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German Pages VIII, 279 [283] Year 2020
Fritz Scholz Heike Kahlert
Chemische Gleichgewichte in der Analytischen Chemie Die Theorie der Säure-Base-, Komplexbildungs-, Fällungs-, Redoxund Verteilungsgleichgewichte 2. Auflage
Chemische Gleichgewichte in der Analytischen Chemie
Fritz Scholz · Heike Kahlert
Chemische Gleichgewichte in der Analytischen Chemie Die Theorie der Säure-Base-, Komplexbildungs-, Fällungs-, Redox- und Verteilungsgleichgewichte 2. Auflage
Fritz Scholz Institut für Biochemie, Universität Greifswald Greifswald, Deutschland
Heike Kahlert Institut für Biochemie, Universität Greifswald Greifswald, Deutschland
ISBN 978-3-662-61106-7 ISBN 978-3-662-61107-4 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-61107-4 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2018, 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt,auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Rainer Münz Springer Spektrum ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany
Inhaltsverzeichnis
1 Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 2 Das chemische Gleichgewicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 2.1 Die Herausbildung der Lehre vom chemischen Gleichgewicht. . . . . . . . . . 4 2.2 Warum spielen chemische Gleichgewichte eine besondere Rolle in der Konzentrationsanalytik?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 2.3 Kann man die Geschwindigkeit der Einstellung eines chemischen Gleichgewichts auch analytisch nutzen?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 2.4 Die thermodynamische Beschreibung des chemischen Gleichgewichts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 2.5 Die Rolle der Entropie für die Gleichgewichtslage. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 2.6 Die kinetische Beschreibung des chemischen Gleichgewichts. . . . . . . . . . 12 2.7 Reversibilität und Irreversibilität chemischer Reaktionen (chemischer Gleichgewichte). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 2.8 Katalyse – der „Zauberweg“, die Einstellung von Gleichgewichten zu beschleunigen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 2.9 Leitfaden zur rechnerischen Behandlung chemischer Gleichgewichte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 3 Säure-Base-Gleichgewichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 3.1 Die historische Entwicklung der Säure-Base-Theorien. . . . . . . . . . . . . . . . 17 3.2 Die Quantifizierung der Säure- und Basestärke auf der Basis der Brønsted-Lowry-Theorie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 3.2.1 Säure-Base-Konstanten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 3.2.2 Der pH-Wert. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 3.2.3 Die Stärke von Säuren und Basen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 3.2.4 Gesetzmäßigkeiten bei den Stärken anorganischer Säuren. . . . . . . 37 3.2.5 Gesetzmäßigkeiten bei den Stärken organischer Säuren und Basen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 3.2.6 Nichtwässrige Lösungsmittel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 V
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3.3 Die mathematische und grafische Beschreibung von Säure-Base-Gleichgewichten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 3.3.1 Ein- und mehrbasige Säuren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 3.3.2 pH-lgci-Diagramme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 3.3.3 Berechnung von pH-Werten in wässrigen Lösungen mit Näherungsgleichungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 3.3.4 pH-Werte von Salzlösungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 3.4 Der Protolysegrad und das Ostwald’sche Verdünnungsgesetz. . . . . . . . . . . 78 3.5 Säure-Base-Gleichgewichte von Aminosäuren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 3.6 Säure-Base-Gleichgewichte an Festkörperoberflächen. . . . . . . . . . . . . . . . 88 3.7 Pufferlösungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 4 Komplexgleichgewichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 4.1 Ein- und mehrzähnige Liganden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 4.2 Nebenreaktionskoeffizienten und effektive Stabilitätskonstanten. . . . . . . . 102 4.2.1 Nebenreaktionen der Liganden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 4.2.2 Nebenreaktionen der Metallionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 4.2.3 Konditionelle (effektive) Stabilitätskonstanten. . . . . . . . . . . . . . . . 105 4.2.4 Die pH-Abhängigkeit der Nebenreaktionskoeffizienten und der effektiven Stabilitätskonstanten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 4.3 Der Chelateffekt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 4.4 Biochemisch wichtige Metall-Chelatkomplexe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 4.4.1 Die Häme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 4.4.2 Chlorophylle. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 4.4.3 Cobalamine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 4.4.4 Zinkfingerproteine. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 4.4.5 Ionophore. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 4.5 Anwendungen von Komplex-Gleichgewichten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 5 Löslichkeitsgleichgewichte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 5.1 Die Sättigungskonzentration. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 5.2 Die pH-Abhängigkeit der Sättigungskonzentration. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 5.2.1 Die pH-Abhängigkeit der Sättigungskonzentration von Metallhydroxiden, -oxid-hydroxiden und -oxiden. . . . . . . . . . . . . . 127 5.2.2 Grafische Darstellung der Löslichkeit von Metallhydroxiden als Funktion des pH-Werts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 5.2.3 Löslichkeitsgleichgewichte von Metallhydroxiden in Anwesenheit von Komplexbildnern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 5.2.4 Die pH-Abhängigkeit der Sättigungskonzentration von Metallsulfiden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138
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5.3 Mitfällungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 6 Redoxgleichgewichte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 6.1 Quantitative Beschreibung von Redoxgleichgewichten. . . . . . . . . . . . . . . . 149 6.2 Berechnung der Gleichgewichtskonstanten beliebiger Redoxreaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 6.3 Formalpotenziale. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 6.3.1 Formalpotenziale, die nur Aktivitätskoeffizienten berücksichtigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 6.3.2 Formalpotenziale, die Aktivitätskoeffizienten und Nebenreaktionen (Nebengleichgewichte) berücksichtigen. . . . . . . 159 6.4 pH-abhängige Redoxpotenziale. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 6.4.1 Redoxgleichgewichte, an denen Säure-Base-Gleichgewichte beteiligt sind, die sich experimentell von den Elektronenübertragungen abtrennen lassen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 6.4.2 Redoxgleichgewichte, an denen Säure-Base-Gleichgewichte beteiligt sind, die sich experimentell nicht von den Elektronenübertragungen abtrennen lassen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 6.5 Beziehungen zwischen den Standardpotenzialen von Elementen mit mehreren Oxidationsstufen: Die Luther’sche Regel. . . . . . 169 6.6 Biochemische Standardpotenziale. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 6.7 Redoxpotenziale in nichtwässrigen Lösungsmitteln. . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 6.8 Grafische Darstellung von Redoxgleichgewichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 6.9 Kinetische Aspekte von Redoxgleichgewichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 7 Verteilungsgleichgewichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 7.1 Die Verteilung neutraler Moleküle. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 7.2 Die Verteilung von Salzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 7.3 Verteilung von Ionen zwischen der Oberfläche einer festen Phase und der angrenzenden flüssigen Phase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 7.4 Zusammenspiel von Verteilungsgleichgewichten mit homogenen Lösungsgleichgewichten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 7.5 Bedeutung von Verteilungsgleichgewichten für biologische Systeme . . . . 188 7.6 Anwendung von Verteilungsgleichgewichten in der Chemie . . . . . . . . . . . 189 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 8 Titrationen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 8.1 Historische Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 8.2 Allgemeine Theorie der Titrationen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195
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8.3 Titrationsvarianten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 8.3.1 Direkte Titration. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 8.3.2 Inverse Titration. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 8.3.3 Rücktitration. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 8.3.4 Substitutionstitration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 8.3.5 Indirekte Titration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 8.4 Theoretische Betrachtungen und grafische Darstellung des Verlaufs einer Titration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 8.4.1 Säure-Base-Titrationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 8.4.2 Komplexometrische Titrationen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 8.4.3 Fällungstitrationen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 8.4.4 Redoxtitrationen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 8.5 Indikationsverfahren für Titrationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 8.5.1 Klassische Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 8.5.2 Titrationsfehler bei klassischen Titrationen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 8.5.3 Instrumentelle Indikationsverfahren für Titrationen . . . . . . . . . . . . 251 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 Namensverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Stichwortverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269
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Einführung
Die Autoren legen hier die zweite Auflage des Lehrbuches „Chemische Gleichgewichte“ vor. Es wurde deutlich erweitert, u. a. um ein Kapitel über Verteilungsgleichgewichte, und Druckfehler der ersten Auflage wurden korrigiert. Chemische Gleichgewichte müssen auf der Grundlage der Gesetze der chemischen Thermodynamik beschrieben werden und sind damit ein Teil der Physikalischen Chemie. Im Laufe der letzten hundert Jahre hat sich jedoch eine Arbeitsteilung durchgesetzt, in der die Physikalische Chemie die chemischen Gleichgewichte insbesondere in Bezug auf die Zustandsgrößen, beispielsweise die Freie Enthalpie, die Enthalpie und Entropie, betrachtet, Temperatur- und Druckabhängigkeiten berechnet, Aktivitätskoeffizienten einbezieht usw., während die Analytische Chemie die chemischen Gleichgewichte vor allem unter dem Aspekt der chemischen Reaktionen und ihrer Anwendungen auf Titrationen und Gravimetrie, d. h. auf die klassischen analytischen Verfahren, abhandelt. Obwohl die Bedeutung dieser klassischen Analysenmethoden deutlich abgenommen hat, spielen sie immer noch – und wahrscheinlich auch zukünftig – eine wichtige Rolle in der Routineanalytik, aber auch als Basis von Standards für die instrumentellen Analysenverfahren. Aus der universitären Ausbildung von Chemikern sind sie nicht wegzudenken, da sie ein grundsätzliches Verständnis chemischer Reaktionen und chemischen Analysierens vermitteln. Die „Chemischen Gleichgewichte“ sind so zu einem festen Bestandteil der Analytischen Chemie geworden. Eine moderne Darstellung dieses Lehrgebietes muss aber auch ihre Bedeutung zum Verständnis der Umwelt- und Biochemie einschließen. Die mathematische Behandlung chemischer Gleichgewichte ist ebenfalls essenziell für die Technische Chemie, worauf hier nicht eingegangen werden kann. Ziel dieses Lehrbuches ist es, die Berechnung von Säure-Base-, Komplexbildungs-, Fällungs-, Redox- und Verteilungsgleichgewichten in Lösungen zu vermitteln. Das Buch enthält Literaturhinweise, damit der Stoff vertieft werden kann. Naturgemäß sind das nicht nur deutschsprachige Publikationen. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 F. Scholz und H. Kahlert, Chemische Gleichgewichte in der Analytischen Chemie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61107-4_1
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1 Einführung
Es ist uns ein besonderes Bedürfnis, Herrn PD Dr. Richard Thede, Universität Greifswald, Herrn Prof. Dr. Ingo Krossing, Universität Freiburg, und Frau Dr. Gisela Boeck, Universität Rostock, für die sorgfältige Durchsicht von Teilen des Manuskripts und für eine Vielzahl an Hinweisen und Verbesserungen zu danken. Herrn Dipl.-Chem. Dirk Dattler, Greifswald, danken wir für Hinweise auf Druckfehler in der ersten Auflage, sowie Prof. Dr. Winfried Hinrichs für die Durchsicht des Abschnitts zu biochemisch relevanten Komplexen und für die Anfertigung der Abbildungen 4.9 bis 4.11 und 4.13. Frau Anja Albrecht hat uns bei der Erstellung von Abbildungen, der Literaturbeschaffung und dem Anlegen des Index unterstützt. Beide Autoren erinnern sich mit Dankbarkeit an die Vorlesung „Chemische Gleichgewichte“, die sie an der Humboldt-Universität zu Berlin bei Prof. Dr. Günter Henrion gehört haben und die den Keim für dieses Buch gelegt hat. Wir gratulierten ihm mit der ersten Auflage zu seinem 85. Geburtstag am 3. Mai 2018.
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Das chemische Gleichgewicht
Der Begriff des Gleichgewichts wird in verschiedenen Wissenschaftsgebieten und der Umgangssprache in etwas unterschiedlicher Weise verwendet. In allen Fällen meint man aber, dass sich ein bestimmter Zustand bei konstanten äußeren Bedingungen nicht ändert. In der Ökonomie spricht man von einem Gleichgewicht des Marktes, wenn Angebot und Nachfrage sich entsprechen, d. h. es weder ein Über- noch ein Unterangebot gibt. Natürlich schließt dieses Marktgleichgewicht aber ständige Stoff-, Leistungs- und Geldflüsse zwischen den Produzenten und Konsumenten ein; es ist also kein statisches Gleichgewicht, sondern ein Fließgleichgewicht. In der Politik verwendet man den Begriff des Gleichgewichts der Kräfte, der bedeutet, dass zwei sich gegenüberstehende Parteien (Staaten oder Bündnisse usw.) über gleiche Potenziale (militärische, ökonomische oder politische usw.) verfügen, sodass kein aktiver Konflikt ausgetragen wird. In den Naturwissenschaften unterscheidet man generell abgeschlossene, geschlossene und offene Systeme. In abgeschlossenen Systemen findet weder ein Stoff- noch Energieaustausch mit der Umgebung statt, in geschlossenen nur ein Energieaustausch und in offenen Systemen werden sowohl Stoffe als auch Energie mit der Umgebung ausgetauscht. In geschlossenen Systemen kann ein statisches Gleichgewicht vorliegen, wie beispielsweise das physikalische Gleichgewicht, das man beobachtet, wenn zwei gleiche Massen auf den beiden Waagschalen einer Waage bei gleicher rechter und linker Balkenlänge ein Gleichgewicht der Kräfte garantieren. Ein chemisches Gleichgewicht zwischen den Ausgangsund Endstoffen einer chemischen Reaktion in einem geschlossenen System bei konstanten Systemparametern (Volumen v, Temperatur T, Druck p) ist einerseits makroskopisch durch völlige Konstanz der Konzentrationen der beteiligten Stoffe gekennzeichnet. Mikroskopisch (d. h. hier auf atomarer und molekularer Ebene) werden die Hin- und Rückreaktionen jedoch mit konstanter und gleicher Geschwindigkeit ablaufen (dynamisches Gleichgewicht), seien diese auch noch so langsam. Man kann daher chemische Gleichgewichte © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 F. Scholz und H. Kahlert, Chemische Gleichgewichte in der Analytischen Chemie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61107-4_2
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2 Das chemische Gleichgewicht
einerseits thermodynamisch betrachten, d. h., die Konstanz bestimmter extensiver Zustandsgrößen (z. B. der Freien Enthalpie g) als Gleichgewichtskriterium verwenden. Oder man kann sie kinetisch betrachten und die Gleichheit der Geschwindigkeiten der Hinund Rückreaktion als Kriterium des Gleichgewichts anlegen. Natürlich spielen auch in biologischen Systemen chemische Gleichgewichte eine grundlegende Rolle, aber die höhere Organisationsebene und Komplexität biologischer Systeme, die immer auch offene Systeme sind, führt hier dazu, dass Fließgleichgewichte dominieren. Ein Fließgleichgewicht, d. h. ein stationärer Zustand (engl.: steady-state), liegt in einem Teilsystem vor, wenn durch Stoffflüsse und Stoffumwandlungen in dem Teilsystem eine Konstanz bestimmter Parameter (das können die Temperatur und der Druck sein, aber auch bestimmte Stoffkonzentrationen) erreicht wird. Die aktive Aufrechterhaltung eines solchen stationären Zustandes ist ein spezieller Fall der Selbstregulation und wird als Homöostase bezeichnet.
2.1 Die Herausbildung der Lehre vom chemischen Gleichgewicht Der unterschiedliche Charakter chemischer Reaktionen zwischen zwei Stoffen hat die Menschen von Beginn an interessiert [1]. Bereits im Mittelalter ist der Begriff der Affinität, im Deutschen Verwandtschaft (auch Wahlverwandtschaft) benutzt worden (Albertus Magnus 1200–1280), um die Reaktivität zwischen zwei Stoffen mit dem Grad ihrer Verwandtschaft zu begründen. Diese Anschauungen gehen aber schon auf die Antike zurück, und die Anfänge liegen im Dunkel der Geschichte. Heute wissen wir, dass man Reaktivität sowohl thermodynamisch durch die Gleichgewichtslage der Reaktion als auch kinetisch durch die Geschwindigkeit der Gleichgewichtseinstellung charakterisieren kann. Der lange historische Weg vom zunächst nicht klar definierten Begriff Affinität bis zur physikalischchemischen Beschreibung chemischer Reaktionen in den Begriffen der chemischen Thermodynamik und chemischen Kinetik kann hier nicht detailliert dargelegt werden. Es sei aber erwähnt, dass die Suche nach einer Quantifizierung der Affinitäten durch die Erkenntnisse der Thermodynamik (Hauptsätze) und Kinetik schließlich Klarheit darüber brachte, dass man bei chemischen Reaktionen zwischen der Gleichgewichtslage und der Geschwindigkeit der Gleichgewichtseinstellung unterscheiden muss. Für die Beschreibung der Thermodynamik chemischer Gleichgewichte ist der Begriff der Affinität nicht notwendig und wir werden uns nur der molaren Freien Enthalpie G bedienen, die einen unmittelbaren Bezug zur Gleichgewichtskonstante K, d. h., der Gleichgewichtslage hat. Affinität Affinis (Nomen) bedeutet im Lateinischen Komplize, Nachbar, Verschwägerter und affinis (Adjektiv) hat entsprechend die Bedeutung angrenzend, beteiligt, mitschuldig, verschwägert, vertraut, verwandt.
2.1 Die Herausbildung der Lehre vom chemischen Gleichgewicht
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In der chemischen Thermodynamik bezeichnet man heute die negative partielle Ableitung der molaren Freien Enthalpie nach der Umsatzvariablen (Reaktionslaufzahl) ξ als Affinität A:
Gl. 2.1
A = − ∂G ∂ξ T , p .
Nach de Donder (Théophile Ernest de Donder, 1872‒1957, belgischer Physiker und Physikalischer Chemiker) ist die Affinität dadurch definiert, dass ihr Produkt mit der Änderung der Umsatzvariablen ξ die Änderung der nichtkompensierten Wärme Q′ ist:
dQ′ = Adξ .
Gl. 2.2
Die nichtkompensierte Wärme ist durch die Entropieproduktion di S der chemischen Reaktion gegeben:
di S = dQ′ T .
Gl. 2.3
Damit ergibt sich für die zeitliche Änderung der Entropieproduktion:
Gl. 2.4
di S dt
=
1 dQ′ T dt
=
A dξ , T dt
d. h., man kann auch schreiben:
Gl. 2.5
A=
dQ′ dt
dξ dt
.
Die Affinität ist eine Zustandsgröße. Für eine Reaktion A + B ⇄ C + D ist Gl. 2.1 gleichbedeutend mit: A(ξ ) = µA (ξ ) + µB (ξ ) − µC (ξ ) − µD (ξ ). Hier bezeichnet µi (ξ ) das chemische Potenzial der Reaktionspartner i bei einer bestimmten Umsatzvariablen. Die Affinität ist null im Gleichgewichtszustand. Die Affinität ist größer null, wenn die Reaktion von links nach rechts abläuft, und kleiner null, wenn sie von rechts nach links abläuft, um den Gleichgewichtszustand zu erreichen.
Meilensteine auf dem Weg zu den modernen Anschauungen des chemischen Gleichgewichts waren [2, 3]: 1704: Isaac Newton (1643–1726) vermutet hinter den chemischen Reaktivitäten Kräfte, die ähnlich der Gravitationskraft wirken [4]. 1718: Étienne François Geoffroy (1672–1731) publiziert Affinitätstabellen, in denen er die Stoffe nach ihrer gegenseitigen Affinität anordnete [5]. 1777: Carl Friedrich Wenzel (1740–1793) beurteilt die Affinität anhand der Geschwindigkeit von Reaktionen und stellt bei der Auflösung von Metallen in Säuren fest, dass diese sowohl von der Art der Säure als auch von ihrer Quantität (!) abhängt [6]. ~1800: Claude Louis Berthollet (1748–1822) beschreibt umkehrbare chemische Reaktionen und erkennt, dass neben den Affinitäten auch die eingesetzten Stoffmengen Einfluss auf chemische Reaktionen haben (wir würden heute sagen, auf die Gleichgewichtslage) [7].
6
2 Das chemische Gleichgewicht
1862: Marcelin Pierre Eugène Berthelot (1827–1907) und Léon Péan de Saint-Gilles (1832–1863) publizieren Untersuchungen zur Bildung und Zersetzung von Ethern zum Zwecke der Quantifizierung der Affinitäten [8]. 1867: Cato Maximilian Guldberg (1836–1902) und Peter Waage (1833–1900) leiten das Massenwirkungsgesetz für das chemische Gleichgewicht ab [9]. 1869–1881: August Friedrich Horstmann (1842–1929) wendet den 2. Hauptsatz der Thermodynamik auf chemische Reaktionen an [10]. 1874–1878: Josiah Willard Gibbs (1839‒1903) formuliert die Grundlagen der Thermodynamik der Gleichgewichte [11]. Die Arbeiten finden jedoch zunächst wegen ihrer Abstraktheit und des Publikationsmediums wenig Beachtung. Gibbs führt die Zustandsgröße „chemisches Potenzial“ µi einer Komponente i ein. Das chemische Potenzial hängt mit der Freien Enthalpie G wie folgt zusammen:
Gl. 2.6
µi =
∂G
T , p, nj
∂ni
(ni: Objektmenge der Komponente i). 1877: Hermann von Helmholtz (1821‒1894) publiziert die Gleichung
Gl. 2.7
E = k log ccca ,
die die Potenzialdifferenz E einer galvanischen Konzentrationskette (ca: Gleichgewichtskonzentration der Metallionen im Anodenraum, cc: Gleichgewichtskonzentration der Metallionen im Kathodenraum) beschreibt, allerdings noch ohne zu erkennen, welche Größen sich in der Konstante k verbergen [12] 1882: Hermann von Helmholtz publiziert die Gleichung, die in den unterschiedlichen Formen, z. B.:
Gl. 2.8
∂A ∂T v = −S, ∂G ∂T p = −S,
Gl. 2.9
H = G + T S
usw.
(A: Freie Energie, H: molare Enthalpie) heute den Namen Gibbs-Helmholtz-Gleichung trägt, obwohl sie bis 1882 explizit nur von Helmholtz abgeleitet wurde [13]. Später wurde gezeigt, dass sie implizit in Gibbs’ Publikation [11] enthalten ist [14, 15]. 1884: Jacobus Henricus van’t Hoff (1852–1911) erkennt, dass die maximale Nutzarbeit einer chemischen Reaktion das Maß für die Affinität zwischen den reagierenden Stoffen ist. Er leitet die Beziehung für die Temperaturabhängigkeit der Gleichgewichtskonstante ab [16]. 1889: Walther Nernst (1864‒1941) leitet im Rahmen seiner bei Wilhelm Ostwald (1853‒1932) in Leipzig angefertigten Habilitationsarbeit [17, 18] eine Gleichung
2.1 Die Herausbildung der Lehre vom chemischen Gleichgewicht
7
ab, die die Potenzialdifferenz an einer Metall|Metallionen-Grenzfläche beschreibt. In moderner Schreibweise ist sie heute als Nernst-Gleichung bekannt:
Gl. 2.10
⊖ EMen+ / Me = EMe n+
/ Me
+
RT nF
ln aMen+
⊖ (EMen+ /Me: Potenzialdifferenz gegen eine Standardwasserstoffelektrode, EMe : n+ /Me Standardpotenzialdifferenz gegen eine Standardwasserstoffelektrode, R: allgemeine Gaskonstante, n: Anzahl beteiligter Elektronen, F: Faraday-Konstante, aMen+: Aktivität der Metallionen in der Lösung). Später wurde erkannt, dass diese Gleichung verallgemeinert werden kann. 1892: Walther Nernst zeigt [19], dass auch die Potenzialdifferenz, die an der Grenzfläche eines Salzes mit seiner Lösung hervorgerufen wird, ebenfalls durch eine der NernstGleichung (Gl. 2.10) analoge Beziehung berechenbar ist, was später (1902) durch seinen Schüler Hermann Riesenfeld (1877‒1957) in seiner bei Nernst angefertigten Doktorarbeit auf die Potenzialdifferenz an der Grenzfläche zweier nichtmischbarer Elektrolytlösungen angewendet wurde [20]. 1893: Rudolf Peters (1869–1937) leitet im Rahmen seiner bei Wilhelm Ostwald in Leipzig angefertigten Doktorarbeit [21] eine Gleichung ab, die die Nernst-Gleichung auf gelöste Redoxsysteme anwendbar macht:
Gl. 2.11
⊖ + EMem+ Me(m−n)+ = EMe m+ Me(m−n)+
RT nF
ln
aMem+ aMe(m−n)+
(hier formuliert für Metallionen unterschiedlicher Oxidationsstufen). 1901, 1907, 1908: Gilbert Newton Lewis (1875‒1946) [22–24] erkennt, dass der Partialdruck eines Gases oder die Konzentration einer gelösten Spezies nur näherungsweise und allgemein unzulänglich als Maß für die Tendenz genommen werden kann, eine bestimmte Phase zu verlassen, d. h. in eine zweite Phase überzugehen. Lewis schlug daher den Begriff ‚fugacity‘ (engl.: Vergänglichkeit oder Flüchtigkeit, im Sinne von Tendenz eine Phase zu verlassen) vor. Später [23] hat er den Begriff fugacity (dt.: Fugazität) auf Gase beschränkt und für Lösungskonzentrationen den Begriff activity (dt.: Aktivität) eingeführt. Das ging einher mit der Einführung der Fugazitätskoeffizienten und Aktivitätskoeffizienten, als Proportionalitätsfaktoren zwischen Partialdruck und Fugazität einerseits und Konzentration und Aktivität andererseits. Waren die Fugazitäten und Aktivitäten zunächst nur definiert worden, um empirisch mit ihrer Hilfe die Gesetze der chemischen Thermodynamik und insbesondere das Massenwirkungsgesetz exakt anwenden zu können, so entwickelte sich daraus später ein ganzes Theoriegebäude [25] zur Berechnung von Aktivitätskoeffizienten, z. B. die Debye-Hückel-Theorie und ihre Verfeinerungen.
8
2 Das chemische Gleichgewicht
2.2 Warum spielen chemische Gleichgewichte eine besondere Rolle in der Konzentrationsanalytik? Ziel der Konzentrationsanalytik ist die möglichst fehlerfreie Bestimmung von Objektmengenkonzentrationen oder Objektmengen. Dazu sollten diese unter gegebenen Umständen (Temperatur, Druck, Lösungszusammensetzung) genau definiert und konstant sein. Das kann nur garantiert werden, wenn sich die chemischen Gleichgewichte eingestellt haben. Bei sich nicht im Gleichgewicht befindlichen Systemen können kleinste Änderungen im Experiment, z. B. die Anwesenheit von Katalysatoren oder kleinste Temperaturabweichungen, schon zu erheblichen Änderungen der Konzentrationen chemischer Spezies führen. Methoden, die auf eingestellten chemischen Gleichgewichten beruhen, bieten daher eine besonders verlässliche Basis für die Analytik.
2.3 Kann man die Geschwindigkeit der Einstellung eines chemischen Gleichgewichts auch analytisch nutzen? Ja, das ist möglich und wird bei allen kinetischen Analysenverfahren genutzt. Solche Methoden bezeichnet man im Bereich anorganischer Stoffe zusammenfassend als Katalymetrie [26, 27], während bei biochemisch relevanten Stoffen von Enzymatischer Analytik [28] gesprochen wird. Bei diesen Methoden ist eine besonders sorgfältige Kontrolle der experimentellen Bedingungen sehr wichtig. Sie erweitern die analytischen Möglichkeiten, indem neben Substratbestimmungen auch die Bestimmung der Konzentration von Katalysatoren (Enzymen) möglich wird. Diese Methoden sind nicht Gegenstand dieses Lehrbuchs.
2.4 Die thermodynamische Beschreibung des chemischen Gleichgewichts Für chemische Reaktionen, die bei konstantem Druck und konstanter Temperatur ablaufen, ist die Zustandsgröße molare Freie Enthalpie (im Englischen free energy oder Gibbs energy) G wie folgt definiert:
Gl. 2.12
G = U + pV − TS
(U : molare innere Energie). Im Folgenden bezeichnen Großbuchstaben der physikalischen Größen immer molare Größen, auch wenn darauf nicht explizit verwiesen wird. Die Summe aus innerer Energie und Volumenarbeit ( pV ) bezeichnet man auch als Enthalpie H , weshalb man die Gl. 2.12 auch so schreiben kann:
Gl. 2.13
G = H − TS.
2.4 Die thermodynamische Beschreibung des chemischen Gleichgewichts
9
Für eine chemische Reaktion gibt man die Änderungen der Zustandsgrößen wie folgt an:
Gl. 2.14
R G = R H − T R S
Während man über den Absolutwert der Freien Enthalpie keine Aussage machen kann (dazu müsste man die Energie des Systems am absoluten Nullpunkt kennen), lassen sich die relativen Änderungen (G) genau angeben. Abb. 2.1 zeigt die Änderungen von g als Funktion des Reaktionsgrads für eine chemische Gleichgewichtsreaktion
Gleichgewicht 2.1
A+B⇄C+D
Die Änderung der Freien Enthalpie R G einer chemischen Gleichgewichtsreaktion kann man in zwei Teile zerlegen, eine Standardgröße R G⊖ und ein Überführungs glied RT ln aiνi, das die Abhängigkeit von den Aktivitäten ai der beteiligten Stoffe i i
berücksichtigt:
Gl. 2.15
�R G = �R G⊖ + RT ln
i
aiνi
(ν: Stöchiometriekoeffizienten der Gleichgewichtsreaktion). Setzt man in Gl. 2.15 die Gleichgewichtsaktivitäten ai, eq ein, so ist der Ausdruck aiνi i gleich der Gleichgewichtskonstante K :
Gl. 2.16
K=
i
ai,νi eq .
Gl. 2.16 ist eine allgemeine Schreibweise des Massenwirkungsgesetzes. Wendet man diese Formel auf das Gleichgewicht 2.1 an und berücksichtigt, dass im Gleichgewicht R G = 0 ist, so ergibt sich Gleichung 2.17.
Abb. 2.1 Änderung der Freien Enthalpie für das chemische Gleichgewicht A + B ⇄ C + D. α ist der Reaktionsgrad, definiert als Verhältnis der aktuellen Umsatzvariablen (auch Reaktionslaufzahl i genannt) ξ = dn zur maximalen Umsatzvariablen ξmax (ni: Objektmenge der Komponente i). αeq νi bezeichnet den Reaktionsgrad im Gleichgewichtszustand
10
2 Das chemische Gleichgewicht
Gl. 2.17
K=
aC, eq aD, eq aA, eq aB, eq
= e−
R G⊖ RT
(für die Stöchiometriekoeffizienten gilt: νA = νB = −1 und νC = νD = +1). Abb. 2.1 zeigt den Verlauf der Freien Enthalpie ohne Berücksichtigung des Reaktionswegs, d. h. ohne Berücksichtigung der Freien Enthalpie der Aktivierung. Für die meisten in der Analytischen Chemie genutzten Reaktionen sind die Freien Aktivierungsenthalpien so klein (bei Raumtemperatur), dass eine nahezu momentane oder zumindest sehr schnelle Gleichgewichtseinstellung erfolgt. Über Ausnahmen siehe die Ausführungen im Abschn. 2.7. Bei Abb. 2.1 ist zu berücksichtigen, dass als Rückreaktion die Reaktion eines reinen Gemischs der Produkte C und D zum Gleichgewichtszustand, in dem A, B, C und D in ihren Gleichgewichtsaktivitäten vorliegen, definiert ist. Oftmals wird als Rückreaktion auch der Übergang des Gleichgewichtszustands in den Ausgangszustand (nur A und B) bezeichnet. Welche Größen sind in einem chemischen Gleichgewicht gleich?
Für ein chemisches Gleichgewicht νA A + νB B ⇄ νC C + νD D könnte der Begriff Gleichgewicht suggerieren, dass in diesem Zustand gleiche Massen oder vielleicht gleiche Objektmengen der Ausgangsstoffe und Endprodukte vorliegen, was allerdings vollkommen falsch ist! Eine Antwort gibt die chemische Thermodynamik, die das chemische Potenzial µi einer Komponente i wie folgt definiert: ∂g Gl. 2.18 µi = ∂n i T , p, nj
Das chemische Potenzial drückt also aus, wie groß die differenzielle Änderung der Freien Enthalpie g des Systems bei einer differenziellen Änderung der Anzahl Teilchen ni der Komponente i bei Konstanthaltung von Temperatur T , Druck p und Teilchenzahlen nj aller anderen Komponenten ist. Da der Gleichgewichtszustand dadurch gekennzeichnet ist, dass sich die Freie Enthalpie des Systems nicht ändert, also (dg)T , p = 0 ist, muss für die chemischen Potenziale gelten:
Gl. 2.19
−|νA |µA − |νB |µB + |νC |µC + |νD |µD = 0
(das negative Vorzeichen der ersten beiden Terme ergibt sich, weil die Ausgangsstoffe abnehmen, wenn die Produkte gebildet werden). Schreibt man Gl. 2.19 wie folgt:
Gl. 2.20
|νA |µA + |νB |µB = |νC |µC + |νD |µD
wird klar, dass im Gleichgewicht die Summen der chemischen Potenziale der Ausgangsstoffe und Produkte (multipliziert mit den jeweiligen Stöchiometriekoeffizienten) gleich sind (siehe Abb. 2.2).
11
2.5 Die Rolle der Entropie für die Gleichgewichtslage
nA + nB nC + nD
ν A µA + ν B µB
ν C µC + ν D µ D
Abb. 2.2 Im Zustand des chemischen Gleichgewichts sind nicht die Objektmengen der Ausgangsstoffe und Endprodukte gleich, sondern die Summen der chemischen Potenziale der Ausgangsstoffe und Produkte multipliziert mit den jeweiligen Stöchiometriekoeffizienten
2.5 Die Rolle der Entropie für die Gleichgewichtslage Rudolf Clausius (1822‒1888) hat den Begriff Entropie für den Quotienten dQ/T aus Wärmemenge dQ und absoluter Temperatur T eingeführt, und gezeigt, dass diese Größe eine Zustandsfunktion definiert, die in abgeschlossenen Systemen freiwillige von unfreiwilligen Prozessen unterscheidet, indem bei ersteren, d. h. bei freiwilligen Prozessen, immer eine Entropiezunahme stattfindet. In geschlossenen Systemen gibt es auch freiwillige Prozesse mit Entropieabnahme, wenn diese durch eine sehr negative Enthalpie überkompensiert wird. Die Entropie ist bei sehr vielen chemischen Reaktionen von großer Bedeutung, da sie häufig der entscheidende Faktor für die Lage eines Gleichgewichts ist. Dafür genügt ein Blick auf die Gleichungen
Gl. 2.14
R G⊖ = R H ⊖ − T R S ⊖
und
Gl. 2.17 Gl. 2.21
K = e− K =e
R G⊖ RT
−R H ⊖ +T R S ⊖ RT
Für eine Reaktion mit positivem R S ⊖ ist der Term T R S ⊖ oft wesentlich wichtiger als der Term −R H ⊖ und der Exponent in Gl. 2.21 wird positiv und damit kann die Gleichgewichtskonstante sehr große Werte annehmen. Verallgemeinert kann man sagen, dass, sofern die Enthalpieänderung R H ⊖ keine größere Bedeutung hat, bei einer Gleichgewichtsreaktion die in Abb. 2.3 gegebenen Relationen zwischen den Ordnungszuständen der Ausgangsstoffe und der Produkte einen Hinweis auf die Gleichgewichtslage geben.
12
2 Das chemische Gleichgewicht
Abb. 2.3 Auswirkung des Ordnungsgrads der Ausgangsstoffe und Produkte auf die Gleichgewichtslage, wenn der Beitrag der Reaktionsenthalpie gegenüber dem der Reaktionsentropie vernachlässigbar (oder mindestens klein) ist
Die Entropiezunahme ist bei den Kondensationsreaktionen von Metallaquakomplexen (siehe Kap. 3) die entscheidende Triebkraft. Genauso ist sie für den sogenannten Chelateffekt verantwortlich (siehe Kap. 4). Die Entropiezunahme spielt auch bei dem sogenannten hydrophoben Effekt die Hauptrolle: Hydrophobe Moleküle oder Molekülteile zeichnen sich dadurch aus, dass die sie umgebenden Wassermoleküle nicht (oder nur äußerst schwach) an diese Moleküle (oder Molekülteile) gebunden sind. Deshalb strukturieren sich die Wassermoleküle untereinander ähnlich wie im Eis und man spricht von der sogenannten Eisbergstruktur dieser Wasserschicht(-en), in der die Wassermoleküle eine eingeschränkte Beweglichkeit haben und nur drei unterschiedliche geometrische Anordnungen einnehmen können. Wenn sich die hydrophoben Moleküle (oder Molekülteile) zusammenschließen („aneinanderlegen“), wird dieses Eisbergwasser freigesetzt und die Wassermoleküle haben sechs Anordnungsmöglichkeiten, d. h. doppelt so viele Freiheitsgrade, um Wasserstoffbrückenbindungen auszubilden, was wiederum eine Entropiezunahme bedeutet. Dieser Effekt erklärt die Schwerlöslichkeit von Alkanen in Wasser, weil es entropisch günstiger ist, eine separate Alkanphase zu bilden, statt die Alkanmoleküle gelöst mit Eisbergwasser umgeben zu haben. Der Effekt erklärt auch die Bildung von Doppelschichtmembranen (biologischen Membranen) aus Lipidmolekülen, die Bildung von Vesikeln (Liposomen, Micellen usw.). Bei der Proteinfaltung spielt der hydrophobe Effekt neben der Bildung von Wasserstoffbrücken und anderen spezifischen Wechselwirkungen ebenfalls eine wichtige Rolle.
2.6 Die kinetische Beschreibung des chemischen Gleichgewichts Betrachtet man das
Gleichgewicht 2.1
A+B⇄C+D
2.7 Reversibilität und Irreversibilität chemischer Reaktionen …
13
in der Weise, dass die Hin- und Rückreaktion ungehemmt ablaufen können, so muss im Gleichgewichtszustand, d. h. bei zeitlich konstanten Aktivitäten aller beteiligten Stoffe ai, eq, die Geschwindigkeit rHin der Hinreaktion gleich der der Rückreaktion rR¨uck sein, wobei für die Kinetik die Konzentrationen (z. B. die Objektmengenkonzentrationen in mol L‒1) zu verwenden sind:
Gl. 2.22
rHin = kHin cA, eq cB, eq = rR¨uck = kR¨uck cC, eq cD, eq
(kHin und kR¨uck sind die Geschwindigkeitskonstanten und ci, eq die Gleichgewichtskonzentrationen). Damit ergibt sich für die Gleichgewichtskonstante die Beziehung:
Gl. 2.23
K=
cC, eq cD, eq cA, eq cB, eq
=
kHin kR¨uck
Die kinetische Interpretation der Gleichgewichtskonstante geht auf den österreichischen Physiker Leopold Pfaundler von Hadermur (1839–1920), den französischen Chemiker Marcelin Pierre Eugène Berthelot (1827–1907), den norwegischen Chemiker Peter Waage (1833–1900), den norwegischen Mathematiker Cato Maximilian Guldberg (1836–1902) und den holländischen Chemiker Jacobus Henricus van’t Hoff (1852–1911) zurück [29]. Die kinetische Interpretation von chemischen Gleichgewichten war für die Entwicklung der Chemie sehr bedeutend und ist auch heute noch für das Verständnis chemischer Reaktionen von großem Wert. Für die quantitative Beschreibung von Gleichgewichtszuständen, wie sie in diesem Lehrbuch vorgenommen wird, sind die thermodynamischen Grundlagen jedoch von größerem Wert, da sich Gleichgewichtskonstanten aus experimentell zugänglichen thermodynamischen Zustandsgrößen sehr zuverlässig berechnen lassen (Gl. 2.14 und 2.17) und eine Interpretation von Gleichgewichtskonstanten auf der Grundlage der Enthalpie- und Entropiebeiträge systematisch möglich ist (siehe auch Kap. 4).
2.7 Reversibilität und Irreversibilität chemischer Reaktionen (chemischer Gleichgewichte) Oftmals findet man in der chemischen Literatur die Unterscheidung von Reaktionen in reversible, bei denen Hin- und Rückreaktion ablaufen, und irreversible, bei denen nur die Hinreaktion abläuft. Dies steht scheinbar im Widerspruch zu Gl. 2.23, die für jedes chemische Gleichgewicht eine bestimmte Geschwindigkeit für beide Reaktionen fordert, also beispielsweise auch für das Gleichgewicht Glucose + Sauerstoff zu Kohlenstoffdioxid + Wasser. In der Realität gibt es jedoch viele Fälle, in denen eine der beiden Reaktionen, oder auch beide, sehr langsam, zuweilen unter bestimmten Umständen sogar überhaupt nicht ablaufen. Die Betrachtung der Gl. 2.23 ist also nur dann zulässig, wenn beide Reaktionen ungehemmt ablaufen. Auch im Fall, dass die Reaktionsgeschwindigkeiten endlich, also prinzipiell „beobachtbar“ sind, d. h. sich in Messungen bemerkbar machen, kann ein Gleichgewicht unter den einen experimentellen Bedingungen rever-
14
2 Das chemische Gleichgewicht
sibel erscheinen und unter anderen irreversibel. Entscheidend ist dann, ob innerhalb der gewählten Messzeit eine Einstellung des Gleichgewichts erfolgt. Ist die Gleichgewichtseinstellung in der Messzeit erfolgt, so zeigt das System die Eigenschaften eines reversiblen Gleichgewichts. Ist die Messzeit jedoch zu kurz, um das Gleichgewicht sich einstellen zu lassen, so erscheint es irreversibel. Bei elektrochemischen Reaktionen, d. h. Umsetzungen an Elektroden, werden diese Zusammenhänge besonders deutlich und wichtig, da es hier möglich ist, die Beobachtungszeiten in großen Bereichen zu variieren (siehe Kap. 6). Man unterscheidet daher elektrochemisch reversible und elektrochemisch irreversible Reaktionen. Entscheidend ist bei elektrochemischen Reaktionen, wie das Verhältnis der Geschwindigkeit des Ladungstransfers an der Elektrodenoberfläche zur Geschwindigkeit des Antransports der Reaktanden und des Abtransports der Produkte ist. Ist der Ladungstransfer langsamer als der Transport zur und/oder von der Elektrode, so wird sich an der Elektrodenoberfläche das Gleichgewicht nicht einstellen und das System zeigt die Merkmale der Irreversibilität. Ist der Ladungstransfer jedoch schneller als der Transport, stellt sich zu jedem Zeitpunkt das Gleichgewicht zwischen oxidierter und reduzierter Form ein und das System zeigt die Merkmale der Reversibilität. Die Transportgeschwindigkeit kann durch die Geschwindigkeit der Messungen variiert werden. Mit anderen Worten, die wahrgenommene Reversibilität oder Irreversibilität kann von den Messbedingungen (Beobachtungszeiten) abhängen. Beispiel: Beeinflussung der Transportgeschwindigkeit durch die Geschwindigkeit der Messung Eine sehr schnelle Änderung des Potenzials der Elektrode gibt der Diffusion nur wenig Zeit, die Diffusionsschicht wird sehr dünn und der Konzentrationsgradient an der Elektrodenoberfläche wird sehr groß sein, was eine hohe Transportgeschwindigkeit bedingt. Eine langsame Potenzialänderung wiederum gibt der Diffusion viel Zeit und die Diffusionsschicht wird weit in die Lösung hineinwachsen und einen kleinen Konzentrationsgradienten erzeugen, der dann auch nur eine kleine Diffusionsgeschwindigkeit (Stofftransportgeschwindigkeit) zur Folge hat. Die Geschwindigkeit des Ladungstransfers ist andererseits nur vom System abhängig (Art des Redoxsystems, Lösungsmittel, Elektrodenmaterial). Ladungs- und Transportgeschwindigkeiten sind darüber hinaus natürlich auch von der Temperatur und dem Druck abhängig. Hier erkennt man, dass im Fall endlicher Reaktionsgeschwindigkeiten ein Gleichgewicht durchaus unter bestimmten Bedingungen irreversibel erscheinen kann und unter anderen reversibel.
2.8 Katalyse – der „Zauberweg“, die Einstellung von Gleichgewichten zu beschleunigen Katalyse ist Studierenden der chemischen Gleichgewichte schon in der Grundvorlesung Anorganische Chemie bei der Diskussion der Ammoniaksynthese nach dem H aberBosch-Verfahren begegnet. Bei diesem technischen Verfahren diente eine besonders aktive Form des metallischen Eisens der Beschleunigung der Gleichgewichtseinstellung. Heute werden Ruthenium-Aktivkohle-Katalysatoren eingesetzt.
Literatur
15
Unter den in diesem Lehrbuch behandelten Gleichgewichten sind nur relativ wenige, die im Normalfall, d. h. ohne Katalyse, eine langsame Gleichgewichtseinstellung zeigen. Die meisten Säure-Base-Reaktionen (Protonenübertragungen) sind extrem schnell. Einige Reaktionen der Hydratation, zum Beispiel die Bildung von Kohlensäure aus Wasser und Kohlenstoffdioxid (und auch der Zerfall der Kohlensäure) sind sehr langsame Reaktionen. Ebenso ist die Hydrolyse kondensierter Chrom(III)-aquakomplexe (und einiger anderer Metallaquakomplexe) sehr langsam. Bei den Komplexbildungs- und den Redoxgleichgewichten gibt es auch Beispiele sehr langsamer Gleichgewichtseinstellungen. Die Kinetik dieser Reaktionen spielt bei analytischen Anwendungen, in der Biochemie (Kohlensäurebildung und -zerfall) und der Umweltchemie eine bedeutende Rolle, worauf in diesem Lehrbuch an den entsprechenden Stellen eingegangen wird. Generell sei hier angemerkt, dass durch Katalyse die energetischen Barrieren, d. h. die Freien Aktivierungsenthalpien, gesenkt werden, indem der Katalysator Reaktionswege bietet, die ohne Katalysator nicht zur Verfügung stehen.
2.9 Leitfaden zur rechnerischen Behandlung chemischer Gleichgewichte Für die erfolgreiche Berechnung chemischer Gleichgewichte ist folgende Vorgehensweise zu empfehlen, die in den Kapiteln dieses Buches konsequent angewendet wird: 1. Zuerst müssen alle chemischen Gleichgewichtsreaktionen mit der korrekten Stöchiometrie formuliert werden. Empfehlenswert ist es dabei, die Einzelgleichgewichte aufzuschreiben, für die Gleichgewichtskonstanten tabelliert sind. 2. Für jedes chemische Gleichgewicht ist das Massenwirkungsgesetz zu formulieren. 3. Danach müssen die Konzentrationen aller chemischen Reaktionsteilnehmer durch Stoffbilanzen unter Berücksichtigung der Stöchiometrie miteinander verbunden werden. 4. Sind ionische Verbindungen an den Gleichgewichten beteiligt, müssen auch Gleichungen für die Ladungsbilanz aufgestellt werden, da makroskopische chemische Systeme (z. B. eine Lösung) immer ladungsneutral sind. 5. Aus den Massenwirkungsgesetzen, Stoff- und Ladungsbilanzen ist schließlich ein Gleichungssystem aufzustellen, das nach der gesuchten Konzentration eines bestimmten Stoffes aufzulösen ist. Mit diesen Gleichungen können grafische Darstellungen der Abhängigkeiten erstellt werden.
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16
2 Das chemische Gleichgewicht
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3
Säure-Base-Gleichgewichte
3.1 Die historische Entwicklung der Säure-Base-Theorien Man kann annehmen, dass der Begriff „sauer“ in allen Sprachen zu den ältesten Adjektiven gehört, die die Menschen entwickelt haben, da der saure Geschmack von Früchten und Speisen sicher ein sehr früher Sinneseindruck war. Während in den germanischen Sprachen Formen von „sûr“ anzutreffen sind (daher stammt auch das franz. sur), so sind es in den romanischen Sprachen Formen des Lateinischen „acidus“ (sauer, scharf) und in den slawischen Sprachen Formen, die mit dem russischen „киcлый“ (kisly = sauer) verwandt sind. Von dem Begriff für einen Geschmackseindruck bis zu dem einer chemischen Stoffgruppe war es natürlich ein sehr weiter Weg: So hat sich bis zum Ende des Mittelalters die Bezeichnung Säure für eine ganze Reihe von Stoffen herausgebildet, die nicht nur durch den ihnen gemeinsamen sauren Geschmack gekennzeichnet sind, sondern man hatte auch verschiedene chemische Reaktionen als für Säuren typisch erkannt. Johann Rudolph Glauber (1604–1670) (Abb. 3.1) sah in Säuren und Alkalien bereits gegensätzliche Prinzipien, die der Bildung von Salzen zugrunde liegen. Robert Boyle (1626–1691) (Abb. 3.2) erkannte, dass Säuren die folgenden Reaktionen zeigen: a) sie färben blaue Pflanzensäfte rot, b) sie fällen Schwefel aus Lösungen von „Schwefelleber“ (Gemisch aus Kaliumpolysulfiden, Kaliumsulfid, Kaliumthiosulfat und anderen Stoffen, das durch Zusammenschmelzen von Schwefel mit Kaliumcarbonat erhalten wird), c) sie neutralisieren Alkalien und d) sie reagieren mit Kalk unter Gasentwicklung [1]. Es ist nicht verwunderlich, dass das nur eine symptomatische und keine konstitutionelle Definition ist, da man über die elementare Zusammensetzung der Säuren zu jener Zeit nichts wusste.
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 F. Scholz und H. Kahlert, Chemische Gleichgewichte in der Analytischen Chemie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61107-4_3
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3 Säure-Base-Gleichgewichte
Abb. 3.1 Johann Rudolph Glauber. (© Austrian National Library/INTERFOTO)
Abb. 3.2 Robert Boyle. (© Georgios Kollidas/Fotolia)
Antoine-Laurent Lavoisier (1743–1794) (Abb. 3.3) schlussfolgerte aus seinen Versuchen, dass alle Säuren ein Element enthalten, dem er den Namen oxygène gab, den er von den griechischen Wörtern ὀξύς (oxys) für scharf, d. h. sauer, und γενής (genês) für „geboren, entstanden“ ableitete. Die Übertragung des Begriffs oxygène führte zu den Begriffen Sauerstoff im Deutschen, zuurstof im Niederländischen, киcлopoд (kislorod) im Russischen (von киcлoтa [kislota] = Säure und poдить = gebähren/erzeugen), kyslík im Tschechischen (von kyselina = Säure) und ( חמצןchamtzan) im Hebräischen (von [ חומצהchumtzah] = Säure).
3.1 Die historische Entwicklung der Säure-Base-Theorien
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Abb. 3.3 Antoine-Laurent Lavoisier mit seiner Frau Marie-Anne Pierrette Paulze Lavoisier. (© Erich Lessing/ akg-images/picture alliance)
Lavoisiers Sauerstofftheorie der Säuren hat also nachhaltig die chemische Nomenklatur in vielen Sprachen beeinflusst. Eine interessante Ausnahme bildet das Polnische, in dem Sauerstoff „tlen“ heißt: Das Wort leitete der polnische Alchimist Michał Sędziwój (1566–1636, latinisierter Name: Michael Sendivogius) von dem alten polnischen Wort für glühen (tleć) ab (russisch: тлeть, altrussisch: тьлѣти), weil er bereits im Jahre 1604 Sauerstoff als ein eigenes Gas entdeckt hatte [2], das die Verbrennung unterhält und für das Leben notwendig ist. Seine Entdeckung blieb jedoch trotz Publikation in lateinischer Sprache im Rest der Welt unbemerkt, sodass Joseph Priestley (1733–1804) und Carl Wilhelm Scheele (1742–1786) als die Entdecker des Sauerstoffs gelten. Jöns Jacob Berzelius (1779–1848) (Abb. 3.4) publizierte 1812 [3] eine sogenannte „elektrochemische Theorie“ der chemischen Verwandtschaft (chemischen Affinitäten, d. h. des Bestrebens der Stoffe miteinander Verbindungen zu bilden). Aus Elektrolyseexperimenten schloss er, dass chemische Verbindungen durch „entgegengesetzte Electricitäten“ (wir würden sagen „positive und negative Ladungen“) zusammengehalten werden. Er vermutete, dass die sauren und basischen Eigenschaften mit diesen „Electricitäten“ zusammenhängen, weil bei der Elektrolyse einer neutralen Salzlösung am positiven Pol die Lösung sauer und am negativen basisch wird. Das war eine geniale Idee, die jedoch zu jener Zeit nicht näher erklärt werden konnte. Berzelius drückt das wie folgt aus: „Wie die Einwirkung der Electricitäten geschieht, ist uns noch unbekannt, und wir müssen uns darüber mit Muthmassungen begnügen.“ Humphry Davy (1778–1829) (Abb. 3.5) erschütterte in den beiden ersten Dekaden des 19. Jahrhunderts Lavoisiers Ansicht, dass Säuren immer Sauerstoff enthalten. Davy zeigte, dass HF, HCl und HI (nach heutiger Schreibweise) keinen Sauerstoff enthalten [4].
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3 Säure-Base-Gleichgewichte
Abb. 3.4 Jöns Jacob Berzelius. (© Georgios Kollidas/stock.adobe)
Abb. 3.5 Humphry Davy. (© www.Archivist/stock.adobe. com)
Er begründete die Anschauung, dass Säuren Wasserstoffverbindungen sind. Natürlich sahen viele Chemiker, dass nicht alle Wasserstoffverbindungen Säuren sind. Erst Liebig präzisierte Davys Theorie. Justus von Liebig (1803–1873) (Abb. 3.6) lehnte wie Davy die Theorie von Lavoisier ab, da er ebenfalls sah, dass es Säuren gibt, die keinen Sauerstoff enthalten. Er definierte 1838 eine Säure als eine wasserstoffhaltige Verbindung, in der der Wasserstoff durch Metalle ersetzt werden kann, d. h. Wasserstoff aus Lösungen verdünnter Säuren durch unedle Metalle freigesetzt wird [5]. Damit gab er eine funktionelle Erklärung (‚in Säuren kann Wasserstoff durch Metalle ersetzt werden‘), im Gegensatz zu Davys konstitutioneller Theorie (‚Säuren enthalten Wasserstoff‘). Svante August Arrhenius (1859–1927) (Abb. 3.7) ist der Begründer der Dissoziationstheorie von Elektrolyten [6].
3.1 Die historische Entwicklung der Säure-Base-Theorien
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Abb. 3.6 Justus von Liebig. (© Sammlung Rauch/ INTERFOTO)
Abb. 3.7 Svante August Arrhenius. (© Science & Society/INTERFOTO)
Seine Erkenntnis, dass Elektrolyte in Lösungen Ionen bilden, erlaubte die Definition der Säuren als Verbindungen, die Wasserstoffionen (H+) bilden, und der Basen als solche, die Hydroxidionen (OH−) bilden. Johannes Nicolaus Brønsted (1879–1947) (Abb. 3.8) und Thomas Martin Lowry (1874–1936) (Abb. 3.9) haben unabhängig voneinander 1923 den nachhaltigsten Beitrag zur Theorie der Säuren und Basen geliefert, da sich ihre Definition auf die chemisch wichtigsten Systeme anwenden lässt [7–10]. Danach sind Säuren Verbindungen, die Protonen (H+) abgeben (Protonen-Donatoren), und Basen solche, die Protonen aufnehmen (Protonen-Akzeptoren). Wegen der großen Bedeutung der Brønsted-Lowry-Theorie wird diese im Abschn. 3.2 detailliert diskutiert.
22
3 Säure-Base-Gleichgewichte
Abb. 3.8 Johannes Nicolaus Brønsted. (© Royal Society of Chemistry, Quelle: Bell RP [1950] J Chem Soc 409–419)
Abb. 3.9 Thomas Martin Lowry. Mit Genehmigung abgedruckt. (Copyright: The Royal Society)
Gilbert Newton Lewis (1875–1946) (Abb. 3.10) formulierte seine Anschauungen über die Natur von Säuren und Base in seinem 1923 veröffentlichten Buch „Valence and the Structure of Atoms and Molecules“ [11]. Offensichtlich hatte er keine Kenntnis der Arbeiten Brønsteds und Lowrys. Er diskutiert in dem genannten Buch, dass eine Säure Wasserstoffionen abgibt und Basen diese aufnehmen. Dann geht er aber sofort darüber hinaus und definiert allgemeiner: Mir scheint, dass man ganz allgemein sagen kann, dass eine basische Substanz eine solche mit einem einsamen Elektronenpaar ist, welches dazu dienen kann, eine stabile Gruppe (‚von Elektronenpaaren‘ ist hier gemeint. Der Übersetzer) eines anderen Atoms zu bilden, und eine Säure ist eine Substanz, welche ein einsames Ionenpaar eines anderen Moleküls
3.1 Die historische Entwicklung der Säure-Base-Theorien
23
nutzen kann, um eine stabile Gruppe (‚von Elektronenpaaren‘ ist hier gemeint. Der Übersetzer) eines seiner Atome zu bilden. Mit anderen Worten, die basische Substanz stellt ein Elektronenpaar für eine Bindung bereit, die Säure akzeptiert ein Elektronenpaar [12].
Lewis hat auch bereits allgemein Donor-Akzeptor-Reaktionen mit Anionen und Kationen im Sinne von Säure-Base-Reaktion interpretiert [13]. Edward Curtis Franklin (1862–1937) (Abb. 3.11), Hamilton Perkins Cady (1874– 1943) (Abb. 3.12), Howard McKee Elsey (1891–1982) (Abb. 3.13) und Gerhart Jander
Abb. 3.10 Gilbert Newton Lewis. (© Welch Foundation, Quelle: Calvin M (1976) Proc The Robert A Welch Fond Conf on Chem Res, XXth American ChemistryBicentennial [Nov 8–10, 1976, Houston Texas] 116–150)
Abb. 3.11 Edward Curtis Franklin. (Courtesy of the Department of Special Collections, Stanford Libraries)
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3 Säure-Base-Gleichgewichte
Abb. 3.12 Hamilton Perkins Cady. (Courtesy of the University of Kansas, Kenneth Spencer Research Library)
Abb. 3.13 Howard McKee Elsey. (Smithsonian Institution Archives. Acc. 18–094, Science Service, Records, E&MP 4001)
(1892–1961) (Abb. 3.14) haben Säuren und Basen für nichtwässrige Lösungssysteme definiert und damit die Solvosäuren-Solvobasen-Theorie begründet. Danach sind Solvosäuren die Kationen, die sich bei der Autosolvolyse bilden, und Solvobasen sind die sich dabei bildenden Anionen [14–16]. Im Fall von Bromtrifluorid − ist die BrF+ 2 Säure und BrF4 die Base, da die Autosolvolyse wie folgt verläuft:
Gleichgewicht 3.1
− BrF3 + BrF3 ⇄ BrF+ 2 + BrF4
3.1 Die historische Entwicklung der Säure-Base-Theorien
25
Abb. 3.14 Gerhart Jander. (Universitätsarchiv Greifswald, Fotosammlung)
Abb. 3.15 Hermann Lux. (Historisches Archiv der Technischen Universität München)
Hermann Lux (1904–1999) (Abb. 3.15) und Håkon Flood (1905–2001) (Abb. 3.16) haben für Oxidschmelzen definiert, dass eine Säure ein Oxidionen-Akzeptor und eine Base ein Oxidionen-Donator ist [17–20]. Damit kann man die Auflösung von Aluminiumoxid in einer Carbonat-Schmelze wie folgt erklären:
Gleichgewicht 3.2
− Al2 O3 + CO2− 3 ⇄ 2AlO2 + CO2 S¨aure1 + Base2 Base1 + S¨aure2
26
3 Säure-Base-Gleichgewichte
Abb. 3.16 Håkon Flood. (Photo by: Schrøder/NTNU University Library)
Abb. 3.17 Mikhail Il’ich Usanovich. (Universitätsarchiv Al-Farabi-Universität, Almaty, Kasachstan)
Mikhail Il’ich Usanovich (Mиxaил Ильич Уcaнoвич) (1894–1981) (Abb. 3.17) verallgemeinerte alle bekannten Säure-Base-Konzepte in der folgenden Definition [21]:
Säuren sind Kationen-Donatoren oder Anionen- oder Akzeptoren. Basen sind Kationen-Akzeptoren oder Anionen- oder Donatoren.
ElektronenElektronen-
Vergleicht man diese Definition mit dem, was Lewis bereits 1923 in seinem Buch geschrieben hat, so stellt man weitgehende Übereinstimmung fest. Allerdings bezog sich Lewis nur auf Reaktionen mit Elektronenpaaren und noch nicht auf Redoxreaktionen, bei denen auch einzelne Elektronen (oder mehr als zwei) übertragen werden.
3.2 Die Quantifizierung der Säure- und Basestärke …
27
3.2 Die Quantifizierung der Säure- und Basestärke auf der Basis der Brønsted-Lowry-Theorie 3.2.1 Säure-Base-Konstanten Die Brønsted-Lowry-Theorie ist besonders gut geeignet, um Reaktionen in protischen Lösungsmitteln, z. B. in Wasser, zu beschreiben und quantitativ zu behandeln. Nach Brønsted und Lowry kann man ein Säure-Base-Gleichgewicht als eine Übertragung von Protonen (H+) wie folgt formulieren:
Gleichgewicht 3.3
HB + H2 O ⇄ B− + H3 O+ S1 B2 B1 S2
Die Buchstaben S und B in der unteren Zeile bedeuten Säure und Base und die Indizes 1 und 2 sollen die beiden chemischen Grundbestandteile bezeichnen. Die beiden Paare S1 /B1 und S2 /B2 nennt man korrespondierende Säure-Base-Paare, weil jeweils die Säureform in die Baseform und umgekehrt durch die Übertragung nur eines Protons ineinander umgewandelt werden. Einige Beispiele für korrespondierende Säure-Base-Paare sind in Tab. 3.1 gegeben. Das Gleichgewicht 3.3 bezeichnet man als Protolyse-Gleichgewicht, weil ein Proton bei der Hinreaktion von HB abgetrennt wird (von griechisch λύσις = lösen, abspalten). Betrachtet man die Reaktion von rechts nach links ablaufend, so wird ein Proton von H3 O+ abgetrennt und auf B− übertragen. Das Ion H3 O+ nennt man Hydroniumion. Das im Gleichgewicht 3.3 auftretende Wassermolekül reagiert hier als Base, indem es ein Proton aufnimmt. Es kann auch als Säure reagieren und unter Bildung eines Hydroxidions HO− ein Proton abgeben. Im Lösungsmittel Wasser findet eine Bildung von Hydroniumund Hydroxidionen dadurch statt, dass die Wassermoleküle miteinander reagieren:
Gleichgewicht 3.4
Tab. 3.1 Ausgewählte Beispiele korrespondierender Säure-Base-Paare
H2 O + H2 O ⇄ HO− + H3 O+ S1 B2 B1 S2
Korrespondierende Säure
Korrespondierende Base
HCl
Cl−
H2 SO4
HSO− 4
HSO− 4
SO2− 4
NH+ 4 2+ Fe(H2 O)6
NH3 + Fe(H2 O)5 OH
NH3
NH− 2
HCOOH (Ameisensäure)
HCOO− (Formiat)
C2 O4 H2 (Oxalsäure)
C2 O4 H− (Hydrogenoxalat)
H3 O
+
H2 O
28
3 Säure-Base-Gleichgewichte
Lösungsmittel, deren Moleküle Protonen abgeben und aufnehmen können, bezeichnet man als protische Lösungsmittel (im Gegensatz zu solchen, in denen die Bindung zum Wasserstoff so unpolar ist [wie z. B. im Benzen], dass das Proton nicht [oder nicht leicht] ablösbar ist). Natürlich muss die Säure S1 nicht ein neutrales Teilchen, sondern kann auch ein Kation sein:
H2 B+ + H2 O ⇄ HB + H3 O+ S1 B2 B1 S2
Gleichgewicht 3.5
Ein Beispiel für eine Kationensäure ist das Ammoniumion:
H4 N+ + H2 O ⇄ H3 N + H3 O+ S1 B2 B1 B1
Gleichgewicht 3.6
Ebenfalls möglich ist, dass ein Anion eine Säure ist:
HB− + H2 O ⇄ B2− + H3 O+ S1 B2 B1 S2
Gleichgewicht 3.7
Dafür ist das Hydrogencarbonation ein Beispiel: 2− + HCO− 3 + H2 O ⇄ CO3 + H3 O S1 B2 B1 S2
Gleichgewicht 3.8
In diesen Reaktionen ist Wasser der Protonen-Akzeptor. Viele andere Lösungsmittel gehen ganz analoge Reaktionen ein, beispielsweise Ethanol, Methanol, flüssiger Schwefelwasserstoff und flüssiges Ammoniak: Für diese Lösungsmittel kann man allgemein die folgenden Gleichungen schreiben: In Ethanol:
Gleichgewicht 3.9
HB + CH3 CH2 OH ⇄ B− + CH3 CH2 OH+ 2 S1 B2 B1 S2
In Methanol:
Gleichgewicht 3.10
HB + CH3 OH ⇄ B− + CH3 OH+ 2 S1 B2 B1 S2
In flüssigem Schwefelwasserstoff:
Gleichgewicht 3.11
HB + H2 S ⇄ B− + H3 S+ S1 B2 B1 S2
In flüssigem Ammoniak:
Gleichgewicht 3.12
HB + H3 N ⇄ B− + H4 N+ S1 B2 B1 S2
3.2 Die Quantifizierung der Säure- und Basestärke …
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Der allgemeine Name für protonierte Solvensmoleküle ist Lyoniumion; H4 N+ heißt Ammoniumion, H3 S+ Sulfoniumion, CH3 OH+ Methoxoniumion, CH3 CH2 OH+ 2 2 Ethoxoniumion, H4 P+ Phosphoniumion. Die deprotonierten Solvensmoleküle nennt man allgemein Lyationen. Im Speziellen haben sie jedoch eigene Namen: OH− Hydroxid(-ion), SH− Hydrogensulfid(-ion), CH3 O− Methanolat(-ion), CH3 CH2 O− Ethanolat(-ion), NH− 2 Amid(-ion). Wenn man die Reaktionen der Basen (z. B. von B−) in den Lösungsmitteln formulieren möchte, kann man Gleichgewicht 3.3 bis Gleichgewicht 3.12 einfach umkehren, z. B. kann man für das Gleichgewicht 3.3 schreiben:
Gleichgewicht 3.13
B− + H3 O+ ⇄ HB + H2 O S2 S1 B2 B1
Da aber die Säure H3 O+ im Lösungsmittel Wasser nur in kleinen Konzentrationen vorliegt, schreibt man die Reaktion einer Base mit dem Hauptbestandteil des Lösungsmittels, d. h. in diesem Beispiel mit H2 O:
Gleichgewicht 3.14
B− + H2 O ⇄ HB + OH− B 1 S2 S1 B2
Auf alle diese Protolysegleichgewichte kann man das Massenwirkungsgesetz anwenden. Die Übertragung von Protonen ist generell sehr schnell, sodass man davon ausgehen kann, dass sich das Gleichgewicht zwischen Ausgangs- und Endstoffen „sofort“ einstellt. Das Massenwirkungsgesetz (MWG) für Gleichgewicht 3.3 lautet:
Gl. 3.1
KS =
ac, B− ac, H3 O+ ac, HB ax, H2 O
KS ist die Gleichgewichtskonstante des Protolysegleichgewichts von HB in Wasser und ac sind die Konzentrationsaktivitäten, die bei Lösungsreaktionen im MWG verwendet werden und wie folgt definiert sind: Gl. 3.2
ac, i = fi
ci c⊖
Der Index c von a bedeutet, dass diese Aktivität aus einer molaren Konzentration berechnet wird. Die molare Konzentration ci (auch Objektmengen- oder Stoffmengenkonzentration genannt) hat die Einheit mol L−1; fi ist der Aktivitätskoeffizient, der konzentrationsabhängig ist und keine Einheit besitzt. c⊖ ist definitionsgemäß gleich 1 mol L−1, weil diese Konzentration als Bezugszustand der Substanz i definiert ist (allerdings mit den Eigenschaften einer unendlich verdünnten Lösung, was experimentell nicht realisierbar, aber für die thermodynamische Beschreibung eine Bedingung ist).
30
3 Säure-Base-Gleichgewichte
In diesem Lehrbuch wird der Begriff „Objektmenge“ (Symbol n) gegenüber dem Begriff „Stoffmenge“ bevorzugt, weil er zum Ausdruck bringt, dass es sich um eine Anzahl abzählbarer Objekte (Atome, Moleküle oder Ionen) handelt. Im Englischen gibt es nur den Begriff „amount of substance“, der vermutlich zu dem im Deutschen missverständlichen Begriff „Stoffmenge“ führte.
Der Aktivitätskoeffizient nähert sich dem Wert 1 für unendliche Verdünnung:
lim fi = 1
Gl. 3.3
ci →0
Die Konzentrationsaktivität ac, i besitzt keine Einheit (siehe Gl. 3.2). Für das Lösungsmittel, z. B. Wasser, kann man die Konzentrationsaktivität thermodynamisch nicht exakt definieren [22]. Das bedeutet, dass man in Gl. 3.1 für Wasser eine Molenbruchaktivität n 2O bezieht: ax, H2 O verwenden muss, die sich auf den Molenbruch xH2 O = nH OH+n HB 2
Gl. 3.4
ac, B− ac, H3 O+ KS = ac, HB ax, H2 O
Mit dieser Gleichung ist eine Definition der dimensionslosen thermodynamischen Gleichgewichtskontante KS möglich. Da sich die Molenbruchaktivität des Wassers in sehr verdünnten Lösungen von HB, d. h. in fast reinem Wasser, der 1 annähert, kann man für ax, H2 O auch eine 1 schreiben bzw. diesen Term nicht explizit angeben. Damit ergibt sich:
Gl. 3.5
KS =
ac, B− ac, H3 O+ ac, HB
als gute Näherung für verdünnte Lösungen.
Man muss immer beachten, dass die in Gl. 3.5 definierte Gleichgewichtskonstante für das Lösungsmittel Wasser definiert ist. In anderen Lösungsmitteln ergeben sich analoge Gleichgewichtskonstanten (siehe auch Abschn. 3.2.6).
Die Notwendigkeit, für das Lösungsmittel den Standardzustand des reinen Stoffes zu verwenden, ergibt sich auch daraus, dass die Aktivitätskoeffizienten ALLER Komponenten für stark verdünnte Lösungen gegen den Idealwert 1 gehen, wobei das Lösungsmittel dann zwangsläufig als reiner Stoff vorliegt.
Da sich mit zunehmender Verdünnung auch die Aktivitätskoeffizienten der 1 annähern, kann man die Konzentrationsaktivitäten auch durch die Gleichgewichtskonzentrationen1 ersetzen, was es erlaubt, die folgende Gleichung zu formulieren:
1Wenn
nichts anderes vermerkt wird, ist im folgenden Text mit dem Begriff ‚Konzentration‘ immer eine Gleichgewichtskonzentration gemeint.
3.2 Die Quantifizierung der Säure- und Basestärke …
Gl. 3.6
KS =
31
cB− cH3 O+ cHB
Die so definierte Säurekonstante, die auch eine Einheit besitzt, ist im eigentlichen Sinne keine Konstante mehr, denn der Bruch in Gl. 3.6 ist nicht mehr unabhängig von der Konzentration von HB; aber für verdünnte Lösungen (ungefähr unterhalb 0,01 mol L−1) kann diese Gleichung verwendet werden, wenn nicht besondere Ansprüche an die Richtigkeit der Berechnungen gestellt werden. Für höhere Ansprüche sind Aktivitäten einzusetzen und entweder berechnete oder experimentell bestimmte Aktivitätskoeffizienten zu verwenden (hierzu siehe Lehrbücher der Physikalischen Chemie). Ganz analog zu Gl. 3.6 lässt sich eine Basenkonstante für das Gleichgewicht 3.14 definieren:
Gl. 3.7
KB =
cHB cOH− cB−
Zwischen KS und KB besteht die einfache Beziehung
KS KB = cH3 O+ cOH−
Gl. 3.8
wie man durch Multiplikation der rechten Terme von Gl. 3.6 und 3.7 leicht findet. Exakt gilt natürlich
KS KB = ac, H3 O+ ac, OH−
Gl. 3.9
Gl. 3.9 ist ganz offensichtlich auch das Massenwirkungsgesetz für das Gleichgewicht 3.4, dessen Gleichgewichtskonstante man als Autoprotolysekonstante (hier des Wassers) bezeichnet:
Gl. 3.10
KW = ac, H3 O+ ac, OH− = KS KB
Diese Konstante wird auch als Ionenprodukt (des Wassers) bezeichnet. Da die Säure-, Base- und Autoprotolysekonstanten über viele Zehnerpotenzen variieren, verwendet man meist die Logarithmen dieser Konstanten, insbesondere die negativen dekadischen Logarithmen:
Gl. 3.11
pKS = − lg KS
Gl. 3.12
pKB = − lg KB
Gl. 3.13
pKW = − lg KW
Für Gl. 3.10 ergibt sich:
Gl. 3.14
pKW = pKS + pKB
Da KW bei 25 °C fast genau 1 · 10−14 beträgt, d. h. pKW = 14, gilt bei dieser Temperatur die einfache Beziehung:
32 Tab. 3.2 Temperaturabhängigkeit der Autoprotolysekonstante des Wassers pKW bei 0,1 MPa Druck [23]
Tab. 3.3 Druckabhängigkeit der Autoprotolysekonstante des Wassers pKW bei 25 °C [24]
3 Säure-Base-Gleichgewichte T [°C]
pKW
0
14,938
10
14,528
15
14,340
18
14,233
20
14,163
25
13,995
30
13,836
50
13,275
75
12,711
100
12,264
p [MPa]
pKW
0,1
13,995
25
13,908
50
13,824
100
13,668
Gl. 3.15
pKS + pKB = 14
Die Autoprotolysekonstante ist wie alle Massenwirkungskonstanten von der Temperatur und dem Druck abhängig. In den Tab. 3.2 und 3.3 sind einige Werte zur Illustration ausgewählt.
3.2.2 Der pH-Wert Der Dänische Chemiker Søren Peter Lauritz Sørensen (Abb. 3.18) hat 1909 das Symbol p für den negativen dekadischen Logarithmus (− lg) eingeführt [25], um einen übersichtlichen Maßstab für die Angabe der Konzentration der Wasserstoffionen zu haben. Ursprünglich definierte er p+ H = − lg cH+, was sich jedoch nicht durchgesetzt hat, sondern man schrieb bald
Gl. 3.16
pH = − lg cH+
Man glaubte lange, dass Sørensen das Symbol p für den Begriff „Potenz“ (im Sinne von Kraft) gewählt hatte, jedoch zeigte eine historische Studie [26], dass er es nur als Symbol für eine Variable verwendete, sodass man für die Konzentration der Wasserstoffionen
3.2 Die Quantifizierung der Säure- und Basestärke …
33
Abb. 3.18 Søren Peter Lauritz Sørensen (1868‒1939). (Royal Library, Copenhagen, Denmark)
+
schreiben konnte 10−pH, in moderner Notierung also 10−pH. Heute basiert die IUPAC-Definition des pH [27] auf der Molalitätsaktivität am, H+ der Wasserstoffionen:
Gl. 3.17
pH = −lgam,H+ = −lg
mH + f H + m⊖
Hier ist mH+ die Molalität der Wasserstoffionen in mol kg−1, fH+ ist der Aktivitätskoeffizient der Wasserstoffionen und m⊖ die Standardmolalität (1 mol kg−1). Diese Definition des pH-Wertes hat das grundsätzliche Problem, dass Aktivitätskoeffizienten und Aktivitäten von Einzelionen prinzipiell nicht zugänglich sind, weil man in Lösungen die Änderungen der Freien Enthalpie mit der Konzentration von Einzelionen nicht messen kann, da immer auch die Konzentration der Gegenionen geändert wird. Allerdings kann man Aktivitätskoeffizienten von Einzelionen experimentell und theoretisch mit hinreichender Genauigkeit abschätzen.
Man beachte, dass das Symbol pH nicht kursiv sondern aufrecht geschrieben wird, obwohl es ein Symbol einer physikalischen Größe ist und diese immer kursiv zu schreiben sind. In allen folgenden Darstellungen werden wir den pH-Wert näherungsweise im Sinne der folgenden Formel verwenden:
Gl. 3.18
pH ≈ −lgac,H+ = −lgac,H3 O+ ≈ −lgcH3 O+
(Für kleine Konzentrationen und Lösungen, die praktisch die Dichte reinen Wassers haben, sind die molaren Konzentrationen [Einheit: mol L−1] fast identisch mit den molalen Konzentrationen [Einheit: mol kg−1]). Wir verwenden hier auch die etwas genauere Beschreibung der Wasserstoffionen als H3 O+-Ionen. (Die IUPAC verwendet H+ als allgemeines Symbol für die Wasserstoffionen, weil man verschiedene Hydrate, + beispielsweise auch H5 O+ 2 und H7 O3 , kennt und sich nicht auf eine Form festlegen
34
3 Säure-Base-Gleichgewichte
wollte. In der chemischen Literatur wird aber meistens die Formel H3 O+ verwendet, weil sie das wichtigste und typischste Hydrat beschreibt. Neueste Untersuchungen haben gezeigt, dass tatsächlich der sogenannte Zundel-Komplex H5 O+ 2 die beste Beschreibung ist [28].) Der Zundel-Komplex wurde von dem Physiker Georg Zundel (1931‒2007) anhand infrarotspektroskopischer Befunde postuliert. Zundel ist auch bekannt für seine Aktivitäten in der Friedens- und Konfliktforschung.
In Analogie dazu wird auch der pOH-Wert definiert:
Gl. 3.19
pOH ≈ − lg ac, OH− ≈ − lg cOH−
Unter Berücksichtigung von Gl. 3.10 kann das Ionenprodukt des Wassers in der logarithmischen Schreibweise wie folgt wiedergegeben werden:
Gl. 3.20
pKW = pH + pOH
Aus den in Tab. 3.2 gegebenen pKW-Werten ergeben sich für Wasser (pH = pOH) bei verschiedenen Temperaturen folgende pH-Werte:
10 ◦ C : pH = 7,26; 20 ◦ C : pH = 7,08; 25 ◦ C : pH = 7,00; 100 ◦ C : pH = 6,13 Bei 25 °C werden Lösungen als sauer bezeichnet, deren pH-Wert kleiner als sieben ist. Ist bei dieser Temperatur der pH-Wert größer als sieben, spricht man von basischen Lösungen, ist der pH-Wert gleich sieben, bezeichnet man die Lösungen als neutral. Tatsächlich wird der pH-Wert von Leitungswasser oder deionisiertem Wasser immer leicht im Sauren liegen, da Kohlenstoffdioxid aus der Luft im Wasser gelöst wird und den sauren Charakter hervorruft (siehe Abschn. 3.2.4). Aus der Temperaturabhängigkeit der Autoprotolysekonstante des Wassers folgt, dass bei 100 °C der Neutralpunkt bei pH = 6,13 liegt und bei 0 °C bei 7,47.
3.2.3 Die Stärke von Säuren und Basen Betrachtet man das Gleichgewicht 3.3, so muss man sich zunächst darüber Klarheit verschaffen, welche quantitativen Aussagen man aus dieser Reaktionsgleichung ziehen kann. Wenn man sie richtig interpretiert, ergeben sich sehr wichtige Erkenntnisse für spätere Berechnungen. Folgende Aussagen können getroffen werden:
1. HB reagiert ständig mit H2 O und bildet dabei B− und H3 O+. 2. Gleichzeitig reagiert B− ständig mit H3 O+ zu HB und H2 O. (Das ist allerdings nicht so zu verstehen, dass die B−-Ionen wirklich mit H3 O+-Ionen zusammentreffen müssen; es ist viel wahrscheinlicher, dass sie mit H2 O-Molekülen
3.2 Die Quantifizierung der Säure- und Basestärke …
35
zusammentreffen und dabei OH−-Ionen entstehen, die dann wiederum mit H3 O+-Ionen H2 O-Moleküle bilden. Das ist schon ein mechanistischer Aspekt der Reaktion, der hier keine Rolle spielt, weil die thermodynamische Beschreibung durch die Reaktionsgleichung davon unberührt bleibt.) 3. Ganz wichtig ist die folgende Aussage: Wenn ein HB-Molekül mit einem H 2 OMolekül reagiert, bildet sich genau ein B−-Ion und ein H3 O+-Ion, d. h., wenn man nur diese Reaktion betrachtet, muss gelten, dass ccB−+ = 1 ist und somit H3 O cB− = cH3 O+. Aus der Reaktionsgleichung kann man nicht erkennen, wie viele der in der Lösung vorhandenen HB-Moleküle diese Reaktion eingehen. (Natürlich schreibt man die Reaktion nur für die reagierenden Teilchen, da eine Gleichung HB + H2 O ⇄ HB + H2 O uns nicht für Berechnungen helfen kann.) 4. Aus 3. folgt, dass man aus der Reaktionsgleichung keine Aussage über die c folgenden Verhältnisse machen kann: ccHB− , c cHB+ und c H2 O+ . Dafür benötigt man B H3 O H3 O die Gleichgewichtskonstante:
Gl. 3.6
Ks =
cB− cH3 O+ cHB
Weil diese Gleichgewichtskonstante das Verhältnis der Konzentrationen der Endprodukte zu denen der Ausgangsstoffe angibt, ist sie ein Maß für die Stärke der Säure HB. Wenn die Säure HB sehr viel H3 O+-Ionen bildet, d. h. die Lösung dadurch sehr sauer wird, betrachtet man die Säure als stärker als eine andere Säure, die weniger H3 O+-Ionen bildet. 5. Da der Quantifizierung der Säurestärken verschiedener Säuren das Gleichgewicht 3.3 zugrunde gelegt wird, ist es klar, dass sich diese Quantifizierung nur auf Wasser bezieht. In anderen Lösungsmitteln wird die Reaktion der Säure HB mit dem Lösungsmittel zu anderen Gleichgewichtskonstanten führen.
Tab. 3.4 gibt eine Übersicht zu den pKS-Werten verschiedener Säuren in Wasser. Bei der Betrachtung der pKS-Werte fällt auf, dass die kleinsten und größten Werte nicht so präzise angegeben sind wie die pKS-Werte zwischen 0 und 14. Das kommt daher, dass die KS-Werte so klein bzw. so groß sind, dass sie experimentell nur relativ ungenau bestimmt werden können.
Wenn die pKS-Werte deutlich unterhalb 0 liegen, sagt man, dass die Stärke dieser Säuren in Wasser nivelliert wird (nivellierender Effekt des Wassers), d. h. alle diese Säuren praktisch gleich stark erscheinen, weil sie nahezu vollständig protolysiert vorliegen und bei gleicher Gesamtkonzentration auch gleich viel H3 O+-Ionen bilden. Genauso sind Säuren mit pKS-Werten, die wesentlich über 14 liegen, als so schwache Säuren einzuschätzen, dass man sagen kann, dass sie praktisch nicht als Säuren in Wasser reagieren.
36
3 Säure-Base-Gleichgewichte
Tab. 3.4 pKS-Werte von Säuren in Wasser. Die Daten stammen hauptsächlich aus [29] Korrespondierendes Säure-Base-Paar
pKS-Wert [Ionenstärke]a (25 °C)
HClO4 /ClO− 4
ca. −10 ca. −10
HI/I−
ca. −9
−
HBr/Br
HCl/Cl−
ca. −7
H2 SO4 /HSO− 4 HNO3 /NO− 3
−3 [0]
C2 O4 H2 /C2 O4 H− (Oxalsäure/Hydrogenoxalat)
−1,34 [0] 1,271
2− HSO− 4 /SO4
1,99 [0]; 1,55 [0,1]
H3 PO4 /H2 PO− 4 3+ 2+ Fe(H2 O)6 / Fe(H2 O)5 OH −
2,148 [0]; 2,0 [0,1]
HF/F
3,17 [0]; 2,92 [0,1]; 2,96 [1,0]
HCOOH / HCOO− (Ameisensäure/Formiat)
3,752
C2 O4 H− /C2 O2− 4 (Hydrogenoxalat/Oxalat)
4,266
H3 CCOOH/H3 CCOO (Essigsäure/Acetat) 3+ 2+ Al(H2 O)6 / Al(H2 O)5 OH
4,756
−
2,19 [0]; 2,83 [0,1]
4,99 [0]; 5,69 [0,1]
H2 CO3 /HCO− 3 H2 S/HS−
6,35 [0]; 6,16 [0,1]; 6,02 [1,0]
2− H2 PO− 4 /HPO4 NH+ 4 /NH3 −
7,199[0]; 6,72 [0,1]; 6,46 [1,0]
7,02 [0]; 6,83 [0,1]; 6,61 [1,0] 9,244 [0]; 9,29 [0,1]; 9,40 [1,0]
HCN/CN 2+ + Fe(H2 O)6 / Fe(H2 O)5 OH
9,21 [0]; 9,01 [0,1]; 8,95 [1,0]
2− HCO− 3 /CO3
10,33 [0]; 10,0 [0,1]; 9,57 [1,0]
3− HPO2− 4 /PO4 − 2−
12,35 [0]; 11,74 [0,1]; 10,79 [3,0]
HS /S
13,9 [0]; 13,8 [1,0]b
NH3 /NH− 2
ca. 23
9,5 [0]
aDie Ionenstärke kann die pK -Werte merklich beeinflussen. Üblicherweise werden Werte S angegeben, die durch Extrapolation auf eine Ionenstärke gleich null erhalten werden bFür die zweite Protolysestufe des Schwefelwasserstoffes werden in der Literatur sogar Werte von 16 und 18 für den pKS-Wert angegeben
In manchen Lehrbüchern teilt man die Säuren ganz strikt in a) sehr starke, b) starke, c) mittelstarke, d) schwache und e) sehr schwache ein. Uns erscheint eine genaue Festlegung der Grenzen zwischen diesen Stärken als recht willkürlich und deshalb auch nicht sinnvoll. Abb. 3.19 zeigt ungefähr die Bereiche, die man diesen Begriffen zuordnen kann. Am klarsten heben sich dabei die sehr starken und sehr schwachen Säuren hervor, deren Stärken nivelliert werden.
3.2 Die Quantifizierung der Säure- und Basestärke …
37
Abb. 3.19 Differenzierung von Säuren und Basen hinsichtlich ihrer Stärke
Im Wasser ist das Kation H3 O+ die stärkste Säure und das Anion OH− die stärkste Base, die in analytisch relevanten Konzentrationen auftreten können. In von Wasser verschiedenen protischen Lösungsmitteln sind dies die Lyonium- und Lyationen (siehe Abschn. 3.2.6).
3.2.4 Gesetzmäßigkeiten bei den Stärken anorganischer Säuren Es gibt einige Gesetzmäßigkeiten, mit deren Hilfe man die relative Stärke anorganischer Säuren zueinander abschätzen kann. Dabei ist immer die Frage, wie stark das Proton gebunden ist. Betrachtet werden zunächst Säuren, die ein Proton besitzen, welches nicht an Sauerstoff gebunden ist (z. B. HCl und HBr). Zwei Faktoren beeinflussen ihre Säurestärke: die Elektronegativität und die Atomgröße des Elements, mit dem der Wasserstoff verbunden ist. Ein Atom eines stark elektronegativen Elements entzieht dem Wasserstoffatom die Elektronendichte wirksamer als das eines weniger elektronegativen Elements und erleichtert seine Abspaltung als Proton. Der Einfluss der Atomgröße ist von größerer Bedeutung und lässt sich dadurch erklären, dass bei einem großen Atom die Valenzelektronenschale auf einem größeren Raum verteilt und damit das Proton weniger fest gebunden ist als bei einem kleinen Atom. Ist der Wasserstoff an ein Sauerstoffatom gebunden, dann ist die Elektronegativität des nächsten Nachbarn zum Sauerstoff entscheidend. Formal kann man sich die „Baugruppe“ H − O − Z vorstellen. Ist Z ein Atom eines Metalls geringer Elektronegativität, wie beispielsweise ein Alkalimetallion, dann wird das Elektronenpaar zwischen O und Z zum Sauerstoff gehören, die Bindung hat überwiegend ionischen Charakter, z. B. Na+OH−. In wässriger Lösung findet eine Dissoziation statt, weil eine Hydratation (allgemein: Solvatation) der Ionen erfolgt und sich Metallaquaionen und hydratisierte Hydroxidionen bilden. Die hydratisierten Ionen bilden sich, weil die Wassermoleküle als Dipole mit den Ionen wechselwirken und bei der Solvatation die Freie Enthalpie des Systems erniedrigt wird und aus ‚Lösungsmittel + festem Salz (oder + Gas, z. B. HCl, oder + undissoziierter Säure HB)‘ die ‚Salzlösung (oder Säurelösung oder Basenlösung)‘ entsteht. Ist Z ein Nichtmetallion mit einer hohen Elektronegativität, dann liegt zwischen O und Z eine hauptsächlich kovalente Bindung
38
3 Säure-Base-Gleichgewichte
vor, die nicht so leicht spaltbar ist. Durch den Elektronenzug von O und Z wird die Elektronendichte der Bindung zum Wasserstoffatom erniedrigt, d. h., die Bindung des Wasserstoffatoms wird geschwächt und damit das Proton leichter abspaltbar. Der Effekt ist umso größer, je elektronegativer Z ist. Sind weitere Sauerstoffatome an ein Atom eines chemischen Elements gebunden, so nimmt die Säurestärke zu, etwa in der Reihe Hypochlorige Säure HClO (pKS = 7,54) – Chlorige Säure HClO2 (pKS = 1,97) – Chlorsäure HClO3 (pKS = −2,7) ‒ Perchlorsäure HClO4 (pKS = −10). Zu weiterführenden Informationen zum Zusammenhang zwischen der Struktur einer Säure und ihren pKs-Werten siehe Lehrbücher der anorganischen Chemie. Mehrbasige Säuren und mehrsäurige Basen sind Verbindungen, die mehr als ein Proton abgeben bzw. aufnehmen können. Beispielsweise sind Schwefelsäure H2 SO4 und Phosphorsäure H3 PO4 mehrbasige Säuren und Sulfationen SO2− 4 und Phosphationen PO3− mehrsäurige Basen. Jeder Stufe wird eine Säurebzw. Basenkonstante zugeordnet. 4 Man nummeriert so, wie hier am Beispiel der Phosphorsäure gezeigt wird: Erste Protolysestufe von H3 PO4: + H3 PO4 + H2 O ⇄ H2 PO− 4 + H3 O ,
Gleichgewicht 3.15 Gl. 3.21
KS1 =
ac, H2 PO−4 ac, H3 O+ ac, H3 PO4
, pKS1 = − lg KS1 .
Zweite Protolysestufe von H3 PO4: 2− + H2 PO− 4 + H2 O ⇄ HPO4 + H3 O ,
Gleichgewicht 3.16 Gl. 3.22
KS2 =
ac, HPO2− ac, H3 O+ 4 ac, H2 PO−4
, pKS2 = − lg KS2 .
Dritte Protolysestufe von H3 PO4: 3− + HPO2− 4 + H2 O ⇄ PO4 + H3 O ,
Gleichgewicht 3.17 Gl. 3.23
KS3 =
ac, PO3− ac, H3 O+ 4 ac, HPO2− 4
, pKS3 = − lg KS3 .
Man kann die pKS-Werte, um ganz exakt zu sein, auch wie folgt indizieren: pKS1, H3 PO4, pKS2, H3 PO4 und pKS3, H3 PO4. Beim Phosphation geht man wie folgt vor: Erste Protonierungsstufe von PO3− 4 :
Gleichgewicht 3.18 Gl. 3.24
KB1 =
Zweite Protonierungsstufe von PO3− 4 :
2− − PO3− 4 + H2 O ⇄ HPO4 + OH ,
aHPO2− aOH− 4 aPO3− 4
, pKB1 = − lg KB1 .
3.2 Die Quantifizierung der Säure- und Basestärke …
Gleichgewicht 3.19 Gl. 3.25
KB2 =
39
− − HPO2− 4 + H2 O ⇄ H2 PO4 + OH ,
aH2 PO−4 aOH− aHPO2− 4
, pKB2 = − lg KB2 .
Dritte Protonierungsstufe von PO3− 4 :
Gleichgewicht 3.20 Gl. 3.26
KB3 =
− H2 PO− 4 + H2 O ⇄ H3 PO4 + OH ,
aH3 PO4 aOH− , pKB3 = − lg KB3 . aH2 PO2− 4
, pKB2, PO3− und pKB3, PO3− . Hier kann man auch wie folgt indizieren: pKB1, PO3− 4 4 4 Befinden sich die abspaltbaren Protonen an einem Element (z. B. am Schwefel in Schwefelwasserstoff) oder an Sauerstoffatomen, die an ein Element gebunden sind (z. B. Phosphorsäure), dann steigt der Energieaufwand zur Ablösung eines Protons mit jeder Stufe, da die negative Ladung der korrespondierenden Base stetig zunimmt. Die Säurestärke sinkt mit jeder Protolysestufe in etwa um den Faktor 105 (vgl. die einzelnen Protolysestufen für Phosphorsäure, Dihydrogenphosphat und Hydrogenphosphat in Tab. 3.4). In Analogie dazu nimmt die Basenstärke mit zunehmendem Protonierungsgrad ab.
3.2.4.1 Fluorwasserstoffsäure Bei Betrachtung der Tab. 3.4 fallen einige Besonderheiten auf: So hat Fluorwasserstoffsäure im Vergleich zu HCl, HBr und HI einen unerwartet großen pKS-Wert von 3,7 (für eine extrapolierte Ionenstärke von 0). Wenn man sich die pKS-Werte der anderen Halogenwasserstoffsäuren in Wasser ansieht, würde man eher einen Wert um –4 erwarten. Die Erklärung liegt darin, dass in Fluorwasserstoffsäurelösungen die folgenden Gleichgewichte vorliegen [30]: Gleichgewicht 3.21
HF + H2 O ⇄ F− + H3 O+
mit
Gl. 3.27 Gleichgewicht 3.22
KS,HF =
cF− cH3 O+ cHF
F− + H3 O+ ⇄ F− H3 O+
mit
Gl. 3.28
KIP =
c[F− H3 O+ ] cH3 O+ cF−
Dabei ist F− H3 O+ ein sehr stabiles Ionenpaar. Da nach Gl. 3.27 in diesen Wert nur die Aktivitäten von Fluoridionen, Hydroniumionen und neutraler HF eingehen, bei Letzterer aber die klassischen experimentellen Techniken (Potenziometrie, Konduktometrie) nicht
40
3 Säure-Base-Gleichgewichte
zwischen HF und dem Ionenpaar F− H3 O+ unterscheiden, ergibt sich ein relativ kleiner scheinbarer KS, HF, scheinbar-Wert (großer pKS, HF, scheinbar-Wert), der die Tendenz des HF, Protonen an Wasser abzugeben, nicht richtig widerspiegelt: Gl. 3.29
KS, HF, scheinbar =
cF− cH3 O+ cF− cH3 O+ KS, HF = = = 10−3,45 mol L−1 cHF, scheinbar cHF + c[F− H3 O+ ] 1 + KS, HF KIP
Anstelle der wahren Konzentration an HF-Molekülen (cHF) geht in diese Gleichung die Summe cHF + c[F− H3 O+ ] ein, die wir als scheinbare Konzentration cHF, scheinbar bezeichnen. Deshalb ist die resultierende Säurekonstante auch als eine scheinbare anzusehen (KS, HF, scheinbar). Die Bildung der Ionenpaare F− H3 O+ ist auch deshalb der Solvatation der Fluoridionen gegenüber bevorzugt, weil diese eine sehr negative Entropieänderung hat. Hier und in vielen folgenden Gleichungen werden Gleichgewichtskonstanten mit Einheiten angegeben, die sich von Konzentrationen und nicht von Aktivitäten ableiten, da sich dabei die numerischen Werte denen bei Verwendung von einheitenlosen Aktivitäten bei sehr kleinen Konzentrationen annähern.
3.2.4.2 Kohlensäure Es gibt noch einen anderen Fall in Tab. 3.4, bei dem es sich um eine scheinbare Säurekonstante handelt. Im Fall von Kohlensäure muss man die Lösung von Kohlenstoffdioxid in Wasser betrachten. Der größte Teil des Kohlenstoffdioxids liegt im Wasser als gelöstes CO2 vor. Die Gleichgewichtskonstante für die Hydratisierung von CO2 nach Gleichgewicht 3.23
CO2 + H2 O ⇄ H2 CO3
ist K = 1,7 · 10−3, d. h., der weitaus größte Anteil an CO2 liegt einfach als gelöstes Gas vor. Für die Kohlensäure H2 CO3 ist die wahre Säurekonstante, die aus der Gleichgewichtsreaktion
Gleichgewicht 3.24
+ H2 CO3 + H2 O ⇄ HCO− 3 + H3 O
folgt,
Gl. 3.30
KS1, H2 CO3 , real =
cHCO−3 cH3 O+ cH2 CO3
= 2,5 · 10−4 mol L−1 ,
d. h. pKS1, H2 CO3 , real = 3,6. Da man konventionell aber nicht zwischen den Konzentrationen an gelöstem CO2 (cCO2) und der Konzentration an wirklich vorliegender Kohlensäure (cH2 CO3) unterscheidet, sondern die Summe beider Konzentrationen als scheinbare Kohlensäurekonzentration cH2 CO3 , scheinbar nimmt, resultiert eine zu kleine Säurekonstante, die man als scheinbare Säurekonstante KS1, H2 CO3 , scheinbar bezeichnen muss:
Gl 3.31
KS1, H2 CO3 , scheinbar =
cHCO−3 cH3 O+ cH2 CO3 , scheinbar
=
cHCO−3 cH3 O+ cH2 CO3 + cCO2
= 4,6·10−7 mol L−1
3.2 Die Quantifizierung der Säure- und Basestärke …
41
Daraus ergibt sich pKS1, H2 CO3 , scheinbar ≈ 6,37. Die Verwendung des Wertes KS1, H2 CO3 , scheinbar in der Praxis ist durchaus sinnvoll, da man ein Maß für die Azidität bezogen auf den Gesamtgehalt der Lösung an Kohlenstoffdioxid haben möchte.
3.2.4.3 Kinetische Aspekte der Gleichgewichtseinstellung bei Kohlensäure Die Einstellung des Gleichgewichts Gleichgewicht 3.24
+ H2 CO3 + H2 O ⇄ HCO− 3 + H3 O
erfolgt sehr langsam. Das ist in lebenden Organismen ein großes Problem, da bei der Atmung der Transport des Kohlenstoffdioxids in Form von Hydrogencarbonatanionen erfolgt und auch, weil die Homöostase des pH-Wertes garantiert werden muss. Für die nichtkatalysierten Reaktionen hat man die folgenden Geschwindigkeitskonstanten gefunden:
CO2 + H2 O → H2 CO3 : kHin = 0,039 s−1 H2 CO3 → CO2 + H2 O : kR¨uck = 23 s−1 . Organismen besitzen deshalb spezifische Enzyme, die Carboanhydrasen, die diese Reaktionen beschleunigen:
CO2 + H2 O → H2 CO3 : kHin, kat = 1.000.000 s−1 H2 CO3 → CO2 + H2 O : kR¨uck, kat = 400.000 s−1 Der Mechanismus der Katalyse durch Carboanhydrasen ist in Abb. 3.20 wiedergegeben.
3.2.4.4 Die Säurestärke von Metallaquaionen Tab. 3.4 zeigt auch, dass Metallaquaionen prinzipiell selbst als Brønsted-Säuren reagieren können: Gleichgewicht 3.25 Gleichgewicht 3.26
n+ (n−1)+ + H2 O ⇄ Me(OH2 )x−1 (OH) + H3 O+ Me(OH2 )x (n−1)+ (n−2)+ Me(OH2 )x−1 (OH) + H2 O ⇄ Me(OH2 )x−2 (OH)2 +H3 O+
usw. Die Ursache für die Azidität der Metallaquaionen liegt in der polarisierenden Wirkung der Metallkationen. Abb. 3.21 zeigt schematisch, wie durch die positive Ladung der Metallionen Men+ die Bindung der Protonen an den Sauerstoff der H2 O-Liganden geschwächt wird, d. h., die Protonen können leichter an die umgebenden Wassermoleküle abgegeben werden als von „freien“, d. h. nicht koordinativ an Metallionen gebundenen Wassermolekülen.
42
3 Säure-Base-Gleichgewichte
Abb. 3.20 Katalytischer Zyklus der Hydratation von Kohlenstoffdioxid und der Dehydratation von Kohlensäure durch Carboanhydrasen. Das am Zinkion koordinierte Wassermolekül ist saurer als freie Wassermoleküle (siehe Abschn. 3.2.4.4 über die Säurestärke von Metallaquaionen)
Abb. 3.21 Unter der polarisierenden Wirkung des Metallions Men+ wird Elektronendichte so zu diesem verschoben, dass die Bindungen der Protonen an den Sauerstoff geschwächt werden
Es ist daher nicht verwunderlich, dass die KS-Werte proportional der Ladung der Metallionen und umgekehrt proportional dem Radius der Metallionen sind:
Gl. 3.32
KS∼
Ladung der Metallionen qMen+ Radius der Metallionen rMen+
n+ Man bezeichnet den Bruch qr Men+ oftmals auch als Ionenpotenzial. Diese Größe tritt vielMe fach in thermodynamischen Gleichungen auf, die sich auf Ionen und ionische Festkörper beziehen. Abb. 3.22 zeigt für eine große Anzahl von Metallaquaionen den n+ Zusammenhang zwischen pKS1-Werten und den Quotienten qr Men+ . Die Tatsache, dass Me einige Metallaquaionen von der linearen Korrelation deutlich abweichen, ist dadurch
43
3.2 Die Quantifizierung der Säure- und Basestärke …
K+ Tl
Na + +
Li + Ag
Ba 2+Sr 2+
Ca 2+
+
Cd Pb
2+
Mg 2+ Mn 2+ 2+ Co 2+ hs Ni 2+ Fe 2+ hs Zn 2+
Cu 2+
pK a
Nd 3+ Gd 3+ Ho3+ Eu 3+ Pr 3+ Dy3+ Tb3+ Yb3+ Lu 3+ Er 3+ Pm3+Sm3+
La 3+ 3+ Ce Pu 3+
Y 3+ Be 2+
In 3+ Sc3+ Th 4+
Hg 2+ Pd 2+
Bi3+
Tl3+
Cr 3+
Ga 3+ V 3+ Fe3+ hs Ti3+ Np 4+ U 4+ Co3hs+
Au 3+
Pu 4+ Pa 4+
Al3+
Hf 4+ Zr 4+
Ti 4+
q • 104 pm −1 r Abb. 3.22 Korrelation zwischen den pKS1-Werten und dem Quotienten Metallaquaionen
qMen+ rMen+
für verschiedene
verursacht, dass diese besonders ausgeprägte kovalente Anteile bei der Bindung Metallion-Wasser haben. Eine interessante Korrelation lässt sich auch zwischen den p KS1Werten und den n-ten Ionisierungspotenzialen der Metallionen aufzeigen (Abb. 3.23). Diese Ionisierungspotenziale beziehen sich auf die Metallionen im Vakuum und geben die Energie an, die notwendig ist das n-te Elektron abzulösen, welche ebenfalls vom n+ Quotienten qr Men+ abhängt. Me Betrachtet man Abb. 3.22 und bedenkt, dass der pKS-Wert von Essigsäure 4,75 beträgt, sieht man, dass eine ganze Reihe von Metallaquaionen saurer als Essigsäure sind. Das hat ganz weitreichende Konsequenzen für die Chemie ihrer wässrigen Lösungen: In den beiden Gleichgewichten 3.25 und 3.26 werden Hydroxokomplexe gebildet, die zu Kondensationsreaktionen führen: Gleichgewicht 3.27 Gleichgewicht 3.28
(n −1)+ (2n−2)+ 2 Me(OH2 )x−1 (OH) ⇄ (H2 O)x −1 Me − O − Me(OH2 )x −1 +H2 O (n−2)+ (2n−4)+ 2 Me(OH2 )x−2 (OH)2 ⇄ (H2 O)x −2 Me�O +2H2 O O �Me(OH2 )x −2
44
3 Säure-Base-Gleichgewichte
Abb. 3.23 Korrelation zwischen den pKS1Werten und den n-ten Ionisierungspotenzialen der Metallionen. (Nach [31])
sind die beiden Oktaeder in Im Fall oktaedrischer Metallaquakomplexe (2n−2)+ über eine Ecke verknüpft und in (H2 O)5 Me − O − Me(OH2 )5 (2n−4)+ O über eine Kante (siehe Abb. 3.24). Prinzipiell kann (H2 O)4 Me�O �Me(OH2 )4 (n−2)+ Me(OH die Kondensation der Ionen auch zu Ketten mit der Formel ) (OH) 2 x−2 2 (m+2)(n−2)+ (HO)(H2 O)x −2 Me − O − Me(H2 O)x −2 m − Me(OH2 )x−2 (OH) führen. In vielen Fällen liegen die Sauerstoffbrücken auch protoniert vor. Sind drei oder noch mehr OH−-Ionen an ein Metallion gebunden, so können die Kondensationsreaktionen zu dreidimensionalen Verknüpfungen führen, wie zum Beispiel bei Iso- und Heteropolymetallionen (siehe Abb. 3.28). Mit zunehmender Größe bilden sich schwerlösliche Verbindungen. Als Endprodukte entstehen dann Metalloxidhydrate, die schließlich zu Metalloxiden dehydratisiert werden können. Ein umweltchemisch besonders interessanter Fall ist der der Eisen(III)-aquaionen.
3.2.4.5 Die Säure-Base-Chemie der Eisen(II)und Eisen(III)-aquaionen II
Der pKS1-Wert von Eisen(II)-aquaionen Fe (OH2 )6
2+
ist 9,5 (d. h., sie sind noch
etwas schwächer sauer als Ammoniumionen, deren pKS-Wert 9,25 beträgt). Der 3+ III Eisen(III)-aquakomplex Fe (OH2 )6 ist mit pKS1 = 2,2 um über sieben Zehnerpotenzen azider als der Eisen(II)-Komplex. Das ist entsprechend der Gl. 3.32 eine Folge q 3+ = 653pm = 4,6 · 10−2 pm−1 des kleinen Radius und der größeren Ladung von Fe3+: r Fe3+ Fe q 2+ = 782pm = 2,6 · 10−2 pm−1. Unter anaeroben Bedingungen, z. B. im Vergleich zu r Fe2+ Fe im Grundwasser, liegt Eisen in der Oxidationsstufe +2 vor. Unter aeroben Bedingungen erfolgt eine Oxidation zu Eisen(III). Dieser Prozess führte im Urozean zur Bindung des ersten durch Fotosynthese im Wasser entstandenen Sauerstoffs. Man schätzt,
3.2 Die Quantifizierung der Säure- und Basestärke …
45
Abb. 3.24 Schematische (2n−2)+ Darstellung von a (H2 O)5 Me − O − Me(OH2 )5 (2n−4)+ und b (H2 O)4 Me�O O �Me(OH2 )4
dass etwa 58 % allen Sauerstoffs, der auf der Erde durch Fotosynthese entstanden ist, zur Oxidation von Eisen(II) zu Eisen(III) verwendet wurde und heute hauptsächlich in Form von Fe2 O3 vorliegt. Weitere 38 % wurden zur Oxidation von Sulfid und Schwefel zu Sulfat verbraucht und nur 4 % liegen als elementarer Sauerstoff in der Erdatmosphäre vor. Die Eisenkonzentration im Urozean betrug etwa 10−7 mol L−1 Fe2+ (die des Eisen(III) war praktisch null). Heute liegt die Eisen(III)-Konzentration im nanomolaren Bereich und die des Eisen(II) ist praktisch null [54]! Die bei der Oxidation von Eisen(II) gebildeten Eisen(III)-aquaionen sind die im Abschn. 3.2.4.4 genannten Protolyse- und Kondensationsreaktionen zu schwerlöslichen Eisen(III)-oxidhydraten eingegangen, aus denen in späteren geologischen Prozessen durch weitere Wasserabspaltung schließlich hauptsächlich Fe2 O3 entstanden ist. Bei eisenreichem Grundwasser kann man diese Reaktionen leicht beobachten, wenn man frisches, d. h. praktisch sauerstofffreies Grundwasser in einem Wasserglas der Luft aussetzt. Das zunächst völlig klare Wasser färbt sich mit der Zeit gelblich und bräunlich, wird schließlich trüb und es setzt sich ein gelb-bräunlicher Niederschlag aus Eisen(III)-oxidhydrat ab. Überall dort,
46
3 Säure-Base-Gleichgewichte
Abb. 3.25 Goethit, entstanden durch Oxidation einer Pyritknolle aus der Rügener Kreide, nachdem die Knolle aus der Kreide ausgewaschen und durch Luftsauerstoff oxidiert wurde
wo in der Natur Eisen(II) dem Luftsauerstoff ausgesetzt ist, kann man diese Reaktionen beobachten. So führt auch die Oxidation von Pyrit (FeS2), das aus Fe2+- und S2− 2 -Ionen aufgebaut ist, zu Eisen(III)-oxidhydraten, oftmals zu Goethit FeOOH. Abb. 3.25 zeigt Goethit, das durch Oxidation einer Pyritknolle entstanden war, die in der Rügener Kreide eingelagert war. Solche Pyritknollen haben sich im Sediment des Meeres unter anaeroben Bedingungen letztlich durch Reduktion von Sulfat- und Eisen(III)-Ionen gebildet. Abb. 3.26 zeigt Goethitknöllchen, die sich am Grund eines Binnensees gebildet haben. Ganz ähnliche Goethitknöllchen finden sich an der Bodenoberfläche in ariden Gebieten, wo durch Kapillarkräfte Eisen(II)-haltiges Grundwasser an die Oberfläche gelangt und dort ebenfalls Ablagerungen von Goethit um Sandkörnchen herum verursacht.
3.2.4.6 Die Säure-Base-Chemie höher geladener Metallkationen Wenn die Metallkationen Ladungen von beispielsweise 5+, 6+, 7+ besitzen, so wird die Stabilität von koordinierten Wassermolekülen eventuell so gering, dass sie nicht existenzfähig sind und nur noch O2− als Ligand auftritt. Beispiele dafür sind das VII
VI
VI
2− 2− Permanganation Mn O− 4 , das Chromation Cr O4 , das Molybdation Mo O4 , das VI
Wolframation W O2− Bei einigen dieser Ionen kennt man auch protonierte 4 und andere. − VI VI Formen, wie beispielsweise O3 Cr OH , aber die Säure H2 Cr O4, besser geschrieben als VI
O2 Cr (OH)2, ist in ihrer ersten Protolysestufe
3.2 Die Quantifizierung der Säure- und Basestärke …
47
Abb. 3.26 Goethitknöllchen (Durchmesser im Bereich von 1–6 mm), die sich in einem Binnensee durch Ablagerung von Goethit um Sandkörner gebildet und im Uferbereich durch Klassierung angesammelt haben (Schwielowsee bei Potsdam)
Gleichgewicht 3.29
− VI VI O2 Cr (OH)2 + H2 O ⇄ O3 Cr OH + H3 O+
− VI eine so starke Säure, dass in wässrigen Lösungen ausschließlich O3 Cr OH vor − VI liegt. In sauren Lösungen kondensieren die Hydrogenchromationen O3 Cr OH zu Dichromationen Cr2 O2− 7 (analog zum Gleichgewicht 3.27). Abb. 3.27 zeigt die Existenzbereiche der Liganden H2 O, OH− und O2− eines Metallions in Abhängigkeit von der Ladung qMen+ als Funktion des pH-Werts. Als Beispiel sind die Komplexe des Chrom(III) und Chrom(VI) eingezeichnet. Diese Abbildung gibt die Existenzbereiche allerdings nur näherungsweise wieder, da für eine exaktere Beschreibung die Radien der Metallionen mitberücksichtigt werden müssten und kovalente Bindungsanteile zu weiteren Abweichungen führen können. Bei vielen höher geladenen Metallionen führen die Protolyse- und Kondensationsreaktionen auch zur Bildung wohldefinierter Isopolykationen, z. B. des Parawolframations [H2 W12 O42 ]10− (siehe Abb. 3.28). Sind neben den Metallionen während der Protolyse- und Kondensationsreaktionen noch Ionen wie Silikat-, Phosphatoder beispielsweise Arsenationen anwesend, so entstehen die bekannten Heteropolyanionen, z. B. das Dodekamolybdatophosphation [PO4 Mo12 O36 ]3−. Zur Chemie der Isopoly- und Heteropolyionen siehe [33] und Lehrbücher der Anorganischen Chemie.
48
3 Säure-Base-Gleichgewichte
Abb. 3.27 Existenzbereiche der Liganden H2 O, OH− und O2− eines Metallions mit der Ladung qMen+ als Funktion des pH-Werts. Als Beispiel sind die Komplexe des Chrom(III) und Chrom(VI) eingezeichnet. (Nach [32]). Cr(OH)3 aq bezeichnet hier schwerlösliches Chrom(III)-oxidhydrat
Abb. 3.28 Struktur des Parawolframations [H2 W12 O42 ]10−. Die beiden Protonen sind als rote Kugeln eingezeichnet. Die blauen Oktaeder sind WO6-Einheiten, die über Kanten und Ecken verbrückt sind [34]
3.2.4.7 Kinetische Aspekte der chemischen Reaktionen von Metallaquakomplexen Wie praktisch alle Protonenübertragungsreaktionen in wässrigen Lösungen, so sind auch die der Metallaquakomplexe sehr schnelle Reaktionen. Allerdings sind die nachgelagerten Kondensationsgleichgewichte oftmals langsam und auch nicht reversibel. Insbesondere Metallionen der Oxidationsstufe +3, ganz besonders die Chrom(III)-aquaionen, zeigen einen sehr langsamen Austausch der koordinierten Wassermoleküle und einmal gebildete mehrkernige Komplexe (Isopolyaquaionen) können nur sehr schwer wieder zu den einkernigen Hexaquametallionen hydrolysiert werden. Will man daher eine reine Lösung von Chrom(III)-aquaionen herstellen, so muss man in perchlorsaurer Lösung Dichromationen mit Oxalsäure reduzieren, da sich nur so die Bildung von mehrkernigen Komplexen verhindern lässt. Eine Auflösung fester
3.2 Die Quantifizierung der Säure- und Basestärke …
49
Chrom(III)-Salze führt immer zu Verunreinigungen mit mehrkernigen Komplexen. Die Neigung der Metallionen Liganden auszutauschen, wird mit dem Begriff der Labilität charakterisiert: Labile Komplexe sind solche, bei denen die Liganden schnell ausgetauscht werden. Bei Chrom(II)- und Chrom(III)-Komplexen ist der Unterschied der Labilität am stärksten ausgeprägt. Der Austausch von Wassermolekülen des Chrom(III)-hexaquakomplexes mit Wassermolekülen des umgebenden Wassers ist etwa 1014-mal langsamer als der von Chrom(II)-hexaquakomplexen [35]!
3.2.4.8 Konsequenzen aus der Säure-Base-Chemie der Metallionen für die Analytische Chemie, Umweltchemie und Toxikologie Die Neigung von Metallaquaionen Protolyse- und Kondensationsreaktionen einzugehen, hat weitreichende Konsequenzen für die analytische Chemie. Außer bei den Alkalimetallkationen und den schwereren Erdalkalikationen muss man bei der Verdünnung von Metallsalzlösungen immer damit rechnen, dass diese Reaktionen zu schwerlöslichen Produkten führen, was man allerdings bei sehr kleinen Konzentrationen mit dem bloßen Auge nicht bemerkt. Die sich bildenden Kolloide der Metalloxidhydrate stehen dann aber oftmals für chemische Reaktionen nicht mehr zur Verfügung bzw. reagieren in ganz anderer Weise. Sie adhärieren auch leicht an den inneren Gefäßwänden und entziehen sich so Analysenmethoden, die nur gelöste oder mindestens kolloid suspendierte Verbindungen erfassen. Bei der Titration von Sb3+- und Bi3+-Lösungen muss man bekanntlich in stark salzsauren Lösungen arbeiten, da sonst sofort weiße Niederschläge der Oxidhydrate ausfallen, die nicht mehr mit Bromat oxidiert werden können (auch eine nachträgliche Auflösung mit Säure ist im Fall von Bismut unmöglich, falls man die Lösung mit Wasser zu sehr verdünnt hat. Das hat kinetische Ursachen, d. h., die Bismutoxidhydrate werden nur extrem langsam hydrolytisch gespalten). Natürlich haben diese Reaktionen auch Konsequenzen für die Aufnahmefähigkeit der Metallionen durch Organismen und damit auf ihre Toxizität.
3.2.5 Gesetzmäßigkeiten bei den Stärken organischer Säuren und Basen Viele organische Moleküle tragen funktionelle Gruppen, die einen sauren oder basischen Charakter haben. Eine umfassende und detaillierte Diskussion aller funktioneller Gruppen würde den Rahmen dieses Buches sprengen und es wird auf Lehrbücher der organischen Chemie verwiesen; hier werden nur die wichtigsten Regeln angesprochen, mit deren Hilfe man die Stärke organischer Säuren und Basen näherungsweise einschätzen kann. Für eine Abschätzung der Säurestärken ist die Festigkeit der Bindung zum abspaltbaren Proton wichtig. Diese wird vor allem durch induktive Effekte und durch Resonanzstabilisierung beeinflusst.
50
3 Säure-Base-Gleichgewichte
Man beachte auch hier, dass die Säurestärke bezogen ist auf das Lösungsmittel und Solvatationseffekte dazu führen können, dass sich die Reihenfolge der Stärke verschiedener Säuren in unterschiedlichen Lösungsmitteln ändern kann.
Alkohole kann man als Derivate des Wassers ansehen, in denen ein Wasserstoffatom durch eine Alkylgruppe ersetzt ist. Ist der Kohlenstoffrest ein Alken oder Alkin, spricht man von Alkenolen bzw. Alkinolen. Ist die OH-Gruppe unmittelbar an ein sp2-hybridisiertes Kohlenstoffatom gebunden, handelt es sich um Enole, die in einem Tautomeriegleichgewicht mit Ketonen vorliegen. Alkohole sind generell recht schwache Säuren (Tab. 3.5), wobei die Säurestärke mit zunehmender Kettenlänge des Alkylrests weiter abnimmt. Das ist vor allem auf den positiven induktiven Effekt der Alkylgruppen zurückzuführen. Ein verzweigtes Alkan (oder Alken, Alkin) führt durch sterische Hinderung zu einer weiteren Abnahme der Säurestärke. Dagegen bewirken elektronenziehende Substituenten in der Nähe der OH-Gruppe eine Zunahme der Säurestärke. Der induktive Effekt steigt mit der Zahl elektronegativer Substituenten und nimmt mit zunehmender Entfernung von der OH-Gruppe ab. Durch das freie Elektronenpaar am Sauerstoff sind Alkohole auch basisch, d. h., sie sind amphoter, wobei die Basenstärke jedoch nur gering ist (die pKS-Werte der korrespondierenden Säuren, d. h. der Oxoniumionen, sind in der Regel kleiner als null). Ein Grund für die vergleichsweise hohe Azidität von Carbonsäuren ist der negative induktive Effekt der Carbonylgruppe, wodurch die OH-Bindung polarisiert wird. Noch wichtiger ist allerdings die Resonanzstabilisierung des Carboxylat-Anions (siehe Abb. 3.29). Auch bei den Carbonsäuren nimmt die Säurestärke mit zunehmender Kettenlänge aufgrund des positiven induktiven Effekts des Alkylrests ab (siehe Reihenfolge Ameisensäure ‒ Essigsäure – Propionsäure in Tab. 3.5) und stark elektronegative Substituenten erhöhen die Säurestärke.
Tab. 3.5 pKS-Werte einiger ausgewählter organischer Verbindungen für das Lösungsmittel Wasser
Verbindung
pKS-Wert
CH3OH
15,5
CH3CH2OH
15,9
(CH3)2CHOH
17,1
CF3CH2OH
12,4
HCOOH
3,75
CH3COOH
4,75
CH3CH2COOH
4,85
Cl3CCOOH
0,65
F3CCOOH
0,23
3.2 Die Quantifizierung der Säure- und Basestärke …
51
Abb. 3.29 Resonanzstabilisierung im Carboxylat-Anion
Abb. 3.30 pKS-Werte von Mono- (schwarze Punkte) und Dicarbonsäuren (hier nur die pKS1Werte; rote Punkte) als Funktion des Molekulargewichts. Monocarbonsäuren: C4 steht für Buttersäure (pKS = 4,82) und Isobuttersäure (pKS = 4,86), C5 steht für Isovaleriansäure (pKS = 4,76), 2-Methylbuttersäure (pKS = 4,79), Valeriansäure (pKS = 4,84) und Pivalinsäure (pKS = 5,02)
In Abb. 3.30 sind die pKS-Werte von Mono- und Dicarbonsäuren (hier nur die pKS1-Werte) als Funktion des Molekulargewichts aufgetragen, damit man den Trend der Änderungen mit der Kettenlänge erkennen kann. Trägt eine organische Verbindung mehr als eine Carboxylgruppe, dann ist die Differenz der pKS-Werte davon abhängig, wie weit diese Gruppen im Molekül voneinander entfernt sind. Je weniger CH2-Gruppen sich zwischen den Carboxylgruppen befinden, umso größer ist die Differenz der pKS-Werte (vgl. Abb. 3.31).
52
3 Säure-Base-Gleichgewichte
Abb. 3.31 pKS1- und pKS2Werte von Dicarbonsäuren sowie die Differenz ∆pKS als Funktion der Anzahl nCH2 der CH2-Gruppen zwischen den Carboxylgruppen
3.2.6 Nichtwässrige Lösungsmittel Die Säure-Base-Theorie nach Brønsted und Lowry (Säure = Protonen-Donator, Base = Protonen-Akzeptor) lässt sich problemlos auf nichtwässrige protische Lösungsmittel übertragen, da es sich bei allen Reaktionen zwischen Säuren und Basen nur um einen Protonenaustausch handelt. Die Schwierigkeit hierbei ist jedoch die Beschreibung der jeweiligen Säurestärke einer Verbindung, die ja an den Reaktionspartner gekoppelt ist (in wässriger Lösung an das Lösungsmittel Wasser, siehe Gl. 3.1). In Analogie zum Wasser kann man für die Eigendissoziation „wasserähnlicher“ Lösungsmittel zum Beispiel von flüssigem Ammoniak und Essigsäure (wasserfreier!) formulieren:
Gleichgewicht 3.30 Gleichgewicht 3.31
− 2NH3 ⇄ NH+ 4 + NH2
− 2CH3 COOH ⇄ CH3 COOH+ 2 + CH3 COO
Wie bereits früher erklärt, bezeichnet man die bei der Autoprotolyse entstehenden Kationen als Lyoniumionen, die Anionen als Lyationen, die Lösungsmittel als amphiprotische Lösungsmittel oder Ampholyte. Werden Säuren HB oder Basen B− in einem solchen amphiprotischen Lösungsmittel LH gelöst, so stellen sich folgende Gleichgewichte ein:
Gleichgewicht 3.32
HB + LH ⇄ B− + LH+ 2
Gleichgewicht 3.33
B− + LH ⇄ HB + L−
3.2 Die Quantifizierung der Säure- und Basestärke …
53
Wenn diese Gleichgewichte weit auf der rechten Seite liegen, dann sind anstelle der eigentlichen Säure bzw. Base weitgehend Lyonium- bzw. Lyationen entstanden.
Wie im Lösungsmittel Wasser spricht man dann hier auch von einem nivellierenden Effekt des Lösungsmittels. Lyonium- und Lyation stellen jeweils die stärkste Säure bzw. Base in dem betreffenden Lösungsmittel dar, d. h., stärkere Säuren und Basen können zwar in den entsprechenden Lösungsmitteln auch vorliegen, aber im Vergleich mit den Lyonium- und Lyationen nur in sehr kleinen Konzentrationen.
Die Schwierigkeit besteht in der Quantifizierung einer Säure- bzw. Basenstärke in unterschiedlichen Lösungsmitteln. Der Begriff „Azidität“ kann sich dabei auf zwei Fälle beziehen: a. Die Azidität einer gelösten Verbindung (Säure) gegenüber dem Lösungsmittel: Für Brønsted-Säuren ist damit die Stärke der Verbindung gemeint, als P rotonen-Donator gegenüber dem Lösungsmittel zu agieren. Diese wird in wässrigen Lösungen Säurestärke genannt und mit der Gleichgewichtskonstante KS (pKS) quantifiziert. b. Die Azidität eines Lösungsmittels (oder einer Lösung) gegenüber einer gelösten Verbindung. Dieser Ausdruck ist begrenzt auf Lösungen, die Brønsted-Säuren enthalten. Damit ist die Tendenz der Lösung gemeint, eine spezifische Referenzbase zu protonieren. Betrachtet sei zunächst der Fall (b), d. h. die Azidität einer Lösung. In wässrigen Lösungen ist das Maß der Azidität der pH-Wert, da er angibt, wie groß die Aktivität der Hydroniumionen H3 O+ ist. Um diesen Ansatz auf nichtwässrige Lösungen anzuwenden, hat Louis P. Hammett (1894‒1987, US-amerikanischer Physikochemiker) eine Funktion vorgeschlagen, die man ihm zu Ehren als Hammett’sche Aziditätsfunktion bezeichnet [36, 37]. Hierbei wird der Protonierungsgrad von Indikatorbasen bzw. die Dissoziation von Indikatorsäuren gemessen. Hammett definierte dabei eine „simple“ Indikatorbase als eine nichtionisierte bzw. neutrale Substanz, die ein Proton pro Molekül aufnehmen kann, ohne dass Folgereaktionen auftreten. Das Ausmaß der Protonierung lässt sich aus dem Massenwirkungsgesetz für das Gleichgewicht
Gleichgewicht 3.34
BH+ ⇄ B + H+
herleiten:
Gl. 3.33
KS, BH+ =
cB fB ac, H+ ac, B = ac, H+ ac, BH+ cBH+ fBH+
54
3 Säure-Base-Gleichgewichte
Nach Hammett ist die Aziditätsfunktion H0 dann wie folgt definiert: cB fB = pK S, BH+ + lg Gl. 3.34 H 0 ≡ −lg ac, H+ f BH+ cBH+ Das Verhältnis c cB+ kann spektrofotometrisch, potenziometrisch oder konduktometrisch BH und auch mit modernen anderen spektrometrischen Methoden bestimmt werden. Es wird vorausgesetzt, dass die pKS, BH+-Werte (die pKS-Werte von BH+) sich in unterschiedlichen Lösungen nicht unterscheiden. Das ist natürlich nicht immer gegeben, aber für eine Reihe von Lösungen, z. B. Schwefelsäurelösungen unterschiedlicher Konzentrationen, eine hinreichend genaue Näherung. Man nimmt ebenfalls an, dass das Verhältnis der Aktivitätskoeffizienten f fB+ für verschiedene Basen in einer bestimmten BH Lösung gleich ist. In verdünnten wässrigen Lösungen geht der H0-Wert in den pH-Wert über. 2010 schlugen Krossing und Mitarbeiter [38] eine vereinheitlichte Brønsted-Aziditätsskala vor, die auf dem absoluten chemischen Potenzial der Protonen in einem beliebigen Medium basiert. Das absolute chemische Standardpotenzial des Referenzzustands (ideales Protonengas bei 1 bar und 298,15 K) für die absolute + H , g (maximale) Azidität der Protonen in der Gasphase (g) µ⊖ wird hierbei willkürabs −1 lich mit 0 kJ mol festgelegt. Durch die Wechselwirkung der Protonen mit Molekülen einer beliebigen Phase (gasförmig, flüssig, fest) wird die Azidität und demzufolge das chemische Standardpotenzial der gasförmigen Protonen (H+, g) gesenkt. Diese Absenkung in einer beliebigen Lösung (S: Solvens) im Vergleich zur Gasphase wird + ⊖ durch die Freie Standardsolvatationsenthalpie solv G H , S (Protonentransfer aus dem idealen Protonengas bei 1 bar und 298,15 K in eine unendlich verdünnte Protonenlösung mit deren Eigenschaften, aber für die Molenbruchaktivität ax, H+ = 1, d. h. pH = 0) wiedergegeben. Mithilfe eines Modells wurden freie Standardsolvatationsenthalpien für verschiedene Lösungsmittel berechnet. Bezogen auf das Lösungsmittel Wasser beträgt dieser Wert solv G⊖ H+ , H2 O = −1104,5 kJ mol−1 [39]. Die Differenz von einer pH-Einheit führt zu einer Änderung des chemischen Potenzials von 5,71 kJ mol−1 (RT ln aH+ = 2,303RT lg 0,1 = −5,71 kJmol−1). Damit ist es möglich, das chemische Potenzial solvatisierter Protonen µabs H+ , solv für beliebige Protonenaktivitäten in einem beliebigen Lösungsmittel zu berechnen: Gl. 3.35 µabs H+ , solv = �solv G⊖ H+ , S − pH × 5,71 kJ mol−1 Man benötigt lediglich als Ankerpunkt solv G⊖ H+ , S für das entsprechende Lösungsmittel S (siehe Tab. 3.6). So kann man die absoluten Aziditäten von Lösungen vergleichen. Betrachtet sei nun die Azidität einer gelösten Verbindung (Säure) gegenüber dem Lösungsmittel (Fall a): Für die Praxis der Titration entscheidend ist die Frage, ob bei einem Wechsel des Lösungsmittels die Relationen von Säure- und Basestärken
3.2 Die Quantifizierung der Säure- und Basestärke … Tab. 3.6 Freie Standardsolvatationsenthalpien für verschiedene Lösungsmittel (entnommen aus [38] bzw. *[39])
Lösungsmittel
�solv G⊖ H+ , S /kJ mol−1
Benzen
−816
Dichlormethan
−835
Schwefeldioxid Fluorwasserstoff Schwefelsäure Acetonitril Wasser DMSO
55
−898 −908 −966
−1058,1* −1104,5* −1123,9*
zueinander konstant bleiben bzw. wodurch die Säure- und Basestärken von Verbindungen maßgeblich beeinflusst werden. Bei chemisch verwandten Substanzgruppen wurde beobachtet, dass die Säure- bzw. Basestärken gegenüber den Werten in Wasser um einen annähernd konstanten Betrag verschoben sind [40]. Abweichungen hiervon und auch der fehlende Zusammenhang zwischen den Säure- und Basestärken unterschiedlicher Substanzklassen lassen sich vor allem auf den Einfluss der Dielektrizitätskonstante, möglicher Wasserstoffbrückenbindungen zum Lösungsmittel oder sterischer Effekte zurückführen. Der Einfluss der Dielektrizitätskonstante ist immer dann erheblich, wenn eine Säure neutral oder negativ geladen ist, bei positiv geladenen Säuren ist der Einfluss geringer, was aus den entsprechenden Protolysegleichgewichten auch ersichtlich ist:
Gleichgewicht 3.35
HB+ + S ⇄ B + SH+
Gleichgewicht 3.36
HB + S ⇄ B− + SH+
Gleichgewicht 3.37
HB− + S ⇄ B2− + SH+
Die bei der Protolyse entstehenden Ionen einer Neutralsäure (Gleichgewicht 3.36) können in einem Lösungsmittel höherer Dielektrizitätskonstante wesentlich besser solvatisiert werden als in einem Lösungsmittel geringerer Dielektrizitätskonstante. So ist der pKS-Wert einer Carbonsäure in einem Alkohol wesentlich höher als in Wasser. Bei Carbonsäuren wie der Bernsteinsäure sind die beiden Säuregruppen in wässriger Lösung nur gemeinsam titrierbar, da sich die beiden Säurekonstanten bezogen auf das Lösungsmittel Wasser nur wenig unterscheiden (pKS1 = 4,16, pKS2 = 5,61). In einem Lösungsmittel niedrigerer Dielektrizitätskonstante sinkt die Säurestärke einer negativ geladenen Säure jedoch stärker ab als die einer Neutralsäure. Dadurch lassen sich beide Säuregruppen nebeneinander bestimmen. Im Fall positiv geladener Säuren (siehe Gleichgewicht 3.35) wie z. B. Ammoniumionen ist das Ausmaß der Protolyse hauptsächlich von der Basizität des verwendeten Lösungsmittels und nicht von der
56
3 Säure-Base-Gleichgewichte
ielektrizitätskonstante abhängig. In schwach polaren Lösungsmitteln wie wasserD freier Essigsäure ist zu berücksichtigen, dass es bei starken Säuren oder Base zwar zu einer Ionisation (Übertragung des Protons) kommt, das Ionenpaar aber nur schwach dissoziiert, z. B.:
Gleichgewicht 3.38
− HClO4 + CH3 COOH ⇄ CH3 COOH+ 2 + ClO4
mit der wahren Säurekonstante:
Gl. 3.36
KS, HClO4 =
ac, CH3 COOH+2 ac, ClO−4 ac, HClO4
und
Gleichgewicht 3.39
− + − CH3 COOH+ 2 + ClO4 ⇄ CH3 COOH2 · ClO4
mit der Konstante der Ionenpaarbildung:
Gl. 3.37
KIP =
ac, CH3 COOH+2 ·ClO−4 ac, CH3 COOH+2 ac, ClO−4
Die scheinbare Säurekonstante von HClO4 in wasserfreier Essigsäure ergibt sich dann wie folgt:
Gl. 3.38
KS, HClO4 , scheinbar =
ac, CH3 COOH+2 ac, ClO−4 ac, HClO4 + ac,
CH3 COOH+ 2
·ClO− 4
=
KS, HClO4 1 + KS, HClO4 KIP
Es liegt hier also ein Fall vor, der große Ähnlichkeit mit der Situation in einer HF-Lösung hat (siehe Abschn. 3.2.4). Wie bei Fluorwasserstoffsäure ist die experimentell zugängliche Säurekonstante eine scheinbare Säurekonstante. Für Basen gelten analoge Überlegungen. Wenn man starke Säuren wie Salzsäure und Perchlorsäure in wasserfreier Essigsäure miteinander vergleicht, dann werden zwar beide im Sinne Brønsteds nivelliert, d. h., das Proton wird nahezu vollständig auf das Solvens übertragen, die Dissoziation des entsprechenden Ionenpaars ist für die Salzsäure jedoch wesentlich geringer (pKIP, HCl = −8,55) als die Dissoziation des Ionenpaars der Perchlorsäure (pKIP, HClO4 = −4,87). Das bedeutet, Perchlorsäure ist in wasserfreier Essigsäure eine wesentlich stärkere Säure als Salzsäure. Man spricht hier auch von einem differenzierenden Effekt. In Lösungsmitteln sehr niedriger Dielektrizitätskonstante kann es darüber hinaus zur Bildung von Assoziationsprodukten kommen, die die exakte Bestimmung des Endpunkts einer Titration erschweren können. Spezifische Einflüsse des Lösungsmittels sind vor allem die Ausbildung von Wasserstoffbrückenbindungen zum Lösungsmittel, elektronische Wechselwirkungen (Ausbildung von π-Elektronenkomplexen) oder sterische Effekte.
3.3 Die mathematische und grafische Beschreibung …
57
3.3 Die mathematische und grafische Beschreibung von Säure-Base-Gleichgewichten Für die mathematische Beschreibung von Säure-Base-Gleichgewichten braucht man nur die relevanten Massenwirkungsgesetze und Bilanzgleichungen (siehe auch Kap. 2). Grundsätzlich ist es aber notwendig, am Anfang die chemischen Gleichgewichtsreaktionen zu formulieren. Eine besonders elegante und einfache Beschreibung kann auch grafisch mit pH-lgci-Diagrammen erfolgen. Diese Grafiken sind sehr hilfreich, um Näherungsgleichungen für pH-Berechnungen abzuleiten. Die mathematische Beschreibung und die mithilfe von pH-lgci-Diagrammen wird im Folgenden für einbasige, zweibasige und dreibasige Säuren vorgestellt.
3.3.1 Ein- und mehrbasige Säuren 3.3.1.1 Einbasige Säuren Für einbasige Säuren ist die Gleichgewichtsreaktion Gleichgewicht 3.3
HB + H2 O ⇄ B− + H3 O+ S1 B2 B1 S2
zu betrachten und natürlich im Wasser immer auch das Autoprotolysegleichgewicht
H2 O + H2 O ⇄ HO− + H3 O+ S1 B2 B1 S2
Gleichgewicht 3.4
Zu diesen beiden Gleichgewichten gehören die Massenwirkungsgesetze:
KS =
Gl. 3.1
ac, B− ac, H3 O+ ac, HB ax, H2 O
und
Gl. 3.10
KW = ac, H3 O+ ac, OH− = KS KB
Aus dem Gleichgewicht 3.3 folgt die Bilanzgleichung für die Gesamtkonzentration der ◦ , die auch „analytische Konzentration“ genannt wird, weil sie sich mithilfe von Säure CHB bestimmten Analysenverfahren (z. B. Titrationen) bestimmen lässt, die nicht spezifisch nur die Spezies HB oder B− zu messen erlauben:
Gl. 3.39
◦ CHB = cHB + cB−
Um diese Gleichung aufzustellen, reicht die Überlegung aus, dass die Säure HB nur als nichtprotolysierte Säure in der Konzentration cHB oder als korrespondierende Base in der Konzentration cB− vorliegen kann. Häufig wird eine Gleichgewichtsreaktion wie
58
3 Säure-Base-Gleichgewichte
Gleichgewicht 3.3 in Bezug auf die Konzentrationen der vier beteiligten Spezies falsch interpretiert. Die einzig richtige Interpretation der Stöchiometrie kann man wie folgt formulieren:
Wenn ein Teilchen HB mit einem Teilchen H2 O reagiert, so bildet sich genau ein Teilchen B−und ein Teilchen H3 O+ , aber wie viel Teilchen HB und H2 O insgesamt reagieren, kann nur mithilfe des Massenwirkungsgesetzes berechnet werden.
Ist man an der Berechnung des pH-Werts der Säurelösung in Wasser interessiert, so muss berücksichtigt werden, dass in den Gleichgewichten 3.3 und 3.4 H3 O+-Ionen gebildet werden. In dem einen bildet sich so viel H3 O+ wie B− und im anderen so viel wie OH−, sodass sich die Gesamtkonzentration an H3 O+ aus beiden Beiträgen zusammensetzt. Daraus folgt die Bilanzgleichung für die H3 O+-Konzentration:
cH3 O+ = cOH− + cB−
Gl. 3.40
Die letzten vier Gleichungen lassen sich verknüpfen und führen zu einer Gleichung dritten Grades für cH3 O+ (dabei werden näherungsweise die molaren Konzentrationen anstelle der Aktivitäten in den Massenwirkungsgesetzen verwendet):
KW = cH3 O+ cOH− → cOH− =
KW cH3 O+
einsetzen in Gl. 3.40
cH3 O+ =
Gl. 3.41
KS =
cB− cH3 O+ einsetzen in Gl. 3.39 ◦ cB− cH3 O+ cB− cH3 O+ − → cHB = −−−−−−−−−−→ CHB = + cB− cHB KS KS
cB− =
cH2 3 O+
KW + cB− cH3 O+
= KW +
◦ CHB cH3 O+ + KS
◦ CHB cH3 O+ cH3 O+ +KS KS
einsetzen in Gl. 3.41
1
→
−−−−−−−−−−→ cH3 O+ =
KS
◦ CHB cH3 O+ + KS
cH3 O+ + KS KS
=
KW cH3 O+ + KS KW ◦ + CHB cH3 O+ KS
cH2 3 O+
cH3 3 O+ + KS cH2 3 O+
KW + cH3 O+
= KW
cH3 O+ + KS KS
1
◦ + CHB cH3 O+
3.3 Die mathematische und grafische Beschreibung …
59
◦ cH3 3 O+ + KS cH2 3 O+ = KW cH3 O+ + KS KW + KS CHB cH3 O+
Gl. 3.42
c3H3 O+ + K S c2H3 O+ − K S C ◦HB +K W cH3 O+ − K S K W = 0
3.3.1.2 Mehrbasige Säuren Bei mehrbasigen Säuren nimmt die Anzahl der unbekannten Variablen (Gleichgewichtskonzentrationen) zu und damit erhöht sich die Anzahl der Bestimmungsgleichungen. So erhält man Gleichungen vierten, fünften oder sechsten Grades für zwei-, drei- und vierbasige Säuren. Im Abschn. 3.3.2 wird gezeigt, wie man aus pH-lgci-Diagrammen sowohl grafisch Näherungswerte für den pH-Wert von Säure-, Base-, Salz- und Pufferlösungen ermitteln kann, als auch Näherungsgleichungen ableiten kann, um eine Lösung der Gl. 3.42 (oder noch komplizierterer Gleichungen im Fall mehrbasiger Säuren) zu vermeiden.
3.3.2 pH-lgci-Diagramme 3.3.2.1 pH-lgci-Diagramme in wässrigen Lösungen In einem pH-lgci-Diagramm werden die Konzentrationen aller chemischen Spezies einer Säure-Base-Lösung in Abhängigkeit vom pH-Wert dargestellt, d. h., bei einer einbasigen Säure sind das: HB, B− , H2 O, H3 O+ und OH−. Da Wasser der Hauptbestandteil der Lösung ist und sich seine Konzentration praktisch nie merklich ändert, ist eine Darstellung der Konzentration des Wassers nicht sinnvoll. Die Aktivität der Hydroniumionen H3 O+ bestimmt den pH-Wert einer Lösung (siehe Gl. 3.18). Die Gleichgewichte 3.3 und 3.4 enthalten alle Spezies (HB, B− , H2 O, H3 O+ und OH−), d. h., man kann die Aktivität (Konzentration) einer Spezies in einer Lösung nicht ändern, ohne auch die der anderen zu beeinflussen. Es ist deshalb sinnvoll, diese Zusammenhänge in einem Diagramm darzustellen. In wässrigen Lösungen ist der p H-Bereich von 0 bis 14 von besonderer Bedeutung, weil die meisten Lösungen pH-Werte in diesem Bereich haben. In sehr speziellen Fällen können allerdings auch pH-Werte auftreten, die kleiner als 0 oder größer als 14 sind. Genauso gibt es für die Konzentrationen ci einen Bereich, in dem diese Größen meistens liegen. In der Regel wird es sich um Konzentrationen handeln, die kleiner als 1 mol L−1 und größer als 1,0 · 10−14 mol L−1 sind. Das entspricht auf einer lgci-Achse dem Bereich von 0 bis −14. Dieser lgci-Bereich und der genannte pH-Bereich (0–14) liegen im 4. Quadranten des Koordinatensystems von Abb. 3.32, und die beiden Bereiche spannen ein Quadrat auf. Da fast immer nur Werte innerhalb dieses Quadrats wichtig sind, beschränkt man sich darauf, die pH-lgci-Diagramme als Quadrate zu zeichnen. Für H3 O+ ergibt sich aus der Definition des pH-Werts, d. h. aus der Gleichung pH = − lg cH3 O+ eine Diagonale durch die Koordinaten lg ci = 0, pH = 0 und
60
3 Säure-Base-Gleichgewichte
Abb. 3.32 Koordinatensystem von pH-lgci-Diagrammen: Es ist üblich, nur den 4. Quadranten, d. h. den farbig markierten Bereich, als quadratisches Diagramm zu verwenden, weil nur dieser pH- und Konzentrationsbereich in wässrigen Lösungen wichtig ist
lg ci = −14, pH = 14. Für OH− ergibt sich ebenfalls eine Gerade, wenn man in Gl. 3.10 Konzentrationen verwendet und Gl. 3.20 entsprechend umstellt: Gl. 3.43
pOH ≈ − lg cOH− = pKW − pH
Damit ergibt sich das Diagramm in Abb. 3.33, vorausgesetzt man bezieht es auf pKW = 14 (25 °C). Das Diagramm in Abb. 3.33 wirft allerdings eine interessante Frage auf: Wo verläuft die Linie von H2 O, d. h. der korrespondierenden Base von H3 O+ und der korrespondierenden Säure von OH−? Ohne dies hier zu begründen, weil das später bei der Diskussion des Systems von HB klar wird, sei auf die Abb. 3.34 verwiesen. Für die Konstruktion dieses Diagramms benötigt man die molare Konzentration des Wassers in reinem Wasser. Aus der Dichte des Wassers bei 20 °C (0,998203 g cm−3) und der molaren Masse (18,0153 g mol−1) ergibt sich: CH◦ 2 O = 55,408 mol L−1 (lg CH◦ 2 O = 1,74). Streng thermodynamisch kann man keinen pKS-Wert für H3 O+ und keinen pKB-Wert für OH− berechnen [22]. Wenn man allerdings die molare Konzentration des Wassers im Wasser verwendet (lg CH◦ 2 O = 1,74), ergibt sich die Abb. 3.34. Aus ihr kann man scheinbar den pKS-Wert von H3 O+ (−1,74) und den pKSWert von H2O (15,74) ablesen. Beide Werte beruhen jedoch auf der mit Sicherheit falschen Annahme, dass die Aktivität des Wassers im Wasser gleich der molaren
3.3 Die mathematische und grafische Beschreibung …
61
Abb. 3.33 pH-lgci-Diagramm mit der H3 O+- und der OH−Linie des Wassers
Abb. 3.34 pH-lgci-Diagramm für Wasser mit lg CH◦ 2 O = 1,74 und den nicht ganz korrekten Werten pKS (H3 O+ ) = −1,74 und pKS (H2 O) = 15,74
Konzentration ist. Diese Abbildung ist daher nur als formale Darstellung zu verstehen, um zu zeigen, dass zu der H3 O+-Linie und der OH−-Linie natürlich auch eine Funktion für H2O gehören muss. Will man nun in das Diagramm auch die Funktionen der anderen Spezies einzeichnen, so sind folgende Ableitungen vorzunehmen:
62
3 Säure-Base-Gleichgewichte
Gl. 3.44 und 3.45 beschreiben Kurven im pH-lgci-Diagramm, die Hyperbeln ähnlich sehen, im mathematischen Sinn aber keine sind. Der Einfachheit halber werden sie im Folgenden trotzdem als Hyperbeln bezeichnet. Man spricht dann von der HB-Linie und B−-Linie. Im Diagramm sollte man nur die Spezies an die Geraden schreiben, also HB und B− (nicht cHB und cB−, da im Diagramm die Logarithmen dieser Größen aufgetragen werden). Abb. 3.35 zeigt den Verlauf der HB- und B−-Linien für ein spezielles Beispiel. Wie man in Abb. 3.35 sehen kann, haben die Hyperbeln jeweils zwei Äste, die nahezu linear sind, und nur in der Umgebung von pH = pKS sind sie stark gekrümmt. Man kann sich daher darauf beschränken, in den Diagrammen die Hyperbelasymptoten einzuzeichnen, d. h., die Geraden, an die sich die Hyperbeläste anschmiegen. Um die Gleichungen der Hyperbelasymptoten der Funktionen abzuleiten, muss man sich nur
3.3 Die mathematische und grafische Beschreibung …
63
pH−pKS 1 + 10 überlegen, welcher Summand im Term der Gl. 3.44 und welcher im Term −pH + pKS 1 + 10 der Gl. 3.45 jeweils für pH-Werte kleiner und größer als pKS dominiert:
Man kann der Einfachheit halber anstelle der exakten Hyperbeln in den pH-lgci-Diagrammen die Hyperbelasymptoten einzeichnen, die bei einbasigen Säuren durch die Geradengleichungen (Gl. 3.46 bis Gl. 3.49) beschrieben werden (siehe Abb. 3.36). Für die Konstruktion der pH-lgci-Diagramme einbasiger Säuren benötigt man ◦ nur die beiden Werte lg CHB und pKS: Für pH-Werte kleiner pKS ist die HB-Linie eine ◦ Parallele zur pH-Achse (durch die Koordinate lg CHB ) und die B−-Linie verläuft parallel − zur OH -Linie bis pH = pKS. Für pH-Werte größer als pKS verläuft die B−-Linie parallel ◦ zur pH-Achse (durch die Koordinate lg CHB ) und die HB-Linie fällt parallel zur H 3 O+Linie und geht durch die Koordinate pH = pKS.
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3 Säure-Base-Gleichgewichte
Abb. 3.35 pH-lgci-Diagramm mit den H3O+- und OH−Linien des Wassers und den Hyperbeln für HB und B− für das Beispiel Essigsäure mit ◦ CHB = 0,1 mol L−1 und pKS = 4,75
Abb. 3.36 pH-lgciDiagramm mit den H3 O+und OH−-Linien und den Asymptoten für HB und B− für das Beispiel Essigsäure mit ◦ CHB = 0,1 mol L−1 und pKS = 4,75
Bei den pH-lgci-Diagrammen mehrbasiger Säuren treten Besonderheiten auf, die man bei den Anstiegen der Linien in Abb. 3.37, 3.38 und 3.39 sehen kann. Die mathematische Beschreibung der Funktionen für mehrbasige Säuren ist in [41] ausführlich gegeben, weshalb sie hier übergangen wird.
3.3 Die mathematische und grafische Beschreibung …
65
Abb. 3.37 pH-lgci-Diagramm mit den H3 O+- und OH−Linien und den Asymptoten für alle Formen der Säure H2 B. Beispiel: Säure mit lg CH◦ 2 B = −1, pKS1 = 3 und pKS2 = 8
Abb. 3.38 pH-lgci-Diagramm mit den H3 O+- und OH−Linien und den Asymptoten für alle Formen der Säure H3 B. Beispiel: Säure mit lg CH◦ 3 B = −1, pKS1 = 2, pKS2 = 5 und pKS3 = 12
3.3.2.2 pH-lgci-Diagramme für nichtwässrige Lösungsmittel pH-lgci-Diagramme lassen sich auch für Lösungen von Säuren oder Basen in nichtwässrigen Lösungsmitteln konstruieren. Die einzige Voraussetzung ist, dass das Lösungsmittel ein, wenn auch schwacher, Protonendonator ist. Wird eine Säure HB in einem
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3 Säure-Base-Gleichgewichte
Abb. 3.39 pH-lgci-Diagramm mit den H3 O+- und OH−Linien und den Asymptoten für alle Formen der Säure H4 B. Beispiel: lg CH◦ 4 B = −1, pKS1 = 2, pKS2 = 4, pKS3 = 7 und pKS4 = 12
Lösungsmittel HS gelöst, dann stellen sich ganz in Analogie zum Wasser, die folgenden Gleichgewichte ein:
Gleichgewicht 3.40
− HS(HS) + HS(HS) ⇄ H2 S+ (HS) + S(HS)
Gleichgewicht 3.41
− HB(HS) + HS(HS) ⇄ H2 S+ (HS) + B(HS)
Die Massenwirkungsgesetze für die beiden Gleichgewichte lauten:
Gl. 3.44 KAP, HS = ac, H2 S+(HS) ac, S−(HS) ≈ cH2 S+(HS) cS−(HS) Gl. 3.45 KS, HB(HS) =
ac, B−(HS) ac, H2 S+(HS) ac, HB(HS)
≈
cB−(HS) cH2 S+(HS) cHB(HS)
KAP, HS ist die Autoprotolysekonstante des Lösungsmittels. Die Säurestärke der Säure HB im Lösungsmittel HS, KS, HB(HS), ist abhängig von der Fähigkeit der Säure, Protonen abzugeben, und von der Fähigkeit des Lösungsmittels Protonen zu akzeptieren und die Anionen und HB zu solvatisieren [42]. In Analogie zu wässrigen Lösungen kann die Azidität der Lösung durch den Wert pH(HS) beschrieben werden: Gl. 3.46
pH(HS) = − lg ac, H2 S+(HS) ≈ − lg cH2 S+(HS)
Für das Lösungsmittelanion S− gilt:
Gl. 3.47
− − pS− (HS) = − lg ac, S(HS) ≈ − lg cS(HS) = pKAP, HS − pH(HS)
3.3 Die mathematische und grafische Beschreibung …
67
Die Gl. 3.46 und 3.47 ergeben Geraden in einem Diagramm, in dem der pH(HS)-Wert auf der x-Achse und die lg ci, (HS)-Werte auf der y-Achse abgetragen werden. Mit der Bilanzgleichung für die Säure HB im Lösungsmittel HS:
Gl. 3.48
◦ CHB = cHB(HS) + cB−(HS)
können in Analogie zum Lösungsmittel Wasser die Funktionen lgcHB(HS) = f (pH(HS) ) und lgcB−(HS) = f (pH(HS) ) abgeleitet werden:
◦ − lg 1 + 10pH(HS) −pKS, HB(HS) Gl. 3.49 lg cHB(HS) = lg CHB ◦ Gl. 3.50 lg cB−(HS) = lg CHB − lg 1 + 10pKS, HB(HS) −pH(HS) In relativ unpolaren nichtwässrigen Lösungen werden die Anionen nur wenig solvatisiert. Dadurch kann es zu einer Homokonjugation kommen [43], d. h. zur Ausbildung einer Wasserstoffbrückenbindung zwischen der undissoziierten Säure und der korrespondierenden Anionenbase (B · · · H · · · B)−, wodurch die Stabilisierung der Anionen erreicht wird, die nicht durch das Lösungsmittel erfolgen kann. Die Fähigkeit zur Homokonjugation ist unterschiedlich stark ausgeprägt. Vor allem Säuren, die starke Wasserstoffbrückendonatoren und deren korrespondierende Basen kleine Anionen mit lokalisierter Ladung sind, neigen zur Homokonjugation. Typische Beispiele sind Carboxylsäuren. Als Beispiel für eine Säure, die nicht zu Homokonjugation neigt (wegen stark delokalisierter Ladung des Anions), wird hier eine Lösung von Pentaphenylcyclopentadien (PPCP) in DMSO betrachtet. Die deprotonierte Form von − − 3 )CH2 ] ≡ DMSO . Die protonierte Form von DMSO ist DMSO ist [OS(CH + + HOS(CH3 )2 ≡ DMSOH . Die deprotonierte Form des PPCP wird als PPCP− (DMSO) bezeichnet. Die Säurekonstante von PPCP in DMSO beträgt pKS, PPCP(DMSO) = 12,5 [44]. Das resultierende Säure-Base-Diagramm für eine Gesamtkonzentration an PPCP von 0,01 mol L−1 ist in Abb. 3.40 abgebildet. Das Diagramm wird in einem pH(DMSO)Bereich gezeichnet, der von lg cDMSOH+ = 0 bis lg cDMSO− = 0 reicht, d. h. von pH(DMSO) = 0 bis pH(DMSO) = − lg KAP, DMSO = 34. Wie bei den Diagrammen für Wasser kann man den lg ci(DMSO)-Bereich so wählen, dass sich ein Quadrat ergibt. Wie für pH-lgci-Diagramme wässriger Lösungen können auch hier die Logarithmen der Konzentrationen von DMSOH+, DMSO−, PPCP(DMSO) und PPCP− (DMSO) bei einem beliebigen pH(DMSO)-Wert aus dem Diagramm abgelesen werden. Ebenfalls lässt sich z. B. der pH(DMSO)-Wert einer Lösung von 0,01 mol L−1 PPCP in DMSO an der Koordinate auf der x-Achse des Schnittpunktes der DMSOH+-Linie und der PPCP− (DMSO) ablesen (aus Abb. 3.40 ergibt sich ein Wert von pH(DMSO) = 7,3) Interessant ist die Frage, wie sich die Lösungen ein und derselben Säure in verschiedenen Lösungsmitteln miteinander vergleichen lassen. Dafür kann die im
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3 Säure-Base-Gleichgewichte
Abb. 3.40 pH(DMSO)-lgciDiagramm mit den DMSOH+-, DMSO−-, PPCP(DMSO)und PPCP− (DMSO)-Linien für eine Lösung von Pentaphenylcyclopentadien (PPCP) in DMSO mit ◦ CPPCP = 0,01 mol L−1 und pKS,PPCP(DMSO) = 12,5
Abschn. 3.2.6 diskutierte vereinheitlichte Brønsted-Aziditätsskala von Krossing und Mitarbeitern verwendet werden. Der Nullpunkt der absoluten pH-Skala ist pHabs = 0. Wie in Abschn. 3.2.6 ausgeführt, wird das chemische Potential der gasförmigen Protonen durch die Wechselwirkung mit Molekülen einer beliebigen Phase abgesenkt. Da die Änderung um eine pH-Einheit zu einer Änderung des chemischen Potentials um −5,71 kJ mol−1 (bei 25 °C) führt, kann das chemische Potential solvatisierter Protonen für beliebige Protonenaktivitäten in einem beliebigen Lösungsmittel nach Gl. 3.35 berechnet werden (vorausgesetzt, man kennt die freie Solvatationsentalphie der Protonen für das entsprechende Lösungsmittel). Damit ergibt sich für pHabs in einem Lösungsmittel HS:
Gl. 3.51 pHabs = −
�solv G⊖ (H+ , HS) 5,71 kJ mol−1
+ pH(HS)
Da die pH-Skala für wässrige Lösungen am häufigsten verwendet wird und den meisten vertraut ist, ist es sinnvoll, absolute pH-Werte (pHabs) mit „konventionellen“ pH-Werten (pH(H2 O)) zu vergleichen: wenn das chemische Potential der Protonen in einem Lösungsmittel gleich dem chemischen Potential der Protonen in einer wässrigen Lösung mit dem konventionellen pH(H2 O) = 7,00 ist, dann sollte auch ein absoluter pH-Wert mit 7,00 angegeben werden. Weil die beiden Skalen sich nur in ihrem Nullpunkt unterscheiden (eine Änderung des pH-Wertes geht in beiden Skalen mit einer Änderung des H2 O chemischen Potentials um −5,71 kJ mol−1 bei 25 °C einher), muss ein pHabs definiert werden, um diese Nullpunkte anzugleichen [39]: H2 O Gl. 3.52 pHabs = pHabs +
�solv G⊖ (H+ , H2 O) 5,71 kJ mol−1
= pHabs +
−1104,5 kJ mol−1 5,71 kJ mol−1
= pHabs − 193,5
3.3 Die mathematische und grafische Beschreibung …
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H2 O Abb. 3.41 pHabs -lgciDiagramm mit den DMSOH+-, DMSO−-, PPCP(DMSO)und PPCP− (DMSO)-Linien für eine Lösung von Pentaphenylcyclopentadien (PPCP) in DMSO mit ◦ CPPCP = 0,01 mol L−1 und pKS, PPCP(DMSO) = 12,5
Die Ableitung der notwendigen Gleichungen zum Zeichnen von Säure-Base-Diagrammen H2 O mit pHabs auf der x-Achse und lg ci, (HS) auf der y-Achse sind in [45] angegeben. H2 O Abb. 3.41 zeigt das pHabs -lgci-Diagramm für die oben bereits diskutierte PPCP-Lösung ◦ in DMSO (CPPCP = 0,01 mol L−1 und pKS, PPCP(DMSO) = 12,5). Man kann dort bei einem H2 O bestimmten pHabs -Wert die Logarithmen der einzelnen Spezies ablesen, z. B. dominiert H2 O = 7,00 die undissoziierte Säure und die Konzentration in einer Lösung mit pHabs des konjugierten Anions ist vergleichsweise gering (vgl. Schnittpunkte mit der ◦ gestrichelten Hilfslinie: lg cPPCP(DMSO) ≈ lg CPPCP = −2 und lg cPPCP−(DMSO) = −10,8). Eine H2 O −1 0,01 mol L PPCP-Lösung in DMSO hat einen pHabs -Wert von 10,7 (Schnittpunkt der −1 Lösung eines Alkalisalzes DMSOH+-Linie mit der PPCP− (DMSO)-Linie). Eine 0,01 mol L H2 O − von PPCP in DMSO hätte einen pHabs -Wert von 25,6 (Schnittpunkt der DMSO−-Linie mit der PPCP(DMSO)-Linie). Die Situation wird komplizierter, wenn weitere Gleichgewichte berücksichtigt werden müssen. Wie oben bereits erwähnt wurde, kann es vor allem bei Karbonsäuren zur Aus− bildung von Homokonjugaten, (B · · · H · · · B)− HS ≡ BHBHS, kommen:
Gleichgewicht 3.42
− B− (HS) + HB(HS) ⇄ BHBHS
Für diese Reaktion lässt sich eine entsprechende Gleichgewichtskonstante (Homokonjugationskonstante) formulieren:
Gl. 3.53
Kf, BHB−(HS) =
ac, BHB−(HS) ac, B−(HS) ac, HB(HS)
≈
cBHB−(HS) cB−(HS) cHB(HS)
− In der Lösung liegen also die Spezies HB(HS) , B− (HS) und BHB(HS) vor und im Diagramm − muss die Linie für BHB(HS) ebenfalls eingezeichnet werden. Für die Ableitung der notwendigen Funktionen wird auf [45] verwiesen.
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3 Säure-Base-Gleichgewichte
H2 O Abb. 3.42 pHabs -lgciDiagramm mit den DMSOH+-, DMSO−-, HAc(DMSO)-, − AcHAc− (DMSO) und Ac(DMSO)Linien für eine Lösung von Essigsäure in DMSO ◦ mit CHAc = 0,01 mol L−1, pKS,HAc(DMSO) = 12,6 und pKf,AcHAc−(DMSO) = −1,48
◦ Als Beispiel ist Essigsäure mit einer Gesamtkonzentration von CHAc = 0,01 mol L−1 in DMSO in Abb. 3.42 dargestellt. Die Säurekonstante für Essigsäure in DMSO beträgt pKS,HAc(DMSO) = 12,6 und die Homokonjugationskonstante pKf,AcHAc−(DMSO) = −1,48 [46]. H2 O Das Diagramm in Abb. 3.42 erlaubt den Vergleich der pHabs -Werte von Essigsäure-, Acetatpuffer- und Acetatlösungen in Wasser und DMSO. Betrachtet man z. B. eine ◦ Acetatpufferlösung mit der Gesamtkonzentration CHAc = 0,01 mol L−1, in der Essigsäure und Acetat im Verhältnis 1:1 vorliegen (gleiche Konzentrationen), dann hat diese H2 O Lösung in Wasser einen pH-Wert (identisch mit pHabs ) von 4,75, d. h. die Lösung ist H2 O = 16,0 (vgl. schwach sauer. Die gleiche Pufferlösung in DMSO hat einen pHabs Abb. 3.42), d. h. in Bezug auf die wässrige pH-Skala ist diese Lösung stark basisch. Für eine 0,01 mol L−1 Essigsäurelösung in DMSO gilt die Ladungsbilanz:
Gl. 3.54
cDMSOH+ = cAc−(DMSO) + cAcHAc−(DMSO) + cDMSO−
Weil die Summe cAcHAc−(DMSO) + cDMSO− noch zu der Konzentration cAc−(DMSO) hinzuH2 O kommt, liegt der pHabs -Wert ein wenig links des Schnittpunktes der A c− (DMSO)-
Linie mit der DMSOH+-Linie (vgl. Abb. 3.42). Die Konzentration von DMSO− beträgt in dieser Lösung also maximal 2 · 10−27 mol L−1 und ist damit gegenüber den Konzentrationen des Acetats (cAc−(DMSO) = 5,5 · 10−8 mol L−1) und des Homokonjugates (cAcHAc−(DMSO) = 1,6 · 10−8 mol L−1) vollkommen zu vernachlässigen (praktisch null). Die letzteren beiden Konzentrationen liegen allerdings unter diesen Bedingungen in H2 O -Wert, den man am Schnittpunkt der der gleichen Größenordnung, so dass der pHabs H2 O + Ac− (DMSO)-Linie mit der H(DMSO)-Linie abliest (pHabs = 10,6) als Näherung verstanden H2 O werden muss und der eigentliche pHabs -Wert etwas kleiner sein wird. Im Vergleich
3.3 Die mathematische und grafische Beschreibung …
71
H2 O Abb. 3.43 pHabs -lgciDiagramm mit den DMSOH+-, DMSO−-, HAc(DMSO)-, − AcHAc− (DMSO) und Ac(DMSO)Linien für eine Lösung von Essigsäure in DMSO mit ◦ CHAc = 0,001 mol L−1, pKS,HAc(DMSO) = 12,6 und
zu Wasser als Lösungsmittel ist diese Lösung also basisch! Bei geringeren Gesamtkonzentrationen an Essigsäure in DMSO verringert sich der Einfluss der HomoH2 O konjugation, wie man in Abb. 3.43 erkennen kann. Die pHabs -Werte für Lösungen von Natriumacetat in Wasser und DMSO können analog diskutiert und verglichen werden.
3.3.3 Berechnung von pH-Werten in wässrigen Lösungen mit Näherungsgleichungen Da die Lösung der Gleichung dritten Grades
Gl. 3.42
◦ cH3 3 O+ + Ks cH2 3 O+ − Ks CHB + Kw cH3 O+ − Ks Kw = 0
heute keine Hürde mehr ist, lässt sich über die Bedeutung der Ableitung von Näherungsgleichungen streiten, aber für viele Fälle ist es immer noch ein einfacher Weg, der auch erkennbar macht, welche Vereinfachungen im Berechnungsmodell stecken. Am Ende laufen alle Vereinfachungen darauf hinaus, in den beiden Bilanzgleichungen
Gl. 3.39 Gl. 3.40
◦ CHB = cHB + cB−
cH3 O+ = cOH− + cB−
zu entscheiden, welcher Summand jeweils vernachlässigt werden kann. Für diese Entscheidung kann man die pH-lgci-Diagramme heranziehen.
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3 Säure-Base-Gleichgewichte
Dabei ist es wichtig zu verstehen, dass in den pH-lgci-Diagrammen die beiden Säure-Base-Systeme (HB und Wasser) unabhängig voneinander eingezeichnet sind.
Abb. 3.44 zeigt das pH-lgci-Diagramm einer 0,1 M Salzsäure-Lösung. Der pKS-Wert von HCl ist −7. Um zu veranschaulichen, was das bedeutet, ist hier auch der Bereich pH