannten Gedichten. Die Ausgabe von 1978 enthält die zwei weiteren Gedichte, die bis dahin in China zugänglich waren. Die Popularität von Schickels Übersetzungen kann sicherlich zum Teil mit einer allgemeinen Faszination an der Idee des Dichterrevolutionärs in den linken Kreisen, insbesondere der Studentenbewegung, erklärt werden. Mao galt wohl als Inkorporation eines Ideals unter denjenigen, die bemüht waren, revolutionäre Theorie und Handlung, Schreiben und Kämpfen, zusammenzubringen. Andererseits verschränkt Schickel in seinen Schriften Dichtung, politische Essayistik, Reiseberichterstattung, literarische Zitate aus Vergangenheit und Gegenwart und sinologische Analysen. Dieses Zusammenspiel aus Faktualem und Fiktionalem, aus scheinbar objektiver Analyse und teilnehmendem Aktivismus dürfte maßgeblich zu Schickels Prominenz unter den Intellektuellen der Zeit beige-
|| engeren Sinne hinaus siehe auch Andreas Kühn, Stalins Enkel, Maos Söhne. Die Lebenswelt der K-Gruppen in der Bundesrepublik der 70er Jahre. Frankfurt a.M./New York 2005, S. 111f.; Gehrig, „(Re-)Configuring Mao“, S. 195. 83 Hans Heinz Holz, Widerspruch in China. Politisch-philosophische Erläuterungen zu Mao Tsetung (Reihe Hanser 27). München 1970, S. 69. 84 Hans Kühner, „Die Protestbewegung von 1968, der Maoismus und die westdeutsche Sinologie“, in: Helmut Martin/Christiane Hammer (Hg.), Chinawissenschaften – Deutschsprachige Entwicklungen. Geschichte, Personen, Perspektiven. Referate der 8. Jahrestagung 1997 der Deutschen Vereinigung für Chinastudien (DVCS) (Mitteilungen des Instituts für Asienkunde Hamburg 303). Hamburg 1999, S. 294–313, hier S. 301. Vgl. zu Schickels großem Einfluss beim Kursbuch-Publikum Koenen, Das rote Jahrzehnt. S. 146; Kristof Niese, „Vademekum“ der Protestbewegung? Transnationale Vermittlungen durch das Kursbuch von 1965 bis 1975 (Mediengeschichte 2). Baden-Baden 2017, S. 222f., S. 306f.; Gehrig, „(Re-)Configuring Mao“, S. 195f.; Luckscheiter, „Maobibel“, S. 271.
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tragen haben.85 Diehl betont zudem zu Recht, dass aufgrund von Schickels literarischem Zugang „die emotionalen und assoziativen Elemente des Mao-Images am deutlichsten“ hervortreten.86 Bis in die 1960er Jahre waren direkte Übersetzungen nur von wenigen einzelnen Gedichten vorgelegen, der Großteil der Fassungen ging, wie oben dargestellt, auf indirekte Bearbeitungen durch Dichter zurück. Schickel nun verband ein ausgeprägtes Sprachgefühl mit der Autorität des studierten Sinologen. Seine Gedichttransformationen sind ein Versuch, in dichten Textgebilden die Visualität und Dynamik der Originale durch Annäherung an deren Wortfolge und lakonische Knappheit zu bewahren und damit vor allem Mao den Visionär herauszustellen. Während Schickel gesteht, dass die spezifische Musikalität des Originals nicht übertragen werden könne, ist er bemüht, in freien Versen mit variierenden Rhythmen zumindest eine Ahnung davon zu vermitteln, wobei er sich teilweise auf Brecht als Modell beruft,87 andererseits aber am chinesischen Zeilenstil festhält. Als Beispiel mag wiederum die Übertragung von „Changsha“ dienen: Ch’ang-sha Allein; steh im kalten Herbst: Hsiang, der nordwärts fließt, Orangeninsel, das Kap. Seh zehntausend Berge, rotes Rund, sich türmenden Wald, verfärbt; breit der Fluß, Jadeschein, hundert Boote auf Wettfahrt. Adler stoßen hoch in den Raum, Fische schweben am seichten Grund – zehntausend Arten, unterm Frosthimmel streitend für Freiheit. […] Kam mit hundert Gefährten einst her. Gedanken an damals: stolzer Jahre, Monate Fülle. Allesamt Lernende, junge Leute, aufrichtig, aufrecht; Studenten, ungestüm,
|| 85 Neben Kursbuch-Publikationen trat Schickel prominent durch einige Monographien hervor. Vgl. insbesondere seinen bei Klett und später Suhrkamp veröffentlichten Band Große Mauer, große Methode. Annäherungen an China. Frankfurt a.M. 1976. 86 Diehl, „Konjunktur“, S. 188. 87 Mao, 37 Gedichte, S. 69.
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erregbar aufs stärkste. Mit Fingern zeigend: China, ‚Nieder!‘ ‚Bravo!‘ die Schriften, ein Dreck ihrerzeit die Hochgestellten. Erinnert ihr euch: inmitten der Strömung Schläge ins Wasser, die Wellen, hemmend den Flug des Boots?88
Auffallend an dem Gedicht sind insbesondere die elliptischen Strukturen, der weitgehende Verzicht auf prädikative Verben und Pronomen. Ein lyrisches Ich taucht nur einmal, in der Mitte des Gedichts, auf – „frag ich die blaue Weite“ – die Adressaten werden nur in Vers 23 erwähnt: „Erinnert ihr euch“. Die verschiedenen visuellen Eindrücke und Handlungen sind konjunktionslos aneinandergereiht, wodurch jedem einzelnen Element separates Gewicht zukommt, jeder Eindruck in gewisser Weise für sich steht, andererseits aber ein hohes Tempo entsteht, das die Fülle der Eindrücke spiegelt. Anstelle von prädikativen Verben verwendet Schickel zahlreiche Partizipien, wie in „streitend für Freiheit“, stellt dadurch weniger die Handlungen heraus als einen visuellen Eindruck, der aber immer ein dynamischer ist, einen Momentausschnitt aus einer Bewegung greift. Die Kombination von Strategien der Annäherung an die dichte, auf direkte Visualität abzielende Ästhetik der chinesischen Lyrik und einem wechselnden, oft unterbrochenen Rhythmus bewirkt einen gewissen Eindruck von Fremdartigkeit, ohne exotistisch zu klingen. Einiges an syntaktischer Mehrdeutigkeit des Originals wird beibehalten, so in „Mit Fingern zeigend: China, / ‚Nieder!‘ ‚Bravo!‘ die Schriften“, wodurch die Verse in ihren internen Verbindungen absichtsvoll recht deutungsoffen gelassen werden. Die Kritik und das Lob können sich auf China beziehen oder aber auf die nachher erwähnten Schriften, sie können als Bewertung der Schriften verstanden werden oder aber Kritik durch die Schriften. In manchen Zügen lässt der elliptisch-dynamische Stil Nähen zu Schneider erkennen. Schickels Verse sind jedoch gedrängter und bemüht, jede Art von Sentimentalität ebenso zu vermeiden wie explizite Verweise auf das wahrnehmende Ich. So beginnt Schneider seine Version mit den Zeilen „Ich stehe, allein, in der Kühle des Herbstes, / Verfolgend den nördlichen Weg des Flusses / Vorüber am Riff der Orangeninsel“, während Schickel schreibt: „Allein; steh im kalten Herbst: / Hsiang, der nordwärts fließt, Orangeninsel, das Kap.“ „Kühle des Herbstes“ ist weit emotionsgeladener als das eher deskriptive „kalten Herbst“, Schneiders drei Punkte am Ende von Vers 3 deuten zudem unausgesprochene Gefühle an. Schneider betont den schweifenden Blick des Ichs, der dem Verlauf des
|| 88 Ebd., S. 11.
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Flusses folgt, während Schickel nur die gesehenen Gegenstände auflistet. Insgesamt wirkt Schickels Sprache dadurch wesentlich kühler, beschreibender, dennoch verbinden die Texte grandiose visuelle Eindrücke mit einem ausgeprägten Pathos – „stolzer Jahre, Monate Fülle“. Zeitgleich mit Schickel versuchte noch eine Dichterin, von der bereits die Rede war, Mao Zedongs Lyrik im deutschsprachigen Raum zu verbreiten: Klara Blum. Wo aber Schickel vorgeworfen werden kann, zur Verharmlosung Mao Zedongs beigetragen zu haben, die Faszination für den Ästheten gefördert zu haben, verschweigt Blum die brutalen Züge des chinesischen Herrschers nicht, sondern wählt und rechtfertigt explizit Gedichte mit aggressiverer Stoßrichtung. Blum veröffentlichte in der Roten Fahne Österreichs 1967 – nach ihrem Bruch mit ihrem DDR-Verlag ihre letzte Publikationsverbindung in den deutschen Raum – zwei Gedichte Mao Zedongs, die sie in den Vorbemerkungen als Reaktion auf den ‚Revisionismus‘ der ehemaligen Bruderstaaten ausweist. Mit unverhohlen aggressiver Rhetorik schickt Blum aus dem fernen China einen ‚Warnschuss‘ in den Westen:89 Brausende Meere dort, flammende Blitze hier, fünf Kontinente stehen in leuchtenden Gluten. Weg mit dem Ungeziefer! Unbesiegbar sind wir!90
Schickel hatte das Gedicht ebenfalls übertragen, allerdings in abgeschwächter Rhetorik, mit weniger Ausrufen und einem zweideutigen Schluss: Vier Meere aufgebäumt, Wolken und Wasser zornig, fünf Erdteile bebend, Wind und Donner entfacht. Müßt sie auskehrn, allesamt, die üblen Insekten: nirgend sonst Feinde.91
Schickel übersetzt tatsächlich den Schlussvers quan wudi 全无敌 in möglichst milder Variante; quan heißt ‚absolut‘, wudi ;unbesiegbar‘, oder eben, liest man die Verbindung als zwei Einzelkomponenten, ‚keine Feinde‘. Bei Schickel wirkt || 89 Vgl. auch Landa, „(Alb-)Träume“, S. 318f. 90 Mao Zedong, „Antwort an Genossen Kuo Mo-sho [Guo Moruo]“, übers. von Dshu Bai-lan [Klara Blum], in: Rote Fahne. Organ des Zentralkomitees der Marxistisch-Leninistischen Partei Österreichs (MLPÖ) (1967), Nr. 87, S. 6, siehe das Original 满江红·和郭沫若同志 in: Mao shi ci ji, S. 135f. Vgl. zu den Gedichten auch Yang, Klara Blum, S. 57. 91 Mao, 37 Gedichte, S. 46. Eine erste Rohfassung geht auf ihren ehemaligen Studenten und Adoptivsohn Zhang Penggao zurück, vgl. ihren Brief an Clara Weiniger vom 26. Februar 1968, in: Blum, Auswahledition, S. 553f., hier S. 553.
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der Satz, beinahe versöhnlich, als Einschränkung der Aggression nur gegenüber den ‚eigentlichen‘ Feinden. Im Kommentar hebt Schickel dann auch die chinesische Friedensvision hervor: „Die Kontinente werden sich in ihr Weltgeschick teilen, die Meere ihre Weltfeindschaft lassen, sobald der Mensch, ein praktischer Materialist und der nationalen Ideologen entledigt, den Aufruhr der Elemente befriedet.“92 Dass in Klara Blums lyrischer Selbsteinbürgerung in China humanistisches, Weltenbruderschaft beschwörendes Pathos und unverhohlene Freund-FeindRhetorik zusammentreffen, wurde in Kapitel 3 bereits ausgeführt. Auch hier setzt sie die Lyrik Mao Zedongs als explizite Kampfpropaganda ein. Dass eine jüdische Autorin die metaphorische Vertierung des Menschen – im chinesischen Original in der Zusammenfügung 人虫 renchong, ‚Menscheninsekt‘ noch expliziter –93 so enthusiastisch weitergibt, mag verwundern. Klara Blum sollte denn auch den ungezügelten, undifferenzierten Kampfeswillen ihrer ‚Genossen‘ selbst als Immigrantin während der ‚Hausdurchsuchungen‘ der Kulturrevolution zu spüren bekommen.94 In Schickels und Blums Mao-Interpretationen spiegelten sich gewissermaßen die Rezeptionspole, die den deutschen Maoismusbegeisterten in den Jahren zur Verfügung standen, von der Porträtierung eines großen Denkers und Politikers, der Revolution und Literatur endlich in wechselseitige Interaktion setzte und Gewalt nur mit hehrer Zielsetzung in Kauf nahm, bis hin zum unerbittlichen Kämpfer, dessen literarische Praxis der Erniedrigung und Entmenschlichung des Gegners nur den Vorspann für die tatsächliche Umsetzung dieser Aggressionskräfte bilden sollte.95 Wenn auch Mao eine Identifikationsfigur für viele linke Gruppen in den 1970er Jahren bleiben sollte, einige davon explizit maoistisch, begann der Niedergang des Mao-Fiebers bereits in den frühen 1970ern, mit dem Lin-Biao-Vorfall, der chinesisch-amerikanischen Annäherung und den zahlreichen Grabenkämpfen
|| 92 Ebd., S. 149. 93 Mao shi ci ji, S. 136. Vgl. zu der offen aggressiven Rhetorik der Gedichte dieser Zeit weiter Wolfgang Kubin, „‘Invincible for Aye!’ Melancholy and Wrath, or Toward the Utopia of Purges”, in: Chinese Literature Today 4/2 (2014), S. 76–81. 94 Vgl. Yang, Klara Blum, S. 61f. 95 Zur Mao-Rezeption in der frühen RAF-Bewegung vgl. insbesondere Sebastian Gehrig, „‚Zwischen uns und dem Feind eine klaren Trennstrich ziehen‘. Linksterroristische Gruppen und maoistische Ideologie in der Bundesrepublik der 1960er und 1970er Jahre“, in: Ders./Mittler/Wemheuer (Hg.), Kulturrevolution, S. 153–177.
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innerhalb der deutschen linken Gruppierungen.96 Zugleich kamen mehr Stimmen innerhalb der linken intellektuellen Kreise auf, die dem Mao-Kult beziehungsweise der Mao-Mode kritisch oder skeptisch gegenüberstanden. So setzt Helga M. Novaks Hörspiel Fibelfabel aus Bibelbabel oder Seitensprünge beim Lesen der Mao-Bibel, das in ironischer Collagierung verschiedenste Versatzstücke des 68erDiskurses verschränkt, sie in ihrer Widersprüchlichkeit zwischen Ernst, Pathos, Phrasendrescherei und Modeerscheinung entlarvt, nicht zufällig mit der Rezitation eines Mao-Gedichts aus dem Kursbuch („Beim Besuch des Jinggan-Berges“ 念奴娇·井冈山) nach Joachim Schickel ein, das erst in schrill verzerrter, hysterisch oder kindlich wirkender Stimme, dann mit scheinbarem Ernst vorgetragen wird.97 Damit sind wir wieder an dem Punkt angekommen, an dem dieses Kapitel eingesetzt hat: den Träumen von China, die sich letztlich als Illusionen erweisen. F. C. Deliusʼ Gedicht steht gewissermaßen am Ende einer langen Reihe von lyrischen Mao-Stilisierungen. Diese waren, wie dieses Kapitel zu zeigen versucht hat, alles andere als übereinstimmend, zwar größtenteils heroisierend, aber mit unterschiedlichsten Heldenstilisierungen. Wenn man von Beijing aus durchaus versuchte, auch Maos Gedichte durch die Übertragung in möglichst viele Sprachen gezielt propagandistisch zu verwerten,98 zeigt sich, dass die von der Übersetzung ausgehende produktive Rezeption eine Dynamik entfaltete, die sich so weder vorhersehen noch kontrollieren ließ und stark von den jeweiligen Geschehnissen im Zielland abhing. Nicht zuletzt aber bot die Auseinandersetzung mit Maos Lyrik auch die Möglichkeit der kritischen Hinterfragung deutscher und chinesischer Sozialismus- und Utopieentwürfe, angefangen von dem bei Brecht artikulierten subtilen Widerspiel aus Heldenstilisierung und der Warnung vor dem Durch|| 96 Vgl. insbesondere Kühn, Stalins Enkel, S. 111–114; Gehrig, „(Re-)Configuring Mao“, S. 207, S. 220f.; Wemheuer, „Einleitung“, S. 19. 97 Helga M. Novak, Fibelfabel aus Bibelbabel oder Seitensprünge beim Lesen der Mao-Bibel, LP. Hamburg 1972; vgl. das Kursbuch 15 (1968), S. 63. Vgl. weiter Luckscheiter, „Maobibel“, S. 273– 275; ders., „Maos mediale Absorption. Helga Novaks Hörspiel Fibelfabel aus Bibelbabel (1972) im Kontext“, in: IASL online: http://www.iaslonline.lmu.de/index.php?vorgang_id=2695 [20. August 2017]; Christoph Deupmann, Ereignisgeschichten. Zeitgeschichte in literarischen Texten von 1968 bis zum 11. September 2001 (Formen der Erinnerung 48). Göttingen 2013, S. 164. 98 Neben den oben erwähnten Übersetzungen des Fremdsprachenverlags spielte hier auch die in Westdeutschland durchaus populäre, u.a. von Dieter Kunzelmann vertriebene Peking-Rundschau (vgl. ders., Leisten Sie keinen Widerstand! Bilder aus meinem Leben. Berlin 1998, S. 55f.) mit Artikeln wie „Die Gedichte des Vorsitzenden Mao – Ansporn für das Volk des ganzen Landes“ oder „Glänzende Gedichte, die uns zum Kampf anspornen – Notizen beim Studium der zwei Gedichte des Vorsitzenden Mao“ (beide 13. Januar 1976, S. 5–11) eine Rolle als Versuch, ‚offizielle‘ Lesarten und Deutungen international zu propagandieren.
‚Kulturrevolutionäre‘ der 1960er und 1970er Jahre | 163
setzen des Machtbegehrens über Heiner Müllers Konfrontationen von Gewaltbildern mit der „heroischen Landschaft“ Maos bis hin zu den selbstkritischen Collagen der Post-68er. Einen abschließenden bitteren Kommentar zum illusionären Charakter von Maos Staats- und Landschaftsvisionen und zur unkontrollierbaren Dynamik der Gewalt setzte dann noch einmal Heiner Müller kurz nach dem Tod Mao Zedongs in der Hamletmaschine: Marx, Lenin und Mao werden die Köpfe gespalten, unterlegt durch eine Regieanweisung, die man wohl auch als Anspielung auf Maos Dichtung lesen darf: „Schnee. Eiszeit“.99
|| 99 HMW 4, S. 551. Luckscheiter verweist auf diese Textstelle als „dramaturgische Rache an der Verführungskraft der Ideologien“ (Luckscheiter, „Maobibel“, S. 277), ohne darin aber einen möglichen intertextuellen Bezug zu Maos „Schnee“ zu thematisieren.
5 Günter Eichs Reorientierungen in Ost und West 5.1 Ästhetische Suchbewegungen in der Nachkriegszeit Günter Eich gilt gemeinhin als Glücksfall der chinesisch-deutschen Übersetzungsgeschichte, als philologisch-dichterische Doppelbegabung. Seine Übertragungen, insbesondere einiger Jueju 绝句 (klassischer Vierzeiler), werden von Sinologen und Germanisten asiatischer und europäischer Provenienz gleichermaßen gelobt.1 Welche Rolle die chinesische Dichtung im größeren Kontext des Eich’schen Werks spielt, ist dagegen nicht so einfach zu fassen. Hub Nijssen mutmaßt, „dass Eich dieses Übersetzen gebraucht hat, um einen neuen Weg einschlagen zu können“, und sieht Affinitäten zur knappen und eher adjektivarmen chinesischen Gedichtsprache, auch spreche allein schon der Zeitpunkt der Übertragungen für deren Relevanz.2 So pauschal evident erscheint diese These in Anbetracht der stilistischen Differenzen zwischen den früheren und späteren als Übersetzungen ausgewiesenen Texten und der noch zu diskutierenden Heterogenität des Nachkriegswerks allerdings nicht. Einzelne Motive der Dichtung
|| 1 Vgl. Keiko Yamane, Asiatische Einflüsse auf Günter Eich: Vom Chinesischen zum Japanischen (Europäische Hochschulschriften, Reihe 1: 691). Frankfurt a.M. 1983, S. 13–79; dies., „Krieg und Abkehr von Europa – am Beispiel von Günter Eichs Lyrik“, in: Gebhard (Hg.): Ostasienrezeption in der Nachkriegszeit, S. 259–281, hier S. 267; Hub Nijssen, „Strategien beim Übersetzen aus dem Chinesischen durch Hans Bethge, Klabund und Günter Eich“, in: Carsten Dutt/Dirk von Petersdorff (Hg.), Günter Eichs Metamorphosen: Marbacher Symposium aus Anlass des 100. Geburtstages am 1. Februar 2007 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte 369). Heidelberg 2009, S. 121– 139, hier S. 125, S. 128; Kraushaar, „In anderen Sprachen“, S. 242; Xue, Möglichkeiten, S. 75f., S. 142; Hartmut Walravens, [Rez.] „Günter Eich, Aus dem Chinesischen. Frankfurt a.M. Suhrkamp Verlag, 1976. (Bibliothek Suhrkamp, 525), PP. 160“, in: CLEAR: Chinese Literature: Essays, Articles, Reviews 2/2 (1980), S. 242; Wei Maoping 卫茂平/Ma Jiaxin 马佳欣, Yiyu de zhaohan: Deguo zuojia yu Zhongguo wenhua 异域的召唤:德国作家与中国文化/Der Reiz des Fremden – Deutschsprachige Schriftsteller und chinesische Kultur. Ningxia 2002, S. 320; Hirioaki Sekiguchi, „AsienRezeption (China und Japan) von Günter Eich und ihre Bedeutung“, in: Trans. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17/2 (2010), http://www.inst.at/trans/17Nr/1–12/1–12_sekiguchi%2017.htm [14.11.2019]; Hans Peter Hoffmann, [Art.] „Günter Eich, 1907–1972“, in: Germersheimer Übersetzerlexikon, http://www.uelex.de/artiklar/G%c3%bcnter_EICH [18.11.2019]. 2 Nijssen, „Strategien“, S. 134. Hoffmann hingegen sieht den Stil der Eich’schen Nachkriegslyrik als bereits gefunden an, bevor Eich die chinesische Dichtung übersetzt, und nimmt eher umgekehrt einzelne Rückwirkungen auf die Übersetzungsarbeit an (vgl. ders., [Art.] „Günter Eich“). Zu bedenken wäre hier aber, dass weder geklärt ist, wann die ersten Arbeiten für Sinn und Form entstanden sind, noch, ob sich Eich nicht immer wieder im Rahmen seines Sinologiestudiums oder danach intensiv mit chinesischer Lyrik beschäftigte oder auch schon an Übersetzungen versuchte. https://doi.org/10.1515/9783111044088-006
Ästhetische Suchbewegungen in der Nachkriegszeit | 165
Eichs (u.a. Vogelzüge, Mond) wurden in Zusammenhang gebracht mit Eichs Lektüre der chinesischen Texte und mit seiner Übersetzungsarbeit,3 wobei hier wohl nicht immer eindeutig zu sagen ist, inwieweit diese Motive nicht auch in der Tradition der europäischen Naturdichtung stehen. Die Tendenz zur lakonischen Verknappung im späteren Werk schreibt die Forschung mitunter der Auseinandersetzung mit der chinesischen, aber auch der japanischen Ästhetik zu, die Eich im Zuge einer Reise kennengelernt hatte.4 Auch den ‚meditierenden‘ Rezeptionsmodus, den Eich für seine späten Texte einfordert, sehen einige Forscher beeinflusst durch asiatische philosophische Konzepte in Verbindung gebracht, obgleich Eich durch die Hervorhebung seiner Widerspruchshaltung, den Gestus der Sinnverweigerung nicht unbedingt auf ein traditionelles Konzept von Meditation zu zielen scheint.5 Andere Interpreten verweisen auf Eichs metaphorische Ausdeutung des chinesischen Schriftzeichens als Idealbild literarischer Kondensierung in einem Interview von 1949: Ja, auch ich empfinde eine gewisse Verwandtschaft überhaupt des Gedichts zu einem chinesischen Schriftzeichen, worin also der Sinn konzentriert ist, wo nicht alphabetisch oder lautlich das Wort ausgedrückt wird, sondern durch ein Sinnbild; also in äußerster Komprimierung. (GW 4, S. 483) 6
|| 3 Vgl. Kraushaar, „In anderen Sprachen“, S. 237; Wei Maoping, Günter Eich und China: Studien über die Beziehungen des Werks von Günter Eich zur chinesischen Geisteswelt. Heidelberg 1989, S. 27–54; Yamane, Asiatische Einflüsse, S. 78f., S. 90. 4 Vgl. u.a. Marbacher Magazin 45 (1988), bearbeitet von Joachim W. Storck, S. 14; Laura Cheie, „Im Steingarten deutscher Dichtung. Günter Eichs lyrische Zwischenräume“, in: Temeswarer Beiträge zur Germanistik 12 (2015), S. 159–176. 5 Cheie sieht die späte Lyrik daher als die eines ‚Zwischenraums‘, in dem Engagement und Szientismus mit Schweigen und Meditation zusammentreffen: vgl. dies., „Im Steingarten“; S. 165– 167. 6 Vgl. dazu Larry L. Richardson, Committed Aestheticism. The Poetic Theory and Practice of Günter Eich (Europäische Hochschulschriften I/723). Bern u.a. 1983, S. 63; Monika Schmitz-Emans, Schrift und Abwesenheit. Historische Paradigmen zu einer Poetik der Entzifferung und des Schreibens. München 1995, S. 220. Weitere vage, pauschale Deutungen des Einflusses eines ostasiatischen Ästhetikkonzepts auf Eichs Schaffen finden sich zum Beispiel bei Hans Dieter Schäfer, „Zur Spätphase des hermetischen Gedichts“, in: Manfred Durzak (Hg.), Die deutsche Literatur der Gegenwart. Aspekte und Tendenzen. Stuttgart 1971, S. 148–169, hier S. 152: „Eichs Vorbild ist neben der Naturmagie vor allem die fernöstliche Kunst, in der alles Sehertum zugunsten der stillen Gelassenheit ausgespart ist“.
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Nun ist die assoziative, grammatisch lose Verknappung der traditionellen chinesischen Dichtung nicht das einzige mögliche Vorbild für eine Technik der ästhetischen Konzentration.7 Der sinologische Hintergrund Eichs mag in diese Werkentwicklung hineingespielt haben, konnte sich sicherlich aber nur aufgrund eines zeitgleich wachsenden Misstrauen des Autors gegenüber Sprache und Schöpfung entfalten, das sich im gezielten Unterlaufen und Hinterfragen von als selbstverständlich angenommener Kommunikation entlädt.8 Eich dürfte also aus anderen sprachphilosophischen Erwägungen und vor dem konkreten historischen Erfahrungshorizont der Kriegs- und Nachkriegszeit zum Teil mit ähnlichen Assoziativtechniken gearbeitet haben, diese erhalten bei ihm aber auch durch die Verbindung mit Momenten des Unsinns und der assoziativen Ausschweifung vor allem in der späten Dichtung eine andere Richtung. Im späten Eich einen ‚chinesischen‘ Eich sehen zu wollen und vor allem eine gerade Einflusslinie zu ziehen, erscheint insoweit zumindest einseitig. Das folgende Kapitel wird sich daher vor allem auf die mittlere Werkphase des Autors, die frühe Nachkriegszeit, konzentrieren, in der die knapp 100 ‚chinesischen‘ Gedichte entstanden sind. Günter Eich veröffentlichte zwei Sammlungen von als Übersetzungen aus dem Chinesischen ausgewiesenen Texten: Zunächst erschienen 1949 in Sinn und Form (unter Peter Huchels Redaktion) zehn Gedichte, die „[a]us dem chinesischen Urtext übertragen“ und dem Song-Autor Su Dongpo/Su Shi zugeschrieben wurden.9 Ab 1950 arbeitete Eich dann an ca. 90 Übertragungen für die vielrezipierte Anthologie Lyrik des Ostens (1952). Mehrere Treffen mit dem Herausgeber, dem Ostasienwissenschaftler Wilhelm Gundert, bezeugen, dass er sich hierfür intensiv mit diesem beriet.10 Während für die Arbeit an der zweiten Gruppe Gundert den Anstoß gegeben haben mag, ist über den || 7 Vgl. Yamane, Asiatische Einflüsse, S. 3 sowie dies., „Krieg“, S. 269–272, die aber mehr einen japanischen als einen chinesischen Einfluss in der Spätdichtung sieht. Oelmann dagegen steht dem plötzlichen Rückgriff auf Eichs Sinologiestudium zur Erklärung des späten Lakonismus kritisch entgegen, vgl. Ute Maria Oelmann, Deutsche poetologische Lyrik nach 1945: Ingeborg Bachmann, Günter Eich, Paul Celan (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 74). Stuttgart 1980, S.107. 8 Vgl. u.a. Christian Kohlroß, Theorie des modernen Naturgedichts. Oskar Loerke – Günter Eich – Rolf Dieter Brinkmann (Epistemata: Würzburger Wissenschaftliche Schriften, Reihe Literaturwissenschaft 303). Würzburg 2000, S. 185; Walter Helmut Fritz, „Das Problem der Lakonie im zeitgenössischen Gedicht“, in: Lothar Jordan/Axel Marquardt/Winfried Woesler (Hg.), Lyrik – von allen Seiten. Gedichte und Aufsätze des ersten Lyrikertreffens in Münster. Frankfurt a.M. 1981, S. 259–263, hier S. 262; Laura Cheie, Harte Lyrik. Zur Psychologie und Rhetorik lakonischer Dichtung in Texten von Günter Eich, Erich Fried und Reiner Kunze. Innsbruck/Wien/Bozen 2010, S. 108. 9 „Gedichte des Su Tung P’o (1036–1101)“, in: Sinn und Form 1/5 (1949), S. 88–91, hier S. 91. 10 Vgl. Roland Berbig, Am Rande der Welt. Günter Eich in Geisenhausen 1944–1954. Göttingen 2013. S. 170, S. 191.
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Entstehungszeitraum der ersten Gruppe nichts bekannt. Publiziert wurden die Texte ein Jahr nach Eichs erster Nachkriegssammlung Abgelegene Gehöfte und im selben Jahr wie Untergrundbahn. Dass Eich Jahre nach dem Abbruch seines Sinologiestudiums – aus der Erkenntnis heraus, er tauge trotz aller philologischen Mühen „wohl doch bloß zum Schriftsteller“11 – die Beschäftigung mit der chinesischen Literatur wieder aufnehmen sollte, scheint kein Zufall. Die Texte dieser Jahre und insbesondere die Abgelegenen Gehöfte bezeugen die Suchbewegungen Eichs, die in verschiedene Richtungen ausgreifen, Anknüpfungspunkte an die Tradition und frühere Schreibtechniken erproben, sie häufig aber verwerfen. Eich experimentiert in dieser Phase mit dem gesamten Repertoire lyrischer Klangfügungen ebenso wie mit prosanaher, nüchtern-bissiger Diktion.12 Eichs frühe Gedichte, vielfach beeinflusst von Wilhelm Lehmann und Oskar Loerke, aber auch von Gottfried Benn, Georg Trakl oder Friedrich Nietzsche,13 sprechen noch vom Streben eines Ich nach überzeitlicher Wahrheit und Teilhabe an einer mystischen Natureinheit, vom Leiden an der menschlichen Individuation, wie in „Verse an vielen Abenden“:14 „Du mußt wieder stumm werden, unbeschwert, / eine Mücke, ein Windstoß, eine Lilie sein.“ (GW 1, S. 10)
|| 11 So angeblich Günter Eichs Aussage gegenüber Willi Fehse: „Ein ganz natürlicher junger Mann…“, in: Siegfried Unseld (Hg.), Günter Eich zum Gedächtnis. Frankfurt a.M. 1973, S. 30–41, hier S. 34. 12 Ich stimme daher Kraushaar in diesem Punkt nicht zu, der von einer relativ linearen, klar umrissenen formalen Entwicklung Eichs ausgeht (vgl. ders., „In anderen Sprachen“, S. 235). 13 Vgl. u.a. Sabine Buchheit, „Günter Eich (1907–1972)“, in: Ursula Heukenkamp/Peter Geist (Hg.), Deutschsprachige Lyriker des 20. Jahrhunderts. Berlin 2007, S. 307–318, hier S. 308; Egbert Krispyn, „Günter Eichs Lyrik bis 1964“, in: Susanne Müller-Hanft (Hg.), Über Günter Eich. Stuttgart 1970, S. 69–89, hier S.70f.; Joachim W. Storck, „Günter Eichs Lyrik“, in: Peter Walther (Hg.), Günter Eich 1907–1972. Nach dem Ende der Biographie. Berlin 2000, S. 17–32, S. 17; Richardson, Committed Aestheticism, S. 35f.; Dieter Bänsch, Wie lebt man ohne Verzweiflung? Über Günter Eichs Lyrik. Marburg a.d. Lahn 2004, S. 6; Susanne Müller-Hanft, Lyrik und Rezeption. Das Beispiel Günter Eich (Literatur als Kunst). München 1972, S. 26–29; Axel Vieregg, „Günter Eich“, in: Hartmut Steinecke (Hg.), Deutsche Dichter des 20. Jahrhunderts. Berlin 1996, S. 507–519, hier S. 510f. 14 Vgl. Bänsch, Wie lebt man, S. 7; Ulrich Kittstein, Deutsche Naturlyrik. Ihre Geschichte in Einzelananlysen. Darmstadt 2009, S. 244. Zu Recht wurde darauf hingewiesen, dass Eich auch schon in seiner Frühphase solchen Fantasien ambivalent gegenüberstand, vgl. Thomas Betz, „‚mit fremden Zeichen‘ – Zur Poetologie im Werk Günter Eichs 1927–1955“, in: Gustav Frank u.a. (Hg.), Modern Times? German Literature and Arts beyond Political Chronologies / Kontinuitäten der Kultur: 1925–1955. Bielefeld 2005, S. 93–114, hier S. 104f.
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Spätestens seit den 1950er Jahren kann Natur dann nicht mehr als heiles Residuum aufgerufen werden. Sie versperrt sich dem Menschen immer mehr oder wird zur bedrohlichen Macht:15 Vögel, die um Futter kommen, behalten dein Bild auf der Netzhaut. Sie tragen es zu den Wölfen ins Dickicht, in die Bereitstellung der Springflut und zum Sammelplatz der Haie. (GW 1, S. 87)
Lassen sich die Naturbilder hier als Zeichen für die misslingende Einbindung des Menschen in die Natur oder aber als Metaphern für Bedrohungen im menschlichen Bereich selbst lesen, wird das unterschwellige Gewaltpotenzial der menschlichen Gemeinschaft in anderen Gedichten explizit herausgestellt. Schreiben wird als „Akt der Erkenntnis“ konzeptualisiert, den „der schneidend kalte Wind der unentrinnbaren Wirklichkeit“ 16 durchzieht und der den Einzelnen und nicht zuletzt den Dichter mit seiner Verantwortung konfrontiert und Abwehrbewegungen entlarvt: Bestürzt vernehme ich die Botschaften der Verzweiflung, die Botschaften der Armut und die Botschaften des Vorwurfs. Es kränkt mich, daß sie an mich gerichtet sind, denn ich fühle mich ohne Schuld. (GW 1, S. 84)
Dass man diese Texte aus der Retrospektive sicher auch als selbstkritische Vorwürfe lesen muss, legen die postumen Enthüllungen zu Eichs bestenfalls pragmatisch-opportunistischer Publikationspraxis im NS-Staat nahe.17 Zwischen diesen Entwicklungsstufen steht eine Reihe von Gedichten, teils noch aus den 1930er und -40er Jahren stammend, teils später entstanden, aber von den Erfahrungen der amerikanischen Kriegsgefangenschaft und der unmittelbaren Nachkriegszeit zehrend, die Eich in Abgelegene Gehöfte miteinander
|| 15 Vgl. Buchheit, „Günter Eich“, S. 312; Kittstein, Naturlyrik, S. 246; Post, Günter Eich, S. 56–59; Carsten Dutt/Dirk von Petersdorff, „Der frühe und der späte Eich. Kontinuitäten in der Werkgeschichte?“, in: Dies. (Hg.), Metamorphosen, S. 9–23. „Kontinuitäten“, S. 20; Sandie Attia, Signes et traces dans l'œuvre poétique de Günter Eich. Bern u.a. 2017, S. 96; Schmitz-Emans, Schrift und Abwesenheit, S. 221. 16 So Eich 1947 (‹Der Schriftsteller 1947›, GW 4, S. 469). 17 Zur Debatte um Eichs Rolle im Dritten Reich vgl. Axel Vieregg, Der eigenen Fehlbarkeit begegnet. Günter Eichs Realitäten 1933–1945. Eggingen 1993.
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konfrontiert. Den Mythos der ‚Stunde Null‘ hat die Literaturwissenschaft längst widerlegt.18 Ebenso ist das Bild des ‚Kahlschlagdichters Eich‘, das sich auf eine selektive Lektüre der kanonisch gewordenen Lagergedichte stützt, differenziert worden.19 Das Zusammenfügen der disparaten Gedichte erlaubt dem Leser vielmehr einen querschnittartigen Einblick in die widersprüchlichen Impulse und die Suche nach Orientierungspunkten, die Eich in dieser Zeit umtrieb. Der Band ist durchaus gezielt auf Irritation angelegt; Fabian Lampart spricht von einer „ästhetischen Selbstrevision unter den Augen der Leser“.20 Freilich ist dabei zu bedenken, dass dem Band noch nicht eindeutig eingeschrieben ist, welche ästhetischen Richtungen sich weiter als tragfähig erweisen werden. Gedichte wie „Aurora“ geben sich einer gewissen lyrischen Nostalgie hin und versuchen, Sinnresiduen über alle historischen Brüche in die Gegenwart zu retten: Aurora, Morgenröte, du lebst, oh Göttin, noch! Der Schall der Weidenflöte tönt aus dem Haldenloch. (GW 1, S. 23)
„Kahlschlag findet nicht statt, eher zeigt sich ein passioniertes Bestreben, ihn nicht geschehen zu lassen“, kommentiert Heinz Schafroth das Gedicht.21 Ganz anders dagegen der Ton in „Latrine“ im selben Band, wo ein derartiges Austesten von „Relikte[n] von Sinnkenntnis“22 mit den Gegebenheiten der Lagerexistenz konfrontiert wird: Irr mir im Ohre schallen Verse von Hölderlin. In schneeiger Reinheit spiegeln Wolken sich im Urin.
|| 18 Vgl. Heinrich Vormweg, „Deutsche Literatur 1945–1960: Keine Stunde Null“, in: Manfred Durzak (Hg.), Deutsche Gegenwartsliteratur. Ausgangspositionen und aktuelle Entwicklungen. Stuttgart 1981, S. 14–31. 19 Vgl. u.a. Richardson, Committed Aestheticism, S. 74; Bänsch, Wie lebt man, S. 14; Heinz F. Schafroth, Günter Eich (Autorenbücher 1). München 1976, S. 49f.; Müller-Hanft, Lyrik und Rezeption, S. 47f.; Peter Horst Neumann, „Günter Eich“ in: Klaus Weissenberger (Hg.), Die deutsche Lyrik 1945–1975. Zwischen Botschaft und Spiel. Düsseldorf 1981, S. 230–243, hier S. 234. 20 Fabian Lampart, Nachkriegsmoderne. Transformationen der deutschsprachigen Lyrik 1945– 1960 (linguae et litterae 19). Berlin/Boston 2013, S. 157. 21 Schafroth, Günter Eich, S. 50. 22 Bänsch, Wie lebt man, S. 14.
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„Geh aber nun und grüße die schöne Garonne–“ Unter den wankenden Füßen schwimmen die Wolken davon. (GW 1, S. 37)
Der Reim „Hölderlin“ – „Urin“ kann wohl als eine der berüchtigtsten Provokationen Eichs aus dieser Zeit gelten.23 In der Gegenüberstellung mit der Lager- und Nachkriegsrealität müssen dichterische Schönheit – das Zitat entstammt Hölderlins später Hymne „Andenken“24 – und auch traditionelle lyrische Bilder wie die gespiegelten weißen Wolken als irrealer, schriller Gegensatz zur historischen Wirklichkeit wahrgenommen werden.25 Sie lassen das lyrische Ich aber nicht gänzlich los; vielmehr ist die Kontrastfiguration zum essentiellen Charakteristikum der Weltwahrnehmung des Ich geworden.26 Mag aus der Retrospektive „Latrine“ wie eine Abrechnung mit Gedichten in der Art von „Aurora“ wirken, beanspruchen in der Sammlung beide gleichermaßen eine gewisse Gültigkeit. Sie relativieren sich, stellen verschiedene Reaktionsmöglichkeiten auf die Geschichte in den Raum, den Aufbau eines lyrischen Refugiums und den Widerspruch dagegen. Eich entwirft zugleich Möglichkeiten für eine produktive Aneignung und zeitgenössische Aktualisierung der Moderne – „präziser Blick, äußerste Verknappung, Zurücknahme des Ich, Lakonik, Parlando der Umgangssprache […], Einbeziehung auch des wissenschaftlich-technischen Vokabulars, Schockwirkung“27 – und stellt diese durch Bezugnahmen zur Tradition infrage, mindestens in ihrem alleinigen Geltungsanspruch.28
|| 23 Vgl. auch Gerhard Kaiser, „Günter Eich: Inventur. Poetologie am Nullpunkt“, in: Olaf Hildebrand (Hg.), Poetologische Lyrik von Klopstock bis Grünbein: Gedichte und Interpretationen. Köln 2003, S. 268–285, hier S. 279f. 24 Eich zitiert aus der ersten Strophe des Gedichts, das mit dem berühmten Vers endet: „Was bleibet aber, stiften die Dichter“ (Friedrich Hölderlin, Andenken, in: Ders., Sämtliche Werke und Briefe in drei Bänden, hg. von Jochen Schmidt. Frankfurt a.M. 1992–1994, Bd. 1: Gedichte, 1992, S. 360–362). Vgl. zu Eichs Zitat den Kommentar in GW 1, S. 442. 25 Vgl. dazu weiter u.a. Müller-Hanft, Lyrik und Rezeption, S. 41. 26 So meint Kaiser: „Aber ist nicht die eigentliche Sensation des Gedichts, daß die Reinheit der Wolken, der elegische Glanz des Gedichts durch nichts gebrochen, durch alles evoziert werden kann?“ (ders., „Eich: Inventur“, S. 280). Schönheit wird in der Lyrik nicht einfach obsolet, sondern der „Affekt gegen die Schönheit […] zugleich ein Vorstoß auf sie zu“ (Leon Hempel, Stillstand und Bewegung. Hoher Stil in der Lyrik Ost- und Westdeutschlands. Berlin 2011, S. 254). 27 Vieregg, „Günter Eich“, S. 516. 28 Zur ambivalenten Haltung Eichs gegenüber der dichterischen Moderne vgl. auch Vieregg, „Günter Eich“, S. 516; Lampart, Nachkriegsmoderne, S. 134–164.
Ästhetische Suchbewegungen in der Nachkriegszeit | 171
Auch das Kahlschlagsgedicht, „Inventur“, entfaltet letztlich kein Plädoyer für eine gänzlich neue Poetologie. Dem „neue[n] Ton“ Eichs,29 der spröde-knappen Diktion des mantrahaft wiederholten Besitzanspruchs auf das wenige Übriggebliebene – „Dies ist meine Mütze, / dies ist mein Mantel“ (GW 1, S. 35) – steht Strophe 6 des Gedichts entgegen: „Die Bleistiftmine / lieb ich am meisten: / Tags schreibt sie mir Verse, / die nachts ich erdacht“ (GW 1, S. 35). Nicht nur handelt es sich hier um die einzige explizite Gefühlsäußerung des Ich. Auch kommen in der inversiven Struktur der beiden letztzitierten Verse und der Elision in „erdacht“ traditionelle dichterische Mittel zur Anwendung, die darauf hindeuten, dass diese „Verse“ anderer Art sein dürften als der Rest des Gedichts.30 Die folgende letzte Strophe mit ihren konstatierenden, parallelistischen Hauptsatzreihungen – „Dies ist mein Notizbuch, / dies meine Zeltbahn, / dies ist mein Handtuch, dies ist mein Zwirn“ (GW 1, S. 35) – holt das Ich wieder in die greifbare Realität zurück. Der Geltungsbereich des lyrischen Refugiums und der damit verbundenen Entwürfe von Schönheit und Sinn wird somit infrage gestellt, aufgehoben ist er nicht.31 „Inventur“ erarbeitet damit eine neue, spröde ‚Kahlschlagssprache‘ in der „Wendung zum Konkreten“ (GW 1, S. 436), die den Fokus auf Alltagsgegenstände und den konkreten historischen Standort lenkt und das Banale und Hässliche in den Wahrnehmungsbereich rückt.32 Das Gedicht enthält allerdings immerhin noch einen Ausblick auf eine andere Art überzeitlicher, diese Momente aufhebender Dichtung, die für das Ich trotz oder wegen der historischen Lage essentiell zu sein scheint. Abgelegene Gehöfte stellt somit verschiedene dichterische Reaktionen und ästhetische Bearbeitungsmöglichkeiten zur Diskussion, die erst in ihrem Zusammenspiel Eichs tastende Reorientierung in diesen Jahren bezeugen. Der ein Jahr später erschienene Band Untergrundbahn steht thematisch dann schon insbesondere im Zeichen der Auseinandersetzung mit dem Thema von Angst und Verfolgung, von Schweigen und Sprechen. Formal treffen weiterhin disparate Ansätze aufeinander, Texte in traditionellen Strophenformen und prosanähere Verse. Die frühe Nachkriegslyrik Eichs ist somit eine Phase des Experimentierens, ein Versuch, sprachlich und formal neue Wege zu erkunden, aber auch das || 29 Storck, „Eichs Lyrik“, S. 19; vgl. auch Kaiser, „Eich: Inventur“, v.a. S. 270f. 30 Vgl. weiter Buchheit, „Günter Eich“, S. 310; Kaiser, „Eich: Inventur“, S. 276f. 31 Ursprünglich sollte der Band Abgelegene Gehöfte sogar den Untertitel Zuflucht des Dichters tragen (vgl. Storck, „Eichs Lyrik“, S. 19). Die Streichung dieses pathetischen, klischeegeladenen Zusatzes ändert nichts daran, dass die Möglichkeiten der Zuflucht in den Gedichten vielfach verhandelt werden, ohne dass die Frage nach ihrer Zulässigkeit eindeutig beantwortet würde. 32 Vgl. weiter Bänsch, Wie lebt man, S. 13.
172 | Günter Eichs Reorientierungen in Ost und West
Transformationspotenzial traditioneller Dichtungstechniken in neuen Kontexten zu erproben und die jeweiligen Geltungsbereiche verschiedener Dichtungsarten mit- und gegeneinander auszuloten. Welche Rolle die Hinwendung zur chinesischen Lyrik darin spielt, soll nun diskutiert werden.
5.2 Su Dongpo als Alter Ego Eichs? Die erste Gedichtgruppe, die Eich als ‚chinesisch‘, konkreter als Gedichte des Song-Dichters Su Dongpo ausweist, stellt die Forschung vor ein gewisses Rätsel. Für ein einziges Gedicht, „Zu Beginn des Jahres“, lässt sich ein Originaltext ausmachen, der erste Text einer Gruppe unter dem Titel „Neujahr“ (新年).33 Das Gedicht lag auch bereits in anderen europäischen Sprachen vor, auf Deutsch in der Fassung Otto Hausers.34 Die wenigen Aussagen zu Eichs früher Übersetzungstätigkeit stützen sich auf dieses Gedicht, wobei hier mehr Ungenauigkeiten ausgemacht werden als bei den letztlich nur wenig späteren anderen Texten.35 Die Suche nach Vorlagen für die anderen neun Gedichte blieb bislang erfolglos. Ebensowenig wie Keiko Yamane oder Wei Maoping, die sich in ihren Dissertationen intensiv mit dieser Frage beschäftigt haben,36 oder Gu Zhengxiang, der die Quellen der in deutschen Anthologien enthaltenen chinesischen Gedichte recherchiert hat,37 gelang es im vorliegenden Kontext, chinesische Prätexte zu identifizieren, die sich eindeutig einem der Eich’schen Texte zuordnen ließen. Dies ist umso verwunderlicher, wenn man die philologische Akribie bedenkt, mit der sich Eich später den Arbeiten für Lyrik des Ostens zuwandte (s.u.).38 Auffällig ist auch, dass kein einziger der frühen Texte in die philologisch hohe Ansprüche stellende Sammlung aufgenommen wurde.39 Sprachlich-stilistisch gibt es deutliche Unterschiede, die im Weiteren noch untersucht werden. || 33 Su Shi, Su wen, Bd. 5, S. 454. Vgl. zur Identifizierung Wei, Eich und China, S. 236. 34 Vgl. auch ebd., S. 15, S. 236. 35 Vgl. Yamane, Asiatische Einflüsse, S. 77f.; dies., „Krieg“, S. 265f.; Kraushaar, „In anderen Sprachen“, S. 243–248. 36 Siehe Yamane, Asiatische Einflüsse, S. 66; Wei, Günter Eich, S. 15 ders. [卫茂平], Zhongguo dui Deguo de wenxue yingxiang shishu 中国对德国的文学影响史述 (Geschichte des Einflusses der chinesischen auf die deutsche Literatur). Shanghai 1997, S. 529. Auch Xuhang Yangs Bibliographie zum Artikel im Germersheimer Übersetzerlexikon gibt an, dass keine Originale ermittelt wurden: Vgl. http://www.uelex.de/listor/avoversattare/G%C3%BCnter%20EICH [18.01.2019]. 37 Vgl. Gu, Anthologien, S. 217. 38 Siehe das Teilkapitel zu den Übersetzungen in Lyrik des Ostens. 39 Gundert betont, mit wenigen Ausnahmen (wie im Fall Goethes) auf Übertragungen von „Dilettanten“ verzichtet und nur Texte aufgenommen zu haben, die „auf genauem Verständnis des
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Prinzipiell scheinen sich hier mehrere Erklärungshypothesen anzubieten: Eich mag in seinen Übertragungen weit vom jeweiligen Original abgewichen sein, sei es im Zuge eines kreativen Prozesses, sei es aufgrund fehlerhaften Verständnisses des Originals. Mindestens letzteres erscheint, zieht man die späteren Gedichte und die Eich bescheinigten guten Chinesischkenntnisse in Betracht,40 freilich nicht sehr wahrscheinlich. Jedoch könnte Eich auf ältere Materialien aus Studienzeiten zurückgegriffen und diese weiterverarbeitet haben, bei einem längeren zeitlichen Abstand zur Auseinandersetzung mit den Originalen wäre eine solche Erklärung vielleicht denkbar. Sollte Eich entgegen der eigenen Angabe gar kein Original, sondern nur andere Übersetzungen konsultiert haben, ist eine zunehmende Entfernung vom Original natürlich wahrscheinlicher. Allerdings ließen sich in den bis dahin erschienenen Übersetzungen, auch in andere europäische Sprachen (Französisch, Englisch, Latein, Spanisch), keine korrespondierenden Texte finden. Andererseits mag es chinesische Originaltexte geben, aber nicht solche von Su Dongpo. Fehlerhafte Autorenzuordnungen kommen bei anderen Dichtern, die im Rahmen dieser Arbeit behandelt werden, durchaus vor (vgl. beispielsweise die Ausführungen zu Heiner Müller), bei dem sinologisch ausgebildeten Eich wäre eine Fehlzuordnung von gleich neun Gedichten allerdings verwunderlich. Auch Gu Zhengxiang, der für eine Vielzahl falsch zugeordneter Gedichte die Originale ermitteln konnte (u.a. auch bei einem Gedicht aus Lyrik des Ostens, das Forke und Eich jeweils Su Dongpo zugeordnet hatten, das aber von dessen Vater Su Xun 苏 洵 stammt), gelang es nicht, eine einschlägige Quelle zu identifizieren.41 Dagegen spräche wohl auch die Erwähnung der „östlichen Hügel“ im Gedicht „Wiederaufsuchen vertrauter Orte“ (GW 4, 436). Die „östlichen Hügel“ bzw. der „östliche Abhang“ dongpo 东坡, bezeichneten ein Grundstück Su Dongpos nahe Huangzhou, das er in seiner Verbannungszeit auf Posten jenseits der Hauptstadt bewirtschaftete und von dem er seinen Beinamen „der Laie [Laienbuddhist]42 vom östlichen Abhang“, dongpo jushi 东坡居士, ableitete. Der Dichter
|| chinesischen […] Wortlauts“ beruhen, vgl. das Herausgebernachwort in: Ders./Annemarie Schimmel/Walter Schubring (Hg.), Lyrik des Ostens. München 1952, S. 468–501, hier S. 492. 40 So berichtet Hans Peter Hoffmann im Artikel des Germersheimer Übersetzerlexikons von Gesprächen mit Eichs Kommilitonen, dem späteren Sinologieprofessor Werner Eichhorn, der Eich hervorragende philologische Fähigkeiten bescheinigte, vgl. Hoffmann, [Art.] „Günter Eich“, Anm. 1. 41 Vgl. Gu, Anthologien, S. 217f. bzw. oben, Anm. 37. 42 Der Begriff jushi kann auch „zurückgezogener Gelehrter“ bedeuten, Kubin übersetzt „der Privatier vom Osthang“ (Wolfgang Kubin, Geschichte der chinesischen Literatur, Bd. 1: Die chinesische Dichtkunst: Von den Anfängen bis zum Ende der Kaiserzeit. München 2002, S. 276).
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ist bis heute entsprechend unter dem Namen Su Dongpo bekannt. Verweise auf das Grundstück und den Namen finden sich in zahlreichen Gedichten des Autors, es gibt unter anderem eine nach dem „östlichen Abhang“ benannte Gedichtgruppe. Keines dieser Gedichte lässt sich aber zu einem der deutschen Texte in Bezug setzen. Die wenigen anderen Personen- und Ortsnamen, die vorkommen, bieten kaum wirkliche Anhaltspunkte für eine Zuordnung der Texte. Es gibt intertextuelle Verweise auf Qu Yuan (hier „Kiü-Yüan“) und das Shijing („Schi King“) (GW 4, S. 436). Qu Yuan wird in der chinesischen Dichtungstradition immer wieder aufgerufen.43 Das Shijing, das Buch der Lieder, ist wiederum ein intertextueller Grundbezugspunkt der gesamten chinesischen Dichtungstradition. Von der „Verbannung“ (GW 4, S. 438) ist die Rede und von Klosterbesuchen (vgl. GW 4, S. 439), was zu Su Dongpos Biographie passt, aber eben kein Alleinstellungsmerkmal ist, da diese Motive und Topoi sich durch die gesamte klassische Lyrik ziehen. Schließlich wäre in Erwägung zu ziehen, dass es keine Originale gibt, mindestens nicht im engeren Sinne konkret fassbarer Einzeltexte. Ob die Texte dann als Pseudoübersetzungen einzustufen wären44 bzw. ob sie mit dieser Kategorie hinlänglich charakterisiert wären, bliebe zu diskutieren. Gideon Toury sieht mehrere zentrale Funktionen von Pseudoübersetzungen, die teilweise auch schon in anderen Kapiteln dieser Arbeit begegnet sind: Sie könnten Experimentiermöglichkeiten eröffnen – wie beispielsweise bei Judith Gautier –45 und das Einführen ästhetischer Neuerungen erleichtern. Einzelnen Autoren böten sie gerade in Umbruchsphasen die Möglichkeit, sich von Erwartungen zu lösen, und schließlich seien sie auch ein Mittel zur Umgehung von Zensur.46 Die letzten beiden Dimensionen waren beispielsweise bei der Diskussion der Klabund’schen Texte erkennbar, auch wenn diese sicherlich nur teilweise als Pseudo-Übersetzungen einzustufen wären. Zentral ist in diesem Sinne vielleicht weniger die Frage, ob es überhaupt noch einen zuordenbaren Originaltext gibt, als vielmehr das gezielte Herunterspielen eigener (Mit-)Autorschaft, Strategien, wie sie sich ähnlich auch in Fällen von Herausgeberfiktionen finden. So hat vor wenigen Jahren etwa Jan Wagner gezeigt, wie das Spiel mit Dichteridentitäten ein hohes kreatives Potenzial generieren kann. Im Zuge der Ausarbeitung von fiktiven Dichtervitae und der
|| 43 Qu Yuans zentrale Rolle im kulturellen Gedächtnis Chinas wurde in Kapitel 4 bereits angesprochen. 44 Zum Konzept der Pseudoübersetzung vgl. Toury, Descriptive Translation Studies, S. 48–53. 45 Vgl. zu Gautiers Pseudo-Übersetzungen Yu, „Judith Gautier“, v.a. S. 263, S. 264–266, S. 273– 278. 46 Vgl. Toury, Descriptive Translation Studies, S. 49–52.
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Erfindung der angeblich von ihm edierten Texte erschrieb er sich höchst divergierende Dichtungsstile. Dass diese Technik der Distanzierung vom eigenen Autor-Ich letztlich gerade zu diesem zurückführen kann, wäre eine Hypothese, die sicher auch im Blick auf Eich eine genauere Prüfung lohnte: Es ließe sich dann, so Wagner, „fragen, ob nicht die unauthentischsten Gedichte dem Persönlichsten am nächsten kommen können, ob nicht erst das Versteck, die Maskerade, es erlaubt, ans Innerste zu rühren.“47 Und nicht nur für ästhetische Innovationen kann das Herunterspielen eigener Autorschaft förderlich sein, sondern durchaus auch für das Gegenteil, für den Rückgriff auf Überholtes, für eine Retraditionalisierung. In beiden Fällen wird gewissermaßen der eigene Zeithorizont außer Kraft gesetzt. Eine solche Strategie scheint beispielsweise Hermann Kasack in seinen 1955 erschienenen Gedichten Aus dem chinesischen Bilderbuch zu verfolgen, die zwar wiederum nicht als Übertragungen gekennzeichnet werden, sich aber ‚chinesisch‘ gerieren bzw. chinesische Dichterfiguren sprechen lassen: In der Kombination eines stark an Goethes „Chinesisch-deutsche Jahres- und Tageszeiten“ angelehnten Stils mit einzelnen Versatzstücken chinesischer Lyrik und chinesischen Motiven48 werden die Gedichte im „Spiel der Welt“,49 losgelöst von jeglichen Nachkriegsdebatten, in eine ästhetische Zeitlosigkeit versetzt. Im Wechselgesang mit einer Geliebten, Aliang,50 lässt Hermann Kasack beispielsweise Du Fu auftreten und noch einmal die im eigenen Kontext äußerst fragwürdig gewordene weltschöpfende Kraft der Dichtung beschwören:
|| 47 Jan Wagner, „Der Poet als Maskenball. Über imaginäre Dichter“, in: Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften und der Literatur (2014), S. 3–19, hier S. 17f. 48 Vgl. Wei, Zhongguo, S. 526f.; Hae-in Wang, Ostasiatische Anschauungen in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung von Alfred Döblin und Hermann Kasack. Bonn 1979, S. 108. 49 So im Einleitungsgedicht „Heiterer Sinn“ in: Hermann Kasack, Aus dem chinesischen Bilderbuch. Frankfurt a.M. 1955, S. 7. 50 Aliang 阿良 war die Tochter des Qing-Dichters Yuan Mei 袁枚 (1716–1796), vgl. Wang, Ostasiatische Anschauungen, S. 109. Der Dichter hatte nach ihrem Tod das Gedicht „Weinen um A Liang“ (哭阿良) geschrieben. Kasack dürfte auf den Namen in Oskar Loerkes Gedicht „Aliang“ aus dem Band Die heimliche Stadt (1921) gestoßen sein (Oskar Loerke, Sämtliche Gedichte, hg. von Uwe Pörksen und Wolfgang Menzel. Göttingen 2010, Bd. 1, S. 318) Allerdings starb Aliang fünfjährig, von dem Tang-Dichter Du Fu trennte sie ein knappes Jahrtausend. Kasack arbeitet nicht mit tatsächlichen biographischen Informationen, sondern wählt offensichtlich einfach einen mit der chinesischen Lyrik in Verbindung stehenden Frauennamen, um dann das Idealbild der Geliebten zu imaginieren, ebenso wie „Tu-Fu“ hier zwar von der Aura des chinesischen Dichters zehrt, der Text aber weder auf sein Werk noch auf seine Biographie konkreter referiert.
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A-liang: Mich in Dichters Sinn zu senken, Wird mir Leben doppelt schenken. Augenblick schwebt unvergangen, Hält ihn Echoglück gefangen. Tu-Fu: Liebe weiß zu offenbaren, Geist das Seiende zu wahren. Was bestimmt des Weges Richtung? Wahrheit schenkt allein uns Dichtung.51
Der vierhebige Trochäus, der weitgehende Verzicht auf Artikel, die asyndetische Reihung knapper, teils philosophisch-sentenzhafter Parataxen ist eine Art Echo auf Goethe.52 In scheinbar ungebrochener Zuversicht wird noch einmal die Dichtung zur Autorität über die ‚großen‘ Konzepte der menschlichen Existenz – „Liebe“, „Geist“, „das Seiende“, „Wahrheit“ – berufen, mit einer Schlusssentenz, die wiederum an Hölderlins „Was bleibet aber, stiften die Dichter“ gemahnt.53 Auf diese Vorstellung konnte Eich in „Latrine“ nur noch höchst gebrochen Rekurs nehmen. Kasack dagegen ruft gegen alle zeit- und literaturgeschichtlichen Vorbehalte in der (fiktiven) Person des klassischen chinesischen Dichters diese Sonderstellung der Dichtung wieder auf.54 Der Rückgriff auf einen vorgeblich übersetzenden oder edierenden Modus oder auch auf fremde Dichterviten kann damit gerade in historischen Umbruchskonstellationen und biographischen Wendepunkten neue Möglichkeiten der Distanzierung und Wiederannäherung an eigene Kontexte bieten. Identitätswechsel und die Schaffung von Außenperspektiven auf die eigene Persönlichkeit spielen in Eichs Hörspielen der Zeit durchaus eine zentrale Rolle, man denke an Der Tiger Jussuf (1952) oder Die Andere und Ich (1952). Und noch im Spätwerk bezeichnet
|| 51 Im Gedicht „Wechselruf“ in: Kasack, Bilderbuch. 52 Vgl. bspw. „Hoffnung breitet lichte Schleier / Nebelhaft vor unsern Blick: / Wunscherfüllung, Sonnenfeier, / Wolkenteilung bringʼ uns Glück.“ oder „Dämmrung senkte sich von oben, / Schon ist alle Nähe fern; / Doch zuerst emporgehoben / Holden Lichts der Abendstern!“ (Johann Wolfgang Goethe, Gedichte 1800–1832, hg. von Karl Eibl. Frankfurt a.M. 1998, S. 696f.). 53 Siehe oben, Anm. 24. 54 Was für Kasacks Band noch weiter zu bedenken wäre, hier aber im Detail nicht ausgeführt werden kann, ist das Verhältnis der Texte zu den Zeichnungen Caspar Nehers, die mindestens in einem gewissen Spannungsverhältnis zu den Texten stehen. Die (nicht-chinesischen) Figuren, die Neher zeichnet, wirken gelegentlich unheimlich, wie Totenfiguren, mit starrem Blick; das häufige Fehlen von Teilen der Gesichtszüge lässt sie gar verstümmelt erscheinen. Vgl. insbesondere Kasack, Bilderbuch, S. 16.
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Eich den Dichter Nikolaus Lenau humorvoll ausgerechnet als „berühmte[n] chinesischen Dichter der Sung-Dynastie“ (GW 1, S. 412). In dieser scheinbar unsinnigen Zuordnung könnte man gar einen retrospektiven Verweis auf frühere Spiele mit Dichteridentitäten und -zuordnungen sehen.55 Denkbar wäre also, dass Eich trotz der philologischen Akribie, die er bei den späteren chinesischen Gedichten an den Tag legt, in den Gedichten in Sinn und Form Texte, die man noch in einem intertextuellen Verhältnis zur chinesischen Dichtung sehen kann, dem Song-Autor zuschreibt, um sich selbst, so die These, gewisse Freiräume zu schaffen, die es gerade in der historischen und biographischen Entkontextualisierung gestatten, der persönlichen und schriftstellerischen Neuorientierung und ihren Unsicherheiten in der frühen Nachkriegszeit Ausdruck zu verleihen. Mit Su Dongpo wählte sich Eich eine der schillerndsten Figuren der chinesischen Literatur-, Geistes- und Politikgeschichte als Bezugsfigur.56 Wolfgang Kubin bezeichnet ihn als „Chamäleon“.57 Als einer der scharfsinnigsten und ausdrucksstärksten Männer der Song-Dynastie, mit herausragenden Ergebnissen in den imperialen Examina, galt er zunächst als aussichtsreicher Kandidat für höchste Regierungsämter. Schnell jedoch geriet Su Dongpo aufgrund seines Widerstands gegen die Ausrichtung der Reformen der Regierung von Kaiser Shenzong und seinem Minister Wang Anshi politisch ins Hintertreffen. Über Jahre erhielt er diverse Posten außerhalb der Hauptstadt und konnte sich in seinen Gedichten der Kritik an der Reformgruppe um Wang Anshi nicht enthalten. Nach mehreren kleineren Ränkespielen wurde Su Dongpo 1079 schließlich verhaftet und musste sich im berüchtigten ‚Dichtungsprozess der Rabenterrasse‘ (乌台诗案) für eine Vielzahl kritischer Texte verantworten und die Ziele seiner satirischen Bemerkungen explizieren. Nach vier Monaten wurde Su Dongpo, der anscheinend nicht mehr damit gerechnet hatte, mit dem Leben davonzukommen, begnadigt und ins Exil nach Huangzhou geschickt, wo er nur mehr einen nominellen Posten bekleidete. Nach dem Tod von Shenzong und der Übernahme der Regentschaft durch dessen Mutter gelangten die Reformgegner wieder an die Macht. Su Dongpo wurde zu-
|| 55 Cheie, die der Frage der Quellen nicht nachgeht, sieht in einigen Gedichten Reminiszenzen an „Lenaus herbstliche Melancholie“ („Im Steingarten“, S. 173), ich würde die Stelle humorvoller lesen. 56 Eine hervorragende Einführung in Su Dongpos Wirken in den verschiedensten Bereichen bietet Egan, Word. 57 Kubin, Dichtkunst, S. 265.
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rückberufen, eckte aber im Laufe der kommenden Jahre mit eigenwilligen Vorschlägen politisch erneut an. Als der neue Kaiser Zhezong (宋哲宗) mit Erreichen der Volljährigkeit die Regierungsgeschäfte übernahm und die alte Reformgruppe rehabilitierte, waren weitere Auseinandersetzungen und Anklagen sowie schließlich eine erneute Degradierung und Verbannung beinahe unvermeidlich. Politische Kämpfe und Frustrationen und die daraus resultierenden Konsequenzen, Heimatverlust etc., sind dem Werk Su Dongpos eingeschrieben. Es ist zugleich eines der vielseitigsten Werke der chinesischen Literaturgeschichte. Insgesamt sind mindestens 5000 Gedichttexte unterschiedlichster Art überliefert. Thematisch umspannt dieses Werk eine Vielzahl politischer, sozialer, persönlicher und philosophischer Themen, so dass es nicht verwunderlich ist, dass Brecht sich ebenso für ihn interessierte wie Eich. Su Dongpo war einerseits ein Meister der traditionellen Shi-Dichtung und verfasste einige bis heute kanonische Fu-Texte (eine Art Prosagedicht), andererseits gilt er gemeinhin als einer der zentralen Erneuerer des ursprünglich als anstößig geltenden Ci-Genres, von dem schon im Kontext der Dichtung Mao Zedongs die Rede war.58 Wenn sich auch eine gewisse thematische Spannweite schon bei einigen früheren Autoren zeigt, ist es Su Dongpo, der der Ci-Dichtung durch eine weite thematische Öffnung – „sublime and transcendental […] or cold and eerie […] or heroic and tragic […] or delicate and dreamlike […] or lively and gay […]“59 – und durch ein gezieltes Wechselspiel mit der anerkannten Shi-Dichtung eine größere Respektabilität verlieh60 und in den Texten eine Dreifachperspektive eröffnete: „personal, historical, cosmic“.61 Die Ci mit ihren distinkter gezeichneten Sprecherfiguren und ihrer freieren Struktur, die auch unerwartete Wendungen zulässt,62 erlauben zudem eine persönlichere Perspektive, ihnen wird ein ausgeprägterer Freiraum zugestanden, der im Kontext der chinesischen
|| 58 Für eine knappe Einführung in das Genre siehe Pauline Yu, „Introduction“, in: Dies. (Hg.), Voices of the Song Lyric in China. Berkeley/Los Angeles/Oxford 1993. S. ix–xxi. 59 James J. Y. Liu, Major Lyricists of the Northern Sung. A.D. 960–1126. Princeton 1971, S. 154. 60 Vgl. dazu weiter auch Kang-i Sun Chang, The Evolution of Chinese Tzʼu Poetry: From Late Tang to Northern Sung. Princeton 1980, S. 158–170; Shuen-fu Lin, „The Formation of a Distinct Generic Identity for Tz’u”, in: Yu (Hg.), Voices, S. 3–29, hier S. 22–26. 61 Liu, Major Lyricists, S. 155. Su Dongpos thematische Öffnung wird von manchen Kritikern durchaus aber auch als dem Genre ungeeignet verworfen, vgl. z.B. Miao Yüeh, „The Chinese Lyric“, übers. von John Minford, in: Stephen C. Soong (Hg.), Song without Music: Chinese Tzʼu Poetry (Rendition Books). Hongkong 1980, S. 25–44, hier S. 33. 62 Vgl. ebd., S. 16; Egan, Word, S. 336.
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Beamtenwelt nicht zuletzt mit einer eskapistischen Geste assoziiert ist: „They represented a voice of individual sensibility in a world that left little room for it.“63 Das Ci bietet sich somit auch mehr für (scheinbar) spontane Gefühlsäußerungen und gedankliche Assoziationen an.64 Gerade Su Dongpo ist bekannt dafür, durch autobiographische Referenzen und Kontextualisierungen – trotz bzw. im Wechselspiel mit diversen Rollenspielen65 –den ‚autobiographischen Modus‘ des Genres zur vollen Ausprägung gebracht zu haben.66 Su Dongpos Experimentieren mit diesem Genre, nachdem er längst als Shi-Dichter anerkannt war, dürfte verschiedenen Gründen geschuldet sein: einem Interesse für die spezifischen sprachlichen und rhythmischen Möglichkeiten dieser ursprünglich musikalischen Gattung, einem experimentellen Freiraum zum Entwurf der dichterischen Persönlichkeit bzw. der lyrischen Verarbeitung biographischer Erfahrung, ebenso aber der weniger ausgeprägten politischen Brisanz dieser ‚inoffizielleren‘ Art zu schreiben.67 Eich ordnete die ‚Übersetzungen‘ also genau einem Autor zu, der sich immer wieder über verschiedenste Rollenentwürfe dem Autobiographischen näherte, aber damit spielte und sich lyrische Freiräume jenseits des ‚Offiziellen‘ erarbeitete. Eine zentrale Frage, die Su Dongpo ebenso wie Eich umtrieb, war die nach dem wahren Wesen der Dinge hinter ihrer sinnlichen Erscheinung und sprachlichen Benennung, nach dem (in jeweils unterschiedlichen Kontexten) fragwürdig gewordenen Verhältnis von Ich und Welt.68 In der Einleitung wurde schon auf die in Eichs Lyrik des Ostens enthaltene Übersetzung „Ich sehe auf nächtlicher Fahrt die Sterne“ eingegangen, in der der Übersetzer mit dem Dichter über die Unerreichbarkeit des Kosmos – und möglicherweise mit Hintergedanken über die im Übersetzen nur partiell zu überbrückende Kommunikationsdistanz – sinniert. || 63 Stephen Owen, Just a Song. Chinese Lyrics from the Eleventh and Early Twelfth Centuries (Harvard-Yenching Institute Monograph Series 114). Cambridge, MA/London 2019, S. 2f., Zitat S. 3; vgl. auch Lin, „The Formation“ S. 18 sowie Stuart H. Sargent, „Contexts of the Song Lyric in Sung Times: Communication Technology, Social Change, Morality“, in: Yu (Hg.), Voices, S. 226–256, hier S. 226 und Egan, Word, S. 327; Kubin, Geschichte, S. 281. 64 Vgl. Egan, Word, S. 336; Stephen Owen, „Meaning the Words: The Genuine as a Value in the Tradition of the Song Lyric“, in: Yu (Hg.), Voices, S. 30–69. 65 Vgl. Owen, Just a Song, S. 211; Michael A. Fuller, The Road to East Slope. The Development of Su Shi’s Poetic Voice. Stanford 1990, S. 121. 66 Vgl. Owen, Just a Song, S. 225; ders., „Meaning“, v.a. S. 45; Egan, Word, S. 315, S. 326 sowie Lin, „Formation“, S. 23. 67 Vgl. Fuller, Road, S. 174f.; Chang, Evolution, S. 170; Ronald C. Egan, „The Problem of the Repute of Tzʼu During the Northern Sung“, in: Yu (Hg.), Voices, S. 191–225, hier S. 216; ders., Word, S. 326; Kubin, Geschichte, S. 281f. 68 Vgl. ebd., S. 268f.
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Ein weiteres Motiv, das in der Dichtung beider auf verschiedenste Weise variiert wird, ist zudem das des Wassers und seiner Naturgewalt. In „Der Anfang kühlerer Tage“ aus Eichs ersten Gedichten gilt der Fluss noch als Naturgewalt, die den Menschen in den Naturbereich einverleibt, ihn vereinigt mit dem Kosmos: „Im Fenster wächst uns klein der Herbst entgegen, / man ist von Fluß und Sternen überschwemmt“ (GW 1, S. 12). In dem unveröffentlichten, in der Datierung unsicheren (vgl. GW 4, 521) Gedicht „Wilhering“ ist das Ich einbezogen in einen alles umfassenden Fluss, der die Welt selbst, auf einer poetologischen Ebene aber auch das Gedicht und den Dichter einbegreift. Ackerland und der Beginn des Waldes, nichts von allem wäre fremd, aber ohne Pause rauscht das Wasser, Fluß, der Adern und Gedanken überschwemmt. (GW 1, S. 267)
Das Motiv des Wassers, oft im Kontrast zum Land, und insbesondere das Wechselverhältnis von Permanenz und Bewegung sind zugleich zentrale Topoi in Su Dongpos Dichtung.69 „Der Große Fluß [Jangtse] fließt ostwärts, / die Wellen waschen / tausend Jahre herausragender Persönlichkeiten davon“ (大江东去,浪淘 尽,千古风流人物。), beginnt Su Dongpos bekanntestes Ci, „Gedanken über die Vergangenheit an der Roten Klippe“ (念奴娇·赤壁怀古).70 Er setzt damit die Naturgewalt des Wassers der Vergänglichkeit der menschlichen Geschichte entgegen. Nicht zuletzt sein eigenes Werkideal beschreibt er unter Rückgriff auf die Wassermetaphorik als zugleich mächtig, dynamisch und flexibel, wie „zehntausend hu [Maßeinheit, ca. 50 l] Quellwasser“: In der Ebene strömt es mächtig dahin und es legt ohne Schwierigkeiten an einem einzigen Tag tausend li zurück. Wenn es sich um Berge und Felsblöcke windet, so gestaltet es sich ständig im Einklang mit den Dingen, ohne es wissen zu können. Was ich wissen kann, ist, daß es dorthin fließt, wo es hinfließen muß, und immer dort halt macht, wo es nicht umhin kann, halt zu machen.71
|| 69 Vgl. Vincent Yang, Nature and Self. A Study of the Poetry of Su Dongpo with Comparisons to the Poetry of William Wordsworth (American University Studies, Series III: Comparative Literature 28). New York u.a. 1989, S. 95, S. 149; Kubin, Geschichte, S. 279f.; Kathleen M. Tomlonovic, Poetry of Exile and Return: A Study of Su Shi (1037–1101). Diss. Washington 1989, S. 490. 70 Su Shi 苏轼, Dongpo ci 东坡词 (Ci des Dongpo), digitale Edition der Datenbank China Ancient Books 中国基本古籍库, S. 38. Mao Zedong kam auf das Ci zurück, vgl. das Kapitel zu Maos Lyrik. 71 So die Übersetzung der Passage durch Rainald Simon („‚…wie zehntausend hu Quellwasser.‘ Literarisches Ornament und Neue Natürlichkeit im frühen Kunstlied des Su Tung-p’o“, in: Ro-
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In „Zu Beginn des Jahres“,72 dem einen Sinn-und-Form-Text, für den eine Quelle nachgewiesen wurde, betrachtet das Ich die anwachsenden Wassermassen und die abendlichen Feuer am Fluss, die ihm allein eine Linderung seiner Einsamkeit zu versprechen scheinen: Der achte Tag ergraut in Regen, seit zwei Wochen trauert der Frühling so. Du siehst nur Wasser strömen, siehst, daß die Felder grün werden, […] Ich fühle mich verlassen, nur eines liebe ich hier: abends die Feuer am Fluß. (GW 4, S. 435f.)
In „Besuch des Jinshan-Klosters“ (游金山寺) kombiniert Su Dongpo das Bild der Fluten mit dem Motiv eines unerklärlichen Lichtes, dessen Deutung dem Ich nicht gelingt, hier mit der Andeutung, dass diese Lichtquelle die Welt der Lebenden überschreiten könnte: Inmitten des Flusses schienen Fackeln hell aufzuleuchten, ihr aufsteigender Lichtschein beleuchtete den Berg, schlafende Raben schreckten auf, Betrübt ging ich schlafen, weil ich nicht herausbekam, was schließlich dies war, wenn es weder von Geister- noch von Menschenhand stammte.73
Diese Kombination aus Wasser- und Feuer-/Lichtmetaphorik und das Motiv der unerklärlichen Lichtquelle sind dann auch zentral in einer der angeblichen Übersetzungen:
Blick über den dunklen Fluß Die Lampe, die spät noch brennt, ich kenne sie von vielen Abenden, wo ich hinübersah ans andere Ufer.
|| derich Ptak/Siegfried Englert [Hg.], Ganz allmählich. Aufsätze zur ostasiatischen Literatur, insbesondere zur chinesischen Lyrik. Festschrift für Günther Debon aus Anlaß seiner Emeritierung und seines 65. Geburtstages [Heidelberger Bibliotheksschriften 23]. Heidelberg 1986, S. 260–269, hier S. 265). Vgl. Su Shi 苏轼, Su Shi xuan ji 苏轼选集, hg. von Wang Yongzhao 王永照. Shanghai 1984, S. 421f.). 72 Vgl. Kraushaar, „In anderen Sprachen“, S. 244. 73 Hier in der Übersetzung Rainald Simons: Die frühen Lieder des Su Dong-po. Übersetzung, Kommentar, Interpretation mit vergleichenden Exkursen zur Form des traditionellen Gedichts (Frankfurter China-Studien 1). Frankfurt a.M. 1985, S. 101. Simon übersetzt den Namen im Titel wörtlich: „Besuch des Klosters auf dem Goldberg“ (ebd.). Vgl. Su Shi, Su wen, Bd. 3, S. 23.
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Der Fluß rauscht und rauscht. Sind es Bücher und Schriftzeichen unter dem Licht? Sind es die Worte der Liebenden? Sind es die Gebärden des Kummers oder der Freude? Der Fluß rauscht weiter unter den Sternen. Wie die Insekten, die um die Lampe schwirren, ergreift mich die Begierde nach diesem Licht, die sinnlose Begierde, darin zu verbrennen. Und es steigt und steigt die Flut des Flußes. (GW 4, S. 437f.)
Die Nennung der „vielen Abende[]“ ist auffällig, ist „Verse an vielen Abenden“ doch der Titel von Eichs erstem publizierten Gedicht, und wird dort doch auch der Wunsch einer Aufhebung der Individuation, einer Zerstörung des Selbst, ausgesprochen, auch hier im Zusammenhang mit dem Bild der Insekten (s.o.). Noch dazu findet die Wendung sich beinahe wörtlich wiederholt in „Wiederaufsuchen vertrauter Orte“, einem anderen angeblich übersetzten Text: „die Winde sind mir bekannt aus vielen Abenden“ (GW 4, S. 436). Die intertextuelle Bezugsetzung zur eigenen Dichtung scheint also gewollt und betont und könnte durchaus ein Hinweis auf Eichs eigene Autorschaft sein.74 Eine einzelne Vorlage scheint für „Blick über den dunklen Fluß“ also nicht vorzuliegen, wohl aber Hinweise, dass es ein hochgradig intertextuelles Gedicht ist, welches in der intensiven dialogischen Verschränkung zwischen mehreren eigenen und fremden Texten entstanden ist, die der Begriff der „Pseudoübersetzung“ wohl auch nur begrenzt fassen würde. Auf diese Weise bietet es Möglichkeiten zur Reflexion der eigenen Dichtervergangenheit in der Konfrontation mit anderen Texten und Ich-Figurationen. „Zu Beginn des Jahres“ dürfte für „Blick über den dunklen Fluß“ einen Ausgangspunkt dargestellt haben. Es fängt die Stimmung der Einsamkeit und die ambivalente Einstellung des Ich in der Betrachtung der unkontrollierbaren Kraft des Wassers ein, die wiederum mit dem Element des Lichts/Feuers kontrastiert wird. Zusätzlich könnten dann, wie oben nahelegt, potenzielle weitere Lektüreerfahrungen von Texten Su Dongpos eingeflossen sein, die die Macht des Wassers aufrufen, seine Eigenart metapoetisch mit der Dichtung in Zusammenhang bringen oder aber es zum Hintergrund der undeutbaren, den diesseitigen irdischen Raum potentiell transzendierenden Lichterscheinung machen. Zugleich rekurriert „Blick über den dunklen Fluß“ aber auf || 74 So verwundert es nicht, dass Berbig mit Blick auf die ersten ‚Übersetzungen‘ vermerkt: „Der Nachdichtende ging auf in fremden Texten, er wurde Teil von ihnen, sie Teil von ihm.“ (ders., Rande, S. 169).
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die Ich-Konstruktionen in Eichs früher Dichtung, die einerseits explizit anzitiert wird; andererseits klingen im Wunsch der Selbstauslöschung Motive aus der frühen, nach Eichs eigener Aussage ‚verspätet expressionstischen‘ Dichtung an.75 Eich überschreitet somit klassische Übersetzungskonstellationen in dem intertextuellen Verweben verschiedenster Texte, die sich zur Reflexion einer Suchbewegung, dem frustrierten Streben nach Erkenntnis- und Deutungsmöglichkeiten, fügen: In „Blick über den dunklen Fluß“ ist das Wasser als übermächtige Naturgewalt kodiert, die das Ich nicht mehr, wie in frühen Gedichten, in sich einzubegreifen scheint, sondern von einer weiteren Erkenntnis trennt, zugleich aber die Sehnsucht nach ihr verstärkt. Das Ich scheint gleichermaßen fasziniert von der Kraft des Wassers (wie des Feuers), aber der Fluss markiert eine offensichtlich nicht überschreitbare Grenze. Für das Ich symbolisiert die Lampe eine Erkenntnis, die Lesbarkeit schriftlicher, verbaler oder nonverbaler Zeichen, deren Existenz der Sprecher nur imaginieren kann. Licht und Feuer sind verbunden mit menschlichem Ausdrucksstreben, ihnen wird aber eine „dunkle[]“, unkontrollierbare Macht entgegengesetzt. Nicht zuletzt rufen der dunkle Fluss und das Bild des anderen Ufers Vorstellungen des Styx auf, verschränken also wiederum Chinesisches und Europäisches. Dazu fügt sich der Wunsch des Ich in der letzten Strophe, in der eigenen Selbstzerstörung einzugehen in das Licht als Erkenntnisquelle (ein Motiv übrigens, das so nicht Teil der chinesischen Dichtung ist); in dieser zerstörerischen Dimension sind Feuer und Wasser schließlich wieder angenähert. Aber die Hoffnung auf eine wirkliche Aufhebung des Individuationszustandes ist in „Blick über den dunklen Fluß“ nicht mehr gegeben, der selbstzerstörerische Drang wird als „sinnlos[]“ bezeichnet; die Überwindung der Naturkraft ist nicht möglich. Feuer/Licht und Wasser stehen als die beiden großen Naturgewalten, die letztlich beide für das Ich unzugänglich oder unüberwindbar bleiben. Kommunikationsversprechen und Todesdrohung sind in beiden enthalten. Wer der Urheber der semiotischen Kommunikation der Zeichen und Schriftzeichen ist (bzw. ob es solch eine Instanz tatsächlich gibt), ist unklar, der interrogative Satzmodus lässt offen, ob überhaupt ein Kommunikationspartner vorhanden ist. Zugleich scheint der Fluss seine eigene ‚Natursprache‘ zu entfalten, die sich als mächtiger und suggestiver erweist als die Sprache des Ich und auch an Su Dongpos Beschwörung der Wasserkraft als Bild einer kraftvollen Dichtungssprache denken lässt: Die Wiederholungen in den Fragen des Ich (vgl. die Epiphern in V. 5–7) und die des Begriffs „Begierde“ (V. 10f.) wirken unruhig, insistierend, aber verweisen || 75 In einem Gespräch von 1965 äußerte Eich die (ironische?) Selbsteinschätzung, er habe als „verspäteter Expressionist und Naturlyriker begonnen“ (GW 4, S. 503).
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schon auf das Scheitern des Deutungs- und Kommunikationsstrebens. Dagegen betonen die refrainartige Wiederholung des Wassermotivs am Ende jeder Strophe, unterstrichen durch weitere Repetitionsstrukturen – polysyndetisch verknüpfte Wortwiederholungen wie in V. 4 und V. 12 und Assonanzen wie in „Flut des Flußes“ (V. 12) –, und die von Strophe zu Strophe gesteigerte Rhythmik die Konstanz der Naturmacht, die für das Ich diffuse, aber in ihrer Faszinationskraft ungebrochene Melodik. In „Botschaften des Regens“ wird Eich, wie wir gesehen haben, diese Macht der Rhythmik des Wassers wieder aufrufen, erneut im Zusammenhang mit einem obsessiven Deutungsstreben, das das Schuldbewusstsein des Ich bloßlegt. In „Blick über den dunklen Fluß“ wird damit schon ein gewandeltes Verhältnis zur ‚Natursprache‘ deutlich, das Eich in den beiden Gedichtsammlungen von 1951 und 1952 weiter reflektieren sollte. Die ‚Sprache‘ wirkt fort, entfaltet ihre ungebrochene Dynamik, aber die dichterische Kommunikation befindet sich nicht mehr im „Einklang mit den Dingen, ohne es wissen zu können“.76 Sie bleibt vielmehr in der Konfrontation mit dem Tod und den Grenzen des eigenen Bewusstseins in ihrer Kommunikationsfähigkeit eingeschränkt. Ein ‚Über-Setzen‘ im doppelten Sinne ist nicht möglich.77 Das Gedicht lässt sich damit nicht zuletzt metapoetisch als Reflexion einer Dichtung als Übersetzung lesen, einer sich entziehenden Kommunikation – sowohl zwischen den Sprachen im wörtlichen Sinne als auch zwischen der menschlichen Sprache und anderen Artikulationen und der ‚Sprache‘ der Natur. Tod, Vergänglichkeit und Altern und die teils damit verbundene, teils aber wohl aus grundsätzlicheren Vorbehalten hervorgehende Infragestellung der Möglichkeiten der Dichtung sind die zentralen Themen, um die die kleine Sammlung Eichs kreist. In teilweise wörtlicher Übereinstimmung mit dem obigen Gedicht heißt es in „Der Herbst“: „Denn auch das Blut ward trübe und alt / und die Worte der Liebenden / tönen nicht mehr, / es ist, als wäre auch das für immer gestorben“ (GW 4, S. 437). Hier nun scheint die Möglichkeit der Erfahrung emotionaler Bindung selbst infrage gestellt. Der Duktus ist mit Verbformen wie „ward“ archaistisch eingefärbt und deutet damit an, dass sich das Ich eher einer anderen, uneinholbaren Zeit zugehörig fühlt. Explizit wird dies ausgesprochen in „Elegie des Dichters“:
|| 76 Vgl. das Zitat Su Dongpos oben. 77 Zum Dichten als Übersetzen siehe auch Kapitel 5.3 unten. Zum Übersetzer als Fährmann, als Über-Setzer, auch hier in Zusammenhang mit dem Totenfährmann, siehe Kubin, Schatten, S. 9f.
Su Dongpo als Alter Ego Eichs? | 185
Die großen Gesänge sind vor mir gewesen, Schi King und Kiü-Yüan. Und konnte auch ich etwas sagen, was jenen glich: ach, auch dann ist es gewesen. Gewesen, als noch das Blut den Liedern glich, […] Was mich noch bewegt, ist: das Warten auf einen schönen Herbsttag, das Betrachten der Wolken und der Landschaft und das Gedenken alles Früheren. (GW IV, S. 436)
Das Gedicht ist offen nostalgisch, bedauert die eigene epigonale Situation bzw. selbst das Scheitern einer epigonalen Dichtung. Wieder ist vom „Blut“ die Rede, Körperlichkeit und Dichtung werden parallelisiert. Das Ich mag noch Freude am passiven Rezipieren des Schönen haben, zur aktiven Hervorbringung desselben sieht es sich – freilich im Widerspruch zum Zustandekommen des Gedichts selbst – nicht mehr in der Lage. Die Pose des an sich und den eigenen Dichtungsmöglichkeiten zweifelnden Epigonen hätte als eigene Aussage Eichs wohl pathetisch geklungen. In der scheinbaren Vermittlung durch den chinesischen Autor erscheint sie dagegen gleichsam zeitlos, so dass durch sie hinweg die eigene dichterische Position in der Umbruchszeit thematisiert und verhandelt werden kann, der Eich zeitgleich sowohl durch den versuchten Rückgriff auf die Tradition wie durch den Versuch eines mehr oder weniger radikalen Ausbrechens aus derselben begegnet. Die ‚chinesischen‘ Gedichte stehen gewissermaßen dazwischen, offenbaren eine Verlorenheit und Orientierungslosigkeit, teils wohl ehrlicher und persönlicher als andere Gedichte der Zeit, teils aber auch im Rückgriff auf Posen und Klischees – die in den ‚Übersetzungen‘ aber durchaus zugelassen werden können. Vor allem jedoch verhandelt Eich in ihnen Modelle dichterischer Kommunikation und deren Scheitern, artikuliert damit eine Unsicherheit, die manche seiner zeitgleich publizierten Gedichte noch überspielen, die aber das Eich’sche Werk von nun an immer stärker prägen wird. Eich mag solche Zwischenräume in dieser Phase seiner Werkentwicklung gebraucht haben, um die eigene problematisch gewordene Rolle im Traditionskontext zu verhandeln, während er zeitgleich im Zusammenspiel aus stark traditionsgebundener Dichtung und Experiment die Spannung zwischen verschiedenen dichterischen Haltungen erprobte. Ein Vergleich der Biographien des chinesischen und des deutschen Dichters erscheint zwar eher problematisch, bedenkt man, dass Su Dongpo gerade aufgrund seiner offen ausgesprochenen Kritik an den sozialen und politischen Zuständen des Landes und den Strategien
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der Regierung vielfach persönliches Leid und Verlust in Kauf nehmen musste, während Eichs Haltung gegenüber dem Unrechtsregime des NS-Staates alles andere als moralisch integer war. Dennoch muss sich Eich von der Dichtung des eigenwilligen Chinesen angezogen gefühlt haben, in dessen Ausdruck von Einsamkeit, Heimatlosigkeit, in seinem Streben, eine Welt sprachlich zu deuten und zu fassen, die sich zu entziehen droht. Und nicht zuletzt dürfte ihn Su Dongpo angezogen haben als ein Dichter, der im spielerischen Umgang mit Rollenmustern und Ich-Entwürfen Freiräume der Selbstannäherung und -distanzierung schuf. Annäherung an das ‚eigene‘ Werk, an die frühe Nachkriegslyrik und Distanzierung von diesem gehen entsprechend auch in diesen scheinbaren Übersetzungen miteinander einher. Gerade dadurch kommentieren und rahmen sie das Spannungsverhältnis, das sich in seiner Dichtung dieser Jahre abzeichnet. Sie zeigen einmal mehr, dass 1945 auch in Eichs Werk keinen Bruch markiert, sondern vielmehr eine Orientierungsphase einläutet, die in verschiedenste Richtungen ausgreift.
5.3 Lyrik im Dialog: Günter Eich als Übersetzer für Lyrik des Ostens Die Arbeit an den Texten für Lyrik des Ostens zeugt im Gegensatz zu den intertextuellen Dialogen der oben behandelten Texte von einer intensiven Annäherung an konkrete Einzeltexte der chinesischen Dichtungstradition. Dennoch lässt sich erkennen, dass die Frage, in welches Verhältnis Lyrik aus der Vergangenheit zur Gegenwart gesetzt werden kann, Eich weiter beschäftigte und dass die Annäherung auch hier nicht spannungsfrei ist. Günter Eich scheint in seiner Textauswahl für die Übersetzungen in Lyrik des Ostens um eine gewisse Vielseitigkeit bemüht. Sie dürfte auch mit Gundert näher abgestimmt gewesen sein. Zudem greift Eich stark auf die zweisprachigen Sammlungen von Alfred Forke, Dichtungen der Tʼang- und Sung-Zeit (1929/1930), sowie Leopold Woitsch, Aus den Gedichten Po Chü-is (1908), zurück, übersetzt die Gedichte aber, wie schon die Studien von Wei Maoping gezeigt haben, nach dem Original, wenn auch offensichtlich unter starker Konsultation der bestehenden Übertragungen.78 Es handelt sich somit um ‚eklektische‘ Übersetzungen nach der
|| 78 Vgl. Wei, Eich und China, S. 12–19.
Lyrik im Dialog: Günter Eich als Übersetzer für Lyrik des Ostens | 187
Terminologie des Göttinger SFBs „Literarische Übersetzung“.79 Die Beispiele stammen aus der Han-, Tang- und Song-Dynastie, überspannen also die Zeit vom 3. Jh. v. Chr. bis zum 13. Jh. n. Chr., wobei vor allem die Tang-Dichter Li Bai, Du Fu und Bai Juyi sowie wiederum der Song-Dichter Su Dongpo prominent vertreten sind. Thematisch verhandeln viele der Texte Natur- und Landschaftsthemen, Heimatverlust und Abschied, Alter und Vergänglichkeit, Krieg, aber auch Liebe und Schönheit oder Wein und Geselligkeit. Der Ton ist entsprechend wahlweise kontemplativ oder klagend, aber des Öfteren auch humorvoll. Philologisches Interesse und subjektive Vorlieben dürften bei der Zusammenstellung der Gedichte gleichermaßen eine Rolle gespielt haben. Entsprechend lassen sich in den Eich’schen Übertragungen einerseits ein Bemühen um Genauigkeit in der Wiedergabe der Bildkonstellationen und das Streben nach einer gewissen formalen Strenge in Annäherung an die Originaltexte erkennen. Andererseits deuten sich subtile Verschiebungen an, die auf Eichs eigene lyrische Neuorientierung verweisen. Im Folgenden widmen wir uns zunächst einem Gedicht bzw. einer Gedichtgruppe, die von Forke unter Vorbehalt Su Dongpo zugeschrieben wird. Tatsächlich handelt es sich wohl um drei aufeinander abgestimmte Gedichte verschiedener, miteinander in Austausch stehender Autoren. Letztlich stammt nach heutiger Einschätzung nur das hier als erstes angegebene Gedicht von Su Dongpo, das zweite (eigentlich zeitlich vorangehende) von Huang Tingjian 黄庭 坚 und das dritte von Qin Guan 琴观. 80 Forke kennt diese Theorie und erwähnt sie in der Fußnote, fasst die drei Teile in jedem Fall dennoch zu einem, Su Dongpo
|| 79 Vgl. Jürgen von Stackelberg, „Eklektisches Übersetzen I. Erläutert am Beispiel einer italienischen Übersetzung von Salomon Geßners Idyllen“, in: Brigitte Schultze (Hg.), Die literarische Übersetzung. Fallstudien zu ihrer Kulturgeschichte (Göttinger Beiträge zur Internationalen Übersetzungsforschung 1). Berlin 1987, S. 54–62; und, im selben Sammelband: Wilhelm Graeber, „Eklektisches Übersetzen II. Georg Christian Wolfs ‚Mährgen von der Tonne‘ zwischen Swifts englischem Original und van Effens französischer Übersetzung“, S. 63–80. Für die literarische Übersetzungsforschung ist wichtig, zu betonen, dass es deutlich mehr gibt als Übersetzungen aus dem Original und Übersetzungen nur aus zweiter Hand. Wieviel mit der Einführung dieser Klassifikation allerdings gewonnen wird, mag dahingestellt bleiben; immerhin ist das Konsultieren bestehender Übersetzungen ein gängiges Verfahren (vgl. André Lefevere, „Translation as the Creation of Images or ‘Excuse me, is This the Same Poem?’“, in: Susan Bassnett [Hg.], Translating Literature [Essays and Studies 50]. Cambridge 1997, S. 64–79) und die Frage nach dem Grad des Einflusses wohl eher graduell als kategorial zu beantworten. 80 Vgl. Gu, Anthologien, S. 216.
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zugeordneten Text zusammen.81 Da Eich hier motivische Anknüpfungspunkte zum eigenen Werk gesehen haben dürfte, mögen ihn die drei Strophen besonders gereizt haben. Die beiden deutschen Varianten sind hier nebeneinandergestellt, damit Eichs Technik besser nachvollzogen werden kann. Vorab seien die chinesischen Gedichte zitiert: 虚飘飘, 画檐蛛结网, 银汉鹊成桥。 尘渍雨桐叶, 霜飞风柳条。 露凝残点见红日, 星曳余光横碧霄。 虚飘飘, 比浮名利犹坚牢。 虚飘飘, 花飞不到地, 虹起漫成桥。 入梦云千叠, 游空绦万条。 蜃楼百尺耸沧海, 雁字一行书绛霄。 虚飘飘, 比人身世犹坚牢。 虚飘飘, 风寒飘絮浪, 春水暖冰桥。 势缓䨥垂线, 声乾叶下条。 雨中沤点随流水, 风里彩云横碧霄。 虚飘飘, 比时富贵犹坚牢。82
|| 81 Vgl. Alfred Forke, Dichtungen der T’ang und Sung-Zeit, Bd. 1: Deutscher Text. Hamburg 1929, S. 141. Huang Tingjian und Qin Guan gehörten beide zum engen Kreis um Su Dongpo, so dass es vielfache lyrische Bezugnahmen aufeinander gibt, vgl. Owen, Just a Song, S. 247, S. 262. 82 Forke, Dichtungen, Bd. 2: Chinesischer Text, S. 73. Vereinzelt gibt es kleine Abweichungen zu anderen Ausgaben, vgl. Su Shi, Su wen, Bd. 3, S. 1072f.
Lyrik im Dialog: Günter Eich als Übersetzer für Lyrik des Ostens | 189
Ein Hauch, der verweht. (Alfred Forke) I. Ein Hauch, der verweht, Ist das Spinngewebe am buntgetäfelten Dom, Ist die Elsternbrücke am silbernen Himmelsstrom, Der Regentropfen, der spült von den Blättern den Staub, Der Reif, vom Winde geweht auf das Weidenlaub, Gefrorener Tau, der im Morgenrote zerfällt, Verbleichender Sternenglanz am dunklen Himmelszelt Ein Hauch, der verweht, Und aus festerem Stoff doch als flüchtiger Ruhm und Gewinn besteht.
Verwehendes Nichts (Günter Eich)
II. Ein Hauch, der verweht, Ist die Blüte, die fliegt und nicht den Boden erreicht, Ist der Regenbogen, der einer Brücke gleicht, Der Wolkenberg in tausend Stufen, geschaut im Traum, Altweibersommer, der tausendfädig durchfliegt den Raum, Auf grünem Meer der Luftschlösser stolzer Bau, Der Wildgansflug gezeichnet im Himmelsblau – Ein Hauch, der verweht, Und aus festerem Stoff doch als manches Menschenleben besteht.
Verwehendes Nichts: Die Blüte, die davonfliegt und den Boden nicht mehr berührt, Der Regenbogen, der wie eine Brücke sich wölbt, Im Traum geschaute Wolken übereinander geschichtet, Im leeren Raume tausendfädig Altweibersommer, Fata morgana hoch über dem grünen Meer, Schriftzeichen, von Wildgänsen in den karmesinroten Himmel geschrieben, Verwehendes Nichts Und fester doch als das Leben des Menschen.
III. Ein Hauch, der verweht, Ist der kalte Wind, der die schäumenden Wogen drängt, Ist die Frühlingsflut, die des Eises Brücke sprengt, Die Tropfen, die wie Fäden herniederwallʼn, Die Blätter, welche raschelnd vom Baume fallʼn, Ein Bläschen, das vom Strome entführt, versprüht, Ein Wölkchen rot, das im Sturm am Himmel zieht, Ein Hauch, der verweht, Und aus festerem Stoff doch als Reichtum und Ehre besteht.83
Verwehendes Nichts: Die Spinne, die am bemalten Vordach ihr Netz webt, Die Brücke über die Milchstraße, von Elstern gebaut, Die staubbefleckten Blätter des Ölbaums im Regen, Die reifbeflogenen Zweige der Weiden im Wind, Der Rest von gefrorenen Tautropfen zur Morgenröte, Verbleichendes Sternenlicht am blauen Gewölbe des Himmels, Verwehendes Nichts Und fester doch als der flüchtige Ruhm.
Verwehendes Nichts: Der Sturm, der kalt über den Schaum der Wogen dahin fährt, Ein Frühjahrsgewässer, das die Eisbrücke taut, Die zögernd wie in Fäden herabfallenden Tropfen, Der raschelnde Ton des Laubes, das niedersinkt, Die Spur der Regentropfen auf dem Wasser des Flußes. Die bunten Wolken, vom Wind getrieben am Gewölbe des Himmels – Verwehendes Nichts Und fester doch als Reichtum und Ehre. (GW 4, S. 434f.)
Unverkennbar ist, dass Eich Forkes Übersetzung konsultiert und sich in der Interpretation in vieler Hinsicht von ihr leiten lässt. Einige Formulierungen hat Eich
|| 83 Forke, Dichtungen, Bd. 1, S.141.
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wörtlich oder beinahe wörtlich übernommen, deutlich ist der Einfluss zum Beispiel in Strophe 2: „Altweibersommer, der tausendfädig durchfliegt den Raum“ bzw. „Im leeren Raume tausendfädig Altweibersommer“. Eindeutig ist aber auch, dass Eich den Originaltext studiert und eigene Übersetzungsentscheidungen getroffen hat. Grundsätzlich bemüht sich Forke darum, in der Nachbildung der liedhaften Melodik des Originals die Wiederholungsstrukturen zu bewahren und jeder Strophe durch den Reim der Verse 1, 8 und 9 einen klanglichen Rahmen zu geben, während die übrigen Verse paarweise gereimt werden. Aus diesem Reimzwang ergeben sich dann auch einige Entscheidungen für weniger wörtliche Übersetzungen, z.B. in Strophe 3, wenn bei Forke das Frühlingswasser das Eis „sprengt“, wenn im Original von nuan 暖, „erwärmen“, die Rede ist, Eichs „taut“ (jeweils V. 21) ist somit wörtlicher. Auch die missverständliche Verwendung des Begriffs „Dom“ (bei Eich „Vordach“) dürfte im Reim begründet liegen. Eich wiederum behält zwar die Strophenform und die Repetitionsmuster bei, verzichtet aber auf einen Reim. Tatsächlich ist dies eines der wenigen Gedichte der Sammlung, in denen Eich den Reim aufgibt, während er vor allem bei der Übersetzung der klassischen Shi-Gedichte, wie an einem weiteren Beispiel noch gezeigt wird, diesen durchaus einsetzt. Eich scheint hier eher an einer möglichst getreuen Nachahmung der Bilder des Flüchtigen gelegen zu sein.84 Oft nähert er die Struktur wörtlicher an als Forke, so, wenn er das xu 虚 am Anfang als „Nichts“ überträgt, während Forke eher von der lautmalerischen Dimension von xu piao piao 虚飘飘, das ein Säuseln oder Rascheln nachahmt, ausgeht und stärker auf die unstete Bewegung abhebt. Wichtig dürfte für Eich aber vor allem eine wörtlichere Übertragung der zweiten Strophe gewesen sein, in der sich im Original ein Motiv findet, das auch für die Eich’sche Dichtung zentral ist, nämlich das der Vogelschrift.85 Bei Forke wird dies gar nicht so deutlich. Eich wiederum übersetzt yanzi 雁字, die Flugbahn der Gänse, mit Blick auf seine Teilkomponenten „Wildgans“ und „Schriftzeichen“ wörtlich. Insgesamt kondensiert Eich das Gedicht durch die Häufung von Ellipsen stärker und verzichtet auf jegliche Kommentierung in Fußnoten. Forke vervollständigt die Sätze grammatikalisch und entscheidet sich tendenziell auch für aktive Verben, die die Dynamik der dargestellten
|| 84 Auch Hoffmann betont, Eich verzichte auf den Reim bei Texten, „deren Wortmaterial offenkundig keine natürlichen Reimmöglichkeiten zulässt“, vgl. ders., [Art.] „Günter Eich“. 85 Vgl. Attia, Signes, S. 114–142; zur Berührung zwischen Eichs Dichtung und diesem Gedicht vgl. auch Wei, Eich und China, S. 36f. Ob die chinesische Dichtung, in der die Formation der Wildgänse wiederholt mit Schriftzeichen verglichen wird, wirklich der Ursprung des Motivs der Vogelschrift bei Eich ist (vgl. ebd., S. 37), ist schwer zu sagen. In jedem Fall ergibt sich aus der Rekurrenz des Vogelschriftmotivs bei Eich eine Dialogizität zur chinesischen Dichtung.
Lyrik im Dialog: Günter Eich als Übersetzer für Lyrik des Ostens | 191
Prozesse, das Schwindende, Vergehende in seiner Bewegung spiegeln. Eich dagegen arbeitet mit einer sehr viel statischeren Bildkomposition, lässt vielfach die Verben aus oder setzt Partizipien der Vergangenheit, die mehr den momenthaften visuellen Eindruck auffangen, dann aber mit einzelnen aktiven Verben der Bewegung oder Präsenspartizipien in Spannung treten. Die scheinbare Perfektion des einzelnen Augenblicks in seiner visuellen Intensität und dessen tatsächlich dynamische Natur stehen hier in einem markanten Wechselverhältnis. Trotz gewisser Archaismen in der Wortwahl (wie „Altweibersommer“) und eines ausgeprägten lyrischen Pathos, das Eich dem Text belässt bzw. ihm einschreibt, scheint sich hier eine natürliche Affinität zwischen eigenem und angeeignetem Werk zu ergeben. Der Kontrast zwischen menschlicher Sphäre und Natur, die Frage der Greifbarkeit des Vergänglichen und seiner Darstellbarkeit und natürlich die (fragwürdige) Zeichenhaftigkeit der Natur sind zentrale Momente des Eichʼschen Werkes.86 Weniger als die toposhafte Beteuerung der Nichtigkeit menschlichen Ruhms und Strebens dürfte Eich hier tatsächlich wohl das Experimentieren mit Statik und Dynamik in der Bildkombination gereizt haben. Anders als in Eichs sonstiger Lyrik ist außerdem das lyrische Ich nur in der Sprecher- und Beobachterfunktion greifbar, nicht aber als betroffenes, involviertes Ich. Das Gedicht bietet damit einen etwas anderen Zugang zur Natur, die sich dem Menschen hier weder zu verschließen noch mit ihm in Kontakt zu treten scheint – ob die Schriftzeichen der Gänse für den Betrachter lesbar sind, ob sich dadurch Zugänge zur Natur eröffnen, ist, anders als in Eichs Eigenschöpfungen, nicht expliziert. Die Interaktion Mensch-Natur ist Thema eines weiteren übertragenen Gedichts nach Li Bai, bei dem sich dann aber doch wieder Vorbehalte des Übersetzers ausmachen lassen: 独坐敬亭山 (李白)
Allein auf dem Djing-Ting-Berg (Günter Eich)
众鸟高飞尽 孤云独去闲 相看两不厌 只有敬亭山87
Ein Schwarm von Vögeln, hohen Flugs entschwunden. Verwaiste Wolke, die gemach entwich. Wir beide haben keinen Überdruß empfunden, Einander anzusehn, der Berg und ich. (GW 4, S. 402)
Frank Kraushaar zitiert das Gedicht als Beispiel von Eichs virtuoser, ebenso philologisch akribischer wie literarisch überzeugender Übersetzungskunst, wenn er auch herausstellt, dass Eich am Schluss von der Vorlage abweicht, indem er das || 86 Zu Zeichenproblematik vgl. insgesamt v.a. Attia, Signes. 87 Li Bai, Li Bai ji jiao zhu, Bd. 3, S. 1354.
192 | Günter Eichs Reorientierungen in Ost und West
Ich nicht nur explizit erwähnt, sondern durch die prominente Schlussposition hervorhebt, während im Original das Verschmelzen von Ich und betrachteter Natur gerade im Verzicht auf jegliche Pronomina deutlich werde:88 „Es gibt nur den Jingting-Berg“, heißt es im Chinesischen; das betrachtende Ich ist in die Natur eingegangen und überwindet seine Ich-Wahrnehmung. Freilich spricht vieles dafür, dass es sich hier weniger um eine Schwäche der Eich’schen Übersetzung oder um eine Änderung mit Rücksicht auf europäische Leser handelt, 89 als dass das Gedicht das Spannungsverhältnis Eichs zur Tradition und zu einem Naturverständnis aufzeigt, in dem eine Verschmelzung von Ich und Natur tatsächlich möglich und sprachlich repräsentierbar scheint. Eich schreibt dem Gedicht einen Vorbehalt ein und setzt dem im Original erreichten Zustand der vollkommenen Verschmelzung ein Verlangen, eine Annäherung entgegen, die ebenso temporär wie fragil ist und nicht an einen Endpunkt gelangt: Eich ist zwar bemüht, die visuelle Struktur des Originals schrittweise nachzuvollziehen und die harmonische Regelmäßigkeit des fünfsilbigen Jueju zu spiegeln.90 Der fünfhebige Jambus mit Kreuzreim wechselnder Kadenz schafft eine harmonische Grundstruktur, die ergänzt wird durch eine Vielzahl von Assonanzen. Diese ballen sich jedoch vor allem in den ersten beiden Versen, die über das schrittweise Verschwinden anderer Elemente der belebten und unbelebten Natur einen Zustand der Leere und vollkommenen Konzentration auf die Übriggebliebenen, Sprecher und Berg, suggerieren. Die Häufung der Frikative, zum Teil identischer Lautkombinationen im An- oder Auslaut betonter Silben („Schwarm“ – „entschwunden“, „Vögeln“ – „Flugs“, „Verwaiste Wolke“, „gemach entwich“) bildet lautlich einen Zustand wechselseitigen Aufeinanderbezogenseins in der Natur ab. Demgegenüber wirkt die Explikation der Interaktion zwischen Mensch und Natur in der zweiten Hälfte des Gedichts wie der Versuch einer sprachlichrationalen Bewusstmachung eines solchen, nun das Ich einbeziehenden, Zustands, die auf dieser Ebene nicht bis zum Ende vollzogen werden kann. Auffällig ist zunächst die überzählige Hebung in Vers 3, der als einziger sechs Hebungen aufweist. Eine solche zu vermeiden wäre ein leichtes gewesen, hätte Eich doch nur das „beide“ streichen müssen. Genau dies tut er aber nicht, sondern lässt es dem zusammenschließenden Pronomen „wir“ folgen, betont also die Gemeinsamkeit des „wir“ wie die Abgegrenztheit im „beide“. Die Verwendung und Herausstellung des Pronomens der ersten Person Singular am Schluss des letzten Verses bestätigt dann noch einmal die Diskrepanz zwischen explizitem Anspruch
|| 88 Kraushaar, „In anderen Sprachen“, S. 242. Vgl. weiter Hoffmann, [Art.] „Günter Eich“. 89 Letzteres legt Kraushaar nahe, vgl. ders., „In anderen Sprachen“, S. 243. 90 Vgl. dazu auch ebd., S. 242f.
Übersetzen, Schweigen, Ironisieren: Eichs Suche nach den ‚Urtexten‘ | 193
auf absolute wechselseitige Bezogenheit und einer Realität, in der sich das Ich doch wieder auf sich selbst zurückgeworfen sieht und in der ihm der letzte Schritt verweigert ist.91 Schließlich ist auch dieser Zustand der Annäherung nur ein vorübergehender bzw. vorübergegangener: Während das Original durch die Tempuslosigkeit der Sprache ohne sonstige temporale Marker unbestimmt, bestenfalls zeitlos wirkt, setzt Eich die Verben in die Vergangenheit. Der Moment der Annäherung bleibt damit auf einen spezifischen Zeitpunkt in der Vergangenheit beschränkt und ist ausschließlich über die rekonstruierende Erinnerung zugänglich. Die Änderungen, die Eich vornimmt, sind letztlich subtil. Dennoch ist erkennbar, dass Eich sich hier, wohl durchaus bewusst, der Idealkonstruktion des Originals verweigert hat und diese vielmehr in der Annäherung, in der Vorstellung von Perfektion angedeutet lässt, die Durchführung aber als nicht realisierbar herausstellt. Die Übersetzung ruft damit einerseits einen vergangenen Text auf, schreibt ihm aber andererseits ein Moment historischer, literarhistorischer und philosophischer Distanzierung ein.
5.4 Übersetzen, Schweigen, Ironisieren: Eichs Suche nach den ‚Urtexten‘ Die Forschung hat wiederholt darauf hingewiesen, dass das Konzept ‚Übersetzen‘ in der Poetik Günter Eichs von zentraler Bedeutung ist, als Metapher für das Dichten an sich gilt: So „wird Poesie zur Hermeneutik der Welt“.92 Dass Eich dieses ‚Übersetzen‘ mit der Zeit als zunehmend problematisch ansah, ist bekannt und hat sich in den obigen Ausführungen bestätigt. Der ‚Urtext‘ gilt ihm schließlich als verloren. Je problematischer für Eich das Verhältnis von
|| 91 Dass Eich in anderen Gedichten durchaus bemüht war, das Ich-Pronomen soweit möglich zu vermeiden oder weniger herauszuheben, zeigt beispielsweise, dass er in „Nachtgedanken“ teilweise Partizipien statt aktiver Verben verwendete und die kaum vermeidbaren „Ich“-Setzungen auf die Versmitte beschränkte: „Das Haupt erhoben schau ich auf zum Monde, / Das Haupt geneigt denk ich des Heimatdorfs“ (GW 4, S. 402, vgl. Sekiguchi, „Asien-Rezeption“, n. pag., Xue, Möglichkeiten, S. 110; Wei, Eich und China, S. 21). Eich setzt also Subjektlosigkeit bzw. eine tendenzielle Vermeidung des Subjekts durchaus gezielt ein, scheint aber nicht immer bereit, diese mit ihren vollen Implikationen im deutschen Gedicht zu realisieren. 92 Neumann, „Günter Eich“, S. 238. Vgl. weiter Attia, Signes, S. 157–173, S. 197; Hoffmann, [Art.] „Günter Eich“; Peter Horst Neumann, „Translatio. Transgressio. Günter Eichs Poetik des Übersetzens von Nicht-Übersetzbarem“, in: Ulrich Stadler (Hg.), Zwiesprache. Theorie und Geschichte des Übersetzens. Stuttgart/Weimar 1996, S. 314–319.
194 | Günter Eichs Reorientierungen in Ost und West
Ich und Welt wird, je mehr jegliche Kommunikationsmöglichkeit infrage gestellt wird und damit auch die Vorstellung, man könne in der Sprache einen „Abglanz“ der magischen Sprache der Schöpfung bewahren,93 bis das ‚Einverständnis‘ mit der Welt schließlich gänzlich aufgekündigt wird (vgl. GW 4, S. 415),94 desto mehr schreibt sich der Lyrik selbst auch schon ihr kommunikatives Scheitern ein. „Nicht geführte Gespräche“ lautet so auch der Titel eines Gedichts aus Zu den Akten (1964), das Peter Huchel gewidmet ist: Wir bescheidenen Übersetzer, etwa von Fahrplänen, Haarfarbe, Wolkenbildung was sollen wir denen sagen, die einverstanden sind und die Urtexte lesen? (So las einer aus Eulenspiegels Büchern die Haferkörner) Vor soviel Zuversicht bleibt unsere Trauer windig, mit Regen vermischt, deckt die Dächer ab, fällt über jedes Lächeln, nicht heilbar. (GW 1, S. 105f.)
Der Zugang zum ‚Urtext‘ der Welt erweist sich als Illusion, genauso wie die Lesekünste von Eulenspiegels Esel.95 An der Vorstellung des Übersetzens wird bei aller Einsicht in die Banalität des eigenen Schaffens – die Zusammenstellung „Fahrpläne[…], / Haarfarbe, Wolkenbildung“ spricht für sich – dennoch festgehalten, mit einer gewissen Verzweiflung, die dem Optimismus der augenscheinlich Lesenden zunächst unterlegen scheint, dann aber ein enormes destruktives Potenzial entwickelt, vergleichbar wohl demjenigen, das Eich seinen zeitgleich entstehenden ‚Maulwürfen‘ zuschreibt: „Meine Maulwürfe sind schädlich, man soll sich keine Illusionen machen. Über ihren Gängen sterben die Gräser ab, sie
|| 93 Siehe die „Rede vor den Kriegsblinden“ 1953 (GW 4, S. 612). 94 Vgl. auch weiter ein Interview Eichs: Peter Coreth, „Die etablierte Schöpfung. Gespräch mit Günter Eich“, in: Heinz Ludwig Arnold (Hg.), Günter Eich (Text und Kritik 5). München 1971, S. 3f., hier S. 3. 95 Vgl. beispielsweise auch das Hörspiel Der Tiger Jussuf, in dem eine ähnliche Problematik explizit ausgesprochen wird: „Aber wahrscheinlich weißt du nicht, daß jede Vorführung ein Dialog ist, ein stummer Dialog, wenn man es so sagen darf, ein Dialog, von dem selbst die Beteiligten nur selten etwas wissen, in einer Sprache geführt, die es nicht gibt. Man kann diese Dialoge allenfalls übersetzen, was einerseits schwierig ist, da das Original fehlt, andererseits die Unvollkommenheit aller Übersetzungen nachweist.“ (GW 2, S. 682).
Übersetzen, Schweigen, Ironisieren: Eichs Suche nach den ‚Urtexten‘ | 195
machen es freilich nur deutlicher.“ (GW 4, S. 302). Die „Rettung der Poesie im Unsinn“96 und eine gewisse ostentative Verweigerung bleiben Eichs letzter Ausweg,97 das Aufspüren von innersprachlichen und damit zusammenhängenden weltlichen Verbindungen zwischen Wörtern und deren permanente Hintergehung, wie sie Eich in dieser selbsterfundenen ‚Gattung‘ mit einem zwischen bissig-sarkastischem Kommentar und spielerischer Lust oszillierenden Humor betreibt: „Hilperts Glaube an das Alphabet verhalf ihm zu der Entdeckung, daß auf die Erbsünde die Erbswurst folgt. Auf diesem Punkt wollen wir verharren und uns die Konsequenzen nicht nehmen lassen. Die Konsequenz ist das Erbteil.“ (GW 1, S. 310). Dichten als ‚Übersetzen‘ kann damit nichts Statisches mehr sein, es bleibt permanent in Bewegung, hinterfragt sich selbst und wirft eine Reihe möglicher Interpretationswege und Bezugspunkte auf. Dagegen wirkt das von Eich in seinen Notizen knapp festgehaltene Programm eines zwischensprachlichen Übersetzens ausgesprochen konservativ. So gibt er sich optimistisch, dass eine weitgehende Äquivalenzbeziehung erreicht werden könne: „Es ist nicht die Aufgabe des Übersetzers, das Original zu verbessern. Übersetzen heißt nicht kommentieren. Wo der Dichter dunkel ist, soll auch die Übersetzung einen entsprechenden Grad von Dunkelheit bewahren.“ (GW 4, S. 366)98 Diese Ambition zeigt sich durchaus an den Übersetzungen in Lyrik des Ostens, stößt aber offensichtlich an dichterische Grenzen. Auch hier scheinen die ‚Urtexte‘ sich als komplexer zu erweisen und den Leser und Dichter des 20. Jahrhunderts mit seiner eigenen Dichtung und Fragen nach Möglichkeiten und Grenzen dichterischer Weltzugänge zu konfrontieren. Eich agiert in den Gedichten somit als Mittler einer fremden Literatur, schreibt den übertragenen Texten aber zugleich eine gewisse Dialogizität im Verhältnis zur eigenen Gegenwart und zur eigenen Dichtung ein. Hätte Eichs literarische Entwicklung nach 1945 einen anderen Verlauf genommen, wenn er sich nicht so intensiv mit China befasst hätte? Die Frage lässt sich kaum letztgültig beantworten. In jedem Fall aber fällt die Beschäftigung mit || 96 Peter Horst Neumann, Die Rettung der Poesie im Unsinn. Der Anarchist Günter Eich. Stuttgart 1981. Zu den Maulwürfen vgl. insbesondere auch Sabine Alber, Der Ort im freien Fall. Günter Eichs Maulwürfe im Kontext des Gesamtwerkes (Europäische Hochschulschriften, Reihe I: Deutsche Sprache und Literatur 1329). Frankfurt a.M. u.a. 1992. 97 Vgl. auch Sabine Buchheit, Formen und Funktionen literarischer Kommunikation im Werk Günter Eichs (Saarbrücker Beiträge zur Literaturwissenschaft 75). St. Ingbert 2003, S. 11; SchmitzEmans, Schrift und Abwesenheit, S. 234; Oelmann, Deutsche poetologische Lyrik, S. 249. 98 Die Datierung ist unklar, die Werkausgabe vermerkt nur: „(1950/60?)“ (GW 4, S. 365).
196 | Günter Eichs Reorientierungen in Ost und West
China, Jahre nach Aufgabe des Sinologiestudiums, in eine Zeit der intensiven Neuorientierung, in der sich Eich mit der eigenen Dichtung und Tradition auseinandersetzt, über den Bezug zur fremden Dichtung offensichtlich aber auch Fragen nach überzeitlichen und transkulturellen Möglichkeiten dichterischen Schaffens nachgeht. Bis zu einem gewissen Grad mögen die ‚chinesischen‘ Texte, gerade auch die, die mutmaßlich gänzlich aus der Eich’schen Feder stammen, einen geschichtsenthobenen Raum dargestellt haben. Dennoch oder gerade deswegen aber scheinen sie Günter Eich die Möglichkeit geboten zu haben, verschiedene Schreibtechniken und lyrische Weltzugänge auszuloten.
6 „Erkenntnis-, Leidens- und Bündnisfähigkeit“: Neuverortungen Lu Xuns im Umfeld der ‚Neuen Subjektivität‘ 6.1 Lu Xun in den Literaturdebatten um und nach 1968 „Jetzt also hören wir es wieder läuten, das Sterbeglöcklein für die Literatur“,1 konstatiert Hans Magnus Enzensberger zu Beginn seiner „Gemeinplätze, die Neueste Literatur betreffend“, dem abschließenden Essay des legendären, aber hochumstrittenen Kursbuch 15 von 1968. Die meistdiskutierte Ausgabe der Kulturzeitschrift aus dem Umfeld der Studentenbewegung stand unter dem Zeichen des ‚Todes der Literatur‘. Dass Hans Magnus Enzensberger zusammen mit Yaak Karsunke und Karl Markus Michel den Tod der Literatur proklamiert hätte, wie oft angenommen wird, ist wohl weniger richtig, als dass die Ausgabe des Kursbuchs schon kritisch auf die Todesdebatte reflektiert.2 Der ‚Tod der Literatur‘ sei „selber eine literarische Metapher […], und zwar die jüngste nicht“, kommentiert Enzensberger denn auch in seinem von Ironie, Vagheit und Widersprüchlichkeiten durchzogenen Essay. Als gesellschaftliche Kraft könne man Literatur kaum begreifen: Heute liegt die politische Harmlosigkeit aller literarischen, ja aller künstlerischen Erzeugnisse überhaupt zutage: schon der Umstand, daß sie sich als solche definieren lassen,
|| 1 Hans Magnus Enzensberger, „Gemeinplätze, die Neueste Literatur betreffend“, in: Kursbuch 15 (1968), S. 187–197, hier S. 187. 2 Vgl. dazu Enzensbergers eigene Anmerkungen in: Alfred Andersch/Hans Magnus Enzensberger, „Die Literatur nach dem Tod der Literatur. Ein Gespräch“, in: W. Martin Lüdke (Hg.), Nach dem Protest. Literatur im Umbruch. Frankfurt a.M. 1979, S. 85–102, hier S. 92f.; daneben die (selbst-)kritischen Äußerungen von F. C. Delius, „Wie scheintot war die Literatur? Kursbuch 15 und die Folgen“, in: Frankfurter Rundschau, 6. Februar 1999, auf https://www.fc delius.de/widerreden/wider_kursbuch_15.html [24.01.2021] sowie weiter Martin Hubert, Politisierung der Literatur – Ästhetisierung der Politik. Eine Studie zur literaturgeschichtlichen Bedeutung der 68er-Bewegung in der Bundesrepublik Deutschland (Europäische Hochschulschriften I/1311). Frankfurt a.M. u.a. 1992, S. 207 und Niese, „Vademekum“, S. 309f. – Abgesehen davon setzen die drei Essays jeweils eigene Akzente, vgl. dazu weiter auch ebd., S. 215f. Juliane Kreppel betont zudem, dass es nicht um eine Toterklärung der Literatur gegangen sei, sondern um eine „Kritik an einem überkommenen Literaturbegriff“ und der Vorstellung der „Politisierbarkeit von ‚Literatur‘ im herkömmlichen Sinn“ (dies., „In Ermangelung eines Besseren“? Poetik und Politik in bundesrepublikanischen Gedichten der 1970er Jahre [Kölner Germanistische Studien NF 9]. Köln/Weimar/Wien 2009, S. 17). https://doi.org/10.1515/9783111044088-007
198 | Neuverortungen Lu Xuns
neutralisiert sie. Ihr aufklärerischer Anspruch, ihr utopischer Überschuß, ihr kritisches Potential ist zum bloßen Schein verkümmert.3
Welche Schlüsse und Handlungsanweisungen man daraus abzuleiten hätte, ist weit weniger klar. Die Orientierung an Werken von Günter Wallraff, Bahman Nirumand, Ulrike Meinhoff oder Georg Allsheimer empfiehlt Enzensberger nur halbherzig, sei deren Nutzen doch „unbestreitbar“, ihr Wert an sich aber eher „bescheiden“. Literatur jenseits des Politischen, eine „Literatur als Kunst“, wiederum sei „nicht widerlegt, […] kann aber auch nicht mehr gerechtfertigt werden“.4 Dass Enzensberger selbst sich von seinen Zweifeln kaum abhalten ließ, weiter Literatur zu verfassen, und dass auch das Kursbuch 15 in seiner Gesamtkonzeption keineswegs ein Abgesang auf die Literatur ist, sondern in sich politisch klar engagierte Texte beispielsweise Arnfried Astels mit Werken wie Ingeborg Bachmanns „Böhmen liegt am Meer“, das die literarische Fantasie in ihr Recht setzt, konfrontiert,5 zeugt von der Vielseitigkeit (oder auch Unentschlossenheit?) der Kursbuch-Ausgabe, die alle Polemik unterläuft. Als „Kraut und Rüben“ bezeichneten die Herausgeber die Zusammenstellung im Briefwechsel miteinander.6 Ganz willkürlich war die Zusammenstellung freilich nicht. Die Texte loteten aber verschiedene Richtungen für Literatur im politisierten Kontext aus; Spannungen zwischen den Texten sind zentral und sicher gewollt.7 Dies gilt insbesondere auch für die chinabezogenen Beiträge, die in dieser Ausgabe prominent vertreten sind und alles andere als ein einheitliches Bild ergeben, da ein Autor hervorgehoben wird, dessen Werk sich, bei allen Vereinnahmungsversuchen, die es in Ost und West im Laufe der Jahre erfahren hatte und noch sollte,8 eindeutigen Kategorisierungen entzieht: Lu Xun. Der im eigenen
|| 3 Enzensberger, „Gemeinplätze“, S. 194. 4 Ebd., S. 195f. 5 Vgl. zu diesen Gegensätzen auch Heinrich Kaulen, „Zwischen Engagement und Kunstautonomie. Ingeborg Bachmanns letzter Gedichtzyklus Vier Gedichte“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte (1991), S. 755–776, hier S. 757f. sowie Delius, „Scheintot“. 6 Die Formulierung fällt mehrfach im Briefwechsel Hans Magnus Enzensberger – Karl Markus Michel, siehe Niese, „Vademekum“, S. 302. 7 Niese bemerkt freilich aus der Retrospektive, dass die „Ausgeglichenheit der Beiträge“ bei vielen Lesern der Ausgabe nicht ankam (ebd., S. 306); die Rezeption war im Ganzen, nicht zuletzt durch einige polemische Töne in den Theoriebeiträgen, bekanntermaßen durchaus einseitiger, als es der Gesamtkonzeption der Ausgabe entsprochen hätte. 8 Vgl. u.a. Leo Ou-fan Lee, Lu Xun and his Legacy. Berkely u.a. 1985, S. ixf.; ders., Voices from the Iron House. A Study of Lu Xun (Studies in Chinese Literature and Society). Blooming-
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Land berühmteste Schriftsteller der jüngeren Literaturgeschichte war vor allem in Westdeutschland bis dato wenig bekannt gewesen.9 Im Kursbuch 15 wird er einmal mit „Vier Schriften über Literatur und Revolution“ in der Übersetzung Rolf Dornbachers und Peter-Anton von Arnims vorgestellt,10 und einmal im
|| ton/Indianapolis 1987, S. 197, Wolfgang Kubin, „Die Rolle der Literaturwissenschaft in den politischen Kampagnen der VR China der letzten Jahre. Dargestellt am Beispiel der Rezeption Lu Xuns in den Tageszeitungen Renmin Ribao und Guangmin Ribao 1975–1978“, in: Helmut Franz u.a. (Hg.), China unter neuer Führung. Hintergründe und Analysen zur Entwicklung von Gesellschaft, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur nach dem Sturz der ‚Viererbande‘ im Herbst 1976. Bochum 1978, S. 240–253. Zur politischen Vereinnahmung Lu Xuns im deutschsprachigen Raum, nicht zuletzt durch gezielte Übersetzungseingriffe (hier an Erzählungen dargestellt) siehe auch Susanne Weigelin-Schwiedrzik, „Über die Politik des Übersetzens. Der chinesische Dichter Lu Xun im Spiegel der Übersetzung seiner Werke“, auf: http://metamorphosis. sbg.ac.at/transit/luxun.html [02.03.2021]. Leider nimmt Weigelin-Schwiedrzik die Übersetzungen Theobaldys, die ihre These von der einseitigen politischen Vereinnahmung Lu Xuns bzw. der Perpetuierung chinesischer Propagandamuster relativieren würde, nicht wahr. WeigelinSchwiedrziks Argumentation anhand der Analysen vor allem früher Übersetzungen Lu Xuns und offensichtlich auch aus der Erfahrung von Debatten um frühere Versuche einer Lu-XunWerkausgabe (vgl. ebd., S. 10) ist zwar plausibel, aber unvollständig, wie das hier vorgelegte Kapitel argumentieren möchte. 9 Es gab sowohl in Ost-, als auch in Westdeutschland einige verfügbare Übersetzungen v.a. der Erzähltexte, größtenteils aus den 1950er Jahren (vgl. Lutz Bieg, „Der deutsch-chinesische Literaturaustausch im 20. Jahrhundert“, S. 334 sowie die Bibliographie von dems., „Verzeichnis der Primär- und Sekundärliteratur zu Lu Xun im deutschen Sprachraum“, in: Wolfgang Kubin [Hg.], Aus dem Garten der Wildnis. Studien zu Lu Xun [1881–1936] [Studium universale 11]. Bonn 1989, S. 185–215); weiter Thomas Kampen, „Lu Xun 魯迅 in Deutschland vor sechzig Jahren“, in: SHAN Newsletter (2016), Nr. 88, auf: https://www.zo.uni-heidelberg. de/sinologie/shan/nl-archiv/2016_NL88. html#4 [11.02.2023]. In der DDR wurde er – wie in anderen sozialistischen Staaten – als ‚chinesischer Gorki‘ gehandelt, so z.B. auch bei Heiner Müller, „Der chinesische Gorki. Zu den Erzählungen von Lu Hsün“, in: HMW 8, S. 47–51. Müller hatte Auszüge aus Lu Xuns Der Einsame 孤 独者, hier Der Misanthrop, unter dem Pseudonym Jakob Sabest im Sonntag vom 3., 10., 17. und 24. Oktober 1954 übertragen, vgl. Florian Vaßen, Bibliographie Heiner Müller (Bibliographie zur Deutschen Literaturgeschichte 20). Bielefeld 2013, S. 398. Der intensiveren Rezeption in der DDR wurde durch den sino-sowjetischen/sino-ostdeutschen Konflikt ein Riegel vorgeschoben. Neben den in Deutschland publizierten Auswahlen hatte außerdem der Fremdsprachenverlag Beijing selbst durch die Übersetzung einiger Erzählungen und der Geschichte der chinesischen Romandichtung in den 1970er und 1980er Jahren versucht, die internationale Bekanntheit des Autors zu erhöhen. Die von Wolfgang Kubin (nach einem ersten Auswahlband 1979) verantwortete sechsbändige Werkausgabe, die erstmals einen umfassenden Zugang zu den wichtigsten Schriften verschiedener Genres in deutscher Übersetzung enthält, erschien erst Mitte der 1990er Jahre. 10 In: Kursbuch 15 (1968), S. 18–37.
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Kontext des „Dossier: China. Kultur Revolution Literatur“ des ChinaJournalisten und Mao-Übersetzers bzw. -Apologeten Joachim Schickel,11 der genau in dieser Ausgabe auch ein Mao-Gedicht abdrucken ließ.12 Die Mehrfachperspektivierung dürfte den Herausgeber Enzensberger gerade für diese Ausgabe der Zeitschrift gereizt haben, lässt sich darin doch bis zu einem gewissen Grad eine fernöstliche Spiegelung gegenwärtiger eigener Debatten sehen.13 Lu Xuns abgedruckte Essays äußern sich teilweise überaus kritisch gegenüber der Macht der Literatur auf gesellschaftliche Ereignisse: Abgesehen davon, dass man während der Revolution sowieso keine Zeit zu schreiben habe, sei die literarische Artikulation von Unrechtsempfinden ineffektiv: Vor einer großen Revolution drückt fast alle Literatur Unzufriedenheit und Kummer über gesellschaftliche Verhältnisse aus, sie faßt Leiden und Empörung in Worte. Es gibt viele Werke dieser Art auf der Welt. Doch dieser Ausdruck des Leidens und der Empörung hat keinen Einfluß auf die Revolution, denn bloße Klagen sind machtlos. Eure Unterdrücker werden sie nicht beachten. Die Maus mag quieken und schöne Literatur hervorbringen, die Katze nimmt darauf keine Rücksicht, wenn sie die Maus verschlingt.14
In einem anderen der vier abgedruckten Essays wiederum heißt es, Literatur könne durchaus „als Werkzeug der Revolution benutzt werden.“15 Doch „[a]ußer Schlagworten, Losungen, Bekanntmachungen, Grußadressen und Lehrbüchern braucht die Revolution Literatur – einfach weil es Literatur ist.“16 Hier scheint doch wieder einem intrinsischen Wert von Literatur das Wort geredet zu werden.
|| 11 Ebd., S. 38–62. Zu Joachim Schickel siehe Kapitel 4 dieser Dissertation. 12 Vgl. ebd., S. 63 sowie Kapitel 4. 13 Insofern wäre evtl. auch Lutz Biegs Kritik an der klischeegeladenen Chinavorstellung im Kursbuch 15 (vgl. ders., „Der deutsch-chinesische Literaturaustausch“, S. 335) etwas zu relativieren, da doch die Lu-Xun-Übertragungen eine gewisse Zusatzperspektive zum Dossier und dem Mao-Gedicht bieten. Wolfgang Kubin spricht dagegen davon, die 68er wie Enzensberger oder Hans Christoph Buch hätten Lu Xun „als Vertreter eines modernen Bewußtseins“ rezipiert („Aufbruchsphantasien“, S. 80). 14 Lu Hsün, „Vier Schriften“, S. 20. Vgl. Lu Xun 鲁迅, „Geming shidai de wenxue“ 革命时代的 文学 (Literatur in Zeiten der Revolution), in: Ders., Quan ji 全集 (Sämtliche Werke), hg. von der Lu Xun Erinnerungsgesellschaft. Beijing 1973, Bd. 3, S. 402–410, hier S. 403. Die Ausgabe wird im Folgenden im Fließtext mit der Angabe Quan ji nachgewiesen. 15 Lu Hsün, „Vier Schriften, S. 34. Vgl. Lu Xun 鲁迅, „Wenyi yu geming“ 文学与革命 (Literatur und Kunst und Revolution), in: Lu Xun quan ji 4, S. 86–96, hier S. 95. 16 Lu Hsün, „Vier Schriften“, S. 34. Vgl. Quan ji 4, S. 95. Dort ist eigentlich allgemeiner von Literatur und Kunst die Rede.
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Skepsis und Schwanken, die aus den Essays sprechen, werden in Joachim Schickels „Dossier“, das in seiner Lu-Xun-Interpretation grundsätzlich der maoistischen Indienstnahme des Autors folgt, verschwiegen. Schickel zeichnet das eindeutige Bild eines Autors im Dienste der Revolution. So wird zuallererst Maos Lobpreis Lu Xuns als „Führer der chinesischen Kulturrevolution“ zitiert.17 Schickel macht ihn zum literarischen Pendant Mao Zedongs: Zwei Namen verklammern Chinas Kulturrevolution […], die Namen Mao Tse-tung und Lu Hsün: der eine für ihre politische Theorie der andere für ihre literarische Praxis einstehend (obzwar jener Proben in Lyrik, dieser Exempel in Programmatik geliefert hat). Lu Hsün, als ein Autor von Rang, wollte sicherlich seine Gesellschaft durch Literatur revolutionär verändern; indes vermochte er’s nur, wenn er auch ihre Literatur revolutionierte.18
Wer vom Kursbuch 15 ein klar konturiertes Porträt des fernöstlichen Autors erwartete, dürfte enttäuscht worden sein. Widersprüche auch hier, keine klare Absage an die Literatur, aber auch kein eindeutiges Plädoyer für sie, sei es als revolutionäre, engagierte Literatur oder als Produkt der Muse. Dagegen sind Skepsis und Engagement, Wirkmächtigkeit und Indienstnahme als zusammengreifende, widersprüchliche Pole kreativen Schaffens auch in der kleinen Zusammenstellung im Kursbuch angedeutet. Es überrascht daher nicht, dass die deutschen Autoren, die sich in den 1970er und 1980er Jahren mit Lu Xun auseinanderzusetzen begannen, oft gerade solche waren, die Lu Xun über das Kursbuch entdeckt hatten und inzwischen in einem gespannten Verhältnis zur 68er-Bewegung und ihrer eigenen Rolle in deren Kontext standen. Hans Christoph Buch schloss in Zusammenarbeit mit der aus Singapur stammenden Wong May mit dem Essayband Der Einsturz der Lei-feng-Pagode: Essays über Literatur und Revolution in China von 1973 an die Kursbuch-Debatte an, porträtierte Lu Xun als Kämpfer, der „seine Zweifel nicht verschweigt, sondern zu Ende denkt“.19 Enzensberger selbst verfasste 1978 eine Hörspielbearbeitung von Lu Xuns Erzählung „Auferstehung“ (起死) unter dem Titel Der tote Mann und der Philosoph. Im Bereich Lyrik ist vor allem Jürgen Theobaldy zu nennen. Er hatte Lu Xun ebenfalls über das Kursbuch kennenge|| 17 Schickel, „Dossier“, S. 38. 18 Ebd. Schickel setzt einen weiten Begriff der chinesischen ‚Kulturrevolution‘ an bzw. suggeriert eine lange, lineare Wirkungsgeschichte, immerhin war Lu Xun 1936 verstorben. Zu Schickels Revolutionsraufrufen unter Berufung auf Lu Xun siehe auch Weigelin-Schwiedrzik, „Politik“, S. 9. 19 Hans Christoph Buch, „Nachwort“, in: Lu Hsün, Der Einsturz der Lei-feng-Pagode. Essays über Literatur und Revolution in China (das neue buch), hg. von Hans Christoph Buch und Wong May. Reinbek bei Hamburg 1973, S. 196–213, hier S. 209.
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lernt, wenn er auch damals dessen Skepsis noch nicht nachvollziehen konnte: „[f]ür diese These war ich 1968 nicht offen“.20 Durch Christoph Buch und Wong May entdeckte er ihn ein Jahrzehnt später wieder. Und auch in der DDR griff mit Christoph Hein ein dem politischen System ambivalent gegenüberstehender Autor Lu Xuns Wahre Geschichte des Ah Q (Ah Q 的真传) in einer freien Dramenbearbeitung gleichen Titels 1984 auf. Es dürften also die Vielseitigkeit und offen verhandelte Widersprüchlichkeit des Autors, der „so undogmatisch im Gestus“ ist,21 gewesen sein, die die deutschen Autoren in den Bann seines Werks zogen. Tatsächlich ist Lu Xun eine überaus schillernde Figur. Als ‚Vater der chinesischen Moderne‘ trug er mit seinem berühmten, von Gogol inspirierten „Tagebuch eines Verrückten“ (狂人 日记) maßgeblich zur Etablierung des modernen Chinesisch als Literatursprache bei. Das „Tagebuch“ verbindet den Wechsel von klassischem Literaturchinesisch (wenyan 文言) zu einer der Umgangssprache angenäherten Sprache (baihua 白话) mit dem Perspektivwechsel von überkommener, ‚kannibalischer‘ Kultur hin zu einer neuen, scheinbar verrückten, sozial engagierten Sichtweise. Auf seine schriftstellerische Tätigkeit und seine Neuerungsversuche wirkte durchaus auch seine umfassende Übersetzungsarbeit ein. Seine Übertragungen von Prosatexten der Weltliteratur über japanische und deutsche Versionen waren aufgrund der gezielten Tendenz zur Wörtlichkeit und zur Beibehaltung sprachlicher Eigenheiten der Vorlagen freilich hochumstritten.22 Von einer tiefgreifenden klassischen Bildung zehrend, verfasste er zugleich aber Kommentare zu klassischen Schriften und neben wenigen Baihua-Gedichten eine Vielzahl stark autobiographisch durchsetzter Gedichte nach klassischen Formen, einige äußerst konventionell, andere wiederum, die sich die spezifischen Mittel der klassischen Ästhetik zunutze machten, um in maximaler Verdichtung zeitgeschichtliches Geschehen und damit verbundene persönliche Schicksalsschläge zu reflektieren.23 Lu Xun war ein aufmerksamer und äußerst kritischer Beobach-
|| 20 So Theobaldy rückblickend: „In tiefer Nacht“, in: Der Spiegel 6 (1980), https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-14323210.html [24.01.2021]. 21 Theobaldy, „In tiefer Nacht“. 22 Vgl. auch die Einleitung zu dieser Arbeit. 23 Dass traditionelle Formen Teil der poetischen Modernisierung Chinas waren, neben Baihua-Texten standen und mit diesen in einem wechselseitigen Interaktionsverhältnis verbunden waren, wurde schon in der Einleitung und in Kapitel 4 zur Rezeption der Lyrik Mao Zedongs thematisiert. Mit Blick auf Lu Xun vgl. u.a. Tsi-An Hsia, „Aspects of the Power of Darkness in Lu Hsün“, in: Ders., The Gate of Darkness. Studies on the Leftist Literary Movement in China (Far Eastern and Russian Institute Publications on Asia 17). Seattle/London 1968, S. 146–162; Lee, Voices, v.a. S. 41f.; Jon Eugene von Kowallis, The Subtle Revolution. Poets of the
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ter seiner Zeit, von der Guomindang verfolgt, den Kommunisten zwar nahestehend, aber als Nicht-Parteimitglied immer auf einer eigenen Position beharrend. Entsprechend war die offizielle Rezeption nach seinem Tod lange bemüht, Widersprüchlichkeiten in seinem Werk einzuebnen und Lu Xun zum uneingeschränkten Parteigänger und Vorbild zu erklären.24 Doch zunächst noch einmal zurück zu den deutschen Literaturstreiten: 1977, knapp ein Jahrzehnt nach dem Höhepunkt der 1968er Bewegung, als sich viele der Gruppierungen längst zerschlagen hatten, jedoch im ‚Deutschen Herbst‘ die radikalsten Auswüchse des Protests ihren Blutzoll forderten, tobte wiederum eine Literaturdebatte in Deutschland, diesmal um die sogenannte ‚Neue Subjektivität‘. Mit dem teils derogativ, teils in affirmativer Selbstbezeichnung verwendeten Label wurde eine (keineswegs heterogene)25 Gruppe von Dichtern benannt, die größtenteils aus der 68er-Bewegung hervorgegangen waren und seit den 1970ern versuchten, ‚politische‘ und ‚persönliche‘ Elemente in einer überwiegend mit unartifizieller Sprache arbeitenden Dichtung zu vereinigen. Abgrenzen wollte man sich dadurch gegen das (angeblich) ‚hermetische‘ Gedicht u.a. Eichs und Celans, aber auch gegen die agitprop-Dichtung und andere Formen einseitig ‚asubjektivistischer‘ politischer Lyrik.26 Walter Höllerers Plädoyer für das ‚lange‘, Alltäglichkeiten und Banalitäten zulassende Gedicht – gegen die || ‘Old Schools’ during Late Qing and Early Republican China (China Research Monographs 60). Berkeley, CA 2006, S. 241f.; Haosheng Yang, A Modernity Set to a Pre-Modern Tune. ClassicalStyle Poetry of Modern Chinese Writers (Ideas, History, and Modern China 14). Leiden/Boston 2016, S. 9, S. 32–61; Mabel Lee, „Solace for the Corpse with Its Heart Gouged Out: Lu Xun’s Use of the Poetic Form“, in: Papers on Far Eastern History 26 (1982), S. 145–174. 24 Die jüngere chinesische literaturwissenschaftliche Forschung hat sich über die Indoktrinierungen allerdings vielfach hinweggesetzt, vgl. Weigelin-Schwiedrzik, „Politik“, S. 15. – Das kreative Spannungsfeld zwischen der Artikulation persönlicher Gefühlsäußerungen und Reflektion von politischem Zeitgeschehen als Impuls chinesischer Dichtung beleuchtet mit zahlreichen Fallstudien David Der-wei Wang, The Lyrical in Epic Time. Modern Chinese Intellectuals and Artists Through the 1949 Crisis. New York 2015. 25 Vgl. auch Hubert, Politisierung, S. 307f.; David A. Scrase, „Dimensions of Reality: West German Poetry of the Seventies“; in: World Literature Today 55/4 (1981), S. 568–572, hier S. 568; Medard Kammermeier, Die Lyrik der Neuen Subjektivität (Regensburger Beiträge zur Deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft 32). Frankfurt a.M. u.a. 1986, v.a. S. 98, S. 125. 26 Vgl. Jürgen Theobaldy/Gustav Zürcher, Veränderung der Lyrik. Über westdeutsche Gedichte seit 1965. München 1976. Gerade die Darstellungen zur ‚hermetischen‘ Lyrik, die Theobaldy/Zürcher mit Benn beginnen lassen und die Autoren wie Eich, Bobrowski, Celan und Kaschnitz als ‚dunkle‘ Dichter, deren Texte keinen Dialogpartner mehr voraussetzten, summarisch abhandeln, werden der Interaktion zwischen Dichtung und Zeitgeschehen in den Werken dieser Autoren kaum gerecht (vgl. insbes. ebd., S. 9–14).
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„Chinoiserie des kurzen Gedichts“ –27 wurde zu einer zentralen Anregung dieser Autoren. „Schreiben wir über unsere eigenen Erfahrungen!“, formulierte Hans Christoph Buch (nicht zufällig, wie gesagt, ein weiterer Autor, der sich mit Lu Xun auseinandersetzte) das Plädoyer für ein Ausgehen von dem mit der Gesellschaft in Wechselbeziehung stehenden persönlichen lebensweltlichen Erfahrungshorizont.28 Jürgen Theobaldy und Gustav Zürcher, die in der Schrift Veränderungen der Lyrik versuchten, die neue Richtung im literarhistorischen Spektrum der Nachkriegszeit zu verorten und grundlegende poetologische Prinzipien festzusetzen, beharren denn auch auf der politischen Dimension dieser Gedichte, die ohne Privates nicht auskomme: „Diese Synthese wurde zu einem poetologischen Organisationsprinzip im Gedicht der sogenannten ‚neuen Subjektivität‘, das deswegen in vielen Bereichen als spezifisch historischer Typ politischer Lyrik gelten muß.“29 Damit einher geht das Konzept einer weitgehenden Verschmelzung von Autor und lyrischem Ich, die Suggestion authentischer, ausschnitthafter Abbildung von Realität.30 So reflektiert beispielsweise das lyrische Ich in Theobaldys „Bilder aus Amerika“ über den Kontrast zwischen dem in der Nachkriegszeit entstandenen Kindheitsbild eines WohlstandsAmerikas und der negativen Wahrnehmung eines gespaltenen, außen- wie innenpolitisch aggressiv agierenden Landes: Ich träumte vom frischen Rasen vor der High School, von rosa Zahnpasta und Ananas aus der Dose. […] und später wäre ich, so träumte mir, im Cadillac vors Bürohochhaus gefahren. Aber später war ich immer noch
|| 27 Walter Höllerer, „Thesen zum langen Gedicht“, in: Akzente 12 (1965), S. 128–130, hier S. 129. Höllerer spricht sich hier gegen Techniken der Komprimierung, der momenthaften, andeutenden Ausschnitthaftigkeit, aus (ebd.). Dass der Begriff der „Chinoiserie“ hier äußerst suggestiv ist und der Vielfalt der Rezeption chinesischer Dichtung nicht gerecht wird, versteht sich. 28 Hans Christoph Buch, „Das Hervortreten des Ichs aus den Wörtern (Rede beim Grazer Literatursymposion Oktober 1974)“, in: Ders., Das Hervortreten des Ichs aus den Wörtern. Aufsätze über Literatur (Reihe Hanser 247). München/Wien 1978, S. 9–13, hier S. 13. Vgl. in demselben Band insbesondere auch „Life is Cheap in Latin-America. Gedanken über Sensibilität und Solidarität (Rede beim Grazer Literatursymposion, Oktober 1976)“, S. 26–36. 29 Theobaldy/Zürcher, Veränderung, S. 82; vgl. auch Jürgen Theobaldy, „Das Gedicht im Handgemenge. Bemerkungen zu einigen Tendenzen in der westdeutschen Lyrik“, in: Hans Bender/Michael Krüger (Hg.), Was alles hat Platz in einem Gedicht. München 1977, S. 169–180. 30 Vgl. Hiltrud Gnüg, Entstehung und Krise lyrischer Subjektivität. Vom klassischen lyrischen Ich zur modernen Erfahrungswirklichkeit. Stuttgart 1983, S. 244 sowie dies., „Was heißt ‚Neue Subjektivität‘?“, in: Merkur 32/1 (1978), S. 60–75, hier S. 67.
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hier in Mannheim und fuhr jeden Morgen auf einem Fahrrad ohne Gangschaltung in den Hafen zur Exportabteilung. Und noch später sah ich junge Amerikaner, so alt wie ich, abgeführt werden, weil sie ihre Einberufungsbefehle verbrannt hatten. Ich sah die qualmenden Häuser in den Gettos der Schwarzen, und ich sah die Nationalgarde im Kampfanzug gegen barfüßige Studenten, sah die Schlagstöcke der Polizisten, die lang wie Baseballschläger waren. Jetzt träume ich kaum noch von Amerika, nicht einmal Schlechtes. Aber ich frage mich oft, wie das Land sein mag, von dem sich die Bilder so verändert haben, so schnell und so gründlich.31
Weniger die Kritik am Agieren Amerikas steht hier im Zentrum des Gedichts als die Desillusionierungserfahrung des Ich, dessen imaginiertem amerikanischem Pendant – ein reicher Firmenchef – die Realität eines Arbeiters oder kleinen Angestellten entgegensteht, der sich bewusst als Zeitzeuge und Sprecher für verschiedene unterdrückte Gruppen wahrnimmt, ohne dass klar würde, ob diese Zeugenschaft mit politischer Handlung einhergeht. Aus näherer und weiterer zeitlicher Distanz reflektiert das Ich vor allem den Kontrast der Bilder des Landes, der erträumten wie der medial vermittelten. Ob das Gedicht hier den Anspruch auf eine ‚neue‘ Subjektivität einlöst, wäre freilich zu diskutieren. Trotz der autobiographischen Suggestion – „hier in Mannheim“ – ist der Sprecher eher als typischer Vertreter einer Nachkriegsjugend konzipiert, das mehrfache „Ich sah“ ruft bei aller scheinbar unprätentiösen Sprache das Pathos des Dichter-Sehers auf. Die Realitätsfragmente sind weniger konkret denn auf schematische Suggestivkraft angelegt, wobei sie andererseits durch den Verweis auf generationentypische Wahrnehmungen, Träume und vermittelte Erfahrungsräume, durch die Transponierung in den inneren Horizont des Sprechers, eine selbstkritische Dimension beinhalten. Rhythmik und Zeilenbrechung sind offenbar an Brecht geschult, ohne aber dessen oft lakonische Gedrängtheit in der Verschränkung von Privatem und Politischem anzustreben; andererseits greift Theobaldy in der Listung von All-
|| 31 Jürgen Theobaldy, Zweiter Klasse. Berlin 1976, S. 9.
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tagsgegenständen und -fragmenten auf die Poetiken amerikanischer Dichter wie Frank O’Hara zu. Mit ihrem Anspruch, richtungsweisend für die Post-1968er Dichtung zu sein, stieß die ‚Neue Subjektivität‘ vielfach auf Widerspruch, obgleich der Grundanspruch, anstelle einer agitatorischen politischen Lyrik eine Dichtung zu kreieren, die ein konkretes, (vermeintlich) authentisches Ich mit größeren soziohistorischen Kontexten konfrontiert, zunächst vielfach positiv gewertet wurde.32 Jörg Drews stieß die in den Anfängen in der Zeitschrift Akzente ausgetragene Debatte mit den Vorwürfen an, die ‚neue Innerlichkeit‘ sei letztlich eine alte: lamentierend, sich Standardposen ergebend und sprachlich anspruchslos. In der neuen Richtung erkennt er daher nur eine Notlösung: Die Wendung zum eigenen Subjekt, zu seiner vereinzelten Konkretheit und seinem Alltag erfolgte nicht aus freien Stücken, sondern mangels eines Besseren, und diese unfreiwillige Rückkehr in die Vereinzelung erklärt auch einen Großteil der Melancholie, die aus der Lyrik der ‚Neuen Innerlichkeit‘ oder ‚Neuen Subjektivität‘ abzulesen ist.33
Nicht nur wurde bezweifelt, dass in den Gedichten tatsächlich eine neue Subjektivität, eine neuartige Verbindung von Privatem und Gesellschaftlichem jenseits der Auflistung von Banalitäten, der „Tautologie des Trivialen“ gelingt.34 Insbe|| 32 Vgl. u.a. Peter Rühmkorf, „Leidensmut und Überlebenslust. Gedichte vor und nach 1968 – Jürgen Theobaldys Anthologie [1977]“, in: Ders., Strömungslehre I. Poesie (das neue buch). Reinbek bei Hamburg 1978, S. 111–115, hier S. 115; Frank Dietschreit, Zeitgenössische Lyrik im Gesellschaftsprozeß. Versuch einer Rekonstruktion des Zusammenhangs politischer und literarischer Bewegungen (Europäische Hochschulschriften I/724). Frankfurt a.M. u.a. 1983, S. 290– 297, S. 337f.; zwiespältig zeigt sich Jochen Kelter, „Poetischer Text, lyrischer Wildwuchs. Eine Betrachtung zum Lyrik-Boom und zur westdeutschen Poesie der letzten Jahre“; in: konkret 2/2 (1978), S. 41–45, hier S. 45. 33 Jörg Drews, „Selbsterfahrung und Neue Subjektivität in der Lyrik“, in: Akzente 24 (1977), S. 89–95, hier S. 90. 34 Gnüg, Entstehung und Krise, S. 62 sowie dies., „Was heißt ‚Neue Subjektivität‘?“, S. 74; vgl. weiter Hans Dieter Zimmermann, „Die mangelnde Subjektivität“, in: Ebd., S. 280–287 sowie in demselben Jahrgang die Beiträge von Ludwig Fischer, „Vom Beweis der Güte des Puddings. Zu Jörg Drewsʼ und Jürgen Theobaldys Ansichten über neuere Lyrik“, Akzente 24 (1977), S. 371– 379, v.a. S. 373f.; Jörg Drews, „Antwort auf Jürgen Theobaldy“, S. 379–382; Peter M. Stephan, „Das Gedicht in der Marktlücke. Abschließende Marginalien zur Diskussion über die ‚Neue Subjektivität‘ in der Lyrik“, S. 493–504, v.a. S. 496; des weiteren Rudolf Drux, „Vom Pragmatismus in Lyrik und Politik. Zu einem Aspekt der Gedicht-Anthologie Und ich bewege mich doch von Jürgen Theobaldy (Mit einem Exkurs über Goethes Weimarer Krise)“, in: Jordan/Marquardt/Woesler (Hg.), Lyrik, S. 204–218, hier S. 212; Harald Hartung, „Eindimensionale Poesie – Zur Lyrik der neuen Subjektivität“, in: Ders., Deutsche Lyrik seit 1965. Tendenzen – Beispiele – Porträts. München 1985, S. 48–65, hier S. 62. Die Gefahren der Reduktion auf „anei-
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sondere wurde den Autoren vorgeworfen, nicht über genügend Formgefühl zu verfügen und in dem Versuch, über eine alltagsnahe Sprache neue poetische Perspektiven auf die Wirklichkeit zu eröffnen, schlichtweg in eine formale Beliebigkeit abzudriften.35 Theobaldy blieb der dezidierteste Verteidiger der ‚Neuen Subjektivität‘ und beharrte auf dem Konzept des „Subjekt[s] als einer sozialen Größe, durchdrungen von gesellschaftlichen Widersprüchen“.36 Erst im Nachgang zu der AkzenteDebatte sollte er sich jedoch intensiver mit Lu Xun auseinandersetzen und in ihm eine Art fernöstlichen Bundesgenossen erkennen, dessen Werk die deutschen Perspektiven der ‚Neuen Subjektivität‘ aber insbesondere mit Blick auf die formale Durchgestaltung der Texte durchaus mit Herausforderungen konfrontierte. Im Vorfeld der Berliner Ausstellung Lu Xun Zeitgenosse von 1980 erarbeitete er erste Übertragungen einzelner Texte mit Egbert Baqué und Michael Streffer, die kommentierte Interlinearübersetzungen aus dem Chinesischen zur Verfügung stellten. 1983 setzte er die Zusammenarbeit mit Baqué im Auswahlband Kein Ort zum Schreiben fort.37 Theobaldys Strategien im Umgang mit dem fremden Text sollen daher im Folgenden untersucht werden, zunächst insbesondere mit Blick auf die Frage, wie der Autor mit dem Wechselverhältnis
|| nandergereihte Banalitäten“ gesteht auch der Dichter und Germanist Michael Buselmeier ein: „Das alltägliche Leben. Versuch über die neue Alltagslyrik“, in: Arbeitskreis linker Germanisten (Hg.), Neue Deutsche Lyrik. Beiträge zu Born, Brinkmann, Krechel, Theobaldy, Zahl u.a. Heidelberg 1977, S. 4–34, hier S. 4. 35 Vgl. zur Kritik an Form und sprachlicher Simplizität u.a. Drews, „Selbsterfahrung“, S. 93; Peter Wapnewski, „Gedichte sind genaue Form. Nicht bloße Beliebigkeit ist das Gegenteil von Lyrik“, in: Jan Hans/Uwe Herms/Ralf Thenior (Hg.), Mit gemischten Gefühlen. Gedichte, Biographien, Statements. Lyrik-Katalog Bundesrepublik. München 1978, S. 443–453, hier S. 447; Hartung, „Eindimensionale Poesie“, S. 62–65; Gnüg, Entstehung und Krise, S. 245; Walter Hinderer, „Komm! ins Offene, Freund!“: Tendenzen der westdeutschen Lyrik nach 1965“, in: Ders., Arbeit an der Gegenwart. Zur deutschen Literatur nach 1945. Würzburg 1994, S. 93–113, hier S. 103. Andere Interpreten sehen die Gestaltung eines „zu einer eigentümlich spracharmen, intellektfernen Sprecherinstanz reduzierten Individuums“ aber durchaus als gezieltes Mittel, um der „traumatische[n] Verletztheit“ des Ich vor dem Hintergrund der familiären und gesellschaftlichen NS-Vergangenheit Ausdruck zu verleihen, siehe Cornelia Blasberg, „Versteckte Geschichte(n). Überlegungen zur Lyrik der 1970er Jahre“, in: Thomas Boyken/Nikolas Immer (Hg.), Texturen der Wunde. Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik. Würzburg 2016, S. 277– 292, hier S. 288. 36 Jürgen Theobaldy, „Literaturkritik, astrologisch. Zu Jörg Drewsʼ Aufsatz über Selbsterfahrung und Neue Subjektivität in der Lyrik“, in: Akzente 24 (1977), S. 188–191, hier S. 189. 37 Lu Xun, Kein Ort zum Schreiben. Gesammelte Gedichte, hg. u. übers. von Egbert Baqué und Jürgen Theobaldy. Reinbek bei Hamburg 1983. Aus dem Band wird unter Angabe des Kurztitels Kein Ort künftig im Fließtext zitiert.
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zwischen Persönlichem und Politischem bei Lu Xun umgeht. Ein weiteres Teilkapitel soll der Frage der kooperativen Übersetzung genauer nachgehen, da der Ausstellungsband zur Berliner Ausstellung eine Interlinearversion enthält. Diese diente Theobaldy ebenso wie Sarah Kirsch und Gisela Kraft als Grundlage für eigene Versionen, so dass aus dem Vergleich sowohl auf das Potenzial dieser Art der Zusammenarbeit geschlossen als auch gezeigt werden kann, wie die drei Dichter mit derselben Textgrundlage unterschiedlich verfahren und dadurch jeweils eigene Interpretationspotenziale offenlegen. Abschließend wird sich das Kapitel mit Theobaldys eigenen Versuchen, klassisch-chinesische Schreibweisen zu adaptieren, auseinandersetzen.
6.2 Gespräche über Bäume, Blumen und Gewalt. Privatraum und öffentlicher Raum im Spannungsverhältnis Wie Lu Xun die Artikulation von Gefühlen von Freundschaft, Sehnsucht, Heimweh und ästhetischem, zeitlosem Genuss einerseits mit der Kommentierung des Revolutions- und Bürgerkriegsgeschehens in China, der Bedrohung durch die Guomindang verbindet und andererseits über die Rolle des Dichters in Umbruchszeiten reflektiert, schien Jürgen Theobaldy Möglichkeiten zum deutschchinesischen Dialog zu eröffnen. Lu Xuns Gedichte läsen sich „wie lyrische Notate am Rand einer Biographie, die untrennbar mit den politischen Ereignissen ihrer Zeit verknüpft ist“ (Kein Ort, S. 114), kommentiert Theobaldy im Nachwort, sieht aber die ursprünglichen Impulse für Lu Xuns Dichtung im Streben nach einer zweckfreien Dichtung an sich, in der es „um den Lotos und die Blumen im Garten“ gehe (Kein Ort, S. 113). Der deutsche Leser dürfte sich bei diesen Worten an die Debatte um Brechts „Gespräch über Bäume“ erinnert fühlen: Was sind das für Zeiten, wo Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt! (GBA 12, S. 85)
Die Spannung zwischen dem Drängen nach unverbindlicher ästhetischer Betrachtung und politischem Engagement, die Brecht durch das relativierende „fast“ nicht einfach zugunsten einer rein politischen Lyrik auflöst, sondern gezielt aufrechterhält,38 ist also, so suggeriert Theobaldys Darstellung, eine, die
|| 38 Das Gedicht wurde allerdings vielfach zu einer Stellungnahme gegen eine Naturdichtung gelesen, vgl. Robert Rduch, „‚Gespräch über Bäume‘. Kleine Geschichte eines Missverständnisses“, in: Wortfolge. Szyk Słów 1 (2017), S. 99–113.
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Lu Xuns Werk ebenfalls durchzieht und die dazu einlädt, Lu Xuns Werk als Komplementärentwurf zu den Aushandlungen dieses Verhältnisses von Brecht bis zur Gegenwart zu lesen. Tatsächlich umfasst die Auswahl von Baqué/Theobaldy einen Großteil der formtraditionellen Dichtung Lu Xuns von 1900 bis in die 1930er Jahre und integriert damit überwiegend apolitische Gedichte ebenso wie Gedichte, die ohne ihren politischen Hintergrund nicht denkbar sind. Allerdings verzichtet Theobaldy auf die Aufnahme von Lu Xuns Prosagedichten, den Wilden Gräsern (野 草), sowie weitgehend auf in der Umgangssprache „nur für den Tagesgebrauch geschrieben[e]“ Texte, wie Theobaldy in der Vorbemerkung unter Andeutung einer ästhetischen Minderwertigkeit solcher „agitatorischen Balladen“ (Kein Ort, S. 5) erläutert. Sowieso sei ein großer Teil dieser Gedichte aufgrund der vielen Pseudonyme Lu Xuns noch nicht zugeordnet (vgl. Kein Ort, S. 5). Dieses Argument scheint aber mehr eine zusätzliche Rechtfertigung, immerhin hätte genügend Material vorgelegen, um auch weitere Facetten des ‚agitatorischen‘ Lu Xun zu präsentieren. Genau hierum geht es Theobaldy aber nicht. Vielmehr sieht er in Lu Xuns Werk ein gewisses Ideal einer spezifischen Art von Erlebnislyrik, die immer in einem dialektischen Verhältnis zum Politischen stehe: „Das subjektive Empfinden ist Impuls und Ziel des Schreibens, das so seinen politischen Anlaß gleichsam durchkreuzt.“ (Kein Ort, S. 115) ‚Durchkreuzen‘ ist hier doppeldeutig im Sinne von ‚durchziehen‘ und ‚entgegenwirken‘. Lu Xun erhalte im Gedicht „den objektiven Anlaß, den gefühlserfüllten subjektiven Augenblick und die politische Reflexion“, ohne jemals in Selbstmitleid zu verfallen (Kein Ort, S. 115). Bei aller kulturellen und historischen Unterschiedlichkeit erkennt Theobaldy darin denselben Schreibimpuls wie bei den Autoren der ‚Neuen Subjektivität‘: Das schmale lyrische Werk Lu Xuns wird dadurch auch interessant für die Diskussion dessen, was in der Bundesrepublik seit den siebziger Jahren die Neue Subjektivität genannt wird. Hiermit kann kaum die Rückbesinnung auf individuelle Nöte und Wünsche nach einem Scheitern kollektiver Aufbruchsversuche gemeint sein, auch wenn dieses Moment daran auszumachen ist. Vielmehr lag das Neue darin, das Gedicht an den Ort zu rücken, an dem das Subjekt sich selbst im Schnittpunkt gesellschaftlicher Entwicklungslinien findet. Dies bezeichnet den spannungsreichen Versuch, von der Beschädigung des Subjekts auf subjektive Weise zu reden, die Verletzung kollektiver Träume in einem Medium auszusprechen, das den Vorwurf, elitär zu sein, mit sich trägt. […] Verdächtig erscheint derjenige, den es nie verlockt, sich in der Anpassung oder im Rückzug auf seine Innerlichkeit aus dem Spannungsverhältnis zur Gesellschaft herauszustehlen. (Kein Ort, S. 116)
Lu Xun, dessen Biographie alleine schon jeden Vorwurf elitistisch-weltfernen Dichtertums abprallen lässt, wird so zum Bündnisgenossen der Neuen Subjekti-
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vität. Was Theobaldy weniger explizit diskutiert, ist die Frage, warum genau das traditionelle Gedicht Lu Xuns diese Spannungsverhältnisse besonders ausgeprägt zum Tragen bringt, während der Dichter sonst doch gerade für seine Verdienste um eine neue Baihua-Literatursprache bekannt ist und Theobaldy selbst, wie die anderen Autoren der ‚Neuen Subjektivität‘, vor kurzem noch einen stark alltagssprachlich durchsetzten formalästhetischen Zugang, „zuweilen an der Grenze zur rhythmisierten Prosa“,39 als Dichtungsideal vehement verteidigt hatte. So begründet er seine Verwendung formstrenger Vers- und Strophenmuster in Kein Ort zum Schreiben ausschließlich translatorisch. Er wolle den „Unterschied zwischen klassisch gebundener und zeitgenössisch freier Form […] wenigstens anklingen lassen“, zudem gebe es eine gewisse „Geschichte des Übersetzens“ chinesischer Lyrik, in der sich die Konvention etabliert habe, je Schriftzeichen einen Versfuß zu setzen (Kein Ort, S. 118). Theobaldy weicht damit der Frage nach der Rolle sprachlicher Form zur Umsetzung des Spannungsverhältnisses Politik–Gesellschaft aus, obwohl gerade diese für ihn von Interesse gewesen sein dürfte, nicht zuletzt, da Lu Xun die klassische Formsprache oft mit stärker mündlich geprägten Stilelementen versetzt und also variiert.40 Theobaldy experimentierte durchaus – wie mehrere der ‚Neusubjektivisten‘ – ab den späten 1970er Jahren wieder mit verschiedenen Traditionen gebundener Lyrik,41 wenn auch zunächst unter deutlichem Vorbehalt: Jedoch habe ich nicht erfahren, was sich mit jenen gebundenen Formen heute noch beweisen ließe, außer daß sich mit ihnen spielen läßt und daß man dieses Gefühl zu spielen spürt. […] Wenn das Spiel gelaufen ist, wirken diese strengen Metren vor allem aufdring-
|| 39 Helmut Kreuzer, „Neue Subjektivität. Zur Literatur der siebziger Jahre in der Bundesrepublik Deutschland“, in: Durzak (Hg.), Deutsche Gegenwartsliteratur, S. 77–106, hier S. 81. 40 Vgl. Duan Pingshan 段平山, „Cong kouyuhua tezheng kan Lu Xun shige de shenmei shuxing“ 从口语化特征看鲁迅诗歌的审美属性 (Die ästhetischen Eigenschaften von Lu Xuns Lyrik unter Betrachtung der umgangssprachlichen Eigenarten), in: Shaoguan Xueyuan xuebao 11 (2004), S. 5–8. 41 Vgl. Alexander von Bormann, „Die Rückwendung zur Formtradition in der Lyrik der 80er Jahre“, in: Duitse Kroniek 34/1 (1986), S. 2–12; Moray McGowan, „Neue Subjektivität“, in: Keith Bullivant (Hg.), After the ‘Death of Literature’. West German Writing of the 1970s. Oxford/New York/München 1989, S. 53–68, hier S. 66f. Zur Spannung zwischen Formexperimenten, intertextueller Einbindung und der Suggestion von unprätentiöser Direktheit bei Theobaldy vgl. auch Fritz Martini, „Jürgen Theobaldy“, in: Weissenberger (Hg.), Die deutsche Lyrik, S. 415– 427, hier S. 418–420, S. 426.
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lich und herrschaftssüchtig, oder es sind Rettungsringe, ein ‚Immerhin‘ für jemand, der sich gar nicht in Gefahr begeben hat.42
Dennoch sollten ab Drinks (1979) gebundene Formen immer wieder in Theobaldys Werk auftauchen, neben solchen des europäischen Kanons ab der Beschäftigung mit Lu Xun chinesische und in dem jüngeren Werk insbesondere japanische. Aber auch noch in den 1990ern rechtfertigte der Verfechter des ‚Alltagstons‘ diese Suchbewegung mit dem Anspruch, klassische Techniken wie Reim, Silbenzählung und metrische Regularität mit einem zeitgenössischeren Register zusammenzuführen: „Aber ich will mein Gedicht offen halten […]. Beim Erkunden antiker Formen wie Catulls Elfsilber und der sapphischen Ode sollte mein Straßen- und Kneipendeutsch sich bewähren, ein unmöglicher Weg vielleicht, doch geht die Lyrik meist unmögliche Wege“.43 Obgleich Theobaldy also im Raum stehen lässt, inwiefern die spezifisch klassische Form und Dichtungssprache bei Lu Xun konstitutiv für das Zusammentreffen verschiedener Schreibimpulse sein könnte, mag er in Lu Xun nicht nur einen Garanten der gelingenden lyrischen Engführung von Privatem und Politischem gesehen haben. Über den Umweg der Übersetzung führt er auch die formalen Suchbewegungen in ihrer Spannung zur Tradition bewusst fort und legitimiert sie – und ergänzt diese Suche um Alternativen zum europäischen Kanon. Dabei werden intertextuelle Referenzräume eröffnet, die nun keineswegs auf revolutionäre Ansätze hindeuten: Eine der frühen Gedichtgruppen Lu Xuns, „Drei Abschiedsstrophen meinen Brüdern“ (别诸弟三首) lässt Theobaldy folgendermaßen beginnen: Ständig sehnt sich meine Seele träumend nach zuhaus; Welchen Schmerz erlegt der Abschied nur den Menschen auf! (Kein Ort, S. 17)
Zhou Zhenfu, Lu-Xun-Forscher und -Herausgeber, kommentiert das Original entschuldigend, es komme aus der Frühphase, als Lu Xun noch nicht anders konnte, als über ‚die Leiden des Abschieds“ zu schreiben, ehe er in Japan mit revolutionärem Gedankengut in Kontakt kam.44 Ni Moyan 倪墨炎 sieht das Gedicht als Nachweis der damals noch auf den Autor wirkenden „Einflüsse der || 42 Jürgen Theobaldy, Drinks: Gedichte aus Rom. Heidelberg 1979, S. 43. 43 Jürgen Theobaldy, „Offene Form“, in: Ders., Mehrstimmiges Grün (Text und Porträt 14). Berlin/Weimar 1994, S. 133–144, hier S. 140. 44 Lu Xun 鲁迅, Lu Xun shige zhu 鲁迅诗歌注 (Lu Xuns Gedichte mit Kommentar), hg. von Zhou Zhenfu 周振甫. Nanjing 2006, S. 16.
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Erziehung in der Feudalkultur“.45 Die Motive sind schon im Chinesischen natürlich keineswegs originell. Theobaldy lässt ein gewisses Pathos durchaus zu bzw. forciert es durch den Ausruf im zweiten Verspaar und die Alliteration der s- und sch-Laute. Vor allem aber hebt er in V. 1 auf einen intertextuellen Vergleich mit einem Gedicht ab, das die Maßstäbe der ‚Neusubjektivisten‘ keineswegs erfüllt, Eichendorffs „Mondnacht“: Und meine Seele spannte Weit ihre Flügel aus, Flog durch die stillen Lande, Als flöge sie nach Haus.46
Die Zeichen aus Lu Xuns erstem Vers, 梦魂常向故乡驰 (Quan ji 8, S. 474f.), sind: „Traum Seele/Geist oft Richtung Heimatort galoppier[t]“, die Assoziation liegt von vorneherein nahe. Theobaldy stellt sie aber noch einmal heraus: in der Wortwahl („Seele“, „nach Haus“), der Markierung der Seelenreise als rein hypothetische, dem archaisierenden Duktus und dem Ausklingen des Verses auf „haus“, bei Eichendorff als Reimwort, bei Theobaldy assonierend mit „auf“. Die Anspielung dürfte auf eine doppelte Funktion abzielen: Einerseits legt sie nahe, wie sehr der frühe Lu Xun in der Tradition verhaftet ist und auf konventionelle Topoi zurückgreift. Andererseits aber wird auf dem Umweg über die Übersetzung letztlich auch der eigenen, unter Verdacht des weltfremden Träumertums stehenden Tradition ein legitimer Ort zugewiesen; sie bleibt präsent als dichtungshistorischer Bezugsraum.
|| 45 Auf Chinesisch: 封建文化教育的影响: Ni Moyan 倪墨炎, Lu Xun jiu shi qianshuo 鲁迅旧诗浅 说 (Eine Basiseinführung in die traditionelle Lyrik Lu Xuns). Shanghai 1987, S. 14. Auch Ni Moyan hat zahlreiche Standardreferenzwerke zu Lu Xun verfasst. Man sieht, wie sich die LuXun-Interpreten in China lange vor die Herausforderung gestellt sahen, mit Versen umzugehen, die nicht in das Bild des heroischen Lu Xun passten. Alternativ versuchte man die Texte z.B. so umzudeuten, dass hier nicht die Liebe zum Bruder, sondern zum in der Revolution begriffenen Vaterland zum Ausdruck käme (so eine Schulbuch-Interpretation, zitiert in Wang Yongpei 王永培 [Hg.], Lu Xun jiu shi hui shi 鲁迅旧诗汇释 [Zusammenstellung der Erläuterung zu Lu Xuns traditionellen Gedichten], Bd. 1. Xi‘An 1985, S. 66). Ich werde noch mehrmals auf Wangs Zusammenstellung zurückkommen, da diese zentrale Deutungsansätze Lu Xuns bis in die Zeit der Theobaldy’schen Übersetzung nachweist und sich an ihr deutlich erkennen lässt, wie untrennbar politische Indienstnahme und Literaturinterpretation im Fall Lu Xuns sind, nicht zuletzt durch die autoritativen Vorgaben hochrangiger Politiker, inklusive Mao und seiner engsten Kreise. Das heißt übrigens nicht, dass diese Interpretationen pauschal zu verwerfen sind, aber Vorsicht vor Vereinseitigung ist grundsätzlich geboten. 46 Joseph von Eichendorff, Werke, hg. von Wolfgang Frühwald u.a. Frankfurt a.M. 1985–1993, Bd. 1, 1987, S. 323.
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Die späteren Gedichte – Lu Xun verfasste eine Vielzahl ‚klassischer‘ Gedichte in den turbulenten 1930ern, die nicht zuletzt leichter der Zensur entgingen als seine sonstigen Schriften –47 situieren dann den Sprecher der Gedichte vielfach im Kontext der gesellschaftlichen Geschehnisse, nehmen auf konkrete historische Daten und Ereignisse Bezug. Nicht selten enthalten die Texte auch metapoetische Kommentare zum Schreiben unter den gegebenen Umständen, die Theobaldy aufgreift, gelegentlich auch leicht modifiziert. So heißt es in „Ich erinnere mich, um zu vergessen“ (惯于长夜/为了忘却的记念):48 城头变幻大王旗。 忍看朋辈成新鬼, 怒向刀丛觅小诗。 吟罢低眉无写处, 月光如水照缁衣。 (Quan ji 4, S. 487)
Am Stadtwall wechseln immer wieder die Herrschenden die Fahnen. Muß dulden, daß sie meine Freunde ins Reich der Toten treiben; Steh zornig vor dem Wald der Messer und suche doch nach Versen. Ich murmle sie gesenkten Blickes, hab keinen Ort zum Schreiben; Das Mondlicht fließt, ein helles Wasser auf meinen schwarzen Kleidern. (Kein Ort, S. 43)
Das Gedicht entstand 1931 in Reaktion auf die Verhaftung und Ermordung mehrerer Schriftsteller durch die Guomindang. Unter den Getöteten war der mit Lu Xun befreundete Rou Shi 柔石. Lu Xun selbst sah sich im Zuge des Vorstoßes der Guomindang gegen kritische Dichter wieder einmal akut bedroht und musste mit seiner Familie für einige Zeit untertauchen.49 Der Sprecher schwankt zwischen Wut, Trauer und Resignation. Ließe sich der dritte der hier zitierten Doppelverse annähern: „Wutentbrannt Richtung Messerwald such[e] [ich ein] kleines Gedicht“ (怒向刀丛觅小诗), schreibt Theobaldy: „Steh zornig vor dem Wald der Messer / und suche doch nach Versen“ (Hervorheb. S.L.).50 In beiden Fällen steht die Einsicht in die Ohnmacht einer || 47 Vgl. Kowallis, The Lyrical Lu Xun, S. 35; Lee, „Solace“, S. 149. 48 Das ursprünglich titellos publizierte Gedicht ist wahlweise nach der Anfangszeile betitelt worden oder nach dem Titel eines Essays, in das es eingebunden war, vgl. Lu Xun, Lu Xun shige zhu, S. 67. Teile der folgenden Interpretation greifen auf Ausführungen zurück, die in meinem Beitrag „Von Li Bai bis Mao Zedong“, S. 208–210 enthalten sind. 49 Zu den Kontexten vgl. u.a. Wang (Hg.), Lu Xun jiu shi, Bd. 1, S. 203f. 50 Wolfgang Kubin übersetzt auch „vor“, aber die adversative Konjunktion „doch“ findet sich bei ihm nicht: „Voller Zorn stehe ich vor dem Dickicht der Messer und suche nach Versen“ („Ohne Titel“, in: Lu Xun, Die Methode, wilde Tiere abzurichten. Erzählungen, Essays, Gedichte, hg. und übers. von Wolfgang Kubin. Berlin ²1981, S. 50).
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gewissen trotzigen Geste gegenüber, die aber bei Lu Xun eindeutig doch in Richtung der Täter zielt. Theobaldys Sprecherfigur ist dagegen zwar mit dem Unrecht konfrontiert, „vor“ ist aber lokativ, gibt also nicht zwangsläufig eine Stoßrichtung an: Ob seine Verse Kampfesverse sind, bleibt offen. Auch das eingefügte „doch“ lässt zwei Schlüsse zu: Das Ich schreibt gegen die Mächtigen an, obwohl es sich seiner eigenen ohnmächtigen und physisch bedrohten Lage bewusst ist. Oder aber es lässt sich dazu hinreißen, trotz der Bedrohungslage und der Gräueltaten überhaupt zu dichten. Die Tätigkeit des Dichtens in diesem Vers lässt sich also als Kampfhandlung, als Herausforderung, oder als trotzige, bis zu einem gewissen Grad aber auch eskapistische Geste lesen. Sie wäre entsprechend ambivalent: eine Selbstbehauptung des Künstlers gegen die Macht, zugleich jedoch wohl eine eher ineffiziente, nutzlose Art der Reaktion. Theobaldys Ich ‚murmelt‘ auch seine Verse, während im Original noch von ‚aufsagen, rezitieren‘ (吟) die Rede ist. Der Text scheint mehr an das Ich als an die Außenwelt gerichtet, während natürlich die Verschriftlichung entgegen der Aussage „hab keinen Ort zum Schreiben“ doch wieder für eine gewisse Macht des Wortes spricht. Damit einher geht, dass ein deutscher Leser „keinen Ort zum Schreiben“ im zweifachen Sinn verstehen kann. Dass Theobaldy diesen Vers dem Band als Titel vorangestellt hat, dürfte entsprechend kein Zufall sein: Konkret verweist die Formulierung auf den seines Zuhauses beraubten, verfolgten Dichter; zusätzlich aber ergibt sich eine Dimension, die sich im Original nicht entfaltet: „kein Ort“ als U-topia,51 Schreiben als Zustand der Exterritorialität, der die Denkbarkeit eines Ideals einschließt, bzw. Schreiben als imaginativer Gegenort zur realhistorischen Situierung. Als Titelzitat des Übersetzungsbandes ließe sich die Verszeile sogar, noch weitergehend, als Verweis auf die Übersetzung als Nicht-Ort lesen, als Möglichkeit der Eröffnung von Gegenräumen, die eine (sozial-/polit-)utopische Dimension enthalten können. Damit ist auch die Frage eines möglicherweise nötigen temporären Eskapismus aufgerufen, die, so Theobaldy, Lu Xun „oft genug angesprochen“ habe (Kein Ort, S. 116). Entsprechend stellt Theobaldy der kommunistischen Interpre-
|| 51 Lu Xun schreibt: wuxiechu 无写处 („kein Schreibort“). Der Begriff der Utopie wird im Chinesischen üblicherweise phonetisch übersetzt als wutuobang 乌托邦; die semantische Zusammensetzung des griechischen Begriffs dürfte dem chinesischen Leser weniger präsent sein; dass der chinesische Begriff das Zeichen für „Schreiben“ zwischen die Zeichen für „nicht/kein“ und „Ort“ setzt, spricht auch dagegen, dass Lu Xun eine solche Bedeutungsdimension hätte herausstellen wollen. Keine der von mir konsultierten Interpretationen Lu Xuns legt eine nichtkonkrete Lesart dieser Formulierung nahe.
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tation des bekanntesten klassischen Lu-Xun-Gedichtes eine diametral entgegengesetzte Deutung entgegen: 自嘲
Spöttisches über mich
运交华盖欲何求, 未敢翻身已碰头。 破帽遮颜过闹市, 漏船载酒泛中流。 横眉冷对千夫指, 俯首甘为孺子牛。 躲进小楼成一统, 管他冬夏与春秋。 (Quan ji 7, S. 147)
Mein Schicksal ruht im Himmelbett, was will ich noch erleben? Ich habe mich kaum umgedreht, schon stoße ich dagegen. Den Hut verbeult, tief in der Stirn, treib ich durch volle Gassen; Ich lade Wein ins lecke Boot und trudle auf den Wassern. Mit strengen Brauen, kalt verachtend, trotz ich den Herrn, den vielen; Will meinen Rücken willig beugen, dem Kind als Büffel dienen. Ich bliebe gern in meiner Kammer, mir meine Welt zu bauen; Und ob die Jahreszeit gewechselt, soll dann ein andrer schauen. (Kein Ort, S. 65)
Theobaldy dürfte sicher gewusst haben, dass gerade Passagen dieses Textes zentral waren für die Indienstnahme Lu Xuns durch die Kommunisten. Die Verse 5f. (bei Theobaldy das fünfte und sechste Verspaar) gelten als die „in der Volksrepublik China am häufigsten zitierten Verse[n] moderner Lyrik, sieht man einmal von den Dichtungen Mao Zedongs ab“.52 Letzterer zitiert die Verse, wie gesagt, in seiner berühmten, in deutschen Übersetzungen ebenfalls zugänglichen Yan’aner Literaturrede als ‚Maxime‘, der die Schriftsteller zu folgen hätten und deutet sie als Konfrontation der Feinde und Unterwerfung der Intellektuellen unter die kommunistische Sache: Unter „tausend Zeigefingern“ [der Männer; bei Theobaldy „den Herrn, den vielen“, Anm. S.L.] sind hier die Feinde zu verstehen; wir werden uns den Feinden nie beugen, wie grausam sie auch sein mögen. Mit den „Kindern“ sind hier das Proletariat und die breiten Volksmassen gemeint. Alle Kommunisten, alle Revolutionäre, alle revolutionären Literatur- und Kunstschaffenden müssen sich Lu Hsün […] zum Vorbild nehmen, müssen zum
|| 52 So Kubin in den Anmerkungen zu dem Gedicht in: Lu Xun, Methode, S. 92. Theobaldy weist in seinen Anmerkungen nicht darauf hin, was wohl weniger auf Unkenntnis dieses Zusammenhangs verweisen dürfte als auf den Versuch der ‚Befreiung‘ der Verse von den maoistischen Festlegungen.
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„Büffel“ für das Proletariat und die Volksmassen werden, ihnen hingebungsvoll mit ganzer Kraft bis zum letzten Atemzug dienen.53
Dies stellt chinesische Lu-Xun-Interpreten bis heute vor Herausforderungen, sowohl, wie mit dem Moment der Selbstironie umgegangen werden soll, als auch, wie dann die Schlussverse zu deuten seien. Mao zitiert vorsorglich nur das eine Verspaar; F. C. Weiskopf beispielsweise präsentiert, wie in Kapitel 4 diskutiert, dieses ebenfalls als scheinbar vollständiges Gedicht. Während man in China den Text ernster zu machen versuchte, kostet Theobaldy das humorvolle Moment durch leicht flapsige, umgangssprachliche Äußerungen aus. Gerade in diesem Gedicht kann man insofern sowohl im Original als auch in der Übersetzung die von Theobaldy beschworene Fusion von Alltagssprache und Formstrenge erkennen: Ernst und Humor treffen aufeinander; kulturelle Rezeptionshorizonte werden aufgerufen, aber durch das Register doch unterlaufen; im Original oszilliert das Gedicht zudem stärker zwischen der gedrängten Vieldeutigkeit und dem Anspielungsreichtum der klassischen Literatursprache und einer klar-direkten Alltagssprache. Zum Ende des Gedichts hin wird der Ton ernster, Theobaldys Version zieht aber andere Schlüsse aus den Frustrationen und Herausforderungen des Dichters als die chinesischen Interpreten: „Mit strengen Brauen, kalt verachtend, / trotz ich den Herrn, den vielen; / Will meinen Rücken willig beugen, / dem Kind als Büffel dienen“ mag noch mit der offiziellen Interpretation einhergehen, mindestens, wenn man die „Herrn“ tatsächlich als Guomindang, japanische Aggressoren etc. liest. Theobaldys Version zielt zwar durchaus auf Machthaber, aber welche, ist nicht klar. Der Vers ließe sich durchaus lesen als trotzige Behauptung der eigenen, von allen Seiten unabhängigen Position. Das ist keine abwegige Lesart, da das Gedicht ursprünglich für den Dichter Liu Yazi geschrieben wurde, der zum damaligen Zeitpunkt, trotz eines gespannten Verhältnisses zur Guomindang-Führung um Chiang-Kai Shek und einer guten persönlichen || 53 Ich zitiere hier die Übersetzung Weigelin-Schwiedrziks („Politik“, S. 13); vgl. zu der Rede und ihrer Verfügbarkeit im Deutschen auch Kapitel 4. In der chinesischen Literaturwissenschaft der frühen postmaoistischen Zeit (also der Zeit, in der Theobaldy seine Versionen verfasste), gab es eine Kontroverse um die Lesart des Verspaares; eine Gruppe von Literaturwissenschaftlern, zunächst Song Rong 淞戎, las die ‚tausend Männer‘ als Volk, das Zeichen 指 nicht nominal als Zeigefinger, sondern verbal, als ‚zeigen‘ bzw. ‚das, worauf gezeigt wird‘, entsprechend also den Vers als Verachtung dessen, worauf die Massen kritisch deuten (vgl. für einen Überblick die Ausschnitte in Wang Yonpei [Hg.], Lu Xun jiu shi, S 467–474. Die Deutung knüpfte unter anderem an eine Interpretation Zhou Enlais an. Mit diesem Vorschlag wurde zwar die Deutungshoheit Mao Zedongs infrage gestellt, die politische Stoßrichtung ist aber freilich ähnlich.
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Beziehung zu Mao Zedong, mit dem ihn die Präferenz für klassische Formen verband, als Guomindang-Funktionär aktiv war.54 Vor allem aber im nächsten Verspaar offeriert Theobaldy eine eigene Interpretation. Eine Interlinearübersetzung entspräche: „verstecken hineingehen kleines Gebäude werden eine Einheit / kümmern anderer Winter Sommer und Frühling Herbst“ (躲进小楼成 一统, / 管他冬夏与春秋。) Offizielle Interpreten wollten in Mao Zedongs Nachfolge in den Versen keinen Widerspruch zum angeblichen unbedingten Bekenntnis zur kommunistischen Revolution sehen. Der Vers wird entsprechend gedeutet, indem man ihn wahlweise als Kritik anderer Menschen liest, die sich nur um ihre kleine Welt kümmern (im Chinesischen ist kein Subjekt gegeben), als Verspottung von Chiang Kaisheks ‚Einheitsvision‘ oder aber beispielsweise auf Lu Xuns Katz-und-Maus-Spiel mit der Guomindang hinweist, also auf strategische, kurzfristige Rückzugstaktiken.55 Man mag zu diesen Deutungen stehen, wie man will, offensichtlich aber gibt es keinen Konsens, außer, dass die Texte unbedingt den Kampfesmut der vergangenen Verse bestätigen müssen. Theobaldy dreht dies um und sieht in den Versen ein Eingeständnis des Wunsches nach einem Refugium im kleinen Raum des eigenen Zuhauses bzw. der eigenen Innerlichkeit, losgelöst von jeder Veränderung des äußeren Raumes. Dies bleibt im Konjunktiv, also hypothetisch, wird aber als Gedankenspiel zugelassen. Theobaldy schreibt dem Kämpfer damit die Stärke zu, sich auch Schwächen zu erlauben und dem Raum des Privaten einen Eigenwert beizumessen, der zwar der tatsächlichen Handlung untergeordnet wird, aber im Bewusstsein eines gewissen Verlustes. Wie im obigen Beispiel bleibt der Rückzugsversuch durch den Konjunktiv und die selbstironische Geste ambivalent. Im Falle dieses im Chinesischen interpretatorisch überstrapazierten Gedichtes wird also die Übersetzung zu einer Art Einspruch gegen eine jahrzehntelange Tradition der Vereinnahmung und zu einem Versuch, gegen den rein politischen Lu Xun einen anderen im öffentlichen Bewusstsein zu etablieren. Übersetzung ist in diesem Sinne Gegendeutung. Auch Theobaldys Deutung ist natürlich von einer spezifischen Interpretationsleitline geprägt, man könnte die Verse beispielsweise, wie Wolfgang Kubin, mehr als Versuch einer über den Dingen stehenden philosophischen Konstitution der Einheit von Ich und Welt lesen: „In meiner Hütte verborgen, mir selbst die Einheit der Welt, / Scheren
|| 54 Auf den Entstehungskontext wird zwar durchaus hingewiesen, vgl. z.B. Wang (Hg.), Lu Xun jiu shi, Bd. 1, S. 437f., für die Interpretation wird dieser Zusammenhang aber (gezielt?) nicht fruchtbar gemacht. 55 Vgl. den Überblick einflussreicher Forschungspositionen in Wang (Hg.), Lu Xun jiu shi, Bd. 1, S. 474–478).
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mich nicht die Jahreswechsel da draußen.“56 In jedem Fall aber eröffnet die kontextuelle Distanz der Übersetzung Leseweisen, die sich gezielt den Rezeptionslinien in der Ursprungskultur widersetzen.
6.3 Zum Interpretationspotenzial beim kooperativen Übersetzen: Drei Versionen eines Lu Xun-Gedichts57 Wie sich Lu Xuns Vieldeutigkeit in der übersetzerischen Interpretation für verschiedenste Lesarten öffnet, lässt sich an einem weiteren Gedicht erkennen, das, wie oben schon angemerkt, im Rahmen einer Ausstellung von drei Dichtern: Jürgen Theobaldy, Sarah Kirsch und Gisela Kraft, bearbeitet wurde und zu dem die Interlinearversion vorliegt. Für die Übersetzung und Zusammenstellung der Materialien zu der aus China stammenden Ausstellung, die unter dem Titel Lu Xun Zeitgenosse im Januar und Februar 1980 in der Staatsbibliothek Berlin gezeigt wurde, wurden neben den drei hier diskutierten Dichtern unter anderem auch Hans Magnus Enzensberger und Stephan Hermlin, der das Lu-Xun-Wohnhaus besichtigt hatte, sowie Lars Gustafsson herangezogen. Mehrere Gedichte wurden in kooperativen Übertragungsprozessen erstellt, teilweise in nebeneinandergestellten Vergleichsversionen. Gleich drei Versionen entstanden zu einem der berühmtesten klassischen Gedichte. Das Original ist auf den 30. Mai 1934 datiert und steht damit in einem doppelten historischen Kontext: Einerseits handelt es sich um eine Phase schwerer Kämpfe zwischen der Guomindang und den Kommunisten kurz vor Beginn des Langen Marsches. Seit den frühen 1930ern hatte die Guomindang begonnen, massiv gegen kritische Schriftsteller wie Lu Xun und andere Autoren aus seinem Umfeld vorzugehen. Andererseits verweist das Da-
|| 56 Lu Xun, Methode, S. 50; leicht verändert in Lu Xun, Werke, hg. von Wolfgang Kubin. Zürich 1994, Bd. 6: Das trunkene Land. Sämtliche Gedichte. Reminiszenzen, übers. von Wolfgang Kubin und Angelika Gu, S. 41: „In meiner Hütte verborgen, mir selbst die Einheit der Welt, / Schert mich wenig der Zeitenwechsel vor der Tür.“ Die Formulierung hier deutet expliziter auf den gesellschaftlichen und politischen „Zeitenwechsel“ hin. In jedem Fall ist der ‚Rückzug‘ hier im Indikativ gehalten. Wie Theobaldy setzt auch Kubin auf eine Interaktion zwischen Pathos und humorgeladener Umgangssprache. 57 Dieses Teilkapitel greift zahlreiche Beobachtungen aus meinem Aufsatz „Dichtung, Erinnerung und Zeitgeschichte: Zum Potenzial kooperativen (Fehl-)Übersetzens durch Dichter und Philologen am Beispiel dreier Übertragungen eines klassischen Gedichts von Lu Xun“, in: Quaderna 4 (2018) (https://quaderna.org/4/) in überarbeiteter Fassung auf.
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tum auf den Jahrestag des gewaltsamen Vorgehens britischer Militäreinheiten gegen chinesische Demonstranten am 30. Mai 1925.58 Das Gedicht, im klassischen Shi-Stil mit vier Versen à sieben Zeichen sowie festgelegten Reim- und Tonmustern geschrieben, ist eines der bekanntesten Lu Xuns, nicht zuletzt, da Mao Zedong es 1961 im Zuge einer Veranstaltung zur japanisch-chinesischen Freundschaft in eigener Kalligraphie der japanischen Delegation schenkte als Gedicht, das Lu Xun „in der dunkelsten Zeit Chinas vor dem Sonnenaufgang geschrieben habe“.59 无题 万家墨面没蒿莱, 敢有歌吟动地哀。 心事浩茫连广宇, 于无声处听惊雷。60
Neben einer Interlinearversion wird hier die Aussprache entsprechend der heute gängigen Standardtranskription wiedergegeben, problematische Stellen werden kommentiert. Sowohl die Kommentare als auch grammatikalische Festlegungen in der Interlinearversion geben dabei schon einige Interpretationsentscheidungen vor.
|| 58 Vgl. u.a. Wang, Lu Xun jiu shi, Bd. 2, S. 838f. und S. 840–842; Lu Xun, Lu Xun shige zhu, S. 177–179; Jian Qing 剑青, „Geming jingleizhen huanyu – xuexi Lu Xun shi ‚Wuti‘“ 革命惊雷震 寰宇——学习鲁迅诗《无题》 (Das Krachen des plötzlichen Revolutionsdonners in der ganzen Welt – zum Studium von Lu Xuns Gedicht „Ohne Titel“), in: Beijing Shifan Daxue xuebao (1975), S. 75–78, hier S. 75f. 59 这一首诗是鲁迅在中国黎明前最黑暗的年代里写的。 (Zit. im Zeitungsbericht über den Besuch: „Jiejian zheng zai woguo fangwen de xuduo Riben pengyou bing tong tamen qinqie tanhua Mao Zhuxi shuo: Riben renmin douzheng de qiantu shi guangming de“ 接见正在我国 访问的许多日本朋友并同他们亲切谈话 毛主席说:日本人民斗争的前途是光明的 (Empfang der vielen japanischen Freunde, die gerade in China zu Besuch sind und freundliche Diskussionen mit ihnen. Mao Zedong sagt: Die Zukunft des Kampfs des japanischen Volks ist leuchtend), in: Renmin ribao, 8. Oktober 1961. 60 Der Originaltext ist zusammen mit einer Kalligraphie Lu Xuns und der Mao Zedongs ebenfalls im Ausstellungsband enthalten, vgl. Egbert Baqué (Hg.), Lu Xun Zeitgenosse. Berlin 1979, S. 170f.
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Abb. 1: Kommentierte Interlinearversion im Ausstellungsband Lu Xun Zeitgenosse, S. 172 (Ausschnitt)
Das Anfangsbild der geschwärzten Gesichter in der Wildnis wird durch den Kommentar ausgedeutet als Bild der Toten, deren Gräber pflanzenüberwuchert sind. Tatsächlich ist das Bild jedoch nicht so eindeutig, sondern enthält weitere Implikationen: „Tintengesicht“, mo mian 墨面 kann auf Straftätowierungen im klassischen China verweisen, also auf Kriminalisierung. Die tintenschwarze Farbe kann allgemein als Hinweis auf von Leid, Verlust und schwerer Arbeit ausgezehrte Menschen gelesen werden. 61 Mo haolai 没 蒿 莱 , „versinken/verschwinden in den Überwucherungen“ wiederum könnte auf überwu-
|| 61 Bei dem Philosophen Mengzi 孟子 wird beispielsweise ein Premierminister nach dem Tod seines Prinzen als Mann von „tieftintenfarbigem Gesicht“ bezeichnet. Vgl. Mengzi 孟子, Teng Wen Gong 滕文公上 (Prinz Teng Wen) I.2: 君薨,听于冢宰。歠粥,面深墨。 In der Übersetzung James Legges: „When a prince dies, his successor entrusts the administration to the prime minister. He sips the congee. His face is of a deep black.“ (in Gegenüberstellung auf https://ctext.org/mengzi/teng-wen-gong-I [01.01.2018]).
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cherte Gräber hindeuten, aber auch auf die vor der Gewalt ins Hinterland Geflohenen.62 Vers 2 deuten Streffer und Baqué als Auferstehung der Toten zur Anklage und ergänzen in der Interlinearversion das Subjekt „Sie, die Gesichter“. Der Vers wird im Chinesischen zumeist als rhetorische Frage gelesen, im Sinne von „Wagt man es/Wer wagte es, Klagelieder zu haben“, wodurch an die Stelle der konkreten Anklage mehr die Unsicherheit tritt, ob eine solche unter den gegebenen Umständen noch denkbar ist, und sich zudem die Frage stellt, ob es um Klagelieder der Leidenden selbst geht oder die Möglichkeiten des Dichters.63 Eingriffe nehmen Baqué und Streffer auch dann vor, wenn sie die Wörter, die in verschiedenen Wortarten verwendet werden können, auf eine festlegen, oder aber Verben auf ein Tempus festlegen, das im Chinesischen keineswegs feststeht. Dies gilt für den Begriff mo 墨 im ersten Vers, der zunächst als „getinteter, geschwärzter“ eingeführt wird, hier allerdings mit dem Hinweis auf die „Wortbed. Tinte, chin. Tusche, schwarz, dunkel“; es gilt auch für mo 没, hier u.a. übersetzt als „versunken“, für lian 连, „verbunden“ (wieder mit Infinitiv in Klammern), und für jing 惊, „aufmerkend“. Durch die Partizipialkonstruktionen wird Vor- oder Gleichzeitigkeit suggeriert, die im Original offengelassen wird. Auch ist das jing im letzten Vers separat übersetzt, tatsächlich kann jinglei 惊雷 als gängiger Ausdruck „plötzlicher Donner“ bedeuten. Damit suggeriert die deutsche Erstübertragung, das Ich fühle sich durch den Donner bedroht, während der Vers in China üblicherweise positiv, als Vorzeichen der Revolution gelesen wird. Mag auch die gängige Interpretation, Lu Xun deute hier die Ge-
|| 62 Vgl. zu den Implikationen von momian zusammenfassend Wang (Hg.), Lu Xun jiu shi, Bd. 2, S. 839–842. Über den ersten Vers und die verschiedenen Bedeutungsimplikationen stritten schon die ersten Interpreten, allesamt Dichter und Akteure der Kulturpolitik, die Mao Zedong nahestanden, vgl. die Artikel in der „Volkszeitung“ Renmin ribao von 1961: Zang Kejia 臧克家, „Mao Zhuxi qin ti Lu Xun shi“ 毛主席亲题鲁迅诗 (Das vom Vorsitzenden Mao selbst in Kalligraphie geschriebene Gedicht Lu Xuns), 13. Oktober 1961; ders., „Zai tan Mao Zhuxi qin ti Lu Xun de shi“ 再谈毛主席亲题鲁迅的诗 (Um noch einmal auf das vom Vorsitzenden Mao selbst in Kalligraphie geschriebene Lu Xun-Gedicht zu sprechen zu kommen), 9. November 1961; Guo Moruo 郭沫若, „Fanyi Lu Xun de shi“ 翻译鲁迅的诗 (Zur Übersetzung von Lu Xuns Gedicht), 10. November 1961; Shen Yinmo 沈尹默, „Ye tan Mao Zhuxi zeng Riben pengyou de Lu Xun shi“ 也谈毛主席书赠日本朋友的鲁迅诗 (Auch zu dem Gedicht Lu Xuns, das der Vorsitzende Mao den japanischen Freunden als Kalligraphie geschenkt hat), 1. November 1961. Diese Interpretationen bieten die Grundlage für die meisten folgenden Interpretationen bzw. die politische Stellung der Interpreten zwingt die spätere Forschung, sich mit diesen Grundansätzen zu befassen. 63 Vgl. den überblicksartigen Zusammenschnitt von Forschungspositionen in Wang (Hg.), Lu Xun jiu shi, Bd. 2, S. 848–854.
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wissheit des Sieges der kommunistischen Revolution an,64 aus der Retrospektive und im Zuge der politischen Inanspruchnahme Lu Xuns die Siegessicherheit überbetonen, könnte doch das Donnern mindestens ein Ende des Schweigens der Unterdrückten markieren.65 Andererseits ist die Interlinearübersetzung oft durchaus bemüht, die Vieldeutigkeit und grammatikalische Offenheit des Originals zu bewahren, so, wenn in Vers 1 für das bereits erwähnte mo 没 nicht nur „versunken“ und ähnliche Begriffe aufgeführt werden, sondern auch „nicht, kein“, Übersetzungen, die zustande kämen, wenn man das Zeichen nicht als mo, sondern als mei läse, da es sich hier um ein Schriftzeichen handelt, dem verschiedene Aussprachen und damit Bedeutungen zugeordnet sind. Für xinshi 心事 wird die wörtliche Zusammenstellung der Kompositumsbestandteile „Herzensdinge“ ebenso offeriert wie die Interpretation „mein ganzes Ich“, wohl aus dem Kontext, auch wenn der Ausdruck üblicherweise eher in Richtung „Sorgen“ zielt. Für das letzte Zeichen beispielsweise wird sowohl die nominale als auch die verbale Bedeutung, „Donner“ und „donnern“, angeboten. Die Vorstufe der endgültigen Übersetzung ist somit eigentlich bereits wesentlich mehr als eine Interlinearübersetzung. Tatsächlich gibt es eine gewisse Spannung zwischen dem Versuch, die Offenheit des Originals zu bewahren und etwas von den sprachlichen und lautlichen Spezifika des Originals möglichst deutungsneutral wiederzugeben, und dem Bestreben, das Gedicht für die Weiterarbeit verständlich zu machen, durch die Explikation und kommentierende Kontextualisierung dem kulturfremden Dichter einen Zugang zu eröffnen. Auf eine literaturgeschichtliche Kontextualisierung durch Hinweise auf intertextuel-
|| 64 Vgl. ebd., S. 854–859. 65 Wolfgang Kubin/Angelika Gu lehnen eine Interpretation des vierten Verses als Anspielung auf die Revolution ab und stellen die Hypothese in den Raum, dass hier auf eine Art buddhistische Erleuchtung angespielt wird, vgl. Lu Xun, Werke, Bd. 6, S. 255f. Obwohl diese Bedeutungsdimension in den gedanklichen Gehalt des Gedichts sicher hineinspielt, scheint mir dies als alleinige Lesart möglicherweise zu entpolitisiert. Wenn Kubins und Theobaldys Übersetzungen Berührungspunkte zeigen, wird dennoch deutlich, dass Kubin ein größeres Interesse an der philosophischen Ausrichtung der ‚Innerlichkeit‘ Lu Xuns hat, während Theobaldy das Spannungsverhältnis zwischen politischem Handlungswillen einerseits und Privatheit und literarischer Autonomie andererseits fokussiert. Sowohl Theobaldy als auch Baqué haben Kubin mehrfach und polemisch als schlechten Übersetzer angegriffen; Kubin hat auf die Anfeindungen mit dem Hinweis reagiert, die Übersetzungen seines ehemaligen Studenten Baqué und Theobaldys seien „Unfug“ (Kubin, Schatten, S. 78–81, hier S. 81).
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le Referenzen wird dagegen verzichtet,66 ebenso wie auf eine konkrete historische Kontextualisierung, wenn auch diese in Grundzügen im Zusammenhang der anderen Ausstellungstexte eröffnet wird. Damit wird der Text letztlich zusätzlich für eine kulturübergreifende Interpretation geöffnet. Diese spannungsvolle Eigenart der Zwischenversion verweist auf die Schwierigkeit, einen Text aus einer fremden Literatur zugleich deutungsoffen und verständlich zu gestalten. Die kommentierende Interlinearversion schlägt teilweise bereits klare Deutungsrichtungen ein, obwohl in ihr einiges an Vieldeutigkeit bewahrt wird, das dann in den unterschiedlichen Versionen je eigene Dynamiken entfaltet, wie im Folgenden zu sehen sein wird. Ohne Titel (übers. von Sarah Kirsch) Tausend Familien geschwärzte Gesichter schon unterm Laub. Wege gehn drüber, die Erde bewegt sich vor Trauer. Ich sehe sie fallen vergehen wehklagen An meinem Ort in der Stille – laut kracht der Donner.67
In Sarah Kirschs Version deutet sich ein Brückenschlag zwischen dem China der 1930er Jahre und der deutschen NS-Vergangenheit bzw. dem Umgang damit an. So fokussiert ihre Weiterverarbeitung des Textes zwei Aspekte: die fortdauernde Bedrohung durch Kräfte der Gewalt sowie die Frage von Zeugenschaft für diejenigen, die nicht für sich sprechen können. Kirschs reimlose Version bewirkt durch eine Tendenz zum Trochäus, durch Zeilenstil und Enjambement einen Eindruck von vorwärtsdrängender Atemlosigkeit und generiert andererseits einzelne Momente des Innehaltens. Die Dichterin entscheidet sich im ersten Vers dafür, jia 家, das in der Interlinearversion eingeklammert ist und auf die Mengenangabe verweist, tatsächlich mit „Familien“ zu übersetzen, macht sich aber gerade die ungeklärte Beziehung der beiden Nomen aus der Interlinearversion zunutze, indem sie sie ebenso nebeneinandersetzt: „Tausend Familien geschwärzte Gesichter“. Gerade dadurch gewinnt das Bild an Einprägsamkeit, die Toten werden einerseits als Familien mit Frauen und Kindern gedacht, andererseits suggeriert das Pars pro toto in dieser grammatikalisch eigenwilligen Konstruktion deren brutale Verstümmelung. Mit der Entscheidung für „geschwärzt“ übernimmt Kirsch aus der Interli-
|| 66 Neben dem Mengzi-Zitat erkennen chinesische Interpreten noch eine Anspielung auf den Dichter Li Shangyin 李商隐 und den Philosophen Zhuangzi, auf die im Rahmen dieser Arbeit aber nicht weiter eingegangen werden kann (vgl. Shen, „Ye tan“, sowie Guo Moruo, „Fanyi“). 67 Lu Xun, „Ohne Titel“, übers. von Sarah Kirsch, in Baqué (Hg.), Lu Xun Zeitgenosse, S. 171.
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nearversion das Partizip und deutet damit auf die Fremdeinwirkung hin, bei „geschwärzt“ dürfte ein deutscher Leser wohl auch an Verbrennungen und den Holocaust denken. Kirsch fügt das Adverb „schon“ in „schon unterm Laub“ ohne Motivation in der Vorlage hinzu und deutet damit an, dass die Massen an Toten erst der Anfang sind, oder aber, dass sie schon so verdeckt sind, dass sie dem Vergessen anheim gegeben sind. Entsprechend läuft der Beginn des zweiten Verses der Interlinearversion wohl gezielt zuwider: An die Stelle des Gesangs der Toten tritt die Bestätigung ihres Vergessens, der Fortgang des Lebens über sie hinweg. Bewusst dürfte die deutsche Dichterin sich gegen das pathetische und alles ins Mystische rückende Bild der Anklage der Toten, das die Zwischenversion nahelegt, entschieden haben. So können die Toten auch nicht die Erde bewegen, vielmehr ist es die Natur selbst, die bei Kirsch um die Toten trauert und es dem aufmerksamen Beobachter im dritten Vers ermöglicht, das Leiden wahrzunehmen und für die Toten die Stimme zu erheben. Verzichtet das Original auf jegliche explizite Subjektsetzung, stellt Sarah Kirsch das Ich betont an den Anfang des Verses.68 An die Stelle einer Verschmelzung des Sprechers mit der ganzen Umgebung, wie sie die Erstübertragung suggeriert, tritt bei ihr die Zeugenschaft in einer synästhetischen Konstruktion, durch die die Stummheit der Opfer in der Wahrnehmung des Ich aufgehoben wird: „Ich sehe sie fallen vergehen wehklagen“. Der vierte Vers bestätigt noch einmal die Position des Ich am stillen Ort, wohl einem Ort des Nachdenkens und Innehaltens, in den dann der Donner einbricht: „laut kracht der Donner“. Sarah Kirsch betont hier gerade nicht den Wahrnehmungsvorgang, sondern stellt den Klangeffekt durch das onomatopoetische „kracht“ unmittelbar dar, zusätzlich verstärkt durch das hinzugefügte „laut“. Der Schlussvers, in dem das lautmalerische Krachen auf die durch den Bindestrich markierte Pause folgt und umso drastischer wirkt, lässt den Donner als Wiederkehr der Gewalt denken, oder mindestens als deren Vorbote, und weist damit auf die Ahnung, die im „schon“ des ersten Verses anklingt, zurück. Ohne den Text explizit mit der deutschen Vergangenheit in Verbindung zu bringen, stellt Kirsch also wiederkehrende Konstellationen von Macht und Gewalt ebenso heraus wie die Rolle literarischer Zeugenschaft im Kampf um die Erinnerung angesichts der Stimmlosigkeit der Toten. Der Text wird so vor einem doppelten Hintergrund auch zu einem Plädoyer für eine lyrische Zeugenschaft,
|| 68 Dies korrespondiert mit Sarah Kirschs sonstiger Poetik, die sich durch „die wechselseitige Verbindung von Subjektivität, Natur, Gesellschaft und Geschichte bei dominanter Setzung der Subjektivität“ auszeichnet (Alo Allkemper, „Sarah Kirsch“, in: Hartmut Steinecke [Hg.], Deutsche Dichter des 20. Jahrhunderts. Berlin 1994, S. 830–843, hier S. 833).
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die sich der Macht und dem Vergessen widersetzt, im Bewusstsein der wahrscheinlichen Wiederkehr der Gewalt. „[T]ausende starben / tausende brachten sich selber um / lern endlich / dir TAUSENDE vorzustellen […] MILLIONEN sind das gegenteil / von deinem leben“,69, heißt es in einem Gedicht Gisela Krafts, einer jungen sozialistischen Autorin, die im Gegensatz zu der bereits aus der DDR emigrierten Kirsch in den Osten übergesiedelt war. Die Frage nach dem Verhältnis von Masse und sich solidarisierendem Einzelnen ist auch in der Ausarbeitung ihrer Übersetzung zentral: Ohne Titel (übers. von Gisela Kraft) schwarze menschengesichter, modernd unter wurzeln, zahllos, stimmen die klage an, machen die erde stöhnen. eins geworden bin ich mit dem tiefen all, da, im stillen raum, erschreckt mich donner.70
In der Tendenz zum Trochäus ist Krafts Version rhythmisch schneller, unruhiger, was durch die kurzen parenthetischen, etwas abgehackt wirkenden Einheiten im ersten Vers und den Hebungsprall im zweiten Vers noch verstärkt wird. Sie expliziert das Bild der Toten, indem sie das Partizip „modernd“ hinzufügt. Ebenso ergänzt sie „Menschen“, wohl, um die Gesichter nicht als Gespensterfiguren zu markieren, sondern als verstorbene Leidende. „[Z]ahllos“, ihr Vorschlag für wan 万, „zehntausend“, stellt sie abgetrennt an den Schluss des Verses, so dass der Leser zunächst wohl einzelne Totenfiguren imaginieren dürfte und erst dann das Bild ins Massenhafte weiterdenkt, wodurch es konkret und überwältigend zugleich wirkt. Gerade angesichts der Hinzufügungen im ersten Vers überrascht aber die aktive Rolle der Toten im zweiten Vers, es ergibt sich ein etwas bizarres Bild in der gleichzeitigen Betonung von Verwesung und Aktivität. Hier sind es zudem tatsächlich die Toten, die die Erde zur Fortsetzung ihrer Klage bewegen. Der zweite Teil des Gedichts ist auf zwei verschiedene Arten lesbar: Entweder liest man die Verschmelzung zwischen Ich und All als eine Geste umfassender Solidarisierung und damit Voraussetzung, den Donner wahrzunehmen, der mit dem Stöhnen der Erde korrespondiert und als Artikulation von Leid ebenso wie als Vorbote neuer Bedrohung gelesen werden kann. Oder man sieht im
|| 69 Gisela Kraft, „Faustregel“, in: Dies., Eines Nachts in der Zeit. Gedichte. Berlin 1979, S. 46. 70 Lu Xun, „Ohne Titel“, in: Baqué (Hg.), Lu Xun Zeitgenosse, S. 171.
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dritten Vers eine Art weltfremden Entrückungszustand, den das Ich zuvor eingenommen hat – Kraft entscheidet sich wie ihre Vorlage für das Perfekt – und aus dem es durch den Donner gerissen wird.71 In beiden Fällen kann man wieder eine poetologische Dimension erkennen, einen Hinweis auf die Rolle eines Dichter-Ichs im Verhältnis zur Masse und ihrem Klagegesang. In jedem Fall ist aber die leidende Masse hier, obgleich als Ansammlung von Toten gedacht, aktiv, drückt sich selbst mindestens primitiv aus, so dass es dem Ich obliegt, sich mit ihr in Verbindung zu setzen, sich gegebenenfalls aus der abgeschiedenen Stille erschreckt an das Unrecht der Welt zu erinnern. Ohne Titel (übers. von Jürgen Theobaldy) Vieltausend Schatten, dunkle Gesichter, aus umwucherten Gräbern, Sie wagen zu singen, die Erde, sie klagt mit ihnen im Lied. Mein Herz wächst hinaus, endlos weit über das Land. In lautloser Höhe hört es, aufgeschreckt, den Donner sich nähern72
Jürgen Theobaldys Version ist rhythmisch unregelmäßiger als seine späteren Übertragungen. Jedoch versucht der Dichter, durch Vokalassonanzen der Versenden 1 und 4 und die Alliteration der Versenden 2 und 3 eine formale Klammer zu schaffen. Der Verschränkung entspricht eine Annäherung der verschiedenen Instanzen des Gedichts, die jedoch nicht bis zum Ende vollzogen wird. So lässt Theobaldy im ersten Vers seine Toten tatsächlich „aus umwucherten Gräbern“ hervorkommen, betont in der Präposition also die Bewegung nach oben. Sein erster Vers zehrt deutlich vom Kommentar, der diese Auferstehung suggeriert, und expliziert auch, dass es sich um Gräber handelt, so dass das Bild eindeutig als Geisterauferstehung markiert ist. Die Schatten agieren denn auch eigenständig, sie „wagen zu singen“. Die Erde selbst vollzieht eine Art Solidarisierung mit den Verstorbenen und stimmt in das Lied ein, wobei dieser Gleich|| 71 In dieser Spannung offenbart sich wohl auch eine gewisse Vieldeutigkeit des Originals, wie sie im Kontrast zwischen politischer Ausdeutung der Verse und der Möglichkeit einer gänzlich anderen Lesart als buddhistische Erleuchtung deutlich wird, vgl. Anm. 65. In gewisser Weise erinnert die von Kraft gestaltete Konstellation aus Ich, Menschenmasse und All an andere Übersetzungsarbeiten Krafts aus den frühen 1980er Jahren; so sieht sie in den Gedichten Fazıl Hüsnü Dağlarcas ein „Biotop aller irdischen Existenzen mit dem Menschen als zutiefst Gezeichnetem und einzig Sprechendem in der Mitte, das zur Fortdauer im All in friedlicher Tauschbewegung, genannt Liebe, bestimmt ist“ (Fazıl Hüsnü Dağlarca, Gedichte, übers. von Gisela Kraft. Berlin 1984, S. 146). Eine ähnliche Poetologie scheint sie auch in Lu Xuns Werk zu erkennen. 72 Lu Xun, „Ohne Titel“, übers. von Jürgen Theobaldy, in: Baqué (Hg.), Lu Xun Zeitgenosse, S. 171.
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klang auch durch die parallele Struktur der syntaktisch nebengeordneten Einheiten erfolgt: „dunkle Gesichter […] / Sie wagen zu singen, die Erde, sie klagt mit ihnen im Lied“. Auch das Subjekt als Handelndes wird durch Doppelung aus Nennung und direkt folgendem Pronomen – „die Erde, sie“ – hervorgehoben. In Vers 3 tritt das lyrische Ich in Erscheinung, Theobaldy greift dabei den Begriff des Herzens auf, den die beiden anderen Dichter, wohl aufgrund der Gefahr der Sentimentalisierung, vermeiden. Theobaldy dagegen setzt das Pars pro toto allem Klischeeverdacht zum Trotz zur Betonung der empathischen Komponente ein. Auch das Herz ist in der Bewegung inbegriffen, Theobaldy ersetzt das Partizip Perfekt der Interlinearübersetzung durch ein Präsens, es „wächst hinaus“, um den Prozess des emotionalen Ausgreifens, „endlos weit“, darzustellen. Vers 4 situiert das Ich schließlich in „lautloser Höhe“ und markiert so gleichzeitig die Distanz zwischen dem auf erhöhter Beobachterposition stehenden Ich und dem Geschehen, und die Dynamik der wechselseitigen Bewegung aufeinander zu, aus den Gräbern nach oben und von der Höhe hinab. Die „lautlose[] Höhe“ deutet dabei auf eine abgegrenzte, gewissermaßen auch elitäre Position des Dichter hin. Sie suggeriert aber eine durchaus auch kritische Selbstreflexion dieser Position. Aber erst von dem ‚erhöhten‘ Standpunkt aus, also im Akt der Distanzierung, kann das Ich das Geschehen verarbeiten; diese Distanz sucht es schließlich jedoch wieder zu verringern. Der Donner ist in dieser Version des Gedichts ambivalent, er kann hier mit dem Gesang der Toten und der Erde verbunden sein, auf die Gewalt der Regierung oder aber auf eine Erhebung oder Revolution verweisen. Theobaldy entscheidet sich mit dem „aufgeschreckt[en]“ Ich für eine Zwischenvariante der beiden in der Vorlage gegebenen Partizipien, „aufmerkend“ und „erschreckend“, die auf ein Zusammentreffen von Furcht und Neugier verweist und damit auf einen Zwiespalt des Ichs hindeutet. Hier nun wählt Theobaldy ein Partizip Perfekt statt Präsens, um den bereits begonnenen Wandel anzudeuten. Der Schluss, das „[N]ähern“, betont dann ein letztes Mal die Dynamik der Prozesse, das unweigerliche Sich-Verflechten von Ich und Umwelt, dem sich das Ich nicht entziehen kann, zu dem es aber zwiegespalten steht. Der Vergleich der Gedichte miteinander und mit der Interlinearversion zeigt einerseits, wie im kooperativen Vorgehen letztlich beide, Erstübersetzer und ‚Nachdichter‘, zur Bedeutungskonstruktion beitragen, indem auch schon jede Interlinearversion Deutungsrichtungen einschlägt, mit denen die Autoren dann unterschiedlich umgehen (bzw. die sie zum Teil bewusst kontern). Andererseits wird Lu Xun tatsächlich allen drei Dichtern zum ‚Zeitgenossen‘, indem gerade
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auf der metapoetischen Ebene im Dialog mit dem chinesischen Autor und seinem Werk Verantwortung, Aufgabe und Impulse dichterischen Schaffens thematisiert werden.
6.4 Deutsche Gedichte „chinesische[r] Art“? Im Zuge der Beschäftigung mit Lu Xuns moderner formtraditioneller Dichtung und einer eigenen Chinareise experimentierte Theobaldy auch mit den Möglichkeiten der Übertragung von Gedichtformen und ästhetischen Konzepten ins Deutsche. Ein 1981 publizierter Text trägt explizit den Titel „Nach Shanghai, chinesische Art“: Der Fahrtwind zieht, er kühlt den Tee, die Luft schmeckt ländlich faul; das Bohnenstroh liegt ausgebreitet, kein Traktor da, kein Gaul. Durch Grünes schweben Bauern hin, nach jungem Reis gebeugt; ihr Wasserbüffel treibt im Schlamm, schwer, schwarzbehaart das Maul. Fabriken, Staub im Dämmerlicht und Kräne, hochgezogen; die Brücke strebt hinauf und kippt dann über ihren Bogen. Der Fluß ist still, das Bambusboot am Abend festgebunden; noch eine Stunde Fahrt: Shanghai, bin ich um was betrogen73?74
|| 73 In die Darstellung mögen auch literarische Einflüsse eingegangen sein, so setzt beispielsweise Mao Duns Shanghai im Zwielicht mit einem Kontrast zwischen altem und neuen Shanghai ein, der sich nicht nur in den Lebenshaltungen der Charaktere spiegelt, sondern auch über den Übergang der Beschreibung des Flusses mit seinen Dschunken und der Garden Bridge (花 园桥) in die Darstellung der dynamischen Großstadt übergeht. Mao Dus Roman lag sowohl in der West-Übersetzung Franz Kuhns als auch der DDR-Übersetzung Johanna Herzfelds in mehreren Ausgaben vor. Ich danke Lena Henningsen für den Hinweis auf die Korrespondenz und mögliche intertextuelle Korrelation. 74 Jürgen Theobaldy, „Nach Shanghai, chinesische Art“, in: Zeitschrift für Kulturaustausch 36/3 (1986), S. 318.
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Theobaldys Text spielt hier mit einer Fusion chinesischer und europäischer Formtraditionen. Jeweils ein vierhebiger und ein dreihebiger Jambus werden kombiniert und bilden eine semantische Einheit, wobei die zweite Strophe die Verspaare grammatikalisch bzw. durch Enjambements noch enger aneinander bindet. Man kann in den achtzeiligen Strophen je zwei zusammengefügte Chevy-Chase-Strophen erkennen. Reimschema und Kadenzwechsel variieren diese aber und verweisen auf eine weitere Strophenform, die Pate gestanden hat, das Lüshi mit acht Versen à sieben Silben. Je ein Verspaar mit vier und drei Hebungen müsste man entsprechend als Pendant eines siebensilbigen Verses sehen. Anstelle der im Chinesischen üblichen Kombination verschiedener zwei- oder dreisilbiger Teileinheiten innerhalb eines Verses integriert Theobaldy hier also einen Zeilenbruch, der in der ersten Strophe ausgeprägter ist und in der zweiten Strophe stärker überspielt wird. Daneben werden auch die vierhebigen Verse, wie im Chinesischen üblich, mehrfach noch in kleinere syntaktische Einheiten unterteilt, so dass eine gewisse Kombination aus Zeilenbruch, Zäsuren und vorwärtsdrängender Dynamik entsteht. Die Zusammensetzung aus kürzeren syntaktischen Einheiten beschleunigt den Gesamtrhythmus, variiert diese Struktur aber auch durch überspannende Einheiten wie in V. 11f., die so das Imposante, Übergreifende des monumentalen Bauwerks mit den detailbezogenen Alltagsbeobachtungen konfrontieren. Das Gegenstück zum chinesischen Reimschema aaxa, das eine übergreifende Klammer bildet, aber durch die Waise gewissermaßen die Monotonie durchbricht, ist hier ein entsprechendes Reimschema der jeweils zweiten Verse. Die weiblichen Kadenzen brechen zudem den harten Rhythmus gelegentlich auf: Zeichnet sich die häufig für Balladen verwendete Chevy-Chase-Strophe durch männliche Kadenzen aus, so dass entsprechend ein rascher Handlungsfortgang abgebildet werden kann, korrespondiert die Geschwindigkeit, der vielfach abgehackte Rhythmus hier mit der Fülle an Eindrücken, die in der Bewegung der Zugfahrt auf den Beobachter eindrängen. Die weiblichen Kadenzen wie in V. 14 oder V. 16 verweisen dagegen auf scheinbar Stillstehendes, Konstantes, ein Zur-Ruhe-Kommen bzw. auf die Unterbrechung des Geschehens durch die Reflexion. Das Gedicht arbeitet größtenteils mit parataktischen, vielfach parallelistischen Reihungen, auch hier in Anlehnung an die klassische Shi-Dichtung. Die Variation des Subjekt-Verb-Objekt-Musters durch Inversion wie in V. 5 oder einzelne elliptische, mit Partizipien arbeitende Konstruktionen (V. 4, V. 9f., V. 14) lässt aber auch hier Gleichförmigkeit und Dynamisierung gegeneinandertreten. Wenn Theobaldy in den Nachbemerkungen zu seinen Lu-Xun-Übertragungen schreibt, der chinesische Parallelismus sei so nicht zu erhalten, „er wirkt im Deutschen starr und von mechanischer Unbeholfenheit und hätte so die entge-
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gengesetzte Wirkung des Originals“ (Kein Ort, S. 118), bietet diese teilweise Anwendung parallelistisch-parataktischer Muster die Möglichkeiten einer Annäherung an typische Strukturen der klassischen Dichtungssprache, ohne sie ins Monotone abgleiten zu lassen. Wiederum ‚typisch‘ für das Chinesische (wenn auch natürlich nicht nur) ist eine gewisse Kombination aus syntaktischer Gleichförmigkeit und inhaltlicher Kontraststruktur, die Theobaldy hier zunächst für das Gegensatzpaar des ländlichen und (vor-)städtischen Raums eröffnet. Bis zum allerletzten Vers vermeidet Theobaldy gezielt die explizite Subjektnennung. Typisch für Shi-Gedichte ist die Korrespondenz zwischen externer Realität/Szenerie, jing, die erst im späteren Verlauf des Gedichts mit der Reflexions- und Gefühlswelt des Sprechers, qing, zusammengeführt wird. Theobaldys Gedicht rückt entsprechend nicht den Sprecher als Wahrnehmenden, sondern die Fülle der Einzeleindrücke selbst ins Zentrum. Taktiles (die Wahrnehmung des Luftzugs und der Kühle), Olfaktorisches/Gustatorisches (die Landluft), vor allem aber Visuelles wird zunächst einmal kommentarlos registriert. Es entsteht ein gewisses Tableau, das sich einerseits aus der Kombination einzelner statischer Momenteindrücke ergibt. Andererseits setzt Theobaldy gezielt Verben der aktiven Bewegung. Die Bauern werden zwar in ihrer gebeugten, zunächst unbewegten Haltung vom Blick des Beobachters eingefangen, andererseits scheinen sie ‚hinzuschweben‘ (vgl. V. 5). Die Bewegung des vorbeifahrenden Betrachters wird damit auf das Betrachtete übertragen. Ebenso wird die Architektur der Brücke nicht in ihrem Gesamteindruck festgehalten, sondern in der Art und Weise, wie sie sich dem Beobachter sukzessive erschließt, nur dass die personifizierte Brücke als Agens erscheint, sie „strebt hinauf“ (V. 11). Das Wechselspiel aus scheinbarem Stillstand und permanenter Bewegung ist damit den einzelnen Eindrücken inhärent, findet sich aber auch mit Blick auf die Konfrontation der Bildbereiche an sich: Das Ländlich-Agrarische in der ersten Strophe scheint eher auf ein stillstehendes China zu weisen, in dem die Bauern noch auf eigene Muskelkraft angewiesen sind. Dies kontrastiert schroff mit dem plötzlichen Auftauchen der ersten Fabriken im Umfeld von Shanghai, der staubigen Luft, den Kränen, die auf die expandierende Großstadt verweisen. Das Bild der gewölbten Brücke zeigt einerseits wiederum die Monumentalität der Metropole, andererseits ruft sie bei europäischen Lesern wohl Assoziationen an Judith Gautiers berühmtes, Li Bai zugeschriebenes und mehrmals weiterübersetztes Gedicht „Le pavillon de porcelaine“ wach: „on y arrive par un pont de jade qui se voûte comme le dos
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dʼun tigre“.75 Theobaldy greift nicht explizit auf Gautiers Metapher zurück. Die Bewegung der Brücke lässt es dennoch assoziieren, so dass das Bild moderne Realität und klassische bzw. durch die chinesische Klassik inspirierte Dichtung zu verschränken scheint. Dazu passt auch, dass die folgenden Verse inmitten der Stadtrealität plötzlich ein vertäutes Bambusboot auf einem stillen Fluss ausmachen, wieder ein Bild, das auf die einzelnen Momente des Alten inmitten des Neuen verweisen mag, zugleich aber wiederum bewusst ein Motiv aufruft, das ein zeitgenössischer deutscher Leser traditionell mit chinesischer Kunst und Dichtung assoziieren würde. Der Großraum Shanghai oszilliert damit zwischen Vergangenheit und rapide voranschreitender Modernisierung, zwischen banaler Alltäglichkeit und dichterisch-assoziativer Überlagerung derselben durch intertextuelle respektive -mediale Referenzen auf die traditionelle Kunst und Literatur. Das Ich verzichtet dabei auf melancholische Beschwörung des Alten wie auch auf eine Hingabe an die Faszinationskraft des Neuen, es registriert eher das In-, Mit- und Gegeneinander der Kräfte. Nur der mit der direkten Rede Shanghais einsetzende Schluss zeugt von der emotionalen Bewegtheit des Ich, von einer weiterführenden Reflexion, verbleibt jedoch in der Andeutung: „bin ich um was betrogen?“ Man kann darin einen offenen Reflexionsanstoß für den Leser sehen, in ihrer Vagheit bzw. dem unklaren Bezug gelingt hier aber wohl nicht die prägnante Zusammenführung von Gefühls- und Außenebene, die die berühmten klassischen chinesischen Gedichte kennzeichnet. „Nach Shanghai, chinesische Art“ ist ein Versuch Theobaldys, die Grenzen der Übersetzung eines Genres auszutesten bzw. europäische und chinesische Formgebung zu konfrontieren und kombinieren, um ein Wechselspiel aus Stillstand und Bewegung, Vergangenheit und Gegenwart, ‚Realität‘ und künstlerischer Vermittlung, Wahrnehmung und Selbstreflexion und, damit einhergehend, eigenen und fremden Blickwinkeln zu inszenieren. Mangelndes Formbewusstsein kann man dem Übersetzer Jürgen Theobaldy kaum vorwerfen; seine Entwürfe zeugen vielmehr von einer intensiven Auseinandersetzung mit Möglichkeiten und Grenzen formalästhetischer chinesisch-deutscher Dichtungsreflexionen. Eine ‚chinesische Wende‘ hat Theobaldy nicht vollzogen. Das spezifische Spannungsfeld zwischen Befreiung von der Form und ihrer Nutzung als Antwort auf die Herausforderungen der Moderne entfaltet sich vor dem Hintergrund der jeweiligen geschichtlichen Dynamik der Länder auf eine eigene Wei-
|| 75 Walter (d.i. Gautier), Le livre de jade, S. 113f. Auf Deutsch: „man erreicht ihn über eine Jadebrücke, die sich wie der Rücken eines Tigers wölbt“ [Übers. S.L.]. Vgl. zur Frage er Autorschaft auch Kapitel 3, Anm. 61.
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se. Den eigenen Umgang mit der Form und mit dem Wechselspiel aus Privatem und Politik mussten die deutschsprachigen Dichter des späten 20. Jahrhundert erst finden. Die Impulse aus dem Chinesischen dürften aber für Theobaldy dazu beigetragen haben, diese Problematiken in einem größeren, ‚weltliterarischen‘ Zusammenhang zu situieren und Möglichkeiten der Reaktion auszutesten. China ist einer der Bezugspunkte von Theobaldys Schaffen geblieben, vereinzelt hat er noch Gedichte klassischer Dichter übertragen oder auf diese rekurriert (u.a. in Wilde Nelken, das nicht nur im Titel auf Lu Xuns Wilde Gräser anspielt, sondern u.a. auch ein Gedicht nach dem Tang-Dichter Zhang Wei 张渭 enthält). 2015 legte er zusammen mit Raffael Keller noch eine Auswahl aus den Werken des Tang-Dichters Liu Zongyuans 柳宗元 vor.76 In den letzten Jahren sind es vor allem aber japanische Formen, die sein Interesse geweckt haben.77 Wenn der Dialog zwischen den Kulturen die Selbstverortungen der ‚Neuen Subjektivität‘ in einem größeren Kontext perspektiviert, geht mit den Übersetzungen eine ‚elliptical refraction‘ der Texte, um mit Damrosch zu sprechen,78 einher. Die Übersetzungen denken Lu Xuns Werk in eine Richtung weiter, die ‚offizielle‘ chinesische Interpreten durch die lange Indienstnahme der Texte zu versperren versucht haben. Die historische Distanz bzw. der Versuch einer Annäherung unter anderen Fragestellungen ist gewissermaßen Voraussetzung dafür, andere Lesarten zuzulassen, einen weniger heroischen als zwiegespaltenen, Unsicherheiten reflektierenden, aber auch einen humorvollen, selbstironischen Lu Xun mehr zu Wort kommen zu lassen, als dies im damaligen Kontext in China geschah.79 Übersetzung erweist sich insofern als Möglichkeitsraum für eigene Dichtungsansätze, auch zur Hinterfragung dieser, andererseits aber als Versuch, den Text zugleich neu zu schreiben und neu zu lesen und damit von ‚weltliterarischer‘ Warte in bewusster ‚Brechung‘ zurückzuspielen.80
|| 76 Liu Zongyuan, Am törichten Bach, übers. von Raffael Keller und Jürgen Theobaldy. Berlin 2005. 77 Vgl. insbesondere Jürgen Theobaldy, Hin und wieder hin. Ostheim 2015; ders., Auf dem unberührten Tisch. Ostheim 2019. 78 Vgl. die Einleitung dieser Arbeit. 79 Auch Wolfgang Kubin hat, wie angedeutet wurde, etablierte Deutungshorizonte in seinen Lu-Xun-Übersetzungen aufgebrochen. Für das Englische wäre vor allem auf von Kowallis, The Lyrical Lu Xun, zu verweisen. 80 Ich konnte nicht herausfinden, ob Theobaldys Übersetzungen in China wahrgenommen wurden. Aber wenn auch in China das Werk Lu Xuns wieder neu interpretiert wird, so zeigt sich doch, dass verschiedene Perspektiven aus der breiteren internationalen Lu XunInterpretation entweder rezipiert werden oder sich treffen mit Ansätzen der jüngeren Literaturwissenschaft.
7 Krisen, Konflikte, Annäherungen: Chinesische Lyrik beim DDR-Verlag Volk und Welt 7.1 Übersetzung chinesischer Literatur in der DDR: Rahmenbedingungen der Kultur- und Außenpolitik Literarische Übersetzungen dienen nicht nur einzelnen Dichtern zur persönlichen ästhetischen Weiterentwicklung und zum Ausdruck politischer Positionen, sondern wurden gerade auch in der DDR in größerem Rahmen kulturpolitisch eingesetzt bzw. standen in einer intensiven Wechselwirkung mit dem kulturpolitischen Kontext. Nicolai Volland argumentiert sogar, dass Literaturübersetzungen das wichtigste Mittel im Kulturaustausch zwischen den sozialistischen Staaten waren. 1 Dabei war dieses sozialistische Übersetzungsnetzwerk freilich klar hierarchisch ausgerichtet, mit der Sowjetunion als Zentrum und zusätzlichen Querverstrebungen zwischen den anderen sozialistischen Staaten. 2 Aber dies macht die Frage nach literarischen Übersetzungen gerade für die Phasen interessant, in denen Spannungen innerhalb des sozialistischen Netzwerks zum Tragen kamen und über die Literatur artikuliert (oder auch mehr oder weniger erfolgreich überspielt) wurden, insbesondere für die Zeit des Bruchs der UdSSR und der DDR mit China sowie der Legitimations- und Staatskrisen um 1989. Insgesamt ist die Geschichte des Übersetzens chinesischer Literatur in der DDR ein Forschungsdesiderat, auf das Irmtraud Fessen-Henjes vor zwei Jahrzehnten hingewiesen hat.3 Die folgenden Ausführungen sollen einige Anregungen mit Blick auf die Lyrik bieten. Einige Themenfelder, insbesondere aus dem Horizont der Lyrik der 1950er Jahre, wurden in anderen Kapiteln bereits diskutiert. Dichter-Philologen-Kooperationen, wie sie in der DDR eine große Rolle spielten, wurden zudem in Kapitel 6 mit Blick auf deren Möglichkeiten und Grenzen und auf das Widerspiel von dichterischer Gestaltung und Anspruch auf
|| 1 Nicolai Volland, „Translating the Socialist State: Cultural Exchange, National Identity, and the Socialist World in the Early PRC“, in: Twentieth-Century China 33/2 (2008), S. 51–72, hier S. 59; vgl. auch ders., Socialist Cosmopolitanism. The Chinese Literary Universe, 1945–1965. New York 2017, S. 30; mit Blick auf die Verbindungen in den 1950er Jahren Babette Bernhardt, „Sozialistischer Realismus in Übersetzung: Kulturaustausch und literarischer Transfer zwischen der Volksrepublik China und der DDR in den 1950er Jahren“, in: Literaturstraße 20/2 (2019), S. 77– 93. 2 Vgl. Volland, „Translating“, S. 54. 3 Irmtraud Fessen-Henjes, „Übersetzen chinesischer Literatur in der DDR – ein Rückblick“, in: Martin/ Hammer (Hg.), Chinawissenschaften, S. 627–642, hier S. 628. https://doi.org/10.1515/9783111044088-008
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Originaltreue untersucht. Zu ergänzen wäre hier, dass diese Praxis zwar, wie viele andere Beispiele in dieser Arbeit zeigen, nicht ausschließlich in der DDR ausgeübt wurde, dort jedoch einen einmaligen Professionalisierungsgrad erreichte 4 und von Verlagen wie Volk und Welt regelmäßig in die Wege geleitet wurde: „Volk und Welt“ hat einen ausländischen Dichter ausgewählt und hat dann jemanden zum Übersetzen herangeholt. Der hat eine genaue und wörtliche Übersetzung gemacht. Dann habe ich mir von den Texten eine Tonbandaufnahme beschafft, die jemand im Original sprach, damit ich den Klang des Gedichtes hatte, und dann habe ich versucht, eine deutsche Entsprechung zu machen.5
Der Wunsch, Lyrik aus anderen sozialistischen Ländern, insbesondere der Sowjetunion, auf literarisch ansprechende Weise zu übertragen, führte dazu, dass ein beachtlicher Teil sowohl jüngerer als auch älterer DDR-Dichter zu solchen Projekten herangezogen wurde, u.a. die Dichter der sogenannten ‚Sächsischen Dichterschule‘.6 Für die Dichter selbst wiederum war das nicht nur ein rentabler Nebenverdienst – nicht zuletzt für ‚problematischere‘ Autoren. 7 Die Praxis bot zudem die Möglichkeit, in der Arbeit mit sonst unzugänglichen Texten neue Formen zu erproben. 8 Schließlich erhielt die DDR-Dichtung durch die intensive
|| 4 Vgl. auch Gerrit-Jan Berendse, Die ‚Sächsische Dichterschule‘. Lyrik in der DDR der sechziger und siebziger Jahre (Bochumer Schriften zur deutschen Literatur 14). Frankfurt a.M. u.a. 1990, S. 123; Krause, Art. „Nachdichtung“. 5 Heinz Kahlau, „Lutz Görner im Gespräch mit Heinz Kahlau“, in: Ders., Sämtliche Gedichte und andere Werke (1950–2005), hg. von Lutz Görner. Berlin 2005, S. 11–45, hier S. 38. Neben Volk und Welt waren Nachdichtungen auch für den Verlag Kultur und Fortschritt von großer Bedeutung, vgl. Berendse, Dichterschule, S. 123. Insgesamt gibt es vor allem Zeugnisse zum Ablauf solcher Kooperationen für Übersetzungen aus den sowjetischen Staaten, vgl. beispielsweise die Ausführungen von Elke Erb (mit Abdruck der Interlinearübersetzungen und verschiedener handschriftlicher Manuskriptfassungen): „Zum Thema Nachdichten. Eine erste Niederschrift nach zwanzig Jahren“, in: Walter Lenschen (Hg.), Literatur übersetzen in der DDR/La traduction littéraire en RDA. Bern 1998, S. 39–54 sowie dies., „Nachdichtungen von Elke Erb im Spiegel der Manuskripte“, in: Ebd., S. 55–69. 6 Vgl. Berendse, Dichterschule, 129; ders., „The Politics of Dialogue. Poetry in the GDR“, in: Karen Leeder (Hg.), Rereading East Germany: The Literature and Film of the GDR. Cambridge 2019, S. 143–159, hier S. 148–151; Simone Barck, „Nachdichtungen I: Verfemte Poeten und die sächsische Dichterschule“, in: Dies./Siegfried Lokatis (Hg.), Fenster zur Welt. Eine Geschichte des DDRVerlages Volk und Welt. Berlin 2003, S. 314f. 7 Vgl. Siegfried Lokatis, Verantwortliche Redaktion. Zensurwerkstätten der DDR (Leipziger Arbeiten zur Verlagsgeschichte 2). Stuttgart 2019, S. 406. 8 Vgl. u.a. Werner Creuzinger, „Die Zunft und der Staat. Literaturübersetzer in der DDR“, in: Lenschen (Hg.), Literatur übersetzen, S. 13–38, hier S. 35; Kahlau, „Gespräch“, S. 38; Christine Schlosser, „‚Aufstehn möchte ich, fortgehn und sehn.‘ Zur Rezeption internationaler Lyrik in
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Einbindung von Dichtern in die tägliche Übertragungsarbeit eine stärker globale Note.9 ‚Nachdichtung‘ war in der DDR somit auch nicht als freiere Form der Aneignung konzipiert, sondern mindestens in der Theorie als Versuch, unter „ungünstigen Umständen“10 dem Original mit Blick auf unterschiedliche Textebenen interpretatorisch gerecht zu werden und die Texte literarisch anspruchsvoll zu gestalten.11 Entsprechend wurde der Begriff hier auch nicht derogativ angewendet, sondern bezeichnete schlichtweg eine gängige Praxis, die insbesondere durch die Neuorientierung hin auf Texte aus der Sowjetunion, Asien und Afrika nötig wurde und zum Teil außerhalb der DDR als vorbildhaft für ähnliche Projekte zur Erschließung vernachlässigter Literaturen galt und gilt.12 Übersetzer genossen in der DDR auch ein hohes Ansehen;13 ausländische Texte waren gerade angesichts der realen Reisebeschränkungen beim Publikum vielfach beliebt.14 Dieses Kapitel soll nun der Rolle literarischer Übersetzungen im offiziellen Kulturaustausch zwischen der DDR und der Volksrepublik nachgehen. Dabei werden vor allem zwei Bände untersucht: die Sammlung Heut erntet man Lieder || Versdichtungsanthologien der DDR“, in: Birgit Bödeker/Helga Eßmann (Hg.), Weltliteratur in deutschen Versanthologien des 20. Jahrhunderts (Göttinger Beiträge zur internationalen Übersetzungsforschung 13). Berlin 1997, S. 314–333, hier S. 323; Jürgen Rennert, „Nachdichtungen 3 – Keineswegs zur Selbstverleugnung“, in: Barck/Lokatis (Hg.), Fenster, S. 318. Berendse betont, dass es durchaus zu „lyrische[n] Korrespondez[en]“ kam, die konkreten wechselseitigen Einflüsse jedoch „nur schwer nachzuvollziehen und im einzelnen Gedicht sichtbar zu machen“ seien (Dichterschule, S. 128). 9 Vgl. Berendse, „The Politics of Dialogue“, S. 143; Adolf Endler, „Lyrik international – Die Weiße Reihe“, in: Barck/Lokatis (Hg.), Fenster, S. 237–242, hier S. 240. 10 Franz Fühmann, „Kleine Praxis des Übersetzens unter ungünstigen Umständen“, in: Mitteilungen der Deutschen Akademie der Künste zu Berlin 7 (1969), S. 8f. 11 So betonen DDR-Nachdichter an dem Konzept gerade die angestrebte Treue und das Moment der „Selbstverleugnung“, beispielsweise Annemarie Bostroem, die an dem zweiten hier diskutierten Band als Nachdichterin mitwirkte („Nachbemerkung“, in: Dies., Terzinen des Herzens. Gedichte, Nachdichtungen. Leipzig 1986, S. 127–129, hier S. 129). Vgl. weiter auch Kahlau, „Gespräch“, S. 38. 12 Zur positiven Bewertung in der DDR vgl. Schlosser, „Rezeption internationaler Lyrik“, S. 319. Gregor Laschen, der die Reihe „Poesie der Nachbarn“ ins Leben gerufen hat, berief sich beispielsweise noch zur Wendezeit explizit auf das DDR-Vorbild, vgl. ders., „Vorsatz“, in: Ders./Harly Sonne (Hg.), Mein Gedicht ist mein Körper. Neue Poesie aus Dänemark (Poesie der Nachbarn 1). Bremerhaven 1989, S. 5. 13 Vgl. Gabriele Thomson-Wohlgemuth, „A Socialist Approach to Translation: A Way Forward?“, in: Met: Journal des Traducteurs 49/3 (2004), S. 498–510, hier S. 502f.; Judith Kerstner/Hanna Risku, „Die Situation der LiteraturübersetzerInnen in der DDR und im heutigen Deutschland. Eine Untersuchung zu Translation und Kooperation“, in: trans-kom 7/1 (2014), S. 166–183, hier S. 169. 14 Vgl. Thomson-Wohlgemuth, „A Socialist Approach“, S. 508.
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mit riesigen Körben (1962) sowie ein Band mit Gedichten des Lyrikers Ai Qing (des Vaters Ai Weiweis 艾未未) von 1988, beide publiziert von dem Hauptverlag für fremdsprachige Literatur, Volk und Welt. Die erste Sammlung stammt aus der Umbruchsphase der ostdeutsch-chinesischen Beziehungen in den frühen 1960er Jahren und wurde von dem Dichter Heinz Kahlau in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft deutscher Studenten aus Peking erstellt. Genauer gesagt bestand diese wohl nur aus den zwei Sinologiestudenten Eberhard Treppt und Eva Müller. Letztere bekleidete später den Lehrstuhl für Sinologie in Berlin. Damals verfasste sie gerade ihre Diplomarbeit zum Volkslied des Großen Sprungs an der Peking-Universität.15 In ihren Erinnerungen schreibt sie auch, sie und ihre Kommilitonen hätten ab 1958 die organisierten Aktivitäten in den Dörfern genutzt, um Volkslieder und -geschichten zu sammeln.16 Die Druckgenehmigung wurde Ende März 1962 erteilt, in Auftrag gegeben worden war die Anthologie im Dezember 1959.17 Es handelt sich allem Anschein nach um den letzten offiziell initiierten Lyrikband mit China-Bezug eines DDR-Verlages vor der Eskalation des Konfliktes mit Maos China vor allem ab 1963. So harmlos der Band auf den ersten Blick einem heutigen Leser erscheinen mag, so heikel ist die lyrisch-politische Positionierung der Texte im Kontext der internen und auswärtigen DDR-Politik der frühen 1960er Jahre, so dass die Sammlung viel zum damaligen Stand der chinesisch-deutschen Beziehungen und zur Rolle literarischer Übersetzungsarbeit im Aufbau bzw. dem Versuch des Erhalts der sozialistisch-brüderlichen Beziehungen aussagt. Die Ai-Qing-Übertragungen wurden ebenfalls in einer wohl vom Verlag initiierten Kooperation ausgearbeitet, diesmal zwischen Manfred und Shuxin Reichardt und der Dichterin Annemarie Bostroem. Sie erschienen noch im Jahr vor dem Mauerfall. Nach einer Reihe von Übersetzungen chinesischer Prosa war || 15 Vgl. Fessen-Henjes, „Übersetzen“, S. 631; dies., „Laudatio zum 70. Geburtstag von Eva Müller“, in: Mechthild Leutner (Hg.), Chinesische Literatur. Zum 70. Geburtstag von Eva Müller (Berliner China-Hefte 27). Münster 2005, S. 3–8, hier S. 4. Müllers Arbeit wurde 1960 unter dem Titel Dayuejin minge de laodong 大跃进民歌的劳动 (Arbeit im Volkslied des Großen Sprungs nach vorne) eingereicht. Siehe auch Mei Yihua 梅薏华 [Eva Müller], „Shou pi lai hua de Deguo liuxuesheng jieshao“ 首批来华的德国留学生介绍 (Vorstellung der ersten Gruppe der nach China gereisten deutschen Austauschstudenten), in: Guoji hanyu jiaoxue dongtai yu yanjiu (2006), H. 2, S. 66–75, hier S. 74f., EN 4. 16 Vgl. Mei Yihua, „Shou pi“, S. 72. 17 Vgl. die Druckgenehmigungsakten: SAPMO BArch, DR 1/5120, S. 59. Die Druckgenehmigungsakten sind weitestgehend zugänglich über das Findbuch des http://www.argus.bstu.bundesarchiv.de/dr1_druck/index.htm?kid=e6042d86-7be4-474d-9215-a2feef84a4b6. Weitere Teile der für dieses Kapitel einbezogenen Akten wurden mir freundlicherweise auf Anfrage zur Verfügung gestellt.
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dies allerdings tatsächlich auch wieder die erste Sammlung chinesischer Gedichte des Verlags nach der Kulturrevolution. Auch hier muss man genauer hinsehen, um die Spannungen zwischen dem Versuch wahrzunehmen, einen politisch eigentlich unproblematischen Autor im sozialistischen Weltliteraturkanon der DDR fest zu verankern und heikle Momente dabei zu unterdrücken oder aber subtiler zum Ausdruck zu bringen. In beiden Fällen wurden zur Analyse auch Paratexte herangezogen, neben den Nachworten der Bände die zwei in der DDR obligatorischen Gutachten zur Beantragung der Druckgenehmigung, von denen eines jeweils von einem Verlagslektor, eines von einem auswärtigen, vom Verlag bestellten Gutachter, verfasst wurde.18 Beide Bände zeugen vom subtilen Wechselspiel zwischen literarischer Übersetzungsarbeit und Politik sowie von der Rolle, die Übersetzer und Verlagsmitarbeiter in dieser Interaktion einnahmen. Grundsätzlich wurden in den 1950er Jahren, nicht zuletzt im Zuge kulturpolitischer Abkommen, nicht nur Autoren zu Besuchen im jeweils anderen Land eingeladen, 19 sondern insbesondere wurde zu wechselseitigen Übersetzungen
|| 18 Solche Gutachten waren Teil des Druckgenehmigungsvorgangs. Externe zusätzliche Gutachten wurden v.a. ab den 1960ern nur in selteneren, als besonders problematisch empfundenen Fällen eingeholt, da bis dahin die vom Verlag selbst in Kooperation mit einem Netzwerk aus Wissenschaftlern organisierte Gutachter- und Zensurpraxis professioneller geworden war, vgl. Siegfried Lokatis, „Ein literarisches Quartett – Vier Hauptgutachter der Zensurbehörde“, in: Simone Barck/Siegfried Lokatis (Hg.), Zensurspiele: Heimliche Literaturgeschichten aus der DDR. Halle 2008, S. 333–335, hier S. 335; Robert Darnton, Censors at Work: How States Shaped Literature. New York u.a. 2014, S. 188. Zu den Druckgenehmigungsgutachten als Texte, die vielfach durch ein subtiles, taktisches Vorgehen die Rezeption der in den Zensurprozess eingebundenen Akteure oberhalb der Verlagsebene strukturierten und „legitime Spielräume sichtbar zu machen“ versuchten, vgl. auch Holger Brohm, „Günter Kunert vor dem Gesetz. Gutachten als Kommentarformen des Kanons“; in: Birgit Dahlke/Martina Langermann/Thomas Taterka (Hg.), LiteraturGesellschaft DDR. Kanonkämpfe und ihre Geschichte(n). Stuttgart/Weimar 2000, S. 214–237, hier S. 233. 19 Vgl. dazu u.a. Eva Müller, „Kunst und Politik. Deutsch-chinesische Literaturbeziehungen seit den 20er und 30er Jahren“, in: Kuo Heng-yü/Mechthild Leutner (Hg.), Deutschland und China. Beiträge des Zweiten Internationalen Symposiums zur Geschichte der deutsch-chinesischen Beziehungen Berlin 1991. München 1994, S. 253–264, hier S. 261; dies., „Chinesische Literatur in der DDR“, in: Hsia/Hoefert (Hg.), Fernöstliche Brückenschläge, S. 199–210, hier S. 201f.; sowie Volland, Socialist Cosmopolitanism, S. 26–30; Nicole Françoise Stuber-Berries, East German China Policy in the Face of the Sino-Soviet Conflict 1956–1966. Diss. Univ. Genf 2004, S. 36. In der zweiten Hälfte der 1950er Jahre ging man noch davon aus, die Besuche in China hätten „sich günstiger ausgewirkt als mit jedem anderen Land“ (Ministerium für Kultur, „Über den kulturellen Austausch der DDR mit der Volksrepublik China, August 1960, SAPMO-BArch, ZPA NL 182/1218, abgedruckt in: Werner Meißner [Hg.], Anja Feege [Bearb.], Die DDR und China 1949 bis 1990. Politik – Wirtschaft – Kultur. Eine Quellensammlung. Berlin 1995, S. 309–312, hier S. 311).
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und Verlagskooperationen angeregt, wobei die chinesische Seite mehr deutsche Literatur übersetzte als umgekehrt.20 Volk und Welt wurde 1958 vom Ministerium für Kultur explizit dazu angehalten, mehr chinesische Texte zu publizieren, auch wenn wenige Übersetzer zur Verfügung standen und die Publikumsnachfrage gering war.21 Insgesamt beurteilte man die Umsetzung der Übersetzungspläne Ende der 1950er Jahre als „sehr schlecht“.22 Der Verlag, der neben vor allem Rütten und Loening und Reclam für Publikationen aus dem Chinesischen verantwortlich zeichnete, verfügte mit der Sinologin Marianne Bretschneider allerdings seit 1958 über eine fachkompetente Lektorin, die teilweise auch selbst übersetzte. 1959, anlässlich der zehnjährigen Jubiläen der beiden Staaten und den damals äußerst positiven Beziehungen, kam es zudem zu einem Übersetzungsschub.23 Chinesische Titel finden sich bis in die 1960er Jahre.24 Schon ab 1958 war die Zensur von Texten aus anderen sozialistischen Staaten aber insgesamt verschärft worden,25 deutlich spürbar mit Blick auf die China-Literatur wurde dies vor allem ab den frühen 1960er Jahren. || 20 Für einen Überblick über die übersetzten Werke vgl. u.a. Fessen-Henjes, „Übersetzen“; Eva Müller, „Chinesische Literatur“, S. 199–210; Ruth Keen, „Moderne chinesische Literatur in deutschen Übersetzungen: Eine Bibliographie“, in: Bettina Gransow/Mechthild Leutner (Hg.), China: Nähe und Ferne. Deutsch-chinesische Beziehungen in Geschichte und Gegenwart. Zum 60. Geburtstag von Kuo Heng-yü. Frankfurt a.M. 1989, S. 347–358; 40 Jahre internationale Literatur. Bibliographie 1947–1986, bearb. von H. D. Tschörtner. Berlin 1987, S. 378; Linder, „China in German Translation“, hier S. 261–266; Christina Neder, „Rezeption der Fremde oder Nabelschau? Historisch-quantitative Bestandsaufnahme literarischer Übersetzungen aus dem Chinesischen im deutschsprachigen Raum“, in: Martin/Hammer (Hg.), Chinawissenschaften, S. 612–626, hier S. 618f. 21 Vgl. Fessen-Henjes, „Übersetzen“, S. 629f.; Claudie Gardet, Les relations de la République populaire de Chine et de la République démocratique Allemande (1949–1989) (Schweizer asiatische Studien: Monographien 36). Bern u.a. 2000, S. 64–66; Stuber-Berries, East-German China Policy, S. 42. 22 „Bemerkungen der Abteilung Literatur und Buchwesen des Ministeriums für Kultur der DDR zum Kulturarbeitsplan 1959“, SAPMO-BArch, ZPA IV 2/906/81, abgedruckt in: Meißner (Hg.), Die DDR und China, S. 317f., hier S. 317. 23 Vgl. Stuber-Berries, East-German China Policy, S. 40; Hans-Dietrich Sander, Geschichte der schönen Literatur der DDR. Freiburg i.Br. 1972, S. 181f. 24 Siegfried Lokatis meint, chinesische Titel seien in der DDR in den 1960ern „kaum noch publizierbar“ gewesen („Aktenzeichen XY“, in: Barck/Lokatis [Hg.], Zensurspiele, S. 201–203, hier S. 203), was in der Grundtendenz sicher richtig ist. Aber gerade die frühen 1960er Jahre sind interessant, da zu diesem Zeitpunkt doch noch Texte erschienen und diesen wenigen Texten insofern wohl ein besonderes Gewicht beigemessen werden dürfte, vor allem, wenn es sich um Gegenwartsliteratur handelt. 25 Vgl. Siegfried Lokatis, „Abenteuer eines Zwerges“, in: Barck/Lokatis (Hg.), Zensurspiele, S. 197–199, hier S. 197.
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Die Haltung der DDR zu China in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren wird von Historikern inzwischen jedoch nicht mehr ausschließlich als der UdSSR folgend eingestuft. Das Zerwürfnis zwischen China und der Sowjetunion war bereits Ende der 1950er Jahre deutlich. Mao lehnte die Politik der Entstalinisierung und die diplomatischen Annäherungen Khrushchevs an den Westen ab, während die Sowjetunion im Großen Sprung früh eine Fehlentwicklung sah und der aggressiveren chinesischen Außenpolitik die militärische Rückendeckung versagte. Die DDR folgte zwar grundsätzlich der Haltung der Sowjetunion, aber, wie die jüngere Forschung aufgezeigt hat, teilweise zögerlich und unter Wahrung eines gewissen Handlungsspielraums, nicht zuletzt aus Furcht, ein verschlechtertes Verhältnis zu China könnte sich negativ auf die weiteren internationalen und deutsch-deutschen Beziehungen auswirken. 26 Vor allem in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren war die DDR eher noch an einer Deeskalierung interessiert und ließ Annäherungsversuche an China erkennen. Auch der kulturelle Austausch stand Anfang der 1960er Jahre keineswegs still, wenngleich schon deutliche Spannungen spürbar waren.27 Ab dem VI. Parteitag der SED 1963 sollte der Ton gegenüber China zunehmend rauer werden, und die DDR stellte sich klarer hinter die Sowjetunion.28 Von chinesischer Seite durch den Verlag für fremdsprachige Literatur Peking selbst übersetzte Titel, v.a. Sachbücher, die vielfach von politischer Brisanz waren (wie theoretische Schriften Liu Shaoqis, Zhou Enlais und Lin Biaos 林彪), wurden ab 1960 nicht mehr ausgeliefert. Im Zuge desselben Beschlusses erging die Anweisung an das Kulturministerium, „alle in Verlagen der DDR geplanten Erst- und Nachauflagen chinesischer Literatur mit Gegenwartsthematik besonders zu überprüfen, um das Erscheinen von Literatur mit politisch falschem Inhalt zu verhindern.“29 Die in Kapitel 4 behandelten Mao-Nachdichtungen fanden
|| 26 Vgl. insbesondere Nicole Stuber, „Grundzüge der Beziehungen DDR – VR China 1956 – 1969“, in: Joachim Krüger (Hg.), Beiträge zur Geschichte der Beziehungen der DDR und der VR China. Erinnerungen und Untersuchungen (Berliner China-Studien 41). Hamburg/London/Berlin 2002, S. 113–144; Stuber-Berries, East German China; Beda Erlinghagen, „Anfänge und Hintergründe des Konflikts zwischen der DDR und der Volksrepublik China. Kritische Anmerkungen zu einer ungeklärten Frage“, in: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung 3 (2007), S. 111– 146. 27 Vgl. u.a. Martina Wobst, Die Kulturbeziehungen zwischen der DDR und der VR China 1949– 1990. Kulturelle Diversität und politische Positionierung (Berliner China-Studien 43). Münster 2004, S. 50–64; Meißner (Hg.), Die DDR und China, S. 298. 28 Vgl. u.a. Stuber-Berries, East German China Policy, S. 341–344. 29 „Betrifft: Überprüfung der China-Literatur 1959/1960“, SAPMO-BArch, ZPA JIV 2/3/696, abgedruckt in: Meißner (Hg.), Die DDR und China, S. 322–324, hier S. 324.
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entsprechend auch ein jähes Ende, wobei immerhin die 1960 im Parteiverlag Dietz erschienene Werkausgabe F. C. Weiskopfs noch dessen Mao-Übertragungen und die übersetzten Lobgedichte auf Mao Zedong enthält.30 Sogar das 1965 im Aufbau-Verlag erschienene Weiskopf-Lesebuch wählt als eines von vier Beispielen für Weiskopfs Übertragungen aus dem Chinesischen Maos „Schnee“. Im Rahmen einer größeren Sammlung ließ sich das offensichtlich noch durchsetzen, eine eigenständige Publikation der Werke Maos wäre kaum noch denkbar gewesen. Ältere chinesische Literatur war eher unproblematisch bzw. konnte als politisch vorbildlich eingestuft werden.31 1965 und 1968 erschienen noch die Räuber vom Liangschan-Moor (水浒传) bei Reclam und Insel,32 und Rütten und Loening publizierte sogar 1966 und 1968 noch den von dem tschechischen Sinologen Jaroslav Průšek herausgegebenen und ins Deutsche weiterübersetzten Band Die Jadegöttin. 12 Geschichten aus dem mittelalterlichen China (der 1977 nach Ende der Kulturrevolution neu herausgegeben wurde). Die letzten China-Buchveröffentlichungen von Volk und Welt in den 1960er Jahren waren wiederum zwei Romane Mao Duns 茅盾, der 1964 als Kulturminister abgesetzt wurde: 1963 erschien Regenbogen (虹) und 1965 Shanghai im Zwielicht (子夜), jeweils mit einem Nachwort des etablierten DDR-Sinologen Fritz Gruner, der die Romane dezidiert in der Geschichte des frühen 20. Jahrhunderts verortet, ohne in mehr als vagen Andeutungen auf die Gegenwart einzugehen. 33 An den Paratexten und der Textauswahl || 30 Dietz genoss als SED-Verlag gewisse Privilegien und unterstand nicht der HV Verlage und Buchhandel, vgl. Lokatis, Verantwortliche Redaktion, S. 46. Mindestens im Rahmen einer Werkausgabe und bei diesem Verlag konnte das Werk des allgemein politisch wohlangesehenen Weiskopf also ohne Kürzungen wieder abgedruckt werden – paradoxerweise entging damit der Band gerade aufgrund der Nähe zur SED gewissen Zensurmaßnahmen. 31 Vgl. die Argumentationsstrategien Průšeks im Nachwort einer Übersetzung, in dem er die Erzähler zur politischen Stimme des Volkes erklärt und auf die Kritik am korrupten konfuzianischen System abhebt: Jaroslav Průšek, „Nachwort“, in: Ders. (Hg.), Die Jadegöttin. Zwölf Geschichten aus dem mittelalterlichen China, übers. von Liane Bettin/Marianne Liebermann. Berlin ²1968 [1966], S. 407–433. Zum Ausweichen von der modernen auf die klassische Literatur vgl. auch Fessen-Henjes, „Übersetzen“, S. 634f. 32 Shi Nai’an, Wie Lu Da unter die Rebellen kam. Eine Episode aus dem altchinesischen Roman Die Räuber vom Liang-Schan-Moor. Leipzig 1965; Nai-an Schi [Shi Nai’an 施耐庵, 1296–1372], Die Räuber vom Liangshan, übers. von Johanna Herzfeldt. Leipzig 1968. Der klassische Roman über eine Gruppe von Rebellen im China des 14. Jahrhunderts wurde gegen Ende der Kulturrevolution in China massiv kritisiert, da der Rebell Song Jiang darin die Amnestie des Kaisers annimmt. 33 Vgl. die Nachworte in: Mao Dun, Regenbogen, übers. von Marianne Bretschneider. Berlin 1963, S. 359–367 und ders., Shanghai im Zwielicht, übers. von Johanna Herzfeldt. Berlin 1966, S. 643–651. Vgl. zur Dominanz der Republikautoren in der DDR der 1950er Jahre auch Neder, „Rezeption“, S. 612–626, hier S. 618. Zu den wenigen China-Übersetzungen in den 1960er Jahren
Lyrikübersetzung als diplomatische Strategie und Propagandamedium | 241
lässt sich die noch zwiegespaltene, vorsichtige Haltung der DDR erkennen. China-Texte wurden, wenn auch in geringen Zahlen, im Programm behalten, aber jeglicher Kommentar zur zeitgenössischen Kontextualisierung wurde vermieden.
7.2 Lyrikübersetzung als diplomatische Strategie und Propagandamedium? Heut erntet man Lieder mit riesigen Körben (1962) Im Volksliedband Heut erntet man Lieder mit riesigen Körben ist eine explizite Positionierung zur chinesischen Politik nicht vorhanden. Das Nachwort ergeht sich ersatzweise (gezielt ausweichend) in Ausführungen zur Form des Volkslieds.34 Ein Lyrikband, der chinesische Gegenwartsgedichte, also die Lyrik des Großen Sprungs nach vorne, aufgriff, muss aber auch in dem, was er verschweigt, als Positionierung begriffen werden. Die Planung und Entstehung des Bandes in den Jahren 1959–1962 fiel in genau die Phase, in der die Beziehungen der DDR zu China zwiespältig waren und der Große Sprung erst noch positiv, dann skeptisch und schließlich ablehnend beurteilt wurde.35 Der ursprüngliche Vertragsabschluss lässt sich sicher auf die anfängliche Begeisterung und, wie noch später zu diskutieren sein wird, auf die literaturpolitische Leitlinie des Bitterfelder Wegs zurückführen. 1959 wurde die enthusiastische Reportage Der große Sprung des Österreichers Bruno Frei vom Kulturministerium explizit als „kulturpolitisch sehr wichtig“ begrüßt und sogar in einer um 8000 Exemplare höheren Auflage als ursprünglich geplant herausgegeben.36 Jedoch wurde im August 1960 die Auslieferung des Titels zusammen mit dem vom Leiter der SED-Agitationsabteilung, Horst Sindermann, 1959 bei
|| trotz der bereits massiv verschlechterten Beziehungen vgl. Bernhardt, „Sozialistischer Realismus“, S. 84f. 34 Vgl. das Nachwort in: Heut erntet man Lieder mit riesigen Körben: 50 chinesische Volkslieder, übers. von Heinz Kahlau in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft deutscher Studenten in Peking. Berlin 1962, n. pag. 35 Zur Entwicklung der deutsch-chinesischen Beziehungen und der zögerlichen Neubewertung des Großen Sprungs und insbesondere der Volkskommunen vgl. Meißner (Hg.), Die DDR und China, S. 299f.; Stuber-Berries, East-German China Policy, S. 57–67, S. 215–217; Erlinghagen, „Anfänge“, S. 120, S. 134 u. S. 141f.; Sander, Geschichte, S. 182. 36 Vgl. SAPMO BArch, DR 1/3977a, S. 229.
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Dietz veröffentlichten Band Chinas großer Sprung 37 und einigen weiteren Büchern, größtenteils Übersetzungen offizieller chinesischer Schriften, gestoppt (s.o.). 38 Ebenso verschwanden die lobenden Berichte über den Großen Sprung aus dem Neuen Deutschland. Die Einrichtung der Volkskommunen wurde schon ab Mitte 1959 zum nicht übertragbaren Modell deklariert,39 im Juni 1960 kam es mit Blick auf diese Frage sogar zum Eklat zwischen den beiden Staaten bei der Landwirtschaftsausstellung in Markkleeberg. Die DDR warf den chinesischen Gästen vor, nahegelegt zu haben, die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften/LPGs seien nur ein Zwischenschritt auf dem Weg zur Volkskommune. Letztere umfassten nicht nur deutlich größere Einheiten, sondern führten zu massiven Eingriffen in das Sozial- und Familienleben u.a. durch Gemeinschaftskantinen und Schlafbaracken und Trennungen von Familienmitgliedern. Die Behörden befürchteten daraufhin entsprechende Widerstände der DDRLandbevölkerung gegenüber den eigenen forcierten Kollektivierungsmaßnahmen. Der Eklat markierte deutlich den Umschwung der Beziehungen und war einer der wenigen Fälle, in denen die DDR die Distanzierung gegenüber China über die Presse öffentlich vollzog.40 Zum 14-jährigen Jahrestag der Gründung der VR distanzierte man sich im Neuen Deutschland schließlich mit deutlichen Worten von der als „fehlerhafte Konzeption“ bezeichneten politischen Linie und insgesamt von der aktuellen Politik des ‚Bruderstaates‘.41 Dass eine Sammlung von Liedern aus dieser Zeit publiziert wurde, darf sicher als ein vorsichtig positives kulturpolitisches Signal nach China gewertet werden. Offensichtlich wurde gezielt auf die Belletristik ausgewichen, wo das Terrain für andere Publikationen schon zu heikel war. Der Literatur als deutungsoffeneres und damit weniger verbindliches Forum kam so eine Ersatzfunktion zu. In Anbetracht der sich verändernden Einschätzung vor allem mit Blick auf die
|| 37 Sindermann verwahrt die VR explizit gegen Kritik von Seiten Titos und drückt eine noch ungebrochene Bewunderung für Chinas Großen Sprung aus. Er begrüßt die Volkskommunen, die Probleme in den Griff bekämen, welche die Genossenschaften zu lösen nicht imstande gewesen seien (vgl. Horst Sindermann, Chinas großer Sprung. Berlin 1959, S. 25–28). Man beobachte in den anderen kommunistischen Ländern „[s]elbstverständlich […] das System der Volkskommunen“ aufmerksam, „so, wie der Vormarsch jeder Partei zum Sozialismus das natürliche Interesse aller anderen Bruderparteien findet“ (ebd., S. 32). 38 Vgl. „Betrifft: Überprüfung der China-Literatur 1959/1960“, S. 322–324. Dazu weiter auch Erlinghagen, „Anfänge“, S. 119. 39 Vgl. den Artikel „LPG sind keine Eintagsfliegen“, in: Neues Deutschland, 17. Juni 1959, S. 3. Vgl. weiter Stuber-Berries, East-German China Policy, S. 171, S. 215. 40 Vgl. Erlinghagen, „Anfänge“, S. 118; Stuber-Berries, East-German China Policy, S. 174, S. 282. 41 Vgl. „14 Jahre Volksrepublik China“, in: Neues Deutschland, 1. Oktober 1963, S. 7.
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Agrarpolitik bewegte sich ein Band über das ländliche China nichtsdestotrotz auf dünnem Eis. Interessant wäre zu wissen, ob die ursprüngliche Gedichtauswahl der endgültigen entsprach, oder ob sich hier im Laufe der Zeit Veränderungen ergaben.42 Vergleicht man aber die Sammlung mit den von Weiskopf ausgewählten Volksliedern (vgl. Kapitel 3), in deren Tradition sie gestellt wurden,43 oder mit einigen 1958/1959 erschienenen chinesischen Volksliedsammlungen als Ganzes, insbesondere solchen, die wohl als Quelle herangezogen wurden,44 ist offensichtlich, dass hier eine andere Agenda verfolgt wird bzw. der Band zwischen verschiedenen Ansprüchen schwankt: Heut erntet man Lieder mit riesigen Körben versucht, ein positives Bild von der ländlichen, industriellen und literarischen Produktionskraft und dem Willen der Bevölkerung zu zeichnen, löst diese aber von der Führung der chinesischen Kommunistischen Partei, von dem konkreten historischen Kontext des Großen Sprungs und spielt den weiterführenden Eingriff der Partei in die Sozialstruktur des ländlichen Raums maximal herunter. Der Band greift zwar einerseits, wie schon der Titel mit der hyperbolischen Zusammenführung von Erntemetaphorik und Lyrik andeutet,45 durchaus den Enthusiasmus des Großen Sprungs auf. Die Texte entstammen verschiedenen
|| 42 Dass einige von den Studenten gesammelten und übersetzten, sich der chinesischen Politik gegenüber kritisch positionierende Gedichte nicht aufgenommen wurden, bestätigte mir Eva Müller (E-Mail vom 21. Juli 2020). 43 Vgl. zum Beispiel das Zweitgutachten, das davon spricht, dass der Band „ganz der Leistung F. C. Weiskopfs nachfolge[]“: SAPMO BArch, DR 1/5120, S. 69. 44 Ich konnte nicht alle chinesischen Originale ausfindig machen, teilweise lagen Eva Müller die Gedichte als Handschriften vor (E-Mail vom 21. Juli 2020). Definitiv verwendet wurden Gedichte, die in den folgenden, von der Redaktion der Lyrikzeitschrift Shikan herausgegebenen drei Sammlungen enthalten sind (wobei Gedichte auch in ähnlichen Anthologien mehrfach auftauchen): Da yuejin minge xuan yibai shou 大跃进民歌选一百首 (100 ausgewählte Volkslieder des Großen Sprungs nach vorne). Beijing 1958; Xin minge bai shou 新民歌百首 (100 neue Volkslieder), Bd. 2. Beijing 1958; Bd. 3, Beijing 1959; des Weiteren in der Sammlung Dayuejin minge 大 跃进民歌 (Volkslieder des Großen Sprungs nach vorne), hg. vom Museum für Volkskunst der Provinz Anhui. Hefei 1958. Ebenso finden sich Texte aus der berühmtesten Sammlung der Zeit, Hongqi geyao 红旗歌谣 (Volksballaden der Roten Fahne), hg. von Guo Moruo 郭沫若 und Zhou Yang 周扬. Beijing 1959. Diese standardisierten, von hochrepräsentativen Organen und Persönlichkeiten herausgegebenen Anthologien eignen sich daher insbesondere auch als Vergleichsfolie, da man sieht, welche Art von Texten nicht übernommen wurde und wie sich Verschiebungen der inhaltlichen Schwerpunkte ergeben. 45 Zu dieser typischen Metapher vgl. u.a. Ge Henggang 葛恒刚, „Mao Zedong yu ‚xin minge yundong‘ shimo“ 毛泽东与“新民歌运动“始末 (Mao Zedong und Anfang und Ende der ‚Neuen Volksliedbewegung‘), in: Nanjing Shifan Daxue xuebao (2018), Nr. 3, S. 94–102, hier S. 97; S. H. Chen, „Multiplicity in Uniformity: Poetry and the Great Leap Forward“, in: The China Quarterly (1960), Nr. 3, S. 1–15, hier S. 7.
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Sammlungen der offiziell im Zuge des Großen Sprungs initiierten „neuen Volksliedbewegung“ (新民歌运动) der Jahre 1958/59, ohne dass dies explizit gemacht würde. Mao Zedong hatte ab dem Frühjahr 1958 darauf gedrängt, in großen Mengen Volkslieder zu sammeln bzw. verfassen zu lassen. Die durch Lyrikwettbewerbe und die Entsendung von Kulturfunktionären in die Dörfer forcierte massenhafte Lyrikproduktion sollte auf der kulturellen Ebene der erhofften Produktivität in anderen Bereichen entsprechen und richtungsweisend für die Literaturproduktion werden. Impulse des klassischen Volkslieds wollte man darin mit der Darstellung der neuen Gesellschaft verknüpft sehen. Aufgrund der hohen Analphabetenrate mussten die ‚Sammler‘ freilich nachhelfen. Die Berufslyriker wiederum stimmten trotz einiger kritischer Stimmen ebenfalls in den Enthusiasmus der Bewegung mit ein und versuchten sich in eigenen Varianten des Volksliedhaften. Das Ergebnis war letztlich aber ernüchternd, so dass sich Mao Zedong 1959, nach Durchsicht der von Zhou Yang und Guo Moruo verantworteten Sammlung von 300 Volksliedern, enttäuscht zeigte und die Initiative entsprechend schnell wieder ausklang.46 Diese Ernüchterung hat man in der DDR geflissentlich übersehen, stand die dortige Kulturpolitik doch seit der Bitterfelder Konferenz im April 1959 unter dem Motto „Greif zur Feder, Kumpel“, also ganz im Zeichen einer den chinesischen Ambitionen nicht unähnlichen Hoffnung auf Einbindung der Bauern und Arbeiter in die kulturelle Produktion und auf Überwindung der Diskrepanz zwischen Laienschriftstellerei und ‚Eliten‘-Produktion. Überspitzt hat daher Hans-Dietrich Sander den Bitterfelder Weg als „sozialistische Chinoiserie“ bezeichnet.47
|| 46 Gute Einführungen in die Bewegung, ihre Phasen und Akteure bieten Huo Junming 霍俊明, „Xin minge yundong yu xin shi fazhan daolu de lunzheng“ 新民歌运动与新诗发展道路的论争 (Die neue Volksliedbewegung und die Debatte um die Richtung der Entwicklung der neuen Lyrik), in: Zhongguo shige yanjiu (2011), S. 24–43; Shi Xingyu 史星宇, „Xin shige yundong zhong de wenxuejie“ 新诗歌运动中的文学界 (Die literarischen Kreise in der neuen Volksliedbewegung), in: Nanjing Xiaozhuang Xueyuan xuebao (2013), Nr. 5, S. 114–122; Mao Qiaohui 毛巧晖, „Yuejie: 1958 nian xin minge yundong de ‚dazhonghua‘ zhi lu“ 越界: 1958 年新民歌运动的 “大众化”之路 (Überschreitungen: Der Weg zur ‚Vermassung‘ in der neuen Volksliedbewegung von 1958), in: Zhongguo wenxue nianjian (2018), S. 822–824; Ge Henggang, „Mao Zedong“; Chen, „Multiplicity“. 47 Sander, Geschichte, S. 181. Sander und insbesondere Alexander Saechtig heben auch die Häufung chinabezogener Publikationen in zeitlicher Nähe zur Bitterfelder Konferenz hervor, vgl. Sander, Geschichte, S. 180–182; Alexander Saechtig, Schriftstellerische Praxis in der Literatur der DDR und der Volksrepublik China während der fünfziger und frühen sechziger Jahre. Hildesheim u.a. 2017, S. 129–132. Unter anderem wurden in der Neuen Deutschen Literatur 4 (1959), S. 66f. schon einige „neue Bauernlieder“ aus der chinesischen ‚Neuen Volksliedbewegung‘ in Übersetzung Eva Lippolds und Erhard Scherners veröffentlicht, eines davon („Der Jadekaiser“), findet
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Mit keinem Wort erwähnt die deutsche Gedichtsammlung den Zusammenhang zwischen der Politik des Großen Sprungs und der Entstehung der Gedichte, das Schlagwort des Großen Sprungs kommt schlichtweg überhaupt nicht vor. Die Gedichte suggerieren einen harmonischen Zusammenhalt der Gesellschaft und einen begeisterten Wettkampf im gemeinsamen Arbeiten, der die Hierarchieverhältnisse der alten konfuzianisch-patriarchalen Gesellschaft aufhebt. Junge Frauen wetteifern mit ihren Geliebten, wer mehr Reis pflanzt: Und beißen mich im Wasser auch die Egel in das Bein, das macht mir nichts, ich fürchte nur, der Liebste holt mich ein.48
Schwiegermütter und -töchter streiten sich darum, wer zur Arbeit gehen darf: Da gibt keine nach, und keine weicht ein Stück, eine hält die andere zurück, Schließlich geht die Mutter auf das Feld und setzt Pflanzen um. Schwiegertochter folgt ihr hinterdrein und pflanzt sie ein.49
Der Wettkampf mit anderen Staaten (so das in den chinesischen Texten immer wieder angesprochene Überholen Englands)50 und damit die außenpolitische Dimension des Wettkampfdenkens wird ausgespart, ganz zu schweigen von Kampfliedern oder ähnlichem.51 Die DDR zeigte sich wie die Sowjetunion zu diesem Zeitpunkt skeptisch gegenüber der deutlich aggressiveren Außenpolitik Chinas und dessen Ablehnung der Vorstellung friedlicher Koexistenz.52 Die Motivation für die Effizienzsteigerung scheint in der deutschen Sammlung rein intrinsisch von einem wohlwollenden Wettstreit miteinander geleitet.
|| sich auch in der Sammlung von Volk und Welt. – Vgl. weiter Martina Wobst, die die jeweiligen Versuche, eine Massenkunst zu schaffen, knapp miteinander vergleicht (Kulturbeziehungen, S. 46f.). 48 Heute, n. pag. (Gedichtanfang „Der ganze Hang wird grün im März“). 49 Heute, n. pag. („Auf dem Baume streiten sich die Elstern“). 50 Vgl. Verse wie „Die Erträge erschrecken den Englishman zu Tode“ (产量吓死英国佬) (Xin minge bai shou, S. 15). 51 Vgl. z.B. die Abteilung mit Liedern, die der ‚Verteidigung der Heimat‘ gewidmet sind, in: Hongqi geyao, S. 333–372. 52 Vgl. Stuber-Berries, East-German China Policy, S. 101–106, S. 332.
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Die Natur erweist sich dabei als dem arbeitenden Menschen freundlich gesinnt, wird anthropomorphisiert und nimmt an der Arbeit ebenso wie am Gesang teil: Viele Menschen, viele Pferde sind auf den Terrassenfeldern, und sie machen, daß das grüne Wasser murmelnd aufwärts springt. Weiße Wolken sind gekommen, grünes Wasser zu begrüßen, und das Bergfeld trinkt das Wasser, und das Wasser singt.53
Die Diktion ist bewusst naiv gehalten, die grammatikalischen Konstruktionen in V. 2f. sogar kindlich. Die harmonische Bewegung der Natur spiegelt sich im regelmäßigen Trochäus, in den ersten drei Versen achthebig, im letzten Vers siebenhebig, so dass der Schluss nachklingt und ein besonderes Gewicht erhält. Die Verse enden abwechselnd männlich respektive weiblich. Die zahlreichen Wiederholungen und die einfachen, jeweils durch „und“ verbundenen Satzeinheiten befördern ebenfalls den Eindruck des Einfach-Harmonischen, hinzu kommen noch Assonanzen wie in „Weiße Wolken […] Wasser“. Mensch, Tier, Himmel, Erde und Wasser bilden ein Ganzes, wobei der Mensch in seiner Arbeit den Anstoß zur weiteren Bewegung der Natur gibt, während die vermenschlichte Natur freudig darauf eingeht. Auf einer poetologischen Ebene suggeriert das Gedicht eine natürliche Zusammenfügung von Arbeit und Kunst und weist damit auch auf den Kontext der Kulturpolitik des Bitterfelder Wegs zurück. Vom ländlichen Arbeitsraum ausgehend, legt das Eingangsgedicht der Sammlung die wechselseitige Beförderung von Arbeit und spontaner literarisch-musikalischer Kreativität nahe. Entsprechend wird ein poetologischer Kontext für die späteren Gedichte geschaffen, der die eigene Kulturpolitik in der fremden Praxis zu bestätigen scheint. Nur in wenigen Gedichten sind Natur und Mensch kontrastiert, dann erweist sich jedoch der Mensch als Überwinder der Natur oder als selbstbewusster Herausforderer. So klagt das Ich in einem Gedicht humorvoll den unproduktiven Mond an: „Willst du dich nicht bessern, Alter, / wechseln wir dich aus, / und wir hängen unsern eignen / Mond zum Himmel raus.“54 Diese Art von Texten ist aber deutlich seltener als in den chinesischen Sammlungen, die den Wettbewerb Mensch-Natur in hyperbolischen Übersteigerungen der menschlichen Kraft prononcieren.
|| 53 So das Eingangsgedicht in Heute, n. pag. 54 Heute, n. pag. („Mond wach auf, du fauler Bruder“). Vgl. Xin minge bai shou, Bd. 3, S. 61f. bzw. Hongqi geyao, S. 125.
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Ein geringer Teil der Gedichte greift neben der landwirtschaftlichen Arbeit die Gewinnung von Rohstoffen und die Herstellung von Eisen und Stahl auf, an der Ende der 1950er weite Teile der Bevölkerung beteiligt waren: An einen Schornstein Du ragst hinauf bis zu den weißen Wolken, du schickst den schwarzen Rauch dem Himmel zu. Welch alter Baum erreicht wohl deine Höhe, und welcher Himmelsbambus ist so fest wie du? Du reckst die Faust am Eisenarm ins Blaue, und schreibst den großen Wettbewerb ins Wolkenbuch. Du malst als riesengroßer breiter Pinsel den schönsten Frühling Chinas auf das Himmelstuch.
Die Geste der Siegesgewissheit, im Gedicht auf den apostrophierten Ofen übertragen, spiegelt sich in dem beigefügten Scherenschnitt, der einen Mann, siegessicher ein Stück Metall in die Höhe reckend, neben einem primitiven (für den Großen Sprung typischen) Ofen zeigt. Sprecher der Gedichte ist wahlweise ein Ich, das eine typisierte Rolle erfüllt, eine Liebende, die einen Mann bei der Arbeit unterstützt, ein Student, der sich der Bauernklasse angeschlossen hat, oder das Wir der Bauern. Viele der Gedichte referieren aus einer externen Perspektive eine Art Vorher-Nachher-Narrativ, zumeist explizit durch die Adverbiale „Früher“ vs. „Jetzt“/“Heute“ eingeleitet: Früher ließ der Kreisbeamte sich in Sänften bergauf tragen. Alles, was er tat, der Feine: seine Träger anzuranzen. Heute steigt der Kreisvorsteher selber aufwärts, hat zu tragen. Er hat was zu tun, der Gute: nämlich Bäume anzupflanzen.55
Der Vorher-Nachher-Kontrast bezieht sich neben der ländlichen Produktion auch auf die Bildung und die sozialen und intergenerationellen Beziehungen: Früher ließ sich Schwiegermutter gar nichts sagen. Mit der Schwiegertochter lebte sie in Streit und Zank.
|| 55 Heute, n. pag. („Früher ließ der Kreisbeamte“).
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Heute fällt es ihr nicht schwer, die Jüngere zu fragen – in der Abendschule sitzen beide auf der gleichen Bank.56
Eine konkrete historische Situierung der Vorher-Nachher-Konstellation wird nicht vorgenommen, die Texte legen hier nahe, dass der allgemeine Übergang zum sozialistischen System für die Veränderung verantwortlich zeichnet. Die im Chinesischen äußerst zahlreichen Gedichte, die Mao Zedong oder andere hohe KP-Führer als Befreier und Initiatoren der gegenwärtigen Veränderungen preisen, werden schlichtweg nicht aufgenommen.57 Kein einziger Personenname kommt in der Anthologie vor, ebenso wenig das Wort „Partei“ oder ähnliches. Höchstens der „Kreisbeamte“ im obigen Gedicht ist ein Hinweis auf die Beteiligung der Partei, aber auch er wird hier nicht als richtungsgebender Anführer präsentiert, sondern ist selbst reformiert durch die gesellschaftliche Umgestaltung. Auf die Volksbefreiungsarmee wird ein einziges Mal unter Rückgriff auf den gängigen Vergleich, Armee und Volk seien „[w]ie Fisch und Wasser“, Bezug genommen.58 Die Gedichte fokussieren also kleinere soziale Räume anstatt größerer politischer Konstellationen. Gedichte, die das familiäre Kleinumfeld und vor allem das Zusammenfallen von Liebes- und Arbeitsverhältnis betonen, sind deutlich häufiger als in den chinesischen Sammlungen. Liebesgedichte sind in vielen chinesischen Sammlungen der Zeit gar nicht integriert, in anderen kommen solche Gedichte zwar vor, nehmen aber nicht annähernd den Raum ein, den sie hier haben. Allein 14 der 50 deutschen Gedichte stellen das sich in der Arbeit artikulierende Liebesverhältnis ins Zentrum. Der Band verankert die Gedichte durch das Hervorheben des Liebesthemas stärker in der Tradition älterer Volkslieder und hebt dadurch aber auf das veränderte Liebes- und Geschlechterverständnis ab. Er betont den privaten Raum, der größeren Gemeinschaften nicht gegenübergestellt wird, sondern mit ihnen zusammenspielt. Ein großes „Wir“ konstituiert sich in der Arbeitsgemeinschaft, überlagert aber nicht den gesamten sozialen Raum, wie es die Volkskommunen vorsahen. Anstelle der Volkskommunen werden entsprechend die diesen vorangegangen Genossenschaften gelobt: „[S]eid auf Ruh bedacht, / die Genossenschaft hat längst / alles klargemacht“,59 heißt es in einem Text, und immer wieder fungieren
|| 56 Heute, n. pag. („Früher ließ sich Schwiegermutter gar nichts sagen“). 57 Beispielsweise beginnt die Sammlung von Guo Moruo und Zhou Yang mit einer 48 Gedichte umfassenden Sektion „Loblieder auf die Partei“ (党的颂歌), der erste Titel ist gleich „Mao Zedong gleicht einer roten Sonne“ (毛泽东像红太阳), siehe Hongqi geyao, S. 3. 58 Heute, n. pag. („Die Volkssoldaten lieben unser Volk“). 59 Heute, n. pag., („Auf dem Baume ruft die bunte Elster“).
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die Genossenschaften als Motor der Produktivität. Bedenkt man, dass die Vollkollektivierung der DDR-Landwirtschaft nur knapp vor Erscheinen des Gedichtbandes forciert vollzogen wurde, kann man in den Texten sicherlich auch den Versuch sehen, das eigene, neue landwirtschaftliche Kollektivierungsmodell unter Rückgriff auf das externe Vorbild zusätzlich zu legitimieren. Allerdings waren im China der Zeit die Genossenschaften durch die erweiterte Kollektivierung in den Volkskommunen bereits obsolet geworden. Der Begriff „Volkskommune“, in den chinesischen Sammlungen als neuer Idealzustand besungen, 60 fällt in der deutschen Anthologie wiederum kein einziges Mal. Nicht alle Originale der Texte über die Genossenschaften ließen sich ausmachen, teilweise wurden vermutlich einfach frühe Gedichte von 1958 ausgewählt, in denen die Genossenschaft noch eine Rolle spielt. In anderen Fällen macht man sich bei der Übertragung eine gewisse Ambiguität der chinesischen Originale zunutze. Der chinesische Begriff für Genossenschaft ist hezuoshe 合 作 社, der Begriff für Volkskommune renmin gongshe 人民公社. Der kurze Begriff sheyuan 社员, „Mitglied der Gemeinschaft“, bezieht sich in den chinesischen Texten zumeist auf Volkskommunenmitglieder, kann sich aber theoretisch auch auf Genossenschaftsmitglieder beziehen. So wird für die deutsche Übersetzung einfach immer „Genossenschaftler“ gewählt, auch wenn es sich um Texte handelt, die schon längst aus der Zeit der Volkskommunen stammen: Diese Ernte ist so reich, läßt sich nicht zu Ende bringen. Ihre Berge werden gleich hoch bis in den Himmel dringen. Die Genossenschaftler nehmen einen Wolkenfetzen her. Wischen sich den Schweiß vom Kopfe, denn sie schwitzen sehr. Wenn sie eine Pause machen, und sie rauchen dann, zünden sie sich ihre Pfeifen an der Sonne an.61
|| 60 Vgl. Titel wie „Die Volkskommune ist eine goldene Brücke“ (人民公社是金桥), in: Hongqi geyao, S. 85. 61 Vgl. das Original in Xin minge bai shou, Bd. 2, S. 37. Die ostdeutschen Studenten, die die Rohübersetzungen angefertigt haben, dürften sehr wohl gewusst haben, dass sheyuan 社员 sich hier auf die Volkskommunenmitglieder bezieht.
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Die Übertragung wählt also gezielt einen Begriff, der philologisch nicht falsch, historisch aber obsolet ist. Im Zusammenspiel mit der oben ausgeführten Betonung des familiären Raums dienen solche Strategien der Unterdrückung jeden Konzepts revolutionärer, den Familienraum und die Bindung an das eigene Grundstück fast vollständig auflösender sozialer Umstrukturierung. Dass sich die DDR und China wegen der Frage des Verhältnisses von Volkskommune und Genossenschaft/LPG bereits überworfen hatten und der DDR-Führung daran gelegen war, den Landwirten die Angst vor weiterführenden Kollektivierungsmaßnahmen im chinesischen Stil zu nehmen, wurde bereits erwähnt. Durch den Verweis auf die Effizienz der Genossenschaften preist der Band somit mehr eine frühere historische Phase, die man mit den Prinzipien der DDR noch im Einklang sah. Prinzipiell sind in den Texten, unterstützt durch die Scherenschnitte, die neben größtenteils ländlichen Figuren bei der Arbeit und beim Lesen Naturszenerien und Tiere zeigen, inhaltlich typisierte und ästhetisch vor allem auf einfache Sprache und eingängige, regelmäßige Formen setzende Lieder vereint. Sie preisen die Kraft der Arbeitsgemeinschaften, welche mit der Natur oder als Naturüberwinder eine bisher unvorstellbare Produktionssteigerung erreichen und durch diesen Prozess die Gesellschaft und alle sozialen Beziehungen reformieren und harmonisieren. Davon, dass die chinesische Seite Notiz von den eher raren belletristischen Übersetzungsarbeiten der DDR nahm, kann man wohl ausgehen. Vertretungen anderer sozialistischer Staaten machten wiederholt ihre Einflüsse bei DDR-Publikationen geltend. Die bekanntesten Fälle solcher Eingriffe waren sicher das Verbot von Werner Heiduczeks Tod am Meer (das Vergewaltigungen durch russische Soldaten thematisiert) und die Absetzung von Volker Brauns Guevara oder Der Sonnenstaat (aufgrund der Zeichnung Che Guevaras) auf Betreiben der sowjetischen respektive kubanischen Diplomaten.62 Man kann also eine doppelte Strategie hinter der Publikation erkennen: Mit Blick auf die innenpolitische Ebene bestätigt der Band durch das fremde Beispiel die Effizienz der kollektivierten Landwirtschaft und die kreative Energie der Bauernklasse, verschweigt aber größtenteils die jüngsten Entwicklungen der chinesischen Sozial- und Arbeitsstruktur im ländlichen Raum und verweigert jede
|| 62 Vgl. zum Eingreifen auswärtiger Vertreter in die DDR-Publikationsszene York-Gothart Mix, „Dem Furchtsamen rauschen alle Blätter. Volker Braun, der Hinze-Kunze-Roman und die Gefährlichkeit von Literatur“, in: Ein „Oberkunze darf nicht vorkommen“. Materialien zur Publikationsgeschichte und Zensur des Hinze-Kunze-Romans von Volker Braun (Veröffentlichungen des Leipziger Arbeitskreises zur Geschichte des Buchwesens: Schriften und Zeugnisse zur Buchgeschichte 4), hg. von dems. Wiesbaden 1993, S. 9–33, hier S. 11.
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Stellungnahme – positiv wie negativ – zur chinesischen Führung. Sieht man den Band im Gefüge der kulturpolitischen Beziehungen zwischen den Ländern, spiegelt sich darin eine zwiegespaltene Haltung. Einerseits bestätigt der Band eine gewisse Vorbildfunktion Chinas bzw. die Rolle als sozialistischer Bruderstaat und das Potential, das man dem Land zuschrieb. Die Gedichte stimmen dem Produktionsenthusiasmus des Großen Sprungs nach vorn durchaus zu. Andererseits tun sie dies ohne Verweis auf die Rolle der politischen Führung und ohne Einbindung in weltpolitische Kontexte. Das Volk scheint vielmehr innerhalb des mit den familiären Strukturen ineinandergreifenden kollektiven Organisationsgefüges auf niedriger politischer Ebene selbstständig zu agieren – und aus eigenem Ansporn zu dichten. Wie die letztgültige Textgestalt zustande kam und welche Rolle dabei der Studentengemeinschaft, Kahlau und der zuständigen Lektorin Bretschneider zukam, lässt sich aufgrund der Quellenlage leider nicht mehr en detail feststellen. Dass das Lektorat eine große Rolle gespielt haben dürfte und bekanntermaßen Volk- und Welt-Lektoren (wie auch die Lektoren vieler anderer Verlage) sämtliche Übersetzungen im Vergleich von Original und Übertragung gegenlasen und als eine Art Zensurvorinstanz erheblich zur endgültigen Textgestalt beitrugen, noch ehe externe Zensurmechanismen der HV Verlage und Buchhandel überhaupt ins Spiel kamen, ist bekannt:63 „Wenn der Verlag systematisch die Grenzen des Machbaren erweiterte, sollte das nicht darüber hinwegtäuschen, dass er zugleich im Auftrag und unter Kontrolle der Zensurbehörde eine verantwortliche Grenzwacht-Funktion einnahm.“64 Auch in diesem Fall ist davon auszugehen, dass Bretschneider einen großen Anteil vor allem an der Textauswahl, vermutlich auch bei einzelnen Übertragungsentscheidungen gehabt haben dürfte. In jedem Fall war das Endprodukt zumindest für die DDR-Vertreter so überzeugend, dass selbst ein gelegentlich
|| 63 Zur intensiven Betreuung der Übersetzungsarbeit durch die Lektoren und zu deren Rolle als zentrale kulturpolitische Akteure, die einerseits als Zensurvorinstanz fungierten und andererseits versuchten, auch heiklere Autoren in der DDR einzugemeinden, vgl. Thomas Reschke, „Übersetzen in der DDR“, in: Die Horen 50/2 (2005), S. 19–22; ders., „Bücher haben die Wende von 1989 mit vorbereitet“, in: Barck/Lokatis (Hg.), Fenster, S. 68–72; Creuzinger, „Zunft und Staat“, S. 21; Thomson-Wohlgemuth, „A Socialist Approach“, S. 507; Leonhard Kossuth, Volk & Welt. Autobiographisches Zeugnis von einem legendären Verlag. Berlin ²2003, S. 156; Lokatis, Verantwortliche Redaktion, S. 399 sowie ders., „Entdeckungsreisen ins Leseland“, in: Ders./Theresia Rost/Grit Steuer (Hg.), Vom Autor zur Zensurakte. Abenteuer im Leseland DDR. Halle 2014, S. 11– 16, hier S. 13; ders., „Nimm den Elefanten – Konturen einer Verlagsgeschichte“, in: Barck/Lokatis (Hg.), Fenster, S. 15–30, hier S. 18, S. 22. 64 Ebd. Vgl. weiter Robert Darnton, Censors, S. 160.
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scharfzüngiger Zweitgutachter wie Karl Blasche dem Band bestmögliche Verbreitung wünschte65 und dem Druckgenehmigungsmanuskript noch ein handschriftlicher Vermerk beigefügt ist, die Auflage von 700 möge um weitere 200 Exemplare ergänzt werden.66 Der Verlag versicherte Eva Müller sogar, Otto Grotewohl persönlich habe sich sehr für den Band ausgesprochen.67 In seiner spezifischen Textauswahl und seinen subtilen Manipulationen ist der Band damit gleichzeitig Annäherung an und Distanzierung von China, in gewisser Weise ein vorsichtiges und unter Vorbehalt stehendes Angebot zur Definierung der wechselseitigen Freundschafts- und Vorbildbeziehungen auf literarischer und wirtschaftspolitischer Ebene, ein lyrisch-politischer Drahtseilakt. Gerade in dieser zwiespältigen Rolle spiegelt er das Schwanken der DDR in ihrer Beziehung zu China.
7.3 Lyrische Grenzüberschreitungen: Ai Qing zwischen Westund Ostdeutschland Nach der Kulturrevolution wurde zwar relativ schnell – auch zur kulturpolitischen Bestätigung der verbesserten Beziehungen der Länder –68 wieder einiges an chinesischer Prosa übertragen, die Lyrik ließ jedoch auf sich warten. 1988 erschienen dann bei zwei Verlagen Publikationen, die die chinesische Lyrik wieder in der DDR einzuführen versuchten: im Verlag Neues Leben die Auswahl „Junge chinesische Lyrik“ in der Zeitschrift Temperamente. Blätter für junge Literatur sowie korrespondierend eine Auswahl von Gedichten Shu Tings 舒婷 (*1952),69 und bei Volk und Welt die Werkausgabe Ai Qings. Damit trafen auch in den DDR-Lesewelten zwei Richtungen aufeinander, die in China um die Vormachtstellung in der postmaoistischen Lyrik konkurrierten: Ai Qing als Vertreter der rehabilitierten frühen sozialistischen Lyrik und die Autoren der sogenannten MenglongDichtung (朦胧, „Obskure Lyrik“, gelegentlich auch als „Hermetische Dichtung“
|| 65 Vgl. SAPMO BArch, DR 1/5120, S. 70. Zu Karl Blasche siehe auch Benedikt Jager, „Zwischen Nora und Nagel. Norwegische Literatur in der DDR“, in: Deutschland Archiv, 15. August 2016, www.bpb.de/232538 [31.03.2020]. 66 Vgl. SAPMO BArch, DR 1/5120, S. 59. Die Auflage ist für einen Lyrikband nicht niedrig. 67 Dies erwähnte Eva Müller mir gegenüber in einer E-Mail vom 21. Juli 2020. 68 Vgl. Siegfried Lokatis, „Die zensurpolitische Funktion von Anthologien im Verlag Volk und Welt“, in: Günter Häntzschel (Hg.), Literatur in der DDR im Spiegel ihrer Anthologien. Wiesbaden 2005, S. 47–58, hier S. 56. Lokatis spricht gar von einer „diplomatische[n] Funktion“ der Texte (ebd.). 69 Schu Ting [Shu Ting], Gedichte, ausgew. u. übers. von Ernst Schwarz. Berlin 1988.
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übertragen, siehe weiter Kapitel 8) der Generation der Rotgardisten und landverschickten Jugendlichen, die zumeist zunächst in der inoffiziellen Lyrikszene und im Untergrund publiziert hatten. Die vielfache Orientierung der MenglongGruppe an der internationalen Moderne, experimentellere Formen, die Wiederentdeckung des lyrischen Ich und das bewusste Hervorheben der eigenen Generationszugehörigkeit in Spannung zur Vergangenheit ließen eine Debatte um die Dichtung aufkommen; die neue Dichtung wurde von offizieller Seite teilweise gefördert, teilweise, wie im Zuge der Kampagne gegen geistige Verschmutzung 1983, angegriffen. 70 Der Anspruch auf die Etablierung einer neuen Art Literatur war konfrontiert mit der Einforderung lyrischer Deutungshoheit durch die Generation rehabilitierter Schriftsteller, sowohl, was formale Gestaltung und Motive betraf, als auch in der Frage, wie die letzten zwei Jahrzehnte lyrisch aufzuarbeiten seien. Neues Leben wollte also ein neues China herausstellen, eine Generation junger, aufbruchsbereiter Lyriker, gelegentlich mit leicht provokativer Note, die sich v.a. die Zeitschrift Temperamente bekanntermaßen des Öfteren erlaubte,71 so in Shu Tings 舒婷 Plädoyer für privates Glück gegen Heldentum – „Lieber an des Liebsten Schulter eine Nacht lang weinen / als auf einer Klippe ewig ausgestellt“72 – oder den herausfordernden Versen von Liu Bo 刘波 – „Haben gehöhnt Wer pünktlich früh zur Arbeit rennt rennt in die / Partei“.73 Hauptverantwortlich für diese Übertragungen waren durchaus etablierte Sinologen und Nachdichter, vor allem Eva Müller, die schon an dem oben vorgestellten Band mitgewirkt hatte, || 70 Vgl. zu den Debatten Menglong shi lunzheng ji 朦胧诗论争集 [Gesammelte Beiträge zur Debatte über die Obskure Lyrik], Bd. 1, hg. von Yao Jiahua 姚家华. Beijing 1989, S. 28–34; zur Menglong-Dichtung weiter Kubin, „Das geliehene Ich“ hier S. 8, S. 16–21; Bonnie S. McDougall, „Breaking Through: Literature and the Arts in China, 1976–1986“, in: Copenhagen Papers in East and Southeast Asian Studies 2/1 (1988), S. 35–65; Perry Link, The Uses of Literature. Life in the Socialist Chinese Literary System. Princeton 2000, S. 22–36; Lena Henningsen/Sara Landa, „Verliebte Helden, rebellische Dichter und das ‚Erwachen des Selbst-Bewusstseins‘: Heldenstilisierung in der chinesischen Literatur der langen 1970er Jahre“, in: helden.heroes.heros 3/2 (2015), S. 15–29, v.a. S. 20f. 71 Vgl. zur Zeitschrift Temperamente den Ausstellungskatalog von Ernst Wichner/Herbert Wiesner (Hg.), Literatur und Zensur in der DDR. Geschichte, Praxis und ‚Ästhetik‘ der Behinderung von Literatur (Texte aus dem Literaturhaus Berlin 8), S. 175 sowie die Erinnerungen eines der frühen Redakteure, Joochen Laabs, „‚Temperamente‘ – ein lohnendes Scheitern“, in: Michael Opitz (Hg.), Die Insel vor Augen. Ein Buch von Freunden zum 60. Geburtstag von Frank Hörnigk (Theater der Zeit Recherchen 19). Berlin 2004, S. 122–131. 72 Shu Ting, „Gipfel der Göttin“, in: Temperamente 1 (1988), S. 131 (Übertragung von 神女峰 in Kooperation von Uta Steinert und der Dichterin Kathrin Schmidt). 73 Liu Bo 刘波, „Trauermarsch“, in: Temperamente 1 (1988), S. 138f. (Übertragung von 葬礼进 行曲 aus dem Zyklus „Junge Bolschweki“ [年轻的布尔什维克] durch Eva Müller und Erhard Scherner).
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und der Schriftsteller Erhard Scherner, der in den 1950er Jahren unter anderem Maos Gedichte bearbeitet hatte (vgl. Kapitel 4), andererseits die jüngeren Sinologinnen Uta Steinert und Petra John sowie eine Absolventin des Johannes R. Becher-Literaturinstituts, Kathrin Schmidt. Das Plädoyer für die junge chinesische Dichtung erfolgte daher von DDR-Seite generationenübergreifend, die ‚etablierten‘ Sinologen setzten sich dezidiert für die neueren Strömungen ein. Dagegen wirkt die Wahl von Volk und Welt zunächst eher konservativ. 74 Ai Qings Texte waren in DDR-Publikationen mehrfach aufgegriffen worden – unter anderem von F. C. Weiskopf –, der Autor war also kein Neuling in der DDR. Er war einerseits politisch eindeutig kommunistisch positioniert, andererseits 1958 im Zuge der Anti-Rechts-Kampagne aus dem maoistischen Lager angegriffen, in die Provinz verbannt und mit Publikationsverbot belegt worden. Damit liegen keine Gedichte aus der Phase des sino-sowjetischen und -ostdeutschen Konfliktes vor. Ai Qing stand für ein sozialistisches China jenseits des radikalen Maoismus. Zudem war Ai Qing inzwischen wieder im Rahmen von Delegationen im Ausland gewesen und somit nicht zuletzt ein kulturpolitischer Vertreter, der für die Anfänge der Volksrepublik ebenso wie für einen Neubeginn nach der Kulturrevolution stand. Man mag auch mit einem Besuch in der DDR zu gegebenem Zeitpunkt gerechnet haben, es handelte sich gewissermaßen also auch um eine diplomatische Wahl. Die Lektorin Marianne Bretschneider, die schon die oben diskutierte Volksliedanthologie begleitet hatte, war immer noch die einzige Sinologin des Verlags und zuständig für alle China- und Japanpublikationen. In ihrem Gutachten betitelt sie Ai Qing als unumstritten „bedeutendste[n] chinesische[n] Dichter der Gegenwart“, der sich aufgrund seiner „Realitätsbezogenheit“ zum „Sprecher seines Volkes“ entwickelt habe.75 Die Sammlung präsentiert insbesondere Gedichte des jungen Ai Qing, frühe sozialkritische Texte, und einige Gedichte aus der Zeit nach der Rehabilitation. Die mittlere Werkphase wird mit wenigen Texten abgehandelt. Die Auswahl begründet der Übersetzer Manfred Reichardt und unterstützt Bretschneider als eine ästhetisch motivierte, da Gedichte nach dem Yan-An-Forum und Ai Qings
|| 74 Prinzipiell ist davon auszugehen, dass der Verlag selbst die Wahl traf, das war das übliche Vorgehen, sofern ein fachkompetenter Lektor zur Verfügung stand. Teilweise konnten auch Übersetzer eigene Vorschläge machen, dann dürfte man im Verlagslektorat in jedem Fall aber intensiv recherchiert haben, ob diese Wahl zu billigen sei. Vgl. zur Frage der Auswahl Creuzinger, „Zunft und Staat“, S. 21; Kahlau, „Gespräch“, S. 38. 75 SAPMO BArch, DR 1/2393, S. 52.
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Parteieintritt 1945 oft ins Banale abdrifteten.76 Gerade die allzu linientreuen Gedichte werden damit größtenteils aussortiert bzw. mit einer einzelnen Lobeshymne von 1945, die Mao, Zhu De 朱德 und die chinesische Armee in eine Reihe mit Stalin und den Sowjettruppen stellt, abgedeckt: das Glück, das Genosse Mao und Kommandeur Zhu, das die Achte Armee und die Neue Vierte Armee uns gebracht, das Glück, das uns Marschall Stalin und die große Rote Armee beschert. (Waage, S. 58f.)77
Insofern finden sich viele der bekanntesten frühen Ai-Qing-Gedichte in dem Band, wobei Ai Qings gezielt klarer, prosanaher Stil, der in Auseinandersetzung mit europäischen und westlichen Mustern des freien Verses entstanden war, 78 im Deutschen ebenfalls durch eine Tendenz zu klaren, einfachen Satzstrukturen, Wiederholungsmustern und Kontrastsetzungen wiedergegeben wird, so im wohl berühmtesten Gedicht, „Dayanhe, meine Amme“ (大堰河——我的保姆) von 1933: 我是地主的儿子; 也是吃了大堰河的奶而长大了的 大堰河的儿子。 大堰河以养育我而养育她的家, 而我,是吃了你的奶而被养育了的, 大堰河啊,我的保姆。 (Ai Qing xuan ji 1, S. 17)
Ich bin der Sohn des Grundbesitzers. Doch an Dayanhes Brust aufgewachsen, bin ich auch Dayanhes Sohn. Um die Ihren ernähren zu können, hat mich Dayanhe gestillt, und mich hat deine Milch ernährt, Dayanhe, du, meine Amme. (Waage, S. 13)
Gedichte, die sich explizit mit der Kulturrevolution auseinandersetzen, finden sich ebenso, mit Versöhnungsgeste gegenüber der Rotgardistengeneration, in „Jeder muß bei sich selbst beginnen“ (每个人都要从自己开始, 1979):
|| 76 Vgl. Manfred Reichardt, „Nachbemerkung“, in: Ai Qing, Auf der Waage der Zeit, übers. von Manfred und Shuxin Reichard mit Annemarie Bostroem. Berlin 1988 [im Folgenden im Fließtext zitiert], S. 97–105, hier S. 104; SAPMO BArch, DR 1/2393, S. 56f. 77 Ai Qings Werke werden nach folgender Ausgabe (im Folgenden mit dem Kurztitel Ai Qing xuan ji im Fließtext) zitiert: Ai Qing 艾青, Ai Qing xuan ji 艾青选集 (Ausgewählte Werke Ai Qings). Huashan 1986, Bd. 1, S. 538f. 78 Vgl. einführend zur Poetologie Ai Qings Karl-Heinz Pohl, „Poetische Theorie und Praxis bei Ai Qing“, in: Helmut Martin (Hg.), Cologne-Workshop 1984 on Contemporary Chinese Literature/Kölner Workshop 1984 Chinesische Gegenwartsliteratur. Köln 1986, S. 354–368.
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Wer hat den Mut, sie von sich zu stoßen, wer hat das Recht, daß er schuldig sie spricht? Was einzig sie brauchen, ist unser Trost, unsere Nachsicht – und kein Gericht. (Waage, S. 75, vgl. Ai Qing xuan ji 2, S. 519)
Die Kulturrevolution selbst wird darin mit einer überbordenden Fülle an Metaphern aus Natur und Nautik angenähert, die die Frage nach Akteuren und Verantwortungen ausklammern und die Zeit als ‚Naturkatastrophe‘ präsentieren: Ihr Schlepptau zur Geschichte zerriß, ihr Schiff ward von tückischer Sandbank erfaßt, die Segel zerfetzte der rasende Sturm, in wilden Orkanen zerbrach der Mast. Es war, als erbebte ringsum die Erde, es gab kein Entrinnen aus der Gefahr, man hörte nur herzzerreißende Schreie, man sah nur ein Chaos, unvorstellbar. (Waage, S. 74, vgl. Ai Qing xuan ji 2, S. 519)
Aber nicht nur die chinesische Geschichte wird präsentiert, sondern auch die europäische. Nach der für den Band getroffenen Auswahl sieht der Autor auch hier den Frieden gefährdet, so in „Die Tauben von Wien“ (维也纳的鸽子): Ihr Tauben von Wien, ihr scheint so gelassen, ihr scheint so sorglos, Als hättet ihr nie die Schüsse gehört, nie das Feuer gesehn, das alles verzehrt. Ihr strahlt so viel Ruhe aus. (Ai Qing, Waage, S. 69, vgl. Ai Qing xuan ji 2, S. 457)
Der Band präsentiert Ai Qing somit in seiner Entwicklung vom empathischen Beobachter des Unrechts bis hin zum Kommunisten, der den Irrungen der Parteiführung nicht folgt, hinterher aber trotz des erlittenen Leides wieder mit Fortschrittsoptimismus den Aufbau des Landes vorantreibt und sich über sein Land hinaus für Frieden und Sozialismus einsetzt. Ai Qing wäre somit wohl eine perfekte Wahl gewesen, wenn nicht eine Handvoll jüngerer, im Rahmen einer BRD-Reise entstandener Texte ausgerechnet den kommunistischen Autor positiv über das andere Deutschland und explizit kritisch gegenüber der Abschließung der DDR gezeigt hätte. Dass diese Gedichte nicht eingebunden wurden, ist kaum verwunderlich. Anhand der Gutachten lässt sich aber auch wiederum erkennen, welche zwiespältige Rolle DDR-Verlage beim
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Import fremder Autoren erfüllten, wurde doch der heikle Teil von Ai Qings Werkbiographie nicht nur dem DDR-Publikum vorenthalten, sondern auch der verlagsexternen Zensurbehörde, die Ai Qing sonst möglicherweise mit größerer Vorsicht behandelt hätte, sich aber mit Blick auf die chinesische Literatur, wie auch im Falle anderer Literaturen, für die zu wenig fachkompetentes Personal zur Verfügung stand, auf das Verlagslektorat und Zweitgutachten verlassen haben dürfte.79 Wer die Werkauswahl getroffen hat, lässt sich nicht mehr feststellen. Die ‚heiklen‘ Gedichte sind in jedem Fall in den Werkausgaben, die als Quellen aufgeführt werden, enthalten.80 Aber selbst wenn von Seiten der Reichardts schon entsprechend ausselektiert wurde, dürfte Bretschneider mit Sicherheit über die problematischen Gedichte informiert gewesen sein, nicht zuletzt, da sie zum Teil bereits in deutscher Übersetzung vorlagen, natürlich jenseits der Mauer. Genau über diese hatte Ai Qing nämlich gedichtet. 1979 hatte er mit einer Delegation der „Chinesischen Gesellschaft für Freundschaft mit dem Ausland“ Italien, Österreich und die Bundesrepublik besucht und in diesem Kontext auch fünf Deutschlandgedichte verfasst, die der DDR-Band mit keinem Wort erwähnt. In der BRD war eine Übersetzung des brisantesten Textes, 墙 („Mauer“) direkt 1979 publiziert und zudem bei einer Münchner Lesung präsentiert worden.81 Darin heißt es: Auch wenn sie noch so hoch, noch so dick, noch so lang wäre So könnte sie doch nicht höher, dicker und länger sein Als die große chinesische Mauer Ist sie doch auch nur ein historisches Relikt, Wunde eines Volkes, Wer freute sich schon über solch eine Mauer? […] Wie auch könnte sie hemmen Der Millionen Menschen Gedanken freier als der Wind? Willen tiefer als die Erde? Wünsche endloser als die Zeit?82
|| 79 So meint Lokatis, die HV habe sich im Falle weniger bekannter Literaturen durchaus auf die Lektoren verlassen, vgl. Verantwortliche Redaktion, S. 404. 80 Auf der Impressumsseite ist insbesondere der Band 域外记 aufgeführt: „‚You [lies: Yu] wai ji‘ (Gedichte aus der Fremde)“. 81 Vgl. Ma/Ren,Hanji waiyi shi, S. 334. 82 Ai Qing, „Die Mauer“, übers. von Brunhild Staiger, in: China aktuell (1979), August, S. 903. Im Original lautet die Passage: 再高,再后,再长 / 也不能比中国的长城 / 更高,更厚, 更
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Dass man solche Verse, verfasst in der BRD von einem ‚verbrüderten‘ Dichter, ein Jahr, bevor die Mauer dann tatsächlich zum „historische[n] Relikt“ wurde, selbst im deutlich liberaleren Klima der späten 1980er Jahre83 kaum hätte publizieren können, liegt auf der Hand. Das Nachwort von Manfred Reichardt übergeht die BRD-Reise insgesamt, ebenso verfährt Bretschneiders Gutachten, das die biographischen Informationen mit der Rehabilitation 1979 beschließt.84 Das Zweitgutachten von C. Schwarz85 dagegen geht eher in die Offensive und erwähnt zwar die Westeuropareise, legt aber nahe, Ai Qing hätte sich in seinen Gedichten wie in „Die Tauben von Wien“ nur negativ über diese Erfahrungen und über eine verflachte, amerikanisierte Gesellschaft geäußert. 86 Das Gutachten macht sich die Textauswahl zunutze und suggeriert, dass sich in diesen Gedichten Ai Qings allgemeine verächtliche Haltung gegenüber Westeuropa ausdrücke. Andere Gedichte Ai Qings sind aber deutlich positiver, so zwei Gedichte über Trier als „liebenswerte alte Stadt“ und Heimatstadt von Karl Marx. 87 Das „Mauer“-Gedicht verschweigt dieses Gutachten natürlich ebenso. Selbst die Herausgabe der Werkauswahl eines politisch eigentlich unproblematischen Autors wie Ai Qing konnte für einen DDR-Verlag somit Tücken bergen und gewisse Strategien der Anpassung notwendig machen, um den Autor dort publizieren und ihn für die eigene deutsche Seite vereinnahmen zu können. Im Rahmen einer Lyrikanthologie konnte man natürlich unauffällig offensichtlich problematische Texte einfach auslassen. Dass solche Auslassungen stillschweigend erfolgten und auch der HV Verlage und Buchhandlung von vornherein ein etwas einseitigeres Bild des chinesischen Autors präsentiert wurde, die Zensur also auf zwei Ebenen erfolgte, zeigt, wie nicht nur durch Werkauswahl und Paratexte eine Rezeptionslenkung mit Blick auf das DDR-Lesepublikum stattfand, sondern zusätzlich Lektoren und weitere Gutachter in stillschweigender Übereinkunft die Zensur selbst in die Hand nahmen, dabei aber auch die Rezeption der
|| 长 / 它也只是历史的陈迹 / 民族的创伤 / […] / 又怎能阻挡 / 千百万人的 / 比风更自由 的思想? / 比土地更深厚的的意志? / 比时间更漫长的愿望? (Ai Qing xuan ji 2, S. 430f.). Übrigens lag das Gedicht dank der Übersetzungsbemühungen des Beijinger Fremdsprachenverlags in weiteren europäischen Sprachen vor, u.a. auf Spanisch: vgl. Ai Qing, „Muralla“, in; Ders., Poemas Escogidos / 艾青诗选, übers. von Alfredo Gomez. Beijing 1986, S. 364f. 83 Vgl. u.a. Darnton, Censors, S. 203, S. 221–227. 84 Vgl. Manfred Reichardt, „Nachbemerkung“, in: Ai Qing, Waage, S. 97–105 sowie SAPMO BArch, DR 1/2393, S. 51–57. 85 Leider ist der Vorname weder im Gutachten noch in der Liste im Findbuch ausgeschrieben, eine Identifizierung des Gutachers/der Gutachterin ist mir nicht gelungen. 86 Vgl. SAPMO BArch, DR 1/2393, S. 62. 87 Natürlich in der BRD übersetzt, siehe China aktuell (1979), S. 903.
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zuständigen Zensoren der Hauptverwaltung von problematischen Aspekten weglenkten. 88 Wenn Siegried Lokatis feststellt, die Zensur in der DDR sei beileibe nicht einfach von oben nach unten durchgesetzt worden, sondern vielmehr im Austausch und Kräftespiel verschiedener Akteure entstanden, 89 lässt sich dies durchaus auch hier erkennen. Allerdings wurde der problematische „Mauer“-Text nicht unbedingt ersatzlos gestrichen; einer gewissen historischen Ironie – oder mag man den literarischen Grenzgängern hier doch prophetische Absicht unterstellen? – entbehrt es nämlich nicht, dass ein anderes Gedicht in einem äußerst vieldeutigen Kontext die Parole der friedlichen Revolution vorwegzunehmen scheint: In „Gut!“ (好!) bewertet Ai Qing die Beseitigung der Pailous im Pekinger Dongsi-Distrikt in den späten 1950er Jahren als Ausdruck des Fortschritts, als Aufräumen eines historischen Hindernisses für den Verkehr zwischen Ost und West. Und genau dieses Gedicht endet in der deutschen Fassung mit den Worten: „Beseitigen müssen wir alle Hindernisse, / denn wir sind die Mehrheit, wir sind das Volk!“ (Waage, S. 63). Nun sollte man sich gewiss vor historischen Anachronismen hüten. Der Band wurde bereits 1987 genehmigt und gesetzt,90 lange vor den Montagsdemonstrationen, auch wenn die Legitimationskrise der DDR längst offensichtlich war. Allerdings ist auffällig, dass just dieses Gedicht von vornherein eine starke rhetorische Nähe zu Ai Qings Mauergedicht enthält, manche Formulierungen sind gar beinahe wörtlich gleich. In beiden Fällen geht es um ‚alte Relikte‘ (guji 古迹 bzw. synonym im anderen Gedicht chenji 陈迹) die der Autor im Sinne des Fortschritts und des freien Durchgangs als Hindernis ablehnt. Auch hier ist wieder fast wörtlich gleich von zudang 阻挡 und zu’ai 阻碍 („behindern“, „versperren“) die Rede. In beiden Fällen legt der Autor rhetorisch nahe, „niemand könnte so eine Mauer mögen“ (shei ye bu xihuan zhe yang de qiang 谁也不喜欢这样的墙) bzw. „niemand könnte so ein Verkehrshindernis mögen“ (shei ye bu xihuan fang’ai jiaotong de dongxi 谁也不喜欢妨碍交通的东西). Schlussendlich ist auch noch auffällig, dass ausgerechnet der letzte Vers tatsächlich eines der wenigen Beispiele in dieser Sammlung ist, in denen freier übertragen wird und auch Worte ausgelassen werden: Im Original heißt es: 应该让所有阻碍我们的东西滚开, 因为我们是多 数, 是广大的人民, also: „Wir müssen alle uns behindernden Dinge beseitigen, || 88 Siehe dazu auch Brohm, „Günter Kunert“, S. 233 und vgl. oben, Anm. 18. 89 Vgl. Lokatis, Verantwortliche Redaktion, S. 19; vgl. auch die (unter dem Vorbehalt der rückwirkenden Selbststilisierung stehenden) Ausführungen der ehemaligen Mitarbeiterin der HV Verlage und Buchhandel, Christine Horn, „Staatliche Literaturaufsicht, Themenplan und Druckgenehmigungsverfahren. ‚Seinerzeit dachten wir an Schadensbegrenzung‘ – Innensicht einer Sektorleiterin“, in: Lokatis/Rost/Steuer (Hg.), Zensurakte, S. 17–32. 90 Vgl. die Druckgenehmigungsakten: SAPMO BArch, DR 1/2393, S. 47.
260 | Chinesische Lyrik beim DDR-Verlag Volk und Welt
denn wir sind die Mehrheit, sind ein umfangreiches Volk.“ (vgl. Ai Qing xuan ji 2, S. 215–217 respektive S. 430–432, Waage, S. 62f.). Dass Reichardt/Reichardt und/oder Bostroem ausgerechnet im letzten Teilsatz auf das Adjektiv verzichten und sich für den bestimmten Artikel entscheiden, verschiebt die Aussage von der Betonung der Größe und zahlenmäßigen Imposanz hin zur Frage der Repräsentanz und Legitimation. Und so mögen die Übersetzer und Gutachter den Text zwar jeweils explizit als Kommentar zum sozialistischen Aufbau der 1950er Jahre lesen 91 – dem einen oder anderen Leser mag durchaus eher ein anderes ‚Verkehrshindernis‘ in der Hauptstadt zwischen Ost und West in den Sinn gekommen sein. Dass jenes Gedicht in den Gutachten vorsichtshalber ‚korrekt‘ interpretiert wird, dürfte auch kein Zufall, sondern eher Absicherung gegen ‚Unterstellungen‘ gewesen sein. So ist es vielleicht doch nicht zu weit hergeholt, anzunehmen, das Gedicht „Gut!“ sei aufgrund seiner Nähe zu dem ausgelassenen „Mauer“-Text und einiger zufällig assoziationsreicher Formulierungen bewusst für eine Reinterpretation geöffnet worden. In diesem Sinne hätten die Übersetzer, von der Stimmung im eigenen Land ausgehend, nicht ganz ohne Hintergedanken die Formulierung vorweggenommen, die bald darauf dazu beitragen sollte, das von der Geschichte eingeholte ‚Hindernis‘ tatsächlich einzureißen.
|| 91 Vgl. Reichardt, „Nachbemerkung“, S. 104; SAPMO BArch, DR 1/2393, S. 55 und S. 61.
8 Umbrüche, Aufbrüche: Reziproke Übersetzungen, Gegengedichte, deutschchinesische Sprachspiele 8.1 Revolution am Ende oder Anfang? Volker Braun und das ‚erwachende‘ China Mit dem Fall der Mauer, dem Ende der Sowjetunion und dem Tian’an-menMassaker markierte das Jahr 1989 einen mehrfachen historischen Einschnitt, der sich auch auf die hiesige Rezeption der chinesischen Literatur auswirkte. Die deutsche ebenso wie die chinesische staatliche Sozialismus-Vision waren gleichermaßen delegitimiert. Selbst ein Autor wie Volker Braun, der bis zuletzt noch den Traum eines besseren Sozialismus nicht hatte loslassen können,1 konnte angesichts der Bilder vom Vierten Juni nur zynisch vermerken: Aus den Bunkern Unter dem Platz des Himmlischen Friedens Fahren die Panzerwagen In die Menge. Uralte Übung Der uralten Partei.2
Diese lakonischen Bemerkungen beziehen sich nicht nur auf China, sondern deuten Sorgen an, die eigene „uralte[] Partei“ (ein Seitenhieb gegen die Überalterung der politischen Führung, aber auch gegen die festgefahrenen, bekannte Gewaltmethoden repetierenden Kommunistischen Parteien insgesamt) könnte die Demonstrationen dort, vergleichbar auch mit dem Vorgehen der KPdSU im Prager Frühling, gleichermaßen niederschlagen. Ein Vierteljahrhundert nach dieser ernüchtert-verbitterten Bilanz des Verhältnisses der sozialistischen Parteien zum Volk setzte sich der „Unbehauste[]“,3 der mit einer Autorendelegation nach China gereist war, mit der neuen
|| 1 Man denke an das Wende-Gedicht „Das Eigentum“: „Was ich niemals besaß, wird mir entrissen. / Was ich nicht lebte, werd ich ewig missen.“ (Volker Braun, Lustgarten, Preußen. Ausgewählte Gedichte. Frankfurt a.M. 1996, S. 141). 2 So in „Die Tonkrieger 2“ (1989): Volker Braun, Der Stoff zum Leben 1–4: Gedichte. Frankfurt a.M. 2009, S. 103. 3 Volker Braun, Handbibliothek der Unbehausten: Neue Gedichte. Berlin 2016. https://doi.org/10.1515/9783111044088-009
262 | Reziproke Übersetzungen, Gegengedichte, Sprachspiele
politischen und gesellschaftlichen Konstellation dort auseinander.4 In einem Prosagedicht, „Erwachen. Nach Lu Xun“ kehrt er dabei zu einer der berühmtesten Passagen aus dem Werk Lu Xuns zurück, dem Vorwort des Erzählbands Aufruf zum Kampf (1922). Darin löst Lu Xun vor dem Hintergrund der Turbulenzen des Übergangs vom imperialen zum republikanischen China die Spannung zwischen einer hochskeptischen Einschätzung der Chancen auf Veränderung und einer doch vorhandenen, seine Publikationen vorantreibenden fragilen Hoffnung nicht endgültig auf. Auf die Frage, ob er zur Zeitschrift Neue Jugend beitragen möchte, habe er mit folgendem Gleichnis geantwortet: Stelle dir ein fensterloses, vollkommen unzerstörbares Haus vor, in dem viele Menschen in tiefem Schlaf liegen, ohne zu ahnen, daß sie bald ersticken werden. Du aber weißt, daß sie keinen Schmerz fühlen werden, da sie im Schlaf sterben. Wenn du nun laut rufst, um einige von denen zu wecken, die einen leichteren Schlaf haben, und diesen wenigen Unglücklichen bewußt machst, daß sie das Elend eines unwiderruflichen Todes erleiden müssen – glaubst du, du hast ihnen damit einen guten Dienst erwiesen?5
Den Einwand des Freundes, mit der Weckung einiger bestünde immerhin Hoffnung auf Zerstörung des Hauses, lässt er bestehen, die Hoffnung läge immerhin in der Zukunft, auch wenn er vorgibt, nicht daran zu glauben – aber dennoch schreibt.6 Volker Braun greift das Bild der eisernen Kammer in „Erwachen. Nach Lu Xun“ auf, um den Schwebezustand des Volks in der Gesellschaft der neuen Wirtschaftsmacht China zu thematisieren, wiederum mit Blick auf das Scheitern der sozialistischen Staatsentwürfe insbesondere auch der DDR. Nicht zufällig verschränkt der Beginn seines Textes Lu Xun mit deutschen Intertexten. So beginnt das Prosagedicht folgendermaßen: Wie gefährlich ists, an den Schlaf der Welt zu rühren! Das Volk der Mitte lag lange in einer eisernen Zelle und drohte zu ersticken. Als die Unruhe anschlug, wachte es halb auf und
|| 4 Vgl. „Schwieriger Autoren-Dialog in China“, in: Deutsche Welle, 4. September 2013, auf: https://www.dw.com/de/schwieriger-autoren-dialog-in-china/a-17067450 [28.05.2021]. 5 Lu Xun, Aufruf zum Kampf. Beijing 1983, S. 7. Braun zitiert die ersten zwei der oben angeführten Sätze der Übersetzung des Fremdsprachenverlags in seinen Anmerkungen zur Handbibliothek, S. 104. Dass er andererseits im Gedicht selbst beispielsweise den Begriff der „Zelle“ (statt „Haus“) präferiert, spricht dafür, dass er auch die Ausgabe der DDR-Übersetzerin Johanna Herzfeldt kannte (Lu Ssün [Lu Xun], Morgenblüten – abends gepflückt. Eine Auswahl aus seinem Werk, übers. von Johanna Herzfeldt. Berlin 1958, S. 25). 6 Vgl. Lu Xun, Aufruf, S. 7.
Volker Braun und das ‚erwachende‘ China | 263
bewegte die mächtigen Glieder, löste die Füße vom Nacken und zog den Kopf aus dem Hintern. Das war die Aufklärung.7
Der erste Satz greift auf Hebbels Drama Gyges und sein Ring zurück, das Mitte der 1850er Jahre die Krise der absolutistischen Monarchie und der Ausweitung des Kapitalismus reflektiert.8 Das Volk erweist sich darin allen Reformversuchen zum Trotz als lethargisch: […] Doch die müde Welt Ist über diesen Dingen eingeschlafen, Die sie in ihrem letzten Kampf errang. Und hält sie fest. Wer sie ihr nehmen will, Der weckt sie auf. Drum prüf er sich vorher, Ob er auch stark genug ist, sie zu binden, Wenn sie, halb wachgerüttelt, um sich schlägt9
Schlussendlich erhält Gyges von König Kandaules den Rat: „Nur rühre nimmer an den Schlaf der Welt!“10 Johannes R. Becher hatte das Zitat 1929 noch voller Optimismus in seinem 1953 von Hanns Eisler vertonten „Lenin“-Gedicht umgekehrt: Er rührte an den Schlaf der Welt Mit Worten, die Blitze waren. Sie kamen auf Schienen und Flüssen daher Durch alle Länder gefahren11
Lu Xuns Text, der den Widerspruch zwischen abgeklärtem Pessimismus und eigener Publikationstätigkeit gezielt in der Dialogizität herausstellt, steht Braun sicher näher als Bechers optimistische sozialistische Teleologie. Braun kann mit Rückblick auf die Geschichte nicht mehr an die Unzerstörbarkeit der Machtstrukturen glauben, sehr wohl aber an die Müdigkeit des Volks und die mangelnde Führungskraft der sozialistischen Partei. So führt er sein Gedicht fort:
|| 7 Braun, Handbibliothek, S. 23. 8 Vgl. Albrecht Koschorke/Joelb Golb, „Phantasmagorias of Power: Hebbel’s Drama Gyges und sein Ring“, in: Modern Language Notes 120/3 (2005), S. 539–561, hier S. 555. 9 Friedrich Hebbel, Werke, hg. von Gerhard Fricke, Werner Keller und Karl Pörnbacher. München 1964, Bd. 2, S. 67. 10 Ebd., S. 68. 11 Johannes R. Becher, Gesammelte Werke, hg. vom Johannes-R.-Becher Archiv der Akademie der Künste zu Berlin. Berlin 1966–1981, Bd. 3, 1966, S. 147.
264 | Reziproke Übersetzungen, Gegengedichte, Sprachspiele
Ah, es galt einen großen Sprung zu machen, der bei der Masse und dem Raum Jahre dauern mußte, so daß, bis die letzten Millionen landeten, die ersten, nach einem Zug aus der dünnen Pfeife, nur tiefer in Agonie versanken. Da ließ der Rat der Wächter (= die Wachenden), selber ermüdet in der Wachsamkeit, zwei Losungen durchgehen, die sich vollkommen widersprachen. Etwa wie Feuer und Wasser, Macht und Markt. Nun denn, es war kein Rasten mehr, und keine Ruhe, um an Schlaf zu denken, denn alles wurde in dem Kasten hin- und hergeworfen. Der allerdings gar keine Wände aufwies, nur den eisernen Boden und eine graue dunstige Decke. Und daß die Zelle ‚unzerstörbar‘ und ‚fensterlos‘ sei, war eine Legende (und die Agonie unter die Dämonen versetzt). Nur das Erstickungsgefühl war real, es wurde jetzt, durch die ungeheure Schicht aufgewirbelten Drecks, zur Gefahr. Man hörte das gewaltige Rollen und Stampfen, Zehntausende in der Leibmitte auseinandergerissen, der Kopf kauerte noch am Boden, die Beine arbeiteten maschinell in der Luft, in der Unendlichkeit, die dem Gehäuse die Form gab.12
In einer kafkaesken Konstellation13 muss die Bewegung der Erwachenden über ganz China weitergegeben werden. Der „große[] Sprung“ spielt auf Maos Großen Sprung nach vorne an, die „dünne[] Pfeife“ auf das Opium, wörtlich mit Blick auf Opiumkonsum und -kriege in China, übertragen mit Blick auf die marxistisch-leninistische Opium-Metaphorik. Die „Wächter“/„Wachenden“ kann man hier als Parteikader lesen, als diejenigen, die scheinbar aufgewacht sind, andererseits aber auch das Volk bewachen und überwachen. In dem Versuch, kapitalistische Prinzipien mit der Idee der Revolution zu vereinbaren, unterdrücken sie gleichermaßen das Volk und geben es den Ausbeutungsprinzipien des Kapitalismus preis. Entsprechend sind die Köpfe am Boden, während die übrigen Gliedmaßen „maschinell“ arbeiten, nicht mehr gehalten durch ein angeblich festes Gebäude, wie bei Lu Xun. Vielmehr ist es gerade die „Unendlichkeit“, das Fehlen von Orientierungspunkten oder Halt, die dazu führen, dass die Menschen in diesem Zustand verharren. Wenn ein Autor wie Volker Braun intertextuell an die Anfänge der chinesischen Umbrüche im letzten Jahrhundert zurückgeht, und ausgerechnet zu Lu Xun, dem Schriftsteller, der wie kein anderer Widersprüchen und Aporien Ausdruck verleihen konnte, trifft Desillusionierung auf eine letztlich nicht ausgesprochene, durch den Text aber denkbare Hoffnung: Die ‚zerrissenen‘ Chinesen könnten das von ihnen selbst mitgetragene Mischgebäude aus Kapitalismus und Totalitarismus doch zerstören, eine neue Revolution den Gang der Geschichte wiederum verändern. Scharfe Kritik an den Fehlern der sozialistischen Parteien, an Überwachungs- und Kontrollmechanismen geht einher mit einer
|| 12 Braun, Handbibliothek, S. 23. 13 Sie erinnert an Kafkas „Kaiserliche Botschaft“, in der der Bote sich durch den unendlichen Raum kämpfen muss und keine Möglichkeit hat, jemals die Nachricht an ihr Ziel zu bringen.
Postmaoistische Lyrik im internationalen Dialog | 265
kaum weniger vehementen Kritik am Reform- und Öffnungskurs Chinas, der unter dieser Perspektive Parteidiktatur und unkontrollierten Kapitalismus zusammenführt. Ein Seitenblick auf die Chancen eines neu erwachenden Sozialismus in Deutschland ist dabei unausgesprochen mitgedacht. Der Intertext ist es hier also, der das Gedicht noch in der Schwebe hält, es nicht zum endgültigen Abgesang auf die sozialistische Visionen Chinas und Deutschlands werden lässt.
8.2 Postmaoistische Lyrik im internationalen Dialog Den meisten anderen deutschen Autoren, die sich nach 1989 noch mit China auseinandersetzten, steht solch eine Perspektive jedoch fern. Tian’anmen hat als deutlicher Einschnitt in der internationalen Wahrnehmung Chinas weit drastischer nachgewirkt als die (teilweise) Aufarbeitung der Kulturrevolution.14 Eine politische Dimension ist immer noch vielen lyrischen Auseinandersetzungen mit China inhärent – allerdings unter umgekehrten Vorzeichen. Im 20. Jahrhundert waren die lyrischen China-Variationen (sofern sie sich auf die Gegenwart bezogen) zumeist mit einer Affirmation der chinesischen Vision des Sozialismus und des neuen Staatsgebildes einhergegangen, freilich oft nicht, ohne kritische Ausblicke auf die Kippmomente zwischen Utopie und Dystopie zu eröffnen. Inzwischen dominiert hierzulande eindeutig die Rezeption von Autoren, die als kritisch gegenüber der chinesischen Regierung eingestuft werden. In gewisser Weise knüpft man damit wiederum an die Rezeptionslinien der chinesischen Dichtung als Dichtung des Widerstands bei Bai Juyi, Su Dongpo u.a. an. Andererseits sind verschiedene deutsche Gegenwartsdichter darum bemüht, die chinesische Lyrik aus der reinen Festlegung auf politische Fragen und die Kategorisierung als systemintern oder -extern zu lösen und in ihrer Themenvielfalt und ihren ästhetischen Strategien stärker in den Blick zu nehmen. In China hatte sich, zunächst in der inoffiziellen Lyrikszene der spätmaoistischen und frühen postmaoistischen Phase, die Menglong-Dichtung bzw. Obskure Dichtung entwickelt. Diese setzte sich ebenso intensiv mit der chinesischen Moderne des frühen 20. Jahrhunderts wie mit internationaler Lyrik, soweit diese in Übersetzungen zugänglich war,15 auseinander und stand in einem
|| 14 Vgl. Kubin, „Kein Notausgang Peking“, S. 25. 15 Vgl. Bei Dao, „Translation Style: A Quiet Revolution“, in: Wendy Larson/Anne WedellWedellsborg (Hg.), Inside Out: Modernism and Postmodernism in Chinese Literary Culture.
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spannungsvollen Verhältnis zum politischen System. Einige Texte waren, wie dargestellt, in den späten 1980er Jahren in der DDR publiziert worden. In der BRD spannte Wolfgang Kubin in der Anthologie Nachrichten von der Hauptstadt der Sonne 1985 den Bogen von der frühen chinesischen Moderne zu den jüngsten Versuchen, in Anknüpfung an diese Strömungen den lyrischen „MaoSpeak“ hinter sich zu lassen. Die Dichter dieser Generation hatten die Kulturrevolution als Jugendliche erlebt, waren vielfach selbst Rotgardisten gewesen und in der anschließenden Landverschickungskampagne in verschiedene Gebiete Chinas geschickt worden. Ihre Texte wurden bei den 1976er- und 1989erDemonstrationen skandiert. Den Vierten Juni erlebten einige von ihnen wie Bei Dao 北岛 (*1949), Gu Cheng 顾城 (1956–1993) und Duo Duo 多多 (*1951) nicht in China, sondern erfuhren davon während Lesereisen im Ausland. Aufgrund ihrer Kritik konnten sie oft erst Jahre später – und dann als fremde Staatsbürger – überhaupt wieder einreisen. Diese Autoren durchliefen mit Hilfe von Schriftstellerstipendien oft mehrere Stationen, ehe sie sich dauerhaft in einem Land niederließen. Berlin war eine Station unter anderem für Bei Dao, Gu Cheng, und Yang Lian 杨炼 (*1955).16 Es handelt sich insofern um eine Gruppe von Autoren, die nicht nur sprachlich und ästhetisch Affinitäten mit internationalen Strömungen der Moderne verbanden. Aufgrund der historischen Ereignisse und ihrer Biographie entwickelten sie enge Kontakte mit den Literatur- und Übersetzerkreisen in Europa, Amerika, Australien und Neuseeland. Vor allem ab den 1990er Jahren wurden zahlreiche Texte der Menglong-Lyriker ins Deutsche übertragen, gegen Ende des Jahrzehnts auch solche der Nachfolgegeneration, die einerseits durch die Menglong-Dichter zentral geprägt ist. Andererseits versuchen viele Dichter der Post-Menglong-Generation, sich von deren Dominanz im literarischen Diskurs freizuschreiben, lehnen ihre metaphorische Deutungsof-
|| Aarhus 1994, S. 60–64; Nicolai Volland, „Clandestine Cosmopolitanism. Foreign Literature in the People's Republic of China, 1957–1977“, in: The Journal of Asian Studies 76/1 (2017), S. 185– 210. Zur weltliterarischen Einbindung der Untergrundliteratur vgl. insgesamt Lena Henningsen, „Jenseits der Propaganda: Illegales Lesen und Schreiben in China aus intertextueller und interkultureller Perspektive“, in: Nova Acta Leopoldina NF (2017), Nr. 414, S. 123–141. 16 Yang Lian verließ direkt nach dem Tian’an-men-Massaker das Land für eine längst geplante Reise und konnte ebenfalls nicht zurückkehren. Zur Exilsituation der Dichter dieser Generation siehe Maghiel van Crevel, Chinese Poetry in Times of Mind, Mayhem and Money. Amsterdam 2008, 137–186.
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fenheit und Neigung zum Pathos ab und suchen nach einer alltagsnäheren, oft auch derben Sprache.17 Dass schon kurz nach dem Ende der Kulturrevolution zahlreiche Texte der postmaoistischen Dichter nach Deutschland gelangten und die Dichter hierzulande einen hohen Bekanntheitsgrad genießen, verdankt sich insbesondere dem Sinologen Wolfgang Kubin, seit den 1990er und insbesondere 2000er Jahren treten deutlich mehr Vermittler hervor, u.a. auch Hans Peter Hoffmann, der selbst ebenfalls Lyrik verfasst. Das Werk des immer wieder polemische Debatten auslösenden Sinologieprofessors,18 Übersetzers und Dichters Wolfgang Kubin zeugt von der intensiven Verflechtung zwischen sinologischer Forschung, Übersetzungsarbeit und eigenem dichterischem Schaffen. 19 Persönliche Kontakte zur chinesischen Menglong-Dichterszene hatte er erstmals in den frühen 1980er Jahren durch die Vermittlung der amerikanischen Sinologin Bonnie McDougall geknüpft.20 Vor allem mit Bei Dao verbinde ihn eine ästhetische Affinität, so Kubin selbst.21 Aber
|| 17 Entsprechend ist auch von ‚Post-Menglong-Lyrik‘ die Rede (后朦胧诗). Vgl. für einen Überblick Zhang Zao, Auf der Suche nach poetischer Modernität. Die neue Lyrik Chinas nach 1919. Diss. Uni Tübingen 2004, S. 212–248. 18 Kubin hält mit seiner Kritik nicht zurück. Eine von der Lektüre der ‚Body-Writing‘Skandalautorinnen Wei Hui 卫慧 und Mian Mian 棉棉 ausgehende, aber pauschal formulierte Aussage in einem Interview in der Deutschen Welle, die chinesische Gegenwartsprosa sei Müll, löste eine heftige Debatte in China aus (vgl. Sebastian Veg, „Editorial“, in: China Perspectives 2 [2010], S. 2–5, hier S. 3f.). Auch den chinesischen Literaturnobelpreisträger Mo Yan 莫言 kritisierte er wiederholt (vgl. Matthias von Hein, „Kubin: Mo Yan erzählt Räuberpistolen. Interview“, 11. Oktober 2012, auf: https://www.dw.com/de/kubin-mo-yan-erz%C3%A4hltr%C3%A4uberpistolen/a-16298363 [08.01.2021]). Andererseits ist Kubin trotz seiner Kritik an repräsentativen Autoren und der Übersetzungsarbeit für umstrittene, als ‚Dissidenten‘ rezipierte Dichter Träger des chinesischen Staatspreises für besondere Verdienste um die chinesische Buchkultur (vgl. zu diesem Spannungsverhältnis Dieter Kassel, „Überrascht über chinesischen Staatspreis. Sinologe Wolfgang Kubin übersetzt vor allem kritische Autoren. Interview“, in: Deutschlandfunk, 29. Juli 2007, auf: https://www.deutschlandfunkkultur.de/ueberraschtueber-chinesischen-staatspreis.945.de.html?dram:article_id=132593 [08.01.2021]). 19 Kubin wird auch zunehmend in beiden Rollen wahrgenommen, vgl. auch Ulrich Bergmann, „Sinologe und Poet dazu“, in: Matrix: Zeitschrift für Literatur und Kunst 45/3 (2016), S. 127–134. 20 Vgl. Jonathan Stalling, „An Interview with Wolfgang Kubin“, in: Chinese Literature Today 4/2 (2014), S. 68–75, hier S. 71. 21 Vgl. u.a. Wolfgang Kubin, „Von Kapweglern, Käuzen und armen Seelen. Zur vermeintlichen Randexistenz eines Übersetzers“, in: Katrin Buchta/Andreas Guder (Hg.), China. Literatur. Übersetzen. Beiträge eines Symposiums zu Ehren von Ulrich Kautz (FASK Publikationen des Fachbereichs Angewandte Sprach- und Kulturwissenschaft der Johannes GutenbergUniversität Mainz in Germersheim Reihe A, 45). Frankfurt a.M. u.a. 2006, S. 15–22, hier S. 18;
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auch mit vielen der anderen von ihm übersetzten Autoren steht er in persönlichem Austausch und arbeitet sowohl die Lektüre als auch die Eindrücke dieser Persönlichkeiten in seine eigenen Gedichte ein. So im Gedicht „Bei Dao“: I In dünnem Kleid vor dünnem Bier ließ der Dichter die dünnen Nudeln halb vor Ort. Zwischen Flugzeug und Bahn war er ohne Antwort, ohne Frage. Vielleicht ist eine Nudelsuppe überall sein einziger Begleiter. II Der Dichter zwischen Barkely [lies: Barkley, S.L.] und Humboldt wohnt imperial. Vorne Allerweltsrosen, hinten ein Swimming-pool. Nur am Morgen zeigt er seine wahre Natur. Die Reisschleimsuppe sei wie das Vaterland: ein Brand an den Lippen, eine Wohltat für den Magen. […] Er kennt hier keine Berge bei Namen. Nur das Bier sei vorstellig geworden. Es erlaube den Blick übers flache Land bis zu den Westbergen in Peking.22
Das Gedicht spiegelt die Erfahrung des Exils und Heimatverlusts gerade im Alltäglichsten, im Essen und Trinken, schwankend zwischen humorvoller Ironie und Ernst. Der Rückgriff auf das Essen als Vergleichsmoment hebt so hervor,
|| ders., „Vom Wunsch, aus einem chinesischen ein deutsches Gedicht zu machen. Der Fall Bei Dao“, in: Die Horen 50/2 (2005), S. 253–257, hier S. 254. 22 Wolfgang Kubin, Das neue Lied von der alten Verzweiflung. Gedichte. Bonn 2000, S. 86.
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wie Physisches, Psychisches und Weltanschauliches ineinandergreifen.23 Den „Brand auf den Lippen“, den die Gewürze der Suppe auslösen, kann man wohl lesen als den Drang zur sprachlichen Artikulation, gleichzeitig auch als Andeutung von dessen gewaltsamer Unterdrückung. Der Raum des Gedichts ist zugleich real und textdurchsetzt: „imperial“, „Barkely“ und „Humboldt“ spielen auf die Straßennamen um Bei Daos damaliges Haus in Davis, Kalifornien an.24 Zugleich situieren sie den Dichter zwischen den verschiedenen Ländern und Sphären: „[I]mperial“ mag man hier als Verweis auf das Luxuriöse lesen oder, als wörtlicher übersetzt, auf das Kaiserliche, die Einflusssphäre der politischen Macht. Humboldt als Weltreisender wiederum fungiert als Kontrastfigur des heimatlosen Dichters, der in der Schwebe zwischen verschiedenen Stationen „ohne Antwort, ohne Frage“ sei. Genau damit spielt Kubin an auf das berühmteste, von ihm ins Deutsche übertragene Gedicht Bei Daos, „Die Antwort“ (1976). Provokativ und mit einem gewissen Propheten-Gestus widersetzt sich das Sprecher-Ich darin den Worthülsen und der Gewalt der Mao-Zeit: Infam lautet das Paßwort der Infamen. Würde ist das Epitaph der Ehrwürdigen. Schau, am vergoldeten Himmel Treiben überall die gebogenen Schatten der Toten. Die Eiszeit längst vorbei, Warum herrscht überall noch das Eis? Das Kap der guten Hoffnung ist entdeckt, Warum messen sich im Toten Meer tausend Segel? In diese Welt Habe ich nur Papier, einen Strick und meinen Schatten mitgebracht, Um vor den Richtern Die Stimmen der Verurteilten zu verkünden: Ich sage dir, Welt, Ich – glaube – nicht! […] Ich glaube nicht an die Bläue des Himmels; Ich glaube nicht an die Stimme des Donners;
|| 23 Nicht ohne eine Prise Humor bemerkt Kubin in seinen Überlegungen zum Übersetzen: „In China dagegen bilden Essen und Weltanschauung eine Einheit.“ (ders., Schatten, S. 24). 24 Siehe die Erläuterungen in: Ebd., S. 108.
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Ich glaube nicht an die Falschheit von Träumen; Ich glaube nicht an die Sühnelosigkeit des Todes […]25
Der Gestus der Negierung bricht dezidiert mit der Parolenhaftigkeit der offiziellen Lyrik der Kulturrevolution. Das sprach- und bildmächtige Pathos mag Berührungspunkte zu Propagandastrategien aufweisen, kehrt sie in der Infragestellung aber ins Gegenteil. Die Metaphern wiederum speisen sich nicht aus dem Arsenal kommunistischer Lyrik, sondern legen verschiedene Assoziationen frei, die teilweise vom Sprachspiel ausgehen,26 von der Hinterfragung der Begriffe in ihrer Wörtlichkeit, wie das „Kap der guten Hoffnung“ (der Ortsname ist im Chinesischen wörtlich aus denselben Bestandteilen zusammengesetzt und entsprechend vieldeutig: 好望角). Gewalt und ‚falsche‘ Sprache sind damit untrennbar miteinander verbunden. Das „Ich“ wird exponiert wieder in die Lyrik eingeführt, nicht als schematische Schablone, sondern als Figur, die zwar als Repräsentant fungiert, aber eben nicht mehr eines offiziellen, vorgegebenen Diskurses.27 Vielmehr geht es aus von den eigenen Zweifeln, setzt sich in seiner subjektiven Wahrnehmung selbst ein als urteilende Instanz, der das Hinterfragen der geschichtlichen Entwicklung zukommt: Das Ende der „Eiszeit“ der Kulturrevolution wird als Schein entlarvt, die Toten als ungesühnt. Dass das Gedicht zunächst in der von Bei Dao mitbegründeten inoffiziellen Lyrikzeitschrift Heute (Jintian 今天), 1979 aber auch in der offiziellen Lyrikzeitschrift Lyrik (Shikan) erschien,28 Bei Dao zum bekanntesten Dichter seiner Generation avancierte, auch wenn er während der Kampagne gegen geistige Verschmutzung Mitte der 1980er Jahre heftig angegriffen wurde, zeigt die Widersprüche der Zeit. Kubins Übersetzung bewahrt die Repetitionsmuster und die Bildstruktur des Originals, arbeitet das Pathos durch ein gehobenes Register und die teilweise an biblisch-prophetische Sprechmuster angelehnten Wendungen stärker heraus. Bei Dao setzt einzelne mündliche Elemente, so in der Herausforderung der Welt – im Deutschen „Ich sage dir, Welt“ –, die in einer Ellipse das Ich im || 25 Nachrichten von der Hauptstadt der Sonne. Moderne chinesische Lyrik 1919–1984, hg. und übers. von Wolfgang Kubin. Frankfurt a.M. 1985, S. 184. 26 Zur Metaphernsprache Bei Daos und der Infragestellung der absurden Realität durch sie vgl. Bonnie S. McDougall, „Bei Dao’s Poetry: Revelation“, in: Modern Chinese Literature 1 (1985), S. 225–249. 27 Vgl. Chen Xiaomei, Occidentalism: A Theory of Counter-Discourse in Post-Mao China. New York u.a. 1995, S. 74–87; Kubin, „Das geliehene Ich“, S. 18f. 28 Die Zeitschrift wurde schon erwähnt: Unter anderem Maos Gedichte wurden in ihr veröffentlicht, vgl. Kapitel 4. Vgl. zu den Publikationen der Menglong-Dichter in offiziellen und inoffiziellen Zeitschriften Zhang, Modernität, S. 178.
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Original entfallen lässt und mit der mündlichen Aufforderungspartikel ba 吧 endet.29 Auch die Tendenz zu Substantivierungen – „Bläue des Himmels“ anstelle einer Nebensatzkonstruktion wie im Original 天是蓝的 („der Himmel ist blau“/“dass der Himmel blau ist“) –30 befördert diese Tendenz. In jedem Fall erreichen mit Autoren wie Bei Dao wieder äußerst kritische Stimmen den deutschsprachigen Raum, die hochreflektiert neue Ausdrucksmöglichkeiten, Metaphernkonstellationen und variable rhythmische Muster suchen, um Brüche, Gewalterfahrungen, Einsamkeit und Sinnkrisen abzubilden. Damit bringen die chinesischen Dichter eigene Ansätze zur Weiterentwicklung der Moderne und Postmoderne ein. In den letzten Jahren reagiert die deutsche Dichtung verstärkt auf diese Impulse. Diese jüngsten Dialoge kreisen einerseits oft um die Frage nach dem Verhältnis zwischen staatlicher Gewalt und Dichtung in der Geschichte beider Staaten, suchen aber andererseits das ästhetische Potenzial des Chinesischen auch jenseits des Politischen neu zu entdecken.
8.3 Lyrik als Widerstand, „Selbstbehauptung“31 und kulturelle Erinnerung Der Begriff des ‚Dissidenten‘ wird gerne bemüht, entspricht jedoch selten dem Selbstverständnis der Dichter und den oft nicht auf dichotomische Kategorien reduzierbaren Positionierungen.32 Das Interesse für systemkritische Stimmen führt auch dazu, dass zum Beispiel der Exildichter Liao Yiwu 廖亦武 in China selbst kaum bekannt ist, hier aber als repräsentative Stimme eines ‚anderen‘ Chinas im literarischen Diskurs perzipiert wird, also nur über Übersetzungen einen Publikationsraum gewinnt und insofern fast ausschließlich am deutschsprachigen Literaturraum partizipiert bzw. innerhalb der Exilgemeinde ein Publikum hat.33 So hat Hans Peter Hoffmann beispielsweise 2012 Liao Yiwus Tian’anmen-Gedicht „Massaker“ (Tusha 屠杀) ins Deutsche übertragen:
|| 29 告诉你吧,世界 (Bei Dao 北岛 [Zhao Zhenkai 赵振开], Bei Dao shi xuan 北岛诗选 [Ausgewählte Gedichte von Bei Dao]. Hongkong 1986, S. 25). 30 Ebd. 31 So Herta Müllers Charakterisierung der Gedichte, siehe die Aufnahme der „Writers for Freedom“-Veranstaltung vom 8. März 2016 auf der Website des ZKM Karlsruhe: https://zkm.de/de/globale/veranstaltungen/writers-for-freedom (1:17:04) [22.12.2020]. 32 Vgl. van Crevel, Chinese Poetry, S. 137–146; McDougall, „Bei Dao’s Poetry“, S. 247f. 33 Viele (auch kritische) in China schreibende Schriftsteller empfinden die ‚repräsentative‘ Funktion der Exilschriftsteller als anmaßend, vgl. ebd., S. 144.
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[…] Erwürgt die Freiheit und stillt eure Sucht! Die Macht wird siegen, sie ist ewig. Sie wird vererbt, von Generation zu Generation, sie ist ewig. Sie wird vererbt, von Generation zu Generation, sie ist ewig. Die Freiheit wird aus der Asche erstehn, von Generation zu Generation aus der Asche. Wie das leichte Schimmern, bevor der Tag kommt. Nein. Kein Licht. Im Utopien-ZK gibt es kein Licht. Unsere Herzen sind schwarz. Schwarz und voll Glut. Wie Krematoriumsöfen. Hier brennen die Träume der Toten […].34
Die Anklage, die im Wechsel die explizit als „Mörder“ bezeichneten Verantwortlichen anspricht und in einer pausenlosen Reihung knapper Eindrücke und Gedankenfetzen Zerstörungswut, Blutgelüste und Brutalität als unüberwindbare Basis der „Zentrale der Utopie“35 darstellt, ist in der Volksrepublik bis heute nicht publizierbar, eine chinesische Ausgabe erschien 2000 in Hongkong, ist dort aber nicht mehr lieferbar.36 Der deutschsprachige Raum fungiert also einerseits als Alternativforum für Stimmen, die in der Ursprungssprache nicht oder schwer publiziert werden können, hier aber auf ein erhöhtes Interesse stoßen.37 Nicht zuletzt entfaltet der Begriff „Krematoriumsöfen“ (焚尸炉) im Deutschen sofort assoziative Verbindungen zur NS-Vergangenheit. Solche Verbindungen legt auch Herta Müller offen, wenn sie eine Dichterin übersetzt, die mit Liao Yiwu eng befreundet ist und deren Schaffen ebenso die Auseinandersetzung mit staatlicher Gewalt und Repression eingeschrieben ist: Liu Xia 刘霞. Hochpolitisch, aber durchaus auch ästhetisch motiviert waren Müllers Versuche, die Stimme der chinesischen Künstlerin und Dichterin, die durch die Aktivitäten ihres Mannes Liu Xiaobo 刘晓波 massiv unter Druck stand und bis heute steht, in die internationale Öffentlichkeit zu tragen. Von seiner Ernennung zum Friedensnobelpreisträger 2010 bis zu ihrer Ausreise 2018, einige Monate nach seinem Tod, stand sie unter Hausarrest und ständiger Bewachung. Internationale Aufmerksamkeit als Künstlerin erhielt sie vor allem ab 2010, als Teile ihrer unter den Titel „The Silent Strength of Liu Xia“ gestellten
|| 34 Liao Yiwu, Für ein Lied und hundert Lieder. Ein Zeugenbericht aus chinesischen Gefängnissen, übers. von Hans Peter Hoffmann. Frankfurt a.M. 2011, S. 44. Vgl. Liao Yiwu 廖亦武, Zhengci 证词 (Zeugnis). Carle Place 2014, S. 41–47, hier S. 43: […] 掐死自由好过瘾啊!权力永远会胜 利。永远会一代又一代传下去。自由也会死灰复燃。一代又一代死灰复燃。像黎明到来之前那 一丁点光亮。不。没有光亮。在乌托邦的中央永远没有光亮。我们的心一团漆黑。又黑又烫, 像一座焚尸炉。一点点烧毁死者的幻象。[…] [im Original aufgrund der Publikation in Hongkong in Langschriftzeichen]. 35 Ebd. 36 Vgl. die Anmerkungen Hoffmanns auf dem Schmutztitel der deutschen Ausgabe. Die in Anm. 34 zitierte chinesische Ausgabe ist inzwischen laut Hoffmann auch in Hongkong nicht mehr erhältlich. 37 Zur Übersetzung als Korrektiv zu zensierten Texten vgl. auch Kubin, Schatten, S. 45–47.
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Puppen-Fotografien aus China ins Ausland geschmuggelt wurden und in verschiedenen Ländern, unter anderem auch 2015 im Martin-Gropius-Bau in Berlin, gezeigt wurden. Die Schwarz-Weiß-Installationen der „ugly babies“,38 verformbarer, von ihr oft deformierter Gummipuppen erstellen ein düsteres Porträt der chinesischen Gegenwart und ihrer eigenen Lebensgeschichte, thematisieren Leid, Freiheitsberaubung, unterdrückte Meinungsäußerung und erinnern an die Toten der Tian’an-men-Demonstrationen 1989. Darüber hinaus wurden Übersetzungen ihrer Gedichte ins Englische und Deutsche und Vorträge oder Aufführungen durch bekannte Schriftstellerpersönlichkeiten und Aktivisten, unter ihnen Robert Pinsky und J. M. Coetzee, zunächst vor allem vom PEN in Kooperation mit Amnesty International in die Wege geleitet.39 Ziel war es, die Autorin im Ausland bekannter zu machen und damit Druck auf die chinesischen Behörden auszuüben, 40 wohl aber auch (oder vor allem?) auf die westlichen Regierungen, um diese zu motivieren, sich über diplomatische Kanäle für die Aufhebung des Hausarrests und der Dauerüberwachung und die Ermöglichung ihrer Ausreise einzusetzen. Herta Müller war schon 2015 an einer englischen Auswahlausgabe als Vorwortschreiberin beteiligt.41 2016 trat sie dann bei der vom PEN organisierten Reihe „Writers for Freedom“ am Zentrum für Kunst und Medien in Karlsruhe als ‚Lesepatin‘ für Liu Xia auf. Müller steht in engem Kontakt mit Liao Yiwu, der seinerseits durch die Veröffentlichung von Telefongesprächsmitschnitten mit der verzweifelten Künstlerin die mediale Aufmerksamkeit auf ihre Situation lenkte. Zudem hatte er über ein Netzwerk von Schriftstellern längst versucht, auf Liu Xias Ausreise hinzuwirken, nicht zuletzt durch einen Appell an Angela Merkel über Wolf Biermann.42 Wie das Zusammenspiel der Akteure bei den Verhandlungen um || 38 So Liu Xia, siehe Sarah Hoffmann, „The Silent Strength of Liu Xia“, Website des PEN America, 14. Februar 2012, auf: https://pen.org/the-silent-strength-of-liu-xia/ [22.12.2020]. 39 Vgl. die Videos der Kampagne # Free Liu Xia: She is Still Not Free: „Writers Read Liu Xia’s Poetry and Call for Her Freedom“, 16. Mai 2018, https://pen.org/she-is-still-not-free-writersread-liu-xia-poetry-call-for-her-freedom/ [23.12.2020]. 40 Vgl. zur Rolle der Schaffung von Öffentlichkeit zum Schutz der Dichter u.a. die Äußerungen Sascha Feucherts, des Beauftragten für Writers-in-Prison des deutschen PEN, bei der „Writersfor-Freedom“-Veranstaltung: https://zkm.de/de/event/2016/03/globale-writers-for-freedom [23.12.2020] (0:39:55–0:40:59). 41 Herta Müller, „Foreword: A Mix of Silk and Iron“, übers. von Philip Boehm, in: Liu Xia 刘 霞, Empty Chairs 空椅子, übers. von Ming Di und Jennifer Stern. Minneapolis 2015, S. ixf. 42 Vgl. Liao Yiwu, „Liu Xia Cries Out for Help in a Phone Call with Liao Yiwu“, in: China Change, 2. Mai 2018, https://chinachange.org/2018/05/02/china-change-exclusive-liu-xiacries-out-for-help-in-a-phone-call-with-liao-yiwu-on-april-8–2018/ [23.12.2020]; ders., „‘Love Is a Serious Crime, a Life Sentence’ – Liu Xia Audio on May 25, 2018. A Continued Call on Behalf
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Liu Xia letztlich genau verlief, lässt sich schwer sagen. Von offizieller Seite vermied man es, konkrete Einblicke in die Verhandlungen und Motivationen der Regierungsvertreter zu gewähren. Während aber erste Verhandlungsversuche im Frühjahr 2018 zunächst noch nicht zur Ausreise führten, obwohl mindestens Gesprächsbereitschaft signalisiert worden war,43 durfte die inzwischen physisch wie psychisch schwer angeschlagene Dichterin im Juli 2018 China verlassen. Seitdem lebt sie in Berlin. Inwieweit die Übersetzungen und Performanzaktionen und die damit einhergehende erhöhte internationale Aufmerksamkeit auf die Dichterin den Druck auf die chinesische Regierung tatsächlich erhöht haben, ist schwer zu sagen. Wichtig dürften sie im deutschen Kontext gewesen sein, um die hiesigen politischen Vertreter zu veranlassen, Spielräume, die im Zuge umfassenderer Wirtschaftsverhandlungen zwischen Angela Merkel und Li Keqiang 李克强 entstanden, für die Schriftstellerin zu nutzen.44 Dabei hat Herta Müller für die „Writers-for-Freedom“-Veranstaltung nicht einfach die englischen Fassungen weiterübertragen, sondern in Auseinandersetzung mit diesen und in Zusammenarbeit mit der Dolmetscherin und Übersetzerin Yeemei Guo eigene Versionen erarbeitet. Die deutschen Fassungen offenbaren dabei eindrucksvoll, wie über einzelne Texte hinaus ein transkultureller Resonanzraum aufgebaut wird, in dem Literatur als Umgang mit ‚Beschädigung‘45 durch staatliche Oppression und Gewalt kultur- und zeitenübergreifend zum autobiographischen Zeugnis, zum Medium des Widerstands und des kulturellen (Gegen-)Gedächtnisses wird. An deutlichsten dürfte dies in einem titellosen Gedicht werden, das Liu Xia zwanzig Jahre nach der Niederschlagung der Tian’an-men-Demonstrationen für ihren inhaftierten Mann verfasst hat: || of Liu Xia“, in: China Change, 1. Juni 2018, https://chinachange.org/2018/06/01/loving-liuxiaobo-is-a-serious-crime-a-life-sentence-liu-xia-audio-on-may-25–2018/ [23.12.2020]. 43 Vgl. ebd. 44 Als Art symbolisches „Geschenk“ charakterisiert entsprechend Tienchi Martin-Liao, Sinologin und Vorsitzende des unabhängigen chinesischen PEN-Zentrums, die ebenfalls intensiv in die Bemühungen um Asyl für Liu Xia involviert war, die Ausreisegenehmigung, siehe das Interview mit Britta Bürger im Deutschlandfunk vom Juli 2018: „‚Sie ist sehr sensibel, es wird nicht einfach‘“ https://www.deutschlandfunkkultur.de/liu-xia-in-deutschland-eingetroffensie-ist-sehr-sensibel.1013.de.html?dram:article_id=422594 [23.12.2020]. Vgl. die Einschätzung des Vizepräsidenten des deutschen PEN, Ralf Nestmeyer, „Deutschland war immer ein Ziel. Ralf Nestmeyer im Gespräch mit Britta Fecke“, https://www.deutschlandfunk.de/nestmeyerpen-ueber-liu-xia-deutschland-war-immer-ein-ziel.691.de.html?dram:article_id=422540, in: Deutschlandfunk, 21. August 2018 [23.12.2020]. 45 Auf den Begriff der ‚Beschädigung‘ kommt Herta Müller immer wieder zurück, vgl. z.B. dies., Immer derselbe Schnee und immer derselbe Onkel. München 2011, S. 36.
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你说话你说话你说实话 你白天说夜晚说只要醒着就说 你说呀说 你在封闭的房间里你的声音冲到外面扩散 二十年前的那场死亡重又回来 来了又去如同时间 你缺少了很多东西但亡灵们与你同在 你没有了日常生活加入亡灵们的呼喊 没有回答没有 你说话你说话你说实话 你白天说夜晚说只要醒着就说 你说呀说 你在封闭的房间里你的声音冲到外面扩散 二十年前的那个伤口还在流血 鲜红鲜红如同生命 你喜欢很多东西但更爱与亡灵们为伴 你对他们承诺与他们一起寻找真相 路上没有灯光没有 […]46
Du sagst und sagst die Wahrheit sagst sie am Tag sagst sie in der Nacht sagst sie solange du wach bist Du sagst und sagst Du bist eingesperrt von dort kommt deine dringliche Stimme Aus zwanzig Jahren kommt der Tod zurück er kommt und geht wie die Zeit du hast vieles verloren aber die Gespenster der Toten bleiben bei dir Du hast deinen Alltag aufgegeben um bei ihren Schreien und Tränen zu sein aber es kommt keine Antwort keine
Du sagst und sagst die Wahrheit sagst sie am Tag sagst sie in der Nacht sagst sie solange du wach bist Du sagst und sagst Du bist eingesperrt von dort kommt deine dringliche Stimme Aus zwanzig Jahren blutet die Wunde ist frisch rot frisches Rot wie das Leben Du magst allerhand aber am liebsten die Gespenster der Toten Du versprichst mit ihnen die Wahrheit zu suchen Aber beim Suchen gibt es kein Licht keines […]47
Der Assoziation zu Paul Celans „Todesfuge“ kann sich ein deutschsprachiger Leser wohl kaum entziehen. Die obsessive Repetition ist augenfällig: Das Gedicht setzt Wortwiederholungen innerhalb der Verse, wiederholt die ersten vier Verse refrainartig am Anfang jeder Strophe und variiert den Rest der Strophen nur geringfügig, lässt sie gewissermaßen um sich selbst kreisen, um immer wieder zum Ausgangspunkt zurückzukehren, wie die Erinnerung, die an den Tag des Massakers zurückkommt, und wie das Sprechen, das davon ausgeht
|| 46 Ich zitiere nach der zweisprachigen englisch-chinesischen Ausgabe (im Original mit komplexen Schriftzeichen): Liu Xia, Empty Chairs, S. 96f. 47 Nach dem Vortrag der Writers-for-Freedom-Serie (1:10:22–1:12:33). In Anlehnung an das Chinesische habe ich auf Satzzeichen verzichtet, aber da mir kein Manuskript zur Verfügung stand und die Übersetzungen Müllers meines Wissens nicht publiziert sind, mag es in Müllers Manuskript natürlich Abweichungen in Orthografie, Zeichensetzung und Versumbruch geben.
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und in einer Kreisbewegung dahin zurückführt. Die Licht- und Farbmetaphorik kontrastieren hier wie im oben zitierten Ausschnitt von Liao Yiwu mit der Sonnenmetaphorik Maos und der Partei, Rot als ambige Farbe der Verwundung, aber auch des Lebens, wiederum mit Rot als simplem Hoffnungsbild im offiziellen Diskurs. Die ausgeprägte Rhythmik der in unterschiedlichen Längen gehaltenen Verse entfaltet eine besondere Eindringlichkeit: Teilweise werden ohne Pause verschiedene Satzeinheiten gereiht, verweigert sich der Vers jedem Innehalten oder Atemholen. Dann wieder sind einzelne Verse äußerst kurz, deuten in dieser Verknappung wie in Vers 3 aber ein Schweigen an. Hinzu kommt die explizite Verschränkung von Lebenden und Toten, die Suche nach dem sprachlichen Ausdruck der Wahrheit. All das erinnert an Celan; einzelne Formulierungen, die Parallelen in Celans Gedicht zu haben scheinen – „sagst sie am Tag, sagst sie in der Nacht“ als Pendant zu „wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts“, „Du sagst und sagst“ als Gegenstück zu „wir trinken und trinken“ –,48 rücken die beiden Texte schlussendlich in eine bedrückende Nähe zueinander. Herta Müller betont, diese nicht selbst generiert zu haben – es handle sich um eine „irrwitzig tragisch[e]“ „Koinzidenz“, die ihren Ausgangspunkt habe in der „gleiche[n] Existenz“; die Nähe habe „sich so verlangt“.49 Tatsächlich hält sich Herta Müller weitgehend wörtlich an das Original, lässt die Nähe beider Texte zueinander in ihren Übersetzungsentscheidungen sicher bewusst zu und stellt sie etwas stärker heraus, stülpt sie dem Text aber
|| 48 Paul Celan, Werke. Historisch-kritische Ausgabe, hg. von Beda Allemann u.a. Frankfurt a.M. 1990–2017, Abt. 1, Bd. 2/3, 2003, S. 101f. 49 Vgl. die Ausführungen Müllers bei „Writers for Freedom“ (1:12:43–1:13:56). Auch in anderen Gedichten meint man gelegentlich gezielt eingebaute intertextuelle Bezüge zu sehen, die aber durch das Original durchaus gedeckt sind, so in dem Gedicht „Chaos“, in dem die Sprecherin sich einerseits explizit in die Nähe von Marguerite Duras rückt – sie habe die Sprecherin „gewählt“, andererseits lässt der Vers „hinterlass bitte keine Spuren“ (vgl. Writers for Freedom, 1:08:21 – 1:09:38) sicherlich Brechts „verwisch die Spuren“ (aus dem ersten Gedicht des Lesebuchs für Städtebewohner, GBA 11, S. 42) oder, noch wörtlicher, Eichs „Nur keine Spuren hinterlassen“ (aus dem späten Gedicht „Nördlicher Seufzer“, vgl. GW 1, S. 181) anklingen. In Liu Xias Gedicht findet sich der Satz aber durchaus so: 请不要留下痕迹 qing bu yao liuxia henji, wobei die chinesische Zeichenkomposition 痕迹 henji, „Spur“, durch das erste Zeichen, das u.a. „Narbe“ heißt, vielleicht etwas stärker in Richtung „Verletzung“ assoziiert werden kann. Der Begriff „hinterlassen“, 留下 liuxia, ist bis auf die Töne homophon mit dem Namen der Autorin. Es lässt sich kaum behaupten, Müller habe die intertextuelle Dimension in diesem Vers gezielt konstruiert, sie drängt sich aber im Deutschen auf und mag eine Rolle bei der Auswahl gespielt haben. Auch hier wird also jenseits intendierter Intertextualität eine Affinität der Texte offengelegt, ein Misstrauen bzw. eine nicht spezifizierte, sich in die Dinge einschreibende Angst.
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nicht über. Der chinesische Text wirkt rhythmisch schneller, verzichtet weitgehend auf Konjunktionen und vollständig auf Satzzeichen, arbeitet mit asyndetischen hypotaktischen Reihungen, während Müllers Text immer wieder innehält: Der erste Vers im Chinesischen wiederholt dreimal jeweils Subjekt und Verb, wobei erst beim dritten Mal aus dem „sprechen“, shuo hua 说话, wörtl. ‚Rede sagen‘ durch die Hinzufügung des Adjektivs „wahr“ „die Wahrheit sagen“, shuo shihua 说实话 wird (in Einzelkomponenten „wahre Rede sagen“, im Chinesischen alliterierend). So wird das Objekt der Rede markiert bzw. aus dem Akt des Sprechens ein Verkünden; die Wahrheit muss gewissermaßen erst erkämpft werden, arbeitet sich aus dem Redefluss heraus. Die folgenden Verse stufen das Verb wieder auf seine kürzeste, einsilbige Variante zurück, dessen Objekt sich wieder zu entziehen scheint: 说 shuo (das alleine ebenfalls schon „sprechen“ bedeutet). Der Akt des Sprechens an sich ist also noch nicht ausdrucksvoll, um das Gelingen der Kommunikation wird gerungen. Müller arbeitet im ersten Vers zwar mit einer Repetition, wiederholt aber nur einmal das Verb, das Subjekt nicht, und verbindet die beiden Verben mit der Konjunktion „und“. Erhält man bei Liu Xia den Eindruck, dass es zunächst um ein stockendes Sprechen geht, scheint dies in Müllers Fassung weniger der Fall zu sein, hier steht das Insistieren im Vordergrund. Auch im nächsten Vers ergänzt sie jeweils noch das Objekt. Erst im dritten Vers entfällt es, dann aber auffällig durch die grammatikalisch unvollständige Form „Du sagst und sagst“, die im Fehlen des Komplements auf das gewaltsam Abgeschnittene verweist. Durch die „und“-Verbindungen anstelle des Asyndetons im chinesischen ersten Vers und der Interjektion ya 呀 im dritten Vers ist Müllers Fassung etwas langsamer und verschiebt den Schwerpunkt von der Darstellung der Überwältigung zur Eindringlichkeit – Müller erlaubt sich auch die Einfügung des Adjektivs „dringliche“ im vierten Vers. Die dadurch entstehende Rhythmik geht durchaus stärker in Richtung der „Todesfuge“ mit ihrem Wechselspiel aus asyndetischen und polysyndetischen Verkettungen. Jenseits expliziter intertextueller Verweise in anderen Gedichten Liu Xias, in denen sie selbst auf Autoren der Weltliteratur und deren Biographien Bezug nimmt,50 ermöglicht Herta Müller als Übersetzerin einen intertextuellen Resonanzraum zwischen Texten, die zunächst in keiner direkten Beziehung zueinander stehen, aber vor dem Horizont traumatisierender Erfahrung staatlicher Gewalt zu teilweise ähnlichen ästhetischen Verarbeitungsmitteln greifen, die
|| 50 Das Marguerite Duras gewidmete Gedicht wurde schon erwähnt (vgl. Anm. 46), ein anderes trägt zum Beispiel den Titel „Kafka“/卡夫卡 (Liu Xia, Empty Chairs, S. 43f.), wurde aber von Müller nicht übertragen.
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die Übersetzerin noch etwas näher aneinander rückt. Übersetzen ist für die Schriftstellerin dann weniger ein aktiver Vorgang der Vermittlung als ein Begreifen, „dass man zusammengehört“.51 Das fügt sich durchaus zu Müllers eigener Poetik; immer wieder stellt die Autorin insbesondere mit Blick auf ihre Collagenarbeiten eine gewisse Eigendynamik des Materials, ein Zusammenpassen von Worten, heraus, das den Autor als aktiv schaffende Instanz relativiert.52 Müller stellt nicht nur Celans Lyrik den Gedichten Liu Xias gegenüber, sondern bringt auch ihre eigene Collagendichtung in diesen Dialograum ein: So präsentierte sie bei der Lesung eigene unveröffentlichte Texte, die zunächst nicht für diesen Anlass oder in Auseinandersetzung mit Liu Xia entstanden sind. Durch die Lesung für Liu Xia setzt sie sie aber ins Gespräch mit der Dichtung der Chinesin und schafft neue assoziative Verbindungen:53
MEINE Heimat ist ein Kleinstaat ZIMMER Küche BAD direkt unter der Hauptstadt IST eine Teekanne versteckt
Abb. 2: Herta Müller, Collage, gezeigt bei „Writers for Freedom“ 2016
Wie bei vielen Collagen Müllers entwickeln Humor und Sprach- und Konstellationsexperimente hier zugleich witzige und grausame Dimensionen.54 Was sich zunächst lustig ausnimmt, wirkt ganz anders, liest man es gegen den Hinter|| 51 Herta Müller im Gespräch bei „Writers for Freedom“ (1:13:35–1:13:37). 52 Vgl. bspw. ebd., 1:36:40–1:37:20. 53 Die folgende Collage wurde bei der Veranstaltung eingeblendet, der Text von Müller vorgelesen, vgl. ebd., 1:27:54–1:28:15. 54 Vgl. weiter Julia Müller, Sprachtakt. Herta Müllers literarischer Darstellungsstil (Literatur und Leben 85). Köln u.a. 2014, S. 217; Ute Weidehiller, „Angstbesetzt ist das Leben, Überleben ist die Kunst. Zum Begriff der Heiterkeit in Herta Müllers Collagen“, in: Béatrice Poulain (Hg.), Heiterkeit – L’allégresse au cœur de l’écriture poétique et philosophique. Villeneuve d'Ascq 2018, S. 163–178.
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grund von Liu Xias Hausarrest, in der der Erfahrungsraum auf die eigene Wohnung zurückgedrängt wird. Entsprechend wird der unter Kitschverdacht stehende, wohl auch nicht zufällig farblich blass gewählte Begriff der „Heimat“ seiner Konnotationen des Vertrauten, des Eingebundenseins in größere Kontexte, Landschaften und Sozialzusammenhänge beraubt. Der „Kleinstaat“ lässt dann an das Überlagern des privaten Raums durch den politischen denken, das Anspielen auf Verstecktes auf den Versuch, etwas diesem Zugriff zu entziehen, was aber aufgrund der räumlichen Überlagerung – „direkt unter der Hauptstadt“ – scheitern muss. Der Text-Bild-Zusammenhang ist wie bei vielen Collagen Müllers recht lose, die Bildelemente vieldeutig:55 Das erste Bild zeigt einen Mann, dessen Unterkörper abgeschnitten ist und dessen Kopf hinter einem Megafon nicht zu sehen ist, während ein Lichtradius von der Figur ausgeht. Das könnte ein Mensch sein, der ganz im Aufschrei aufgeht, oder aber ein Mensch, der zur bloßen Sprechmaschine einer anderen Machtinstanz wird. Für letztere Interpretation spricht, dass der Mensch im Anzug sehr offiziell wirkt und das Megafon in Frontalansicht an eine Gewehrmündung erinnert, dass also Sprachgewalt und physische Gewalt bildlich ineinandergreifen. In ähnlichen Farbtönen wie diese Abbildung ist die zweite, durch einen größeren räumlichen Abstand getrennte Abbildung gehalten. Sie zeigt den Schatten eines Vogels, evtl. einer Ente oder einer Möwe, wobei die Füße abgeschnitten sind.56 Über dem Tier ist ein schwarzes Dreieck, das als eine Art schützendes Dach ebenso gedeutet werden kann wie als bedrohliche Begrenzung; Bedrohung und Behütung kommen erneut zusammen. Das im Profil gezeigte Tier scheint zu warten bzw. sich nicht rühren zu können, oder es blickt auf die eigenartige Mensch-Megafon-
|| 55 Vgl. zum Verhältnis von Text und Bild, die in Müllers Collagen einander ergänzen können, sich bestätigen, sich widersprechen, aber auch jeweils eigene Bedeutungsdimensionen entfalten oder Sinn infragestellen, u.a. Ana-Maria Pălimariu, „Transformationale Intermedialität in Herta Müllers neueren Collagen“, in: transcarpathica germanistisches jahrbuch rumnänien 5–6 (2006–7), S. 132–143; Monika Leipelt-Tsai, Spalten – Herta Müllers Textologie zwischen Psychoanalyse und Kulturtheorie. Frankfurt a.M. 2015, S. 240; Müller, Sprachtakt, S. 217–219; Christina Rossi, Sinn und Struktur. Zugänge zu den Collagen Herta Müllers (Epistemata 905). Würzburg 2019. 56 Zum Abgeschnittenen, Fragmentarischen, zu Leeräumen und Spalten als poetischem Paradigma in den Collagen vgl. weiter Lyn Marven, Body and Narrative in Contemporary Literatures in German. Herta Müller, Libuše Moníková, and Kerstin Hensel. Oxford 2005, S. 106; Leipelt-Tsai, Spalten, S. 241, S. 252; Urs Meyer, „Sprachbilder oder Bildsprache? Herta Müllers mediale Miniaturen“, in: Germanistik in der Schweiz 6 (2009), S. 29–38, hier S. 36; Julia Ogrodnik, „Spiegel einer Grenzwanderung. Collagen und ihre Bedeutung für die Romanpoetologie Herta Müllers“, in: Nadine J. Schmidt/Kalina Kupczýnska (Hg.), Poetik des Gegenwartsromans (text und kritik). München 2016, S. 197–208, hier S. 201.
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Figur. Auch hier darf man mitdenken, dass Liu Xia immer wieder mit einem (gefangenen) Vogel verglichen wurde und das Motiv wiederholt in ihrer Dichtung einsetzt: Liao Yiwu stellt seine Einführung in die englischsprachige Ausgabe der Gedichte unter den Titel „The Story of a Bird“ und lässt sie mit dem Appell enden, sie solle sich zurückverwandeln: „your change from a tree back into a bird“.57 Die Werkauswahl beginnt mit dem Gedicht unter dem Titel „One Bird Then Another“ / 一只鸟又一只鸟.58 Dass nur der Schatten des Vogels gezeigt wird und dieser ‚verstümmelt‘, also mit abgeschnittenen Füßen, deutet in jedem Fall auf eine Person, die nicht richtig präsent ist, am Fortkommen gehindert ist, im wörtlichen Sinne eingesperrt, im übertragenen Sinne in der persönlichen und künstlerischen Entfaltung zurückgehalten. Dass Herta Müller sich der chinesischen Schriftstellerin, die in ihrer Kunst visuelle und sprachliche Ausdrucksmittel auf vielfach verstörende Art zusammenführt, verbunden fühlt, ist nicht überraschend. Durch ihre Übersetzungen und das Wechselspiel mit eigenen Werken schreibt Müller sich und die Chinesin in einen Gesprächsraum ein, der in Richtung anderer Dichter wie Celan ausgreift. Diktaturerfahrung verbindet die Autoren über sprachliche, kulturelle und zeitliche Grenzen hinweg, eröffnet aber auch, so legt das intertextuelle Gefüge nahe, ein wechselseitiges Verständnis im Ausdruck von Beschädigung, Traumatisierung und Bedrohung. Übersetzung ist in diesem Zusammenhang letztlich ein Mittel, diese Verwandtschaft erfahrbar zu machen – und sie in die Öffentlichkeit hinauszutragen, ihr dadurch eine gewisse Wirkmächtigkeit zukommen zu lassen und zur Solidarisierung aufzurufen.
8.4 Politische Kritik und Zeitkommentar: Martin Winter und Yi Sha Für Provokationen, die das Politische nicht aussparen, aber auch in viele andere Bereiche zielen, ist der chinesische Dichter Yi Sha 伊沙 bekannt. Ihn verbindet eine langjährige Dichterfreundschaft mit dem österreichischen Übersetzer und Dichter Martin Winter, der selbst viele Jahre im chinesischsprachigen Raum gelebt hat. Die Dichter eint ein Streben nach einer unprätentiösen Sprache, die über Alltagserfahrungen jeglicher Art auf größere Gesellschaftszusammenhänge hindeutet.
|| 57 Liao Yiwu, „Introduction: The Story of a Bird“, in: Liu Xia, Empty Chairs, S. xi–xiv, hier S. xiv. 58 Liu Xia, Empty Chairs, S. 2–5.
Politische Kritik und Zeitkommentar: Martin Winter und Yi Sha | 281
Yi Sha hat sich seit den 1980er Jahren den Ruf eines der provokantesten Lyriker der postmaoistischen Zeit erarbeitet. Seine Lyrik steht in ihrer oft drastischen Explizitheit den Texten der jüngeren Skandalgruppe der sog. Lyrik des ‚unteren Körpers‘ 下半身 kaum nach.59 In einer vehement geführten Richtungsdebatte, die die jüngeren chinesischen Lyriker insbesondere 1999 austrugen, war er einer der Hauptkämpfer für eine ‚populäre‘/‚volksnahe‘ (minjian 民间) Lyrik anstelle einer ‚gehobenen‘/‚intellektuellen‘ (zhishi fenzi 知识分子) Dichtung.60 Dabei zehrt Yi Sha durchaus aus verschiedenen Traditionssträngen, setzt sich mit klassischer chinesischer Dichtung ebenso wie mit den Modernismen der Menglong-Dichter kritisch und produktiv auseinander.61 Zugleich hat Yi Sha seine Affinität zu Allen Ginsberg und Charles Bukowski betont, oft wird er als „chinesischer Ginsberg“ tituliert; eine Werkauswahl Bukowskis hat er zusammen mit seiner Frau übersetzt.62 Durch seinen Blick auf das Alltägliche und gesellschaftliche Randgruppen, die Suche nach einer dynamischen Rhythmik unter Rückgriff auf explizit umgangssprachliche Register und unterschiedliche Stilebenen schreibt sich Yi Sha ebenfalls in einen weltliterarischen Dialograum ein bzw. schreibt diesen voll Lust zu gezielter Provokation fort. 63 Mit Themen wie Pornographiekonsum oder Toilettengängen während symbolträchtiger
|| 59 Vgl. zu dieser provokativen Richtung der Gegenwartslyrik insbesondere van Crevel, Chinese Poetry, S. 305–344, zu Yi Shas Vorläuferrolle insbesondere S. 338–340; zu den Kontexten anderer ähnlich irreverenter Strömungen in Absetzung von ‚gehobener‘ Lyrik ders., „Rejective Poetry? Sound and Sense in Yi Sha“, in: Tianyuan Tan u.a., Text, Performance, and Gender in Chinese Literature and Music: Essays in Honor of Wilt Idema. Leiden 2009, S. 389–412, hier S. 406; Zhang Qiang 张强, „Jicheng, dianfu, zai zao – Yi Sha shige zongheng lun“ 继承·颠覆 ·再造——伊沙诗歌纵横论 (Fortführen, subvertieren, neu schaffen – eine Überblicksstudie zu Yi Shas Lyrik), in: Zhongguo dangxiandai wenxue yanjiu (2009), Nr. 4, S. 116–119, hier S. 117. 60 Die Debatte ist gut aufgearbeitet, vgl. u.a. Yujing Liang, The Making of Minjian. Yi Sha’s Poetry and Poetry Activities. Diss. Univ. Wellington 2020, S. 21–57; van Crevel, Chinese Poetry, S. 399–450. Dass die binäre Setzung höchst problematisch ist, da beide Gruppen eine gewisse Distanz zur ‚offiziellen‘ Dichtung vereint und der Bildungshintergrund weitgehend ähnlich ist, wurde mehrfach hervorgehoben. Insofern war die Debatte bei allen vorhandenen ästhetischen Unterschieden letztlich überspitzt. 61 Vgl. weiter Liang, Minjian, S. 22f.; Zhang Qiang, „Fortführen“, S. 116f. 62 Zu chinesischen und westlichen Einflüssen auf Yi Shas Dichtung siehe insbesondere Zhang, „Jicheng“; Heather Inwood, „Yi Sha: Running his Race in the ‘Ninth Lane’“, in: Chinese Literature Today 2/2 (2012), S. 6–10; Liang Yujing sieht aber die mediale Inszenierung als ‚Ginsberg‘ vor allem im Tabubruch an sich begründet, vgl. ders., Minjian, S. 153–175, insbesondere S. 156. 63 Vgl. dazu u.a. van Crevel, „Rejective Poetry?“, S. 391; Tang Xin, „Poetry Can Challenge, Too. A Few Thoughts on the Poetry of Yi Sha“, übers. von Heather Inwood, in: Chinese Literature Today 2/2 (2012), S. 18–22, hier S. 20.
282 | Reziproke Übersetzungen, Gegengedichte, Sprachspiele
Momente werden obszöne und (in der chinesischen Dichtung deutlich stärker) tabuisierte Themenbereiche aufgenommen. Jeglicher Andeutung von lyrischem Pathos laufen sie entgegen.64 „Lasst Dichter verhungern“ (饿死诗人) lautet der Titel eines der frühesten aufsehenerregenden Gedichte, das mit der lyrischen Schönrederei der offiziellen Lyrik abrechnet, den „unsterbliche[n] müßiggängern der städte“, die „in versen glorreiche bauern“ erschaffen (城市中最伟大的 懒汉 / 做了诗歌中光荣的农夫). 65 Den „g-gross-a-artiggen rh-rhythmus“ (你们莫 莫莫名其妙的节奏 / 的节奏) der bestehenden Sprache und ihrer Schemata durchbricht er radikal im Gedicht „St-sto-to-tt-tern“ (结结巴巴): Aus der Unangepasstheit der Sprache erwächst deren Schlagkraft: „m-m-meine / sch-schpprache / m-masch-schinengewehr-s-salven“ (我我我的 / 我的机枪点点点射般 / 的语言)(Überquerung 1, S. 42f.).66 Gedichte wie dieses mögen in der Verschränkung von sprachexperimentellen Zugang und politischer Kritik gelegentlich an Jandls „schtzngrmm“ erinnern und rechtfertigen den Vergleich, den Winter zwischen den beiden Autoren zieht (vgl. Überquerung 2, S. 7). Die Gedichte von Yi Sha bewegen sich politisch oft auf dem schmalen Grat zwischen erlaubter Provokation und deren Überschreitung, so dass einige der Texte nur in Taiwan gedruckt werden konnten bzw. nur online, nicht aber im Print veröffentlicht werden konnten und können.67 Vergangenheitsaufarbeitung – insbesondere die Erfahrungen der Kulturrevolution und des Tian’anmen-Massakers – oder deren Ausbleiben bilden einen zentralen Themenbereich der Dichtung Yi Shas (Überquerung 2, S. 7). Das lyrische Ich ist in all diesen Texten stark in Szene gesetzt und wird durch starke autobiographische Unterlegung der Texte zum Medium spielerischer, häufig auch ironischer Selbstinszenierung des Autors.68 Martin Winter, mit dem Yi Sha, wie mit mehreren Übersetzern, in intensivem persönlichem Kontakt steht,69 hat verschiedene chinesische Autoren aus || 64 Vgl. weiter ebd., S. 18f. 65 Yi Sha 伊沙, Überquerung des gelben Flusses [künftig zitiert als: Überquerung], übers. von Martin Winter. Wien 2016f., Bd. 1, 2016, S. 36f. Vgl. zur Provokativität des Textes van Crevel, „Rejective Poetry“, S. 392f. 66 Vgl. dazu auch u.a. Liang, Minjian, S. 103; van Crevel, „Rejective Poetry“, S. 394–405. 67 Vgl. auch die Anmerkungen in Überquerung 2, S. 7–10; Tang Xin, „Poetry Can Challenge“, S. 19. Zur Dynamik von Internetliteratur und Printliteratur siehe insbesondere Michel Hockx, Internet Literature in China. New York u.a. 2015, mit Blick auf die Lyrik v.a. S. 141–185; sowie Heather Inwood, Verse Going Viral. China’s New Media Scenes. Seattle/London 2016. 68 Vgl. Qin Bazi 秦巴子, „Yi Sha: Shi zhong zihuaxiang“ 伊沙: 诗中自画像 (Yi Sha: Selbstporträt in den Gedichten), in: Qingchun (2016), Nr. 671, S. 53f.; Inwood, „Running“, S. 6–10, hier S. 7f. 69 Liang beschreibt Yi Shas Netzwerk an inoffiziell etablierten Übersetzern als „minjian brotherhood“; minjian („innerhalb des Volks“, populär“); „brotherhood“ trifft insofern zu, als
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Vergangenheit und Gegenwart übersetzt, am meisten aber Yi Sha, zu dessen Poetologie seine Gedichte teilweise eine gewisse Nähe zeigen. Auch Winter arbeitet mit einer schlichten, alltagsnahen Sprache, vielfach mit einer inszenierten Naivität, die auf wörtlichen Begriffsdeutungen beharrt und dadurch deren Implikationen freizulegen sucht, und mit redundanten Wiederholungen von Satzmustern und Floskeln.70 Auch ihm dient als Ausgangspunkt der Dichtung die subjektive Alltagserfahrung eines dem Autor angenäherten lyrischen Ich, die kleinste Details des Alltagslebens ebenso fokussieren kann wie historische und politische Konstellationen, mit Blick sowohl auf die chinesische als auch die österreichische und deutsche Geschichte. Damit reagieren die Texte auf ihre eigene Weise auf die Spannung, die u.a. auch die Gedichte der Neuen Subjektivität aufrechtzuerhalten, aber auszuloten gesucht haben. So stehen in seinem Band Der Mond muss perfekt sein von 2016 die Gedichte „Tian’anmen“ und „Wien, Heldenplatz“ (in Reminiszenz an Jandls titelgleiches Gedicht) nebeneinander, letzteres zieht auch explizit den Vergleich zwischen den beiden Plätzen als Orte, hinter deren lebendigem Alltagsgeschehen eine gewaltvolle Vergangenheit versteckt ist: „der platz ist ok. Kinder spielen. / der platz ist verloren. / wie tian’anmen.“71 Nicht nur der Erfahrungsraum des lyrischen Ichs ist ein kulturübergreifender, Winters Gedichte entstehen oft vom Sprachspiel ausgehend oder in der Konfrontation der Sprachen. So ist Der Mond muss perfekt sein dreisprachig (deutsch-englisch-chinesisch) konzipiert, wobei Übersetzungsfassungen, sowohl eigene als auch Übersetzungen von Winters Gedichten durch Yi Sha, teilweise parallel gesetzt werden, teilweise aber in andere thematische und chronologische Zusammenhänge eingebunden sind und der Leser springen muss, um die anderssprachigen Versionen eines Gedichts zu finden. Das Hin und Her zwischen den Sprachräumen ist so auch der Struktur des Bandes eingeschrieben. Der Autor schreibt gelegentlich Gedichte zuerst auf Englisch oder Chinesisch, übersetzt sich selbst oder lässt verschiedene Sprachen im Gedicht aufeinanderprallen. Dann wird der „Chairman“ zum „Stuhlmann“, der doppeldeutig
|| es sich mindestens bei den englisch- und deutschsprachigen Übersetzern des sich oft selbstironisch als Chauvinist gerierenden Autors allesamt um Männer handelt (vgl. Liang, Minjian, S. 184–189). 70 Rainald Simon bescheinigt Martin Winter, er schreibe „nur scheinbar schlichte an Aufzählgedichte der Kindheit erinnernde lyrische Texte, die es in sich haben“ (vgl. die Rezension: „Martin Winter, ‚Gestrichen‘“, auf https://www.fixpoetry.com/feuilleton/kritik/martin-winter/ censored-shan-shi-10–poems [19.11.2020]). 71 Martin Winter 维马丁, Der Mond muss perfekt sein/She has to be perfekt/不敢不完全. Wien 2016, S. 239f. Der Band wird im Folgenden im Fließtext zitiert (als Mond).
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„jeden Stuhl“ macht und auch noch eine „Stuhlfrau“ zur Seite gestellt bekommt (Mond, S. 238) – das Gedicht wurde in China nicht publiziert, auch wenn die Wortspiele im Chinesischen schlechter funktionieren.72 Eine gewisse Affinität verbindet die beiden Dichter von vornherein, die Freundschaft wird auch von beiden Autoren in ihren Gedichten selbst thematisiert. Martin Winter schreibt Gedichte mit Titeln wie „Yi Sha ist verflogen jetzt träum ich chinesisch“ (zuerst auf Chinesisch: Mond, S. 200f.), nicht zuletzt auf Yi Shas Serie von teils politisch brisanten, teils mit Absurditäten spielenden Traumgedichten hindeutend, von denen er zahlreiche übersetzt hat. Yi Sha wiederum schreibt für Winter ein Gedicht über das Hoffen auf einen Übersetzer: 黑暗中的语言 —— 至维马丁
Aus dunklen Zeiten – Für Martin
大约二十多年前 那一定是 我文学生涯中 最黑暗时刻的抱怨 带着不平与无助: “怎就没有翻译家 看上我的诗?” “急什么?”妻说 你的翻译家一定是 你的同龄人 他们现在和你一样 还在黑暗里……” (Überquerung 2, S. 62)
ungefähr vor über 20 jahren auf jeden fall in meiner dunkelsten zeit als literat frag ich hilflos: gibt es denn gar keinen übersetzer der meine gedichte haben will?“ „reg dich nicht auf“, sagt meine frau, „deine übersetzer, die sind wahrscheinlich so alt wie du, die sind noch im dunkeln…“ (Überquerung 2, S. 63)
Immer wieder taucht Martin Winter namentlich in Yi Shas Gedichten auf, wenn gemeinsame Reisen in Asien oder Lesungen thematisiert werden. Er wird als Kritiker der Rechten in Österreich angeführt (vgl. Überquerung 2, S. 104 f.) oder auch als „einziger nicht-chinese“ bei einer Südostasientour, dessen „gesundheitszustand / von vorne bis hinten“ der Öffentlichkeit dargelegt werden (Überquerung 2, S. 104f.). Die Dichter inszenieren also Familiarität miteinander in ihren Gedichten, beziehen den jeweils anderen in die lyrische Gesellschaftsanalyse und Alltagsdokumentation ein, betreiben gewissermaßen „public correspondence“ in ihrer
|| 72 Vgl. Mond, S. 167 und Martin Winter, Censored/删失, übers. von Yi Sha und Lao G. Wien 2020, S. 7. Siehe dazu weiter unten.
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Dichtung.73 Die Freundschaft wird damit zum Gegenstand der Gedichte selbst, ihre lyrische Verarbeitung schafft einen Rahmen für die wechselseitige Übersetzung und fungiert als Paratext dazu. Sie verknüpft Werkrezeption und biographisches (Eigen- und Fremd-)Dichterporträt und stärkt letztlich auch die Legitimation des Übersetzers, der offensichtlich mit dem Autor in einer engen Verbindung steht. Martin Winters zweibändige, zweisprachige Auswahlausgabe der Werke Yi Shas enthält die Gedichte von 1988 bis 2017. Der Mond muss perfekt sein wiederum enthält Gedichte, die von Yi Sha und seiner Frau, Lao G (老 G, „Alte G“, eigentlich Ge Mingxia 葛明霞) übersetzt wurden. 2020 erschien noch die englisch-chinesische Auswahl Finally We Have Snow – 最后我们赢得了雪 von Gedichten Martin Winters in China, ergänzt in Deutschland um zehn der Zensur zum Opfer gefallene Gedichte, Censored 删失, ebenfalls auf Englisch und Chinesisch. Beide Autoren sind also in mehreren Sprach- und Kulturräumen präsent und greifen auch thematisch in den jeweils anderen Raum über. Dadurch ergibt sich ein engmaschiges, vielschichtig intertextuelles Gefüge, in dem poetologische Affinitäten, geteilte Erfahrungs-, Kultur- und Lektürekontexte und Übersetzung zusammenwirken. So kann man beispielsweise zwei in Reaktion auf das große Sichuan-Erdbeben 2008 zunächst unabhängig voneinander entstandene Gedichte nebeneinander stellen: Zunächst sei Yi Shas „Olympia und Erdbeben“ zitiert, übersetzt von Martin Winter: 奥运与地震 (伊莎)
Olympia und Erdbeben (Martin Winter)
遗忘的理由多么充足 遗忘的力量多么强大 只需要三个月 一场可怕的灾难 已经还再天边 那位独揽三金的川籍选手 绝口不提家乡的灾民 谁还好意思提 那位双手指天的乒乓教练
Der grund für das vergessen ist groß genug Der hang zum vergessen ist halt sehr stark man braucht nur drei monate eine schreckliche katastrophe ist weit weg wie die sterne der sportler aus der erdbebengegend mit drei goldmedaillen sagt auch kein wort die opfer erwähnen wär einfach nur peinlich der ping-pong-trainer reißt zwar die hände hoch
|| 73 Van Crevel, „Rejective Poetry?“, S. 391. Yi Sha inszeniert sowohl Freundschaften als auch Feindschaften in seinen Gedichten bzw. macht über die Gedichte seine Haltung zu anderen Dichtern sehr explizit deutlich. Skandalträchtig war u.a. die drastische Ablehnung des vielfach idolisierten Dichters Haizi 海子 und der gezielt irreverente Umgang mit dessen Selbstmord 1989, vgl. u.a. van Crevel, „Rejective Poetry?“, S. 393f.
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显然也不是在指 天堂里的数万亡魂 老实说:我也忘了 脑忘 心忘 惟有身体不曾忘 一看跳水头就晕 颠颠儿地瞧医生 血压不高也不低 医生诊断为:地震后遗症 (Überquerung 1, S. 296)
aber ganz sicher zeigt er nicht auf die unschuldigen seelen im himmel ehrlich gesagt: ich habs auch vergessen aus dem kopf aus dem herzen nur der körper hat es noch beim turmspringen-schauen wird mir schlecht ich geh wankend zum doktor der blutdruck ist weder zu hoch noch zu niedrig die diagnose: erdbeben-nachwirkungen (Überquerung 1, S. 297)
Im selben Jahr reagierte Winter auf denselben Anlass, das Gedicht wurde umgekehrt von dem chinesischen Dichter später übertragen: rosen (Martin Winter)
Roses (Martin Winter)
玫瑰 (伊莎)
es ist die schönste zeit im jahr wenn überall die rosen blühen der regen ist ja richtig gut ich weiss nicht was noch alles kommt es ist die schönste zeit im jahr ein erdbeben und ein zyklon und alles was noch vorher war es ist die schönste zeit im jahr (Mond, S. 87)
– after the Sichuan earthquake
——写于四川地震后
it is the best time of the year when all the roses are in bloom this year the rain was very good and so the air is not too bad
一年中最美好的时光 当所有玫瑰全部开放 好雨知时节 天气亦清新
it is the best time of the year a cyclone and an earthquake too and everything that went before it is the best time of the year (Mond, S. 170)
一年中最美好的时光 飓风和地震接踵而至 还有先前所有的一切 当春乃发生 (Mond, S. 171)
Mit dem chinesischen Kontext vertraute Leser dürften die Gedichte auf der Kontrastfolie der zahllosen, vielfach von Laien verfassten und über neue Medien ‚viral‘ verbreiteten Erdbebengedichte des Jahres 2008 rezipieren. Heather Inwood hat das mediale Phänomen der „Quake Poetry“ untersucht und nachgewiesen, wie diese Gedichte als Massenphänomen einerseits eine eigene Dynamik entwickelt haben, andererseits politisch instrumentalisiert wurden, um Emotionen zu kanalisieren und die Einheit des Volkes (entgegen allen Vorwürfen des politischen Versagens bei der Prävention und den Rettungsmaßnahmen) zu beschwören. Gegen die teils natürlich klischeegeladene Dichtung haben sich verschiedene chinesische Lyriker durch eine gezielte Bloßstellung von
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Emotionslosigkeit gewandt.74 Zugleich richtet sich die inszenierte Gleichgültigkeit aber gerade gegen Gedichte, die in ihrem Pathos letztlich hochgradig empathielos sind. Bekannt wurde unter anderem ein Gedicht des damaligen Vizepräsidenten des Schriftstellerverbands, Wang Zhaoshan 王兆山, mit dem Titel „Selbstbekenntnis unter Trümmern“, das die „Liebe zur Partei, zum Vaterland“ beschwört und die Opfer ihre Stimmen erheben lässt: Zum „Tod bereit“ hoffen sie nur, noch die Olympiade im Fernsehen verfolgen zu können: Ach, sähen wir uns wieder im Grabe vorm Bildschirm vereint, Um Olympia zu sehn, Wenn alles jubelt und schreit!75
Yi Shas gezielt bloßgestellte Gleichgültigkeit ist also vor diesem intertextuellen Umfeld zu sehen. Sie reagiert auf die in ihrer Pathetik letztlich gegenüber den Opfern teilweise gleichgültige Lyrik bzw. die grausame Instrumentalisierung von deren Heroisierung und verweist auf den Versuch, durch die offizielle Selbstdarstellung bei der Olympiade im gleichen Jahr die Probleme des Landes in den Hintergrund zu rücken. Selbst wenn der chinesische literarische Diskurs dem Leser nicht präsent ist, wird die Kritik an diskursiven Überspielungen der Katastrophe deutlich. Die zur Schau getragene Empathielosigkeit des Ich hält der Gesellschaft und der politischen Führung somit nur einen Spiegel vor, wobei das ironische Verlagern der Erinnerung in den Bereich des Physischen suggeriert, dass die Katastrophe sich als eine Art Phantomschmerz gegen den Versuch des Vergessens durchsetzt. Selbst- und Staatskritik greifen hier im ironischen Modus ineinander. Die ans Mündliche angenäherte, vielfach flapsige Diktion, die Winter durch die Wahl alltagssprachlicher Vokabeln, durch Elisionen und Partikel zu übertragen sucht, kontrastiert mit der Geste des Trainers, die an eine pathetische Trauergeste erinnert bzw. deren Ausbleiben markiert. Aber auch eine offizielle Beileidsbekundung schließt der Text als angemessene Reaktion aus: „die opfer erwähnen wär einfach nur peinlich“. Der Text entlarvt die zur Verfügung stehenden Ausdrucksformen der Trauer (und Wut) als leere Gesten und Floskeln. Er verweigert sich damit einer politischen Inanspruchnahme und dem Bild des Dichter als Schöpfer eines kollektiven Gedächtnisses
|| 74 Vgl. Heather Inwood, „Multimedia Quake Poetry: Convergence Culture after the Sichuan Earthquake“, in: The China Quarterly (2011), Nr. 208, S. 932–950; dies., Verse going Viral, S. 268–183. 75 Der Text wird hier in der Übersetzung Kraushaars wiedergegeben (Neoklassizistische Cyberlyrik, S. 56); das Original ist dort abgedruckt: Ebd., S. 57, sowie auf https://news.ifeng.com/ society/2/200806/0612_344_593774.shtml [04.04.2023].
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und steht damit gegen das Gros der damaligen literarischen Verarbeitungen, nicht zuletzt auch von öffentlichen Figuren wie Wang Jiuping 王久平, Mitglied des Olympiakomitees.76 Den emotionalen, mit vielfach kitschigen Versatzstücken geladenen Werken stellt Yi Sha seine lakonischen Verse entgegen, die nur in wenigen Formulierungen wie „unschuldige [wörtlich: mehrere zehntausend] Seelen im Himmel“ die Option eines Pathos andeuten, das der Text sonst destruiert. Infrage gestellt werden damit emotionale Reaktionsmuster des Einzelnen sowie mediale und politische Ansprüche auf Deutungshoheit, die auf inhaltliche Leerstellen ebenso verweisen wie auf das Problem angemessener Darstellung. Nicht mit der Schärfe Yi Shas, aber in Grundzügen mit einer ähnlichen Stoßrichtung reagiert Winters Gedicht auf das Erdbeben. Die gezielt naive Diktion, die Wiederholungsmuster, das Leiern des vierhebigen Jambus und das Beschwören der Schönheit der Rosen – Sichuan ist für seine Rosen bekannt – übergehen zwei große Katastrophen, das Erdbeben und die Zerstörungen des Taifuns Neoguri, deren Erwähnung am Rande der penetranten Beschwörung der Naturschönheit entgegengesetzt wird. Nicht zufällig stolpert man im Deutschen beim ‚Herunterleiern‘ des Gedichts metrisch über den Begriff ‚Erdbeben‘, der im Lesefluss dann entgegen der natürlichen Betonung in das jambische Muster eingepasst wird. Yi Sha transportiert das Redundante ins Chinesische, indem teilweise Verse wie im Deutschen bewusst wiederholt werden, einzelne Reime eingeflochten werden und die Verse immer wahlweise neun oder fünf Zeichen lang sind. Die bewusst einfachen Vokabeln wie „gut“ (hao 好) werden beibehalten, die Mischung aus einzelnen lyrischen Versatzstücken und Einschlägen ins Mündliche, im Deutschen u.a. durch die Partikel „ja“ hervorgehoben, im Chinesischen durch die Wortwahl (z.B. 还有, „sonst gibt es noch“) oder die Neigung ins Elliptische angedeutet. Auch Winters Gedicht mag man als Kritik an dem Rekurs auf lyrische Topoi und Darstellungsmodi lesen, die im formalen und bildlichen Harmonisierungsstreben eine außerliterarische Wirklichkeit nicht zu verarbeiten vermögen. Allerdings dürfte der kritische Impetus von Yi Shas Gedicht für westliche Leser leichter zugänglich sein als der Martin Winters, für das es wohl der Vergleichsfolie der ‚harmonisierenden‘ Lyrik bedarf: Liest man das Gedicht als Angriff gegen europäische ‚Leierkastenlyrik‘, mag es nicht besonders originell wirken, man muss hier wohl Winters Stellung zwischen den Kulturen und Sprachräumen einbeziehen. Bekannt ist Winter insofern vor allem einem Publikum, das einen gewissen China-Kontext in die Rezeption einbringt. || 76 Vgl. Inwood, „Quake Poetry“, S. 936.
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Die Übertragungen Yi Shas eröffnen Winter wiederum eine Rezeption im Chinesischen, die durch die Zensur teilweise ausgebremst wird – wobei natürlich Zensur gelegentlich auch zur Popularisierung beitragen kann. Wenn für einen europäischen Leser das oben erwähnte Sprachspiel um den Begriff „chairman“ ein witziges Spiel mit wörtlicher Übersetzung sein mag, ist die oben erwähnte Verspottung Maos als Stuhlhersteller in China (nach dem Ermessen des Verlegers) schon zu heikel. Die expliziten Verweise auf das TiananmenMassaker, politische Verhaftungen oder Liu Xiaobo in anderen Gedichten waren gleichermaßen in China nicht druckbar (vgl. Winter, Censored, S. 16, S. 30). Es bleibt die Frage, ob die Texte, wenn sie hier zweisprachig veröffentlicht werden, im deutschen Raum jenseits ihres Dokumentstatus als Beispiele, was in China nicht im Print veröffentlicht werden kann, eine Wirkung entfalten. Winters Rezeption in China ist schwer einzuschätzen, neben seinem Gedichtband hat er Beiträge in Zeitschriften veröffentlicht, partizipiert aber vor allem an der in China wohl einzigartigen Onlineliteraturkultur.77 In jedem Fall aber wird deutlich, wie hier Dialogizität durch reziproke Übersetzung, aber auch durch die lyrische Inszenierung der Dichterfreundschaft generiert wird, und wie Rezeptionsräume aneinander angenähert werden.
|| 77 Zur Internetliteratur vgl. Hockx, Internet Literature sowie Inwood, Verse Going Viral. Vgl. auch Winters Selbsteinschätzung zur stärkeren Rezeption seiner Texte über das Internet: Dieter Scherr im Gespräch mit Martin Winter, „Zwischen Mond und Zeitgeschichte“, in: Autorensolidarität 2–3 (2017), S. 27–30, hier S. 27.
290 | Reziproke Übersetzungen, Gegengedichte, Sprachspiele
8.5 Sprachspiele und Sprachbegehren zwischen Ost und West: Jan Wagner und Yang Lian Reziproke Dichterbeziehungen ergeben sich nicht nur auf Eigeninitiative, sondern auch im Kontext der durch Kulturinstitutionen ‚offiziell‘ initiierten Austauschgelegenheiten. So wurden beispielsweise Projekte wie der vom GoetheInstitut China ins Leben gerufene Lyrikdialog „Dichter übersetzen Dichter“ möglich, bei dem fünf deutsche und acht chinesische Gegenwartsdichter – Ann Cotten, Dirk von Petersdorff, Jan Wagner, Lea Schneider und Steffen Popp sowie Dai Weina 戴潍娜, Jiang Tao 姜涛 (*1970), Liu Chang 刘畅 (*1973), Liu Ligan 刘 立杆 (*1967), Tang Xiaodu 唐晓渡 (*1954), Yang Lian, Zang Di 臧棣 (*1964) und Zhu Zhu 朱朱 (*1969) – aufeinandertrafen. Manche davon verfügten über Kenntnisse des jeweils anderen Sprach- und Literaturraums (auf deutscher Seite die sinologisch ausgebildete Lea Schneider, von der weiterhin die Rede sein wird, auf chinesischer Seite insbesondere der teilweise in Berlin lebende Yang Lian). Andere begaben sich für das Projekt in Neuland. Dabei wurden im Vorfeld schon mittels englischer Zwischenübersetzungen erste Versionen der jeweils von den Dichtern selbst für die Übersetzung ausgewählten Gedichte entwickelt. In Beijing und Nanjing trafen die Dichter dann persönlich zusammen, konnten ihre Texte mithilfe von Dolmetschern miteinander diskutieren sowie die Gedichte im Original vorgetragen hören. Technisch handelt es sich also um eine Variante des institutionell vermittelten, im Zusammenspiel von Dichtern und Sprachmittlern durchgeführten Übersetzungsaustauschs, hier mit dem Goethe-Institut als zentrale, vor allem für die Zuordnungen verantwortliche institutionelle Mittlerinstanz,78 wobei Yang Lian als zwischen den Kulturräumen stehender Dichter maßgeblich an der Auswahl und Vermittlung beteiligt war.79 Das in einem digitalen Band veröffentlichte Ergebnis80 zeugt von vielseitigen, thematisch offenen wechselseitigen Annäherungen, von einer gewissen spielerischen Lust am Ausloten des Verhältnisses zwischen den Sprachen und den Möglichkeiten und Grenzen der eigenen Sprache.
|| 78 Durch die ungleiche Zahl von Autoren wurden auch nicht immer einfach zwei Autoren einander zugeordnet, sondern es ergeben sich für jeden Autor mehrere Zuordnungen. Teilweise liegen somit direkt reziproke Übersetzungsverhältnisse vor, teilweise nicht. 79 Für Informationen zur technisch-organisatorischen Durchführung des Projekts danke ich Jiang Ningxin vom Goethe-Institut, die mir in einer E-Mail vom 7. Juli 2020 einige Erklärungen zukommen ließ. 80 https://www.goethe.de/resources/files/pdf141/dichter-bersetzen-dichter1.pdf [19.06.2021]. Im Folgenden zitiere ich die dort abgedruckten Texte im Fließtext mit dem Kurztitel Dichter.
Sprachspiele und Sprachbegehren: Jan Wagner und Yang Lian | 291
So dürfte Jan Wagner Yang Lian Kopfschmerzen bereitet haben, indem er einen so fundamental von den sprachlichen Bedingungen der Ausgangssprache abhängigen Text wie „Giersch“, den „‚Smash Hit‘ der Gegenwartslyrik“,81 zur Übersetzung einsandte. Die Pflanze „Giersch“ trage das „begehren schon im namen“, heißt es zu Beginn des Gedichts, und so entfaltet der Text eine Reihe an Vergleichen zu ausufernden, nicht zurückzudrängenden Kräften – „wie ein Tyrannentraum“, „wie eine alte schuld“ – und lässt die Vorstellung des überbordenden Wachstums freie Assoziationen entfalten (Dichter, S. 25). Die sprachlich-phonetische Ebene des Textes verselbständigt sich schließlich immer weiter. Die letzte Strophe gipfelt im Überhandnehmen des Giersch, inhaltlich wie lautlich. War das Gedicht von der Sonettform ausgegangen, in der Kombination zweier vierversiger und zweier dreiversiger Strophen mit Reim- oder Assonanzklammern, wird „Giersch“ in der letzten Strophe zum einzigen Reimwort, während eine überbordende Fülle an g-Alliterationen, i-Assonanzen und sch-Lauten der überwältigenden Macht der Pflanze entspricht:82 geschieht, bis hoch zum giebel kriecht, bis giersch schier überall sprießt, im ganzen garten giersch sich über giersch schiebt, ihn verschlingt mit nichts als giersch. (Dichter, S. 25)
Yang Lian entscheidet sich für eine andere Pflanze, den Erdburzeldorn, jili 蒺藜, der für seine Resistenz, sein ausgreifendes Wurzelwerk und die Ausbreitung auf verschiedensten Untergründen bekannt ist. Die mit scharfen Dornen ausgestattete Pflanze gilt als testosteronfördernd, was sich assoziativ zum Komplex des Begehrens und der Aggression fügt. Wenn Yang Lian übersetzt, das Begehren sei im Namen „vergraben“: yuwang yi mai ru mingzi 欲望已埋入名字 (Dichter, S. 25), wird weniger auf die phonetische Ebene angespielt als auf die Zeichenkomposition, jí 蒺 setzt sich zusammen aus den Radikalen für „Gras“, „Krankheit“ und „Pfeil“, ohne das Grasradikal hieße das Zeichen jí 疾, „Krankheit“, aber auch „Hass“. Ersetzt man das Grasradikal durch das Radikal für „weiblich“, erhält man das Homophon jí 嫉, „Eifersucht“. Homophon zu 蒺藜 jílì („Erdburzeldorn“) ist zudem jílì 极力 („extrem“) und, mit einer Tonvariation jīlì 激励 („vorantreiben“). Der Assoziationsraum rund um den Komplex des Begehrens, der sich im Deutschen (vielleicht etwas unmittelbarer) auf klanglicher Ebene
|| 81 Frieder von Ammon, „Ohrwurm mit Ziegenfuß. ‚giersch‘ als ‚Smash Hit‘ der Gegenwartslyrik“, in: Christoph Jürgensen/Sonja Klimek (Hg.), Gedichte von Jan Wagner. Interpretationen. Münster 2017, S. 211–227. 82 Vgl. zur Vielfalt der Lautkorrespondenzen und der variierten Sonettform ebd., S. 217.
292 | Reziproke Übersetzungen, Gegengedichte, Sprachspiele
entfaltet, enthält im Chinesischen ein Pendant im Spiel mit Zeichenkomposition und Homophonie. Die Möglichkeiten zur Verselbstständigung des Begehrens der Sprache testet Yang Lian ebenfalls spielerisch aus, auch hier stark über Homophonie und Assonanz, andererseits über Wortwiederholungen und forcierte, schnelle Rhythmik. Die oben zitierte Passage lautet im Chinesischen: 急急爬上山墙,急急蒺藜 极力窜犯,整座花园里蒺藜 越过蒺藜喷发,吞没天地,唯剩蒺藜。 越过蒺藜喷发,吞没一切,喷发喷发。 (Dichter, S. 25)
Yang Lian macht sich die Vielzahl der Homophone im Chinesischen zunutze. So transliterieren die ersten zwei der gerade zitierten Verse als jiji [eilig] pashang [erklettern] shanqiang [Giebel], jiji [eilig] jili [Erdburzeldorn] jiji [extrem] cuanfan [einfallen] zheng [ganz] zuo [Zähleinheitswort] huayuan [Garten] li [in, nachgestellt] jili [Erdburzeldorn].
Yang Lian treibt die Homophonie und Assonanz hier gewissermaßen auf die Spitze, und macht sich zusätzlich die spezifische Wortbildung im modernen Chinesischen zunutze, in dem Wörter teilweise durch Verdoppelung von Schriftzeichen wie in 急急 jíjí (eilig) gebildet werden können. Wagners letzten Vers streckt er auf zwei Verse bzw. wiederholt den Vers in leicht abgewandelter Form: yueguo [gehen über] jili [Erdburzeldorn] penfa [ausbrechen], tunshi [verschlingen] tiandi [Himmel und Erde], wei [nur] sheng [bleiben] jili [Erdburzeldorn] yueguo [gehen über] jili [Erdburzeldorn] penfa [ausbrechen], tunshi [verschlingen] yiqi [alles], penfa [ausbrechen] penfa [ausbrechen]
Die über die Wortwiederholungen strukturierte Rhythmik der beiden Schlussverse, die wie Wagners Schlussvers länger sind als der Rest, bildet noch einmal das exzessive Wachsen der Pflanze auch als Verselbständigung von Sprache und Klang ab, denen, wie der Pflanze, das Streben nach Grenzenlosigkeit eingeschrieben scheint. Um Sprache, Begehren und Spiel geht es auch in der umgekehrten Konstellation, wenn Jan Wagner Yang Lians „Nacht im Palast der Purpurtulpen (Adagio)“ (Zi yu jingong: manban de yi ye 紫郁金宫:慢板的一夜) übersetzt (Dichter, S. 80f.). Yang Lian lässt das Gedicht den Raum der Konkubinengemächer als erotisch-ästhetische Entzügelung entfalten, die gerade aus dem Bewusstsein
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der klischeehaften Suggestivkraft die Freiheit zum Spiel der Imagination fordert – und zugleich den Akt des Imaginierens vorführt. „Hier im Serail“ lässt Wagner das Gedicht einsetzen, „wo jede Nacht aus Mondlicht, Jade, Perlenstrang besteht / alles imaginär stell dir den Strauß vorm Blau einer Tapete / die Konkubine vor und unter ihrem Kleid die Fülle Schnee“ (Dichter, S. 81). Der Begriff des Serails ist natürlich kulturell eigentlich deplatziert. Jan Wagner dürfte sich aber die Fülle exotistischer, erotischer Assoziationsräume und intertextueller Anknüpfungspunkte (man denke an die Entführung aus dem Serail), die der Begriff aufruft, gezielt zunutze machen, um die Kraft der Fantasie in einem Wechselspiel aus Relativierung und Reaktivierung kulturhistorisch wirkmächtiger Topoi auszuloten. Die deiktische Explizierung durch die Adverbiale „hier“, die sich nicht im Original findet, positioniert den Sprecher denn auch im erdachten Raum, stellt ihn dadurch als imaginierende, allerdings nicht näher greifbare Figur etwas stärker heraus als der chinesische Text. Beide Texte spielen mit relativ expliziten erotischen Anspielungen, dem exzessiven Einsatz von Farbeffekten und Synästhesien. Satzzeichen fehlen in beiden Sprachen, dafür sind die Verse durch Zäsuren (die bereits visuell durch Lücken markiert sind) rhythmisch so strukturiert, dass sie einerseits auf die Bewegungen der Liebenden verweisen, andererseits die einzelnen Elemente eher assoziativ denn grammatisch verbinden, im Chinesischen durch die nicht eindeutige Festlegung der Wortarten und das Fehlen von Flexion noch stärker als im Deutschen. So öffnen sie sich für Rekombinationen: 一种紫色的耳语 必须喘息着说 只对那人说 当他重重碾压着花瓣 一滴紫色的奶 像妃子急急等待被吸尽的 想着 全世界就涌进一根滚烫的脉管 (Dichter, S. 80)
ein Purpurflüstern das als Hauch gesprochen werden muß das während er die Blüten drückt nur ihm allein zusteht ein Tropfen Purpurmilch die Konkubine die der Lippen harrt bis alle Welt ins Brennen der Gefäße übergeht (Dichter, S. 81)
Auch bei Yang Lian werden die Themenbereiche Begehren/Erotik und Sprache/Ästhetik explizit verwoben, das Liebesspiel als ein Zusammentreffen verschiedener ästhetischer und poetischer Kräfte markiert, im Chinesischen als ein Waagehalten des dichterischen Gefühls von überbordender/tyrannischer Schönheit und Verwelken – jin ye baodao zhi mei duichenzhe liushi de shiyi 今 夜 霸道之美对称着流逝的诗意 (wörtlich: „heute Nacht halten sich die Gewaltherrschaft der Schönheit und das vergehende/vergangene poetische Gefühl die Waage“ [Dichter, S. 80] –, während Wagner eher den Übergang von Schönheit zu Verfall akzentuiert – „[…] hat der Tyrann der Schönheit der Ästhetik des
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Verwelkens Platz gemacht“ (Dichter, S. 81). Im Begriff des „Tyrannen“ stellt Wagner letztlich auch gezielt eine Verbindung zu der metaphorischen Engführung von ästhetischem Ausgreifen und politischer Gewalt in „giersch“, wo vom „Tyrannentraum“ die Rede ist, her. Die Konkubine in Yang Lians Gedicht erhält eine „dunkelste Grammatik“ (yi ge hei jin de yufa 一个黑尽的语法), ihre Hände halten „die Vase wie ein Wort“ (dang huapin xiang yi ge ci 当花瓶像个词) (Dichter, S. 80f.). Begehren ist hier nicht nur sprachlich geschaffen, erotisches Verlangen und Sprachen werden einander als Kräfte angenähert, die über eine gewisse Eigendynamik verfügen. Wo das chinesische Gedicht vielfach mit Passivkonstruktionen arbeitet – vor allem, aber nicht nur mit Bezug auf die Frau – setzt auch der deutsche Text Passiv oder passive Partizipialkonstruktionen, die dieses Kräftespiel akzentuieren. Liest man die zwei Gedichte Jan Wagners und Yang Lians mit- und gegeneinander bzw. mit ihren und gegen ihre Übersetzungen, erkennt man eine intensive, zugleich jedoch spielerische Auseinandersetzung mit der eigenen Sprache und ihren dichterischen Möglichkeiten, die sich gerade in dieser Selbstreflexion auf die fremde Sprache und Dichtung zu bewegen kann. Die Texte arbeiten mit einer intensiv ausgestalteten Rhythmik im Wechselspiel von Vers, Versabschnitten und grammatikalischen Einheiten; sie betonen Gegenständlichkeit, Sinnlichkeit und Klanglichkeit von Sprache, ein im eigenen Kulturraum und über diesen hinausreichendes Ausgreifen von Assoziation und Fantasie, das formal und inhaltlich an verschiedenste Versatzstücke der Tradition anknüpfen kann, diese aber auch modifiziert, vorführt und erweitert – und sich öffnet für einen ‚fremden‘ Blick darauf. Ein lyrisches Ich ist in keinem der Texte explizit erwähnt und wird auch als Sprecher kaum greifbar. Die erotischen Fantasien in Yang Lians Text mag man einer Sprecherfigur zuschreiben, in ihr aber auch die Kondensation von über Jahrhunderte fortgesponnenen kulturellen Zuschreibungen an die Konkubinengemächer sehen oder aber eher eine – nicht ironielose – Aufforderung an den Leser, sich bei seinem eigenen Fantasieren zu ertappen. In jedem Fall steht nicht subjektives Erleben im Zentrum, sondern ein scheinbares Strömenlassen von Assoziationsmomenten.83 Dieses bleibt offen für verschiedenste Lesarten, zuallererst wohl poetologische; aber denkbar sind zugleich politische bzw. eine Verbindung aus beiden: Jan Wagners Gedicht wurde durchaus – nicht zuletzt aufgrund des Begriffs des „Tyrannen“ – als
|| 83 Frieder von Ammon spricht mit Blick auf Wagner von einer „‚Dezenz‘ der Äußerungsinstanz‘“ (ebd., S. 214).
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Revolutionsallegorie gelesen;84 abwegig sind solche Deutungsrichtungen auch bei Yang Lian keineswegs, vielmehr gibt es in China eine lange Deutungstradition von Liebes- und Erotikgedichten als Herrschaftsmahnung. So scheinen sich auch hier verschiedene Gewaltkräfte zu überlagern: eine Gewalt der Schönheit und Sprache, ein Machtgefälle von Mann zu Frau, ein kulturelles Repertoire an Macht- und Erotikfantasien gegenüber der Konkubine, in der deutschen Übersetzung noch um das Moment des ausgestellt ‚Exotistischen‘, der Gewalt des fremden Blicks, erweitert. Und denkbar ist freilich auch in Anlehnung an die klassische Dichtungstradition, die Geliebte als Personifikation eines Dichters zu lesen, in dem heiklen Spiel also gewissermaßen ein Tanz mit und gegen die Macht, in dem die Sprache dem Dichter eine gewisse Möglichkeit zum Agieren verleiht, aber kokettiert mit der Tyrannei, oder ihr unterworfen ist, die Nähe zur Macht genießt oder an ihr leidet. Eine eindeutige interpretatorische Richtung ergibt sich nicht, sehr wohl aber die Suggestion eines Gefüges an Machtdynamiken, die auf verschiedenste Weisen auf Gesellschaft und Staatssystem zurückdeuten mögen. Beide Gedichte werden somit im Original wie in der Übersetzung maximal deutungsoffen gehalten. Dass trotz der so stark in den Vordergrund gedrängten metapoetischen Dimension die Übersetzungen ‚funktionieren‘ bzw. der Dialog der Gedichte und Übersetzungen sich konstituieren kann als Versuch, über den Umweg der anderen Sprache und des anderen Kulturraums auch die eigene Sprache und den eigenen Kulturraum zu reflektieren, zeigt aber auch noch einmal, dass die Autoren teilhaben an einem intensivierten Dialog der Gegenwartsdichtungen, in dem sprachliche Fremdheiten durchaus Herausforderungen bergen, aber verschiedene Mittel modernen und postmodernen lyrischen Sprechens von beiden Dichtern über Sprachgrenzen, in Anknüpfung an Texte aus dem eigenen und fremden Kulturraum erprobt und weiterentwickelt werden können.
|| 84 Vgl. ebd., S. 224f. Von Ammon weist auch darauf hin, dass das Gedicht ursprünglich in einer Reihe politischer Gedichte in der Zeit abgedruckt wurde. Nur scheint mir der „tyrannentraum“ Wagners sich nicht unbedingt auf den Gegenspieler des „giersch“ zu beziehen, immerhin geht es um die Blüte des Giersch selbst, sondern eher auf das bereits latente Gewaltpotenzial einer vom Marginalen ins Dominante ausgreifenden Macht.
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8.6 Intertext und Gegentext: Lea Schneiders Lyrik „made in China“ Die junge Dichterin Lea Schneider, die als Herausgeberin der mit mehreren anderen Übersetzern erarbeiteten Anthologie Chinabox 2017 von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung ausgezeichnet wurde, war bei dem oben genannten Dichtertreffen ebenfalls dabei. Ihre Dichtung zehrt in vieler Hinsicht von der Auseinandersetzung mit China. Sie sucht die chinesische Lyrik zu vermitteln, schreibt sie fort, konfrontiert sie mit Gegenentwürfen und schreibt sie untrennbar in ihre eigenen Texte ein. Schneider zeigt insbesondere Interesse an einer jungen Dichtung jenseits dessen, was sie als Standardrezeptionskategorien „Pflaumenblüte oder Dissident“ bezeichnet,85 also eine Wahrnehmung der chinesischen Dichtung ausschließlich als harmonische Naturimagination oder als Zeugnis des Widerspruchs gegen das Regime. Dass dieser Dualismus dem chinesisch-deutschen Lyrikdialog nicht gerecht wird, sollte die hier vorgelegte Arbeit deutlich gemacht haben. So oder so versucht Schneider, verschiedene Facetten der chinesischen Lyrik und Antwortmöglichkeiten darauf aufzuzeigen, sei es in Übersetzungen im engeren Sinne, wie in Chinabox, oder in Form eines „Gegengedicht[s]“ oder durch intertextuelle Verflechtung. „Gegengedichte“ (die Schneider nicht nur auf chinesische Texte schreibt) seien, so Schneider, Texte, die entstünden, „wann immer mich ein Text genug provozierte, um ihm in irgendeiner Form antworten zu müssen“,86 so im Fall eines Gedichtes des Taiwanesen Huang Fan 黃凡 (*1950), der in seinem „Glossar“ (Cihui 词汇) Assoziations- und Überraschungsmomente einzelner Begriffe im aufzählenden Duktus der Wörterbucheinträge auslotet: […] 道德,中年时不堪回首的公理,从它 可以推导出妻子、劳役和笑容 诗歌,诗人一生都在修缮的一座公墓 灰尘,只要不停搅动,没准就会有好运 孤独,所有声音听上去都像一只受伤的鸟鸣 自由,劳役之后你无所适从的空虚 门,打开了还有什么可保险的?87 […]
|| 85 So in ihrer Einleitung zu: Lea Schneider (Hg.), Chinabox. Neue Lyrik aus der Volksrepublik. Berlin 2016, S. 10–20, hier S. 10. 86 Lea Schneider, „Teil 3: Gegengedichte“, auf: Website des Verlagshauses Berlin, 29. März 2017, https://verlagshaus-berlin.de/teil-3–gegengedichte/ [30.03.2021]. 87 Ebd.
Intertext und Gegentext: Lea Schneiders Lyrik „made in China“ | 297
([…] Moral, ein Prinzip, das man in mittleren Jahren nicht ertragen kann zu erinnern, davon ableitbar sind Scheidungen, Zwangsarbeit und Lächeln Gedicht, ein Leben lang stellen Dichter ein Grabmal wiederher Asche, muss man unentwegt aufwühlen, vielleicht bringt das Glück Einsamkeit, alle gehörten Stimmen gleichen einem verletzten Vogel Freiheit, Leerraum nach der Zwangsarbeit, wenn man nicht weiß, was man tun soll Tür, was kann man denn noch versichern, wenn sie geöffnet ist? […] [Übers. S. L.])
Schneider überträgt das Gedicht nicht selbst, gesteht auch, viele der ‚großen‘ Begriffe bei Huang Fan „auf eine sehr männliche Art konservativ“ gefunden zu haben (ohne dies zu präzisieren), die Grundidee aber sei „grandios“.88 So versucht sie sich ebenso am Modus des Enzyklopädischen, wie Huang Fan Konkretes und Abstraktes zusammenführend: […] Berge, die: a) eine Drohgebärde; b) ein Vorwand für Eigentlichkeit. Peripherie, die: Der Ort, an dem Monster wohnen. Monster, das: Ein Wesen mit vielen Namen. Angst, die: Ein Monster ohne Namen. Übersetzung, die: Ein Trainingslager für Dreistigkeit.89
In beiden Fällen sind die Gedichte Versuche, gerade über den Duktus des Definitorischen, den scheinbar engstirnigsten Blick auf die Sprache, Assoziationen spielen zu lassen und damit genau die Begriffsfestlegung zu unterlaufen. Auch hier werden Sprachspiele wieder über Sprachgrenzen hinweggeführt. In Schneiders jüngster Prosagedichtsammlung, made in china (2020) erhebt die Dichterin das Sammeln diverser Eindrücke, Objekte, sprachlicher Versatzstücke und literarischer Zitate zum Grundprinzip. In loser Assoziation fügen
|| 88 Ebd. 89 Ebd.
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sich verschiedenste, offenbar autobiographisch fundierte und dezidiert subjektive Elemente zu einem gezielt lückenhaften Mosaik:90 also alles sammeln, weil alles in die sprache gehört: tee-eier, yóutiáo, die zensierten zeitungen am kiosk neben der metro-station gŭlóu, die niemand liest, die reportagen im nánfāng zhōumò und auf cáixìn, die alle lesen, die goldfischbecken und die elstern, die vor den tempeln stehen, ihre schwebenden schmuckflossen, das königinnenblau unterm flügelspiegel, am rand. vögel welcher farbe sind das, die ihr eigenes vergessen fortfliegen?91
Aufzählung und Kommentar greifen ineinander, entfalten weitere Assoziationen, so dass der Text von Alltäglichkeiten des chinesischen Straßenessens zur Frage der Presse springt, abgehandelt nur mit dem knappen Verweis auf die kritische Rezeptionshaltung der Chinesen, die sich auf die unabhängigeren Nachrichtenorgane verließen. Die Zeilenumbrüche garantieren einen fließenden Übergang ebenso wie Brüche innerhalb der Eindrücke, wenn der Text nahtlos überleitet zu anderen visuellen Fragmenten, die wiederum assoziativ überleiten in ein variiertes Zitat aus Xi Chuans 西川 Gedicht Nachtvögel (夜鸟): „vögel welcher farbe sind das, / die ihr eigenes vergessen fortfliegen?“ Schneider lässt dabei einen Vers aus dem Original aus, der den Text grammatikalisch korrekter lesen lässt, wenn auch immer noch vieldeutig, da „Vergessen“ hier Verb oder Objekt sein könnte. Eine mögliche Übersetzung wäre: „vögel welcher farbe sind es, / die tragend ihr Geheimnis / und [ihr] Vergessen fortfliegen“.92 Schneider spielt einerseits mit einer gewissen Wörtlichkeit – der im Deutschen eigenwilligen Konstruktion „vögel welcher farbe sind es“, transportiert also die chinesische Syntax ins Deutsche, nimmt die Sprache selbst als Teil des Mosaiks, das ihr Text erschafft. Zugleich streicht sie aber den mittleren Vers des Ausschnitts und liest den dritten gezielt ‚falsch‘, öffnet die Verse damit für neue Interpretationen in dieser irritierenden Konstruktion, in der unklar ist, ob dem || 90 Vgl. zu dem Gedicht auch meine Ausführungen in Landa, „(Alb-)Träume“, S. 321f. 91 Lea Schneider, made in china. Berlin 2020, S. 22. 92 是些什么颜色的鸟 / 带着它们的秘密 / 和遗忘飞离 (Xi Chuan 西川: Yeniao 夜鸟 [Nachtvögel], in: Xi Du 西渡 [Hg.]: Taiyang riji 太阳日记 [Tagebuch der Sonne]. Beijing 1991, S. 63f., hier S. 63). Schneiders gezielte Auslassung knüpft wohl an die englische Fassung Lucas Kleins an: „flying their secrets / and neglect away“: Xi Chuan, Notes on the Mosquito. Selected Poems, übers. von Lucas Klein. New York 2012, S. 37.
Horizont- und Perspektivverwischungen bei Marion Poschmann | 299
Vergessen entgegengewirkt wird oder ob es herbeigeführt wird. Das Zusammenwirken von Vergessen und Erinnerung, die Dynamik der Bewegung des Vogels spielen wohl auf die Strategie der Kombination ihrer eigenen Gedichte an, auf Techniken der Zusammenstellung des Ausschnitthaften, der Rekombination des Fragmentarischen. Permanent in Bewegung bleiben die Vögel, wie auch der Beobachterblick in dieser Gedichtsammlung, der verschiedenste Facetten zwischen Alltag, Landschaft, Privatem und Politik streift, gelegentlich länger innehält, um dann weitere Eindrücke auf sich einströmen zu lassen, ohne dabei jemals aber den Anspruch zu stellen, ein China letztgültig zu deuten oder zu repräsentieren.
8.7 Chinesische Klassik und/oder westliche Postmoderne? Horizont- und Perspektivverwischungen in Marion Poschmanns Geliehenen Landschaften Der Schwerpunkt hat sich zwar eindeutig von der klassischen Lyrik auf die Gegenwartsdichtung hin verschoben, obsolet geworden ist erstere aber nicht. Jürgen Theobaldy (vgl. Kapitel 7) beispielsweise kam 2015 auf die klassische Dichtung zurück, indem er mit Raffael Keller den Tang-Lyriker Liu Zongyuan übertrug.93 Spielerischer nähert sich Marion Poschmann einem Klassiker in ihren Geliehenen Landschaften, die verschiedenste reale und imaginäre Orte sowie Intertexte quer durch Raum und Zeit zum Ausgangspunkt neuer Konstellationen nehmen. Das Konzept der geliehenen Landschaft (jiejing 借景) weist Poschmann als chinesisch aus: Sie bezieht sich hier auf den chinesischen Gartenarchitekten Ji Cheng 计成 (1582–1642), der durch die Einbeziehung von Umgebungselementen in den Gartenbau „auf kleinstem Raum die ganze Weite und Kraft der Natur evozieren“ wollte. 94 In Poschmanns Gedichtband sind die „Landschaften“ sowohl realer Art als auch Textlandschaften, die sie als Kontrast- oder Bezugsfolie setzt, die weitere Perspektiven ergänzen oder auch dem Text einverleibt werden. So setzt „Hirschgehege, nach Wang Wei“ mit zwei durch Kursivierung als Zitat markierten Verszeilen ein: „Leerer Berg. Niemand ist sichtbar. / Nur menschliche Stimmen hallen herüber. (Landschaften, S. 91) Das Zitat entstammt einem der berühmtesten Gedichte der Tang-Zeit, das Eliot Weinberger zu sei-
|| 93 Vgl. Liu Zongyuan, Am törichten Bach. 94 Marion Poschmann, Geliehene Landschaften (im Folgenden im Fließtext zitiert als Landschaften). Berlin ²2016, S. 119.
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nem scharfzüngigen, in der Übersetzungswissenschaft zum Klassiker avancierten Essay 19 Ways of Looking at Wang Wei inspiriert hat, in dem er zunächst 19 (und in späteren Auflagen noch mehr) verschiedene Übersetzungen des 20. Jahrhunderts miteinander vergleicht. Poschmann dürfte den englischen Essay gekannt haben,95 der in der Einführung eine Interlinearversion aufführt.96 Ebenso mag Poschmann eine der Kopien der ursprünglichen Landschaftsgemälde gekannt haben, auf die Wang Wei die Gedichte seines Zyklus schrieb:
Abb. 3: Guo Zhongshu 郭忠恕, Kopie von Wang Weis Wang-Fluss-Bildern, Song-Dynastie, Palastmuseum Taibei, Taiwan, Ausschnitt
|| 95 Die für die deutsche Übersetzung des Essays entstandenen Annäherungen von weiteren deutschen Dichtern folgten erst später, in einer breit gefächterten Spannweite von eher traditionellen Ansätzen (Ilma Rakusa: „Leere Berge, niemand zu sehen, / nur jemandes Stimme ist da, wie ein Widerhall“) bis hin zu eigenwilligen Versuchen, den Text unter der Annahme einer primär technisch-medialen visuellen Anschauung umzuschreiben: Bei Sarah Wipauer soll das Moos „kopier[t]“ werden, bei Uljana Wolf blinkt das „moosdisplay“ zurück: Eliot Weinberger, Neunzehn Arten, Wang Wei zu betrachten. (Mit weiteren Arten), übers. von Beatrice Faßbender. Berlin 2019. Eliot Weinberger wären hierzu sicher einige bissige Bewertungen eingefallen, Rainald Simon versucht in einer Rezension, in Weinbergers Fußstapfen zu treten: „WIDER DAS AUFPOLSTERN oder Moos von Bergen, die Menschen riechen, von Rehen in der Grube kopiert aufs moosdisplay“, 4. November 1919, auf: https://www.fixpoetry.com/feuilleton/kritik/eliotweinberger/neunzehn-arten-wang-wei-zu-betrachten [28.01.2021]. Die Varianten zeugen (unabhängig davon, als wie gelungen man sie ansehen mag) sicher auch vom vielfach spielerischen Umgang und einer gewissen Scheu vor Klassiker-Übertragungen im engeren Sinne. 96 Weinberger (Ways, S. 19) gibt für die ersten zwei Verse folgende Worthilfen: Empty mountain(s),hills (negative) to see person, people But to hear person, people words, conversation sound, to echo.
Horizont- und Perspektivverwischungen bei Marion Poschmann | 301
Deutsche Fassungen lagen auch bereits mehrere vor, unter anderem eine von Günter Eich: Im Hirschpark Die waldigen Berge liegen verlassen, menschenleer, Nur Stimmen höre ich schallen von irgendwoher. Licht von der Abendseite zwischen die Stämme dringt. Über dem grünen Moose feurig es blinkt. (GW 4, S. 401)
Anstatt eine weitere Fassung dieses im Westen längst in verschiedenen Versionen bekannten Klassikers vorzulegen, ‚leiht‘ Poschmann sich das Tang-Gedicht bzw. zunächst dessen erste Hälfte, deren Bildkonstellation sie weitgehend wörtlich überträgt, zwar ohne Rücksicht auf Elemente wie Reim und Rhythmus, aber durchaus unter gezielter Umgehung der Nennung eines Ich (implizit ist ein Beobachter nur im Wahrnehmungsvorgang und in der Deixis von „herüber“).97 Während die Übersetzung zunächst einmal als separater, abgesetzter Teil als externes Element markiert ist, webt das Gedicht im weiteren Verlauf zusätzliche Anspielungen auf Wang Wei ein und lässt die eigene und die fremde Landschaft miteinander verschmelzen. Aber nicht nur einzelne Motive werden fortgesponnen, Poschmann experimentiert auch mit der aus dem Fehlen eines expliziten Beobachtersubjekts und der knappen, grammatikalisch losen Verskomposition im Chinesischen resultierenden „diffusion of distance“, wie Wai-lim Yip die ästhetische Perspektive beschreibt: Within this open space we can move freely and approach words from various vantage points to achieve different shades of the same aesthetic moment. We are given to witness the acting out of objects and events in cinematic fashion and stand, as it were, at the threshold of various possible meanings.98
|| 97 Zur Frage der Bedeutungsverschiebungen durch das „Ich“ in den meisten westlichen Übersetzungen vgl. Yue Dai, „The Art of Ambiguity and its Effect in Wang Wei’s Poem Lu Zhai“, in: International Journal of Languages, Literature and Linguistics 4/2 (2018), S. 101–106, hier S. 105. 98 Yip, Diffusion, S. 30. Poschmann könnte dieses Buch des chinesisch-amerikanischen Dichters und Literaturwissenschaftlers sogar gekannt haben. Unabhängig davon, ob dies der Fall
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So lauten die nächsten beiden der jeweils zweiversigen Strophen Poschmanns: Wir sind unter Felsen gestellt wie unter Arrest. Unter Verdacht. Du fütterst Karpfen auf der Terrasse mit Blick auf die Steilwand, den wolkenbedeckten Gipfel, der seine Energie aus der Umgebung zieht. (Landschaften, S. 91)
Der Text spielt von Anfang an mit einer Mehrfachperspektive bzw. einer Perspektivverwischung: Die Figuren treten als Beobachter und als Beobachtete in Erscheinung, wobei die Zuordnung der Pronomina zu einzelnen Figuren gezielt unklar gehalten ist. Wenn das „Wir“ gestellt ist, wird es zum Teil eines Bildes, beobachtet aus einer externen Perspektive, die vom Du ausgehen mag (das „mit Blick auf die Steilwand“ steht) oder aber von einer weiteren Person: So ist nämlich gar nicht klar, ob das „Wir“ auf eine konkrete Personengruppe referiert, ob es sich um eine Art existenzielle Feststellung handelt (‚wir Menschen‘) oder ob das „Wir“ ein Sprecher-Ich und das Du umfasst. Dann aber wäre die Frage, ob Ich und Du unterschiedlich positioniert sind, einander gegenseitig beobachten, oder ob sie aus einer weiteren Perspektive beide gegen den Hintergrund der Felswand zu sehen sind. Oder markiert das Du gar keine eigenständige Figur, sondern dient als Objekt einer Selbstansprache?99 Dafür würde beispielsweise sprechen, dass später von einem Geschenk, das „wir zum Geburtstag […] bekamen“ (Landschaften, S. 91), die Rede ist. Dann träfen im „Wir“ erlebende und beobachtende, interne und externalisierte Blickwinkel in ein und derselben Instanz zusammen. Wenn das Deutsche Subjektlosigkeit im Gedicht, die in der Tang-Lyrik eher die Regel als die Ausnahme ist, nur schwer realisieren kann, experimentiert Poschmann also mit mehrdeutigen Pronominalreferenzen und Perspektivwechseln, die auf die verschiedenen möglichen Blickwinkel verweisen und den Leser die Szene sowohl von außen als auch in Identifikation mit den einzelnen Figuren oder Ansichten derselben Figur verfolgen lassen. Meta-
|| ist, scheint sie ein Verständnis des Potenzials der chinesischen Perspektivgebung zu entwickeln, das mit dem Yips in einen Dialog tritt. 99 In dem Band wird durchaus auch in anderen Gedichten eine Innenperspektive einer externalisierten Selbstbeobachtung entgegengestellt, so dass teilweise zwischen „Ich“ und „Du“ oszilliert wird (vgl auch Andreas Erb, „Drei Verbeugungen oder: Über drei Neuerscheinungen von Marion Poschmann“, in: andererseits 5/6 [2016/2017], S. 235–242, hier S. 238); durch den Verzicht auf den „Ich“-Begriff im Singular scheint mir Poschmann in diesem Gedicht, und wohl durchaus in Auseinandersetzung mit ästhetischen Mitteln des klassischen chinesischen Gedichts, bei der Perspektivbrechung/-verunsicherung einen Schritt weiterzugehen.
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poetisch lässt sich darin andererseits das permanente Oszillieren zwischen direkter Wahrnehmung, Selbstbeobachtung und deren Beschreibung greifen. Das Chinesische evoziert einen Wahrnehmungsraum, in dem sich der Mensch in der Natur einem Zustand der Erleuchtung nähert, wo Leere greifbar erscheint, aber noch nicht erreicht ist. Der Titelort verweist auch auf einen Hirschpark in Sarnath, in dem Buddha lehrte; das Konzept der Leere bzw. der Lösung von der Erscheinung, das widerscheinende Licht in der zweiten Hälfte des Gedichts, beziehen sich zudem auf buddhistische Vorstellungen.100 Poschmann dagegen lässt das Ausgangsbild in Momente der Irritation, der Angst, der Bedrohung, aber auch der Faszination münden. Die ersten Verse lassen offen, wer hier eigentlich das „Wir“ sozusagen in eine Bildkonstellation gebracht habe oder woher die Bedrohung kommt. Eine mögliche Deutungsrichtung ist sicher, hier politische Untertöne hineinzulesen, Anspielungen auf Überwachungsmechanismen und totalitäre Kontrollversuche im gegenwärtigen China, die die Vorstellung eines harmonischen klassischen China unterlaufen. Allerdings ist dies sicher nur eine Lesart, die den Text als ganzen keineswegs dominiert. Auffällig ist insbesondere ein ambivalentes Verhältnis der Figuren zur Umgebung, einer wechselvollen Landschaft, die in sich Spuren der Zerstörung und Gefährdung trägt, aber dennoch eine Faszinationskraft entfaltet, der sich das Du nicht entziehen kann. Eine „Handvoll Öl“, „schillernd ausgebreitet auf dem Gartenteich“ als Geburtstagsgeschenk, habe das „wir“ einmal bekommen (Landschaften, S. 91), ein Bild, das auf Naturzerstörung ebenso verweist, wie es als Farbenspiel Pracht entfaltet, und das korrespondiert mit anderen Farb- und Lichtspielen, dem Ausatmen von „Reihen von kreisrunden Scheinwerfern“ – hier leitet der Text in die städtische Sphäre über, um später wieder über die Assoziationskraft des Vergleichs in den Wald zurückzukehren, zu einem […] Laubbaum, glitzernd im sinkenden Abendlicht, von dem plötzlich etwas auf dich herabfällt und dich beim Weitergehen behindert, dieses emphatische Glitzern, ein Fangnetz aus dünnem Lametta, das dich zappeln läßt in der Dunkelheit. (Landschaften, S. 91)
|| 100 Vgl. einführend Cai, How to Read, S. 207–209; Yue, „The Art of Ambiguity“, S. 103. Kubin übersetzt kongshan 空山, um diese philosophische Dimension wiederzugeben, mit „durchsichtiger Berg“ (Schatten, S. 32).
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Das Gedicht schließt also gewissermaßen mit einer freien Variation des Bildes von Wang Wei, der Widerspiegelung des Lichtscheins auf dem Moos bzw. Baum. Es schwankt hier in der Bewertung des Naturphänomens: Einerseits evoziert das Gedicht zunächst die Schönheit des Lichtspiels, die auf das Du einwirkt, doch wird dieser Einfluss mehr wie eine Gefangennahme imaginiert: Das „Fangnetz“ und das Zappeln lassen das Du dem Karpfen ähneln, rufen aber dadurch auch wieder das Bild des ölverseuchten Wassers in seiner Schönheit und zerstörerischen Macht auf. Das Du scheint nur teilweise bereit, sich der Ästhetik hinzugeben, es wird nicht am Weitergehen gehindert, sondern „beim Weitergehen behindert“. Das Sprachbild des Lametta wiederum unterläuft das ‚chinesische‘ Setting, er enthält auch unverkennbar eine ironische Note. Poschmanns Wang-Wei-Transformation bringt somit chinesische Klassik und westliche Postmoderne zusammen. Sie lässt ‚zeitlose‘ Elemente, Vergangenheit und Gegenwart aufeinanderprallen, postuliert und hinterfragt Naturschönheit und ihre erhabene und zugleich bedrohliche und bedrohte Macht. Dabei experimentiert sie mit sich überlagernden Figurenperspektiven, die das Konzept des lyrischen Ich verunsichern. Sie lässt Ironie und Ernst sich gegenseitig brechen und kreiert eine Unsicherheit, die sich als existenzielle lesen lässt, die auf die unklare Stellung des Menschen zur Umgebung verweist, politische Implikationen aber ebenso zulässt. Das ‚Leihen‘ von Text und Landschaft setzt dabei voraus, dass das chinesische Gedicht in den westlichen Kanon eingegangen ist bzw. der Leser durch das Anzitieren der ersten beiden Verse sich auf die Suche nach dem fremden Text begibt, um einen dynamischen poetischen Zwischenraum zu generieren. Ein Jahrhundert, nachdem die Begeisterung für die Tang- und Song-Lyrik ihren ersten Höhepunkt erreicht hat, sind also viele Texte durchaus schon in den westlichen Kanon miteingegangen, können aber wiederentdeckt, neu gelesen und fortgeschrieben werden.
8.8 Flugversuche in weltliterarischen Zwischenräumen Zwischen Paul Celan und Jehuda Amichai gibt es einen Du Fu; wir sollten einen Brunnen graben und ihn daraus nach oben ziehen. Es braucht Zeit, um Stimmen zu hören, die unter der Erde sind. Zwischen Jehuda Amichai und Thomas Tranströmer gibt es einen Wang Wei; Wir sollten ein Loch in die grünen Hügel graben, das ihn aus dem schlafenden Reich der Schlangen weckt. Zwischen Paul Celan und Thomas Tranströmer gibt es einen Li Shangyin;
Flugversuche in weltliterarischen Zwischenräumen | 305
Wir sollten den Stein aufbohren und mit der Vogelscheiße eines Jahrtausends ganz langsam ein Brot aus seinem Schatten backen.101
So heißt es in einem Gedicht des Gegenwartsautors Zang Di, „Gesellschaft für Flugversuche“ (试飞协会), hier in der Übertragung von Lea Schneider, einem Text, der ein kulturelles Gedächtnis anruft, dabei aber ironisch-irreverent die kanonisierten Dichter vereinnahmt. Zang Di verortet einige der bekanntesten Dichter der Tang- und Song-Zeit in den ‚Zwischenräumen‘, die bekannte westliche Dichter des 20. und 21. Jahrhunderts verbinden. Das Gedicht eröffnet also einen Echoraum zwischen Verbundenem und Unverbundenem, in dem diese Zwischenräume aufgebrochen werden. Einerseits müssen sie selbst freigelegt werden: Man mag die „Vogelscheiße eines Jahrtausends“ als festgefahrene Deutungstraditionen und Kanonisierungsprozesse begreifen, sowohl durch lange philologische Fortschreibungen, als auch durch eine Beschränkung auf einen Kulturraum und offensichtliche intertextuelle Linien, die die Deutungsmöglichkeiten sowohl der westlichen jüngeren Texte wie auch der klassischen chinesischen Texte einschränken. Aus diesem Umweg bzw. dieser Rückbesinnung und damit einhergehenden hermeneutischen wie dichterisch-kreativen Öffnung ergeben sich dagegen neue Dynamiken. Wenn Zang Di hier die intertextuellen Referenzlinien der Gegenwartsdichtung quer durch die westliche Welt spannt, sie zugleich aber in Richtung des klassischen chinesischen Kanons weiterzieht, entwirft er postmodern-spielerisch ein Plädoyer für Dialogräume, die Zeiten und Kulturen übergreifen, dabei ganz zentral von hermeneutischen Freilegungen und von Übersetzungsprozessen abhängen – und von der Fähigkeit, über die Distanz „Stimmen zu hören, die unter der Erde sind“, Beziehungen zu ermöglichen, unbekannten oder verborgenen Korrespondenzen wieder Resonanz zu verschaffen. Diese Dialogräume umfasen freilich, wie Zang Dis Gedicht nahelegt, wie aber auch in vielen Analysen der vorstehenden Kapitel deutlich wurde, weit mehr als solche zwischen zwei Sprach- und Kulturräumen, zwischen einzelnen Autoren oder zwischen zwei konkreten Einzeltexten. Ebenso wenig sind sie einseitig, sondern verlaufen in beide Richtungen – und von dort aus wieder weiter. Wenn der Fokus dieser Arbeit auf der produktiven Rezeption chinesischer Dichtung in der deutschen Lyrik lag, so ist klar, dass die Analysen nur einen (immerhin äußerst vielseitigen) Ausschnitt aus einer weitaus komplexe-
|| 101 Zang Di, „Gesellschaft für Flugversuche“, übers. von Lea Schneider, in: Lea Schneider (Hg.), Chinabox, S. 30. Im Original vom Dichter vorgetragen ist das Gedicht auch auf Lyrikline zugänglich: https://www.lyrikline.org/de/uebersetzungen/details/6065/11755 [29.03.2023].
306 | Reziproke Übersetzungen, Gegengedichte, Sprachspiele
ren weltliterarischen Konstellation aufgegriffen haben. Die Bewegungen in die Gegenrichtung, also die Aufnahme und produktive Transformation des lyrischen Formeninventars und Ausdrucksrepertoires der deutschen und europäischen Literatur durch chinesische Autorinnen und Autoren, wird vor allem von chinesischer Seite intensiv erforscht; beide kreativen Rezeptionslinien künftig noch stärker zueinander in Bezug zu setzen und damit die Wechselseitigkeit der Impulse herauszustellen, wäre ein lohnendes Ziel weiterer Forschungen. Im Bewusstsein der vielen noch unerforschten Querverstrebungen und Netzwerke wollte die vorliegende Studie in diesem Sinne dazu beitragen, Weltliteraturgeschichte nicht an Sprach- und Kulturgrenzen enden zu lassen, die die Werke selbst längst und mit produktivsten Erträgen überschritten haben.
Chinesische Dichternamen und zitierte Varianten Pinyin
Chinesisch
Varianten
Lebensdaten
Ai Qing
艾青
Ai Tssjin
1910–1996
Bai Juyi/Bo Juyi/Bai Letian
白居易/白乐天
Pe-Lo-Thien, Po Chü-I 772–846
Bei Dao/Zhao Zhenkai
北岛/赵振开
Dai Weina
戴潍娜
Ding Ling
丁玲
Ting-Ling
1904–1986
Du Fu
杜甫
Thu-fu, Thu-Fu, TuFu, Tu-fu
712–770
Duo Duo
多多
*1951
Gu Cheng
顾城
1956–1993
Guo Moruo
郭沫若
Kuo Mo-sho
1892–1978
He Jingzhi
贺敬之
Ho Dsin Tschi, Ho Djing-dshʼ
*1924
He Qifang
何其芳
1912–1977
Hu Shi
胡适
1891–1962
Huang Fan
黃凡
1950
Huang Tingjian
黄庭坚
1045–1105
Jiang Tao
姜涛
*1970
Lao She
老舍
1899–1966
Laozi
老子
Laotse, Lao-tse
Li Bai/Li Bo/Li Taibai/Li Taibo
李白/李白李
Li-tai-pe, Li Tai-po, Li 701–762 Tai Po, Li Po, Li-Po
Li Ji
李季
Li Chi
Liao Yiwu
廖亦武
*1958
Liu Chang
刘畅
*1973
Liu Ligan
刘立杆
*1967
Liu Xia
刘霞
*1961
Lu Xun
鲁迅
Lu Hsün, Lu Ssün
1881–1936
Mao Zedong
毛泽东
Mao Tse-tung
1893–1976
Pu Songling
蒲松龄
Pu Sungling
1640–1715
Qin Guan
琴观
Qu Yuan
屈原
Ruan Ji
阮籍
*1949 ?
ca. 6. Jh. v. Chr.
1922–1980
1049–1100 Kü Yüan, Kiu Yuan
ca. 340–278 v.Chr. 210–263
308 | Chinesische Dichternamen und zitierte Varianten
Pinyin
Chinesisch
Varianten
Lebensdaten
Shu Ting
舒婷
Schu Ting
*1952
Su Shi/Su Dongpo
苏轼/苏东坡
Su T’ung-po, Su Tung 1037–1101 Pʼo, Su Tung-p’o
Su Xun
苏洵
1009–1066
Tang Xiaodu
唐晓渡
*1954
Tian Jian
田间
1916–1985
Tian Jiaying
田家英
1922–1966
Tu An
屠岸
1923–2017
Wang Xijian
王希坚
1918–1995
Wen Yiduo
闻一多
1899–1946
Xin Qiji
辛弃疾
1140–1207
Yi Sha
伊莎
*1966
Yuan Mei
袁枚
1716–1798
Zang Di
臧棣
*1964
Zhu Zhu
朱朱
Zhuangzi
庄子
Zou Difan
邹荻帆
Yang Lian
*1969 Tschuang-tse, Dschuang dsi
4. Jh. v. Chr. 1917–1995
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Register Ai, Qing 艾青 (Jiang Zhenghan 蒋正涵) 88, 101, 110f., 144, 236, 252–260 Ai, Tssjin s. Ai, Qing Ai, Weiwei 艾未未 236 Alber, Sabine 195 Allsheimer, Georg 198 Amichai, Jehuda 304 Andersch, Alfred 197 Angelus Silesius 31 Apter, Emily 8 Arnim, Peter-Anton von 199 Astel, Arnfried 198 Bachmann, Ingeborg 166 Bai, Juyi 白居易 27, 34, 38, 40–42, 44–46, 49, 52–56, 60–65, 69, 73f., 86–88, 120, 124, 149, 186f., 256 Baqué, Egbert 207, 209, 219–227 Becher, Johannes R. 100, 263 Benjamin, Walter 19 Benn, Gottfried 8, 167, 203 Berendse, Gerrit-Jan 234f. Berman, Antoine 19f. Bethge, Hans 5, 14, 23, 28, 31f., 34, 93, 106, 145, 164 Bierbaum, Otto Julius 5 Biermann, Wolf 274 Bistué, Belén 18 Blasche, Karl 251f. Bloom, Harold 16 Blum, Klara 23, 82, 99–116, 160f. Bobrowski, Johannes 203 Böhm, Hans 38 Bostroem, Annemarie 235f., 255, 260 Boyd, Andrew 146, 149 Braun, Felix 38 Braun, Otto 119 Braun, Volker 250, 261–265 Braungart, Wolfgang 88 Brecht, Bertolt 3, 17, 23, 36, 38, 41, 43, 48–81, 83f., 86f., 98, 114, 117f., 120, 124–131, 143, 149, 153f., 156, 158, 163, 178, 205, 208f. Bretschneider, Marianne 238, 240, 251, 254, 257
https://doi.org/10.1515/9783111044088-011
Bridgewater, Patrick 49 Brohm, Holger 237, 259 Broich, Ulrich 14 Buch, Hans Christoph 200f. Buchheit, Sabine 167f., 171, 195 Bukowski, Charles 281 Bürger, Britta 274 Buselmeier, Michael 207 Cai, Hongjun 83 Cai, Zong-qi 13,103, 303 Campbell, Duncan M. 10 Celan, Paul 9, 18f., 166, 203, 276, 278, 280, 304f. Chan, Leo Tak-hung 15, 28 Cheie, Laura 165f., 177 Chiang, Hsüeh-wen 102 Chiang, Kaishek 蒋介石 89, 91, 128, 136, 139f., 217 Chingghis Khan 126, 128 Coetzee, J[ohn] M[axwell] 273 Cordingley, Anthony 18 Dabringhaus, Sabine 123, 137 Dai, Weina 戴潍娜 290 Damrosch, David 2, 8, 232 Dante Alighieri 51, 54 Darnton, Robert 237, 251, 258 Debon, Günter 12, 16, 20, 29, 103 Dehmel, Richard 3, 36f. Delius, F[riedrich] C[hristian] 117–119, 128, 162, 198 Denninghaus, Friedhelm 127 Detering, Heinrich 28, 55, 67, 86 Dietz, Karl 16 Ding, Ling 丁玲 101 Dornbacher, Rolf 199 Drews, Jörg 45, 206f. Dschu, Bailan s. Blum, Klara Dschuang Dsi s. Zhuangzi Du, Fu 杜甫 35, 38, 42, 44, 51,104f., 113, 175, 187, 304 Du, Yuming 杜聿明 91 Duan, Pingshan 段平山 210 Duo, Duo 多多 [Li Shizheng 栗世征] 266 Duras, Marguerite 276
340 | Register
Ebrecht, Katharina 74, 78f., 155 Eckermann, Johann Peter 9 Ehrenstein, Albert 3, 5, 27, 29–31, 34f., 38, 40–46, 55, 60, 69, 77, 84, 97f., 120 Eich, Günter 1, 3, 24, 121, 164–196, 203, 276, 301 Eichendorff, Joseph von 212 Eisler, Hanns 263 Eliot, T. S. 4 Endler, Adolf 235 Enzensberger, Hans Magnus 197–201, 218 Eoyang, Eugene Chen 4, 9 Erb, Elke 234 Fallersleben, August Heinrich Hoffmann von 43f. Fehse, Willi 167 Fessen-Henjes, Irmtraud 233, 236, 238, 240 Feuchert, Sascha 279 Feuchtwanger, Lion 82f. Florack, Ruth 22 Forke, Alfred 28, 33, 39, 173, 186–191 Frank, Armin Paul 2, 18 Frank, Rudolf 36f. Franke, Herbert 74f., 77 Frankenfeld, Christian 119 Frei, Bruno 241 Freise, Matthias 9 Frick, Werner 50f., 53, 55, 57–59, 67, 69, 72 Frigau Manning, Céline 18 Frost, Robert 8 Fu, Tianhai 付天海 49 Fühmann, Franz 235 Fürnberg, Louis 97f. Gautier, Judith 4, 38, 40f., 105, 174, 230 Gebhard, Walter 22, 31, 79, 164 Ginsberg, Allen 281f. Gnüg, Hiltrud 204, 206f. Goethe, Johann Wolfgang 3, 5, 8f., 27, 173, 175f. Gogol, Nikolaj Vasílʹevič 202 Graber, Lauren 156 Grimm, Reinhold 49, 65f. Grotewohl, Otto 252 Gruner, Fritz 250
Gu, Angelika 218, 222 Gu, Cheng 266 Gu, Zhengxiang 88, 172f., 187 Guevara, Che 250 Günther, Christiane C. 31 Guo, Maoqian 郭茂倩 102 Guo, Moruo 郭沫若 5, 160, 221, 223, 243f., 248 Guo, Yeemei 279 Guo, Zhongshu 郭忠恕 300 Gustafsson, Lars 218 Gutsche, Edda 83 Haizi 海子 [Zha Haisheng 查海生] 285 Han, Byung-Chul 9 Han, Wudi 汉武帝 126 Harmann, Marc 16 Hauser, Otto 172 He, Jingzhi 贺敬之 88 He, Qifang 何其芳 88 Hebbel, Friedrich 263 Heiduczek, Werner 250 Heilmann, Hans 31, 36f., 42f. Hein, Christoph 202 Heine, Heinrich 51f. Heinrich, Walter 40 Herder, Johann Gottfried 27f. Hermlin, Stephan 156, 218 Herzfeldt, Johanna 240, 262 Ho, Djing-dshʼ s. He, Jingzhi Ho, Dsin Tschi s. He, Jingzhi Hoffmann, Hans Peter 20, 25, 43, 164, 173, 190, 192f., 267, 272 Hölderlin, Friedrich 169f., 176 Höllerer, Walter 203 Holz, Arno 5 Holz, Hans Heinz 157 Hrdličková, Venceslava 84 Hsia, Adrian 28, 31, 99, 115, 237 Hu, Shi 胡适 5 Huang, Fan 黃凡 296f. Huang, Tingjian 黄庭坚 187f. Huchel, Peter 166, 194 Humboldt, Alexander von 268f. James I 32 Jandl, Ernst 282f. Jensen, Fritz 84f., 89, 98, 124–131, 143f. Ji, Cheng 计成 299
Register | 341
Jiang, Ningxin 290 Jiang, Tao 姜涛 290 John, Petra 254 Kafka, Franz 16, 264, 278 Kahlau, Heinz 234–236, 241–252, 254 Kaiser, Gerhard 170 Karsunke, Yaak 197 Kasack, Hermann 175f. Kaschnitz, Marie Luise 203 Keller, Raffael 231, 299 Kern, Martin 8 Khrushchev, Nikita S. 239 Kirsch, Sarah 25, 208, 218, 223–225 Kiu Yuan s. Qu, Yuan Klabund [Alfred Henschke] 3, 5, 20, 28– 31, 33–36, 38–40, 42, 52, 84, 98, 120, 164, 174 Klawitter, Arne 2, 11, 13, 41, 50 Klein, Lucas 29, 298 Kloepfer, Albrecht 49, 66–68, 86 Koenen, Gerd 135, 156f. Konfuzius 109 Kong Fu Tse s. Konfuzius Körner-Schrader, Paul 75–77 Korte, Hermann 40 Kraft, Gisela 25, 208, 218, 225f. Kraushaar, Frank 41, 67, 120, 122, 164f., 167, 172, 181, 191f., 287 Kreppel, Juliane 197 Kreuzer, Helmut 210 Krolow, Karl 2 Kü, Yüan s. Qu, Yuan Kubin, Wolfgang 5, 11, 20–23, 25, 31f., 47, 101, 108, 161, 174, 177, 179f., 184, 199f., 214f., 218, 222, 232, 253, 265–272, 303 Kunzelmann, Dieter 162 Kuo, Mo-Sho s. Guo, Moruo Lampart, Fabian 169f. Lamping, Dieter 9, 67 Lange, Thomas 21, 31, 100f., 114 Lao G 老 G [Ge Mingxia 葛明霞] 284f. Lao, She 老舍 [Shu Qingchun 舒慶春] 101 Laotse/Lao-tse s. Laozi Laozi 老子 31, 85 Laschen, Gregor 235 Lauer, Gerhard 14, 23, 28, 32f.
Lehmann, Wilhelm 167 Lenau, Nikolaus 177 Lenin, Vladimir Il’ič 76, 88, 141, 163, 263 Li Po/Li-Pos. Li, Bai Li Tai-po/Li Tai Po s. Li, Bai Li, Bai 李白 29, 33, 35–38, 41, 45, 51, 54, 105, 107, 191, 220 Li, Chi s. Li, Ji Li, Ji 李季 102 Li, Keqiang 李克强 274, 304 Li, Lisan 李立三 136 Li, Shangyin 李商隐 222 Li, Shuangzhi 14, 20 Liang, Yujing 281–283 Liao, Yiwu 廖亦武 271–274, 276, 280 Lin, Biao 林彪 119, 162, 239 Lin, Shu 林纾 15–17 Lippold, Eva 242 Li-tai-pe s. Li, Bai Liu, Bo 刘波 253 Liu, Chang 刘畅 290 Liu, Huiru 58 Liu, James J. Y. 178 Liu, James, T. C. 35 Liu, Ligan 刘立杆 290 Liu, Shaoqi 82, 98, 239 Liu, Xia 刘霞 272–280 Liu, Xiaobo 272, 289 Liu, Yazi 刘亚子 128, 150–152, 217 Liu, Zongyuan 柳宗元 231f., 299 Loerke, Oskar 167, 175 Lokatis, Siegfried 234f., 237f., 240, 251f., 257, 259 Lovell, Julia 123 Lu, Hsün s. Lu, Xun Lu, Ssün s. Lu, Xun Lu, Xun 鲁迅 [Zhou Shuren 周樹人] 15, 24f., 88, 43, 113, 124, 132, 197–233, 261–265 Lü, Yixu 14, 23, 28, 32f. Luckscheiter, Roman 123, 156f., 162f. Mahler, Gustav 28, 93, 105 Majakovskij, Vladimir Vladimirovič 94 Mao, Dun 茅盾 [Shen Dehong 沈德鸿] 228, 240f. Mao, Tse-tung s. Mao, Zedong
342 | Register
Mao, Zedong 毛泽东 7, 24f., 56, 74, 84, 88f., 93f., 102, 113–115, 117–163, 178, 180, 200–202, 212, 215–217, 219, 221, 236, 239f., 243f., 248, 254f., 264, 266, 269f., 276, 289 Marsch, Edgar 66, 68 Martin-Liao, Tienchi 274 Marx, Karl 163, 258 Mayer, Hans 49, 66, 82 McDougall, Bonnie S. 146, 253, 267, 270f. Mei, Yihua s. Müller, Eva Meinhoff, Ulrike 198 Meister, Franziska 74, 78 Merkel, Angela 273f. Mian, Mian 棉棉 [Wang Sheng 王莘] 267 Michel, Karl Markus 197f. Mo, Yan 莫言 [Guan Moye 管谟业] 267 Moretti, Franco 3 Mozart, Wolfgang Amadeus 293 Müller, Eva 83, 236, 241–253 Müller, Heiner 48, 73–81, 98, 153–156, 163, 173, 199 Müller, Herta 272–280 Neher, Caspar 176 Neumann, Robert 29 Ni, Moyan 倪墨炎 211f. Nietzsche, Friedrich 17, 167 Nijssen, Hub 164 Nirumand, Bahman 198 Novak, Helga M. 162 O’Hara, Frank 205f. Oelmann, Ute Maria 166, 195 Ovid 52–54 Owen, Stephen 8, 179 Pan-Hsu, Kui-Fen 31, 33, 36, 38, 42 Payne, Robert 120, 123 Pe-Lo-Thien s. Bai, Juyi Pfister, Manfred 14 Pfizmaier, August 28, 41f., 44, 46 Pieck, Wilhelm 100 Pinsky, Robert 273 Po Chü-I s. Bai, Juyi Popp, Steffen 290 Poschmann, Marion 299–304 Pound, Ezra 4f., 48, 54, 68f. Průšek, Jaroslav 84, 246 Pu, Songling 蒲松龄 74, 76
Pu, Sungling s. Pu, Songling Qian, Zhongshu 10, 15–17 Qin Shi Huangdi 秦始皇帝 126 Qin, Guan 琴观 187 Qu, Yuan 屈原 103f., 126, 174 Reichardt, Manfred 236, 254f., 257–260 Reichardt, Shuxin 236, 257, 260 Richter, Sandra 2, 101 Rou, Shi 柔石 213 Ruan, Ji 阮籍 74, 77f. Rückert, Friedrich 3, 27, 70 Sabest, Jakob s. Müller, Heiner Saechtig, Alexander 244 Said, Edward 22 Sandburg, Carl 68 Sander, Hans-Dietrich 238, 241, 244 Schäfer, Hans Dieter 165 Schafroth, Heinz 169 Scherner, Erhard 155, 244, 253f. Scherner, Helga 147, 151, 155 Schickel, Joachim 157–162, 200f. Schlaffer, Heinz 21 Schlegel, August Wilhelm 20 Schleiermacher, Friedrich 15 Schmidt, Kathrin 253f. Schmitz-Emans, Monika 165, 168, 195 Schneider, Lea 290, 296–299, 305f. Schneider, Rolf 145–156, 159f. Schreiber, Michael 14, 16f. Schu, Ting s. Shu, Ting Schuhmann, Klaus 66 Schumacher, Ernst 145–156 Schwarz, C. 258 Schwarz, Peter Paul 63, 65, 69–71 Schwitters, Kurt 27 Seghers, Anna 75, 91 Shakespeare, William 52f., 92 Shi, Jie 史节 49, 51, 59, 64, 128 Shi, Nai’an 施耐庵 240 Shu, Ting 舒婷 252f. Siao, Emi [Xiao San 萧三] 138f. Simon, Rainald 181, 283, 300 Sindermann, Horst 241f. Snow, Edgar 123, 142 Song, Rong 淞戎 216 Song, Shenzong 宋神宗 56, 177f. Song, Zhezong 宋哲宗 178
Register | 343
Spaulding, Daniel 156 Spivak, Gayatri Chakravorty 2 Stackelberg, Jürgen von 18, 187 Steinert, Uta 253f. Streffer, Michael 207, 220–228 Stuber-Berries, Nicole Françoise 237–239 Stumpfeldt, Hans 20 Su, Shi 苏轼 / Su Dongpo 苏东坡 1, 59, 166, 172–186, 188f. Su, T’ung-po/Su Tung Pʼo/Su Tung-p’o s. Su, Dongpo Su, Xun 苏洵 173 Sun, Yatsen 孙中山 136 Szondi, Peter 18 Tan Yuan 谭渊 49, 51, 58, 65 Tang, Xiaodu 唐晓渡 290 Tang, Xuanzong 唐玄宗 42 Tashinskiy, Aleksey 2, 20 Tatlow, Anthony 48–50,, 56–59, 61, 65, 67, 128 Teichmann, Klaus 75, 80 Thälmann, Ernst 76 Theobaldy, Jürgen 24f., 94, 113, 199, 201– 232, 299 Thu-fu/Thu-Fu s. Du, Fu Tian, Jian 田间 84, 88, 92, 94–98 Tian, Jiaying 田家英 88, 93 Ting-Ling s. Ding, Ling Toury, Gideon 17, 174 Trakl, Georg 167 Tranströmer, Thomas 304 Treppt, Eberhard 232 Tschiang, Kai Schek s. Chiang, Kaishek Tu, An 屠岸 [Jiang Bihou 蒋壁厚] 88, 92 Tu, Tu 涂途 84 Tu-Fu/Tu-fu s. Du, Fu Uhse, Bodo 82f. Valentin, Karl 120 van Crevel, Maghiel 29, 266, 271, 281f., 285 Vietta, Silvio 30, 33f. Villon, François 36, 50–52 Volland, Nicolai 7, 9, 233, 237, 266 von Ammon, Frieder 291, 294 von Petersdorff, Dirk 164, 168, 290 Wagner, Jan 175, 290–296
Waley, Arthur 4, 23, 29, 38, 41, 48–50, 54–69, 74, 78, 84, 86f., 129 Walkowitz, Rebecca L. 8 Wallraff, Günter 198 Walter, Judith s. Gautier, Judith Wang, Anshi 王安石 59, 177 Wang, David Der-wei 5, 122, 208 Wang, Jiuping 王久平 288 Wang, Wei 5, 299–304 Wang, Xijian 王希坚 88, 93 Wang, Yongpei 王永培 212f., 216f., 219, 221 Wang, Zhaoshan 王兆山 287 Wedding, Alex s. Weiskopf, Grete Wei, Hui 卫慧 267 Wei, Maoping 卫茂平 39, 43, 58, 164, 172, 175, 186f., 190, 193 Weidauer, Friedemann 129, 131 Weigelin-Schwiedrzik, Susanne 199, 201, 203, 216 Weinberger, Eliot 5, 299, 301 Weiniger, Clara 160 Weiskopf, F[ranz] C[arl] 23, 78, 82–101, 107, 113, 116, 131–145, 148, 216, 240, 243, 254 Weiskopf, Grete 138f. Wentscher, Dora 109 Werberger, Annette 9 Wilhelm, Richard 28, 49, 66f., 84–86, 120 Wipauer, Sarah 300 Wobst, Martina 239, 245 Woitsch, Leopold 27f., 186 Wolf, Uljana 300 Wu, An 吴安 124 Wu, Shengqing 122 Xi, Chuan 西川 298 Xi, Yang 希楊 92 Xiao, San s. Siao, Emi Xin, Qiji 辛弃疾 121 Xue, Siliang 12, 19, 41 Xue, Song 49, 54, 62, 64, 128, 131, 164, 193 Yamane, Keiko 164–166, 172 Yan, Fu 严复 15 Yang, Gladys 146 Yang, Haosheng 203 Yang, Lian 杨炼 266, 290–295
344 | Register
Yang, Xuhang 172 Yang, Zhidong 99–101, 105, 111, 114f., 160f. Yeh, Michelle 6, 21 Yi, Ming 怡明 92 Yi, Sha 伊沙 281–289 Yip, Wai-lim 10–12, 301f. Yuan, Aliang 袁阿良 175 Yuan, Mei 袁枚 175 Zach, Erwin Ritter von 20, 28f., 41 Zang, Di 臧棣 290, 304–306 Zang, Kejia 臧克家 122, 221 Zanucchi, Mario 39f. Zhang, Longxi 1, 10 Zhang, Penggao 160 Zhang, Qiang 张强 281 Zhang, Wei 126, 128, 131 Zhang, Wei 张渭 231 Zhou, Enlai 周恩来 84, 99, 146, 216, 239 Zhou, Yang 周扬 84f., 88, 90, 243f., 248 Zhou, Zhenfu 周振甫 122, 211 Zhu, De 朱德 255 Zhu, Zhu 朱朱 290 Zhuangzi 庄子 119f., 122 Zou, Difan 邹荻帆 88 Zou, Yunru 31, 40 Zürcher, Gustav 203f.