Bürger zweiter Klasse?: Juden auf dem Land in Preußen, Lothringen und Luxemburg. Dissertationsschrift 9783412223625, 341222362X

Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts lebte die Mehrheit der Juden in der preußischen Rheinprovinz, Lothringen und dem Groß

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Bürger zweiter Klasse?: Juden auf dem Land in Preußen, Lothringen und Luxemburg. Dissertationsschrift
 9783412223625, 341222362X

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Industrielle Welt Schriftenreihe des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte Herausgegeben von Andreas Eckert und Joachim Rückert Band 89

Stephanie Schlesier Bürger zweiter Klasse?

Stephanie Schlesier

Bürger zweiter Klasse? Juden auf dem Land in Preußen, Lothringen und Luxemburg

2014 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gedruckt mit Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung, Düsseldorf

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abruf bar.

Umschlagabbildung: Ettelbrück mit der Synagoge im rechten Bildteil Ausschnitt eines Aquarells von Louis Jacoby, ca. 1877 © Arthur Muller

© 2014 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D–50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Patricia Simon, Langerwehe Satz: synpannier. Gestaltung & Wissenschaftskommunikation, Bielefeld Druck und Bindung: Strauss, Mörlenbach Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-22362-5

Inhalt Danksagung  .. ............................................................................................................ 

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1. Einleitung  . . .......................................................................................................... 

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1.1 Landjudentum – von einem historischen Phänomen und seiner Historiografie  ..........................................................................  1.2 Fragestellung und Herangehensweise  ....................................................  1.3 Aufbau und Quellen  .................................................................................. 

11 21 43

2. Ein umstrittener Weg: der Kampf um die Gleichberechtigung  ......... 

50 2.1 Das Ancien Régime. Von Schutzherrschaft und Aufklärung  ...........  50 2.2 Gemeinsame Wege: von der Revolution zu Napoleon  ......................  59 2.2.1 Der Weg zur gesetzlichen Gleichstellung unter französischer Herrschaft  .. .....................................................  59 2.2.2 Die Rücknahme der individuellen Gleichstellung: Napoleons Dekrete  ..........................................................................  65 2.3 Getrennte Wege: die Entwicklung der jüdischen Emanzipation bis 1870  .. .............................................................................  72 2.3.1 Ein andauernder Kampf: die preußische Rheinprovinz  ..........  72 2.3.1.1 Einer von vielen preußisch-jüdischen Sonderwegen: die Fortdauer der französischen Gesetze bis 1847  .......  72 2.3.1.2 Die Vereinheitlichung der Gesetze gegenüber den Juden in Preußen 1847  ......................................................  76 2.3.1.3 Von der Revolution zur Gleichberechtigung im Norddeutschen Bund im Jahr 1869  .. ........................  87 2.3.2 Frankreich: der Weg zur umfassenden Gleichstellung  . . ...........  94 2.3.2.1 Die Konflikte um die Abschaffung des „décret infâme“   94 2.3.2.2 Von der Restauration zur Julirevolution: der Weg zum gleichberechtigten Kultus  .......................  99 2.3.2.3 Der Wegfall der letzten Trennungen und organisatorische Veränderungen  .....................................  103 2.3.3 Zwischen Holländern, Deutschen und Franzosen: der luxemburgische Fall  ..................................................................  110 2.4 Die Folgen des Jahres 1871  ........................................................................  121 2.5 Unterschiedliche Kämpfe. Ein erstes Fazit  .. ..........................................  126

6

Inhalt

3. Bedingungen des Lebens auf dem Land: die Juden als Teil der Dorfbevölkerungen und ihr Platz im dörflichen Leben  .. ...............  130 3.1 Der jüdische Bevölkerungsanteil im Wandel  .......................................  130

3.1.1 Vom Wachstum zur Abwanderung. Die Untersuchungsorte in der Rheinprovinz und Lothringen  ..........................................  130 3.1.1.1 Wenig Kontrolle in der Praxis: der preußische Fall  ....  130 3.1.1.2 Freiwillig auf dem Land: in Lothringen  . . ......................  144 3.1.2 Jüdische Ansiedlung auf dem Land durch Zuwanderung: der luxemburgische Fall  ..................................................................  160 3.2 Der Ort der Juden im Dorf. Von topografischer Konzentration und Zerstreuung  .........................................................................................  167 3.3 Handel und sozialer Aufstieg. Erwerbstätigkeit und Sozialstruktur  175 3.3.1 Jüdische Erwerbsstrukturen im Vergleich. Vom Wandel im Handel  . . ...............................................................  175 3.3.2 Die Folgen der jüdischen und der christlichen Erwerbsstruktur: gegenseitige Abhängigkeiten vs. Konkurrenz  202 3.3.3 Ein langsamer Aufstieg: die jüdischen Sozialstrukturen im Vergleich  . . .....................................................................................  218 3.3.3.1 Die Entwicklung der jüdischen Sozialstrukturen  .......  218 3.3.3.2 Jüdische und christliche Sozialstrukturen im Vergleich  232

4. Die Binnenstrukturen der jüdischen Gemeinden  ..................................  238 4.1 Die Kultuseinrichtungen und ihre Unterhaltung  ...............................  238 4.1.1 Die Synagogen  ..................................................................................  238 4.1.2 Friedhöfe und Mikwen  ...................................................................  253 4.2 Die Gemeindebediensteten und ihre Stellung  .....................................  265

4.2.1 Die Multifunktionalität des jüdischen Lehrers in der Rheinprovinz  .....................................................................................  4.2.2 Vom „chantre“ zum „ministre du culte“: Lothringen  ..............  4.2.3 Auf sich alleine gestellt: die jüdischen Landgemeinden in Luxemburg  . . ..................................................................................  4.3 Die Organisation der jüdischen Gemeinden und ihre Verhältnisse zu den weltlichen Behörden bzw. den übergeordneten jüdischen Institutionen  ...............................................  4.3.1 Weitgehende Autonomie. Jüdische Gemeinden in der Rheinprovinz  .........................................................................  4.3.2 Zwischen konsistorialer Kontrolle und behaupteter Eigenständigkeit. Die Landgemeinden Lothringens  . . ..............  4.3.3 Späte Selbstständigkeit. Das luxemburgische Konsistorium und die Landgemeinden  ................................................................. 

265 275 289

298 298 309 320

Inhalt

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4.4 Tradition ohne Stillstand: die Religiosität der Landjuden  ................  329 4.5 Fazit: ähnliches religiöses Leben unter verschiedenen Bedingungen  354 5. Dörfliches Miteinander? Die christlich-jüdischen Beziehungen im Wandel der Zeit  . . .........................................................................................  358 5.1 Orte der christlich-jüdischen Begegnung  .............................................  358 5.1.1 In der Nachbarschaft  .......................................................................  358 5.1.2 Der Handel: zwischen Konflikt und Vertrauen  .. .......................  364 5.1.3 In den Wirtshäusern  ........................................................................  391 5.1.4 Die Schulen: vom Wunsch, Abstand zu wahren  .......................  394 5.2 Die Auswirkungen der Religion auf das Zusammenleben  ................  403

5.2.1 Begräbnisse und Hochzeiten: zwischen Missachtung und Anteilnahme  .. ............................................................................  405 5.2.2 Die Ambivalenz religiöser Feierlichkeiten und antijüdische Traditionen  .................................................................  411 5.2.3 Der Umgang mit der Sonntags- und Feiertagsruhe  .................  419 5.3 Das Vereinswesen: zwischen Interessen und Geselligkeit  ..................  427 5.3.1 Vereinigungen zur Durchsetzung lokaler Partikularinteressen  429 5.3.2 Zwischen Freizeitvertreib und Patriotismus: Gesang und Sport, Feuerwehr, Schützen- und Veteranenvereine  . . ...............  434 5.3.3 Ein Randphänomen auf dem Land: wissenschaftliche Gesellschaften und Provinzakademien  ........................................  447 5.3.4 Das jüdische Vereinswesen  .............................................................  451 5.4 Die Mitwirkung an der Gemeindepolitik  . . ...........................................  464 5.5 Die Behandlung der jüdischen Gemeinden bzw. „der Juden“ als Kollektiv im Rahmen der Zivilgemeinden  .....................................  491 5.5.1 Die Allmende  ....................................................................................  491 5.5.2 Die Verantwortung für die Armen  ...............................................  502 5.5.3 Die Stellung der jüdischen Schulen  .............................................  518

6. Ergebnisse und Thesen  ...................................................................................  540 Anhang  .......................................................................................................................  565 I) Abkürzungsverzeichnis  .. ................................................................................  565 II) Quellen- und Literaturverzeichnis  .. ..........................................................  565 a) Ungedruckte Quellen  .. ..........................................................................  565 b) Gedruckte Quellen und Literatur vor 1914  . . ....................................  568 c) Zeitungen, Zeitschriften und Jahrbücher vor 1914  . . .......................  571 d) Sekundärliteratur  ...................................................................................  572 e)Elektronische Literatur  ..........................................................................  599 III) Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen  ..........................................  599

Danksagung

Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um eine leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die ich im August 2010 im Fachbereich III der Universität Trier einreichte. Ohne die vielfältige Unterstützung, die ich von unterschiedlichen Seiten erfahren habe, hätte diese Arbeit nicht geschrieben werden können. Lutz Raphael von der Universität Trier hat als Betreuer die Entstehung der Disser­tation mit viel Geduld und Engagement begleitet. Für die freundlich kri­ tischen Gespräche und die Anregungen, die mir stets eine große Hilfe waren, danke ich ihm herzlich. Mein Dank gilt auch Hartmut Kaelbe von der HU Berlin, der das Zweitgutachten anfertigte. Die Studie hat von dem sich über die gesamte Dauer der Promotion er­­ streckenden Austausch mit Kolleginnen und Kollegen aus unterschiedlichen Kontexten sehr profitiert. Die Idee zu dieser Arbeit entwickelte sich im Rahmen meiner Tätigkeit als studentische Hilfskraft im SFB „Zwischen Maas und Rhein“ im Projekt „Staat im Dorf“ an der Universität Trier. Für erste Anregungen danke ich Inga Brandes, Tobias Dietrich, Ruth Dörner, Norbert Franz und Tine Mayr. Das Berliner Kolleg für Vergleichende Geschichte Europas (BKVGE) bot intellektuell und finanziell – durch ein großzügiges Stipendium der Gerda-Henkel-­ Stiftung – ein ausgezeichnetes Arbeitsumfeld für die notwendige Vertiefung in das Thema. Bei den Direktoren des Kollegs Hartmut Kaelble, Jürgen Kocka, Jürgen Hildermeier und Holm Sundhaussen sowie den Koordinatoren Arnd ­Bauernkämper und Bernhard Struck möchte ich mich daher für die Aufnahme in das BKVGE bedanken. Zu der anregenden und angenehmen Arbeitsatmosphäre trugen meine Mitdoktorandinnen und -doktoranden wesentlich bei. Von den vielen seien an dieser Stelle Luminita Gajetel, Benno Gammerl, Heinrich Hartmann, Jakob Hort, Elise Julien, Markus Keller, Rudolf Kucera, Sebastian Kühn, Christiane Reinecke und Roberto Sala genannt. Sowohl in wissenschaftlicher als auch in persönlicher Hinsicht war die gemeinsam verbrachte Zeit ein wunderbares Erlebnis. Das Interesse, auf welches das Forschungsvorhaben bei Kolloquien und Konferenzen, in Archiven und Bibliotheken, auf Universitäts- und Wohnheimfluren sowie in Einzelgesprächen traf, ermutigte mich immer wieder bei der Fortführung der Arbeit. Wichtige Anstöße verdankt die Studie Etienne François, Stefi Jersch-Wenzel und Monika Richarz. Orte der Diskussion bildeten neben den bereits genannten Institutionen der Graduiertenstudiengang PROMT an der Universität Trier, das Doktorandenkolloquium der wissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft des LeoBaeck-­Instituts, das Deutsche Historische Institut Paris, das deutsch-französische

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Danksagung

Komitee für die Erforschung der deutschen und der französischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, das Projekt PARTIZIP der Université de Luxembourg sowie diverse Workshops, Sommerkurse und Tagungen, die u. a. von der Mission Historique Française en Allemagne, dem Deutschen Historischen Institut Warschau, der Central European University Budapest, dem European University Institute Florenz, der Stiftung Genshagen und dem Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde Dresden organisiert wurden. Das Institut für Europäische Geschichte in Mainz bildete den idealen Ort für eine intensive Schreibphase. Für die Möglichkeit, die Studie dort ihrem Abschluss entgegenzuführen, danke ich Irene Dingel und Heinz Durchhardt. Die Veranstaltungen des Instituts und der gemeinsam mit den anderen Stipendiatinnen und Stipendiaten gelebte Alltag sorgten dafür, dass die Zeit in Mainz eine bereichernde Erfahrung war. Für anregende Diskussionen danke ich insbesondere Mare van den Eeden, Sebastian Scharte und Yvona Dadej. Den Abschluss der Studie ermöglichte eine Anstellung als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Rahmen des Forschungszentrums Europa an der Universität Trier. Die mehrmonatigen Forschungsreisen in französische und luxemburgische Archive ermöglichte das Deutsche Historische Institut Paris. Hilfreiche Hinweise bei Recherchen und Informationen zu den in verschiedene Weltteile zerstreuten Unterlagen gaben die Mitarbeiter der Archives Départementales de la Moselle, der Archives Nationales du Luxembourg, des Geheimen Preußischen Staatsarchivs, des Leo-Baeck-Instituts New York und der Central Archives in Jerusalem. Dem Arbeitskreis für Neuere Sozialgeschichte danke ich für die Aufnahme dieser Veröffentlichung in die Reihe Industrielle Welt und der Gerda-Henkel-Stiftung für die Gewährung eines großzügigen Druckzuschusses. Meiner Familie, besonders meinen Eltern und Hilla, danke ich herzlich für ihre Unterstützung und ihr Interesse an meiner Arbeit. Last but not least sei Aicke Schulz für die gemeinsame Erstellung der Karten, aber noch viel mehr für die gemeinsame Zeit gedankt.

1. Einleitung 1.1 Landjudentum – von einem historischen Phänomen und seiner Historiografie „Juden sind Städter“.1 Diese Aussage könnte als Überschrift für die lange Phase der Forschung über jüdische Geschichte dienen, in der ausschließlich die Entwicklung der jüdischen Bevölkerung (besonders ihrer Eliten und des Bürgertums) in den Städten den Untersuchungsgegenstand darstellte. Die Tatsache, dass vom Beginn der frühen Neuzeit bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts die Mehrheit der Juden in den deutschen Territorien (besonders in den west- und süddeutschen Gebieten) und in Frankreich (im Elsass und in Lothringen) auf dem Land lebte, trat nur sehr langsam in das Bewusstsein vieler Historiker, die sich mit jüdischer Geschichte beschäftigten.2 Zwar wussten sie durchaus um die Existenz von Juden außerhalb des städtischen Kontexts, aber in der Regel stellte diese Siedlung in ihren Augen nur eine „Ausnahmeerscheinung“ dar. Wie weit die Vorstellung vom Juden als typischem Stadtbewohner zurückreicht, hat Joachim Schlör gezeigt, der D ­ ebatten über den angenommenen Zusammenhang von Judentum und Urbanität von den Zwanzigerjahren des 19. Jahrhunderts bis in die Zeit des Nationalsozialismus untersucht hat.3 Allgemein lässt sich sagen, dass die Entstehung jüdischer Niederlassungen auf dem Land in deutschen Regionen u. a. auf die Vertreibungen der Juden aus vielen Städten während der Frühen Neuzeit zurückzuführen ist. Abgesehen von Preußen war den Angehörigen der jüdischen Minderheit in fast allen Gebieten die





1 Schlör, Joachim: Juden sind Städter, in: Fritz Mayrhofer/Ferdinand Opll (Hg.): Juden in der Stadt (Beiträge zur Geschichte der Städte Mitteleuropas, Bd. 15), Linz 1999, S. 341. 2 Einen guten Überblick zur deutschen Forschungsgeschichte bietet Richarz, Monika: Ländliches Judentum als Problem der Forschung, in: dies./Reinhard Rürup (Hg.): Jü­­ disches Leben auf dem Lande. Studien zur deutsch-jüdischen Geschichte (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo-Baeck-Instituts, Bd. 56), Tübingen 1997, S. 1 – 7. Mit der Geschichte der französischen Juden nach der Revolution begannen sich Historiker erst in den Siebzigerjahren zu beschäftigen. Vgl. Weinberg, David: French Jewish History, in: Modern Judaism. A journal of jewish ideas and experience, Jg. 10, 1990, S.  379 – 395. 3 Vgl. Schlör, Joachim: Das Ich der Stadt. Debatten über Judentum und Urbanität 1822 – 1938 (Jüdische Religion, Geschichte und Kultur, Bd. 1), Göttingen 2005, S. 141 – 203.

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Einleitung

Niederlassung in Städten verboten. Dass die meisten Juden auf dem Land siedel­ ten, hing auch wesentlich damit zusammen, dass sich die Herrschaften kleiner Territorien – ohne urbane Zentren – aus ökonomischen Motiven bereit zeigten, Juden aufzunehmen. Schwerpunkte der jüdischen Niederlassung auf dem Land bildeten daher die viele kleine Herrschaften beherbergenden Gebiete von Baden, Württemberg, Franken, der Pfalz, Hessens, Westfalens und des Saar-Mosel-Raums.4 Die von Sabine Ulmann in Bezug auf den Südwesten des Alten Reichs gemachte Feststellung, dass in territorial zersplitterten Regionen bzw. in Gebieten, in denen die Hoheitsrechte umstritten waren, sich häufig jüdische Niederlassungen befanden, gilt auch für den Osten Frankreichs. Zwar durften sich in Frankreich wegen des in der frühen Neuzeit fortbestehenden Vertreibungsedikts von 1306 generell keine Juden ansiedeln, aber im ländlich geprägten elsässischen und im lothringischen Raum erhielten Juden aufgrund der Grenzlage die Möglichkeit, sich niederzulassen. Die Lage im 1648 Frankreich zugesprochenen Elsass glich stark derjenigen in den östlichen Nachbar­regionen: Während Juden in den Städten (z. B. Strasbourg) das Wohnrecht verwehrt war, bot der ländliche Kleinadel den Juden Niederlassungsmöglichkeiten an. Dass dies nach dem Westfälischen Frieden weiterhin möglich war, hing mit der allgemeinen Politik der Monarchie gegenüber der Provinz zusammen: Generell wurden die dortigen lokalen Rechtspraktiken nicht infrage gestellt, was sich auch hinsichtlich der Protestanten zeigte, die dort weiterhin leben durften, als sie aus den übrigen Teilen Frankreichs vertrieben wurden. Im lothringischen Raum wirkten sich die territoriale Zersplitterung und die Herrschaftskämpfe günstig auf die Niederlassungsmöglichkeiten für Juden aus, da sie als Truppen­lieferanten bzw. Kreditgeber benötigt wurden. Die französischen Könige erlaubten seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts einer steigenden Zahl von jüdischen Familien die Ansiedlung in Metz selbst, während Angehörige des Kleinadels sich spätestens seit dem 17. Jahrhundert in der Provinz Trois-Evêchés das Recht herausnahmen, Juden auf dem Land Niederlassungsrechte zu erteilen. Ähnlich gestaltete sich die Lage im 1766 in den Besitz der französischen Monarchie übergehenden Herzogtum Lothringen, wo sich unter französischer Besetzung Juden in zahlreichen Dörfern niederlassen konnten, die der Herzog später aus wirtschaftlichen Motiven weiterduldete. Außerhalb der Trois-Evêchés und des Herzogtums siedelten im lothringischen Raum aus

4 Vgl. Ullmann, Sabine: Nachbarschaft und Konkurrenz. Juden und Christen in Dörfern der Marktgrafschaft Burgau 1650 bis 1750 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 151), Göttingen 1999, S. 13 – 17, 31 – 90. Vgl. Volkov, Shulamit: Die Juden in Deutschland 1780 – 1918 (Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 16), 2. überarb. Aufl., München 2000, S. 4.

Von einem historischen Phänomen und seiner Historiografie

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ökonomischen Gründen häufig die Herrschaften der zumeist nur aus einem oder mehreren Dörfern bestehenden Exklaven des Alten Reiches Juden an.5 Sowohl für die deutschen Territorien als auch für Frankreich gilt, dass es im Verlauf des 19. Jahrhunderts zu einer Urbanisierung der jüdischen Bevölkerung kam, die dafür sorgte, dass an deren Ende die jüdischen Einwohner mehrheitlich in Städten lebten. Diese Entwicklung hing mit der Emanzipation der Juden zusammen, die u. a. das Recht auf Freizügigkeit beinhaltete: Die Juden waren nicht mehr gezwungen, auf dem Land zu leben, und sie nutzten die neue Freiheit, um sich in Städten niederzulassen. Dass die Ansiedlung von Juden im urbanen Kontext allerdings nicht ausschließlich auf die neue Freizügigkeit zurückzuführen war, belegen die lange Dauer des Urbanisierungsprozesses und die Tatsache, dass manche Juden (u. a. in der Rheinprovinz und Lothringen) in der ersten Jahrhundert­hälfte Dörfer als Wohnorte wählten, in denen bis dato keine Juden gelebt hatten. Zudem lässt sich anhand des Großherzogtums Luxemburg zeigen, dass die christlich-jüdische Gleichstellung nicht automatisch dazu führte, dass Juden sich im urbanen Kontext ansässig machten. In dem kleinen Territorium durften im 17. und 18. Jahrhundert keine Juden siedeln und erst infolge der französischen Herrschaft wurde den Angehörigen der Minderheit die Niederlassung erlaubt. Zwar wählten zunächst die meisten der zuziehenden Juden die Hauptstadt als Wohnort, aber im Verlauf der ersten Jahrhunderthälfte entschieden sich auch viele dazu, aufs Land zu ziehen.6 Aufgrund dieser Gegebenheiten empfiehlt es sich für das 19. Jahrhundert, das Leben auf dem Land nicht einfach als ein der jüdischen Minderheit aufgezwungenes Phänomen zu schildern, vor dem die Angehörigen dieser Gruppe flohen, sobald sich ihnen die Möglichkeit dazu eröffnete. Aus der Sicht der Juden, die sich



5 Vgl. Cahen, Gilbert: Les juifs dans la région Lorraine des origines à nos jours, in: Le Pays lorrain, Nr. 2, 1972, S. 59 – 70. Vgl. Lang, Jean Bernard/Rosenfeld, Claude: Histoire des Juifs en Moselle, Metz 2001, S. 47 – 52. Vgl. Schwarzfuchs, Simon: Alsace and Southern Germany. The Creation of a Boarder, in: Michael Brenner (Hg.): Jewish emancipation reconsidered. The French an German models (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo-Baeck-Instituts, Bd. 66), Tübingen 2003, S. 5 – 8. Vgl. Meyer, Pierre-André: Un survol historique, in: Archives Juives, Nr. 2, Jg. 27, 1994, S. 6 – 9. Vgl. Meyer, ­Pierre-André: Présentation historique, in: Henry Schumann: Mémoire des communautés juives de Moselle, Metz 1999, S. 10 f. Vgl. Pierson, Michel: Les juifs en ­Lorraine dans les deux siècles précédent la révolution, unveröff. mémoire présenté pour le D. E. S. de droit romain, Nancy 1953, S. 11 – 13, 74. Vgl. Roos, Gilbert: Les relations entre le gouvernement royal et les Juifs du nord-est de la France au XVIIe siècle (Bibliothèque d’études juives, Bd. 7), Paris 2000, S. 75 – 111. Vgl. auch Kapitel 3.1.1. 6 Vgl. Kapitel 3.1. Vgl. Yante, Jean-Marie: Heurs et malheurs des établissements juifs dans le Luxembourg (XIIIe siècle – début XVIe), in: Laurent Moyse/Marc Schoentgen (Hg.): La présence juive au Luxembourg. Du moyen âge au XXe siècle, Luxembourg 2001, S. 11 – 20.

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Einleitung

für den Zug aus einer ländlichen Umgebung in die Stadt entschieden, stellte die Letztere ein neuartiges Lebensumfeld dar, auch wenn sie eher als die christ­lichen Landbewohner aufgrund von familiären und ökonomischen Kontakten mit der urbanen Welt vertraut waren. Daher erscheint es unpassend, wenn in der Forschung die Urbanisation der jüdischen Bevölkerung hin und wieder als Rückkehr in die Stadt bezeichnet wird.7 Dass das Landjudentum in der deutsch-jüdischen Geschichtsschreibung vor 1933 kaum thematisiert wurde, hing nicht nur damit zusammen, dass zur Zeit der Weimarer Republik die Mehrheit der Juden in Städten lebte, sondern auch mit der überwiegend von Angehörigen der Minderheit getragenen Forschung, die das Landjudentum als historisch bedeutungslos einstufte. Es erschien den jü­­dischen Stadtbewohnern als überholte Lebensform, die sie häufig mit fehlender Bildung, Armut, allgemeiner Rückständigkeit und Unangepasstheit an die christlich geprägte Umwelt gleichsetzten. Die Ersten, welche sich des Themas des deutschen Land­ judentums annahmen, waren jüdische Emigranten, die Memoiren verfassten, um den nachfolgenden Generationen die Herkunft ihrer Familie zu überliefern. Nicht selten entwarfen die Autoren das Bild von der „guten alten Heimat“ und beschrieben das Landleben als friedliche Idylle. Die Werke konzentrierten sich auf das Leben innerhalb der jüdischen Landgemeinden, betrachteten aber nicht die Beziehungen zu den christlichen Landbewohnern.8 Das letztere Charakteristikum zeichnet auch die meisten Arbeiten emigrierter jüdischer bzw. aus deutsch-jüdischen Familien stammender Forscher aus, welche das jüdische Landleben systematisch erfassen wollten. Während das erste 1956 von Schwab verfasste Werk noch ein idea­ li­siertes Bild vom frommen und durch Tradition geprägten jüdischen Landleben zeichnete, zeigten sich die in den Siebziger- und Achtzigerjahren erscheinenden Veröffent­lichungen kritischer, z. B. Cahnmann, der u. a. die Wirtschaftstätigkeit der Landjuden beleuchtete, und Löwenstein, der die Migration vom Land in die Stadt untersuchte.9







7 Vgl. Richarz, Monika: Landjuden – Ein bürgerliches Element im Dorf, in: Wolfgang Jacobeit/Josef Moser/Bo Strat (Hg.): Idylle oder Aufbruch? Das Dorf im bürgerlichen 19. Jahrhundert. Ein europäischer Vergleich, Berlin 1990, S. 184 – 189. 8 Vgl. Richarz, Monika: Die Entdeckung der Landjuden. Stand und Probleme ihrer Erforschung am Beispiel Südwestdeutschlands, in: Karl-Heinz Burmeister (Hg.): Landjudentum im süddeutschen und Bodenseeraum. Wissenschaftliche Tagung zur Eröffnung des Jüdischen Museums Hohenems 1991 (Forschungen zur Geschichte Vorarlbergs, Bd. 11), Dornbirn 1992, S. 11. Vgl. als Beispiel für die Memoirenliteratur Picard, Jacob: Childhood in the village, in: LBIYB, Jg. 4, 1959, S. 273 – 293. 9 Vgl. Richarz, Judentum, S. 2 f. Vgl. Cahnmann, Werner: Der Dorf- und Kleinstadtjude als Typus, in: Zeitschrift für Volkskunde, Jg. 70, 1974, S. 169 – 193. Vgl. Löwenstein, Steven

Von einem historischen Phänomen und seiner Historiografie

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In Deutschland selbst beschäftigten sich seit den späten Sechzigern vor allem Heimatforscher und Amateurhistoriker mit dem jüdischen Landleben, an das u. a. erhaltene Friedhöfe erinnerten. Zahlreiche Autoren in Dörfern und Kleinstädten befassten sich mit der Geschichte „ihrer“ jüdischen Gemeinde und zeichneten deren Entwicklung zumeist in deskriptiver Weise von den ersten Nachweisen bis zum Ende im Nationalsozialismus nach. Auf diese Arbeiten stützten sich die seit den Sechziger­ jahren häufig unter der Leitung von staatlichen Stellen (z. B. Archiven) angefertigten regionalen Gedenkbücher, welche die Geschichten der jüdischen Gemeinden in Baden-Württemberg, Hessen und Bayern zusammenfassten, allerdings setzten sie diese nicht in Bezug zum wirtschaftlichen und sozialen Kontext.10 Der 2005 erschienene Band über Synagogen und jüdische Friedhöfe in Rheinland-Pfalz und dem Saarland steht von seiner Form her in der Tradition der Gedenkbücher, auch wenn der Anstoß vom „Synagogue Memorial Jerusalem“ kam, das eine Reihe initiierte, welche die Spuren jüdischen Lebens in Deutschland dokumentieren soll.11 Wissenschaftlich beschäftigte sich im deutschen Kontext als Erster 1969 der Soziologe Utz Jeggle mit dem Thema Landjudentum, indem er die christlich-­ jüdischen Beziehungen in württembergischen Judendörfern (d. h. Orten mit einem hohen jüdischen Bevölkerungsanteil) untersuchte, um die Vorgeschichte der Verfolgungen während der Nazizeit zu erhellen. In deutschen Historiker­kreisen war Monika Richarz die Erste, die dem Landjudentum Beachtung schenkte, als sie Ende der Siebzigerjahre eine Auswahl der im Leo-Baeck-Institut verwahrten Memoiren deutscher Juden veröffentlichte, unter denen auch Erinnerungen von auf dem Land lebenden Juden vertreten waren. Die seit den Sechzigerjahren festzustellende Zusammenarbeit zwischen in Amerika lebenden jüdischen Historikern und deutschen Kollegen führte also zur Berücksichtung des Phänomens Landjudentum. Zwar beschäftigte sich Richarz in den Achtzigerjahren mit der ökonomischen Stellung der Juden auf dem Land, aber es dauerte bis zum Ende des Jahrzehnts, ehe das Interesse der Historiker, Volkskundler und Judaisten am jüdischen Leben auf dem Land merklich anstieg.12 Dieses fand seinen Ausdruck in einem DFG-Projekt

M.: The rural community and the urbanization of German Jewry, in: Central European history, Nr. 3, Jg. 13, 1980, S. 218 – 236. 10 Zu dieser Art von Veröffentlichungen vgl. Richarz, Monika: Luftaufnahme – oder die Schwierigkeiten der Heimatforscher mit der jüdischen Geschichte, in: Babylon. Beiträge zur jüdischen Gegenwart, Jg. 8, 1991, S. 27 – 33. 11 Vgl. Fischbach, Stefan/Westerhoff, Ingrid (Bearb.): „…und dies ist die Pforte des ­Himmels.“ Synagogen Rheinland-Pfalz – Saarland (Gedenkbuch der Synagogen in Deutschland, Bd. 2), Mainz 2005. 12 Vgl. Richarz, Monika: Jüdisches Leben in Deutschland, 3 Bde., Stuttgart 1976 – 1983. Vgl. Richarz, Monika: Emancipation and continuity. German jews in rural economy, in:

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Einleitung

über das Landjudentum in Oberfranken und mehreren Sammelbänden, die sich teilweise interdisziplinär mit Facetten des jüdischen Lebens auf dem Land befassten, wobei das Spektrum von Religiosität, Familie und Schulwesen über Wirtschaft und Auswanderung bis hin zum Antisemitismus reichte. Geografisch lag der Fokus zumeist auf den süddeutschen Regionen, aber auch die Schweiz, Hessen, West­ falen und Schlesien fanden Berücksichtigung.13 Neben den zahlreichen Aufsätzen entstanden auch einige Dissertationen, welche das Landjudentum thematisierten, so untersuchte Gabriele Olbrisch den Einfluss des Staates auf das jüdische Kultus- und Erziehungswesen in Thüringen, während Ulrich Baumann – ähnlich wie Jeggle – die christlich-jüdischen Beziehungen betrachtete, allerdings für den badischen Raum.14 Die französische Geschichtsschreibung hat das Landjudentum bis heute nur in einem eher geringen Maß für sich entdeckt. Dies ist insofern erstaunlich, als auch in Frankreich die Mehrheit der jüdischen Einwohner bis in die 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts auf dem Land siedelte und sich die Urbanisierung länger als in Deutschland hinzog: 1808 wohnten 79 % aller französischen Juden in den ländlich geprägten Gebieten Lothringens und des Elsass (in Paris dagegen nur 6 %); 1861 waren es immerhin noch 57 % (in Paris 26 %). Die Urbanisierung der jüdischen Werner E. Mosse/Arnold Paucker/Reinhard Rürup (Hg.): 1848 – Revolution and evolution in German-Jewish history. Robert Weltsch on his 90th birthday (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo-Baeck-Instituts, Bd. 39), Tübingen 1981, S. 95 – 115. Die vom Landeshauptarchiv Koblenz erstellte Dokumentation über die jüdische Bevölkerung in den Gebieten der heutigen Bundesländer Rheinland-Pfalz und Saarland berücksichtigte die jüdische Landbevölkerung nicht systematisch. Vgl. Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz (Hg.): Dokumentation zur Geschichte der jüdischen Bevölkerung in Rheinland-Pfalz und im Saarland von 1800 bis 1945, 9 Bde., Koblenz 1972 – 1987. Die Titel der einzelnen Bände werden – soweit vorhanden – im Literaturverzeichnis, aber nicht in den Fußnoten angeführt. 13 Vgl. Jeggle, Utz: Judendörfer in Württemberg, Tübingen 1969. Vgl. Guth, Klaus/Groiss-Lau, Eva/Krzywinski, Ulrike (Hg.): Jüdische Landgemeinden in Oberfranken 1800 – 1942. Ein historisch-topographisches Handbuch, Bamberg 1988. Vgl. Burmeister, Landjudentum. Vgl. Richarz/Rürup, Jüdisches Leben. Vgl. Haus der Geschichte Baden-Württemberg (Hg.): Nebeneinander – Miteinander – Gegeneinander? Zur Koexistenz in Süddeutschland im 19. und 20. Jahrhundert (Laupheimer Gespräche, Bd. 1), Gerlingen 2002. Für die Frühe Neuzeit vgl. Hödl, Sabine (Hg.): Hofjuden und Landjuden. Jüdisches Leben in der Frühen Neuzeit, Berlin 2004. 14 Vgl. Baumann, Ulrich: Zerstörte Nachbarschaften. Christen und Juden in badischen Landgemeinden 1862 – 1940 (Studien zur jüdischen Geschichte, Bd. 7), Hamburg 2000. Vgl. Olbrisch, Gabriele: Landrabbinate in Thüringen 1811 – 1871. Jüdische Schul- und Kultusreform unter staatlicher Regie (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen, Kleine Reihe, Bd. 9), Köln 2003.

Von einem historischen Phänomen und seiner Historiografie

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Bevölkerung im Osten Frankreichs vollzog sich nur langsam: 1851 siedelten nur 24 % der dortigen Juden in den größten Städten (z. B. Metz, Strasbourg) und bis 1871 steigerte sich diese Zahl lediglich auf 31 %.15 Allgemein ist festzustellen, dass nicht nur das Landjudentum, sondern auch die Geschichte der französischen Juden nach der Revolution bis in die Dreißigerjahre hinein kaum von französisch-jüdischen Historikern thematisiert wurden, da diese sich in erster Linie auf das Mittelalter konzentrierten, um die Verwurzelung der jüdischen Gemeinschaft in Frankreich nachzuweisen. Die Zeit nach der Revolution ignorierten sie, weil sie von einer „französisch-jüdischen Symbiose“ ausgingen, die dazu führte, dass Entwicklungen der jüdischen Minderheit unter der allgemeinen französischen Geschichte sub­ sumiert werden konnten. Dass anders als im deutschen Fall nach 1945 kein Impetus zur Erforschung des Landjudentums aus Amerika erfolgte, hing damit zusammen, dass nur relativ wenige französische Juden nach Amerika emigrierten. So kehrten z. B. zahlreiche lothringische Juden nach dem Kriegsende in ihre Herkunftsregion zurück. Auch wenn viele von ihnen sich in den urbanen Zentren niederließen, so war die Zahl derer, die in den ländlichen Bereich zogen, doch so groß, dass sich in mehreren Dörfern und Kleinstädten erneut jüdische Gemeinden bildeten.16 Wie im deutschen Fall waren auch in Frankreich Heimat- und Amateurhistoriker die Ersten, die sich mit dem Phänomen Landjudentum befassten. Als Vorreiter ist der Rabbiner Moses Ginsburger zu nennen, der u. a. Artikel über die Geschichte verschiedener elsässischer Landgemeinden verfasste und auf dessen Initiative am Anfang des 20. Jahrhunderts die Gründung der „Gesellschaft für die Geschichte der Israeliten in Elsass-Lothringen“ erfolgte. Zwar hatte er wohl kein genuines Interesse am Judentum auf dem Land, aber das Bestreben, die jüdische Kultur als Bestandteil der allgemeinen elsässischen zu zeigen, führte – aufgrund der jahrhundertelangen ländlichen Siedlung – dazu, dass auch das dörfliche jüdische Leben Beachtung fand.17 Der Erste, der sich explizit für das jüdische Leben auf dem Land als solches interessierte, war der jüdische Heimathistoriker Pierre Mendel, der 1941 eine kurze Studie über die in Lothringen gelegene jüdische Gemeinde von Bionville von ihrer Entstehung im 17. Jahrhundert bis in die Gegenwart verfasste. Mit dem erst 1995 posthum veröffentlichten Werk war Mendel seiner Zeit insofern voraus, als er die Geschichte der Juden in diesem Dorf nicht um ihrer selbst willen betrachtete, sondern als exemplarisch für eine jüdische Landgemeinde 15 Vgl. Caron, Vicky: Between Germany and France: The jews of Alsace-Lorraine, Stanford 1988, S. 12 – 16. Vgl. Benbassa, Esther: Histoire des Juifs de France, Paris 1997, S. 162. 16 Vgl. Weinberg, S.  379 – 381. Vgl. Lang/Rosenfeld, S.  164 – 186, 423 – 425. 17 Vgl. z. B. Ginsburger, Moses: Die Juden in Rufach (Schriften der Gesellschaft für die Geschichte der Israeliten in Elsaß-Lothringen, Bd. 2), Gebweiler 1906. Vgl. zur Gesellschaft selbst Kapitel 5.3.5.

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im französischsprachigen Lothringen. Er schilderte die sich ändernde rechtliche ­Situation der Juden, ihre ökonomische Stellung, die Entwicklung der Gemeinde und die christlich-jüdischen Beziehungen.18 Nach dem Zweiten Weltkrieg fanden die Landjuden gelegentlich am Rande Berücksichtigung in Veröffentlichungen von Heimatforschern, die Ortsgeschichten anfertigten und der Vollständigkeit halber den jüdischen Einwohnern bzw. Gemeinden ein Kapitel widmeten. Von der Form gleichen diese Publikationen denen deutscher Amateurhistoriker, auch wenn die Motivation nicht in der Aufarbeitung des Nationalsozialismus lag, sondern im Wunsch nach Vollständigkeit. Dass elsässische und lothringische Heimatforscher das jüdische Leben auf dem Land als Bestandteil der regionalen Historie begriffen, verdeutlichen auch einzelne in den Siebzigerjahren in Zeitschriften von Geschichtsvereinen veröffentlichte Aufsätze.19 Die anders als im deutschen Fall vorhandenen engen Verbindungen zwischen Amateuren und professionellen Wissenschaftlern sorgten dafür, dass in solchen Periodika hin und wieder Artikel von Akademikern erschienen, die sich nicht zuletzt aufgrund ihrer eigenen Familiengeschichte mit dem Landjudentum beschäftigten. An erster Stelle ist in diesem Zusammenhang der Soziologe Freddy Raphael zu nennen, der sich vor allem mit der Kultur der jüdischen Landbevölkerung (Religion, Gebräuche, Essen) des Elsass und ihrer Wahrnehmung durch Christen beschäftigte. Die zusammen mit Robert Weyl Ende der Siebzigerjahre angefertigten Werke stellten die ersten wissenschaftlichen Veröffentlichungen dar, die das Landjudentum – wenn auch teilweise romantisierend – thematisierten.20 In seiner Dissertation über das Zusammenleben der verschiedenen Konfessionen auf dem elsässischen und badischen Land von 1871 bis 1939 berücksichtigte Alfred Wahl die jüdischen Einwohner nur am Rande, während er die Beziehungen zwischen Katholiken und Protestanten in aller Ausführlichkeit darstellte.21 18 Vgl. Cahen, Gilbert: Avant-propos, in: Pierre Mendel: Les juifs de Bionville en pays messin du 17ème siècle à nos jours, Metz 1995, S. I. 19 Vgl. Cahen, Avant-propos, S. I. Vgl. z. B. Barroth, N.: Le village d’Imling près de ­Sarrebourg, Metz 1971. 20 Vgl. Dietrich, Tobias: Konfession im Dorf. Westeuropäische Erfahrungen im 19. Jahrhundert (Industrielle Welt, Bd. 65), Köln 2004, S. 43 f. Vgl. Raphael, Freddy/Weyl, Robert: Juifs en Alsace, Culture, société, histoire (Collection Franco-Judaica, Bd. 5), Toulouse 1977. Vgl. Raphael, Freddy/Weyl, Robert (Hg.): Regards nouveaux sur les Juifs d’Alsace, Strasbourg 1980. Vgl. Weinberg, S. 382. Der Archivar Gilbert Cahen geht in seinen Werken über die Juden Lothringens nur am Rande auf das Landjudentum ein. Vgl. Cahen, Gilbert: Les juifs et la vie économique des campagnes (1648 – 1870), in: Revue d’Alsace, Nr. 97, 1958, S. 141 f. 21 Vgl. Wahl. Alfred: Confession et comportement dans les campagnes d’Alsace et de Bade (1871 – 1939). Catholiques, protestants et juifs, 2 Bde., Strasbourg 1980.

Von einem historischen Phänomen und seiner Historiografie

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Forschungen über den Holocaust, den französischen Antisemitismus und die jüdischen Reaktionen auf diese Phänomene ließen Historiker Anfang der Achtziger­ jahre an der Richtigkeit der Vorstellung, dass es sich bei den französischen Juden um eine assimilierte, weitgehend willenlose Gruppe handelte, zweifeln. Dies führte u. a. dazu, dass nun stärker als bisher die Auswirkungen der Modernisierung auf die Entwicklung der jüdischen Gemeinschaft untersucht wurden. Neben den Juden der Hauptstadt gerieten auch die Gemeinden außerhalb von Paris in den Blickpunkt der Forschung, wenn auch in einem geringeren Umfang. In diesem Kontext entstanden die Arbeiten der Amerikanerinnen Vicky Caron und Paula E. Hyman, die sich teilweise mit dem jüdischen Leben auf dem Land in Ostfrankreich befassten, und auf französischer Seite erlebte u. a. die Erforschung des Judentums in Lothringen einen Aufschwung.22 Auf das Landjudentum im Spe­ ziellen konzentrierte sich Jean Daltroff, der neben diversen Artikeln über jüdische Landgemeinden auch eine ausführliche Studie über die jüdische Gemeinschaft von Niedervisse bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges abfasste, in der er neben dem innerjü­dischen Leben auch die Beziehungen zu den christlichen Einwohnern beleuchtete.23 Eine mikrohistorische Untersuchung für die Frühe Neuzeit legte zudem Claudia Ulbrich vor, die das Zusammenleben von Juden und Christen in Pontpierre betrachtete.24 Ähnlich wie im deutschen Kontext wurden seit Ende der Neunzigerjahre in Lothringen mehrere Gedenkbücher verfasst, welche die materiellen Überreste jüdischen Lebens inventarisierten und die Geschichten der einzelnen Gemeinden zusammenfassend darstellten.25 Anders als bei den west- und süddeutschen Regionen sowie Ostfrankreich handelt es sich beim Großherzogtum Luxemburg um kein klassisches Gebiet des Landjudentums, da Angehörigen der Minderheit die Niederlassung in der Frühen Neuzeit verboten wurde.26 Mit der Geschichte der sich erst seit dem 22 Vgl. Weinberg, S. 382 – 386. Vgl. Caron, Germany. Vgl. Hyman, Paula E.: The Emancipation of the Jews of Alsace. Acculturation and Tradition in the Nineteenth Century, New-Haven 1991. 23 Vgl. Daltroff, Jean: Les juifs de Niedervisse. Naissance, épanouissement et déclin d’une communauté, Sarreguemines 1992. Vgl. Daltroff, Jean: L’histoire des communautés juives rurales de Moselle, in: Cahiers des pays de la Nied, Nr. 24, 1994, S. 12 – 26. 24 Vgl. Ulbrich, Claudia: Shulamit und Margarethe. Macht, Geschlecht und Religion in einer ländlichen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts (Aschkenas. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden, Beiheft 4), Wien 1999. 25 Vgl. Schumann, Mémoire des communautés juives de Moselle. Vgl. Schumann, Henry: Mémoire des communautés juives, Meurthe-et-Moselle, Meuse, Vosges, Metz 2003. Vgl. Lang/Rosenfeld. 26 Vgl. Yante, S. 11 – 20. Vgl. Lehrmann, Charles: La communauté juive du Luxembourg. Dans le passé et dans le présent, Esch-sur-Alzette 1953, S. 30 – 41.

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Beginn des 19. Jahrhunderts in Luxemburg – zunächst in der Hauptstadt und dann auch auf dem Land – ansiedelnden Juden beschäftigten sich bis in die Achtzigerjahre hinein nur wenige Personen. An erster Stelle ist der Rabbiner Charles Lehrmann zu nennen, der 1953 eine Gesamtdarstellung über jüdisches Leben in Luxemburg vorlegte, wobei er die Landbevölkerung am Rande berücksichtigte.27 Die Mehrzahl der bis in die Neunzigerjahre hinein – in der Regel von Amateurhistorikern – verfassten Aufsätze und Bücher, welche die Geschichte der jüdischen Minderheit thematisierten, setzten sich mit dem Zweiten Weltkrieg auseinander. Nur in Ausnahmefällen berücksichtigten Heimathistoriker die Geschichte der jüdischen Einwohner vor den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts auf dem Land, so z. B. Joseph Flies 1970 im Rahmen seiner umfassenden Geschichte über Ettelbrück.28 Erst Ende der Neunzigerjahre verstärkte sich das Interesse an der Geschichte der jüdischen Minderheit im Allgemeinen, aber auch an der jüdischen Land­ bevölkerung. Während die Publikationen, die sich fast ausschließlich mit den in der Hauptstadt lebenden Juden beschäftigten, manchmal von Akademikern verfasst wurden, blieb die Geschichte der Landjuden größtenteils eine Angelegenheit der Amateurhistoriker: So fanden in dem 1998 von der B’nai B’rith organisierten Kolloquium, in dem es darum ging, „d’explorer des zones encore méconnues de l’histoire des Juifs du Luxembourg“,29 die Landjuden keine Beachtung.30 Die Konferenz wirkte sich allerdings insofern positiv auf die Erforschung der auf dem Lande lebenden Juden aus, als sie das Bewusstsein über die Existenz der jüdischen Minderheit stärkte und wohl auch Impulse für weitere Untersuchungen gab. Verschiedene Autoren beleuchteten die Entwicklung der jüdischen Gemeinschaften in Ettelbrück, in Medernach und dem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Industriestadt aufsteigenden Esch-sur-Alzette. Zu nennen ist darüber hinaus die unveröffentlichte Maîtrise von Daniel Thilman über die Entwicklung der jüdischen 27 Vgl. Lehrmann, S. 53 f., 65 f., 76 – 78. 28 Vgl. Cerf, Paul: Longtemps j’aurai mémoire. Documents et témoignanges sur les Juifs du Grand-duché de Luxembourg durant la seconde guerre mondiale, Luxembourg 1974. Vgl. Friedrich, Evy: Von Fünfbrunnen nach Auschwitz, in: Revue, Nr. 22, 1969, S. 68 – 73, Nr. 23, 1969, S. 39 – 45. Vgl. Flies, Joseph: Ettelbrück. Die Geschichte einer Landschaft, Luxemburg 1970, S. 1611 – 1613. 29 Moyse, Laurent: Introduction, in: ders./Schoentgen, S. 9. 30 Vgl. Moyse/Schoentgen. Vgl. den Artikel des ehemaligen Direktors der Archives ­Nationales Goedert, Joseph: L’émancipation de la communauté israélite luxembourgeoise et l’administration du culte dans la première moitié du 19e siècle (1801 – 1855), in: Galerie. Revue culturelle et pédagogique, Jg. 11, 1993, S. 345 – 384. Vgl. Krier, Emile: Les juifs au Grand-Duché au XIXe siècle, in: André Neuberg (Hg.): Le choc des libertés. L’église en Luxembourg de Pie VII à Léon XIII (1800 – 1880), Bastogne 2001, S. 119 – 128.

Fragestellung und Herangehensweise

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Minderheiten im luxemburgischen Mondorf-les-Bains und seiner französischen Nachbargemeinde Mondorff.31

1.2 Fragestellung und Herangehensweise Die große Mehrheit der bisher erschienenen Publikationen zum Thema Landjuden zeichnet sich durch ihre relativ isolierte Betrachtungsweise aus. Neben Thilman und Wahl ist Uri R. Kaufmann der Einzige, der die auf einen nationalen bzw. regio­ nalen Kontext fixierte Perspektive verlässt.32 Aufgrund der zumeist vorherrschenden Beschränkung der Untersuchungen auf einen staatlichen Rahmen existieren keine Kenntnisse darüber, ob sich die Stellung der Landjuden innerhalb der Gesellschaften der verschiedenen Siedlungsgebiete stark ähnelte oder ob gewisse Unterschiede zwischen einzelnen Territorien vorhanden waren. Insbesondere die Frage, welche konkreten Auswirkungen die nach dem Ende des Ancien Régime in verschiedenen europäischen Ländern eingeführte Emanzipation – definiert als rechtliche Gleichstellung zwischen Juden und Christen – für die Landjuden im Allgemeinen sowie ihre Beziehungen zur nichtjüdischen Umwelt im Speziellen hatte, wurde bisher

31 Vgl. Dostert, Paul: Les juifs vivant dans le canton d’Esch (1830 – 1940), in: Nos cahiers, Nr. ¾, Jg. 27, 2006, S. 209 f. Vgl. Dondelinger, Will/Muller, Arthur: Jüdische Bevöl­ kerung in Ettelbrück. Zum Gedenken an eine einst blühende Religionsgemeinschaft, in: De ­Reider. Informatiounsblad vun der Gemeng Ettelbréck, Teil I, Nr. 23, 1998, S. 26 – 28, Teil II, Nr.  24,1998, S.  23 – 28, Teil III, Nr. 25, 1999, S. 24 – 37, Teil IV, Nr. 26, 2000, S.  28 – 32, Teil V, Nr.  28, 2001, S.  28 – 37, Teil VI, Nr. 29, 2002, S. 46 – 48, Teil VII, Nr. 30, 2002. S. 44 – 50. Vgl. Schoentgen, Marc: Die jüdische Gemeinde in Medernach. Einwanderung, Integration und Verfolgung, in: Organisatiounscomité „75 Jar Miedernacher Musek“ (Hg.): Fanfare Miedernach. 1930 – 2005, Mersch 2005, S. 299 – 366. Vgl. Cerf, Paul/­Finkelstein, Isi: Les juifs d’Esch/Déi Escher Judden. Chroniques de la communauté juive de 1837 à 1999, Luxembourg 1999. Vgl. Thilman, Daniel: La présence juive à Mondorf-les-Bains et à Mondorff. Des origines à 1953, unveröff. maîtrise, Nancy 2005. Vgl. auch die Überblicksdarstellung von Moyse, Laurent: Du rejet à l’intégration. Histoire des Juifs du L ­ uxembourg des origines à nos jours, Luxembourg 2011. Ein Teil der Ergebnisse dieser Studie findet sich in einem Sammelband des Projektes PARTIZIP. Vgl. Schlesier, ­Stephanie: Grenzüberschreitend. Juden in Luxemburg, ihre Kontakte in die Nachbarregionen und ihre Einbindung ins luxemburgische Leben im 19. Jahrhundert, in: Norbert Franz/Jean-Paul Lehners (Hg.): Nationenbildung und Demokratie. Europäische Entwicklungen gesellschaftlicher Partizipation (Luxemburg-Studien/Études luxembourgeoises, Bd. 2), Frankfurt a. Main 2013, S. 171 – 192. 32 Vgl. Kaufmann, Uri R.: Das jüdische Schulwesen auf dem Lande. Baden und Elsaß 1770 – 1848, in: Richarz/Rürup, S.  293 – 326.

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kaum thematisiert.33 Diese Forschungslücke möchte die folgende Studie mithilfe einer Untersuchung des jüdischen Lebens auf dem Land in der südlichen Rheinprovinz, Lothringen und Luxemburg im 19. Jahrhundert zu schließen beginnen. Die Frage, wie die Gleichstellung der Juden auf dem Land umgesetzt wurde, ist vor dem Hintergrund der bisherigen Forschungen zur Emanzipation der Juden interessant. Einerseits ermöglicht sie es zu untersuchen, ob die große Zahl von Darstellungen, welche die Gleichstellung der Juden mit den Katholiken in Frankreich als eine Erfolgsgeschichte schildert – zumeist am Beispiel der jüdischen Stadt­ bewohner –, nicht die Widerstände in der Bevölkerung gegen diese Entwicklung unterbewertet, wie neuere Studien nahelegen.34 Andererseits ist für den deutschen Kontext die – aufgrund des Wissens um den Genozid an den Juden im Nationalsozialismus – teilweise vorhandene Tendenz zu hinterfragen, die christlich-­jüdische Gleichstellung als ein von vornherein zum Scheitern verurteiltes Phänomen zu betrachten.35 Angesichts der geringen Anzahl von Studien zur Emanzi­pation der Juden in Luxemburg erscheint eine Untersuchung der Entwicklungen in dem Großherzogtum grundsätzlich als sinnvoll. Die Betrachtung des Kleinstaats ermöglicht es zudem zu untersuchen, inwiefern Entwicklungen in großen Staaten wie Frankreich und Preußen diejenigen in kleineren Nachbarländern beeinflussten. Studien zur jüdischen Geschichte des 19. Jahrhunderts widmen sich auch außer­ halb des Themas Landjudentum zumeist historischen Entwicklungen innerhalb einzelner Staaten oder Regionen. Dies ist bemerkenswert, weil die Geschichte der Juden in verschiedenen Ländern nicht nur als Teil der Geschichte autochthoner Gesellschaften geschrieben werden kann, sondern die Historiografie der jüdischen Geschichte eine eigenständige historische Disziplin ist, welche die Geschichte von Juden über nationale Grenzziehungen hinaus im Blick hat.36 Bei Werken, die keinen einzelnen Staat bzw. keine Region oder Stadt innerhalb eines Staates als Bezugsrahmen wählen, handelt es sich häufig um Überblicksdarstellungen zur Geschichte der europäischen Juden.37 Mit dem Thema der Emanzipation der Juden

33 In Anlehnung an Rürup wird der Begriff Emanzipation nur für die rechtliche Gleich­ stellung der Juden mit den Christen verwandt. Vgl. zu anderen Definitionen Volkov, Juden, S. 102 f. 34 Vgl. Gerson, Daniel: Die Kehrseite der Emanzipation in Frankreich. Judenfeindschaft im Elsass 1778 bis 1848 (Antisemitismus: Geschichte und Strukturen, Bd. 1), Essen 2006. Vgl. Nonn, Christoph: Antisemitismus, Darmstadt 2008, S. 42 – 45. 35 Vgl. Nonn, S. 50 – 53. 36 Vgl. Volkov, Juden, S. 72 f., 82 – 84. 37 Vgl. Neher-Bernheim, Renée: Histoire juive. Faits et documents de la Renaissance à nos jours, 3 Bde., Paris 1971 – 1974. Vgl. Battenberg, Friedrich: Das europäische Zeitalter der Juden. Zur Entwicklung einer Minderheit in der nichtjüdischen Umwelt Europas, Bd. 2:

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in ­verschiedenen Staaten beschäftigen sich einige seit Beginn der Neunzigerjahre erschienene Sammel­bände.38 Dass diese Arbeiten die Geschichte der Juden zumeist nach Staaten getrennt betrachten, hängt mit den unterschiedlichen politischen Bedingungen in den verschiedenen Territorien und der Spezialisierung der Histo­ riker zusammen. Direkte Vergleiche und das Aufzeigen von Zusammenhängen zwischen den Entwicklungen in verschiedenen Staaten sind zumeist auf die Beiträge der Herausgeber beschränkt. Darüber hinaus geht der von Michael Brenner herausgegebene Band, in dem die einzelnen Autoren jeweils bestimmte deutsche und französische Entwicklungen vergleichen. Positiv zu erwähnen ist auch der zweite Band des Handbuchs zur Geschichte der Juden Europas, der vor allem in den Bereichen Religion und Kultur transnationale Zusammenhänge aufzeigt. Dies ist der Einsicht geschuldet, dass „sich die Beschreibung und Analyse von Struk­ turen und Entwicklungen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft fast immer einer an den Grenzen der europäischen Staaten orientierten Perspektive entzieht“.39 Ergänzend ist zu bemerken, dass auch die christlich-jüdischen Beziehungen in einzelnen Ländern durchaus von Entwicklungen in anderen Staaten bzw. transnationalen Phänomenen beeinflusst wurden, z. B. durch die Zuwanderung aus anderen Ländern. Die vorliegende Studie versucht anhand des Beispiels des SaarLor-Lux-Raumes die in der Forschung zum Judentum des 19. Jahrhunderts häufig nicht thematisierten transnationalen bzw. transregionalen Zusammenhänge und Verschränkungen aufzuzeigen, um die Geschichte der Juden in einer europäischen Kernregion aus einem anderen als dem ausschließlich staatlichen bzw. nationalen Blickwickel zu erfassen. Lothringen, Luxemburg und die preußische Rheinprovinz eignen sich besonders als Untersuchungsregionen für die Erforschung der Konsequenzen der Emanzipation der Juden auf dem Land, da sie unter Napoleon einer einheitlichen Gesetzgebung unterlagen, aber nach der Neuziehung der Grenzen im Jahr 1815 in unterschiedliche staatliche Kontexte eingebunden wurden – und damit auch in verschiedene

Von 1650 bis 1945, 2. erw. Aufl., Darmstadt 2000. Vgl. Kotowski, Elke-Vera/Schoeps, Julius H./Wallenborn, Hiltrud: Handbuch zur Geschichte der Juden in Europa, 2 Bde., Darmstadt 2001. 38 Vgl. Brenner, emancipation. Vgl. Birnbaum, Pierre/Katznelson, Ira (Hg.): Paths of emancipation. Jews, states and citizenship, New Jersey 1995. Vgl. Malino, Frances/Sorkin, David (Hg.): From East to West. Jews in a changing Europe, 1750 – 1870, Oxford 1990. Mit der Emanzipation verschiedener religiöser Minderheiten beschäftigen sich Liedtke, Rainer/Wendehorst Stephan (Hg.): The emancipation of Catholics, Jews and Protestants. Minorities and the nation-state in nineteenth-century Europe, Manchester 1999. 39 Kotowski, Elke-Vera/Schoeps, Julius H./Wallenborn, Hiltrud: Vorbemerkung, in: dies., Handbuch, Bd. 1, S. 11.

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Emanzipationsgesetzgebungen. Ob und inwiefern die in den unterschiedlichen nationalen Zusammenhängen verschieden verlaufende jüdische Emanzipation eine Auseinanderentwicklung der gesellschaftlichen Stellung der Landjuden verursachte sowie eine voneinander abweichende Entwicklung der christlich-jüdischen Beziehungen hervorrief, lässt sich daher durch eine vergleichende Betrachtung der genannten Territorien aufzeigen. Da im Fall von Frankreich und Preußen die Untersuchungsregionen relativ weit entfernt von den staatlichen Machtzentren lagen und erst 1766 bzw. 1815 Teil der genannten Länder wurden, erlaubt die Untersuchung der Umsetzung der vom Gesetzgeber angeordneten Emanzipation auch einen Blick auf die Durchsetzung des staatlichen Herrschaftsanspruchs. Widerstände der Mehrheitsgesellschaft gegen die herrschende staatliche Gesetzgebung bezüglich der Juden – sei es in Form einer Ablehnung von Teilen der Gleichstellung der Juden oder in Form der Gewährung von Rechten, die über die Gesetze hinausgingen – können als Gradmesser der Akzeptanz bzw. der Ablehnung der fortschreitenden Durchstaatlichung der Re­­ gionen im 19. Jahrhundert gesehen werden. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die Frage, welche Veränderungen die rechtliche Gleichstellung der jüdischen Minderheit mit der christlichen Mehrheit in verschiedenen Lebensbereichen mit sich brachte und inwieweit sie dazu führte, dass die jüdischen Einwohner auf dem Land tatsächlich gemäß der herrschenden Gesetzgebung von der christlichen Bevölkerung bzw. den Behörden der verschiedenen Staaten behandelt wurden. Es geht in diesem Zusammenhang u. a. um den bereits erwähnten Prozess der Durchstaatlichung, also um die Frage, inwieweit es den staatlichen Zentren gelang, ihre Herrschaftsansprüche im ländlichen Raum durchzusetzen.40 Führte die formale Gewährung des Bürgerrechts zwangsläufig zu einer gleichberechtigten und allgemein anerkannten Teilhabe am öffentlichen Leben (z. B. im Vereinswesen, im Bereich der Politik) sowie zu einer Inten­­si­ vierung der persönlichen jüdisch-christlichen Beziehungen oder leisteten bestimmte ­Gruppen – erfolgreich oder erfolglos – Widerstand gegen eine im Vergleich zum Ancien Régime stärkere Einbindung der jüdischen Bevölkerung in die christlich dominierte Gesellschaft? Wenn in Zusammenhang mit diesen Fragen im Folgenden von der Integration der jüdischen Minderheit gesprochen wird, so wird damit nicht die Existenz einer homogenen christlichen Gesellschaft postuliert. In allen Untersuchungs­regionen lebten im 19. Jahrhundert sowohl Katholiken als auch evangelische Christen, auch wenn die Letzteren in Lothringen und Luxemburg nur eine kleine Gruppe darstellten.

40 Vgl. zur Durchstaatlichung in Europa Raphael, Lutz: Recht und Ordnung. Herrschaft durch Verwaltung im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2000, S. 23 – 26, 34 – 37.

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Darüber hinaus stellten die christlichen Bevölkerungen auch in sozialer Hinsicht keine einheitliche Gruppe dar. Wenn von Integration die Rede ist, wird in erster Linie der Frage nachgegangen, ob und wie in bestimmten Kontexten (z. B. der ländlichen Ökonomie, der Freizeitgestaltung, der Gemeindepolitik) überkonfessionelle bzw. -religiöse Kontakte gepflegt wurden und inwieweit die Zugehörigkeit zu einer religiösen Gruppe eine Rolle spielte. Es geht u. a. darum zu klären, ob und inwiefern Juden von christlichen Einwohnern oder den Behörden diskriminiert, also „durch ungleiche […] Behandlung zurückgesetzt, benachteiligt, als minderwertig behandelt“41 wurden. Dabei wird auch berücksichtigt, ob die Art des Umgangs mit den jüdischen Einwohnern der mit anderen religiösen Minderheiten glich oder ob es sich um spezifisch gegenüber den Juden praktizierte Verhaltensweisen handelte. In dieser Untersuchung wird die Behandlung der jüdischen Bevölkerungen der verschiedenen Regionen durch die christlichen Bevölkerungsmehrheiten betrachtet, allerdings bedeutet dies nicht, dass die Juden als passive Objekte innerhalb ihrer Gesellschaften verstanden werden. Die jüdischen Minderheiten werden als Akteure begriffen, welche die Beziehungen zu ihren christlichen Mitbürgern und somit die Gesellschaft als Ganzes mitgestalteten. Es geht darum, Inklusions- bzw. Exklu­sionsmechanismen aufzuzeigen. In diesem Zusammenhang ist darauf zu achten, in welchem Maße die jüdischen Bürger selbst Interesse an einer stärkeren Einbindung in die sie umgebenden Gesellschaften hatten. In welchen Lebens­ bereichen strebten sie engere Beziehungen bzw. eine größere Ähnlichkeit mit den Angehörigen der christlichen Mehrheiten an und in welchen nicht? Inwieweit geschah dies im Einverständnis mit den Mehrheitsgesellschaften? In dieser Studie werden im Rahmen der Untersuchung der Auswirkungen der Emanzipation auf die Landjuden in erster Linie die christlich-jüdischen Beziehungen untersucht. Im Zusammenhang mit den Letzteren wird am Rande berücksichtigt, inwiefern es zur Übernahme von Verhaltensmustern, Organisationsformen, Normen und Werten der Mehrheitsgesellschaften durch die jüdischen Minderheiten kam bzw. ob die christlichen Mehrheiten sich eventuell manchmal an den jüdischen Einwohnern orientierten. Der beschriebene, in der Forschung zumeist als Akkulturation bezeichnete Prozess 42 ist nicht als ein passiver Vorgang zu verstehen, bei dem eine als stabil gedachte Kultur kritiklos nachgeahmt wird, sondern vielmehr handelt es sich um eine aktive Aneignung, in deren Verlauf das Vorgefundene den 41 Vgl. Markefka, Manfred: Vorurteile, Minderheiten, Diskriminierung. Ein Beitrag zum Verständnis sozialer Gegensätze, 7. völlig veränd. und erg. Aufl., Neuwied 1995, S. 62. 42 Vgl. Volkov, Juden, S. 89 f. Vgl. van Rahden, Till: Verrat, Schicksal oder Chance. Lesarten des Assimilationsbegriffs in der Historiographie zur Geschichte der deutschen Juden, in: Klaus Hödl (Hg.): Kulturelle Grenzräume im jüdischen Kontext (Schriften des Centrums für Jüdische Studien, Bd. 14), Innsbruck 2008, S. 117 – 120.

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eigenen Vorstellungen und Bedürfnissen gemäß modifiziert wird. Akkulturation in diesem Sinne ähnelt dem Konzept des Kulturtransfers, das versucht, Zusammenhänge zwischen verschiedenen nationalen Gesellschaften einschließlich des „Fremden im Eigenen“ aufzuzeigen.43 Eine eindeutige Antwort auf die Frage, wie viel Akkulturation von den Juden an die Mehrheitsgesellschaften bzw. wie viel Integration als Reaktion auf die verschiedenen Emanzipationsgesetzgebungen im 19. Jahrhundert erwartbar gewesen ist, gibt es in der Forschung zur jüdischen Geschichte nicht. Ein Grund dafür sind die unterschiedlichen Definitionen der Forschungsobjekte, also die Definition von Juden und Nichtjuden: Während liberal-emanzipatorische Historiker des 19. Jahrhunderts (z. B. Isaak Markus Jost) Juden vor allem als Angehörige einer Glaubensgemeinschaft ansahen, betrachtete im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts vor dem Hintergrund der Säkularisierung die vor allem in Osteuropa beheimatete diaspora-nationalistische Geschichtsschreibung (z. B. Simon Dubnow) die Juden eher als eine durch gemeinsame historische Erfahrung verbundene Schicksalsgemeinschaft. Zionistische Historiker betonten später den Charakter von Juden als eigene Nation.44 Abhängig vom Standort des jeweiligen Forschers und je nachdem, welche Definition von Jüdischsein er verwendet, erscheint eine „Anpassung“ von Juden an die sie umgebende Gesellschaft möglich oder unmöglich, erwünscht oder unerwünscht. Die Definitionen der genannten Strömungen werden bis heute von den meisten Historikern der jüdischen Geschichte benutzt. In Anschluss an den „linguistic turn“ lehnt allerdings seit den Achtzigerjahren ein Teil der Forscher eine gesamtjüdische Geschichtsperspektive – und damit auch eine einheitliche Definition von Juden – als moderne Konstruktion ab. Eine die Erfahrungen aller Juden umfassende Geschichte halten sie vor dem Hintergrund der verschiedenen räumlichen und zeitlichen Kontexte für unmöglich. An die Stelle eines umfassenden Narrativs tritt für diese Historiker eine Vielzahl von Erzählungen, welche die jüdischen Erfahrungen in ihrem jeweiligen begrenzten Umfeld betrachtet. Ein Teil von ihnen stellt im Rahmen der Neuen Kulturgeschichte die subjektiven Sichtweisen der untersuchten Personen bzw. Gruppen in den Mittelpunkt ihrer

43 Vgl. Middel, Matthias: Kulturtransfer und Historische Komparatistik – Thesen zu ihrem Verhältnis, in: Comparativ, Nr. 1, Jg. 10, 2000, S. 17 – 21. In jüngerer Zeit versuchten Historiker im Anschluss an kulturwissenschaftliche Studien, den seit Beginn der Achtzigerjahre zunehmend als ideologisch angesehenen Begriff der Assimilation neu als eine Form des kreativen Handelns zu definieren. Vgl. van Rahden, Verrat, S. 121. 44 Vgl. Brenner, Michael: Propheten des Vergangenen. Jüdische Geschichtsschreibung im 19. und 20. Jahrhundert, München 2006, S. 12 – 32.

Fragestellung und Herangehensweise

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Überlegungen. Dadurch geraten die Perzeptionen, Meinungen und Gefühle der betrachteten Personen in den Fokus der Forschung.45 Die vorliegende Studie möchte in Anlehnung an die Perspektive der zuletzt genannten Gruppe von Historikern die Einstellungen der jüdischen und christ­ lichen Bevölkerungen, die diese verbal oder durch konkretes Verhalten ausdrückten, berücksichtigen. Aufgrund des gewählten Untersuchungsraums, des betrachteten Zeitraums und der zeitgenössischen Selbst- und Fremdwahrnehmungen werden Juden zunächst als Angehörige der jüdischen Gemeinden definiert. Inwiefern dies dem Verständnis der Landbevölkerung entsprach, wird die Untersuchung zeigen. Diese hat nicht das Ziel, bestimmte „Annäherungs-“ oder „Anpassungsleistungen“ der jüdischen Minderheiten an die christlichen Bevölkerungen im 19. Jahrhundert positiv oder negativ zu bewerten, wie es zeitgenössische Beobachter häufig taten. Die gegenseitigen Erwartungen, die Juden und Christen aneinander stellten, sind vielmehr Teil des Forschungsgegenstandes. Differierten die Vorstellungen der jü­­dischen und christlichen Landbewohner darüber, wie viel Nähe bzw. wie viel Abstand zueinander angemessen sei und wie groß die Unterschiede bzw. Ähnlichkeiten zwischeneinander sein dürften bzw. müssten? Verstanden Juden und Christen unter der Einbindung der jüdischen Minderheit in die Gesamt­gesellschaft dasselbe oder hatten sie unterschiedliche Ideen, wie diese beschaffen sein sollte? Um zu über­prüfen, ob sich die Auswirkungen der Emanzipation auf dem Land von denen in den Städten unterschieden bzw. sie zeitversetzt festzu­stellen sind, werden am Rande auch die urbanen Zentren der Untersuchungsregionen berücksichtigt. Es stellt sich die Frage, ob die Entwicklungen in den verschie­denen ländlichen Gesellschaften einander mehr glichen als die Entwicklungen in den Städten und auf dem Land innerhalb einer Region. Die genaue Betrachtung der Entwicklungen auf dem Land unter Berücksichtigung der Verhältnisse in den Städten ermöglicht es, die häufig in Zusammenhang mit der Unterscheidung von Stadt und Land konstruierte Zuschreibung „fortschrittlich“ bzw. „rückständig“ zu hinterfragen. Dies gilt sowohl für die jüdisch-christlichen Beziehungen als auch für die Veränderungen innerhalb der jüdischen Gemeinschaften. Wurden auf dem Land wirklich nur die bereits in den Städten begonnenen Entwicklungen nachvollzogen? Oder lassen sich auf dem Land Veränderungen identifizieren, die von denen in den urbanen Zentren ab­­wichen, bzw. waren Dörfer vielleicht sogar Vorreiter bei bestimmten Entwicklungen? Hauptsächlich bildet die Zeit zwischen 1815 und dem Ende des 19. Jahrhunderts den Hintergrund der Untersuchung. Der Beginn der Zeitspanne wurde in

45 Ebd., S. 262 f. Vgl. Endelman, Todd M.: In defense of Jewish Social History, in: Jewish Social Studies, Nr. 3. Jg. 7, 2001, S. 60 – 64.

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Einleitung

Hinblick auf den Wiener Kongress gewählt, der die politische Neuordnung nach dem Ende der napoleonischen Ära vornahm und u. a. die preußisch-lothringische Grenze festlegte. Die preußische Rheinprovinz entstand als neue Verwaltungs­ einheit, die neben den alten preußischen Besitzungen Geldern, Moers und Kleve und großen Teilen des Rheinlands auch das bereits vor Napoleon zu Frankreich gehörende mittlere Saartal sowie das östlich der Sauer gelegene ehemals luxemburgische Gebiet umfasste. Luxemburg selbst wurde 1815 zu einem formell souveränen Großherzogtum unter Wilhelm I. von den Niederlanden, auch wenn es bis 1839 eher wie eine niederländische Provinz verwaltet wurde. Der mit der belgischen Revolution einhergehende Verlust luxemburgischen Territoriums stellte wegen der geringen Zahl der in diesem Gebiet lebenden Juden keinen starken Einschnitt für die jü­dische Gemeinschaft des Kleinstaats dar, weswegen er die Untersuchung des hier interessierenden Themas nicht behindert.46 Ursprünglich war das Jahr 1871 wegen des Endes des Deutsch-Französischen Krieges, der Gründung des Zweiten Deutschen Reichs und der Annexion von Elsass-Lothringen als Ende des Untersuchungszeitraums angedacht. Hinzu kommt, dass dieser Zeitpunkt im deutschen Kontext als Abschluss der als „Emanzipation“ der Juden benannten Epoche – beginnend mit den ersten Reformen Josephs II. von Österreich und endend mit der bürgerlichen Gleichberechtigung im Rahmen des Deutschen Reichs – angesehen wird.47 Dass das Jahr 1871 als Schlusspunkt der Untersuchung dennoch verworfen wurde, hat sowohl thematische als auch forschungspragmatische Gründe. Zwar war die Emanzipation der Juden rechtlich gesehen 1871 in allen Regionen erreicht, allerdings erlaubt erst eine zeitlich darüber hinausgehende Betrachtung festzustellen, inwieweit sie in der Realität auch um­­gesetzt wurde bzw. auf welche Weise sie sich auswirkte. Zudem ermöglicht ein längerer Zeitraum für das ab 1871 teilweise dem Deutschen Reich zugehörige Lothringen die Untersuchung der Frage, ob und inwieweit die neue Staatszu­ gehörigkeit zu einer veränderten Behandlung der jüdischen Bevölkerung bzw. zu

46 Vgl. Schlesier, Stephanie: Vereinendes und Trennendes. Grenzen und ihre Wahrnehmung in Lothringen und preußischer Rheinprovinz 1815 – 1914, in: Etienne François/Jörg Seifarth/ Bernhard Struck (Hg.): Die Grenze als Raum, Erfahrung und Konstruktion. Deutschland, Frankreich und Polen vom 17. bis zum 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2007, S. 135 – 137. Vgl. Erbe, Michael: Belgien, Niederlande, Luxemburg. Geschichte des niederländischen Raumes, Stuttgart 1993, S. 194 – 203. Vgl. Calmes, Christian/Brossaert, Danielle: Geschichte des Großherzogtums Luxemburgs. Von 1815 bis heute, Luxemburg 1996, S. 7 – 82. 47 Vgl. z. B. Meyer, Michael A./Brenner, Michael (Hg.): Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, 4 Bde., München 2000, hier Bd. 2: Emanzipation und Akkulturation 1780 – 1871. Die Titel der einzelnen Bände dieses Werks werden im Literaturverzeichnis, aber nicht in den Fußnoten angeführt.

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einem andersartigen Verhalten der christlichen Einwohner gegenüber ihren jüdischen Mitbürgern führte. Auch für den luxemburgischen Fall empfiehlt es sich, den Untersuchungszeitraum auszudehnen, da dort das jüdische Leben auf dem Land in der zweiten Jahrhunderthälfte einen merklichen Aufschwung erfuhr. Ein eher praktisches Argument stellt darüber hinaus die teilweise lückenhafte Quellen­ überlieferung dar.48 Der Entschluss, mit Ausnahme des Kleinstaats Luxemburgs statt ganzer Staaten „nur“ Regionen miteinander zu vergleichen, ist in erster Linie dem Gegenstand der Untersuchung geschuldet: Wie bereits im einführenden Forschungsüberblick angedeutet, siedelten Juden nur in bestimmten Teilen Preußens und Frankreichs auf dem Land. Außerhalb der 1815 erworbenen Rheinprovinz lebten in Preußen die Juden mehrheitlich in Städten und im Fall von Frankreich beschränkten sich die ländlichen jüdischen Niederlassungen weitgehend auf den territorial lange Zeit umstrittenen Osten. Weil ein Vergleich auf staatlicher Ebene Gefahr liefe, die Vielfalt der innerstaatlichen regionalen Unterschiede stark zu reduzieren, die ­direkten Auswirkungen der staatlichen und kommunalen Politik sowie die alltäglichen Erfahrungshorizonte allenfalls bruchstückhaft zu erfassen, ist bei dem behan­delten Thema die regionale Ebene der staatlichen Ebene vorzuziehen. Zu berücksich­tigen sind die nationalen Kontexte dennoch, da in ihrem Rahmen die gesetz­lichen Regelungen erlassen wurden, denen die Bevölkerungen der verschiedenen Regionen folgen sollten. Bis 1839 wurde Luxemburg in der Praxis nur als Provinz der Niederlande behandelt, weswegen es bis zu diesem Zeitpunkt als eine Region innerhalb des Königreichs betrachtet werden kann. Nach der belgischen Teilung wurde das Großherzogtum zwar weitgehend zu einem eigenständigen Staat, aber wegen seiner geringen territorialen Ausdehnung fielen seitdem die regionale und die staatliche Ebene zusammen, weswegen es sich mit den beiden anderen Gebieten vergleichen lässt. Seine Einbeziehung ermöglicht zudem Erkenntnisse darüber, ob sich die Verwaltung und die Bevölkerung des Kleinstaats bei der Behandlung der jüdischen Minderheit von der Lage in den benachbarten Regionen bzw. Staaten beeinflussen ließen.49

48 Vgl. zu den Quellen Kapitel 1.3. 49 Vgl. zur Auswahl geeigneter Vergleichseinheiten Kaelble, Hartmut: Der historische Vergleich. Eine Einführung zum 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1999, S. 136 f., Kaelble, Hartmut: Die interdisziplinären Debatten über Vergleich und Transfer, in: ders./ Jürgen Schriewer (Hg.): Vergleich und Transfer. Komparatistik in den Sozial-, Geschichtsund Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M. 2003, S. 488 f. und Haupt, Heinz-Gerhard/ Kocka, Jürgen: Historischer Vergleich: Methoden, Aufgaben, Probleme. Eine Einleitung, in: dies.(Hg.): Geschichte und Vergleich. Ansätze und Ergebnisse international ver­ gleichender Geschichtsschreibung, Frankfurt a. M. 1996, S. 30 f.

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Einleitung

Um die Auswirkungen der Emanzipation – insbesondere auf die christlich-­ jüdischen Beziehungen – in den verschiedenen Untersuchungsregionen erfassen zu können, kombiniert die vorliegende Studie den historischen Vergleich mit einem mikrohistorischen Zugang, weil das Verhalten der Landbewohner und dessen Ur­ sachen nicht aus der Vogelperspektive erkennbar sind. Ob die rechtliche Gleichstellung von Juden und Christen die Handlungen bzw. Einstellungen der christlichen Mehrheit gegenüber der Minderheit beeinflusste, lässt sich auf der lokalen Ebene feststellen. Konkret bedeutet dies, dass die umrissene Fragestellung exemplarisch anhand verschiedener in den Regionen gelegener Dörfer, die unter Anwendung bestimmter Kriterien ausgewählt wurden, untersucht wird. Bevor auf die einzelnen Orte und die Merkmale, die zu ihrer Auswahl führten, eingegangen wird, soll die Mikrogeschichte, die in Augen mancher Forscher nur schwer mit dem Vergleich zu vereinbaren ist, vorgestellt werden.50 Bei Mikrogeschichte handelt es sich weniger um ein einheitliches umfassendes Konzept als vielmehr um „a historiographical practice whereas its theoretical references are varied“.51 Allen mikrohistorischen Arbeiten ist die Vergrößerung des Beobachtungsmaßstabs gemein, die es ermöglichen soll, historische Phänomene zu entdecken, die der Aufmerksamkeit bisher entgangen sind. Die mikrosko­pische Analyse – die Erforschung im Kleinen – ermöglicht nicht nur eine möglichst umfassende Benutzung von Quellen, sondern sie fordert diese auch ein. Durch eine Kombination verschiedener Quellen können unterschiedliche Lebensbereiche zu­­ einander in Beziehung gesetzt werden (z. B. Ökonomisches, Soziales und Religiöses), was bei großen Einheiten (z. B. einem Flächenstaat) praktisch kaum durchführbar ist. Auf diese Weise können Strukturen oder Prozesse erkannt werden, die auf der Makroebene nicht wahrnehmbar sind.52 Dass die Aggregation von Daten verzerrte Ergebnisse zur Folge haben kann – besonders, wenn Zusammenhänge konstruiert werden –, war ein wesentlicher Kritikpunkt der ersten mikrohistorisch arbeitenden Forscher gegenüber den in den Siebzigerjahren dominierenden Tendenzen in der internationalen Geschichtswissenschaft. Der Mehrzahl der Historiker ging es zu dieser Zeit darum, die Wirkungsmacht von wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen sowie Prozessen auf der Makroebene herauszuarbeiten. Die Mikrogeschichte entstand genauso wie die 50 Zur Kritik vgl. die weiter unten aufgeführten Anmerkungen von Haupt, Kocka und Kaelble. 51 Levi, Giovanni: On Microhistory, in: Peter Burke (Hg.): New Perspectives on historical Writing, Cambridge 1991, S. 93. 52 Vgl. ebd., S. 95 – 97. Vgl. Revel, Jacques: Micro-analyse et construction du social, in: ders. (Hg.): Jeux d’échelles. La micro-analyse à l’expérience, Paris 1996, S. 36. Vgl. Ulbricht, Otto: Mikrogeschichte: Menschen und Konflikte in der Frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. 2009, S. 12 – 14.

Fragestellung und Herangehensweise

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Alltagsgeschichte – mit der sie das Interesse an der Erforschung des Lebens der „kleinen Leute“ teilt – als Reaktion auf diese Art der Geschichtsschreibung, bei der vor allem Großkonzeptionen und -erklärungen im Mittelpunkt stehen.53 Im ­deutschen Kontext standen in erster Linie die historischen Sozialwissen­schaften, ihr Glaube an die „Wirkungsmächtigkeit anonymer Kräfte“ und die sich aus diesem ergebende „Tendenz zu mechanistischer Erklärung“54 im Mittelpunkt der Kritik. In Frankreich erhoben sich in ähnlicher Weise Stimmen gegen die Annales-Schule und in Italien, dessen Historiker von dieser Art der Geschichtsschreibung beeinflusst waren, geschah dasselbe. Italien wurde durch Arbeiten von Edoardo Grendi, Carlo Ginzburg und Giovanni Levi zum Geburtsland der „microstoria“, die nicht zuletzt aufgrund institutioneller und persönlicher Verbindungen relativ schnell auch in Frankreich Beachtung fand.55 In der deutschen Forschung wurde der Ansatz der „microstoria“ in den Achtzigerjahren ebenfalls aufgenommen, vor allem von Hans Medick und Jürgen Schlumbohm, aber anders als im italienischen und fran­­­zö­ sischen Kontext fanden kaum theoretische Debatten statt, u. a., weil die Mehrzahl der etablierten Historiker ihr ablehnend gegenüber standen. Zwar ist die Mikrogeschichte – nicht zuletzt, weil die Soziologie ihre Position als Leitwissenschaft für die Geschichte im Rahmen des „linguistic turn“ verloren hat – mittlerweile auch in universitären Forscherkreisen breit akzeptiert, aber dennoch ist es notwendig, auf einige Kritikpunkte, die immer wieder gegen sie vorgebracht werden, einzugehen.56

53 Vgl. Ulbricht, Mikrogeschichte: Menschen und Konflikte, S. 36 f., 67 f. Vgl. den Vergleich von Alltags- und Mikrogeschichte bei Dietrich, Konfession, S. 29 – 33. Dass mit „kleinen“ Leuten in erster Linie unbekannte Personen, nicht generell Unterschichten gemeint sind, betont Ulbricht. 54 Ulbricht, Otto: Mikrogeschichte – Versuch einer Vorstellung, in: GWU, Jg. 45, 1994, S. 349. Vgl. auch Medick, Hans: Mikro-Historie, in: Winfried Schulze (Hg.): Sozial­ geschichte, Alltagsgeschichte, Mikro-Historie. Eine Diskussion, Göttingen 1994, S. 40 f. 55 Vgl. Ginzburg, Carlo: Mikro-Historie. Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß, in: Historische Anthropologie, Jg. 1, 1993, S. 175 f. Vgl. Gribaudi, Maurizio: Des micro-mécanismes aux configurations globales. Causalité et temporabilité historiques dans formes d’évolution de l’administration française au XIXe siècle, in: Jürgen Schlumbohm (Hg.): Mikrogeschichte – Makrogeschichte. Komplementär oder inkommensurabel, Göttingen 1998, S. 83 – 87. Vgl. Ginzburg, Carlo/Poni, Carlo: La micro-histoire, in: Le débat, Jg. 17, 1981, S. 133 – 136. Vgl. Ulbricht, Mikrogeschichte: Menschen und Konflikte, S. 38 – 41, 51. Neben den innerwissenschaftlichen Entwicklungen spielten auch gesellschaftliche und politische Rahmenbedingungen eine Rolle bei der Entstehung der Mikrogeschichte. Vgl. Levi, S. 94. Vgl. Grendi, Edoardo: Repenser la micro-histoire? In: Revel, eux d’échelles, S.  233 – 243. 56 Vgl. Ulbricht, Mikrogeschichte: Menschen und Konflikte, S. 10 f., 44 – 60. Vgl. ­Dietrich, Konfession, S. 32. Vgl. zur Diversifizierung in der Sozialgeschichte Raphael, Lutz:

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Einleitung

Ein Vorwurf, der gegenüber mikrogeschichtlich arbeitenden Historiker geltend gemacht wurde, ist ihre angebliche Theoriearmut oder gar -feindlichkeit. Diese ­Kritik ist insofern zutreffend, als die Mikrogeschichte tatsächlich eine gewisse Zurückhaltung gegenüber „Großraumtheorien“ hegt; allerdings ist sie falsch, wenn sie auf die gänzliche Abwesenheit theoretischer Bezüge zielt. Dass dennoch ein derartiges Diktum die Mikrohistorie traf, hängt u. a. damit zusammen, dass sie nicht selten in einem Atemzug mit der Alltagsgeschichte genannt wurde, gegen die sich der Vorwurf der Theorielosigkeit in erster Linie richtete. Mikrogeschichtlich arbeitende Historiker berücksichtigen allgemeine Leitsätze der historischen Forschung, wenden sie an und modifizieren sie, falls es ihnen sinnvoll erscheint. So ging es Medick in seiner Studie über das Weberdorf Laichingen u. a. darum, ob die theoretischen Annahmen über Protoindustrialisierung korrekt waren.57 Das genannte Beispiel verdeutlicht auch, dass Mikrohistoriker nicht beabsichtigen, Lokalgeschichten zu schreiben, wenn sie Dörfer als Untersuchungseinheiten wählen, denn deren Erforschung geschieht nicht um ihrer selbst willen. Die Ver­ größerung des Maßstabs wird benutzt, um auf der Mikroebene neue Erkenntnisse über bestimmte Phänomene zu gewinnen. Ulbricht hat dies treffend als „Erforschung im Kleinen – nicht des Kleinen“58 beschrieben. Kleine Untersuchungs­ einheiten werden zu diesem Zweck mit allgemeinen Fragen verknüpft – im Falle dieser Untersuchung mit der Frage, wie sich die Emanzipation der Juden auf dem Land auswirkte. Auf der Basis der an einzelnen Fällen gewonnenen Ergebnisse soll zu allgemeineren Erkenntnissen gelangt werden. Daher wehren sich Mikrohistoriker gegen die Kritik, dass sie die Makrogeschichte aus den Augen verlieren könnten oder gar einen Gegenentwurf zu ihr verträten, so z. B. Jacques Revel: „Il n’existe pas d’hiatus, moins encore l’opposition entre l’histoire locale et globale.“59 Dass Mikro- und Makrogeschichte sich gegenseitig ergänzen, lässt sich auch anhand der hier gewählten Untersuchungseinheiten zeigen: Selbst abgelegene Dörfer Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme. Theorien, Methoden, Tendenzen von 1900 bis zur Gegenwart, München 2003, S. 173 – 192. 57 Vgl. Medick, Hans: Mikro-Historie als Historikererfahrung und Geschichtsarbeit, in: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, Jg. 14, 1999, S. 198. Vgl. Dietrich, Konfession, S. 32. Vgl. Ulbricht, Mikrogeschichte: Menschen und Konflikte, S. 45 – 51. Vgl. Medick, Hans: Weben und Überleben in Laichingen 1650 – 1900. Lokalgeschichte als Universalgeschichte, Göttingen 1996. 58 Ulbricht, Mikrogeschichte: Menschen und Konflikte, S. 13. 59 Revel, micro-analyse, S. 21. Auch Ginzburg konstatierte, dass „the idea of opposing micro-history to macro-history doesn’t really make sense“. Zitat in: Ulbricht, Mikrogeschichte: Menschen und Konflikte, S. 34. Vgl. auch Schlumbohm, Jürgen: Mikro­ geschichte – Makrogeschichte. Zur Eröffnung einer Debatte, ders.: Mikrogeschichte – Makrogeschichte. Komplementär, S. 9 – 32.

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waren nicht vollkommen nach außen abgeschlossen, so bekamen z. B. ihre Einwohner die Wirkung von Agrar- und Wirtschaftskonjunkturen zu spüren. Mikro­historiker konstruieren die Zusammenhänge zwischen Makro- und Mikroebene aus der Dorfperspektive und übertragen nicht einfach die für die Makroebene gemachten Feststellungen auf die lokale Ebene. Im Falle der jüdischen Geschichte bedeutet dies u. a., dass die – zumeist mit Blick auf die Entwicklungen in den Städten – erlangten Erkenntnisse über den sozialen Aufstieg der jüdischen Minderheit nicht einfach auf die auf dem Land lebenden Juden angewandt werden. Erst die direkte Betrachtung der Situation in den Dörfern erlaubt es festzustellen, ob die gemachten Feststellungen auch auf die dortige lokale Ebene übertragbar sind – oder auch nicht. Sie ermöglicht es, der Frage nachzugehen, ob und wie sich die auf der Makroebene festgestellten Phänomene – z. B. die Gleichstellung von Juden und Christen – auf der Mikroebene niederschlugen, wobei die gewählte Perspektive „auf die Widerstände, den Eigensinn, die Ungleichzeitigkeiten in Beziehung auf den Makroprozeß achtet oder auch auf seine Bedeutungslosigkeit sowie […] auf die Rolle des Trägheitsmoments, statt durch ein Überstülpen von hochgradig abstrahierenden Begriffen ein Eigenleben im vornherein wegzureduzieren“.60 In diesem Sinne beabsichtigt diese Studie, über den Blick in die Dörfer Erkenntnisse über die Auswirkungen der Emanzipation auf die jüdische Landbevölkerung und deren Beziehungen zur christlichen Mehrheit zu gewinnen. Der hin und wieder gegenüber der Mikro­geschichte laut gewordene Vorwurf, dass sie den Aspekt des Wandels vernachlässige, lässt sich anhand des oben angeführten Zitats von Otto Ulbricht widerlegen. Es verweist darauf, dass es Mikro­historikern darum geht, historischen Wandel in seiner Widersprüchlichkeit darzustellen und auch die Kräfte zu berücksichtigen, die ihm entgegenstanden. Hinzu kommt, dass nicht nur Wandel, sondern auch Kontinuität erklärungsbedürftig ist. Die Vergrößerung des Maßstabs ermöglicht es manchmal erst, Auslöser für Umwälzungen zu finden, kann aber umgekehrt auch dazu dienen, das Ausbleiben gesellschaftlichen Wandels zu erklären.61 Neben dem konkreten Verhalten der Landbewohner in den betrachteten Orten wird diese Studie auch deren Kommunikation mit den Behörden, also die Aushandlungsprozesse mit übergeordneten Verwaltungsinstanzen betrachten. Dies ist notwendig, um den Grad der Durchstaatlichung, die Wirkmächtigkeit des staatlichen Rahmens einschätzen zu können. Auf diese Weise werden die Makround die Mikroebene miteinander verbunden und der Kontext hergestellt, in dem die Bevölkerungen der verschiedenen Dörfer agierten (u. a. soll deutlich werden,

60 Ulbricht, Mikrogeschichte – Versuch, S. 353. 61 Vgl. Ulbricht, Mikrogeschichte: Menschen und Konflikte, S. 55 – 57. Vgl. Gribaudi, S.  88 – 90.

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inwieweit die Landbewohner die staatlichen Gesetze einhielten und auf welche Weise sich der Staat dafür einsetzte). Es geht in dieser Untersuchung nicht darum, der „Geschichte von oben“ eine völlig neue Erzählung „von unten“ entgegenzustellen, sondern darum, an bisherige Forschungsergebnisse anzuschließen – auch an solche über andere ländlich geprägte Regionen – und deren Gültigkeit für die betrachteten Regionen zu überprüfen. Ein Problem, mit dem sich Mikrohistoriker immer wieder auseinandersetzen müssen – zumindest, wenn sie ihre Forschungen von Kollegen nicht einfach als Fallstudien ohne weitergehende Bedeutung kategorisiert sehen wollen –, ist die Repräsentativität, also die Frage, ob und inwieweit die an einem Beispiel gewonnenen Ergebnisse generalisierbar sind. Abgesehen von einzelnen Forschern, welche die Überzeugung vertreten, dass Verallgemeinerungen nicht möglich seien, versucht die große Mehrheit der Mikrohistoriker, von ihren Untersuchungseinheiten her induktiv zu allgemeineren Aussagen zu kommen. Die Wege, auf denen sie dieses Ziel zu erreichen suchen, sind allerdings unterschiedlich. Ein auf Grendi zurückgehender Ansatz ist der Gedanke vom „außergewöhnlichen Normalen“, bei dem davon ausgegangen wird, dass über eine außergewöhnliche Quelle Normalität erschließbar ist. Befürworter dieser Denkfigur gehen davon aus, dass der mikro­ historisch erschlossene Einzelfall einen besonderen Erkenntniswert besäße und dass er daher über das untersuchte Gebiet hinausreiche.62 Kritik an der geschilderten Argumentation wurde allerdings nicht nur in allgemeinen Forscherkreisen, sondern auch vonseiten mancher Mikrohistoriker geübt. So glaubte z. B. Ulbricht 1994, dass auf die genannte Weise keine Repräsentativität hergestellt sei, auch wenn er später einschränkte, dass mikrohistorisch gewonnene Erkenntnisse nicht im Sinne der Statistik quantifizierbar sein müssten, um plau­sibel zu sein.63 Eine alternative Lösung der „Gretchenfrage der Mikrohistorie“64 stellt der Vergleich kleiner Einheiten dar, der es ermöglicht, bei der Untersuchung eines Phänomens Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den verschiedenen Fällen herauszuarbeiten – und somit auch das Gemeinsame, das in einem bestimmten

62 Vgl. Gribaudi, S. 90. Vgl. Medick, Mikro-Historie, S. 46 f. Vgl. Revel, micro-analyse, S. 31. Vgl. Levi, S. 109. 63 Vgl. Ulbricht, Mikrogeschichte – Versuch, S. 362. Vgl. Ulbricht, Mikrogeschichte: Menschen und Konflikte, S. 52 – 54. In einem u. a. von Revel herausgegebenen Sammelband beschäftigen sich Wissenschaftler verschiedener Disziplinen mit der Frage, inwieweit ausgehend von einem Einzelfall allgemeine Aussagen gemacht werden können. Vgl. Passeron, Jean-Claude/Revel, Jacques (Hg.): Penser par cas, Paris 2005. 64 Troßbach, Werner: Von der Dorfgeschichte zur Mikrohistorie. Transformationen in der Historik „kleinster Teilchen“, in: Stefan Brakensiek/Axel Flügel (Hg.): Regionalgeschichte in Europa, Paderborn 2000, S. 186.

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Rahmen als generalisierbar gelten kann. Die Konzentration auf relevante Merkmale einer historischen Erscheinung erlaubt es der vergleichenden Mikrogeschichte, repräsentative Ergebnisse zu gewinnen und „generative Modelle“ mittlerer Reichweite zu entwickeln.65 Zu den Ersten, die explizit zu vergleichenden Untersuchungen ermunterten bzw. sie ansatzweise selbst praktizierten, gehören Hans Medick und David Warren Sabean. So suchte z. B. der Letztere die am Beispiel von Neckarhausen gewonnenen Erkenntnisse über einen abschließenden Vergleich für Europa insgesamt fruchtbar zu machen.66 Neben diesen beiden ist zudem Michael Werner zu erwähnen, der vorschlug, „komparative Studien lokaler Gesellschaften“67 zur Erforschung von Kultur­transfers anzufertigen. Anders als Sabean – der lediglich einen asymme­ trischen Vergleich vornahm – stellten die in Trier im Rahmen des Projekts „Der Staat im Dorf“ über den Rhein-Maas-Raum forschenden Historikerinnen und Historiker den mikrohistorischen Vergleich methodisch in den Mittelpunkt ihrer Unter­suchungen und gestalteten ihn synchron sowie symmetrisch, räumten also den verschiedenen Untersuchungseinheiten jeweils denselben Raum ein. In der Tradition der in diesem Kontext verfassten Untersuchungen steht die vorliegende Studie.68 65 Vgl. Gribaudi, S. 90. Vgl. Revel, micro-analyse, S. 31 f. Vgl. Ulbricht, Mikrogeschichte: Menschen und Konflikte, S. 16. 66 Vgl. Medick, Hans: Entlegene Geschichte. Sozialgeschichte und Mikrohistorie im Blickpunkt der Sozialanthropologie, in: Joachim Mattes (Hg.): Zwischen den Kulturen? Die Sozialwissenschaften vor dem Problem des Kulturvergleichs (Soziale Welt. Sonderband, Bd. 8), Göttingen 1992, S. 174 – 176. Vgl. Sabean, David Warren: Kinship in Neckar­ hausen 1700 – 1870, Cambridge 1998, S. 398 – 510. Vgl. Sabean, David Warren: Reflections on microhistory, in: Gunilla Budde/Sebastian Conrad/Oliver Janz (Hg.): Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorien, Göttingen 2006, 283. Vgl. auch Dörner, Ruth: Staat und Nation im Dorf. Erfahrungen im 19. Jahrhundert, Frankreich, Luxemburg (Forum europäische Geschichte, Bd. 1), Deutschland, München 2006, S. 25. Letztere betrachtet eine Aussage von Levi, in der dieser Analogieschlüsse als Möglichkeit sieht, die auf mikrohistorischem Wege gewonnenen Ergebnisse zu fundieren, als Aufforderung zu vergleichender Mikrogeschichte. 67 Werner, Michael: Maßstab und Untersuchungsebene. Zu einem Grundproblem der vergleichenden Kulturtransfer-Forschung, in: Lothar Jordan/Bernd Kortländer (Hg.): Nationale Grenzen und internationaler Austausch. Studien zum Kultur- und Wissenschaftstransfer in Europa (Communicatio. Studien zur Literatur- und Kulturgeschichte, Bd. 10), Tübingen 1995, S. 27. 68 Vgl. Dietrich, Konfession. Vgl. Dörner. Vgl. Mayr, Christine: Zwischen Dorf und Staat. Amtspraxis und Amtsstil französischer, luxemburgischer und deutscher Landgemeindebürgermeister im 19. Jahrhundert. Ein mikrohistorischer Vergleich, Frankfurt a. M. 2006. Vgl. Franz, Norbert: Tätigkeitsfelder und Handlungsspielräume ausgewählter französischer und luxemburgischer Landgemeinden im mikrohistorischen Vergleich (1805 – 1890) (Trierer

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Einleitung

Zwar äußerten sich mehrere komparativ arbeitende Historiker skeptisch gegenüber Vergleichen von kleinen sozialen Einheiten, allerdings war diese Kritik kein grundsätzliches Plädoyer dafür, Studien nur noch auf staatlicher bzw. nationaler Ebene durchzuführen. So zeigte sich Hartmut Kaelble 1996 zwar skeptisch gegenüber dem Mehrwert vergleichender Regionalgeschichten, aber 2003 betonte er, dass bei bestimmten Themen (z. B. der Erforschung von sozialen Netzwerken) regionale oder lokale Vergleiche leistungsfähiger als am nationalen Rahmen orientierte Studien seien.69 Andere Forscher übertrugen Vorbehalte gegenüber der Alltags­geschichte auf die Mikrogeschichte, z. B. Heinz-Gerhard Haupt und Jürgen Kocka, die bemerkten, dass „Alltagshistoriker, die, meist mikrohistorisch, vergangene Wirklichkeit unter Betonung der Erfahrungen und Lebensweisen in ihrer Totalität zu rekonstruieren versuchen[,] […] wenig Vergleiche hervorgebracht haben“.70 Als Ursachen für das Fehlen vergleichender Studien benannten die beiden die Skepsis der kritisierten Forscher gegenüber analytischen Begriffen und das Streben nach einer „histoire totale“, welche der für einen Vergleich notwendigen Abstraktion entgegenstehe. Auf Mikrohistoriker lässt sich die Kritik nur in beschränktem Maß übertragen, da sie wie bereits erwähnt durchaus analytisch arbeiten und nur ein Teil von ihnen das Ziel anstrebt, einen Gegenstand in seiner Totalität zu erfassen, so z. B. Medick und Sabean mit ihren umfangreichen Dorf- bzw. Gemeinde­studien.71 Andere wählen eine alternative Vorgehensweise, indem sie ein „Problem“ zum Bezugsrahmen ihrer Analyse wählen, also ihren Gegenstand entlang einer Fragestellung untersuchen. Mikrohistoriker, die auf diese Weise arbeiten, sind in der Lage, ein historisches Phänomen in verschiedenen Kontexten miteinander zu vergleichen, weil sie ein Tertium Comparationis schaffen, über das die verschiedenen Fälle verglichen werden können, so z. B. Ruth Dörner und Christine Mayr.72 Der Vorteil eines problemgeleiteten mikrohistorischen Vergleiches liegt darin, dass er es

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historische Forschungen, Bd. 60), Trier 2005. Vgl. ders./Grewe, Bernd-Stefan/Knauff, Michael (Hg.): Landgemeinden im Übergang zum modernen Staat (Trierer Historische Forschungen, Bd.  36), Mainz 1999, S.  9 – 42, 93 – 120, 127 – 146, 183 – 206, 217 – 248. Vgl. zu Spielarten des historischen Vergleichs Haupt/Kocka, S. 11 – 35. Vgl. Kaelble, Vergleich, S. 18. Vgl. Kaelble, Debatten, S. 487 – 489. Vgl. auch Haupt, Heinz-Gerhard: Historische Komparatistik in der internationalen Geschichtsschreibung, in: Budde/Conrad /Janz, S. 146 f. Haupt/Kocka, S. 23. Vgl. Ulbricht, Mikrogeschichte: Menschen und Konflikte, S. 38 f., 47 – 51. Vgl. Sabean, Kinship. Vgl. Medick, Weben. Vgl. zum Begriff „histoire problème“ Medick, Weben, S. 16 und Troßbach, S. 195. Vgl. Welskopp, Thomas: Stolpersteine auf dem Königsweg. Methodenkritische Anmerkungen zum internationalen Vergleich in der Gesellschaftsgeschichte, in: Archiv für Sozialgeschichte, Jg. 35, 1995, S. 345. Vgl. Dörner, S. 23. Vgl. Mayr, S. 23.

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erlaubt, abstrahierend zu arbeiten – wie es der historische Vergleich einfordert –, und zugleich die Erforschung eines Phänomens aus der Nähe und auf Grundlage einer breiten Quellenbasis ermöglicht.73 Auch diese Studie erhebt keinen Totalitätsanspruch, sondern möchte die Auswirkungen eines historischen Phänomens in einem bestimmten Umfeld unter­ suchen, nämlich die Folgen der Emanzipation für die auf dem Land beheimateten Juden in verschiedenen Lebensbereichen und die Beziehungen der Minderheit zur christlichen Mehrheit. Zu diesem Zweck werden am Beispiel verschiedener Dörfer – soweit es die vorhandenen Quellen erlauben – die Einstellungen der Landbevölkerung zur Emanzipation der Juden, die Bevölkerungsentwicklung, die Einbindung der jüdischen Minderheit ins allgemeine Wirtschaftsleben sowie ihre soziale Stellung, die Behandlung der jüdischen Religionsgemeinschaft und die Integration der Juden ins gesellschaftliche Leben untersucht. Es werden also zum einen Lebensbereiche untersucht, die vor dem Beginn der christlich-­jüdischen Gleichstellung einer zumeist restriktiven Reglementierung seitens der christ­lichen Obrigkeiten unterlagen, wie die Ansiedlungsmöglichkeiten von Juden und deren Erwerbstätigkeiten. Zum anderen werden auch Lebensbereiche erörtert, auf die der Einfluss der Staaten bzw. der Mehrheitsgesellschaften erst mit dem Einsetzen der Emanzipation stärker wurde. Dies ist beim jüdischen Gemeinde­leben der Fall, da im Zuge der jüdisch-christlichen Gleichstellung den jüdischen Gemeinden, die während des Ancien Régime zu weiten Teilen das Leben ihrer Mitglieder bestimmten, der Großteil ihrer Machtbefugnisse (z. B. im Bereich der Rechts­sprechung) von den Staaten entzogen wurde und Letztere zugleich deren Orga­nisation gesetzlich regulierten. In dem angesprochenen Zusammenhang ist auch zu betrachten, ob die Zivilgemeinden die Aufgaben, welche sie zunehmend von den religiösen Gemeinden übernahmen (z. B. Armenfürsorge), auch in Bezug auf die jüdischen Bürger erfüllten. Inwieweit die Emanzipation zu einer stärkeren Akzeptanz der Juden durch die christliche Bevölkerung und zu einer Intensivierung der jüdisch-christlichen Beziehungen führte, lässt sich durch eine Analyse der Entwicklung der jüdisch-christlichen Begegnungen in den untersuchten Regionen – in denen die Gleichstellung verschieden schnell verlief – feststellen, wobei sowohl die Häufigkeit als auch die Art und Weise der überkonfessionellen Kontakte zu berücksichtigen sind. Neben Nachbarschaften, dem Handel, Wirtshäusern und Schulen, die allesamt Orte der Begegnung darstellten, werden die gegenseitige Anteilnahme an familiären und religiösen Feierlichkeiten, die Reaktionen auf die religiösen Gebräuche anderer Konfessionen bzw. Religionen und die Tätigkeit im Vereinswesen sowie in der

73 Vgl. Haupt/Kocka, S. 22 – 26. Vgl. Ulbricht, Mikrogeschichte: Menschen und Konflikte, S. 54.

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Einleitung

Gemeindepolitik betrachtet. Nicht nur das Miteinander von Juden und Christen kann so aufgezeigt werden, sondern auch Reibungen und Konflikte.74 Aufgrund des mikrogeschichtlichen Zugangs können verschienene Lebensbereiche zueinander in Beziehung gesetzt und Schlüsse gezogen werden, welche Veränderungen die jüdisch-christliche Gleichstellung hervorrief (z. B. in der Wahrnehmung der christlichen Landbevölkerung) und welche eher auf andere Ursachen (z. B. ökonomische Konjunkturen) zurückzuführen waren. Es geht in der Untersuchung darum, Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Entwicklungen in den verschiedenen Regionen sowie deren Ursachen aufzuzeigen. Der Vergleich ist zwar so angelegt, dass er in erster Linie der besseren Einsicht in die unterschiedlichen Auswirkungen der verschieden verlaufenden Emanzipation der Juden in den vorgestellten Regionen dient, allerdings soll auch herausgearbeitet werden, welche Folgen die christlich-jüdische Gleichstellung für die Landjuden im Allgemeinen hatte. Es handelt sich also weder eindeutig um einen „divergenten“ noch um einen „konvergenten“ Vergleich. Jürgen Osterhammel, auf den die beiden Begriffe zurückgehen, hat selbst bemerkt, dass sie in ein Mischungsverhältnis gebracht werden sollten.75 Es darf nicht übersehen werden, dass die untersuchten Gebiete unter Napoleon weitgehend derselben Gesetzgebung unterlagen und sie auch in der Folgezeit viele Gemeinsamkeiten verbanden, obwohl sie unterschiedlichen Staaten angehörten.76 Die Idee, linksrheinische, französische, niederländische, belgische und luxemburgische Territorien als einen europäischen Raum aufzufassen, vertraten bis dato nicht nur Forscher des Sonderforschungsbereichs „Zwischen Maas und Rhein“77, 74 Bestimmte Themen können wegen der vorgefundenen Quellenlage nur knapp beleuchtet werden, u. a. Gerichtsverhandlungen. 75 Vgl. Osterhammel, Jürgen: Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaats. Studien zu Beziehungsgeschichte und Zivilisationsvergleich (Kritische Studien zur Geschichts­ wissenschaft, Bd. 147), Göttingen 2001, S. 158. Die Unterscheidung dieser beiden Ziele des Vergleichs machte allerdings schon Hintze 1929. Vgl. Paulmann, Johannes: Interna­ tionaler Vergleich und interkultureller Transfer. Zwei Forschungsansätze zur europäischen Geschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts, in: HZ, Bd. 267, 1998, S. 663. 76 Vgl. Dipper, Christof: Zwischen Rhein und Maas. Kontinuitäten und Diskontinuitäten des napoleonischen Erbes im Zeitalter der Restauration, in: Alfred Heit/Günter Birtsch (Hg.): Zwischen Gallia und Germania, Frankreich und Deutschland. Konstanz und Wandel raumbestimmender Kräfte (Trierer Historische Forschungen, Bd. 12), Trier 1987, S.  273 – 286. 77 Irsigler beschrieb den Untersuchungsraum des Sonderforschungsbereichs als ein sich durch „Spannung und Auseinandersetzung zwischen zwei dominanten europäischen Kulturräumen“ auszeichnendes Gebiet. Vgl. Irsigler, Franz: Raumkonzepte in der historischen Forschung, in: Heit/Birtsch, S. 11.

Fragestellung und Herangehensweise

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sondern auch andere Historiker sahen „gute Argumente dafür, im 19. Jahrhundert Teile Nordfrankreichs, Belgiens und des Rheinlands gemeinsam zu untersuchen, da sie durch ähnliche ökonomische Strukturen und Konjunkturen und den Einfluß der katholischen Kirche verbunden sind“.78 Dass die untersuchten Regionen einander ähnelten und auch geografisch zusammenhängend waren, stellt für den Vergleich insofern ein analytisches Problem dar, als es fraglich erscheint, ob es sich bei den Territorien überhaupt um klar voneinander zu trennende Einheiten handelt. In administrativer Hinsicht lässt sich dies zwar bejahen, aber die Existenz der politischen Grenzen verhinderte nicht Beziehungen zwischen den Bevöl­kerungen der verschiedenen Gebiete zueinander. Die Kulturtransferforschung hat verdeutlicht, dass die Vorstellung von abgeschlossenen nationalen Einheiten, die sich getrennt voneinander entwickeln – insbesondere im deutsch-französischen Kontext –, irreführend ist und auf den Einfluss von Transfers auf nationale Entwicklungen hingewiesen. An der Vorgehensweise der Komparatisten kritisierte sie u. a., dass diese abgeschlossene Einheiten konstruierten und diese durch Hervorhebung von Unterschieden noch weiter verfestigten.79 Dieser Einwand macht Vergleiche nicht unmöglich oder nutzlos, aber er legt nahe, ihn durch die Einbeziehung von Transfers – also gegenseitige Beeinflussung – zu erweitern. Bereits Bloch verwies auf die Möglichkeit, „étudier parallèlement des sociétés à la fois voisines et contemporaines, sans cesse influencés les unes par les autres, soumises dans leur synchronisme, à l’action de mêmes grands causes“.80 Die vorliegende Studie realisiert die Idee einer gemeinsamen Untersuchung von verschiedenen Staaten angehörenden Gebieten links des Rheins, indem sie die Analysen der Verhältnisse in den einzelnen Dörfern der drei ausgewählten Re­ gionen synchron-vergleichend miteinander verbindet. Darüber hinaus achtet sie darauf, ob die Behörden und Einwohner der verschiedenen Territorien bestimmte Zustände oder Entwicklungen jenseits der Grenze wahrnahmen (z. B. Debatten 78 Vgl. Haupt/Kocka, S. 30. 79 Vgl. Middell, S. 17 – 41. Vgl. Espagne, Michel: Les transferts culturels franco-allemands, Paris 1999, S. 35 – 49. Vgl. Werner, Michael/Zimmermann, Bénédicte: Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der Histoire croisée und die Herausforderung des Trans­ nationalen, in: Geschichte und Gesellschaft, Jg. 28, 2002, S. 612 – 615. Vgl. Kaelble, Debatten, S.  474 – 476. 80 Bloch, Marc: Pour une histoire comparée des sociétés européennes, in: ders.: Mélanges historiques, Bd. 1, Paris 1963, S. 19. Vgl. zu den Chancen und Schwierigkeiten der Untersuchung von Grenzregionen Schlesier, Stephanie: Grenzregionen als Experimentierfeld. Von der Notwendigkeit Vergleich, Transfer und Verflechtung zu kombinieren, in: Agnes Arndt/Joachim C. Häberlen/Christiane Reinecke (Hg.): Vergleichen, verflechten, verwirren? Europäische Geschichtsschreibung zwischen Theorie und Praxis, Göttingen 2011, S.  268 – 294.

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Einleitung

über die Emanzipation der Juden) und inwieweit dieses Wissen Entwicklungen in der eigenen Region beeinflusste. Veränderungen der Behandlung der jüdischen Landbewohner und der jüdisch-christlichen Beziehungen werden erfasst, auch wenn kein diachroner Vergleich im klassischen Sinne vorgenommen wird. Die Auswahl der in verschiedenen staatlichen bzw. regionalen Kontexten befindlichen Dörfer nach bestimmten strukturellen Kriterien dient dazu, den Ergebnissen eine mittlere Reichweite zu verleihen und der Konstruktion „lokaler Pseudo-Ursachen“ vorzubeugen.81 Um der Gefahr der Letzteren zu entgehen, werden die am Beispiel der Dörfer gewonnenen Erkenntnisse zudem mit regionalen Verwaltungsüber­ lieferungen und der Forschungsliteratur abgeglichen.

KOBLENZ

BELGIEN

NASSAU

RHEINPROVINZ Gemünden

Ettelbrück

HESSEN TRIER

LUXEMBURG LUXEMBURG

LD

FE

N

E RK

MEISENHEIM

BI

Illingen

BAYERN

NEUNKIRCHEN Boulay METZ

FORBACH

Grosbliederstroff

SARREGUEMINES

LOTHRINGEN ELSASS BADEN

NANCY STRASBOURG

Der Grenzraum und die Untersuchungsdörfer zur Mitte des 19. Jahrhunderts

81 Vgl. zum diachronen Vergleich Mayr, S. 25 f. Vgl. auch Bloch, S. 38.

Fragestellung und Herangehensweise

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Die für vergleichendes Arbeiten notwendige Grundbedingung der Einbindung der untersuchten Gegenstände in ausreichend übereinstimmende Kontexte wird über eine funktionale Auswahl der Untersuchungsorte gewährleistet. Strukturelle Ähnlichkeiten zwischen ihnen sind erforderlich, um nicht in die Gefahr zu geraten, a priori lauter Sonderwege zu konstruieren.82 Während für die Rheinprovinz und Lothringen jeweils zwei Dörfer, in denen sich Juden niedergelassen hatten, betrachtet werden, wird für Luxemburg nur ein solcher Ort untersucht, weil die enge Verbindung zwischen den im Großherzogtum lebenden Landjuden und den Juden der Hauptstadt – die bei den anderen Regionen nicht in vergleichbarer Weise vorhanden war – es erforderlich macht, die Entwicklungen in der Stadt Luxemburg stärker zu berücksichtigen.83 Alle Untersuchungsorte zeichnen sich dadurch aus, dass ihre Einwohnerzahl zu Beginn des Untersuchungszeitraums weniger als 2500 Personen betrug und sie überwiegend landwirtschaftlich geprägt waren. Zwar bezeichneten die lothringischen und ­preußischen Administrationen des 19. Jahrhunderts nur Orte mit weniger als 2000 Einwohnern explizit als Landgemeinden, aber der Übergang zu etwas größeren ebenfalls agrarisch strukturierten Dörfern und Kleinstädten – als Letztere galten in Preußen Orte ab 3000 Einwohner – war fließend.84 In administrativer Hinsicht gleichen sich die erforschten Dörfer, da sie alle Sitz einer Bürgermeisterei waren.85 Um herauszufinden, ob infrastrukturelle Faktoren und bestimmte religiöse Gemengelagen dafür sorgten, dass sich die Auswirkungen der Emanzipation auf dem Land voneinander unterschieden, wurden weitere Charakteristika bei der Auswahl der Orte einbezogen. Innerhalb der betrachteten Regionen werden jeweils ein stadtfernes sowie ein stadtnahes Dorf, d. h. ein etwa zehn Kilometer von der nächsten größeren städtischen Ansiedlung entfernter Ort, untersucht. Dies soll Aussagen darüber ermöglichen, ob die räumliche Nähe zu Städten – und die mit ihr einhergehende (angenommene) stärkere Einbindung in überörtliche 82 Vgl. Haupt/Kocka, S. 25. Vgl. Welskopp, S. 355. 83 Die jüdischen Landbewohner Luxemburgs waren Teil der jüdischen Gemeinde der Stadt Luxemburg und daher direkt von den Entscheidungen der (christlichen) staatlichen und städtischen Autoritäten gegenüber dieser betroffen. In diesem Fall muss daher die Entwicklung der jüdischen Gemeinde der Stadt Luxemburg berücksichtigt werden. 84 Über das demografische Kriterium alleine werden dörflich strukturierte Räume nur unzureichend erfasst: Ein derartiger Raum zeichnet sich auch dadurch aus, dass wichtige Institutionen (z. B. die Ortsverwaltung, Kirchen) und Einrichtungen zur Befriedigung alltäglicher Bedürfnisse (Brunnen, Bäckereien) innerhalb weniger Minuten erreichbar sind und aufgrund der räumlichen Nähe soziale Kontakte normalerweise in Form von Face-to-Face-Beziehungen stattfinden. Vgl. Dietrich, Konfession, S. 4 – 8. Mündliche Hinweise von Frau Monika Richarz und Frau Stefi Jersch-Wenzel zur Einwohnergröße. 85 Im rheinpreußischen und luxemburgischen Fall bestehen die „Gemeinden“ zwar aus mehreren Orten, aber bei der Untersuchung werden lediglich die Hauptorte betrachtet.

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Einleitung

Kommunikationszusammenhänge – die Rezeption der Emanzipation auf dem Land beeinflusste und sich die dortigen Entwicklungen von denen in stadtfernen ­Dörfern unterschieden. Um herausfinden zu können, ob Angehörige der jüdischen Gemeinschaft wegen ihres Jüdischseins auf eine spezielle Weise behandelt wurden oder ob dies eher ein Verhalten war, das allgemein gegenüber religiösen bzw. konfessionellen Minderheiten gepflegt wurde, werden Dörfer mit verschie­ denen religiösen Gemengelagen betrachtet. Bei der getroffenen Auswahl wurde die Situation in den behandelten Regionen berücksichtigt: Deren Einwohner waren überwiegend katholisch, aber neben der jüdischen gab es auch evangelische Minderheiten, allerdings in unterschiedlichem Ausmaß. In der vom protestantischen Preußen dominierten Rheinprovinz stellten evangelische Christen in wenigen Gebieten die Bevölkerungsmehrheit (u. a. im östlichen Hunsrück), während sie in den meisten Teilen der Region nur schwach oder gar nicht vertreten waren. In Lothringen existierte eine kleine evangelische (überwiegend kalvinistische) Minder­ heit, aber infolge der Annexion stieg die Zahl der Protestanten – vornehmlich, aber nicht ausschließlich in den Städten – merklich an. In Luxemburg führte erst die Einrichtung der preußischen Garnison in der Hauptstadt zur Niederlassung von Protestanten, allerdings bestand nach deren Abzug die kleine Glaubensgemeinschaft fort, deren Angehörige größtenteils in der Hauptstadt lebten. Wegen dieser Gegebenheiten werden in der Rheinprovinz ein mehrheitlich protestantisches und ein mehrheitlich katholisches Dorf, in Lothringen ein Ort mit kleiner evange­ lischer Minderheit und einer ohne eine solche sowie in Luxemburg eine ländliche Ansiedlung ohne Protestanten untersucht.86 Aufgrund der genannten Kriterien wurden für Lothringen Boulay und das an der französisch-preußischen Grenze gelegene Grosbliederstroff, Gemünden im Hunsrück und Illingen im Saargebiet für die Rheinprovinz und das nördlich der Hauptstadt des Großherzogtums gelegene Ettelbrück für Luxemburg gewählt. Bei Boulay, Gemünden und Ettelbrück handelte es sich um stadtfern gelegene Dörfer, die mindestens 30 Kilometer von der nächsten größeren urbanen Ansiedlung entfernt waren: Von Boulay nach Metz sowie von Ettelbrück nach Luxemburg-Stadt betrug die Entfernung auf den vorhandenen Wegen etwa 30 Kilometer, während es im Fall von Gemünden sogar 40 Kilometer bis nach Kreuznach waren. Sowohl Illingen als auch Grosbliederstroff wurden aufgrund der Industrialisierung zu stadtnahen Orten: Beide waren etwa zehn Kilometer von Ansiedlungen entfernt, die sich aufgrund der Eisenindustrie und der mit ihr verbundenen Wirtschaftszweige 86 Da die wenigen im Großherzogtum auf dem Land lebenden Protestanten Luxemburgs der Gemeinde der Hauptstadt angehörten, wird – analog zur jüdischen Gemeinschaft – deren Behandlung durch die von Katholiken dominierte Verwaltung in die Analyse miteinbezogen.

Aufbau und Quellen

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zu urbanen Zentren entwickelten. Im Fall von Illingen war die nächstgelegene Stadt Neunkirchen und Grosbliederstroff lag genau zwischen Sarreguemines und Saarbrücken einerseits sowie Forbach andererseits.87 Die Quellenlage spielte bei der Entscheidung für die Orte insofern ein Motiv, als das Vorhandensein einer lokalen und regionalen Überlieferung von bestimmtem Umfang notwendig war, um überhaupt eine Untersuchung vornehmen zu können.88 Da die Auswahl der Dörfer primär unter strukturellen Gesichtspunkten erfolgte und nicht nach Ergiebigkeit für das bearbeitete Thema, wird der Gefahr vorgebeugt, spektakuläre Beispiele – die eine besonders breite Überlieferung erzeugten – in den Mittelpunkt der Untersuchung zu stellen. Dies begünstigt eine größere Repräsentativität für vergleichbare Dörfer in den betrachteten Regionen.89

1.3 Aufbau und Quellen Die Untersuchung gliedert sich in vier Kapitel, wobei die ersten beiden ­Kapitel der Beleuchtung der juristischen, demografischen und ökonomisch-sozialen Rahmenbedingungen des jüdischen Lebens auf dem Land dienen. Anschließend werden das religiöse Leben der dort lebenden Juden und dessen Beeinflussung durch staatliche Behörden, übergeordnete jüdische Institutionen und die Dorfbevölkerungen in den Mittelpunkt gerückt. Im abschließenden Kapitel der Studie wird vor dem in den vorigen Kapiteln entwickelten Hintergrund untersucht, wie sich das Zusammenleben von Juden und Christen auf dem Land gestaltete, d. h., welche Beziehungen sie untereinander pflegten, welche Folgen die Ausübung der verschiedenen Religionen mit sich brachte, inwieweit sich ein allgemeines religions­übergreifendes Miteinander etablieren konnte und ob die Juden als Gruppe genauso wie die Christen behandelt wurden. Das der Einleitung folgende zweite Kapitel der Arbeit dient der Betrachtung der juristischen Grundlagen der jüdisch-christlichen Gleichstellung und der Eman­ zipationskonzepte sowie Meinungen über die jüdische Bevölkerung, welche hinter den gesetzlichen Regelungen in den einzelnen Ländern standen. Nicht nur die Veränderungen der individuellen Stellung der Juden werden berücksichtigt, sondern auch die Vorschriften betreffend die jüdische Religionsgemeinschaft. Es wird thema­tisiert, welche Motivationen es für die Entscheidung gab, den Juden 87 Auf die Charakteristika der verschiedenen Orte wird in Kapitel III noch genauer eingegangen. 88 Im Fall von Lothringen schieden einige potenzielle Untersuchungsorte aus, da die Gemeinde­archive während des Zweiten Weltkrieges zerstört wurden. Vgl. zu den Quellen Kapitel 1.3. 89 Vgl. Ulbricht, Mikrogeschichte – Versuch, S. 363.

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Einleitung

im Ancien Régime zugedachten Status zu ändern und welche Rolle der Transfer von Ideen in diesem Zusammenhang spielte. Die Emanzipation der Juden war ein europäischer Prozess, der u. a. durch eine über staatliche Grenzen hinwegreichende Diskussion zwischen Beamten und Gelehrten angestoßen und durch liberale Kräfte, die eine bürgerliche Gesellschaft anstrebten, vorangetrieben wurde.90 Ein wesentliches Ziel des Kapitels besteht darin herauszufinden, inwieweit sich Einwohner der betrach­teten Gebiete – auch Juden – an der Debatte über die Emanzipation beteiligten und welche Stellung die Landbevölkerungen bezüglich dieser Frage einnahmen. Das Ergebnis wird es u. a. erlauben, Aussagen darüber zu treffen, wie stark die ländliche Einwohnerschaft in nationale Diskussionszusammenhänge eingebunden war. Um zu verdeutlichen, wie stark sich die rechtliche Ausgangsposition in den verschie­denen Regionen glich, werden zunächst der Status der Juden im Ancien Régime, die Einführung der Gleichstellung unter französischer Herrschaft und deren partielle Rücknahme unter Napoleon beleuchtet werden. Für die Zeit von 1815 bis 1870 werden die staatlichen Gesetzgebungen gegenüber den jüdischen Minderheiten in den verschiedenen Regionen getrennt voneinander untersucht. Es wird allerdings stets darauf geachtet, ob die staatlichen Behörden oder die Bevölkerungen bei ihren Argumentationen für oder gegen die Emanzipation der Juden Bezug auf benachbarte Länder oder Regionen nahmen. Die Einbeziehung der E ­ poche des Deutschen Reiches erlaubt es zu untersuchen, ob die 1871 im natio­nalen Rahmen erreichte Emanzipation wirklich vollständig war und ob die ­Annexion Elsass-­Lothringens mit gesetzlichen Änderungen hinsichtlich des Status der Juden oder der jüdischen Gemeinschaft einherging. Im dritten Kapitel rücken die demografischen, ökonomischen und sozialen Verhältnisse auf dem Land in den Blickpunkt, die den Rahmen der christlich-­jüdischen Beziehungen bestimmten. Es wird untersucht, wie die in den betrachteten Regionen auf dem Land lebenden Juden siedelten: Bildeten sie in den Orten, in denen sie sich niedergelassen hatten, so kleine Gruppen, dass sie im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung nicht stark ins Gewicht fielen, oder stellten sie relativ beachtliche Minderheiten dar? Wie entwickelte sich die jüdische Siedlung auf dem Land im Verlauf des 19. Jahrhunderts und welche Ursachen lagen den festgestellten Entwicklungen – u. a. der Urbanisierung und der Emigration – zugrunde? Wohnten die jüdischen Landbewohner konzentriert in einem bestimmten Teil ihrer Wohnorte oder verteilten sie sich auf die Dörfer? Da die Emanzipation in den Regionen verschieden schnell verlief, lässt sich feststellen, ob die christlich-jüdische Gleichstellung im

90 Emanzipation als Bezeichnung fand erst im frühen 19. Jahrhundert Eingang in die Debatte um die Gleichstellung der Juden. Zuvor war der Terminus der „Verbesserung der Juden“ dominierend.

Aufbau und Quellen

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Wesentlichen verantwortlich für die beobachteten Prozesse war oder andere Faktoren eine wichtigere Rolle spielten. Der Blick auf die jüdischen Erwerbsstrukturen liefert weitere Anhaltspunkte zur Beantwortung der Frage, wie stark sich die durch die Emanzipation gewonnenen Freiheiten im alltäglichen Leben – in diesem Fall der Berufswahl – auswirkten und welche anderen Einflüsse sich geltend machten. Um herauszufinden, wie sich die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Juden und Christen in den verschiedenen Regionen auf dem Land gestalteten, werden die jüdischen und christlichen Berufsstrukturen sowie die soziale Lage der beiden Bevölkerungsgruppen in den verschiedenen Dörfern miteinander verglichen und die Auswirkungen dieser Gegebenheiten auf die Beziehungen zwischen den Angehörigen der beiden Religionsgruppen analysiert. Existierte eine gewisse Konkurrenz oder dominierten gegenseitige Abhängigkeiten aufgrund verschiedener Schwerpunkte im Erwerbsleben? Inwiefern kam es in den verschiedenen Dörfern zu einem sozialen Aufstieg der Landjuden und welche Faktoren waren in diesem Zusammenhang von Bedeutung? Gab es Einkommensunterschiede zwischen Juden und Christen, die geeignet waren, soziale Spannungen hervorzurufen? Das vierte Kapitel beleuchtet die Binnenstrukturen der jüdischen Gemeinden und die Art und Weise, wie sich die verschiedenen Emanzipationsgesetz­gebungen – die neben der Stellung der Juden als Individuen auch den Status der jüdischen Religionsgemeinschaften festlegten – auf diese auswirkten. Es geht darum aufzu­ zeigen, inwieweit jüdische und christliche Gemeinden gleich bzw. ähnlich behandelt wurden und wie stark staatliche Behörden in das jüdische Religionsleben auf dem Land eingriffen bzw. seine Ausübung beeinflussten. Zunächst wird der Umgang der lokalen und regionalen Zivilbehörden mit den jüdischen Kultuseinrichtungen und -beamten betrachtet, wobei besonderes Augenmerk auf die Frage nach der Unterhaltung der Letzteren gelegt wird. Danach rückt die Organisation der jü­dischen Landgemeinden und des gesamten jüdischen Kultus in den verschiedenen Regionen in den Blickpunkt, und es wird analysiert, inwieweit diese durch gesetzliche Vorschriften und Forderungen staatlicher Behörden definiert wurden. Wie bei der Untersuchung der Gemeindeeinrichtungen wird auch bei diesem Thema beachtet, ob und in welchen Situationen die Zivilverwaltung es für zulässig oder notwendig erachtete, in jüdische Angelegenheiten einzugreifen und welche Ziele sie damit verfolgte. Abschließend wird die Religiosität bzw. die konkrete Reli­gionsausübung der Landjuden beleuchtet und darauf eingegangen, welchen Einflüssen von außerhalb der Dörfer – z. B. durch vom Staat geschaffene übergeordnete jüdische Institutionen – sie ausgesetzt war und inwieweit sie sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts veränderte. Im fünften Kapitel wird vor dem in den ersten beiden Schritten entwickelten Hintergrund der Frage nach der Integration der Landjuden in das alltägliche und gesellschaftliche Leben auf dem Land nachgegangen. Im ersten Unterkapitel wird

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betrachtet, an welchen Orten sich in den verschiedenen Dörfern jüdische und christliche Einwohner begegneten und wie sich die sich dort ergebenden Kontakte gestalteten. Neben Nachbarschaften, Wirtshäusern und Schulen wird in diesem Zusammenhang auch der Handel als ein Ort der jüdisch-christlichen Begegnung aufgefasst und untersucht. Verringerten sich im Anschluss an die Emanzipation die Abstände zwischen den jüdischen und christlichen Einwohnern, z. B. indem Angehörige beider Gruppen öfter in räumlicher Nähe zueinander wohnten? Kam es zu engeren Kontakten zwischen den Angehörigen der verschiedenen Religionen und wie konfliktarm oder -reich waren diese? Lassen sich Veränderungen in der Haltung der christlichen Landbevölkerungen gegenüber den jüdischen Minderheiten feststellen? Das zweite Unterkapitel befasst sich damit, wie sich die Zugehörigkeit zu verschiedenen Glaubensrichtungen im Alltagsleben und bei bestimmten familiären oder religiösen Anlässen auswirkte und beleuchtet darüber hinaus antijüdische Traditionen mit religiösem Hintergrund. Es wird u. a. betrachtet, wie sich Dorfbewohner bei Feiern oder Veranstaltungen verhielten, die von Angehörigen einer anderen Religionsgruppe veranstaltet wurden, ob es zu Mischehen kam und inwieweit Bereitschaft gezeigt wurde, die auf einer anderen Glaubensrichtung beruhende Andersartigkeit zu akzeptieren oder ob Unmut über diese ausgedrückt wurde. Das dritte und das vierte Unterkapitel beschäftigen sich mit der Partizipation der jüdischen Landbevölkerung am öffentlichen Leben, einerseits im Rahmen des Vereinswesens und andererseits in der Kommunalpolitik. Bei beiden Themen geht es darum zu klären, ob die Minderheitenzugehörigkeit – trotz der Emanzipation – das Engagement von Juden in einem zivilen Kontext beeinflusste oder gar generell erschwerte und inwieweit den jüdischen Landbewohnern an Mitwirkung gelegen war. Es wird untersucht, an welchen Arten von Vereinigungen sich jüdische Dorfbewohner beteiligten, ob sie möglicherweise initiativ tätig wurden und ob Widerstand gegen ihre Beteiligung vonseiten christlicher Einwohner zum Ausdruck kam. Darüber hinaus wird auch das jüdische Vereinswesen beleuchtet und erforscht, ob es eine Konkurrenz für nichtkonfessionelle Assoziationen darstellte. Im Bereich der Kommunalpolitik wird betrachtet, unter welchen Umständen jüdische Einwohner in die Gemeinderäte gewählt wurden oder sogar den Bürgermeister­posten erlangen konnten und inwieweit die politisch tätigen Juden Rückhalt in der christlichen Wählerschaft bzw. Bevölkerung fanden. Im abschließenden fünften Kapitel geht es wie in den vorangegangenen um die Frage der Teilhabe, allerdings im ökonomischen Sinn. Es wird untersucht, ob den jüdischen Landbewohnern in der ­Praxis dieselben Anrechte wie ihren christlichen Mitbürgern hinsichtlich der von den Zivilgemeinden zur Verfügung gestellten Ressourcen zugestanden wurden. In diesem Zusammenhang wird die Beteiligung von Juden an der Allmende betrachtet und die Behandlung der jüdischen und christlichen Armen sowie die Finanzierung der jüdischen und christlichen Schulen miteinander verglichen.

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Aufgrund der mikrohistorischen Herangehensweise dieser Arbeit und der im Mittelpunkt stehenden Frage, wie sich die Emanzipation konkret auf das Leben der Landjuden auswirkte, stellen die auf lokaler Ebene – also in den Unter­suchungsorten – entstandenen Quellen die wichtigste Grundlage für die ­Unter­suchung dar. Es handelt sich bei den benutzten Überlieferungen in erster Linie um Verwaltungsakten, sowohl um gemeindeinterne Bestände als auch um Korrespondenzen der lokalen Administration bzw. einzelner Dorfbewohner (z. B. Bittschriften) mit übergeordneten Behörden. Schriftstücke dieser Art finden sich vor allem in Gemeindearchiven, aber auch in den Beständen der regionalen und teilweise sogar der nationalen Archive. Aufgrund dieser Gegebenheit und der Tatsache, dass die in Gemeindearchiven aufbewahrten Schriftstücke zumeist auf Anforderung der höheren Verwaltung hin angefertigt wurden, lässt sich eine scharfe Trennlinie zwischen den Archiven der verschiedenen Ebenen nur schwerlich ziehen. Daher wurde für diese Studie nicht nur in regionalen Archiven, die häufig die Kommunalarchive aufbewahren, sondern auch in nationalen Archiven recherchiert. Für die Rheinprovinz wurden Akten des Landeshauptarchivs Koblenz, des Landesarchivs Saarbrücken und des Geheimen Preußischen Staatsarchivs Berlin, für Lothringen Unterlagen der Archives Départementales de la Moselle in Metz, der Archives Départementales de Meurthe-et-Moselle in Nancy sowie der Archives Nationales in Paris und für Luxemburg Dokumente der Archives Nationales du Grand-duché du Luxembourg ausgewertet.91 Neben der Überlieferung der Verwaltungsbehörden wurde – soweit sie vorhanden war – diejenige der jüdischen Gemeinden bzw. Institutionen hinzu­ gezogen. Da es in dieser Arbeit weniger um innerjüdische Entwicklungen als um die Behandlung der Juden bzw. ihrer Religionsgemeinschaft durch ihre Mit­ bürger und die zivile Verwaltung geht, handelt es sich bei den zu interessierenden Quellen in der Regel um Korrespondenzen zwischen jüdischen Gemeinden und Konsistorien einerseits und staatlichen Zivilbehörden andererseits. Diese finden sich zu einem großen Teil in den Beständen der bereits genannten Archive (z. B. die „Archives du Consistoire Israélite de la Moselle“ im Départementsarchiv in Metz), aber darüber hinaus mussten weitere Archive kontaktiert werden, z. B. die „Archives du consistoire central de la France“ in Paris.92 Wegen der Zerstreuung jüdischen Schriftguts aus den betrachteten Regionen aufgrund der Verfolgung 91 Anders als im französischen und preußischen Fall wurde in Luxemburg das Archiv der betrachteten Landgemeinde nicht an ein übergeordnetes Archiv abgegeben. 92 Dass Unterlagen der jüdischen Konsistorien des 19. Jahrhunderts teilweise an öffentliche Archive abgegeben wurden, hängt im französischen Fall mit deren enger Verbindung zum Staat zusammen. Vgl. dazu Weill, Georges: Jüdische Archive in Frankreich, in: Frank M. Bischoff/Peter Honigmann (Hg.): Jüdisches Archivwesen. Beiträge zum Kolloquium aus

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der europäischen Juden und des Zweiten Weltkrieges war es zudem notwendig, u. a. Unterlagen des Leo-Baeck-Instituts 93 und der „Central Archives for the history of the Jewish people“ in Jerusalem 94 zu berücksichtigen.95 Ergänzend zur archivalischen Überlieferung wurde darüber hinaus die Berichterstattung jüdischer Periodika und regionaler Tageszeitungen über die Verhältnisse in den untersuchten Gebieten betrachtet. Die herangezogenen Quellen erwiesen sich nicht als gleich ergiebig für die verschiedenen Dörfer und unterschieden sich teilweise auch von ihrer Art her. Die voneinander abweichende Überlieferung ist auf die Einbindung der Untersuchungsobjekte in verschiedene nationale Kontexte, den daher voneinander abweichenden Informationsinteressen der Behörden im 19. Jahrhundert und die Aktenverluste infolge der Weltkriege zurückzuführen. Trotz der genannten Schwierigkeit ließ sich genügend Material für einen Vergleich finden, wobei es der mikrohistorische Zugang ermöglichte, verschiedene Quellensorten zueinander in Beziehung zu setzen. Während für die betrachteten Regionen nur relativ wenige Quellen (z. B. Petitionen) vorhanden sind, welche die Einstellung und den Beitrag der Landbevölkerung zur Emanzipationsgesetzgebung sichtbar machen, konnte für die Rekonstruktion der demografischen, ökonomischen Anlass des 100. Jahrestags der Gründung des Gesamtarchivs der deutschen Juden (Veröffentlichungen der Archivschule Marburg, Nr. 45), Marburg 2007, S. 285 – 303. 93 Vgl. zum Leo-Baeck-Institut und seiner Dependance in Berlin Honigmann, Peter: Das Archiv des Leo Baeck Instituts, in: The Jewish Quaterly Review, Nr. 4, Bd. 84, 1994, S. 509 – 514 und Pomerance, Aubrey: Jüdische Museen als Motor archivischer Sammel­ tätigkeit, in: Bischoff/Honigmann, S. 331 – 342. 94 Vgl. zum Archiv und den dorthin überführten Beständen des 1905 errichteten Gesamtarchivs der deutschen Juden Arroyo, Inka: Die Raison d’être der Central Archives for the History of the Jewish People als virtuelles „Staatsarchiv“ der Diaspora, in: Bischoff/­Honigmann, S. 75 – 96 und Rein, Denis: Die Bestände der ehemaligen jüdischen Gemeinden Deutschlands in den „Central Archives for the History of the Jewish People“ in Jerusalem, in: Der Archivar, Nr. 4, Jg. 55, 2002, S. 318 – 327. Vgl. zum Gesamtarchiv Welker, Barbara: Das Gesamtarchiv der deutschen Juden – Zentralisierungsbemühungen in einem föderalen Staat, in: Bischoff/Honigmann, S. 39 – 73. In Jerusalem befinden sich zwar keine Unterlagen der jüdischen Gemeinden der betrachteten Dörfer, aber Akten der Konsistorien von Metz und Nancy. 95 Die jüdische Überlieferung des sogenannten „Moskauer Sonderarchiv“ wurde nur insoweit eingesehen, als sie über andere für diese Arbeit kontaktierte Archive (z. B. dem der Alliance Israélite universelle) zugänglich war. Der mit einer direkten Einsicht verbundene Aufwand hätte in keinem angemessenen Verhältnis zu dem zu erwartenden Erkenntnis­ gewinn für das hier bearbeitete Thema gestanden. Vgl. zu diesem Archiv Tarantul, Elijahu: Raub oder Rettung? Jüdische Akten im Moskauer Sonderarchiv, in: Bischoff/Honigmann, S.  111 – 141.

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und sozialen Zustände auf eine umfangreiche sozialgeschichtliche Überlieferung (Volkszählungs-, Einwohner-, Berufs-, Zensuslisten, Zivilstandsregister, Statistiken) zurückgegriffen werden. Informationen über die jüdischen Gemeinden und ihre Behandlung durch die christliche Mehrheitsbevölkerung konnten aus Akten betreffend die jüdischen Institutionen – z. B. die Synagogen oder Schulen – gezogen werden, wobei es sich konkret u. a. um Bittschriften, Beschwerden, Gemeinderatsbeschlüsse und Anordnungen der Behörden handelt. Als hilfreich für den Blick auf die Regionen als Ganzes erwiesen sich in diesem Zusammenhang Aufstellungen, welche die Lokal- und Regionalverwaltungen (u. a. Bürgermeister, Landräte und Unter­präfekten) im Auftrag übergeordneter staatlicher Behörden zusammentrugen, und Verzeichnisse der jüdischen Konsistorien über ihre Bezirke. Bei der Untersuchung der gesellschaftlichen Integration fanden neben den bereits erwähnten Arten von Quellen auch Wahlprotokolle, Vereins­ unterlagen, Spendenlisten, Kataster und Gerichtsurteile 96 Verwendung. Wie andere Untersuchungen über ländliche Regionen kann sich auch diese Studie kaum auf Selbstzeugnisse stützen, aber wenigstens für die Zeit um die Wende zum 20. Jahrhundert kann auf Erzählungen und Berichte von Land­bewohnern – in der Regel über von Eltern oder Großeltern überlieferte Erfahrungen und Erlebnisse – zurückge­griffen werden.97 Bezüglich der verwandten Sekundärliteratur ist zu erwähnen, dass sogenannte „graue Literatur“ berücksichtigt wurde, u. a. Veröffentlichungen von Heimat­historikern, Genealogen und von Vereinen. Da die Publikationen – vor allem die neueren – des Öfteren in Zusammenarbeit mit professionellen Geschichtsforschern verfasst wurden bzw. über Verweise auf die Quellenbasis Nachprüfbarkeit gegeben ist, wurde darauf verzichtet, diese Veröffentlichungen getrennt von der übrigen Literatur aufzuführen.

96 Aufgrund der Kriegsverluste konnten Prozessakten allerdings nur in geringem Maß einbezogen werden. 97 Für zwei Dörfer in unmittelbarer Nähe der beiden Untersuchungsorte Gemünden und Boulay sind derartige Quellen in größerer Ausführlichkeit vorhanden. Im preußischen Fall handelt es sich um die Autobiografie des 1869 in Laufersweiler geborenen Bernhard Mayer und im lothringischen Fall um Berichte von Einwohnern von Niedervisse. Vgl. Wiehn, Erhard Roy (Hg.): Interessante Zeitgenossen. Lebenserinnerungen eines jüdischen Kaufmanns und Weltbürgers, Konstanz 1998. Vgl. Daltroff, juifs. Vereinzelt finden sich in der Literatur aber auch Berichte von Bewohnern der betrachteten Dörfer, z. B. für Gemünden in Pies, Christof: Jüdisches Leben im Rhein-Hunsrück-Kreis (Schriftenreihe des Hunsrücker Geschichtsvereins e. V., Bd. 40), o. O. 2003, S. 69 – 73.

2. Ein umstrittener Weg: der Kampf um die Gleichberechtigung 2.1 Das Ancien Régime. Von Schutzherrschaft und Aufklärung Vor der Französischen Revolution war die rechtliche Stellung der Juden in den ab 1815 zur Rheinprovinz gehörenden Dörfern und den beiden lothringischen Orten insofern gleich, als die jüdischen Einwohner alle Sondergesetzgebungen unterlagen. Niederlassen durften sich Juden nur dann, wenn sie Schutz vonseiten der herrschenden Landes- oder Ortsherren erhielten. Der kollektiv oder individuell gewährte Schutz war befristet, jederzeit aufkündbar und definierte die Juden als Fremde, bloß Geduldete, die eine gesellschaftliche Sondergruppe darstellten. Da den Juden eine Tätigkeit in zünftigen Berufen, der Landwirtschaft und staatlichen Ämtern verwehrt war, fanden sie ihr Auskommen normalerweise im Bereich des Handels. Die jüdischen Gemeinden bildeten nicht nur religiöse Gemeinschaften, sondern sie verfügten auch über Autonomierechte, die ihnen eine umfassende Regelung des Lebens ihrer Mitglieder erlaubten: Es existierte eine Zivilgerichtsbarkeit, die dafür sorgte, dass Konflikte zwischen Juden nicht vor christlichen Instanzen geregelt werden mussten. Die Gemeinde organisierte darüber hinaus auch die Versorgung der Armen und bildete den sozialen und kulturellen Lebensmittelpunkt ihrer Angehörigen.1 Dass sich in den betrachteten Regionen – ähnlich wie in der Pfalz, Baden, Württemberg oder dem Elsass – auf dem Land zahlreiche jüdische Gemeinden etablieren konnten, war eine Folge der territorialen Zersplitterung in der Frühen Neuzeit: Vor allem der ländliche Kleinadel bot den Juden Niederlassungsmöglichkeiten an,



1 Vgl. Kasper-Holtkotte, Cilli: Juden im Aufbruch. Zur Sozialgeschichte einer Minderheit im Saar-Mosel-Raum um 1800 (Forschungen zur Geschichte der Juden: Abteilung A, Abhandlungen, Bd. 3), Hannover 1996, S. 5 – 94. Vgl. Zittartz-Weber, Susanne: Zwischen Religion und Staat. Die jüdischen Gemeinden in der preußischen Rheinprovinz 1815 – 1871 (Düsseldorfer Schriften zur Neueren Landesgeschichte und zur Geschichte Nordrhein-Westfalens, Bd. 64), Essen 2003, S. 24 – 40. Vgl. Posener, S.: The social life of the Jewish communities in France in the 18th century, in: Jewish social studies, Jg. 7, 1945, S. 196 – 204. Vgl. Meyer, présentation, S. 10 f. Vgl. Cahen, Gilbert (Hg.): Les Juifs lorrains. Du Ghetto à la nation 1721 – 1871, exposition présentée par la Cour d’or, Musées de Metz, du 30 juin au 24 septembre 1990, Metz 1990, S. 45.

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da er an ihnen als Steuerquelle interessiert war. Im Lothringer Fall traten zudem der französische König (für die Metzer Juden) und der Herzog von Lothringen als Schutzherren auf, und im später rheinpreußischen Gebiet ist der Trierer Kurfürst zu nennen. Es gab allerdings auch Herrschaften, in denen Juden die Niederlassung untersagt war. Zu diesen Territorien gehörte das unter habsburgischer Herrschaft stehende Luxemburg.2 Die jüdischen Einwohner von Gemünden unterstanden den Freiherren Schenk von Schmidtburg und die Illinger Juden den Freiherren von Kerpen. In beiden Herrschaftsgebieten mussten die Juden Schutzbriefe für sich und ihre Familien erwerben und Abgaben für den Schutz – das sogenannte Geleit – leisten. Erwachsene Kinder waren gehalten, vor ihrer Verheiratung eine Erlaubnis einzuholen und für den Fall, dass sie im Dorf bleiben wollten, einen eigenen Schutzbrief zu erwerben. Die Höhe der Abgaben für das Geleit variierte zwischen den verschiedenen Herrschaften, aber auch innerhalb der Orte, da sie abhängig vom Ein­kommen waren. Im Fall von Verarmung bestand für Juden stets die Gefahr, dass sie ihr Niederlassungsrecht verloren. Die Juden der beiden Dörfer waren gleich denen anderer Herrschaften auch zu kollektiv zu entrichtenden Abgaben verpflichtet, z. B. in Illingen zur Bezahlung des „Schulgelds“ für die Erlaubnis, Gottesdienste abzuhalten. Für die Einnahme solcher Gelder waren normalerweise die jüdischen Vorsteher – häufig „Barnes“ im deutschsprachigen Raum bzw. „syndic“ im Französischen genannt – verantwortlich, die von den christlichen Schutzherren ernannt wurden und zu den Wohlhabendsten der Minderheit gehörten.3 Die rechtliche Lage der Juden in den beiden betrachteten lothringischen Dörfern war vergleichbar. Sowohl Boulay als auch Grosbliederstroff gehörten bis 1766 dem selbstständigen und anschließend Frankreich zufallenden Herzogtum



2 Vgl. zur Ansiedlungspolitik Kapitel 3.1.1. Vgl. Kasper-Holtkotte, Juden, S. 5 – 55, 93. Vgl. Meyer, présentation, S. 10 f. Vgl. Ullmann, S. 15 f., 37. Im Elsass behielten die meisten kleinen Standesherren auch nach dem Anschluss an Frankreich das Privileg, über die Ansiedlung von Juden zu bestimmen. Vgl. Gerson, S. 33 – 35. Einen optischen Einblick in die zerklüftete Territoriallandschaft des Ancien Régime bietet die Karte bei Laux, Stephan: Zwischen Anonymität und amtlicher Erfassung. Herrschaftliche Rahmenbedingungen jüdischen Lebens in den rheinischen Territorialstaaten vom 16. Jahrhundert bis zum Beginn der Emanzipationszeit, in: Monika Grübel/Georg Mölich (Hg.): Jüdisches Leben im Rheinland, Köln 2005, S. 81. 3 Vgl. Schellack, Gustav: Die Chronik von Gemünden im Hunsrück, in: Hunsrücker Heimatblätter Nr. 1, Jg. 1, 1961, S. 28. Vgl. Kirsch, Robert: Die Juden in der Herrschaft Illingen. Die Kerpische Judengemeinde im 18. Jahrhundert, Illingen 1989, S. 16 – 35, 81 f. Vgl. Zwiebelberg, Werner: Das alte Gemünden (Veröffentlichungen der landeskundlichen Arbeitsgemeinschaft im Regierungsbezirk Koblenz e. V., Bd. 8), Boppard 1970, S. 81 – 83. Vgl. Kasper-Holtkotte, Juden, S. 58 – 65, 109 – 117.

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Lothringen an, allerdings wurde in beiden Fällen die Niederlassung von Juden nicht vom Herzog eingeleitet. In Boulay durften sich die ersten Juden wohl 1640 ansiedeln, zu einer Zeit als das Dorf und die nach ihm benannte Grafschaft im Besitz der Prinzessin Henriette von Lothringen war. Grosbliederstroff war im 18. Jahrhundert zeitweise von den Franzosen besetzt und die Ansiedlung der ersten jüdischen Familie erfolgte in dieser Zeit. Allgemein ist festzustellen, dass der Schutz oft nicht zuerst vom Herzog erteilt wurde, sondern – ähnlich wie auf dem flachen Land der „généralité de Metz“ – vom Kleinadel, der sich das Recht herausnahm, Juden eigenständig die Niederlassung zu erlauben. Erst nach dem Vertrag von Rykswick im Jahr 1697 trat der Herzog als Schutzherr aller jüdischen Einwohner seines Herrschaftsgebiets auf. Da die bisherigen Autoritäten, die den Juden Niederlassungsrechte eingeräumt hatten, zumeist an ihren finanziellen Forderungen festhielten, mussten die Juden nicht selten doppelt Abgaben entrichten. Boulay verlor zwar bereits durch den Tod von Henriette 1660 seinen Status als eigenständige Grafschaft und fiel an den Herzog zurück, der nun als Schutzherr fungierte, aber die Juden sahen sich gezwungen, für ihre Niederlassung auch an die Munizipalität selbst zu zahlen.4 1721 bestimmte eine Ordonnanz des Lothringer Herzogs Leopold, dass lediglich die Juden, die sich vor 1680 in seinem Territorium niedergelassen ­hatten, ihren Wohnsitz behalten dürften. 73 in einer Liste aufgeführte jüdische ­Familien konnten bleiben, während die übrigen gehalten waren, sich einen neuen Wohnsitz außerhalb des Herzogtums zu suchen. Dieses Vertreibungs­edikt, das der Begrenzung der Zahl der Juden diente, hatte die Konsequenz, dass zwölf jü­­dische ­Familien Boulay verlassen mussten, während dieselbe Anzahl zurück­bleiben konnte. In Grosbliederstroff durfte die einzige ansässige jüdische F ­ amilie bleiben, obwohl sie sich erst nach 1680 im Dorf niedergelassen hatte. 1733 erhöhte die Witwe des Herzogs Elisabeth Charlotte die Zahl der zugelassenen jüdischen Haushalte aus finanziellen Beweggründen auf 180. Eine 1753 verabschiedete Ordonnanz bestätigte dies und benannte die in 52 Orten lebenden Schutzjuden: In Boulay handelte es sich um 15 und in Grosbliederstroff um zwei jüdische Familien. Die Modifizierung der Ansiedlungspolitik erklärt sich aus der 1734 eingeführten „subvention“, welche im Kollektiv von den Juden an den herzog­ lichen Tresor abgeführt werden musste: Nur die Anwesenheit einer bestimmten Zahl von Schutzjuden konnte die gewünschten Einkünfte garantieren. Im Gegenzug für die „subvention“ wurden die Juden von den gewöhnlich an die



4 Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 51 – 54, 223, 250. Vgl. Statistisches Bureau für Elsaß-Lothringen (Hg.): Das Reichsland Elsass-Lothringen. Landes- und Ortsbeschreibung, 3 Bde., Straßburg 1898 – 1903, hier Bd. 3, S. 118 f.

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Gemeinden zu leistenden Steuern befreit, so auch in Boulay , wo das sogenannte „Bauhovergeld“ abgeschafft wurde.5 Spezielle Judenordnungen, welche das Leben der jüdischen Einwohner umfassend regulierten, galten weder in den Herrschaften von Gemünden und Illingen noch in den im Herzogtum Lothringen befindlichen Dörfern. In Illingen und Gemünden wurden je nach Bedarf Verordnungen von der Herrschaft verabschiedet, die konkrete Probleme regeln sollten, z. B. in Gemünden 1721 eine Bestimmung über die Beherbergung fremder Juden. Im Herzogtum Lothringen wurden Vorschriften ebenfalls zumeist situativ erlassen, z. B. 1720 ein Edikt, welches jü­­dischen Handelsleuten vorschrieb, dass Geschäftsabschlüsse stets durch einen christlichen Einwohner bezeugt werden müssten. Dass Regeln nicht immer umgesetzt wurden oder außer Gebrauch kommen konnten, zeigt der Umstand, dass die der ­Trierer Judenordnung unterworfenen Juden entgegen dem offiziellen Verbot eigene ­Häuser besaßen. In den betrachteten Dörfern war ansässigen Juden der Erwerb von ­Gebäuden zumindest für den Eigengebrauch erlaubt.6 Eine sowohl im französischen als auch im deutschen Kontext im Verlauf des 18. Jahrhunderts festzustellende Entwicklung war der zunehmende Wille der herrschaftlichen Bürokratien, die Untertanen direkt zu kontrollieren und den Einfluss von Korporationen, die dies verhinderten, zurückzudrängen. Auch die jüdische Bevölkerung war von dieser Entwicklung betroffen, denn die frühneuzeitlichen Staaten griffen immer häufiger in innerjüdische Angelegenheiten ein, beschnitten die juristischen Kompetenzen der korporativ verfassten jüdischen Gemeinden und schränkten deren Autonomie ein. Anders als in großen und mittleren Herrschaften war diese Tendenz in kleineren Herrschaften nicht immer vorhanden. So befürwortete in Illingen die herrschaftliche Verwaltung noch in den Sechzigerjahren die Anstellung eines Rabbiners, der innerjüdische Konflikte regeln sollte. Anders gestaltete sich die Lage im Metzer Umfeld, wo im 18. Jahrhundert ein deutliches





5 Die „subvention“ musste weiter entrichtet werden, nachdem das Großherzogtum 1766 an Frankreich gefallen war. Vgl. Pierson, S. 11 – 28, 58 – 65. Vgl. Meyer, présentation, S. 11 f. Vgl. Cahen, juifs dans la région lorraine, S. 67 – 70. Vgl. ders., juifs lorrains, S. 34 – 40. Vgl. Roos, relations entre le gouvernement royal et les juifs, S. 75 – 111, 192 f. Vgl zu den Auseinandersetzungen um die Zugehörigkeit Lothringens zu Frankreich auch Le Moigne, Yves: Auf dem Weg zur Eingliederung (1698 – 1789), in: Michel Parisse (Hg.): L ­ othringen – Geschichte eines Grenzlandes, Saarbrücken 1984, S. 331 – 379. 6 Vgl. Kirsch, Juden, S. 25 – 29. Vgl. Zwiebelberg, S. 82 f. Vgl. Pierson, S. 50 f. Vgl. Meyer, présentation, S. 12. Vgl. Ayoun, Richard: Les juifs de France. De l’émancipation à l’intégration (1787 – 1812). Documents, bibliographie et annotations, Paris 1997, S. 11. Vgl. Kaper-Holtkotte, Juden, S. 115 f. Lothar Franz von Kerpen, der von 1732 bis 1788 Illingen regierte, orientierte sich an der kurtrierischen Judenordnung.

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Zurückdrängen der rabbinischen Zivilgerichtsbarkeit festzustellen ist. Die Stellung der Juden als Sondergruppe mit eigener Autonomie wurde zunehmend untergraben und die Frage, welche Position sie im Staat bzw. in der Gesellschaft einnehmen sollten, begann sich zu stellen.7 Der philosophische Kontext, in dem sich Ideen von einer rechtlichen Besser­ stellung der Juden bzw. einer gesetzlichen Gleichstellung mit den Christen ent­ wickelten, war die europäische Aufklärung. Wenn auch die Einstellungen der Aufklärer gegenüber der jüdischen Minderheit voneinander abwichen, so war ihnen gemeinsam, dass sie, als sie die Lage der jüdischen Bevölkerung zu diskutieren begannen, eine „régénération“ bzw. „Verbesserung“ der Minderheit bzw. ihrer rechtlichen Lage als erstrebenswert ansahen. Die Juden sollten im Interesse des Staates und der christlichen Bevölkerung, aber auch um ihrer selbst willen ihre bisherige Existenz verlassen. Die gewünschte Veränderung sollte verschiedenen Zielen dienen: Die Juden sollten dem Staat nützliche Bürger sein und im Sinne der physiokratischen Wirtschaftslehre „produktive“ Berufe ausüben, um die christliche Bevölkerung vor dem als schädlich eingestuften ausgeübten jüdischen Handel zu bewahren. Weitere Motive bildeten die Eindämmung der sozialen Ungleichheit innerhalb der jüdischen Bevölkerung – d. h. der kleinen Oberschicht und der wachsenden Zahl von Betteljuden, die sich keinen Schutz leisten konnte – und das Verlangen nach einer Annäherung der als minderwertig betrachteten jüdischen Kultur an die der christlichen Mehrheit. Um derartige Veränderungen zu erreichen, sollten die gesetzlichen Rahmenbedingungen verändert werden.8 Im französischen Kontext äußerten zunächst lediglich Montesquieu und ­Rousseau einige Veränderungsvorschläge, während die Debatte auf deutscher Seite in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts intensiver geführt wurde. Ein Zentrum der Diskussion bildete Berlin, wo sich in intellektuellen Kreisen Kontakte zwischen einzelnen Juden und Christen etablierten. Diese Beziehungen trugen dazu bei, dass die Lage der Juden Diskussionsgegenstand wurde, und unterstützten die Ent­stehung der „Haskala“, der jüdischen Aufklärung, deren Leitfigur Moses Mendelssohn war.9 Während in den Territorien der späteren Rheinprovinz, wo die







7 Vgl. Zittartz-Weber, Religion, S. 31 – 51. Vgl. Kirsch, Juden, S. 81 – 87. Vgl. Posener, life, S. 229 f. Vgl. Berkovitz, Jay. R.: Rites et passages. The beginnings of modern Jewish culture in France, 1650 – 1860, Philadelphia 2004, S. 81 – 85. Vgl. Gerson, S. 54 f. 8 Vgl. Battenberg, S. 58 – 77. Vgl. Cahen, juifs lorrains, S. 55 – 58. Vgl. Erb, Rainer/­Bergmann, Werner: Die Nachtseite der Judenemanzipation. Der Widerstand gegen die Integration der Juden in Deutschland 1780 – 1860 (Antisemitismus und jüdische Geschichte, Bd. 1), Berlin 1989, S. 15 – 17. 9 Vgl. Cahen, juifs lorrains, S. 56 – 63. Vgl. Ayoun, juifs, S. 21 f. Vgl. Jersch-Wenzel, Stefi: Rechtslage und Emanzipation, in: Meyer/Brenner, Bd. 2, S. 15 – 23. Vgl. Graetz, Michael:

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jüdischen Einwohner größtenteils in Dörfern lebten, aufklärerisches Gedankengut, das sich mit einer Verbesserung der Lage der Juden befasste, keinen Rückhall fand, war dies in Lothringen anders. Im ländlichen Kontext war die Situation zwar ähnlich wie in den östlichen Nachbarterritorien, aber in Metz – dem damaligen Zentrum des französischen Judentums – und Nancy lebten einige jüdische Familien, deren Bedeutung derjenigen der Berliner Oberschicht glich. Als herausragende Persönlichkeit ist Berr Isaac Berr aus Nancy zu nennen, der Leser einer von den Berliner „Maskilim“ – den jüdischen Aufklärern – herausgegebenen Zeitschrift war, die in Metz und Nancy zahlreiche Subskribenten hatte, und der sich auch als Übersetzer ihrer Bücher betätigte.10 Eine besondere Rolle spielte der 1726 im nahe Lothringen gelegenen ­Medelsheim als Sohn eines Geldwechslers geborene Herz Cerfberr. Für seine Tätigkeit als Armeelieferant in Ostfrankreich gestand Louis XVI. ihm 1775 die gleichen Rechte wie nichtjüdischen Franzosen zu. Seine gesellschaftliche Ausnahmestellung nutzte der als Vertreter der elsässischen und zeitweise auch der lothringischen Juden agierende Cerfberr, um die Situation seiner Glaubensgenossen zu verbessern. Im Anschluss an die sogenannte „affaire de fausses quittances“11 wandte sich Cerfberr an Moses Mendelssohn mit der Bitte, eine Schrift zugunsten der Juden des Elsass Jüdische Aufklärung, in: Mordechai Breuer/Michael Graetz (Hg.): Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. 1: Tradition und Aufklärung 1600 – 1780, München 2000, S. 252 – 268. Feiner betrachtet die Haskala als Bestandteil der europäischen Aufklärungsbewegung, welche die Maskilim nicht nur rezipierten, sondern aktiv mitgestalteten. Vgl. Feiner, Shmuel: The Jewish Enlightenment, Philadelphia 2004. 10 Vgl. Marx, Albert: Die Geschichte der Juden im Saarland. Vom Ancien Régime bis zum Zweiten Weltkrieg, Saarbrücken 1992, S. 52. Vgl. Daltroff, histoire, S. 15 f. Vgl. Hoch, Philippe: L’abbé Grégoire (Vého, 1750 – Paris, 1831). Le regard d’un ecclésiastique lorrain sur la „régénération des Juifs“, in: Claire Decomps/Eric Moinet (Dir.): Les Juifs et la Lorraine. Un millenaire d’histoire partagée, catalogue publié à l’occasion de l’exposition au Musée lorrain du 9 juin au 21 septembre 2009, Nancy 2009, S. 57. Vgl. Malino, Frances: Jewish Enlightenment in Berlin and Paris, in: Brenner, emancipation, S. 28 f. Vgl. Meyer, Pierre-André: La famille Isaac Berr. Une grande lignée de notables nancéiens, in: Decomps/Eric Moinet, S. 63. Vgl. Cahen, juifs lorrains, S. 58. Vgl. Schwarzfuchs, Simon: La „­Haskala“ et le Cercle de Metz à la veille de la Révolution, in: Daniel Tollet (Hg.): Politique et religion dans le judaïsme moderne. Des communautés à l’émancipation, Paris 1987, S. 51 – 62. Vgl. Godechot, J.: Berr-Isaac Berr et sa famille, in: Revue juive de la Lorraine, Nr. 8 – 9, Jg. 1, 1925, S. 122 – 125, 141 – 144. 11 Der Landvogt Jean-François Hell brachte 1778 gefälschte Quittungen – angebliche Bestätigungen jüdischer Handelsleute über Rückzahlungen christlicher Kreditnehmer – in Umlauf. Er bezeichnete dies als Notwehr gegen die „wuchernden“ Juden, welche die christliche Landbevölkerung in den Ruin trieben, und schob ihnen somit die Verantwortung für die schwierige wirtschaftliche Situation zu. Vgl. Gerson, S. 37 – 46.

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zu verfassen. Dieser glaubte jedoch, dass eine von einem Christen übernommene Verteidigung größeren Eindruck machen würde, und wandte sich an Christian Willhelm Dohm, der daraufhin 1781 seine Schrift „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden“ veröffentlichte.12 Dohms Werk nahm die Juden des Elsass und ihre Glaubensbrüder in Schutz, indem es erklärte, dass ihr Zustand auf die erlittene Unterdrückung zurückzu­führen sei. Die rechtlichen Benachteiligungen müssten beseitigt werden, um die Lage der Juden zu ihrem eigenen und dem Wohl des Staates zu verändern. Die Juden sollten von Schutzgeldzahlungen und Sondersteuern befreit und den christlichen Bürgern gleichgestellt werden. Um die negativen Folgen der jahrhundertelangen Unterdrückung zu beseitigen, empfahl Dohm ein Programm, das u. a. vorsah, die Ausübung von Handwerken und Ackerbau attraktiver für Juden zu machen und ihre Kinder an christlichen Schulen zu erziehen. Er betonte die Verbesserungs­ fähigkeit der Menschen und, dass es möglich sei, über Gesetzgebung und Erziehung die Juden in „glücklichere, bessere Menschen, nützlichere Glieder der Gesellschaft“13 zu verwandeln.14 Die in den folgenden Jahren in Frankreich verbreiteten Ausgaben von Dohms Schrift waren umfangreicher als die deutsche Version, da sie ein umfangreiches „mémoire sur l’état des Juifs en Alsace“ enthielten. In ihm kritisierte Dohm die Behandlung der elsässischen Juden und verwies als Beleg für die Verbesserungsfähigkeit der Juden auf die in Bordeaux und Bayonne lebende jüdische Minderheit, deren Mitglieder dank größerer Rechte nützliche Mitglieder der Gesellschaft seien.15 Dohms Schrift fand in der jüdischen Oberschicht Lothringens, aber auch bei einer Reihe christlicher Denker Rückhall. Seine Lektüre trug dazu bei, dass der Metzer Anwalt Pierre-Louis Roederer, der Mitglied der königlichen Aka­demie von Metz war, 1785 vorschlug, die Lage der Juden Frankreichs zum Thema des 12 Vgl. Cahen, juifs lorrains, S. 58 – 61. Vgl. Neher-Bernheim, Renée: Cerfberr de M ­ edelsheim et sa famille, in: Saisons d’Alsace, Nr. 55/56, Jg. 20, 1975, S. 47 – 62. Vgl. Gerson, S. 46 f. 13 Dohm, Christian Wilhelm: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden, Teil I, Berlin 1781, S. 130. 14 Vgl. zu Dohm als aufgeklärtem Beamten Dambacher, Ilsegret: Christian Wilhelm von Dohm. Ein Beitrag zur Geschichte des preußischen aufgeklärten Beamtentums und seiner Reformbestrebungen am Ausgang des 18. Jahrhunderts (Europäische Hochschulschriften. Reihe 3, Geschichte und Hilfswissenschaften, Bd. 33), Bern 1974 und zu seiner Haltung gegenüber Juden Reuven, Michael: Die antijudaistische Tendenz in Christian Wilhelm von Dohms Buch über die bürgerliche Verbesserung der Juden, in: LBI Bulletin, Jg. 76, 1987, S.  11 – 48. 15 Vgl. Dohm, Christian Wilhelm: De la réforme politique des Juifs, réedition avec un préface et notes de Dominique Bourel, Paris 1984. Vgl. Gerson, S. 48 – 52. Die Ausgabe von 1782 wurde größtenteils durch die Zensur vernichtet.

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jährlichen Wettbewerbs dieser Institution zu machen. Die der Aufklärung verpflichtete Akademie beschloss 1787 die beste Abhandlung zum Thema „Est-il un moyen de rendre les Juifs plus utiles et plus heureux en France“ zu prämieren. Nachdem keiner der zunächst eingegangenen Texte die ungeteilte Zustimmung der Jury fand, wiederholte die Akademie den Wettbewerb 1788 und ehrte drei der in diesem Jahr eingereichten Schriften, nämlich die Essays des Abbé Grégoire, des Advokaten Thiérys und des aus Polen stammenden Juden Hourwitz, der zeitweise in Berlin gelebt hatte.16 Erwähnenswert ist, dass die beiden Ersteren – ähnlich wie Dohm – Kontakte zu Juden pflegten. Der Protestant Thiéry stand zeitweise im Dienst des bereits erwähnten Berr Isaac Berr, während der im ländlichen Lothringen geborene und dort als Pfarrer tätige Abbé Grégoire die Lebensbedingungen der dortigen Juden aus eigener Erfahrung kannte. Dass der aufgeklärte Grégoire es aufgrund seiner Beobachtungen als wünschenswert ansah, die bestehenden Verhältnisse zu ändern, zeigt sich daran, dass er bereits 1779 – also vor Dohm – eine (verloren gegangene) Denkschrift mit dem Titel „Sur les moyens de recréer le peuple juif et partout de l’amener au bonheur“ verfasste. Er setzte sich auch in der Praxis für ein friedliches Zusammenleben von Juden und Christen ein, indem er 1785, als in dem nahe seiner Pfarrei gelegenen Lunéville die Synagoge eingeweiht wurde, in der Kirche zur Brüderlichkeit mit den Angehörigen der Minderheit aufrief. Grégoire war mit Isaie Berr Bing, dem Vorsteher der Metzer Juden befreundet, und als er sein „Essay sur la Régénération physique, morale et politique des Juifs“ für die Metzer Akademie verfasste, unterstützte ihn dieser, der ein Anhänger Mendelssohns war und bereits dessen „Phaedon“ ins Französische übersetzt hatte.17 Dohm und Grégoire vertraten bezüglich der „Verbesserung der Juden“ dieselbe Grundidee, allerdings ist es schwierig zu sagen, inwieweit sie sich gegenseitig beeinflussten. Während die meisten Forscher überzeugt sind, dass Grégoire sich an Dohm anlehnte, geht Goldstein Sepinwall davon aus, dass dies allenfalls in geringem Maße der Fall war. Grégoire hatte sich bereits 1778 im Rahmen eines Wettbewerbs der „Société des philanthropes des Strasbourg“ über „die jüdische Frage“ – der anders als der Metzer Wettbewerb kaum ein öffentliches Echo fand – mit dem Thema der „Verbesserung“ beschäftigt. Dohm gehörte ebenfalls dieser 16 Vier der 1888 eingereichten Artikel wurden bereits 1787 eingereicht. Vgl. Cahen, juifs lorrains, S. 68 f. Vgl. Feuerwerker, David: L’émancipation des juifs en France. De l’Ancien Régime à la fin du second Empire, Paris 1976, S. 60 – 120. Vgl. Ayoun, juifs, S. 23 f., 45 – 48. Vgl. Gerson, S. 53. Vgl. Goldstein Sepinwall, Alyssa: The Abbé G ­ régoire and the French Revolution. The Making of Modern Universalism, Berkeley 2005, S. 59 – 65. 17 Vgl. Gerson, S. 58 – 66. Vgl. Malino, S. 28 – 32. Vgl. Cahen, juifs lorrains, S. 59 – 73. Vgl. Hoch, Abbé Grégoire, S. 62. Vgl. Goldstein Sepinwall, S. 26, 66 – 74, 251, 264.

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Der Kampf um die Gleichberechtigung

Vereinigung an, weswegen nicht ausgeschlossen werden kann, dass er bei der Abfassung seiner eigenen Schrift bereits Bezug auf Ideen von Grégoire nahm. Der Abbé selbst betonte 1787, dass er sich nicht einfach an Dohm orientiert, sondern sich schon früher mit der Thematik beschäftigt habe. In seinem von der Metzer Akademie veröffentlichten Essay beklagte Grégoire den Zustand, in welchem die Juden Ostfrankreichs lebten, und forderte deren Gleichstellung mit den Christen. Anders als Dohm glaubte der katholische Geistliche jedoch, dass die jüdische Religion die Verbesserung erschweren würde und dass Restrik­tionen im Bereich des Handels eingeführt werden müssten, bis der Anteil der dort tätigen jüdischen Bevölkerung dem der christlichen Bevölkerung ent­spräche. Grégoire verlangte zudem wie Mendelssohn die Aufgabe der Autonomie der jüdischen Gemeinschaften.18 Der Wettbewerb der Metzer Akademie stellte den Höhepunkt der vorrevolu­ tionären Debatten über die Lage der Juden in Lothringen und in Frankreich dar. Es ist allerdings erwähnenswert, dass teilweise auch außerhalb der städtischen Zentren diskutiert wurde, z. B. veröffentlichte 1786 ein Hauptmann aus Phalsbourg ein antijüdisches Heftchen mit dem Titel „Le cri du citoyen contre les Juifs de Metz“, auf das Isaie Berr Bing mit einer Gegenpolemik antwortete.19

18 Vgl. Grégoire, Abbé: Essai sur la régénération physique, morale et politique des Juifs, reédition avec un préface par Robert Badinter, Paris 1988. Vgl. Bourel, Dominique: Moses Mendelssohn et la révolution française, in: Mireille Hadas-Label/Evelyne O ­ liel-Grausz (Hg.): Les juifs et la Révolution française. Histoire et mentalités, (Collection de la Revue des études juives, Bd. 12), Louvain 1992, S. 17 – 19. Vgl. Goldstein Sepinwall, S. 25 – 35, 60 – 77, 263. Die Strasbourger Gesellschaft knüpfte trotz ihrer aufklärerischen Ideale an antijüdische Vorurteile an und sah es als das eigentliche Ziel des Wettbewerbs an, die Frage zu beantworten, wie die Bauern am besten vor den Juden geschützt werden ­könnten. 19 Zudem veröffentlichte der französische Politiker Mirabeau, der 1786 in Berlin gewesen war, jüdische Salons besucht und Mendelssohn getroffen hatte, 1787 eine kommentierte Zusammenfassung von Dohms Schrift und eine weitere Auflage des Werks in Französisch. Vgl. Meyer, présentation, S. 15. Vgl. Feuerwerker, émancipation, S. 61 – 65. Vgl. Cahen, juifs lorrains, S. 73. Vgl. Girard, Patrick: Les juifs de France de 1789 à 1860. De l’émancipation à l’égalité, Paris 1976, S. 31.

Von der Revolution zu Napoleon

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2.2 Gemeinsame Wege: von der Revolution zu Napoleon 2.2.1 Der Weg zur gesetzlichen Gleichstellung unter französischer Herrschaft

Die Emanzipation der Juden war ein in den europäischen Ländern verschieden ablaufender Prozess. Die öffentlichen Diskussionen über die „Verbesserung der Juden“20 überschnitten sich in mehreren Ländern mit Beratungen von Regierungskreisen über dieses Thema. Als Beginn der praktischen Reformpolitik gegenüber den jüdischen Einwohnern gelten die von Joseph II. in den Jahren 1781 und 1782 für Böhmen, Wien und Niederösterreich erlassenen Toleranzpatente. Für das unter habsburgischer Herrschaft stehende Luxemburg, wo zu dieser Zeit noch keine Juden lebten, da ihnen die Niederlassung versagt war, galt keines der Edikte.21 In den später zur Rheinprovinz gehörenden Herrschaften der Saar-Mosel-­Region kam es nicht zu gesetzlichen Veränderungen in emanzipatorischer Richtung, wohl auch, weil die Diskussion über die „Verbesserung der Juden“ von Lothringen nicht auf die Nachbarregion übergriff.22 Im französischen Kontext profitierten die Juden von einem 1767 verabschiedeten Gesetz, das es Fremden ermöglichte, „brevêts de maîtrises“ zu kaufen, die die Ausübung von Handwerken in Frankreich erlaubten. Als erster Schritt des Abbaus spezifisch antijüdischer Diskrimi­nierungen ist die Abschaffung des Leibzolls im Jahr 1784 zu nennen, die u. a. auf den Einfluss ­Cerfberrs zurückzuführen war.23 In den folgenden Jahren befasste sich die französische Regierung zwar mit der Stellung der religiösen Minderheiten, d. h. der Juden und der Protestanten, aber nur die Lage der Letzteren verbesserte sich durch ein 1787 verabschiedetes Toleranzedikt.24 Es ist allerdings zu erwähnen, dass lokale 20 Erst seit den Dreißigerjahren wurde der Begriff „Emanzipation“, der zunächst in Zusammenhang mit der Lage der Katholiken Irlands verwandt wurde, auf die Stellung der Juden bezogen. Vgl. Battenberg, S. 85 f. 21 Vgl. Jersch-Wenzel, Rechtslage, S. 23 – 26. Vgl. Marx, Geschichte, S. 52. 22 Allerdings ist für den rheinischen Raum zu erwähnen, dass der Mainzer Kurfürst ab 1783 einige Verordnungen in aufklärerischer Tradition erließ. Vgl. Kasper-Holtkotte, Juden, S. 19 f. Vgl. Battenberg, S. 64 f. Zum geringen kulturellen Austausch zwischen den S­ tädten des Grenzraums vgl. François, Etienne: Städte im deutsch-französischen Grenzraum am Ende des 18. Jahrhunderts. Stadtverfassung, Sozialstruktur, Mentalitäten, zwischen­städtische Beziehungen, in: Heit/Birtsch, S. 244 – 249. 23 In Lothringen nutzten u. a. einige in Dörfern lebende Juden die Bestimmung von 1767, um ein Handwerk zu ergreifen. Vgl. Cahen, juifs lorrains, S. 62 – 64. Vgl. Lang/­Rosenfeld, S. 80 f. 24 Dass eine Nivellierung der Stellung der Juden vor der Revolution angestrebt wurde, belegt die Einrichtung einer Regierungskommission zu dieser Frage im Jahr 1887. Vgl. Cahen,

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Behörden das Edikt teilweise auf die sephardischen Juden im Südwesten Frankreichs anwandten und jene 1789 auch an den Wahlen zu den Generalständen teilnehmen durften, da sie im Gegensatz zu ihren aschkenasischen Glaubensgenossen in den östlichen Provinzen als akkulturiert galten und ein besseres Ansehen in der christlichen Bevölkerung genossen.25 Im Folgenden werden Äußerungen über Juden betrachtet, die in den „cahiers des doléances“ im Raum Lothringen gemacht wurden. Trotz des Problems, dass nicht alle Beschwerdehefte erhalten sind, und trotz der Schwierigkeit, dass die Schriften nur bedingt Rückschlüsse auf die Haltung der Landbevölkerung gegenüber den Juden erlauben, lassen sich für Lothringen tendenziell regionale Unterschiede in der Einstellung gegenüber den Juden feststellen.26 Bemerkenswert ist, dass die Mehrzahl der lothringischen Orte, in denen Juden lebten, die Juden in den Beschwerde­heften überhaupt nicht erwähnten, ihre Anwesenheit also nicht die größte Sorge der Autoren darstellte. In den deutschsprachigen Regionen, den Gebieten von Thionville, um Boulay und Sarrebourg traten die meisten Klagen auf, wobei Beschwerden ökonomischer Art überwogen. In den Heften des ­Bailliage Boulay, die sich anscheinend an Vorbilder aus Nachbarregionen anlehnten, wurden Juden angeklagt, „d’ennemis du Christianisme qui sont inutiles à l’agriculture“27 zu sein. Die Kritik hing mit der schlechten Wirtschaftslage zusammen, die dafür sorgte, dass viele christliche Gläubiger Probleme hatten, ihre nicht nur bei Juden aufgenommenen Schulden zurückzuzahlen. Jüdische Kreditgeber stellten allerdings eine günstigere Zielscheibe als ihre christlichen Kollegen dar. Erwähnenswert ist, dass die Haltung der Landbewohner gegenüber den Juden nicht unbedingt radikaler als die der Stadtbewohner war: So forderten die christlichen Bürger Thionvilles, die ansässigen Judenfamilien zu vertreiben, während die Bewohner des Umlandes lediglich eine Regulierung des jüdischen Handels erreichen wollten. Allgemein ist festzuhalten, dass vor allem die als (zu) hoch empfundene Zahl der Juden, ihr

juifs lorrains, S. 64 f. Vgl. Ayoun, juifs, S. 24 f. Vgl. Szajkowski, Zosa: Protestants and Jews in fight for Emancipation, in: ders.: The Jews and the French Revolutions of 1789, 1830, 1848, New York 1970, S. 374 – 378. 25 Vgl. Girard, S. 42 – 45. Vgl. Feuerwerker, émancipation, S. 241 – 251. 26 Auf dem Land wurden die Hefte einzelner Dörfer in denen der „bailliages“ zusammen­ gefasst. Bei den Autoren handelte es sich häufig um Amtspersonen oder Pfarrer, sodass sie vor allem deren Haltung widerspiegeln. Es ist allerdings zu erwähnen, dass die Verfasser sich nicht selten an anderen „cahiers“ orientierten bzw. abschrieben. Vgl. Lang/ Rosenfeld, S. 85 – 87. Vgl. Hussong, Fr. W.: Cahiers de doléances des communautés en 1789. ­Bailliages de Boulay et de Bouzonville, Kritische Studie zur Vorgeschichte der französischen Revolution in Lothringen, Metz 1912, S. 7 – 9, 31 – 78. Vgl. Gerson, S. 71. 27 Lang/Rosenfeld, S. 87.

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„Wucher“ und ihre Religion den Gegenstand der Kritik darstellten. Häufig wurden gesetzliche Einschränkungen gewünscht, aber in immerhin 25 Heften fragten die Verfasser, wie sie die Juden glücklicher und nützlicher machen könnten, und forderten, ihnen Zugang zu mehr Berufen zu gewähren. Als Besonderheit kann das Beschwerdeheft von Courcelles-Chaussy gelten, denn die Autoren aus dem Ort, in dem eine jüdische und eine protestantische Minderheit lebten, sprachen sich für die Zugestehung bürgerlicher Rechte an alle aus, ohne Unterschied der Religion.28 Da die lothringischen Juden – mit Ausnahme der Dörfer Léoviller und Marsal – nicht an der Erstellung der Hefte teilnehmen durften, setzten sich ihre Gemeindevorsteher dafür ein, eigene „Cahiers“ formulieren zu dürfen. Zugestanden wurde ihnen die Erstellung eines „Mémoire“ gemeinsam mit den Elsässer Juden. Die wichtigsten in der Adresse an die „assemblé constituante“ genannten Ziele der Juden bestanden in der Erlangung des Bürgerrechts, der Aufhebung aller Sonder­ steuern, Niederlassungs- und Berufsbeschränkungen sowie der Beibehaltung der Gemeindeautonomie. Auf der Basis der Menschenrechte beanspruchten sie gleiche Rechte mit den anderen französischen Bürgern. Dass ein Teil der im klein­ städtischen Umfeld lebenden Juden Lothringens sich von der jüdischen Elite nicht angemessen vertreten sah, zeigt sich daran, dass diejenigen von Sarreguemines und Lunéville ein eigenes Mémoire veröffentlichten. Sie forderten nicht nur Gleichheit mit den anderen Bürgern, sondern auch die Auflösung der jüdischen Gemeinden als autonome Korporationen.29 1789 fanden in der Nationalversammlung einige Debatten über die Stellung der Juden statt und Berr Isaac Berr durfte als Vertreter der lothringischen und ­elsässischen Juden vor dem Gremium sprechen. Doch während die Versammlung den Protestanten die Gleichstellung mit den Katholiken einräumte, wurde die Entscheidung hinsichtlich der Juden immer wieder verschoben. Protestantische Deputierte setzten sich trotz der eigenen Minderheitenposition nicht besonders 28 Vgl. Lang, Jean Bernard: L’image des Juifs à travers les Cahiers de doléances, in: Les Cahiers lorrains, Nr. 2 – 4, 1989, S. 315 – 322. Vgl. Daltroff, histoire, S. 28 – 31. Vgl. Ulbrich, S. 283 – 285. Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 86 – 89, 232. Vgl: Feuerwerker, David: Les Juifs en France. Anatomie de 307 cahiers de doléances de 1789, in: Annales, Nr. 1, Jg. 20, 1965. Vgl. Blumenkranz, Bernhard: A propos des Juifs dans les cahiers de doléances, in: Annales historiques de la Révolution française, Jg. 39, 1967, S. 473 – 480. Dass im Elsass vehementer gegen den jüdischen „Wucher“ agitiert wurde als in Lothringen, führt Szajkowski auf die höhere Zahl christlicher Kreditgeber in letzterer Region zurück. Vgl. Szajkowski, Zosa: The Economic Status of Jews in Alsace, Metz and Lorraine (1648 – 1789), in: ders., Jews and the French Revolutions, S. 159 – 162. 29 Vgl. Cahen, juifs lorrains, S. 74 – 77. Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 89. Vgl. Hoch, Philippe: Du ghetto à la liberté. L’émancipation des Juifs, in: Decomps/Moinet, S. 60 f. Vgl. Decomps/ Moinet, S. 201. Vgl. Feuerwerker, émancipation, S. 252 – 261.

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stark für die Emanzipation der Juden ein. Die von der Entwicklung enttäuschten südwestfranzösischen Juden wiesen Ende 1789 darauf hin, dass ihnen die Bürgerrechte (durch das Wahlrecht zu den Generalständen) bereits erteilt worden seien und sie daher nicht mit ihren ostfranzösischen Glaubensgenossen auf eine Stufe gestellt werden könnten. Die Versammlung folgte dieser Argumentation und gestand am 28.1.1790 den Sefarden die aktiven Bürgerrechte zu.30 Fast über zwei Jahre, in denen Vertreter der lothringischen und elsässischen Juden wiederholt Gleichstellung forderten, verschob das Parlament die Entscheidung über den Status der ostfranzösischen Juden. Erwähnenswert ist eine Eingabe der Juden von Lunéville und Sarreguemines, die sich in ihrem Anliegen von ihren christlichen Mitbürgern unterstützt sahen: „les citoyens au milieu desquels nous vivons […] loin de s’éloigner de nous, nous attirent à eux … et réclament aussi [la citoyenneté pour nous].“31 Die Mehrheit der christlichen Bevölkerung Lothringens befürwortete 1790 die Emanzipation der Juden allerdings nicht. So äußerten kleinstädtische und ländliche Gemeinden in Petitionen an die Pariser National­ versammlung explizit ihre Abneigung gegen die jüdischen Einwohner, so z. B. Lixheim und Forbach. Hinzu kam die fortdauernde über Pamphlete geführte öffentliche Debatte, z. B. veröffentlichte der Kapitän der Nationalgarde von Phalsbourg die antijüdische Flugschrift „Plaidoyer pour plus d’un million de citoyens contre le fléau désastreux de l’usure des Juifs“. Die einzige rechtliche Verbesserung, von der die Lothringer Juden 1790 profitierten, war die Abschaffung der Sondersteuern.32 Zur Entscheidung über die Emanzipation der Juden kam es erst nach Verabschiedung der neuen Verfassung im Jahr 1791. Der Pariser Abgeordnete Duport forderte, die gegenüber den Juden bestehenden Sondergesetze aufzuheben: Wenn die Juden – gleich den Christen – die von der Verfassung festgelegten Bedingungen 30 Gegner und Befürworter der Emanzipation der Juden verteilten sich auf verschiedene politische Lager, aber tendenziell waren die Ersteren unter den Anhängern des Ancien Régime, dem Adel und der Geistlichkeit am stärksten vertreten. Zahlreiche Gegner der Gleichstellung kamen aus dem Elsass und Lothringen. Vgl. Girard, S. 48 – 53. Vgl. Cahen, juifs lorrains, S. 78 – 84. Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 95 – 97. Vgl. Badinter, Robert: Libres et égaux. L’émancipation des Juifs sous la Révolution française (1789 – 1791), Paris 1989, S. 120 – 179. Vgl. Gerson, S. 87 – 114. Vgl. Szajkowski, Protestants, S. 379 – 382. Es ist umstritten, ob die Initiative der sefardischen Juden ihren ostfranzösischen Glaubensgenossen schadete, indem sie deren Emanzipation verzögerte, oder ob sie diesen eher half, da die jüdische Religion nun nur noch schwerlich als Hinderungsgrund für die Gleichstellung angeführt werden konnte. Vgl. Nahon, Gérard: Sefardes et Ashkenazes en France. La conquête de l’Emancipation (1789 – 1791), in: Myriam Yardenie (Hg.): Les Juifs dans l’histoire de France, Leiden 1980, S. 121 – 145. Vgl. Gerson, S. 101 – 103. 31 Cahen, juifs lorrains S. 82. 32 Vgl. ebd., S. 82 f. Vgl. Decomps/Moinet, S. 202.

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erfüllten, müssten sie das volle Bürgerrecht erhalten. Der Hinweis eines weiteren Befürworters der Emanzipation, dass diejenigen, die dies ablehnten, der Verfassung widersprächen, führte zur Annahme des Vorschlages. Mit dieser Entscheidung, die am 13.11.1791 Gesetzeskraft erlangte, wurden die Juden als Individuen ihren christlichen Mitbürgern gleichgestellt. Zugleich verloren die jüdischen Gemeinden die Rechtsgrundlage, auf der sie sich bisher als autonome Korporationen organisiert hatten.33 Es mutet paradox an, dass nach der Aufhebung jeglicher Sondergesetzgebung gegenüber den Juden die Nationalversammlung jene Vorschrift selbst nicht konsequent befolgte, nämlich insofern es die Schulden der früheren jüdischen Gemeinschaften betraf. Die Letzteren (u. a. die von Metz und die des Erzstifts Trier) hatten während des Ancien Régimes Kredite aufgenommen, um die von den Schutzherren geforderten Abgaben leisten zu können. Die jüdischen Gemeinden verloren wie die anderen religiösen Korporationen ihr Existenzrecht durch die revolutionäre Gesetzgebung, aber anders als bei diesen entschloss sich das Parlament nicht dazu, das Gut und die Schulden der jüdischen Gemeinden zu nationalisieren. Die Juden, welche vor der Revolution verschuldeten jüdischen Gemeinden angehört hatten, wurden genauso wie ihre Nachkommen dazu verpflichtet, die Verbindlichkeiten zu begleichen.34 Die auf dem Land lebenden Juden Lothringens protestierten nicht gegen diese Entscheidung, aber dagegen, selbst Beiträge leisten zu müssen. Gegen die Hinzuziehung der in Dörfern des „pays messin“ lebenden Juden zur Schuldentilgung der Metzer Gemeinde protestierte z. B. Nathan Cahen aus Louvigny gemeinsam mit jüdischen Einwohnern anderer Orte (u. a. aus dem nahe Boulay gelegenen Niedervisse) in einer 1792 gestellten Petition. Er verwies darauf, dass sie nie vollwertige Mitglieder der Metzer Gemeinde gewesen seien, und führte damit ein Argument an, mit dem sich Landjuden bereits während des Ancien Régime gegen Beitragsforderungen zu wehren gesucht hatten. Derartige Petitionen fanden keine Zustimmung, wohl auch, weil der Präfekt des Départements Moselle sich für die Interessen der Metzer Juden einsetzte. Dass Juden aus dem ehemaligen

33 Vgl. Cahen, juifs lorrains, S. 83 – 87. Vgl. Feuerwerker, émancipation, S. 389 – 436. Um aktive Bürger sein zu können, mussten Juden – gleich den Christen – ein gewisses Vermögen besitzen und den Bürgereid ablegen. Über entsprechenden Wohlstand verfügten allerdings nur wenige, insbesondere in Lothringen. Die kleinsten Orte, in denen Juden den Eid ablegten, waren Pont-à-Mousson und Sarreguemines. 34 Vgl. Netter, Nathan: Die Schuldennot der Metzer Gemeinde 1789 – 1851. Beitrag zur Geschichte der jüdischen Gemeinde Metz, Berlin 1917, S. 52 – 57. Vgl. Kasper-Holtkotte, Juden, S. 238 – 257. Vgl. Griard, S. 62 – 70. Vgl. Szajkowski, Zosa: Autonomy and Communal Jewish Debts during the French Revolution of 1789, in: ders., Jews and the French Revolutions, S.  592 – 763.

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Herzogtum Lothringen zur Tilgung der Schulden beitragen mussten, hing damit zusammen, dass sie teilweise in Ermangelung eigener Friedhöfe diejenigen der Metzer Gemeinde benutzt hatten bzw. in Metzer Familien eingeheiratet hatten. Denjenigen Juden, deren Vorfahren oder diejenigen ihrer Partner aus dem ehemaligen Erzstift Trier stammten, erging es ähnlich. Beispielsweise musste sich der in Boulay lebende Garçon Israel an der Abtragung der Schulden der Trierer Juden beteiligen, weil sein verstorbener Schwiegervater dort gewohnt hatte.35 Die Zivilgemeinden taten sich zunächst schwer, keine Sondergesetze gegenüber den jüdischen Bürgern mehr zu erlassen. Lokale Vorschriften entstanden teilweise im Rahmen der antireligiösen Kampagne während des „terreur“, allerdings können diese Bestimmungen nur in eingeschränktem Maß als spezifisch antijüdisch eingestuft werden. In Boulay erließ die „Société populaire“ gleich denen von ­Château-Salins und Sarreguemines eine Anordnung, nach der es jüdischen Frauen untersagt war, ein Kopftuch zu tragen, bzw. den jüdischen Männern einen Bart zu tragen. Offiziell richtete erst das Gesetz vom 21.2.1795 wieder die Religionsfreiheit ein und setzte derartigen Diskriminierungen ein Ende.36 Die Ereignisse der Französischen Revolution sorgten in den Frankreich benachbarten Teilen des Alten Reichs für Unruhe, und 1794 waren die Territorien des linken Rheinufers weitgehend von den Revolutionstruppen besetzt. Im Jahr 1797 wurden allen Religionsgruppen freie Religionsausübung gewährt und der Leibzoll abgeschafft. Mit der administrativen Neugliederung wurden 1798 wesentliche Elemente der bis dahin geltenden Gesetzes- und Gesellschaftsordnung abgeschafft. Mit dem Frieden von Lunéville trat im Jahr 1801 in den linksrheinischen Gebieten, die nun zum französischen Staatsgebiet gehörten, die französische Verfassung in Kraft, mit der Folge, dass die Juden den übrigen Einwohnern nun gleichgestellt waren.37 Im Allgemeinen zahlten Juden spätestens ab 1798 kein Schutzgeld mehr, aber im grenznahen Illingen entrichteten die

35 Vgl. Szajkowski, Autonomy, S. 673 – 683, 762. Vgl. Netter, Schuldennot, S. 41 – 88, 127 f. Vgl. Kasper-Holtkotte, Juden, S. 255. 36 Vgl. Girard, S. 62- 71. Vgl. Cahen, juifs lorrains, S. 96 – 99. Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 99 – 102. 37 Die Zeit zwischen der Besetzung 1794 und dem Beginn der französischen Herrschaft 1798 bzw. 1801 kann als rechtliches Vakuum bezeichnet werden, da die neuen Gesetze erst allmählich umgesetzt wurden. Vgl. Kasper-Holtkotte, Juden, S. 190 – 225. Vgl. Mathy, Helmut: Die Juden in der französischen Zeit, in: Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz, Bd. 1, S. 92 f. Vgl. für Illingen Kirsch, Robert: Die Reichsherrschaft Illingen in der Zeit der französischen Revolution. Die letzten Jahre der kerpischen Regentschaft, Illingen 2000, S. 62 – 119. Vgl. Für den Hunsrück Regge, Carla: Chronik der Verbandsgemeinde Kirchberg im Hunsrück 1789 – 1983, Idar-Oberstein 1983, S. 27.

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Juden – und auch die christlichen Einwohner – schon seit dem Ausbruch des Krieges im Jahr 1792 keine Abgaben mehr an die Herrschaft. Viele Gemeinden wehrten sich gegen eine vollkommene Gleichberechtigung der Juden, z. B. wollten sie, dass die Juden weiterhin extra für die Inanspruchnahme der Gemeindenutzungen zahlten, so auch im Kreis Simmern. Dies war der Fall, weil es die Gemeinden finanziell entlastete, aber auch ein Ausdruck des Wunsches nach der „alten Ordnung“.38 Genauso wie im Gebiet der späteren preußischen Rheinprovinz brachte auch in Luxemburg erst die französische Herrschaft die Gleichberechtigung der Juden mit den Christen. Dies geschah, nachdem die Österreicher von den französischen Truppen geschlagen worden waren und infolgedessen die süd­ lichen Niederlande (u. a. Luxemburg) verloren hatten, in denen 1796 die französische Verfassung eingeführt wurde. Im Gegensatz zu den links­rheinischen Territorien konnten sich erst nach der Einführung der Emanzipation Juden fest ansiedeln.39 2.2.2 Die Rücknahme der individuellen Gleichstellung: Napoleons Dekrete

Die Zeit der rechtlichen Gleichstellung fand für die Juden aller betrachteten Re­ gionen ein vorläufiges Ende unter der Herrschaft Napoleons. Nachdem diesem 1806 Klagen über elsässische Juden vorgetragen worden waren, entschied er, eine Sonder­gesetzgebung  40 einzuführen, durch welche die Juden in die französische Gesellschaft integriert werden sollten. Obwohl manche Beamte, z. B. der Unter­ präfekt von Simmern und der Metzer Präfekt betonten, dass auch zahlreiche Christen „Wucher“ trieben, erließ Napoleon am 30. Mai 1806 ein Dekret, welches nicht nur im Elsass, sondern auch in den lothringischen und linksrheinischen Départements Moselle, Meurthe, Vosges, Sarre und Rhin-et-Moselle sämtliche Schuldforderungen jüdischer Kreditoren gegen Ackersleute für ein Jahr außer Kraft setzte. Den

38 Vgl. Kasper-Holtkotte, Juden, S. 205 – 221. Vgl. Kirsch, Juden, S. 130 – 133. 39 Vgl. Kasper-Holtkotte, Cilli: Im Westen Neues. Migration und ihre Folgen: deutsche Juden als Pioniere jüdischen Lebens in Belgien, 18./19. Jahrhundert (Studies in European Judaism, Bd. 8), Brill 2003, S. 34 – 36. Vgl. Krier, S. 119. Vgl. Goedert, S. 346. In den nördlichen Niederlanden wurde den Juden von der dortigen Nationalversammlung im September 1796 die Gleichberechtigung zugestanden. Vgl. Daalder, Hans: Dutch Jews in a segmented society, in: Birnbaum/Katznelson, S. 42 f. 40 Napoleon wusste, dass die Einführung einer Sondergesetzgebung gegenüber den Juden verfassungswidrig war, und suchte daher, die Regelungen als Wunsch der jüdischen Elite erscheinen zu lassen. Vgl. Gerson, S. 142 – 144.

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jüdischen Handelsleuten, die beim Verkauf von Vieh und Waren oft Ratenzahlungen gewährten, wurde es somit zeitweise unmöglich gemacht, Schulden einzufordern.41 Eine zweite Bestimmung des Dekrets rief die „aufgeklärtesten“ Juden Frankreichs zu einer Versammlung nach Paris, die das Verhältnis der jüdischen Religion und ihrer Angehörigen zum Staat klären sollte, vor allem die Vereinbarkeit der religiösen Vorschriften mit dem allgemeinen Recht.42 Zu diesem Zweck sollte die Versammlung, die sich ausschließlich aus wohlhabenden, von den Präfekten ausgewählten Angehörigen der jüdischen (urbanen) Oberschicht zusammensetzte, einen Fragenkatalog beantworten, der u. a. die Einstellung zu Andersgläubigen, die Rechtmäßigkeit von „Wucher“ und die Möglichkeit von jüdisch-christlichen Mischehen zum Thema hatte. Über die Antworten sollte festgestellt werden, ob die Juden würdig seien, französische Staatsbürger zu sein. Im Bewusstsein der Gefährdung der Emanzipation ließ die Notabelnversammlung verlautbaren, dass die jü­ dische Religion kompatibel mit den bürgerlichen Pflichten sei, Juden Christen als Brüder ansähen, Wucher ihnen gegenüber verboten sei und Mischehen prinzipiell erlaubt seien.43 Daraufhin ließ Napoleon einen „Grand Sanhedrin“ nach antikem Vorbild einberufen, der mehrheitlich aus Rabbinern bestand – unter ihnen sieben aus der späteren Rheinprovinz und vier aus Lothringen – und dessen Zweck es war, die Antworten der Notabelnversammlung zu bindenden religiösen Vorschriften zu erklären, was im Frühjahr 1807 geschah.44 Zur Vorbereitung von gesetzlichen Maßnahmen holte die Regierung in den Jahren von 1806 bis 1808 Informationen über die jüdischen Einwohner der verschiedenen Départements ein. Die Berichte der Beamten fußten zwar auf Tatsachen, aber die Interpretationen der Zustände hingen stark von deren Einstellungen ab. Während sie im Elsass sehr negativ waren, zeichnete sich im Fall von 41 Vgl. Cahen, juifs lorrains, S. 100. Vgl. Gerson, S. 125 – 135. Vgl. Kaper-Holtkotte, Juden, S. 258 – 267. Vgl. zur jüdischen Berufstätigkeit Kapitel 3.3. 42 Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 107 f. Vgl. Neher-Bernheim, Rina: Documents inédits sur l’entrée des juifs dans la société française (1750 – 1850) (Publications of the diaspora research institute, Bd. 5), 2 Bde., Tel Aviv 1977, hier Bd. 1, S. 430 f. Vgl. Halphen, Achille-Edmond: Recueil des lois, décrets, ordonnances, avis du conseil d’Etat, arrêtés et Règlements concernant les Israélites depuis la Révolution de 1789, Paris 1851, S. 20. 43 Vgl. Becker, Jean-Jacques: De la Révolution aux années 1880, in: ders./Annette ­Wieviorka (Hg.): Les Juifs de France. De la Révolution française à nos jours, Paris 1998, S. 34 f. Vgl. Schwarzfuchs, Simon: Du Juif à l’israélite. Histoire d’une mutation 1770 – 1870, Paris 1989, S. 169 – 185. Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 106 – 108. Vgl. Kasper-Holtkotte, Juden, S. 289 f. Napoleon betrachtete Mischehen als Möglichkeit, ein Aufgehen der jüdischen in der christlichen Bevölkerung herbeizuführen. Vgl. Girard, S. 135 f. 44 Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 108. Vgl. Kasper-Holtkotte, Juden, S. 265 – 270. Vgl. Halphen, S.  20 – 34, 288 – 291.

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Lothringen ein gemischtes Bild ab. Der Metzer Präfekt und sein Nachfolger hoben die positiven Veränderungen – u. a. die Ergreifung neuer Berufe und die Annahme französischer Sitten – einer kleinen Gruppe von Juden hervor und sahen die schlechte ökonomische Lage der jüdischen Mehrheit als Ursache für das Ausbleiben vergleichbarer Entwicklungen an. Der Unterpräfekt von ­Lunéville warf den Juden vor, durch hohe Zinsen die Landbevölkerung zu ruinieren. Sein Kollege aus Château-Salins stellte zwar ebenfalls fest, dass Juden hohe Zinsen nähmen, betonte aber, dass die „christlichen Wucherer“ zumeist noch mehr verlangten. Zudem sah er die Verantwortung dafür, dass die Juden keine „nützlichen“ Berufe ausübten, bei den christlichen Mitbürgern, welche die Juden aufgrund religiöser Vorurteile zurückwiesen. Insgesamt lässt sich eine ambivalente Wahrnehmung der Staatsbeamten ausmachen: Das Betragen der jüdischen Elite, die zumeist in den wenigen größeren Städten lebte, wurde gelobt – insbesondere deren Bemühen, ihre Glaubensgenossen zu verbessern –, während gegenüber den übrigen Juden eher Misstrauen herrschte.45 Interessanterweise bezog der Präfekt von Nancy die elsässischen Klagen über die Juden in seine Überlegungen ein und zog eine Scheidelinie zwischen den elsässischen und den lothringischen Juden, wobei er allerdings die im stark ländlich geprägten Arrondissement Sarrebourg Lebenden zu den Ersteren zählte: Dort seien sie „véritablement un fléau public: voisins de la cidevant Alsace, et liés d’Affaires et d’intérêts avec les Juifs de cette contrée, il en suivent complètement les traces“.46 In den linksrheinischen Gebieten war das von den Behörden gezeichnete Bild der jüdischen Einwohner ebenfalls gemischt, allerdings überwogen hier die negativen Äußerungen. Während der Unterpräfekt des Kreises Simmern im Jahr 1806 den „Wucher“ als ein allgemeines Problem ansah, da er von Christen nicht weniger als von Juden ausgeübt wurde, glaubte der Trierer Präfekt Keppler feststellen zu können, dass eines der heraus­ragendsten Merkmale der jüdischen Bevölkerung der Hang zur Übertretung von Gesetzen sei. Im Jahr 1807 wurde das Dekret von 1806 bis auf Weiteres verlängert.47 Am 17. März 1808 erließ Napoleon drei Dekrete, die eine neue jüdische Kultus­ organisation einführten und dem Staat die Kontrolle über die Niederlassungs­ möglichkeiten und den Handel der Juden ermöglichen sollten. Die neuen Regelungen zielten darauf ab, über Beschränkungen und erzieherische Maßnahmen 45 Vgl. Sous-préfet de Lunéville au préfet de Nancy, 22.5.1806, sous-préfet de Château-Salins au Préfet de Nancy, mai 1806, in: ADMM 298. Vgl. Préfet de Nancy, 14.6.1806, in: ANF F19 Nr. 11011. Vgl. Neher-Bernheim, documents, Bd. 1, S. 279 – 301, 315 – 323. Vgl. Posener, S.: The immediate economic and social effects of the emancipation of the jews in France, in: Jewish Social Studies, Jg. 1, 1939, S. 299 – 301, 321. Vgl. Meyer, présentation, S. 17. 46 Vgl. Préfet de Nancy, 14.6.1806, in: ANF F19 Nr. 11011. 47 Vgl. Kasper-Holtkotte, Juden, S. 259 – 267, 339 f.

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eine Verbesserung der jüdischen Einwohner herbeizuführen. Insofern lässt sich behaupten, dass mit Napoleon das an Dohm anknüpfende und von Rürup für den deutschen Fall als typisch angesehene aufgeklärt-etatistische Konzept der Emanzipation auch in Frankreich Fuß fassen konnte. Vollständige Gleichberechtigung sollten die Juden erst wieder erhalten, wenn sie ihre Würdigkeit bewiesen, d. h., wenn keine Unterschiede zwischen ihnen und den christlichen Bürgern, insbesondere hinsichtlich der Berufstätigkeit, mehr bestünden.48 Ein 1806 unter Beteiligung jüdischer Notabeln von der Regierung entworfenes „Règlement organique du culte mosaique“ erhielt durch die beiden ersten Dekrete vom 17.3.1808 Gesetzeskraft. Es etablierte ein zentralistisches, hierarchisch strukturiertes Gemeindesystem, das sich an das Vorbild der (unter Napoleon neu orga­ nisierten) protestantischen Kirche Frankreichs anlehnte. In jedem Département mit mindestens 2000 jüdischen Einwohnern sollte ein sich aus einem Großrabbiner (und evtl. einem weiteren Rabbiner) sowie drei Laien zusammensetzendes Konsistorium eingerichtet werden, dessen Mitglieder von einer 25-köpfigen Notabeln­ versammlung zu wählen waren, deren Mitglieder zunächst vom Präfekten aufgrund ihres Einkommens und ihres hohen Ansehens zu ernennen waren. Die Aufgaben der Départementskonsistorien bestanden darin, die ihnen unterstellten Juden zu verwalten, auf deren „Verbesserung“ (durch Bildung und die Annahme „nütz­licher“ Berufe) hinzuarbeiten, auf die Ordnung in den Gemeinden ihres Bezirks zu achten, die Einnahmen und die Ausgaben der für den Kultus notwendigen Gelder zu regeln und darüber zu wachen, dass kein Rabbiner bzw. kein jüdischer Kultus­ beamter Aussagen machte, welche den vom Sanhedrin verabschiedeten Doktrinen widersprachen. Den Départementskonsistorien war das Pariser Zentralkonsistorium übergeordnet, welches die Tätigkeit der Ersteren überwachte.49 In Lothringen und den betrachteten linksrheinischen Gebieten wurden fünf Konsistorien eingerichtet: Metz, Nancy, Trier, Koblenz (welches 1811 nach Bonn verlegt wurde) und Krefeld. Die Verwaltungsbezirke erstreckten sich mit Ausnahme

48 Vgl. ebd., S. 277 f. Vgl. Albert, Phyllis Cohen: The modernization of French Jewry. Consistory and community in the nineteenth century, Brandeis 1977, S. 122 – 150. Vgl. Ayoun, juifs, S. 203 – 209. Vgl. Rürup, Reinhard: Emanzipation und Antisemitismus. Studien zur Judenfrage in der bürgerlichen Gesellschaft (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 15), Göttingen 1975, S. 17 f. 49 Vgl. Albert, modernization, S. 58 – 60. Vgl. Halphen, S. 38 – 40. Vgl. Roos, Gilbert: Les juifs de France sous la monarchie de juillet (Bibliothèque d’études juives, Bd. 30), Paris 2007, S. 16 f. Vgl. Girard, S. 176. Nach der Gründung der Départementskonsistorien fertigten diese selbst die Liste der Notabeln an. Vgl. Neher-Bernheim, documents, Bd. 2, 39 f., 226. Vgl. Benbassa, histoire, S. 143 – 145. Vgl. Werner, Kristine: Organisation und Rechtsstellung der jüdischen Gemeinden, in: Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz, Bd. 3, S. 4.

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des Konsistoriums von Koblenz über das eigene Département hinaus, beispielsweise war das von Nancy für die jüdische Bevölkerung der Départements Meurthe, Meuse, Vosges, Doubs und Haute-Marne zuständig, da in Letzteren nicht genug Juden siedelten, um einen eigenen Verwaltungsbezirk zu bilden. Letzteres galt auch für die kleine Zahl der in Luxemburg (Département Forêts) lebenden Juden, die dem Konsistorium von Trier angehörten.50 Ein grundsätzliches Problem, das sich den Konsistorien der betrachteten Gebiete stellte, war der Umstand, dass das Konsistorialsystem für große, im städtischen Kontext beheimatete jüdische Gemeinschaften entworfen worden war, aber die von ihnen verwaltete jüdische Bevölkerung verstreut in zahlreichen Dörfern und Kleinstädten lebte.51 Das dritte, am 17.3.1808 verabschiedete und von jüdischer Seite bald als „décret infâme“ bezeichnete Dekret schränkte die Gewerbe- und Handelstätigkeit sowie die Freizügigkeit der Juden ein. Von den Vorschriften, die den Handel betrafen, war die Mehrheit der Juden in Ostfrankreich und den linksrheinischen Départements betroffen, da die meisten der dort ansässigen Juden in diesem Erwerbszweig tätig waren. Von jüdischen Gläubigern verlangte die neue Bestimmung, schriftliche Belege über ihre Kreditgeschäfte zu führen und die Gültigkeit von Schuldscheinen bezeugen zu lassen. Geldanleihen an Kinder, Ehefrauen und Soldaten sollten ohne eine Genehmigung des Vormunds, Ehemanns bzw. Vorgesetzen als ungültig gelten. Zinssätze über zehn Prozent wurden automatisch als Wucher eingestuft und führten zur Streichung der Forderungen jüdischer Gläubiger. Jeder jüdische ­Handel- oder Gewerbetreibende wurde verpflichtet, alljährlich ein spezielles Handelspatent einzuholen. Dieses wurde vom Präfekten ausgestellt, wenn der zuständige Gemeinderat bezeugte, dass der jüdische Antragsteller keinen Wucher oder un­erlaubten Handel trieb, und ein Zeugnis des zuständigen Konsistoriums die Moral des Antragstellers bestätigte. Das Dekret untersagte es Juden darüber hinaus, in ein anderes Département zu ziehen, sofern sie sich dort nicht niederließen, um Ackerbau zu betreiben, und verbot jüdischen Zuzug ins Elsass gänzlich. Die Geltungsdauer dieser Bestimmungen betrug zehn Jahre und nach Ablauf dieser Zeit sollte über ihre Abschaffung entschieden werden. In dem Dekret kam das grundsätzliche Misstrauen der Regierung gegenüber den jüdischen Einwohnern zum Ausdruck, denn es stellte sie unter den Generalverdacht, Betrüger und Wucherer zu sein.52

50 Vgl. Halphen, S. 55 – 57. Vgl. Kastner, Dieter: Einführung, in: ders. (Hg. u. Bearb.): Der Rheinische Provinziallandtag und die Emanzipation der Juden 1825 – 1845. Eine Dokumentation, 2 Bde., hier Bd. 1, Köln 1989, S. 15. Vgl. Goedert, S. 347 f. 51 Vgl. dazu Kapitel 4.3. 52 Vgl. Halphen, S. 44 – 47. Vgl. Kasper-Holtkotte, Juden, S. 272 – 278, S. 336 f. Vgl. ­Kastner, Einführung, S. 1.

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Für die Juden in Bordeaux und den Départements Gironde und Landes galten die Bestimmungen nicht, da ihr Verhalten nach Regierungsangaben keinen Grund zu Klagen gegeben habe. Diese Ausnahmeregelungen nährten die Hoffnung bei ihren Glaubensgenossen, ebenfalls von dem Edikt befreit werden zu können.53 Bereits im September 1808 wandten sich die jüdischen Einwohner des Arrondisse­ ments Simmern an den französischen Innenminister und verwahrten sich mit einem Verweis auf Gerichtsurteile gegen Wuchervorwürfe: Die „juifs de l‘arrondissements de Simmern ne sauraient pas être compris dans la classe des présumés usuraires en général“.54 Darüber hinaus betonten sie, dass es nicht ihre Schuld sei, dass es so wenige jüdische Handwerker gebe: „c‘est la faute des maîtres qui refusent à enseigner des juifs. C‘est la faute des chrétiens qui ne prendront jamais d‘un tailleur ou cordonnier juif.“55 Der zuständige Unterpräfekt teilte der Regierung zwar mit, dass das Dekret einzig den Effekt habe, dass nun Christen uneingeschränkt Wucher treiben könnten, aber er bestritt nicht, dass auch einzelne Juden dies täten.56 Im benachbarten Département Sarre zeichneten die über das Betragen der Juden befragten Beamten ein gemischtes Bild, wobei im ländlichen Umfeld die antijü­dischen Vorurteile stärker ausgeprägt waren als im städtischen Bereich. Die Meinung über die auf dem Land lebenden Juden war allerdings auch bei den Stadtbewohnern zumeist negativ, z. B. betonte der Trierer Friedensrichter, dass diese in der Mehrzahl Wucherer seien, während es sich in der Stadt nur um Ausnahmefälle handele. Konkrete Belege konnte er für diese Einschätzung allerdings genauso wenig wie die meisten anderen Beamten liefern. Der aus Illingen stammende, aber mittlerweile in Ottweiler lebende Aaron Albert galt dem Trierer Präfekten aufgrund der ihm gelieferten lokalen Berichte als „le principal de mauvais juifs“.57 Er gehörte nach Meinung des Beamten zu den schlechten Juden, auf die das Gesetz in aller Härte angewandt werden müsse. 1809 bat das Metzer Konsistorium die Regierung, die Juden des Départements Moselle von dem Dekret freizustellen, allerdings verlangte das Innenministerium neben der Abwesenheit von Klagen auch positive Beweise für die Verbesserung der Juden, so die Ableistung des Militärdienstes, gute Schulbildung und die Ergreifung „nützlicher“ Berufe durch junge Juden. Dass derartige Tendenzen unter den in den Städten lebenden Juden vorhanden waren, ging zwar aus Berichten des Metzer Präfekten und des Thionviller Bürgermeisters hervor, aber auf dem Land veränderte 53 54 55 56 57

Vgl. Neher-Bernheim, documents, Bd. 1, S. 374 – 391. Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz, Bd. 1, S. 184. Ebd., S. 183. Vgl. Kasper-Holtkotte, Juden, S. 25. Ebd., S. 339. Der Bericht des Ottweiler Bürgermeisters war so negativ, dass der Präfekt noch weitere der dortigen Juden zu den übelsten seines Bezirks zählte. Vgl. ebd., S. 337 – 345. Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1686, S. 3.

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sich die Situation kaum. Daher befürworteten die beiden Beamten lediglich Ausnahmeregelungen für die in den beiden Städten lebenden Juden. Im Département Meurthe, in dem das jüdische Konsistorium ebenfalls eine Ausnahmeregelung anstrebte, gestaltete sich die Lage ähnlich wie im Metzer Bezirk. Beispielsweise berichtete der Unterpräfekt von Lunéville, dass nur einzelne Juden selbstständig Äcker bebauten und nur wenige jüdische Kinder die öffentliche Schule besuchten. Wegen Betrugs war nur ein Jude seines Bezirks vor Gericht verurteilt worden, während drei Anklagen wegen Wuchers noch anhängig waren.58 Im Département Fôrets, wo 1808 bis auf einen einzigen Juden alle jüdischen Einwohner in der Stadt Luxemburg lebten, war nicht eine Anklage wegen Wucher vor den Gerichten erhoben worden und die Berichte der Behörden gestalteten sich positiv. Der Prokurator des Arrondissements Luxemburg gab z. B. an, dass „ces juifs […] se sont toujours bien comportés et n’ont jamais donné lieu à une plainte. […] ils y existent paisiblement et sans aucuns reproches.“59 Der Präfekt betonte ­darüber hinaus, dass es sicherlich nicht die Luxemburger Juden gewesen seien, wegen derer das Dekret verabschiedet worden sei. Als Minuspunkt wertete die französische Regierung allerdings wohl den Umstand, dass die jüdischen Einwohner bisher immer Ersatzmänner zum Militärdienst geschickt hatten.60 Trotz der teilweise positiven Zeugnisse aus den betrachteten Regionen und vereinzelten Hinweisen der Präfekten auf mögliche negative Auswirkungen des Dekrets (z. B. Vermehrung von Prozessen), gelang es den dort lebenden Juden über ihren Protest nicht, eine Aufhebung des Dekrets für sich zu erreichen. Lediglich das zum Konsistorialbezirk von Nancy gehörige lothringische Département ­Vosges, in dem nur 345 Juden lebten, zählte 1810 zu den 15 Verwaltungsbezirken, dessen jüdische Einwohner von den diskriminierenden Vorschriften befreit wurden. Während die mehrheitlich im urbanen Kontext lebenden südfranzösischen und die bereits 1808 von der Regelung dispensierten Pariser Juden in ihrer Handelstätigkeit nicht eingeschränkt wurden, mussten die zumeist auf dem Land lebenden Juden in Ostfrankreich und in den linksrheinischen Gebieten mit den Auswirkungen des Dekrets zurechtkommen.61

58 Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 109 f. Vgl. Posener, effects, S. 300 – 322. Vgl. Anchel, Robert: Napoléon et les juifs, Paris 1928, S. 392 – 397. Vgl. Roos, relations entre les juifs, S. 88. Vgl. Neher-Bernheim, documents, Bd. 1, S. 383 – 385, 405 f. 59 Goedert, S. 349. 60 Vgl. Kasper-Holtkotte, Juden, S. 340. 61 1811 wurden weiteren – nicht im Osten befindlichen – Départements Ausnahmerege­ lungen zugestanden. Vgl. Halphen, S. 56 – 66. Vgl. Girard, S. 85 f. Vgl. Cahen, juifs lorrains, S. 102. Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 109 f.

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Der Kampf um die Gleichberechtigung

2.3 Getrennte Wege: die Entwicklung der jüdischen Emanzipation bis 1870 2.3.1 Ein andauernder Kampf: die preußische Rheinprovinz 2.3.1.1 Einer von vielen preußisch-jüdischen Sonderwegen: die Fortdauer der französischen Gesetze bis 1847

Für die preußische Verwaltung stellte sich ab 1815 die Frage, wie die im Zuge der Befreiungskriege hinzugewonnenen Provinzen in den Staat integriert werden sollten. Die Berliner Regierung entschied, eine Politik zu betreiben, die regionale Besonderheiten zuließ, solange diese den staatlichen Herrschaftsanspruch nicht grundsätzlich beeinträchtigten. Zwar hätte es die Regierung bevorzugt, das preußische Verwaltungs- und Rechtssystem auf die Rheinprovinz zu übertragen, aber die neuen Bezirksregierungen äußerten wegen der in der Bevölkerung verbreiteten Akzeptanz des „Rheinischen Rechts“ – d. h. der unter französischer Herrschaft eingeführten juristischen und administrativen Neuerungen – dagegen Bedenken.62 Die Wiener Bundesakte bestimmte, dass die von den verschiedenen Staaten den Juden eingeräumten Rechte bestehen bleiben sollten. Infolge dieser Formulierung hatten die Regierungen der Länder, in denen die französische Staatsmacht Gesetze erlassen hatte, die Möglichkeit, diese zurückzunehmen. In den linksrheinischen Gebieten hätte dies die Wiedereinführung der Bestimmungen des Ancien Régime bedeutet, aber da die früheren Herrschaften nicht wieder hergestellt wurden, sondern die Territorien an andere Staaten fielen, kam es nicht dazu. Für das Gebiet der Rheinprovinz stellte sich die Frage, ob die jüdische Einwohnerschaft nach französischem Recht behandelt oder das preußische Edikt vom 11. März 1812 auf sie angewandt werden sollte. Letzteres erklärte die in Preußen lebenden Juden zu „Staatsbürgern“, gewährte ihnen Freizügigkeit und Gewerbefreiheit, schloss sie aber von der Möglichkeit, öffentliche Ämter zu bekleiden, aus. In den linksrhei­ nischen Territorien stand Juden dagegen zwar die Möglichkeit auf Karrieren in der Staatsverwaltung zu, allerdings schränkte das Dekret von 1808 die Freizügigkeit, Gewerbe- und Handelsfreiheit ein.63

62 Vgl. Zittartz-Weber, Religion, S. 59 – 62. Vgl. Mayr, S. 74 f. 63 Vgl. Jersch-Wenzel, Rechtslage, S. 26 – 35. Vgl. Brammer, Annegret H.: Judenpolitik und Judengesetzgebung in Preußen 1812 bis 1847. Mit einem Ausblick auf das Gleichberech­ tigungsgesetz des Norddeutschen Bundes von 1869, Berlin 1987, S. 62 – 66, 116. Vgl. ­Kastner, Einführung, S. 20 f. Das Edikt war ein Ergebnis der Reformbemühungen, die nach der

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Der allgemeinen Integrationspolitik gegenüber der Rheinprovinz folgend verfügte 1816 der preußische Innenminister, das Edikt von 1812 in den neu erwor­benen Gebieten nicht einzuführen, sondern die bisherigen, die Juden betreffenden Gesetze bis zu einer einheitlichen Regelung auf gesamtstaatlicher Ebene weitergelten zu ­lassen. Wegen Vorbehalten gegenüber den Juden stellte das Kabinett allerdings einen internen, von den Behörden umzusetzenden Grundsatz auf, nach dem auch in den linksrheinischen Gebieten Juden von öffentlichen Ämtern auszuschließen seien.64 Das „décret infâme“ blieb infolge des Beschlusses, die französischen Bestimmungen in der Rheinprovinz bestehen zu lassen, zwar in Kraft, aber da es nur auf 10 Jahre angelegt war, bestand in der jüdischen Bevölkerung die Hoffnung, dass es nicht verlängert würde. Neben den jüdischen Konsistorien setzten sich auch einzelne Juden, z. B. der Trierer Anwalt Heinrich Marx – der Vater von Karl Marx – für eine Aufhebung des Dekrets ein. Die Kölner Immediats-Justizkommission, die sich mit der Neuregelung der Justizverfassung des Rheinlands beschäftigte, ließ daraufhin Gutachten über die Wirksamkeit der Bestimmung einholen. Die Mehrheit der Landräte betonte, dass die Juden weiterhin fast nur Handelsberufe ausübten und besonders auf dem platten Lande „Wucher“ trieben, sie sich also nicht gebessert hätten. Alle Bezirksregierungen vertraten daraufhin die Meinung, dass die Bestimmung in Kraft bleiben müsse, um die christliche Bevölkerung zu schützen, und die Trierer Behörde wünschte sogar ein gänzliches Verbot des Hausierhandels. Mit Blick auf eine zukünftige gesamtstaatliche Regelung lehnte die Immediats-Justizkommission zwar restriktivere Bestimmungen ab, aber auf ihre Empfehlung hin wurde das „décret infâme“ 1818 auf unbestimmte Zeit verlängert.65 Zu bemerken ist, dass es auch Beamte gab, die an dem Sinn des Dekrets, insbesondere der geforderten Handelspatente, zweifelten.66 So beschwerte sich 1824 in Gemünden Bürgermeister Dicht darüber, dass die strenge Kontrolle der ausgestellten Bescheinigungen den Handel behindere und dadurch nützliche Waren nicht in

Niederlage Preußens gegen Frankreich 1806 in Angriff genommen wurden. Vgl. Clark, Christopher: Preußen. Aufstieg und Niedergang 1600 – 1947, Bonn 2007, S. 347 – 399. 64 Vgl. Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz, Bd. 2, S. 52. Vgl. Brammer, S. 108 – 134. Vgl. Kastner, Einführung, S. 21 – 26. Die Entscheidung, das Edikt von 1812 nicht auf neue Landesteile zu übertragen, führte in Preußen zu einem Nebeneinander von etwa 30 verschiedenen Judengesetzgebungen. Vgl. Jersch-Wenzel, Rechtslage, S. 37 f. Ein Verbleib der wenigen im Staatsdienst stehenden Juden wurde abgelehnt. Vgl. Zittartz-Weber, Religion, S. 69 f. 65 Vgl. Brammer, S. 125 – 128. Vgl. Willmanns, Manfred: Die südlichen Bezirke der Rheinprovinz, in: Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz, Bd. 2, S. 32 – 34. Vgl. Landesarchiv­ verwaltung Rheinland-Pfalz, Bd. 2, S. 53 – 68. 66 Vgl. Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz, Bd. 2, S. 75 – 81.

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den Verkehr gebracht würden. Einige Jahre später äußerte er die Überzeugung, dass Wucher über die Vergabe der Handelspatente nicht verhindert werden könnte, da die Schöffenräte auch Juden, die unerlaubten Handel trieben, gute Zeugnisse ausstellten, da Beweise für solchen nur schwer zu erbringen seien. Dicht sah einerseits die Notwendigkeit des von den Juden betriebenen Handels für die ländliche Ökonomie, andererseits misstraute er den jüdischen Geschäftsleuten. In der Praxis brachte das Dekret den christlichen Landbewohnern seiner Meinung nach keinen Nutzen.67 Infolge des grundsätzlichen Festhaltens an der französischen Gesetzgebung gegenüber den Juden blieb in der Rheinprovinz die Konsistorialverfassung bestehen. Das Trierer und Bonner Konsistorium bestanden fort, allerdings waren sie keinem Zentralkonsistorium mehr untergeordnet.68 Da die Stellung der einzelnen jüdischen Gemeinden nicht definiert war, zeigten sich die Behörden in den folgenden Jahrzehnten unsicher, welche Rechte diesen zustanden. Insbesondere die Frage, ob sie Korporationsrechte 69 – d. h. Rechte einer juristischen Person – besaßen, war ungeklärt.70 Mit dieser Unsicherheit wurden u. a. die Juden Gemündens konfrontiert: 1829 autorisierte die Koblenzer Regierung den jüdischen Gemeindevorsteher, einen Prozess im Namen der jüdischen Gemeinde zu führen, aber 1838 verweigerte sie der Religionsgemeinschaft dieses Recht, da „sie keine Korporationsrechte habe“.71 Bezüglich der unter der französischen Herrschaft begonnenen Abzahlung der Schulden der alten jüdischen Gemeinde des Trierer Erzstifts ist zu bemerken, dass die preußische Verwaltung diese weiter verfolgte. Zahlreiche Landjuden protestierten gegen ihre Hinzuziehung zur Abtragung der Schulden, da sie ihrer Meinung nach zu Unrecht beitragen sollten: U. a. kamen Klagen aus Illingen und dem Hunsrückort Rhaunen, weil die dort veranlagten Juden bis zum Ende des Ancien Régime überhaupt nicht oder nur mittelbar dem Trierer Kurfürsten unterstanden 67 Vgl. Bericht von Bürgermeister Dicht für März/April 1834 und Februar/März 1829, in: LHAK Best. 655,12 Nr. 161. Vgl. Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz, Bd. 2, S. 54. Vgl. zur Praxis der Patentvergabe Kapitel 5.1.2. 68 Vgl. Werner, Organisation, S. 4 f. 69 Die Bezeichnung „Korporation“ sorgte unter den Zeitgenossen gelegentlich für Missverständnisse. Vgl. Jehle, Manfred (Hg. u. Bearb.): Die Juden und die jüdischen Gemeinden Preußens in amtlichen Enquêten des Vormärz, 4 Bde., München 1998, hier Bd. 4, S. 1479. Vgl. Zittartz-Weber, Religion, S. 128. 70 Die Trierer Regierung berichtete 1842, dass die Juden hinsichtlich ihrer kirchlichen Angelegenheiten dieselben Korporationsrechte wie die christlichen Kirchen besäßen, ging aber 1845 davon aus, dass jüdische Gemeinden nicht als juristische Personen anzusehen seien. Vgl. Jehle, Juden, Bd. 2, S. 525 f., 1466. Die Koblenzer Regierung räumte 1845 ein: „Seit der preußischen Besitzergreifung unseres Bezirks ist die Frage, ob die Judenschaften Korpo­rationsrechte besitzen, nicht bestimmt.“ Ebd., S. 1395. 71 Ebd., S. 1396.

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hatten. Da die für die Eintreibung zuständige Kommission anders als die Protestierenden davon ausging, dass alle Juden, die 1801 im kurtrierischen Territorium gelebt hatten bzw. die verwandtschaftlich mit diesen verbundenen Glaubens­genossen (d. h. Ehepartner und Kinder) zur Tilgung der Schulden beitragen müssten, blieb der Widerstand erfolglos.72 Die Debatten über eine einheitliche Gesetzgebung gegenüber den jüdischen Einwohnern Preußens zogen sich über drei Jahrzehnte hin. Die nach dem Wiener Kongress zutage tretende Reformmüdigkeit in Preußen stand im Zusammenhang mit der konservativen Wende und während der Restaurationszeit mehrten sich in der deutschen publizistischen Öffentlichkeit die Stimmen, die eine Gleichstellung der Juden ablehnten.73 Erst eine 1824 an die neu eingerichteten preußischen Landtage ergangene Aufforderung, Vorschläge für eine einheitliche Judengesetz­ gebung zu erarbeiten, deutet auf das konkrete Streben nach einer Regelung für die gesamte Monarchie hin. Obwohl die indirekt gewählten Versammlungen lediglich eine beratende Funktion hatten, wandten sich Bewohner der Rheinprovinz an ihren Landtag, um über Petitionen eine Berücksichtigung eigener Vorstellungen zu erreichen. Auch einige Juden sandten Bittschriften an den ersten Rheinischen Landtag, in denen sie eine Änderung ihrer gesetzlichen Lage wünschten. Abge­ sehen von dem in Simmern beheimateten Samuel Rothschild, der zusammen mit Glaubensgenossen aus Koblenz und Kreuznach für die Abschaffung des „décret infâme“ plädierte, lebten sie alle in den größeren Städten der Rheinprovinz. Zwar traf ihr Anliegen 1826 kaum auf Zustimmung unter den Abgeordneten, aber im Verlauf der Dreißiger änderte sich das Bild allmählich. So sprachen sich 1837 u. a. ein Kaufmann aus Boppard und ein Saarbrücker Eisenhüttenbesitzer für die vollständige Emanzipation der Juden aus.74 Schwung in den Gesetzgebungsprozess kam erst durch Wilhelm IV., der bei seinem Amtsantritt andeutete, die Stellung der Juden reformieren zu wollen. Davon

72 Ihren Abschluss fand die Tilgung der Schulden erst in den Dreißigerjahren. Vgl. ­Kasper-Holtkotte, Juden, S. 246 – 257. 73 Die prominentesten Gegner der Emanzipation waren der Berliner Historiker Rühs, der den Juden wegen ihrer Religion das Anrecht auf das Bürgerrecht absprach, und sein Kollege Fries, der sie als „Staat im Staat“ und als ein eigenes Volk betrachtete. Die Befürworter der Emanzipation orientierten sich weiterhin an Dohm und verlangten von den Juden, vor der Gleichstellung einen Produktivierungsprozess zu durchlaufen. Vgl. Jersch-Wenzel, Rechtslage, S. 38 – 43. Clark, Preußen, S. 459 – 469. 74 Vgl. Kastner, Einführung, S. 41 – 43. Vgl. ders. Provinziallandtag, S. 129 – 157, 249. Zum Stellenwert der Provinziallandtage vgl. Clark, Preußen, S. 469 – 474. Die jüdischen Einwohner durften nicht an der Wahl zu den Landtagen teilnehmen. Vgl. Brenner, Michael: Vom Untertanen zum Bürger, in: Meyer/Brenner, Bd. 2, S. 271 f.

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ermutigt wandten jüdische Gemeinden aus der gesamten Monarchie Petitionen an den König, z. B. 77 Juden aus Kreuznach und Koblenz, die um eine Auf­hebung des „décret infâme“ baten, wobei sie darauf hinwiesen, dass es in Frankreich, Belgien und Holland ausgelaufen sei, ihre Glaubensbrüder dort den Christen in staatsbürgerlicher Hinsicht vollkommen gleichgestellt seien und darüber hinaus der jüdische Kultus vom Staat besoldet werde. Sie selbst stellten allerdings keine Forderungen in diese Richtung.75 Dass die Vorstellungen des Königs eher rückwärtsgewandt waren, zeigte sich 1841, als er seine Richtlinien über die rechtliche Stellung der Juden bekannt gab, in denen er die Zusammenfassung der Juden in Judenschaften forderte.76 Seinem Vorschlag nach sollte die jüdische Bevölkerung getrennt von der sie umgebenden christlichen Gesellschaft leben. Die Juden sollten nicht nur religiöse Gemeinden, sondern auch eigene politische Körperschaften bilden. Nur die Vertreter der jü­­ dischen Korporationen sollten in Kontakt mit den christlichen Behörden treten und die Interessen der Juden vertreten. Diesem Vorschlag lag die Meinung zugrunde, dass die Juden eine eigene Nation bildeten und sie folglich in eigenen Korpo­ rationen – getrennt von den übrigen Bürgern – organisiert werden müssten. Ein „christlicher Staat“, dessen vornehmliche Aufgabe im Schutz und der Förderung der christlichen Bevölkerung bestand, konnte nach der Überzeugung des Königs keine Andersgläubigen gleichberechtigt mit den christlichen Einwohnern integrieren, da dies seinem Wesen widersprochen hätte. Die Idee des Königs, die der modernern Staatspolitik entgegenstand, die korporative Vereinigungen zurückzudrängen suchte, sollte bis 1847 die Debatte über die rechtliche Stellung der Juden beherrschen.77 2.3.1.2 Die Vereinheitlichung der Gesetze gegenüber den Juden in Preußen 1847

Die Idee von Wilhelm IV., separate Judenschaften zu organisieren, traf auf wenig Zustimmung: Während das Kabinett gespaltener Meinung war, zeigten sich weder die verschiedenen Bezirksregierungen noch die jüdischen Gemeinden angetan von dem Vorschlag. Als die Pläne des Königs bekannt wurden, kam es zu einer Flut von Petitionen von jüdischer Seite, von denen etwa die Hälfte aus der Rheinprovinz 75 Vgl. Kastner, Einführung, S. 44 f. und ders., Provinziallandtag, Bd. 1, S. 290 – 292. 76 Vgl. Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz, Bd. 2, S. 110 – 112. 77 Vgl. Brammer, S. 251 f. Vgl. Zittartz-Weber, Religion, S. 156 f. Eine Definition des Begriffs „christlicher Staat“ legte der konvertierte Jude Friedrich Julius Stahl vor, der viele Jahre Direktor der „Berliner Gesellschaft für die Beförderung des Christentums unter den Juden“ war. Vgl. Clark, Christopher: The “Christian” State and the “Jewish Citizen” in Prussia, in: Helmut Walser-Smith (Hg.): Protestants, Catholics and Jews in Germany 1800 – 1914, Oxford 2001, S. 78 f.

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stammte. Die Juden dieser Region, die mit großer Mehrheit Wilhelms Pläne ablehnten, traten mit einer neuen Intensität für ihre Rechte ein. Zwar stammte die Mehrheit der Bittschriften aus den urbanen Zentren der Provinz, z. B. Trier oder Köln, aber auch Schreiben aus dem ländlichen Umfeld waren vertreten. Zwar war das Verhältnis zwischen den städtischen jüdischen Eliten und den Landjuden teilweise angespannt, aber die Kontakte zwischen beiden Gruppen sorgten dafür, dass die im städtischen Umfeld geführten Debatten auch auf dem Land Rückhall fanden. Die nahe Illingen lebenden Ottweiler Juden betonten das gute Zusammenleben von jüdischen und christlichen Einwohnern, lehnten eine Absonderung in Korporationen ab und forderten vollständige Gleichberechtigung.78 Stellvertretend für die jüdischen Gemeinden des Kreises Simmern, zu denen auch diejenige von Gemünden gehörte, wandte sich David Rothschild an den preußischen König. Er argumentierte mit Verweis auf die Vaterlandsliebe der jüdischen Einwohner gegen eine Abtrennung von der christlichen Bevölkerung und betonte, dass diese negative Folgen hätte: „Der Jude wäre dem Staate, wie der Staate ihm fremd, ja feindlich.“ Um dies zu verhindern, sollten die jüdischen Einwohner in ihren Rechten „als Inländer, Preußen, respective Rheinpreußen“79 erhalten werden. Die Bezirksregierungen, die Vorschläge über die künftige Stellung der Juden machen sollten, äußerten sich in der Rheinprovinz grundsätzlich ablehnend gegenüber der Einrichtung abgesonderter jüdischer Korporationen. Die Koblenzer Regierung war der Überzeugung, dass die Trennung zwischen Juden und Christen eine Folge früherer Gesetze sei und dass die Juden aufhören würden, sich als eigenes Volk zu verstehen, wenn ihnen die gleichen bürgerlichen Rechte wie den Christen zuständen. Trotzdem sprach sich die Behörde gegen eine sofortige Emanzipation aus, da sie der Meinung war, dass zunächst der jüdische „Schachergeist“ verschwinden müsse. Als geeignetes Mittel, dieses Ziel zu erreichen, betrachtete sie gesetzliche Beschränkungen des Handels und die Begünstigung des Erlernens von

78 Vgl. Kastner, Einführung, S. 45 f. und ders., Provinziallandtag Bd. 1, S. 339 – 341. Vgl. Brammer, S. 253 – 289. Vgl. Zittartz-Weber, Religion, S. 158 – 163. Vgl. Toury, Jacob: Soziale und politische Geschichte der Juden in Deutschland 1847 – 1871. Zwischen Revolution, Reaktion und Emanzipation (Schriftenreihe des Instituts für deutsche Geschichte, Bd. 2), Düsseldorf 1977, S. 285 f. Vgl. Kapitel 4.3.1 und 4.4. Dass die christlich-jüdischen Beziehungen in Ottweiler gut waren, zeigt die Unterstützung seitens der Christen beim Bau der Synagoge im Jahr 1840. Vgl. AZJ, Nr. 32, 1840, S. 462. In den Vierzigerjahren beteiligten sich auch in Baden jüdische Landbewohner über Petitionen an der Diskussion über die eigene rechtliche Stellung. Vgl. Kaufmann, Uri R.: The fight for Emancipation in France and Germany, in: Brenner, emancipation, S. 83 f. 79 Kastner, Provinziallandtag, Bd. 1, S. 414.

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Handwerken.80 Die Trierer Regierung kritisierte zwar, dass es vor allem auf dem Land noch Juden gäbe, die Wucher trieben, aber sie glaubte, zugleich ein „sitt­ liches Fortschreiten“ bei ihnen zu erkennen. Jüdische Korporationen erschienen den Verwaltungsbeamten u. a. aufgrund der zerstreuten Siedlungsweise der Juden nicht als sinnvoll. Die Behörde sprach sich indirekt für eine Gleichstellung der Juden mit den Christen aus und wandte sich vehement gegen das „décret infâme“: Es verhindere keinen Wucher, trage nicht zur Verbesserung der Juden bei und die jährliche Beschaffung des Handelspatents stelle zudem eine „unverdiente Beschämung […] für angesehene jüdische Kaufleute“81 dar. Die christlichen Landbewohner müssten nicht vor den jüdischen Händlern im Allgemeinen, sondern nur vor dem Auswuchs des Wuchers geschützt werden, aber „nicht durch hemmende Maaß­ regeln, als vielmehr durch Belebung des moralischen und religiösen Bewusstseins“.82 Zahlreiche Landräte des Trierer Bezirks wünschten anders als die dortige Regierung eine Beibehaltung des Dekrets von 1808. Bei der Abfassung ihrer Berichte berücksichtigten sie teilweise allerdings nur die negativen Meinungen der Bürgermeister aus ihren Kreisen. Der Illinger Bürgermeister äußerte die Überzeugung, dass die bestehende Gesetzgebung die Moralität der Juden nicht verändert habe, und zog daraus den Schluss, dass diese nicht hinreichend sei, „wenn man beabsichtigt, diese Religionsgenossen dem Ackerbau und Gewerbestand mehr als bisher zuzuführen“.83 Er hätte eine restriktivere Politik gegenüber den Juden bevorzugt. Anders sah die Sache bei seinem Kollegen im unweit von Gemünden gelegenen Rhaunen aus: Dieser befürwortete die Aufhebung des seines Erachtens nach nutzlosen „décret infâme“ und relativierte zudem das Stereotyp vom hilflosen christ­ lichen Landbewohner: „Der größte Theil der hiesigen Einwohner [ist] im Handel erfahren, steht daher in keiner Beziehung dem Juden nach“.84 Die Darstellungen

80 Der Leiter der Abteilung des Innern der Koblenzer Regierung legte ein Sondervotum ab, in dem er vorschlug, nur „nützliche“ Juden den Christen gleichzustellen. Er sah in der jüdischen Religion ein Hindernis für die Einräumung gleicher Rechte und forderte reli­giöse Reformen. Vgl. ebd., S. 504 – 507. Vgl. Jehle, Manfred: Die Enquêten der preußischen Regierung zu den Verhältnissen der Juden und der jüdischen Gemeinden, 1842 – 1845, in: ders., Juden, Bd. 1, S. LXX f. und ders., Juden, S. 497 – 511. Im innerpreußischen Vergleich erscheinen die Stellungnahmen aus der Rheinprovinz emanzipationsfreundlicher als die aus anderen Staatsteilen. Ausgerechnet die Regierung von Gumbinnen, in deren Bezirk auch viele Juden auf dem Land lebten, gehörte zu den wenigen, die eine Abschaffung von Restriktionen befürwortete. Vgl. Brammer, S. 274. 81 Jehle, Juden, Bd. 2, S. 533. Vgl. ebd., S. 522 – 534. 82 Ebd., S. 529. 83 LAS Dep. Illingen Nr. 1686, S. 30. 84 Kastner, Provinziallandtag, Bd. 1, S. 438.

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der verschiedenen Beamten waren keine nüchternen Bestandsaufnahmen, sondern ebenso subjektiv wie ihre Vorschläge zur Änderung der Gesetzeslage.85 Von der christlichen Bevölkerung äußerten sich vor allem die Bürger der großen Städte über die Frage, ob die jüdischen Einwohner dieselben Rechte wie sie selbst erhalten sollten. Als der Rheinische Landtag 1843 zusammentrat, setzte eine starke Petitionsbewegung ein, in der u. a. von liberaler Seite die Forderung nach einer Emanzipation der Juden erhoben wurde. Im südlichen Teil der Provinz sprachen sich u. a. die Bürger Saarbrückens und seiner näheren Umgebung sowie die­ jenigen von Trier für die Gleichstellung von Juden und Christen aus. Dies geschah im Rahmen der öffentlichen Diskussion, die in der Presse der Provinz begonnen hatte. Im Süden der Region wandten sich die Koblenzer Rhein-und-Moselzeitung und die dort verbreitete Luxemburger Zeitung – beide katholisch konservativ geprägt – gegen eine vollständige Emanzipation der Juden, während die links­ liberale Trier’sche Zeitung und der in der Saargegend gelesene Saarbrücker Anzeiger eine solche befürworteten.86 Der Landtag kam 1843 bei der Diskussion um eine neue Gemeindeordnung auf die Stellung der Juden zu sprechen, denn nach dem Regierungsentwurf sollten nur Christen Gemeinderatsmitglieder und -vorsteher werden dürfen. Mehr als zwei Drittel der Abgeordneten sprachen sich nach den Debatten, in denen u. a. der spätere Bürgermeister von Simmern Partei für die Juden ergriff, dafür aus, dass die Religionszugehörigkeit kein Zulassungskriterium sein sollte. Besonderer Wert wurde auf die Feststellung gelegt, dass ein Ausschluss der Juden das Rheinische Recht verletzen würde, das auf dem Prinzip der Gleichheit beruhe. Der Wunsch nach einer bestimmten Behandlung der Juden war also eingebettet in das Streben nach größerer regionaler Unabhängigkeit.87 Da mehrere Deputierte Anträge auf eine Gleichstellung von Juden und Christen stellten, diskutierte der Landtag diese Frage von sich aus. In den Debatten schlugen sich teilweise die konkreten Beziehungen der Abgeordneten zu jüdischen Mitbürgern nieder: Der Trierer Bankier Mohr stufte die Juden aufgrund eigener Erfahrungen als emanzipationswürdig ein, während der Bopparder Kaufmann Brust die noch bestehende Trennung zwischen Juden und Christen betonte. Letzterer glaubte allerdings wie einige Vertreter der Landgemeinden, dass diese nach der Gleichstellung enden werde. Brust wandte sich gegen das „décret infâme“, da er die Erfahrung gemacht hatte, dass Juden es umgehen könnten und Christen es 85 Vgl. Jehle, Enquêten, S. LXX-LXXII. 86 Vgl. ebd., S. 46 – 53, 597 – 600, 629 – 632, 646 – 650. Vgl. Zittartz-Weber, Religion, S. 167 f. 87 Vgl. Kastner, Einführung, S. 54 – 56 und ders., Provinziallandtag, Bd. 2, S. 637 – 645. Vgl. Strauss, Herbert A.: Bilder von Juden und vom Judentum in der Entwicklung der Gesetzgebung Preußens im Vormärz, in: Jehle, Juden, S. LIII. Vgl. Brammer, S. 296.

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teilweise missbräuchlich gegen jüdische Gläubiger einsetzten. In der Abstimmung sprachen sich 86 % der anwesenden 79 Landtagsmitglieder für eine Abschaffung des „décret infâme“ und 68 % für die vollständige Emanzipation der Juden aus. Erwähnenswert ist, dass kein Vertreter der Landgemeinden für eine Beibehaltung des Dekrets vom 1808 votierte. Bei der Frage der Gleichstellung kam die meiste Zustimmung von Vertretern der Städte, ihnen folgten die Deputierten der Landgemeinden, während die Meinungen der beiden ersten Stände geteilt waren.88 Die Stellungnahme des Rheinischen Landtags zugunsten der jüdisch-christ­ lichen Gleichstellung löste nur eine schwache Reaktion vonseiten Berlins aus: Man versprach, den Antrag auf Abschaffung des napoleonischen Dekrets zu erwägen, ging aber auf die Forderung nach einer vollständigen Emanzipation nicht ein – u. a., weil der Landtag mit der Behandlung der Frage seine Kompetenzen überschritten hatte. Inwiefern das Votum der Deputierten zugunsten der Wählbarkeit von Juden zu Gemeindeämtern in den Gesetzgebungsprozess einfloss, ist unklar, aber die 1845 eingeführte Gemeindeordnung entsprach ihm zumindest teilweise. Sie versagte den jüdischen Einwohnern der Rheinprovinz zwar auf den Wunsch des Königs hin das Recht, Gemeindevorsteher oder B ­ ürgermeister zu werden, allerdings beließ sie ihnen die Möglichkeit, in den Gemeinderat gewählt zu werden.89 Eine weitere, die jüdische Bevölkerung betreffende gesetzliche Änderung trat durch die Einführung der neuen Gewerbeordnung Anfang 1845 in Kraft. Die ­Letztere vereinheitlichte das Gewerberecht in der Monarchie weitgehend, allerdings beseitigte sie die Restriktionen gegenüber den jüdischen Handelsleuten nur teilweise. Die Gewerbeordnung stellte die Juden, die ein stehendes Gewerbe betrieben, ihren christlichen Kollegen gleich, aber nicht die jüdischen Geschäftsleute, die ihren Lebensunterhalt im Umherziehen verdienten. Die neuen Bestimmungen befreiten lediglich die Ersteren von der Pflicht, Handelspatente zu erwerben. Die Mehrzahl der Handelsleute auf dem Land profitierte nicht von der Bestimmung, da sie ihr Gewerbe zumeist im Umherziehen betrieben.90

88 Vgl. Kastner, Provinziallandtag, Bd. 2, S. 672 – 711. Zu den wenigen Personen aus dem Süden der Rheinprovinz, die sich gegen die Emanzipation aussprachen, gehörte der Vertreter der Stadt Koblenz. Kastner bemerkt zwar, dass „auffallend viele Abgeordnete der Landgemeinden“ gegen die Gleichstellung votierten, aber die Zahlen widersprechen dem: 16 von ihnen stimmten für die Emanzipation, nur fünf dagegen, einer enthielt sich. Vgl. ebd., S. 710 f. Vgl. ders., Einführung, S. 56. 89 Vgl. ebd., S. 58. Vgl. Brammer, S. 139, 322. Vgl. Willmanns, S. 38. 90 Vgl. Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz, Bd. 3, S. 431 – 433. Vgl. Kastner, Provinzial­ landtag, Bd. 2, S. 947 f. Vgl. Brammer, S. 321. Vgl. zur Berufsstruktur Kapitel 3.3.1. Zittartz-Weber, Religion S. 183 geht fälschlicherweise davon aus, dass die umherziehenden

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In dem 1845 erneut zusammentretenden Landtag stand das Thema der Emanzi­ pation der Juden wieder auf der Tagesordnung, da wegen des Engagements liberaler Kreise noch mehr Petitionen als zwei Jahre zuvor zu diesem Thema eingingen. Die meisten Bittschriften stammten wieder aus einem urbanen Umfeld, aber die Zahl derjenigen aus Kleinstädten nahm zu. Im Bezirk Trier verfassten sogar die Bewohner des Dorfes Wallerfangen und seiner Umgebung eine Petition zugunsten der Gleichstellung der jüdischen Einwohner, in der sie angaben, dass Gott keinen Unterschied zwischen den Menschen mache und die Einheit des Staates durch eine unterschiedliche Behandlung der Untertanen geschwächt werde. Neu war 1845, dass sich jüdische Einwohner bzw. Institutionen direkt an den Landtag wandten, z. B. das Trierer Konsistorium.91 In der Landtagsdebatte nutzten Gegner und Befürworter der Emanzipation das Beispiel der Landjuden, um ihre Meinungen zu begründen: Konservative betonten, dass das Dekret von 1808 auf den niederen Zustand der Juden zurückzuführen sei und es erst abgeschafft werden könne, wenn der jüdische Wucher verschwunden sei. Liberal Gesinnte hielten dagegen, dass Restriktionen den jüdischen Bevölkerungsteil erniedrigten und daher die Absonderung von der übrigen Bevölkerung fortbestehe. Zudem führten sie die geringe Zahl von Verurteilungen wegen Wuchers gegen das Argument an, dass die Juden nicht emanzipationswürdig seien. Insofern lässt sich nicht behaupten, dass die Befürworter der Emanzipation ausschließlich die städtischen, jüdischen Eliten vor Augen hatten. Letztlich sprach sich erneut die große Mehrheit der Deputierten für eine vollständige Gleichstellung der Juden aus. Ähnlich wie zwei Jahre zuvor wurde der Beschluss von der preußischen Regierung kritisiert.92 Auffällig ist, dass Mitglieder des Landtags, aber auch manche Verwaltungsbehörden der Rheinprovinz bei der Frage, ob die Juden zu emanzipieren seien, auf die Lage in den westlichen Nachbarländern eingingen. Der als Vertreter der Landgemeinden auftretende katholische Geistliche Lensing aus Emmerich sprach sich 1845 mit dem Verweis, dass das „décret infâme“ in Frankreich, Luxemburg, Belgien und Holland erloschen sei, für dessen Abschaffung in der Rheinprovinz aus. Er betonte, dass sich im Ausland „keinerlei Nachteile gezeigt, wie ich jüdischen Händler nur noch angehalten wurden, die Patente für den Hausierhandel zu erwerben, die auch Christen vorweisen mussten. 91 Vgl. Kastner, Einführung, S. 58 – 60 und ders., Provinziallandtag, Bd. 2, S. 851 – 907. Vgl. Zittartz-Weber, Religion, S. 170 f. 92 Auch andere Landtage, die sich für eine Verbesserung der Rechte der Juden einsetzten, wurden von Berlin kritisiert. Die Rheinische Landtag forderte als einzige Ständeversammlung die vollständige Emanzipation. Vgl. Kastner, Einführung, S. 55 – 62 und ders., Provinziallandtag, Bd. 2, S. 907 – 929. Vgl. Brammer, S. 304 – 319. Vgl. Strauss, S. LIIf.

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dieses in dem Staate, in dessen Nachbarschaft ich wohne, nämlich H ­ olland, zu beobachten Gelegenheit gehabt habe“.93 In ähnlicher Weise äußerte der Krefelder Abgeordnete Beckerath, dass die „Staaten, die unsere Provinz umgeben, […] die Juden schon vor langen Jahren gleichgestellt und nie Ursache gehabt [haben], diese Maßregel zu bereuen“.94 Er erwähnte auch, dass der König der Niederlande die Juden 1844 bei einem Empfang des Luxemburger Rabbiners als „treue und bewährte Unterthanen“ bezeichnet hatte. Mit dem Beispiel der Niederlande wollte Beckerath belegen, dass die Emanzipation der Juden in einem christlichen Staat möglich sei. Allgemein gilt, dass Verweise auf die Nachbarländer in erster Linie von Befürwortern der Emanzipation kamen.95 Die räumliche Nähe zu Staaten, in denen die Juden den Christen gleichgestellt waren, ließ zumindest Teile der christlichen Bevölkerung der Rheinprovinz zu Fürsprechern der Emanzipation werden, z. B. gab sich die Trierer Bürgerschaft zuversichtlich, dass mit der Aufhebung der Restriktionen „auch – davon sind wir innig überzeugt und finden die Wahrheit täglich jenseits der nahen Grenze bewährt – die Folgen schwinden“.96 Die Trierer und die Koblenzer Regierungen gingen in ihren Berichten über die Lage der jüdischen Bevölkerung auch auf Frankreich ein, in erster Linie um die Rechtslage in ihren eigenen Verwaltungsbezirken zu erläutern. Sie zeigten sich darüber hinaus informiert über Veränderungen in der französischen Gesetzgebung nach 1815, z. B. war der Trierer Behörde das Auslaufen des „décret infâme“ im Jahre 1818 bekannt. Dass die preußische Regierung an den Auswirkungen der Stellung der Juden in anderen Ländern interessiert war, ist daran abzulesen, dass sie andere Staaten um solche Informationen bat, u. a. Holland, Belgien und Frankreich. Das Innenministerium des letzteren Staats ordnete daraufhin eine Untersuchung über die Situation der Juden an, weswegen die Behörden der verschiedenen Départements ähnlich wie die der preußischen Provinzen Berichte über die jüdische Minder­heit verfassten. Die Informationen beeinflussten die preußische Gesetzgebung allerdings kaum, weswegen die Trier’sche Zeitung kritisierte, dass die Berliner Verantwortlichen u. a. die positiven Antworten der holländischen Behörden ignorierten. Die jüdische Bevölkerung war teilweise der Ansicht, dass dies daran liege, dass die 93 94 95 96

Kastner, Provinziallandtag, Bd. 2, S. 927. Ebd., S. 914. Dies gilt auch für die Presse. Vgl. ebd., S. 836 – 838. Vgl. Strauss, S. L. Kastner, Provinziallandtag, Bd. 2, S. 631. Bürger aus Saarbrücken und seiner Umgebung berichteten 1843 in ihrer Petition an den Landtag, dass die besten Juden aufgrund der fehlenden Gleichstellung „mit schwerem Herzen unserm Vaterlande den Rücken kehren, um sich in Nachbarländern eine neue wohnliche Heimath zu gründen und ein stiller Vorwurf zu sein für das Land, das sie verstößt“. Ebd., S. 597 f.

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preußische Regierung nicht vorhabe, sie zu emanzipieren, und diese wohl gehofft habe, aus den anderen Ländern nur ungünstige Ergebnisse zu erhalten.97 Während die individuelle Stellung der Juden als Staatsbürger intensiv diskutiert wurde, blieb die Frage des Status der jüdischen Religionsgemeinschaft zumeist ausgeblendet. Auch die jüdische Minderheit selbst thematisierte diesen Gegenstand kaum, weswegen eine Petition des Trierer Konsistoriums aus dem Jahr 1845 eine Ausnahme darstellt.98 Die Verfasser gingen davon aus, dass die jüdische Religionsgemeinschaft bereits durch die napoleonische Konsistorialordnung mit den christlichen Konfessionen gleichgestellt worden sei, und forderten daher, dass der Staat „unsere Geistlichen gleich den übrigen aus der Staatskasse besolde“.99 Anders als der Landtag beschäftigten sich die Bezirksregierungen in den von Berlin angeforderten Berichten mit der Lage der jüdischen Religionsgemeinschaft und machten entgegen den Vorgaben teilweise eigene Vorschläge für eine künftige Regelung.100 Die Koblenzer Regierung kritisierte die Konsistorialordnung scharf. Sie befürwortete eine Neuordnung des jüdischen Kultuswesens durch den preußischen Staat mit dem Verweis darauf, dass die „sittlich und intellectuell höher stehenden“ Juden dies wünschten, aber auch weil sie glaubte, dass ein vorgegebener organisatorischer Rahmen eine religiöse Entwicklung – „in den Schranken der bürgerlichen Gesetze und der allgemeinen Grundsätze der Moral“101 – ermöglichen und somit für eine Verbesserung der Juden sorgen würde, was wiederum von Vorteil für die christliche Bevölkerung wäre. Zwar sprach sich die Koblenzer Regierung nicht direkt für eine Gleichberechtigung mit den christlichen Kirchen aus, aber sie äußerte die Meinung, dass den Juden „ein ihren Beitrag zu den Steuern entsprechender Antheil an dem, was aus Staats- und Gemeinde-Kassen für die Cultus- und Schulzwecke verwendet wird, nicht zu versagen“102 sei. Die Trierer Regierung äußerte sich weniger konkret als die Koblenzer Behörde zu der Frage, wie die jüdische Religionsgemeinschaft zukünftig behandelt werden

97 Vgl. Jehle, Juden, Bd. 2, S. 522 – 531, Bd. 4, S. 1381 – 1408. Vgl. Kastner, Provinziallandtag, Bd. 2, S. 754 f., 876. Vgl. Neher-Bernheim, documents, Bd. 2, S. 350 f. Vgl. Cohen, David: L’image du juif dans la société française en 1843. D’après les rapports des préfets, in: Revue d’histoire économique et sociale, Jg. 55, 1977, S. 70 – 91. Vgl. Brammer, S. 274 – 318. 98 Vgl. Brammer, S. 306 – 311. Vgl. Jehle, Enquêten, S. LXXIX-LXXXV. 99 Kastner, Provinziallandtag, Bd. 2, S. 889. 100 Vgl. Brammer, S. 333. 101 Jehle, Juden, Bd. 4, S. 1433. 102 Ebd. Vgl. ebd., S. 1432 – 1434. Bezüglich der französischen Verhältnisse äußerte die Regierung die Meinung, dass die Übernahme der Kultuskosten durch den Staat „eine nothwendige Folge der den Juden durch die Kaiserliche Gesetzgebung neben den christlichen Culten gegebenen Stellung“ sei. Vgl. ebd., S. 1387.

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sollte. Sie beschränkte sich darauf, den Bericht, den das örtliche Konsistorium auf ihre Bitte hin über die Situation im Bezirk angefertigt hatte, zu kommentieren. Die Mitglieder der jüdischen Institution erklärten, dass ihr Kultus juristisch gleichberechtigt mit den christlichen Kirchen sei, aber dieser Grundsatz seit Beginn der preußischen Herrschaft nicht beachtet werde und durch das Prinzip der Nichteinmischung in die jüdische Religion verdrängt worden sei, weswegen der Staat sie nur noch als „geduldete Secte“ ansehe. Sie forderten von der künftigen Neuordnung, dass sie „den jüdischen Cultus […] und die Juden gleich den übrigen Culten […] anerkennt und nicht blos als geduldete betrachtet“.103 Die Trierer Regierung, welche sich für die Emanzipation der Juden als Individuen ausgesprochen hatte, äußerte sich nicht zu einer finanziellen Unterstützung, sondern gab lediglich an, dass die jüdische Religion u. a. in Frankreich und Belgien anerkannt sei und sich nach ihrer Kenntnis noch keine Nachteile daraus ergeben hätten.104 Der als Beratungsorgan der preußischen Regierung gedachte Vereinigte Landtag befasste sich bei seinem ersten Zusammentreten 1847 mit einem Gesetzesvorschlag über die Neuregelung der Stellung der Juden in Preußen, der wesentlich auf den Vorstellungen des Königs beruhte. Mit einer Petition, die auf Initiative der jüdischen Gemeinde Kölns hin erstellt und von allen jüdischen Gemeinden der Rheinprovinz unterstützt wurde, protestierten die Juden gegen die Absicht, sie von der christlichen Bevölkerung abzusondern. Das Trierer Konsistorium bat zudem den Trierer Abgeordneten Mohr, gegen die geplante Judenordnung zu wirken. Der Landtag selbst spaltete sich in Deputierte, die dem monarchischen System und der Vorstellung des „christlichen Staates“ positiv gegenüberstanden, und in diejenigen, welche eine Trennung von Staat und Kirche befürworteten. Während die Ersteren die Emanzipation der Juden ablehnten, sahen Letztere sie als notwendige Folge des von ihnen vertretenen Prinzips „gleiche Rechte – gleiche Pflichten“ an. Zwar stimmten die meisten rheinischen Deputierten für die Zulassung der Juden zu allen Staatsämtern und für die volle Emanzipation, aber insgesamt fiel das Votum des Landtags anders aus. In der Rheinprovinz kam es zu einer Debatte zwischen der Koblenzer Rhein- und Moselzeitung, welche die Emanzipation ablehnte, und der Kölnischen sowie der Trier’schen Zeitung, die den entgegengesetzten Standpunkt vertraten. Die Erstere verteidigte die Lehre vom christlichen Staat und warf den katholischen Abgeordneten der Landgemeinden vor, nicht gegen die überwiegend protestantischen Vertreter des liberalen Bürgertums aus den großen nordrhei­nischen Städten aufgetreten zu sein. Mit dem Votum zugunsten der Emanzipation, das sie

103 Ebd., S. 1473 f. 104 Vgl. ebd., S. 1464 – 1472.

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wie die katholischen Abgeordneten der Städte (z. B. Mohr aus Trier) abgegeben hatten, hätten sie dem religiösen Indifferentismus Tür und Tor geöffnet.105 Die Empfehlungen des Vereinigten Landtags, die mit einer breiten Zustimmung verabschiedet wurden, berücksichtigte die Regierung bei der Überarbeitung ihres Gesetzentwurfs. Die vom König gewünschte korporative Ausgliederung der jüdischen Einwohner wurde verworfen. Das abschließende Ergebnis bildete das „Gesetz über die Verhältnisse der Juden“ vom 23. Juni 1847, welches die Rechte der jüdischen Bevölkerung in Preußen mit Ausnahme der Provinz Posen vereinheitlichte. Das aus zwei Teilen bestehende Gesetz regelte einerseits die „bürgerlichen Verhältnisse“ der Juden und andererseits ihr „Kultus- und Unterrichtswesen“.106 Grundsätzlich gestand es den jüdischen Einwohnern die gleichen Rechte wie den christlichen Bürgern zu, aber durch eine Vielzahl von Ausnahmen wurde diese Gleichstellung eingeschränkt. Ein Staats- oder Kommunalamt sollte von einem Juden nur ausgeübt werden dürfen, wenn sich damit nicht die Ausübung einer richterlichen, polizeilichen oder exekutiven Gewalt verband. Für die Juden der ehemaligen französischen Gebiete hieß dies, dass ihnen gesetzlich – nicht mehr ausschließlich durch Verwaltungspraxis – die Möglichkeit genommen wurde, Tätigkeiten als Richter oder Schöffen auszuüben. Von Lehrämtern an nichtjüdischen Institutionen wurden sie weitgehend ausgeschlossen und zudem grundsätzlich von der Leitung oder Beaufsichtigung christlicher Kultusangelegenheiten. Bürger­meister oder Gemeindevorsteher durften sie weiterhin nicht werden. Positive Veränderungen stellten der Wegfall des „décret infâme“ und die nun innerhalb der gesamten Monarchie geltende Freizügigkeit dar.107 Die Vorschriften über die Organisation der jüdischen Religionsgemeinschaft stellten eine erhebliche Veränderung dar, denn durch sie verloren die Konsistorien ihre Existenzberechtigung. Alle innerhalb eines von der Regierung festzulegenden Synagogenbezirks wohnenden Juden wurden verpflichtet, sich zu einer Synagogengemeinde zusammenzuschließen und eine Repräsentantenversammlung zu wählen, die für die Gemeinde verbindliche Beschlüsse treffen sollte. Die Repräsentanten hatten einen Vorstand zu wählen, der als Sprachrohr der Synagogengemeinde gegenüber den Behörden und zugleich als deren Ansprechpartner agierte. Der Vorstand war für die Verwaltung der Gemeinde und die Wahl der Gemeindeangestellten 105 Vgl. Brammer, S. 335 – 368. Vgl. Kastner, Einführung, S. 62 – 67. Vgl. Jersch-Wenzel, Rechtslage, S. 55 f. 106 Vgl. Brammer, S. 368 – 371. Vgl. Kastner, Einführung, S. 67. Vgl. Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz, Bd. 2, S. 140 – 152. 107 Vgl. Toury, Geschichte, S. 286. Vgl. Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz, Bd. 2, S. 141 f. Vgl. zur Umsetzung in der Rheinprovinz ebd., S. 152. Vgl. Kastner, Einführung, S. 67 f.

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zuständig, deren Anstellung von der Regierung genehmigt werden musste. Alle Wahlen mussten von einem Vertreter der Behörden beaufsichtigt werden. Die Neuorganisation zielte auf eine stärkere Kontrolle des Staates über die einzelnen Gemeinden ab, was sich auch in der Auskunftspflicht des Gemeindevorstandes über innere Angelegenheiten gegenüber den staatlichen Behörden zeigte.108 In Bezug auf ihre Vermögensrechte erhielt die jüdische Synagogengemeinde die Rechte einer juristischen Person, d. h., sie konnte Grundstücke erwerben und Prozesse führen. Ansonsten blieb ihre Stellung aber undefiniert. Das Gesetz von 1847 näherte das jüdische Gemeindewesen insofern an die Rechtstellung der christlichen Kirchen an, als es den Synagogengemeinden staatliche Anerkennung versprach, ihnen bestimmte korporative Rechte zugestand und das Prinzip der Einheits­gemeinde festschrieb. Gleichberechtigt mit den christlichen Gemeinden waren die jüdischen Religionsgesellschaften aber nicht: Die Unterhaltung des Kultus war – anders als bei den großen christlichen Kirchen – von den Gemeinde­ mitgliedern allein zu leisten.109 Die Hauptaufgabe der Synagogengemeinden bestand darin, den jüdischen Kultus zu organisieren und zu gewährleisten, von der Unterhaltung der Synagoge und des Friedhofs über die Anstellung von Gemeindebediensteten bis zur Organisation des Religionsunterrichts für jüdische Kinder. Bezüglich des Schulwesens wurde festgelegt, dass jüdische Kinder grundsätzlich die (christlichen) Ortsschulen besuchen sollten, zu deren Unterhalt Juden und Christen gleichermaßen beitragen sollten.110 In der Regel sollte keine gesonderte jüdische Schule existieren, aber es bestand die Möglichkeit, mit Genehmigung der Behörden eine private jüdische Schule einzurichten. Angeordnet werden konnte die Errichtung einer öffentlichen jüdischen Schule auf Antrag der Synagogengemeinde nur, wenn „eine an Zahl und Vermögensmitteln hinreichende christliche und jüdische Bevölkerung vorhanden [war], um auch für die jüdischen Einwohner ohne deren Überbürdung eine besondere öffentliche Schule anlegen zu können“.111 Der wesentliche Unterschied zu einer privaten jüdischen Schule bestand darin, dass die jüdische Gemeinde das Recht hatte, für eine öffentliche Schule eine Beihilfe aus den Kommunalmitteln einzufordern, wenn in ihrem Ort die bürgerliche Gemeinde für die Unterhaltung der Schulen zuständig war. 108 Vgl. Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz, Bd. 2, S. 145 – 151. Vgl. Brammer, S. 369. Vgl. Doll, Anton: Allgemeine Einleitung, in: Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz, Bd. 2, Koblenz 1979, S. 10. 109 Vgl. Zittartz-Weber, Religion, S. 190 – 192. Vgl. Toury, Geschichte, S. 287, 357. Vgl. ­Werner, Organisation, S. 11. 110 Vgl. Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz, Bd. 2, S. 150 f. 111 Ebd., S. 150.

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Die Reaktionen auf das Gesetz von 1847 waren auf jüdischer Seite gemischt. Die größere Rechtsgleichheit innerhalb der Monarchie sahen die meisten als einen Fortschritt an.112 Allerdings gaben Juden aus der Rheinprovinz ihre Enttäuschung über die nicht erreichte Gleichstellung zu erkennen, z. B. in der AZJ, in der ein Trierer Jude erklärte, dass die „Erwartungen […] nach der Publikation des G ­ esetzes […] sehr herabgestimmt und die Gemüther verstimmt“113 seien. Zwar räumte er ein, dass das Gesetz Verbesserungen gebracht hätte, aber er gab zu bedenken, dass derjenige, der „zur Erkenntnis seines Rechts gelangt ist[,] […] ein halb Stück ihm zugestandenes Recht, das doch immer noch nach Gnade schmeckt, niemals recht zusagen“114 könne. 2.3.1.3 Von der Revolution zur Gleichberechtigung im Norddeutschen Bund im Jahr 1869

Die den Juden durch das Gesetz von 1847 zugewiesene Stellung wurde bereits im folgenden Jahr durch die im Rahmen der Revolution erstarkenden liberalen und demokratischen Kräfte wieder infrage gestellt. In der preußischen National­ versammlung dominierte das liberale Lager, für welches die Emanzipation der jü­­ dischen Minderheit Bestandteil der umfassenderen Forderung nach Religionsfreiheit und der Gewährung von bürgerlichen und politischen Rechten unabhängig vom Religionsbekenntnis war. Die oktroyierte Verfassung vom 5.12.1848 kann insofern als Verständigungsangebot der preußischen Regierung an das liberale Bürgertum verstanden werden, als sie gemäßigte Reformerwartungen erfüllte.115 Den jü­­ dischen Einwohnern brachte sie die vollständige bürgerliche Gleichstellung, denn sie erklärte, dass der „Genuß der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte […] unabhängig von dem religiösen Bekenntnis und der Teilnahme an irgend einer Religionsgesellschaft“116 sei. Die Rheinprovinz zählte innerhalb der preußischen Monarchie zu den ­Gebieten, in denen die Revolution früh und stark Rückhall fand. Bereits im März 1848 richteten u. a. die Gemeinderäte von Saarbrücken eine Adresse an den König, in der

112 Vgl. Jersch-Wenzel, Rechtslage, S. 36. Vgl. Zittartz-Weber, Religion, S. 192. Vgl. Wyrwa, Ulrich: Juden in der Toskana und in Preußen im Vergleich. Aufklärung und Eman­­­zi­ pation in Florenz, Livorno, Berlin und Königsberg i. Pr. (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo-Baeck-Instituts, Bd. 67), London 2003, S. 311 – 315. 113 AZJ, Nr. 5, 1848, S. 70. 114 Ebd. 115 Vgl. Zittartz-Weber, Religion, S. 193 f. Vgl. Wyrwa, S. 330 – 338, 347. Vgl. Rürup, Emanzipation, S. 11 – 36. Vgl. Clark, Preußen, S. 536 – 556. 116 Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz, Bd. 2, 155 f.

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sie die für weite Teile des Deutschen Bundes typischen Märzforderungen stellten: Neben einer parlamentarischen Vertretung, Presse- und Versammlungsfreiheit, Steuergerechtigkeit und Volksbewaffnung verlangten sie auch Religions- und Gewissensfreiheit. Nur kurze Zeit später wandten sich 16 städtische Gemeinderäte – u. a. aus Koblenz und Trier – gemeinsam an den König und forderten u. a. gleiche politische Rechte für alle Bürger ohne Unterschied des religiösen Bekenntnisses sowie eine Trennung von Kirche und Staat. Zwar zielten sie wie die Autoren ähnlich lautender Petitionen aus der Rheinprovinz in erster Linie auf die Wahrung katholischer Interessen ab, aber die Forderung nach Gleichbehandlung kam auch den jüdischen Einwohnern zugute. In der preußischen Nationalversammlung zeigte sich dies z. B., als der Abgeordnete des Wahlkreises Saarburg/Merzig die Emanzipation der Juden forderte.117 Die 1848 zum ersten Mal auf überregionaler Ebene agierenden liberalen und demokratischen jüdischen Politiker und ihre christlichen Kollegen betteten das Verlangen nach der Emanzipation der Juden in die Forderung nach umfassenden gesellschaftlichen Reformen ein. Da auch die meisten Verfasser von Petitionen dies taten, war die Zahl spezieller Bittschriften zugunsten der jüdisch-christlichen Gleichstellung gering, z. B. gingen bei der Frankfurter Nationalversammlung lediglich ein Dutzend derartiger Petitionen und nur einzelne gegen die Eman­zipation gerichtete Schreiben ein. In der Paulskirchenversammlung spiegelte sich das Übergewicht der Liberalen darin, dass nur ein Abgeordneter im Rahmen der Debatte über die Grundrechte für Beschränkungen hinsichtlich der Juden plädierte. Nach den am 10.12.1848 verabschiedeten Grundrechten sollte niemand wegen seines religiösen Bekenntnisses im Genuss der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte beschränkt werden.118 Die Beteiligung der jüdischen Einwohner der Rheinprovinz an der Revolution differierte stark: Während sich in den größeren Städten junge Juden der demokratischen Bewegung anschlossen, reagierte die Mehrheit eher zurückhaltend. Zwar hielten einige kleine Landgemeinden Trauergottesdienste zu Ehren

117 Vgl. AZJ, Nr. 15, 1848, S. 226 f. Vgl. Marx, Geschichte, S. 90 f. Vgl. Schmitt, Johannes: Die Revolution von 1848/49 an der Saar, in: ders.: Revolutionäre Saarregion 1789 – 1850. Gesammelte Aufsätze (Schriftenreihe Geschichte, Politik & Gesellschaft der Stiftung Demokratie Saarland, 7), St. Ingbert 2005, S. 292 – 299. 118 Vgl. Meyer, Michael. A.: Deutsch werden, jüdisch bleiben, in: ders./Brenner, Bd. 2, S. 241 – 246. Vgl. Brenner, Untertanen, S. 274 f. Vgl. Brenner, Michael: Zwischen Revo­lution und rechtlicher Gleichstellung, in: Meyer/ders., Bd. 2, S. 294 – 298. Vgl. ­Moldenhauer, R.: Jewish Petitions to the German National Assembly in Frankfurt 1848/49, in: LBIYB, Jg. 16, 1971, S. 189 – 223.

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der Märzgefallenen, aber dies waren Ausnahmen.119 Bei den revolutionären Aktivi­ täten auf dem Land, die sich häufig gegen die örtlichen Vertreter des Staates richteten, traten jüdische Einwohner nicht besonders in Erscheinung. Im Gegensatz zu anderen ländlich geprägten deutschen Gebieten kam es in der Rheinprovinz im Rahmen der Revolution kaum zu Aktionen gegen die jüdische Bevölkerung. Als Proteste gegen die Emanzipation lassen sich lediglich Steinwürfe gegen ein jü­ disches Gemeinderatsmitglied in Nettersheim und die Bedrohung der jüdischen Einwohner von Osann verstehen.120 Mit dem Erstarken der gegenrevolutionären Kräfte in Preußen änderte sich die Politik gegenüber der jüdischen Minderheit wieder.121 Die revidierte Verfassung vom 31.1.1850 höhlte die grundsätzliche Gleichstellung mit dem Artikel 14 aus: „Die christliche Religion wird bei denjenigen Einrichtungen des Staats, welche mit der Religionsgesellschaft im Zusammenhang stehen, unbeschadet der […] gewähr­leisteten Religionsfreiheit, zum Grunde gelegt“.122 Die Bestimmung konnte in einem als christlich definierten Staat dazu benutzt werden, jüdische Bürger von Staats­ämtern fernzuhalten. Der Ausschluss erfolgte über den Verordnungsweg, und in der Rheinprovinz hielten sich die Behörden konsequent an die restrik­tiven Vorgaben aus Berlin. Das Gesetz von 1847 wurde 1853 wieder für gültig erklärt, einerseits, weil dadurch die jüdischen Gemeinden weiterhin Körperschaftsrechte beanspruchen konnten, andererseits, weil es eine zusätzliche rechtliche Begründung zum Ausschluss von Staatsämtern bot.123

119 Vgl. Zittartz-Weber, Religion, S. 194 – 197. 120 Der Protest gegen die Gleichstellung von Juden und Christen besaß teilweise eine ökonomische Komponente. Vgl. zu den antijüdischen Unruhen von 1848 Kapitel 5.4. Vgl. Rohrbacher, Stefan: Deutsche Revolution und antijüdische Gewalt (1815 – 1848/49), in: Peter Alter/Claus-Ekkehard Bärsch/Peter Berghoff (Hg.): Die Konstruktion der Nation gegen die Juden, München 1999, S. 43 – 47. 121 Vgl. Brammer, S. 375. Vgl. Toury, Geschichte, S. 300. Vgl. Zittartz-Weber, Religion, S. 199 f. 122 Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz, Bd. 2, S. 158. 123 Vgl. Wyrwa, S. 355 – 365. Vgl. Brammer, S. 376 – 380. Vgl. Zittartz-Weber, Religion, S. 199 f. Vgl. Toury, Geschichte, 308 – 313.

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Berlin

Die Rheinprovinz in Preußen zur Mitte des 19. Jahrhunderts

Weil die Gleichstellung der Juden mit den Christen während der Reaktion wieder zurückgenommen wurde, differieren die Bewertungen der Forschung über die Bedeutung der Revolution für die Emanzipation. Während Mosse die Revolution aufgrund ihres Scheiterns als wirkungslos für den Prozess der Emanzipation einstuft, betrachtet Baron sie ähnlich wie ein Teil der Zeitgenossen als Wendepunkt in der Diskussion um die Gleichstellung der Juden.124 Das Erstere trifft insofern auf Preußen zu, als Beschränkungen aus der Zeit vor 1848 infolge der Verfassung 124 Vgl. Zittartz-Weber, Religion, S. 197. Vgl. Rürup, Reinhard: The European Revolutions of 1848 and Jewish Emancipation, in: Mosse/Paucker/Rürup, S. 22 f. Vgl. Mosse, Werner E.: The Revolution of 1848. Jewish Emancipation in Germany and its Limits, in: ders./ Paucker/Rürup, S.  390 – 401.

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von 1850 und der Anwendung des Gesetzes von 1847 bestehen blieben. Das Letztere stimmt allerdings ebenfalls, da die Revolution u. a. in der Rheinprovinz einen Höhepunkt der „Weggemeinschaft von Liberalismus und der Emanzipation“125 bildete: Die Forderung nach der Emanzipation der Juden wurde zum integralen Bestandteil des liberalen Strebens nach einem säkularen Staat. Dies gilt insbesondere für das Rheinland, wo viele Katholiken selbst Diskriminierung durch die Protestanten fürchteten. Die jüdischen Einwohner Preußens zeigten schon zum Beginn der Reaktionszeit, dass sie nicht bereit waren, die Revision der 1848 erlangten Rechte schweigend hinzunehmen. Die jüdische Gemeinde Berlins mobilisierte z. B. 1850 etwa 400 preußische Gemeinden zu einem Protest gegen den Judeneid. Obwohl die Aktion wirkungslos blieb, äußerte der Trierer Rabbiner Kahn 1851 die Hoffnung, dass die jüdischen Einwohner durch geschlossenes Auftreten eine Revision der Emanzi­ pation verhindern könnten.126 Er war sogar der Meinung, dass die „Besoldung der Rabbiner und Vorbeter von Seiten des Staates gleich den Geistlichen […] anderer Confession verlangt werden [müsse], wenn unsere Gleichstellung vollkommen sein soll“.127 Dieses Ziel sei in Frankreich, Belgien, Holland und einigen deutschen Staaten bereits erreicht. Die Ansicht Kahns, staatliche Unterstützung für den jüdischen Kultus einfordern zu müssen, teilten seine Glaubensgenossen in anderen Teilen Preußens nur bedingt. Eine 1859 von Ludwig Philippson, dem Redakteur der AZJ, initiierte Petition an das Preußische Abgeordnetenhaus plädierte neben der Zulassung zu Staatsämtern zwar auch für die Befreiung jüdischer Kultus­beamter von den Kommunalsteuern (gleich ihren christlichen Kollegen), aber von einer Einforderung der Kultuskosten war keine Rede, da Philippson glaubte, dass die Zeit dafür noch nicht gekommen sei.128 In den Fünfzigerjahren trug der jüdische Einsatz für die Emanzipation in Preußen Züge eines Rückzugsgefechts, da Teile der konservativen politischen Elite versuchten, die Rechte der jüdischen Einwohner stärker einzuschränken. Im preußischen Parlament beantragte 1856 z. B. der Abgeordnete Wagner, aufgrund des „christlichen Charakters“ der Monarchie den Genuss der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte vom christlichen Glaubensbekenntnis abhängig zu machen und die Juden von diesen völlig auszuschließen. Gegen diesen Angriff auf die von der Verfassung von 1850 garantierten Rechte regte sich breiter Widerstand in der jüdischen Gemeinschaft. Auf Initiative von Philippson hin verfassten innerhalb 125 Pulzer, Peter: Warum scheiterte die Emanzipation der Juden, in: Alter/Bärsch/Berghoff, S. 276. 126 Vgl. Brammer, S. 534. Vgl. AZJ, Nr. 1, 1851, S. 4 f. 127 AZJ, Nr. 1, 1851, S. 5. 128 Vgl. AZJ, Nr. 12, 1859, S. 167 – 173.

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von zwei Wochen 264 jüdische Gemeinden Petitionen gegen einen solchen Schritt. In der Rheinprovinz beteiligten sich neben den jüdischen Gemeinschaften der großen Städte auch Juden aus dem ländlichen Kontext, z. B. die von Illingen.129 Letztere argumentierten, dass ihnen ein „nach Prinzipien der göttlichen Religion, als auch der Vernunft [zugestandenes Recht] unmöglich abgesprochen werden“ könne, zumal es ihnen verfassungsmäßig garantiert sei und sich dessen „gewiß durch keinerlei Handlung gegen den Staat verlustig gemacht“ hätten. Ihnen das Recht „wieder entziehen zu wollen, das hieße eine religiöse Gesammtheit [sic!] ohne ihr Verschulden schwer verletzen“.130 Die Bittschrift verdeutlicht, dass Landjuden nicht nur bereit waren, sich für ihre Rechte einzusetzen, sondern auch, dass der Gedanke einer stufenweisen Emanzipation ihnen vertraut war: Sie glaubten, sich durch ihr Verhalten der Gleichstellung als würdig erwiesen zu haben. Der Antrag Wagners fand im Parlament keine Zustimmung, was an den jüdischen Protesten lag, aber auch an den Ängsten katholischer Abgeordneter, in einem betont protestantischen Preußen selbst eventuell bald wie Nichtchristen behandelt zu werden.131 Zwar traten 1858 gemäßigt liberale Kräfte in die preußische Regierung ein, aber Erleichterungen für die Juden bedeutete dies kaum, da auch in der „Neuen Ära“ die Minister des Kultus und der Justiz an der bisherigen Politik festhielten. Dass ein Großteil der jüdischen Bevölkerung der Rheinprovinz die Situation zu ändern wünschte, zeigte sich 1866, als Philippson die preußischen Judengemeinden aufforderte, sich einer Petition anzuschließen, die forderte, die von der Verfassung von 1850 zugesagte Gleichheit umzusetzen und die sich aus dem Gesetz von 1847 ergebenden Einschränkungen aufzuheben.132 Über 300 jüdische Gemeinden traten der Bittschrift bei, unter ihnen zahlreiche kleine Gemeinschaften vom Land, die teilweise noch vor den Stadtbewohnern Unterstützung signalisierten, z. B. die­ jenigen von Illingen und von Rhaunen im Hunsrück. Das starke Echo vonseiten jüdischer Landgemeinden hing mit der spätestens in den Fünfzigerjahren erreichten weiten Verbreitung jüdischer Zeitungen zusammen, war aber auch Ausdruck der zumindest in den Gemeindeeliten vorhandenen Bereitschaft, sich für die Gleichstellung einzusetzen. Nicht ohne Stolz betonte ein Leser der AZJ aus dem Saar­gebiet die „tiefe Teilnahme selbst in der kleinsten Gemeinde“ an den „letzten 129 Vgl. Schoeps, Julius H.: Deutsch-jüdische Symbiose oder die missglückte Emanzipation, Bodenheim 1996, S. 188 – 193. Vgl. Brammer, S. 380 – 382. Vgl. Philippson, Ludwig (Hg.): Der Kampf der preußischen Juden für die Sache der Gewissensfreiheit, Magdeburg 1856, S. 1 – 3, 81 f., 93 f. 130 Philippson, S. 93 f. 131 Vgl. auch ebd., S. 82, 157 – 180. Vgl. Schoeps, S. 193 f. 132 Vgl. Wyrwa, S. 390. Vgl. Brammer, S. 383 – 389. Vgl. Toury, Geschichte, S. 309 – 321.

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unser Recht betreffenden Vorgängen im preußischen Abgeordnetenhaus“.133 Die jüdische Gemeinde von Merzig wandte sich sogar direkt an den Abgeordneten ihres Kreises und dankte ihm nach der parlamentarischen Debatte für seinen Einsatz. Die die Mehrheit bildenden liberalen Abgeordneten beurteilten das Anliegen der Petition als gerechtfertigt und selbst ein Teil der Konservativen – vor allem die Katholiken – stimmte ihm zu. Von Erfolg gekrönt war die Petition dennoch nicht, da die Ministerien sich widersprüchlich äußerten.134 Die einzige gesetzliche Änderung, die innerpreußisch vor 1871 erfolgte, war die Abschaffung des Juden­ eides im März 1869. Sie erfolgte allerdings weniger aufgrund jüdischer Petitionen und der Unterstützung des Abgeordnetenhauses als wegen der mittlerweile wieder uneinheitlichen juristischen Lage in Preußen, die auf den Erwerb neuer Territorien zurückzuführen war. Die Annexionen hatten den preußischen Staat in eine Lage geführt, die strukturell derjenigen nach dem Wiener Kongress glich: Die Stellung der Juden in den neuen Landesteilen wich von der in den alten ab. Die Abschaffung des speziellen Eides stellte einen Schritt in Richtung einer erneuten Vereinheitlichung dar.135 Die Juden Preußens hofften in den Sechzigerjahren darauf, im nationalen Kontext – das bedeutete zunächst innerhalb des Norddeutschen Bundes – die Gleichstellung zu erreichen. Dies zeigte sich u. a. daran, dass die meisten jüdischen Gemeinden, welche die bereits erwähnte Petition an das preußische Ab­geordnetenhaus 1866 unterstützten, Philippson die Vollmacht gaben, sich in ihrem Namen auch an das künftige norddeutsche Parlament zu wenden. Der Redakteur forderte – sich auf die Grundrechte von 1848 stützend – in einer von mehr als 400 jüdischen Gemeinden unterstützten Bittschrift, dass die jüdischen Einwohner den christlichen gleichgestellt werden müssten. Er argumentierte, dass die Religion in einer zivilisierten Gesellschaft nicht mehr als Begründung für Unterdrückung herangezogen werden könne und dass Juden nicht als Fremde zu betrachten seien.136 Von den Reichstagsabgeordneten wurde die Petition nicht berücksichtigt, weil die meisten glaubten, dass mit der Bundesverfassung die Beschränkungen bereits aufgehoben worden seien.137

133 AZJ, Nr. 7, 1867, S. 133. Vgl. zur Unterstützung der Petition AZJ Nr. 43, S. 675, Nr. 44, S. 691, Nr. 45, S. 707, Nr. 46, S. 723, Nr. 48, S. 755. Zur Verbreitung der AZJ und des Jüdischen Volksblattes im Regierungsbezirk Trier vgl. AZJ Nr. 47, 1854, S. 531. 134 Vgl. AZJ 1867, S. 61, 117 f. Vgl. Toury, Geschichte, S. 337 f. 135 Vgl. Brammer, S. 389 f. Vgl. Wyrwa, S. 390. 136 Vgl. AZJ, 1866, S. 771 – 773. Vgl. AZJ 1867, S. 209 f., 352. 137 Das Ansinnen einzelner Parlamentarier, die Stellung der Juden innerhalb des Bundes gesetzlich zu vereinheitlichen – was die Gefahr einer beschränkenden Sondergesetzgebung beinhaltete – fand keine Zustimmung. Vgl. Brammer, S. 391 f.

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Im Oktober 1867 zeigte sich, dass die vom Reichstag vertretene Meinung über die Rechte der Juden nicht von allen Staaten geteilt wurde, was seine Mitglieder veranlasste, darauf anzutragen, Einschränkungen der bürgerlichen und staats­ bürgerlichen Rechte, die mit einem Religionsbekenntnis begründet würden, aufzuheben. Da der preußisch dominierte Bundesrat die restriktive Politik mancher Staaten gegenüber den Juden nicht verurteilte und auf eine Forderung des Reichstags nach Gleichberechtigung der Juden hinsichtlich der Bekleidung von Staatsämtern nicht positiv reagierte, legte der Abgeordnete Wiggers 1869 dem Reichstag einen Gesetzesentwurf vor, der allen Einwohnern unabhängig vom Religionsbekenntnis die vollständige Gleichstellung zuerkennen wollte. Die große Mehrheit des Hauses stimmte dem Vorschlag zu, da sie die Gleichberechtigung als notwendigen Bestandteil eines modernen Staatsrechts ansah. Die Zustimmung des Bundesrats erfolgte nicht zuletzt deswegen, weil die preußische Regierung das Gesetz als Möglichkeit sah, die Stellung der Juden innerhalb der Monarchie zu vereinheitlichen, ohne auf eine Einigung zwischen den in dieser Frage voneinander abweichenden Haltungen des preußischen Abgeordnetenhauses und des Herrenhauses zu warten. Das am 9.7.1869 in Kraft tretende Gesetz brachte den preußischen Juden die Emanzipation, ohne dass die preußische Verfassung selbst geändert wurde: „Alle noch bestehenden, aus der Verschiedenheit des religiösen Bekenntnisses hergeleiteten Beschränkungen der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte werden hierdurch aufgehoben.“138 2.3.2 Frankreich: der Weg zur umfassenden Gleichstellung 2.3.2.1 Die Konflikte um die Abschaffung des „décret infâme“

Trotz der Rückkehr der Bourbonen wurden in Frankreich zahlreiche Ergebnisse der Revolution beibehalten. Bereits im Mai 1814 verlautbarte der Innenminister, dass die in der Verfassung garantierte Gleichheit der Kulte auch die Juden einschließe: „La liberté des consciences […] est respecté. Les ministres des cultes seront également protégés par le père commun“.139 Diese Tendenz bestätigte die im Juni 1814 von Louis XVIII. erlassene „Charte constitutionelle“, deren Artikel 5 lautete: „Chacun professe sa religion avec une égale liberté et obtient pour son culte la même protection.“140 Die grundsätzliche Gleichheit der Kulte erfuhr allerdings durch 138 Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz, Bd. 2, S. 162. Vgl. Toury, Geschichte, S. 340 – 348. Vgl. Brammer, S. 392 – 395. 139 Neher-Bernheim, documents, Bd. 2, S. 6. 140 Halphen, S. 66. Vgl. auch Roos, Gilbert: Les relations entre les juifs du nord-est de la France et le gouvernement de la restauration (Bibliothèque d’études juives, Bd. 17), Paris 2003, S. 50.

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den folgenden Artikel eine Einschränkung, denn dieser erklärte die katholische Konfession zur Staatsreligion. Das seine Gültigkeit behaltende „décret infâme“ blieb ein vor allem von den Juden Ostfrankreichs diskutiertes Thema. Im November 1815 wandte sich z. B. seinetwegen das Metzer Konsistorium an das Zentralkonsistorium, dem es mitteilte, dass die Bestimmung nur wenig Einfluss auf die lothringischen Juden ausübe. Eine Abschaffung des Dekrets sei aber wichtig, da es eine „ligne de démarcation“ zwischen Juden und Christen darstelle. Prinzipiell handelte es sich bei den von der jüdischen Elite Lothringens geäußerten Vorbehalten um dieselben Zweifel, welche die Trierer Regierung in den Vierzigerjahren gegenüber dem Dekret hegte: Es habe keinen Nutzen und konserviere die Vorurteile der Christen gegenüber den Juden. Dass das Konsistorium dennoch davor zurückscheute, sich in der Öffentlichkeit für eine Aufhebung der Vorschrift einzusetzen, hing mit der Angst seiner Mitglieder zusammen, dass Diskussionen zu neuer Sondergesetzgebung führen könnten. Daher zeigten sich diese auch reserviert gegenüber einer 1816 auf Wunsch von lothringischen und elsässischen Juden veröffentlichten Broschüre des Anwalts Guichard, die ausführte, dass das Dekret dem „Code civil“ widerspreche, weil es die Unschuldsvermutung außer Kraft setze und zudem ein Ausnahmegesetz sei, das dem Geist der Charte widerspreche.141 Erst als im Elsass die Stimmen lauter wurden, die eine Verlängerung des napoleonischen Dekrets forderten, und der Marquis de Lattier aus dem Département Drôme dem „chambre de pairs“ eine Petition mit demselben Wunsch zukommen ließ, gab das Pariser Zentralkonsistorium seine passive Haltung auf. Es wandte sich mit einer Eingabe an den König, in der es die Abschaffung des Dekrets forderte, da es unnütz sei, weil die christlichen Schuldner, die unter Wucher von jüdischer Seite gelitten hätten, längst eine Annullierung oder Reduzierung ihrer Verbindlichkeiten erreicht hätten. Ein Fortbestand der Bestimmung sei unangebracht, da nur gegenüber einem Teil der Juden des Elsass Klagen erhoben worden seien, aber z. B. keine in Lothringen. Es sei ungerecht, die Verfehlungen einzelner Juden auf die Masse der Glaubensgenossen zu übertragen, und daher sei auch der Erlass spezieller Bestimmungen gegenüber den Juden als Gruppe ungerecht.142 Das Konsistorium wehrte sich somit gegen die Konstruktion einer Kollektivschuld. Am Anfang des Jahres 1818 forderte das Zentralkonsistorium die elsässischen und die lothringischen Konsistorien auf, Gutachten von Behörden einzuholen, um gegenüber der Regierung belegen zu können, dass den jüdischen Einwohnern hinsichtlich ihres Geschäftsgebarens nichts zur Last gelegt werden könne

141 Vgl. ebd., S. 89 f. Vgl. Neher-Bernheim, documents, Bd. 2, S. 7 f. 142 Vgl. Gerson, S. 153 f. Vgl. Neher-Bernheim, documents, Bd. 2, S. 7 – 35.

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und das Dekret von der Realität überholt sei. Während die Elsässer Juden nur wenig Hilfe von der teilweise offen antijüdisch auftretenden Verwaltung e­ rhoffen konnten, gestaltete sich die Situation in Lothringen anders.143 Die Gutachten der lothringischen Behörden waren positiv gehalten: Weder die Präfekten von Metz und Nancy, noch die Polizei- und Gerichtsbehörden wünschten eine Verlängerung des „décret infâme“. Der Metzer Präfekt gab an, „que les autorités ne peuvent rendre qu’un témoignage extrêmement favorable de la conduite et des principes moraux des israélites domiciliés à Metz et dans le département“.144 Zudem betonte er, dass die Zahl der Juden, die sich handwerklichen Tätigkeiten widmeten, zunehme und die Geldleihe zu einem ungesetzlichen Zins unter ihnen nicht mehr als unter den Christen verbreitet sei. Der Bürgermeister der Stadt ging noch weiter, indem er den jüdischen Einwohnern attestierte, dass die Religion der einzige noch bestehende Unterschied zur übrigen Bevölkerung sei und sie die in sie gesetzten Hoffnungen erfüllten.145 Sowohl die Schreiben der Konsistorien als auch die Auskünfte der Verwaltung verdeutlichen, dass in Frankreich eine Verbesserung bzw. Anpassung der Juden an die christliche Bevölkerung als Gegenleistung für die Emanzipation erwartet wurde. Die lothringischen Polizei- und Justizbehörden konzentrierten sich in ihren Gutachten darauf, ob Verfahren wegen Wucher gegen jüdische Einwohner anhängig waren – und kamen zu positiven Ergebnissen. So bestätigte der „commissaire général de police de la Moselle“, dass weder dieses Delikt noch Betrugsfälle durch jüdische Einwohner vorgekommen seien. Der Präfekt von Nancy hob hervor, dass nicht nur keine Klagen über die Juden des Départements laut geworden seien, sondern auch, dass er ihre Moralität und Ehrlichkeit nur loben könne, was in dem ökonomisch schwierigen Jahr umso bemerkenswerter sei. Auch die Informationen aus dem Département Meuse waren positiver Art.146 Trotz der positiven Gutachten der lothringischen Verwaltung nährte das Wissen um die im Elsass gegenüber der jüdischen Bevölkerung erhobenen Klagen beim Metzer Konsistorium die Sorge, dass das Dekret verlängert werden könnte und auf diese Weise die Juden seines Bezirks erneut unter der negativen Beurteilung ihrer

143 Das Metzer Konsistorium gab sich zuversichtlich, dass das Dekret nicht verlängert würde, weil dies eine Verletzung der Charte darstellen würde, und betonte die Fortschritte, welche die jüdischen Einwohner gemacht hätten. Vgl. Neher-Bernheim, documents, Bd. 2, S. 29 f., 53 – 55. Vgl. Roos, relations entre les juifs, S. 90 – 94. 144 Préfet de la Moselle, 4.3.1818, in: ANF F19 Nr. 11007. 145 Vgl. Maire de Metz, 28.2.1818, in: ANF F19 Nr. 11007. 146 Vgl. Commissaire général de police de la Moselle, 1.3.1818, procureur général den Nancy, 3.3.1818, préfet de la Meurthe, 2.3.1818, in: ANF F19 Nr. 11007. Vgl. Roos, relations entre les juifs, S. 94. Vgl. Neher-Bernheim, documents, Bd. 2, S. 39 f.

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Glaubensbrüder leiden müssten. Um dies zu verhindern, betonte es gegenüber dem Innenminister nicht nur die Nutzlosigkeit des Dekrets, sondern distanzierte sich auch von den elsässischen Juden. Die Konsistorialen gaben sich überzeugt, dass der „Conseil général“ ihres Départements weit davon entfernt sei, sich in ähn­ licher Weise wie diejenigen des Elsass zu äußern und „qu’il répugne à la justice du gouvernement de nous rendre solidaires des fautes reprochées à des hommes avec lesquels nous n’avons re rapport que la même mode de prier la Divinité“.147 Das innerhalb der französischen Judenheit herrschende Misstrauen gegenüber den elsässischen Juden spiegeln auch Anordnungen des Zentralkonsistoriums wider, in denen es sie zur Mäßigung gegenüber Schuldnern ermahnte und die Konsistorien aufforderte, ungesetzlichen Handel anzuzeigen.148 Die Regierung erklärte das „décret infâme“ im März 1818 für aufgehoben, weil die Bestimmung nicht mit der von der Charte garantierten Gleichheit der Bürger vereinbar sei. Das allgemeine Verlangen des Regimes, sich staatsrechtlich von Napoleons Herrschaft abzusetzen, wirkte sich somit günstig für die französischen Juden aus.149 Trotz seiner Abschaffung blieb das „décret infâme“ in den folgenden Jahren ein Diskussionsgegenstand, denn das Zentralkonsistorium versuchte, einer möglichen Wiedereinführung entgegenzuwirken, während eine Minderheit unter Frankreichs Politikern sich dafür einsetzte. Das Zentralkonsistorium wollte nach der Abschaffung des napoleonischen Dekrets demonstrieren, dass die Juden Frankreichs dieses Schritts würdig waren. Daher sandte es einen Pastoralbrief an die Konsistorien, den diese in den Gemeinden ihrer Bezirke verbreiten sollten und in dem die Notwendigkeit „guten Benehmens“ betont wurde: „La déloyauté et la mauvaise conduite commerciale de quelques uns d’entre vous pourraient fournir à vos accusateurs […] un nouveau prétexte pour renouveler contre vous leurs efforts“.150 Um das Vertrauen der Regierung zu bestätigen, müssten sich die Juden an den Doktrinen des Sanhedrin orientieren und Behörden unlauteren Handel durch Glaubensgenossen stets anzeigen. Da­­ rüber hinaus wurde den elsässischen Juden nahegelegt, sich gegenüber Schuldnern großzügig zu zeigen, um Gegner, die sie der Habgier beschuldigten, zu widerlegen. Wie vorsichtig die Mitglieder der Pariser Behörde waren, zeigt auch ihre Haltung gegenüber dem Vorschlag des Metzer Konsistoriums, den Artikel eines Mitarbeiters der örtlichen Präfektur zugunsten der Metzer Juden in Paris zu veröffentlichen: Der

147 148 149 150

Consistoire israélite de Metz au ministre de l’Intérieur, 5.3.1818, in: ANF F19 Nr. 11007. Vgl. Neher-Bernheim, documents, Bd. 2, S. 37 – 39. Vgl. Gerson, S. 154. Neher-Bernheim, documents, Bd. 2, S. 69 f. Vgl. auch Roos, relations entre les juifs, S. 95 f.

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Text riskiere mehr zu schaden als zu nützen, da er sich nur auf die Metzer Juden beziehe, ohne die übrigen zu erwähnen.151 Der Pastoralbrief der Pariser Zentralbehörde traf bei den Konsistorien von Nancy und Metz auf Zustimmung und diese setzten sich stark für dessen Verbreitung unter den Juden ihrer Bezirke ein. Wie stark die Vorstellungen der Pariser Elite den Ideen der städtischen Konsistorialen in Lothringen entsprachen, zeigt die Tatsache, dass diejenigen von Metz sich schon vor dem Eintreffen der Pariser Nachricht an die Spitzen der jüdischen Gemeinden ihres Bezirks gewandt und diese aufgefordert hatten, über die Geschäftsmoral ihrer Glaubensgenossen zu wachen. Die Konsistorialen von Nancy betonten, dass die von ihnen verwalteten Juden im Allgemeinen das geforderte Benehmen bereits an den Tag legten.152 Es waren mehrheitlich elsässische Politiker, die sich ab 1818 für die Wiedereinführung des „décret infâme“ einsetzten und im Namen des „einfachen Volks“ gegen die Juden hetzten. Wie schon unter Napoleon lautete das Hauptargument, dass die christliche Landbevölkerung vor dem Wucher der Juden geschützt ­werden müsse. Dagegen äußerte sich in Lothringen kaum ein Beamter negativ über das Verhalten jüdischer Einwohner oder plädierte für eine Wiederbelebung des „décret infâme“. Eine Ausnahme bildete der Unterpräfekt von Sarrebourg, der während der Un­­ ruhen, zu denen es in Lothringen und im Elsass im Umfeld der „Hepp-Hepp-Verfolgungen“ von 1819 vereinzelt kam, eine Wiedereinführung des Dekrets erwog. Nachdem es an seinem Amtssitz zu einer seiner Einschätzung nach unbedeutenden Schlägerei zwischen Juden und Christen gekommen war, äußerte er die Vermutung, dass deren Ursache in den sozialen Gewohnheiten der Juden zu sehen sei und die Wiedereinführung des Dekrets solche Vorkommnisse verhindern könne.153 Außerhalb des ostfranzösischen Kontexts trat lediglich der bereits erwähnte Marquis de Lattier öffentlichkeitswirksam als Befürworter des „décret infâme“ in Erscheinung. Im Jahr 1823, als Elsässer Beamte Berichte über den angeblichen

151 Vgl. Neher-Bernheim, documents, Bd. 2, S. 70 – 78. Vgl. Roos, relations entre les juifs, S. 95. 152 Vgl. Consistoire israélite de Metz au consistoire central, 20.3.1818, in: ACP Icc 17. Vgl. Consistoire israélite de Nancy au consistoire central israélite, 18.6.1818, in: ACP Icc 30. Die vom Zentralkonsistorium gewünschten Übersetzungen des Pastoralbriefs sah die Metzer Behörde als problematisch an: „il s’y trouve des villages Allemands où l’on ne parle qu’un jargon de cette dernière langue, et dans d’Autres que les patois français. Ainsy […] il faudrait […] pour chaque canton, et même pour chaque village, une traduction différente.“ Consistoire israélite de Metz au consistoire central israélite, 18.6.1818, in: ACP Icc 17. 153 Vgl. Gerson, S. 159 – 176. Vgl. Roos, relations entre les juifs, S. 99 – 103, 162 – 164. Die Intensität der Auftritte gegen die Juden war in beiden Regionen gering, z. B. im lothringischen Bionville, wo sie lediglich in den Hepp-Hepp-Rufen eines Zöllners bestanden.

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Wucher der Juden anfertigten, wandte er sich an den Metzer Präfekten, um diesen dazu zu bewegen, den „conseil général“ des Départements Moselle über Maßnahmen gegen jüdischen Wucher beraten zu lassen. Das von Lattier erhoffte Ergebnis sollte dazu dienen, die Wünsche der elsässischen Gremien bei der französischen Regierung zu unterstützen. Die Antwort des Präfekten fiel allerdings ablehnend aus: „Les juifs du dépt. de la Moselle ont cessé de se livre à l’usure, leur régénération est complette. […] Je ne doute pas qu’il ne vous soit agréable d’apprendre que les mesures que vous sollicités ne sont pas réclamées dans le dépt. que j’administre.“154 Die Bemühungen um eine Wiedereinführung des „décret infâme“ verliefen erfolglos, weil das „chambre des pairs“ und der Justizminister eine Sondergesetzgebung als nicht verfassungsgemäß betrachteten.155 2.3.2.2 Von der Restauration zur Julirevolution: der Weg zum gleichberechtigten Kultus

Es wurde bereits erwähnt, dass die Charte von 1814 an der Religionsfreiheit festhielt, aber zugleich den Katholizismus zur Staatsreligion erklärte. Eine weitere Beschränkung der Gleichheit der Kulte stellte der Artikel 7 des Dokuments dar, der bestimmte, dass ausschließlich Religionsbeamte der katholischen Kirche und anderer christlicher Konfessionen Gehälter aus der Staatskasse erhielten. Die jüdische Minderheit hatte kein Anrecht auf finanzielle Unterstützung vonseiten des Staates.156 Auf Wünsche der jüdischen Konsistorien hin zeigten sich die Regierungen der Restauration lediglich bereit, die Eintreibung der jüdischen Kultusbeiträge juristisch und verwaltungstechnisch abzusichern. Durch den Verlust der links­ rheinischen und der italienischen Gebiete reduzierte sich die jüdische Bevölkerung Frankreichs, weswegen von den verbliebenen französischen Juden höhere Beiträge zur Unterhaltung des Konsistorialsystems verlangt wurden, die diese aber häufig nicht entrichteten. Sowohl die zahlungsunwilligen Juden als auch die Konsistorien wandten sich mit Eingaben an das französische Abgeordnetenhaus, um die Gesetzeslage zu beein­flussen: Während die Ersteren die Konsistorien als Autori­täten ablehnten, pochten die Letzteren auf die Einhaltung der bestehenden Gesetze. Da die Parlamentarier und die Regierung die Konsistorien im Recht sahen, wurde diesen 1816 über ein Zirkular und später durch die Ordonnanz vom

154 Préfet de Metz au Marquis de Lattier, 5.8.1823, in: ADM V150. Vgl. auch Marquis de Lattier au préfet de Metz, 23.7.1823, in: ADM V150. 155 Vgl. Neher-Bernheim, documents, Bd. 2, S. 84 – 87. Vgl. Roos, relations entre le juifs, S. 100. 156 Vgl. Halphen, S. XLII, 66. Vgl. Roos, relations entre les juifs, S. 50.

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29.6.1819 erlaubt, die Konsistorialbeträge durch die Steuereinnehmer einziehen zu lassen.157 Die Ordonnanz war die erste Bestimmung, mit der die französische Regierung die von Napoleon erlassene Organisation auf Bitten der Konsisto­rialen hin modifizierte, aber keineswegs die letzte. Am 20.8.1823 folgte eine weitere Ordonnanz, die u. a. die Wahl der Mitglieder der Départementskonsistorien und die Besetzung der dafür zuständigen Notabelnversammlungen veränderte. Dass die Hälfte der Mitglieder der Letzteren am Sitz des Konsistoriums leben musste, stellte eine gewisse Benachteiligung der Landjuden dar, aber eine andere Neuerung war von größerer Tragweite für sie, nämlich die Sanktionierung der u. a. in Lothringen bestehenden Praxis der Ernennung von „commissaires surveillants“ durch die Départementskonsistorien. Die napoleonische Kultusordnung trug den Départementskonsistorien zwar die Aufrechterhaltung der Ordnung in den Synagogen ihrer Bezirke auf und untersagte die Existenz von nicht durch sie autorisierte Gebetsversammlungen, aber das Verhältnis zwischen den Konsistorien und den einzelnen jüdischen Gemeinden war nicht genau geregelt. Um die ihnen unterstellten jüdischen Gemeinden verwalten zu können, ernannten die Konsistorien in diesen jeweils einen „commissaire surveillant“, d. h. ein Gemeindemitglied, welches das Konsistorium repräsentieren und dessen Aufgaben vor Ort wahrnehmen sollte.158 Die Ordonnanz von 1823 definierte die Kompetenzen dieser Personen und die Rechte der jüdischen Gemeinden bzw. der Konsistorien. Der Überwachungskommissar war vor allem für die Aufstellung des Budgets, der Verteilungsrolle der jüdischen Gemeinde und die Anfertigung von Rechenschaftsberichten zuständig, die das Konsistorium überprüfte. Alle diese Unterlagen waren dem Innenministerium vorzulegen, welches sie auf Meinung des Zentralkonsistoriums hin für exekutorisch erklärte. Rabbiner und andere Gemeindeangestellte mussten von einer lokalen vom Konsistorium ernannten Kommission unter dem Vorsitz des „commissaire surveillant“ gewählt werden, wobei die Anstellung von Rabbinern vom Zentralkonsistorium, die a­ nderer Gemeindeangestellter von den Départementskonsistorien zu bestätigen war.159 Diese neuen B ­ estimmungen

157 Vgl. Halphen, S. 72 – 74, 380 – 385. Vgl. Neher-Bernheim, documents, Bd. 2, S. 230 – 232. Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 121. Vgl. Albert, modernization, S. 60. Vgl. Roos, relations entre les juifs, S. 58 f. Die Ordonnanz modifizierte das Konsistorialsystem, indem sie für die Départementskonsistorien eine Zahl von fünf Mitgliedern festschrieb. 158 Die Einrichtung einer Partikularsynagoge auf lokaler Ebene mit zwei Notabeln und einem Rabbiner an der Spitze wäre lediglich für größere Gemeinden in Betracht gekommen. Vgl. Halphen, S. 38 f., 74 – 78. Vgl. Urbah, Marianne: Le contrôle de l’administration sur les ministres du culte au XIXe siècle, in: Archives Juives, Nr. 2, Jg. 32, 1999, S. 102. Vgl. Neher-Bernheim, documents, S. 457 – 464. Vgl. Albert, modernization, S. 59, 123, 182. 159 Vgl. Halphen, S. 75 f.

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stärkten, wie von den Konsistorien gewünscht, den eigenen Einfluss gegenüber den einzelnen jüdischen Gemeinden. Zwar wurden schon während der Restaurationszeit vereinzelt jüdische Stimmen laut, die eine staatliche Unterstützung für ihren Kultus einforderten, allerdings fanden sie keinen Rückhall. Vergeblich wiesen sie darauf hin, dass sie doppelt zur Unterhaltung des Religionswesens beitrugen, da sie die Kosten für ihren Kultus selbst aufbringen mussten und zudem die christlichen, vom Staat subventionierten Kulte über ihre Steuern mitfinanzierten. Dass die Forderungen verhalten blieben, hing nach Angaben von Metzer Juden damit zusammen, dass sie während der Restauration den Verlust der individuellen Gleichheit fürchteten und daher weitergehende Forderungen vermieden, um keine Debatte über ihre rechtliche Stellung loszutreten.160 Erst im Rahmen der Julirevolution wagten Pariser Juden, Gleichberechtigung mit den christlichen Konfessionen und staatliche Unterstützung zu verlangen. Im August 1830 nutzten Angehörige der jüdischen Elite von Paris die geplante Modifikation der Charte, um beim Abgeordnetenhaus „les bienfaits du système d’égalité“161 für den jüdischen Kultus einzufordern, d. h. staatliche Unterstützung für den jüdischen Kultus. Die Deputierten reagierten positiv, da sie das Prinzip der Gleichheit verwirklicht sehen wollten.162 In der überarbeiteten Charte wurde daher festgelegt, dass nicht mehr ausschließlich den christlichen Religions­beamten eine staatliche Bezahlung vorbehalten sein sollte. Darüber hinaus verlor die katholische Konfession den Status als Staatsreligion. Ermutigt durch dieses Ergebnis richteten mehrere Pariser Juden (u. a. der aus Boulay stammende Berr Léon Fould) zusammen mit dem Konsistorium eine Petition an den Kultusminister, der daraufhin ein Gesetzesvorhaben vorlegte, das aufgrund der Gleichheit der Kulte, des Prinzips der religiösen Toleranz und der Gerechtigkeit die Bezahlung der jüdischen Religionsbeamten durch den Staat forderte. Auch die Idee der Verbesserung schwang mit, denn es wurde betont, dass die jüdischen Bürger sich eines solchen Schrittes als würdig erwiesen hätten. Sowohl das Abgeordnetenhaus als auch die Zweite Kammer stimmten der Vorlage zu, da

160 Vgl. Halphen, S. 380 – 385. Vgl. Anchel, Robert: Notes sur les frais du culte juif en France de 1815 à 1831, Paris 1928, S. 13. Vgl. Girard, S. 90. Vgl. Szajkowski, Zosa: French Jews during the revolution of 1830 and the July monarchy, in: ders., Jews and the French Revolutions, S. 1024 f. 161 Neher-Bernheim, documents, Bd. 2, S. 267. 162 „Les israélites sont français, citoyens comme nous […]; ils payent l’impôt comme nous, ils concourent comme nous à la défense de la patrie et des nos libertés. Nous devons donc effacer un reste de préjugé odieux qui flétrissait cette classe d’hommes.“ Halphen, S. 387. Vgl. auch Neher-Bernheim, documents, Bd. 2, S. 253 f., 267 f.

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auch die meisten Parlamentarier die Ansicht vertraten, dass der jüdische Kultus aus Gerechtigkeitsgründen wie die christlichen Konfessionen behandelt werden müsse und die Juden sich der Zugehörigkeit zu Frankreich als würdig erwiesen hätten, indem sie sich nach ihrer Gleichstellung in die Nation integriert ­hätten. Am 8.2.1831 trat das Gesetz, das den jüdischen Religionsbeamten staatliche Gehälter zusagte, in Kraft.163 Die genaueren Modalitäten der Bezahlung wurden durch Ordonnanzen festgelegt. Eine Bestimmung vom 22.3.1831 legte die Gehälter der Großrabbiner und den staatlichen Zuschuss für die Metzer Rabbinerschule, deren Lehrplan die Regierung mitbestimmte, fest.164 Die Bezahlung von Unterrabbinern und Vorsängern („ministres officiants“) regelte die Ordonnanz vom 6.8.1831. Letztere sollten in den Genuss staatlicher Gehälter kommen, wenn sie ihr Amt für eine jüdische Bevölkerung von mindestens 200 Personen ausübten. Die Bezahlung fiel höher aus, wenn die Zahl der von ihnen betreuten Juden 600 bzw. 1000 überschritt und die Einwohnerschaft ihres Wohnortes mehr als 5000 Personen betrug. Mit dieser Regelung glaubte der Minister, die Lebensumstände der jüdischen Religions­ beamten – ein höheres Arbeitspensum in großen Glaubensgemeinschaften und höhere Lebenskosten in größeren Orten – angemessen berücksichtigt zu haben. Dass die Zahlung von Gehältern für die Angestellten kleinerer jüdischer Gemeinden abgelehnt wurde, hing mit der Meinung der Regierung zusammen, dass man die „multiplicité de petites synagogues régies par des communautés dénuées de ressources“165 nicht noch befördern solle. Das Bestreben, nur einen Teil der jüdischen Kultusbeamten staatlich zu entlohnen, hing mit der Gleichbehandlung der verschiedenen Konfessionen zusammen, da die Regierung die Ansicht vertrat, dass jedem Kult ungefähr dieselbe Summe pro Person zustehe.166 Die jährlichen Gesamtausgaben für den jüdischen Kultus beliefen sich nach Schätzung des Zentralkonsistoriums auf etwa 130.000 Francs, allerdings hielt es es für angebracht, lediglich eine staatliche Unterstützung von 85.000 Francs zu erbitten. Die Regierung bewilligte letztlich 60.000 Francs, was einer Unterstützung von etwa einem Franc pro jüdischem Einwohner gleichkam.

163 Vgl. Halphen, S. 88, 288 – 455. Vgl. Roos, juifs, S. 12 f., 30 – 32. Vgl. Szajkowski, French Jews, S. 1025 f. Vgl. Neher-Bernheim, documents, Bd. 2, S. 268 – 271. Zu Berr-Léon Fould vgl. Barbier, Fréderic: Les origines de la maison Fould. Berr-Léon et Bénédict Fould (vers 1740 – 1864), in: Revue historique, Bd. 281, 1989, S. 159 – 192. 164 Um als Rabbiner arbeiten zu dürfen, mussten die Schüler u. a. Wissen über die „décisions doctrinales“ des Sanhedrins und französische Sprachkenntnisse erwerben. Vgl. Halphen, S. 89 – 94, 100 – 103. Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 122 f. 165 Meyer, présentation, S. 20. 166 Vgl. Halphen, S. 389.

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Zwar fiel dieser Betrag bei den Katholiken mit etwa 1,5 Francs höher aus, aber bei den Protestanten handelte es sich nur um 60 Centimes.167 In ähnlicher Weise, wie die Forderung nach der Emanzipation der Juden in den deutschen Staaten 1848 Bestandteil der liberalen Bewegung war, so war das Verlangen nach einer Gleichstellung der Kulte in Frankreich 1830 Teil liberaler und republikanischer Ideen. Eine weitere Parallele der Julirevolution zu den Ereignissen in den deutschen Gebieten 1848 stellte die Beteiligung einzelner jüdischer Politiker an den Geschehnissen auf nationaler Bühne dar. Diese beschränkte sich allerdings auf Paris und einzelne andere Städte, während in der Provinz die meisten Juden passiv blieben. Zu Ausschreitungen gegen jüdische Einwohner kam es 1830 kaum.168 Dass sich die Gewährung staatlicher Zuschüsse stark auf die Wahrnehmung der jüdischen Minderheit durch die einfache christliche Bevölkerung auswirkte, zeigt die Aussage eines ostfranzösischen Präfekten aus dem Jahr 1843: „La véritable émancipation des Israélites ne date pas de la loi qui a proclamé leur égalité civile et politique avec les Chrétiens, mais de celle par laquelle l’Etat a reconnu leur culte et déclarée que ses ministres seraient salariés par la loi.“169 2.3.2.3 Der Wegfall der letzten Trennungen und organisatorische Veränderungen

Die Julimonarchie und das Zweite Empire stellten für die Juden Frankreichs die Zeit dar, in der die letzte eher symbolische individuelle Benachteilung – der Juden­ eid – abgeschafft wurde und die Kultusorganisation eine Reihe von Modifikationen erfuhr. In beiden Bereichen kamen die Anstöße zu Veränderungen von jüdischer Seite, während die Regierung sich eher passiv verhielt. Der einzige Bereich, in dem die Letztere selbst die Initiative ergriff, war die Frage der Behandlung der jüdischen Schulen, die im Kontext der allgemeinen Reformierung des Schulsystems stand.

167 Die Deputiertenkammer bewilligte aufgrund des Einsatzes von Adolphe Crémieux wieder­holt Erhöhungen des Budgets, sodass es bis 1845 auf 110.400 Francs anstieg. Vgl. Neher-Bernheim, documents, Bd. 2, S. 255 – 257, 273. Vgl. Roos, relations entre les juifs, S. 62. Vgl. Kaufmann, fight, S. 87. Vgl. Roos, juifs, S. 26 f., 34. 168 Lediglich im elsässischen Wintzenheim und in der Gegend um das lothringische Phalsbourg fühlten sich Juden bedroht, weswegen sie die Präfekten um Schutz baten. Die Anfeindungen, denen sich elsässische Juden 1832 ausgesetzt sahen, können als Spätfolge des Regimewechsels und der mit ihm einhergehenden Gleichheit der Kulte gelten. Vgl. Anchel, notes, S. 33. Vgl. Szajkowski, French Jews, S. 1018 – 1032. Vgl. Roos, juifs, S. 174 f., 228. Vgl. Gerson, S. 205 – 210. 169 Cohen, David: La promotion des juifs en France à l’époque du second empire (1852 – 1870), Aix-en-Provence 1980, 2 Bde., hier Bd. 1, S. 13.

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Stimmen gegen den „more judaico“ wurden vereinzelt bereits während der Restauration laut, aber erst 1827 gelang es dem jüdischen Anwalt und späteren Justizminister Adolphe Crémieux mit der Begründung, dass der Eid einen Angriff auf die Gleichheit darstelle, südfranzösische Gerichte zu seiner Abschaffung zu bewegen. Im Elsass und in Lothringen forderten die Gerichte aber weiterhin spezielle Eide von Juden ein und begründeten dies damit, dass die aschkenasischen Juden anders als ihre südfranzösischen Glaubensbrüder dem Talmud anhingen.170 In den Dreißigerjahren verweigerten mehrere Rabbiner die Abnahme des „more judaico“, da sie ihn nicht für verfassungskonform hielten, z. B. Lazare Isidor aus dem lothringischen Phalsbourg, der sich 1838 widersetzte, zwei jüdischen Frauen das Ablegen des Eides zu ermöglichen. Eine der beiden verklagte Isidor, da ihr wegen seines Verhaltens ein Geldbetrag nicht zurückgezahlt werden musste. Das Gericht übertrug dem „Conseil d’Etat“ die Entscheidung, da es den Rabbiner als Staats­beamten ansah. Auch das Metzer Konsistorium einschließlich des ­Rabbiners lehnte den Eid ab und wandte sich mit Unterstützung des Präfekten an den Justizminister, von dem es eine Abschaffung der Zeremonie forderte, da sie verfassungswidrig und erniedrigend für die jüdischen Bürger sei. Hinzu kam, dass die Metzer Gerichte den „more judaico“ nur selektiv einforderten, z. B. musste Jacob Rheims aus ­Boulay 1843 nur einen gewöhnlichen Eid ablegen.171 Zu einer gesetzlichen Änderung kam es trotz des jüdischen Einsatzes nicht. Der „conseil d’Etat“ lehnte 1845 eine Entscheidung über die Pflicht der Rabbiner zur Abnahme des „more judaico“ ab, da er sie nicht als „fonctionnaires publics“ einstufte und erklärte, dass die Frage vom „cour d’assises“ zu klären sei. Letzterer befand, dass kein Gericht einen „more judaico“ einfordern könne, da dies die Verfassung verletze. Die Abschaffung des „more judaico“ erfolgte somit nicht über den Gesetzgeber, sondern über die Auslegung der bestehenden Rechtslage.172

170 Vgl. Girard, S. 90 f. Vgl. Roos, juifs, S. 133 f., 146. Zu Crémieux vgl. Renauld, Georges: Adolphe Crémieux. Homme d’Etat français, juif et franc-maçon, le combat pour la République, Paris 2002. 171 Vgl. Consistoire israélite de Metz au ministre des la justice et des cultes, août 1843, in: ADM 17J46. Vgl. Consistoire israélite de Metz au consistoire central israélite, 25.10.1843, in: ACP Icc18. Vgl. Cahen, juifs lorrains, S. 106. Vgl. Job, Françoise: Les juifs de Nancy du XIIe au XXe siècle, Nancy 1991, S. 98. Vgl. Roos, juifs, S. 134 – 148. Vgl. Feuerwerker, émancipation, S. 614 – 618. Obwohl die Ablehnung des „more judaico“ für jüdische Gläubiger mit Geldverlusten einhergehen konnte, verweigerten zahlreiche von ihnen diese Form des Zeugnisablegens. Vgl. Albert, Phyllis Cohen: The Jewish Oath in Nineteenth Century France, Tel Aviv 1982, S. 28. 172 Vgl. Halphen, 328 – 331. Vgl. Roos, juifs, S. 149 – 152. Vgl. Feuerwerker, émancipation, S. 639 – 643. Vgl. Job, juifs de Nancy, S. 98.

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Die Verpflichtung der französischen Juden, die Schulden der jüdischen Gemeinden des Ancien Régime zu begleichen, wurde weder während der Restauration noch zur Zeit der Julimonarchie und des Zweiten Empires von der Regierung angezweifelt. Innerhalb der jüdischen Gemeinschaft gestaltete sich die Situation allerdings anders.173 Besonders laut wurde die Kritik an der Einnahme von Geldern zur Begleichung der Schulden im Jahr 1843, als Angehörige der jüdischen Elite von Paris, die sich an der Rückzahlung der Schulden der Metzer Gemeinde beteiligen sollten, alle außerhalb von Metz lebenden Juden aufforderten, keine Beiträge zu leisten. Zu den Verfassern des Rundschreibens gehörte u. a. Emile Fould, dessen Vater Abraham aus Boulay stammte und der zugleich ein Neffe von Berr Léon Fould war.174 Die Protestierenden begründeten ihre Ablehnung, an der Schuldentilgung mitzuwirken, damit, dass sie keinen direkten Bezug zur Metzer Gemeinde hatten und damit, dass das Sondergesetz, welches die Einnahme der Gelder befahl, im Widerspruch zur Charte stand: „Mais vouloir nous placer d’aujourd’hui sous une loi spéciale, […] qui donc, au milieu de vous, peut croire, que nous nous laisserions ainsi dépouiller des droits que nous donnent la Charte et les lois?“175 Zwar schlossen sich zahlreiche Juden dem Protest an, aber er lief ins Leere, da die bestehende Gesetzeslage nicht als Argument gegen die Begleichung der M ­ etzer Schulden anerkannt wurde. Die Juden, die sich dem Aufruf folgend geweigert ­hatten, ihren Anteil zu zahlen (u. a. mehrere Einwohner des in der Nähe von ­Grosbliederstroff gelegenen Dorfes Frauenberg), sahen sich 1853, als eine aktualisierte Verteilungsrolle erstellt wurde, mit noch höheren Beiträgen konfrontiert.176 Von der Entscheidung, dass alle von Mitgliedern der Metzer Judengemeinde des Ancien Régimes abstammenden Personen und die mit diesen Verheirateten zur Abtragung der Schulden beitragen mussten, waren zahlreiche auf dem Land lebende Juden betroffen. Unter ihnen befanden sich neben Nachkommen der jüdischen Dorf­bewohner der „généralité de Metz“ auch Kinder und Enkel der nach der Revolution aus Metz emigrierten Juden, z. B. in Boulay.177

173 Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 115 f. Vgl. Netter, Schuldennot, S. 69. 174 Berr Léon Fould hatte nie in Metz gelebt, aber wegen seiner Ehe mit der Tochter von Berr Isaac Berr, der selbst die Tochter eines jüdischen Metzer Bankiers geheiratet und zudem während des Ancien Régime ein Niederlassungsrecht für Metz erhalten hatte, wurde er als zahlungspflichtig eingestuft. Vgl. Szajkowski, autonomy, S. 680 f., 694 f. Vgl. Netter Schuldennot, S.  90 – 93, 129 – 131. Vgl. Barbier, S.  159 – 192. 175 Netter, Schuldennot, S. 131. 176 Vgl. Halphen, S. 340 – 380. Vgl. Roos, juifs, S. 243 f. Vgl. Netter, Schuldennot, S. 93 – 105. 177 Vgl. rôles généraux pour l’extinction des dettes de l’ancienne communauté de Metz, 1842 – 1844, in: ADM 17J57. Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 117 f. Vgl. Szajkowski, autonomy,

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Während der Julimonarchie kam es aufgrund von jüdischer Seite geäußerter Wünsche 1844 zu einer Modifizierung des Konsistorialsystems, allerdings entsprach diese in erster Linie den Vorstellungen des Zentralkonsistoriums. Als das Letztere 1839 einen Entwurf zur Reformierung der jüdischen Kultusorganisation an die ihr untergebenen Konsistorien sandte, löste es mit diesem eine Protestwelle im Nord­ osten des Landes aus. Die Pariser Behörde wollte den Laien die Kontrolle über das Rabbinat geben, die Kompetenzen der Konsistorien erweitern und die eigene Position stärken. Dass die Konsistorien ihnen unangenehme Rabbiner entlassen und die Zentralbehörde sogar kultische Änderungen gegen den Willen der Rabbiner vornehmen können sollte, stieß auf starken Widerstand in traditionell geprägten Milieus. Zu den Ersten, die sich öffentlichkeitswirksam gegen den Entwurf wandten, gehörten der Großrabbiner von Nancy und sein Metzer Kollege Lambert. Letzterer publizierte eine Streitschrift und sandte eine Petition, der sich zahlreiche jüdische Stadt- und Landbewohner (u. a. aus Grosbliederstroff) anschlossen, an den Kultusminister. Neben der Bereitschaft, die Autorität der Rabbiner zu verteidigen, und der Abneigung gegenüber religiösen Neuerungen stellte auch die Bestimmung des Personals der Konsistorien einen Kritikpunkt dar.178 Der breite Widerstand wurde von den Laien des Zentralkonsistoriums weitgehend ignoriert und auch Einwände der Départementskonsistorien wurden bei der Überarbeitung des Entwurfs kaum berücksichtigt, z. B. die Meinung der Konsistorien von Nancy und Metz, dass drei Rabbiner in der Pariser Zentralbehörde tätig sein sollten. Die französische Regierung holte im Verlauf ihrer Beratungen über den Entwurf zwar erneut Stellungnahmen von den Départementskonsistorien ein, da sie glaubte, dass ein modifiziertes System nur stabil sein könne, wenn es auf Zustimmung in den Provinzen bauen könne, aber die Kritik der ostfranzösischen Konsistorien – an der beabsichtigten Dominanz der Laien gegenüber den Rabbinern und der Zentralisierung der Kompetenzen in Paris – blieb weitgehend ohne Wirkung.179 Die durch die Ordonnanz vom 25.5.1844 verabschiedete Modifizierung der Kultusorganisation erhöhte den Einfluss der Laien in den Konsistorien, indem sie deren Zahl erhöhte. Der Einfluss der Zentralbehörde wuchs gegenüber den Départementskonsistorien, u. a., weil Letztere nur noch über Erstere mit der Regierung S. 717 – 727. Vgl. zur jüdischen Migration nach der Französischen Revolution auch K ­ apitel 3.1.1. 178 Auch die Juden Strasbourgs formulierten eine von 82 elsässischen Gemeinden unterstützte Beschwerdeschrift. Vgl. Albert, modernization, S. 62 – 72. Vgl. Roos, juifs, S. 40 – 43. Vgl. Girard, S.  181 – 184. 179 Die Konsistorien von Paris und Südfrankreich befürworteten den abschließenden Entwurf. Vgl. Albert, modernization, S. 70 – 77.

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Kontakt aufnehmen durften. Der einzige wesentliche Punkt, mit dem sich die Pariser Elite nicht hatte durchsetzen können und gegen den sich die vor allem von Landjuden getragene Protestwelle gerichtet hatte, betraf die Einführung religiöser Neuerungen: Für solche war weiterhin die Zustimmung des französischen Großrabbiners erforderlich. Die Beziehungen zwischen den einzelnen Gemeinden und den Départementskonsistorien änderten sich durch die Ordonnanz leicht, indem den Letzteren ausdrücklich das Recht zugesprochen wurde, Vorsänger zu entlassen, und Beschneider sowie Schächter von ihnen autorisiert werden mussten. Eine weitere Änderung stellte es dar, dass anstelle eines „commissaire surveillant“ eine „commission administrative“ die Aufgaben der Konsistorien vor Ort wahrnehmen konnte.180 Eine Bestimmung der Ordonnanz von 1844, die in einem gewissen Widerspruch zur verstärkten Zentralisierung der Kompetenzen stand, war die Erweiterung des Kreises der Notabeln, welche die Konsistorialmitglieder wählten. Für die Nota­ bilität war nicht mehr ausschließlich Besitz das ausschlaggebende Kriterium, sondern die Ausübung bestimmter Ämter, z. B. als Gemeinderat, Rabbiner, Offizier oder Verwaltungsbeamter. Dass diese Veränderung der Entwicklung im allgemeinen politischen Bereich und der dortigen Vergrößerung des Elektorats Rechnung trug, zeigt sich daran, dass alle Juden „inscrits sur la liste électorale“ ebenfalls als wahlberechtigte Notabeln galten.181 Dass 1848 allen volljährigen Juden das Recht zugesprochen wurde, sich an den Wahlen zu den Konsistorien zu beteiligen, lässt sich ebenfalls vor dem Hintergrund der allgemeinen politischen Lage erklären. Während der Märzrevolution wurde das allgemeine Wahlrecht eingeführt, und da nach der Ordonnanz von 1844 alle in den Wählerlisten aufgeführten Juden als Notabeln anzusehen waren, erhielten alle jüdischen Männer die Möglichkeit, an den Konsistorialwahlen teilzunehmen.182

180 Vgl. Halphen, S. 119 – 137. Vgl. Urbah, S. 104 f. Vgl. Neher-Bernheim, documents, Bd. 2, S. 262 f. Vgl. Albert, modernization, S. 76. 181 Vgl. Halphen, S. 125, 134 f. Vgl. Roos, juifs, S. 13 – 21. 182 Vgl. Halphen, S. 151 – 159. Vgl. Uhry, Isaac: Recueil des lois, ordonnances, avis du conseil d’Etat, arrêtés, règlements et circulaires concernant les israélites depuis 1850, Bordeaux 1887, S. 5 f. Vgl. Albert, modernization, S. 77 – 81. Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 124 f. Vgl. Girard, S.  185 – 187.

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MEUS E

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MOS

ELLE E

MEURTH

VOSGES

Lothringen in Frankreich zur Mitte des 19. Jahrhunderts

Die Spannungen innerhalb des französischen Judentums schwanden während des Zweiten Empires nicht, u. a. da das Zentralkonsistorium seine Kompetenzen ausweiten wollte, während die Départementskonsistorien dies zu verhindern suchten und Ersteres eine stärkere Abneigung gegenüber dem allgemeinen Wahlrecht zeigte als die Letzteren. Das Ergebnis der Diskussionen, in denen sich anders als in den Vierzigerjahren kaum einzelne Juden über Petitionen zu Wort meldeten, war das Dekret vom 29.8.1862, welches den Einfluss des Zentralkonsistoriums weiter verstärkte, u. a., indem es ihm die Ernennung der Großrabbiner übertrug. Darüber hinaus setzte die Bestimmung dem allgemeinen Wahlrecht zu den Konsistorien ein Ende, indem es diejenigen, die nicht zu den Kultusausgaben beitrugen, von der Wahl ausschloss. Der u. a. vom Metzer Konsistorium geäußerte Wunsch, ggf. Sanktionen gegen zahlungsunwillige Gläubige ergreifen zu dürfen, erfüllte sich allerdings nicht.183

183 Vgl. Albert, modernization, S. 81 – 93. Vgl. Neher-Bernheim, documents, Bd. 2, S. 257. Vgl Uhry, S. 44 – 47.

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Anders als in Preußen war das jüdische Schulwesen in Frankreich nicht Teil einer umfassenderen Gesetzgebung gegenüber der jüdischen Minderheit, wie z. B. im Gesetz vom 1847. Während der Restaurationszeit befasste sich die Politik allgemein kaum mit dem Schulwesen, und es wurde lediglich bestimmt, dass die (kaum praktizierte) Schulaufsicht der jüdischen Schulen unter den gleichen Bedingungen wie bei protestantischen Lehreinrichtungen ablaufen sollte. Erst unter der Juli­monarchie begann sich die Regierung intensiver mit dem jüdischen Elementarschulwesen zu befassen, allerdings geschah dies stets in Zusammenhang mit allgemeinen Bemühungen um die Verbesserung des Schulsystems. Das 1833 erlassene „Loi Guizot“ verpflichtete alle Kommunen, Elementarschulen zu unterhalten, und erlegte ihnen auf, für die Gehälter sowie die Unterkunft der Lehrer und die Gebäude der Kommunalschulen aufzukommen. Abhängig von den lokalen Gegebenheiten und nach Anhörung des Gemeinderats konnten konfessionelle Schulen zu „écoles communales“ erklärt werden, sofern sie einem staatlich anerkannten Kult angehörten. Privatschulen wurden nicht verboten, aber von ihren Lehrer verlangt, dass sie ihre Fähigkeit belegen könnten. Der Religionsunterricht wurde den Kultusbeamten der verschiedenen Religionen anheimgestellt. 184 Dass dem neuen Regime an der Förderung jüdischer Schulen gelegen war, zeigt u. a. eine Anordnung von 1832, welche die Einrichtung von Komitees vorsah, welche die bestehenden jüdischen Schulen überwachen bzw. zur Einrichtung von neuen Anstalten ermuntern sollten. Die Aufgabe der Komitees bestand darin, die jü­dischen Schulen zu inspizieren und Berichte über deren Zustand an die allgemeine Schulverwaltung weiterzuleiten. Die Bestimmung hatte u. a. das Ziel, jüdische und christliche Schulen ähnlich zu behandeln, denn auch die Tätigkeit der Letzteren wurde kontrolliert.185 Mit dem 1850 verabschiedeten, das französische Schulsystem modifizierenden „Loi Falloux“ ging eine Neubewertung des Status konfessioneller – und damit auch jüdischer – Schulen einher. Es schrieb den Zivilgemeinden, in denen verschiedene staatlich anerkannte Kulte öffentlich ausgeübt wurden, vor, ggf. separate öffent­ liche Schulen für die Kinder der verschiedenen Glaubensrichtungen einzurichten. Hinsichtlich der Finanzierung der Schulen wurde es den Kommunen freigestellt, weiterhin Schulgeld von den Eltern zu erheben oder die Kosten ganz oder teilweise auf den Gemeindeetat zu übernehmen.186 184 Vgl. Franz, Tätigkeitsfelder, S. 290 f. Vgl. Roos, juifs, S. 17 f. Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 127. Vgl. Hyman, Paula E.: The Jews of modern France, Berkeley 1998, S. 68 f. Vgl. Roos, relations entre les juifs, S. 26. 185 Vgl. Halphen, S. 88, 94 – 96, 105 – 107. Vgl. Roos, juifs, S. 17, 283 – 285. 186 Vgl. Inspecteur de l’instruction primaire de Metz, 22.6.1854, maire de Boulay au préfet de Metz, 10.8.1861, in: ADM 1T23. Vgl. Albert, modernization, S. 129 f. Vgl. Lang/Rosenfeld,

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2.3.3 Zwischen Holländern, Deutschen und Franzosen: der luxemburgische Fall

Infolge des Pariser Friedens wurde Luxemburg 1815 formell souverän, aber da es Privatbesitz des niederländischen Königs war – dieser also luxemburgischer Großherzog – wurde es juristisch wie eine niederländische Provinz behandelt. Hinsichtlich der Politik gegenüber den Juden ist zu bemerken, dass sie sich grundsätzlich nicht von der gegenüber anderen Minderheiten unterschied. Dies hing damit zusammen, dass im Norden des Landes, wo die Entscheidungen getroffen wurden, das Bestehen von religiösem Pluralismus bereits vor der Herrschaft der Franzosen akzeptiert worden war und die Juden nur eine von vielen Minderheiten darstellten. Als der protestantische König-Großherzog 1815 ein Komitee für die Ausarbeitung einer Verfassung für die mehrheitlich katholischen „Vereinigten Niederlande“ einsetzte, gehörten diesem jeweils zwölf Katholiken und Protestanten sowie ein jüdischer Schriftführer an. An der rechtlichen Lage der einzelnen Juden in Luxemburg änderte sich nichts: Die niederländische Verfassung garantierte freie Religionsausübung und das „décret infâme“ blieb wie in Frankreich bis 1818 in Kraft, ehe es ohne größere Diskussionen auslief. Das Kultussystem wurde einer Neuorganisation unterworfen, die sich allerdings weiterhin an das französische Modell anlehnte.187 Nach der Neuziehung der Grenzen durch den Zweiten Pariser Frieden bat die Spitze der jüdischen Gemeinde Luxemburgs darum, die Juden des Großherzogtums dem Trierer Konsistorium unterstellt zu lassen, vor allem wegen der geringen Entfernung zu diesem.188 Der Gouverneur lehnte dies allerdings ab, da es nicht erlaubt werden könne, „que la synagogue de Luxembourg reconnaisse une autorité établie hors de Royaume des Pays-Bas“.189 Im Sommer des Jahres 1816 wurde mit dem „Algemeen Reglement op het Kerkbestuur der Israelitsche Synagogale Ringen of Kerkgangen binnen in het Koningrijk Nederlanden“ die in den Niederlanden

S. 127. Dass die jüdischen und evangelischen Schulen profitieren sollten, zeigt sich daran, dass die Bestimmung die Schaffung eines „conseil national de l’enseignement“ vorsah, in dem neben dem Kultusminister auch drei Erzbischöfe, ein evangelischer Pastor und ein Rabbiner vertreten sein sollten. 187 Vgl. Kasper-Holtkotte, Westen, S. 36. Vgl. Daalder, S. 42 – 51. Vgl. von der Dunk, ­Hermann: Antisemitismus zur Zeit der Reichsgründung. Unterschiede und Gemeinsamkeiten: Ein Inventar, in: Alter/Bärsch/Berghoff, S. 87 – 90. Vgl. Paret, Martine/Wynants, Paul: ­Autres cultes (1598 – 1985), Bd. 2: Deutschland – Nederlands Limburg, Namur 1991, S. 231 f. Vgl. Goedert, S. 353. Vgl. Erbe, S. 201 – 203. Vgl. Roos, relations entre les juifs, S. 39. 188 Vgl. Gouverneur au commissaire général de Son Majesté, 2.10.1815, in: ANL C654. 189 Ebd.

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bereits 1814 eingeführte jüdische Kultusorganisation auf die südlichen Provinzen, u. a. Luxemburg, ausgedehnt. Vervollständigt wurde sie durch ein Reglement vom 20.9.1821, das u. a. die Bestimmung des jüdischen Verwaltungspersonals präzisierte. Die luxemburgischen Juden wurden wie ihre Glaubensgenossen in den anderen dem niederländischen König unterstellten Territorien in einer „Synagogue ­paroissiale“ – einer sogenannten „Ringsynagoge“ – zusammengefasst, die einer Haupt­synagoge samt dem dazugehörigen Rabbiner unterstellt war. Im Fall von Luxemburg handelte es sich um diejenige von Maastricht, die auch für Liège und Limbourg zuständig war. Die Hauptsynagoge selbst unterstand der „Hoffdcommissie tot de zaken der Israeliten“, welche die zentrale Verwaltungsstelle innerhalb der Orga­nisation darstellte und ihren Sitz in Den Haag hatte.190 Die Aufgaben der Hauptkommission bestanden darin, dem zuständigen Ministerium über den Zustand der jüdischen Kultusgemeinschaft zu berichten, es zu beraten und ggf. Vorschläge zur Beförderung der jüdischen Angelegenheiten zu machen. Sie war befugt, mit allen Haupt- und Ringsynagogen zu kommunizieren, sollte ggf. Konflikte in einzelnen Gemeinden beilegen und zudem dafür sorgen, dass Anordnungen der Regierung befolgt würden. Die letztere Aufgabe gehörte auch zu den Funktionen der Hauptsynagogen, welche die Umsetzung der bestehenden gesetzlichen Vorschriften und Reglemente zu überwachen hatten und Zuwiderhandlungen anzeigen sollten. Der Hauptsynagoge oblag es, aus dem Kreis der Höchstbesteuerten Kandidaten für die Verwaltung der Ringsynagogen vorzuschlagen, aber auch die betroffenen Glaubensgemeinschaften durften Wunschkandidaten benennen. Auf die Empfehlung der Hauptkommission hin wurden dann zwei der Anwärter vom Minister zu „administrateurs“ ernannt, während ein Dritter als Ersatzmann fungierte. Sie sollten u. a. die Abhaltung der Gottesdienste gewährleisten, sich um die Gemeindeinstitutionen kümmern und die Gelder für die Unterhaltung des Kultus einnehmen, worüber sie gegenüber der Hauptsynagoge Rechenschaft abzulegen hatten. Die Zahlung der Kultusbeiträge, mit denen u. a. die Kosten für die den jüdischen Gemeinden übergeordneten Institutionen gedeckt wurden, war für alle Juden verpflichtend. Staatliche Zuschüsse zur Unterhaltung

190 Vgl. Algemeen Reglement op het Kerkbestuur der Israelitsche Synagogale Ringen of Kerkgangen binnen in het Koningrijk Nederlanden, 1816, Verdeeling van de Resorten der Israelitsche Hoofdsynagogen in´t Koningrijk der Nederlanden in Synagogale Ringen of Kerkgangen, 1816, Organisitie van dit israelitisch Kerkgenootschap, 6.7.1818, in: ANL C654. Vgl. Paret/Wynants, S. 231 f. Vgl. Kasper-Holtkotte, Westen, S. 387 f. Vgl. De Leeuw, K.: De Totstandkoming van de Commissie tot Zaken der Israeliten (1813 – 1817), in: Studia Rosenthaliana, Jg. 22, 1988, S. 23 – 43. Vgl. Wallet, Bart: Nieuwe Nederlanders. De integratie van de joden in Nederland 1814 – 1851, Amsterdam 2007, S. 63 – 80, 118 – 145. Vgl. Roos, relations entre les juifs, S. 39 f.

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des jüdischen Kultus wurden trotz der zugesicherten Rechtsgleichheit der verschiedenen Konfessionen abgelehnt.191 Das Reglement von 1816 schuf in den ehemals unter französischer Herrschaft stehenden Gebieten der Niederlande eine neue gesetzliche Grundlage für den jüdischen Kultus. Anders als das französische Konsistorialsystem von 1808 berücksichtigte es die einzelnen jüdischen Gemeinden, auch wenn es diesen kaum Mitspracherechte einräumte. Praktische Fragen, die sich den jüdischen Gemeinden stellten, wurden häufig in Form von allgemeinen Vorschriften geregelt, z. B. dass aus Kostengründen die Ämter des Vorsängers und Küsters am besten in Personalunion ausgeübt werden sollten oder dass nur arbeitsunfähige Arme ohne Verwandte, die sie unterstützen könnten, von der jüdischen Gemeinde Almosen erhalten sollten. Ein Unterschied zu den französischen Konsistorien bestand darin, dass die jüdischen Behörden nicht explizit der „Verbesserung“ der Juden dienen sollten. Dass dieser Gedanke den niederländischen Behörden nicht fremd war, zeigen allerdings Anordnungen betreffend die jüdischen Schulen. 1817 befahl der König, die bishe­ rigen jüdischen Lehreinrichtungen zu schließen und an deren Stelle neue Religions­ schulen zu eröffnen, die vor allem den Unterricht der Kinder armer Eltern gewährleisten sollten und in denen der Gebrauch des – auch von der jüdischen Elite als negativ betrachteten – Jiddischen zugunsten von Niederländisch und Hebräisch unterbunden werden sollte. Von den jüdischen Lehrern wurde ab 1825 gefordert, ihre Qualifikationen nachzuweisen.192 Das faktische Ende der niederländischen Herrschaft über die südlichen Provinzen infolge der Revolution von 1830 brachte für die luxemburgischen Juden anders als für die belgischen Glaubensbrüder, deren Kultus ab 1832 vom Staat unterstützt wurde, zunächst keine gesetzlichen Änderungen. Als 1838 die Schaffung einer separaten luxemburgischen Verwaltung auf dem Weg war, entschied der König-Großherzog lediglich, dass die bisherigen Bestimmungen zum jüdischen ­Kultus grundsätzlich beibehalten werden sollten, nur oblag es wegen der Abtrennung

191 Vgl. Algemeen Reglement op het Kerkbestuur der Israelitsche Synagogale Ringen of ­Kerkgangen binnen in het Koningrijk Nederlanden, 1816, in: ANL C654. Vgl. Regierungsrat von Luxemburg an den Bürgermeister und die Schöffen von Luxemburg, 14.9.1840 sowie Auszüge aus dem Reglement von 1821, in: ANL H78. Vgl. Kasper-Holtkotte, ­Westen, S. 387. 192 Vgl. Algemeen Reglement op het Kerkbestuur der Israelitsche Synagogale Ringen of ­Kerkgangen binnen in het Koningrijk Nederlanden, 1816, Arrêt du roi grand-duc, 10.5.1817, Reglement op het examen en de toelating der Israelitsche Godgeleerde onderwyzers of der Leeraars en oefenaars bij de Israelitische Seminarien, Congregatien en Pieuse Gestichten, 13.10.1825, in: ANL C654. Vgl. Kasper-Holtkotte, Westen, S. 392 – 395. Vgl. Daalder, S. 44 f. Vgl. Wallet, Nederlanders, S. 97, 137 f.

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von Maastricht nun alleine der jüdischen Gemeinde von Luxemburg – genauer gesagt ihrer Elite –, neun Kandidaten für die Besetzung der drei Verwaltungs­stellen vorzuschlagen. Aus diesen wählte die luxemburgische Regierung diejenigen aus, die sie schließlich ernannte.193 Anders als in Frankreich kam es in Luxemburg nicht zu einem allgemeinen Gesetz, das festlegte, dass der jüdische Kultus gleich dem katholischen vom Staat unterstützt werden müsse. Vielmehr führte die Einforderung der Gleichbehandlung der Kulte von jüdischer Seite zur punktuellen finanziellen Involvierung des Staates. Im Jahr 1841 wandte sich die Spitze der jüdischen Gemeinde zum ersten Mal mit der Bitte um ein Subsidium zur Unterhaltung des jüdischen Kultus an den Großherzog, u. a., weil die Abzahlung der Kosten des Synagogenbaus schwierig war. Untermauert wurde das Gesuch mit der Anspielung auf einen Zuschuss, den der Großherzog in seiner Funktion als niederländischer König zum Bau der Synagoge von Maastricht bewilligt hatte. Der Antrag erwies sich als erfolgreich, auch wenn die einmalig gewährte Summe deutlich niedriger als erhofft war.194 Der Erfolg des ersten Gesuchs ermutigte die Verwaltung der Judengemeinde, sich Ende 1841 nochmals an den König-Großherzog zu wenden und ihn um ein jährliches Subsidium in Höhe von 1500 Gulden zu bitten. Der größte Teil – 1000 Gulden – sollte für das Gehalt eines neu anzustellenden Rabbiners genutzt werden.195 Aufgrund der staatlichen Unabhängigkeit Luxemburgs bestand für die jüdische Gemeinschaft die Notwendigkeit, ein eigenes religiöses Oberhaupt anzustellen, da sie aufhörte, einen Teil der jüdisch-niederländischen Kultusorganisation zu bilden: „un chef spirituel pour notre communauté, chef indépendant des autres communautés Israélites, est pour nous un besoin aussi impérieux aussi indispensable, que l’a été aux yeux de Votre Majesté celui d’un chef spirituelle pour le culte catholique de notre patrie commune.“196 In ihrer Argumentation betonten die Antragsteller die Gleichheit der jüdischen und christlichen Bürger: „Les cultes Chrétiens ont des

193 Vgl. Regierungsrat an Bürgermeister und Schöffen der Stadt Luxemburg, 14.9.1840, in: ANL H78. Vgl. Goedert, S. 358 f. Vgl. Lehrmann, S. 54 f. Vgl. Kasper-Holtkotte, Westen, S.  37 – 39. 194 Vgl. Requête de la communauté israélite du Grand-duché de Luxembourg au Roi GrandDuc., 9.2.1841, in: ANL F225. Vgl. Etat des recettes et des dépenses de la communauté Israélite de Luxembourg des années, 1839, 1840 et 1841, in: ANL F68. Vgl. Calmes/Bossaert, S.  242 – 250. 195 Vgl. Chancelier d’Etat Blochhausen au Roi Grand-Duc, 21.9.1842, in: ANL F68. Vgl. Calmes/Bossaert, S.  242 – 250. 196 Administrateurs de la communauté israélite du Grand-duché de Luxembourg au Roi Grand-Duc, 15.11.1841, in: F68. Vgl. auch Krier, S. 122 f. Vgl. Goedert, S. 362. Vgl. Erbe, S.  266 – 269.

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ministres réligieux […]. Les avantages […] sont assurés [aux citoyens chrétiens] par une allocation permanente au budget de l’Etat […]. Comme eux, Sire, vos sujets israélites […] remplissent conscieusement, sous tous les rapports les obligations auxquelles sont soumis les membres de la société civile de Luxembourg; cependant, ils […] n’ont point de ministre pour présenter leurs enfants au ­Seigneur, pour sanctifier l’union des époux, […], pour rendre à la terre les d ­ épouilles mortelles de leurs pères. Ne peuvent ils pas révendiquer aussi les droits dont jouissent tous les autres citoyens? Ne peuvent-ils pas espérer que l’Etat leur fixera au budget une allocation proportionée à leurs besoins?“197 Die Vertreter der jüdischen Gemeinde betrachteten sich als gleichberechtigte Bürger, die einforderten, was ihnen zustand: eine zumindest teilweise Übernahme ihrer Kultuskosten durch den Staat, da die jüdischen Einwohner ihre bürgerlichen Pflichten ebenso erfüllten wie ihre christlichen Landsleute, deren Religionsausübung unterstützt wurde. Die Gleich­stellung des jüdischen und des christlichen Kultus war nach Meinung der jüdischen Gemeindespitze nicht von der individuellen Emanzipation der Juden zu trennen, sondern eine logische Folge von ihr. Zunächst wurde das Gesuch vom Regierungsrat abgelehnt, da er es als unverhältnismäßig angesichts der Zahl der jüdischen Einwohner ansah.198 Dass tatsächlich die geringe Größe der Religionsgemeinschaft – und nicht unbedingt die Tatsache, dass es sich um Juden handelte – für die Entscheidung ausschlaggebend war, wird deutlich, wenn man das Verhalten der luxemburgischen Behörden gegenüber der ebenfalls nur kleinen Gemeinschaft der Protestanten zur gleichen Zeit betrachtet. Deren Bitte um Errichtung einer eigenen Gemeinde wurde von der Stadt ­Luxemburg mit der Begründung abgelehnt, dass ihre Zahl zu gering sei und sie dem Gottesdienst in der (protestantischen) Kirche der Garnison folgen könnten.199 Da der Antrag der jüdischen Gemeindeführung nicht grundsätzlich als unbegründet eingestuft wurde und diese zudem erfuhr, dass Wilhelm I. und II. den Bau der Synagoge von Maastricht finanziell unterstützt hatten, wandte sie sich im Juni 1842 erneut an die luxemburgische Verwaltung.200 Die Gemeindevertreter räumten ein, dass die Zahl der Bekenner des jüdischen Glaubens klein sei, und daher eine

197 Administrateurs de la communauté israélite du Grand-duché de Luxembourg au Roi Grand-Duc. 15.11.1841, in: ANL F 68. 198 Vgl. Chancelier d’Etat Blochhausen au Roi Grand-Duc, 21.9.1842, in: ANL F68. 199 Bourgmestre et échevins de la ville de Luxembourg au gouverneur du Grand-Duché, 2.4.1842, in: ANL F 68. 200 Vgl. Président du conseil d’administrative de la synagogue supérieure de Maestricht au membre du conseil d’administrative de la synagogue israélite à Luxembourg J. Souveine, 11.5.1842, in: ANL F 68. Vgl. auch den Bericht über die Einweihung der Maastrichter Synagoge, in: AZJ, Nr. 14, 3.4.1841, S. 189 – 192.

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Bezuschussung dieses Kultus durch den Staat – pro Kopf – höher ausfallen würde als bei den Katholiken. Allerdings betonten sie, dass die jüdischen Einwohner auch im Fall der Gewährung eines Subsidiums weiterhin beachtliche Lasten auf sich nehmen müssten. Zudem verwiesen sie erneut auf die Bezuschussung des jüdischen Gebetshauses von Maastricht durch den Staat sowie die dortige Stadt und die Bezahlung der jüdischen Gemeindebediensteten in Frankreich.201 Der Staatskanzler kam nach einer genaueren Betrachtung der Angelegenheit zu dem Schluss, dass nach der Verfassung alle Luxemburger ohne Unterschied des Glaubensbekenntnisses gleich vor dem Gesetz seien, und daher „la communauté israélite a droit à un traitement fixe pour un Rabbin“.202 Eine Ablehnung des jüdischen Gesuchs hätte seiner Meinung nach bedeutet, die jüdische Gemeinschaft in einem „état d’inferiorité“203 zu halten. Zwar hatte Blochhausen Verständnis für den Wunsch der Behörden, die finanziellen Ressourcen zu schonen, aber seiner Ansicht nach ging es hier um ein Prinzip, dem sich die Verwaltung beugen musste. Hinzu kam, dass er der Meinung war, es sei ungerecht, wenn die Juden alle öffentlichen Lasten mittrugen, der Staat aber nur Ausgaben zugunsten des katholischen Kultus vornehme. Entgegen dem Staatskanzler, der einen regelmäßigen Zuschuss von 1000 Gulden für angemessen hielt, befürwortete der Staatsrat lediglich einen Betrag von 400 Gulden. Wilhelm II. entschied schließlich, ab 1843 ein jährliches Subsidium von 600 Gulden zu gewähren, das für die Bezahlung eines Rabbiners verwendet werden sollte.204 Eine Frage der individuellen Gleichberechtigung, die in Luxemburg nur durch die Anwesenheit des preußischen Militärs in der Hauptstadt aufgeworfen wurde, war die des „more judaico“.205 Im Jahr 1845 sollte ein jüdisches Mitglied des Infanterie­ regiments als Zeuge in einem Prozess auftreten, und da nach preußischem Recht ein jüdischer Gelehrter einer solchen Vernehmung beiwohnen musste, wurde angefragt, ob der luxemburgische Oberrabbiner diese Aufgabe übernehmen könne. Der aus 201 Vgl. Administrateurs de la communauté israélite au Bougmestre et échevins de la ville de Luxembourg, 28.6.1842, in: ANL F 68. 202 Chancelier d‘Etat Blochhausen au gouverneur de Luxembourg, 4.8.1842, in: ANL F 68. Zu Blochhausen vgl. Calmes/Brossaert, S. 72 f. 203 Chancelier d‘Etat Blochhausen au gouverneur de Luxembourg, 4.8.1842, in: ANL F 68. 204 Ebd. Vgl. Chancelier d’Etat Blochhausen au Roi-Grand Duc, 21.2.1843, 21.3.1843, in: ANL F 68. Zunächst sollte das Geld auch der Ausbildung der Jugend zugutekommen, aber dies wurde 1843 revidiert. Der bereits erwähnte Zuschuss von 300 Gulden lief zum Ende des Jahres 1842 aus. Vgl. Chancelier d’Etat an Gouverneur du Grand-Duché, 26.9.1842, in: ANL F 68. Zur Bezahlung des Rabbiners vgl. Kapitel 4.3.3. 205 Vgl. Goedert, S. 368. Für das Großherzogtum selbst war die Form des Eides bereits über die niederländische Gesetzgebung geregelt worden, welche ab 1818 von der Leistung spezifischer Formalitäten absah. Vgl. Roos, relations entre les juifs, S. 40.

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der Rheinprovinz stammende Hirsch weigerte sich jedoch, da er es als „Kränkung für das ganze Judenthum [betrachte], daß die Eide der Juden noch an dergleichen Förmlichkeiten gebunden seien“.206 Der preußische Kommandant versicherte darauf­hin dem luxemburgischen Gouverneur, dass in Preußen die Rabbiner den Eid billigten und Hirschs Reaktion unverhältnismäßig sei, da auch bei den Eiden von Christen häufig Geistliche hinzugezogen würden. Der Oberrabbiner erwiderte, dass er seine Handlungsweise nicht zu rechtfertigen brauche, nicht in einem Land, „dessen erster Grundsatz ist: Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetze“.207 Er widersprach der Aussage des Kommandanten, dass Christen beim Ablegen von Eiden ähnlichen Förmlichkeiten unterworfen seien – u. a. wies er darauf hin, dass bei innerjüdischen Prozessen nur eine reduzierte Form des Eides verlangt werde, da man davon ausgehe, dass die Juden ehrlich gegeneinander seien – und nutzte die Gelegenheit, die preußische Gesetzeslage zu kritisieren. Um Gedanken über einen jüdischen Eid im Großherzogtum erst gar nicht aufkommen zu lassen, fragte er, „ob hier in Luxemburg, wo bei einer Eidesabnahme weder Rabbiner […] noch die vielfachen besondern Förmlichkeiten erfordert werden, die Juden deshalb leichtsinniger schwören, und ihrem Eide weniger zu trauen ist?“208 Abschließend äußerte er in Richtung Preußen die Hoffnung, dass es „sich veranlaßt sehe, auch in Betreff der Juden die Bahn einzuschlagen, die zivilisirte Staaten, wie Frankreich, Belgien, Holland, Luxemburg, Hessen und andere unbeschadet ihres Christenthums und ohne später Reue darüber zu empfinden, längst eingeschlagen“.209 Die jüdische Gemeindeführung versuchte Anfang der Vierzigerjahre, die Regierung zu einer Änderung der Verwaltungsstruktur der jüdischen Gemeinschaft zu bewegen. Die 1842 geäußerte Bitte, die Zahl der jüdischen Verwalter zu vergrößern, wurzelte in der Schwierigkeit der amtierenden Mitglieder, sich regelmäßig zu treffen, da sie aufgrund ihrer Geschäfte häufig nicht in der Stadt anwesend waren. Die Regierung lehnte das Ansinnen mit der Begründung ab, dass dies nicht dem geltenden Reglement entspräche; eine Änderung der Vorschriften zog sie nicht in Betracht.210 1849 schlug die jüdische Gemeindeführung erneut vor, die Zahl ihrer Mitglieder auf fünf Personen zu erhöhen, was neben dem bisherigen Problem auch mit der Anwesenheit des Rabbiners zusammenhing: Eine höhere Anzahl 206 Commandant der preußischen Garnison in Luxemburg an den luxemburgischen Gouverneur, 23.6.1845, in: ANL G128. 207 Oberrabbiner Hirsch an den Gouverneur von Luxemburg, 4.7.1845, in: ANL G128. 208 Ebd. 209 Ebd. 210 Vgl. Pinhas Godchaux au Bourgmestre et echevins de la ville de Luxembourg, 8.3.1842, Conseil de Gouvernement au Bourgmestre et échevins de la ville de Luxembourg, 25.3.1842, in: ANL E55.

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von Laien sollte ein Gegengewicht zu diesem ermöglichen, mit dem vor allem das langjährige Oberhaupt der jüdischen Gemeinschaft Pinhas Godchaux zerstritten war. Die Regierung lehnte die Idee zwar ab, stimmte aber letztlich einem Kompromissvorschlag der jüdischen Verwaltung zu: Am 4.5.1849 erließ sie eine Anordnung, nach der neben den drei bisherigen Verwaltungspersonen noch zwei Ersatzleute ernannt werden sollten.211 Die Verfassung von 1848 garantierte nicht nur die Religionsfreiheit, sondern sie legte auch fest, dass die Gehälter der Kultusdiener zulasten des Staates und durch Gesetze geordnet würden. Somit bestätigte die Konstitution die staatliche Bezahlung des Rabbiners.212 Dass keine Unterschiede zwischen den verschiedenen Religionen gemacht wurden, sah das „Luxemburger Wort“, ein von großen Teilen der katholischen Bevölkerung gelesenes Organ, welches die infrage gestellte ideologische Vormachtstellung der katholischen Kirche zu befestigen suchte, kritisch. Es bezeichnete die Gleichberechtigung der Kulte als das „größte Uebel unserer Verfassung so wie überhaupt des modernen Staatssystems“.213 Neben der Gleichheit der Kulte schrieb die Verfassung vor, dass niemand gezwungen werden könne, an bestimmten Handlungen und Feierlichkeiten eines Kultus teilzunehmen. Dies stellte für die mit der Einziehung der Kultusbeiträge betraute Verwaltung der jüdischen Gemeinde Luxemburgs ein Problem dar, da der Parochialzwang entfiel: Es galten nicht mehr automatisch alle im Großherzogtum lebenden Juden als Angehörige der jüdischen Gemeinschaft, weswegen diese auch nicht mehr zur Bezahlung der Kultuskosten gezwungen werden konnten. Statt­dessen sah sich die Gemeindeführung angehalten, nachzuweisen, dass die betreffenden Personen nicht nur auf dem Papier der jüdischen Religion anhingen, und zog daher in Betracht, jedes jüdische Familienoberhaupt eine Erklärung über seinen Glauben abgeben zu lassen.214 Um die häufig auf dem Land (u. a. in Ettelbrück) lebenden 211 Vgl. Oberrabbiner Samuel Hirsch an die großherzogliche Regierung bzw. den General­ administrator der Kulte, 14.7.1848, 21.8.1848, Godchaux président de l’administration de la communauté israélite au Bourgmestre et échevins de la ville de Luxembourg, 8.9.1848, Administrateur général au Bourgmestre et échevins de la ville de Luxembourg, 21.2.1849, conseil d’administrative de la communauté israélite de Luxembourg, 10.4.1849, in: ANL H78. Vgl. Goedert, S. 376 f. 212 Vgl. Rauch, A. (Hg.): Parlamentarisches Taschenbuch. Enthaltend die Verfassungen von Nordamerika, Norwegen, Neapel, Toscana, Sardinien, Rom, Oesterreich, Belgien, der Schweiz, England und den Entwurf einer deutschen Reichsverfassung, Erlangen 1848, S. 79, 96. 213 Luxemburger Wort, Nr. 142, 1855, S. 1. 214 Vgl. Conseil d’Administration de la communauté israélite de Luxembourg au B ­ ourgmestre et échevins de la ville de Luxembourg, 22.4.1851, in: ANL G128. Vgl. zur Verfassung ­Calmes/Brossaert, S. 92 f., 252 f.

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Zahlungsrückständigen zur Leistung der Beiträge zu bewegen, erstellte die jüdische Gemeindeführung 1851 ein Reglement, das festlegte, dass Personen, die ihren Beitrag unentschuldigt verweigerten oder einen unautorisierten „Minyan“ – eine eigene Gebetsversammlung – gründeten, aus der jüdischen Gemeinde ausscheiden sollten. Dieser Vorgang sollte einen völligen Ausschluss vom religiösen Leben zur Folge haben: Die Betroffenen sollten die Dienste Gemeindeangestellter nicht mehr in Anspruch nehmen können, keinen Platz in der Synagoge mieten können sowie zu keiner Funktion in der Synagoge zugelassen werden. Darüber hinaus durften ihre Kinder keinen Religionsunterricht mehr erhalten und sie selbst im Todesfall nicht mehr auf dem jüdischen Friedhof begraben werden. Obwohl die luxemburgischen Behörden einige Bedenken gegenüber dem letzten Punkt hegten, genehmigten sie das Reglement Mitte 1852. Dies ist bemerkenswert, weil der „cour de cassation“ bereits im März des Jahres entschieden hatte, dass die Religionsfreiheit der Verfassung kein ausreichendes Argument darstelle, die Zahlung von Beiträgen zur Unterhaltung des Kultus zu verweigern. Dieses Urteil wurde auf einen Antrag der Regierung hin gefällt, die fürchtete, dass nicht nur jüdische, sondern auch christliche Einwohner künftig die Zahlung von Beiträgen verweigern könnten.215 Dass die luxemburgische Regierung Ende der Vierzigerjahre die strukturellen Probleme zu registrieren begann, mit denen die jüdische Kultusorganisation zu kämpfen hatte, zeigte sich 1849, als Staatsminister Willmar andachte, in Zusammenarbeit mit der jüdischen Elite ein neues Reglement zu entwickeln. Aufgrund der politischen Veränderungen wurde allerdings erst 1855 von der Regierung eine Kommission eingesetzt, welche die Organisation des jüdischen Kultus reformieren sollte und der neben dem (christlichen) Staatsanwalt des höchsten Gerichts, dem jüdischen Verwaltungsrat und dem Rabbiner auch einige Mitglieder der Gemeinde angehörten, welche Unmut über die bestehende Ordnung geäußert hatten. Die Einigkeit über die Notwendigkeit von Veränderungen resultierte aus der Erkenntnis, dass die bestehende Organisation „est faite pour un grand pays et mal adaptée au Luxembourg et que d’un autre côté il importe de faire cesser les discussions internes“.216 Von der Öffentlichkeit wurde die Einrichtung der Kommission allerdings teilweise kritisch gesehen. Ein Artikel im „Wächter an der Sauer“ stufte die Einrichtung der Kommission unter Beteiligung von Christen als eine unzulässige 215 Vgl. Jüdischer Vorstand, 9.11.1851, Administration général des affaires communales au Bourgmestre et échevins de la ville de Luxembourg, mai 1852, administration général des affaires communales au administration général des cultes, Juli 1852, Administration général des affaires communales au commissaire du district de Luxembourg, 28.7.1852, Liste des retardataires, angehangen an den Brief der Administrateurs de la communauté israélite du Grand duché de Luxembourg, 5.7.1852, in: ANL G128. Vgl. Goedert, S. 377 – 379. 216 Goedert, S. 380. Vgl. ebd., S. 377.

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Einmischung in innerjüdische Angelegenheiten ein. Vor dem Hintergund der Gleichberechtigung von Juden und Christen erschien dem Verfasser das Vorgehen der Behörden unverständlich: „Was würde eine Christen-Gemeinde sagen, der man zu Schiedsrichtern eine Commission von Andersgläubigen, etwa Juden oder Muhamedanern, octoyren wollte?“217 Auch das Luxemburger Wort sprach sich gegen staatliche Eingriffe in innerjüdische Angelegenheiten aus. Anders als dem Autor des Wächters ging es den Schreibern des Worts allerdings nicht darum, eine eventuelle Verletzung religiöser Gefühle zu verhindern. Sie zeigten sich ablehnend, weil sie dem Staat generell kein Mitspracherecht in religiösen – vor allem katho­ lischen – Belangen zugestehen wollten.218 Im November 1855 war ein Kompromiss erreicht: Ein aus vier Laien und einem (von diesen ernannten) Rabbiner bestehendes Konsistorium sollte die Verwaltung des jüdischen Kultus übernehmen. Die Ersteren sollten von allen luxemburgischen Juden gewählt werden, die das allgemeine Wahlrecht besaßen. Die Unterhaltung des Kultus sollte über freiwillige Beiträge und staatliche Zuschüsse gewährleistet werden. Bei Beschwerden über das Konsistorium sollte die luxemburgische Regierung eingreifen und bei Meinungsverschiedenheiten über religiöse Fragen sogar befugt sein, die Meinungen ausländischer religiöser Autoritäten einzuholen. Eine Bestimmung nahm anscheinend Bezug auf die allmähliche Bildung von Gebetsversammlungen außerhalb der Hauptstadt, z. B. in Ettelbrück: Die Einrichtung von Partikularsynagogen sollte ohne Zustimmung der Regierung erfolgen dürfen. Zur Enttäuschung der Kommissionsmitglieder nahm die Regierung den Entwurf nicht an, da ihr zu viele Fragen ungeklärt schienen.219 Da es von staatlicher Seite zu keiner gesetzlichen Neuregelung des Kultuswesens kam, erarbeitete die jüdische Gemeindeführung seit 1857 selbstständig einige Reglements, welche zumindest die Einnahme der Kultusbeiträge gewährleisten sollten. Zwar zeigte sich die luxemburgische Verwaltung teilweise skeptisch gegenüber den Vorschlägen, u. a. der Verweigerung von religiösen Dienstleistungen im Falle der Nichtzahlung von Beiträgen, aber letztlich stimmte sie diesen zu, da die Beamten eine Neuorganisation des jüdischen Kultus als notwendig ansahen. Die 1861 in Kraft tretenden Bestimmungen legten fest, dass jeder einen Beitrag gemäß seinen Vermögensverhältnissen zu leisten hatte. Mitglieder, welche diesen verweigerten, sollten nicht nur keinen Platz in der Synagoge mieten können, sondern sie sollten auch keine Segenssprüche mehr erhalten können. Weder eine Trauung in der Syna­goge noch die Einsegnung eines Kindes standen den Zahlungsverweigerern zu.

217 Der Wächter an der Sauer, Nr. 50, 1855, S. 2. 218 Vgl. Luxemburger Wort, Nr. 142, 1855, S. 1 f. 219 Vgl. ebd., S. 380 f.

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Ihnen war allerdings möglich, falls sie Dienste in Anspruch nehmen wollten, ihre Beiträge nachträglich zu zahlen. Spezielle Bestimmungen über jüdische Gemeinden außerhalb der Hauptstadt wurden nicht erlassen.220 In Hinblick auf die staatliche Unterstützung der verschiedenen Religionsgemeinschaften ist darauf hinzuweisen, dass die protestantischen Einwohner Luxemburgs erst nach den Juden in den Genuss von finanzieller Beihilfe kamen. Neben dem Gehalt des Rabbiners bewilligte der luxemburgische Staat der jüdischen Gemeinschaft ab 1855 noch ein Subsid von 500 Francs, das u. a. für die Unterhaltung des Friedhofes und die Entlohnung des Gemeindedieners verwandt wurde.221 Der Vorsteher der evangelischen Zivilisten der Stadt Luxemburg (d. h. derjenigen, welche nicht der preußischen Garnison angehörten) bemühte sich im Jahr 1857 um die Anerkennung der evangelischen Gemeinde und suchte seine Argumentation mit dem Verweis auf die Behandlung der jüdischen Minderheit zu untermauern: „Wir hoffen um so mehr auf eine hochgeneigte Berücksichtigung unseres Antrages, als ja selbst für den Kultus der Juden im Großherzogthum eine namhafte Subsidie alljährlich aus der Staats-Kasse gegeben wird.“222 Ab dem folgenden Jahr erhielt der protestantische Pastor der Stadt Luxemburg einen Teil seines Gehalts vom Großherzogtum Luxemburg. Als 1868 klar wurde, dass das Großherzogtum nicht dem Norddeutschen Bund angehören würde, übernahm der Kleinstaat die gesamte Bezahlung. Die Höhe dieses Gehaltes bewegte sich auf dem gleichen Niveau wie dasjenige des Rabbiners.223 Ähnlich wie in Frankreich gab es auch im Großherzogtum keine spezielle Gesetzgebung bezüglich der jüdischen Schulen. Da die Zahl der jüdischen und protestantischen Kinder äußerst gering war, gingen die verschiedenen rechtlichen Regelungen nicht einmal darauf ein, unter welchen Umständen religiöse Minderheiten eigene Lehreinrichtungen unterhalten könnten. Diskussionen um die 220 Vgl. Conseil d’administrative de la communauté israélite de Luxembourg, 25.2.1857, Bourgmestre et échevins de la ville de Luxembourg au adminstrateur général de l’Intérieur, 4.3.1857, procureur général Augustin au administrateur de la justice, 25.3.1857, in: ANL H78. Reglement für den inneren Dienst um auf eine dauernde Weise für die Bedürfnisse des israelitischen Kultus Sorge zu tragen, Beschluss vom 1.11.1861, Druck von Julien Luxembourg, S.  6 – 14. 221 Vgl. Conseil d’Administrative de la communauté israélite de Luxembourg, 13.9.1880, in: ANL H78. Vgl. Dépenses des cultes depuis 1839, ca. 1900, in: ANL AE265. Dass einige christliche Politiker der Unterstützung des jüdischen Kultes ablehnend gegenüberstanden, hatte sich bei der Kammerverhandlung gezeigt, bei der 18 Personen für und 11 gegen das Subsidium votierten. Vgl. Luxemburger Wort, Nr. 143, 1855, S. 3. 222 Vorsteher der evangelischen Civilisten an den Rat der Generaladministratoren, 22.4.1857, in: ANL H78. 223 Dépenses des Cultes depuis 1839, in: ANL AE 265, S. 26.

Die Folgen des Jahres 1871

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Stellung spezieller nichtkatholischer konfessioneller Schulen wurden daher auf dem Grund der jeweiligen Verfassungen und allgemeinen Schulgesetze geführt.224

2.4 Die Folgen des Jahres 1871 Der Ausgang des Deutsch-Französischen Krieges weckte bei den lothringischen Juden Furcht um ihre Gleichberechtigung mit den christlichen Bürgern. Die Un­ sicherheit fand u. a. Ausdruck in der Forderung des Metzer Großrabbiners, in den Friedenvertrag eine Klausel einzufügen, welche den Juden den Schutz ihrer Rechte garantierte. Der jüdische Stadtrat Isidor Wolff, der in Lothringen den Protest gegen die Annexion organisierte, traf in der gesamten Bevölkerung auf Zustimmung und sammelte allein in den Arrondissements Sarreguemines und Forbach 32.000 Unterschriften gegen territoriale Abtretungen. Der breite Widerstand änderte jedoch nichts daran, dass ein großer Teil Lothringens dem Deutschen Reich zufiel.225 Infolge der Annexion ostfranzösischer Gebiete und der Gründung des Deutschen Reiches gehörten die Juden der Rheinprovinz und des an Deutschland gefallenen Teils von Lothringen nun einem Staat an. Bei der Gründung des Deutschen Reichs wurde die vom Norddeutschen Bund 1869 verabschiedete Bestimmung, die den jüdischen Bürgern individuelle Gleichberechtigung mit den Angehörigen der christlichen Konfessionen zusprach, als Reichsgesetz übernommen. Da die rheinpreußischen und die lothringischen Juden bereits emanzipiert waren, bedeutete dies keine Veränderung ihrer rechtlichen Lage als Individuen. Die Stellung der jüdischen Religionsgemeinschaft variierte allerdings in den verschiedenen Teilen des Reichs, da die bisherigen einzelstaatlichen Regelungen unverändert blieben.226 Die Behandlung der jüdischen Gemeinden Elsass-Lothringens ist sowohl im Rahmen einer fehlenden gesamtstaatlichen Regelung der Stellung der jüdischen Religionsgemeinschaft innerhalb des Deutschen Reichs zu sehen als auch im Kontext der allgemeinen Politik der deutschen Regierung gegenüber dem „Reichsland“.

224 Vgl. dazu Kapitel 5.5.3. 225 Vgl. Caron, Germany, S. 32 – 34. Vgl. Caron, Vicky: Les conséquences de l’annexion allemande, in: Decomps/Moinet, S. 85. Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 137 f. Vgl. zum Widerstand gegen die Grenzziehung Schlesier, Stephanie: Von sichtbaren und unsichtbaren Grenzen, Die Annexion von 1871 und ihre Auswirkungen auf das annektierte Lothringen bis zum Ersten Weltkrieg, in: Christophe Duhamelle/Andreas Kossert/Bernhard Struck (Hg.): Grenzregionen. Ein europäischer Vergleich vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2007, S. 58. 226 Vgl. Kastner, Einführung, S. 71. Vgl. Lamberti, Marjorie: The Jewish Struggle for the Legal Equality of Religions in Imperial Germany, in: LBIYB, Jg. 23, 1978, S. 101 – 103.

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Es wurde entschieden, die französischen Gesetze zunächst größtenteils beizubehalten, um die „neudeutschen“ Bürger langsam an die Zugehörigkeit zum deutschen Staat zu gewöhnen. Diese grundsätzliche Einstellung spiegelte sich in der Behandlung der jüdischen Minderheit wider. Die Kultusorganisation wurde beibehalten, allerdings war das jüdische Konsistorium von Metz infolge der Abtrennung von Paris keiner Zentralbehörde mehr unterworfen. Zudem änderten sich aufgrund der Grenzziehung, welche die Départements Moselle und Meurthe zerschnitt, die Bezirke der lothringischen Konsistorien: Während das von Metz für alle Juden im annektierten Teil der Region zuständig war, betreute das von Nancy größtenteils die in den französisch gebliebenen Partien Lothringens lebenden Glaubens­genossen. Abgesehen von kleinen Veränderungen des Wahlrechts zu den Konsistorien und den Rabbinerposten blieb im französischen Teil der Region das jüdische Kultuswesen bis 1905 unverändert.227 Nicht nur die jüdische Kultusorganisation blieb im Reichsland nach der ­Annexion grundsätzlich unverändert, sondern auch die staatliche Unterstützung der jüdischen Religionsgemeinschaft wurde beibehalten, um Sympathien bei den „neudeutschen“ Bürgern zu wecken.228 Lediglich in Einzelfällen kam es zu Verordnungen, welche leichte organisatorische Modifikationen brachten, z. B. im Rahmen der allgemeinen Germanisierungspolitik. So schrieb 1891 die Regierung den jüdischen Konsistorien und Gemeinden vor, ihre Korrespondenz nur noch in deutscher Sprache zu führen. Zwar wünschte über die Hälfte der lothringischen Gemeinden, wegen angeblich mangelnder Sprachkenntnisse davon ausgenommen zu werden, aber nur Dreien wurde dies bewilligt – weil der Regierung das Argument unglaubwürdig erschien und sich der Protest eher aus symbolischer Anhänglichkeit an Frankreich speiste.229 Anders als im annektierten Lothringen erfuhr im französischen Teil der Region das jüdische Kultuswesen genauso wie das der christlichen Konfessionen durch das Separationsgesetz von 1905 grundlegende Veränderungen. Die am Ende der

227 Die jüdischen Einwohner des Départements Vosges wurden 1872 dem neu gebildeten Konsistorium von Vesoul zugeordnet, das 1896 nach Epinal verlegt wurde. Vgl. Uhry, S. 68 – 70. Vgl. Roth, François: La Lorraine annexée. Etude sur la Présidence de Lorraine dans L’Empire allemand (1871 – 1918), Nancy 1976, S. 40 – 87. Vgl. Dienemann, Max: Die jüdischen Gemeinden in Elsaß-Lothringen 1871 – 1918, in: Zeitschrift für die Geschichte der Juden, Nr. 2, 1937, S. 77 f. Vgl. Landau, Philippe E.: Le modèle consistorial entre tradition et réforme. La Lorraine au cœur du débat, in: Decomps/Moinet, S. 68. Vgl. Albert, modernization, S. 94 f. 228 Vgl. Caron, Vicky: La mémoire israélite et les provinces perdues (1871 – 1914), in: Archives Juives, Nr. 1, Jg. 33, 2000, S. 27. 229 Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 140. Vgl. zur Germanisierung Schlesier, Grenzen, S. 60 f.

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Dreyfus-Affäre zutage tretende Spaltung der französischen Politik in ein repu­ blikanisches und ein u. a. durch Antisemitismus zusammengehaltenes nationalis­ tisches Lager hatte zu einem regelrechten Kulturkampf geführt. Die von de­r ­ersteren Gruppierung durchgesetzte Trennung von Staat und Kirche hatte die Folge, dass keine Religionsgemeinschaft mehr vom Staat finanzielle Zuwendungen erhielt. Zudem wurde dem jüdischen Konsistorialsystem die gesetzliche Grundlage entzogen, sodass die Gemeinden sich nun selbst verwalten konnten. Da viele Juden das Fortbestehen einer Zentralbehörde in Paris als sinnvoll ansahen, verschwand das bisherige Zentralkonsistorium im Gegensatz zu den Départements­konsistorien nicht vollständig. Es ging in die „union des associations cultuelles israélites de France et d’Algérie“ über, allerdings verfügte diese Institution über keinerlei Weisungs­ befugnisse mehr. Sie war ein freiwilliger Zusammenschluss der jüdischen Gemeinden, dessen Aufgaben darin bestanden, den Interessen des jüdischen Kultus zu dienen, die Existenz der Rabbinerschule über Beiträge ihrer Mitglieder zu sichern sowie die Letzteren gegenüber dem Staat zu repräsentieren.230 Als die annektierten Gebiete 1918 an Frankreich zurückfielen, befürchteten Juden und Katholiken, dass das bestehende Kultussystem enden würde. Infolge der starken Proteste der Vertreter der verschiedenen Konfessionen wurde in Elsass-Lothringen das Separationsgesetz nicht eingeführt, weswegen dort bis heute die Konsistorien und die staatliche Unterhaltung des Kultus fortbestehen.231 In Preußen kam es erst kurz nach der Jahrhundertwende zu Bemühungen von jüdischer Seite, als Religionsgemeinschaft Gleichberechtigung mit den christlichen Konfessionen zu erreichen, weil Ende der Siebzigerjahre die Angriffe der antisemitischen Bewegung auf die erlangte individuelle Gleichheit die Aufmerksamkeit auf sich zogen.232 Zwar betonte selbst Treitschke im Berliner Antisemitismusstreit, dass die Emanzipation der Juden nicht rückgängig zu machen sei, aber seine Gegner (u. a. Mommsen) wiesen zu Recht auf die Existenz derartiger Bemühungen: „Schon hört man den Ruf nach Ausnahmegesetzen und Ausschließung der Juden von diesem oder jenem Beruf […], von Auszeichnungen oder Vertrauensstellungen.“233 Dass

230 Hinsichtlich der Dreyfus-Affäre ist zu bemerken, dass die jüdische Mehrheit den Antisemitismus als einen deutschen Import betrachtete und anscheinend nicht um ihre Gleichberechtigung fürchtete. Vgl. Job, juifs de Nancy, S. 115 – 118. Vgl. von der Dunk, S. 86. Vgl. Bansard, J.-P.: Un judaïsme aux couleurs de la république. Antidote aux communautarismes, Paris 2004, S. 54 f., 158 f. Vgl. Tacke, Charlotte: Von der Zweiten Republik bis zum Ersten Weltkrieg, in: Ernst Hinrichs (Hg.): Kleine Geschichte Frankreichs, Bonn 2005, S. 311 – 360, S. 342 f. 231 Vgl. Benbassa, histoire, S. 150. Vgl. Meyer, survol, S. 19. Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 142 f. 232 Vgl. Lamberti, struggle, S. 103. 233 Pulzer, Peter: Die Wiederkehr des alten Hasses, in: Meyer/Brenner, Bd. 3, S. 203.

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ein Teil der christlichen Bevölkerung in diese Richtung dachte, belegt der Erfolg der Antisemitismuspetition, welche gesetzliche Restriktionen gegenüber Juden forderte. Hinsichtlich der südlichen Rheinprovinz ist allerdings festzustellen, dass sie in der Saarregion weitgehend auf Ablehnung – in den Städten, aber auch in kleineren Orten – traf.234 Die 1886 erfolgte Gründung des wenig erfolgreichen „Deutschen Reformvereins des Saarreviers“, welcher eine gesetzliche Neuregelung der „Judenfrage“ zugunsten christlicher Geschäftleute anstrebte, belegt aber, dass es auch hier christliche Bürger gab, die eine Rücknahme der Emanzipation wünschten.235 Zu erwähnen ist auch, dass Treitschke im Wahlkreis Kreuznach-Simmern, dem u. a. Gemünden angehörte, in den Reichstag gewählt wurde. Seine Haltung gegenüber Juden war allerdings wohl nicht allen Wählern bekannt, z. B. besuchte der aus Laufersweiler stammende Jude Bernhard Mayer 1879 eine Wahlversammlung Treitschkes, in der er sich – für ihn überraschend – mit einer „absolut anti­ semitischen Rede“236 konfrontiert sah. Auswirkungen auf die rechtliche Stellung der jüdischen Bürger hatten die antisemitischen Bestrebungen nicht, da es die deutsche Regierung ablehnte, die rechtliche Lage der Juden zu ändern.237 Erst der 1904 gebildete Verband der deutschen Juden, der eine Dachorga­ nisation jüdischer Gemeinden und Organisationen darstellte und dessen Ziel es war, mit dem Staat über die Diskriminierung der Juden bzw. die sie betreffende Gesetzgebung zu verhandeln, setzte sich für die Gleichberechtigung des jüdischen Kultus mit dem Protestantismus und Katholizismus in Preußen ein. Er trat in diesem Kontext vor allem als Fürsprecher der häufig armen jüdischen Gemeinden im kleinstädtischen und dörflichen Bereich auf.238 Den Anstoß für diesen Schritt bildeten die Beratungen des preußischen Abgeordnetenhauses über das Schulgesetz von 1906, in deren Verlauf die parlamentarische Mehrheit den Staat aufforderte, Gelder für den Religionsunterricht der jüdischen Kinder bereitzustellen. Dass die Regierung – wenn auch widerstrebend – dem Beschluss des Abgeordnetenhauses entsprach, wurde von jüdischer Seite als Präzedenzfall für die Behandlung der jüdischen Religionsgemeinschaft verstanden.

234 Der Saarbrücker Stadtrat kritisierte die Petition als „Ausfluß eines höchst inhumanen, dem Geiste und Bildungsgrade der Zeit Hohn sprechenden und darum verwerflichen religiösen Fanatismus“. Marx, Geschichte, S. 154. 235 Der Verein hatte nur zwölf Mitglieder und wurde 1896 wieder aufgelöst. Vgl. ebd., S. 155. 236 Wiehn, S. 26. Dietrich, Konfession, S. 373 geht davon aus, dass die jüdischen Einwohner Gemündens den Nationalliberalen Treitschke dem Zentrumskandidaten vorzogen. 237 Vgl. Pulzer, Wiederkehr, S. 203. 238 Vgl. Löwenstein, Steven M.: Die Gemeinde, in: Meyer/Brenner, Bd. 3, S. 138 f. Vgl. ­Lamberti, struggle, S. 103 – 105.

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Auf mehreren Versammlungen des Verbandes stand das Thema der Gleich­ berechtigung mit den großen christlichen Konfessionen auf der Tagungsordnung. An ihnen nahmen auch einige Vertreter von Gemeinden aus dörflichen oder kleinstädtischen Milieus teil, z. B. Hermann Barth aus Illingen 1911. Mithilfe einiger jüdischer Mitglieder des preußischen Abgeordnetenhauses verfasste der Verband seit 1907 mehrere Petitionen, in denen er zumindest für arme jüdische Gemeinden staatliche Unterstützung einforderte. Als Argumente wurden Gerechtigkeit gegenüber den verschiedenen Religionsgesellschaften, die Bedürftigkeit vieler Gemeinden, die im Vergleich zu den Christen stärkere finanzielle Belastung der jüdischen Gläubigen zur Unterhaltung des Kultus und die in anderen Teilen des Deutschen Reichs bestehende Rechtslage angeführt. Die Regierung und die Mehrheit der preußischen Abgeordneten lehnten die Petitionen jedoch ab und begründeten dies u. a. damit, dass die jüdische Gemeinschaft nicht denselben rechtlichen Status wie die beiden „Volkskirchen“ besäße und der Staat nach der preußischen Verfassung nur christliche Institutionen zu unterstützen habe. Zwar wurden Berichte über die Unterstützung des jüdischen Kultus aus anderen Teilen des Reichs eingeholt, u. a. aus Elsass-Lothringen, aber diese wischte die Regierung mit der Bemerkung beiseite, dass dort völlig andere Bedingungen als in Preußen herrschten.239 Im Großherzogtum änderten die Geschehnisse von 1870/71 nichts an der rechtlichen Lage der jüdischen Einwohner. Offiziell gehörten die Juden auf dem Land, die in der zweiten Jahrhunderthälfte teilweise eigene Gebetsversammlungen gründeten, weiterhin der Luxemburger Synagoge an, und der jüdische Vorstand der Ettelbrücker Gemeinde betonte 1881 gegenüber dem Staatsminister, dass er diesen Zustand nicht zu ändern wünsche, und „wir uns auch von dem Rabbinate in Luxemburg als der obersten Religionsbehörde nicht zu trennen beabsichtigen“.240 Allerdings strebte diese jüdische Gemeinde, nachdem sie auf über 100 Personen angewachsen war, einen neuen Status an. Sie orientierte sich dabei an den Verhältnissen im belgischen Nachbarstaat, wo „der Rabbi in Brüssel sich befindet & die kleinern Gemeinden wie Arlon, Namm, Lüttich & Gend denen Ettelbrück an jüdischer [Bevölkerung] gleichsteht, […] dem Rabbinate unterstellte […] ministres

239 Dass ausgerechnet das Zentrum, welches um die Gleichbehandlung der Katholiken mit den Protestanten kämpfte, sich nicht für die Unterstützung des jüdischen Kultus einsetzte, kritisierten Angehörige der Fortschrittspartei. Vgl. Lamberti, struggle, S. 103 – 116. Vgl. dies.: Jewish activism in Imperial Germany. The struggle for Civil Equality, New Haven 1978, S. 141 – 147. Vgl. Verband deutscher Juden: Stenographischer Bericht über die Hauptversammlung des Verbands, Berlin 1911, S. 49. Vgl. ders.: Stenographischer Bericht über die Hauptversammlung des Verbands, Berlin 1913. 240 Vorstand der jüdischen Gemeinde von Ettelbrück an Staatsminister F. de Blochhausen, 26.8.1881, in: ANL H78.

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Der Kampf um die Gleichberechtigung

officiants haben […]. Entsprechend dieser Organisation wünschen wir eine Filialgemeinde zur Hauptgemeinde Luxemburg zu bilden […].“241 Da das Gesuch von der Regierung abschlägig beschieden wurde, änderte sich nichts an dem System des jüdischen Kultes in Luxemburg.242

2.5 Unterschiedliche Kämpfe. Ein erstes Fazit Die rechtliche Lage der jüdischen Bevölkerungen in den lothringischen und rheinpreußischen Untersuchungsdörfern während des Ancien Régime war vergleichbar, während sich im luxemburgischen Territorium keine Juden ansiedeln durften. Die sich im 18. Jahrhundert entwickelnde Diskussion um eine rechtliche Besser- oder Gleichstellung der Juden wurde in erster Linie im städtischen Umfeld geführt, sowohl auf der preußischen Seite als auch in Frankreich. Dass es in Lothringen anders als in der späteren Rheinprovinz zu einer Debatte kam, hing damit zusammen, dass in Metz die größte jüdische Gemeinde auf französischem Boden existierte. Die Diskussionen in Frankreich und in Preußen standen in enger Beziehung zueinander und erst die Interaktion zwischen Intellektuellen aus beiden Staaten ermöglichte sie. Die Landjuden stellten insofern einen wichtigen Bezugspunkt für Dohm und Abbé Grégoire dar, als sie ihre Werke im Hinblick auf deren Lage verfassten. Zumindest ein Teil der ländlichen Elite Lothringens war mit dem Emanzipationsgedanken vertraut, auch wenn Forderungen nach gesetzlichen Beschränkungen gegenüber den Juden verbreiteter waren als die nach einer rechtlichen Besserstellung. Von einer klaren Stadt-Land-Trennung hinsichtlich der Einstellung gegenüber den Juden lässt sich allerdings nicht sprechen. 1791 wurden die ostfranzösischen Juden mit den christlichen Einwohnern gleichgestellt und zugleich verloren die bis dahin als autonome Korporationen organisierten jüdischen Gemeinden ihr Existenzrecht. Die Schulden dieser Gemeinschaften wurden deren Angehörigen und ihren Nachkommen – anders als denen anderer Korporationen – nicht erlassen. Infolge der Revolutionskriege wurde die französische Gesetzgebung hinsichtlich der Juden auf die linksrheinischen Gebiete und Luxemburg ausgeweitet. Unter Napoleon wurde die individuelle Gleichstellung der Juden mit den Christen partiell rückgängig gemacht, wobei das „décret infâme“ beeinflusst von Klagen über die Juden aus dem Elsass zustande kam, obwohl die Meinungen über die Juden in den Verwaltungen in Lothringen, Luxemburg und im 241 Ebd. Die Spitze der kleinen jüdischen Gemeinschaft war gut über die Lage in Belgien informiert und zitierte sogar drei seit 1870 verabschiedete Gesetze über die Organisation des Kultus. 242 Vgl. Ministre d’Etat au commissaire de district de Diekirch, in: ANL H78.

Unterschiedliche Kämpfe. Ein erstes Fazit

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Linksrheinischen nicht durchgängig negativ waren und die Juden gegen es protestierten. Das Konsistorialsystem etablierte eine zentralisierte, hierarchische Kirchenordnung für das Judentum, die in Kontrast zu der bisherigen Organisa­tionsweise stand und dem Staat neue Kontroll- und Einflussmöglichkeiten einräumte. Ab 1815 trennten sich die Wege der Juden der betrachteten Regionen in rechtlicher Hinsicht. Zwar hielt die preußische Regierung in der Rheinprovinz offiziell bis 1847 an der französischen Rechtsordnung fest, aber auf dem Verordnungsweg beschränkte sie die Rechte der Juden. Während in Frankreich und in Luxemburg das „décret infâme“ nach zehn Jahren auslief, war dies in der Rheinprovinz nicht der Fall, u. a. wegen der negativen Berichte vieler Landräte über den „Wucher“ der Juden auf dem Land. Neben dem „décret infâme“ wurde auch am Konsistorial­ system und der Verpflichtung der Nachkommen der Mitglieder der alten jüdischen Gemeinden, sich an der Abzahlung der Schulden der abgeschafften Korporationen zu beteiligen, festgehalten. Erst in den Vierzigerjahren kam es zu einer öffent­lichen Debatte über die Emanzipation der Juden. In deren Verlauf meldeten sich in zunehmendem Maß auch jüdische und christliche Landbewohner zu Wort: Die Ersteren befürworteten stets, die Letzteren gelegentlich eine Emanzipation, auch wenn die Zustimmung für eine solche in den Städten tendenziell stärker ausgeprägt war. Zu betonen ist, dass die Befürworter der Emanzipation des Öfteren auf die Lage in Frankreich und den Niederlanden (einschließlich von Luxemburg) verwiesen und normalerweise nur die Stellung der Juden als Individuen thematisierten, aber nicht die als Glaubensgemeinschaft. Mit dem Gesetz von 1847 fanden die Bestimmungen des „décret infâme“ in der Rheinprovinz ihr Ende, aber es bestätigte zugleich den Willen der Regierung, Juden von öffentlichen Ämtern fernzuhalten, und berücksichtigte die in der Rheinprovinz geäußerten Wünsche kaum. Es läutete den Abschied vom Konsistorial­system ein und schrieb den Juden die Organisation in Synagogengemeinden – ohne Einbindung in eine Hierarchie – vor. Hinsichtlich der Finanzierung des Kultus blieben die jüdischen Gemeinschaften weiterhin auf sich gestellt. Die Revolution von 1848 brachte den Juden nur kurzfristig Gleichberechtigung mit den christlichen Einwohnern. Während der Reaktionszeit wurden infolge der immer besseren Verfügbarkeit von Informationen die jüdischen Landbewohner zunehmend aktiver im Kampf um die Emanzipation. Die im Rahmen des Norddeutschen Bundes gewährte Gleichstellung von Juden und Christen war allerdings nicht das Ergebnis dieser Bemühungen, sondern in erster Linie dem Streben nach einer einheitlichen Regelung auf Bundesebene geschuldet. Ebenso wie in der Rheinprovinz wurde in Frankreich nicht an der Verpflichtung zur Bezahlung der Schulden der alten jüdischen Gemeinden gerüttelt, obwohl es Proteste gab. Das „décret infâme“ lief 1818 aus. In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass die lothringischen Behörden sich anders als diejenigen im

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Der Kampf um die Gleichberechtigung

Elsass (und die der Rheinprovinz) durchgängig für ein Auslaufen des Dekrets aussprachen und ihre Haltung gegenüber den Juden positiver war. Die u. a. infolge des Engagements von lothringischen Rabbinern erreichte Beseitigung des „more judaico“ bedeutete das Ende der letzten individuellen Ausnahmeregelung gegenüber den Juden. Das Jahr 1831 brachte in Frankreich die rechtliche Gleichstellung des Judentums mit dem Katholizismus und der evangelischen Kirche. Forderungen dieser Art waren zuvor von der städtischen, jüdischen Elite von Paris ausgegangen, der einzelne vom Land zugewanderte Juden angehörten. Debatten über Veränderungen der jüdischen Kultusordnung wurden anders als in Preußen nicht mehr von den Regierungen initiiert, sondern sie gingen vom Zentralkonsistorium aus, dessen Wünsche weitgehend umgesetzt wurden. Die jüdische Landbevölkerung Lothringens beteiligte sich in der Regel nicht an den Diskussionen; lediglich in den Vierzigerjahren, als das Zentralkonsistorium den Einfluss der Rabbiner zurückdrängen wollte, protestierte sie vehement und erreichte eine Berücksichtigung ihrer Vorstellungen. Für den Luxemburger Fall ließen sich keine Spuren einer öffentlichen Debatte über eine Verlängerung des „décret infâme“ finden, was auf die geringe Zahl der dortigen Juden zurückzuführen sein dürfte. Zu Diskussionen über die Stellung der Juden und deren Kultusorganisation kam es in Luxemburg nach 1815 zunächst nicht, da die niederländische Gesetzgebung übernommen wurde. Auf diesem Wege wurde 1816 eine neue jüdische Kultusordnung eingeführt und 1818 die Juden von speziellen Eidesleistungen freigesprochen, sodass bereits zu diesem Zeitpunkt alle individuellen Benachteilungen gegenüber den Christen beseitigt waren. Nach der belgischen Revolution änderte sich die Organisation des jüdischen Kultus­wesens kaum. Auf Bitten der jüdischen Elite hin wurden geringfügige Neuerungen gebilligt, allerdings kam es nicht zu einer umfassenden Neuregelung, obwohl sich in der zweiten Jahrhunderthälfte die jüdische Gemeindeführung und einzelne christliche Politiker um eine solche – angepasst an die im Kleinstaat herrschenden Gegebenheiten – bemühten. Auch die Bitten der jüdischen Landgemeinden nach einer Festlegung ihres Status innerhalb der jüdischen Gemeinschaft des Großherzogtums fanden keinen positiven Rückhall. Daher bestand die jüdische Gemeinschaft Luxemburgs weiterhin offiziell nur aus einer großen Gemeinde. Anders als in Preußen zeigte die Regierung des Großherzogtums kein starkes Verlangen, das jüdische Kultuswesen zu regulieren, und im Gegensatz zu Frankreich war sie auch kaum gewillt, die Vorstellungen der jüdischen Elite hinsichtlich des Kultuswesens umzusetzen. Zwar genehmigte die Verwaltung einige von der jüdischen Gemeindeführung entwickelte Reglements, aber damit ging keine Verpflichtung der Zivilverwaltung zu Eingriffen in das jüdische Gemeindeleben einher. Anders als in Frankreich wurde in Luxemburg nie ein allgemeines Gesetz erlassen, das festlegte, dass der jüdische (oder der evangelische) Kultus gleich dem

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der Katholiken unterstützt werden müsse. Trotzdem führte die Einforderung der Gleichbehandlung der Kulte von jüdischer Seite – u. a. mit Verweisen auf die Lage in den Niederlanden und Frankreich – dazu, dass der Staat seit den Vierziger­jahren regelmäßig Subsidien zugunsten des jüdischen Kultus gewährte. Die für die jüdische Religionsausübung gewährten Zuschüsse lieferten wiederum der sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts in Luxemburg etablierenden evangelischen Minderheit ein Argument, um Zuschüsse einzufordern. Das Jahr 1871 brachte für die Juden der Rheinprovinz keine Änderung ihres individuellen Status, da sie bereits 1869 die individuelle Gleichstellung erlangt hatten, und auch die rechtliche Lage der Juden im annektierten Elsass-Lothringen änderte sich grundsätzlich nicht. Im Reichsland blieb die Organisation des jüdischen Kultus einschließlich der finanziellen Unterstützung seitens des Staates bestehen, da der deutschen Regierung daran gelegen war, die neuen Bürger für sich einzunehmen. Im Gegensatz zu ihren lothringischen Glaubensgenossen mussten die Juden der Rheinprovinz ihren Kultus weiterhin allein finanzieren. Da jüdische Organisationen auf nationaler Ebene während der Hochzeit der antisemitischen Bewegung damit beschäftigt waren, die individuellen Rechte der Juden zu verteidigen, kam die Frage einer rechtlichen Besserstellung der jüdischen Glaubensgemeinschaft in Preußen erst kurz nach der Jahrhundertwende auf ihre Agenda. Der Verband der deutschen Juden setzte sich u. a. für eine finanzielle Unterstützung der häufig armen und mittlerweile schrumpfenden Landgemeinden ein, was u. a. darauf zurückzuführen war, dass solche Gemeinschaften einen Teil seiner Mitglieder ausmachten. Erfolg hatten die Bemühungen des Verbandes allerdings nicht. In Frankreich führte das Separationsgesetz von 1905 dazu, dass die bis dahin verbindliche jüdische Kultusorganisation ihre Gültigkeit verlor und die finanzielle Unterstützung der verschiedenen Kulte seitens des Staates eingestellt wurde. Als das Reichsland 1918 an Frankreich zurückfiel, setzten sich sowohl Vertreter der katholischen Kirche als auch der jüdischen Gemeinschaft erfolgreich für die Beibehaltung der staatlichen Bezuschussung der Kulte ein.

3. Bedingungen des Lebens auf dem Land: die Juden als Teil der Dorfbevölkerungen und ihr Platz im dörflichen Leben

3.1 Der jüdische Bevölkerungsanteil im Wandel 3.1.1

Vom Wachstum zur Abwanderung. Die Untersuchungsorte in der Rheinprovinz und Lothringen

3.1.1.1 Wenig Kontrolle in der Praxis: der preußische Fall

Mit der Rheinprovinz erwarb Preußen 1815 ein Gebiet, in welchem eine zahlenmäßig bedeutende jüdische Bevölkerung vorhanden war. Im Jahr 1816 bildeten die dort lebenden 17.560 Juden die nach Posen größte jüdische Minderheit in einem preußischen Landesteil. Von 29.670 Personen im Jahr 1848 stieg ihre Zahl bis 1871 auf 38.428 Personen an. Innerhalb Preußens stellte die jüdische Einwohnerschaft der Rheinprovinz eine Besonderheit dar, weil sie im Gegensatz zu ihren Glaubensgenossen im übrigen Preußen mehrheitlich auf dem Land siedelte. Damit ähnelte sie stark den jüdischen Bevölkerungen der süddeutschen Staaten, besonders in den beiden südlichen Regierungsbezirken Koblenz und Trier. In diesen siedelten 1822 insgesamt 9449 Juden. Bis 1846 vergrößerte sich ihre Zahl auf 13.186 Einwohner und in den folgenden 25 Jahren wuchs sie, wenn auch etwas langsamer, weiter auf 14.698 Personen an. Im Verlauf des Jahrhunderts ging allerdings der Anteil der jüdischen Bevölkerung, welcher im Saar-Mosel-Gebiet lebte, zugunsten des sich stärker urbanisierenden sowie industrialisierenden nördlichen Teils der Rhein­ provinz zurück: Er fiel von 47 % im Jahr 1822 auf 38 % zur Zeit der Reichsgründung.1 Wie bereits erwähnt war die ländliche Ansiedlung der Juden im Saar-Mosel-Raum auf die territoriale Zersplitterung während des Ancien Régime und die Bereitschaft

1 Vgl. Silbergleit, Heinrich: Die Bevölkerungs- und Berufsverhältnisse der Juden im Deutschen Reich, Bd. 1: Freistaat Preußen, Berlin 1930, S. 7 – 19. Vgl. Jersch-Wenzel, Stefi: Bevölkerungsentwicklung und Sozialstruktur, in: Meyer/Brenner, Bd. 2, S. 59. Vgl. R ­ euter, Ursula: Jüdische Gemeinden vom frühen 19. bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts (Geschichtlicher Atlas der Rheinlande, Beiheft VIII/8), Bonn 2007, S. 7. Vgl. ­Zittartz-Weber, Religion, S. 17, 76 – 81. Vgl. Rürup, Reinhard: Die jüdische Landbevölkerung in den Emanzipationsdebatten süd- und südwestdeutscher Landtage, in: Richarz/ Rürup, S. 121.

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des Kleinadels, den Juden aus ökonomischen Gründen Niederlassungsmöglich­keiten zu bieten, zurückzuführen. Neben den Landjuden, welche die große Mehrheit der jüdischen Bevölkerung bildeten, gab es allerdings auch jüdische Stadtbewohner, da nicht in allen Städten Juden die Niederlassung grundsätzlich verboten war, z. B. in Trier sowie in Koblenz.2 Im Fall von Gemünden war die Zahl der mit Erlaubnis der Freiherren von Schenk ansässig werdenden Juden so hoch, dass es dem Ort die Bezeichnung „Klein-Nazareth“ einbrachte.3 Die ersten genauen Angaben über den Umfang der jüdischen Bevölkerung des Dorfes stammen aus dem Jahr 1808, als die jüdische Gemeinde mit 97 Mitgliedern zu den größten jüdischen Siedlungsorten des Rhein-Mosel-Départements zählte.4 Im Jahr 1815, als Gemünden Teil der neu gegründeten preußischen Rheinprovinz wurde, betrug die Zahl der Juden im Ort 123.5 Der Regierungsbezirk Koblenz, zu dem das Dorf gehörte, wies 1822 mit seinen 6248 jüdischen Einwohnern, die 1,6 % der dortigen Gesamtbevölkerung bildeten, sowohl die größte Zahl von Juden innerhalb der Rheinprovinz auf als auch die prozentual höchste Dichte. Die meisten der im Bezirk lebenden Juden siedelten in ländlich geprägten Orten an der Mosel und auf dem Hunsrück, während die Anzahl der in den Städten lebenden Juden verhältnismäßig gering war.6 Bis zum Jahr 1825 wuchs die Zahl der Juden in Gemünden leicht auf 130 Personen an und stagnierte anschließend über ein Jahrzehnt lang.7 Zwischen 1834 und











2 Vgl. Ullmann, S. 15 f. Vgl. Kasper-Holtkotte, Juden, S. 7 – 9, 15 – 18, 25 – 93. Vgl. dies.: Jüdischer Kultus in napoleonischer Zeit. Aufbau und Organisation der Konsistorial­ bezirke, Krefeld, Koblenz/Bonn, Mainz und Trier (Beiheft zu Aschkenas, Bd. 2), Wien 1997, S.  37 – 49. 3 Vgl. dazu Schutzgeldzahlungen der in Gemünden ansässigen Juden von 1740, in: LHAK Best. 53 C 16 Nr. 451. Vgl. Zwiebelberg , S. 81 f. Vgl. Kronenberger, Friedrich L.: Die jüdischen Vieh- und Pferdehändler im Birkenfelder Land und in Gemeinden des Hunsrücks (Schriftenreihe der Kreishochschule Birkenfeld, Bd. 8), Birkenfeld 1983, S. 9. 4 Vgl. Johann, Hans-Werner: Die Namensänderung der Juden im Jahre 1808 im Bereich der heutigen Verbandsgemeinde Kirchberg (Hunsrück), Selbstverlag, Holzbach 1991, S. 1. Nur die Gemeinden von Bonn, Koblenz und Kreuznach waren größer. Vgl. Kasper-­Holtkotte, Kultus, S.  45 – 49. 5 Vgl. Statistische Tabelle des Bürgermeistereiamts für Gemünden, 1815, in: LHAK Best. 655,12 Nr. 159. 6 Vgl. Zittartz-Weber, Religion, S. 76 f. Vgl. Kastner, Einführung, S. 28 – 31. Die „Generalnachweisung über die Bevölkerung der Städte und Flecken der preußischen Rheinprovinz“ von 1822 enthält nicht alle Orte der südlichen Regierungsbezirke, in denen Juden siedelten. Vgl. Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz, Bd. 5, S. 37 f. 7 Vgl. Statistische Tabelle des Bürgermeistereiamts für Gemünden, 1824, in: LHAK Best. 655,12 Nr. 159.

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Bedingungen des Lebens auf dem Land

1841 ist dann ein sprunghafter Anstieg des jüdischen Bevölkerungsteils festzustellen. Zurückzuführen war dieser Zuwachs in erster Linie auf die hohe Geburtenrate.8 Jüdische Zuwanderung in die Landgemeinde erfolgte nur in geringem Maße, da der Ort aufgrund seiner abgeschiedenen Lage auf dem Hunsrück keine besondere Anziehungskraft besaß. Zudem unterband auch die Weitergeltung des „décret infâme“ den Zuzug von Juden aus anderen Teilen Preußens bzw. aus Teilen der Rheinprovinz, in denen noch andere Judenordnungen galten.9 In der Regel kamen neue jüdische Einwohner über Eheschließungen in den Ort. Vor Beginn der preußischen Herrschaft war dies sehr häufig der Fall, denn 1808 stammte bei acht der 14 ansässigen jüdischen Ehepaare einer der Partner nicht aus Gemünden selbst. In einem weiteren Fall kam sogar keiner der Ehepartner aus dem Dorf, nämlich in dem des jüdischen Lehrers und seiner Frau. Das Heiratsverhalten änderte sich nach dem Ende der französischen Herrschaft kaum, denn die Gemündener Juden heirateten weiterhin häufig auswärtige Juden. Dieses Verhalten lässt sich mit der nur beschränkten Auswahl an potenziellen Ehepartnern im Ort selbst erklären. Meistens zog das frisch vermählte Paar an den Wohnsitz des Bräutigams.10 Da dem Zuzug in den Ort aufgrund von Eheschließungen ein ungefähr gleichwertiger Wegzug aus demselben Grund gegenüberstand, führte der Erstere zu keinem Bevölkerungswachstum. Der gleiche Sachverhalt lässt sich für eine andere Art der Wanderung feststellen: Ältere, meist verwitwete Elternteile, die zuvor in einem anderen Ort gewohnt hatten, wurden von ihren Kindern und deren Familien aufgenommen, wie beispielsweise der 79-jährige Marx Rhauner aus Sohren, der 1852 bei seinem Schwiegersohn Jakob Ochs lebte.11 Nach 1841 nahm die Zahl der Juden in Gemünden stetig ab, wenn auch die Geschwindigkeit nicht so hoch war, wie bei dem vorherigen Anwachs der jüdischen Bevölkerung. Zumindest bis 1860 können eine stark gesunkene Geburtenzahl oder eine gestiegene Sterberate nicht als Erklärung für diese Entwicklung dienen. In dem Zeitraum zwischen 1848 und 1857 übertraf die Anzahl der Geburten die Zahl



8 Vgl. Statistische Tabelle des Bürgermeistereiamts für Gemünden, 1834, in: LHAK Best. 655,12 Nr. 91. Vgl. Communalregister zu den Civilstandakten der Bürgermeisterei Gemünden, 1833 – 1842 sowie 1843 – 1852, in: LHAK Best. 656,54 Nr. 4 und Nr. 5. 9 Vgl. Kastner, Einführung, S. 31. 10 Vgl. Namensänderungsliste der Juden von 1808 in: LHAK Best. 256 Nr. 364. Vgl. LHAK Best. 655,12 Nr. 91, S. 3 – 57. Vgl. Roming, Gisela: Haushalt und Familie auf dem Lande im Spiegel südbadischer Nachlassakten, in: Richarz/Rürup, S. 279. 11 Vgl. Volkszählungsliste von Gemünden, 1852, in: LHAK Best. 655,12 Nr. 46. Vgl. Johann, S. 13. Vgl. Hyman, Paula E.: Jüdische Familie und kulturelle Kontinuität im Elsaß des 19. Jahrhunderts, in: Richarz/Rürup, S. 261.

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der Todesfälle sogar in einem erheblichen Ausmaß: Auf 63 Geburten kamen nur 39 Sterbefälle.12 Trotzdem verringerte sich die Zahl der in Gemünden ansässigen Juden währenddessen von 164 auf etwa 140.13 Der Rückgang der jüdischen Bevölkerung ist teilweise auf die Auswanderung in die USA zurückzuführen: Von 1848 bis 1857 emigrierten mindestens 22 jüdische Gemündener nach Amerika, während sich für die Zeit zuvor keine jüdischen Auswanderer nachweisen lassen.14 Die Emigration aus Gemünden ist im Kontext des Landkreises Simmern zu betrachten, in welchem die Auswanderung in den 1840er-Jahren stark zunahm und der damit Anteil an der in die gleiche Richtung gehenden Entwicklung auf nationaler Ebene hatte.15 Der Anteil der jüdischen Bevölkerung Gemündens an der Emigration war im Verhältnis zu ihrer relativen Zahl im Dorf überproportional: Von den zwischen 1843 und 1858 nach offiziellen Angaben auswandernden 103 Einwohnern Gemündens gehörten über 21 % dem Judentum an. Auch wenn davon auszugehen ist, dass einige christliche Auswanderer nicht in den Statistiken erscheinen, so bleibt der Anteil der Juden doch beachtlich. Auf nationaler Ebene lässt sich das gleiche Phänomen – ein im Verhältnis zur christlichen Bevölkerung überproportionaler Anteil an der Gesamtauswanderung – feststellen. Die Forschung erklärt dieses teilweise mit der rechtlichen Benachteiligung 12 Vgl. Communalregister zu den Civilstandakten der Bürgermeisterei Gemünden 1843 bis 1852 sowie 1853 bis 1862 in: LHAK Best. 656,54 Nr. 5 und Nr. 6. 13 Die Zahl der Juden im Jahr 1857 ist nicht bekannt, weswegen hier die Bevölkerungszahl der Juden von 1858 angenommen wurde. Vgl. Volkszählungsliste von Gemünden, 1858, in: LHAK Best. 655,12 Nr. 46. 14 Vgl. Diener, Walter: Die Auswanderer aus dem Amte Gemünden (Hunsrück) im 19. Jahrhundert, in: Rheinische Vierteljahresblätter, Jg. 5, 1935, S. 215 – 217. Für die Religionszu­ gehörigkeit vgl. die Volkszählungslisten von Gemünden, 1852, 1858, in: LHAK Best. 655,12 Nr. 46. Dieners Angaben wurden unter Hinzuziehung von Informationen über die in die USA emigrierten Juden leicht modifiziert. Vgl. Richter, John Henry: The Gemuenden families. Sixteen genealogical tables showing the relationships between the major jewish Families in Gemuenden (Rhineland-Palatinate) and in the state of Wisconsin up to about 1914, Ann Arbor 1990 sowie ders.: The Kirchberg documents. Supplement to From the Rhineland to Wisconsin, Ann Arbor 1990. Zum Leben der jüdischen Auswanderer aus Gemünden in den USA vgl. ders.: From the Rhineland to Wisconsin. About some Jewish pioneer families from Gemuenden and other towns from the Rhineland-Palatinate area of West Germany, who settled in Appleton and other towns of Eastern Wisconsin, Ann Arbor 1990. Die im Selbstverlag erschienenen Titel von Richter finden sich alle in: AJMB MF534. 15 Vgl. Diener, Walter: Die Auswanderung aus dem Kreise Simmern (Hunsrück) im 19. Jahrhundert, in: Rheinische Vierteljahresblätter, Jg. 8, 1938, S. 91 – 148. Vgl. Barkai, Avraham: Aus dem Dorf nach Amerika. Jüdische Auswanderung 1820 – 1914, in: Richarz/Rürup, S.  109 – 120.

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der Juden in Preußen sowie in anderen deutschen Staaten. Die Auswanderung habe ihnen als Ersatz für die nicht oder nur teilweise gewährte Emanzipation gedient.16 Die Binnenwanderung aus Gemünden in größere Orte der Umgebung bzw. in weiter entfernte größere Städte, die durch die Abschaffung des „décret infâme“ im Jahr 1847 möglich wurde, entsprach in ihrem Umfang ungefähr dem der Auswanderung. Dies lässt sich aus der Zahl der Geburten, der Sterbefälle sowie der Auswanderer ableiten. Auf der Ebene der deutschen Nationalstaaten einschließlich Preußens nahm die jüdische Binnenwanderung in Richtung der urbanen Zentren seit der Mitte des 19. Jahrhunderts größeren Umfang an. Nichtsdestotrotz lebten zur Zeit der Reichsgründung noch ungefähr 70 % der deutschen Juden in Dörfern und Kleinstädten.17 Der Zug in die Städte machte sich in den Fünfzigerjahren allerdings schon in den meisten rheinischen Regierungsbezirken bemerkbar, wo die Abwanderung vom Land eine Abnahme der jüdischen Landbevölkerung bewirkte. Im Fall von Gemünden fällt die Gleichmäßigkeit der Abnahme der jüdischen Bevölkerung ins Auge, die das Bild einer regelrechten „jüdischen Landflucht“ zum Ende des Jahrhunderts etwas relativiert.18 Für den Regierungsbezirk Koblenz lässt sich feststellen, dass nach 1850 viele seiner jüdischen Einwohner in die Handels- und Dienstleistungszentren der nördlichen Bezirke abwanderten, beispielsweise nach Köln oder Düsseldorf. Die sich im Ruhrgebiet entwickelnden Industriestädte übten dagegen auf die Juden eine wesentlich geringere Anziehungskraft aus als auf die christliche Bevölkerung.19 Bei einem Vergleich der Entwicklung der jüdischen Bevölkerung in Gemünden mit derjenigen der christlichen Bevölkerung – die sich aus zwei Konfessionen zusammensetzte – fällt auf, dass sie nicht parallel verliefen. Im Gegensatz zur jüdischen Bevölkerung stieg die Anzahl der christlichen Einwohner bis 1828 an, stagnierte dann aber bis 1843. Der Schwerpunkt des jüdischen Bevölkerungswachstums 16 Vgl. Dietrich, Tobias: Drei Gemeinden in einer: Studien zu Simultangemeinden im Hunsrück im 19. Jahrhundert. Simultanstreitigkeiten und dörfliches Leben in Gemünden/ Hunsrück (1814/16 – 1897), unveröff. Staatsexamensarbeit, Trier 1997, S. 16. Vgl. Barkai, Avraham: Amerikaauswanderung, Sozialprofil und Identitätsproblematik der deutschen Juden 1830 – 1914, in: Shulamit Volkov (Hg.): Deutsche Juden und die Moderne (Schriften des Historischen Kollegs: Kolloquien, Bd. 25), München 1994, S. 120. 17 Vgl. Richarz, Monika: Die Entwicklung der jüdischen Bevölkerung, in: Meyer/Brenner, Bd. 3, S. 28 f. 18 Im Gegensatz dazu die allgemeinen Angaben bei Barkai, Avraham: Jüdische Minderheit und Industrialisierung. Demographie, Berufe und Einkommen der Juden in Westdeutschland 1850 – 1914 (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo-Baeck-Instituts, Bd. 46), Tübingen 1988, S. 20, 51 f. 19 Vgl. Richarz, Entwicklung, S. 32 f. Vgl. Kastner, Einführung, S. 31. Vgl. Barkai, Minderheit, S. 19 f., 98 – 104. Vgl. Zittartz-Weber, Religion, S. 79 f.

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lag dagegen in der Zeit zwischen 1835 und 1843. Nach 1843 ähneln sich die Entwicklung der protestantischen und der jüdischen Bevölkerung mehr als die der protestantischen und der katholischen Einwohnerschaft. Der Grund dafür liegt in der Abwanderung in die Städte sowie in der Auswanderung nach Übersee, von der die protestantische und die jüdische Bevölkerung mehr betroffen waren als die katholische Bevölkerung. Letztere wuchs bis 1858 sogar recht stark an. Während die jüdische Bevölkerung nach 1858 weiterhin kontinuierlich abnahm, legten die protestantische und die katholische Bevölkerung bis 1864 leicht zu. Ab 1864 schrumpfte die Einwohnerzahl aller Konfessionen. Der Anteil der jüdischen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung Gemündens betrug 1808 fast 16 %. Bis 1822 stagnierte er dann bei etwa 15 % und fiel 1834 sogar auf 13 %. Durch den starken Zuwachs bis zum Jahr 1843 erreichte der jüdische Bevölkerungsanteil 1843 seinen höchsten Wert mit 18%. Danach nahm der Anteil der Juden an der Dorfbevölkerung allerdings kontinuierlich ab. 1848 betrug er knapp 16 %, 1864 knapp 14 %, 1873 etwa 13 % und 1894 nur noch 12 %. Ein Vergleich dieser Zahlen mit dem jüdischen Bevölkerungsanteil auf staatlicher sowie regionaler Ebene demonstriert, wie hoch derjenige von Gemünden war. Auf preußischer Ebene schwankte der Anteil zwischen 1,23 % im Jahr 1821 und 1,32 % zum Zeitpunkt der Reichsgründung. Im Regierungsbezirk Koblenz erreichte die jüdische Bevölkerung 1834 mit 1,9 % den höchsten Anteil an der Gesamtbevölkerung.20 Zwar siedelten die in diesem Bezirk ansässigen Juden 1845 verstreut über 240 Ortschaften, allerdings gab es 66 Dörfer bzw. Flecken, in denen mindestens 30 jüdische Einwohner lebten. In diesen kleinen Orten stellten sie in der Regel einen nicht zu vernachlässigenden Anteil der Gesamtbevölkerung dar.21 Daher ist zu betonen, dass die Aussagekraft von Durchschnittswerten oberhalb der lokalen Ebene gering sein kann. In Hinblick auf die Zerstreuung ist zu bemerken, dass sie in der Rheinprovinz in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunahm, da sich in diesem Zeitraum Juden in Orten niederließen, in denen zuvor noch keine Glaubensgenossen ansässig gewesen waren.22 Wie im Fall von Gemünden handelte es sich bei Illingen um ein Dorf, dessen jüdische Gemeinde bereits zur Zeit des Ancien Régime existierte. Die Nieder­ lassung der ersten Juden fand im Rahmen der Peuplierungspolitik der Inhaber der Reichsherrschaft statt. Diese verfolgten Anfang des 18. Jahrhunderts das Ziel, die Wirtschaftskraft ihres kleinen Territoriums über die Einrichtung von Märkten und 20 Vgl. Toury, Geschichte, S. 10 f. Vgl. Barkai, Minderheit, S. 98 – 104. 21 Unberücksichtigt bleiben bei dieser Zahl Städte mit mindestens 30 jüdischen Einwohnern. Vgl. GStA Rep. 76 III Sekt. 1 Abt. XIIIa Bd. 1i, S. 70 – 75. Vgl. Jehle, Juden, Bd. 4, S. 1380. 22 Vgl. Kastner, Einführung, S. 31.

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verstärktem Handel sowie die Ansiedlung jüdischer Einwohner zu erhöhen.23 Kurz vor der Französischen Revolution bestand die jüdische Gemeinschaft in Illingen aus etwa 50 Personen. Unter der französischen Herrschaft stieg die Zahl der in Illingen beheimateten Juden durch Zuzug so an, dass die Gemeinde 1808 bereits 81 Personen umfasste.24 Die Gründe für die Zuwanderung sind wohl in den neuen wirtschaftlichen Möglichkeiten zu finden. Die Anziehung des Ortes als traditioneller jüdischer Siedlungsraum dürfte dagegen einen eher geringen Einfluss gehabt haben, da sich in Gemünden, welches ebenfalls auf eine lange jüdische Ansiedlung im Ancien Régime zurückblicken konnte, keine ähnliche Entwicklung feststellen ließ.25 Im Regierungsbezirk Trier lebten 1822 insgesamt 3201 jüdische Einwohner, also nur etwa halb so viele wie im Bezirk Koblenz. Auch der Anteil an der Gesamtbevölkerung war etwas niedriger als im benachbarten Regierungsbezirk. Schwerpunkte der jüdischen Siedlung lagen an der Mosel sowie in dem Kreis Saarlouis, der zuvor ein Teil Lothringens gewesen war, und dem Kreis Ottweiler, in welchem sich Illingen befand. Dass in der Westeifel und dem Kreis Saarbrücken nur wenige Juden wohnten, war noch eine Folge der vorrevolutionären Verhältnisse: Das erstere Gebiet gehörte bis 1815 zu Luxemburg, wo bis 1795 den Juden die Niederlassung verboten war, und die Saarbrücker Juden wurden 1776 auf Verlangen der ansässigen Kaufmannschaft vertrieben. Nachdem sich unter französischer Herrschaft wieder einige Juden in der Saarstadt angesiedelt hatten, wurden im Ersten Empire erneut Rufe nach einer Vertreibung laut.26 Bis zum Jahr 1824 stieg die jüdische Bevölkerung Illingens auf 153 Personen an.27 Die sich durch die 1820er-Jahre ziehende Zunahme war nach der Meinung des Bürgermeisters Müller zu einem großen Teil auf die hohe jüdische Geburtenrate zurückzuführen, welche die Sterberate übertraf. In dem Zeitraum von Anfang 1823 bis Ende 1828 kamen auf 35 Geburten nur 21 Todesfälle. Einen weiteren Grund für das Anwachsen der jüdischen Gemeinschaft sah der Bürgermeister darin, dass 23 Vgl. LHAK 53C23 Nr. 4, S. 24 f. Vgl. Kirsch, Juden, S. 7 – 11. Nauhauser geht von einer Ansiedlung vor 1700 aus, die allerdings nicht belegt ist. Vgl. Nauhauser, Otto: Die jüdische Gemeinde zu Illingen, Illingen 1980, S. 17. 24 Vgl. LHAK Best. 54/33 Nr. 315. Vgl. Kirsch, Juden, S. 126 f. Vgl. LHAK Best. 276 Nr. 624, S. 36. Vgl. Nauhauser, S. 25 – 39. 25 Vgl. Kirsch, Juden, S. 130. 26 Vgl. Zittartz-Weber, Religion, S. 76. Vgl. Kastner, Einführung, S. 28 f., 170 f. Vgl. ­Kasper-Holtkotte, Kultus, S. 28. Vgl. Marx, Geschichte, S. 20 f. Vgl. Blumenkranz, Bernhard: Les Juifs sous le Premier Empire. De 1805 à 1808, in: Archives Juives, Nr. 1 – 2, Jg. 24, 1988, S. 62. 27 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1545, S. 20 – 23. Die folgenden Bevölkerungszahlen zu Illingen – die jüdischen wie die christlichen – enthalten immer die in Gennweiler vorhandene Bevölkerung.

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aufgrund von Eheschließungen häufig aus dem Ausland stammende jüdische Frauen, die ohne höhere Genehmigung einwandern durften, nach Illingen zogen. Nach seinen Angaben verheirateten sich dagegen die Illinger Jüdinnen nur selten ins Ausland.28 Bei den sechs jüdischen Heiraten, die zwischen 1820 und 1828 in Illingen stattfanden, kam nur in einem Fall die Braut aus dem Ort selbst. Vier der anderen Frauen stammten aus der Pfalz und eine aus Frankreich.29 Ob tatsächlich kaum Jüdinnen aus Illingen wegzogen, um sich zu verehelichen, lässt sich nicht anhand der vom Bürgermeister geführten Heiratsregister belegen, da dort nur die im Ort geschlossenen Ehen verzeichnet wurden. Es ist wahrscheinlich, dass Müller Rückschlüsse aus seiner Tätigkeit als Standesbeamter zog, bei der in der Regel nur Eheschließungen zwischen einheimischen Juden und häufig von auswärts kommenden Jüdinnen protokolliert wurden. Falls Jüdinnen aus Illingen einen in einem anderen Ort lebenden Juden heirateten, so wurde die Eheschließung meist in dessen Wohnort vollzogen, da die Paare häufig im Ort des Ehemanns ansässig wurden. Diese Eheschließungen nahm der Bürgermeister nicht wahr, weswegen dessen Aussagen kritisch zu betrachten ist.30 Jüdische Männer wechselten ihren Wohnort bei einer Heirat nur, wenn die zukünftigen Ehefrauen Grund- oder Immobilienbesitz in die Ehe einbrachten, während sie nicht über solchen verfügten. Beispielsweise verließ Abraham Strauss, der Sohn des Illinger Juden Salomon Strauss, ein seinem Vater gehörendes Haus in Sulzbach, um eine Kreuznacher Glaubensgenossin zu heiraten, die über Vermögen verfügte.31 Die Unterbindung des Zuzugs von Juden nach Illingen wurde von den verschiedenen Bürgermeistern nicht mit der gleichen Intensität verfolgt. Während der bereits erwähnte Müller diese Aufgabe als wichtig ansah, schien sie für seinen Amtsvorgänger Schneider eher eine Belanglosigkeit zu sein. Letzterer meldete 1826 den höheren Behörden z. B. den Aufenthalt des aus dem bayerischen Würzweiler stammenden Fuhrmann im Dorf erst, nachdem dieser zu ihm gekommen war, um die Erlaubnis zu erhalten, als jüdischer Lehrer tätig zu werden.32 In seinem Bericht für die Bezirksregierung Trier befürwortete er den Wunsch des Antragstellers in der Hoffnung, dass „die bestehende Verordnung, daß kein männliches jüdisches Subject im diesseitigen Staate aufgenommen werde“,33 in diesem Fall kein Hindernis darstellen würde. Die Regierung gestattete einstweilen den Aufenthalt des 28 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 68, S. 7. 29 Vgl. Nauhauser, S. 130 f. 30 Vgl. Kirsch, Juden, S. 42 f. Vgl. Heiratsregister des Standesamtes Illingen, in: Nauhauser, S.  129 – 145. 31 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1313, S. 79. 32 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1545, S. 46 – 53. 33 Ebd., S. 53.

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Lehrers aufgrund seiner Funktion und verlangte erst 1½ Jahre später von F ­ uhrmann, sich für einen längeren Aufenthalt an das Innenministerium zu wenden, da in der Rheinprovinz keine fremden Juden aufgenommen werden sollten.34 Die eher liberale Einstellung von Bürgermeister Schneider unterschied sich nicht nur von dem tendenziell inkonsequenten Verhalten der Bezirksregierung zur jüdischen Einwanderung, sondern stand auch im Gegensatz zu derjenigen seines zeitwei­ligen Vorgesetzten Schönberger, dem Landrat des Kreises Ottweiler. Dieser bestand 1825 darauf, dass der aus Böhmen stammende jüdische Lehrer Bromberger „aus der Gemeinde zu entfernen“35 sei, nachdem er infolge einer Prüfung als unbefähigt für diese Aufgabe eingestuft worden war. Die Feststellung des Illinger Bürgermeisters von 1830, dass jüdische Ein­wohner häufig Partner aus anderen Orten heirateten, ist als richtig anzusehen.36 Die Heirats­ beziehungen orientierten sich auch noch unter der preußischen Herrschaft teilweise an den bereits im Ancien Régime entwickelten Verbindungen. Daher kam es wie schon im 18. Jahrhundert zu Eheschließungen zwischen jüdischen Einwohnern aus Illingen und Glaubensgenossen aus Steinbach, Glanmünchweiler, Homburg, Ottweiler und Tholey.37 Auch die aus der Zeit der kerpischen Reichsherrschaft stammenden Verbindungen ins nahe Lothringen – Lixing und eine Hälfte von Rouhling bildeten vor den Umbrüchen Ende des 18. Jahrhunderts Exklaven des kleinen Terri­toriums in französischem Gebiet – wurden weiterhin unter­halten. So heiratete beispielsweise 1825 der Illinger Händler Gottschall Levi die aus G ­ rosbliederstroff stammende Sara Bloch.38 Staatliche Grenzen wurden nicht nur bei den jüdischen Heiraten im 18. Jahrhundert, sondern auch bei den Ehes­chließungen nach 1815 überwunden. Zur Zeit des Ancien Régime stellte die fehlende Freizügigkeit noch ein bedeutendes Hindernis für die jüdischen Heirats­willigen dar, aber auch als Illingen der Rheinprovinz angehörte, war die Freizügigkeit aufgrund des bis 1847 in Kraft bleibenden napoleonischen Dekrets von 1808 nicht vollkommen gewährleistet. So betonte Bürgermeister Müller 1835, dass er darauf bedacht sei, dass „keine fremden Juden sich hier niederlassen, noch einzelne Individuen sich hier einschleichen“.39 Falls einer der Illinger Juden sich eine Jüdin aus dem Ausland zur Ehefrau

34 Vgl. ebd., S. 97. Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1546, S. 1. 35 LAS Dep. Illingen Nr. 1545, S. 41. 36 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 68, S. 7. 37 Vgl. Kirsch, Juden, S. 42 f. Nauhauser, S. 129 – 145. 38 Vgl. Nauhauser, S. 129 f. Vgl. Kirsch, Juden, S. 42 – 49. Vgl. ders., Illingen, S. 35. 39 LAS Dep. Illingen Nr. 68, S. 20. Vgl. zu den Verwandtschaftsverhältnissen zwischen Lothringen und dem Saargebiet auch Schestag, Annemarie: Woher stammt die Merziger Familie Hanau?, in: Saarländische Vierteljahreszeitschrift Saarländische Familienkunde, Jg. 9, 2000, S. 64 – 80.

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nahm, hatte der Beamte allerdings keine Möglichkeit, dies zu unterbinden, wie er bedauernd feststellte. Auch ohne starke Zuwanderung stieg die Zahl der jüdischen Einwohner Illingens in der ersten Jahrhunderthälfte kontinuierlich an. 1833 betrug ihre Anzahl 183, und 1840 umfasste die Judengemeinde bereits 206 Personen.40 Das sich innerhalb von nur 16 Jahren vollziehende Wachstum der jüdischen Bevölkerung von 34 % war Folge des Geburtenüberschusses: In den Jahren von 1824 bis 1840 standen den 55 jüdischen Sterbefällen 94 Geburten gegenüber.41 Die in Illingen bis zur Jahrhundertmitte zu beobachtende Entwicklung ist als typisch für die südlichen Regierungsbezirke der Rheinprovinz anzusehen: In beiden stieg die jüdische – und auch die christliche – Bevölkerung aufgrund des hohen Geburtenüberschusses stark an. Im Regierungsbezirk von Trier erhöhte sich die jüdische Einwohnerschaft im Zeitraum von 1822 bis 1846 um etwa 56 % auf 4981 Personen.42 Wie im Nachbarbezirk lebte sie verstreut, aber immerhin gab es auch hier 48 ländliche Orte, in denen sich zumindest 30 Juden niedergelassen hatten.43 Nach der Jahrhundertmitte veränderte sich der Anteil der jüdischen Bevölkerung in Illingen zunächst nur unwesentlich und erreichte 1857 mit 214 Personen seinen vorläufigen Höhepunkt.44 Nach einem kleinen Einbruch auf 190 Einwohner im Jahre 1860 wuchs die Zahl der jüdischen Bevölkerung allmählich wieder an, bis sie 1881 das Maximum von 262 Juden erlangte.45 Nach diesem Zeitpunkt nahm die Zahl der jüdischen Illinger kontinuierlich ab, sodass sie 1905 nur noch eine Gruppe von 200 Personen bildeten.46 Während die Zunahme der jüdischen Bevölkerung zwischen 1860 und 1881 auf die niedrige Zahl von Todesfällen und die gleichzeitig hohe Geburtenrate zurückzuführen ist – 49 Verstorbene und 126 Neugeborene sind in den Standesamtsakten verzeichnet –, findet die schwankende Entwicklung zwischen 1840 und 1860 in der Migration jüdischer Einwohner ihre Erklärung. Aufgrund des Geburtenüberschusses von 44 Personen zwischen 1840 und 1857 sowie von sieben Personen zwischen 1857 und 1860 hätte die Zahl der jüdischen Bevölkerung zunehmen müssen.47 Dass sie es nicht tat, ist wohl größten­teils auf die Auswanderung nach Amerika zurückzuführen, da die jüdische Migration

40 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1686, S. 34. Die jüdischen Einwohner von Merchweiler sind nicht berücksichtigt. Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 104, S. 30. Vgl. Knopp, S. 48. 41 Vgl. Nauhauser, S.  61 – 74, 155 – 159. 42 Vgl. Zittartz-Weber, Religion, S. 76. 43 Vgl. Jehle, Juden, Bd. 4, S. 1495 – 1504. 44 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 104, S. 30, 53. 45 Vgl. ebd., S. 129. Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 110, S. 6. 46 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 111, S. 203. Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 116, S. 9. 47 Vgl. Nauhauser, S.  74 – 109, 159 – 169.

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vom Land in größere Städte vor der Jahrhundertmitte in der Saarregion noch nicht eingesetzt hatte.48 Hingegen machte sich die Auswanderung nach Übersee bereits Ende der Dreißiger­jahre des 19. Jahrhunderts im Kreis Ottweiler bemerkbar. Der Bürgermeister von Illingen stellte 1837 fest, dass die „Auswanderungssucht nach Amerika“ sowohl Ledige als auch ganze Familien ergriffen habe und dieselben ohne Legitimation die Rheinprovinz verließen, um über Forbach nach Le Havre zu gelangen, von wo sie sich nach Amerika einschiffen würden. Zu diesen das Land „ohne Consens“ Verlassenden gehörten auch Salomon Lion sowie Ludwig Adler, welche zur Jahrhundertmitte – wie einige christliche Altersgenossen auch – der Wehrpflicht entgehen wollten.49 Die Staatsgrenze stellte kein Hindernis für die Emigranten dar, da die lokalen französischen Behörden diese bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein kaum überwachten. Manche der illegalen deutschen Auswanderer ersuchten die französischen Behörden nach dem Verlassen des preußischen Territoriums, ihnen Pässe für die Reise bis zu den Häfen auszustellen. Dies taten z. B. 42 Personen aus dem Kreis Ottweiler zwischen 1818 und 1843 für sich und gegebenenfalls auch ihre sie begleitenden Familien.50 Nicht alle Emigranten äußerten allerdings dieses Verlangen, sondern ein Teil von ihnen erwarb nach dem Übertritt in französisches Staatsgebiet gefälschte Ausweispapiere, beispielsweise in den Dreißigerjahren bei einem gewissen Blum in Forbach. Über die Arbeit dieses Passfälschers waren sogar die Dorfbewohner in Illingen informiert. Dies hatte zur Folge, dass diejenigen, welche keine Ausreisegenehmigung erhalten hätten, weil sie noch Schulden hatten, den Ort ohne Pässe verließen, da sie wussten, dass sie in Forbach Ausweispapiere kaufen konnten.51 Die jüdische Beteiligung an der Auswanderung nach Übersee war im Illinger Fall bis Ende der Vierzigerjahre eher gering. Erst in den Fünfzigerjahren, nachdem sich einige der ersten jüdischen Auswanderer erfolgreich als Geschäftsleute in den USA etabliert hatten, änderte sich dies, sodass sie in den Fünfzigern und Sechzigern über die Hälfte der Auswanderer stellten. Es entschlossen sich mindestens 18 Juden, dem Beispiel ihrer Glaubensgenossen zu folgen, wie z. B. Emmanuel Michel Levi,

48 Vgl. Marx, Geschichte, S. 110 f. 49 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 68, S. 28 – 31. Vgl. Mergen, Josef: Die Auswanderungen aus den ehemals preußischen Teilen des Saarlandes im 19. Jahrhundert, 2 Bde., hier Bd. 2: Die Auswanderer (Veröffentlichungen des Instituts für Landeskunde im Saarland, Bd. 28), Saarbrücken 1987, S. 402. 50 Vgl. Schlesier, Vereinendes, S. 140 f. Vgl. Marchal, Marie-José: „Viva America.“ Emigration mosellane vers les Etats-Unis au XIXe siècle, 2. Aufl., Corny-sur-Moselle 1993, S. 231 – 245, 266. Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 68, S. 30. 51 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 68, S. 30 – 33.

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der in den USA Handel treiben wollte. Einige begaben sich auch nur für kurze Zeit nach Amerika, wie z. B. Gottlieb Barth, der 1852 seinen Brüdern einen Besuch abstattete, oder der in Grosbliederstroff geborene Albert Israel, dessen Ziel es ebenfalls war, Verwandte wiederzusehen. Nicht alle von denen, die ursprünglich nur einen Kurzaufenthalt beabsichtigten, kehrten allerdings wieder zurück, z. B. blieb die 16-jährige Johannetta Mayer, die zu einem Besuch nach Philadelphia reiste, in Amerika.52 Die über den Atlantik hinweg gepflegten familiären Verbindungen hatten die Folge, dass sich weitere Personen zur Auswanderung entschlossen bzw. Eltern ihre Kinder dorthin schickten. Der bereits erwähnte Gottlieb Barth ließ seine drei ältesten Söhne bei ihren als Kaufleuten tätigen Onkeln ausbilden. Nachdem die Kinder ein eigenes Geschäft in Missouri gegründet hatten, entschied er, dass auch sein vierter Sohn in die USA emigrieren sollte: „Wenn ich meinen Sohn hier in die Lehre gebe, so wird er mich vieles Geld kosten, wogegen derselbe bei seinen Brüdern diese Lehre unentgeltlich hat und diesen noch eine Aushülfe geben kann.“53 Meist standen die ökonomischen Motive im Vordergrund, allerdings spielte besonders im Umfeld von kriegerischen Konflikten auch die Verweigerung der Wehrpflicht eine Rolle. Mindestens 13 Illinger – unter ihnen auch fünf Juden – entzogen sich in den Sechzigerjahren über die Auswanderung der militärischen Rekrutierung. Von dieser speziellen Motivation abgesehen sank seit den Sechzigerjahren die Neigung zur Auswanderung, wie auch ein Blick in das bürgermeisterliche Verzeichnis der Anträge auf Reisepässe sowie Wanderbücher belegt. Die geringe Anzahl an Einträgen in dieser Akte nach 1870 verdeutlicht darüber hinaus auch, dass wegen der Gründung des Deutschen Reiches zahlreiche zuvor staat­ liche Grenzen verschwanden. Weder für Reisen in die benachbarte bayerische Pfalz noch für kurze Aufenthalte im annektierten Lothringen war die Erwerbung von Pässen noch erforderlich.54 Ein kurzzeitiger Anstieg der Auswanderung, an dem allerdings kaum Juden beteiligt waren, lässt sich noch einmal zu Beginn der Achtziger konstatieren.55 Die im vorletzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts einsetzende Abnahme der jüdischen Bevölkerung Illingens hing im Gegensatz zu der Entwicklung bis 1860 vornehmlich mit der Binnenmigration der jüdischen Bevölkerung in größere Städte zusammen. Bis zum Beginn der Achtzigerjahre blieben die Juden Illingens von dieser Entwicklung weitgehend unberührt, weil das christliche Bevölkerungswachstum dafür sorgte, dass 52 Zu den Angaben von Mergen wurde ergänzend das Verzeichnis der Anträge auf Reisepässe sowie Wanderbücher von Illingen für die Jahre von 1862 bis 1881 hinzugezogen. Vgl. Mergen, Bd. 2, S. 398 – 403. Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1014, S. 5 – 12. 53 Mergen, Bd. 2, S. 405. 54 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1014, S. 5 – 12. 55 Vgl. Mergen, Bd. 2, S. 406 f.

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die zahlreichen jüdischen Händler ihr Auskommen fanden. Ein weiterer Grund für die spät einsetzende Abwanderung ist die späte Ausbildung städtischer Zentren in der Region. Erst nach 1880 entfalteten die sich entwickelnden größeren Städte (z. B. Saarbrücken) sowie andere von der Industrialisierung – und damit zugleich von einem starken Bevölkerungsanstieg – betroffene Ortschaften (z. B. Neunkirchen) ihre Anziehungskraft auf die jüdische Landbevölkerung. Von Interesse waren diese für die Letztere nicht aufgrund des Industriesektors selbst, sondern durch deren Charakter als aufstrebende Handels- und Geschäftszentren. In der Regel verließen nur die jüngeren Juden ihren Geburtsort, um die dort erhofften besseren Bildungs-, Berufs- und Einkommensmöglichkeiten zu nutzen.56 Die erst spät einsetzende Urbanisierung im Trierer Regierungsbezirk bewirkte, dass der Anteil der Landjuden sowie der in Kleinstädten lebenden Juden an der dortigen jüdischen Einwohnerschaft größer blieb als im Koblenzer Bezirk. Zwischen 1817 und 1880 blieb er im Ersteren mit etwa 70 % nahezu unverändert, während im Nachbarbezirk der Anteil der Land- und Kleinstadtjuden auf 61 % zurückging. Gemeinsam ist beiden, dass erst im Verlauf der Achtzigerjahre die jüdische Bevölkerung auf dem Land und in den Kleinstädten auch in absoluten Zahlen abzunehmen begann. Im Vergleich zur nördlichen Rheinprovinz, in der 1880 schon mehr als die Hälfte der jüdischen Bevölkerung in größeren Städten lebte, zog sich im Süden die Urbanisierung der jüdischen Einwohnerschaft länger hin.57 Noch deutlicher als im Fall von Gemünden lassen sich für Illingen Unterschiede zwischen der jüdischen und der christlichen Bevölkerungsentwicklung feststellen. Die Letztere zeichnete sich im Gegensatz zur Ersteren durch ein sich durch das gesamte 19. Jahrhundert ziehendes Wachstum aus. Während der Anstieg bis zur Jahrhundertmitte ausschließlich auf natürlichem Wachstum beruhte, war die sich zwischen 1855 und 1885 ereignende Verdoppelung der christlichen Einwohnerschaft Illingens wohl in der zunehmenden Industrialisierung im Umkreis des Ortes und dem mit ihr verbundenen Zuzug begründet.58 56 Vgl. Marx, Geschichte, S. 110 – 112. Vgl. Laufer, Wolfgang: Eine Region in Bewegung. Bevölkerung und Siedlung im Prozess der Industrialisierung, in: Klaus-Michael M ­ allmann (Hg.): Richtig daheim waren wir nie. Entdeckungsreisen ins Saarrevier 1815 – 1955, 2. überarb. Aufl., Berlin 1988, S. 22 f. Vgl. Jacob, Joachim: Vom Bauernort zum Industrieort – Neunkirchen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Rainer Hudemann/Rolf Wittenbrock (Hg.): Stadtentwicklung im deutsch-französisch-luxemburgischen Grenzraum (19. und 20. Jahrhundert) (Veröffentlichungen der Kommission für Saarländische Landesgeschichte und Volksforschung, Bd. 21), Saarbrücken 1991, S. 22 – 34. 57 Vgl. Zittartz-Weber, Religion, S. 82 – 85. Vgl. Barkai, Minderheit, S. 19 – 21, 98 – 104. Die angegebenen Werte basieren auf Barkai, der Orte mit weniger als 20.000 Einwohnern als Landgemeinden einstuft. 58 Beispielsweise fanden Bergleute Arbeit in der nahe gelegenen Kohlegrube Itzenplitz bei Schiffsweiler. Vgl. Marx, Geschichte, S. 110. Vgl. Laufer, S. 22 f. Vgl. LAS Dep. Illingen

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3000 2750 2500

Juden Christen

2500 2000 1750 1500 1250 1000 750 500 250 0 1808

1824

1833

1843

1855

1860

1863

1881

1885

1895

Abbildung 1: Die Bevölkerungsentwicklung in Illingen

Aufgrund der nicht parallel verlaufenden jüdischen und christlichen Bevölkerungsentwicklungen variierte der Anteil der Illinger Juden an der Dorfbevölkerung stark. Am höchsten war der relative Anteil der Juden an der Einwohnerschaft des Ortes in der ersten Jahrhunderthälfte. 1833 betrug er knapp 20 %, eine Marke, die 1843 sogar leicht übertroffen wurde.59 In den darauffolgenden Jahrzehnten lässt sich die kontinuierliche Abnahme des jüdischen Bevölkerungsanteils beobachten. Bereits kurz nach der Jahrhundertmitte sank dieser Anteil auf etwa 16 % ab und bis Ende 1860 reduzierte er sich weiter auf 13 %.60 Obwohl die Zahl der jüdischen Illinger erst 1881 ihren absoluten Höhepunkt erreichte, bildeten sie in diesem Jahr nur noch 11,5 % der Einwohnerschaft.61 Bis 1885 sank der jüdische Bevölkerungsanteil unter 10 %, 1895 betrug er noch 7,5 % und 1905 gerade noch gut 5 %.62

Nr. 108, S. 233 – 239. 59 Vgl. Landesarchivverwaltung , Bd. 5, S. 48, 124. 60 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 104, S. 30, 129. 61 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 110, S. 6. 62 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 111, S. 203. LAS , Dep. Illingen Nr. 116, S. 9. Vgl. Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz, Bd. 5, 124.

144

Bedingungen des Lebens auf dem Land

3.1.1.2 Freiwillig auf dem Land: in Lothringen

In Lothringen blieb bis auf den Fall von Metz, das Mitte des 18. Jahrhunderts mit etwa 2200 jüdischen Einwohnern das Zentrum des französischen Judentums bildete, die Zahl der Juden in den Städten aufgrund der Widerstände von Verwaltungen und christlichen Einwohnerschaften eher gering.63 Nach der Revo­lution lassen sich zwei gegensätzliche Bewegungen feststellen: Einerseits zogen viele Städte nun Juden aus der Umgebung an, z. B. Nancy und Lunéville; andererseits verließen zahlreiche jüdische Einwohner Metz, um sich auf dem Land ansässig zu machen. Das letztere Phänomen setzte bereits vor der Emanzipation ein und ist auf die prekäre Wohn- und Einkommenssituation der dortigen Juden zurück­zuführen. Nach der Revolution bot die Verbesserung der Lage der Bauern, mit denen sie teilweise Geschäfte machten, einen zusätzlichen Grund, aufs Land zu ziehen. Beispielsweise zog der Fleischer Lion Lambert von Metz nach Grosbliederstroff, wo er sich mit Jeanette Levy vermählte. Aufgrund der Stadt-Land-Migration und des Zuzuges elsässischer Juden lässt sich, wie in der Rheinprovinz, eine Verstreuung der jüdischen Bevölkerung feststellen: Jüdische Einwohner waren zur Zeit des Ersten Empires in insgesamt 168 lothringischen Ortschaften ansässig, wobei ihre Zahl in 77 der Niederlassungen zumindest 30 Personen betrug.64 Im Jahr 1815 lebte im Territorium Lothringens eine jüdische Bevölkerung von 10.545 Personen. Von diesen wohnten 6506 bzw. 3289 in den Départements Moselle und Meurthe, während sich in den west- und südlothringischen Départements Meuse und Vosges mit insgesamt 750 jüdischen Einwohnern lediglich 9 % der lothringischen Juden aufhielten. Lothringen bildete in den ersten beiden Jahrzehnten des Jahrhunderts einen Schwerpunkt der jüdischen Siedlung innerhalb Frankreichs: Etwa 23 % der französischen Juden waren dort beheimatet.65 Bis 1841 vergrößerte sich die Zahl der in Lothringen lebenden Juden auf 15.825 Personen 63 Vgl. Meyer, Pierre-André: La communauté juive de Metz au XVIIIe siècle, Nancy 1993, S. 27 – 46. Vgl. Meyer, présentation, S. 10 f. Vgl. Job, Françoise: Meurthe-et-Moselle, Meuse, in: Henry Schumann: Mémoire des communautés juives, Meurthe-et-Moselle, Meuse, Vosges, Metz 2003, S. 16 – 19. 64 Vgl. Posener, effects, S. 284 – 288. Vgl. Meyer, Pierre-André: Remarques sur l’émigration judéo-messine (1791 – 1871), in: Archives Juives, Nr. 2, Jg. 32, 1999, S. 24 – 26. Vgl. ­Willigsecker, Alain: Chroniques blithariennes. La communauté israélite de G ­ rosbliederstroff aux 18ème et 19ème siècles, Selbstverlag, o. O. 1994, S. 38. Vgl. Neher-Bernheim, documents, Bd. 2, S. 140 f. 65 Vgl. Répartition religieuse de la population française par départements, ca. 1815, in: ANF 198 AP 10. Vgl. Dénombrement de la population juive, 1808, in: ANF F19 Nr. 11023. Vgl. Benbassa, histoire, S. 156. Dass 1808 etwa 350 Juden mehr in Lothringen beheimatet waren als 1815, erklärt sich wohl auch durch die Abtrennung von vier Saarkantonen 1815. Vgl.

Der jüdische Bevölkerungsanteil im Wandel

145

und nach einem weiteren leichten Anstieg überschritt sie 1853 sogar die Marke von 16.000. Die Ursache für dieses Wachstum war in erster Linie die hohe Geburtenrate, auch wenn Immigration aus dem benachbarten Saargebiet und dem Elsass ebenfalls eine Rolle spielte. Die örtliche Verteilung der jüdischen Bevölkerung innerhalb Lothringens blieb weitgehend unverändert: Dem von Juden bevorzugten Nordostteil der Region stand ein eher spärlich von ihnen besiedeltes westliches sowie südliches Lothringen gegenüber.66 Im Gegensatz zur Rheinprovinz setzte in Lothringen bereits Mitte der Fünfzigerjahre ein leichter Rückgang der jüdischen Bevölkerung ein, sodass dort 1861 nur noch 14.896 Juden lebten. Diese bildeten immer noch fast 19 % der jüdischen Einwohnerschaft Frankreichs.67 Der Deutsch-Französische Krieg und die mit ihm einhergehende Annexion eines Teils von Lothringen beschleunigten nicht nur den Rückgang der jüdischen Bevölkerung in der Region, sondern verursachte darüber hinaus auch ihre Umverteilung innerhalb des lothringischen Raumes. Das annektierte Lothringen setzte sich im Wesentlichen aus den Arrondissements Metz, Thionville und ­Sarreguemines (Département Moselle) sowie Château-Salins und Sarrebourg (Département Meurthe) zusammen, in denen der Großteil der lothringischen Juden lebte. Durch den Verlust dieses Territoriums sank die Zahl der lothringischen Juden innerhalb Frankreichs von 15.216 im Jahr 1866 auf 5809 1872. Im alten Département Moselle, dessen jüdische Einwohner fast vollständig im annektierten Gebiet lebten, verringerte sich infolge von Auswanderung die jüdische Einwohnerschaft von 7337 Personen 1866 auf 5830 im Jahr 1875.68 Die Einverleibung „Deutsch-Lothringens“ in das neu gegründete Reich bewog nämlich einen im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung überproportionalen Teil der dort ansässigen Juden, für Frankreich zu optieren: Während die Gesamtbevölkerung in dem genannten Zeitraum um 7,3 % sank nahm die jüdische Einwohnerschaft um 20,5 % ab. Dieses Phänomen betraf nicht nur, aber besonders stark die geho­ be­neren Schichten in den Städten, vor allem in Metz, dessen jüdische Gemeinde etwa 1000 ihrer 2500 Mitglieder verlor. Zwar lebten 1871/72 nur etwa 29 % der Juden Elsass-Lothringens in Orten mit mehr als 5000 Einwohnern, dennoch stellten sie 69 % der jüdischen Optanten. Die Gründe dafür waren vielschichtig: dazu Mieck, Ilja: Deutschlands Westgrenze, in: Alexander Demandt (Hg.): Deutschlands Grenzen in der Geschichte, München 1990, S. 214 – 217. 66 Vgl. Dénombrement de la population juive, 1841, 1853 in: ANF F19 Nr. 11024. Vgl. Meyer, survol, S. 13. 67 Vgl. Benbassa, histoire, S. 156. 68 Vgl. Bensimon, Doris/Della Pergola, Sergio: La population juive de France. Socio-démographie et identité (Jewish Population Studies, Bd. 17), Jerusalem 1986, S. 26. Vgl. Lang/ Rosenfeld, S. 135 f. Vgl. Schlesier, Grenzen, S. 53 – 59.

146

Bedingungen des Lebens auf dem Land

Patriotismus für Frankreich, das die Juden als erstes Land emanzipierte, sowie die Angst um ebendiese Gleichstellung spielten eine Rolle. Zudem waren auch ökonomische Überlegungen des jüdischen Handelsbürgertums, das die Trennung vom französischen Markt fürchtete, von Belang. Im Fall von Metz trat noch die Französischsprachigkeit als zusätzliches Argument hinzu.69 Die Ziele der jüdischen, aber auch der christlichen Migration aus dem Reichsland waren zum einen Paris, zum anderen das französisch gebliebene Lothringen. Während die meisten in der Region bleibenden Juden das sich zum neuen Zentrum emporschwingende Nancy im Département Meurthe-et-Moselle als Nieder­ lassung bevorzugten, stammte die Mehrheit der sich im Département Vosges ansiedelnden Juden aus dem Elsass. Infolge der Zuwanderung erreichte die jüdische Bevölkerung in Letzterem erst 1892 ihren Höhepunkt mit 2000 Personen und die Gemeinde von Nancy zählte aufgrund der starken Zuwanderung zur Jahrhundertwende etwa 4000 Mitglieder.70 Wie städtisch die jüdische Bevölkerung Frankreichs außerhalb der annektierten Gebiete geprägt war, wird bei einer Betrachtung des Urbani­sierungsgrades der französischen Juden vor und nach der Annexion deutlich: ­Während 1866 nur 56 % aller französischen Juden in einem städtischen Milieu lebten, waren es nach dem Verlust Elsass-Lothringens 1872 etwa 94 %.71 „Deutsch-Lothringen“, das bis zur Annexion den Schwerpunkt der jüdischen Siedlung innerhalb Lothringens dargestellt hatte, zählte trotz der Zuwanderung von Juden aus anderen Teilen des Reichs immer weniger jüdische Einwohner. ­Während Ende des Jahres 1871 noch 8571 Juden dort lebten, waren es 1880 nur noch 7439, und bis 1895 reduzierte sich die Zahl weiter auf 6579 Personen. Während der Anteil 69 Vgl. Meyer, présentation, S. 25. Vgl. Lifshitz-Krams, Anne: La naturalisation des Juifs en France au XIXe siècle. Le choix de l’intégration, Paris 2002, S. 47 f. Vgl. Caron, Germany, S. 45 – 74. Vgl. Caron, mémoire, S. 21 f. Zur Zeit der Annexion betonten französische Autoren den Patriotismus als Motiv der jüdischen Optanten, während auf deutscher Seite ökonomische Gründe in den Vordergrund gerückt wurden. Vgl. Avine-Goetz, Patricia: La communauté israélite de Moselle de 1870 à 1925 (vue à travers les communautés de Metz, Thionville, Sarreguemines et Saint-Avold), thèse, Metz 2002, S. 118 – 125. 70 Vgl. Job, Meurthe-et-Moselle, S. 25 f. Vgl. Grivel, Gilles: Les juifs dans le Vosges, in: Henry Schumann: Mémoire des communautés juives, Meurthe-et-Moselle, S. 62. Vgl. Barral, Pierre: L’épreuve nationale 1870 – 1925, in: René Taveneaux (Hg.): La vie religieuse (Encyclopédie illustrée de la Lorraine. La vie en Lorraine, Bd. 3), Metz 1988, S. 199 f. Vgl. Cahen, juifs dans la région lorraine, S. 77. Durch den Zuzug von Annektierten und aufgrund der Industrialisierung nahmen sowohl die Gesamtbevölkerung des Départements Meurthe-et-Moselle als auch der Grad der dortigen Urbanisierung stark zu. Vgl. Roth, François: L’époque contemporaine. De la Révolution à la Grande Guerre (Encyclopédie illustrée de la Lorraine. Histoire de Lorraine, Bd. 4.1), Nancy 1992, S. 183 f. 71 Vgl. Bensimon/Della Pergola, S. 27.

Der jüdische Bevölkerungsanteil im Wandel

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der Juden an der Gesamtbevölkerung kurz nach der Annexion noch 2,7 % be­­tragen hatte, verringerte er sich bis 1895 auf 2 %. Neben der Emigration war dafür der bei der jüdischen Minderheit in den Siebzigerjahren einsetzende starke Geburtenrückgang verantwortlich.72 Von der Immigration russischer Juden im Anschluss an die sich 1881 im Zarenreich ereignenden Pogrome wurden sowohl der zum Reich gehörende als auch der französisch bleibende Teil Lothringens bis zum Ende des 19. Jahrhunderts kaum berührt.73 Die jüdische Gemeinschaft von Boulay war eine der ältesten jüdischen Gemeinden des Départements Moselle und stellte während des Ancien Régime zeitweise die bedeutendste jüdische Niederlassung in der Grafschaft Lothringen dar. Während des Dreißigjährigen Krieges ließen sich aus dem Deutschen Reich kommende Juden in dem kleinen Ort nieder, sodass 1664 die aus 13 Familien bestehende Gemeinde ungefähr 50 Personen umfasste.74 Als 1721 diejenigen Juden aus der Grafschaft Lothringen vertrieben wurden, deren Niederlassung nicht offiziell genehmigt worden war, mussten auch zwölf Familien, welche ungefähr die Hälfte der ansässigen jüdischen Gemeinde bildeten, Boulay verlassen. Bis 1753 stieg die Anzahl der jüdischen Familien wieder leicht auf 15 an.75 1808 lebten 137 Juden in Boulay. Im folgenden Vierteljahrhundert wuchs die jüdische Gemeinde stark an, sodass sie im Jahr 274 Personen im Jahr 1833 umfasste. Diese Entwicklung setzte sich, u. a. aufgrund des Zuzugs aus den benachbarten Dörfern Denting, Guinkirchen, Volmerange-lès-Boulay, bis zum Beginn des nächsten Jahrzehnts fort: 1840 zählte der Ort 338 Juden, die sich auf 66 Haushaltungen verteilten.76 Nach diesem Zeitpunkt stagnierte die Zahl der jüdischen Einwohner in Boulay einige Jahre, bevor sie eine absteigende Tendenz zeigte. 1846 zählte die jüdische Bevölkerung noch 328 Personen, bevor sich um die Jahrhundertmitte ein

72 Vgl. Statistisches Bureau für Elsass-Lothringen (Hg.): Das Reichsland Elsass-Lothringen. Landes- und Ortsbeschreibung, 3 Bde., Straßburg 1898 – 1903, hier Bd. 2, S. 171. Vgl. Meyer, présentation, S. 25. Vgl. Dienemann, S. 82 f. 73 Vgl. Gousseff, Catherine: Les Juifs russes en France. Profil et évolution d’une collectivité, in: Archives Juives, Nr. 2, Jg. 34, 2001, S. 6. 74 Vgl. Bajetti, Paul: La communauté israélite de Boulay-Moselle, in: Cahiers des pays de la Nied, Nr. 5, 1986, S. 24. Vgl. Daltroff, juifs, S. 140. Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 86, 222. 75 Vgl. Liste des familles juives autorisées par Léopold 1er duc de Lorraine à résider dans ses états, 1721, in: ADM BH7881. Vgl. Pierson, S. 14 – 21. Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 223 f. Vgl. Houdaille, Jacques: La population de Boulay (Moselle) avant 1850, in: Population, Nr. 6, Jg. 22, 1967, S. 1077 f. Vgl. Bajetti, communauté, S. 30 – 34. Vgl. Poserner, effects, S. 273. 76 Vgl. Houdaille, S. 1078. Vgl. Brief des Bürgermeisters, 6.12.1833, in: ADM V152. Vgl. Etat de la population israélite de Boulay, 2.12.1840, in: ADM 17J44. Vgl. Bajetti, communauté, S. 34.

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Bedingungen des Lebens auf dem Land

Einbruch ereignete, der zu einer Abnahme auf 257 Personen führte.77 Eindeutig lässt sich dieser Rückgang nicht erklären. Im Umfeld der Revolution von 1848 kam es zwar zu einer Welle antijüdischer Ausschreitungen, allerdings blieben die Juden Boulays wie die Mehrzahl ihrer in lothringischen Orten beheimateten Glaubensgenossen von solchen verschont.78 350 300 250

Juden

200 150 100 50 0 1809

1833

1840

1846

1851

1871

1895

Abbildung 2: Die jüdische Bevölkerung in Boulay

Im Gegensatz zu den betrachteten jüdischen Gemeinden der Rheinprovinz und einem Teil anderer jüdischer Gemeinden des Départements Moselle kann die Emigration nach Übersee kaum als Begründung für die Verringerung der jüdischen Bevölkerung herangezogen werden, da es sich im Fall von Boulay um ein marginales Phänomen handelte. Von 1852 bis 1869 wurden nur von vier jüdischen Einwohnern Boulays Pässe zur Ausreise beantragt.79 Zwar ist es bemerkenswert, dass sie – da nur drei christliche Personen in diesem Zeitraum Papiere von der Verwaltung erbaten – die Mehrheit unter den Auswanderungswilligen bildeten, allerdings erscheint es angesichts der geringen Anzahl unangebracht, daraus besondere Schlüsse zu ziehen. Bis auf den Altwarenhändler Jacques Bernard, der zusammen mit seiner Schwester emigrieren wollte, beabsichtigten die Antragsteller allein auszuwandern. Keiner von ihnen hatte bereits das 30. Lebensjahr überschritten, und ihren Berufen bzw. ihren Familienverhältnissen nach lebten sie mehrheitlich in ärmlichen 77 Vgl. Liste des ministres officiants de la circonscription israélite de Metz, ca. 1846, in: ADM 17J65. Vgl. Volkszählungsliste von Boulay, 28.6.1851, in: ADM ED100 1F1. 78 Bis auf einige Ausnahmen beschränkten sich die Gewalttätigkeiten auf das Elsass. Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 131 f. Vgl. Gerson, S. 229 – 297. 79 Vgl. Marchal , S. 99 – 224.

Der jüdische Bevölkerungsanteil im Wandel

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Verhältnissen, wie beispielsweise die unverheiratete Rose Cahen, die von ihrem Bruder ernährt wurde.80 Vereinzelt kommt neben ökonomischen Gründen auch Abenteuerlust als Motiv für die beabsichtigte Auswanderung infrage, zumindest im Fall des 16-jährigen Simon Rheims, der das neunte und jüngste Kind des sich bereits zur Ruhe gesetzt habenden jüdischen Händlers Anchel Sisel Rheims war und wie einige seiner älteren Brüder von dessen Vermögen lebte.81 Legal, d. h. mit Pässen versehen, emigrierten zwischen 1847 und 1867 nur zwei Juden aus ­Boulay in die USA.82 Zu bedenken ist allerdings, dass es Personen gab, die ohne die geforderten Papiere auswanderten. Ersichtlich wird dies u. a. daran, dass vier aus Boulay stammende (christliche) Emigranten – die nie einen Passantrag zur Auswanderung gestellt hatten – nach Todesfällen von Familienangehörigen Kontakt mit ihrer ehemaligen Heimat aufnahmen, um Erbangelegenheiten zu regeln.83 Ein Teil der ohne behördliche Genehmigung Auswandernden wurde von der Verwaltung des Départements Moselle erfasst, so z. B. 478 zwischen 1811 und 1848 geborene männliche Personen, die als Minderjährige emigrierten und von denen die Verwaltung annahm, dass sie sich auf diese Weise der Wehrpflicht entziehen wollten. Zu dieser Gruppe gehörten auch zwei junge Männer aus Boulay, nämlich der jüdische Salomon Worms sowie der katholische François Vilier.84 Selbst wenn man davon ausgeht, dass einige jüdische Bewohner Boulays ohne Erlaubnis auswanderten, so ist doch anzunehmen, dass das Phänomen der Emigration eine zu vernachlässigende Rolle bei der Verringerung der jüdischen Bevölkerung Boulays um die Jahrhundertmitte spielte. Der Rückgang der Zahl der dort ansässigen Juden ist daher wohl hauptsächlich auf Binnenmigration innerhalb Frankreichs zurückzuführen. In diese Richtung weist auch eine Bemerkung des jüdischen Konsistoriums in Metz von 1866, dass die jüdische Gemeinde von B ­ oulay seit einigen Jahren einen Teil ihrer Beitragszahler verloren habe, da diese sich an anderen Orten, besonders in Metz und Paris, niedergelassen hätten.85 80 Vgl. die Volkszählung in Boulay, 28.6.1851, in: ADM ED100 1F1. 81 Vgl. Etat de la population israélite de Boulay, 2.12.1840, in: ADM 17J44. Vgl. die Volkszählung in Boulay, 28.6.1851, in: ADM ED100 1F1. 82 Vgl. Passeports délivrés pour le Brésil et pour les Etats-Unis 1851 – 1867, in: ADM 109M . Für die Emigration in die USA 1847 – 1851 vgl. ANF F7 Nr. 12202, 12208,12218 und 12354. Brasilien stellte für die Juden Boulays kein Auswanderungsziel dar. Vgl. Maire, Camille: L’émigration des juifs de Moselle sous le second Empire. La filière brésilienne, in: Cahiers lorrains, Nr. 3, 1994, S. 253. 83 Vgl. Marchal, S. 127, 135, 150, 212. 84 Vgl. Liste du contingent départementale de la Moselle, in: ADM R121 – 169. Vgl. Marchal, S.  2 – 11, 263. 85 Vgl. Übersicht der Kultusverhältnisse und die Etats der jüdischen Gemeinden des Konsistorialbezirks Metz, 1866, in: AJMB MF509 reel 1, fol. 64. Eine Verwechslung der Zahl

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Bedingungen des Lebens auf dem Land

Die jüdische Bevölkerung von Boulay stellte mit ihrem seit Mitte der Vierzigerjahre durch Binnenmigration verursachten Rückgang einen Vorreiter im Rahmen der allgemeinen Entwicklung dar. Zur Jahrhundertmitte befand sich das auf den Osten Lothringens konzentrierte Landjudentum noch auf seinem Höhepunkt. Während seit dem Anfang des Jahrhunderts die jüdische Bevölkerung der größten Stadt trotz Zuzug vom Land stagnierte, da zugleich Metzer Juden nach Paris übersiedelten, waren viele ländliche und kleinstädtische Gemeinden bis zu diesem Zeitpunkt stark angewachsen aufgrund des natürlichen Bevölkerungswachstums, aber auch, da Familien aus Nachbarorten zuzogen. Letzteres und das Verschwinden vorstädtischer jüdischer Gemeinden, wie z. B. Lagrange bei Thionville, h ­ atten zu einer leichten Abnahme der Zerstreuung der jüdischen Einwohner geführt: Im später annektierten Ostteil Lothringens gab es „nur“ noch 90 Orte, in denen Juden lebten. Erst in der Zeit des Zweiten Empires begann sich die Abwanderungsbewegung vom Land in Richtung der Städte, u. a. Paris, und nach Übersee bemerkbar zu machen, da sie nicht mehr durch Geburtenüberschüsse kompensiert werden konnte.86 Im Verlauf der zweiten Jahrhunderthälfte nahm die Anzahl der jüdischen Einwohner Boulays weiter ab. Gründe dafür waren der Deutsch-Französische Krieg und die mit ihm einhergehende Annexion des östlichen Teils von Lothringen durch das Deutsche Reich. Ein Teil der Juden Boulays gehörte zu den 31 % jüdischer Optanten aus Elsass-Lothringen, die aus Orten mit weniger als 5.000 Einwohnern kamen. Zahlreiche jüdische Familien verließen ihren Heimatort, um sich im französisch gebliebenen Teil Lothringens (Nancy), in Richtung Innerfrankreich (Reims) oder gleich in Paris niederzulassen. Dies ist bemerkenswert, da die Zahl der Optionen im Kreis von Boulay insgesamt eher gering war.87 Am Ende des Jahres 1871 lebten noch 191 Juden in Boulay; bis 1895 verringerte sich

der jüdischen Gemeindemitglieder insgesamt – d. h. einschließlich derjenigen, die in anderen Orten lebten, aber der jüdischen Kultusgemeinde von Boulay angehörten – mit der Zahl der jüdischen Bewohner Boulays ist jedenfalls auszuschließen. Die Zahl der Mitglieder der jüdischen Kultusgemeinde von Boulay betrug 330 im Jahr 1853. Vgl. Statistiques des communautés formant la circonscription consistoriale de Metz en 1854, in: ANF F19 Nr. 11024. Vgl. Daltroff, histoire, S. 17. Vgl. Daltroff, juifs, S. 33. Vgl. Meyer, présentation, S. 19. 86 Vgl. Meyer, présentation, S. 19 – 23. Vgl. Daltroff, histoire, S. 17. 87 Vgl. Bajetti, communauté, S. 34. Vgl. Avine-Goetz, S. 115. Vgl. Caron, Germany, S. 45 – 74. 75 % der lothringischen Optanten stammten aus Orten mit mehr als 5000 Einwohnern. Vgl. Roth, Lorraine, S. 98 f. In der von Angrand, Sophie: Les optants d’Alsace-Lorraine à l’étranger, Paris 2003, S. 11 aufgeführten Liste werden nur die Geburtsorte der Optanten, aber nicht deren Wohnorte aufgeführt.

Der jüdische Bevölkerungsanteil im Wandel

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ihre Zahl weiter auf 142.88 Städte in Frankreich und im annektierten Lothringen stellten Wanderungsziele der ehemals französischen Juden dar. In der Regel verließen die Jungen den ländlichen Raum, da die strukturellen Veränderungen es ihnen erschwerten, dort ihr Auskommen zu finden. Sie zogen daher in größere Orte, wohin sie oft ihre Familie nachkommen ließen. Aufgrund dieser Entwicklung sowie des jüdischen Zuzugs aus dem Reich, der sich weitgehend auf die Städte beschränkte, konzentrierte sich die jüdische Bevölkerung des annek­tierten Lothringen zunehmend in größeren Städten. Während 1871 noch 82 % der dortigen jüdischen Einwohner in Orten mit einer Bevölkerung von unter 10.000 Personen lebten, waren es 1910 nur etwa 50 %.89 Der Vergleich der jüdischen mit der christlichen Bevölkerungsentwicklung erbringt wie in den preußischen Fällen das Ergebnis, dass die beiden unterschiedlich verliefen und die Minderheit anders auf strukturelle Veränderungen reagierte als die Mehrheitsgesellschaft. Die christliche Bevölkerung Boulays nahm zwar ebenso wie die jüdische Bevölkerung in der ersten Hälfte des Jahrhunderts zu, allerdings war dieses Wachstum im Verhältnis geringer: Während sich die Zahl der jüdischen Einwohner zwischen 1806 und 1834 mehr als verdoppelte, stieg die christliche nur um etwa 17 % an. Ihren Höchststand erreichte die jüdische Bevölkerung schon gegen 1840, während die christliche Bevölkerung diesen erst 1861 mit 2986 Personen erlangte – einerseits aufgrund des Geburtenanstiegs, andererseits aufgrund von Zuzug wegen der Einrichtung bzw. Vergrößerung kleiner Fabriken, z. B. einer Lederfabrik.90 Der sich zwischen 1846 und 1851 ereignende leichte Rückgang auf 2588 christliche Einwohner ist durch die Schließung einer kleinen Fabrik und den Abzug einer Zollbrigade zu erklären.91 Nach dem Erreichen des christlichen Bevölkerungsmaximums setzte ein leichter Rückgang ein, der durch den Weggang von Fabrikarbeitern verursacht wurde.92 Diese rückläufige Tendenz verstärkte sich, ähnlich wie bei den Juden, wegen des Deutsch-Französischen Krieges, sodass die christliche Bevölkerung Ende 1871 nur noch 2398 Personen umfasste. Trotz ­leichten

88 Vgl. Dienemann, S. 83. Vgl. Einwohnerverzeichnis von Bolchen, 14.6.1895, in: ADM ED100 1F4. Vgl. Statistisches Bureau für Elsass-Lothringen, Bd. 2, S. 10 f. 89 Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 136 f. Vgl. Meyer, présentation, S. 25 f. Vgl. Daltroff, histoire, S. 23. 90 Vgl. Extrait de l’Etat de population, 1806, in: ADM 192M1bis. Vgl. Etat des ministres du culte israélite dans les communes ayant un population juive de 200 âmes & au dessus, département de la Moselle, circonscription israélite de Metz, 6.3.1834, in: ADM V152. Vgl. Tableau de la population de la Moselle, 1861, in: ADM 188M10bis. Vgl. Houdaille, S. 1079. 91 Vgl. Volkszählungsliste Boulay, 28.6.1851, in: ADM ED100 1F1. 92 Vgl. Tableau de la population de la Moselle, 1866, in: ADM 188M10bis.

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Bedingungen des Lebens auf dem Land

Zuzugs aus anderen Teilen des Deutschen Reichs unterschritt die Zahl der christlichen Einwohnerschaft 1895 die Marke von 2000 Personen, da sich wie im Fall der jüdischen Bevölkerung viele katholische Einwohner dafür entschieden, das annektierte Gebiet zu verlassen. Die einzige Bevölkerungsgruppe, die infolge der Annexion einen Zuwachs verzeichnen konnte, war die der Protestanten, deren Zahl von 88 Personen 1851 auf 102 im Jahr 1895 stieg und deren Anteil an der Einwohnerschaft von 3 % auf knapp 5 % anstieg.93 Die voneinander divergierende Entwicklung der jüdischen und der christlichen Bevölkerung hatte die Folge, dass der relative Anteil der jüdischen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung des Ortes stark schwankte: 1806 betrug er 5,4 %, im Jahr 1834 steigerte er sich auf knapp 10 % und 1846 erreichte er mit ungefähr 12 % sein Maximum.94 Seitdem nahm er kontinuierlich ab: 1851 betrug er 9 %, 1871 noch 7,6 %, bevor er sich 1895 auf 6,7 % verminderte.95 Die Bevölkerungsentwicklung von Grosbliederstroff unterschied sich sowohl hinsichtlich der jüdischen Bevölkerung als auch der christlichen Bevölkerung von Boulay. Die Wurzeln der jüdischen Gemeinde reichen nach Angaben des israelitischen Konsistoriums bis ins ausklingende 16. Jahrhundert zurück: Im Jahr 1595 erhielten deutsche Juden das Recht, dort zu wohnen, unter der Bedingung, dass sich ihre Ansiedlung auf ein Wohnhaus beschränkte.96 Gesichert ist die Niederlassung der Familie Levy aus der Pfalz ungefähr ein Jahrhundert später. Erst 1753 erfolgte die offizielle Erlaubnis, dass zwei jüdische Familien –

93 Vgl. Volkszählungen 1871 – 1895, Vorstand des Statistischen Landesbureaus, 17.11.1896, in: ADM ED 100 1F4. Für die Volkszählung von 1895 gibt es zwei verschiedene Angaben: einmal 2142 und in der Konfessionszählung 2133. Die fehlenden Personen können nicht auf Konfessionslose zurückgeführt werden. Da der Unterschied gering ist und die religiöse Zugehörigkeit im Vordergrund steht, wurde die Konfessionszählung verwandt, welche auch mit den Angaben des Statistischen Landesbureaus übereinstimmt. Vgl. Statistisches Bureau für Elsass-Lothringen, Bd. 2, S. 10 f. 94 Vgl. Extrait de l’Etat de population, 1806, in: ADM 192M1bis. Vgl. Denombrement des Juifs qui habitent le département de la Moselle, in: ANF F20 Nr. 230. Vgl. Etat des ministres du culte israélite dans les communes ayant un population juive de 200 âmes & au dessus, département de la Moselle, circonscription israélite de Metz, 6.3.1834, in: ADM V152. Vgl. Volkszählungsliste Boulay, 28.6.1851, in: ADM ED100 1F1. Vgl. Liste des ministres officiants de la circonscription israélite de Metz, 1836, in: ADM 17J65. 95 Vgl. Volkszählungsliste Boulay, 28.6.1851, in: ADM ED100 1F1. Vgl. Dienemann, S. 83. Vgl. Statistisches Bureau für Elsass-Lothringen, Bd. 2, S. 10 f. Vgl. Einwohnerverzeichnis von Bolchen, 14.6.1895, in: ADM ED100 1F4. 96 Vgl. Übersicht der jüdischen Gemeinden des Konsistorialbezirks Metz, ca. 1854, in: AJMB MF509 reel 1, fol. 56.

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diejenige von Michel Levy und die von Nathan Mayer – dauerhaft im Ort wohnhaft sein dürften.97 Im Gefolge der Revolution von 1789 sorgte Zuzug aus Dörfern der Um­­gebung (Rouhling, Lixing, Crehange, Nelling, Insming) sowie deutschen Regionen (Saar­ gebiet, Pfalz, Hessen) für einen Anstieg der jüdischen Bevölkerung, sodass die Zahl der Juden bis 1806 auf 77 anwuchs. 98 Wie bedeutend die Migration war, wird deutlich, wenn man die 18 im Ort lebenden jüdischen Ehepaare im Jahr 1808 betrachtet: In 13 Fällen stammte nur einer der Partner aus Grosbliederstroff, in drei weiteren sogar keiner der Eheleute. Nur in zwei Fällen waren beide Ehepartner im Ort geboren. Neben dem Zuzug sorgte der Umstand, dass die meisten Paare noch jung waren und in der Folgezeit zahlreiche Kinder zur Welt kamen, dafür, dass die Mitgliederzahl der jüdischen Gemeinde von 1806 bis 1808 auf 101 Personen anstieg.99 Da es im Gegensatz zu den preußischen Untersuchungsdörfern sowie Boulay we­niger Eheschließungen gab, die mit einem Wegzug aus dem lothrin­gischen Ort als mit Zuzug in denselben verbunden waren, führte das Heiratsverhalten zu einem Anwachsen der jüdischen Bevölkerung. Die staatliche Grenze spielte bei dem ab 1815 direkt an derselben gelegenen Ort keine besondere Rolle: Es wurde über sie hinweg geheiratet. Dass die jüdische Bevölkerung dies – wie in anderen Dörfern auch – in einem größeren Umfange als die christliche Bevölkerung tat, hatte mehrere Gründe. Zum einen bildeten die jüdischen Einwohner eine Minder­ heit, was dazu führte, dass im Vergleich zu den Christen weniger potenzielle Ehepartner in der nahen Umgebung lebten, weswegen die Heiratskreise größer waren. Zum anderen lässt sich sowohl bei Juden als auch bei Christen eine „endogamie socio-­professionelle“100 feststellen: Sie heirateten in der Regel Partner mit ähn­ lichen beruflichen und ökonomischen Hintergründen. Aufgrund der bis weit in die Rheinprovinz hineinreichenden wirtschaftlichen Beziehungen der jüdischen Händler und der kleinen Auswahl von passenden Ehepartnern vor Ort heirateten sie häufig über die nahe Grenze hinweg.101

97 Vgl. Willigsecker, S. 3. Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 250. 98 Vgl. Übersicht der jüdischen Gemeinden des Konsistorialbezirks Metz, ca. 1854, in: AJMB MF509 reel 1, fol. 56. Vgl. Denombrement des Juifs qui habitent le département de la Moselle, 1806, in: ANF F20 Nr. 230. Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 250. Vgl. die Liste der jüdischen Einwohner von Grosbliederstroff, 1808, in: Katz, Pierre: Recueil des déclarations de prise de nom patronymique des juifs de Lorraine. Moselle, Meurthe-et-Moselle, 2. Aufl., Paris 1999, o. S. 99 Vgl. die Liste der jüdischen Einwohner von Grosbliederstroff, 1808, in: Katz, recueil, o. S. 100 Vgl. Daltroff, juifs S. 69. 101 Vgl. ebd., S. 46 – 71. Vgl. Willigsecker, S. 7 – 73.

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Bis 1836 vergrößerte sich die Zahl der in Grosbliederstroff lebenden Juden auf 174. Neben dem natürlichen Wachstum war dafür der Zuzug in den Ort, vor allem von Juden aus dem nahe gelegenen Rouhling, ausschlaggebend. Die Ursache für den jüdischen Zuzug aus dem genannten Dorf waren wohl die besseren ökonomischen Aussichten in Grosbliederstroff sowie das anscheinend angespannte jüdisch-christliche Verhältnis in Rouhling selbst.102 Der Aufwärtstrend setzte sich in den folgenden Jahren fort, sodass 238 jüdische Personen im Jahr 1853 den Ort bewohnten.103 Dies ist u. a. deswegen bemerkenswert, weil der Ort an der deutsch-französischen Grenze von der Auswanderung nach Übersee – vor allem nach Nordamerika – mehr betroffen war als Boulay. Das Verhalten der jüdischen sowie christlichen Grosbliederstroffer ist insofern typisch, als sich feststellen lässt, dass die Auswanderung aus Frankreich am stärksten von den deutschsprachigen, unmittelbar an der Staatsgrenze gelegenen Regionen ausging. Dementsprechend war innerhalb des Départements Moselle in erster Linie das Arrondissement Sarreguemines von dem Phänomen betroffen. Die Emigration aus Lothringen erfolgte in ähnlichen Wellen wie in der benachbarten Rheinprovinz, allerdings leicht zeitversetzt. Deswegen lässt sich von einer Nachahmung des dortigen Verhaltens sprechen, auch wenn der Umfang der lothringischen Emigration geringer war.104 Unter 1390 Anträgen auf Pässe, die von Bewohnern des Départements Moselle in den Jahren von 1852 bis 1869 gestellt wurden, kamen 26 Anfragen von Be­­wohnern Grosbliederstroffs. Unter diesen befanden sich auch acht jüdische Einwohner, die 30 % der Auswanderungswilligen stellten und demzufolge angesichts ihres Anteils an der Dorfbevölkerung überproportional vertreten waren. Für die Orte des ebenfalls an der preußisch-französischen Grenze gelegenen Arrondissements Sarrebourg, in denen sich jüdische Gemeinden befanden, lässt sich der gleiche Sachverhalt feststellen.105 Zwar ist nicht zu bestimmen, welche Rolle die religiöse 102 Vgl. Etat nominatif des ministres du culte Israélite en exercice de fonction dans le ressort de la circonscription de Metz, 31.12.1836, in: ADM 17J65 in Verbindung mit dem Brief des Bürgermeisters von Grosbliederstroff, 15.1.1834 sowie dem Etat des ministres du culte israélite dans les communes ayant un population juive de 200 âmes & au dessus, département de la Moselle, circonscription israélite de Metz, 6.3.1834, in: ADM V152. Vgl. Lang/ Rosenfeld, S. 290. 103 Vgl. Übersicht der jüdischen Gemeinden des Konsistorialbezirks Metz, ca. 1854, in: AJMB MF509 reel 1, fol. 56. Vgl. Statistiques des communautés formant la circonscription consistoriale de Metz en 1854, in: ANF F19 Nr. 11024. 104 Vgl. Maire, Camille: L’émigration en Amérique des juifs du pays de Phalsbourg, in: Cahiers lorrains, 1986, S. 81 f. Vgl. Mendel, S. 36. Vgl. Brasme, Pierre: La population de la Moselle au XIXe siècle, Metz 2000, S. 79 – 85. 105 Vgl. Marchal, S. 27 – 90. Vgl. Maire, Camille: Conscrits en Amérique. Le cas de l’arrondissement de Sarrebourg (Meurthe) 1829 – 1870, in: Centre de recherches d’histoire

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Zugehörigkeit bei der Entscheidung der jüdischen Grenzbewohner für eine Auswanderung spielte, allerdings entfällt die für den deutschen Kontext aufgestellte These der Emigration als Emanzipationsersatz. Letztere ist für den lothringischen Kontext immerhin insofern nützlich, als sie eine Erklärung dafür bietet, warum dort lediglich in 29 Orten Juden den Entschluss zur Auswanderung fassten. Dass die Religion auch in Frankreich eine Rolle bei dem Entschluss zur Auswanderung spielen konnte, zeigt der Rückgang der Anzahl der in der Region um Sarreguemines ansässigen Mennoniten. Bei ihnen führte die Weigerung, Waffen zu tragen dazu, dass sie dem Wehrdienst nicht Folge leisteten. Ihre Zahl sank von 868 zu Beginn des Ersten Empires bis zur Jahrhundertmitte auf nur noch 353.106 Die Zahl der als Deserteure eingestuften Personen aus Grosbliederstroff war etwas höher als im Fall von Boulay: Von den zwischen 1811 und 1848 geborenen Jungen verließen sechs Grosbliederstroff, bevor sie 20 Jahre alt waren. Unter ihnen befanden sich vier Juden: Abraham und Benoit Borg, David Levy sowie Simon Sinay. Für die nach dem genannten Zeitraum geborenen Jungen betrug diese Zahl nur noch vier, die alle christlichen Konfessionen angehörten. Dass sich die Auswandernden ihres Desertierens nicht unbedingt bewusst waren, zeigt sich daran, dass sie teilweise, wie die übrigen Emigrationswilligen auch, Pässe beantragten. Dies war z. B. der Fall bei den Brüdern Abraham und Benoit Borg, die als Gehilfe bzw. Händler tätig waren und 1857 bzw. 1858 nach Rio de Janeiro auswanderten.107 Für die Mehrzahl der christlichen wie auch der jüdischen Einwohner Grosbliederstroffs stellte Nordamerika das Auswanderungsziel dar. Neben den bereits genannten Brüdern Borg entschied sich nur ein Weiterer für Brasilien als neue Heimat: der 25-jährige jüdische Händler Michel Loeb im Jahr 1863. Die Genannten sind typische Beispiele für die jüdische Emigration aus Lothringen nach Brasilien, die dadurch gekennzeichnet ist, dass die betreffenden Personen jung, ledig und männlich waren. Bei den übrigen jüdischen Passnachsuchenden aus Grosbliederstroff handelte es sich ebenfalls um ledige Personen. Teilweise wurden sie durch Geschwister animiert, die bereits ausgewandert waren – z. B. Estelle Joseph, die dem Vorbild ihres älteren Bruders folgte –, oder sie betrieben selbst den Nachzug von Familienangehörigen. Die christlichen Auswanderer reisten im Gegensatz zu den jüdischen Migranten des Öfteren zusammen mit ihrer Familie bzw. ließen sie nachkommen. So unternahm Marguerite Kling im Sommer 1855 die Reise nach nord-américaine (Hg.): L’émigration française. Études des cas, Algérie, Canada, EtatsUnis (Publications de la Sorbonne, Bd. 24), Paris 1985, S. 211 – 232. 106 Vgl. Marchal, S. 259. Vgl. Maire, émigration des juifs, S. 252 f. 107 Vgl. Liste du contingent départementale de la Moselle, in: ADM R121 – 169. Vgl. Marchal, S. 2 – 11, 32. Vgl. Willigsecker, S. 19.

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Amerika zusammen mit sieben ihrer Kinder sowie ihrer Schwiegermutter, um ihrem Mann zu folgen, der bereits im Frühjahr mit zwei Söhnen aufgebrochen war.108 Armut scheint in den meisten Fällen das ausschlaggebende Motiv für die Emigration gewesen zu sein.109 Ablesen lässt sich dies u. a. an den Familien­ verhältnissen der jüdischen Antragsteller: Diese zeichneten sich in der Regel durch eine große Geschwisterzahl, verbunden mit einer hohen Kindersterblichkeit, aus. Die bereits erwähnte Estelle Joseph hatte 13 Geschwister, von denen bereits vier im Säuglings- bzw. Kleinkinderalter starben.110 Auch die Tätigkeiten der Eltern der Antragsteller sowie deren eigene Berufe lassen auf eher ärmliche Verhältnisse schließen. Henriette Mendel, von deren sieben Geschwistern vier früh­zeitig verstarben, war die Tochter eines Alteisenhändlers. Die 1860 nach New York gehende Caroline Bloch bestritt ihren Lebensunterhalt als Näherin.111 Dass sich unter den acht jüdischen Antragstellern drei junge Frauen befanden, die sich alleine auf die Reise begeben wollten, war keine Besonderheit. Bei 41 % der aus dem Département Moselle auswandernden Juden handelte es sich um Frauen, von denen zahlreiche ledig waren. Unter den christlichen Auswanderinnen des Grenzortes fanden sich ebenfalls mehrere alleinstehende Frauen, die in Übereinstimmung mit ihren jüdischen Pendants meist Weberinnen, Stickerinnen oder Näherinnen waren.112 Neben der Zahl der um Pässe Nachsuchenden sowie der vermeintlichen Deserteure war auch die Zahl der Personen, die Grosbliederstroff ohne Ge­nehmigung in Richtung der „Neuen Welt“ verließen, höher als im Fall von ­Boulay: 23 Personen meldeten sich aus Amerika, um an der Regelung der Nachlässe naher Verwandter teilzunehmen. Unter diesen befanden sich zehn jüdische Personen, deren Motive zur Auswanderung sich wohl nicht von denen der mit ­Pässen versehenen Glaubensgenossen unterschieden. Die Geschwister Emmanuel und Louise Bloch, die sechs ihrer 13 Geschwister im Säuglings- oder Kinderalter verloren hatten, versuchten, wie viele andere auch, der Armut zu entkommen. 113 Dass die wirtschaftliche Lage der Einwohner von Grosbliederstroff insgesamt schlechter war als diejenige der Bevölkerung von Boulay, belegt ein Blick auf die

108 Vgl. Marchal, S. 27, 40, 56, 62. Vgl. Maire , émigration des juifs, S. 251. Vgl. Willigsecker, S. 33. 109 Vgl. Daltroff, histoire, S. 19. 110 Vgl. Maire, émigration en Amérique, S. 82. Vgl. Willigsecker, S. 33. 111 Vgl. Willigsecker, S. 58. Vgl. die Liste der jüdischen Einwohner von Grosbliederstroff 1840, in: ADM 17J44. Bei den nicht spezifizierten Händlern ist ein Rückschluss vom Beruf auf die wirtschaftliche Stellung unmöglich. Vgl. Marchal, S. 31. 112 Vgl. Maire, émigration des juifs, S. 252. Vgl. Marchal, S. 69, 72. 113 Vgl. Willigsecker, S. 16. Vgl. Marchal, S. 99 – 224.

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Zensuswahllisten von 1846.114 Die umfangreichere Emigration aus dem Grenzort ist daher wohl hauptsächlich auf ökonomische Gegebenheiten zurückzuführen. Im Fall von Grosbliederstroff tritt als möglicher Anstoß für die jüdische Auswanderung allerdings auch Judenfeindlichkeit hinzu, zumindest für die Zeit der Jahrhundertmitte. Im Umfeld der Revolution von 1848 kam es in Grosbliederstroff nämlich zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen mehreren Christen und Juden. Als Hauptgrund für die Entscheidung zur Emigration können judenfeindliche Ausschreitungen in Lothringen allerdings nicht herangezogen werden, da zahlreiche Dörfer, aus denen Juden auswanderten, nicht von solchen Ausschreitungen betroffen waren.115 Neben der Emigration besteht ein weiterer Unterschied zwischen der Entwicklung der jüdischen Bevölkerung in Grosbliederstroff und derjenigen von Boulay im 19. Jahrhundert darin, dass die Annexion von 1871 keinen merklichen Schwund in der jüdischen Gemeinde von Grosbliederstroff auslöste: Ende des Jahres 1871 gehörten ihr 221 Personen an, und 1880 betrug die Mitgliederzahl 228, sie blieb also konstant.116 Erst danach begann die jüdische Einwohnerschaft Grosbliederstroffs leicht zurückzugehen, sodass sie 1895 nur noch 190 Personen zählte.117 Da sich nach der Annexion 49 Juden zur Option für Frankreich entschieden, ist davon auszugehen, dass die zunächst gleichbleibende Zahl nach 1871 auf die Geburtenrate sowie die geringere Übersiedlung in größere Städte zurückzuführen ist. Des Weiteren ist einzubeziehen, dass einige Personen, welche die Beibehaltung ihrer französischen Nationalität wünschten, nicht auswanderten: 160.000 Personen aus den annektierten Gebieten optierten für Frankreich, aber nur 125.000 verließen es tatsächlich.118 Auch wenn die in Deutsch-Lothringen zurückbleibenden Juden nicht unbedingt positiv gegenüber der neuen Staatsmacht eingestellt waren, so beeinflusste dies im Fall des ehemaligen Grenzortes die Beziehungen zu deutschen Juden anscheinend nicht. Hinsichtlich der Eheschließungen mit den Letzteren 114 Vgl. Liste des électeurs censitaires de la commune de Grosbliederstroff, 8.1.1846, in: ADM 41M6. Vgl. Liste des électeurs censitaires de la commune de Boulay, 5.1.1846, in: ADM 40M4. 115 Zu den Geschehnissen selbst und ihrer gerichtlichen Verfolgung vgl. ANF BB 24 Nr. 327 – 347 S3 – 7168. Vgl. Gerson, S. 229 – 297. Vgl. Maire. Emigration en Amérique, S. 85 f. Vgl. Maire, émigration des juifs, S. 247 – 254. Vgl. Meyer, Pierre-André: L’émigration vers l’Amérique, in: Decomps/Moinet, S. 84. Vgl. Roos, juifs, S. 93 f. 116 Vgl. Dienemann , S. 83. Vgl. Juda, Robert: Chronique de la vie juive à Grosbliederstroff, Strasbourg 2001, unveröff. Vortragsmanuskript, S. 1. Vgl. Schumann, mémoire des communautés juives de Moselle, S. 46. 117 Vgl. Statistisches Bureau für Elsass-Lothringen, Bd. 2, S. 20 f. 118 Vgl. Willigsecker, S. 7 – 73. Vgl. Angrand, o. S. (Introduction). Die Angaben der letzteren Publikation zu Grosbliederstroff sind unvollständig. Vgl. ebd., S. 30.

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waren keine Veränderungen festzustellen: Weiterhin wurde über die ehemalige Staatsgrenze hinweg geheiratet und wurden bestehende Familienbande gepflegt oder sogar verstärkt. So heiratete 1873 der Pferdehändler Salomon Joseph Caroline Levy aus Illingen, deren Eltern der Händler Gottschall Levy sowie die aus Grosbliederstroff stammende Sara Bloch waren. Nur zwei Jahre später vermählten sich auch die Geschwister des noch frischen Ehepaares, Cerf Levy aus Illingen und Fleurette Joseph aus Grosbliederstroff, miteinander.119 Zwar ist unklar, welche Rolle die Emigration jüdischer Einwohner nach der Annexion im Fall von Grosbliederstroff spielte, aber für das deutsch gewordene Lothringen insgesamt ist festzustellen, dass jüdische Landbewohner weiterhin in der Auswanderung nach Übersee eine Möglichkeit sahen, ein besseres Auskommen zu finden. Wie in der Zeit vor der Annexion stellte die jüdische Emigration kein Massenphänomen dar, sondern betraf nur einen Teil der Landgemeinden, u. a. Puttelange, Hellimer, Pontpierre, Tragny und Imling. Der Schritt in die Fremde wurde meist dadurch begünstigt, dass sich bereits Verwandte in der „Neuen Welt“ etabliert hatten, die sich gegebenenfalls um die Neuankömmlinge kümmerten.120 Zu den weiterhin im Vordergrund stehenden ökonomischen Motiven konnten noch weitere treten, z. B. der Wunsch, dem „militarisme prussien“ zu entgehen.121 Genauso wie in Boulay gestaltete sich in Grosbliederstroff die Entwicklung der christlichen Bevölkerung weitgehend anders als die der jüdischen, weswegen auch der jüdische Bevölkerungsanteil schwankte. 1808 stellten die Juden ungefähr 8,5 % des 1184 Personen umfassenden Ortes.122 Bis 1836 steigerte sich dieser Anteil leicht auf 9,2 %, um 1856 in dem mittlerweile 1900 Einwohner zählenden Dorf den Höchststand von 12,5 % zu erreichen. Der in den folgenden Jahren zu ­beobachtende Anstieg der christlichen Bevölkerung kann auf die in der Nähe ge­­ legenen Stein- und Gipsbrüche zurückgeführt werden, in denen auch Menschen 119 Vgl. Nauhauser, S. 130. Vgl. Willigsecker, S. 33 f., 46. 120 Vgl. Meyer, présentation, S. 25. Vgl. Maire, émigration en Amérique, S. 89. Vgl. Roth, Lorraine, S. 113. Vgl. Avine-Goetz, S. 103 f. Vgl. Wolff, Egon/Wolff, Frieda: Une famille judéo-lorraine au Brésil, in: Archives Juives, Nr. 4, Jg. 16, 1980, S. 73 f. 121 Vgl. Wahl, Alfred: Les Problèmes de l’option des Alsaciens-Lorrains (1871 – 1872), Strasbourg 1972, S. 140 – 147. Zur Diskussion über den Stellenwert der verschiedenen Auswanderungsmotive vgl. Bloch, Anny: L’émigration juive alsacienne aux Etats-Unis (1830 – 1930), in: Archives Juives, Nr. 2, Jg. 32, 1999, S. 79 f. 122 Als Grundlage für diese Zahl dienten die Einwohnerzahl von 1802 und die Angaben über die jüdische Bevölkerung von 1808. Vgl. Colchen, C.: Mémoire statistique du département de la Moselle, Paris XI, S. 74. Vgl. die Liste der jüdischen Einwohner von Grosbliederstroff, 1808, in: Katz, recueil, o. S. Bis 1818 stieg die Gesamteinwohnerzahl auf 1550 an. Vgl. Tableau de recensement de la population de l’arrondissement de Sarreguemines 1818, in: ADM 188M2bis.

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von außerhalb des Ortes Beschäftigung fanden, die sich dann im Ort niederließen. Die Gesamtbevölkerung vergrößerte sich aufgrund des neuen Wirtschaftsfaktors auf 2115 Personen im Jahr 1866.123 Da Grosbliederstroff aufgrund seiner Grenzlage schon früh vom Deutsch-Französischen Krieg betroffen war, verließ ein Teil der Einwohner den Ort allerdings schon kurze Zeit später. Ende 1871 betrug die Gesamtbevölkerung noch 1873, die der christlichen Einwohner 1652 Personen. Nach der Annexion entwickelte sich die Bevölkerung Grosbliederstroffs anders als im Fall von Boulay, denn sie blieb in dem Jahrzehnt nach der Annexion nahezu konstant. Da dies sowohl für den christlichen als auch für den jüdischen Teil der Bevölkerung galt, veränderte sich der Anteil der Juden an der Einwohnerschaft des Ortes nicht, sondern betrug weiterhin ungefähr 12 %. Das Verhalten der Bevölkerung von Grosbliederstroff ist hinsichtlich der Optionen für Frankreich im Kontext des deutschsprachigen, grenznahen Teils von Lothringen zu sehen: Nur wenige der dortigen Bewohner entschieden sich, die alte Heimat aufzugeben, um franzö­ sische Bürger zu bleiben.124 Ende der Achtzigerjahre stieg die Zahl der christlichen Einwohner leicht an, was sich aus der Nähe zu den Industrieorten Forbach (samt Stiring) sowie Sarreguemines und den dortigen Erwerbsmöglichkeiten erklärt: Im Umfeld des Ersteren entstanden Kohlebergwerke sowie Eisenhütten, während in Letzterem u. a. eine Steingutfabrik betrieben wurde. Um die Jahrhundertwende überschritt der christliche Einwohnerteil die Zahl von 2000 Personen. Die sich parallel ereignende leichte Verminderung der ortsanwesenden Juden führte bis 1895 zu einem Absinken des jüdischen Bevölkerungsanteils auf knapp 10 %.125 Der Fall von Grosbliederstroff gleicht ein wenig demjenigen von Illingen: Zwar nahm die jüdische Bevölkerung nicht wie in Illingen noch einmal in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu, aber sie reduzierte sich nur wenig. In beiden Orten stieg die christliche Einwohnerschaft aufgrund der Nähe zu industriellen Zentren an, wenn auch in Grosbliederstroff in einem wesentlich geringeren Umfang als im Fall von Illingen.

123 Vgl. Tableau de la population de la Moselle, 1861 sowie 1866, in: ADM 188M10bis. 124 Vgl. Statistisches Bureau für Elsass-Lothringen, Bd. 2, S. 20 f. Vgl. Dienemann, S. 83. Vgl. Wahl, Alfred: L’option et l’émigration des Alsacien-Lorrains (1871 – 1872), Paris 1974, S. 104. 125 Vgl. Juda, S. 1. Vgl. Schumann, mémoire des communautés juives de Moselle, S. 46. Vgl. Hiegel, Henri: Sarreguemines. Principale ville de l’Est Mosellane, Sarreguemines 1972, S. 73. Vgl. Daltroff, histoire, S. 23. Vgl. Roth, époque, S. 215, 256 f. Vgl. Hamman, Philippe: Une grande famille… Métiers de la céramique et stratégies industrielles à la faïencerie de Sarreguemines (1890 – 1940), in: Politix, Nr. 45, 1999, S. 73. Vgl. Contamine, Henri: Les conséquences financières des invasions de 1814 et 1815 dans les départements de la Moselle et de la Meurthe, Metz 1932, S. 158. Vgl. Brasme, S. 150 – 157.

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Orte im annektierten Lothringen, die zu Garnisonsstädten wurden oder sich zu Industriestandorten entwickelten bzw. in der Umgebung von solchen lagen, zogen teilweise jüdische Zuwanderer an, so z. B. Moyeuvre. Es handelte sich allerdings um Einzelfälle, denn am Ende des 19. Jahrhunderts zeichnete sich die jüdische Siedlung durch eine zunehmende Konzentration in immer weniger Orten aus. Während einige größere Dörfer sowie Kleinstädte – wie Boulay und Grosbliederstroff – noch mehr als 100 jüdische Einwohner beheimateten, verloren die meisten Landgemeinden immer mehr ihre jüdische Bevölkerung, so z. B. Pontpierre (Steinbiederstroff) oder Hellimer, welches 319 Juden im Jahr 1841 zählte, wo aber zur Jahrhundertwende nur noch 112 jüdische Einwohner lebten.126 3.1.2 Jüdische Ansiedlung auf dem Land durch Zuwanderung: der luxemburgische Fall

Im Gegensatz zur Rheinprovinz und Lothringen befanden sich während des 17. und 18. Jahrhunderts im Territorium von Luxemburg keine jüdischen Siedlungen. Zwar kamen jüdische Händler nach Luxemburg, um dort Geschäfte abzuschließen, allerdings durften sie dort nicht ansässig werden. Erst infolge der Einführung der französischen Gesetzgebung ließen sich dort zu Beginn des 19. Jahrhunderts, wie auch im benachbarten Belgien, Juden dauerhaft nieder.127 Zunächst konzentrierte sich diese aus anderen Ländern einwandernde Bevölkerung in der Hauptstadt: 1808 zählte Letztere 78 jüdische Einwohner, während sich nur ein einziger im ländlichen Bereich, in Grevenmacher, sesshaft gemacht hatte. Wie das Oberhaupt der neu entstandenen jüdischen Gemeinde Pinhas Godchaux stammten die meisten seiner Glaubensgenossen aus dem benachbarten Lothringen. Sie kamen aus Thionville und Umgebung sowie Ennery, Sierck, Bouzonville, Montenach und Metz. Ihre Zuwanderung nach Luxemburg ist im Kontext der Migrationen der lothringischen Juden nach der Emanzipation zu sehen: Nicht nur einige Städte sowie eine Vielzahl von Dörfern innerhalb Lothringens stellten Wanderungsziele dar, sondern auch andere Regionen, wie der Norden Frankreichs oder das Großherzogtum. Nach Luxemburg zog es darüber hinaus auch jüdische Einwohner aus Dörfern des Départements Sarre, das später Bestandteil der Rheinprovinz wurde, 126 Vgl. Dienemann, S. 83. Vgl Roth, époque, S. 215. Vgl. Meyer, présentation, S. 26. Vgl. Ulbrich, S. 116. 127 Bis zum Ende des Mittelalters lebten Juden im späteren Luxemburg. Vgl. Yante, S. 11 – 20. Vgl. Hannick, Pierre/Muller, Jean Claude: Juifs de passage dans les duchés de Luxembourg et de Bouillon avant leur émancipation en 1808, in: Annales de l’institut archéologique du Luxembourg, Bd. 136, 2005, S. 241 – 254. Vgl. Goedert, S. 347 – 349. Vgl. Lehrmann, S. 30 – 41. Vgl. Kasper-Holtkotte, Westen, S. 17, 41 f.

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nämlich aus Freudenburg, Brotdorf, Thalfang.128 Bis 1815 verdoppelte sich die jüdische Bevölkerung des Großherzogtums nahezu auf 147 Personen.129 Das Bild einer ausschließlich im städtischen Zentrum siedelnden jüdischen Bevölkerung veränderte sich im Rahmen des vor allem durch Immigration erfolgenden Wachstums. 1818 lebten neben den 27 jüdischen Familien in der Hauptstadt bereits neun weitere verstreut in ländlich geprägten Orten, wie z. B. Mertert und Echternach.130 Hinzuzurechnen sind zudem die elf jüdischen Haushalte, welche sich in dem ab 1839 zu Belgien gehörenden Arlon gebildet hatten. Die Migration in Letzteres erfolgte mehrheitlich von Lothringen her – aus dem nahe Boulay gele­genen Dorf Niedervisse sowie aus Waldvisse, Sierck und Montenach. Des Weiteren zogen Juden aus der Rheinprovinz – den Dörfern Nalbach und Niederemmel – und aus der Stadt Luxemburg zu.131 Auch in Ettelbrück waren 1818 zwei jüdische Haushaltungen etabliert. Es handelte sich zum einen um den aus Bourscheid im Département Bas-Rhin stammenden Kleinhändler Joseph Levy, der mit seiner aus Mettingen gebürtigen Frau zuvor in Sarreunion gelebt hatte, wo auch ihre ersten fünf Kinder geboren wurden. Zum anderen wohnte der alleinstehende Hausierer Salomon Lion 128 Vgl. Muller, Jean Claude/Emmel, Fernand G.: Le registre de prise de noms des juifs de Luxembourg (département des Forêts) en 1808. Edition en fac-similé de l’original conservé aux Archives de la Ville de Luxembourg, in: Annales de l’institut archéologique du Luxembourg, Bd. 136, 2005, S. 255 – 286. Vgl. Goedert, S. 349. Vgl. Delmaire, Danielle: L’implantation d’un judaisme alsacien et lorrain dans le Nord de la France (1792 – 1872), in: Archives Juives, Nr. 2, Jg. 32, 1999, S. 38 f. 129 Vgl. Etat numérique des non-catholiques établis dans le grand-duché de Luxembourg, s. d., ca. November 1815, in: ANL C654. Das jüdische Konsistorium von Maastricht, dem Luxemburg angehörte, ging 1819 von einer etwas geringeren Zahl von 131 Juden in Luxemburg aus. Vgl. Président du consistoire israélite de Maestricht, 16.9.1819, in: ANL C654. 130 Vgl. Liste des familles juives établies dans l’arrondissement de Luxembourg, 14.3.1818 und Etat nominatif des Juifs dans l’arrondissement de Diekirch, 16.2.1818, in: ANL C386. Vgl. Goedert, S. 353 – 355. Vgl. Krier, S. 120. 131 Vgl. Etat nominatif des Juifs dans l’arrondissement de Diekirch, 11.3.1818 und Liste des familles juives établies dans l’arrondissement de Luxembourg, 14.3.1818, in: ANL C386. Evtl. handelte es sich nicht um elf Haushalte, sondern nur um elf Personen. Vgl. ­Burnotte, Angélique: La communauté juive d’Arlon au XIXe siècle, in: Bulletin trimestriel de l’Institut archéologique du Luxembourg – Arlon, Nr. 3/4, Jg. 81, 2005, S. 73 f. Vgl. ­Schreiber, Jean-Philippe: L’immigration Juive en Belgique du Moyen Âge à la Première Guerre Mondiale, Brüssel 1996, S. 159 f. Schon für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts kann zumindest eine vorübergehende Siedlung jüdischer Familien in der Umgebung von Arlon nachgewiesen werden. Vgl. Pierret, Philippe: Jüdisches Leben im Arloner Land, in: Annette Reuter (Red.): Ansichten jüdischen Lebens zwischen Maas, Mosel und Rhein im Spiegel alter Postkarten. Vom Ende des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts; eine Ausstellung des Centre de documentation sur les migrations humaines, Dudelingen 2005, S. 24.

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1816 im Ort.132 Die Entscheidung, sich dort niederzulassen, war wohl auf die geo­ grafische Lage Ettelbrücks als Schnittstelle zwischen dem Ösling und dem Gutland sowie der sich daraus ergebenden Rolle als Handelszentrum für die Umgebung zurückzuführen. Die monatlich stattfindenden Märkte, die zu den bedeutendsten im Land gehörten, wurden auch von jüdischen Händlern von außerhalb besucht, für die Joseph Levy ab 1812 eine Gastwirtschaft unterhielt.133 In den folgenden Jahrzehnten zeichnete sich die jüdische Niederlassung auf dem luxemburgischen Land vor allem durch eine gewisse Unstetigkeit aus. Beispielsweise verließen zwei Juden, die 1815 in Dalheim ansässig geworden waren, ihren Wohnort schon drei Jahre später wieder.134 Auch im Fall von Ettelbrück machte sich die hohe Mobilität der jüdischen Bevölkerung bemerkbar: S­ alomon Lion zog 1825 nach Luxemburg-Stadt. Die in der Zwischenzeit um eine weitere Tochter angewachsene Familie Levy verließ Ettelbrück ebenfalls wieder. Im Gegenzug ließen sich allerdings andere Juden in der Landgemeinde nieder, so 1830 der aus dem lothringischen Waldvisse stammende und aus L ­ uxemburg-Stadt zuziehende Gerson (Götschel) Bonn sowie Marx Levy. Ebenfalls aus dem Département Moselle, nämlich aus Königsmacher, stammte Salomon Israel, der von 1827 bis 1830 in Luxemburg-Stadt wohnte, bevor er mit seiner Familie – einschließlich seines Bruders Gerson – nach Ettelbrück zog. Auch in der Umgebung des Ortes wurden um diese Zeit weitere Juden ansässig: In dem von 1823 bis 1850 zur Gemeinde Ettelbrück gehörigen Erpeldingen lebte Isaac Joseph Samson mit seiner Familie, und in das davon etwa zwölf Kilometer entfernte Grosbous zogen 1828 Marx und Isaac Cahen aus Montenach. Die Zahl der jüdischen Einwohner in Ettelbrück blieb trotz der Heirat Gerson Israels mit der aus Kaiserslautern stammenden Gertrude Wolff sowie einiger jüdischer Geburten in den Dreißiger­jahren gering, da Marx Levy wieder wegzog und Gerson Bonn 1837 verstarb. Eine Änderung dieses Zustands trat in den Vierzigerjahren ein, als die Brüder Isaac und Léo (Lion, Leon) Cahen sowie einige Jahre später die

132 Der älteste Sohn von Joseph Levy wurde seit seiner Volljährigkeit teilweise als eigener Haushalt von der Verwaltung erfasst. Vgl. Etat nominatif des Juifs dans l’arrondissement de Diekirch, 16.2.1818 und Liste des familles juives établies dans l’arrondissement de Diekirch, 16.2.1818, in: ANL C386. Vgl. Dondelinger/Muller, Teil II, S. 23 f. 133 Vgl. Extrait du registre des délibérations du Conseil municipal de la mairie d’Ettelbruck, 19.2.1812, in: ANL B 527. Vgl. Muhlen, Ernst: Ettelbrück im Querschnitt der luxemburgischen Wirtschaftsgeschichte, in: Will Dondelinger (Red.): 1780 – 1980. 200 Jahre Marktgeschehen, Ettelbrück 1980, S. 39 – 41. Vgl. Dondelinger/Muller, Teil II, S. 23 f. Vgl. Dondelinger, Will: 200 Jahre Marktgeschehen, in: ders.: 1780 – 1980, S. 58. 134 Vgl. Goedert, S. 355.

Der jüdische Bevölkerungsanteil im Wandel

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Brüder Moses und Marx Kahn nach Ettelbrück kamen.135 Die Ersteren stammten aus dem in der Rheinprovinz gelegenen Eifelort Wawern und hatten, bevor sie Ettelbrück als Wohnsitz wählten, bereits in der Hauptstadt des Groß­herzogtums gelebt. Dort hatte Isaac auch seine Gattin Jeannette Godchaux, eine Luxem­ burgerin aus der jüdischen Oberschicht, kennengelernt. Die Brüder Kahn zogen wie schon die im nahen Grosbous beheimatete Familie Cahen aus dem lothrin­ gischen Montenach in den luxemburgischen Ort.136 Moses Kahn heiratete 1847 ­Henriette Israel und sein Bruder einige Jahre später deren jüngere Schwester Rosalie.137 Ein Charakteristikum fast aller bis zur Jahrhundertmitte nach Ettelbrück ziehenden Juden war ihre Herkunft aus ländlich geprägten Regionen, sowohl bei denjenigen aus Frankreich als auch bei den Zuwanderern aus der Rheinprovinz. Einige von ihnen lebten vor ihrer Niederlassung in der Landgemeinde in Luxemburg-Stadt, aber die Aussicht auf ein besseres Einkommen veranlasste sie wahrscheinlich, das städtische Zentrum wieder zu verlassen. Eine weitere Erklärung für die Entscheidung, sich erneut in einer ländlichen Gegend nieder­zulassen, kann in der beruflichen Erfahrung innerhalb einer auf diese Weise struktu­rierten Umgebung gesehen werden. Im Jahr 1842 schätzte die luxemburgische Verwaltung die jüdische Einwohnerschaft des Großherzogtums auf etwa 400 Personen. Betreffend die ländliche Ansiedlung zeigte sie sich nur mäßig informiert: In Ettelbrück zähle man zwei bis drei jüdische Familien und vielleicht gebe es noch mehr in Grevenmacher sowie Remich. Dass sich weitere Juden, beispielsweise in Esch-sur-Alzette angesiedelt hatten, war den Behörden in der Hauptstadt noch nicht bekannt.138 Bis zur Jahrhundertmitte nahm die geografische Zerstreuung der im Großherzogtum lebenden Juden weiter zu. Von den 52 jüdischen Familien, die 1850 zur Unterhaltung ihres Kultes Beiträge leisten mussten, lebten 30 in der Hauptstadt und fünf weitere im benachbarten Schleifmuhl. Die anderen verteilten sich auf 13 Ortschaften, wobei in Ettelbrück, Frisange, Dudelange und dem noch nicht zur Industriestadt

135 Vgl. Etat des côtes irrécouvrables relatives aux revenus ordinaires de la communauté israélite à Luxembourg, 20.9.1835, in: ANL E55. Vgl. Compte rendu par les trésoriers de la communauté israélite de Luxembourg, ca. 1835, in: ANL E55. Vgl. Recensement de la population d’Ettelbruck, 1851, in: ANL Rpop 221 f. Vgl. Lehrmann, S. 53 f. Vgl. ­Dondelinger/ Muller, Teil II, S. 24 – 26 sowie Teil III, S. 24. Vgl. Flies, S. 1612. 136 Vgl. Recensement de la population d’Ettelbruck, 1851, in: ANL Rpop 221 f. Vgl. D ­ ondelinger/ Muller, Teil III, S. 24. Vgl. Heidt, Günter/Lennartz, Dirk S.: Fast ver­gessene Zeugen. Juden in Freudenburg und im Saar-Mosel-Raum 1321 – 1943, Saarburg 2000, S. 246 – 248. 137 Vgl. Dondelinger/Muller, Teil III, S. 25. 138 Vgl. Chancellier d’Etat au gouverneur, 4.8.1842, in: ANL F68. Vgl. Cerf/Finkelstein, S. 14 f.

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Bedingungen des Lebens auf dem Land

­aufgestiegenen ­Esch-sur-Alzette je zwei Zahlungspflichtige lebten. Ein Teil der übrigen Haushalte befand sich in der Umgebung von Ettelbrück, nämlich in den Dörfern Grosbous, Bettborn und Everlange. Zu betonen ist, dass nur die jüdischen Haushalte mit einem Einkommen in bestimmter Höhe beitragspflichtig waren, die Ettelbrücker Familien Salomon und Gerson Israel mussten beispielsweise nichts zahlen. Daher ist davon auszugehen, dass die Zahl der auf dem Lande lebenden Familien noch höher war, z. B. wohnten in dem etwa zehn Kilometer von Ettelbrück entfernten Medernach seit 1845 Juden, welche nicht in der besagten Beitrags­ liste aufgeführt sind.139 Im Jahr 1851 betrug die Zahl der jüdischen Einwohner Ettelbrücks 28. Innerhalb der Gesamtbevölkerung des Ortes, die von 1313 Personen 1806 über 1681 im Jahr 1821 auf 2448 angestiegen war, bildeten sie eine kleine Minderheit von nur 1,1 %.140 In den folgenden Jahren erhöhte sich die Zahl der Juden in Ettelbrück beträchtlich: 1864 gehörten der kleinen Gemeinschaft 49 Glaubensgenossen an. Der Zuwachs ging wie in der Zeit zuvor auf Migration in den Ort zurück, u. a. wanderten die Familien von Mayer Worms aus Courcelles-Chaussy in Lothringen und von Joseph Mayer aus Wawern zu. Im Falle des Letzteren ist davon auszugehen, dass er sich aufgrund der Bekanntschaft mit den aus seinem Heimatort stammenden Brüdern Isaac und Leon Cahen für die dortige Niederlassung entschied. Nicht zu vernachlässigen sind des Weiteren die mindestens 13 jüdischen Geburten, welche die wenigen Todesfälle bei Weitem überstiegen. 141 Auch innerhalb von ganz Luxemburg vergrößerte sich die Zahl der jüdischen Einwohnerschaft, die 523 im Jahr 1871 betrug. Im Kontext des Großherzogtums bedeutete dies lediglich einen Bevölkerungsanteil von 0,26 %, allerdings war der­ jenige der Protestanten in dem knapp 198.000 Einwohner zählenden und zu 99,5 % katholischen Land mit 0,23 % noch etwas niedriger.142 Infolge des Deutsch-Französischen Krieges immigrierten aus dem östlichen Frankreich (vor allem aus Montenach und Sierck), aber auch aus der Rheinprovinz Juden nach Luxemburg, sodass die Zahl der Angehörigen dieser Religion bis zum Jahr 1880 auf 777 Personen anstieg. Dieser Zuwachs war zwar beachtlich, allerdings griffen die Vorsteher der jüdischen Gemeinde Luxemburgs etwas zu hoch, als sie von einer Verdreifachung 139 Vgl. Etat des répartitions faites sur les israélites de la communauté israélite du Grand Duché de Luxembourg, 11.8.1850, in: ANL G128. Vgl. Schoentgen, S. 300 f. 140 Vgl. Recensement de la population d’Ettelbruck, 1851, in: ANL Rpop 221 f. Vgl. Flies, S. 1203. Vgl. Muhlen, S. 39. 141 Vgl. Recensement de la population d’Ettelbruck, 1864, in: ANL Rpop 505 f. Vgl. Flies, S. 1613. Vgl. Dondelinger/Muller, Teil III, S. 24. 142 Vgl. Statec Luxembourg (Hg.): Statistiques historiques. 1839 – 1989, Luxembourg 1990, S. 574.

Der jüdische Bevölkerungsanteil im Wandel

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ihrer Glaubensgenossen innerhalb der letzten 25 Jahre im gesamten Großherzogtum sprachen.143 Zu Beginn der Achtzigerjahre lebte die jüdische Bevölkerung außerhalb des Zentrums noch zerstreuter als zur Jahrhundertmitte: Sie verteilte sich auf 21 Nieder­ lassungen. Während in elf Ortschaften nur eine jüdische Familie wohnte, mit deren Weggang auch die jüdische Siedlung wieder geendet hätte, zeichnete sich in ­einigen Gemeinden aufgrund des Wachstums der jüdischen Bevölkerung eine dauerhafte jüdische Niederlassung ab. Zu den Letzteren gehörte neben Esch-surAlzette, Mondorf und Grevenmacher auch Ettelbrück, das mit zwölf jüdischen Familien die größte Niederlassung von Juden außerhalb der Hauptstadt, welche 87 jüdische Familien zählte, bildete.144 Die Zunahme der jüdischen Bevölkerung in Ettelbrück seit Ende der Sechzigerjahre kann z. T. auf die Gründung einer Zweigstelle der Tuchfabrik der jüdischen Unternehmer Samson und Guetschlik Godchaux zurückgeführt werden, muss aber auch im Kontext des allgemeinen Bevölkerungswachstums infolge des wirtschaftlichen Aufschwungs im Ort ge­­ sehen werden. Von 1875 bis 1885 stieg die Einwohnerzahl Ettelbrücks von 2960 auf 3281, während die jüdische Gemeinde im Jahr 1881 aus 20 Familien bestand, die 102 Personen umfassten. Der Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung der Landgemeinde vergrößerte sich damit auf einen Wert zwischen 3,1 und 3,4 %.145 Auch innerhalb des gesamten Großherzogtums legte der jüdische Bevölkerungsanteil leicht auf 0,41 % im Jahr 1885 zu, während die Gesamtzahl der jüdischen Einwohner 866 Personen betrug. Bis 1900 wuchs die jüdische Gemeinschaft ­Luxemburgs weiter auf 1212 Mitglieder an und stellte nun 0,51 % der gesamten Einwohnerschaft. Mit 407 Juden, die einen Bevölkerungsanteil von fast 2 % darstellten, blieb die Hauptstadt das unumstrittene Zentrum der luxemburgischen Judenheit. Zu betonen ist allerdings, dass zwei Drittel der Letzteren nicht in Luxemburg-Stadt, sondern verstreut in den restlichen Teilen des kleinen Landes wohnten. Die am schnellsten aufstrebende jüdische Gemeinde stellte die des zur Industriestadt aufgestiegenen Esch-sur-Alzette dar, während die demografische Entwicklung in Ettelbrück gegen Ende des Jahrhunderts nur noch langsam voranschritt.146 Im Vergleich

143 Vgl. Conseil administrative de la communauté israélite de Luxembourg, 13.9.1880, in: ANL H78. Vgl. Lehrmann, S. 65,76. 144 Vgl. Lehrmann, S. 65. 145 Vgl. Flies, S. 1607 – 1611, 1667. Vgl. Brief des Vorstandes der jüdischen Gemeinde von Ettelbrück an den Staatsminister von Blochhausen, 26.8.1881, in: ANL H78. Vgl. ­Mémorial, Nr. 40, 1876, S. 376 sowie Annexe au Nr. 26, 1886, S. 30 f. 146 Vgl. Mémorial, Annexe au Nr. 26, 1886, S. 15 – 19, Annexe au Nr. 11, 1901, S. 86. Vgl. ZDSJ, Nr. 6, Jg. 3, 1907, S. 94.

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Bedingungen des Lebens auf dem Land

zu den preußischen sowie französischen Untersuchungsdörfern war der Anteil der jüdischen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung in Ettelbrück wesentlich geringer. Der genaue Anteil der Landjuden an der jüdischen Einwohnerschaft im Großherzogtum im Jahr 1900 lässt sich zwar nicht genau ermitteln, allerdings ist davon auszugehen, dass er immer noch über 50 % betrug: Etwa die Hälfte der luxemburgischen Juden lebte in den städtisch geprägten Kantonen von Luxemburg-Stadt und Esch-sur-Alzette. Im Hinblick auf den Letzteren ist allerdings zu berücksich­ tigen, dass nicht alle ihr Auskommen in der Industriestadt fanden, sondern vielfach in Dörfern der Umgebung, z. B. in Differdange, Schifflange, oder Rumelange.147 Die zu Beginn der Achtzigerjahre festgestellte Konzentration jüdischer Familien in verschiedenen ländlichen Orten führte bis zur Jahrhundertwende zur Bildung einiger jüdischen Gemeinden mit eigenen Institutionen, so in Grevenmacher und Medernach.148 Im Gegensatz zur Entwicklung in den beiden großen Nachbarschaftsstaaten lässt sich in Luxemburg zum Ende des 19. Jahrhunderts keine verstärkte jüdische Migration in Richtung der Städte feststellen. Darüber hinaus ist auch keine Auswanderung von Angehörigen der jüdischen Gemeinschaft des Großherzogtums nach Übersee nachzuweisen. In diesem Zusammenhang ist zu bedenken, dass die Juden Luxemburgs selbst erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts – zumeist aus Frankreich und der Rheinprovinz – in den Kleinstaat immigrierten. Aufgrund verwandtschaftlicher Bande hatten sie allerdings teilweise Beziehungen nach Amerika: So vererbte der aus dem lothringischen Erstroff stammende und nach Brasilien ausgewanderte Samuel Levy einen Teil seines Vermögens den in Luxemburg ansässigen Söhnen seines Bruder Joseph Levy.149 Es ist davon auszugehen, dass die in das Großherzogtum gezogenen Juden eine Emigration nicht in Betracht zogen, da sie ihr Auskommen fanden. Letzteres bewegte auch Glaubensgenossen aus den Herkunftsorten der ersten jüdischen Einwanderer zum Zuzug nach Luxemburg. Dass der Großteil der jüdischen Bevölkerung nach Luxemburg immigriert war, lässt

147 Für die Zahl der Juden im Kanton Esch-sur-Alzette existieren verschiedene Angaben: In der genannten Quelle werden 172 genannt, in der Bevölkerungszählung von 1900 dagegen 201. Eine mögliche Erklärung hierfür liefert die Fluktuation der jüdischen Bevölkerung. Vgl. Brief an den Staatsminister, 15.12.1900, in: ANL AE265. Vgl. Mémorial, Annexe au Nr. 11, 1901, S. 86. 148 Vgl. Marx, Claude: Jüdisches Leben in Luxemburg, in: Centre de documentation sur les migrations humaines Düdelingen, S. 43. 149 Darüber hinaus beerbte er auch die im belgischen Namur lebende Witwe seines Bruders Jonas, die in Thionville ansässigen Söhne seiner Schwester sowie eine weitere in Arlon lebende Schwester. Vgl. Wolff, Egon/Wolff, Frieda: Un juif lorrain émigré au Brésil, in: Archives Juives, Nr. 2, Jg. 16, 1980, S. 36 f.

Der Ort der Juden im Dorf

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sich auch an ihrer Staatsangehörigkeit ablesen: Im Jahr 1905 waren 56,9 % der im Großherzogtum lebenden Juden im Besitz einer ausländischen Staatsangehörigkeit, wobei diejenigen mit der deutschen Staatsangehörigkeit mit 595 Personen die größte Gruppe vor den Franzosen mit 46 sowie den Belgiern mit 18 Personen stellten. Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang, dass die Gruppe der Immigranten noch größer war, da ein Teil der jüdischen Einwanderer mehrere Jahre nach der Niederlassung in dem Kleinstaat die luxemburgische Staatsangehörigkeit annahm, wie z. B. der in Waldbillig geborene Aron Hertz in Ettelbrück 1882.150

3.2 Der Ort der Juden im Dorf. Von topografischer Konzentration und Zerstreuung Symbolisch gesehen stellte der Beginn der Emanzipation für die Juden den Weg „aus dem Ghetto“ dar, d. h. aus der Abgeschlossenheit der jüdischen Existenz im Ancien Régime zur Eingliederung in die Mehrheitsgesellschaft. Inwiefern sich diese Bewegung räumlich wiederspiegelte – d. h., sich in den Wohnplätzen der Juden innerhalb der Dörfer zeigte –, wird im Folgenden anhand der Topografien von Gemünden, Boulay und Ettelbrück erforscht.151 Die jüdischen Einwohner Gemündens durften bereits im 18. Jahrhundert Häuser und Grundstücke besitzen, sodass zu Beginn der preußischen Zeit schon 14 von 26 jüdischen Haushalten in ihren eigenen Häusern wohnten.152 Ein von den christlichen Einwohnern abgetrennter Wohnbezirk existierte nicht im Dorf. Bereits 1840 verteilten sich die jüdischen Einwohner über den gesamten Ort, sodass es kaum 150 Vgl. ZDSJ, Nr. 6, Jg. 3, 1907, S. 94. Vgl. Segall, Jakob: Die Juden im Großherzogtum Luxemberg [sic], in: ZDSJ, Nr. 2, Jg. 6, 1910, S. 24 – 26. Vgl. Mémorial, Nr. 64, 9.11.1882, S. 670. 151 Die Quellenlage ließ eine Untersuchung für Illingen und Grosbliederstroff nicht zu. Vgl. zur Entwicklung in den deutschen Territorien auf dem Land Löwenstein, Steven M.: Changing Housing conditions in the nineteenth century German rural ghetto, Marion Kaplan/Beate Meyer (Hg.): Jüdische Welten. Juden in Deutschland vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart, Festschrift für Monika Richarz (Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden, Bd. 27), Göttingen 2005, S. 31 – 41. Zur Interpretation jüdischer Niederlassungen vgl. Schlör, Joachim: Jüdische Siedlungsformen. Überlegungen zu ihrer Bedeutung, in: Kotowski, Handbuch, Bd. 2, S. 29 – 39. 152 Vgl. Haupt-Nachweisung der jüdischen Bevölkerung im Kreis Simmern zwischen 1812 und 1816, in: LHAK Best. 441 Nr. 3162. Zur Entwicklung des jüdischen Hausbesitzes von 1833 bis 1864 vgl. die Mutterrolle und das Flurbuch von Gemünden, in: LHAK Best. 733 Nr. 885, Bde. 1 – 8.

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Bedingungen des Lebens auf dem Land

eine Straße gab, in der sie nicht siedelten. Auch wenn es keine jüdische Familie gab, die nur jüdische Nachbarn hatte, so ließen sich doch einige Siedlungsschwerpunkte ausmachen: In der Mühlen- und der Unterstraße lebten jeweils sechs, in der Brunnenstraße sogar acht jüdische Familien. Die übrigen 14 jüdischen Familien wohnten verstreut. In den beiden folgenden Jahrzehnten verlagerte sich der jüdische Siedlungsschwerpunkt innerhalb Gemündens teilweise, sodass 1858 in der Cutscherstraße neun und in der Brunnenstraße sieben jüdische Familien wohnten. Die Zahl der über das Dorf verteilten jüdischen Familien stieg leicht auf 17 an.153 Über eine reine Nachbarschaft hinaus teilten sich in manchen Fällen jüdische und christliche Gemündener sogar ein Wohnhaus. Eine Ursache des Zusammenlebens war, dass Christen als Gesinde bei den wohlhabenderen jüdischen Einwohnern arbeiteten. Im Jahr 1852 sah dies folgendermaßen aus: Der protestantische Knecht Ludwig Müller und die katholische Magd Erna Romer arbeiteten für den Kaufmann Marx Löb. Bei dem Krämer Jakob Löb waren neben der jüdischen Magd Sara Mayer auch der Protestant Karl Odenbreit und die Katholikin ­Charlotta Brück, bei dem Händler Mathias Brück die katholische Magd Elisabetha Schein und bei dem Händler Christian Strauss der Protestant Peter Gröhl und die Katholikin Elisabeth Rauhof angestellt.154 Das Zusammenleben von Juden und Christen beruhte in diesen Fällen auf einem Arbeitsverhältnis. Dass Juden christliches Gesinde jüdischem Gesinde vorzogen, lässt sich nicht generell sagen, da es auch jüdisches Gesinde bei Juden gab: Der Händler Emanuel Brück beschäftigte z. B. ausschließlich den jüdischen Knecht Abraham Wirth. Die Anstellung von christlichem Gesinde hatte für die jüdischen Arbeitgeber allerdings einen Vorteil in religiöser Hinsicht: Es erleichterte die Einhaltung des Ruhegebotes am Sabbat. Eine Vorliebe für Angehörige einer bestimmten christlichen Konfession ließ sich bei den jüdischen Arbeitgebern nicht feststellen.155 Fälle, in denen christliche Einwohner Gemündens jüdisches Gesinde beschäftigten, kamen nicht vor. Dies ist teilweise auf die Erfordernisse der jüdischen Religionsausübung zurückzuführen: Weder der jüdische, sich vom christlichen unterscheidende Wochenrhythmus noch die Reinheitsgebote, insbesondere die Vorschriften über koscheres Essen, wären bei einem christlichen Arbeitgeber von jüdischem Gesinde einzuhalten gewesen. Ein als Ausnahme zu betrachtendes Zusammenleben aus beruflichen Gründen fand 153 Vgl. Volkszählungslisten von Gemünden, 1840, 1858, in: LHAK Best. 655,12 Nr. 46. 154 Vgl. Volkszählungsliste von Gemünden, 1852, in: LHAK Best. 655,12 Nr. 46. 155 Zwar gab es 1852 nur katholische Mägde und protestantische Knechte, aber dies ist wohl nur ein Zufall, da in anderen Jahren auch protestantische Mägde und katholische Knechte bei Juden angestellt waren. Vgl. Volkszählungslisten von Gemünden, 1840, 1858, 1861, 1864, in: LHAK Best. 655,12 Nr. 46. Vgl. Einwohnerliste Gemündens, 1843, in: LHAK Best. 655,12 Nr. 32.

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im Haushalt des jüdischen Schuhmachers Leo Emmanuel statt: Der Protestant Ludwig Fuchs wohnte bei ihm, da er sein Geselle war.156 Neben Arbeitsverhältnissen stellte auch Armut eine Ursache für christlich-­ jüdisches Zusammenleben dar. Die Cutscherstraße – einer der jüdischen Siedlungsschwerpunkte Gemündens im Jahr 1858 – gehörte zu dem Teil des Dorfes, in dem die ärmere Bevölkerung wohnte. Fünf der neun dort ansässigen jüdischen Familien teilten sich mit Christen ein Haus. So bewohnten z. B. der katholische Tagelöhner Melsheimer und seine Frau, die Familie des jüdischen Händlers Joseph Strasser sowie die katholische, als Tagelöhnerin arbeitende Witwe von Johann C ­ aspar und ihre Tochter zusammen ein Haus. Die Familie des Viehhändlers Lorenz Wirth teilte sich mit dem protestantischen Leinenweber Nicolaus Spreyer und ­dessen Familie ein Haus. Für Letzteren war das Zusammenleben mit Juden nichts Außergewöhnliches: Bereits sein Vater hatte sich mit der Familie des jüdischen Krämers Ludwig Strasser ein Haus geteilt. In Einzelfällen gingen die christlichen und jüdischen Bewohner eines Hauses sogar den gleichen Berufen nach: Der Protestant Christian Moog und der Jude Ernst Strasser waren beide als Leinweber tätig. Konfessionell ließen sich keine Unterschiede ausmachen: Protestanten und Katholiken teilten gleichermaßen Häuser mit Juden. Die zeitweise in Gemünden lebenden Mennoniten hegten, wohl da sie selbst einer religiösen Minderheit angehörten, keine Berührungsängste gegenüber anderen Religionsgemeinschaften: Die mennonitische Familie Bachmann teilte sich mit dem evangelischen Knecht Peter Scherer und der Familie des jüdischen Tagelöhners Franz Marx ein Wohnhaus.157 In Boulay gestaltete sich die Wohnsituation der Juden zu Beginn der Eman­ zipation anders als in Gemünden. Zu Beginn der Zwanzigerjahre des 18. Jahrhunderts ordnete die lothringische Herrschaft die Schaffung eines eigenen Wohn­ bezirks für die jüdischen Familien an. Seitdem mussten die Juden Boulays in einer kleinen ihnen zugewiesenen Straße am nördlichen Ausgang des Ortes leben. Die später auch „rue des juifs“ genannte Gasse, die entlang einer Umfassungsmauer verlief und im Norden an den Elbach grenzte, wurde nachts mithilfe von Ketten verschlossen.158 Die der jüdischen Bevölkerung auferlegte Beschränkung auf ein Quartier entfiel aufgrund der Emanzipation, aber in den folgenden Jahrzehnten änderte sich zunächst anscheinend wenig. Im Jahr 1809 gab es noch keine jüdischen Grundbesitzer, obwohl einige unter ihnen wohl genug Kapital für den Erwerb besaßen. Die sieben als wohlhabend eingeschätzten Juden besaßen ausschließlich Geldvermögen, welches ihnen als Grundlage ihrer Geschäfte diente, oder wie z. B.

156 Vgl. Volkszählungsliste von Gemünden, 1864, in: LHAK Best. 655,12 Nr. 46. 157 Vgl. Volkszählungslisten von Gemünden, 1840 und 1843, in: LHAK Best. 655,12 Nr. 46. 158 Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 223. Vgl. Bajetti, communauté, S. 28 f.

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im Falle des 80-jährigen Kaufmannes Jacob Cahen als Auskommen im Alter. Die jüdischen Einwohner Boulays wohnten, da sie selbst kein Grundeigentum be­­saßen, in Häusern von Christen zur Miete.159 Mindestens bis zu Beginn der Zwanzigerjahre des 19. Jahrhunderts siedelten die Juden Boulays weiter an dem ihnen einst zugewiesenen Platz, von welchem die Ortsbehörden als „quartier occupé par les israélites“160 sprachen. Bis zur Jahrhundertmitte veränderte sich das Bild der jüdischen Niederlassung im Ort allmählich. 1851 gehörten auch neun Juden zu den Eigentümern von Grundstücken und Häusern. In erster Linie handelte es sich bei den Grundbesitzern um die Pferdehändler des Ortes bzw. deren Hinterbliebene, wie z. B. Benédic Isaac oder die Witwe von Samuel Cahen. Des Weiteren zählten andere Geschäftsleute zu dieser Gruppe, so der Weingroßhändler Lippmann Rheims oder die Handelsleute Cerf Lion und Jacob Rheims. Zu erwähnen ist darüber hinaus noch Lion Cerf, der im Gegensatz zu seinem gleichnamigen Glaubensgenossen als Mediziner tätig war. Diesen Personen war gemein, dass sie zu den wohlhabendsten Juden des Ortes zählten.161 Die Grundbesitzer stellten allerdings nicht die einzigen jüdischen Hausbesitzer dar: Sowohl der Fleischer Isaac Cerf als auch die Witwe des H ­ ausierers Moyse Cahen verfügten beispielsweise über Hausbesitz.162 Auch wenn sich noch eine Konzentration jüdischer Einwohner in der Judengasse feststellen lässt, so hatte zur Mitte des Jahrhunderts doch ihre Verstreuung über das Dorf begonnen. Dass viele von ihnen in der Nachbarschaft von Glaubensgenossen lebten oder zumindest nahe einem weiteren Haus mit jüdischen Bewohnern, erklärt sich wohl aus dem Bedürfnis, den gemeinsamen Zusammenhalt zu festigen. Wie in Gemünden gab es allerdings kaum Juden, die keine christlichen Nachbarn hatten.163 Die Verteilung der jüdischen Einwohner über das Dorf verstärkte sich in den folgenden Jahrzehnten, sodass 1880 die 45 jüdischen Familien des Ortes verteilt in 14 Straßen des Ortes lebten. Die von den Juden meistbesiedelte Straße blieb mit zehn Haushalten die „rue des juifs“. Zu bemerken ist allerdings, dass die vormals ausschließlich den jüdischen Einwohnern zugedachte Judengasse mittlerweile mehrheitlich von christlichen Familien, deren Zahl 23 betrug, bewohnt wurde. Sie mündete östlich in die aus dem Ort hinausführende Saarlouiserstraße, in der sich vier jüdische Haushalte befanden. Am Rathausplatz, der das östliche Zentrum 159 Vgl. Recensement de la population juive, 31.8.1809, in: ADM ED 100, 3P1. 160 Conseiller de Préfecture au maire de la commune de Boulay, 29.3.1818, in: ADM ED 100, 3P1. 161 Vgl. Volkszählungsliste von Boulay, 28.6.1851, in: ADM ED100 1F1. Vgl. Liste des électeurs censitaires de la commune de Boulay, 5.1.1846, in: ADM 40M4. 162 Vgl. Kaufvertrag, 2.2.1853, in: ADM ED100 2M3. 163 Vgl. Volkszählungsliste von Boulay, 28.6.1851, in: ADM ED100 1F1. Vgl. Ulbrich, S. 199.

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des Ortes bildete, in der auf die größte Straße des Ortes führenden Hallen­straße sowie in der St. Avolderstraße, welche von dem im westlichen Zentrum gelegenen Weizenplatz nach Süden führte, wohnten ebenfalls jeweils vier jüdische Familien. Am Weizenplatz befanden sich drei jüdische Haushalte, genauso viele wie am Marktplatz, der mit dem Ersteren durch die Metzerstraße, in der sich zwei jüdische Familien niedergelassen hatten, verbunden wurde. Zahlreiche Juden des Ortes lebten somit an Punkten, welche zentral für das im Ort stattfindende geschäft­ liche sowie öffentliche Leben waren. Sogar in der Kirchstraße, welche direkt zum katholischen Gotteshaus führte, lebten zwei jüdische Familien.164 Eine Folge der verstreuten Siedlung war, dass die jüdischen Einwohner Boulays einen sichtbareren Teil der Dorfbevölkerung darstellten als noch in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts. Bis 1895 zerstreuten sich die in Boulay ansässigen Juden noch mehr über das gesamte Dorf: Obwohl die Anzahl der jüdischen Haushalte auf 37 zurückging, befanden sich diese nun verteilt auf 17 verschiedene Straßen. Weiterhin stellte die Judengasse mit sieben jüdischen Haushalten den stärksten Schwerpunkt der jüdischen Niederlassung innerhalb von Boulay dar. Die Zahl der am Marktplatz lebenden jüdischen Familien hatte sich leicht auf vier vergrößert, während die St. Avolder-, die Hallen- sowie die Saarlouiserstraße jeweils nur noch drei jüdische Haushalte beherbergten. In jeder der übrigen zwölf Straßen wohnten maximal zwei jüdische Familien.165 Die fortdauernde, wenn auch rückläufige Konzen­tration jüdischer Haushalte in der Judengasse erklärt sich teilweise wohl daraus, dass die Synagoge sich in dieser Straße befand und bei der Wahl des Wohnplatzes die Nähe zu jüdischen Institutionen noch eine Rolle spielte. Genauso wie in Gemünden teilten sich zur Jahrhundertmitte auch in Boulay Juden mit Christen Wohnhäuser und ebenso wie in dem preußischen Dorf stellten Arbeitsverhältnisse einen Grund für das Zusammenleben dar. So arbeitete 1851 Pierre Bucklé als Stallbursche bei dem Gastwirt Benoit Lazard. Dem gleichen Beruf ging Pierre Thil bei Jacob Rheims nach. Der jüdische Händler beschäftigte zudem noch Jacques Delinger als Hausangestellten sowie die Jüdin Brunette Gerson als Magd. Darüber hinaus war Madelaine Bousendorffer bei dem Getreidehändler Samuel Rheims als Amme für dessen fünfmonatige Tochter Cécile Rheims angestellt.166 Wie in dem preußischen Dorf fanden sich auch in dem französischen Ort 164 Vgl. Volkszählungsliste von Boulay, 1.12.1880, in: ADM ED100 1F4. Vgl. Plan d’ensemble de la partie supérieure de la ville de Boulay, 25.5.1847, in: ED 100 1M3. Vgl. Bernard, Jean-Pierre: Les cimetières israélites de Moselle. Relevés des tombes, 2 Bde., Paris 2002, hier Bd. 1, S. 21. 165 Vgl. Berufs- und Gewerbezählung von Boulay, 14.6.1895, in: ADM ED100 1F4. 166 Vgl. Volkszählungsliste von Boulay, 28.6.1851, in: ADM ED100 1F1.

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keine jüdischen Angestellten bei christlichen Arbeitgebern, dafür aber mehrere bei ihren Glaubensgenossen. Ein gewisser Unterschied zu Gemünden bestand zwar darin, dass in Boulay 1851 nur Katholiken bei den jüdischen Einwohnern arbei­ teten, allerdings erklärt sich dies durch die zu dieser Zeit noch geringe Anzahl von Protestanten im Ort. Im ausgehenden Jahrhundert arbeitete auch evangelisches Gesinde bei Juden, z. B. ein Gehilfe bei dem Bäcker Lion Cerf. Außerdem lässt sich feststellen, dass zu dieser Zeit die Zahl der bei jüdischen Einwohnern lebenden christlichen Angestellten mit acht Personen etwas höher war als zur Jahrhundertmitte, als noch mehr Juden im Ort lebten.167 Ein weiteres Motiv für das gemeinsame Bewohnen eines Hauses durch Juden und Christen stellte auch in Boulay Armut dar. Im Jahr 1851 gab es sechs solcher Fälle im Ort. So teilten sich z. B. die Familien der katholischen Tagelöhner Jacob Schiltz und Lambert Dorvaux ein Wohngebäude mit derjenigen des jüdischen Fuhrmanns Louis Vorms. Beengt muss die Wohnsituation in dem Haus gewesen sein, in welchem die beiden Werkzeugschmiede Jacques Gresset und Mathias Landure sowie der Lumpensammler Mayer Levy und der Viehhändler David Levy samt ihrer Angehörigen, d. h. mit insgesamt 22 Personen lebten.168 Im Gegensatz zu Gemünden gab es in Boulay einige jüdische und christliche Einwohner, die sich Häuser teilten, ohne dass Arbeitsverhältnisse oder Armut eine Rolle spielten. So lebte 1851 Charles Lubault, der bei dem Katholiken Bretnacher angestellt war, im Haushalt des jüdischen Schankwirts und Bäckers Jacob Cerf. Armut kommt dabei nicht als Grund für die Beherbergung infrage, da Cerf zu den wohlhabenderen Juden gehörte.169 Finanzielle Notwendigkeit spielte ebenfalls keine Rolle bei einem von fünf Parteien geteilten Gebäude: Die Familien des Stuckateurs Jean Pierre Krafft, des sich zur Ruhe gesetzt habenden Tischlers Jean Bretnacher, des Händlers Mayer Cerf und des Zimmermanns Jean Koch sowie die Witwe Marguerite Schatz bewohnten zusammen ein Haus. Die ersten drei gehörten nach ihrer Steuerleistung auf der Zensuswahlliste von 1846 zumindest der Mittelschicht Boulays an.170 In einem anderen Fall teilten sich u. a. der

167 Vgl. Berufs- und Gewerbezählung von Boulay, 14.6.1895, in: ADM ED100 1F4. Vgl. Betriebsliste von Boulay, 1.7.1914, in: ADM ED100 3F2. Vgl. Bernard, Bd. 1, S. 24. 168 Vgl. Volkszählungsliste von Boulay, 28.6.1851, in: ADM ED100 1F1. Vgl. Liste des électeurs censitaires de la commune de Boulay, 5.1.1846, in: ADM 40M4. 169 Nach der Zensuswahlliste von 1846 kann er als Angehöriger der oberen Mittelschicht des Ortes eingestuft werden. Vgl. Liste des électeurs censitaires de la commune de Boulay, 5.1.1846, in: ADM 40M4. Vgl. Volkszählungsliste von Boulay, 28.6.1851, in: ADM ED100 1F1. 170 Krafft entrichtete nach der Zensuswahlliste 50 Francs, Bretnacher 43 Francs und Cerf immerhin 27 Francs Steuern an die Kommune. Vgl. Liste des électeurs censitaires de

Der Ort der Juden im Dorf

173

Feldhüter des Ortes, der pensionierte Steuereinzieher und der Pferdehändler Michel Worms ein Wohnhaus.171 In Luxemburg gestaltete sich die Wohnsituation der jüdischen Einwohner aufgrund ihrer erst im 19. Jahrhundert erfolgenden Ansiedlung anders als in den beiden bereits betrachteten Fällen. In der ersten Jahrhunderthälfte erwarben die in Ettelbrück lebenden Juden noch keine Häuser, sondern mieteten sich bei der christlichen Dorfbevölkerung ein.172 Im Jahr 1864 lassen sich unter den Hausbesitzern in Ettelbrück einige Juden nachweisen. Sowohl Isaac Cahen als auch Joseph Meyer, Marx Kahn und Salomon Israel gehörten zu dieser Gruppe. Ihre Gebäude lagen teilweise an stark frequentierten Plätzen innerhalb des Ortes, z. B. dasjenige von Isaac Cahen direkt bei der alten Kirche, die zur genannten Zeit als Primärschule genutzt wurde. Nicht wenige Juden lebten allerdings weiterhin in Häusern von Christen zur Miete, so der jüdische Lehrer Besslinger zu Beginn seines Aufenthaltes beim Schütz, die Familie von Marcus Cahen beim Leydenbach oder die verwitwete Caroline Israel mit ihrem Sohn im Haus vom Weylesch. Mitte der Sechzigerjahre wurden die Brüder Guetschlik und Samson Godchaux, ohne je in Ettelbrück ansässig zu werden, zu den bedeutendsten jüdischen Grund- und Hausbesitzern im Ort. Sie ersteigerten den gesamten Betrieb der Mühle von Ettelbrück, der neben mehreren Mühlen auch ein großes Wohngebäude samt Ställen und Scheunen sowie einen Garten umfasste. Die Erwerbung diente der Gründung einer Zweigstelle der Tuchfabrik von Schleifmuhl durch die beiden Industriellen.173 Wegen ihrer nur geringen Anzahl hatten die jüdischen Einwohner in der ersten Jahrhunderthälfte stets christliche Nachbarn. Auch zur Jahrhundertmitte, als sich bereits mehrere jüdische Familien im Ort niedergelassen hatten, sammelten sie sich nicht an einer Stelle im Ort, sondern siedelten verstreut. So hatte 1852 der Händler Isaac Cahen einerseits den Förster Nicolas Reisch sowie andererseits den P ­ rivatier Nicolas Spanier zu Nachbarn. Gerson Israel lebte neben der Näherin Kathrin ­Polffer und der Familie des Schusters Pierre Jacoby. Wie sein Bruder hatte sich auch ­Salomon Israel an einem Platz ohne direkte jüdische Nachbarschaft niedergelassen. Der Handelsmann Moses Kahn wohnte zwischen dem Wagener Jean Zoler sowie dem Ölhersteller Antoine Schmit.174 Erst in den folgenden Jahren änderte sich das Bild der jüdischen Siedlung in Ettelbrück allmählich. So lebten im Jahr 1864

171 172 173 174

la commune de Boulay, 5.1.1846, in: ADM 40M4. Vgl. Volkszählungsliste von Boulay, 28.6.1851, in: ADM ED100 1F1. Vgl. Volkszählungsliste von Boulay, 28.6.1851, in: ADM ED100 1F1. Vgl. das Kataster von Ettelbrück, 1842, in: Flies, S. 1326 – 1336. Vgl. Volkszählungsliste von Ettelbrück, 1864, in: ANL Rpop 505 f. Vgl. Flies, S. 1605 – 1608. Vgl. Dondelinger/Muller, Teil II, S. 26. Vgl. Volkszählungsliste von Ettelbrück, 1852, in: ANL Rpop 221 f.

174

Bedingungen des Lebens auf dem Land

zumindest einige Juden in direkter Nachbarschaft zu Glaubensgenossen. Von den elf im Ort befindlichen jüdischen Haushalten befanden sich diejenigen der Handels­ frau Caroline Meyer, des Pferdehändlers Joseph Mayer, des Lehrers Jacob Besslinger sowie des Handelsmannes Feis Levy unmittelbar nebeneinander. Zudem gab es noch zwei weitere jüdische Haushalte, die in räumlicher Nähe zueinander lagen, nämlich diejenigen von Salomon Israel und der verwitweten Näherin Henriette Kahn. Die Familien der beiden lebten nur zwei Häuser voneinander entfernt. Die übrigen fünf jüdischen Haushalte verteilten sich über den Ort.175 Dass zumindest ein Teil der Juden ohne äußeren Zwang die Nähe von Glaubensgenossen suchte, lässt sich also nicht nur für das preußische sowie lothringische Beispiel, sondern auch für den luxemburgischen Fall feststellen.176 Von den jüdischen Familien Ettelbrücks verfügte 1852 kaum eine über Gesinde: Lediglich im Haushalt von Isaac Cahen war Minette Levy als Magd angestellt. Ein christlich-jüdisches Zusammenwohnen aufgrund von Arbeitsverhältnissen fand zu dieser Zeit nicht statt.177 Bis 1864 änderte sich dieses Bild nicht. Christ­ liches Gesinde bei Juden gab es weiterhin ebenso wenig wie jüdisches Gesinde bei christlichen Einwohnern. Von den Juden Ettelbrücks beschäftigten zum genannten Zeitpunkt lediglich die Pferdehändlerin Jeanette Worms sowie weiterhin Isaac Cahen Hausangestellte.178 Ab den Siebzigerjahren kam es durch die Niederlassung der Wollwäscherei und Spinnerei der Brüder Godchaux zwar nicht zu einem direkten jüdisch-christlichen Zusammenwohnen, aber dazu, dass christliche Arbeiter in einem Gebäude ihrer jüdischen Arbeitgeber lebten. Das Fabrikgelände wurde durch den Zukauf von Gemeindebesitz vergrößert, der u. a. für die Errichtung von Arbeiterwohnungen genutzt wurde. Als Heinrich Kremer Ende der Achtzigerjahre Jules Godchaux als Direktor der Tuchfabrik ablöste, zog er mit seiner Familie in das weiterhin im Besitz der Godchaux’ verbleibende Haupthaus auf dem Fabrikgelände an der Alzettewehr.179

175 Vgl. Volkszählungsliste von Ettelbrück, 1864, in: ANL Rpop 505 f. 176 Zur Entwicklung jüdischer Siedlungsmuster im 19. Jahrhundert vgl. Löwenstein, Steven M.: Anfänge der Integration 1780 – 1871, in: Marion Kaplan (Hg.): Geschichte des jüdischen Alltags. Vom 17. Jahrhundert bis 1945, München 2003, S. 126 – 134 und Lifshitz-Krams, S.  74 – 79. 177 Vgl. Volkszählungsliste von Ettelbrück, 1852, in: ANL Rpop 221 f. 178 Die bei Jeannette Worms arbeitende Dienerin Catherine Thein wird in der Volks­ zählungsliste als Jüdin geführt. Es könnte sich allerdings um einen Schreibfehler handeln. Vgl. Volkszählungsliste von Ettelbrück, 1864, in: ANL Rpop 505 f. 179 Vgl. Flies, S. 1606 – 1616, 1679. Vgl. Maertz, E.: Von der Zwangsmühle zur Wollspinnerei, in: Philharmonie grand-ducale et municipale Ettelbruck (Hg.): Centenaire 1852 – 1952. Livre d’Or de la Philharmonie d’Ettelbruck, Ettelbrück 1952, S. 122 – 130.

Handel und sozialer Aufstieg

175

3.3 Handel und sozialer Aufstieg. Erwerbstätigkeit und Sozialstruktur 3.3.1 Jüdische Erwerbsstrukturen im Vergleich. Vom Wandel im Handel

So wie die jüdischen Bevölkerungen der Rheinprovinz und Lothringens ein­ander hinsichtlich ihrer Siedlungsweise auf dem Land glichen, so ähnelten sie sich auch in ihren Erwerbstätigkeiten. Die Mehrheit der jüdischen Bewohner aller drei betrachteten Regionen widmete sich dem Handel. Aufgrund der bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Rheinprovinz sowie Lothringen vorherrschenden ländlichen Siedlungsform waren zunächst die meisten jüdischen Handels­ berufe in die ländliche Ökonomie eingebunden. Die jüdischen Einwohner waren zu Beginn des Jahrhunderts vor allem als Viehhändler, Metzger sowie Hausierer („colporteurs“), Trödler („brocanteurs“), Altkleider- („fripiers“) sowie Altwarenhändler („revendeurs“) tätig.180 Bemerkenswert ist, dass dies zumindest für diese Zeit auch für Luxemburg-Stadt gilt, wo zunächst die Mehrzahl der Juden des Großherzogtums lebte und teilweise Viehhandel trieb, also in engem Kontakt mit dem ländlichen Umland stand.181 Die zu Beginn des Jahrhunderts in den Untersuchungsdörfern vorgefundenen jüdischen Berufsstrukturen spiegeln die ökonomische Situation der Mehrheit der jüdischen Bevölkerungen der jeweiligen Regionen wieder, da die meisten Juden der betrachteten Landgemeinden ihren Lebensunterhalt mit dem Ertrag aus Handels­ berufen verdienten. In Boulay, wo 1809 zahlreiche Juden – wie auch christliche Einwohner – ihr Einkommen als Hilfsarbeiter („manoeuvres“) bestritten, war der Anteil mit 50 % am geringsten.182 Da die Bürgermeister, welche die Verzeichnisse über die jüdischen E ­ inwohner erstellten, verschiedene Bezeichnungen für die Handelstätigkeiten benutzten, ­lassen sich nur in einem eingeschränkten Maß Rückschlüsse auf deren genaueres Wesen ziehen. Im Fall von Illingen wurde Anfang des 19. Jahrhunderts fast jeder

180 Für Lothringen vgl. Neher-Bernheim, documents, Bd. 1, S. 14 – 17. Vgl. Meyer, présentation, S. 17. Vgl. Becker, S. 49 f. Vgl. Posener, effects, S. 288 – 302. Für die Rhein­provinz vgl. Kasper-Holtkotte, Juden, S. 117 – 129. Vgl. Kastner, Einführung, S. 32 – 37. Vgl. Richarz, Einführung, in: dies., Leben, Bd. 1, S. 29 – 43. Die Berufsbezeichnungen sind teilweise austauschbar. Vgl. dazu Job, Françoise: Les Juifs à Lunéville aux XVIIIe et XIXe siècles, Nancy 1989, S. 146 – 160. 181 Vgl. Lehrmann, S. 46. Vgl. Goedert, S. 349. 182 Um die Jahrhundertwende verdingten sich im Département Moselle allein auf dem Land mehr als 11.000 Personen als „manoeuvres“. Vgl. Colchen, S. 178.

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Bedingungen des Lebens auf dem Land

jüdische Haushaltsvorstand als „revendeur“, also Gebrauchtwarenhändler bzw. Wiederverkäufer, bezeichnet. Es ist anzunehmen, dass die Waren, welche durch die Juden vertrieben wurden, variierten: Jakob Levy, der 1812 als „marchand“ und 1816 als Krämer bezeichnet wurde, bot unterschiedliche Lebensmittel an, während sich Elias Alexander als Metzger wohl auf den Handel mit Fleisch im kleinen Rahmen spezialisiert hatte.183 Nichtsdestotrotz stufte im Jahr 1817 der neu eingesetzte preu­ßische Bürgermeister die jüdischen Familienoberhäupter ausnahmslos und ohne eine nähere Erläuterung als „Handelsleute“ ein.184 Mit dem – diesem Ausdruck im Französischen entsprechenden – Begriff „negociant“ wurde 1808 auch die Berufstätigkeit mehrerer Juden in Grosbliederstroff bezeichnet.185 Der Bürgermeister von Boulay, der seine Angaben auf Informationen des jüdischen Vorstehers stützen konnte, ging ebenfalls kaum auf die gehandelten Warenarten ein, sondern konzentrierte sich auf die Art des Verkaufs und kategorisierte daher die Mehrheit der jüdischen Händler seines Ortes als Hausierer.186 Gemünden stellt insofern eine Ausnahme dar, als fast alle Handel treibenden Juden als Viehhändler eingeordnet wurden. Allerdings entsprach diese Zuschreibung des Bürgermeisters nur teilweise der Realität: Joseph Strauss handelte z. B. nicht nur mit Vieh, sondern auch mit Fleisch und Leder sowie – je nach Jahreszeit – mit Agrarprodukten, wie Hafer und Spelz.187 Der Grund für die Ungenauigkeit bei der Beschreibung der Handelstätigkeit der Juden ist einerseits darin zu sehen, dass die Verwalter sich nicht um die Art der vertriebenen Waren kümmerten, andererseits aber auch darin, dass diese nicht genau zu benennen waren. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein beschränkten sich vor allem die der Mittel- und Unterschicht angehörigen Juden beim Handel noch nicht auf eine Warenart, sondern trieben Mischhandel, d. h., je nach Saison oder Konjunktur wechselten die Händler ihre Handelsobjekte.188 Andere betrieben 183 Vgl. die Berufsbezeichnungen in den Unterlagen des Standesamtes bei Nauhauser, S. 48 – 52, 129, 154. Mit dem Begriff „revendeur“ wurden z. T. auch mit Fleisch hausierende Metzger sowie Viehhändler bezeichnet. Vgl. Mendel, S. 34. 184 Vgl. Nauhauser, S. 181 f. In anderen Orten waren die Bezeichnungen auch ungenau. Vgl. Heidt/Lennartz, S. 278. 185 Vgl. Liste der jüdischen Einwohner von Grosbliederstroff, 1808, in: Katz, recueil, o. S. 186 Vgl. Recensement de la population juive de Boulay, 31.8.1809, in: ADM ED100 3P1. 187 Vgl. Johann, S. 6. Vgl. Prozess Joseph Strauss gegen Franz Kuhn, 10.10.1817, in: LHAK Best. 311,3 Nr. 7. 188 Vgl. Jersch-Wentzel, Bevölkerungsentwicklung, S. 67. Vgl. Richarz, Monika: Vieh­handel und Landjuden im 19. Jahrhundert. Eine symbiotische Wirtschaftsbeziehung in Südwestdeutschland, in: Sandor Gyimesi (Hg.): Der Binnenhandel und die wirtschaftliche Entwicklung (Studia historiae Europae medio-orientalis, Bd. 2), Budapest 1989, S. 305. Vgl. Job, juifs à Lunéville, S. 146 – 160.

Handel und sozialer Aufstieg

177

sogenannten Folgehandel, z. B. Michel Ury aus Grosbliederstroff, der mit Vieh und Häuten handelte, oder der bereits erwähnte Elias Alexander aus Illingen, der den Metzgerberuf mit dem Hausieren mit Fleisch verband.189 Neben Vieh und seinen Folgeprodukten stellten zum Anfang des Jahrhunderts Stoffe eine wichtige Produktart dar: In Boulay waren Lazard Rheims sowie Borich Rheims auf den Handel mit Tuchen spezialisiert, in Ettelbrück und Umgebung vertrieb Salomon Lion Baumwollgewebe und in Gemünden bestritt Joseph ­Wagner seinen Unterhalt als Lumpensammler.190 Darüber hinaus stellten Altwaren verschiedener Art sowie Eisen Gegenstände dar, für deren Vertrieb jüdische Händler verantwortlich waren, so z. B. Joseph Levy in Ettelbrück, Moise Joseph in Grosbliederstroff und Michel Schwarz in Illingen.191 So wie schon zur Zeit des Ancien Régime zählte der Beruf des Viehhändlers auch noch zur Jahrhundertmitte zu den Haupttätigkeiten der in den Gebieten der Rheinprovinz sowie Lothringen lebenden Juden – genauso wie in den süddeutschen Staaten und dem Elsass. In den südlichen Teilen der Rheinprovinz, in denen bäuerlicher Mittel- und vor allem Kleinbesitz vorherrschten, besaßen die jüdischen Händler sogar ein Handelsmonopol. In den Dörfern dieser Gegend gingen bis zu zwei Drittel der ansässigen Juden dem Viehhandel als Beschäftigung nach.192 Dementsprechend gestaltete sich auch die Situation im Kreis Simmern: „Wie allgemein bekannt[,] sind die meisten Juden Handelsleute, beschäftigen sich größtenteils mit Viehaufkäufen[,] um solches auf den Märkten wieder zu verkaufen.“193 Auch im Fall von Illingen sicherte der Viehhandel in der ersten Jahrhunderthälfte vielen Juden ihr Auskommen, wie die Anträge auf die Handelspatente belegen. ­Beispielsweise gingen 1841 neun von 21 Handel treibenden Juden dieser Beschäftigung nach. In

189 Vgl. Liste des électeurs de la commune de Grosbliederstroff, 31.3.1854, in: ADM 41M6. Vgl. Willigsecker, S. 69. 190 Vgl. Recensement de la population juive de Boulay, 31.8.1809, in: ADM ED100 3P1. Vgl. Etat nominatif des Juifs dans l’arrondissement de Diekirch, 16.2.1818, in: ANL C386. Vgl. Flies, S. 1612. Vgl. Johann, S. 6. 191 Vgl. Etat nominatif des Juifs dans l’arrondissement de Diekirch, 16.2.1818, in: ANL C386. Vgl. Liste der jüdischen Einwohner von Grosbliederstroff, 1808, in: Katz, recueil, o. S. Vgl. Nauhauser, S.  25 – 39, 47 – 143. 192 Vgl. Kasper-Holtkotte, Juden, S. 117. Vgl. Richarz, emancipation, S. 106 – 113. Vgl. Kastner, Einführung, S. 34. Vgl. Meyer, présentation, S. 21 f. Vgl. zur Größe der Grundstücke in der Saarregion Schmitt, Johannes: Von der Agrargemeinde zum Pauperismus. Zur Krise der ländlichen Gesellschaft der Nordsaarregion in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: ders., Saarregion, S. 252 f. 193 LHAK Best. 441 Nr. 3168, S. 35.

178

Bedingungen des Lebens auf dem Land

dem Ort und seiner Umgebung wechselte daher kaum ein Stück Vieh seinen Be­ sitzer ohne die Beteiligung dieser Berufsgruppe.194 Berufs­tätigkeit Gemünden (1808)192 Händler allgemein

Illingen (1808)193

13

Boulay (1809)194 12

Metzger

Grosbliederstroff (1808)195 13

10

6

2

Sattler, Polsterer 1

Militär

1 1

1

Vorsänger Musiker/ Künstler

2

unbekannt

1

unbekannt

5

­Tagelöhner (u. a. ­mao­euvres) Ohne Beruf, Arme, ohne Angabe

2

1

Buchbinder Lehrer

Ettelbrück (1818)196

11

2

5 (o. Angabe)

1

6 (o. Angabe)

Tabelle 1: Tätigkeiten der jüdischen Haushaltsvorstände in den Untersuchungsdörfern zu Be­ 195 196 197 198 199 ginn des Untersuchungszeitraums        

194 Vgl. LAS Dep. Illingen 1539 S. 8 – 81. Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1686, S. 29. Vgl. ­Schlesier, Stephanie: Geschäftspartner und Gegenspieler. Zur Rolle der jüdischen Einwohner im Wirtschaftsleben von Illingen im 19. Jahrhundert, in: Eckstein. Journal für Geschichte, Nr. 12, 2008, S. 16. 195 Vgl. Johann, S. 4 – 7. 196 Vgl. Nauhauser, S.  25 – 39, 47 – 143. 197 Vgl. Recensement de la population juive de Boulay, 31.8.1809, in: ADM ED100 3P1. Die Liste von 1808 enthält keine Berufsbezeichnungen. Vgl. Katz, recueil, o. S. Die beiden Kaufleute waren zum Zeitpunkt der Zählung aufgrund ihres Alters nicht mehr berufstätig. 198 Vgl. Liste der jüdischen Einwohner von Grosbliederstroff, 1808, in: Katz, recueil, o. S. Vgl. Willigsecker, S. 7 – 73. Die Liste sowie die Berufsangaben wurden aus den Standesamtsunterlagen zusammengestellt. Da Vorsänger sowie Lehrer in der Regel von außerhalb kamen und den Ort oft nach einiger Zeit wieder verließen, erscheinen sie in diesen Unterlagen nicht unbedingt. 199 Vgl. Etat nominatif des Juifs dans l’arrondissement de Diekirch, 16.2.1818, in: ANL C386.

Handel und sozialer Aufstieg

179

Die Agrarstruktur Lothringens ähnelte hinsichtlich der Verteilung des Grundbesitzes derjenigen der Nachbarregion. Eine Vielzahl von Personen, die nur kleine Grundstücke ihr Eigen nennen konnten, bestimmte das Gesamtbild, welches allein durch wenige Großgrundbesitzer etwas modifizert wurde.200 Die Tendenz zur Zersplitterung hatte seit der Revolution zugenommen, wie der Präfekt des Départments Moselle, Colchen, 1802 feststellte: „Il n’est pas un habitant à la campagne, pas un artisan à la ville, qui ne soient incessament tourmentés du desir de posséder un champ, une chenevière, un jardin, une métairie.“201 Die Verteilung der Nutzflächen versorgte wie in dem benachbarten Teil der preußischen Rheinprovinz die Viehhändler mit einen großen Kundenkreis, da sich die Kleinbauern keine eigene Viehzucht leisten konnten.202 Wenn für Boulay sowie Grosbliederstroff im Jahr 1808 jeweils nur ein Viehhändler aufgeführt wird, so ist dies wie im Fall von ­Illingen wohl auf die bereits erwähnte Ungenauigkeit der Behörden zurückzuführen. In dem genannten Jahr war ein großer Teil der jüdischen Händler Lothringens im Viehhandel sowie dem damit häufig verbundenen Beruf des Metzgers tätig. So gaben der Präfekt des Départements Moselle sowie verschiedene dort gelegene Friedensgerichte 1808 an, dass die auf dem Land lebenden jüdischen Händler vor allem dem Handel mit Vieh und Fleisch nachgingen. Die Situation in den Départements Meurthe und Vosges unterschied sich davon nicht. Auch hier stellte der Vieh­handel neben dem Kleinhandel mit verschiedenen Waren die Hauptbeschäftigung der jüdischen Handeltreibenden dar.203 Bis zur Jahrhundertmitte änderte sich die Lage auf dem Land kaum, wie der 1843 amtierende Präfekt des Départements Moselle feststellte: „La majeure partie des Juifs de la campagne se livre au commerce des bestiaux et au colportage de la viande.“204 Der Vieh- und Pferdehandel erlebte in der ersten Jahrhunderthälfte aufgrund der geografischen Zerstreuung 200 Vgl. Hertzog, Aug.: Die Landwirtschaft, in: Aloys Ruppel (Hg.): Lothringen und seine Hauptstadt. Festschrift zur 60. Generalversammlung der Katholiken Deutschlands in Metz 1913, Metz 1913, S. 163. Vgl. Roth, époque, S. 99 – 101. Vgl. Ähnlichkeiten während des Ancien Régime Boehler, Jean-Michel: Routine oder Innovation in der Landwirtschaft. „Kleinbäuerlich“ geprägte Regionen westlich des Rheins im 18. Jahrhundert, in: Reiner Prass (Hg.): Ländliche Gesellschaften in Deutschland und Frankreich 18.-19. Jahrhundert, Göttingen 2003, S. 101 – 124. 201 Colchen, S. 49, 114. 202 Vgl. Richarz, Monika: Die soziale Stellung der jüdischen Händler auf dem Lande am Beispiel Südwestdeutschlands, in: Werner E. Mosse/Hans Pohl (Hg.): Jüdische Unternehmer in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert (Zeitschrift für Unternehmensgeschichte Beiheft, Bd. 64), Stuttgart 1992, S. 277. 203 Vgl. Posener, effects, S. 298 – 300. 204 Préfet de la Moselle au ministre de l’intérieure, 21.7.1843, in: ADM V149. Der Brief ist abgedruckt in Neher-Bernheim, Bd. 2, S. 366 – 372.

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der Juden sowie des Bevölkerungswachstums sogar einen Aufschwung, sodass in manchen Orten Lothringens die Zahl der jüdischen Viehhändler zunahm.205 Auch in Boulay und Grosbliederstroff stellte der Viehhandel in den Fünfzigerjahren eine typische Beschäftigung dar: In Boulay bildeten sie etwa ein Drittel, in Grosbliederstroff sogar fast die Hälfte der jüdischen Händler. Die zunehmende Spezialisierung der jüdischen Händler – weg vom Mischhandel – sorgte dafür, dass zur Jahrhundertmitte die Angaben der Verwaltung zur Berufstätigkeit der Juden präziser waren als noch zur Zeit des Ersten Empires.206 Für den Fall von Grosbliederstroff muss betont werden, dass innerhalb der ersten Jahrhunderthälfte noch eine starke Fluktuation zwischen verschiedenen Berufen herrschte, Seligmann Bloch war z. B. als Vieh- und Pferdehändler, Wirt sowie Glaser tätig. Dies war auf ökonomische Krisen und konjunkturelle Schwankungen sowie auf die Konkurrenz im Ort zurückzuführen.207 Im Fall von Ettelbrück lässt sich hinsichtlich der von den jüdischen Händlern vertriebenen Waren eine leichte Veränderung bzw. eine Verbreiterung des Warenangebots in der ersten Jahrhunderthälfte feststellen. Während zu Beginn des Jahrhunderts die wenigen dort sowie in der Umgebung lebenden Juden häufig Stoffe sowie verschiedene einheimische Waren vertrieben, rückten bis zur Mitte des Jahrhunderts zunehmend der Viehhandel und mit ihm verwandte Betä­tigungen in den Mittelpunkt ihrer Geschäftstätigkeit. So wandten sich z. B. die in Grosbous beheimateten Brüder Marx und Isaac Cahen vom Tuchhandel ab und dem Viehhandel zu. Salomon Israel führte eine Metzgerei in Ettelbrück, während sein Bruder Gerson dieselbe Tätigkeit mit Handel verband und Isaac Cahen mit dem An- und Verkauf von Häuten sein Einkommen bestritt.208 Die Agrarstruktur L ­ uxemburgs, einschließlich des Kreises Diekirch, unterschied sich nicht grundlegend von derjenigen der beiden Nachbarregionen, in denen die von den Bauern bewirtschafteten Grundstücke relativ klein waren. Daher war auch im Großherzogtum eine hohe Zahl potenzieller Kunden für Vieh vorhanden. In Ettelbrück wurde der Bedarf im 19. Jahrhundert zunächst noch von Geschäftsleuten befriedigt, welche nicht im Dorf selbst ansässig waren, sondern zu den Markttagen von außerhalb zureisten. Joseph Levy, der selbst auch mit Häuten handelte, bekam im Jahr 1812

205 Vgl. Benbassa, histoire, S. 159. Vgl. Job, juifs à Lunéville, S. 164 f. 206 Vgl. die für die Tabelle 2 genannten Quellen sowie Neher-Bernheim, Bd. 2, S. 106. 207 Vgl. Liste des électeurs censitaires de Grosbliederstroff, 8.1.1846, liste des électeurs de la commune de Grosbliederstroff, 31.3.1854, in: ADM 41M6 sowie die den Zivilstands­ unterlagen entnommenen Berufsangaben in Willigsecker, S. 7 – 73. Für Seligman Bloch vgl. ebd., S. 13. 208 Vgl. Lehrmann, S. 54. Vgl. Dondelinger/Muller, Teil II, S. 25 f. Vgl. Flies, S. 1612.

Handel und sozialer Aufstieg

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die Erlaubnis, für die zu diesem Zweck nur kurz im Ort verweilenden Juden eine Gastwirtschaft zu eröffnen.209 In jeder der betrachteten Regionen gab es unter den verschiedenen Viehhändlern eine gewisse Hierarchie. Sie reichte vom überregional tätigen Großhändler, der über eigene Angestellte verfügen konnte, über den Mittelständler bis zum Kleinhändler, der selbst zu Fuß Bauern und Märkte aufsuchte, um einzelne Tiere zu verkaufen.210 Die Viehhändler in den preußischen Dörfern Gemünden und Illingen gehörten das gesamte Jahrhundert über größtenteils der letztgenannten Kategorie an. Daher mussten diese Geschäftsleute, die ihrem Beruf im Umherziehen nachgingen, auch noch von 1845 bis 1847 die durch das „décret infâme“ vorgeschriebenen Handels­patente erwerben, während der stehende Handel davon befreit war.211 Eine besondere Gruppe stellten die sogenannten Schmusjuden oder Schmuser dar, die selbst kein Vieh besaßen, sondern nur zwischen Käufern und Verkäufern vermittelten, so z. B. Jacob Levi in Illingen.212 In den französischen Dörfern gestaltete sich die Lage vergleichbar, denn der Umfang der Geschäfte der dort lebenden Viehhändler war größtenteils ebenfalls gering, z. B. bei Isaac Sinay aus Grosbliederstroff.213 Der Handel mit Vieh blieb bis zum Ende 19. Jahrhunderts – und sogar darüber hinaus – in allen betrachteten Regionen eine von vielen der dort lebenden Juden ausgeübte Beschäftigung.214 So waren in Grosbliederstroff 1890 insgesamt 22 der 52 berufstätigen Juden Viehhändler.215 In Gemünden fand ebenfalls weiterhin ein großer Teil der ansässigen Juden sein Auskommen im Handel mit Rindern und Kälbern. Dies hing damit zusammen, dass im Kreis Simmern bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts die Zahl des Rindviehs kontinuierlich anstieg, das Handels­volumen stetig anwuchs.216 In Illingen stellte der Viehhandel in der Zeit des Kaiserreichs 209 Vgl. Flies, S. 1205. Vgl. Dondelinger/Muller, Teil II, S. 23 f. Vgl. Dondelinger, 200 Jahre, S. 58. 210 Vgl. Richarz, Stellung, S. 277. Vgl. Kastner, Einführung, S. 34. 211 Vgl. LHAK Best. 655,12 Nr. 91, S. 70 f. Vgl. Gewerbesteuerrolle von 1869, in: LHAK Best. 655,12 Nr. 78. Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1539, S. 78 f. Vgl. Marx, Geschichte, S. 107. 212 Vgl. Richarz, emancipation, S. 107. Vgl. Roos, relations entre les juifs, S. 134. Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1545, S. 20. 213 Vgl. Liste des électeurs censitaires de la commune de Grosbliederstroff, 8.1.1846, in: ADM 41M6. Vgl. Willligsecker, S. 53. 214 Vgl. Neher-Bernheim, documents, Bd. 2, S. 100. Vgl. Avine-Goetz, S. 255. Vgl. Richarz, Viehhandel, S. 303 f. Vgl. Pies, S. 32 – 36. Vgl. Marx, Geschichte, S. 115. 215 Vgl. Liste der Wahlberechtigten der israelitischen Gemeinde von Grosbliederstroff, 1890, in: ADM 7AL3. 216 Vgl. Boch, Volker: Juden in Gemünden. Geschichte und Vernichtung einer jüdischen Gemeinde im Hunsrück, Konstanz 2003, S. 44. Vgl. Regge, S. 103 – 105. Vgl. Wesner, Doris:

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ebenfalls noch eine wichtige jüdische Betätigung dar, da auch für das Saargebiet galt, dass sich die traditionellen jüdischen Berufsschwerpunkte am deutlichsten in den Landgemeinden hielten. Kurz vor Beginn des Ersten Weltkrieges waren in Illingen immerhin noch fünf Juden im Ort auf den Handel mit Nutzvieh spezialisiert.217 In Boulay, welches zunehmend städtischer wurde, war die Zahl der Viehhändler zwar geringer, aber immer noch nicht zu vernachlässigen, besonders in Hinsicht auf den Handel mit Schafen.218 In Ettelbrück und Umgebung gestaltete sich die Lage ähnlich wie in Boulay: Die Zahl der Viehhändler ging zwar zurück, aber auch kurz nach der Jahrhundertwende bot dieser Beruf immer noch mehreren Juden die Möglichkeit, ihr Einkommen zu sichern, nämlich Aron Hertz, Samuel Levy und Marx Levy aus Ettelbrück sowie Aron Kahn und Marx Herz aus dem benachbarten Medernach. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein blieb der Handel mit Vieh eine der wichtigsten Beschäftigungen der im Großherzogtum beheimateten Juden.219 Neben den Viehhändlern lebten in Ettelbrück in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch mehrere Pferdehändler, im Jahr 1864 z. B. der aus Wawern zu­­ge­ zogene Joseph Mayer und die verwitwete Jeanette Worms.220 Im Verlauf der folgenden Jahrzehnte stieg die Zahl der Juden im Ort, die mit diesen Tieren handelten an, u. a. durch den Zuzug von Aron Hertz aus Waldbillig sowie Bernard Kann aus Dörrebach im Kreis Kreuznach.221 Kurz nach der Jahrhundertwende kam dann noch Isaak Hayum hinzu.222 Im Gegensatz zu den meisten der zahlreichen Viehhändler, die ihren Unterhalt ausschließlich mit dem An- und Verkauf von ­Schafen, ­Hammeln sowie Rindern verdienten, waren diejenigen Juden, die auch mit ­Pferden handelten, kapitalkräftig, bereisten weiter entfernte Märkte und genossen ein höheres Prestige.223 So waren z. B. die wenigen Gemündener Pferdehändler wohlhabend, während die Viehhändler zumeist ein bescheidenes,

Die jüdische Gemeinde in Simmern/Hunsrück. Familiengeschichte(n) und Schicksale aus den vergangenen drei Jahrhunderten (Schriftenreihe des Hunsrücker Geschichtsvereins e. V., Bd. 36), Argenthal 2001, S. 244 – 256. 217 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 108, S. 164. Vgl. Marx, Geschichte, S. 114 – 116. 218 Vgl. Statistisches Bureau für Elsass-Lothringen, Bd. 3, S. 137. Vgl. Anzeige, 8.1.1892, in: ADM ED 100 2N2. Vgl. Daltroff, juifs, S. 126. 219 Vgl. Mémorial, Nr. 58, 1910, S. 843 f. und Nr. 87, 1914, S. 1209. Vgl. Lehrmann, S. 125. 220 Vgl. Recensement de la population d’Ettelbruck, 1864, in: ANL Rpop 505 f. Vgl. Mémorial, Nr. 35, 1881, S. 429. 221 Vgl. Flies, S. 1613. Vgl. Mémorial, Nr. 64, 1882, S. 670 und Nr. 53, 22.7.1903, S. 669. Vgl. Annexe au Mémorial, Nr. 17, 1888, S. 69. 222 Vgl. Mémorial, Nr. 87, 1914, S. 1204. 223 Vgl. Richarz, emancipation, S. 108 – 110. Vgl. Cohen, promotion, Bd. 2, S. 347. Vgl. Job, juifs à Lunéville, S. 154.

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eher ärmliches Leben führten.224 Der gleiche Sachverhalt lässt sich für Boulay feststellen, wo die sechs vorhandenen Pferdehändler schon zur Jahrhundertmitte einen Teil der ökonomischen Elite bildeten.225 In Grosbliederstroff gab es 1846 nur zwei ausdrücklich als Pferdehändler bezeichnete Juden, nämlich Isaac und Lazard Mendel, die der Mittelschicht angehörten. Neben diesen beiden beschäftigten sich allerdings noch andere Viehhändler, die als wohlhabend anzusehen waren, mit dem Verkauf von Pferden, so z. B. Garçon Borg und Jacob Juda.226 Dass das gesamte Jahrhundert über mehr Juden in den betrachteten lothringischen Orten als in den preußischen Dörfern mit diesen Tieren handelten, ist auf den dortigen hohen Pferdebestand zurückzuführen: Die schweren lothringischen Böden veranlassten relativ viele Landbewohner, sich Pferde anstelle von Rindvieh zur Bestellung der Böden zuzulegen. Die lothringischen Pferdehändler achteten deswegen schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bei ihren Einkäufen in den luxemburgischen Ardennen und im Elsass darauf, dass die Tiere den an sie gestellten Anforderungen entsprachen.227 Der Pferdehandel im Hunsrück erlebte aufgrund der stetig steigenden Nachfrage in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts einen Aufschwung. Aus diesem Grund vergrößerte sich in dieser Zeit auch die Zahl der Gemündener Juden, welche diese Ware anboten.228 Im Jahr 1873 bezogen die jüdischen Händler Gemündens „die größte Zahl der zur Deckung des Bedarfs hiesiger Gegend zu Verkauf kommenden Pferde aus dem Auslande, hauptsächlich aus Frankreich“.229 Da im annektierten Lothringen mehr Pferde gezüchtet wurden, als für den dortigen Eigenbedarf notwendig waren, wurden zum Ende des 19. Jahrhunderts jährlich einige Tausend Tiere in andere Teile des Deutschen Reiches exportiert, vor allem in die Rheinprovinz, die Pfalz, Hessen sowie Baden.230 Die Gemündener Pferdehändler erstanden daher um die Jahrhundertwende einen Teil ihrer Ware 224 Vgl. Kronenberger, S. 19. 225 Vgl. Liste des électeurs censitaires de la commune de Boulay, 5.1.1846, in: ADM 40M4. Vgl. Volkszählungsliste von Boulay, 28.6.1851, in: ADM ED100 1F1. Vgl. Recensement de chevaux, 1.1.1846, in: ADM 217M2. 226 Vgl. Liste des électeurs censitaires de la commune de Grosbliederstroff, 8.1.1846, in: ADM 41M6. Vgl. Willligsecker, S. 18, 36. 227 Vgl. Hagmaier: Die landwirthschaftlichen Verhältnisse in Elsass-Lothringen, in: Statistisches Bureau für Elsass-Lothringen, Bd. 1, S. 178. Vgl. Richarz, Viehhandel, S. 305. Vgl. Job, juifs à Lunéville, S. 154. Vgl. Calmes/Brossaert, S. 166. 228 Vgl. Richarz, emancipation, S. 108 f. Vgl. Boch, S. 44. 229 Bericht des Bürgermeisters von Kirchberg vom 19. Dezember 1873, in: LHAK Best. 491 Nr. 121. 230 Vgl. Hagmaier, S. 173. Vgl. Rick: Gewerbe und Handel im Bezirk Lothringen, in: Statistisches Bureau für Elsass-Lothringen, Bd. 1, S. 146.

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nicht nur im näher gelegenen Trier, sondern auch auf den Märkten von Metz. Darüber hinaus importierten sie Pferde auch direkt aus Holland, Belgien und Luxemburg.231 Auch der Ettelbrücker Pferdehandel, der in den Achtzigerjahren seinen Höhepunkt erreichte, war in den grenzüberschreitenden Austausch eingebunden.232 Gemünden (1852)233 Händler allgemein: Bauer Metzger

Illingen (1859)234 25

Boulay (1851)235

Grosbliederstroff (1854)236

Ettelbrück (1864)237

23

27

34

6

6

4

1 1 (zugl. Vieh­ händler)

Schuster

1

Buchbinder

3

Glaser

1

Schlosser

2

Näherin

1

Schank-, Gastwirt

3 (einer zugl. Bäcker)

Fuhrmann

1

Militär

1

Mediziner

1

Vorsänger 1

1

1

1

1

1

2

sacrificateur Musiker/ Künstler Rentner

1 2

1

Likör­ fabrikant

Lehrer

11

1

1 3 1

3

231 Durch die Vermittlung niederrheinischer Händler wurden zudem auch regelmäßig Tiere aus den östlichen Provinzen und aus Russland in den Verkehr gebracht. Vgl. Bericht des Landrates Pilger vom 6. Februar 1902, in: LHAK Best. 491 Nr. 121. 232 Vgl. Dondelinger, 200 Jahre, S. 79 f.

Handel und sozialer Aufstieg

Gemünden (1852)233 Ohne Beruf, Bettler

185

Illingen (1859)234 4

Boulay (1851)235 17

Grosbliederstroff (1854)236 5

Ettelbrück (1864)237 1

Tabelle 2: Tätigkeiten der jüdischen Haushaltsvorstände in den Untersuchungsdörfern zur 233 234 235 236 237 Mitte des 19. Jahrhunderts         

Da der Pferdehandel nicht nur innerhalb der betrachteten Regionen, sondern auch zwischen ihnen mehrheitlich von jüdischen Händlern betrieben wurde, waren diese stark untereinander vernetzt. Dies spiegelt sich auch in einigen Eheschließungen wider, so heiratete z. B. 1875 der Pferdehändler Salomon Joseph aus Grosbliederstroff die aus Illingen stammende Caroline Levy. Vergleichbares gilt für den Getreidehandel, der ebenfalls teilweise grenzüberschreitend betrieben wurde.238 So hatten Isaac Loeb aus Grosbliederstroff, der zum Ende der Dreißiger­jahre mit Hafer handelte, und sein aus dem gleichen Ort stammender Kollege Moses Ury in den Sechzigerjahren Kontakte zu Illinger Juden.239 Es ist festzu­stellen, dass auch nach der Annexion in bedeutendem Maß Getreide aus Lothringen in die Rheinprovinz verkauft wurde, besonders aus den Kreisen

233 Zusammengestellt aus den Angaben der Steuernachweisung sowie der Volkszählungsliste, beide 1852. Vgl. LHAK Best. 655,12 Nr. 91, S. 70 f. Vgl. LHAK Best. 655,12 Nr. 46. Die Zahlen von Pies beziehen sich auf die gesamte Bürgermeisterei, nicht den Ort alleine. Vgl. Pies, S. 47. 234 Vgl. Auszug aus der Klassensteuerliste von Illingen-Gennweiler, in: Nauhauser, S. 192 – 194. Nur die im Ort selbst wohnenden Juden sind hier berücksichtigt, allerdings nicht das Gesinde. 235 Vgl. Volkszählungsliste von Boulay, 1851, in: ADM ED100 1F1. Der Lehrer war kein Haushaltsvorstand, sondern im Haushalt von Bilei Worms untergebracht. 236 Vgl. Liste des électeurs de la commune de Grosbliederstroff, 1854, in: ADM 41M6. 237 Vgl. Recensement de la population d’Ettelbruck, 1864, in: ANL Rpop 505 f. Um die Dominanz der Handelsberufe unter den Juden Ettelbrücks zu betonen, wurde nicht die Volkszählungsliste von 1851 benutzt, in der es nur sechs jüdische Haushaltsvorstände – allesamt auch in demselben Bereich tätig – gab. Vgl. Recensement de la population ­d’Ettelbruck, 1851, in: ANL Rpop 221 f. 238 Vgl. Rick, S. 146. Vgl. Richarz, Monika: Berufliche und soziale Struktur, in: Meyer/­ Brenner, Bd. 3, S. 47 f. Vgl. Roth, époque, S. 95. Vgl. Willigsecker, S. 34. 239 Vgl. Nauhauser, S. 133, 139. Vgl. Liste nominative des habitants Israélites de la commune de Grosbliederstroff, 1840, in: ADM 17J44. Vgl. Liste des électeurs de la commune de Grosbliederstroff, 31.3.1854, in: ADM 41M6.

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Boulay sowie Forbach an die Industriegegend an der Saar. Die Zahl der jüdischen Getreidehändler in den lothringischen Dörfern war höher als in denen der Rheinprovinz, da in dem annektierten Gebiet der Großhandel mit Cerealien noch bedeutender war als derjenige mit Vieh.240 Im Fall von Gemünden ließ sich nur ein Händler finden, der sich zeitweise auf den Vertrieb von Getreide spezialisierte, nämlich Ludwig Ochs, der 1885 ins nahe Simmern zog und als Mehlhändler tätig war. Derselben Beschäftigung ging Gaspard Israel, dessen Eltern aus Lothringen ins Großherzogtum immigriert waren, in Ettelbrück in den Sechzigerjahren nach. Die in den betrachteten Dörfern lebenden Kornhändler lassen sich als Mittelständler sowie Kleinhändler einstufen. Lazard Levy aus Boulay gehörte z. B. zu den Letzteren, während die Geschäfte von Anchel Borich Rheims aus demselben Ort von ihrem Umfang her bedeutender waren.241 Eine weitere Produktgruppe, die vor allem von Juden vertrieben wurde, soll aufgrund ihrer zunehmenden Bedeutung noch einmal hervorgehoben werden, nämlich der Handel mit Textilien. Während zu Beginn des Untersuchungszeitraums fast ausschließlich von umherziehenden Kleinhändlern Altkleider sowie verschiedene Stoffe verkauft wurden, gab es zur Jahrhundertmitte auch jüdische Kaufleute, deren Geschäfte umfangreicher waren, im Jahr 1846 z. B. den Lumpengroßhändler Lion Cerf in Boulay oder den Stoffhändler Cerf Godchaud in Grosbliederstroff.242 In Ettelbrück bot seit Ende der Fünfzigerjahre J. Cahen seiner Kundschaft neben Manufakturwaren auch eine große Auswahl von Tuchen sowie Bettwaren an.243 In den preußischen Dörfern gewann der Handel mit Textilien ebenfalls an Bedeutung – besonders der Vertrieb von Maßkonfektion in der zweiten Jahrhunderthälfte, wie die Existenz einiger jüdischer Fachgeschäfte, z. B. das „Haus Löb“ in Gemünden sowie „Levy junior“ und „Kaufhaus Moritz Lazar“ in Illingen, belegt.244 Die gleiche Feststellung gilt auch für Ettelbrück, wo um die Jahrhundertwende Jacques Kann zusammen mit seinem Vater, dem Pferde­händler Bernard, das „Modehaus 240 Vgl. Rick, S. 145 f. Vgl. Roth, époque, S. 94 – 96. Vgl. Richarz, Viehhandel, S. 304. In Baden spielten jüdische Getreidehändler eine wichtigere Rolle als in der Rheinprovinz, da sie mehr als die Hälfte aller Händler in dieser Sparte stellten. Vgl. Richarz, Einführung, in: dies.: Leben, Bd. 2, S. 27. 241 Vgl. Wesner, S. 175. Vgl. Recensement de la population d’Ettelbruck, 1864, in: ANL Rpop 505 f. Vgl. Etat de la population israélite de Boulay, 2.12.1840, in: ADM 17J44. Vgl. Liste des électeurs censitaires de la commune de Boulay, 5.1.1846, in: ADM 40M4. Vgl. Volkszählungsliste von Boulay, 1851, in: ADM ED100 1F1. 242 Vgl. Liste des électeurs censitaires de la commune de Boulay, 5.1.1846, in: ADM 40M4. Vgl. Liste des électeurs censitaires de la commune de Grosbliederstroff, 8.1.1846, in: ADM 41M6. 243 Vgl. Der Wächter an der Sauer, 16.11.1859, S. 4, 11.1.1866, S. 4. 244 Vgl. Nauhauser, S. 248, 265. Vgl. Boch, S. 44.

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Kann-Mayer“ eröffnete.245 In Boulay etablierte Isaak Rixheim ebenfalls in der zweiten Jahrhunderthälfte ein Konfektionsgeschäft.246 In allen untersuchten Orten lässt sich im Verlauf der zweiten Jahrhunderthälfte unter den jüdischen Händlern die Tendenz ausmachen, feste Geschäfte innerhalb ihrer Dörfer zu eröffnen. Die Geschwindigkeit dieser Entwicklung variierte je nachdem, wie gut der jeweilige Ort in das regionale Straßen- und Wegenetz eingebunden bzw. mit der Eisenbahn zu erreichen war und ob er an einer Schnittstelle zwischen landwirtschaftlichem Überschuss- und Defizitgebiet lag. Im Fall von Gemünden zog sich der Prozess besonders lange hin. 1843 waren nur fünf Juden aus G ­ emünden im stehenden Kramhandel tätig, während 16 Handelsleute und Krämer ihr Geschäft im Umherziehen betrieben. Dieser Zustand änderte sich bis 1858 nicht gravierend, wie eine Statistik über die Juden in der Bürgermeisterei belegt. Sie erfasst 172 Juden, von denen 140 der Gemeinde Gemünden angehörten, und stufte 18 der insgesamt 26 Händler als umherziehend ein.247 Zum Kundenkreis der Juden gehörten nicht nur die Gemündener, sondern auch die Bewohner der umliegenden Orte, z. B. Mengerschied, Panzweiler oder Schlierschied.248 Im Dorf selbst gab es neben den Wochenmärkten, auf denen Agrarprodukte gehandelt wurden, auch eine Kram- und Viehauktion. Letztere fand zunächst zweimal, ­später nur noch einmal im Jahr statt, da sie für die jüdischen Händler uninteressant war, denn dorthin kamen nur Bauern aus dem Ort und seiner näheren Umgebung, mit denen sie ohnehin Geschäfte machten. Die mehrmals jährlich abgehaltenen Viehmärkte in Kirchberg und Kastellaun frequentierten die Gemündener Händler dagegen, weil sie die wichtigsten Absatzmärkte der gesamten Region darstellten. Die schlechte Verkehrsanbindung – das Fehlen eines Bahnanschlusses und unzureichend ausgebaute Wege – war der Hauptgrund dafür, dass die Absatzmöglichkeiten für Produkte aus Gemünden beschränkt blieben und sich der Hausierhandel auch in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts noch gegen den allmählich erstarkenden stehenden Handel behaupten konnte.249 In Illingen gestaltete sich die Lage zunächst ähnlich wie in dem Hunsrückdorf, entwickelte sich infolge der Industrialisierung im Umfeld des Ortes dann aber auf eine andere Weise. Zu den Händlern, welche ihr Geschäft im Umherziehen 245 Vgl. Flies, S. 1622. Vgl. Dondelinger/Muller, Teil VII, S. 48. 246 Vgl. Berufs- und Gewerbezählung von Boulay, 14.6.1895, in: ADM ED100 1F4. Vgl. Bürger­meister von Boulay, 24.2.1918, in: ADM ED100 3P1. 247 Vgl. Übersicht über die persönlichen und gewerblichen Verhältnisse der Juden am Ende des Jahres 1858 in den Kreisen des Regierungsbezirks Koblenz, in: Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz, Bd. 5, S. 94. 248 Vgl. Gerichtsprotokolle von 1815 und 1817, in: LHAK Best. 311,3 Nr. 6 und Nr. 7. 249 Vgl. Dietrich, Gemeinden, S. 8 – 14,124. Vgl. Regge, S. 150 – 155. Vgl. Pies, S. 33 f.

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betrieben, gehörten in der ersten Jahrhunderthälfte in diesem Fall vor allem die Viehhändler, die bis zu 20 Kilometer von ihrem Wohnort entfernte Dörfer – z. B. Sinnerthal, Heusweiler oder Sellerbach – aufsuchten, um dort Geschäfte zu machen.250 Im Jahr 1855 waren insgesamt 13 Mitglieder der jüdischen Gemeinde als Hausierer tätig, während vier als Kaufleute und sieben mit stehender Krämerei ihren Unterhalt verdienten.251 Dass die Zahl der beiden letzteren Gruppen in der Folgezeit anstieg, hing damit zusammen, dass sich Illingen seit den Fünfzigern zum Handelszentrum der weiteren Umgebung entwickelte. Von der Infrastruktur her wirkte es sich günstig aus, dass in dem Flecken die Straße von Saarbrücken Richtung Tholey, Wadern und Birkenfeld diejenige von Ottweiler nach Saarlouis kreuzte. Aufgrund dieser Verkehrsbedingungen passierte eine große Zahl von Personen den Ort und wegen der Nähe zu mehreren Gruben bildete er schon 1852 ein Ziel für die 600 in der Bürgermeisterei beheimateten Bergarbeiter, welche sich hier u. a. mit Lebensmitteln versorgten.252 Die geografische Lage im Übergangsbereich zwischen agrarisch geprägtem Land und sich industrialisierenden Orten wirkte sich positiv auf die Lage der ansässigen Händler aus.253 Die Zahl der potenziellen Kunden der Geschäftsleute in Illingen vergrößerte sich in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts wegen des Bevölkerungswachstums im Ort selbst und in den nahe gelegenen Orten weiter, sodass die Zahl der festen Geschäfte weiter wuchs. Ähnlich wie Illingen befand sich Grosbliederstroff in einem Umfeld, das in der zweiten Jahrhunderthälfte von der Industrialisierung geprägt wurde, von welcher das Dorf selbst direkt allerdings kaum erfasst wurde. Eines wirkte sich in dem ländlichen Gebiet zwischen den Städten Forbach, Saarbrücken und S­ arreguemines allerdings besonders aus: Die in den nahen industriellen Zentren ansteigende Nachfrage nach Fleisch sowie Milchprodukten sorgte dafür, dass die Viehzucht an Bedeutung gewann und der Viehhandel weiterhin von Wichtigkeit blieb. Davon profitierten u. a. die Juden Grosbliederstroffs, welche immer noch vor allem in

250 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1149, S. 117 – 119. Vgl. auch Marx, Geschichte, S. 47. 251 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 104, S. 36. Vgl. Nauhauser, S. 187. 252 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1315, S. 1 – 7. Vgl. Nöggerath, M.: Der Steinkohlenbergbau des Staates zu Saarbrücken, in: Zeitschrift für das Berg-, Hütten- und Salinenwesen im Preußischen Staate, Jg. 3, 1856, S. 203. 253 Vgl. Fischer, Gert: Wirtschaftliche Strukturen am Vorabend der Industrialisierung. Der Regierungsbezirk Trier 1820 – 1990, Köln 1990, S. 273. Vgl. Haupert, Bernhard: Jugend zwischen Kreuz und Hakenkreuz. Biographische Rekonstruktion als Alltagsgeschichte des Faschismus, Frankfurt 1991, S. 43.

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dieser Handelssparte tätig waren.254 Günstig wirkten sich für sie die Lage am nörd­ lichen Rande des Kreises Sarreguemines und die Nachbarschaft zu demjenigen von ­Forbach sowie die Nähe zu Saarbrücken aus. Während der erstgenannte Kreis Vieh einführen musste, exportierte der zweite es in bedeutendem Maße und versorgte die Saargegend darüber hinaus mit Agrarprodukten.255 Im Gegensatz zu Illingen änderte sich im Fall von Grosbliederstroff allerdings wenig an der hohen Mobi­ lität der jüdischen Händler, da in dem Ort selbst keine Märkte abgehalten wurden und er keinen Verkehrsknotenpunkt darstellte: Die Viehhändler zogen weiter ihre Runden bei den Bauern der Umgebung. Daran änderte auch der im benachbarten Kleinblittersdorf befindliche Bahnhof nichts, der den Transport von Waren nach Saarbrücken erleichterte und den die Grosbliederstroffer infolge der 1881 fertig­ gestellten Brücke einfach erreichen konnten.256 Aufgrund seiner Verwaltungsfunktion als Hauptort des Kantons bildete Boulay mehr als die anderen betrachteten Dörfer von Anfang an ein Zentrum für seine Umgebung. Neben den zweimal wöchentlich abgehaltenen Märkten, auf denen Lebensmittel, Getreide, Hafer, Federvieh und Schnur verkauft wurden, fand seit 1832 zweimal jährlich ein Jahrmarkt in Boulay statt, der für die jüdischen Händler von Interesse war, da dort Vieh, Pferde und Kram gehandelt wurden und dieses zahlreiche Kundschaft anzog. Wegen des Erfolges erhöhte sich die Zahl dieser Märkte 1850 auf drei und 1864 auf vier.257 Nach der Annexion gewann Boulay in verwaltungstechnischer Hinsicht noch weiter an Bedeutung, da es zum Hauptort des neu gebildeten Kreises „Bolchen“ wurde. Darüber hinaus wurden die vor dem Krieg begonnene Eisenbahnstrecke Richtung Courcelles-sur-Nied 1873 fertig­gestellt sowie eine Verbindung nach Völklingen geschaffen. Letztere erleichterte den jüdischen Viehhändlern auch den Transport von Schlachttieren nach Saarbrücken und den Getreidehändlern die Ausfuhr in die nahe Saargegend sowie die übrige Rheinprovinz.258 Daher gingen immer mehr jüdische Händler dazu über, Läden

254 Vgl. Roth, François: Das geteilte Lothringen (1871 – 1914), in: Michel Parisse (Hg.), Lothringen – Geschichte eines Grenzlandes, Saarbrücken 1984, S. 420. Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 253. Vgl. Annuaire statistique et historique de la Moselle, 1840, S. 342. 255 Vgl. Rick, S. 146. 256 Vgl. Statistisches Bureau für Elsass-Lothringen, Bd. 2, S. 144 f. Vgl. Mündel, Curt: Die Vogesen. Ein Handbuch für Touristen, 4. neubearb. u. verm. Aufl., Straßburg 1886, S. 433. Ähnliches lässt sich für die jüdischen Händler von Niedervisse sagen. 257 Vgl. Annuaire statistique et historique de la Moselle, 1840, S. 344, 1850 – 51, S. 452. Vgl. Bajetti, Paul: Histoire de Boulay, Selbstverlag, o. O. 1986, S. 73, 100. 258 Vgl. Föhlinger, Otto: Geschichte der Eisenbahnen in Elsaß-Lothringen und ihres Transportverkehres, Straßburg 1897, S. 115,174. Vgl. Bajetti, histoire, S. 103, 116. Statistisches Bureau für Elsass-Lothringen, Bd. 2, S. 145. Vgl. Rick, S. 146.

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im Ort zu eröffnen, wie z. B. der Kaufmann Adolf Bing, der seit 1882 das ehemalige Gebäude der Hutfabrik für seine Getreidehandlung benutzte.259 Die jüdischen Metzger hausierten zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht mehr wie noch 50 Jahre zuvor mit ihrer Ware, sondern die Kundschaft kam zu ihnen, u. a. auch die Juden aus dem Dörfchen Niedervisse, die zeitweise keinen jüdischen Metzger hatten, der ihnen koscheres Fleisch hätte liefern können.260 Die Entwicklung in Ettelbrück gestaltete sich ähnlich derjenigen Boulays und Illingens. Noch bevor sich jüdische Händler dauerhaft niederließen, fanden in dem Ort monatlich Märkte statt, die zur napoleonischen Zeit eine Blüte erlebten.261 1803 nannte der Unterpräfekt von Diekirch auch den Grund für diesen Erfolg: „Die 12 Monatsmärkte der Mairie Ettelbrück haben einen großen Vorteil vor allen anderen Kreismärkten, nicht nur wegen ihrer Bequemlichkeit, die darin besteht, daß sie an der Landstraße Luxemburg – Lüttich – Aachen – Köln abgehalten werden, sondern auch deshalb, weil die Händler Tiere und Waren dort unterbringen können.“262 Wie bereits an anderer Stelle erwähnt, befand sich Ettelbrück in dem für Handel günstigen Übergangsbereich zwischen dem ländlich geprägten Norden des Großherzogtums und dem etwas städtischeren Süden. Der Ausbau des Straßennetzes im Verlauf der ersten Jahrhunderthälfte und die Eröffnung einer Eisenbahnlinie in den Sechzigern – einerseits in die Hauptstadt und andererseits Richtung Belgien – sorgten dafür, dass eine immer größere Zahl von Bauern zu den Jahrmärkten, den seit 1854 bestehenden Wochenmärkten und den zahlreichen Viehauktionen in den Ort kam.263 Zu bemerken ist, dass bis in die Sechzigerjahre hinein die Bedeutung der Hausierer in Luxemburg, vor allem auf dem Lande, relativ groß blieb, so auch in Ettelbrück, das 1862 noch 17 von ihnen zählte, während im Ort selbst noch in erster Linie die (christlichen) Schankwirte Handel trieben. Zu den hausierenden Handelsleuten gehörten u. a. die jüdischen Vieh- und Pferdehändler, die auch Kunden in den benachbarten Bauerndörfern hatten. Erst der Eisenbahnanschluss sorgte dafür, dass die Zahl und Größe der Läden anwuchs, so betrieb z. B. bereits 1865 Isaac Cahen einen Häuteladen hinter der alten Kirche und sein Sohn Joseph später ein Geschäft, in dem er Manufakturwaren und Konfektion verkaufte.264 Der

259 Vgl. Bürgermeister an Moses Bing, 28.10.1901, in: ADM ED100 4F1. Vgl. Bajetti, histoire, S. 71. 260 Vgl. Daltroff, juifs, S. 131. 261 Vgl. Flies, S. 1611. Vgl. Dondelinger, 200 Jahre, S. 51 – 55. 262 Dondelinger, 200 Jahre, S. 56. 263 Vgl. ebd., S. 58 – 70. Vgl. Flies, S. 1565 – 1574, 1599 f. Vgl. Beckerich, Nico: Handel und Gewerbe, in: Administration communale d’Ettelbruck (Hg.): Ettelbruck. 100 Joer Stad 1907 – 2007, Ettelbruck 2008, S. 110. 264 Vgl. Flies, S. 1600 – 1621, 1667. Vgl. Dondelinger/Muller, Teil III, S.  28 – 30.

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steigende Wohlstand innerhalb des Großherzogtums begünstigte den Konsum von Agrarprodukten, der durch die einsetzende Industrialisierung im Süden des Landes noch gesteigert wurde. Ettelbrück profitierte als Umschlagplatz für solche Waren stark von dieser Entwicklung und erst in den Achtzigern erreichte der dortige Pferdemarkt, der schon zu Beginn des Jahrhunderts Händler aus Frankreich angezogen hatte, seinen Höhepunkt. Während Ettelbrück zum immer stärkeren Anziehungspunkt für die umliegenden Dörfer wurde, wo immer mehr Geschäfte öffneten, z. B. 1903 Arthur Wolff eines für Wollwaren und Pelz, gab es immer weniger herumziehende Händler, welche die kleinen Orte aufsuchten.265 Solange es eine größere Zahl jüdischer Händler in einem Gebiet gab, die ihrem Beruf umherziehend nachgingen, solange existierte auch die Sitte unter ihnen, sich die jeweilige Gegend in verschiedene Handelsdistrikte – sogenannte Medinen – einzuteilen. Diese suchten sie regelmäßig auf, um mit der dortigen Landbevölkerung Geschäfte zu machen. Das Vorgehen diente dem Zweck, soweit es möglich war, einen Verdrängungswettbewerb zu unterbinden.266 In wirtschaftlich schwierigen Zeiten und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als die Hausierer u. a. aufgrund der verbesserten Verkehrsverbindungen zunehmend entbehrlich für ihre bisherige Kundschaft wurden, kam es allerdings vor, dass mehrere von ihnen die gleichen Häuser aufsuchten.267 Während der direkte Besuch potenzieller Käufer zum Ende des Jahrhunderts tendenziell nachließ, blieb die Teilnahme an Märkten für die jüdischen Viehhändler eine Selbstverständlichkeit. Beispielsweise nahmen diejenigen aus Boulay und seiner Umgegend noch in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts nicht nur an den im Hauptort abgehaltenen Märkten teil, sondern sie besuchten auch die in Metz, Sarre-Union oder Saverne. Bei den Viehauktionen von Ettelbrück versteigerten ansässige Händler Tiere, aber auch eigens dafür Angereiste, wie z. B. der aus Emden stammende Cohen 1907.268 Wie groß die Bedeutung der jüdischen Viehhändler war, lässt sich daran ablesen, dass Markttage im deutschen Süd­westen, in Frankreichs Nordosten und im Großherzog­tum verlegt wurden, wenn sie auf einen Sabbat oder einen jüdischen Feiertag fielen.269 Die Märkte waren für die

265 Vgl. Dondelinger, 200 Jahre, S. 79 f. Vgl. ders./Muller, Teil III, S. 28. Vgl. Flies, S. 1630 – 32. 266 Vgl. Kronenberger, S. 12 – 14. Vgl. Richarz, Stellung, S. 277. Vgl. Richarz, emancipation, S. 97. Vgl. Ullmann, S. 259 – 363. Im Fall des Arrondissement Toul führte die große Konkurrenz unter den jüdischen Hausierern dazu, dass sich ihre Gänge bis in die benach­ barten Départements hinein erstreckten. Vgl. Sous-préfet de Toul au préfet de la Meurthe, 15.7.1843, in: ADMM V300. 267 Vgl. Daltroff, juifs, S. 126 – 128. 268 Vgl. Daltroff, juifs, S. 127. Vgl. Flies, S. 1599. 269 Vgl. Regge, S. 149. Vgl. Knopp, Werner: Über die Juden im Erwerbsleben, in: Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz, Bd. 3, S. 405. Vgl. Kastner, Einführung, S. 34. Vgl.

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jüdischen Geschäftsleute nicht nur wegen des dort getriebenen Handels und der Pflege der Beziehungen zu Geschäftspartnern wichtig, sondern darüber hinaus auch aufgrund ihrer Rolle bei der Vermittlung von Ehepartnern. Dass diese Funktion das gesamte Jahrhundert über existierte, lässt sich an den verwandtschaftlichen Verbindungen zwischen den Viehhändlerfamilien des den Hunsrück, die Mosel, das Saargebiet sowie Lothringen und Luxemburg abdeckenden Raumes ablesen.270 Berufe außerhalb der Handelsbranche wurden von den auf dem Land beheimateten Juden auch in der zweiten Jahrhunderthälfte eher selten ergriffen. Für Frankreich lässt sich feststellen, dass zwischen 1820 und 1862 etwa 85 % der in Dörfern lebenden jüdischen verheirateten Männer einer Betätigung im Kommerz nachgingen und dass nach der Annexion die auf dem Land lebenden Juden ihren traditionellen Berufen weiterhin treu blieben.271 Für die Landjuden Deutschlands gilt Vergleichbares, denn auch sie blieben bis ins 20. Jahrhundert hinein weitgehend in Handelsberufen tätig.272 Über die Juden Luxemburgs lässt sich sagen, dass sie im Allgemeinen – und nicht nur die in ländlich strukturierten Gebieten Lebenden – bis ins 20. Jahrhundert hinein zumeist im Handel ihr Auskommen fanden: 1907 betrug der Anteil der Handeltreibenden an der jüdischen erwerbs­ tätigen Bevölkerung über 68 %.273 Diese allgemeinen Beobachtungen spiegeln sich in der Lage der einzelnen Untersuchungsorte wider: In allen dominierte der Handel die jüdische Berufsstruktur.274 Zu berücksichtigen ist allerdings, dass nicht nur in den französischen und preußischen Untersuchungsdörfern, sondern auch in den betrachteten Regionen im Allgemeinen seit Beginn des 19. Jahrhunderts jüdische Landbewohner öfter als in der Zeit zuvor handwerkliche Berufe ergriffen.275 So berichtete 1818 der Präfekt des Départements Moselle: „Chaque jour augmente le nombre de ceux qui embarassent des professions mécaniques.“276 Im Regierungsbezirk Trier waren im Jahr 1842 immerhin knapp 9 % der jüdischen Fami­ lienoberhäupter selbstständige Handwerker und im benachbarten Bezirk Koblenz Hyman, emancipation, S. 34. Vgl. Lehrmann, S. 125. Vgl. Dondelinger, 200 Jahre, S. 58. 270 Vgl. Vgl. Kasper-Holtkotte, Juden, S. 346, 409. Vgl. Daltroff, juifs, S. 49. Vgl. Cahnmann, S. 186 f. 271 Vgl. Benbassa, histoire, S. 159. Vgl. Avine-Goetz, S. 255. 272 Vgl. Richarz, Struktur, S. 44. 273 Vgl. ZDSJ, Nr. 2, Jg. 7, 1911, S. 30. 274 Lediglich in Illingen rutschte der Anteil der Handeltreibenden Ende der Fünfzigerjahre kurzzeitig unter die Marke von 50 %, da zu dieser Zeit eine relativ hohe Zahl von älteren Haushaltsvorständen vom Einkommen der eigenen Kinder lebte. Vgl. Auszug aus der Klassensteuerliste von Illingen-Gennweiler, in: Nauhauser, S. 192 – 194. 275 Vgl. Sous-Préfet de Lunéville, 12.7.1843, in: ADMM V300. Vgl. Jehle, Juden, Bd. 2, S. 495 – 504, 524. Vgl. Cohen, promotion, Bd. 2, S. 332. Vgl. Daltroff, histoire, S. 18. 276 Préfet de la Moselle, 4.3.1818, in: AN F19 Nr. 11007.

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ebenfalls ein vergleichbarer Anteil.277 Im Großherzogtum Luxemburg stellten die Handwerker in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts nach den Händlern die bedeutendste jüdische Berufsgruppe dar.278 Dass es – trotz der Wünsche von christlicher Seite und den Bemühungen jüdischer Organisationen um „Produktivierung“ ihrer Glaubensgenossen – zu keiner Berufsumschichtung kam und die Zahl der jüdischen Handwerker in den untersuchten Regionen gering blieb, hing mit der allgemeinen Wirtschaftsentwicklung zusammen, welche seit den späten Dreißigern dem Handel einen Aufschwung bescherte, während zeitgleich die Zahl der vom Handwerk lebenden Personen zurückging.279 Nicht selten verbanden sich Handels- und Handwerkstätigkeit, so im Fall zahlreicher Viehhändler der betrachteten Orte in der ersten Jahrhunderthälfte, die auch Fleisch verkauften und die betreffenden Tiere selbst schlachteten. Die Koblenzer Regierung stufte 1842 aufgrund dieser Tatsache die jüdischen Metzger in ihrem Bezirk nicht als Handwerker, sondern als Händler ein. Die Vermischung verschiedener Aktivitäten ließ zwar im Verlauf des betrachteten Zeitraums nach, aber sie verschwand nicht völlig, z. B. betrieb Marx Levy noch 1914 in Ettelbrück zusammen mit einer Metzgerei eine Vieh- und Fellhandlung.280 Festzuhalten ist, dass in allen betrachteten Orten der größte Teil der dort lebenden jüdischen Handwerker im Metzgergewerbe tätig war und sie infolge der zunehmenden Spezia­lisierung zur Jahrhundertmitte auch in den Statistiken aufgeführt wurden. In den Neunzigerjahren gab es in Grosbliederstroff fünf Metzger, in Boulay mindestens sechs und in Illingen sogar acht sowie zusätzlich noch einen speziellen Schächter.281 Bezüglich Ettelbrücks ist zu erwähnen, dass dort das gesamte Jahrhundert über nur wenige jüdische Handwerker lebten, da die jüdische Einwohnerschaft – die auch in der 277 Im Bezirk Koblenz waren ohne Einbeziehung der jüdischen Metzger knapp 6 % der jüdischen Familienväter Handwerker. Vgl. Jehle, Juden, Bd. 2, S. 495 f., 524. 278 Vgl. Segall, Juden, S. 25. 279 Vgl. Barkai, Minderheit, S. 34 – 36. Vgl. Prinz, Arthur: Juden im deutschen Wirtschaftsleben. Soziale und wirtschaftliche Struktur im Wandel 1850 – 1914 (Schriftenreihe wissen­ schaftlicher Abhandlungen des Leo-Baeck-Instituts, Bd. 43), Tübingen 1984, S. 36 f. Vgl. Szajkowski, Zosa: Notes on the Occupational Status of French Jews 1800 – 1880, in: Proceedings of the American Academy for Jewish Research, Bd. 46, 1979/1980, S. 533 f., 544. Vgl. Cohen, promotion, Bd. 2, S. 343. Vgl. auch die Unterlagen der „Société de l’encouragement dans les arts et métiers parmi les israélites de Metz“, in: ADM M270. 280 Vgl. Richarz, Stellung, S. 275 – 277. Vgl. Jehle, Juden, Bd. 2, S. 496 f. Vgl. Mémorial, Nr. 87, 23.12.1914, S. 1209. 281 Vgl. Liste der Wahlberechtigten der israelitischen Gemeinde von Grosbliederstroff, 1890, in: ADM 7AL3. Vgl. Gesuch der Metzger von Boulay, 6.3.1897, in: ADM ED100 1M3. Vgl. Berufs- und Gewerbezählung von Boulay, 14.6.1895, in: ADM ED100 1F4. Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1535, S. 65 – 67.

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zweiten Jahrhunderthälfte zu großen Teilen aus Zuwanderern aus den Nachbarländern bestand – den Ort gerade aufgrund seiner Funktion als Handelszentrum als Niederlassung gewählt hatte. Die seit den Vierzigerjahren als Metzger tätigen Brüder Salomon und Gerson Israel waren gleichzeitig auch als Händler aktiv. Der Sohn des Letzteren, Cerf Israel, übernahm noch minderjährig nach dem Tod seines Vaters 1863 dessen handwerkliche Arbeit , während seine Mutter als Händlerin wohl für den Vertrieb des Fleisches sorgte.282 Die Ausübung des Metzgerberufs hing teilweise mit den religiösen Speise­gesetzen zusammen und dies war ebenfalls bei der Tätigkeit von Juden als Bäcker der Fall. 283 Es fanden sich, wenn auch nicht durchgehend, in fast allen Orten Juden, die zeitweise diesem Gewerbe nachgingen. So waren in Grosbliederstroff Moise und Jonas Ury um die Mitte des Jahrhunderts sowie später dann Felix Bloch als Bäcker tätig. Dass sich das Gewerbe des Bäckers genauso wie das des Metzgers mit Handel verbinden ließ, zeigt sich am Beispiel des Erstgenannten, der auch als Mehlhändler aktiv war.284 In Gemünden übte Emmanuel Brück seit Mitte der Fünfzigerjahre den Beruf des Bäckers aus und in Illingen war es zum Ende des 19. Jahrhunderts Adolf Strauss.285 Im Fall von Boulay konnten sich sogar zwei langlebige Familien­betriebe im Bereich des Backhandwerks etablieren. Jacob Cerf ging spätestens seit den Vierzigerjahren dem Beruf des Bäckers nach und sein Sohn Lion übernahm später das entstandene Geschäft. Der Letztere heiratete Léontine Lazard, deren Bruder Léon-Paul 1854 mit der Fabrikation von Matzen, also ungesäuertem Brot, begann. Neben diesem Produkt spezialisierte er sich auf die Herstellung von Makronen, die sogar überregional einen guten Ruf besaßen, wie der Hinweis des statistischen Büros für Elsass-Lothringen, dass Boulay bekannt durch seine guten Makronen sei, belegt. Léon Lazard führte das Geschäft seines Vaters fort, hörte aber 1932 mit der Matzenfabrikation auf, sodass seine Tochter Lucienne und deren Mann sich später ausschließlich auf die Herstellung von Makronen konzentrierten.286 282 Vgl. Recensement de la population d’Ettelbruck, 1864, in: ANL Rpop 505 f. Vgl. ­Dondelinger/Muller, Teil II, S. 25 f. Zu den anderen Orten vgl. den Abschnitt über die jüdische Handelstätigkeit zu Beginn des 19. Jahrhunderts am Anfang dieses Kapitels. 283 Vgl. dazu z. B. Nizard, Sophie: Histoire de bouchers, in: Archives Juives, Nr. 2, Jg. 33, 2000, S.  79 – 81. 284 Vgl. Willigsecker, S. 13, 69. 285 Vgl. Volkszählungsliste von Gemünden, 1858, in: LHAK Best. 655,12 Nr. 46. Vgl. Brief des Landrats von Simmern an den Bürgermeister, 30.10.1860, in: LHAK Abt. 655,12 Nr. 44. Zuvor war Brück als Viehhändler tätig. Vgl. Steuernachweisung, 1852, in: LHAK Best. 655,12 Nr. 91, S. 70 f. Vgl. Nauhauser, S. 116. 286 Vgl. Etat de la population israélite de Boulay, 2.12.1840, in: ADM 17J44. Vgl. Volkszählungsliste von Boulay, 1851, in: ADM ED100 1F1. Vgl. Berufs- und Gewerbezählung von Boulay, 14.6.1895, in: ADM ED100 1F4. Vgl. Betriebsliste von Boulay, 1.7.1914, in: ADM

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Ein mit dem Pferdehandel zusammenhängendes Handwerk stellte der Beruf des Sattlers und Polsterers dar, der z. B. 1808 von Michel Loeb in Grosbliederstroff oder ein Jahrhundert später von Lucien Vormus in Ettelbrück ausgeübt wurde.287 Darüber hinaus betätigten sich in den untersuchten jüdischen Gemeinden in der zweiten Jahrhunderthälfte auch manche Juden als Schuster, z. B. Leo Emmanuel in Gemünden sowie sein Sohn Edmund, der 1883 wegzog und aufgrund seiner ­Heirat Mitglied der jüdischen Gemeinde von Illingen wurde. Zudem war in diesem Ort Liebmann Levy als Schuhmacher tätig, genauso wie Judas Schwartzschild in Grosbliederstroff.288 Eine Besonderheit stellte Lazard Rheins dar, der zeitweise als Küfer arbeitete und damit seinen Vater, den Weingroßhändler Isaac, ­unterstützte.289 ­Darüber hinaus betätigten sich einzelne Juden in den betrachteten Dörfern als Glaser, Schlosser, Färber, Anstreicher und Buchbinder.290 Während sich nur wenige jüdische Schneider in den untersuchten Dörfern fanden – Moyse Ach 1851 in Boulay, Joseph Barth 1864 in Illingen und drei Jahrzehnte später Markus Jakob in Gemünden – betätigten sich seit Beginn des 19. Jahrhunderts relativ viele jüdische Frauen als Näherinnen. In der Regel war dies darauf zurückzuführen, dass das Einkommen der Eltern oder des Ehemanns nicht ausreichte bzw. der Letztere verstorben war. Zur Jahrhundertmitte besserten z. B. in Grosbliederstroff Breinlen Herz und Jeannette Jacob die Verdienste ihrer als Schuster bzw. Vorsänger tätigen Männer auf. In Boulay trug Rosine Cerf als Handschuhmacherin genauso zum Unterhalt ihrer als Metzger arbeitenden Eltern und Geschwister bei wie die 16-jährige Eugénie Alexandre zum Einkommen ihrer verwitweten Mutter. In Illingen ernährte sich 1859 nach Angaben des Bürgermeisters die ledige Tochter des verstorbenen Marx Levy kümmerlich als Näherin.291 Neben der Betätigung als Näherin war auch die Beschäftigung als Magd in einem wohlhabenderen jüdischen Haushalt eine Möglichkeit, das eigene Auskommen zu sichern bzw. dasjenige der eigenen Familie aufzubessern. Da die weibliche Berufstätigkeit in den

287 288 289 290 291

ED100 3F2. Vgl. Bernard, Bd. 1, S. 27. Vgl. Bajetti, histoire, S. 75. Vgl. Statistisches Bureau für Elsass-Lothringen, Bd. 3, S. 117. Im Jahr 1962 erwarb Francine Alexandre den Laden, der noch heute existiert. Vgl. Liste der jüdischen Einwohner von Grosbliederstroff, 1808, in: Katz, recueil, o. S. Vgl. Mémorial, Nr. 87, 1914, S. 1210. Vgl. Wesner, S. 72. Vgl. Nauhauser, S. 142, 193 – 197. Vgl. Willigsecker, S. 62. Vgl. Etat de la population israélite de Boulay, 2.12.1840, in: ADM 17J44. Vgl. Liste des Electeurs de la commune de Grosbliederstroff, 1854, in: ADM 41M6. Vgl. Willigsecker, S. 13. Vgl. Nauhauser, S. 85, 115 f., 132, 144. Vgl. Willigsecker, S. 9, 62. Vgl. Volkszählungsliste von Boulay, 1851, in: ADM ED100 1F1. Vgl. Begräbnisregister des Israelitischen Begräbnisplatzes zu Gemünden, in: AVgKb Abt. 4: Bauverwaltung. Vgl. Neher-Bernheim, documents, Bd. 2, S. 149. vgl. Job, communautés, S. 23.

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Volks­zählungslisten und den Statistiken nur teilweise erwähnt wird, lassen sich allerdings keine genauen Zahlen über deren Umfang geben, zumal die von vielen Frauen geleistete Arbeit im ländlichen Familienbetrieb als selbstverständlich angesehen wurde. Die jüdischen Frauen kümmerten sich nach der Heirat nicht nur um den Haushalt, sondern vertraten auch ihre Ehemänner im Ort, wenn diese umher­ ziehende Händler waren, oder halfen ihnen, falls sie Ladengeschäfte besaßen, beim Verkauf. In Boulay arbeitete 1851 u. a. Brunette Ouhry im Fleischerbetrieb ihres Mannes und Françoise Nathan unterhielt gemeinsam mit ihrem Gemahl Benoit Lazard eine Gastwirtschaft.292 Die Geschäftskenntnisse der jüdischen Frauen waren so gut, dass sie als Witwen oft in der Lage waren, die Geschäfte ihrer verstorbenen Männer zu übernehmen, wie z. B. Sara Scheuer in Gemünden, die nach dem Tod ihres Mannes als Krämerin tätig war oder Léontine Lazard in Boulay, welche die Bäckerei ihres verstorbenen Partners übernahm.293 Die jüdischen Ehefrauen bestellten gegebenenfalls auch – wenn sie über kein Gesinde verfügten – den Garten oder ein Stück Feld, welche einen Teil der Lebensmittel für die Familie lieferten. Die jüdischen Händler besaßen häufig etwas Land für ihre Tiere sowie kleine Äcker zum Anbau von Agrarprodukten, die überwiegend der Eigenversorgung dienten. In einigen Fällen stellte der Ackerbau allerdings einen wichtigen Neben- oder sogar den Haupterwerb dar.294 Das Letztere war generell selten, aber anscheinend noch eher in der Rheinprovinz als in Lothringen der Fall. Als der Bürgermeister von Gemünden 1842 Auskunft über die ansässigen Juden geben musste, stufte er sechs von ihnen als Ackerer ein, wobei „nur jüdische Bauern, welche selbst arbeiten, pflügen, graben, das Vieh verpflegen“,295 als solche bezeichnet wurden. Diejenigen, welche ihr Land mithilfe christlichen Gesindes bestellen ließen, galten nicht als Bauern. Von den erwähnten jüdischen Ackerern widmete sich allerdings nur einer vollständig dem Ackerbau, denn drei von ihnen waren zugleich als Vieh- und zwei als Kleinhändler tätig.296 Im gesamten Bezirk Kob 292 Vgl. Richarz, Monika: Frauen in Familie und Öffentlichkeit, in: Meyer/Brenner, Bd. 3, S. 89 – 92. Vgl. Hyman, Jews of modern France, S. 61. Vgl. Volkszählungsliste von ­Gemünden, 1852, in: LHAK Best. 655,12 Nr. 46. 293 Vgl. Richarz, Einführung, Leben, Bd. 1, S. 55. Vgl. Volkszählungsliste von Gemünden, 1852, in: LHAK Best. 655,12 Nr. 46. Vgl. Berufs- und Gewerbezählung von Boulay, 14.6.1895, in: ADM ED100 1F4. Vgl. Betriebsliste von Boulay, 1.7.1914, in: ADM ED100 3F2. Vgl. Bernard, Bd. 1, S. 27. 294 Vgl. Kronenberger, S. 13. Vgl. Richarz, Stellung, S. 276. Vgl. Herzig, Arno: Landjuden – Stadtjuden. Die Entwicklung in den preußischen Provinzen Westfalen und Schlesien im 18. und 19. Jahrhundert, in: Richarz/Rürup, S. 95. 295 Vgl. LHAK Best. 655,12 Nr. 91, S. 66. 296 Die Grenzen zwischen dem Haupt- und dem Nebenerwerb waren fließend und die Schwerpunkte konnten sich im Lauf der Zeit verlagern. Vgl. ebd., S. 70 f. Vgl. Regge,

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lenz fanden sich nach der erwähnten Definition von Ackerbau zu dem genannten Zeitpunkt nur 13 jüdische Familienväter, die als Bauern bezeichnet wurden, wobei zu bemerken ist, dass diejenigen, welche zugleich Handel betrieben, letztlich nicht als Bauern angesehen wurden.297 Wie stark die im Jahr 1842 gelieferten Zahlen der preußischen Bezirksregierungen von der verwandten Definition abhängig waren, wird deutlich, wenn man sich vor Augen hält, dass im Bezirk Trier 113 der 913 jüdischen Familien selbstständig oder mithilfe von jüdischem Gesinde Ackerbau trieben, aber nur in einem einzigen Fall diese Betätigung den ausschließlichen Erwerbszweig darstellte. In Illingen war nach Angaben des 1842 amtierenden Bürger­meisters kein einziger Jude im Ackerbau tätig.298 Es ist allerdings anzunehmen, dass dieses Urteil zumindest teilweise auf eine von Vorurteilen verzerrte Wahrnehmung zurückging, denn in den Achtziger- und Neunzigerjahren wurden mehrfach jüdische Einwohner – unter ihnen viele Händler – als Ackerbautreibende benannt, z. B. Salomon Barth oder Isaak Levy.299 In Lothringen gestaltete sich die Situation ähnlich wie in der benachbarten Rheinprovinz. So äußerte der Unterpräfekt von Thionville 1819: „Les chefs de famille et garçons adultes sont généralement employés au commerce. Cependant il en est qui cultivent la terre et dont la manière ne diffère en rien de nos laboureurs.“300 In den folgenden Jahrzehnten änderte sich die Lage insofern, als die Juden anscheinend noch weniger den Beruf des Bauern wählten. Der Präfekt von Metz machte im Rahmen einer von der französischen Regierung – aufgrund einer Bitte Preußens – durchgeführten Umfrage 1843 folgende Angabe über die Tätigkeit der Juden: „Il n’en est peut-être pas un seul dans tout le Département qui se livre à l’agriculture.“301 Ähnlich wie der Unterpräfekt von Toul, der nur berichten konnte, dass in der Stadt selbst kein jüdischer Bauer lebte, konzentrierte er sich in seinem Bericht allerdings eher auf die Lage der jüdischen Stadtbevölkerung.302 Im Gegensatz zu diesen beiden berücksichtigte der Unterpräfekt von Lunéville stärker die

S. 137. 297 Vgl. Jehle, Juden, Bd. 2, S. 496, 504. 298 Vgl. ebd., S. 524. Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1686, S. 35. 299 Vgl. z. B. die Liste der Ackerbautreibenden in Illingen-Gennweiler, ca. 1887, in: LAS Dep. Illingen Nr. 817, S. 73 – 78. Vgl. auch LAS Dep. Illingen Nr. 875, S. 6. 300 Daltroff, histoire, S. 18. Der Bericht des Unterpräfekten von Thionville ist abgedruckt in: Daltroff, Jean: Trois documents inédits. La lettre du sous-préfet au préfet de la Moselle (20 octobre 1819), la lettre de Cécile Cahen de Forbach à sa Majesté, l’impératrice des Français (17 mai 1853), l’inaugration de la synagogue de Sarreguemines (1862), in: Almanach du KKL, Jg. 38, 1990, S. 147 – 149. 301 Préfet de la Moselle au ministre de l’intérieur, 21.7.1843, in: ADM V149. 302 Vgl. ebd. Vgl. Sous-Préfet de Toul, 15.7.1843, in: ADMM V300.

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auf dem Land ansässigen Juden und berichtete, dass diese sich teilweise auch mit Ackerbau beschäftigten, wobei er zwei aus Blâmont lobend hervorhob: „Deux de leurs coréligionaires de Blamont peuvent être cités parmi ceux de nos agriculteurs qui ont fait le plus de progrès.“303 Sein Kollege in Sarrebourg schätzte den Anteil der jüdischen Ackerbauern in seinem Verwaltungsbereich auf zwei bis drei Prozent, während der Unterpräfekt von Sarrebourg betonte, dass kein Jude Bauer, Gärtner oder Winzer sei.304 Insgesamt ist davon auszugehen, dass die Zahl der jüdischen Bauern in Lothringen sehr gering war. In den untersuchten Dörfern ließ sich für den gesamten Zeitraum nur ein jüdischer Bauer nachweisen, nämlich Bernard Levy, welcher der Sohn des aus Hannover stammenden und zur Jahrhundertmitte in Boulay tätigen Vorsängers Cerf Levy war.305 In Luxemburg war der Anteil der Juden, welche Landwirtschaft betrieben, ebenfalls sehr gering. Dies hing wie im Bereich des Handwerks damit zusammen, dass die meisten der ins Großherzogtum eingewanderten Juden in den ihnen vertrauten Handelszweigen ihr Auskommen fanden. Im Jahr 1907 gehörten gerade einmal 35 jüdische Einwohner zu dem Bevölkerungsteil, welcher sich beruflich mit Landwirtschaft, Gärtnerei, Viehzucht, Waldkultur oder Fischerei befasste. Bis auf acht Männer handelte es sich dabei um Frauen, die nur in kleinem Rahmen dieser Beschäftigung nachgingen. Für Ettelbrück ist nachzuweisen, dass Fabrikleiter Jules Godchaux sich mit dem Anbau von Futterpflanzen beschäftigte – zumindest, indem er deren Anbau anordnete. 1873 wurde ihm im Rahmen des Ackerbau-­Wettbewerbs des Ortes eine Medaille für seine Pflanzen zugesprochen.306 Außerhalb der aufgeführten Berufe im Handel, Handwerk und Ackerbau waren fast alle in den Untersuchungsorten ansässigen Juden als Tagelöhner bzw. Hilfsarbeiter, Gesinde oder Künstler tätig. Bei den Letzteren handelte es sich um Musiker, die bei der Veranstaltung jüdischer Feiern auftraten, so z. B. der im Großherzogtum Luxemburg geborene Marx Beer, der nach Aufenthalten in verschiedenen Orten des Elsass und Lothringens in Grosbliederstroff lebte.307 Die zu Beginn des Jahrhunderts teilweise große Gruppe der jüdischen Tagelöhner bzw. Hilfsarbeiter verschwand im Verlauf des Jahrhunderts zusehends, z. B. in Boulay bis 1840 völlig, und in Gemünden reduzierte sich ihre Zahl von sieben im Jahr 1827 auf

303 Sous-Préfet de Lunéville, 12.7.1843, in: ADMM V300. 304 Vgl. Sous-préfet de Sarrebourg au préfet de la Meurthe, 18.7.1843, Sous-préfet de ­Château-Salins au préfet de la Meurthe, 29.7.1843, in: ADMM V300. 305 Vgl. Volkszählungsliste von Boulay, 1851, in: ADM ED100 1F1. 306 Vgl. ZDSJ, Nr. 2, Jg. 7, 1911, S. 30. Vgl. Luxemburger Wort, 12.11.1873, S. 2. 307 Vgl. Willigsecker, S. 10.

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einen einzigen 1864.308 Die jüdischen Lehrer bzw. die Vorsänger, die in der Regel nicht aus den Dörfern stammten, in denen sie tätig waren, stellten eine besondere Berufsgruppe dar, auf die später eingegangen wird.309 Im Gegensatz zu den preußischen Dörfern gab es in den französischen Orten schon um die Jahrhundertmitte einzelne Juden, welche im medizinischen Bereich tätig waren. In Grosbliederstroff übte Lyon Lambert – eigentlich Metzger von Beruf – schon in der ersten Jahrhunderthälfte die Funktionen eines Arztes aus, wobei er so erfolgreich war, dass auch Leute von außerhalb des Dorfes ihn auf­suchten. Sein Sohn erwarb im Gegensatz zu ihm die für die Ausübung des Arztberufes erforderlichen Diplome und praktizierte in Forbach. In Boulay ging Lion Cerf spätestens seit 1840 der Beschäftigung als „officier de santé“ nach.310 In Gemünden gab es nie einen jüdischen Arzt und in Illingen trat erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts Moritz Levy als praktischer Arzt in Erscheinung.311 Die jüdischen Ärzte in ­Lothringen erhielten ihre medizinische Ausbildung meist im Rahmen des Armeedienstes, da ihre Familien kaum die Kosten für eine solche an einer Fakultät aufbringen konnten. Im Gegensatz zu den preußischen Untersuchungsorten waren in den lothringischen Dörfern auch vereinzelt jüdische Militärs anzutreffen, z. B. Lipmann Rheims, der in Boulay 1846 als „officier de la garde nationale“ auftrat, oder der Soldat Mendel Fohlen in Grosbliederstroff.312 Das luxemburgische Ettelbrück zeichnete sich hinsichtlich der jüdischen Berufs­ tätigkeit dadurch aus, dass dort mit Jules Godchaux und seiner Familie zeitweise Angehörige einer jüdischen Industriellendynastie beheimatet waren. Dessen Vater Samson erwarb zusammen mit seinem Bruder und Geschäftspartner Guetschlik Godchaux 1864 die Mühle von Ettelbrück, deren Wasserräder sie ab 1865 zum Betrieb einer Wollwäscherei und Karbonisieranstalt benutzten. Im Jahr 1870 erweiterten eine Spinnerei sowie eine Färberei den mittlerweile vergrößerten und durch tech­nische Neuerungen modernisierten Betrieb. Die Godchaux-Brüder hatten sich bereits 1825 der Textil­industrie zugewandt und waren seit 1851 Eigentümer des der Hauptstadt nahe

308 Vgl. Recensement de la population juive de Boulay, 31.8.1809, in: ADM ED100 3P1. Vgl. Etat de la population israélite de Boulay, 2.12.1840, in: ADM 17J44. Vgl. Verzeichnis der in der Bürgermeisterei Gemünden ansässigen Juden, 8.3.1827, in: LHAK Best. 655,12 Nr. 91, S. 19 f. Vgl. Volkszählungsliste von Gemünden, 1864, in: LHAK Best. 655,12 Nr. 46. 309 Vgl. Kapitel 4.2.1 sowie 4.2.2. 310 Vgl. Juda, S. 2. Vgl. Willigsecker, S. 38. Vgl. Etat de la population israélite de Boulay, 2.12.1840, in: ADM 17J44. 311 Vgl. LAS Dep. Illingen, Nr. 816, S. 11. Vgl. Nauhauser, S. 116, 144 f. 312 Vgl. Liste des électeurs censitaires de la commune de Boulay, 5.1.1846, in: ADM 40M4. Vgl. Liste des électeurs de la commune de Grosbliederstroff, 31.3.1854, in: ADM 41M6. Vgl. Neher-Bernheim, documents, Bd. 2, S. 177 f.

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gelegenen Spinnerei- und Webereiunternehmens von Schleifmuhl. In den Sechziger­ jahren beschlossen sie aufgrund der Auslastung der Fabrik in Schleifmuhl und der vollen Auftragsbücher, eine zweite Produktionsstätte zu eröffnen. Dass für die Ansiedlung einer Zweigstelle der Tuchfabrik von Schleifmuhl Ettelbrück ausgewählt wurde, lässt sich auf verschiedene Motive zurückführen. Eine wesentliche Rolle spielte wohl, dass in dem Ort Arbeitskräfte zu finden waren, die mit der Herstellung von Textilien vertraut waren: Im Jahr 1862 gab es in Ettelbrück jeweils zehn Webstühle für Baumwolle und Leinen, die von 13 Meistern und neun Gehilfen betrieben wurden.313 Darüber hinaus lebte Jeannette Godchaux, eine Cousine der beiden jüdischen Unternehmer, in dem kleinen Ort.314 Der mit ihr verwandte Jules, der seine Fachkenntnisse in Verviers und Elbens erworben hatte, zog spätestens im Jahr 1870 nach Ettelbrück, wo er die Tuchfabrik und sein Vetter Paul die Färberei leitete. Die in Ettelbrück her­ gestellten Produkte wurden nicht nur im Großherzogtum, sondern auch in anderen Teilen Europas vertrieben. 1878 wurde die luxemburgische Tuchindustrie auf der Weltausstellung in Paris durch Waren aus Ettelbrück repräsentiert.315 Gegen Ende der Achtzigerjahre – anscheinend direkt nach dem Tod von Samson Godchaux – verließ die um zwei Kinder angewachsene Familie von Jules Godchaux den Ort wieder, um sich in Schleifmuhl niederzulassen. Zum neuen Direktor der Ettelbrücker Tuchfabrik wurde Heinrich Kremer ernannt.316 Der Kontakt zur Familie Godchaux wirkte sich in manchen Fällen direkt auf die in Ettelbrück ansässigen Juden aus. Michel Cahen, der älteste Sohn von Isaac Cahen und Jeanette Godchaux, wurde zum Ingenieur ausgebildet und war zu Beginn der Achtzigerjahre in Köln und 1890 in Brüssel tätig. Er beteiligte sich 1882 an der Gründung der „Société anonyme manufacture de Pulvermuhl“, der auf Initiative von Louis Godchaux – dem älteren Bruder Jules’ – errichteten Tuchfabrik. Sein jüngerer Bruder Joseph Cahen, der in Ettelbrück als Händler lebte, tat dies gleichfalls und vertrat 1890 313 Vgl. Flies, S. 1602 – 1608. Marx, Hubert: Die Tuchfabrik auf der Schleifmillen. Ent­ stehung, Entwicklung, Untergang, in: Klaus Schneider/Jan Nottrot (Hg.): Schläifmillen. Geschichte und Gegenwart, 2. Aufl., Luxembourg 2008, S. 36 – 46. Vgl. Jeck, Marc: De „simples tisserands“ aux „barons de drap“. Les Godchaux, in: Die Warte, Beilage zum Luxemburger Wort, Nr. 17, Jg. 55, 2003, S. 1. 314 Vgl. Recensement de la population d’Ettelbruck, 1851, in: ANL Rpop 221 f. Vgl. Heidt/ Lennartz, S.  246 – 248. 315 Vgl. Commissaire du district de Diekirch au directeur géneral de l’intérieur, 2.7.1870, in: ANL H 1024,100. Vgl. Jeck, S. 1. Vgl. Godchaux, Emile: L’industrie textile dans le Grand-Duché de Luxembourg, in: Annuaire de l’Association des Ingénieurs et Industriels luxembourgeois à Luxembourg, 1917, S. 132. Vgl. Luxemburger Wort, 15.7.1878. 316 Vgl. Annexe au Mémorial, Nr. 17, 31.3.1888, S. 49. Vgl. Flies, S. 1611 – 1616. Vgl. B ­ lumenstein, Isaak (u. a.): Reden gehalten am Grabe des verewigten Herrn Samson Godchaux, geboren den 11. November 1811, gestorben den 6. Oktober 1887, Luxembourg 1887, Titelseite.

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Michel, der mittlerweile in der Rheinprovinz lebte, bei der Gründung der „Société anonyme de la brasserie de Diekirch“.317 Wenn auch die große Mehrzahl der ­Arbeiter in der Ettelbrücker Niederlassung der Brüder Godchaux Christen war, so gab es doch auch einige jüdische Beschäftigte, z. B. Clemens Cahen, der 1901 als Fabrikarbeiter tätig war. Auch in Schleifmuhl gab es einzelne Juden, die in dem Betrieb der ­Industriellenfamilie ihr Geld verdienten, z. B. zur Jahrhundertmitte S­ alomon und Alexander Hertz.318 Insgesamt war die Zahl jüdischer Arbeiter im Großherzogtum gering. In den Dreißigerjahren beschäftigten die Brüder Lippmann, welche Handschuhfabrikanten waren und zu den ersten Industriellen Luxemburgs zählten, fast ausschließlich christliches Personal. Dieses ließen sie zunächst aus Frankreich, wo sie selbst herstammten, kommen, da es in Luxemburg keine geschulten Arbeitskräfte gab. Unter den 18 im Jahr 1832 bei den Lippmanns beschäftigten Arbeitsmigranten fand sich lediglich ein Jude, nämlich Joseph Levy aus Lunéville.319 In den anderen Regionen war ebenfalls nur ein kleiner Teil der Juden als ­Arbeiter tätig. Dies gilt nicht nur für die betrachteten Orte, sondern auch für die in der zweiten Jahrhunderthälfte entstehenden Zentren der Schwerindustrie. Bei den Juden, welche sich als Arbeiter verdingten, handelte es sich in der Regel um Einwanderer aus Russland sowie osteuropäischen Ländern.320 Insofern stellt Jacob Blum aus Heiligenwald, Mitglied der jüdischen Gemeinde von Illingen, der ungefähr von 1870 bis 1900 als Bergmann tätig war, eine bemerkenswerte Ausnahme dar.321 Die Entwicklungen in den Städten der verschiedenen Länder wichen nicht nur von der Situation auf dem Land, sondern auch voneinander ab. Die in den deutschen Zentren lebenden Juden waren zur Zeit des Zweiten Kaiserreichs nicht mehr ausschließlich im Handel, sondern verstärkt auch als Fabrikanten tätig (z. B. in der Konfektion) und ergriffen zunehmend auch freie Berufe (z. B. als Anwälte).322 In Frankreich ging die grundsätzliche Entwicklung zwar in die gleiche Richtung, aber hier waren Juden im Gegensatz zum deutschen Fall auch in staatlichen Stellungen zu finden, für die 317 Vgl. Recensement de la population d’Ettelbruck, 1864, in: ANL Rpop 505 f. Vgl. Mémorial Nr. 9, 4.2.1882, S. 90, Nr. 23, 26.4.1890, S. 218 und Nr. 29, 17.6.1898, S. 342. 318 Vgl. Bürger- und Beamtenzeitung, 23.5.1901, S. 3. Vgl. Rabbiner Samuel Hirsch an die Regierung des Großherzogtums, 14.7.1848, in: ANL H78. In den Tuchfabriken franzö­ sischer Juden im Niederelsass sah es ähnlich wie in Luxemburg aus: Auch in ihnen waren vornehmlich christliche Arbeiter beschäftigt. Vgl Szajkowski, notes, S. 540. 319 Vgl. Liste des ouvriers étrangers travaillant pour le couple des sieurs Lippmann, fabricants des gants, 1.3.1832, in: ANL C386. Vgl. Bechtdolt, Monique: Die jüdische Gemeinde ­Luxemburgs, in: Revue. Letzeburger Illustriert, Nr. 5, Jg. 31, 1983, S. 23. 320 Vgl. Richarz, Struktur, S. 40, 62. Vgl. Richarz, Einführung, Leben, Bd. 2, S. 17 – 19. Vgl. Cohen, promotion, Bd. 2, S. 334 f. 321 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1535, S. 6. Vgl. Der Israelit,Nr. 13, 1901, S. 302. 322 Vgl. Richarz, Struktur, S. 46 – 61.

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sich ihre deutschen Pendants meist erst taufen lassen mussten. Der Anteil der Juden am Handelssektor war in den Landgemeinden höher als in den Städten, da in den Letzteren viele Juden in freien Berufen tätig waren, die in Dörfern und Kleinstädten generell selten ausgeübt wurden. Im annektierten Lothringen sank die Zahl der Juden, welche solchen Berufen nachgingen, infolge der Annexion zunächst stark ab, da sich viele von ihnen entschlossen, für Frankreich zu optieren.323 3.3.2 Die Folgen der jüdischen und der christlichen Erwerbsstruktur: gegenseitige Abhängigkeiten vs. Konkurrenz

Um einschätzen zu können, welche Rolle die Juden innerhalb des Wirtschafts­lebens in den verschiedenen Orten spielten, ist es notwendig, ihre Erwerbsstruktur derjenigen der Christen gegenüberzustellen. Ähnlich wie bei den jüdischen Dorfbewohnern ergab sich hinsichtlich der Letzteren die (methodische) Schwierigkeit, dass häufig mehrere Gewerbe zugleich ausgeübt wurden und die Mithilfe der Frauen sowie die Berufstätigkeit der noch bei den Eltern lebenden Kinder nur teilweise in den Statistiken berücksichtigt wurden.324 Um die Vergleichbarkeit zwischen den verschiedenen Dörfern zu gewährleisten, wurde in den erstellten Tabellen ausschließlich die in den Volkszählungslisten bzw. Wählerlisten zuerst genannte Tätigkeit der Haushaltsvorstände erfasst. Auf die Berufe, welche als Nebengewerbe betrieben wurden, und die durch die Vorgehensweise zwangsläufig herausfallenden Berufsgruppen (z. B. Gesinde) soll im Textteil eingegangen werden. Die größten Unterschiede zwischen Juden und Christen hinsichtlich der Erwerbsstruktur ließen sich in Gemünden und Grosbliederstroff feststellen. In den beiden Dörfern betätigten sich zur Jahrhundertmitte fast ausschließlich jüdische Haushaltsvorstände im Handel, während die christlichen in erster L ­ inie Handwerker und Tagelöhner waren. Im Fall von Grosbliederstroff sorgte die Grenzlage des Ortes für einen außergewöhnlich hohen Anteil der in offi­ziellen Berufen tätigen Personen: 1854 zählte der Ort insgesamt 59 Zollbeamte und Soldaten. In Bezug auf die jüdische Bevölkerung liegt der größte Unter­schied zwischen Grosbliederstroff und Gemünden darin, dass zur Jahrhundertmitte in dem französischen Dorf ein 323 Vgl. Barkai, Minderheit, S. 55. Vgl. Avine-Goetz, S. 255 – 260. 324 Bei der Volkszählung von Ettelbrück im Jahr 1852 wurden mehrfach alle Angehörigen einer Familie, einschließlich der Kinder, als Tagelöhner bezeichnet – im Fall der Familie Peter Schitz auch der dreijährige Nicklas. Bei der Aufstellung der Gemündener Liste wurden im gleichen Jahr meist nur die Berufe der Familienväter genannt, während die Tätigkeit der Frauen sowie erwachsener Kinder nicht berücksichtigt war. Im Gegensatz dazu ist die Volkszählungsliste von Boulay aus dem Jahr 1851 sehr präzise und erwähnt neben den Hauptberufen auch noch die Nebengewerbe der Personen sowie den evtl. vorhandenen Grundbesitz.

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höherer Anteil in Handwerksberufen, vor allem als Metzger, tätig war. In dieser Hinsicht ähnelte der kleine ­lothringische Grenzort Illingen, wo 1858 acht Juden dem Fleischergewerbe nachgingen.325 Sektor

Gemünden: Gemünden: Christliche HHV Jüdische HHV (N = 209) (N = 31)

Ackerer

22 % (46) 3,2 %

Tagelöhner

22 % (46)

0 % 0 %

1 % (2)

Gros­­blie­ders­troff: Christliche HHV (N = 407)

Grosblieders­troff: Jüdische HHV (N = 52)

(1) 5,7 %

(23)

0 %

18,7 %

(76)

0 %

3,6 % (14,6)

0 %

Industrie



Handwerk

31,1 % (65) 3,2 %

(1) 33,9 %

(138) 21,6 % (11)

Offizielle Berufe

6,2 % (13) 3,2 %

(1) 18,2 %

(74) 7,8 % (4)

Arbeitslose

13,9 % (29) 9,7 %

(3) 6,6 %

(27)

Dienst­ leistung

3,8 % (8) 6,5 % (2) 12,3 %

Handel



0 % (0) 74,2 % (23)

1 %

2 %

(1)

(50) 3,9 % (2) (4) 66,7  % (34)

Tabelle 3: Das Verhältnis der Haushaltsvorstände in Gemünden und in Grosbliederstroff zur 326 Berufstätigkeit in % im Jahr 1852 bzw. 1854

Die Tagelöhner arbeiteten genauso wie das in den Tabellen nicht aufgeführte Gesinde größtenteils im Bereich der Landwirtschaft, weswegen der geringe Anteil am agrarischen Sektor für die christliche Gesamtbevölkerung zu relativieren ist. Im Fall von Boulay wurden z. B. 1851 zwar nur 19 christliche Haushaltsvorstände aufgezählt, die sich in erster Linie mit Landwirtschaft befassten, aber die Zahl der in diesem Sektor tätigen Personen – von den Tagelöhnern über die Pflüger bis zu den Knechten und Mägden – betrug 238.327 Zudem ist zu berücksichtigen, dass in allen betrachteten Orten die Landwirtschaft für die christliche Bevölkerung einen wich­ tigen Nebenerwerb darstellte. Der infolge der Realteilung vorherrschende Kleinstbesitz ermöglichte seinen Eigentümern häufig nicht, hauptberuflich als ­Bauern 325 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 104, S. 91 – 93, 114. 326 Für Gemünden waren die Angaben der Volkszählungsliste von 1852 ausschlaggebend, die sich leicht von der etwas früher im gleichen Jahr aufgestellten Steuerliste unterscheiden. Daher weichen die Zahlen von denen in Tabelle 2 ab. Vgl. LHAK Best. 655,12 Nr. 46. Vgl. LHAK Best. 655,12 Nr. 91, S. 70 f. Vgl. Liste des électeurs de la commune de Grosbliederstroff, 1854, in: ADM 41M6. 327 Vgl. Volkszählungsliste von Boulay, 1851, in: ADM ED100 1F1.

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tätig zu sein, weswegen diese ihre Haupteinkünfte mit einer Beschäftigung als Handwerker oder Tagelöhner erzielten. Die Industrialisierung sorgte in der zweiten Jahrhunderthälfte dafür, dass in ihrem Einflussbereich die Zahl der Letzteren, die bis dahin die Mehrheit der Ackerbau betreibenden Bevölkerung in den Dörfern bildeten, stark zurückging. In Illingen gingen z. B. im Jahr 1887 neben zahlreichen Handwerkern auch 65 aktive sowie pensionierte Bergleute dem Ackerbau nach, um ihre Ernährungsgrundlage aufzubessern.328 Solche „Arbeiterbauern“, die in ihren ländlich geprägten Heimatorten wohnen blieben und regelmäßig mehrere Kilometer zu ihrer Arbeit in einer Fabrik oder Grube zurücklegten, gab es nicht nur im preußischen Saargebiet, sondern auch auf der anderen Seite des Flusses. Dort machten sich u. a. seit den Sechzigerjahren christliche Dorfbewohner täglich auf den Weg nach Sarreguemines, um in der dortigen Steingutfabrik zu arbeiten, unter ihnen auch mehrere Grosbliederstroffer. Außerdem arbeitete ein Teil der christlichen Bewohner dieses Dorfes auch im 1848 gegrün­deten Eisenwerk von Stiring, welches entscheidend an der Produktion von Eisenbahnschienen für den französischen Markt mitwirkte.329 Die Gründe für die Annahme einer Lohnarbeit in einem industriellen Großbetrieb oder einem Bergwerk waren in Lothringen die gleichen wie im benachbarten preußischen Saargebiet: Aufgrund der Zersplitterung des Grundbesitzes sank die Zahl derer, die sich von dem Ertrag ihres Landes ernähren konnten, immer weiter ab. Viele Einwohner waren daher gezwungen, neben der Landwirtschaft anderen Betätigungen nachzugehen.330 Landbewohner,

328 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 817, S. 73 – 78. Vgl. Haupert, S. 24 – 53. Vgl. Richarz, Vieh­handel, S. 294. Vgl. Altenkirch, Gunter: Jeder wusste, wo man ein „Gimmche“ machen konnte. Arbeiterbauern an der Saar, in: Mallmann, S. 61 – 65. Vgl. Fläschner, Thomas: Hartfüßer und Ranzenmänner auf schwarzen Wegen. Anlage, Nutzung und Bedeutung der Bergmannspfade im Saarrevier, in: Eckstein. Journal für Geschichte, Nr. 12, 2008, S. 36 – 40. 329 Vgl. Tableau de la population de la Moselle, 1861, in: ADM 188M10bis. Vgl. ­Hamman, famille, S. 73 f. Vgl. Juda. Vgl. Banken, Ralf: Die Industrialisierung der Saarregion 1815 – 1914, 2 Bde., hier Bd. 2: Take-Off-Phase und Hochindustrialisierung (Regionale Industrialisierung, 4), Stuttgart 2003, S. 310 – 321. Vgl. Gérard, Claude: La maison rurale en Lorraine (Les cahiers de construction traditionnelle, Bd. 14), Nonette 1990, S. 55. Vgl. Le Balle, Yves: L’ouvrier paysan en Lorraine mosellane. Etude sur l’alternance d’activité, Paris 1958. Vgl. zur Industrialisierung des ländlichen Raums um Sarreguemines auch ­Hamman, Philippe: Les transformations de la notabilité entre France et Allemagne. ­L’industrie faïencière à Sarreguemines (1836 – 1918), Paris 2005. 330 Vgl. Loux, Françoise: Le passé dans l’avenir. Conduites économiques ouvrières en milieu rural (Mémoire d’anthropologie française, Bd. 2), Paris 1974, S. 29. Vgl. Colchen, S. 49. Vgl. Denis, Marie-Noele: Cultures architecturales en contact sur les marches de l’Est, in: Christian Bromberger (Hg.): Limites floues, frontières vives. Des variations culturelles en France et en Europe (Ethnologie de la France, Bd. 17), Paris 2001, S. 156 f.

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die im Umfeld industrieller Unternehmungen lebten, nutzten die Möglichkeit, in ihrem Heimatort ansässig zu bleiben, während diejenigen, welche in Orten ohne besondere administrative Funktionen und fernab von Fabriken und Bergwerken sowie wichtigen Verkehrsverbindungen siedelten, sich eher gezwungen sahen, ihr Heimatdorf zu verlassen, um woanders ihren Lebensunterhalt verdienen, so z. B. auf preußischer Seite im Fall von Gemünden. Sektor

Boulay: Christliche HHV

(N = 656)

Boulay: Jüdische HHV

(N = 48)

Ettelbrück: Christliche HHV

(N = 511)

Ettelbrück: Jüdische HHV

(N = 6)

Ackerer

3,2 % (21) 0 %

10 % (51)

0 %

Tagelöhner

15,4 % (101)

0 %

35,8 % (183)

0 %

0 %

Industrie

3,2 % (21)

3,5 % (18)

0 %

Handwerk

35,8 % (235) 14,6 % (7) 24,7 % (74)

0 %

Offizielle Berufe

6,1 % (40) 2,1 % (1) 4,9 % (25)

0 %

Arbeitslose

23,8 % (156) 16,7 % (8) 11,4 % (58)

0 %

Dienstleistung

6,7 % (44) 10,4 % (5) 5,3 % (27)

0 %

Handel

5,8 % (38) 56,3 % (27) 4,5 % (23) 100 % (6)

Tabelle 4: Das Verhältnis der Haushaltsvorstände in Boulay und Ettelbrück zur Berufstätigkeit 331 in % im Jahr 1851

Im Fall von Boulay und Ettelbrück gestaltete sich die Lage etwas anders, denn in diesen Orten waren auch Christen im Handel tätig. Zwar war ihr Anteil an der Gesamtzahl der christlichen Haushaltsvorstände mit 5,8 % bzw. 4,5 % gering, aber innerhalb des Handelssektors bildeten sie bereits zur Jahrhundertmitte die Mehrheit. In Boulay stellten sie mit ungefähr 58 % über die Hälfte der im Handel tätigen Haushaltsvorstände und in Ettelbrück, wo die Zahl der Juden im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung gering war, sogar 79 %.332 An der christlichen Dominanz im Bereich des Handels änderte sich in Ettelbrück in der zweiten Jahrhunderthälfte trotz der Vermehrung der jüdischen Bevölkerung – und der damit einhergehenden Zunahme der jüdischen Handeltreibenden – nichts, da in dieser Zeit auch die Zahl der christlichen Einwohner, die sich vom Handel ernährten, stark zunahm: Der Ort zählte 1867 insgesamt 80 Handelsleute und bis 1880 erhöhte sich ihre Zahl 331 Vgl. Volkszählungsliste von Boulay, 1851, in: ADM ED100 1F1. Vgl. Recensement de la population d’Ettelbruck, 1851, in: ANL Rpop 221 f. 332 Vgl. Volkszählungsliste von Boulay, 1851, in: ADM ED100 1F1. Vgl. Recensement de la population d’Ettelbruck, 1851, in: ANL Rpop 221 f.

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auf 120. Der Grund für diese Zunahme liegt in der bereits erwähnten geografisch günstigen Lage als Drehscheibe für agrarische sowie industriell gefertigte Produkte, die durch den Eisenbahnanschluss weiter verbessert wurde.333 Dass in allen Orten die meisten Juden im Handel tätig waren, lässt also keine direkten Rückschlüsse auf ihren Stellenwert innerhalb dieses Sektors in den verschiedenen Ortschaften zu. Bei einer genaueren Betrachtung der Handelstätigkeit fällt allerdings auf, dass in den Orten, wo sich schon zur Jahrhundertmitte ein größerer Teil der christlichen Einwohner als Handelsleute betätigte, sich diese häufig mit anderen Handelswaren als ihre jüdischen Kollegen befassten. Im Fall von Boulay sorgte die Spezialisierung eines Teils der Juden auf den Vieh- und Pferde- bzw. Getreidehandel dafür, dass sie innerhalb ihrer Handelssparten ein Monopol in ihrem Wohnort besaßen. 1851 arbeiteten in dem Dorf 17 Christen als Krämer und Lebensmittelhändler, während nur ein jüdischer Einwohner dieser Berufssparte angehörte. Außerdem gab es zu der genannten Zeit mit Mayer Brisac zwar einen jüdischen Kurzwarenhändler, aber keinen einzigen Juden, der auf den Verkauf von Stoffen oder Tuchen spezialisiert war, da bereits sieben christliche Einwohner dieser Tätigkeit nachgingen und die im Ort hergestellten Tuche vertrieben. Zudem verkauften nur christliche Händler die von dem evangelischen ­Fabrikanten Théophile Somborn hergestellten Eisenwaren.334 Ähnlich gestaltete sich die Lage im luxemburgischen Ettelbrück, wo 1852 nur ein christlicher Einwohner mit Wein handelte, während die jüdischen Einwohner sich zu diesem Zeitpunkt vor allem mit der Vermittlung von Vieh und Folgeprodukten beschäftigten. Da im weiteren Verlauf des Jahrhunderts im Bereich des Tierhandels vor allem die Zahl der ansässigen Pferdehändler wuchs, war die Konkurrenz zu den christ­ lichen Bauern aus dem benachbarten Schieren, welche teilweise nebenberuflich Schafe, Schweine und Rindvieh vertrieben, nicht besonders groß. Besonders in den Bauerndörfern der Umgebung der luxemburgischen Landgemeinde waren die jüdischen Vieh- und Pferdehändler gefragte Handelspartner.335 Nur Illingen wich leicht von dem beschriebenen Verhaltensmuster ab, da es dort 1858 neben

333 Vgl. Flies, S. 1667. Vgl. Dondelinger, 200 Jahre, S. 68 – 80. 334 Vgl. Volkszählungsliste von Boulay, 1851: ADM ED100 1F1. Vgl. Didot/Firmin: Panorama pittoresque de la France. Route de Paris à Strasbourg, traversant les départements de Seine-et-Marne, et l’Aisne. De la Meuse, de la Moselle, de la Meurthe, du Bas-Rhin et communiquant avec celle des Vosges, 98e livraison: Département de la Moselle, Paris 1839, S. 5. Vgl. Girault des Fargeau, Pierre Augustin Eusèbe: Guide pittoresque du voyageur en France. Contenant la statistique et la déscription complète des 86 départements, Bd. 3, Paris 1838, S. 4. 335 Vgl. Recensement de la population d’Ettelbruck, 1851, in: ANL Rpop 221 f. Vgl. Flies, S. 1614. Vgl. Dondelinger/Muller, Teil III, S. 28.

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den sieben jüdischen Krämern und Kaufleuten noch neun Christen im Dorf gab, die der gleichen Beschäftigung nachgingen.336 Bis auf Ettelbrück, dessen Einwohner im Bereich des Viehhandels teilweise auf die Dienste der u. a. als Schaf- und Schweinehändler tätigen christlichen Bauern aus dem Nachbarort Schieren zurückgreifen konnten, waren in allen Dörfern die christlichen Bauern auf jüdische Geschäftsleute angewiesen, wenn sie Vieh kaufen oder verkaufen wollten.337 Nach Angaben der Bürgermeister von Gemünden und Illingen wechselte praktisch kein Stück Vieh seinen Besitzer ohne das Eingreifen der in ihren Dörfern beheimateten Juden.338 In den französischen Dörfern, wo sich zur Jahrhundertmitte kein einziger der christlichen Händler mit dem An- und Verkauf von Vieh und Pferden beschäftigte, gestaltete sich die Lage ebenso. Besonders für die in allen Regionen vorherrschenden Kleinbauern waren die jüdischen Viehhändler unentbehrlich, da sie ihnen Vieh zu Konditionen verkauften oder zur Verfügung stellten, zu denen es niemand anderes tat.339 Wegen des Kapitalmangels ihrer Kunden verkauften die jüdischen Händler Vieh häufig auf Kredit oder boten Ratenzahlungen, so z. B. im Kreis Simmern, wie eine Aussage des Landrats Schmidt 1835 belegt: „Es tritt nun häufig der Fall ein, daß die Christen ihr benöthigtes Vieh sich von den jüdischen Handelsleuten theils selbst ankaufen und theils von denselben sich ankaufen lassen, wobei dem auch nicht selten der Fall eintritt, daß erstere wegen augenblicklicher Geldnoth den letztern entweder den ganzen oder theilweisen Ankaufszins schuldig bleiben und dafür sich einen gehörigen Schuldschein ausstellen lassen.“340 In ­Lothringen wurde der Viehhandel auf dieselbe Weise getätigt, z. B. im Arrondissement ­Sarreguemines, wo der Tagelöhner Jean Gerard aus Remering im Juli 1817 eine Kuh von einem jüdischen Händler aus Puttelange erwarb, die er in zwei Raten bis zum Ende des Jahres be­zahlen sollte. Wie in dem benachbarten Gebiet ging auch in Frankreich der Erwerb von Vieh und Pferden häufig mit einem Kredit des jüdischen Verkäufers einher.341 Die sogenannte Viehverstellung – in den französischsprachigen Gebieten als „cheptel“ bezeichnet – war in den betrachteten Regionen das gesamte 19. Jahr­ hundert über eine gängige Praxis, die sogar armen sowie nur nebenberuflich als 336 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 104, S. 91 – 93, 114. 337 Vgl. Flies, S. 1614. 338 Vgl. Zeitungsbericht des Bürgermeisters von Gemünden für März und April 1829, in: LHAK Best. 655,12 Nr. 161. Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1686, S. 29. Vgl. Haupert, S. 106. 339 Vgl. Regge, S. 149. Vgl. Kronenberger, S. 14. Vgl. Roos, relations entre les juifs, S. 113 f. 340 LHAK Best. 441 Nr. 3168, S. 35 f. 341 Vgl. Jean Gérard au consitoire israélite de Metz, 16.3.1821, in: ADM 17J46. Vgl. Roos, relations entre les juifs, S. 103.

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Land­wirten tätigen Personen zumindest vorübergehend Viehbesitz erlaubte. Die jüdischen Händler stellten den Bauern Vieh zur Verfügung, d. h., für eine bestimmte Zeit wurde es bei den Letzteren untergebracht, die es für die Landwirtschaft n ­ utzen konnten. Bei der Rückgabe des Viehs erhielt der jüdische Geschäftsmann dafür einen bestimmten Betrag, häufig die Hälfte des Kaufpreises. Für ihn hatte die Viehverstellung den Vorteil, dass für die Tiere – welche er eventuell ansonsten nicht verkaufen hätte können – gesorgt war.342 Jüdische Händler spielten bei dem Vertrieb der landwirtschaftlichen Waren der Bewohner der verschiedenen Orte und des Umlandes eine wichtige Rolle: Sie kauften Agrarprodukte von den Bauern an, um sie dann auf verschiedenen Märkten der Region weiterzuverkaufen.343 Im Fall von Gemünden brachten sie länd­liche Produkte wie Kartoffeln, Getreide, Mehl und Spelz zu den Absatzmärkten in Simmern, Kirchberg und Martinstein in Richtung Nahe. Auch den Verkauf des Tabaks vom katholischen Tabakspinner Christoph Kuhn übernahmen jüdische Händler.344 Das letztere Produkt vertrieben anscheinend auch ihre Glaubens­genossen aus dem französischen Grosbliederstroff, die sich ansonsten größtenteils dem Verkauf von anderen Agrarprodukten – vor allem Korn sowie Hafer – und Vieh in den nahe gelegenen Zentren der Saarregion widmeten.345 Boulay und Ettelbrück wurden durch ihre Märkte in der zweiten Jahrhunderthälfte selbst zunehmend zu Umschlagplätzen für Schlachttiere und Getreide, für deren Ankauf von den Bauern der Umgebung und den Verkauf in die durch die Industrialisierung entstandenen Städte zumindest im ersten Fall größtenteils jüdische Händler zuständig waren.346 Ein spezieller 1879 in Boulay eingerichteter Getreidemarkt wurde zwar nach 18 Jahren wieder aufgehoben, weswegen diese Agrarprodukte wieder wie zuvor auf dem Wochenmarkt gehandelt wurden. Zu betonen ist allerdings, dass der Gemeinderat diese Entscheidung nicht aufgrund eines geringen Umsatzes traf: In Boulay wechselten 342 Vgl. Kronenberger, S. 14. Vgl. Richarz, emancipation, S. 113 f. Vgl. Blumenkranz, juifs dans les cahiers de doléances, S. 479. Vgl. Szajkowski, Zosa: Agricultural Credit and Napoleon’s Anti-Jewish Decrees, in: ders., jews and the French Revolutions, S. 929 f. Vgl. Hagmaier, S. 180. 343 Vgl. Richarz, Einführung, Leben, Bd. 1, S. 40. 344 Vgl. Gerichtsprotokolle aus dem Jahr 1817, in: LHAK Best. 311,3 Nr. 7. Vgl. Gewerbe­ steuerrolle von Gemünden pro 1869, in: LHAK Best. 655,12 Nr. 78. Vgl. Dietrich, ­Gemeinden, S. 13. 345 Vgl. Didot/Firmin, S. 12. Vgl. Girault de Saint-Fargeau, S. 12. Vgl. Liste nominative des habitants Israélites de la commune de Grosbliederstroff, 1840, in: ADM 17J44. Vgl. Liste des électeurs de la commune de Grosbliederstroff, 1854, in: ADM 41M6. 346 Vgl. Rick, S. 146. Vgl. Bürgermeister von Boulay an die Redaktion der landwirtschaft­ lichen Zeitung für Elsaß-Lothringen, 20.4.1900, in: ADM ED100 4F1. Vgl. Betriebsliste von Boulay, 1.7.1914, in: ADM ED100 3F2.

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alleine im Dezember 1896 und Januar 1897 wöchentlich u. a. 70.000 Doppelzentner Weizen und 30.000 Doppelzentner Roggen den Besitzer. Besonders rege gestaltete sich der Handel außerhalb der genannten Wintermonate im Sommer für R ­ oggen sowie im Herbst für Gerste und Hafer. Die Getreidelieferungen, welche die lothringischen Gemeinden um die Jahrhundertwende für das anwesende deutsche Militär organisieren mussten, verliehen dem dortigen Getreidehandel noch einen zusätzlichen Schwung.347 Die Bedeutung der Illinger Kram- und Viehmärkte ging gegen Ende der Sechzigerjahre zwar zurück, aber das mit der Schwer­­­­­industria­­­­li­ sierung einhergehende Bevölkerungswachstum in der nahen Umgebung und im Ort selbst sorgte dafür, dass in Illingen und den Nachbardörfern der Handel mit Vieh sowie landwirtschaftlichen Waren, deren Transfer weiterhin durch die jüdischen Händler gewährleistet wurde, von Bedeutung blieb.348 Die jüdischen Händler verkauften nicht nur bestimmte Agrarprodukte aus ihren Heimatorten und der näheren Umgebung, sondern sie erwarben in anderen Orten auch landwirtschaftliche Waren, die in ihren Dörfern benötigt wurden, z. B. Saatgut für Gemünden oder zeitweise Heu für die lothringischen Ortschaften.349 In besonderem Maße waren die christlichen Landbewohner auf die jüdischen Geschäftsleute angewiesen, wenn sie Produkte erwerben wollten, die nicht in ihren Heimatdörfern selbst hergestellt wurden. In Grosbliederstroff und Gemünden waren in den Fünfzigerjahren die christlichen Schneider und die Frauen, welche Kleidung nähten, auf die ausschließlich bei jüdischen Kleinhändlern zu erstehenden Kurzwaren, wie z. B. Schnur und Band, angewiesen. Zu den weiteren Waren, welche in den Dörfern zumindest zeitweise nur bei jüdischen Kleinhändlern erstanden werden konnten, gehörten verschiedene Metalle, z. B. Kupfer und Blei, welches Joseph Herz in Gemünden an- und verkaufte, und Alteisen, welches zur Jahrhundertmitte in Grosbliederstroff von zwei jüdischen Handelsleuten vertrieben und von den ansässigen christlichen Nagel- und Hufschmieden benötigt wurde.350 Die Gerber in Boulay waren in ähnlicher Weise auf die jüdischen Händler angewiesen, die ihnen einerseits die zu bearbeitenden Häute verkauften und andererseits das fertige Leder abnahmen, um es weiterzuverkaufen. Diese Art der Arbeitsteilung

347 Vgl. Bürgermeister von Boulay, 5.8.1897, 4.10.1897, 31.12.1899 und 28.10.1901, in: ADM ED100 4F1. 348 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1313, S. 101. Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1315, S. 41 f. Vgl. Haupert, S. 106. Vgl. Fischer, S. 273. 349 Vgl. z. B. Prozess Joseph Strauss gegen Nicolas Finzel, 9.5.1817, in: LHAK Best. 311,3 Nr. 7. Zum Hunsrück allgemein vgl. Regge, S. 155. Vgl. Rick, S. 146. 350 Vgl. Bürgermeister von Gemünden, 1. 9.1829, in: LHAK Best. 655,12 Nr. 43. Vgl. Liste des électeurs de la commune de Grosbliederstroff, 31.3.1854, in: ADM 41M6.

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wurde ebenfalls im luxemburgischen Ettelbrück praktiziert und in Illingen, wo z. B. der Metzger Abraham Adler Häute an die Gerberei Schleck lieferte.351 Die ortsansässigen jüdischen Kaufleute verkauften vor allem Manufakturwaren, teilweise aber auch Alkoholika und Kolonialwaren. Der letzteren Warengruppe widmeten sich in Gemünden Ferdinand Löb und nach dem Tod ihres Vaters Celine Cerf in Boulay.352 Dass jüdische Kaufleute in den untersuchten Orten gegen Ende des Jahrhunderts dazu übergingen, nicht nur Ellenware, sondern zunehmend auch in den Städten gefertigte Maßkonfektion zu verkaufen – u. a. Isaak Rixheim in Boulay, Salomon Straus in Illingen und Jacques Kann sowie ­später Arthur Cahen in dem umgangssprachlich „aal Cahens“ genannten Laden in Ettelbrück –, wurde bereits erwähnt.353 Manufakturwaren blieben allerdings auch weiterhin fester Bestandteil der Handelstätigkeit der jüdischen Kaufleute in den Dörfern, z. B. führten die „Gebrüder Löb“ in den Siebzigerjahren diese in ihrem Geschäft in Gemünden, und Gustav Herzog betrieb kurz nach der Jahrhundertwende eine Porzellan-, Glas- und Hefehandlung in Illingen.354 Die Krämer, die in Gemünden sowie Grosbliederstroff zur Jahrhundertmitte keinerlei christliche Konkurrenz ­hatten, verkauften vor allem Lebensmittel, die nicht im Dorf selbst produziert werden konnten, z. B. Salz und Zucker. Sie führten z. T. aber auch ­Petroleum und Tabak sowie Papier in ihrem Sortiment. Weitere Waren, die zeitweise nur von jüdischen Handelsleuten in die Orte gebracht wurden, waren Wein und Kohle, so z. B. in Boulay, wo Lippmann Rheims im Jahr 1851 der einzige Händler für das erstere Produkt im Ort war und die verwitwete Jeanette Cahen die Einzige, bei der das Letztere erstanden werden konnte.355 Die jüdischen Händler der betrachteten Gebiete verkauften das gesamte Jahrhundert über ihre Ware bei Bedarf auf Raten oder gewährten kleine Kredite. Sie passten 351 Vgl. Volkszählungsliste von Boulay, 1851: ADM ED100 1F1. Vgl. Didot/Firmin, S. 5. Vgl. Rick, S. 140. Vgl. Recensement de la population d’Ettelbruck, 1851, in: ANL Rpop 221 f. Vgl. Dondelinger/Muller, Teil II, S. 26. 352 Vgl. Gewerbesteuerrolle von Gemünden, 1869, in: LHAK Best. 655,12 Nr. 78. Vgl. Berufsund Gewerbezählung von Boulay, 14.6.1895, in: ADM ED100 1F4. Vgl. Betriebsliste von Boulay, 1.7.1914, in: ADM ED100 3F2. Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 875, S. 21. 353 Vgl. Kapitel 3.3.1. Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1313, S. 7. Vgl. Dondelinger/Muller, Teil III, S.  32 – 34. 354 Vgl. Verzeichnis der im Kreise Simmern pro 1862 zu veranlagenden Gewerbesteuerpflichtigen, in: LHAK Best. 655,12 Nr. 44. Vgl. Gewerbesteuerrolle von Gemünden pro 1871, in: LHAK Best. 655,12 Nr. 78. Vgl. Nauhauser, S. 114, S. 266 – 268. 355 Vgl. Volkszählungsliste von Gemünden, 1852, in: LHAK Best. 655,12 Nr. 46. Vgl. Liste des électeurs de la commune de Grosbliederstroff, 31.3.1854, in: ADM 41M6. Vgl. Volkszählungsliste von Boulay, 1851: ADM ED100 1F1. Vgl. Regge, S. 155. Vgl. Boch, S. 17. Gewürze wurden teilweise auch von den Kaufleuten geführt. Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 104, S. 92.

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ihre Geschäfte weitgehend den Bedürfnissen ihrer Kunden an, so nahmen sie z. B. Zinsen auch in Form von Agrarprodukten, einen Teil der Ernte oder Grundstücke als Pfand für einen Kredit an. Sowohl in Lothringen als auch in Preußen und Luxemburg ernährten sich jüdische Landbewohner allerdings nur äußerst selten allein vom Geldverleih. So betonte der Unterpräfekt von Thionville bereits im Jahr 1819, dass es außerordentlich wenig Juden gebe, welche sich ausschließlich dieser Tätigkeit widmeten. Meist ging der Verleih von Geld mit dem Kauf von Vieh oder anderen Waren einher, welche die christlichen Dorfbewohner den jüdischen Händlern nicht unmittelbar bezahlen konnten.356 Für viele Dorfbewohner blieben bis zur Gründung der agrarischen Kreditgesellschaften die jüdischen Geschäftsleute die wichtigsten, wenn auch nicht die einzigen Kreditgeber vor Ort. Neben den Juden kamen nämlich auch Verwandte, Kirchengemeinden bzw. wohlhabendere christliche Einwohner als Geldgeber der Kreditsuchenden infrage.357 In manchen Fällen traten die Letzteren auch als Gläubiger von Juden auf. So schuldete z. B. zur Jahrhundertmitte der jüdische Händler Matthias Brück aus Gemünden der Kirche zu Bruschied 120 Taler.358 Der einzige der betrachteten Orte, aus welchem ein jüdischer Bankier stammte, war Boulay, wo 1767 Berr-Léon Fould geboren wurde, der im Anschluss an seine Zeit als Commis in Nancy nach Paris ging, wo er ein Bankgeschäft eröffnete, welches in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts internationale Bedeutung erlangte.359 In Anknüpfung an Karl Friedrich Raiffeisen, Schulze-Delitzsch und ­Wilhelm Haas wurden im Rheinland in den Siebzigerjahren zahlreiche Sparkassen sowie Genossenschaftsbanken gegründet, welche den Bauern eine Alternative zur Kredit­ nahme bei Juden bieten sollten und sie zugleich zu wirtschaftlicherem Handeln erziehen wollten.360 Im Kreis Simmern setzte sich bereits Ende der ­Sechzigerjahre 356 Vgl. Szajkowski, credit, S. 944, 965 f. Vgl. Roos, relations entre les juifs, S. 104 – 114. Vgl. Daltroff, documents, S. 147 f. Vgl. Job, juifs à Lunéville, S. 158 – 161. Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 103. Vgl. für die Rheinprovinz z. B. den Prozess Joseph Strauss gegen Paul König am Friedensgericht Kirchberg, 28.3.1817, in: LHAK Best. 311,3 Nr. 7. Vgl. Zeitungsbericht von Bürgermeister Dicht von Gemünden für Mai und Juni 1824, in: LHAK Best. 655, 12 Nr. 161. Vgl. zu Luxemburg Lehrmann, S. 47, 125. 357 Vgl. Roos, relations entre les juifs, S. 103 – 106. Vgl. Wincock, Michel: La France et les juifs. De 1789 à nos jours, Paris 2004, S. 30 – 34. Vgl. Szajkowski, credit, S. 961 – 963. Vgl. Schuldenzettel der Filialgemeinden der Bürgermeisterei Gemünden, o. D., ca. 1852, Verzeichnis der zum Zwecke der Berücksichtigung bei der Classensteuer-Einschätzung pro 1859 reclamirten Schulden, in: LHAK Best. 655,12 Nr. 37. Vgl. zur Lage im Ancien Régime in Lothringen Szajkowski, status, S. 158 – 162. 358 Vgl. Notiz über die Schulden von Matthias Brück, o. D., ca. 1850, in: LHAK Best. 655,12 Nr. 37. 359 Vgl. Cahen, juifs lorrains, S. 111 f. Vgl. Barbier, S. 159 – 192. 360 Vgl. Prinz, S. 129 – 131. Vgl. Knopp, S. 406.

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der u. a. für Gemünden zuständige Landrat Back für die Gründung von Darlehenskassenvereinen ein, welche Kredite an Kleinbauern ver­geben sollten.361 Im Kreis Ottweiler nahm im Jahr 1871 eine Kreisdarlehenskasse ihre Arbeit auf, die den Notstand der kleinen Grundbesitzer lindern sollte, den die Missernte von 1870 sowie der Krieg mit sich brachten. In erster Linie sollte die Einrichtung den Ackerbautreibenden die Vergrößerung ihres Viehbestandes und die Beschaffung von Saatgut ermöglichen.362 Die Darlehensvereine auf dem Land erwiesen sich bei der Zielgruppe der Kleinbauern allerdings nicht als sonderlich erfolgreich, wie der Rendant der Sparkasse Simmern feststellte. Die von den Kleinbauern benötigten Kredite waren häufig so niedrig, dass die Kosten für die Taxatoren der Sparkassen, welche die zu verpfändenden Grundstücke begutachteten, einen unverhältnismäßigen Kostenpunkt darstellten. Wohl auch aus diesem Grund wurde in Illingen bis ins 20. Jahrhundert hinein keine Sparkasse errichtet. Die jüdischen Geldgeber füllten mit der Vergabe kleiner Kredite die vorhandene Marktlücke und gewährten sie auch denjenigen, denen ansonsten niemand – auch keine agrarische Kreditgesellschaft – Geld geliehen hätte. Die ländliche Klientel schätzte darüber hinaus die Diskretion der jüdischen Geld­geber: In Gemünden sollte in einem Fall z. B. niemand erfahren, dass man nicht in der Lage war, das Geld für die eingestellten Schafe zu zahlen, und für diesen Zweck noch einen Kredit aufnehmen musste.363 An der Gründung der 1852 von der französischen Regierung genehmigten Hypothekenbank „crédit foncier“, die Geld an Haus- bzw. Grundbesitzer im Bereich von Paris verlieh, beteiligte sich u. a. Berr-Léon Fould. Praktisch gesehen kontrollierte die Bank später den 1861 durch sie und auf Drängen der Regierung gegründeten „crédit agricole“, der als Entsprechung der im deutschen Raum errichteten agrarischen Kreditgesellschaften gelten kann und eigentlich nur eine persönliche, moralische Garantie von seinen Kunden einfordern sollte. Eine Hilfe stellten diese Banken für die Kleinbauern in Frankreichs Nordosten nicht dar, da diese die in der Realität an sie gestellten Bedingungen kaum erfüllten, sie z. B. nicht immer ein Haus besaßen und auch nicht gewillt waren, eine von einem Notar beglaubigte detaillierte Liste ihres Eigentums vorzulegen. Der Grund für die strengen Bedingungen dieser zunächst nur in städtischen Zentren ansässigen Kreditanstalten lag 361 Vgl. Regge, S. 150. Vgl. Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz, Bd. 4, S. 450 f. Vgl. zum Raiffeisen selbst Hüttl, Ludwig: Friedrich Wilhem Raiffeisen. Leben und Werk. Eine Biographie, München 1988. 362 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1310, S. 21 – 49. 363 Vgl. den Prozess Joseph Wagner gegen Christian Gruhn vor dem Friedensgericht Kirchberg, 27.1 1815, in: LHAK Best. 311,3 Nr. 6. Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 108, S. 17. Vgl. Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz, Bd. 4, S. 452. Vgl. Regge, S. 150. Vgl. Richarz, emancipation, S. 98 f. Vgl. Richarz, Viehhandel, S. 305 – 308.

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in der Furcht französischer Politiker, dass sich die Zahl der Kleinbauern durch diese Möglichkeit des Gelderwerbs noch weiter erhöhen würde. Ein modernes Bankensystem, welches auch das ländliche Territorium erfasste, wurde in Lothringen daher erst unter deutscher Herrschaft eingeführt. Erst nach der Annexion wurden Darlehenskassen auf dem Land gegründet und das Sparkassennetz erweitert, u. a. in Boulay, wo die örtliche Sparkasse 1888 eröffnet wurde.364 In den Neunzigerjahren wurde von Victor Prével zudem der „crédit coopératif lorrain“ gegründet, dem Winzer und Bauern des Metzer Landes angehörten.365 Noch zum Ende des Jahrhunderts beklagte die deutsche Verwaltung des Reichslandes allerdings, dass die zur Befriedigung des ländlichen Kreditbedürfnisses bestehenden öffentlichen Einrichtungen noch wenig entwickelt seien und daher „der wucherischen Ausbeutung unserer Landbevölkerung, besonders der kleinen Bauersleute und Taglöhner, noch ziemlich weiter Spielraum geboten ist“.366 Die Gründe für die fortwährende Kreditnahme bei jüdischen Händlern waren die gleichen wie in der benachbarten Rheinprovinz: Die Geschäftsleute vergaben kurzfristige kleine Kredite an die­jenigen, denen niemand anderes Geld geliehen hätte, und erfüllten zudem den bäuerlichen Wunsch nach Diskretion.367 Die von einigen Autoren vertretene Annahme, dass die fortschreitende Verbreitung der Raiffeisenkassen den Hauptgrund für die jüdische Abwanderung in die Städte darstellte, erscheint vor dem beschriebenen Hintergrund als zu einseitig, da die Migration in Lothringen und der Rheinprovinz schon vor der Einrichtung der ländlichen Kreditinstitute einsetzte und die These zudem andere Faktoren – z. B. die verbesserten Verkehrsverbindungen zwischen Stadt und Land oder den Aufstiegswillen der jüdischen Einwohner – ignoriert. Zu berücksichtigen ist allerdings die Verbreitung der Genossenschaften, welche in steigendem Maße den Handel mit Tieren, Saatgut und Landprodukten zu organisieren beanspruchten und eine ernsthafte Konkurrenz für die jüdischen Händler wurden. Im Bereich des Viehhandels, der eine sehr gute Warenkenntnis verlangte, gelang es den Juden der betrachteten Regionen zunächst, sich eine Zeit lang gegen die neu entstehenden

364 Zu den Kunden der 1819 gegründeten Sparkasse von Metz gehörten keine Landbewohner. Vgl. Szajkowski, credit, S. 926 – 941. Vgl. Daltroff, histoire, S. 19. Vgl. Bajetti, histoire, S. 120. Vgl. Mehrens, Bernhard: Die Entstehung und Entwicklung der großen ­fran­­­zö­sischen Kreditinstitute mit Berücksichtigung ihres Einflusses auf die wirtschaftliche Entwicklung Frankreichs, Stuttgart 1911, S. 94. Vgl. Born, Karl Erich: Geld und Banken im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1977, S. 194 f. Lang/Rosenfeld, S. 130 f. überschätzen den Einfluss der Bank auf dem lothringischen Land während des Zweiten Empires. 365 Vgl. Roth, époque, S. 180. 366 Hagmaier, S. 180. 367 Vgl. Szajkoski, credit, S. 939 f. Vgl. Wincock, S. 30 – 34.

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Einrichtungen zu behaupten. Insgesamt sank die Zahl der im Vieh- und Agrarhandel tätigen jüdischen Händler zum Ende des 19. Jahrhunderts allerdings, was auch mit dem allgemeinen sowie dem jüdischen Bevölkerungsrückgang auf dem Land zusammenhing.368 In Luxemburg wurden in den Siebzigerjahren zwar landwirtschaftliche Vereine, u. a. einer in Ettelbrück, gegründet, aber zur Einrichtung von besonderen ländlichen Kreditinstituten kam es dort bis zum Ende des Jahrhunderts nicht. Die Schaffung der ersten Raiffeisenkassen erfolgte erst in den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts. Anders als in der Rheinprovinz und dem unter deutscher Herrschaft befindlichen Reichsland versuchten sie nicht, eine Alternative zu jüdischen Kreditgebern zu bieten, was wohl auch in der vergleichsweise geringen Zahl der Juden im Großherzogtum seine Begründung findet.369 Sowohl in Preußen als auch in Frankreich wurde von christlicher Seite sowie von der jüdischen Oberschicht eine Anpassung der jüdischen an die christliche Berufsstruktur gewünscht. Während man diese in den deutschen Staaten als Voraussetzung für die vollständige Emanzipation forderte, wurde sie in dem anderen Land als Gegenleistung für die bereits bestehende Gleichstellung mit den christlichen Einwohnern erwartet. In Luxemburg ließen sich im Gegensatz dazu kaum Stimmen vernehmen, welche eine solche Annäherung verlangten.370 Die in den beiden großen Staaten eingeforderte Anpassung erfolgte nicht, da in beiden sowohl Landwirtschaft als auch Handwerk im 19. Jahrhundert wiederholt Krisen durchliefen, während der Handelssektor anwuchs. Das Handwerk litt besonders unter der Konkurrenz von zunehmend industriell gefertigten Produkten, weswegen der bis zur Mitte des Jahrhunderts zu verzeichnende leichte Anstieg der Zahl der jüdischen Handwerker nur vorübergehender Natur war. Die allgemeine ökonomische 368 Vgl. Avine-Goetz, S. 260. Vgl. Hiery, Hermann: Reichstagswahlen im Reichsland. Ein Beitrag zur Landesgeschichte von Elsaß-Lothringen und zur Wahlgeschichte des Deutschen Reiches 1871 – 1918 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der poli­ tischen Parteien, Bd. 80), Düsseldorf 1986, S. 50. Vgl. Daltroff, histoire, S. 19. Vgl. Meyer, survol, S. 18. Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 136. Vgl. Richarz, Viehhandel, S. 305. Vgl. Barkai, Minderheit, S. 131 f. 369 Vgl. Flies, S. 1598 f. Vgl. Calmes/Brossaert, S. 206. 370 Vgl. Jersch-Wenzel, Bevölkerungsentwicklung, S. 84 f. Vgl. Girard, S. 115 – 120. Vgl. Cohen, promotion, Bd. 2, S. 331 – 342. Vgl. als Beispiel für die jüdische Oberschicht in Frankreich eine Veröffentlichung von Berr Isaac Berr, in: Ayoun, juifs, S. 220 – 226. Vgl. zu den Bemühungen der jüdischen Eliten um eine berufliche Anpassung ihrer Glaubensgenossen Kapitel 5.3.5. Einen Überblick zum Thema der Produktivierung der Juden bietet Bermann, Dagmar T.: Produktivierungsmythen und Antisemitismus. Assimilatorische und zionistische Berufsumschichtungsbestrebungen unter den Juden Deutschlands und Österreichs bis 1938, Diss. München 1971.

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Entwicklung hatte zur Folge, dass sich in der zweiten Jahrhunderthälfte immer mehr Christen im Handel versuchten.371 In Gemünden und Grosbliederstroff, wo noch zur Mitte des Jahrhunderts fast ausschließlich Juden im Handel tätig waren, erfolgte dieser Schritt allerdings nur zögerlich. 1864 lebten in Gemünden lediglich fünf Protestanten im Dorf, deren Haupterwerb der Handel war. Erst zum Ende der Sechzigerjahre wuchs die Zahl der christlichen Händler weiter an, z. B. 1869 um Adam Michel, der Mehl und Leder verkaufte, sowie Peter Hottenbacher, der Manufakturwaren vertrieb. Da sich die Warenpalette der christlichen Händler meist auf Agrarprodukte und Kleinwaren beschränkte, stellten sie nur für einen Teil der jüdischen Einwohner eine Konkurrenz dar.372 In Boulay und Ettelbrück, in denen schon zur Jahrhundertmitte christliche Einwohner einen größeren Teil des Handelssektors stellten, gab es aufgrund der Spezialisierung der jüdischen und christlichen Handelsleute auf verschiedene Waren kaum eine Konkurrenz zwischen den Angehörigen der verschiedenen Religionen. Für den preußischen Untersuchungsort Illingen galt dies zur Mitte des Jahrhunderts im Bereich des Hausier- und Viehhandels, allerdings nicht für den Geschäftsbereich der ansässigen Krämer und später der ­Kaufleute, wie auch die Mitgliederliste der kaufmännischen Vereinigung von Illingen aus dem Jahr 1905 belegt. Zum Beginn des 20. Jahrhunderts versuchten sich sogar einzelne christliche Einwohner im Handel mit Landprodukten sowie Vieh, z. B. Otto Thiery und Ernst Heihler.373 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es in allen betrachteten Orten Bereiche gab, in denen die christlichen Einwohner ausschließlich die Dienste von Juden in Anspruch nehmen konnten, wobei zu bemerken ist, dass diese Situation besonders stark in Grosbliederstroff und Gemünden ausgeprägt war, während am e­ hesten im Fall von Ettelbrück die christlichen Einwohner ihre Geschäfte auch mit Glaubens­ genossen der näheren Umgebung machen konnten. Die Funktion der jüdischen Händler bestand darin, den Warentransfer zwischen den Dörfern und den großen Märkten der Regionen zu gewährleisten und die örtliche Bevölkerung mit bestimmten Konsumwaren und Krediten zu versorgen.374 Besonders die ärmere

371 Vgl. Volkov, Zur Einführung, in: dies., Deutsche Juden, S. XVIf. Vgl. Cahnmann, S. 174. Vgl. Richarz, Einführung, Leben, Bd. 1, S. 31 f. Vgl. Barkai, Minderheit, S. 34. Zur Entwicklung auf nationaler deutscher Ebene vgl. Prinz, S. 36 f., 102, 121 f. Vgl. Cohen, promotion, Bd. 2, S. 343. 372 Vgl. Volkszählungsliste von Gemünden, 1864, in: LHAK Best. 655,12 Nr. 46. Vgl. Gewerbe­ steuerrolle von Gemünden, 1869 – 1880, in: LHAK Best. 655,12 Nr. 78. 373 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 104, S. 91 – 93, 114. Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1001, S. 52. Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 108, S. 163. Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 875, S. 582. 374 Vgl. Daltroff, juifs, S. 41. Vgl. Richarz, Entdeckung, S. 16. Vgl. Richarz, Judentum, S. 7.

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Landbevölkerung war auf Juden angewiesen, wenn sie einen Kredit, Waren oder Vieh erwerben wollte.375 Die Konzentration der jüdischen Erwerbstätigen im Handelssektor hatte auch zur Folge, dass die jüdischen Einwohner in bestimmten Bereichen auf christliche Einwohner angewiesen waren. Dass christliches Gesinde bei jüdischen Familien arbeitete, fand bereits Erwähnung. Besonders stark ausgeprägt war die Abhängigkeit der jüdischen Einwohner von christlichen Dienstleistungen im Handwerk. In allen Orten fanden sich unter den jüdischen Dorfbewohnern Hausbesitzer, die gelegentlich auf die Arbeit von christlichen Handwerkern, wie z. B. Schieferdeckern oder Zimmerern, angewiesen waren, die Reparaturen durchführen konnten, so u. a. in Grosbliederstroff, Illingen und Ettelbrück.376 In besonderem Maße zeigte sich diese Abhängigkeit von Dienstleistungen der christlichen Bevölkerung im baulichen Bereich bei der Neuerrichtung und Instandsetzung der Synagogen in den Orten. Dies begann teilweise schon mit der Erstellung eines Plans und eines Kostenvoranschlags, welche z. B. in Boulay im Jahr 1853 von dem christlichen Architekten Noble übernommen wurde. Bei den Bauarbeiten setzte sich diese Abhängigkeit fort, wie das Engagement christlicher Dorfbewohner, z. B. des Dachdeckers Krafft oder des Anstreichers Mouseler, belegt.377 Die Renovierung der Synagoge von Grosbliederstroff 1908 sorgte für zahlreiche Aufträge unter den christlichen Handwerkern des Dorfes: Sie wurden für die Maurerarbeiten, den äußeren Anstrich des Gebäudes, das Decken des Daches, die Einsetzung von Fensterscheiben, das Anbringen von Schlössern und die Ausbesserung von Sitzbänken engagiert. Da­rüber hinaus wurde der Maler Louis Groß aus dem Ort damit betraut, das Innere des Synagogenschrankes mit Gold abzusetzen, Inschriften aufzubessern und Säulen am Altar zu vergolden.378 Wie begehrt die Arbeiten an den Dorfsynagogen unter den christlichen Handwerkern waren, zeigt der Umstand, dass in Gemünden 1858 ein jüdischer Händler einem Maurer versprach, ihm gegen einen Maklerlohn den Auftrag zum Bau des Gebäudes zu verschaffen.379

375 Vgl. Kasper-Holtkotte, Juden, S. 112. Vgl. Szajkowski, credit, S. 944. Vgl. Richarz, Entdeckung, S. 275 f. 376 Vgl. Liste des électeurs de la commune de Grosbliederstroff, 31.3.1854, in: ADM 41M6. Vgl. Volkszählungsliste von Ettelbrück, 1852, in: ANL Rpop 221 f. Vgl. Nauhauser, S. 192 f. 377 Vgl. Devis estimatif des travaux à exécuter pour la construction de la synagogue dans la ville de Boulay, 10.6.1853, in: ADM ED100 2M3. Vgl. Adjoint du maire de Boulay au préfet de Metz, 19.6.1853, in: ADM V156. 378 Vgl. Abrechnung über die verschiedenen an der Synagoge geleisteten Arbeiten, November 1908, in: ADM 7AL131. 379 Vgl. LHAK Best. 441 Nr. 9719, S. 293 f.

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Im luxemburgischen Ettelbrück waren es wie in den anderen Regionen auch katholische Handwerker, welche die Errichtung der Synagoge ermöglichten. Anders als in den übrigen Untersuchungsdörfern ließ sich im Fall dieses Ortes Kritik an der Tätigkeit der christlichen Handwerker nachweisen. Diese wurde allerdings in erster Linie nicht in Ettelbrück selbst, sondern in katholischen Zeitungen artikuliert. So fragte „d’Wäschfra“ polemisch, wie viel Jahre „die katholischen Maurer, Zimmerleute, Schlosser, Schreiner, Maler und Schieferdecker in der Hölle braten“380 müssten. Andere Beispiele für die Inanspruchnahme von Dienstleistungen von christ­ licher Seite durch jüdische Einwohner fanden sich im alltäglichen Geschäfts­leben. So gehörten die jüdischen Pferdehändler zu den regelmäßigen Kunden der an­ sässigen Schmiede, da sie ihre Tiere dorthin zur Neubehufung brachten, z. B. in Boulay und Ettelbrück sowie in Gemünden.381 Der in Grosbliederstroff zeitweise als Mehlhändler tätige Moise Ury arbeitete wohl mit den im Ort beheimateten Müllern zusammen, deren Mühlen auch noch am Ende des 19. Jahrhunderts in Betrieb waren.382 Auf bestimmte Handwerker konnte die jüdische Bevölkerung allerdings eher als ihre christlichen Mitbewohner verzichten. Da viele Juden aufgrund ihres Handelsberufes auch in andere Orte kamen, konnten sie z. B. Kleidung und Schuhe – auch wenn sie nicht selbst auf diese Waren spezialisiert waren – außerhalb ihrer Dörfer erwerben. Einen Sonderfall hinsichtlich der Abhängigkeiten zwischen Juden und Christen stellt Ettelbrück dar, wo die Tuchfabrik der Familie Godchaux zahlreiche christliche Dorfbewohner anzog. Nach der Aufnahme der Wollspinnerei und -färberei arbeiteten dort zu Beginn der Siebzigerjahre etwa 100 Personen. Es handelte sich bei ihnen in erster Linie um Leute, die zuvor als Heimarbeiter ihr Einkommen verdient hatten. Bis 1887 wuchs die Zahl der Beschäftigten in dem Betrieb, welcher mittlerweile zusammen mit den Godchaux-Fabriken von Schleif- und Pulvermuhl die „Société anonyme des draperies luxembourgoises“ bildete, auf 300 Personen an. Das Unternehmen setzte seine Ware nicht nur innerhalb des Großherzogtums und den benachbarten Staaten wie dem Deutschen Reich, Frankreich und Belgien ab, sondern auch in England. Darüber hinaus stellte es Vertreter auch in anderen europäischen Ländern an und exportierte sogar nach Übersee.383

380 D’Wäschfra, 4.3.1871, S. 2. Vgl. auch Luxemburger Wort, Nr. 272, 1871, S. 1 f. 381 Vgl. Volkszählungsliste Boulay, 28.6.1851, in: ADM ED100 1F1. Vgl. Volkszählungsliste von Ettelbrück, 1852, in: ANL Rpop 221 f. Vgl. Boch, S. 17. 382 Vgl. Liste des électeurs de la commune de Grosbliederstroff, 31.3.1854, in: ADM 41M6. Vgl. Willigsecker, S. 69. Vgl. Rick, S. 140. 383 Vgl. Maertz, S. 122 f. Vgl. Flies, S. 1609 – 1617.

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3.3.3 Ein langsamer Aufstieg: die jüdischen Sozialstrukturen im Vergleich 3.3.3.1 Die Entwicklung der jüdischen Sozialstrukturen

Es ist nur in einem eingeschränkten Maße möglich, von den Berufen, welchen die Erwerbstätigen nachgingen, Schlüsse auf deren soziale Situation zu ziehen. Zwischen den verschiedenen Händlern bestanden erhebliche Einkommensunterschiede. In Gemünden war z. B. der Vieh- und Pferdehändler Friedrich Hammel 1862 nach den als Kaufleuten tätigen Brüdern Marx und Ferdinand Löb der wohlhabendste Jude in Gemünden. Der ebenfalls als Händler bezeichnete Jacob Wagner gehörte da­­gegen als Lumpensammler, der seine Ware an Papierfabriken verkaufte, der untersten sozialen Schicht an.384 In Grosbliederstroff bildeten die Vieh- und Pferdehändler Garcon Borg und Jacob Juda zusammen mit dem Krämer Lion Loeb und dem Stoffhändler Jacob Borg 1846 die jüdische Oberschicht des Dorfes, während der als „Schleichhändler“ bezeichnete Viehhändler Isaac Sinay und der Alteisenhändler Simon Joseph der Unterschicht angehörten.385 Zudem variierten die Einkommen auch innerhalb der Berufe, z. B. denjenigen der Vieh- oder Getreidehändler, je nachdem, wie umfangreich sich die Geschäfte der Einzelnen gestalteten. Generell lässt sich allerdings feststellen, dass die Händler, welche mit Altwaren – Lumpen, Kleidung, Eisen – handelten, sich in der Regel am unteren Ende der Einkommenshierarchie befanden: Der Alteisenhändler Albert Salomon aus Illingen gehörte genauso dazu wie sein bereits erwähnter Kollege Simon Joseph aus Grosbliederstroff und der Altkleiderhändler Abraham Cerf in Boulay.386 Eine Ausnahme in dieser Hinsicht stellte lediglich Lion Cerf aus Boulay dar, der 1846 als Lumpengroßhändler der wohlhabendste Jude nach Jacob Rheims war.387 Die Handwerker zählten bis zur Mitte des Jahrhunderts nicht selten zur jüdischen Unterschicht und in den folgenden Jahrzehnten bestenfalls zur jüdischen

384 Vgl. Volkszählungsliste von Gemünden, 1864, in: LHAK Best. 655,12 Nr. 46. Vgl. Begräbnisregister des Israelitischen Begräbnisplatzes zu Gemünden, in: AVgKb Abt. 4: Bauverwaltung. 385 Vgl. Liste des électeurs censitaires de la commune de Grosbliederstroff, 8.1.1846, liste des électeurs de la commune de Grosbliederstroff, 31.3.1854, in: ADM 41M6. Vgl. Liste nominative des habitants Israélites de la commune de Grosbliederstroff, 1840, in: ADM 17J44. Vgl. Willigsecker, S. 18, 32, 36. 386 Vgl. Nauhauser, S. 193. Vgl. die Zensuswahllisten von Boulay und Grosbliederstroff, 1846, in: ADM 40M4 und 41M6. Vgl. die Listen der jüdischen Einwohner der beiden Orte, 1840, in: ADM 17J44. Vgl. Volkszählungsliste von Boulay, 28.6.1851, in: ADM ED100 1F1. Vgl. Liste des électeurs de la commune de Grosbliederstroff, 31.3.1854, in: ADM 41M6. 387 Vgl. Liste des électeurs censitaires de la commune de Boulay, 5.1.1846, in: ADM 40M4.

Handel und sozialer Aufstieg

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Mittelschicht. In den betrachteten französischen Siedlungen waren der als Bäcker und Wirt in Boulay tätige Jacob Cerf, der im gleichen Ort lebende Metzger Issac Cerf und dessen Kollege Isaac Ury aus Grosbliederstroff die einzigen jüdischen Handwerker, die mit einer Steuerleistung von knapp 40, 30 sowie 18 Francs in der Zensuswahlliste von 1846 geführt wurden. Die zur gleichen Zeit in dem letzteren Ort lebenden jüdischen Schlosser Lazard und Michel Loeb und der Buchbinder Moise Levy zahlten genauso wie die Metzger Samuel Ach und Borich Rheims in Boulay aufgrund ihres niedrigen Einkommens weniger Steuern. Moise Levy betätigte sich zur Aufbesserung seines Lebensunterhaltes nebenher auch als Krämer.388 In Gemünden gestaltete sich die Lage ähnlich, denn auch dort arbeiteten die ohnehin nur wenigen jüdischen Handwerker meist zugleich im Handel, z. B. Peter Hammel, der von seinen Einkünften als Metzger und Viehhändler lediglich zwei Taler Klassensteuer entrichten musste, womit er aus Sicht der Behörden als schlecht gestellt anzusehen war. Der Schuster Emmanuel litt ebenso wie seine christlichen Kollegen im Kreis Simmern unter der hohen Zahl der in diesem Handwerk tä­tigen Personen sowie der Krise dieser Berufskategorie, die u. a. auf technische Neuerungen, welche die preiswertere Fabrikation von Schuhwerk in größeren Z ­ ahlen ermöglichte, zurückzuführen war.389 Auch der in Illingen an­­sässige Fleischer Nathan Levy wurde 1841 und 1859 vom Bürgermeister des Dorfes als arm eingestuft. Seine Kollegen entrichteten bis 1850 zwar ebenfalls meist nur wenig Klassensteuer, aber ihre wirtschaftliche Lage besserte sich im Verlauf der Fünfzigerjahre, sodass sie 1859 größtenteils zu den jüdischen Hausbesitzern gehörten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts bildeten sie den unteren Teil der jüdischen Mittelschicht ihrer Gemeinde, zu der auch der Dekorateur Jacob Levie zählte.390 Die jüdischen Lehrer und die zu bestimmten Anlässen engagierten Musiker mussten ebenso wie die Handwerker häufig Nebenberufen nachgehen, um ihren geringen Verdienst aufzubessern. Im Fall der Lehrer handelte es sich dabei meist um Dienste für die jüdische Gemeinde, z. B. war der Lehrer Salomon in Gemünden

388 Vgl. ebd. Vgl. Liste des électeurs censitaires de la commune de Grosbliederstroff, 8.1.1846, in: ADM 41M6. Vgl. Etat de la population israélite de Boulay, 2.12.1840, in: ADM 17J44. Vgl. Volkszählungsliste von Boulay, 28.6.1851, in: ADM ED100 1F1. Vgl. Liste des électeurs de la commune de Grosbliederstroff, 31.3.1854, in: ADM 41M6. Vgl. Willigsecker, S. 41, 54. 389 Vgl. LHAK Best. 655,12 Nr. 158, S. 109 f. in Verbindung mit LHAK Best. 655,12 Nr. 91, S. 70 – 75. Vgl. Feld, Willi: Lebensbilder. Die Juden in der Geschichte der ehemaligen Stadt Steinfurt (Geschichte und Leben der Juden in Westfalen, Bd. 7), Münster 2004, S. 217 f. 390 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1686, S. 31, 71 – 74, 93 – 96. Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1535, S. 19 – 21, 43 – 46. Vgl. Nauhauser, S. 184, 192 f.

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Bedingungen des Lebens auf dem Land

in den Fünfzigerjahren als zweiter Schächter tätig.391 Der zu Beginn des 20. Jahr­ hunderts in Boulay lebende Ephraim Weil betätigte sich neben seiner Stelle als Kantor – also Vorsänger – in Kurzel auch noch als Vertreter für Manufakturwaren.392 Im luxemburgischen Ettelbrück, wo zur Jahrhundertmitte nur wenige jüdische Familien lebten, unterrichtete der Händler Léon Cahen die Kinder im jüdischen Glauben.393 Die nur in den französischen Orten schon zur Mitte des Jahrhunderts auftretenden Mediziner, z. B. Lion Cerf in Boulay, gehörten zu den wohlhabenderen Juden. Die ebenfalls nur in den lothringischen Dörfern anzutreffenden jüdischen Militärs waren in finanzieller Hinsicht dagegen eher der Mittelschicht zuzurechnen, z. B. Lipmann Rheims in Boulay 1846.394 Das jüdische Gesinde und die fast nur zu Beginn des 19. Jahrhunderts auftretenden als Tagelöhner tätigen Juden gehörten, ähnlich wie ihre christlichen Kollegen, der ärmeren Schicht an, z. B. verfügte keiner der in Boulay 1809 als Hilfsarbeiter tätigen Juden über Vermögen.395 Die erwerbslosen Juden befanden sich häufig in einem höheren Alter und ­wohnten nicht selten bei der Familie eines ihrer Kinder. So lebten in Boulay die verwitwete Pauline Jacob bei ihrer als Schankwirtin tätigen Tochter Henriette S­ alomon oder in Gemünden der 79-jährige Marx Rhauner im Haushalt seines Schwiegersohnes Jacob Ochs. Allerdings war dies nicht bei allen älteren Juden der Fall, z. B. wohnte im Jahr 1809 in Boulay der 80-jährige ehemals als Kaufmann tätige Jacob Cahen alleine und 1851 in demselben Ort der 75-jährige Rentner Salomon Cahen ausschließlich mit seiner fast gleichaltrigen Ehefrau zusammen. In Illingen zählte im Jahr 1859 der nicht mehr tätige 73-jährige Händler Leopold Blum mit einem Besitz von zwei Häusern zu den wohlhabenden Haushaltsvorständen. Falls die betagten Eltern kein Vermögen besaßen, übernahm häufig eines der K ­ inder die Versorgung vollständig, so z. B. in den Fällen von Jakob Levy in Illingen 1859 und Lyon Lazard in Boulay zur Jahrhundertmitte.396 Zwar fanden sich in den untersuchten Dörfern – vor allem in der zweiten Jahrhunderthälfte – einige jüdische Haushaltsvorstände, die aufgrund ihrer Besitzverhältnisse nicht arbeiteten, in Illingen im Jahr 1859 beispielsweise Albert Israel, der von den Zinsen seines 2500 Reichstaler betragenden Kapitals lebte; in der Mehrzahl der Fälle bedeutete die Erwerbslosigkeit eines Haushaltsvorstandes allerdings, dass er arm war und der untersten wirtschaftlichen und sozialen Schicht angehörte. In Boulay zählte 1851 z. B. die verwitwete Caroline 391 Vgl. LHAK Best. 403 Nr. 10204, S. 420. Vgl. Pies, S. 24 f. Auf die Stellung der jüdischen Lehrer wird im Kapitel 4.2 eingegangen. 392 Vgl. Bürgermeister von Boulay, 27.1.1917, in: ADM ED100 3P1. 393 Vgl. Dondelinger/Muller, Teil II, S. 27. 394 Vgl. Liste des électeurs censitaires de la commune de Boulay, 5.1.1846, in: ADM 40M4. 395 Vgl. Recensement de la population juive, 31.8.1809, in: ADM ED100 3P1. 396 Vgl. Nauhauser, S. 192.

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Alexandre, deren als Lumpenhändler tätiger Sohn sie unterstützte, zu dieser Kategorie, und in Illingen war 1859 u. a. Karoline Levy, eine „bettelarme kränkliche Frau“ ein Teil dieser Gruppe. Den Lebensunterhalt b­ e­stritten solche Personen mit Gelegenheitsarbeit und Kleinhandel oder Bettelei, wie z. B. Jakob Levy, Marx David und Röschen Marx in Illingen, welche von Almosen lebte.397 Die in den deutschen Regionen beheimateten Landjuden erlebten im Verlauf des 19. Jahrhunderts einen sozialen Aufstieg, der dazu führte, dass sie zu dessen Ende überwiegend der Mittelschicht zugerechnet werden konnten, während am Anfang des Jahrhunderts noch viele als arm bezeichnet werden mussten.398 In vornehmlich landwirtschaftlichen Regionen wie dem Hunsrück war die wirtschaftliche Aufstiegsbewegung zwar geringer als in anderen Regionen ausgeprägt, aber dennoch feststellbar. Als Ursachen der Entwicklung werden in der Literatur die seit den Vierzigerjahren anschwellende Auswanderung armer Juden und die zunehmende Rentabilität des ländlichen Handels aufgrund des gestiegenen Konsumbedarfs in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts genannt.399 Als Indikatoren für den wirtschaft­ lichen Aufstieg werden vor allem die vermehrte Niederlassung von Kaufleuten und die Eröffnung von offenen Ladengeschäften angesehen.400 In dem Hunsrückort Gemünden trieben die meisten Juden zu Beginn der preußischen Zeit Handel und „kleinen Schacher“. Dieser Zustand änderte sich in den folgenden Jahrzehnten kaum, wie die Situation in Gemünden 1842 belegt: Von insgesamt 28 Händlern waren 13 mit Vieh- und zehn mit Kleinhandel beschäftigt. Eine allmähliche Veränderung der Lage begann erst im Verlauf der 2. Jahrhunderthälfte: Die Zahl der in Gemünden ansässigen Kaufleute und der Geschäftsleute mit festen Läden sowie die Zahl der Juden, die mit Pferden handelten, stieg leicht an.401 Im Vergleich zu dem abgelegenen Hunsrückdorf begann die Einrichtung fester Ladengeschäfte in dem Marktort Illingen zwar etwas früher, aber auch hier erfolgte sie größtenteils erst in der 2. Jahrhunderthälfte. Die

397 Vgl. Kasper-Holtkotte, Juden, S. 353 – 363. 398 Vgl. Rohrbacher, Stefan: Die jüdische Landgemeinde im Umbruch der Zeit. Traditionelle Lebensform, Wandel und Kontinuität im 19. Jahrhundert, Göppingen 2000, S. 24 f. Vgl. Richarz, Judentum, S. 7 f. Vgl. Toury, Geschichte, S. 104 – 107. Vgl. Cahnmann, S. 178. Vgl. Barkai, Avraham: German Jews at the start of industrialisation, in: Mosse/Paucker/ Rürup, S. 136. 399 Vgl. Toury, Geschichte, S. 69, 111 – 114. Vgl. Barkai, jews, S. 135 f. Vgl. Richarz, Stellung, S. 278. 400 Vgl. Rürup, Landbevölkerung, S. 129. Vgl. Cahnmann, S. 176. Vgl. Toury, Geschichte, S. 81. Vgl. Richarz, Stellung, S. 276. Vgl. Barkai, Minderheit, S. 33. 401 Vgl. LHAK Best. 441 Nr. 3162, S. 33. Vgl. LHAK, Best. 655,12 Nr. 91, S. 70 f. Vgl. Boch, S.  17 – 19, 44.

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Bedingungen des Lebens auf dem Land

Juden, welche in der Rheinprovinz ein stehendes Gewerbe betrieben, also z. B. einen ­festen Laden besaßen, waren seit 1845 von dem Erwerb der Handelspatente befreit, aber in Illingen profitierte nur ein kleiner Teil der Juden, z. B. die als Krämerin tätige Witwe von Samuel Beckard, von dieser Neuregelung. 1846 beantragten immer noch 14 jüdische Händler – Viehhändler und Lumpensammler – Patente, um ihren im Umherziehen betriebenen Geschäften nachgehen zu dürfen.402 In den Fünfzigern wurden in zunehmendem Maße jüdische Händler als Kaufleute und Krämer im Ort selbst tätig, und bis Anfang der Neunzigerjahre erhöhte sich ihre Zahl weiter. Zu bemerken ist in diesem Zusammenhang, dass das Hausieren für einen Teil der Ladenbesitzer weiterhin zum Geschäft gehörte, sie dieses aber Familienangehörigen oder Angestellten überließen. So lieferte z. B. im Jahr 1867 die Ehefrau des Metzgers Aaron Adler Fleischwaren direkt an Kunden innerhalb sowie außerhalb des Dorfes und 1907 schickte Michel Levi seinen Knecht in der Umgebung herum, um Vieh aufzukaufen.403 Für Preußen im Allge­meinen und den Bezirk Trier im Speziellen lässt sich feststellen, dass die allmähliche Verbreitung von festen Läden mit dem Rückgang der Zahl der ausdrücklich als Hausierer, „Schacher-“ und Nothändler sowie Trödler bezeichneten jüdischen Handelsleute zwischen 1840 und 1860 einherging. In dem ländlich geprägten Regierungsbezirk verlief die beschriebene Entwicklung allerdings etwas lang­samer als in dem Gesamtstaat.404 Die Entwicklung im Osten Frankreichs stimmte grundsätzlich mit derjenigen in der Rheinprovinz überein: Auch hier waren die Landjuden, welche mehrheitlich das gesamte Jahrhundert über Handelsberufen nachgingen, von strukturellen Veränderungen in ihrem Tätigkeitsbereich betroffen bzw. nahmen an ihnen Anteil. Im Gegensatz zu den Produktgruppen Vieh, Pferde und Getreide, mit deren Vermittlung sich die lothringischen Juden bis ins 20. Jahrhundert hinein beschäf­ tigten, nahm der Vertrieb von Gebrauchtwaren zur Mitte des 19. Jahrhunderts ab.405 Während in Boulay 1840 noch drei jüdische Haushaltsvorstände als Trödler, zwei als Altkleiderhändler und einer als Altwarenhändler tätig waren, bestritten 1851 dort nur noch Cerf Mayer und eine Witwe ihren Lebensunterhalt als Trödler.406 In Grosbliederstroff gab es 1854 nach Angaben des Bürgermeisters bis auf 402 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1539, S. 75 – 79. Vgl. Nauhauser, S. 192. 403 Vgl. Nauhauser, S. 196 f., 300 f. Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1546, S. 100. Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 849, S. 132. 404 Vgl. Toury, Geschichte, S. 74 f., 363 – 365. Vgl. Prinz, S. 25 – 27, 59 f. Vgl. Barkai, ­Minderheit, S.  33 – 41. 405 Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 131. 406 Vgl. Etat de la population israélite de Boulay, 2.12.1840, in: ADM 17J44. Vgl. Volks­ zählungsliste von Boulay, 1851, in: ADM ED100 1F1.

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zwei Alteisenhändler keine Juden mehr, welche ihren Lebensunterhalt hauptsächlich mit dem Verkauf von Altwaren verdienten.407 Schon zu Beginn der Vierzigerjahre begannen die lothringischen Juden zunehmend kleine Läden zu eröffnen, sodass der Präfekt von Metz 1843 berichtete, dass abgesehen vom Vieh- und Fleischhandel, der weiterhin im Umherziehen betrieben werde, das Hausieren mit anderen Waren abgenommen hätte, weil in den meisten Dörfern Krämer, Lebensmittel- und Kurzwarenhändler ansässig geworden seien.408 In ähnlicher Weise äußerte sich der Unterpräfekt des Arrondissements Lunéville: „L’abject brocontage des anciens juifs n’existe plus dans l’arrondissement.“409 Sein Kollege in Toul bemerkte, dass die ärmeren Juden immer noch in den Dörfern hausierten, wobei er darauf hinwies, dass dies die einzige Möglichkeit für jene sei, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.410 Insgesamt lässt sich festhalten, dass das Hausieren mit Altwaren seit der Mitte des Jahrhunderts auch in Lothringen zu einer immer weniger ausgeübten Beschäftigung wurde, der in steigendem Maße nur noch Teile der jüdischen Unterschicht nachgingen.411 Wie in der deutschen Literatur wird auch von der französischen Forschung der Rückgang der Trödler und Hausierer zusammen mit der Eröffnung fester Geschäfte als Anzeichen für den sozialen Aufstieg gewertet, der bei den französischen Landjuden wie bei den östlichen Nachbarn fast ausschließlich über den Handel und später als bei den städtischen Juden geschah.412 Vereinzelt wird zudem darauf hingewiesen, dass die ärmsten Juden die Emigration als Schlüssel für ihren sozialen Aufstieg betrach­ teten, allerdings gilt dies stärker für das Elsass, welches wesentlich mehr Juden verließen als Lothringen.413 In Luxemburg war der Handel den gleichen strukturellen Veränderungen wie in den beiden großen Nachbarstaaten ausgesetzt. Zu Beginn des 407 Vgl. Liste des électeurs de la commune de Grosbliederstroff, 31.3.1854, in: ADM 41M6. Aufgrund des nicht selten betriebenen Mischhandels kann der Verkauf von gebrauchten Gegenständen allerdings nicht gänzlich ausgeschlossen werden. 408 Vgl. Préfet de la Moselle au ministre de l’intérieur, 21.7.1843, in: ADM V149. 409 Sous-Préfet de Lunéville, 12.7.1843, in: ADM V149. 410 Vgl. Sous-préfet de Toul, 15.7.1843, in: ADMM V300. 411 Vgl. Meyer, présentation, S. 21 f. Vgl. Neher-Bernheim, documents, Bd. 2, S. 371. Im Niederelsass zeichnete sich diese Entwicklung nach Angaben des Präfekten 1843 noch nicht ab. Vgl. ebd., S. 364. Für Paris vgl. Girard, S. 124. 412 Vgl. Meyer, présentation, S. 22. Vgl. Schwarzfuchs, juif, S. 277. Vgl. Cahen, juifs lorrains, S. 108. Vgl. Becker, S. 52 – 56. Vgl. für Frankreich allgemein Girard, S. 125, Cohen, promotion, Bd. 2, S. 344 f., Hyman, Jews of modern France, S. 60 f. 413 Vgl. Daltroff, histoire, S. 19. Die Auswirkungen der jüdischen Auswanderung aus ­Lothringen auf die soziale Situation der Zurückbleibenden wurden aufgrund ihres eher geringen Umfangs bisher nicht erforscht.

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Bedingungen des Lebens auf dem Land

Untersuchungszeitraums war die Zahl der im Großherzogtum hausierenden Juden, welche häufig noch in den Nachbarländern ihren Wohnsitz hatten, groß, wie der Staatsminister De Thiennes berichtete.414 Bemerkenswert ist allerdings, dass 1818 neben acht Hausierern bereits vier jüdische Händler der Hauptstadt als „boutiquiers“ bezeichnet wurden.415 Die Zahl der hausierenden Händler ging im luxemburgischen Kleinstaat im Verlauf des Jahrhunderts zurück, allerdings zog sich diese Entwicklung hin. Infolge des Anschlusses des Großherzogtums an den Deutschen Zollverein dehnten zahlreiche umherziehende Geschäftsleute aus der benachbarten Rheinprovinz ihren Handlungsbereich auf den kleinen Nachbarstaat aus. Erst das Grundgesetz von 1850 überließ den Hausierhandel weitgehend den Einheimischen. In den von den städtischen Zentren entfernten Gegenden des Landes behielten die Hausierer einen gewissen Stellenwert, auch aufgrund des erst in der zweiten Jahrhunderthälfte erfolgenden Ausbaus des Eisenbahnnetzes.416 Während die ersten in Ettelbrück und Umgebung ansässigen Juden noch als „colporteurs“ bezeichnet wurden, z. B. ­Salomon Lion, war dies bei den in den Sechzigern in dem Dorf beheimateten Juden nicht mehr der Fall. Eine Ursache dafür war sicherlich die steigende Bedeutung Ettelbrücks als Marktort und Zentrum für die Umgebung, die dafür sorgte, dass die Geschäftsleute Läden eröffneten. Allerdings muss bemerkt werden, dass die jüdische Handelstätigkeit, z. B. das Aufkaufen von Vieh bei den Bauern der näheren Umgebung, noch immer mit Hausbesuchen verbunden blieb.417 Wenn sich auch die strukturellen Veränderungen in den betrachteten Dörfern stark ähnelten, so ist doch eine gewisse Ungleichzeitigkeit zu betrachten, die abhängig von der jeweiligen geografischen Lage war. In Illingen, Boulay und Ettelbrück eröffneten die ansässigen Juden eher Geschäfte als in Gemünden und Grosbliederstroff, die im Gegensatz zu den Ersteren aufgrund ihrer Lage kaum Kunden von außerhalb anzogen. Im Folgenden soll geklärt werden, inwiefern sich dies auf die Einkommenslage der Juden auswirkte.418 Dass in Gemünden in der zweiten Jahrhunderthälfte die Zahl der ansässigen Kaufleute und Pferdehändler anwuchs, und die Tatsache, dass das Dorf am Ende des Jahrhunderts zu den Orten des Hunsrücks gehörte, in denen die meisten 414 415 416 417

Vgl. Ministre de l’Etat De Thiennes, 8.5.1816, in: ANL C386. Vgl. Lehrmann, S. 125. Vgl. Goedert, S. 353 – 355. Vgl. Flies, S. 1600. Vgl. Flies, S. 1600 – 1632, 1667. Vgl. Dondelinger/Muller, Teil II, S. 24 sowie Teil III, S. 28. Vgl. Lehrmann, S. 54. Vgl. Recensement de la population d’Ettelbruck, 1864, in: ANL Rpop 505 f. 418 Zum Zusammenhang zwischen den Transportmöglichkeiten und dem Umfang des Hausier­handels vgl. Prinz, S. 37, 102.

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Laden­geschäfte zu finden waren, könnten als Anzeichen für einen wirtschaft­ lichen Aufstieg des jüdischen Bevölkerungsanteils interpretiert werden.419 In dem abgelegenen Dorf beeinflusste der Strukturwandel im Handel die Einkommen der jüdischen Bevölkerung zwar anscheinend, allerdings geschah dies erst zu einem vergleichsweise späten Zeitpunkt, wie die Entwicklung der von den Juden gezahlten Klassensteuer nahelegt: Die Durchschnittseinkommen der jüdischen Dorfbewohner stiegen bis 1835 an, aber in der Folgezeit sanken sie bis Mitte der Fünfzigerjahre kontinuierlich ab und begannen erst danach – als immer mehr jüdische Händler Geschäfte im Ort eröffneten – wieder langsam anzusteigen. Auf die jüdische Bevölkerung Gemündens traf also nicht die von Barkai für die deutschen Juden getroffene Annahme zu, dass sie 1860 über ein wesentlich höheres Durchschnittseinkommen als noch 30 Jahre zuvor verfügten. Auch die These, dass die Auswanderung zu einem sozialen Aufstieg der Zurückgebliebenen beitrug, findet in der sozialen Lage der Juden in dem Hunsrückort keine Bestätigung: Zur Zeit der stärksten jüdischen Auswanderung – in den Vierzigersowie den frühen Fünfzigerjahren – sanken die Einkommen der in Gemünden bleibenden Juden sogar.420 Zur Einordnung der Höhe der bezahlten Klassensteuer muss darauf hinge­wiesen werden, dass aus der Sicht der preußischen Behörden zu Beginn der Vierzigerjahre jeder, der mindestens acht Taler Klassensteuer zu entrichten hatte, als reich, wer vier bis sechs Taler Klassensteuer bezahlte, als wohlhabend, wer zwei oder drei Taler Klassensteuer erbrachte, als schlecht gestellt, und wer weniger entrichtete, als arm galt.421 Demnach gehörten sogar 1835, als die Durchschnittseinkommen der jüdischen Bevölkerung Gemündens ein vorläufiges Maximum erreichten, 47 % Prozent der Unterschicht an. Im Jahr 1850 steigerte sich der Anteil der schlechter gestellten und armen Juden sogar auf 75 %.

419 Vgl. Regge, S. 155. 420 Die Angaben über die Steuerleistung wurden den Nachweisungen der jüdischen Steuer­ pflichtigen behufs der Erhebung der Kultuskosten entnommen: LHAK Best. 655,12 Nr. 158, S. 19 f., 37, 65 f., 109 f., 127 f., 147 – 149, 167, 181. Zur allgemeinen Entwicklung vgl. Barkai, Minderheit, S. 75. Der Grund des Einkommenszuwachses Anfang der Dreißiger­jahre ließ sich aufgrund der Quellenlage nicht ermitteln. 421 Vgl. LHAK Best. 655,12 Nr. 158, S. 109 f. in Verbindung mit LHAK Best. 655,12 Nr. 91, S. 70.

226

Bedingungen des Lebens auf dem Land

5

3

Taler

3,88

4

2,59

2,65

1809

1833

3,42

3,03

2,97

2,82

3,00

1851

1851

1871

1895

2 1 0 1840

1846

Abbildung 3: Durchschnitt der von den jüdischen Zensiten in Gemünden zu entrichtenden Klassen­­steuer

In Illingen gestaltete sich die ökonomische Lage der jüdischen Einwohner bis zur Jahrhundertmitte ebenfalls schwierig. So bemerkte der Bürgermeister von Illingen im Jahr 1824 hinsichtlich der Juden, „daß die Armuth durch den Mangel an Verdienst […] sich täglich mehr ausdehnt“,422 und 1829 sprach er zum wiederholten Mal von der hohen Zahl der unbemittelten Juden. Eine Besserung der finanziellen Verhältnisse setzte ähnlich wie in Gemünden in den Dreißigerjahren ein, sodass sich die von den Juden zu zahlende Klassensteuer zwischen 1834 und 1839 nahezu verdoppelte. Konkret bedeutete dies, dass die jüdische Unterschicht, welcher zu dem erstgenannten Zeitpunkt noch alle Juden des Ortes angehörten, sich auf knapp 70 % verringerte. Den Aufstieg in die Klasse der Wohlhabenden schaffte u. a. Lazarus Levy, der 1810 noch als Altwaren- und in den Zwanzigern als Viehhändler tätig war, bevor er Krämer wurde und in den Fünfzigern seinen Laden an Abraham Levy abgab.423 Die Lage der Juden in Illingen kann durchaus als repräsentativ für den gesamten Regierungsbezirk Trier gesehen werden, in dem besonders die in Dörfern beheimateten Juden zu den Mittellosen gehörten, wie die dortige Verwaltung 1842 einräumte: „Die hiesige jüdische Bevölkerung, namentlich in den kleinern Städten und auf dem platten Lande ist durchschnittlich[,] wenn gleich sich bei Einem oder dem Andern sogar Reichthum oder Wohlhabenheit findet, […] arm“.424 Bis Anfang der Fünfzigerjahre verschlechterte sich die finanzielle Lage der Mehrheit der in Illingen lebenden Juden wieder etwas, sodass 1851 mit 34 Personen wieder 83 % der Unterschicht angehörten. Zu bemerken ist in diesem 422 LAS Dep. Illingen Nr. 1545, S. 15. Diese Passage wurde allerdings vom Bürgermeister im Entwurf wieder gestrichen. 423 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1545, S. 20 f., 85. Vgl. Nauhauser, S. 51, 193. 424 Vgl. Jehle, Juden, Bd. 2, S. 526.

Handel und sozialer Aufstieg

227

Zusammenhang, dass die Zahl der als wohlhabend sowie als reich geltenden Juden von 1839 bis 1851 konstant bei sieben lag. Dies änderte sich auch 1855 nicht, als sich die im Durchschnitt von den jüdischen Haushalten gezahlte Klassensteuer erhöhte. Der Grund für Letzteres fand seine Begründung darin, dass die Zahl der jüdischen Haushalte, welche nur einen halben Taler Klassensteuer entrichteten, stark zurückging.425 Gemessen an der Klassensteuer blieb die ökonomische Lage der jüdischen Bevölkerung Illingens aber noch schlechter als die der Gemündener Juden. Es lässt sich aus den gemachten Betrachtungen der Schluss ziehen, dass das Anwachsen der jüdischen Durchschnittseinkommen in den deutschen Ländern im Zeitraum zwischen 1830 und 1860 fast ausschließlich durch den wirtschaftlichen Aufstieg der Juden in den Städten verursacht wurde, während die ökonomische Lage in den Landgemeinden eher prekär blieb. Taler

3 2 1 0 1834

1839

1842

1845

1847

1849

1851

1855

Abbildung 4: Durchschnitt der von den jüdischen Zensiten in Illingen zu entrichtenden Klassen­ steuer

Eine deutliche Verbesserung der wirtschaftlichen Lage der in Illingen ansässigen Juden ist erst Ende der Fünfzigerjahre festzustellen: Während nur noch ein gutes Viertel von ihnen vom amtierenden Bürgermeister als arm eingestuft wurde, verfügte etwa die Hälfte der jüdischen Haushaltsvorstände über Hausbesitz.426 Aufgrund der Währungsumstellung nach der Gründung des Deutschen Reichs sowie verschie­dener Steuerreformen können die Steuerlisten Illingens vom Ende des 19. Jahrhunderts zwar nicht direkt mit denen aus der Zeit zuvor verglichen werden, aber sie können in Bezug zu denen anderer jüdischer Gemeinden gesetzt werden. Im Jahr 1892 zahlten die jüdischen Bewohner Illingens im Schnitt 48 Mark Einkommenssteuer und bis 1901 erhöhte sich dieser Betrag nur um eine Mark. Damit gestaltete sich die Einkommenslage der dortigen Juden ähnlich wie in anderen ländlichen Gemeinden.

425 Vgl. für diesen Abschnitt sowie die in dem Diagramm gemachten Angaben LAS Dep. Illingen Nr. 1686, S. 17 f., 24, 36, 45 f., 54 f., 63 f., 76 f., 93 – 96. 426 Vgl. Nauhauser, S. 192 f.

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Im Vergleich zu städtischen Gemeinden – beispielsweise Aachen, wo der niedrigste jüdische Durchschnittsbeitrag in den Neunzigern bei etwa 150 Mark lag – gestaltete sich die Lage der auf dem Land gebliebenen Juden allerdings bescheiden. In diesem Zusammen­hang ist auch darauf hinzuweisen, dass die Einkommen innerhalb der jüdischen Gemeinde Illingens äußerst ungleichmäßig verteilt waren: Während 1892 die beiden reichsten Personen – die Kaufleute Moses Lichtenstein und Salomon Levy – jeweils 420 Mark Einkommenssteuer zahlten, wurde von 26 Juden nicht einmal eine Leistung von zehn Mark eingezogen.427 Im Vergleich zu früheren Jahrzehnten stuften die Juden ihre ökonomische Lage allerdings als relativ gut ein, wie eine Aussage des jüdischen Vorstehers Levy belegt, der 1893 hinsichtlich der jüdischen Gemeinde bemerkte, dass „die Vermögensverhältnisse bei einem Theile keine ungünstigen sind, sondern beim größeren Theil befriedigte“.428 Ähnlich wie in der Rheinprovinz gestaltete sich die finanzielle Lage der Juden in Lothringen zum Beginn des Untersuchungszeitraums ebenfalls schwierig. Die meisten Juden lebten in ärmlichen Verhältnissen und vor allem die Metzer Juden litten unter der Emigration der alten Militärs, welche sie als Gläubiger unbefriedigt zurückließen. Darüber hinaus mussten sich viele der lothringischen Juden an der Tilgung der aus der Zeit des Ancien Régime übernommenen Schulden der alten Metzer Judengemeinde beteiligen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts, im Jahr IX, stufte der Präfekt des Départements Moselle 90 % der Juden seines Bezirks als arm ein und 1808 berichtete er erneut, dass die meisten Juden auf dem Land lebten und arm seien. Im Département Vosges betrachtete der zuständige Präfekt die ansässigen Juden ebenfalls als arm.429 In Boulay verfügten im Jahr 1809 nur sieben der insgesamt 36 jüdischen Familien­ oberhäupter über Kapital, darunter auch der 80-jährige Jacob Cahen, der von seinen auf 6000 Francs geschätzten Ersparnissen lebte. Die ökonomische Spitze der jüdischen Gemeinde bildeten der Viehhändler Garcon Isaac und der Metzger Isaac Ach, welche jeweils ein Vermögen von 8000 Francs besaßen. Die anderen vier jüdischen Haushaltsvorstände, welche jeweils über ein Kapital von 2000 Francs verfügten, steckten dies in der Regel vollständig als Investition in ihre Geschäfte, wie z. B. der Tuchhändler Lazard Rheins. Der Hausierer Lion Abraham war im Gegensatz zu dem Letzteren gezwungen, Geld zu leihen, um überhaupt in der Lage zu sein, seinen Handel betreiben zu können. So wie er befand sich die Mehrheit 427 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1535, S. 43 – 46. Vgl. Nauhauser, S. 196 f. Vgl. Barkai, Minder­ heit, S. 56 f., 73 f., 92 f. 428 Nauhauser, S. 199. 429 Vgl. Préfet du département de la Moselle, 13.10.1808, in: ANF F19 Nr. 11009. Vgl. Meyer, présentation, S. 17. Vgl. Cahen, juifs lorrains, S. 108. Vgl. Neher-Bernheim, documents, Bd. 1, S. 321 und Bd. 2, S. 101 f. Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 103 f. Vgl. Szajkowski, autonomy, S.  679 – 695, 717 – 730, 762.

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der Boulayer Juden, die zu dem genannten Zeitpunkt meist von ihrer Arbeit als Tagelöhner oder den spärlichen Einnahmen aus ihrem Handel lebten, in gedrückten finanziellen Verhältnissen.430 In der ersten Jahrhunderthälfte änderte sich zunächst wenig an der prekären wirtschaftlichen Lage der jüdischen Bevölkerung in Lothringen, wovon u. a. die immer noch auftretenden herumziehenden Bettler Zeugnis ablegten. Im Jahr 1833 wies der „commissaire“ der jüdischen Gemeinde von Grosbliederstroff Lion ­Lambert in einem Brief an den Präfekten auf „notre pauvre situation“431 hin. Insgesamt ist festzustellen, dass auch in Lothringen die Juden auf dem Land im Vergleich zu ihren städtischen Glaubensbrüdern stärker von der sich noch auf die Mehrheit der Juden erstreckenden Armut betroffen waren.432 Unter den jüdischen Meistbesteuerten, welche in der ersten Jahrhunderthälfte fast ausschließlich die jüdische Notabilität stellten, fanden sich vergleichsweise wenige Landjuden. Im Verwaltungsbezirk des Konsistoriums von Nancy waren sie allerdings etwas stärker vertreten als in dem­ jenigen von Metz. So gehörten 1823 z. B. neben Lion und Simon Levy aus Donnelay auch Lion Spire aus Blâmont sowie Raphael Salomon Cerff aus Phalsbourg zu der 25 Personen umfassenden Gruppe.433 Während niemand aus Grosbliederstroff zu den jüdischen Meistbesteuerten im Zuständigkeitsbereich des Konsistoriums von Metz zählte, befanden sich immerhin zwei aus Boulay unter ihnen: Mitte der Zwanzigerjahre war es der Händler Sissel Rheims, der schon 1809 als Truppenlieferant einen bescheidenen Wohlstand erlangt hatte, und 1840 handelte es sich um seinen Sohn, den Weinhändler Jacob Rheims, der 1846 der wohlhabendste Jude in Boulay war.434 Zu den 35 Juden, welche die meisten staatlichen Abgaben im Département Moselle entrichteten, gehörte 1843 allerdings lediglich ein Landjude, nämlich der Gerichtsdiener Salomon May aus dem Örtchen Bouzonville; die anderen

430 Vgl. Recensement de la population juive de Boulay, 31.8.1809, in: ADM ED 100 3P1. 431 Lion Lambert an den Präfekten von Metz, 7.8.1833, in: ADM V156. 432 Vgl. Lang/Bernhard, S. 118. Vgl. Job, Meurthe-et-Moselle, S. 26. Vgl. für das Elsass Selig, Jean-Michel: La misère des colporteurs. Un moteur essentiel de l’émigration juive alsacienne au XIXe siècle, in: Archives Juives, Nr. 2, Jg. 32, 1999, S. 18 – 21. 433 Vgl. Liste des Notables de la circonscription de Nancy, 1823, in: AJMB MF509 reel 2 fol. 1985. 434 Vgl. Liste de 16 candidats présentée à S E. M. le ministre de l’Intérieur, pour la nomination de 8 notables manquant dans le collège de la circonscription de Metz, 22.4.1829, tableau des sorties periodiques qui auront lieu jusqu’en 1850 parmi les membres du Collège des notables israélites de la circonscription de Metz, 11.10.1842, in: AJMB MF509 reel 2 fol. 1566, 1569. Vgl. Recensement de la population juive de Boulay, 31.8.1809, in: ADM ED 100 3P1. Vgl. Liste des électeurs censitaires de la commune de Boulay, 5.1.1846, in: ADM 40M4.

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Höchstbesteuerten lebten in Metz, Sarreguemines und Thionville.435 Im gleichen Jahr berichtete u. a. auch der Friedensrichter von Baccarat im Arrondissement von Lunéville, dass die in seinem Kanton lebenden Juden „sont en général dans une position de fortune fort modeste, qu’il en est même d’assez malheureux“.436 Wie in der Rheinprovinz ging auch in Lothringen die Verringerung der Zahl der Hausierer und Altwarenhändler unter den Juden nicht automatisch mit einem wirtschaftlichen Aufstieg der jüdischen Minderheit einher.437 Allerdings ließen sich Anzeichen für den Letzteren bereits Ende der Vierzigerjahre in dem französischen Gebiet finden. So fand sich in Boulay mit einer Zahl von 21 ungefähr ein Drittel der jüdischen Haushaltsvorstände auf der Zensuswahlliste des Ortes (einschließlich der Ersatzwähler) wieder. In Grosbliederstroff stellten die jüdischen Familienväter zwar sogar 25 Zensuswähler, was ungefähr der Hälfte der vorhandenen jüdischen Haushaltsvorstände entsprach, allerdings war die Steuerleistung dieser Juden geringer als diejenige ihrer Boulayer Glaubensgenossen. Während die zehn wohlhabendsten Juden aus dem letzteren Ort zusammen knapp 942 Francs Abgaben entrichteten, waren es in dem lothringischen Grenzort nur 660 Francs. Im Durchschnitt zahlten die jüdischen Zensuswähler in Boulay 63 Francs und in Grosbliederstroff 46 Francs.438 Diese ungleiche Verteilung spiegelte wohl die zunehmende Bedeutung Boulays als Zentrum für die nähere Umgebung. Wie verhältnismäßig niedrig die geleisteten Beträge der beiden Landgemeinden waren, wird ersichtlich, wenn man sie mit der Steuerleistung der Angehörigen der früheren jüdischen Gemeinschaft von Metz vergleicht: Diese entrichteten 1839 durchschnittlich immerhin 87 Francs Steuern an den Staat, wobei anzumerken ist, dass die Reicheren häufig nicht mehr in Lothringen lebten, sondern in Paris. Dass nicht alle Personen, die auf den dörflichen Zensuswahllisten erschienen, als wohlhabend anzusehen waren, wird bei einem Abgleich mit der erwähnten Liste der Metzer Juden ersichtlich: ­Die­­­je­nigen Juden, welche weniger als 26 Francs Steuerleistung erbrachten, wurden in der L ­ etzteren als arm bzw. nicht wohlhabend eingestuft.439 In Grosbliederstroff

435 Vgl. Neher-Bernheim, documents, Bd. 2, S. 169 – 171, 194 – 196. 436 Sous-préfet de Lunéville, 12.7.1843, in: ADMM V300. 437 Vgl. Cohen, promotion, Bd. 2, S. 345, 378. In diesem Zusammenhang ist auch zu bedenken, dass auf dem Land zunächst nur eine Minderheit der jüdischen Händler ihren Geschäften in offenen Läden nachging. 438 Vgl. Liste des électeurs censitaires de la commune de Grosbliederstroff, 8.1.1846, in: ADM 41M6. Vgl. Liste des électeurs censitaires de la commune de Boulay, 5.1.1846, in: ADM 40M4. Beide Listen wurden mit Verzeichnissen der jüdischen Einwohner abgeglichen, da die Religionszugehörigkeit nicht angegeben ist. 439 Vgl. Szajkowski, Zosa: Poverty and Social Welfare Among French Jews, in: ders., jews and the French revolutions, S. 1137 f.

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gehörten immerhin fünf der jüdischen Zensuswähler zu dieser Gruppe, woraus gefolgert werden kann, dass insgesamt 60 % der jüdischen Haushalte in eher ärmlichen Verhältnissen lebten und 40 % als leidlich wohlhabend oder besser gestellt gelten konnten, wie z. B. der Pferdehändler Garcon Borg, der mit 90 Francs der Jude mit dem höchsten Steuerbetrag war. In Boulay zahlte der am niedrigsten eingestufte jüdische Zensuswähler zwar 27 Francs staatliche Abgaben, da aber zwei Drittel der jüdischen Haushaltsvorstände nicht in der Liste aufgeführt wurden, ist klar, dass die Letzteren nur über ein äußerst bescheidenes Einkommen verfügten. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass in der ersten Jahrhunderthälfte nur sehr wenige Juden in den Städten Lothringens dem Großbürgertum angehörten – in Metz die Angehörigen der Familien Halphen und Goudchaux sowie die Berrs in Nancy. Neben dieser Klasse begann ein jüdisches Kleinbürgertum zu entstehen, dem auch Landjuden angehörten. Die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung war allerdings als arm zu betrachten, wobei zu betonen ist, dass auch in den Städten zunächst noch eine bedeutende Unterschicht bestehen blieb. Letztere reduzierte sich allerdings schon zu Beginn der Vierzigerjahre deutlich, z. B. in Metz, während auf dem Land die Masse der Juden weiterhin in äußerst bescheidenen Verhältnissen lebte.440 Zur Jahrhundertmitte mehrten sich die Anzeichen für eine Besserung der ökonomischen Lage der lothringischen Juden, u. a. wuchsen teilweise ihre eher bescheidenen Vermögen und des Weiteren wurden immer weniger jüdische Kinder, welche die Primärschulen besuchten, als arm eingestuft. In Boulay zählte 1851 nur noch etwa ein Viertel der jüdischen Schulkinder zu dieser Gruppe.441 Insofern ist davon auszugehen, dass sich in den französischen Dörfern die finanzielle Lage der Juden ein wenig früher als in den beiden preußischen Dörfern verbesserte, wobei in Boulay diese Tendenz stärker als in Grosbliederstroff ausgeprägt war. Im weiteren Verlauf des Zweiten Empires setzte sich die Aufwärtstendenz aufgrund der allgemeinen ökonomischen Entwicklungen fort, sodass der größte Teil der jüdischen Bevölkerung Frankreichs – ohne als reich gelten zu können – einen bescheidenen Wohlstand erreichte und am Vorabend des Deutsch-Französischen Krieges nur noch eine Minderheit als arm anzusehen war.442 Allerdings ist zu betonen, dass 440 Vgl. Neher-Bernheim, documents, Bd. 2, S. 208. Vgl. Girard, S. 130 f. Vgl. Szajkowski, poverty, S. 1158. Als zeitgenössische Betrachtung vgl. Levy, Gerson: Du paupérisme chez les juifs de ses causes et des moyens d’y remédier, Poissy 1854. 441 Vgl. Szajkowski, notes, S. 549. Vgl. Cahen, juifs lorrains, S. 108. Die sinkende Zahl der als arm eingestuften Kinder kann lediglich eine Tendenz anzeigen. Vgl. Neher-Bernheim, documents, Bd. 2, S. 208. Vgl. Etat des écoles israélites dans la circonscription consistoriale de Metz, 28.7.1851, in: CAHJP zf/469. 442 Vgl. Girard, S. 130 f. Vgl. Mendel, S. 34.

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der ökonomische Aufstieg in Lothringen und dem Elsass langsamer als im übrigen Frankreich verlief. Dies hing auch damit zusammen, dass diese Entwicklung auf dem Land schwächer ausgeprägt war als in den Städten.443 Noch 1868 betonte der Vorstand der jüdischen Gemeinde von Grosbliederstroff: „Un grand nombre de membres sont pauvres, ou se trouvent dans un position très gênée.“444 Dass die städtische jüdische Bevölkerung wohlhabender war als ihre Glaubensgenossen im ländlichen Bereich, zeigte sich nach der Annexion, als sich die finanzielle Lage der jüdischen Einwohner verschlechterte. Diese Entwicklung war nicht auf eine Ver­ armung der Juden zurückzuführen, sondern darauf, dass die hauptsächlich in ­Städten lebende jüdische Oberschicht der Region größtenteils für Frankreich optierte.445 3.3.3.2 Jüdische und christliche Sozialstrukturen im Vergleich

Soweit Angaben zur Einkommensverteilung innerhalb der Dörfer erhalten sind, legen sie in verschiedener Weise Zeugnis von den Unterschieden zwischen der jeweiligen jüdischen und christlichen Bevölkerung ab. In Gemünden zahlten die jüdischen Dorfbewohner nach der Klassensteuerrolle von 1840 etwa 24 % des Klassensteueraufkommens von Gemünden, obwohl sie nur 17 % der Gesamtbevölkerung stellten. Daraus kann gefolgert werden, dass die jüdischen Einwohner im Schnitt etwas wohlhabender waren als die christlichen Einwohner.446 Eine Wählerliste der Landgemeinde von 1862 belegt, dass sich dieser Zustand in den nächsten beiden Jahrzehnten nicht wesentlich veränderte, er sich allenfalls leicht verstärkte. Während die Hälfte der 30 jüdischen Haushalte mindestens zwei Taler Klassensteuer entrichtete, tat dies weniger als ein Drittel der 172 christlichen, d. h., dass der Anteil der armen Juden 50 % gegenüber etwa 72 % bei den Christen betrug. Zur Unterschicht, der neben den armen auch die schlechter gestellten Haushalte angehörten, zählten allerdings immer noch 70 % der jüdischen Haushalte – gegenüber 85 % ihrer christlichen Pendants. Die sich aus den Wohlhabenden zusammensetzende Mittelschicht war bei der jüdischen Bevölkerung stärker ausgeprägt als bei den Christen. Im Gegenzug fanden sich

443 Vgl. Caron, Germany S. 12 – 26. Vgl. Hyman, emancipation, S. 35 – 41. 444 Vorstand der jüdischen Gemeinde von Grosbliederstroff an den Präfekten von Metz, 3.7.1868, in: ADM 1T23. 445 Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 137. 446 Bemerkenswert ist, dass die Einkommensverteilung innerhalb der konfessionell gemischten christlichen Bevölkerung des Dorfes ebenfalls stark voneinander abwich: Während die Protestanten mit 60 % Klassensteuer etwas mehr entrichteten, als es ihrem Bevölkerungsanteil von 57 % entsprochen hätte, leisteten die Katholiken, welche 26 % der Dorfbevölkerung stellten, nur 16 % der gesamten Klassensteuer.

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unter den 17 als reich eingestuften Einwohnern des Dorfes allerdings nur zwei Juden. Insgesamt erbrachten die jüdischen Einwohner Gemündens 21 % des Steuerbetrags, den die Wahlberechtigten der Landgemeinde zahlten, während ihr Bevölkerungsanteil lediglich 14 % betrug.447 Die Lage in Illingen unterschied sich in den Vierzigerjahre noch von der des anderen preußischen Untersuchungsdorfes, denn 1845 stellten die dortigen Juden im Vergleich zu den christlichen Einwohnern die ärmere Bevölkerungsgruppe dar. Die Juden Illingens stellten zu diesem Zeitpunkt zwar gut 20 % der Dorfbewohner, aber sie zahlten nur 12,4 % der Steuern. Dieses Verhältnis kehrte sich allerdings im Verlauf der zweiten Jahrhunderthälfte aufgrund des sozialen Aufstiegs der Handeltreibenden allmählich um: Im Jahr 1870 entsprach der Steueranteil von 12 %, den die jüdischen Einwohner entrichteten, ihrem Bevölkerungsanteil in der Landgemeinde. 1888 bildeten die Juden zwar nur noch etwa 9 % der Einwohnerschaft Illingens, aber sie zahlten 12,5 % der im Dorf eingetriebenen Staatssteuern.448 In den beiden preußischen Dörfern wie auch in der Rheinprovinz insgesamt hing der soziale Aufstieg der jüdischen Bevölkerung mit der wachsenden wirtschaftlichen Bedeutung des Handels zusammen, von der die christliche Bevölkerung, welche noch mehrheitlich in der Landwirtschaft und dem Handwerk sowie zum Ende des Jahrhunderts immer mehr in der Industrie als Arbeiter tätig war, weniger profitierte. Dass die Unterschiede zwischen den jüdischen und christlichen Einwohnern in Illingen geringer als in Gemünden waren, erklärt sich daraus, dass in dem Ersteren in der zweiten Jahrhunderthälfte im Verhältnis mehr christliche Einwohner im Handel aktiv waren als in dem Hunsrückdorf.449 In Grosbliederstroff glich die Lage zur Jahrhundertmitte derjenigen Gemündens hinsichtlich der Verteilung der Einkommen der jüdischen und der christlichen Bevölkerung. Während etwa die Hälfte der jüdischen Haushaltsvorstände 1846 sich unter den 186 Zensuswählern des Dorfes (einschließlich der Ersatzwähler) befand, welche den Gemeinderat wählten, waren es von den christlichen lediglich um die 40 %.450 Während sich kein Jude unter den 15 Dorfbewohnern, welche mehr als 100

447 Vgl. Abteilungsliste der Gemeinde Gemünden vom 15. August 1862, in: LHAK Best. 655,12 Nr. 137. Vgl. Volkszählungsliste von Gemünden, 1864, in: LHAK Best. 655,12 Nr. 46. Während „nur“ 79 % der Protestanten der Unterschicht angehörten, waren es 91 % der Katholiken. Die Oberschicht bestand zu 70 % aus Protestanten. 448 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1546, S. 49, 129. Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 111, S. 203. Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1548, S. 1 – 4. 449 Vgl. Boch, S. 18 f. 450 Der Zensus bei der Wahl zu den Gemeinderäten war wesentlich niedriger als derjenige, der bei den Kammerwahlen zur Anwendung kam. Vgl. Gisselmann, Werner: „Die Manie

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Francs Steuern zahlten, befand, waren sie in der 35-köpfigen Gruppe derjenigen, welche 50 bis 100 Francs Steuern an die Kommune entrichteten, mit zwölf Personen überpräsentiert. Von den 70 Zensuswählern, die zwischen 25 und 50 Francs zahlten, stellten die Juden acht und darüber hinaus fünf der restlichen 66, die zwischen 13 und 25 Francs Abgaben entrichteten. Innerhalb des Dorfes gehörten die Juden also nicht zum Kreis der reichsten Personen, aber dafür gehörten sie in höherem Maß als die christlichen Einwohner der Mittelschicht des Ortes an. Während bei den Juden die Zahl der finanziell schlecht gestellten Haushalte etwa 60 % betrug, waren es bei den Christen sogar 75 %.451 Die finanzielle Lage der Bevölkerung von Boulay gestaltete sich teilweise etwas anders als diejenige des französischen Grenzdorfes. Hier stellte sowohl ein Drittel der jüdischen als auch derselbe Anteil der christlichen Haushalte einen Zensus­wähler. Darüber hinaus war die Gruppe der Personen, welche über 100 Francs Steuern entrichteten, mit 55 Personen wesentlich größer als im Fall von Grosbliederstroff. Zudem gehörten mit dem bereits erwähnten Jacob Rheims sowie Lion Cerf auch zwei jüdische Einwohner dieser Kategorie an. Zu bemerken ist, dass der Erstere mit 270 Francs Abgaben den achten Rang unter den Steuerzahlern des Ortes einnahm, während der Letztere mit 106 Francs nur die 49. Stelle besetzte. Unter den 80 Haushaltsvorständen, welche 50 bis 100 Francs entrichteten, befanden sich acht Juden sowie unter den ebenfalls 80, welche zwischen 27 und 50 Francs leisteten, 11 jüdische Einwohner. Dass die jüdischen Einwohner im oberen Teil der Zensuswahlliste unterrepräsentiert und im unteren Teil überrepräsentiert waren, deutet darauf hin, dass die Einkommensschere unter den Juden nicht so weit auseinanderklaffte wie bei den christlichen Einwohnern. Darüber hinaus lässt dies den Schluss zu, dass die jüdischen Einwohner zu einem größeren Teil als ihre christlichen Nachbarn der Mittelschicht ihres Ortes angehörten. Dagegen war der Anteil der jüdischen sowie der christlichen Haushalte an den niederen Einkommensgruppen mit jeweils zwei Dritteln gleich hoch. Ein Blick auf die Berufe der oberen Gruppe der christlichen Zensuswähler Boulays zeigt, dass nicht nur sieben Ackerbau­treibende, die Inhaber erfolgreicher Betriebe – z. B. der Eisenwaren­fabrikant Theophil ­Somborn sowie einige Gerber und Brauer – und mehrere Angestellte der Verwaltung der Oberschicht des Ortes angehörten, sondern auch zehn im Handelssektor tätige Personen, z. B. der Eisenhändler Henri Hensienne oder der als „négociant“ bezeichnete Albert Louis, welcher aufgrund seines Einkommens an vierter Stelle im Ort lag. Die übrigen christlichen Händler waren mehrheitlich Kaufleute. In Boulay der Revolte“. Protest unter der französischen Julimonarchie (1830 – 1848) (Ancien Régime, Aufklärung und Revolution, Bd. 25), München 1993, S. 445. 451 Vgl. Liste des électeurs censitaires de la commune de Grosbliederstroff, 8.1.1846, in: ADM 41M6. Vgl. zur sozialen Einordnung der Haushalte Szajkowski, poverty, S. 1137 f.

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profitierte demnach zur Jahrhundertmitte schon ein Teil der christlichen Einwohner vom Aufschwung des Handels – angesichts ihrer Steuerleistung sogar in höherem Maße als die jüdischen Einwohner. Aus diesem Grund waren zur Jahrhundertmitte in diesem Ort im Gegensatz zu Grosbliederstroff und Gemünden, wo zu diesem Zeitpunkt kaum christliche Dorfbewohner im Handel tätig waren, die Einkommens­unterschiede zwischen Juden und Christen geringer ausgeprägt. In Luxemburg verbesserte sich die Lage der jüdischen Einwohner anscheinend in kürzerer Zeit als in den beiden großen Nachbarstaaten. Bereits 1818 gingen in der Hauptstadt 11 der 26 jüdischen Haushaltsvorstände Betätigungen nach, die in der Regel mit einer gewissen Wohlhabenheit verbunden waren, z. B. mehrere Kaufleute sowie Pferdehändler. Die zu dieser Zeit auf dem Land lebenden Juden – in erster Linie Hausierer, Viehhändler und Altwarenhändler, wie z. B. Joseph Levy in Ettelbrück – dürften dagegen in bescheideneren Verhältnissen gelebt haben.452 Dass der Umzug in eine Stadt nicht unbedingt einen sozialen Aufstieg nach sich zog, erfuhr Salomon Lion, der 1825 von Ettelbrück nach Luxemburg zog und 1835 finanziell zum unteren Viertel der dort ansässigen Juden zählte. Isaac Cahen, der später nach Ettelbrück zog, gehörte dagegen dem oberen Drittel an.453 Daran, dass die wohlhabendsten Juden in der Hauptstadt lebten, änderte sich bis zur Jahrhundertmitte nichts, wie eine zur Einziehung der Kultusbeiträge aufgestellte Liste von 1850 belegt 454: Die zehn Juden, welche der höchsten Einkommensklasse angehörten, wohnten bis auf Guetschlik G ­ odchaux, dessen offizieller Wohnsitz bei der Tuchfabrik in Schleifmuhl lag, direkt in Luxemburg-Stadt. Dass sich die finanzielle Lage von Teilen der mittlerweile angewachsenen jüdischen Landbevölkerung des Großherzogtums teilweise verbessert hatte, ist daran abzulesen, dass in den folgenden Einkommensklassen auch einige Landjuden vertreten waren, z. B. Michel Cahen aus dem noch ländlich geprägten Esch-sur-Alzette sowie G. Muller aus dem in der Nähe dieses Ortes gelegenen Dudelange in der 3. Klasse. Allerdings ist zu erwähnen, dass die Mittelschicht relativ dünn war: Der 3., 5. und 6. Klasse gehörten lediglich acht Personen an, während die 2., 4. und 7. Klasse sogar unbesetzt blieben. Die meisten Landjuden zählten zur 9. und 10. Klasse, u. a. der Ettelbrücker Jude Leon Cahen und seine Glaubensbrüder aus Bettborn, Strassen, Frisange, Everlange und Soleuvre. Insgesamt gehörten zwar mehr städtische als ländliche Juden den aufgeführten unteren Klassen an, allerdings ist zu berücksichtigen, dass die Liste nicht alle jüdischen Haushalte in Luxemburg erfasste, sondern nur die 452 Vgl. Liste des familles juives établies dans l’arrondissement de Luxembourg, 14.3.1818 und Etat nominatif des Juifs dans l’arrondissement de Diekirch, 16.2.1818, in: ANL C386. 453 Vgl. Rôle de répartition, 5.7.1835, in: ANL C654. 454 Vgl. Etat des répartitions faites sur les Israélites de la communauté israélite du GrandDuché de Luxembourg, 11.8.1850. in: ANL G128.

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Beitragspflichtigen, sodass davon auszugehen ist, dass die Angehörigen der unteren Klassen nicht unbedingt als arm anzu­sehen waren. In diesem Zusammenhang ist besonders auf die Familie von Isaac Cahen in Ettelbrück hinzuweisen: Er selbst führte ein bedeutendes Geschäft in Ettelbrück und seine beiden ältesten Söhne – der den Ort verlassende Ingenieur Michel und der im Dorf bleibende Geschäftsmann Joseph – beteiligten sich mit Investitionen von 75.000 bzw. 12.500 Francs zur Jahreswende 1881/82 an der Errichtung der „Société anonyme“ der Tuch- und Tricotfabrik Pulvermuhl, die von der Familie Godchaux geleitet wurde.455 Michel Cahen beteiligte sich darüber hinaus mit weiterem Kapital an der Errichtung der „Société anonyme de la brasserie de Diekirch“ im Jahr 1890.456 Dass in der 2. Jahrhunderthälfte die jüdischen Einwohner Ettelbrücks finanziell vom Aufstieg des Ortes zum Zentrum der Umgebung profitierten, lässt sich u. a. an ihrem steigenden Besitz und den für diesen entrichteten Steuern ablesen: 1867 zahlten nur sehr wenige Juden in Ettelbrück eine Mobiliarsteuer von mindestens zehn Francs, u. a. der Mehlhändler Gaspard Israel sowie Isaac Cahen. Während der Letztere mit 68 Francs einen der höchsten Beiträge im Dorf entrichtete, bewegten sich die anderen aufgeführten jüdischen Einwohner im unteren Bereich der 98 Personen umfassenden Aufstellung.457 Bis 1887 steigerte sich die Zahl der Juden bzw. der jüdischen Betriebe, welche diese Steuer in der genannten Höhe entrichteten auf 16. Während sie zu diesem Zeitpunkt nur ungefähr 3 % der Ortsbevölkerung stellten, lag ihr Anteil an den Steuerpflichtigen in dem genannten Bereich bei etwa 9 %. Die „Société des draperies luxembourgeoises“, d. h. der Betrieb der Familie Godchaux, entrichtete mit 262,50 Francs den dritthöchsten Betrag an Mobiliarsteuer innerhalb des Ortes; lediglich der Tabakfabrikant Christophe Fixmer und der Notar Emile S­ alentiny zahlten noch etwas mehr. An vierter Stelle befand sich Joseph Cahen, der bereits erwähnte Sohn von Isaac Cahen, der ein Geschäft für Manufakturwaren führte. Im Zusammenhang mit den ausgewerteten Mobiliarsteuerlisten ist noch zu erwähnen, dass sich nicht nur die Zahl der aufgeführten jüdischen Personen bis 1887 erhöhte, sondern auch diejenige der christlichen Einwohner. Von der wachsenden Bedeutung des Handels profitierten auch Letztere, die genau in diesem Zeitraum verstärkt im Handel tätig wurden. Dass das Anwachsen der jüdischen Einwohner in der Steuerliste von 1887 stärker ausgeprägt war, hing u. a. auch mit dem zwischenzeitlichen Zuzug mehrerer jüdischer Pferdehändler, wie z. B. Aaron Hertz oder David Cahn, zusammen.458 455 456 457 458

Vgl. Mémorial, Nr. 9, 1882, S. 89 – 92. Vgl. Mémorial, Nr. 23, 1890, S. 217 – 220 Vgl. Mémorial, Annexe au Nr. 38, 10.8.1867, S. 24 f. Vgl. Mémorial, Annexe au Nr. 17, 31.3.1888, S. 68 – 70. Vgl. Mémorial, Nr. 64, 9.11.1882, S. 670. Vgl. Flies, S. 1613, 1667. Nach dem Tod Joseph Cahens übernahm dessen Sohn

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Die Verbesserung der finanziellen Lage der Ettelbrücker Juden in der zweiten Jahrhunderthälfte spiegelt sich auch darin, dass Verweise auf die Armut der jüdischen Gemeinde oder ihrer Mitglieder immer seltener wurden. 1868 sprach der Luxemburger Großrabbiner Sopher noch davon, dass die Gemeinde nicht nur klein, sondern auch „peu fortunée“459 sei. Vertreter der jüdischen Gemeinde Ettelbrücks selbst erwähnten zum letzten Mal 1881, dass es ärmere Juden im Ort und der Umgebung gebe, und entschlossen sich u. a. in deren Interesse zur Anlegung eines eigenen Friedhofs, „um den minder Bemittelten die allzu großen Kosten einer nach Luxemburg erfolgenden Leichenüberführung zu ersparen“.460 Dass sich in den nahe Ettelbrück gelegenen Dörfern die finanzielle Situation der dort lebenden Juden verbesserte, belegt das Beispiel von Medernach, wo es die Kinder der um die Jahrhundertmitte in den Ort ziehenden Juden zu einem bescheidenen Wohlstand brachten.461 Die Juden Luxemburgs befanden sich zur Jahrhundertwende insgesamt in einer etwas besseren ökonomischen Lage als ihre christlichen Mitbürger, wie die Berufszählung von 1907 andeutet. Im Bereich Handel und Verkehr war der Anteil der jüdischen Gehilfen und ungelernten Arbeiter im Vergleich zu den Selbstständigen mit 46 % deutlich geringer als unter den Christen, bei denen es 59 % waren. Noch ausgeprägter war diese Tendenz im Bereich der Industrie, in welchem drei Viertel der christlichen Bevölkerung zur Gruppe der Arbeiter, Gehilfen und Lehrlinge zählten, während es im jüdischen Bevölkerungsteil nur die Hälfte der dort Tätigen war. Während die Gruppe der Selbstständigen eine heterogene Gruppe darstellte – der Krämer gehörte ihr genauso wie der Fabrikchef an – ist davon auszugehen, dass die Ungelernten in der Regel über ein niedriges Einkommen verfügten. Daher ist anzunehmen, dass die jüdische Bevölkerung insgesamt etwas wohlhabender als die christliche Bevölkerung war.462

­ rthur den Laden seines Vaters. Vgl. Mémorial, Nr. 29, 17.6.1898, S. 342. Vgl. ­Dondelinger/ A Muller, Teil III, S. 30, 32. 459 Grand-Rabbin M. Sopher au ministre d’Etat, 29.7.1868, in: ANL H1024,100. 460 Vorstand der jüdischen Gemeinde von Ettelbrück an Staatsminister F. de Blochhausen, 26.8.1881, in: ANL H78. 461 Vgl. Schoentgen, S. 321 – 323. 462 Vgl. ZSDJ, Nr. 2, Jg. 7, 1907, S. 28 f. Zur Erläuterung der verschiedenen Kategorien der sozialen Stellung vgl. Segall, Jakob: Die Ergebnisse der Berufszählung von 1907 für die Juden von Preußen, in: ZSDJ, Nr. 7, Jg. 6, 1910, S. 98 – 100.

4. Die Binnenstrukturen der jüdischen Gemeinden 4.1 Die Kultuseinrichtungen und ihre Unterhaltung 4.1.1 Die Synagogen

Die meisten jüdischen Gemeinden der Rheinprovinz verfügten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch nicht über eigene Synagogen, sondern waren auf die Nutzung von Beträumen in Privatgebäuden oder auf ein gemietetes Bethaus, welches auch anderen Zwecken diente, angewiesen. Erst nach der Jahrhundertmitte kam es wegen der – infolge des Bevölkerungswachstums – steigenden Mitgliederzahlen der jüdischen Gemeinden zu Neuerrichtungen von Synagogen. Das religiöse Gebot, nicht länger als eine Stunde zu Fuß zur Synagoge zu gehen, konnte aufgrund der zerstreuten Siedlung nicht von allen Gläubigen eingehalten werden.1 Im Regierungsbezirk Koblenz besaß noch zur Mitte des 19. Jahrhunderts nicht einmal ein Drittel der 91 jüdischen Gemeinden ein eigenes Kultusgebäude.2 Insofern verfügten die Juden Gemündens früh über eine eigene Synagoge, denn schon eine Verordnung aus dem Jahr 1758 erwähnt die „Judenschule“, also die Synagoge des Ortes.3 Das Gebäude fiel 1780 allerdings einer „sehr starken Feuersbrunst, die […] den halben Flecken einäscherte“4 zum Opfer. Die ansässigen Juden ließen daraufhin eine neue Synagoge errichten, die zunächst aus einem etwa 30 Personen fassenden Gebetsraum bestand und später durch einen Anbau vergrößert wurde, der als Schulraum sowie als Behausung des jüdischen Lehrers diente.5 Als das Haus 1857 durch einen Brand vernichtet wurde, sah sich die jüdische Gemeinde vor eine große finanzielle Herausforderung gestellt. Die Kosten für den ­Wiederaufbau des



1 Vgl. Kastner, Einführung, S. 29. Vgl. Zittartz-Weber, Religion, S. 139 – 149. 2 Vgl. Jehle, Juden, Bd. 4, S. 1443 – 1455, 1478. 3 Vgl. Schellack, Gustav: Die jüdische Schule in Gemünden/Hunsrück, in: Menora. Beiträge zur Jüdischen Geschichte und zur Gedenkstättenarbeit in Rheinland-Pfalz Nr. 12, 1996, S. 34. Vgl. Ortag, Peter: Jüdische Kultur und Geschichte. Ein Überblick, 3. aktualisierte Aufl., Bonn 1997, S. 42. Vgl. Heyen, Franz Josef: Aufklärung, Gleichstellung, Reform und Selbstbestimmung, in: Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz, Bd. 4, S. 45. 4 Bericht des jüdischen Lehrers Salomon, 11.2.1860, in: Meyer, Geschichte, S. 20. 5 Vgl. Bericht des jüdischen Lehrers Salomon, 11.2.1860, in: Meyer: Aus der Geschichte der Juden des Hunsrücks, Kirchberg 1935, S. 20. Vgl. LHAK Best. 441 Nr. 9811, S. 39. Vgl. Fischbach, Stefan/Westerhoff, Ingrid (Bearb.): „…und dies ist die Pforte des Himmels.“ Synagogen Rheinland-Pfalz – Saarland (Gedenkbuch der Synagogen in Deutschland, Bd. 2), Mainz 2005, S. 163.

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Kultusgebäudes und dessen Neueinrichtung beliefen sich auf 3550 Taler, von denen 1241 durch Versicherungszahlungen erbracht wurden. Weitere 400 Taler stammten aus Spenden, die u. a. die Brüder Isaac und Marx Löb im Rahmen einer vom Oberpräsidenten genehmigten Kollekte bei anderen jüdischen Gemeinden der Rheinprovinz einsammelten. Einen Zuschuss zum Bau der Synagoge, die erneut die Lehrerwohnung und den Schulsaal beherbergte, lehnte die Zivilgemeinde ab. Später erklärte sie sich allerdings bereit, für die Einrichtung des Schulsaals aufzukommen.6 Wegen der fehlenden Gleichberechtigung der jüdischen Glaubens­ gemeinschaft mit den beiden großen christlichen Konfessionen waren die jüdischen Einwohner Preußens gehalten, die Errichtung und Instandhaltung der Synagogen selbst zu finanzieren. Für die kleinen Landgemeinden, in denen sich diese Last in der Regel auf weniger Schultern verteilte als in den Städten, stellten Bauvorhaben eine erhebliche Herausforderung dar. Daher achteten die preußischen Behörden streng darauf, dass die ökonomischen Mittel ausreichend waren, bevor sie die Genehmigung zum Bau eines jüdischen Gebetshauses erteilten.7 Die Neuerrichtung der Synagoge von Illingen im 19. Jahrhundert stellt einen interessanten Fall dar, da er anscheinend weniger auf den Willen der jüdischen Gemeinde zurückging als auf sicherheitstechnische Bedenken der preußischen Verwaltung. Nachdem die Anzahl der ansässigen Juden in den Sechzigerjahren des 18. Jahrhunderts zu groß geworden war, um den Gottesdienst weiterhin im Privathaus von Aaron Abraham halten zu können, erbaute die Judenschaft Illingens ihre erste Synagoge.8 Zwar waren alle Angehörigen der Judengemeinde verpflichtet, sich an deren Instandhaltung zu beteiligen, aber aufgrund ihrer schlechten finanziellen Lage kamen die Mitglieder dieser Aufgabe nur unzu­ reichend nach. In den Dreißigerjahren des 19. Jahrhunderts verschlechterte sich der bauliche Zustand so sehr, dass der Oberrabbiner von Trier die jüdische Gemeinde Illingens 1842 zu einer Versammlung veranlasste, auf welcher diese die Neuerrichtung der Synagoge beschloss. In den folgenden Jahren unternahmen die Illinger Juden dann aber keine Schritte, um diese Entscheidung umzusetzen. Erst als Landrat Linz die Synagoge 1846 schließen ließ, erklärte sich die jüdische Gemeinde zur Durchführung des Neubaus bereit.9 Nach der daraufhin erteilten Erlaubnis des Landrats, das alte Gebäude am Sabbat sowie den jüdischen Feiertagen wieder nutzen zu dürfen, verschoben die jüdischen

6 Die Reisekosten für die Kollekte übernahmen die genannten Juden selbst. Vgl. LHAK Best. 441 Nr. 25285, S. 355 f., 381 – 390. Vgl. LHAK Best. 403 Nr. 7442, S. 201 f. Vgl. LHAK Best. 442 Nr. 8508, S. 263. Vgl. zur Finanzierungsfrage auch Kapitel 5.4.3. 7 Vgl. Zittartz-Weber, Religion, S. 138 – 143. 8 Vgl. Kirsch, Juden, S. 69 – 71. 9 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1541, S. 1 – 5. Vgl. Nauhauser, S. 293 – 296.

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Die Binnenstrukturen der jüdischen Gemeinden

Einwohner den Baubeginn allerdings weiter. Der Bürgermeister bemerkte in diesem Zusammenhang, „daß der Neubau einer Synagoge […] die Kräfte der hiesigen Israeliten übersteigt“.10 Obwohl das Bethaus zunehmend zu klein für die anwachsende Gemeinde wurde, brachte erst der Bürgermeister am Anfang des Jahres 1856 den endgültigen Anstoß zum Neubau, indem er dem Landrat berichtete, dass die „Synagoge sichtbar sehr baufällig ist, und unabsehbares Unglück entstehen würde[,] wenn sie gerade zusammenfiel[,] wenn die Israeliten in derselben versammelt sind, ein Zusammensturz derselben sogar die Pahsage vor derselben hemmen, vielleicht auch Vorbeigehende beschädigen könnte“. 11 Daraufhin wurde das Gebäude polizeilich geschlossen, sodass der Gottesdienst vorübergehend nur in den Räumlichkeiten stattfinden konnte, welche Salomon Levy zur Verfügung stellte. Die Finanzierung der neuen Synagoge musste aufgrund der bescheidenen finanziellen Verhältnisse der Gemeindemitglieder über eine Kreditaufnahme erfolgen, welche mithilfe der Versteigerung der Plätze in der Synagoge zurückgezahlt werden sollte. Damit der Betrag nicht zu gering ausfiel, wurden die Gemeindemitglieder – jeweils nach ihrem Vermögen – verpflichtet, eine bestimmte Höhe für ihren Platz in der Synagoge zu entrichten.12 Zur Erlangung eines Darlehens wandten sich die wohlhabendsten Juden Illingens an die Bezirksregierung in Trier und boten sich als Bürgen für ihre Gemeinde an. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass der Landrat von Ottweiler, Freiherr von Sonsfeld erklärte, „sich der solidarischen Bürgschaft anzuschließen, wenn es verlangt würde“.13 Dass die jüdische Gemeinde nicht gleichberechtigt mit den großen christlichen Kirchen war, erfuhren die jüdischen Einwohner Illingens erneut im Kaiserreich: Zu Beginn der Achtzigerjahre trugen sie die K ­ osten für eine notwendige Reparatur der Synagoge in Höhe von 700 Mark allein.14 In Lothringen gestaltete sich die Lage der jüdischen Landgemeinden hinsichtlich der Räumlichkeiten, in denen sie ihre Gottesdienste feierten, zunächst ähnlich wie in der Rheinprovinz. Bis zur Französischen Revolution gab es nur wenige Synagogen in Lothringen, sodass die meisten dort lebenden Juden ihre Gottesdienste im Hause von Glaubensgenossen feierten oder sie zu diesem Zweck die nächstgelegene Gemeinde mit einer solchen Einrichtung aufsuchten. Neben der 10 LAS Dep. Illingen Nr. 1541, S. 15. 11 Ebd., S. 19. 12 Für den Fall, dass die Einnahmen zur Finanzierung des Baus unzureichend sein sollten, wurde bestimmt, dass dann jedes Mitglied zum Abtragen der Schulden beitragen müsse. Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1541, S. 20. Nauhauser, S. 296 – 307. Vgl. Marschall, Kristine: Illingen, in: Fischbach/Westerhoff, S. 446. 13 AZJ, Nr. 35, 1857, S. 474. Illingen wird fälschlicherweise als Ellingen bezeichnet. 14 Vgl. Nauhauser, S. 341.

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zerstreuten jüdischen Siedlung stellten obrigkeitliche Verbote während des Ancien Régime einen weiteren Grund für die geringe Zahl der jüdischen Gebetshäuser dar.15 Die jüdische Gemeinschaft von Boulay gehörte zu den ersten in Lothringen, welche über ein eigenes Gebetshaus verfügten. Bereits 1670 feierten die dortigen Juden im Haus eines Glaubensgenossen ihre Gottesdienste. Die erste, nur aus einem großen Raum bestehende Synagoge des Dorfes stammte aus dem Jahr 1730, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu eng für die wachsende Zahl der Gemeindemitglieder wurde.16 Genauso wie die Synagoge von Illingen wurde das Gebäude infolge seiner Baufälligkeit von der Verwaltung geschlossen – in diesem Fall auf Geheiß des Präfekten im Jahr 1852: „J’ai dû dans l’intérêt de la sûreté publique, inviter l’autorité municipal à interdire toutes réunions dans cette local.“17 Die Einschätzung des Bürgermeisters, der das am Freitagabend stattfindende Gebet nutzte, um das Gebäude in Augenschein zu nehmen, spielte eine wichtige Rolle bei der Schließung. Im Gegensatz zu den Illinger Juden ging die Initiative zu einem Neubau aber von einem jüdischen Einwohner – dem „commissaire surveillant“ Bernhard Rheims – aus, der sich zusammen mit dem Bürgermeister schon 1851 aus diesem Grund an die Präfektur gewandt hatte.18 1854 wurde die neue Synagoge, deren Errichtung – ohne die Kosten für das Mobiliar sowie die von der jüdischen Gemeinde neu erworbenen Grundstücke – über 25.000 Francs kostete, fertig­gestellt.19 Im Gegensatz zu den betrachteten preußischen Gemeinden mussten die Juden Boulays – welche trotz freiwilliger Leistungen und der Aufnahme eines Kredites zunächst nicht genug Mittel aufbringen konnten – den Bau nicht allein finan­zieren. So entschied sich der Gemeinderat für eine Beteiligung der Zivilgemeinde in Höhe von 600 Francs an dem Neubau.20 Etwas später erwirkte der Prä 15 Vgl. Meyer, Pierre-André: Synagogues anciennes de Moselle, in: Archives Juives, Nr. 2, Jg. 17, 1981, S. 19. 16 Vgl. Tableau des synagogues de la circonscription de Metz, 1838, in: ANF F19 Nr. 11101. Vgl. Maire de Boulay, 1858, in: ANF F19 Nr. 11107. Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 132. Vgl. Schumann, mémoire des communautés juives de Moselle, S. 39. 17 Préfet de Metz au maire de Boulay, 19.10.1852, in: ADM V156. Vgl. auch Guir, Frédéric: Histoire de Boulay, Boulay 1933, S. 69. 18 Vgl. Notiz über die erste Beschwerde von Bernhard Rheims, 6.11.1851, maire de Boulay au préfet, 23.12.1851, in: ADM V156. Es gibt Hinweise, dass schon in den Dreißigerjahren eine Neuerrichtung der Synagoge in Betracht gezogen wurde. Vgl. einen (anscheinend vom Präfekten) an das jüdische Konsistorium gerichteten Brief vom Januar 1833, der aufgrund von Brandschäden nur auszugsweise lesbar ist, in: ADM 17J58. 19 Vgl. Kaufverträge, 2.2.1853, 13.6.1853, in: ADM ED 100 2M3. Vgl. Préfet de Metz au ministre de l’instruction publique et des cultes, 17.11.1854, in: ADM V156. 20 Vgl. Préfet de Metz au consistoire israélite de Metz, 4.10.1854, préfet de Metz au ministre de l’instruction publique et des cultes, 17.11.1854, in: ADM V156.

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fekt vom Unterrichts- und Kultusministerium zudem einen Zuschuss in Höhe von 8.000 Francs. Neben seiner Beharrlichkeit spielte in diesem Zusammenhang wohl auch die Sympathie eine Rolle, mit der er wiederholt auf die Opfer­bereitschaft der jüdischen Einwohner Boulays hinwies: „Cette petite communauté, composé de 55 chefs de famille, s’est imposé de grandes sacrifices pour la décente célébration du culte.“21 Hinzu kam darüber hinaus eine Schenkung von 350 Francs vonseiten der Familien Rothschild sowie Fould – die Wurzeln der Letzteren lagen in dem kleinen Ort.22 Aufgrund des starken Bevölkerungswachstums versuchten bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zahlreiche jüdische Landgemeinden in Lothringen, eigene Synagogen zu errichten. Im Gegensatz zu den Juden Boulays erhielten sie allerdings keine staatliche Unterstützung bei der Finanzierung ihrer Kultus­gebäude. Dies änderte sich auch durch die Gleichberechtigung der Kulte im Jahr 1831 nicht, da die staatliche Verwaltung entschied, nur diejenigen Judengemeinden bei Bauvorhaben zu fördern, die über einen staatlich bezahlten „ministre officiant“ verfügten, d. h. mindestens 200 Mitglieder hatten. Kleineren Gemeinden wurde empfohlen, sich für die Errichtung von Synagogen zusammenzuschließen, was allerdings wegen der Zerstreuung kaum umzusetzen war. Die Folge war, dass kleinere Gemeinden, wie z. B. Liocourt, bei der Errichtung ihrer Synagogen in der Regel weiterhin auf sich allein gestellt blieben.23 Darüber hinaus erhielten während der Julimonarchie nicht einmal die wenigen jüdischen Gemeinden, welche die vom Staat formulierten Bedingungen erfüllten – u. a. Grosbliederstroff – Zuschüsse vom Kultusministerium zu ihren Synagogenbauten.24 Die erste, am Ende des 18. Jahrhunderts errichtete Synagoge von Grosbliederstroff wurde in den Zwanzigerjahren des 19. Jahrhunderts zu klein für die wachsende Zahl der Gläubigen, weswegen die Gemeinde eine Vergrößerung des Gebäudes beabsichtigte. Von den zunächst auf 2000 Francs geschätzten Kosten wollten die Juden die Hälfte aufbringen, während der Gemeinderat beschloss, 500 Francs aus der Gemeindekasse zuzuschießen. Hätte die Zivilgemeinde nicht noch andere dringende Reparaturen vornehmen müssen, wäre dieser Betrag sogar höher ausgefallen. Den Fehlbetrag hofften die ansässigen Juden von staatlicher Seite zu erhalten.25 21 Préfet de Metz au ministre de l’instruction publique et des cultes, 11.6.1858, in: ADM V156. 22 Vgl. dons de Messieurs Fould et Rothschild, in: ANF F19 Nr. 11107. 23 Vgl. ebd. Vgl. Meyer, synagogues, S. 20, 27. Vgl. Meyer, présentation, S. 20. Vgl. Job, Meurthe-et-Moselle, S. 27. 24 Vgl. Meyer, synagogues, S. 20 – 22. 25 Vgl. Lion Lambert, commissaire près de la synagogue israélite de Grosbliederstroff au préfet, 7.8.1833, in: ADM V156. Vgl. Decomps, Claire: La synagogue de Grosbliederstroff, in: Liaisons. Bulletin d’information du consistoire israélite et du C. R. I. F. de la

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Noch ehe die Beratungen über das Gesuch der jüdischen Landgemeinde abgeschlossen waren, änderte diese ihre ursprüngliche Absicht, da der herbeige­rufene Architekt versicherte, dass das Gebäude für eine Vergrößerung abgerissen werden müsse und die entstehenden Kosten denen einer Neuerrichtung gleich­kämen. Deswegen strebten die Dorfjuden nun Letztere an, wofür das Metzer Konsistorium, welches das Vorhaben für den Präfekten begutachtete, allerdings kein Verständnis aufbrachte: „Cette entreprise est tout à fait hors de proportion de vos moyens, et de la population israélite de votre commune.“26 Die vom Architekten für den Neubau veranschlagten 6900 Francs überstiegen tatsächlich die finan­ziellen Möglichkeiten der jüdischen Gemeinde von Grosbliederstroff, deren Mittel sich 1834 insgesamt nur auf 2900 Francs beliefen.27 Allerdings sahen die Dorfjuden aufgrund der vom Architekten gemachten – und vom Bürgermeister bestätigten – Ausführungen sowie des zunehmenden Verfalls der bisherigen Kultusstätte keine Alternative zur Errichtung einer neuen Synagoge, zumal die Lage des alten Gebäudes innerhalb des Ortes ungünstig war: Der Zugang erfolgte über den Hof eines Bauern, sodass die sich zum Gottesdienst begebenden Juden meist vor dem Tor warten mussten, bis dieser seine Tiere eingeholt hatte. Darüber hinaus betrieb der Schwiegersohn des Bauern neben der Synagoge seine Hufschmiede und das gesamte Gebäude war „entourrée d’écuries et des mangeoires, que pendant l’été c’est une veritable infutation qui pénètre dans notre temple“.28 Obwohl es keine kostengünstige Alternative zur Neuerrichtung der Synagoge gab, blieb das jüdische Konsistorium bei seiner Meinung, dass nur eine Vergrößerung des alten Gebäudes eine staatliche Unterstützung verdiene. Wohlwollender als die Briefe der städtischen Juden klang der Bericht des Unter­präfekten, der angab, dass die jüdische Landgemeinde eine beachtliche Größe habe und auch zu weiteren finanziellen Opfern bereit sei. Auf diese Stellungnahme hin änderte Moselle, Nr. 25, September 2007, S. 33 – 39. Entgegen einigen Literaturangaben befand sich die alte Synagoge, die die Juden Grosbliederstroffs besuchten, nicht in Rouhling. Vgl. Meyer, synagogues, S. 29. Vgl. Schumann, mémoire des communautés juives de Moselle, S. 46. 26 Consistoire israélite de Metz au Lion Lambert, commissaire près de la synagogue de Grosbliederstroff, 15.11.1833, in: ADM V156. 27 Diese Summe setzte sich zusammen aus den freiwilligen Beiträgen der Gemeindemit­glieder, dem Zuschuss des Dorfes sowie dem Verkauf der alten Synagoge und des ursprünglich für die Vergrößerung gedachten Grundstückes. Vgl. Sous-préfet au préfet de Metz, 19.1.1834, in: ADM V 156. Das Terrain für die neue Synagoge wurde von einem Gemeindemitglied unentgeltlich zur Verfügung gestellt. Vgl. Lion Lambert, commissaire près de la synagogue israélite de Grosbliederstroff au consistoire israélite de Metz, 18.11.1833, in: ADM V156. 28 Lion Lambert, commissaire près de la synagogue israélite de Grosbliederstroff au consistoire israélite de Metz, 18.11.1833, in: ADM V156.

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der Präfekt seine ablehnende Haltung und setzte sich 1834 für die Gewährung einer staatlichen Hilfe ein, wobei er darauf verwies, dass die Juden nicht hofften, dass der Staat die fehlenden 4000 Francs übernehme, sondern sich vielmehr verpflichteten, den Restbetrag selbst aufzubringen.29 Die Befürwortung des Präfekten erwies sich aufgrund des unzureichenden staatlichen Etats für den jüdischen Kultus und der ablehnenden Haltung des jüdischen Konsisto­ riums allerdings als wirkungslos. Der zuständige Minister teilte mit, dass das für Baumaßnahmen bereitgestellte Budget bereits erschöpft sei und auch 1835 wohl nichts zur Verfügung stünde. Zudem betonte er, dass die jüdische Gemeinde wegen des fehlenden Einverständnisses des Konsistoriums von Metz nicht auf die Hilfe der Regierung zählen könne.30 Einem erneuten Gesuch der jüdischen Landgemeinde im folgenden Jahr war daher ebenfalls kein Erfolg vergönnt. Da die Baufälligkeit des alten Gebäudes mittlerweile bedrohlich erschien, wurde die behördliche Genehmigung zur Erbauung der neuen Synagoge 1835 erteilt, sodass die Grosbliederstroffer Juden den Neubau bis 1836 – wenn auch ohne staatliche Zuschüsse – vollenden konnten.31 Bis zur Mitte des Jahrhunderts kam in Lothringen lediglich die jüdische Gemeinde von Metz in den Genuss eines staatlichen Zuschusses für ihren Synagogenbau. Erst nach dem Beginn des Zweiten Empires ging die Regierung dazu über, kleineren Landgemeinden finanzielle Hilfen für die Errichtung von Synagogen oder Reparaturen zur Verfügung zu stellen.32 Von der neuen Praxis der Staats­ verwaltung profitierte auch die jüdische Gemeinde von Grosbliederstroff, welche in den Sechzigerjahren Ausbesserungsarbeiten an ihrer Synagoge bzw. dem Inventar vornehmen wollte. Allerdings waren erneut mehrere Anläufe nötig: Da die ersten beiden Gesuche aus den Jahren 1862 und 1863 unbeantwortet blieben, erhob die jüdische Gemeinde über einige Jahre hinweg Beiträge von ihren Mitgliedern für die beabsichtigten Ausbesserungen, sodass sie Ende 1867 über 1900 Francs verfügte. Da die Zivilgemeinde zu dieser Zeit mit dem Bau der Bürgermeisterei und eines Schulhauses beschäftigt war, sahen sich deren Vertreter außerstande, die Arbeiten

29 Vgl. Consistoire israélite de Metz au préfet de Metz, 15.12.1833, sous-préfet au préfet de Metz, 19.1.1834, préfet au ministre de l’Intérieure et des cultes, 23.1.1834, in: ADM V156. 30 Vgl. Ministre sécretaire de l’Etat de l’Intérieur et des cultes au préfet de Metz, 11.3.1834, Lion Lambert au préfet de Metz, 24.3.1835, in: ADM V156. 31 Vgl. Lion Lambert au préfet de Metz, 24.3.1835, préfet de Metz au sous-préfet, 31.3.1835, in: V156. Vgl. Statistique des communautés Israélites de la circonscription consistoriale de Metz, ca. 1854, in: AJMB MF509 reel 1 fol. 56. Vgl. Décomps, synagogue. Vgl. Tableau des synagogues de la circonscription de Metz, 1838, in: ANF F19 Nr. 11101. 32 Vgl. Meyer, synagogues, S. 20. Vgl. Decomps : De la Shoule au Temple israélite. Evolution historique et typologique des synagogues de Lorraine, in: dies. /Moinet, S. 122 – 124.

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an der Synagoge mitzutragen.33 Bevor der amtierende Präfekt 1868 bereit war, das Gesuch der Grosbliederstroffer Juden um einen Zuschuss an das Kultusministerium weiterzuleiten, mussten diese allerdings ihre Pläne einschränken und einen neuen Verputz sowie die Ausbesserung der Sitzbänke verschieben. Die Kosten für die anderen Arbeiten, die sowohl vom Präfekten als auch vom jüdischen Konsistorium als notwendig angesehen wurden, beliefen sich auf insgesamt 3781 Francs. Indem das Ministerium einen Zuschuss von 1800 Francs bewilligte, deckte es fast vollständig die verbleibenden Kosten für die Reparaturen ab.34 Nach der Annexion zeigte sich die deutsche Verwaltung großzügig gegenüber den jüdischen Gemeinden bei der Unterhaltung ihrer Kultusgebäude, z. B. gewährte sie 1873 der nur 124 Mitglieder zählenden Gemeinde von Niedervisse im Kreis Boulay 2500 Francs. Dies ist bemerkenswert, weil die Juden der Rheinprovinz im Gegensatz zu ihren „neudeutschen“ Glaubensgenossen bei der Unterhaltung ihrer Synagogen in der Regel weiterhin auf sich allein gestellt blieben. Eine Erklärung für das Verhalten der deutschen Behörden im Reichsland stellte deren Wille dar, die Sympathien der jüdischen Bevölkerung für das Reich zu gewinnen.35 Die Juden von Boulay, die 1890 ihre Synagoge für etwa 2400 Mark vergrößern und renovieren ließen, scheiterten allerdings mit ihrem Gesuch um Gewährung einer staatlichen Beihilfe. Der Grund für die Ablehnung lag in der mangelhaften Buchführung der Gemeinde: Da sie weder ein Budget noch eine genaue Rechnung vorlegte, sah sich die deutsche Verwaltung außerstande zu beurteilen, inwiefern ein Zuschuss überhaupt notwendig sei. Zudem erfolgte die Eingabe nicht vor Beginn der Arbeiten.36 Die jüdische Gemeinde von Grosbliederstroff erhielt dagegen 1893 problemlos einen Zuschuss von 1500 Mark zur Erneuerung der einsturzgefährdeten Decke und zur Vergrößerung der Frauentribüne. Wie schon bei der vorigen Reparatur hatte die jüdische Gemeinde über einige Jahre hinweg Rücklagen für das Vorhaben gebildet, sodass sie selbst 820 Mark für die Arbeiten einbringen konnte. Darüber

33 Vgl. Membres chargés de la surveillance du Temple israélite de Grosbliederstroff au Préfet, 24.5.1866, sous-préfet, 2.3.1868, in: ADM V156. 34 Vgl. Extrait de registre des déliberations de la commission administrative de la communauté israélite de Grosbliederstroff, 13.5.1868, extrait de registre des déliberations du consistoire israélite de Metz, 25.6.1868, préfet de Metz au ministr de la justice et des cultes, 2.7.1868, préfet de Metz au consistoire israélite de Metz, 17.4.1869, in: ADM V156. 35 Vgl. Bezirkspräsident von Lothringen, 22.7.1872, Kreisdirektor von Boulay, 21.6.1873, Bezirkspräsident von Lothringen, 10.8.1874 in: ADM 7AL128. Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 137 f. Vgl. Caron, conséquences, S. 27. Vgl. Meyer, synagogues, S. 21. Vgl. Meyer, survol, S. 17 f. 36 Vgl. Lothringer Zeitung, 17.5.1890. Vgl. Bajetti, communauté, S. 34. Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 224.

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hinaus beteiligte sich die Zivilgemeinde mit 1000 Mark an dem Vorhaben.37 Die umfangreichen, im Jahr 1908 vorgenommenen Renovierungsarbeiten musste die jüdische Gemeinde allerdings fast vollständig selbst tragen. Sie nahm eine Anleihe auf, um den größten Teil der sich auf 4900 Mark belaufenden Ausgaben decken zu können. Von staatlicher Seite erhielt sie dieses Mal lediglich 300 – von 400 beantragten – Mark, während die Zivilgemeinde gar keinen Beitrag leistete. Der Entschluss der Letzteren war wohl nicht auf antijüdische Gesinnung zurückzuführen, sondern vielmehr auf die Gleichbehandlung der im Dorf vorhandenen Religionsgemeinden: Der Gemeinderat betonte, dass er aufgrund der Finanzlage nicht für einen Beitrag zu den Reparaturen votieren könne und auch der katho­ lischen Gemeinde einen solchen Zuschuss verweigert habe.38 Da sich erst nach dem Ende des Ancien Régime in Luxemburg eine jüdische Gemeinschaft bildete, erfolgte die Errichtung jüdischer Kultusgebäude im Großherzogtum erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts. Die erste Synagoge wurde in den Zwanzigerjahren in der Rue du Séminaire errichtet und hauptsächlich über den Verkauf der Plätze sowie Beiträge finanziert. Obwohl der Stadtrat einen kleinen Zuschuss gewährte, war die jüdische Gemeinde außerstande, die Kosten zu decken, sodass sie noch 1855 mit der Abzahlung eines Kredites beschäftigt war. Das Kultusgebäude wurde ebenfalls von Landjuden besucht, da diese in der ersten Jahrhunderthälfte in ihren Dörfern kaum die für den Gottesdienst notwendige Zahl von zehn männlichen Teilnehmern erreichten. Auch die Juden Ettelbrücks begaben sich deswegen zumindest an hohen Feiertagen in die Hauptstadt.39 Aufgrund der Zunahme der jüdischen Bevölkerung wurde die Synagoge in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts zu klein, um alle Gläubigen zu fassen, die in das Gebetshaus strömten. Der Plan, eine neue, größere Synagoge an anderer Stelle zu errichten, traf sich zeitlich mit Überlegungen der Regierung, das bestehende katholische Seminar zu vergrößern. Die Vertreter der jüdischen Gemeinde boten daher Mitte

37 Vgl. Präsident der israelitischen Gemeinde von Großblittersdorf an den Bezirks­präsidenten von Lothringen, 19.2.1893, Präsident des jüdischen Konsistoriums J. Mayer an den Regierungspräsidenten von Lothringen, 29.7.1890, Ministerium für Elsass Lothringen in Straßburg, Abteilung für Justiz und Kultus an den Regierungspräsidenten von Metz, 20.6.1893, in: 7AL131. 38 Vgl. Kreisdirektor von Sarreguemines an den Präsidenten von Lothringen, 18.2.1909, Oberpräsident von Lothringen an den Kreisdirektor von Boulay, 2.8.1910, Beschluss des Gemeinderats von Grosbliederstroff, 31.3.1909, in: ADM 7AL131. 39 Nach Lehrmann wurde die Synagoge 1823 errichtet, nach Angaben des Sekretärs Levy aus dem Jahr 1855 geschah dies erst in den Jahren 1827 und 1828. Vgl. Levy, secretaire de relevé, 29.9.1855, in: ANL H78. Vgl. Lehrmann, S. 53. Vgl. Goedert, S. 356 – 358. Vgl. Dondelinger/Muller, Teil II, S. 25.

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der ­Siebzigerjahre an, das alte jüdische Gebetshaus abzutreten, wenn sie im Gegenzug ein neues Grundstück und ein Subsid erhielten, welches die Kosten für einen Neubau decken würde.40 In Zusammenhang mit diesem Vorschlag stellte sich die Verwaltung die Frage, ob es eine Verpflichtung des Staats oder der Stadt gebe, den Juden als Glaubensgemeinschaft eine solche, für die Glaubensausübung notwendige Institution zur Verfügung zu stellen.41 Dies blieb zunächst ebenso unbeantwortet wie die Überlegung, ob eine so hohe Ausgabe – wie von jüdischer Seite gefordert – verhältnismäßig sei: „On peut de demander, si la dépense projetée de 125.000 francs dont 50.000 frs pour l’ameublement à fournir par les membres de la communauté n’est pas disproportionnée au nombre de la population de cette communauté.“42 Über ein Jahrzehnt später entschieden die Behörden des Großherzogtums angesichts der Gleichberechtigung, einen Teil der Kosten zu übernehmen. Der luxemburgische Staat und der Stadtrat der Hauptstadt stellten jeweils einen Zuschuss von 15.000 Francs zur Verfügung. Die lebhaft geführten Diskussionen und die ­knappen Abstimmungen im Stadtrat verdeutlichen, dass nicht alle Gemeindevertreter aus der formellen Gleichstellung der Kulte den Schluss zogen, dass der Bau einer Synagoge ebenso wie derjenige einer katholischen Kirche zu unterstützen sei. Das ultramontane ­Luxemburger Wort kritisierte das von der Stadt gewährte Subsidium heftig, vor allem weil es die Unterstützung als unverhältnismäßig angesichts der Zahl der Juden in Luxemburg ansah. Den Großteil der Baukosten – etwa 65.000 Francs – erbrachte die jüdische Gemeinde allerdings selbst, über freiwillige Beiträge ihrer Mitglieder und den Verkauf der alten Synagoge. Hinzu kamen Spenden der jüdischen Gemeinden von Brüssel, Amsterdam und Antwerpen sowie von zwei christlichen Bewohnern der Hauptstadt.43 Die Juden Ettelbrücks begannen Mitte der Vierzigerjahre zusammen mit jüdischen Einwohnern aus Orten der Umgebung, eigene Gottesdienste abzuhalten. Diese fanden zunächst in einem Zimmer bei Salomon Israel, einige Jahre später dann in einem im Auftrag der jüdischen Gemeinschaft von Joseph Cahen erworbenen Lokal statt.44 Da der dortige Platz in den Sechzigerjahren für die wachsende Zahl der Gläubigen zu klein wurde, kaufte die jüdische Gemeinde

40 Vgl. Administration de la communauté israélite du Grand-Duché de Luxembourg an Staatsminister Blochhausen, 15.2.1876, in: ANL AE 265a. 41 Vgl. Directeur général des travaux publiques au ministre d’Etat, 22.2.1876, in: ANL AE 265a. 42 Ebd. 43 Vgl. Luxemburger Wort, Nr. 104, 1890, S. 2, Nr. 108, 1890, S. 2, Nr. 110, 1891, S. 2, Nr. 77, 1892, S. 3 f., Nr. 45, 1896, S. 3. Vgl. Lehrmann, S. 67 – 70. 44 Vgl. Dondelinger/Muller, Teil II, S. 26 f. Vgl. Gesuch der jüdischen Familienvorstände Ettelbrücks an die Staatsversammlung, 19.2.1868, in: ANL H1024,1000.

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1865 ein Grundstück im Wert von 1200 Francs für die Errichtung einer Synagoge. Die Mitglieder verpflichteten sich zwar, insgesamt 4000 Francs für das Vorhaben aufzubringen, aber dieser Betrag reichte nicht aus, um die auf 6000 Francs geschätzten Baukosten zu decken. Da sich die Juden aufgrund ihrer beschränkten finanziellen Ressourcen nicht in der Lage sahen, die Errichtung des Kultusgebäudes alleine zu finanzieren, wandten sie sich von 1866 bis 1871 regelmäßig an den luxemburgischen Staat, um Zuschüsse zur Errichtung der Synagoge zu erhalten.45 Die jüdischen Familienvorstände Ettelbrücks betonten in einem der ersten Gesuche die Gleichberechtigung der Religionen in Luxemburg ebenso wie die Gleichheit der einzelnen Staatsbürger. Insofern handelte es sich weniger um eine untertänige Bitte als vielmehr um eine Einforderung der gesetzlichen Vorschriften: „[A]ux termes de notre loi fondamentale, tous les cultes sont égaux et doivent jouir des mêmes droits et secours dans l’Etat, et alors que les exposants contribuent à toutes ses charges ainsi qu’à celles communales, qu’ils sont imposés à toutes les contributions par lesquelles il est pourvu aux dépenses publiques, ils ont pensé qu’ils pouvaient avoir droit à quelque légère part des fonds alloués au budget pour construction et entretien d’édifices affectés au culte.“46 Auf die Schreiben der Ettelbrücker Juden hin bewilligte die großherzogliche Regierung zunächst eine Unterstützung von 500 Francs.47 Im Jahr 1868 formulierten Ettelbrücker Juden ein weiteres Gesuch, in welchem sie die vehemente Einforderung gleicher Rechte – wohl wegen des Erfolges des vorherigen Schreibens – nicht mehr für notwendig hielten, sondern stärker auf ihre finanziellen Anstrengungen und Schwierigkeiten bei der Errichtung der Synagoge aufmerksam machten: „[I]ls s’aperçoivent avec beaucoup de regret que [la] somme est bien insuffisante et qu’il leur sera sans doute impossible de compléter le montant necessaire pour cette construction, s’ils sont reduit à leurs seules forces“.48 Infolge dieser Bittschrift bewilligte die luxemburgische Regierung in den Jahren 1868 und 1869 jeweils 200 Francs zur Weiterführung der

45 Vgl. Kaufvertrag über ein Grundstück in Ettelbrück, 1.4.1865, Joseph Cahen au directeur général des affaires communales, 12.6.1868, Schriftverkehr der Luxemburger Behörden über die Gesuche der Ettelbrücker Juden, 1866 – 1871, in: ANL H1024,1000. 46 Petition des adhérents au culte israélite d’Ettelbruck au président et membres de l‘Assemblée des Etats 23.12.1866, in: ANL H 1024,100. 47 Bei der Aushändigung dieses Betrags verpflichtete sich die jüdische Gemeinde für den Fall, dass die Synagoge doch nicht erbaut würde, der Staatskasse das Geld zurückzuerstatten. Vgl. directeur général d’Intérieur au commissaire de District, 25.9.1867, in: ANL H1024,100. 48 Chefs de famille du culte israélite d’Ettelbruck au président et membres de l‘Assemblée des Etats 19.2.1868, in: ANL H 1024,100.

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Arbeiten. Die übrigen Ausgaben für die – letztlich 9850 Francs teure – Errichtung der Synagoge trugen die jüdischen Gemeindemitglieder über freiwillige Beiträge. 49 Auffällig ist, dass der Gemeinderat von Ettelbrück zwar wiederholt die Bitten der jüdischen Gemeinschaft um Zuschüsse aus der Staatskasse befürwortete, aber selbst keine Beihilfe zum Bau der Synagoge bewilligte. Dass auf kommunaler Ebene hinsichtlich der Kulte mit zweierlei Maß gemessen wurde, zeigt sich daran, dass in Ettelbrück die Zivilgemeinde von 1850 bis in die Siebzigerjahre hinein erhebliche finanzielle Lasten für die Erbauung und Ausstattung der neuen katholischen Kirche auf sich nahm, u. a. einen Kredit in Höhe von 8000 Francs, sowie die kommunalen Steuern erhöhte.50 Das äußere Erscheinungsbild der verschiedenen Synagogen variierte in den betrachteten Dörfern nur geringfügig. Im Allgemeinen gilt für die bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts in Frankreich sowie in den deutschen Staaten erbauten Synagogen die Feststellung, dass sie sich unauffällig in die jeweiligen Dorf- oder Stadtbilder einpassten.51 Dasselbe lässt sich über die erste Synagoge Luxemburgs sagen, deren Äußeres nach einer jüdischen Zeitgenossin „insignifiant“ war.52 Diese Beschreibung traf auch auf die in den Dreißigern entstandene Synagoge von Grosbliederstroff zu: Es handelte sich um ein Gebäude, das abgesehen von seinen schlicht gehaltenen Rundbogenfenstern als ein einfaches, großes Haus hätte gelten können. Auch die anderen Synagogen, die bis auf Ettelbrück zum Ende der Fünfzigerjahre errichtet wurden, fielen im Ortsbild nicht besonders auf: Sie unterschieden sich in erster

49 Vgl. directeur général d’Intérieur au commissaire de District, 16.10.1868, Joseph Cahen au directeur général d’Intérieur, 7.3.1870, in: ANL H1024,100. Unklar ist, ob ein weiteres Subsidium von 300 Francs für das Jahr 1870 ausgezahlt wurde. Diese Summe wurde nach einer Notiz vom 30.12.1870, in: ANL H 1024,100 zwar der jüdischen Gemeinde zugestanden, aber der jüdische Gemeindevorstand bezifferte später die gewährten Subsidien auf insgesamt 900 Francs. Vgl. Administration de la communauté israélite d‘Ettelbruck au ministre d‘Etat, 26.8.1881, in: ANL H 78. In der Literatur wird fälschlicherweise davon ausgegangen, dass der Staat die gesamten Kosten übernahm. Vgl. Dondelinger/Muller, Teil III, S. 28. 50 Vgl. Registre des délibérations du conseil communal d’Ettelbruck, 17.5.1868, 27.3.1870, 19.11.1871, in: ANL H1024,100. Vgl. Registre des délibérations du conseil communal ­d‘Ettelbruck, 28.2.1858, in: ANL H 1024,98. Vgl. Flies, S. 1423 – 1431. 51 Vgl. Jarassé, Dominique: Une histoire des synagogues françaises. Entre occident et orient, Arles 1997, S. 155. Vgl. Korn, Salomon: Wesen und Architektur der Synagoge. Eine Einführung, in: Fischbach/Westerhoff, S. 16 f. Vgl. Weber, Annette: Synagogenausstattungen als Dokumente jüdischen Lebens auf dem Lande in Franken und Schwaben im 18. Jahrhundert, in: Richarz/Rürup, S. 190. 52 Vgl. Fuchs-Blumenstein, Alice: Le grand-rabbinat du Luxembourg de 1843 à 1928, in: Revue mensuelle pour les communautés israélites, avril-mai 1953, o. S.

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Linie durch ihre leicht überdurchschnittliche Größe und die Rundbogenfenster im neoromanischen Stil von den Wohnhäusern ihrer Orte. Lediglich die Syna­ gogen von Illingen und Boulay wiesen Verzierungen auf, die sie etwas stärker von ihrer Umgebung abhoben. Bei der Ersteren zogen ein Traufgesims in Form eines Rundbogenfrieses und der mit einer hebräischen Inschrift versehene Torbogen des Eingangs die Blicke auf sich. Bei der Letzteren waren es die ornamentierten Bögen, welche die Eingangstür und die Fenster im Erdgeschoss einrahmten.53 Die Baustile der betrachteten jüdischen Gebetshäuser entsprachen nur teilweise der in ihren Ländern vorherrschenden Stilrichtung des Synagogenbaus. Im Gegensatz zur neuen Synagoge von Boulay, deren äußere Gestaltung sich an diejenige von Metz anlehnte, folgte das Kultusgebäude der Gemündener Juden von 1859 – ein Fachwerksaal – keinem besonderen Vorbild. In den deutschen Staaten setzte sich nach 1850 der sogenannte neoislamische bzw. orientalische Stil bei der Errichtung neuer Synagogen durch, während in Frankreich trotz intensiver Diskussionen zunächst die Neoromanik dominierte. Erst nach 1871 entstanden auch in Frankreich vermehrt Synagogen im orientalischen Stil. Im annektierten Lothringen machte sich dieser Stil ebenfalls bemerkbar, was auf den Einfluss deutscher Architekten zurückzuführen war. So orientierte sich z. B. das Kultusgebäude der jüdischen Landgemeinde von Puttelange am Vorbild der großen Synagoge von Berlin. Insgesamt ist allerdings festzustellen, dass unter Wilhelm II. die neoromanische Bauweise – der sogenannte Rundbogenstil – eine Renaissance erlebte, weswegen die Mehrzahl der im Reichsland errichteten jüdischen Kultusgebäude diesem Stil folgte. Dass es sich bei den Landsynagogen in der Regel um bescheidene Gebäude handelte, erklärt sich aus dem relativ engen finanziellen Rahmen, in dem sich diese jüdischen Gemeinden bewegen mussten.54 Die städtischen Synagogen zeigten sich prunkvoller und befanden sich des Öfteren nicht mehr an unauffälligen Stellen innerhalb der Städte. Im Großherzogtum überließ der Stadtrat Luxemburgs der jüdischen Gemeinde zum Bau der neuen Synagoge sogar „einen der schönsten öffentlichen Plätze der Stadt“55 unentgeltlich. Das „Luxemburger Wort“ kritisierte

53 Vgl. Fischbach/Westerhoff, S. 163. Vgl. das Foto vom Synagogeneingang von 1937, in: Archiv des Förderkreises Synagoge Laufersweiler. Vgl. Marschall, S. 446. Vgl. N ­ auhauser, S. 315. Vgl. Dondelinger/Muller, Teil III, S. 27. Vgl. Cahen, juifs lorrains, S. 117. Vgl. Decomps, Shoule, S. 122 f. 54 Vgl. Künzl, Hannelore: Jüdische Architektur, in: Kotowski, Bd. 2, S. 188 f. Vgl. Jarassé, histoire, S. 128 – 149, 171, 209 – 212. Vgl. Jarassé, Dominique: La quête d’un style „synagogal“ au XIXe siècle. L’exemple lorrain, in: Decomps/Moinet, S. 126 f. Vgl. Decomps, Shoule, S. 122 f. Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 132 – 135. Vgl. Meyer, synagogues, S. 21. Vgl. Avine-Goetz, S. 228 – 230. Vgl. Reuter, Ansichten, S. 34. 55 AZJ, Nr. 14, 1890, S. 3.

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diese Entscheidung allerdings und glaubte, damit die Meinung der katholischen Bevölkerung zu vertreten.56 Auf französischer Seite wurde die zunehmende Sichtbarkeit der Synagogen als Ausdruck der christlich-jüdischen Gleichstellung bewertet. Im Anschluss daran lässt die öffentliche Debatte in Luxemburg die Folgerung zu, dass ein Teil der Einwohner die Emanzipation der Juden nur mit Widerwillen akzeptierte. Für den deutschen Fall erweist sich die genannte These nur in einem eingeschränkten Maß als zutreffend, da nach 1871 zwar die Juden als Bürger, aber nicht als Religionsgemeinschaft den Christen gleichgestellt waren. Dass der Syna­ gogenbau abhängig von der Einstellung der jüdischen Einwohner – und nicht nur der Christen – war, zeigt die Tatsache, dass traditionell eingestellte ostjüdische Immigranten im Deutschen Reich teilweise kleine Gebetshäuser im formlosen Stil ihrer Heimat errichteten.57 Nicht nur von ihrem Baustil her hoben sich die jüdischen Kultusgebäude der betrachteten Dörfer wenig von der Umgebung ab, sondern als relativ unauf­fällig konnten sie auch aufgrund ihrer Lage im Ort gelten. Der Bürgermeister von Gemünden stellte anlässlich der Einweihung der Synagoge fest, dass das Gebäude „nach alter jüdischer Weise in einer abgelegenen Straße aufgebaut“58 sei. Wie schon in früherer Zeit entschieden sich die jüdischen Einwohner Gemündens auch im 19. Jahrhundert noch, ihre Synagoge an einer Stelle im Dorf zu errichten, an der sie nur wenige Einwohner bemerkten. Dasselbe Verhalten lässt sich bei den Juden Boulays feststellen. Sowohl die alte als auch die neue Synagoge des Ortes wurden in der „rue des juifs“ errichtet, die sich am Rand des Ortes befand. Der Standort der ersten Synagoge von 1730 war eine Folge der Beschwerden christlicher Einwohner, die daran Anstoß genommen hatten, dass die in einem Privathaus in der „rue de Four-Banal“ abgehaltenen jüdischen Gottesdienste auch für sie wahrnehmbar waren, d. h. die Beleuchtung sowie die Gebete und der Gesang. Den jüdischen Einwohnern wurde daraufhin befohlen, ihre Religion nur unter Ausschluss der Öffentlichkeit auszuüben. Als kurze Zeit später den Juden die Niederlassung in der örtlichen Judengasse vorgeschrieben wurde, war es logisch, dass die Synagoge ebenfalls in dieser errichtet wurde.59 Während des Ancien Régime wurde die

56 Vgl. Luxemburger Wort, Nr. 108, 1890, S. 2. Da die Stadt den geplanten Bauplatz aufgrund der Besitzverhältnisse letztlich nicht zur Verfügung stellen konnte, wurde ein anderer Ort für die Synagoge gewählt. Dieser lag ebenfalls an einer zentralen Stelle innerhalb der Stadt. 57 Vgl. Jarassé, histoire, S. 140. Vgl. Löwenstein, Steven M.: Das religiöse Leben, in: Meyer/ Brenner, Bd. 3, S. 106 – 108. Vgl. auch Cohen, Richard I.: Celebrating integration in the Public Sphere in Germany and France, in: Brenner, emancipation, S. 55 – 73. 58 Bericht von Bürgermeister Mendel von Gemünden für September 1859, in: LHAK Best. 655,12 Nr. 163. 59 Vgl. Pierson, S. 66 – 69. Vgl. Guir, S. 68 f.

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Lage der Synagoge innerhalb des Dorfes also maßgeblich durch Forderungen von christlicher Seite, die Synagoge – das Zeichen für die Anwesenheit eines anderen, fremden Glaubens – nicht auffällig im Ortsbild in Erscheinung treten zu lassen, beeinflusst. Diesem Anliegen wurde auch durch eine gewisse Entfernung vom christlichen Zentrum des Ortes und dem an die Umgebung angepassten Baustil Folge geleistet. Das Dorf war öffentlicher Kultusraum, und der Wunsch nach einer unauffälligen Synagoge entsprach der Vorstellung, dass der „wahren“ Religion der öffentliche Raum im Ort zustand.60 Dementsprechend befand sich in Gemünden die Synagoge in einiger Entfernung von der Simultankirche, die von den Katholiken und Protestanten benutzt wurde. Während sich in Grosbliederstroff die nur schwer zugängliche alte und die neue Synagoge in der „rue de jardins“ am nördlichen Ausgang des Dorfes befanden, lag die katholische Kirche in der Nähe des Zentrums.61 Für Illingen lässt sich dasselbe Muster in noch stärkerer Ausprägung feststellen: Am Ende des 18. Jahrhunderts lag die gesamte Judensiedlung samt der Synagoge außerhalb des Ortes. Erst infolge des Bevölkerungswachstums im 19. Jahrhundert verschmolz dieser Bereich – der sich aus der späteren Judengasse und der südlichen Hauptstraße zusammensetzte – mit dem übrigen Dorf. Der Ort des jüdischen Gebetshauses verlagerte sich durch den Neubau von 1859 nur geringfügig: Das alte Gebäude befand sich in der Judengasse und das neue in der Hauptstraße. Das 1871 in Ettelbrück errichtete jüdische Gebetshaus befand sich ebenfalls am Rande des Dorfes, nämlich im Norden, in der heutigen „rue de synagogue“, die von der nach Warken führenden Straße abzweigte.62 Es ist zu betonen, dass die christlichen Einwohner der betrachteten Dörfer im 19. Jahrhundert nicht mehr explizit forderten, dass die örtlichen Synagogen unauffällig sein müssten. Der Bürgermeister von Gemünden bedauerte 1859 den abgelegenen Standort der Synagoge sogar, da sie seiner Meinung nach ein optischer Gewinn für das Ortsbild hätte sein können.63 Dass ein gewisser Abstand zum christlichen Gebetshaus allerdings weiterhin als angemessen angesehen wurde, lässt sich am Beispiel des im Kreis Boulay gelegenen Dorfes Bouzonville zeigen, wo 1900 u. a. der Kirchenrat gegen die geplante Lage der neuen Synagoge unmittelbar neben der Pfarrkirche protestierte und betonte, dass „das religiöse Gefühl unserer katholischen Bevölkerung durch das israelitische Projekt tief verletzt“64 sei. Dass 60 61 62 63

Vgl. Ullmann, S. 156 – 158, S. 433 – 441. Vgl. Decomps, synagogue, S. 33 – 35. Vgl. Bernard, Bd. 1, S. 163. Vgl. Kirsch, Juden S. 43 f. Vgl. Nauhauser, S. 245, 296, 359. Vgl. Flies, S. 1330 f. Vgl. Bericht von Bürgermeister Mendel von Gemünden für September 1859, in: LHAK Best. 655,12 Nr. 163. 64 Kirchenrat von Bouzonville, 4.11.1900 sowie Lageplan für den Neubau der Synagoge, 26.9.1900, in: ADM 7AL128.

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es sich um keinen Einzelfall handelte, verdeutlicht ein Schreiben des jüdischen Konsistoriums, das der jüdischen Gemeinde nahelegte, einen anderen Bauplatz zu suchen, und hoffte, dass dies „ohne Schwierigkeiten möglich [sei], namentlich wenn die Civilgemeinde einen solchen Bauplatz zur Verfügung stellt, wie dies in solchen Fällen zu geschehen pflegt“.65 Die Wahl der Bauplätze der Synagogen wurde auch von der jeweiligen Wohnsituation der Juden beeinflusst. Dass die zweite Illinger Synagoge in der Hauptstraße errichtet wurde, hing u. a. damit zusammen, dass dort bzw. in ihrer Nähe ein großer Teil der ansässigen Juden lebte.66 Ähnlich sah es in Boulay aus, wo die Judengasse das gesamte 19. Jahrhundert über – wenn auch im abnehmenden Maße – von zahlreichen jüdischen Familien bewohnt wurde. Die geringe Entfernung zur Synagoge festigte einerseits den Zusammenhalt der Kultusgemeinde, deren Zentrum sie bildete, und andererseits stellte die räumliche Nähe für die Gläubigen auch eine Annehmlichkeit dar.67 Des Weiteren dürfen praktische Gesichtspunkte nicht außer Acht gelassen werden, z. B. das Fehlen eines ausreichend großen Bauplatzes innerhalb des Ortes. Im Fall von Ettelbrück sorgte die dichte Besiedlung des Dorfes dafür, dass nicht nur die Synagoge am Rande des Dorfes lag, sondern auch die neue Pfarrkirche am westlichen Ende des Ortes.68 4.1.2 Friedhöfe und Mikwen

Der Friedhof stellte neben der Synagoge die wichtigste Kultuseinrichtung der jüdischen Gemeinden dar und war für die christlichen Einwohner wie die Synagoge ein sichtbares Zeichen für die Anwesenheit einer fremden Religion. Dass jüdische Begräbnisplätze in der Regel außerhalb der Wohnorte lagen, war allerdings auch eine Folge ritueller jüdischer Vorschriften und des Ewigkeitsanspruchs jüdischer Friedhöfe. Zudem spielten hygienische Überlegungen eine Rolle. Für die jüdischen Einwohner stellte der Friedhof einen Teil „Heimat“ dar, da dort die Vorfahren ­ruhten. Selbst wenn die Kinder in andere Orte zogen, kümmerten sie sich oft noch um die Grabstätten ihrer Eltern, zumindest aber besuchten sie diese gelegentlich.69

65 Jüdisches Konsistorium von Metz 20.12.1900 an den Präsidenten von Lothringen, 20.12.1900, in: ADM 7AL128. 66 Vgl. Nauhauser, S. 247 – 252. 67 Vgl. Kapitel 3.2. Vgl. Daltroff, histoire, S. 19. Vgl. Katz, Jacob: Tradition and crisis. Jewish society at the End of the Middle Ages, New York 1993, S. 11 f. Vgl. Ulbrich, S. 199. 68 Vgl. Flies, S. 1330 f. 69 Vgl. Ullmann, S. 94 – 98. Vgl. Avine-Goetz, S. 242. Vgl. Kirsch, Juden, S. 88. Vgl. Juifs établis à Boulay au intendant de la Lorraine et du Barrois, ca. 1775, in: ADM ED 100, 2M6. Vgl. Cahnmann, S. 180 f.

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Das Bevölkerungswachstum sowie neue staatliche Hygienevorschriften sorgten dafür, dass im 19. Jahrhundert immer mehr jüdische Gemeinden versuchten, ihre Toten möglichst ortsnah zu beerdigen. Aus diesem Grund wurden u. a. im Hunsrück regional organisierte Friedhöfe zunehmend aufgegeben. Die Begräbnisstätte der Juden Gemündens lag außerhalb des Ortes am nördlichen Schlosshang, der zum Simmerbach abfällt. 1819 wurde dieser Friedhof aus polizeilichen Gründen geschlossen, weswegen die Juden Gemündens einen neuen Begräbnisplatz erwerben mussten. Religiöse und finanzielle Bedenken der jüdischen Gemeindemitglieder konnten diesen Vorgang nicht verhindern. Bereits im Jahr 1860 berichtete der jüdische Lehrer Salomon, dass der alte Friedhof weitgehend zerstört sei: Der Bach habe ihn zum großen Teil weggespült, und es seien lediglich noch Reste von Grabsteinen mit halb zerstörten Inschriften vorhanden. Nach der Schließung des alten Friedhofs wurde ein neuer jüdischer Begräbnisplatz im Lametbachtal außerhalb von Gemünden angelegt. Er konnte nur über einen Feldweg erreicht werden, der von der Straße nach Panzweiler abzweigte. Dieser bis zum heutigen Tage erhaltene Friedhof gliedert sich in zwei Teile, einen älteren, der von 1815 bis in die Sechzigerjahre hinein genutzt wurde, und einen neueren, der spätestens seit 1871 den Verstorbenen der jüdischen Gemeinde als letzte Ruhestätte diente. Während die älteren Grabsteine ausschließlich hebräische Inschriften mit Bezügen auf die traditionelle religiöse Literatur tragen, sind die Texte auf den seit Beginn der Siebziger gesetzten Steinen meist in hebräischer und deutscher Sprache gehalten, in einigen Fällen sogar ausschließlich in Letzterer.70 Obwohl die jüdischen Gemeinden Preußens hinsichtlich der Finanzierung ihrer Institutionen nicht gleichberechtigt mit den christlichen Kirchen­gemeinden waren, gab es Versuche von jüdischer Seite, zumindest in eingeschränktem Maße von den Behörden berücksichtigt zu werden. So beantragte in Gemünden der jüdische Vorsteher Marx Löb 1854 eine Ausbesserung des Weges zum jüdischen Friedhof auf Kosten der Zivilgemeinde. Er war sich durchaus bewusst, dass die Letztere nicht zur Unterhaltung des jüdischen Kultus verpflichtet war. Deswegen argumentierte er, dass die Mitglieder der jüdischen Gemeinde genauso wie die anderen Einwohner zu den Gemeinlasten – u. a. den Umlagen zum Wege- und Brückenbau – beitrügen. Daher glaubte die jüdische Gemeinde auch, gleiche Rechte beanspruchen zu können. Der Vorsteher versuchte, von den Pflichten und Rechten der einzelnen (jüdischen) Bürger ein Anrecht der jüdischen Gemeinde auf eine Beihilfe abzuleiten. Sicherheitshalber wies er darauf hin, dass der betroffene

70 Vgl. LHAK Best. 441 Nr. 24052, S. 1 – 3. Vgl. Schellack, Gustav: Grabstein von 1814. Letzter Zeuge auf dem alten jüdischen Friedhof bei Schloß Gemünden, in: Hunsrücker Heimatblätter, Nr. 72, Jg. 27, 1987, S. 53 – 55. Vgl. Pies, S. 114, 226 – 238.

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Weg „zum Teil auch für den Communalgebrauch wichtig“71 sei. Bürgermeister Molz äußerte sich trotzdem ablehnend: Die Juden hätten sich den Friedhof selbst gekauft und daher „gleich jedem andern Eigenthümer den Weg in dieses Grundstück zu […] unterhalten.“72 Er legte bei seiner Begründung Wert darauf, dass die Juden keiner Benachteiligung unterworfen seien, sondern genauso wie die anderen Grundstückseigentümer behandelt würden. Darauf schlug Landrat Hardt das Gesuch mit der Argumentation ab, dass auch die christlichen Kirchhöfe nicht von der Zivilgemeinde, sondern von den betreffenden Kirchengemeinden unterhalten würden.73 Diese Antwort akzeptierte der jüdische Vorsteher allerdings nicht, da er „letzteres in Abrede stellen zu müssen glaubt[e]“.74 Der Landrat änderte seine Position trotz dieses Hinweises nicht und entschied, dass die jüdische Gemeinde für den Weg zu ihrem Begräbnisplatz zuständig sei und selbst die Baumaßnahmen vornehmen bzw. die Kosten dafür erbringen sollte. Für den Fall, dass jüdische Einwohner einen Beitrag zur Wiederherstellung des Weges ablehnten, wies er darauf hin, dass der Wegemeister polizeilich verpflichtet sei, notfalls auf Kosten der Säumigen die gefährlichen Stellen zu beseitigen.75 Der jüdische Friedhof von Illingen wurde wohl im Jahr 1747 angelegt. Er befand sich bei seiner Errichtung außerhalb der besiedelten Fläche am Rande des Heisterwaldes. Da er nach einigen Jahrzehnten zu eng wurde, genehmigte der Freiherr von Kerpen 1773 eine Vergrößerung des Begräbnisplatzes. Das Geld für die Anlegung trug die jüdische Gemeinde allein, wobei anzumerken ist, dass das wohlhabendste Mitglied neben seinem eigenen Beitrag der Gemeinde eine bestimmte Summe lieh, welche diese später an ihn zurückzahlen musste. Der Friedhof diente bis 1831 nicht nur der jüdischen Gemeinde von Illingen, sondern auch denjenigen von Neunkirchen und Ottweiler als Ruhestätte ihrer Verstorbenen. Für die Benutzung des Platzes mussten die Auswärtigen genauso wie die Ansässigen eine Abgabe entrichten, die der Unterhaltung der Begräbnisstätte diente.76 Im Regierungsbezirk Trier ging die Zahl der gemeinschaftlichen Friedhöfe im Verlauf des Jahrhunderts zurück, aber zu Beginn der Vierzigerjahre gab es noch einige jüdische Begräbnisorte, die mehrere Gemeinden zusammen unterhielten.77

71 LHAK Best. 491 Nr. 2012, S. 4. 72 Ebd., S. 3. 73 Vgl. ebd., S. 1 – 7. 74 Ebd., S. 8. 75 Vgl. ebd., S. 7 f. 76 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1686, S. 3 f. Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1134, S. 5 – 7. Vgl. Kirsch, Juden, S. 44, 88 – 90. Vgl. Nauhauser, S. 341. 77 Im Fall der Saarbrücker Juden handelte es sich um eine grenzüberschreitende Angelegenheit, denn sie bestatteten bis 1840 ihre Toten im lothringischen Forbach. Vgl. Jehle,

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Die jüdische Gemeinde von Illingen war sich aufgrund ihrer Erfahrungen mit den die Synagoge betreffenden Baumaßnahmen bewusst, dass die Zivilgemeinde und der Staat nicht gewillt waren, Beihilfen für jüdische Kultuseinrichtungen zu geben. Trotzdem versuchten die jüdischen Gemeindemitglieder 1881, zumindest einen Zuschuss zu den Kosten zu erhalten, welche die Reparatur der baufälligen Friedhofs­mauer verursacht hatte. Im Gegensatz zum jüdischen Vorsteher von Gemünden argumentierten sie nicht mit der jüdisch-christlichen Gleichberechtigung, die hinsichtlich der Stellung als Religionsgemeinschaft überhaupt nicht gegeben war. Stattdessen verwiesen sie darauf, dass ihre Gemeindekasse nach der Reparatur der Synagoge völlig erschöpft sei und sie über ihre Steuerleistung auch einen Beitrag zur Unterhaltung der christlichen Friedhöfe geleistet hätten. Auf das Gesuch hin ließ der Gemeinderat den Anteil die jüdischen Einwohner an den Gesamtsteuern der Bürgermeisterei im Jahr 1870 feststellen und folgerte daraus, dass sie zur Erweiterung des katholischen Friedhofs in demselben Jahr 180 Mark beigetragen hätten. Daraufhin bewilligte der Gemeinderat der jüdischen Gemeinde zwar nicht diesen Betrag, aber immerhin 150 Mark.78 Als einige Jahrzehnte später ein Teil der Friedhofsmauer zusammenfiel, formulierte der Vorsitzende des jüdischen Vorstands, Hermann Barth, eine ähnliche Bitte, in der er die Zivilgemeinde um Übernahme der Reparaturkosten bat, da die jüdische Gemeinschaft den Betrag von 1053 Mark kaum aufbringen könne, und betonte, dass „wir glauben sogar eine Berechtigung zu unserer Bitte zu haben, da wir ja auch zu den christlichen Friedhöfen zahlen“.79 Der Gemeinderat zeigte sich daraufhin bereit, einen Zuschuss von 600 Mark aus der Gemeindekasse zu gewähren.80 Das Beispiel von Illingen verdeutlicht, dass trotz der fehlenden Gleichstellung der Kulte in der Rhein­provinz Zivilgemeinden in Einzelfällen bereit sein konnten, jüdische Einrichtungen zu unterstützen. Die Feststellung der Beiträge der jüdischen Einwohner zu christlichen Institutionen und die Gewährung eines dementsprechenden Betrags verdeutlichen, dass es den Gemeinderäten wohl weniger um Solidarität ging als darum, dass letztlich jede Glaubensgemeinschaft die Kosten für ihre kirchlichen Institutionen selbst tragen solle. In Lothringen verfügten während des Ancien Régime nicht alle jüdischen Gemeinden über eigene Begräbnisstätten, sondern die wenigen jüdischen Friedhöfe wurden in der Regel von den Juden eines relativ großen Einzugsgebiets genutzt. Die Ursache dafür lag u. a. darin, dass es den jüdischen Gemeinden – vor allem kleinen Landgemeinden – nicht immer gelang, in ihrem Wohnort ein Grundstück Juden, Bd. 4, S. 1485. Vgl. Marx, Geschichte, S. 131. 78 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1548, S. 1 – 3. 79 LAS Dep. Illingen Nr. 1535, S. 180. 80 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1535, S. 181.

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für diesen Zweck zu erwerben. Im 19. Jahrhundert wuchs die Zahl der jüdischen Friedhöfe in Lothringen zwar an – alleine im heutigen Département Moselle waren es 37 –, aber auch weiterhin benutzten nicht selten die Juden verschiedener Orte gemeinsam einen Begräbnisplatz, z. B. diejenigen aus Nelling, Insming, Erstroff, Francaltroff, Grostenquin, Biding und Lhor die Grabstätte von Hellimer. Als wichtiger Grund für diesen Zustand ist die zerstreute Siedlungsweise der lothringischen Juden zu sehen.81 Probleme mit der kommunalen Verwaltung insbesondere der Gemeinderäte, die den Erwerb von Grundstücken genehmigen mussten, gab es anscheinend nicht.82 Die jüdische Gemeinde von Boulay gehörte zu den ersten in Lothringen, die über eine eigene Begräbnisstätte verfügte. Seit ihrer Entstehung nutzte sie verschiedene Friedhöfe, deren Lage stark variierte. Der erste wurde aufgrund seines Platzes – er grenzte direkt an den damaligen katholischen Friedhof und lag in direkter Nähe zur Kirche und dem Pfarrhaus – nur bis 1724 genutzt. In jenem Jahr führte die Erweiterung des Pfarrgartens dazu, dass der jüdische Begräbnisplatz zu einer Enklave wurde. Der amtierende Pfarrer untersagte den Juden daraufhin die Benutzung des Friedhofs, u. a., weil er sich durch die jüdischen Begräbnisriten gestört fühlte. Die jüdischen Einwohner wandten sich an den Großherzog, der ihnen allerdings nicht entgegenkam, sondern sie enteignete, mit der Folge, dass sie einen neuen Friedhof einrichten mussten.83 Obwohl der alte Platz nicht mehr für Begräbnisse genutzt wurde, stellte er noch im 19. Jahrhundert einen Gegenstand dar, der wiederholt für Diskussionen sorgte. Jüdische Einwohner des Ortes besuchten den Friedhof nämlich weiterhin gelegentlich, um ihrer Vorfahren zu gedenken. 1843 versuchte der Pfarrer Martine, die ört­ liche Verwaltung davon zu überzeugen, den Juden das Wegerecht zum Friedhof, welches ihnen im 18. Jahrhundert eingeräumt worden war, abzusprechen. Der Grund für die Forderung des Geistlichen war, dass die jüdischen Einwohner beim Besuch des Friedhofs sein Grundstück überquerten.84 Der Bürgermeister

81 Vgl. Daltroff, juifs, S. 75 f. Vgl. Meyer, présentation, S. 20 f. Vgl. Avine-Goetz, S. 239. Vgl. Schumann, mémoire des communautés, Meurthe-et-Moselle, S. 43. Vgl. auch Job, Françoise/Job, Sylvain/Freund, Claude: Le cimetière israélite régional de Lunéville (1759 – 1998), Paris 1998. 82 Vgl. Cohen, promotion, Bd. 1, S. 242 f. 83 Vgl. Notizen über den alten jüdischen Friedhof, o. D., 19. Jahrhundert, in: ADM ED 100 2M6. Vgl. Bajetti, communauté, S. 30. Vgl. Daltroff, juifs, S. 75. Vgl. Bernard, Bd. 1, S. 20. Vgl. zu einem eventuell noch älteren jüdischen Begräbnisplatz in Boulay Bajetti, communauté, S. 30. 84 Vgl. Préfet de Metz au Maire de Boulay, 29.7.1843, in: ADM ED 100 2M6. Vgl. Bajetti, histoire, S. 26.

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ließ daraufhin den Schlüssel zum jüdischen Friedhof gleich demjenigen zum katholischen Friedhof in der Bürgermeisterei deponieren.85 Die Angelegenheit war damit aber noch nicht geklärt, denn 1852 entschied die Zivilgemeinde, der das Grundstück gehörte, auf dem der jüdische Begräbnisplatz lag, den Juden das Betreten desselben zu untersagen, damit der katholische Priester nicht länger bei der Nutzung des Pfarrgartens gestört werde. Der Präfekt sah kein gesetzliches Hindernis, das diesem Entschluss entgegenstand, allerdings war er sich der religiösen Gefühle der jüdischen Einwohner bewusst und hielt es für angebracht, „à raison des souvenirs attachés à cet ancien lieu de sépulture, que l’administration municipal invitât les Israélites de Boulay à faire exhumer, s’ils le jugent à propos, et inhumer dans le nouveau cimetière les restes de leurs parents; qu’elle apportât elle mêmes ses soins et ses concours à cette opération, en veillant à ce qu’elle se fût avec tout le respect qu’elle exige“.86 Über eine Umbettung der sterblichen Überreste ist nichts bekannt, sodass davon auszugehen ist, dass eine solche nicht stattfand. Erst zum Beginn der Achtzigerjahre erhielt die jüdische Gemeinde den Schlüssel zurückerstattet, allerdings besuchten ihre Mitglieder den alten Friedhof anscheinend nicht mehr.87 Der zweite jüdische Begräbnisplatz von Boulay wurde nur wenige Jahrzehnte von den Juden benutzt, bevor sie einen dritten im Jahr 1777 eröffneten. Dieser Friedhof, der 1830 erweitert wurde, diente der jüdischen Gemeinde von Boulay das gesamte 19. Jahrhundert über als Begräbnisstätte. Er lag nördlich des Ortes und war – ähnlich wie schon der zweite Friedhof – über einen Weg, der von der Saarlouiserstraße abging, zu erreichen. Neben den jüdischen Einwohnern ­Boulays nutzten ihn auch die Gemeinden von Volmerange und Guinkirchen. Da­­ rüber hinaus gab es zum Ende des 18. Jahrhunderts noch Bitten aus Nancy, arme Glaubens­genossen in Boulay beerdigen zu dürfen.88 Die ersten Grabinschriften, 85 Vgl. Notizen über den alten jüdischen Friedhof nach Informationen des Archivdirektors von Metz, 21.9.1896, in: ADM ED100 2M6. Hiernach wurden die Schlüssel bereits 1844 und nicht erst 1852 in der Bürgermeisterei deponiert. Vgl. Bajetti, sommunauté, S. 30. 86 Préfet de Metz au Maire de Boulay, 12.3.1852, in: ADM ED 100 2M6. 87 Vgl. Bajetti, communauté, S. 30. 88 In der Literatur ist die Existenz des zweiten Friedhofs umstritten. Teilweise wird von einer Weiterbenutzung des ersten Begräbnisplatzes ausgegangen. Vgl. Guir, S. 70. Vgl. Schumann, mémoire des communautés juives de Moselle, S. 39. Schon die Behörden im 19. Jahrhundert waren sich hinsichtlich des Zeitraums der Friedhofsnutzung unsicher. Vgl. Préfet de Metz au Maire de Boulay, 29.7.1843, 12.3.1852, in: ADM ED 100 2M6. Vgl. Bernard, Bd. 1, S. 20 f. Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 223. Vgl. Plan d’ensemble de la partie supérieure de la ville de Boulay, 25.5.1847, in: ED 100 1M3. Vgl. Schwarzfuchs, Simon: Le registre de correspondance des Juifs de Lorraine (1783 – 1791), in: Archives Juives, Nr. 2, Jg. 27, 1994, S. 55 – 61.

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die nicht in hebräischer Sprache gehalten sind, erschienen Ende der Fünfzigerjahre, also etwas früher als im Fall von Gemünden.89 Wie in der Rheinprovinz lässt sich auch in Lothringen feststellen, dass sich der Stil der Grabsteine allmählich veränderte: Während es sich zunächst noch um schlichte, kleine Denkmale handelte, gestalteten sich die Stelen im Verlauf des 19. Jahrhunderts zunehmend größer und reicher verziert.90 Diese Veränderung kann als ein Zeichen für eine allmähliche Verbürgerlichung der Landjuden gesehen werden, die mit ihrem langsamen sozialen Aufstieg einherging. Eine teilweise Verlegung des jüdischen Friedhofs von Boulay wurde im Jahr 1875 beschlossen, da die Bahntrasse nach Teterchen den nördlichen Teil des Begräbnisplatzes durchqueren sollte. Sowohl der jüdische Vorstand der Gemeinde als auch der Großrabbiner von Metz stimmten der Abtretung des fraglichen Grundstücks zu. Im Gegenzug wurde der jüdische Friedhof durch den Garten einer christlichen Einwohnerin Boulays erweitert, welchen die Bahngesellschaft und der Bezirk Lothringen erwarben. Der Grundstückstausch wurde von jüdischer Seite nur unter der Bedingung gestattet, „que la compagnie Belge fera exhumer tous les restes mortels qui peuvent se trouver dans le dit terrain et de les déposer, selon les prescriptions et sous la surveillance d’un ou de plusieurs membres de la dite communauté, dans la partie nord du jardin […] d’une superficie à peu près égale à celle enlevée du cimetière, ainsi que les terres qui recouvrent les restes mortels à exhumer“.91 Darüber hinaus war die Eisenbahngesellschaft verpflichtet, eine neue Friedhofsmauer zu errichten. Deren Sektionschef war sich der religiösen Brisanz der Umbettung der Gebeine durchaus bewusst und betonte ausdrücklich, in dieser Hinsicht gewissenhaft vorzugehen. Die jüdische Gemeinde von Grosbliederstroff verfügte im Gegensatz zu den anderen bisher betrachteten Orten lange Zeit über keinen eigenen Begräbnisplatz. Die ersten jüdischen Einwohner des Dorfes beerdigten ihre Toten auf dem Friedhof der jüdischen Gemeinde von Frauenberg. Diese Begräbnisstätte, die sich südöstlich der kleinen Ortschaft befand, war eine der bedeutendsten von Lothringen, da auch andere Juden der Umgebung, z. B. aus Sarreguemines und Bliesbruck, den Platz nutzten.92 Wohl zum Anfang des 19. Jahrhunderts gingen die jüdischen Einwohner Grosbliederstroffs dazu über, ihre Beerdigungen auf dem Friedhof von Rouhling 89 Vgl. Bernard, Bd. 1, S. 24 – 28. 90 So z. B. in Niedervisse und Bionville. Vgl. Daltroff, juifs, S. 77 – 84. Vgl. Mendel, S. 37. Vgl. Meyer, présentation, S. 21. Vgl. Job, Meurthe-et-Moselle, S. 28 f. 91 Vertrag zwischen der jüdischen Gemeinde von Boulay, der Witwe Petry und der Eisenbahngesellschaft, 27.8.1875, in: ADM 7 AL 282. 92 Vgl. Bernard, Bd. 1, S. 145 f., 162. Vgl. Statistique des communautés Israélites de la circonscription consistoriale de Metz, ca. 1854, in: AJMB MF509 reel 1 fol. 56.

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vorzunehmen.93 In diesem Zusammenhang spielte nicht nur die geografische Nähe des Ortes eine Rolle, sondern auch die Tatsache, dass viele der in Rouhling lebenden Juden zwischen dem Ersten Empire und 1835 nach Grosbliederstroff zogen. Erst unter der deutschen Herrschaft richtete die jüdische Gemeinde von Gros­ bliederstroff einen eigenen Friedhof ein. Bis 1886 nutzte sie noch die Begräbnisstätte von Rouhling, evtl. auch aufgrund der finanziellen Belastungen infolge des Baus der Synagoge. Erst in dem genannten Jahr erwarb sie ein am südlichen Ende des Ortes befindliches – alte Sandkuhl genanntes – Grundstück, sodass Anfang des Jahres 1887 die erste Beerdigung stattfinden konnte.94 Ähnlich wie die jüdischen Einwohner des französischen Grenzortes verfügten auch die in Ettelbrück lebenden Juden zunächst nicht über einen eigenen Friedhof. Der Grund für das Fehlen dieser Institution ist in der geringen Zahl der jüdischen Einwohner in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu sehen. Die Ettelbrücker Juden begruben ihre Toten auf dem 1821 von den hauptstädtischen Juden erworbenen Friedhof, der sich in Clausen befand. Dieser Platz wurde von den luxemburgischen Juden bis zum Jahr 1883 benutzt, als er zu klein für weitere Beerdigungen wurde.95 Zwar war dieser jüdische Friedhof für alle jüdischen Einwohner des Großherzogtums gedacht, aber nicht alle wollten dort begraben werden, z. B. Lazarus Levy aus Grevenmacher, der eine Grabstätte in Trier erwarb.96 Die Überführung der Toten von Ettelbrück zu dem ungefähr 30 Kilometer entfernten Friedhof gestaltete sich schwierig. Darüber hinaus stellte der Transport dorthin, der mit einem mit Pferden bespannten Leichenwagen erfolgte, für die weniger wohlhabenden Juden ein Kostenproblem dar. Daher versuchte die kleine jüdische Gemeinschaft in Ettelbrück das Projekt eines eigenen Begräbnisplatzes, der auch den anderen Juden im Norden Luxemburgs zur Verfügung stehen sollte, zu rea­lisieren. Zwar fand der von Léon und Isaac Cahen gestellte Antrag auf Bewilligung einer jüdischen Totenstätte die Zustimmung der Regierung, nachdem die städtischen

93 Vgl. Bernard, Bd. 1, S. 162 und Bd. 2, S. 58 – 63. 94 Vgl. Bernard, Bd. 1, S. 162 – 165. Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 250 – 252, 289. Vgl. ­Schumann, mémoire des communautés juives de Moselle, S. 61. Entgegen Lang, Rosenfeld und ­Schumann fand die letzte Beerdigung eines Grosbliedertroffers Juden erst 1886 in Rouhling statt. 95 Vgl. Administration générale des affaires communales au Maire et échevins de la ville de Luxembourg, 15.5.1852, in: ANL G128. Vgl. Lehrmann, S. 66. Vgl. Kaiser, Marcel: Der alte Judenfriedhof in Clausen, in: Luxemburger Tageblatt, Nr. 171, 1993, S. 3. Kaiser geht fälschlicherweise davon aus, dass die Juden erst 1824 in den Besitz des Friedhofs kamen. 96 Vgl. Administration générale des affaires communales au Maire et échevins de la ville de Luxembourg, 15.5.1852, in: ANL G128. Vgl. Lazarus Levi au gouverneur du Grand-Duché de Luxembourg, 19.1.1842, in: ANL E55.

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Glaubensgenossen den Plan gutgeheißen hatten, allerdings blieb die Realisierung des Vorhabens zunächst aus.97 Dies erklärt sich u. a. aus den finanziellen Belastungen, welche die Ettelbrücker Juden wegen der Erbauung der Synagoge seit Mitte der Sechzigerjahre zu tragen hatten. Erst durch die Errichtung eines neuen katholischen Friedhofs in Ettelbrück – mit einem abgetrennten Teil für ungetaufte Kinder und nicht vom Staat anerkannte Religionsgemeinschaften – rückte das Projekt des jüdischen Friedhofs Ende der Siebzigerjahre wieder ins Blickfeld. Der Gemeinderat, dem zu dieser Zeit auch Jules Godchaux angehörte, behielt sich in diesem Zusammenhang vor, „zu seiner Zeit über die Errichtung eines israelitischen Kirchhofes zu verfügen“.98 Es gelang Godchaux nicht, seine Kollegen von der Dringlichkeit der Angelegenheit zu überzeugen, obwohl die regionale Verwaltung zu bedenken gab, dass sofort für einen jüdischen Begräbnisplatz gesorgt werden müsse.99 Den endgültigen Anstoß zum Bau eines Friedhofs gab erst eine Bittschrift der jüdischen Gemeinde im Jahr 1880. Der Gemeinderat lehnte diese Petition mit der Begründung ab, dass sämtliche jüdische Familien auswärtig seien und erst vor wenigen Jahren im Ort ansässig geworden seien. Die meisten jüdischen Einwohner wurden von christlicher Seite anscheinend als „Zugezogene“ eingestuft, bei denen unsicher war, ob sie dauerhaft im Ort bleiben würden. Ursachen für diese Sichtweise können in dem starken Zuzug von Juden nach Ettelbrück seit der Jahrhundertmitte sowie der allgemein hohen Mobilität der jüdischen Bevölkerung auf dem Land gesehen werden. Dass ein Teil der Juden schon seit einigen Jahrzehnten im Ort lebte und sogar im Dorf geboren war, wurde nicht reflektiert. Die luxemburgische Regierung befürwortete im Gegensatz zur örtlichen Gemeinde wegen des großen Aufwandes und der hohen Transportkosten bei jüdischen Beerdigungen die Einrichtung eines jüdischen Friedhofs. Der Entscheidung der höheren Instanz fügte sich der Gemeinderat ohne weiteren Widerspruch, und im Dezember 1880 bewilligte er für das Vorhaben 600 Francs. Nachdem er den Plan und den Kostenanschlag genehmigt hatte, wurde zur Anlegung der Begräbnisstätte geschritten, sodass im Sommer 1882 die erste Beerdigung erfolgen konnte. Zum Bau der Friedhofsmauer wurden in den Jahren 1881 sowie 1883 weitere Zuschüsse in Höhe von jeweils 300 Francs vonseiten der Verwaltung gewährt.100 Der neue jüdische Begräbnisplatz lag außerhalb des Ortes „in 97 Vgl. Administrateurs de la communauté israélite du Luxembourg au Ministre d‘Etat, 23.4.1859, Ministre de l’Etat au directeur général de l’Intérieur, 27.4.1859, in: ANL H 78. Vgl. Dondelinger/Muller, Teil III, S. 24. 98 Règlement concernant l’usage du nouveau cimetière d’Ettelbruck et la police des inhumations 8.8.1877, in: ANL H 1024,99. 99 Vgl. Commissaire de district au directeur général d’intérieur, 24.4.1877, in: ANL H 1024,99. 100 Vgl. Flies, S. 1613. Vgl. Dondelinger/Muller, Teil III, S. 25.

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der Ditgesbach“. Somit befand er sich in direkter Nähe zum katholischen Friedhof, der nur wenige Jahre zuvor eingerichtet worden war. Die beiden Begräbnisstätten wurden lediglich durch den Weg, der zu ihnen führte, voneinander getrennt.101 Die Anlegung des jüdischen Friedhofs von Ettelbrück stand in zeitlichem Zusammenhang mit der räumlichen Beschränktheit des jüdischen Friedhofs von Clausen. 1880 sammelte die Verwaltung der jüdischen Gemeinde Beiträge von ihren Mitgliedern ein, um eine Vergrößerung der Begräbnisstätte vornehmen bzw. einen neuen Friedhof anlegen zu können.102 Die Aussicht, zu einem weit entfernten Friedhof beitragen und weiterhin die Unannehmlichkeiten der Überführung in Kauf nehmen zu müssen, trug wohl entscheidend zum Entschluss der Juden Ettelbrücks bei, einen eigenen Begräbnisplatz anzulegen. Im Gegenzug machte der Verwaltungsrat der jüdischen Gemeinde von Luxemburg klar, dass die Ettel­ brücker genauso wie die Escher Juden, die ebenfalls über eine Grabstätte verfügten, in Zukunft kein Recht mehr auf Beerdigungen auf dem neuen Friedhof hätten. Landjuden, die ihre Toten in der Hauptstadt begraben wollten, wurden verpflichtet, eine Bezahlung zu entrichten.103 Die jüdischen Verwalter betonten den ­städtischen Charakter ihres Begräbnisplatzes auch, weil der luxemburgische Stadtrat ihnen die Gewährung eines Zuschusses mit der Begründung verweigert hatte, dass der Friedhof auch für Einwohner aus anderen Orten des Großherzogtums gedacht sei. Darüber hinaus betonte der Rat, dass die Verfassung den Kommunen nicht die Verpflichtung auferlegt habe, in die Ausgaben für die Errichtung von Kultus­ gebäuden einzugreifen.104 Diese Argumentation ignorierte allerdings die Tatsache, dass katholische Bauvorhaben selbstverständlich unterstützt wurden. Eine Einrichtung, über die jüdische Gemeinden zu verfügen suchten, um die Einhaltung der Reinheitsgebote gewährleisten zu können, war ein Tauchbad – in hebräischer Sprache Mikwe („Wasseransammlung“) genannt. Nach jüdischer Auffassung war Reinheit notwendig, um mit Gott in Verbindung treten zu dürfen. Unreinheit konnte durch verschiedene Ursachen hervorgerufen werden, durch das Betreten des Friedhofs ebenso wie durch den Kontakt mit Blut, unreinen Speisen oder Tieren. Im Tauchbad sollte die Reinheit durch das Untertauchen des Körpers bzw. der unreinen Gebrauchsgegenstände, z. B. Geschirr, wiederhergestellt werden. 101 Vgl. Flies, S. 1432. 102 Eine Vergrößerung erwies sich aufgrund des Terrains als unmöglich, weswegen ein neuer Friedhof zu errichten war. Vgl. Schreiben des jüdischen Verwaltungsrates, 13.9.1880, in: ANL H78. Vgl. Kaiser, S. 3. Vgl. Lehrmann, S. 66. 103 Vgl. Lehrmann, S. 66, 77. Mit dieser Vorschrift hing evtl. auch die Eröffnung des jüdischen Friedhofs von Grevenmacher – der auch von anderen Juden aus der Saarregion genutzt wurde – im Jahr 1895 zusammen. 104 Vgl. Maire et échevins de la ville de Luxembourg au Ministre d’Etat, 9.11.1880, in: ANL H78.

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Die jüdischen Frauen waren in besonderem Maße auf ein Tauchbad angewiesen, weil sie sich öfter als die Männer reinigen mussten, da sie während und sieben Tage nach der Menstruation als unrein galten. Aus diesem Grund wurde das Tauchbad oft auch als Frauenbad bezeichnet.105 Im Vergleich zu den anderen Gemeindeeinrichtungen ist die Existenz von ­Mikwen schwieriger nachzuweisen, u. a., weil es sich vor allem in kleineren Gemeinden kaum um eigene Gebäude handelte, sondern sie in der Regel in Privathäusern untergebracht waren.106 Nicht selten wurden in den jüdischen Landgemeinden Notlösungen ergriffen, um überhaupt eine rituelle Säuberung gewährleisten zu können. In Gemünden sammelten nach Angaben des Vorstehers Marx Löb die jüdischen Familien oft kaltes Wasser im Keller, um darin die Reinigungen vorzunehmen, da zumindest in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kein Tauchbad in dem Hunsrückdorf existierte. Der jüdische Vorsteher war mit dieser Gewohnheit unzufrieden, da sie den genaueren Vorschriften des Ritualgesetzes widersprach und zudem der Gesundheit der Frauen schadete. Aus diesem Grund kaufte er ein Haus an, in welchem ein Tauchbad eingerichtet werden sollte. Das Geld stammte größtenteils aus einer Kollekte, die Löb bei vermögenden Glaubensgenossen in Frankfurt und Umgebung durchgeführt hatte. Der restliche Betrag sollte durch die jüdischen Gemeindemitglieder erbracht werden, aber diese wehrten sich teilweise gegen die Leistung von Beiträgen. Die Regierung zu Koblenz lehnte die Bitte des Vorstehers nach exekutorischen Mitteln zur Erhebung der Beiträge ab, da sie die Einrichtung des Tauchbads als Privatsache der Gemeinde ansah.107 Dies hatte die Folge, dass 1860 das Bad trotz des vorhandenen Hauses noch nicht hergerichtet war.108 Der Oberrabbiner von Trier wies 1843 auf die Existenz von Frauenbädern hin, allerdings klagte er, dass diese sich „in den meisten Gemeinden unseres Bezirks in dem erbärmlichsten Zustand [befinden], so daß sie der Gesundheit der Frauen nachtheilig sein müssen“.109 Eine wesentliche Ursache für diese Verhältnisse erblickte Joseph Kahn in der mangelnden Unterstützung der preußischen Behörden.110 Die jüdische Gemeinde Illingen verfügte zumindest zum Ende des 19. Jahrhunderts über eine eigene rituelle Badeanstalt: 1893 erwähnte der Vorstand in einer Aufstellung über die Unterhaltung des Kultus, dass die jüdische Gemeinde über ein Bad verfüge.111 105 Vgl. Heyen, S. 37 – 42. Vgl. Ortag, S. 29. 106 Vgl. Ullmann, S. 160. 107 Vgl. LHAK Best. 441 Nr. 25278, S. 431 – 435. 108 Vgl. LHAK Best. 441 Nr. 9740, S. 331. 109 Jehle, Juden, Bd. 4, S. 1485. 110 Vgl. ebd. 111 Vgl. Deutsch-Israelitischer Gemeindebund/Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden (Hg.): Handbuch der jüdischen Gemeindeverwaltung und Wohlfahrtspflege 1924/1925,

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In Lothringen sowie Frankreich insgesamt stellt sich das Problem der nur schwierigen Nachweisbarkeit der Mikwen ebenso wie im deutschen Fall. ­Schumann gelang es im Rahmen seiner Arbeit über die Zeugnisse jüdischen Lebens in ­Lothringen immerhin, sieben zu identifizieren, z. B. in Remiremont.112 Während in Sarreguemines im Hof der Synagoge ein Tauchbad eingerichtet war, finden sich für die jüdische Gemeinde von Boulay keine Anhaltspunkte in dieser Richtung oder andere Hinweise auf eine Mikwe.113 Im Gegensatz dazu belegt im Fall von Grosbliederstroff ein Dokument der jüdischen Gemeinde von 1947 die zeitweise Existenz eines rituellen Bades. Der Händler Salomon Mendel vermachte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sein Haus der jüdischen Gemeinschaft, welches u. a. dem Vorsänger sowie dem Lehrer als Obdach diente. Zwischen diesem Gebäude und der neuen Synagoge befand sich eine Mikwe. Sie lag anscheinend direkt am Ende des Flures, welcher das ehemalige Haus Salomons durchquerte, und wurde von Regenwasser gespeist. Unter dem Boden des Korridors verlief zudem eine Leitung für das Abwasser.114 Allgemein ist festzuhalten, dass die Mikwen in ländlichen Gemeinden noch am längsten in Gebrauch waren, während in den Städten nach der Wende zum 20. Jahr­ hundert zumeist nur jüdische Zuwanderer aus dem Osten Europas Wert auf die Benutzung derartiger Einrichtungen legten.115 Inwiefern die in Luxemburg im Verlauf des 19. Jahrhunderts entstehenden jüdischen Gemeinden Mikwen einrichteten, ist bis heute weitgehend unbekannt. Dass in den Zwanzigerjahren des 19. Jahrhunderts ein Ritualbad für die jüdischen Einwohner der Hauptstadt existierte, ist anhand der Budgets der Gemeinde zu belegen, z. B. wies dasjenige von 1822 den Posten „loyer de bain des femmes“ aus.116 Bezüglich der auf dem Land lebenden Juden ist lediglich für Esch-sur-Alzette

Berlin 1925, S. 90 f. Vgl. Marx, Geschichte, S. 131. Vgl. Nauhauser, S. 195 f. 112 Vgl. Schumann, mémoire des communautés juives de Moselle, S. 37 – 84. Vgl. ders., mémoire des communautés juives, Meurthe-et-Moselle, S. 41 – 56, 67 – 73. Die Forschung über Mikwen beschränkte sich bislang weitgehend auf Deutschland. Während mehrere französische Synagogen und Friedhöfe zu den „monuments historiques“ zählen, blieben die jüdischen Tauchbäder lange unberücksichtigt. Vgl. Künzl, S. 192. Vgl. Blumenkranz, Bernhard: Le patrimoine religieux des Juifs en France, in: Archives Juives, Nr. 1, 23. Jg. 1986, S.  4 – 19. 113 Vgl. Plan der Synagoge von Boulay, 1857, in: ADM ED100 2M3. Vgl. Schumann, mémoire des communautés juives de Moselle, S. 64. 114 Vgl. Decomps, synagogue, S. 35 f. Vgl. Juda, S. 2. 115 Vgl. Decomps, Claire: Les autres lieux de la vie juive, in: dies./Moinet, S. 130. 116 Vgl. Compte des recettes et dépenses de la communauté israélite de Luxembourg pour l’exercice 1823, in: ANL E55.

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überliefert, dass sich bis vor wenigen Jahrzehnten noch in mehreren Privathäusern Überreste von Vorrichtungen fanden, die wohl als Ritualbäder dienten.117

4.2 Die Gemeindebediensteten und ihre Stellung 4.2.1 Die Multifunktionalität des jüdischen Lehrers in der Rheinprovinz

In der Rheinprovinz lebten die wenigen dort tätigen Rabbiner im 19. Jahrhundert ausschließlich im städtischen Umfeld. Dass jüdische Landgemeinden in der Regel solche Gelehrten nicht anstellten, findet seine Erklärung darin, dass sie weder zur Abhaltung ihrer Gottesdienste noch zur Durchführung von religiösen Zeremonien – z. B. Beerdigungen – auf Rabbiner angewiesen waren. Während des Ancien Régime hatte sich die Lage allerdings noch etwas anders gestaltet, da sich die Rabbiner in dieser Epoche nicht nur mit religiösen Angelegenheiten ihrer Gemeinden und ihrem Studium beschäftigten, sondern sie auch die zivile Rechtsprechung innerhalb der jüdischen Gemeinschaften ausübten. Zwar konnten auch jüdische Vorsteher die letztere Aufgabe versehen, allerdings waren sie nicht selten selbst in innerjüdische Konflikte verwickelt.118 Die Juden von Illingen stellten spätestens 1766 Samuel Oppenheimer als Rabbiner an, der über die Streitigkeiten zwischen jüdischen Einwohnern entschied, sodass diese nicht mehr vor dem herrschaftlichen Gericht ausgetragen werden mussten. Zudem musste die jüdische Gemeinde seit der Einstellung Oppenheimers keinen auswärtigen Rabbiner mehr für die Abnahme eines Eides vor der letzteren Instanz herbeirufen. Erwähnenswert ist, dass Oppenheimer nicht nur für die Illinger Juden tätig war, sondern auch für Juden in den Herrschaften Nassau-Saarbrücken sowie von der Leyen und er zumindest bis 1795 das Amt des Rabbiners versah.119 Zwar hatten bereits im 18. Jahrhundert zahlreiche deutsche Staaten begonnen, die Autonomie der jüdischen Gemeinden zu beschneiden und somit auch den Einfluss des Rabbinats abzuschwächen, aber in den kleinen ritterschaftlichen und geistlichen Territorien war diese Tendenz eher schwach ausgeprägt. Erst infolge des Inkrafttretens der französischen Gesetze, welche den jüdischen Gemeinden ihren korporativen Charakter entzogen, wurde die Tätigkeit der Rabbiner in den links­ rheinischen Gebieten weitgehend auf den religiösen Bereich beschränkt. Aufgrund 117 Vgl. Lehrmann, S. 77. 118 Vgl. Zittartz-Weber, Religion, S. 296. Vgl. Marx, Geschichte, S. 16. Vgl. Kirsch, Juden, S.  81 – 87. Vgl. Olbrisch, S.  59 – 61. 119 Vgl. Kasper-Holtkotte, Juden, S. 56, 187. Vgl. Kirsch, Juden, S. 85 – 87. Vgl. Marx, Geschichte, S. 31 f., 117. Vgl. Nauhauser, S. 291.

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dieser Entwicklung verschwanden die ohnehin nur wenigen Rabbiner völlig aus den Landgemeinden, sodass in diesen die Lehrer bzw. Vorsänger zu den zentralen Persönlichkeiten im religiösen Bereich wurden.120 In den linksrheinischen Gebieten bzw. der Rheinprovinz leisteten sich aber auch städtische Gemeinden nur selten die Anstellung eines Rabbiners, z. B. die Gemeinde von Saarbrücken während der französischen Herrschaft den aus Boulay stammenden Michel Cahen.121 Daher stellten die den Konsistorien angehörigen Großrabbiner fast die einzigen Rabbiner in der untersuchten Region dar. Dass unter den jüdischen Landbewohnern durchaus der Wunsch nach einem Rabbiner vorhanden war, der ihnen im Gegensatz zum Großrabbiner regelmäßig zu Diensten stand, zeigt ein Gesuch der Illinger Juden von 1840. Der jüdische Vorsteher bat den Bürgermeister, sich bei den höheren Behörden für das Anliegen der ansässigen Juden, einen besonderen Rabbiner für die Kreise Saarlouis, Saarbrücken und Ottweiler anzustellen, auszusprechen. Der Beamte entsprach diesem Wunsch zwar nicht, aber er räumte ein, dass „die Anstellung eines Rabbiners für den ganzen Regierungs-Bezirk Trier[,] der seinen Wohnsitz zu Trier hat, für die Israeliten der hiesigen Gegend wegen der großen Entfernung von beinahe gar keinem Nutzen ist“.122 Das Fehlen von Rabbinern wurde notfalls dadurch ausgeglichen, dass Juden ohne besondere religiöse Kenntnisse deren Aufgaben zeitweise übernahmen, z. B. wurde in Illingen der Kaufmann Nathan Berncastel nach dem Tod des Trierer Großrabbiners Marx 1827 beauftragt, gegebenenfalls Vermählungen jüdischer Einwohner des Kreises sowie die Eidesabnahme in der Synagoge vorzunehmen.123 Im Gegensatz zum Rabbiner stellte der Vorsänger oder Vorbeter einen Gemeinde­ bediensteten dar, auf den eine jüdische Gemeinde nur schwerlich verzichten konnte, da er die Leitung der Gottesdienste übernahm. In deren Verlauf rief der Vorsänger einige Gemeindemitglieder auf, die aus der Thora vorlesen durften. Außerdem 120 Vgl. Kasper-Holtkotte, Juden, S. 364 – 367. Vgl. Kasper-Holtkotte, Kultus, S. 53 – 55. Vgl. Zittartz-Weber, Religion, S. 31 – 51. Vgl. Olbrisch, S. 65. Die letztere Feststellung gilt auch für die süddeutschen Regionen. Vgl. Richarz, Entdeckung, S. 17. Vgl. R ­ ohrbacher, Landgemeinde, S. 15. Die sabbatianische Bewegung sowie interne Auseinandersetzungen trugen auch zum Autoritätsverlust der Rabbiner in der frühen Neuzeit bei. Vgl. Breuer, ­Mordechai: Frühe Neuzeit und Beginn der Moderne, in: Meyer/Brenner, Bd. 1, S. 219 – 247. 121 In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es in Kreuznach einen Rabbiner und in Saarlouis und Koblenz waren zeitweise Rabbinats-Kandidaten tätig. Vgl. Kastner, Einführung, S. 37. Vgl. Kasper-Holtkotte, Juden, S. 365. Vgl. Jehle, Juden, Bd. 4, S. 1402 f., 1480 f. 122 LAS Dep. Illingen Nr. 1686, S. 27. Der Trierer Großrabbiner Kahn beklagte 1842 selbst, dass es ihm unmöglich sei, sich den 52 Gemeinden seines Bezirks genügend zu widmen. Vgl. Jehle, Juden, Bd. 4, S. 1482. 123 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1686, S. 14 f.

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legte er die Reihenfolge fest, in der die Aufgerufenen diese Funktion ausüben durften, die für sie eine große Ehre darstellte. Mit dem Aufruf verbunden war ein Segensspruch des Vorsängers im Namen der Gemeinde für den Aufgerufenen und dessen Recht, selbst einen Segen zu sprechen. Auch wegen dieser Segenssprüche war das Recht, vor die Thora gerufen zu werden, sehr begehrt. Die durch den Vorsänger vergebenen Ehrenfunktionen konnten Konflikte innerhalb der jüdischen Gemeinde auslösen, z. B. wenn bestimmte Personen nicht vor die Thora gerufen wurden. Daher legten die führenden Familien Wert darauf, dass die Stelle mit einem ihnen gewogenen Vorsänger besetzt war. Streitigkeiten über die Besetzung dieser Stelle oder kritische Äußerungen über den Vorsänger konnten Ausdruck von Konflikten um die Führungspositionen innerhalb der Gemeinde sein.124 Wohl um derartige Auseinandersetzungen zu verhindern, bürgerte es sich in Illingen spätestens in der zweiten Jahrhunderthälfte ein, dass das Aufrufen zur Thora nach dem Alter erfolgte, sodass die Rolle des Vorsängers an Bedeutung verlor. Anfang des 20. Jahrhunderts legten die Repräsentantenversammlung und der Vorstand in der Synagogenordnung sogar genau fest, welche Mitglieder wann das Recht erhielten, bestimmte Funktionen im Gottesdienst auszuüben. Zwar wurden zumeist Gebühren dafür erhoben, aber es gab auch Anlässe, bei denen ärmere Mitglieder aufgerufen werden mussten, z. B. bei der Beschneidung eines Neugeborenen dessen Vater.125 Auf die Dienste eines Schächters konnte keine jüdische Gemeinde verzichten, wenn sie sich an die religiösen Speisegesetze halten wollte. Er war für die rituelle Schlachtung, das Schächten von Tieren, zuständig, damit deren Fleisch koscher gemäß dem jüdischen Religionsgesetz war. Die Qualifikation eines Schächters musste strenggenommen zwar von einem Rabbiner bezeugt sein, aber gerade in kleinen Gemeinden wurde diese Bestimmung nicht immer eingehalten. Während des 19. Jahrhunderts übertrugen in der Rheinprovinz viele jüdische ­Landgemeinden sowohl die Funktion des Vorsängers als auch das Amt des Schächters den von ihnen angestellten jüdischen Lehrern.126 Auch in Gemünden war dies die Regel, so z. B. im Fall von Immanuel Weinzweig Anfang der Vierzigerjahre oder beim Lehrer Braun im Jahr 1863.127 In Illingen versuchte die jüdische Gemeinde ebenfalls fast das gesamte Jahrhundert über, die jüdischen Lehrer zur Übernahme der mit dem Kultus verbundenen Ämter zu überzeugen, allerdings gelang dies nicht immer. Daher waren z. B. in den Zwanzigerjahren Bernhard Simon und Salomon ­Bromberger gleichzeitig als Gemeindebedienstete tätig: Während Ersterer als Vorsänger und Schächter arbeitete, fungierte der Letztere als Lehrer. Dass die Juden 124 Vgl. Ullmann, S. 169 – 172. Vgl. Heyen, S. 24. 125 Vgl. Nauhauser, S. 319 – 321. 126 Vgl. Jehle, Juden, Bd. 4, S. 1484 f., 1413 f., 1491. Vgl. Heyen, S. 39 f. Vgl. Nauhauser, S. 373. 127 Vgl. LHAK Best. 441 Nr. 9811, S. 581 – 584. Vgl. Schellack, Schule, S. 36.

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Illingens eine einzelne Person für alle Funktionen bevorzugt hätten, zeigt der Modus der Entlohnung. Bernhard war verpflichtet, einen Teil seiner Besoldung an Bromberger abzugeben, während die jüdische Gemeinde diesem lediglich freie Beköstigung und Logis sowie einen kleinen Geldbetrag gewährte.128 Die Multifunktionalität der jüdischen Lehrer war in der Rheinprovinz die Regel, da die Landgemeinden zumeist nicht in der Lage waren, mehrere Gemeinde­ bedienstete zu unterhalten. In den kleinsten jüdischen Gemeinschaften übernahm sogar nicht selten eines der Gemeindemitglieder ehrenamtlich das Vorsingen und die Verrichtung der anderen religiösen Funktionen. Lediglich wenige größere jüdische Gemeinden konnten es sich leisten, verschiedene von ihnen bezahlte Gemeindebedienstete einzustellen.129 Teilweise sprachen sich sogar Vertreter der preußischen Verwaltung angesichts der Tatsache, dass die jüdischen Einwohner ihren Kultus alleine finanzieren mussten, ausdrücklich für die Einstellung nur einer Person aus, so z. B. der Simmerner Landrat Schmidt, der dem Bürger­meister von Gemünden befahl, die jüdische Gemeinde „anzuhalten, sich einen Mann zu wählen, den sie zum Religions- und Elementar-Unterricht und als Schächter gebrauchen können, wodurch ihnen auch die Unterhaltung eines solchen Mannes nicht zu schwer wird“.130 Hinsichtlich ihrer Multifunktionalität gab es Parallelen zwischen den jüdischen Lehrern und ihren christlichen Kollegen, denn die Letzteren versahen zur Aufbesserung ihrer ebenfalls knappen Gehälter Kirchendienste, so z. B. in Gemünden als Glöckner, Küster oder Organist.131 Das Einkommen der jüdischen Lehrer bestand aufgrund der Funktionen, die sie ausübten, meist aus mehreren Einkünften.132 Für ihre Arbeit als Schächter erhielten die Vorsänger bzw. Lehrer in der Regel eine Gebühr für jede vorgenommene Schlachtung.133 Die Übernahme des Schächterdienstes durch die Letzteren war allerdings umstritten, weil wegen der Verrichtung dieses Amts der Schulunterricht nicht immer pünktlich begann oder er sogar gänzlich ausfiel, wie z. B. der Bürgermeister 128 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1545, S. 10, 30. 129 Vgl. Löwenstein, Steven M.: Jüdisches religiöses Leben in deutschen Dörfern. Regionale Unterschiede im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Richarz/Rürup, S. 222. Vgl. ­Kastner, Einführung, S. 37 f. Vgl. Zittartz-Weber, Religion, S. 180. Vgl. Brämer, Andreas: Leistung und Gegenleistung. Zur Geschichte jüdischer Religions- und Elementarlehrer in Preußen 1823/24 bis 1872 (Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden, Bd. 30), Göttingen 2006, S. 301 – 303. 130 LHAK Best. 441 Nr. 9811, S. 33. 131 Vgl. Schellack, Gustav: Das Schulwesen des Kreises Simmern zu Beginn der preußischen Verwaltung im 19. Jahrhundert, in: HHbll, Nr. 4, Jg. 3, 1963, S. 19. Vgl. Brämer, Leistung, S. 78. 132 Vgl. Brämer, Leistung, S. 73 – 79, 305 – 311. 133 Vgl. LHAK, Best. 441 Nr. 9811, S. 581 – 584. Vgl. Schellack, Schule, S. 35 f.

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von Gemünden 1857 kritisierte. In der zweiten Jahrhunderthälfte geriet die Tätigkeit des Koscherschlachtens zusätzlich in die Kritik, da es als „blutiges“ Gewerbe der bürgerlichen Gesellschaft nicht mehr als respektabel erschien.134 Dass diese Denkweise auch unter den auf dem Land beschäftigten jüdischen Lehrern Verbreitung fand, zeigte sich in Illingen. Dort verweigerte Lehrer Markus Pfeffer 1859 – „aus Rücksicht, die ich meinem Amte schuldig zu sein glaube“135 – einige Monate lang den Schächterdienst, ehe er ihn aus finanziellen Gründen wieder aufnahm. Erst 1862 entband ihn die jüdische Gemeinde von dieser Tätigkeit, nachdem sie im neuen Vorsänger Raphael Bechhöfer einen Ersatz gefunden hatte. In den Siebzigerjahren ging sie dazu über, einen besonderen Schächter für die Schlachtung von Großvieh anzustellen.136 Obwohl die jüdischen Bewohner in den betrachteten Gemeinden trotz ihrer sich nur langsam verbessernden ökonomischen Stellung große Belastungen auf sich nahmen, um Vorbeter und Schächter anzustellen sowie ihren Kindern die religiöse Ausbildung durch einen Lehrer zu ermöglichen, waren die Gehälter der Gemeindebediensteten als gering anzusehen. Dieser Zustand galt zu Beginn des 19. Jahrhunderts allerdings nicht nur für Landgemeinden, sondern war generell für kleine jüdische Gemeinden in Preußen kennzeichnend.137 In den Fällen, in welchen solche jüdischen Gemeinschaften verschiedene Bedienstete einstellten, z. B. aufgrund fehlender Qualifika­tionen für eine gleichzeitige Tätigkeit als Lehrer und Vorsänger, führte dies dazu, dass die Gemeindeangestellten kaum von ihren niedrigen Einkommen leben konnten. Samuel Bernhard, der in Illingen als Vorsänger und Schächter tätig war, wurde z. B. in der Klassensteuerrolle von 1859 als sehr armer Mann bezeichnet. In demselben Jahr befürwortete der als Schulvorstand fungierende Dechant Hammes eine Gehaltserhöhung für Lehrer Marcus P ­ feffer, den zweiten Angestellten der jüdischen Gemeinde, da dieser andernfalls sein Häuschen wegen Schulden hätte verkaufen müssen und ihm dann abzüglich der Miete nur noch 90 Taler geblieben wären, „um sich und seine Familie [zu ernähren], wovon hier ein einzelner Mensch nicht leben kann“.138 Erst 1873 gelang es der jüdischen Gemeinde von Illingen nach jahrelanger Suche, einen Lehrer anzustellen, der gleichzeitig als Vorsänger agierte.139

134 Vgl. LHAK Best. 441 Nr. 9811, S. 420. Vgl. Epperstedt, Joachim: Jüdische Schulen, in: Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz, Bd. 3, S. 186. Vgl. Brämer, Leistung, S. 79, 303 – 306. 135 LAS Dep. Illingen Nr. 1546, S. 83. 136 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1546, S. 83 f., 96 – 98, 113 f. Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1535, S. 5. Vgl. Nauhauser, S. 139 f., 323. Entgegen Nauhauser war Bechhöfer nie als Lehrer tätig. 137 Vgl. Jehle, Juden, Bd. 4, S. 1413. Vgl. Brämer, Leistung, S. 77, 301 f. 138 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1546, S. 83. Vgl. Nauhauser, S. 160, 193. 139 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1546, S. 84, 123. Vgl. AZJ, Nr. 30, 1861, S. 436. Vgl. ­Nauhauser, S. 164.

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Trotz ihrer Multifunktionalität waren auch die Einkommen der jüdischen „Lehrerkantoren“ in Gemünden stets niedrig, was dazu führte, dass viele Lehrkräfte die Stelle wieder aufgaben, sobald eine Anstellung in einem anderen Ort eine Einkommensverbesserung versprach.140 Lehrer Hellwitz, der vor seinem Amtsantritt in Gemünden innerhalb von 19 Jahren in neun verschiedenen Orten als Lehrer tätig gewesen war, beschrieb seinen Berufsweg als einen „Wallfahrtsweg durch die Wüste des Lebens“.141 Der 1861 in dem Hunsrückdorf angestellte Tiefenbronner kündigte bereits nach einem Jahr seine Stelle wieder, um in Saarbrücken eine Stelle „zu äußerst vortheilhaften Bedingungen“142 anzunehmen. Angesichts der Tatsache, dass Tiefenbronner mit seinem Gehalt zur Gruppe der am schlechtesten entlohnten jüdischen Elementarlehrer in der Rheinprovinz zählte, verwundert sein Schritt keineswegs. In den Bezirken Trier und Koblenz wurden die jüdischen Lehrkräfte im Durchschnitt schlechter bezahlt als ihre Berufsgenossen in der nördlichen Rheinprovinz. Dies hing u. a. damit zusammen, dass der südliche Teil der Region länger ländlich geprägt blieb als der Norden, wo sich die finanzielle Lage der Lehrer in den städtischen Gemeinden bis zur Gründung des Kaiserreichs – in Einklang mit dem Einkommenszuwachs der jüdischen Bevölkerung insgesamt – verbesserte. Den jüdischen Landgemeinden, deren Mitglieder weniger am wirtschaftlichen Aufstieg teilnahmen und in denen größtenteils ein Bevölkerungsrückgang eingesetzt hatte, fiel es dagegen zunehmend schwerer, Lehrkräfte zu besolden.143 Daher nahm in der zweiten Jahrhunderthälfte auch die Zahl der jüdischen Schulen auf dem Land ab, sodass die Lehrer in wachsendem Maße nur noch für den Reli­gionsunterricht (sowie die anderen religiösen Aufgaben) benötigt wurden, während die jüdischen Kinder für den Elementarunterricht die christlichen Schulen besuchten.144 Von dieser Entwicklung waren auch die Juden Gemündens betroffen, denn in dem Hunsrückdorf wurde die jüdische Schule nach dem Weggang des letzten Elementar­lehrers aufgelöst und die jüdischen Kinder 1874 in die evangelische Schule des Ortes überwiesen.145 Nicht selten handelte es sich bei den in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Rheinprovinz tätigen Lehrern um Juden, die aus osteuropäischen Regionen kamen und deren Bildung nicht nur den preußischen Behörden, sondern auch den Großrabbinern oft zweifelhaft erschien. Aus diesem Grund und wegen des Misstrauens der Regierung gegenüber Juden aus dem „Ausland“, deren Niederlassung 140 Vgl. auch den Amtswechsel von Lehrer Salomon nach Binningen, in: LHAK Best. 441 Nr. 26495, S. 17 – 25. 141 LHAK Best. 441 Nr. 9811, S. 622. 142 LHAK Best. 441 Nr. 9811, S. 563. 143 Vgl. LHAK Best. 441 Nr. 9811, S. 555 – 565. Vgl. Brämer, Leistung, S. 270 – 281. 144 Vgl. Löwenstein, Gemeinde, S. 133. 145 Vgl. LHAK Best. 441 Nr. 9811, S. 729 – 749.

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sie zu unterbinden suchte, waren die jüdischen Lehrkräfte, die wegen ihrer häufigen Stellenwechsel auch als Wanderlehrer bezeichnet wurden, stets von der Ausweisung bedroht.146 Bei dem zwischen 1823 und 1825 in Illingen arbeitenden Bromberger handelte es sich um einen solchen Wanderlehrer: Er stammte aus Böhmen und seine Anstellungen in Hosten, Wiederweiler und Wachenheim dauerten wie im Fall von Illingen lediglich zwei Jahre. Nachdem er in einer Prüfung nicht die Befähigung zum Elementarunterricht nachweisen konnte und auch kein Zeugnis des Trierer Großrabbiners über seine Tauglichkeit zum Religionsunterricht besaß, wurde ihm von der preußischen Verwaltung befohlen, Illingen zu verlassen.147 Aufgrund des Mangels an jüdischen Lehrern in der südlichen Rheinprovinz ging die preußische Verwaltung allerdings nicht immer so streng vor, sondern sah teilweise von den gesetzlich vorgeschriebenen Prüfungen der Lehrer ab, die nur Religionsunterricht erteilten, damit die jüdischen Kinder überhaupt einen solchen erhielten.148 Anders als Bromberger gelang es daher z. B. dem in Gemünden zwischen 1830 und 1837 arbeitenden Salomon Silberberg aus Polen, nachträglich eine Erlaubnis des Bonner Konsistoriums für die Erteilung des Religionsunterrichts und die Naturalisierung als preußischer Untertan zu erlangen.149 Eine bemerkenswerte Ausnahme unter den jüdischen Lehrkräften aus Osteuropa stellte Marcus Pfeffer aus Polen dar, der trotz der knappen Bezahlung von 1831 bis 1873 an der jüdischen Schule von Illingen tätig war.150 Um die Jahrhundertmitte nahm in der Rheinprovinz infolge der Tätigkeit des von Alexander Haindorf in Münster gegründeten Lehrerseminars die Zahl der aus der Region selbst und aus dem benachbarten Westfalen stammenden jüdischen Lehrkräfte zu. Im Gegenzug fanden immer weniger Lehrer aus dem Osten eine Anstellung, u. a., weil die preußischen Behörden die staatlich geprüften und sich häufig als Modernisierer verstehenden jüdischen Lehrer aus dem ­Münsteraner Seminar den als rückständig betrachteten Ausländern vorzogen.151 Von den in Gemünden angestellten jüdischen Gemeindebediensteten genossen die Lehrer Weinberg, Hellwitz und Mayer-Eppstein zumindest einen Teil ihrer Ausbildung in der genannten Lehrerbildungsanstalt.152 Es änderte sich allerdings nichts daran, dass die jüdischen Lehrer genauso wie die christlichen Lehrer in der Regel nicht

146 Vgl. Kastner, Einführung, S. 38. Vgl. Brämer, Leistung, S. 41 – 43, 57 – 67, 73 f. 147 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1545, S. 37 – 41. 148 Vgl. Jehle, Juden, Bd. 4, S. 1392, 1469 f. 149 Vgl. LHAK Best. 441 Nr. 9811, S. 41 f., 97, 121 – 123. Vgl. Schellack, Schule, S. 35. Vgl. Brämer, Leistung, S. 293 – 296. 150 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1546, S. 113, 121. 151 Vgl. Brämer, Leistung, S. 177 – 182, 193 – 202. 152 Vgl. LHAK Best. 441 Nr. 9811, S. 342 – 357, 622 – 625, 663. Vgl. Schellack, Schule, S. 36f. Vgl. Schellack, Gustav: Das jüdische Schulwesen in den ehemaligen Kreisen Simmern

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aus den Orten stammten, in denen sie unterrichteten.153 So wurde der 1869 in Gemünden geborene Hermann Emanuel, der seine Ausbildung zum Lehrer am 1884 gegründeten neo-orthodoxen Seminar zu Köln erhielt, z. B. in Steinfurt tätig. Die genannte Lehrerbildungsanstalt sollte ein Gegengewicht zum Seminar der Marks-Haindorf ’schen Stiftung bilden, das einem Teil der jüdischen Bevölkerung als zu liberal galt.154 Die Konflikte, in welche die jüdischen Vorsänger in ihren Gemeinden gelegentlich verwickelt wurden, hingen teilweise mit unterschiedlichen Auffassungen über die Art und Weise ihrer Amtsausübung zusammen. So sah 1846 z. B. der Schul­ inspektor von Gemünden den Umstand, dass der jüdische Vorsänger und Lehrer Weinzweig mit Reformideen erfüllt war, von welchem die „an dem alten Schlen­ drian hängenden Gemünder Juden“155 nichts wissen wollten, als Ursache für Auseinandersetzungen zwischen der jüdischen Gemeinde und ihrem Angestellten an. In Illingen kam es zu keinem vergleichbaren Konflikt, was u. a. damit zusammen­ hing, dass die bis in die Sechzigerjahre tätigen Vorsänger selbst eine traditionelle Ausbildung genossen hatten und gar nicht anstrebten, religiöse Neuerungen in der jüdischen Gemeinde einzuführen. Als besonders stabilisierend wirkte sich die langjährige Anstellung von Simon Bernhard aus, der zwischen 1823 und 1860 mit der Leitung der Gottesdienste betraut war.156 Zu Auseinandersetzungen zwischen den jüdischen Lehrern und ihren Arbeitgebern konnte es im Bereich des Religionsunterrichts kommen, der im 19. Jahrhundert ein „Experimentierfeld für religiöse Neuerungen“157 darstellte. In Gemünden verbreitete z. B. der bereits erwähnte Weinzweig im Unterricht Reformideen. Er selbst gab an, dass er durch die Schule eine bessere, dem Zeitgeist angepasste Generation heranzubilden bestrebt war.158 Das Selbstverständnis des staatlich geprüften Lehrers, der Ziele wie Anpassung und „Verbesserung“ in den Vordergrund stellte, kollidierte mit dem Interesse der religiös eher traditionellen Eltern. Letztere warfen dem Lehrer vor, die Kinder religiös verwahrlosen zu lassen. Viele jüdische Lehrer in Preußen versuchten solche Konflikte zu vermeiden, indem sie einen Ausgleich

und St. Goar im 19. Jahrhundert, in: Menora. Beiträge zur Jüdischen Geschichte und zur Gedenkstättenarbeit in Rheinland-Pfalz Nr. 10, 1995, S. 27. 153 Vgl. Schellack, Schulwesen des Kreises Simmern, S. 19. Vgl. Dörner, S. 243. 154 Vgl. Feld, S. 216 – 222. Zur Gründung der ersten neo-orthodoxen Schulen vgl. Eliav, ­Mordechai: Jüdische Erziehung in Deutschland zur Zeit der Aufklärung und Eman­ zipation, Münster 2001, S. 296 – 305. 155 LHAK Best. 441 Nr. 9811, S. 262. 156 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1545, S. 10. Vgl. Nauhauser, S. 139, 164. 157 Kaufmann, Schulwesen, S. 298. 158 Vgl. LHAK Best. 441 Nr. 9811, S. 285.

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zwischen ihren persönlichen Überzeugungen und den an sie herangetragen Erwartungen zu erreichen suchten.159 So gab es z. B. in Illingen keine Konflikte reli­giöser Art zwischen den jüdischen Lehrern und der Gemeinde. Dem etwa 40 Jahre tätigen Pfeffer wurde bescheinigt, dass er „sein Amt zur Zufriedenheit der Eingesessenen [..] geführt habe“.160 Die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Rheinprovinz tätigen Lehrer waren in religiöser Hinsicht selbst überwiegend als tradi­ tionell zu bezeichnen, und auch zur Zeit des Kaiserreichs zeigten sie sich nicht alle reformorientiert. Der in Illingen in den Siebzigerjahren als Lehrer­kantor tätige Victor Simon genoss z. B. seine Ausbildung bei dem Oberrabbiner von Krefeld Löb Bodenheimer, der selbst eine Mittelposition zwischen der Orthodoxie und der Reformbewegung einnahm.161 Abgesehen von religiös begründeten Auseinandersetzungen befanden sich die Gemeindebediensteten bei Konflikten zwischen den führenden jüdischen Familien stets in der Gefahr, zu einem „Zankapfel der Gemeindefaktionen“162 zu werden. So führten 1830 Differenzen innerhalb der jüdischen Gemeinde von Gemünden dazu, dass der jüdische Lehrer Block seine Stelle aufgab. Nach Angaben des Landrats war die jüdische Bevölkerung mit Blocks Arbeit zufrieden gewesen, bis er bei gemeindeinternen Streitigkeiten Partei für den Vorsteher Samuel Strauß ergriff. Die Gegner des Letzteren „chikanirten“ den Lehrer daraufhin so sehr, dass er sich für einen Stellenwechsel nach Bernkastel entschied.163 Bei der Frage der Wiederbesetzung der Lehrerstelle kam der innerjüdische Konflikt erneut zum Ausdruck: Während ein Teil der Gemeinde Salomon Silberberg als Religionslehrer anstellte und wünschte, dass die jüdischen Kinder den Elementarunterricht in einer der christlichen Schulen des Ortes erhalten sollten, setzte sich der Vorsteher für die Anstellung eines jüdischen Lehrers ein, der sowohl den Religions- als auch den Elementarunterricht geben könne.164

159 Vgl. ebd., S. 272 f. Vgl. Wiesemann, Falk: Zum Religionswesen der Landjuden in Bayern im 19. Jahrhundert, in: Karl-Heinz Burmeister, S. 120. Vgl. Brämer, Leistung, S.  346 – 349. 160 LAS Dep. Illingen Nr. 1546, S. 117. 161 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1546, S. 128. Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1551, S. 2. Vgl. ­Zittartz-Weber, Religion, S. 320 – 326. 162 Toury, Jacob: Antisemitismus auf dem Lande. Der Fall Hessen 1881 – 1895, in: Richarz/ Rürup, S. 183. 163 LHAK Best. 441 Nr. 9811, S. 31, 50. 164 Vgl. ebd., S. 35 – 39. Letztlich setzten sich die Opponenten von Strauss durch, was nicht nur darin seinen Ausdruck fand, dass er seinen Posten als Vorsteher an Jacob Ochs verlor, sondern auch darin, dass der katholische Lehrer Wilhelmy für den Elementarunterricht der jüdischen Kinder engagiert wurde. Vgl. ebd., S. 72 – 75.

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In Illingen kam es zeitweise ebenfalls zu Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Teilen der jüdischen Gemeinde über die Besetzung der Lehrerstelle. In diesem Zusammenhang spielten soziale Spannungen zwischen den ärmeren und den wohlhabenderen Mitgliedern eine wichtige Rolle. Der aus Ottweiler stammende Abraham Levy versuchte 1828 mithilfe eines Teils der Illinger Juden den amtierenden Elementar- und Religionslehrer Fuhrmann von seiner Stelle zu entfernen, um diese anschließend selbst einnehmen zu können. Der Bürgermeister bezweifelte allerdings, dass Levy im Ort bestehen könne, da der „reichere Theil der Juden […] alsdann ihre Kinder wieder in die christliche Schule schicken“165 würde. Zwar gelang es Levy, die Lehrerstelle einzunehmen, aber schon 1831 verließ er den Ort wieder, evtl. aufgrund des Drucks, den der wohlhabendere und einfluss­reichere Teil der Gemeinde ausübte.166 Nicht nur die jüdischen Gemeinden selbst, sondern auch der preußische Staat erwartete von den jüdischen Gemeindebediensteten – in erster Linie den L ­ ehrern – ein bestimmtes Verhalten. Die jüdischen Lehrkräfte standen daher in einem Spannungsfeld zwischen den Forderungen der staatlichen Behörden und den ­Interessen der jüdischen Eltern: Einerseits ließ die Verwaltung die Tätigkeit der Lehrer durch Schulinspektoren kontrollieren, andererseits waren diese von den jüdischen Gemeinden abhängig, die sie bezahlten. Daher stieß z. B. bei der Führung der Schul­ versäumnislisten das Interesse der Eltern an ihren Kindern als Arbeitskräften mit dem Wunsch der Behörden nach der Durchsetzung der Schulpflicht zusammen.167 In Gemünden folgten die Lehrer meist den Anforderungen der Behörden, wie eine Beschwerde des jüdischen Schulvorstands über die strenge Führung der Listen belegt, in welche die Kinder schon bei leichten Verspätungen als fehlend eingetragen wurden. Auch in Illingen kamen die Lehrer ihrer Berichtspflicht über den Schulbesuch jüdischer Kinder nach, so z. B. Salomon Friedmann, der 1886 dem Bürger­meister mitteilte, dass der aus Zell zugezogene Enkel von Salomon Barth seinen Unterricht besuchen würde. In seltenen Fällen kam es allerdings vor, dass Lehrer aus freundschaftlichen Gründen Kinder fälschlicherweise als krank eintrugen. In Gemünden handelte z. B. Lehrer Weinzweig 1846 so, als er eine Schülerin mehrere Tage als fehlend aufgrund von Krankheit bezeichnete, obwohl sie in Wirklichkeit mit Feldarbeit beschäftigt gewesen war.168 Die christlichen Lehrer befanden sich in einer ähnlichen Situation wie die jüdischen, da auch sie zwischen den Interessen der Behörden und der Eltern der Schulkinder standen.169 165 LAS Dep. Illingen Nr. 1545, S. 95. 166 Vgl. ebd., S. 94 – 100. Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1546, S. 18. 167 Vgl. Epperstedt, S. 186. Vgl. Brämer, Leistung, S. 350 – 358. 168 Vgl. LHAK Best. 441 Nr. 9811, S. 274 f. Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1551, S. 11. 169 Vgl. Dörner, S. 250 – 253.

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4.2.2 Vom „chantre“ zum „ministre du culte“: Lothringen

Hinsichtlich der Anwesenheit von Rabbinern gestaltete sich die Lage in Lothringen in der ersten Jahrhunderthälfte nicht wesentlich anders als in der benachbarten preußischen Provinz. Auch hier lebten nach Einführung der napoleonischen Kultus­ organisation zunächst keine Rabbiner mehr in jüdischen Landgemeinden. Dem in Boulay während des Ancien Régime eingerichteten Rabbinat bereitete spätestens die Neuordnung des jüdischen Kultes im Jahr 1808 ein Ende, weswegen Michel Cain, der frühere Rabbiner, offiziell nur noch als Lehrer in der Gemeinde tätig war. Die Rabbinerstelle war spätestens im Jahr 1721 geschaffen worden, als der Herzog von Lothringen das Niederlassungsrecht der in Boulay ansässigen jüdischen Familien bestätigte und er zudem festlegte, dass für alle Juden in seinem Herrschaftsbereich der dortige Rabbiner zuständig sei.170 In Grosbliederstroff hielt sich lediglich Ende der Vierzigerjahre des 19. Jahrhunderts zeitweise der aus dem Osmanischen Reich stammende Rabbiner Abraham Hirschkowitz auf. Es ist allerdings unklar, ob er für die jüdische Gemeinde arbeitete oder sich lediglich auf der Durchreise befand.171 Wie in vielen deutschen Territorien hatte auch die Verwaltung in Lothringen bereits im Verlauf der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts begonnen, den Einfluss der Rabbiner im zivilrechtlichen Bereich zurückzudrängen.172 Die Auflösung der korporativ organisierten jüdischen Gemeinschaften entzog den Rabbinern endgültig die zivilrechtlichen Funktionen. Daher waren die zahlreichen kleinen Landgemeinden auch nicht auf eigene Rabbiner angewiesen, da die Vorsänger die Verrichtung religiöser Aufgaben übernahmen.173 Zu betonen ist, dass es im Elsass 170 Nach Angaben des ältesten zum Beginn des 20. Jahrhunderts noch lebenden Juden – Benoit Lazard – starb der letzte Rabbiner von Boulay 1827. Vgl. Bürgermeister von Boulay, 19.4.1901, in: ADM ED100 3P1. Vgl. Cahen, Gilbert: Boulay, in: Fred Skolnik/Michael Berenbaum (Hg.): Encyclopaedia Judaica, Detroit 2007, 2. überarb. Aufl., 22 Bde., hier Bd. 4, S. 105. 171 Vgl. Willigsecker, S. 30. Vgl. Chaumont, Jean-Philippe/Lévy, Monique (Hg.): Dictionnaire biographique des rabbins et autres ministres du culte israélite. France et Algérie du Grand Sanhédrin (1807) à la loi de Séparation (1905), Paris 2007, S. 356. 172 Vgl. Berkovitz, rites, S. 81 – 85. Vgl. Ulbrich, S. 204 – 206. 173 Vgl. Heymann, Claude: Vie communautaire, spitritualité et musique dans la campagne alsacienne. Le rôle des chantres, in: Archives Juives, Nr. 1, Jg. 35, 2002, S. 129 f. Heymann betont, dass seine Hauptaussagen auch für Lothringen gelten. Vgl. Heymann, Claude: Les chantres de la campagne alsacienne: Une profession mal connue, in: Archives Juives, Nr. 2, Jg. 33, 2000, S. 21 – 23. Die Zahl der am Ende des Ancien Régime in Lothringen und dem Elsass tätigen Rabbiner lässt sich nicht genau bestimmen, da es neben den wenigen offiziell eingesetzten Gelehrten, wie z. B. demjenigen von Boulay, eine Zahl von Rabbinern gab, welche die Ersteren als „Hilfskräfte“ unterstützten. Hinzu kamen diejenigen, die

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im Gegensatz zu Lothringen im 19. Jahrhundert wesentlich mehr Rabbiner auf dem Land gab. Dies hing vor allem mit der hohen Mitgliederzahl der dortigen Gemeinden zusammen, welche eine Anstellung mehrerer Gemeindebediensteter erlaubte, z. B. beschäftigten die 600 Juden von Durmenach in den Dreißigerjahren einen eigenen Rabbiner. Die unter Napoleon geschaffene Kultusordnung näherte das Amt dieser Gelehrten an das christlicher Geistlicher an: Sie sollten die religiöse Führung ihrer Gemeinde bzw. ihres Bezirks sein, Ehen schließen, Predigten halten und ihre Religion im Sinne der Doktrinen des Sanhedrins lehren.174 Während der preußische Staat keine Institution zur Ausbildung von Rabbinern schuf, wurde in Frankreich mit der 1830 eröffneten Rabbinerschule von Metz eine Einrichtung geschaffen, die alle französischen Rabbiner erfolgreich durchlaufen mussten und die sie auf die ihnen vom Staat zugewiesene Rolle vorbereitete.175 Im annektierten Elsass-Lothringen existierten zwischen 1880 und 1899 zwei Rabbinerschulen in Colmar sowie Strasbourg. Sie mussten allerdings schließen, da die aus religiös traditionellen Milieus stammenden Theologiestudenten meist an das 1873 gegründete orthodoxe Rabbinerseminar nach Berlin gingen.176 Die Zahl der in Lothringen tätigen Rabbiner war in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts genauso wie in der benachbarten Rheinprovinz klein, u. a., weil sich an der Jeschiva in Metz bzw. kleinen Talmudschulen dem Studium widmeten. Vgl. Neher-Bernheim, Bd. 1, S. 102 – 123. Vgl. Cahen, juifs dans la région lorraine, S. 70 – 72. Vgl. Ulbrich, S. 206. Vgl. Hermon-Belot, Rita: L’émancipation des juifs en France. Paris 1999, S. 19. 174 Vgl. Urbah, S. 101 – 104. Vgl. Ayoun, Richard: Une nouvelle conception du métier de rabbin. Le rabbin consistorial en France au XIXe siècle, in: Archives Juives, Nr. 2, Jg. 35, 2002, S. 123 – 126. Vgl. Chouraqui, Jean, Marc: Les rabbins français et le christianisme dans la seconde moitié du XIXe siècle. De la défiance à la reconnaissance, in: Archives Juives, Nr. 2, Jg. 30, 1997, S. 104 f. Vgl. Albert, modernization, S. 282. Vgl. Etat nominatif des rabbins communaux, ca. 1831, in: AJMB MF509 reel 1 fol. 169, 173. 175 Vgl. Ayoun, conception, S. 123 – 126. Vgl. Urbah, S. 101 – 105. Vgl. Ayoun, Richard: L’école rabbinique de France à Metz de 1830 à 1840. in: REJ, Jg. 158, 1999, S. 126 – 136. Vgl. Meyer, Michael. A.: Jüdisches Selbstverständnis, in: ders./Brenner, S. 165. Vgl. B ­ ourel, Dominique: La formation des rabbins en France et en Allemagne au XIXe siècle, in: Rainer Hudemann/ Georges-Henri Soutou (Hg.): Eliten in Deutschland und Frankreich im 19. und 20. Jahrhundert. Strukturen und Beziehungen, München 1996, S. 175 – 183. Vgl. Daltroff, Jean: Écoles rabbiniques et séminaires théologiques dans la seconde moitié du XIXe siècle. Un pont ou un fossé entre la France et l’Allemagne?, online im Internet: http://judaisme.sdv. fr/histoire/rabbins/ecole/ecole.htm [Stand 24.06.2014]. Nach Schorsch Ismar: Emancipation and the Crisis of Religious Authority. The Emergence of the Modern Rabbinate, in: Mosse/Paucker/Rürup, S. 235 waren die Prüfungen nicht besonders streng. 176 Vgl. Dienemann, S. 81 f. Vgl. Avone-Goetz, S. 199 f. Vgl. Löwenstein, das religiöse Leben, S. 110 f.

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die ökonomische Situation der jüdischen Bevölkerung häufig nicht die Anstellung solcher Gelehrter erlaubte.177 Abgesehen vom Metzer Großrabbiner gab es im Département Moselle bis zur Annexion lediglich ein Rabbinat in Sarreguemines. Ein Amtsinhaber des Letzteren war der aus dem Elsass stammende Gabriel M ­ endel, der von 1826 bis zur Jahrhundertmitte für das gesamte Arrondissement – und somit auch für die jüdische Bevölkerung von Grosbliederstroff – zuständig war. Die Dienste, welche er den jüdischen Gemeinden erwies, bestanden vor allem in der Schließung von Ehen und der Abhaltung von Predigten.178 Im Konsistorialbezirk von Nancy waren neben dem Großrabbiner 1832 immerhin in Verdun, Lunéville, Phalsbourg und Dieuze Unterrabbiner tätig. Die beiden letzteren Arbeitsstellen waren außergewöhnlich, weil es sich um jüdische Landgemeinden handelte, deren Mitglieder bis zu diesem Zeitpunkt allein bzw. zusammen mit jüdischen Einwohnern benachbarter Dörfer die Gehälter aufbrachten.179 Bis auf die beiden erwähnten Fälle gab es auf dem lothringischen Land keine Rabbiner, sondern diese lebten stets in städtischen Gemeinden. Dies hing u. a. damit zusammen, dass Unterrabbiner nach 1831 nur dann ein staatliches Gehalt erhielten, wenn sie für mindestens 200 Juden tätig waren und ihnen 1844 untersagt wurde, kommerzielle Nebentätigkeiten auszuüben.180 Während das Rabbinat von Dieuze nicht zuletzt wegen der für den Lebensunterhalt nicht ausreichenden Entlohnung Ende der Sechzigerjahre verschwand, konnte sich das Rabbinat von Phalsbourg das gesamte Jahrhundert über halten, u. a., weil die Stelle als Sprungbrett für das Amt des Metzer Großrabbiners betrachtet wurde.181 Trotz der im Vergleich zur

177 Vgl. Roos, relations entre les juifs, S. 215 – 217. Vgl. Urbah, S. 102. Vgl. Nicault, ­Catherine: Introduction, in: Chaumont/Lévy, S. 17. 178 Vgl. Etat des ministres du culte israélites dans les communes ayant un population juive de 200 âmes & au dessus dans la circonscription israélite de Metz, 6.3.1834, Etat de la population israélite des 19 communes composant le ressort du rabbin de Sarreguemines, 15.11.1849, in: ADM V152. Vgl. Préfet de Metz, 11.12.1845, sous-préfet de Sarreguemines, 21.9.1854, in: ADM V156. Vgl. Tableau général des Ministres du culte, o. D., 1831, in: AJMB MF509 reel 1 fol. 108 f. 179 Vgl. Tableau général des Ministres du culte Israélite, o. D., 1831, in: AJMB MF509 reel 1 fol. 110 f. Vgl. Roos, relations entre les juifs, S. 221. Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 237. Vgl. Job, juifs de Nancy, S. 96. 180 Vgl. Halphen, S. 132, 481 – 503. Vgl. Neher-Bernheim, documents, Bd. 2, S. 256 – 261. Vgl. Urbah, S. 108. 181 Vgl. Préfet du département de la Meurthe à conseiller d’Etat, 14.6.1806, in: ANF F19 Nr. 11011. Vgl. Tableau des ministres du culte Israélite de la circonscription de Nancy renumérés par l’Etat, 29.12.1846, Tableau du personnel des ministres du culte israélite, 1867, in: AJMB MF509 reel 1 fol. 73, 90. Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 237, 284. Vgl. Uhry, S. 55. Vgl. Grivel, S. 62. Der aus Lixheim stammende Lazare Isidor bekleidete nach

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Rheinprovinz etwas höheren Zahl der Rabbinate war das Betreuungsverhältnis zwischen den jüdischen Gelehrten und ihren Glaubensgenossen in Lothringen nur unwesentlich besser, so sollte sich z. B. zur Jahrhundertmitte Moyse Durckheim von Epinal aus um fast 1500 Juden kümmern, die verstreut in teilweise weit von seinem Amtssitz entfernten Orten lebten.182 Nach der Annexion änderte sich zunächst nichts an der Zahl der Rabbiner im nun deutschen Teil der Region, obwohl die Amtsinhaber nun mehr Glaubens­ genossen betreuen mussten als zuvor: Der Großrabbiner von Metz sowie die ihm unterstehenden Rabbiner von Sarreguemines und Phalsbourg waren für die gesamte jüdische Bevölkerung von „Deutsch-Lothringen“ zuständig. Erst 1909 entschied sich die preußische Verwaltung angesichts des im Vergleich zum Elsass schlechten Betreuungsverhältnisses und der zunehmenden Urbanisierung der jüdischen Bevölkerung im Reichsland zu einer Neustrukturierung der Rabbinatsbezirke. Während das Niederelsass 15 Rabbiner verlor, profitierte Lothringen, wo in Thionville, St. Avold und Morhange neue Rabbinatssitze eingerichtet wurden. Die deutsche Verwaltung versuchte sich großzügig gegenüber den Rabbinern zu verhalten, indem sie deren Gehälter verdoppelte. Ähnlich wie die Zuschüsse zum Bau von Synagogen sollte diese Geste das Wohlwollen der Juden erwecken und zugleich zeigen, dass die neue Staatsmacht nicht die Absicht hegte, die Rechte der Minderheit zu beschneiden.183 Im französisch gebliebenen Teil der Region änderte sich trotz der Neueinteilung der Konsistorialbezirke nach dem verlorenen Krieg nichts an der Zahl der tätigen Rabbiner.184 Wie in der Rheinprovinz übernahmen auch in Lothringen in der Regel Vor­ sänger die Leitung der Gottesdienste in den jüdischen Landgemeinden. So waren z. B. im Jahr 1831 im Département Moselle in 35 jüdischen Gemeinden Vorsänger angestellt und diese Zahl blieb bis in die Sechzigerjahre hinein nahezu konstant. Vor der Entlohnung der Vorsänger durch den Staat verzichteten jüdische Gemeinden allerdings des Öfteren auf einen Vorsänger. So übte z. B. zu

dem Rabbinat in Phalsbourg sogar das von Paris und wurde 1867 zum Großrabbiner von Frankreich gewählt. Vgl. Landau, Philippe E.: Lazare Isidor (Lixheim, 1813 – Montmorency, 1888). Du rabbinat de Phalsbourg au grand rabbinat de France, in: Decomps/Moinet, S. 71. 182 Vgl. Tableau des ministres du culte Israélite de la circonscription de Nancy renumérés par l’Etat, o. D., ca. 1849 – 52, in: CAHJP zf/470. Vgl. Tableau du personnel des ministres du culte israélite, 1867, in: AJMB MF509 reel 1 fol. 90. Moyse Durckheim war der Vater von Emil Durckheim. Vgl. Grivel, S. 62. 183 Vgl. Traitements des Pasteurs protestants et des Ministre du Culte Israélite pendant l’année 1871, in: ADM 7AL20. Vgl. Avine-Goetz, S. 191 – 205. Vgl. Caron, mémoire, S. 27. 184 Vgl. Uhry, S. 89 f., 104, 114. Vgl. Grivel, S. 62. Vgl. Landau, modèle, S. 68.

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Beginn des 19. Jahrhunderts in Grosbliederstroff eines der Mitglieder – Lambert Seligmann – die Funktionen des Vorbeters aus.185 Da nach der Ordonnanz vom 6.8.1831 lediglich die Vorsänger einen Anspruch auf staatliche Bezahlung hatten, die in jüdischen Gemeinden mit mehr als 200 Mitgliedern tätig waren, blieben die kleinen ländlichen Gemeinden in der Folgezeit finanziell weitgehend auf sich alleine gestellt, während die größeren – städtische, aber auch ländliche – profitierten. So erhielt z. B. die jüdische Gemeinde von Boulay spätestens ab dem Jahr 1833 ein staatliches Gehalt für ihren Vorbeter.186 Welche Erleichterung die staatliche Zahlung von zunächst 300 Francs für die Landgemeinde bedeutete, wird ersichtlich, wenn man beachtet, dass die dortigen Juden das 400 Francs betragende Gehalt ihres Vorsängers Litmann Klein im Jahr 1831 noch über freiwillige Selbstbesteuerung finanzierten.187 Für die lothringischen Gemeinden, deren Mitgliederhöhe sich an der Grenze der festgesetzten Maßzahl von 200 befand, setzte sich besonders in den ersten ­Jahren nach der Verabschiedung des Gesetzes von 1831 das Metzer Konsistorium ein. Es handelte sich dabei vor allem um jüdische Glaubensgemeinschaften, die sich aus den Juden mehrerer Orte zusammensetzten, wie z. B. die Gemeinde von Gros­ bliederstroff, die neben den Juden des Synagogenortes auch 46 jüdische Einwohner des nahe gelegenen Rouhling umfasste.188 Das Konsistorium argumentierte, dass nicht die Zahl der ortansässigen jüdischen Bevölkerung das entscheidende Kriterium für die Entlohnung eines Kultusbediensteten sei, sondern die Mitgliederzahl der Gemeinde. Der französische Kultusminister schloss sich dem an, wovon sechs jüdische Landgemeinden im Département Moselle im Jahr 1834 profitierten, weil

185 Vgl. Etat de la population israélite dans la circonscription de Metz, 6.2.1831, in: CAHJP zf/469. Vgl. Statistique des communautés Israélites de la circonscription consistoriale de Metz, 1866, in: AJMB MF509 reel 1 fol. 63 – 70. Vgl. Daltroff, histoire, S. 20. Vgl. Juda, S. 2. Vgl. Heymann, chantres, S. 28. 186 Vgl. Extrait du tableau des places salariées par l’Etat pour le culte israélite, o. D., ca. 1831/1832, Etat des traitements des ministres du cultes Israélite payé par L’Etat dans la Circonscription consistoriale de Metz, 20.5.1833, Etat nominatif des ministres du culte Israélite salarié par l’Etat dans le ressort de la circonscription de Metz, 31.12.1836, Liste des ministres officiants de la circonscription israélite de Metz recevant du trésor public un traitement annuel, o. D., ca. 1846, in: ADM 17 J65. Vgl. Etat des sommes à payer pour le traitements des Ministres des Cultes non catholiques, 9.10.1852, in: ADM V152. Vgl. Traitements des Pasteurs protestants et des Ministres du Culte Israélite pendant l’année 1871, in: 7AL20. 187 Vgl. Etat des traitements des ministres du culte israélite dans la circonscription de Metz, 1831, in: ANF F19 Nr. 11094. 188 Vgl. Tableau à joindre à la lettre du 6.3.1834 au ministre de la justice et des cultes, 6.3.1834, in: ADM V152.

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sie nun Gehalt für ihren Vorsänger erhielten, u. a. diejenige von Grosbliederstroff.189 Aufgrund der nahen Staatsgrenze wurden die Gemeinden Lothringens und des Elsass des Öfteren mit der Schwierigkeit konfrontiert, dass der Staat besoldete Funktionen nur an Franzosen vergab. Aus dem Ausland stammende Vorsänger, die in den Genuss eines staatlichen Gehalts kommen wollten, waren gehalten, sich einbürgern zu lassen, wie das Kultusministerium 1841 entschied. Zudem stellte es für manche Gemeinden ein Problem dar, dass sie kein Gehalt für ihren Vorsänger bekamen, weil weniger als 200 ihrer Mitglieder Franzosen waren, z. B. im Fall der jüdischen Gemeinschaft von Bliesbruck.190 Selbst wenn alle Bedingungen von den jüdischen Gemeinden erfüllt wurden, kam es im Jahrzehnt nach der Einführung des Gesetzes von 1831 manchmal vor, dass die vom Staat garantierte Bezahlung des Vorbeters nicht geleistet wurde. Beispielsweise erkannte die französische Verwaltung zwar das Anrecht der Gemeinde von Vantoux auf ein staatliches Gehalt für ihren Vorsänger an, lehnte aber die Bezahlung aus finanziellen Gründen mehrere Jahre ab. Das von der französischen Regierung bewilligte Gesamtbudget für den jüdischen Kultus war nicht ausreichend, um alle zu entlohnen, die ein Anrecht auf Bezahlung hatten.191 Seit der Herrschaft Louis-Philippes hatten alle jüdischen Gemeinden die Möglichkeit, beim Kultusministerium Hilfszahlungen für ihre Religionsbeamten zu beantragen, allerdings erhielten sie diese während der Julimonarchie kaum, da die Regierung die Zerstreuung der jüdischen Einwohner in viele kleine Gemeinden nicht fördern wollte. Erst seit Beginn des Zweiten Empires wurde diese Art der finanziellen Unterstützung vermehrt gewährt.192 Eine Hilfsleistung war nur zu erhalten, wenn der zuständige Bürgermeister die Bedürftigkeit der Antrag­steller bezeugte und ihnen zugleich ein gutes moralisches sowie politisches Betragen 189 Vgl. Président du consistoire israélite de Metz au préfet, 25.11.1833, ministre de l‘intérieur et des cultes au préfet du département de la Moselle, 21.1.1834, Tableau à joindre à la lettre du 6.3.1834 au ministre de la justice et des cultes, 6.3.1834, in: ADM V152. Insgesamt erhielten 12 jüdische Gemeinden im Département Moselle im Jahr 1834 das Gehalt für ihre Kultusbeamten. Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 113. 190 Vgl. Consistoire israélite de Metz, 2.10.1837, in: ADM 17J42. Vgl. Préfet au président du consistoire israélite de Metz, 13.2.1834, in: ADM V152. Vgl. Halphen, S. 132. Vgl. Urbah, S. 116. 191 Vgl. Préfet au ministre de la justice et des cultes, 6.3.1834, ministre de la justice et des cultes au préfet, 9.1.1836, in: ADM V 152. Vgl. Urbah, S. 104 – 108. Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 113. Vgl. Neher-Bernheim, documents, Bd. 2, S. 255 f. 192 Meyer, présentation, S. 20. Vor der Jahrhundertmitte wurde im Département Moselle lediglich der Witwe des Großrabbiners Worms eine Hilfszahlung zugestanden. Vgl. Arrêté du ministre la justice et des cultes, 29.4.1837, in: ADM V152. Vgl. Urbah, S. 116. Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 113. Vgl. Roos, juifs, S. 33.

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bescheinigte. Anträge auf Hilfe stellten verschiedene Personengruppen: Vor­sänger von Gemeinden, die zu klein waren, um ein staatliches Gehalt zu bekommen, staatlich entlohnte Vorbeter, die eine besonders große Familie zu ernähren hatten, Vorsänger, die wegen des Alters oder der Gesundheit ihre Tätigkeit nicht mehr ausüben konnten, und Witwen von Vorbetern sowie Rabbinern.193 Unter den Antragstellern fanden sich auch einige – vom Staat besoldete – Kultus­angestellte aus Grosbliederstroff und Boulay. Während der Unterpräfekt von ­Sarreguemines dem in dem ersteren Dorf lebenden Joseph Blum 1854 keinen Zuschuss zukommen lassen wollte, da er sein Gesamteinkommen als ausreichend ansah, sprach sich der Präfekt – im Anschluss an den Bürgermeister – für einen solchen aus: „Il se trouve en ce moment gêné, comme tous d’autres familles, par suite de la chèreté des vivres.“194 Das Kultusministerium folgte wie gewöhnlich der Meinung des Präfekten und gestand dem Vorsänger von Grosbliederstroff 1855 wie auch drei Jahre später 100 Francs zu. Nachdem Blum im Winter 1860 unter einer langen Krankheit gelitten hatte und es ihm sein Einkommen nicht erlaubte, sein Kind an eine höhere Schule zu schicken, gewährte ihm das Kultusministerium erneut eine Hilfszahlung.195 Wie sein Kollege in Grosbliederstroff, so erhielt auch der Vorsänger von Boulay Cerf Levy in den Fünfzigerjahren mehrfach einen zusätzlichen finanziellen Zuschuss vom Staat. In seinem Fall sprach sich der Bürgermeister des Ortes aufgrund der hohen Lebenshaltungskosten und der großen Anzahl seiner Kinder für eine Unterstützung aus.196 Dass die Bürgermeister die Gutachten nicht als eine reine Formsache betrachteten, sondern wirklich Informationen einzogen und sich ggf. auch gegen eine Hilfszahlung aussprachen, zeigt das Beispiel des Bürgermeisters von Boulay. Als der im nahen Bionville lebende Gemeindeangestellte Israel Wurmser finanzielle Hilfe vom Staat erbat, lehnte er dies aufgrund dessen Lebenswandels nachdrücklich ab: „Le Sr. Wurmser aime le plaisir, il va souvent au café, il est très (e)mature du jeu de billard – en un mot il passe pour un peu bamboch(ieux).“197 Besonders für die kleinen jüdischen Landgemeinden in Lothringen sowie die normalerweise ausschließlich von ihnen entlohnten Vorbeter stellten die seit der Jahrhundertmitte vom Staat gewährten Hilfszahlungen eine kleine Erleichterung

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Vgl. dazu zahlreiche Gesuche in: ADM V 152. Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 113. Vgl. Préfet de Metz, 28.12.1854, in: ADM V152. Vgl. Maire du Boulay, 22.2.1860, ministre des cultes, 25.7.1860, in: ADM V 152. Vgl. Ministre des cultes, 1.3.1855, maire de Boulay, 8.9.1857, Préfet de Metz au ministre des cultes, 11.6.1858, in: ADM V152. Vgl. Ministre des cultes, 1.3.1855, 20.4.1858, in: ANF F19 Nr. 11088. 197 Maire de Boulay, 25.3.1864, in: ADM V152.

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dar, so z. B. im Jahr 1862 für die Juden von Tragny und Pontpierre.198 Manchen der Kultusbediensteten wurden die Beihilfen relativ regelmäßig gewährt, z. B. erhielt der Vorsänger von Rémilly, abgesehen von zwei Jahren, durchgängig Hilfs­zahlungen zwischen 1861 und 1870. Wesentlich dazu bei trugen die Äußerungen des Bürgermeisters, der die Bemühungen der 37 Seelen umfassenden Gemeinde um ein geregeltes Kultusleben mit einer gewissen Sympathie betrachtete.199 Obwohl der französische Staat einem Teil der jüdischen Kultusbediensteten Gehälter zahlte und andere Zuschüsse gewährte, waren deren Einkünfte lange Zeit als niedrig einzustufen. Bis 1844 erhielten die Vorbeter in Orten mit weniger als 5000 Einwohnern lediglich 300 Francs und erst infolge des parlamentarischen Einsatzes von Adolphe Crémieux wuchsen diese Einkommen 1847 auf 500 Francs an. In Orten mit einer Gesamtbevölkerung über 5000 Personen fiel die Ent­lohnung der Kultusbeamten stets 100 bis 200 Francs höher aus, und sobald die Zahl von 600 bzw. 1000 jüdischen Einwohnern erreicht wurde, stieg die Bezahlung noch einmal um 100 bzw. 300 Francs. Aufgrund des ländlichen Charakters der lothringischen Region und der zerstreuten jüdischen Siedlung erhielten die meisten dortigen Vorbeter nur den Mindestbetrag, während bloß wenige – in Metz und Nancy – in den Genuss höherer Gehälter kamen.200 Trotz der beschriebenen Gehaltserhöhung handelte es sich weiterhin um geringe Gehälter, sodass z. B. im Jahr 1860 der Präfekt des Départements Moselle das Einkommen des vom Staat entlohnten Vorsängers von Grosbliederstroff, welches 500 Francs betrug, als „très modique“201 bezeichnete. In den Sechzigerjahren erhöhte sich das Gehalt der meisten „ministres ­officiants“ in Lothringen zwar auf 600 Francs, aber diese Summe lag deutlich unter der Bezahlung, welche die katholischen Pfarrer bzw. ­protestantischen Pastoren vom Staat erhielten, z. B. bekam der in Boulay tätige Pfarrer Jean Martin 1500 Francs. Die Bezahlung der jüdischen Kultusbeamten fiel allerdings etwas höher aus als die nur 400 Francs betragende Entlohnung der katholischen Vikare bzw. Kapläne.202 198 Etat des rabbins et ministres du Culte israélite exercant dans le département de la Meurthe, 14.4.1871, in: ADM 7AL20. 199 Vgl. die diesbezüglichen Anträge, Gutachten und Bewilligungsmitteilungen, 1861 – 1870, in: ADM V152. 200 Vgl. Neher-Bernheim, documents, Bd. 2, S. 256 – 265. Etat des sommes à payer pour les traitements des Ministres des Cultes non catholiques, 9.10.1852, in: ADM V152. Vgl. ­Tableau des ministres du culte Israélite de la circonscription de Nancy renumérés par l’Etat, o. D., ca. 1849 – 52, in: CAHJP zf/470. 201 Préfet de Metz, 18.2.1860, in: ADM V152. Vgl. auch Heymann, chantres, S. 27 f. 202 Die Gehälter waren auch bei den christlichen Konfessionen von der Anzahl der betreuten Gläubigen abhängig. So erhielten katholische Pfarrer 1870 zwischen 900 und 1500 Francs, während die wenigen protestantischen Pastoren, die eine Vielzahl von Orten betreuen mussten, mit 1600 bis 2100 Francs vom Staat entlohnt wurden. Vgl. Compte des dépenses

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Nach der Annexion erhöhte die deutsche Verwaltung die Gehälter der vom Staat entlohnten Vorsänger und hielt an den Hilfszahlungen für arme oder nicht mehr aktive „ministres officiants“ bzw. für deren Witwen und Waisen fest. Weil darüber hinaus Subsidien zu Arbeiten an Synagogen geleistet wurden, erhielten die jüdischen Einwohner proportional nach 1871 mehr finanzielle Unterstützung als jede andere konfessionelle Gruppe.203 Da während der deutschen Herrschaft die Zahl der jüdischen Gemeindemitglieder in Boulay und Grosbliederstroff ähnlich wie in anderen Landgemeinden unter 200 sank, verloren diese allerdings das Anrecht auf die Bezahlung ihres Vorsängers.204 Im Gegensatz zu den vom Deutschen Reich annektierten Gebieten erhielten im französisch gebliebenen Lothringen die Juden ebenso wie die Katholiken und Protestanten seit dem Separationsgesetz von 1905 keine staatlichen Zuschüsse mehr zur Unterhaltung ihres Kultus. Während die jüdische Gemeinde von Nancy sicher war, die anfallenden Kosten allein tragen zu können, zweifelte eine Reihe kleinerer jüdischer Gemeinschaften an, ob sie dazu in der Lage sei, wie z. B. Baccarat.205 Aufgrund der eher geringen Höhe der staatlichen Gehälter übten in Lothringen die Vorsänger häufig auch in größeren Gemeinden die Funktion des Schächters aus, so z. B. Cerf Levy in Boulay in den Vierzigerjahren des 19. Jahrhunderts. Im Département Moselle verfügten 1846 alle vom Staat bezahlten Vorbeter über Nebeneinkünfte, die sie für zusätzliche Dienste – auch als Beschneider oder Gemeindeschreiber – in ihren Gemeinden erhielten.206 Joseph Blum, der von 1852 bis 1863 in Grosbliederstroff als Kultusbediensteter tätig war, verdiente sich mit der rituellen Schlachterei zu seinem Gehalt von 500 Francs etwa 200 bis 250 Francs hinzu.207 Ähnlich wie in der Rheinprovinz betrachtete allerdings auch in Lothringen ein Teil der jüdischen Einwohner – in erster Linie die Oberschicht in den Städten – die Übernahme des Schächterdienstes durch Lehrer bzw. Vorsänger

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des cultes non catholiques effectuées pendant l’année 1869, Präfekt von Deutsch-­Lothringen an Civil-Kommissariat, 15.6.1871, in: ADM 7AL20. Vgl. Avine-Goetz, S. 203 – 209. Vgl. Caron, mémoire, S. 27. Vgl. Caron, conséquences, S. 88. Vgl. Raphael Bechhöfer an das Kultusministerium in Berlin, 24.12.1874, in: 7AL128. Vgl. Verwaltungskommission der israelitischen Gemeinde von Großblittersdorf, 27.4.1890, in: ADM 7AL131. Vgl. Budget der israelitischen Gemeinde zu Bolchen, 1892, in: ADM ED100 3P1. Vgl. Job, juifs de Nancy, S. 115 – 118. Vgl. Préfet de Metz au sous-préfet de Sarreguemines, 26.9.1840, in: ADM V152. Vgl. Liste des ministres officiants de la circonscription israélite de Metz recevant du trésor public un traitement annuel, o. D., 1846, in: ADM 17J65. Vgl. Heymann, chantres, S. 22. Vgl. Heymann, vie, S. 130. Vgl. Nicault, S. 21. Sous-préfet de Sarreguemines, 12.12.1854, in: ADM V152.

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mit Missbilligung. In diesem Sinne befand das jüdische Konsistorium von Metz 1840 hinsichtlich des Vorbeters von Grosbliederstroff, dass er die Funktionen des Schächters nicht mehr ausüben solle.208 Die Vorsänger der kleinen Landgemeinden übernahmen fast immer auch die Erteilung des Religionsunterrichts, während die größeren Gemeinden häufig zusätzlich Lehrer anstellten.209 Die Lehrerkantoren verließen ihre Stellen in den Ersteren in der Regel, sobald sich ihnen bessere Arbeits- und Einkommensaussichten boten. So wechselte z. B. Salomon Franck von Bionville nach Grosbliederstroff, wo er nicht nur ein höheres Gehalt bezog, sondern auch ausschließlich als Lehrer arbeiten konnte.210 In Grosbliederstroff war es nämlich zumindest seit den Dreißigerjahren des 19. Jahrhunderts die Regel, dass die Lehrer nicht auch noch als Vorsänger und Schächter tätig waren. Die Aufgabenteilung spiegelte sich im Gebäude der jüdischen Schule wider, welche eine Wohnung für den Lehrer und eine weitere für den Vorbeter beherbergte.211 In Boulay wurden die Schulkinder bis 1875 zumeist ebenfalls von einem nur für diesen Zweck angestellten Lehrer unterrichtet.212 Obwohl den Vorsängern die Ausübung eines kommerziellen Nebenberufs zur Aufbesserung ihres Gehalts nicht verboten war, sahen es die französischen Behörden ungern, dass die vom Staat bezahlten Kultusbediensteten dem Hausierhandel nachgingen.213 So befand z. B. 1841 der Präfekt von Metz, dass der jüdische Kultusbeamte von Grosbliederstroff implizit auf sein Amt verzichtet hätte „en entreprennant un commerce de colportage moralement incompatible avec ses fonctions“.214 Auch in

208 Préfet de Metz au sous-préfet de Sarreguemines, 26.9.1840, in: ADM V152. Vgl. Heymann, chantres, S. 22. 209 Vgl. Statistique des communautés Israélites de la circonscription consistoriale de Metz, 1866, in: AJMB MF509 reel 1 fol. 63 – 70. Vgl. Meyer, présentation, S. 17. Vgl. Nicault, S. 21 f. Vgl. Heymann, chantres, S. 33. Vgl. Berkovitz, Jay. R.: The shaping of Jewish identity in nineteenth-century France, Detroit 1989, S. 171. 210 Vgl. Mendel, S. 32. Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 251. Vgl. Chaumont/Lévy, S. 295. 211 Vgl. Etat des écoles israélites dans la circonscription consistoriale de Metz, 18.7.1851, in: CAHJP zf/469. Vgl. Compte des dépenses des cultes non catholiques effectuées pendant l’année 1869, in: ADM 7AL20. Vgl. Marx Blum an den Bezirkspräsidenten von Lothringen, 15.2.1872, in: ADM 7AL131. Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 251. Vgl. Chaumont/Lévy, S. 172, 177. 212 Erst nach der Auflösung der jüdischen Schule war der Vorsänger gehalten, den Religions­ unterricht zu geben. Vgl. Kreisdirekter von Boulay von Saldern an den Präsidenten von Lothringen, 16.2.1875, Protokoll der Ortsschulkommission zu Bolchen 24.5.1881, in: ADM 9AL40. 213 Vgl. Urbah, S. 116. 214 Préfet de Metz au président du consistoire israélite de Metz, 19.7.1841, in: ADM V152.

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manchen Landgemeinden wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Kritik laut, wenn ihr Vorsänger im kommerziellen Bereich tätig war. So beschwerte sich z. B. die Verwaltungskommission der jüdischen Gemeinschaft von Boulay 1860 über ihren „ministre officiant“, beklagte dessen „habitudes mercantilles, les occupations incompatibles avec les fonctions religieuses“215und „[qu’ il] ne s’occup[e] toute l’année que de l’engrais de ses bestiaux“.216 Bei kleineren Gemeinden, die ihre Bediensteten ausschließlich selbst finanzierten, wurden solche Kritiken seltener geäußert und auch die weltlichen Behörden zeigten sich nachgiebiger.217 Sowohl in Boulay als auch in Grosbliederstroff zeichneten sich die seit den Dreißigerjahren angestellten Vorsänger durch ihre langen Dienstzeiten aus, die wohl eine Folge der im Vergleich zu anderen jüdischen Gemeinden guten Einkommen waren. In Boulay waren von 1832 bis zum Ende des 19. Jahrhunderts lediglich zwei „ministres officiants“ tätig, nämlich Cerf Levy bis zum Jahr 1860 und seitdem Lazard Leopold Levy.218 In Grosbliederstroff handelte es sich ebenfalls nur um wenige Personen, die als „ministres officiants“ tätig waren, u. a. um Joseph Blum von 1852 bis 1864 und anschließend Joseph Bloch bis zum Ende des Jahrhunderts, ehe sein Sohn Jakob 1902 dieses Amt übernahm. Lediglich in der Zeit zwischen 1841 und 1852 wechselten sich mehrere Vorsänger in relativ kurzer Zeit ab, wahrscheinlich weil ihnen aufgrund der fehlenden französischen Staatsangehörigkeit die staatliche Bezahlung verwehrt blieb, z. B. dem Polen David Naarden. Ähnlich wie in der Rheinprovinz waren auch in Lothringen und dem Elsass in der ersten Jahrhunderthälfte aus dem östlichen Europa stammende Vorsänger bzw. Lehrer keine Seltenheit. So kamen z. B. in Grosbliederstroff der Vorsänger Abraham Beer aus Böhmen und der Ende der Zwanzigerjahre als Lehrer arbeitende Joseph Klein aus Hönstadt in Moravien.219 Die Mehrzahl der jüdischen Gemeindebediensteten 215 Extrait du registre des déliberations de la commission administrative de la communauté israélite de Boulay, 22.7.1860, in: AJMB mf509 reel 3 fol. 2177. 216 Commission administrative de la communauté israélite de Boulay au consistoire israélite de Metz, 15.7.1860, in: AJMB mf509 reel 3 fol. 2180. 217 Z. B. erhielt Moise Weill aus Pontpierre 1866 eine Hilfszahlung, obwohl er auch noch als Lumpensammler arbeitete. Vgl. Maire de Pontpierre 15.4.1865, Ministre des cultes, 18.5.1866, in: ADM V152. 218 Vgl. Maire de Boulay, 6.9.1860, élection d’un ministre officiant à Boulay, 15.7.1861, in: AJMB MF509 reel 3 fol. 2181 f. Vgl. Berufs- und Gewerbezählung vom 14.6.1895, in: ADM ED100 1F4. Vgl. Wohnungsgeldzuschüsse der Gemeinde Bolchen, 21.3.1901, 1.7.1901, in: ADM ED 100 3P1. Der Vor- und Nachname des Letzteren wurde des Öfteren vertauscht, aber aufgrund des Geburtsdatums ist klar, dass es sich um eine Person handelt. 219 Vgl. Préfet de Metz au président du consistorie israélite de la circonscription de Metz, 7.12.1841, in: ADM V152. Vgl. Séance extraordinaire des membres de la commission de surveillance près le temple de Grosbliederstroff, 30.10.1852, procès verbal d’élection d’un

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in Ostfrankreich stammte allerdings aus den Landgemeinden der Region selbst, und neben diesen gab es noch diejenigen, die aus deutschen Ländern zugewandert waren, wie z. B. der im Fürstentum Ellwangen geborene Isaac Loevenberg, der Mitte der Zwanzigerjahre in Boulay Vorbeter war.220 Nach 1871 zeigten sich die jüdischen Einwohner im annektierten Teil Lothringens allerdings reserviert gegenüber ihren aus dem Reich stammenden Glaubens­ genossen, die als Rabbiner, Vorsänger oder Lehrer bei ihnen tätig werden wollten. So erhielt z. B. der zeitweise auch in Illingen tätige Raphael Bechhöfer, der 1873 zum Vorsänger der jüdischen Gemeinde von Bionville ernannt wurde, dort zunächst nicht sein Gehalt, da die jüdische Gemeinschaft dieses weiterhin seinem (lothringischen) Vorgänger ausbezahlte. In anderen Fällen zogen die jüdischen Gemeinden osteuropäische Vorbeter ihren „altdeutschen“ Kollegen vor, so z. B. in Delme.221 Die deutsche Verwaltung duldete diesen Zustand trotz Klagen der sich übergangen fühlenden Vorsänger aus dem Reich, was zur Folge hatte, dass bis zum Ende der deutschen Herrschaft die Mehrzahl der jüdischen Kultusbeamten im annektierten Lothringen aus dem Reichsland selbst oder aus Osteuropa stammte. Im Gegensatz zu den deutschen Behörden schenkte die Verwaltung im französisch gebliebenen Lothringen der Staatsangehörigkeit bzw. Herkunft der jüdischen Kultusbeamten stärkere Aufmerksamkeit. So durften die in Elsass-Lothringen geborenen Vor­sänger, die nicht für Frankreich optiert und daher die französische Staatsangehörigkeit verloren hatten, nicht mehr in Frankreich arbeiten. Trotzdem gab es eine Anzahl jüdischer Vorsänger, die mal diesseits, mal jenseits der Grenze tätig waren. Ein Teil von ihnen entschied sich, die französische Staatsangehörigkeit zu beantragen, sodass sie weiter ihrer Tätigkeit nachgehen konnten.222 In Boulay und Grosbliederstroff gab kaum einer der jüdischen Kultusbe­diensteten seine Stelle freiwillig auf, sondern sie arbeiteten, bis sie zu alt für die Ausübung des ministre officiant à Grosbliederstroff, 13.10.1864, in: AJMB MF509 reel 3 fol. 2339, 2341 f. Vgl. Konsistorium von Metz an den Bezirkspräsidenten von Lothringen 23.7.1902, in: ADM 7AL 131. Vgl. Willigsecker, S. 9, 16, 37, 61. Vgl. Chaumont/Lévy, S. 172, 177, 571, 866. Vgl. Albert, modernization, S. 279. Vgl. Raphael, Freddy: Préface, in: Jean Daltroff, juifs, S. 4. 220 Vgl. Chaumont/Lévy, S. 505, 834. Vgl. Heymann, chantres, S. 24. Vgl. Neher-Bernheim, documents, Bd. 2, S. 145 f. 221 Vgl. Maire de Bionville, 27.9.1874, Raphael Bechhöfer an den Oberpräsidenten von Lothringen, 16.12.1874, in: ADM 7AL128. Vgl. Weil an das Ministerium der geistlichen Angelegenheiten, 15.3.1915, in: ADM 7AL 43. 222 Vgl. Avine-Goetz, S. 209 f. Vgl. Netter, Nathan: Vingt siècles d’histoire d’une communauté juive. Metz et son grand passé, Paris 1938, S. 462. Vgl. Urbah, S. 117. In einem Fall entband das Konsistorium von Nancy einen Vorsänger von seinen Funktionen, da er seinen Militärdienst im Deutschen Reich absolviert hatte und der Einberufung zu einer Wehrübung gefolgt war.

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Amtes waren bzw. entlassen wurden.223 Anders als in der Rheinprovinz, wo die jüdischen Gemeindebediensteten teilweise aufgrund ihres Reformwillens ihre S­ tellen in Landgemeinden verloren, spielten religiöse Meinungsverschiedenheiten bei Entlassungen in Lothringen eine eher untergeordnete Rolle.224 So klagte z. B. die jüdische Verwaltungskommission von Boulay im Jahr 1860 zwar über die „ignorance complette quant aux cérémonies religieuses“225 ihres langjährigen Vorsängers, allerdings standen seine kommerziellen Nebentätigkeiten, welche anscheinend zur Vernach­ lässigung seiner Amtspflichten führten, und seine Persönlichkeit nicht weniger in der Kritik.226 Ein wichtiges Motiv für den Wunsch nach der Entlassung des 73-Jährigen spielte seine Unfolgsamkeit gegenüber der ihm übergeordneten Elite der Gemeinde: „l’officiant, il nous fit dire, qu’il n’avait à recevoir d’ordre de personne, et qu’il n’avait aucun compte à rendre à la commission administrative.“227 Dass es sich um eine teilweise persönlich motivierte Auseinandersetzung handelte, zeigte sich auch darin, dass die jüdische Gemeindeführung darauf drängte, den Sohn des Vorbeters, der als Schächter und Hilfsvorbeter agierte, aufgrund seines angeblich schlechten Renommees zu entlassen, während der Bürgermeister den Vorsänger und seine Kinder als Personen schilderte, über deren Moralität nie geklagt worden sei: „Nous […] certifions […] que le sieur Cerf Levy […] est de bonne vie et mœurs, qu’il est parfait honnête homme […]. Nous attestons en outre que tous ses enfants se sont toujours bien conduit pendant tout le temps qu’ils ont habité cette ville, et que jamais aucune plainte ne nous en parvenue contre leur moralité.“228 Letztlich beugte sich Levy dem Willen der ört­lichen Verwaltungskommission und beantragte seine Entlassung, sodass er Ende des Jahres 1860 von seiner Stelle entbunden wurde.229 Im Gegensatz zur Rheinprovinz, wo die jüdischen Gemeinden weitgehend eigenständig entschieden, ob und wann sie ihre Kultusangestellten anstellten und entließen, waren die jüdischen Gemeinden in Lothringen in diesem 223 Eine Ausnahme bildete Joseph Blum, der 1864 aus eigenem Antrieb von Grosbliederstroff nach Boulogne sur Seine wechselte. Vgl. Préfet de Metz au préfet de la Seine, 23.7.1864, in: V152. 224 Vgl. Albert, modernization, S. 280. 225 Vgl. Commission administrative de la communauté israélite de Boulay, 15.7.1860, in: AJMB mf509 reel 3 fol. 2180. 226 Vgl. Commission d’administrative israélite de Boulay, 17.7.1860, in: AJMB mf509 reel 3 fol. 2176. 227 Commission d’administrative de Boulay au consistoire de Metz, 15.7.1860, in: AJMB mf509 reel 3 fol. 2180. 228 Maire de Boulay Le Secq de Crépy, 6.9.1860, in: AJMB mf509 reel 3. 229 Vgl. Cerf Levy au commissaire surveillant du temple israélite de Boulay, 24.9.1860, acceptation du commissaire surveillant du temple israélite Rheims, 24.9.1860, in: AJMB mf509 reel 3 fol. 2183.

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Zusammenhang auf die Zustimmung der ihnen übergeordneten Konsistorien angewiesen, vor allem, wenn es sich um einen vom Staat entlohnten Bediensteten handelte.230 Daher zog sich z. B. in Grosbliederstroff die Entlassung des Kultusbediensteten Jacob Cahen über ein Jahr hin, da das Konsistorium trotz der wiederholten Klagen der Gemeinde darüber, dass Cahen seine Funk­tionen nicht erfülle, zunächst keinen hinreichenden Grund für seine Amtsenthebung sah.231 Erst nachdem der Vorbeter 18 Monate lang seinen Pflichten nicht nachgekommen war und sich das Konsistorium dem Vorwurf ausgesetzt sah, aufgrund verwandtschaftlicher Verbindungen nicht gegen diesen vorzugehen, gab die jüdische Verwaltungs­behörde dem Drängen der Landgemeinde nach.232 Das Einlenken des Konsistoriums, welches zunächst davon ausging, dass Cahen lediglich das Opfer einer Intrige sei, wurde allerdings auch durch die vom Kultus­ ministerium geäußerte Kritik, dass die Metzer Behörde bei der Ernennung des Vorsängers nicht auf dessen Qualifizierung geachtet hätte, begünstigt. Die ­Metzer Konsistorialen verteidigten sich gegen diesen Vorwurf mit der Begründung, dass ihre Aufgabe bei der Ernennung der „ministres officiants“ lediglich darin bestehe, die Rechtmäßigkeit ihrer Wahl in den verschiedenen Gemeinden zu über­wachen, aber nicht deren Eignung für diese Aufgabe.233 Die Diskussion mit dem mit dieser Antwort unzufriedenen Kultusministerium führte letztlich dazu, dass durch die Ordonnanz von 1844 die Großrabbiner verpflichtet wurden, allen Vor­sängern, die in ihrem Amtsbezirk angestellt werden sollten, ein Zertifikat über deren religiöse Kenntnisse auszustellen. In der Praxis bedeutete dies allerdings lediglich, dass die Vorsänger Französisch sowie Hebräisch beherrschen mussten.234 Im Gegensatz zu den Rabbinern, die seit 1832 von staatlicher Seite zur Ausbildung an der zunächst in Metz und 1856 nach Paris verlegten Rabbiner­ schule verpflichtet wurden, gab es bis zum Ende des 19. Jahrhunderts keine Institution, die alle Vorbeter in Frankreich auf ihren Beruf vorbereitet hätte.235 230 Vgl. Urbah, S. 118. Vgl. Albert, modernization, S. 281 f. 231 Vgl. Consistoire israélite de Metz au préfet de Metz, 24.1.1842, Préfet de Metz au Sous-­ préfet de Sarreguemines, 19.3.1841, in: ADM V152. Vgl. Roos, juifs, S. 266 f. 232 Vgl. Préfet de Metz au Sous-préfet de Sarreguemines, 19.3.1841, préfet de Metz au président du consistoire israélite de Metz, 7.12.1841, préfet de Metz au ministre des culte, 7.12.1841, in: ADM V152. 233 Vgl. Consistoire israélite de Metz au préfet de Metz, mars 1842, in: APC Icc 69. Vgl. Chaumont/Lévy, S. 211. 234 Vgl. Ministre des cultes au consistoire centrale israélite de la France, 4.4.1842, in: APC Icc 69. Vgl. Chaumont/Lévy, S. 211. Vgl. Nicault, S. 21. Vgl. Albert, modernization, S. 279 f. 235 Lediglich in Bordeaux gab es eine Schule zur Ausbildung der sefardischen Vorsänger. Vgl. Nicault, S. 25 – 28. Vgl. Albert, modernization, S. 280 f. Vgl. Debré, S.: The Jews of France, in: The Jewish Quarterly Review, Nr. 3, Jg. 3, 1891, S. 404.

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Die Vor­sänger, Schächter und Beschneider erlernten normalerweise bei anderen Kultusbediensteten ihren Beruf, wobei es sich teilweise um Verwandte handelte. So eignete sich z. B. Jakob Bloch, der 1902 Vorsänger in Grosbliederstroff wurde, seine Fertigkeiten bei seinem Vater an, der vor ihm die Stelle bekleidet hatte.236 4.2.3 Auf sich alleine gestellt: die jüdischen Landgemeinden in Luxemburg

Da sich in Luxemburg erst unter französischer Herrschaft die jüdische Bevölkerung niederließ, musste sich das jüdische Kultusleben im Großherzogtum von Grund auf neu entwickeln. Zuerst konzentrierte es sich genauso wie die jüdische Einwohnerschaft fast ausschließlich auf die Hauptstadt. Die zunächst nur wenigen jüdischen Landbewohner waren eng mit der jüdischen Gemeinschaft der Hauptstadt verbunden, da sie aufgrund ihrer verstreuten Siedlung nicht in der Lage waren, eigenständig Gottesdienste zu feiern. In Ettelbrück beabsichtigten zwar bereits Mitte der Dreißiger­jahre die Brüder Salomon und Gerson Israel zusammen mit Gerson Bonn und Marx Levy, eine Thora in Saarlouis für die Abhaltung von Gottesdiensten anfertigen zu lassen, aber das Vorhaben konnte wegen des Wegzuges des Letzteren und des Todes von Gerson Bonn zunächst nicht verwirklicht werden. Aus diesem Grund suchten die Ettelbrücker Juden an jüdischen Feiertagen die Hauptstadt auf, um dort am Gottesdienst teilzunehmen.237 Hinzu kam, dass nach den Gesetzen „tous les israélites du Grand-Duché appartiennent à la synagogue de Luxembourg“.238 Die jüdischen Landbewohner waren Teil der jüdischen Gemeinde der Stadt Luxemburgs und daher direkt von den Entscheidungen der staatlichen und städtischen Auto­ritäten dieser gegenüber betroffen, z. B. davon, ob Beihilfen zur Ausübung des Kultus gewährt wurden. Bis 1815 unterstanden die in Luxemburg lebenden Juden dem Großrabbiner von Trier, da sich dessen Amtsbezirk auch auf das Département de Forêts erstreckte. Unter der niederländischen Herrschaft war zunächst der Rabbiner von Maastricht, zu dessen Amtsbereich alle südlichen Provinzen der Niederlande gehörten, für die jüdische Gemeinschaft des Großherzogtums zuständig. Wegen der großen Ausdehnung des Amtsbezirks wurde die Mehrzahl der Gemeinden von ihrem

236 Vgl. Chaumont/Lévy, S. 172 – 178. Vgl. Nicault, S. 25 – 28. Vgl. Heymann, chantres, S. 24. Seit 1844 sollten zwar nur noch von den Konsistorien autorisierte Beschneider tätig sein, aber dies ließ sich zunächst nicht einmal in Paris durchsetzen. Vgl. Landau, Philippe E.: La circoncision au XIXe siècle. Cinquante années de conflit au consistoire de Paris, in: Archives Juives, Nr. 2, Jg. 28, 1995, S. 41 f. 237 Vgl. Dondelinger /Muller, Teil, II, S. 25. 238 Régence du pays au Roi Grand-Duc, 25.12.1841, in: ANL E 55.

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Seelenhirten nur äußerst selten besucht 239. Aus diesem Grund weigerte sich die jüdische Gemeinschaft Luxemburgs im Jahr 1819, für die Unterhaltung des Rabbiners Glogauer einen Beitrag von 131 Gulden – über 20 % der gesamten Summe – zu entrichten. Sie argumentierte, dass der geforderte Betrag für die kleine und eher ärmliche jüdische Bevölkerung Luxemburgs exorbitant sei, zumal die wesentlich zahlreicheren Juden Maastrichts zusammen lediglich 200 Gulden entrichten sollten. Die zugestandene Verminderung des zu zahlenden Beitrags auf 100 Gulden sah der die Gemeinde vertretende Godchaux daher als ungenügend an. Nach dem kurz darauf folgenden Tode Glogauers gehörten die Juden der belgischen Provinzen zunächst dem Rabbinat von Herzogenbusch an und anschließend unterstanden sie bis 1830 demjenigen Rotterdams.240 Dass die jüdischen Einwohner Luxemburgs keinen eigenen Rabbiner anstellten, lag nicht zuletzt an der finanziellen Belastung, welche die Bezahlung eines solchen dargestellt hätte. Nach dem Ende des Ersten Empires blieb die jüdische Gemeinschaft Luxemburgs in finanzieller Hinsicht genauso wie die anderen jüdischen Gemeinden auf niederländischem Territorium zunächst weiterhin auf sich allein gestellt.241 So wie die meisten kleinen jüdischen Gemeinden in Lothringen und der Rheinprovinz leisteten sich allerdings auch die Juden Luxemburgs die Anstellung eines Vorsängers, der ihre Gottesdienste leitete. 1815 erfüllte der Händler Jonas Lippmann die Funktionen des Vorbeters, wofür er von seinen Glaubensgenossen entlohnt wurde.242 Kurze Zeit später stellte die jüdische Gemeinschaft mit Mayer

239 Vgl. Verdeeling van de Resorten der Israelitsche Hoofdsynagogen in ’t Koningrijk der Nederlanden in Synagogale Ringen of Kerkgangen, Anhang an einen Brief des ­Commissaris-Generaal, provisioneel belast met de Zaken der hervomden en andere eerediensten. Behalve dien der Roomsch-Catholyken, 21.8.1816, in: ANL C654. Vgl. Goedert, S. 351. Vgl. Somerhausen, Hartog: Briefe aus Belgien, in: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums, Bd. 1, 1851/1852, S. 549. 240 Vgl. Godchaux au gouverneur du grand duché de Luxembourg, 10.12.1819, Opper-­ Rabbyn van het wereenige Rabbinat der Zuidelyke Provincien an Gouverneur der Provintie ­Luxembourg 1.12.1819, Président du consistoire israélite de Maestricht, 16.9.1819, 8.12.1819, 15.12.1819, in: ANL C654. Vgl. Kasper-Holtkotte, Westen, S. 396. Vgl. Moyse, rejet, S. 57. 241 Vgl. Vlessing, O.: The Jewish Policy of King William I, in: Jozeph Michman (Hg.): Dutch Jewish history. Proceedings of the fourth Symposium on the History of the Jews in the Netherlands (Dutch Jewish history, Bd. 2), Assen 1989, S. 188. Vgl. Kasper-Holtkotte, Westen, S. 387. 242 Vgl. Etat numérique des non-catholiques, actuellement établis dans le grand-duché de Luxembourg. o. D., ca. 1815, in: ANL C654 sowie Heidt/Lennartz, S. 246 – 248.

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Morhange einen hauptamtlichen Vorsänger an.243 Es ist anzunehmen, dass dieser Vorbeter genauso wie der Anfang der Vierzigerjahre angestellte Vorsänger Nathan Schuster auch den Dienst als Schächter versah, um seine geringe Bezahlung aufzubessern.244 Der Grund für das niedrige Gehalt des Kultusbediensteten war auf die angespannte finanzielle Lage der jüdischen Gemeinde, die bis Mitte der Fünf­ zigerjahre Schulden vom Bau der ersten Synagoge abzutragen hatte, zurückzu­führen. Zu Beginn der Vierzigerjahre konnte es sich die kleine Religionsgemeinschaft nicht einmal erlauben, einen Vorsänger für mehrere Jahre fest anzustellen: „Le salaire modique affecté à cet emploi ne permet d’avoir qu’un chantre provisoire.“245 Erst aufgrund des 1842 eingeführten staatlichen Zuschusses, der der Bezahlung des neuen Rabbiners diente, entspannte sich die finanzielle Lage der jüdischen Gemeinschaft des Großherzogtums leicht. Das Gehalt des ab 1843 tätigen Oberrabbiners Hirsch erwies sich allerdings als zu niedrig für die Bestreitung des Lebensunterhalts in der Stadt Luxemburg, sodass dieser sich noch im Jahr seines Amtsantritts mehrfach an den Großherzog wandte.246 Der Staatsrat, der einen Weggang Hirschs als Verlust für die jüdische Gemeinschaft betrachtet hätte, war der Meinung, dass sein Gehalt angepasst werden müsse, sowohl an seine Bedürfnisse und Aufgaben als auch an seinen „rang qu’il doit occuper dans la société, comme premier ministre d’un culte. […] En prenant les émolumen[t]s d’un curé de 1ere classe, pour point de comparaison dans la fixation du traitement d’un rabbin, au égard à l’importance des fonctions dont il est investi, on trouve qu’un traitement de 1000 florins est ce qui peut lui convenir, vu qu’il ne joint d’aucun autre émolument.“247 Das Bemerkenswerte an dieser Argumentation – welcher der Großherzog folgte – ist, dass dem Rabbiner explizit die Bedeutung eines katholischen Geist­ lichen – von vergleichbarem Stellenwert – zugesprochen wurde.248 243 Vgl. Liste des familles juives établie dans l’arrondissment de Luxembourg, 14.3.1818, in: ANL C386. Vgl. Goedert, S. 353 f. 244 Vgl. Rabbin Samuel Hirsch, 28.3.1844, administration de la communauté israélite de Luxembourg au maire et échevins de la ville de Luxembourg, 30.11.1843, 26.6.1844, in: ANL F68. 245 Requête de la communauté israélite du Grand-duché de Luxembourg au Roi Grand-Duc., 9.2.1841, in: ANL F225. 246 Vgl. Rabbin Samuel Hirsch au Roi Grand-Duc, 8.3.1844 et 8.4.1844, in: ANL F 68. 247 Conseil de gouvernement au Roi Grand-Duc, 10.4.1844, in: ANL F68 sowie H78. 248 Vgl. Chancelier d’Etat Blochhausen, 3.5.1844, in: F 68. In den folgenden Jahrzehnten wurde das Gehalt des Rabbiners mehrfach erhöht, so z. B. 1849 auf 2000 Francs, 1874 auf 2600 und 1894 auf 2870 Francs. Vgl. Dépenses des cultes 1839, in: ANL AE265. Vgl. Lehrmann, S. 66. Zudem gewährte die Stadt Luxemburg dem Rabbiner bis 1856 einen ­Wohnkostenzuschuss. Vgl. Conseil administrative de la communauté israélite de ­Luxembourg au conseil communal de la ville de Luxembourg, 18.2.1856, in: ANL H78.

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Bei der Besetzung der Rabbinerstelle, deren Amtsinhaber für alle Juden des Großherzogtums zuständig war, kam es ähnlich wie bei der Einstellung der Vor­sänger in den Landgemeinden der preußischen Rheinprovinz zu Ausein­ andersetzungen. Zu einem besonders starken Konflikt innerhalb der jüdischen Gemeinschaft des Großherzogtums führte die Bestimmung des ersten Rabbiners. Während die religiös tradi­tionelleren Juden den in Luxemburg geborenen Isaias Levy favorisierten, ­setzten sich diejenigen, die eine Anpassung des jüdischen Kultus an ihre Zeit forderten, für den aus Thalfang in der Rheinprovinz stammenden Samuel Hirsch ein.249 Noch bevor der Großherzog das Subsidium genehmigte, welches die Anstellung eines Rabbiners für die Juden Luxemburgs ermöglichen sollte, begannen die internen ­Diskussionen. Im Dezember 1841 bat Isaac Levy, der bereits seit 1818 in der Hauptstadt lebte, ­Wilhelm II., seinen Sohn Isaias als Rabbiner für das Großherzogtum zu bestellen. Isaias habe sich nach den Angaben seines Vaters zuerst in Metz – also an der alten Talmudschule – und später in Den Haag dem Studium gewidmet, wo er auch eine erfolg­reiche Prüfung vor dem dortigen Rabbiner und dessen Kollegen aus Rotterdam und Amsterdam abgelegt habe. Danach sei er in Altona, Pressburg, Paris sowie London gewesen, um seine Kenntnisse weiter zu vertiefen. Die Verwaltung der jüdischen Gemeinschaft stufte Isaias Levy allerdings als unfähig ein, da er ihrer Meinung nach nicht die n ­ ötigen Qualitäten besaß, u. a. keinen Doktortitel.250 Ein Großteil der Luxemburger Juden teilte nicht die Meinung der Gemeindeführung, dass der zukünftige Rabbiner an einer Universität studiert haben „und zu einer reformierenden Partei [gehören müsse]. Es wäre zu wünschen, daß die einzige Stelle dieser Art, welche sich in dem Großherzogthum Luxemburg darbietet[,] an den Inländer, welcher die nothwendige Bedingnisse so sehr erfüllet, gegeben ­würde.“251 Zudem glaubten die 43 jüdischen Einwohner, welche sich 1842 in einem Gesuch an den Großherzog für Isaias Levy aussprachen, dass es nur gerecht wäre, wenn der Sohn eines der ältesten Gemeindemitglieder, der geholfen hatte, „alles in der Synagoge mit ein[zu]richten“,252 die Stelle bekäme. Unter den Befürwortern Levys fanden sich neben vielen jüdischen Stadtbewohnern, u. a. dem ehemaligen

249 Vgl. Gesuch von 43 jüdischen Gemeindemitgliedern an König, 1842, administrateurs de la communauté israélite de Luxembourg, 24.1.1843, in: ANL F68. Vgl. Monz, Heinz: Samuel Hirsch (1815 – 1889). Ein jüdischer Reformator aus dem Hunsrück, in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte, Jg. 17, 1991, S. 159 – 161. 250 Vgl. Isaac an den König der Niederlande, 14.12.1841, in: ANL F68. Vgl. Goedert, S. 354. Vgl. Administrateurs de la communauté israélite de Luxembourg au Bourgmestre et échevins de la ville de Luxembourg, 20.1.1842, 5.2.1842, in: ANL F68. 251 Gesuch von 43 jüdischen Gemeindemitgliedern an König, 1842, in: ANL F68. 252 Ebd.

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Ettelbrücker Salomon Lion, auch ein großer Teil der auf dem Land lebenden Juden, so z. B. Lazarus Levy aus Grevenmacher oder Gerson Israel aus Ettelbrück.253 Nachdem zum Ende des Jahres 1842 mit Samuel Hirsch ein in den Augen der jüdischen Gemeindeführung geeigneter Rabbiner Interesse an der Stelle im Großherzogtum signalisiert hatte, ging die Auseinandersetzung in die entscheidende Phase. Noch einmal formulierte Isaac Levy eine Bittschrift, in der er auf die große Zustimmung für seinen Sohn unter den luxemburgischen Juden und ­dessen Problem, eine geeignete Stelle zu bekommen, hinwies: „Blos die einzige Stelle im Großherzogthum Lützemburg zu haben ist, denn in Frankreich, Belgien, und Deutschland kann er keine Stelle bekommen, weil er ein Ausländer ist. Auch gaben mir alle Stadtleute sowohl, als auch umliegende Dörfer ihre Handzeichen, welche ich schon an seine Majestät verschickte, nur blos die Handzeichen unserer Kirchenstände mit einigen ihrer Familien habe ich nicht, da […] er ihnen zu religiöse ist.“254 Die jüdische Gemeindeverwaltung entgegnete darauf, dass die Nationalität bei der Besetzung von Rabbinerposten keine große Rolle spiele – z. B. in Brüssel 1832 ein Franzose eingesetzt worden sei und in Metz u. a. ein deutscher Rabbiner amtiere – und führte Levys Problem, eine Stelle zu finden, auf seine mangelnde Qualifikation zurück. Diese Argumentation war insofern fehlerhaft, als in Metz zu dieser Zeit kein deutscher Rabbiner angestellt und bereits seit 1821 die französische Staatsangehörigkeit Bedingung für eine Ernennung in ein solches Amt war. Die Gemeindeführer bezeichneten Levy als religiös rückständig, zweifelten seine gesamte Bildung an und warfen ihm zudem vor, dass es ihm lediglich um das Gehalt ginge.255 Hirsch, der ihrem Wissen nach zunächst in Metz am „Séminaire Israélite“ gelernt und später in Bonn und Berlin studiert hatte, einen Titel in Philosophie vorweisen konnte, in Dessau als Rabbiner gearbeitet hatte und vom Trierer Großrabbiner Joseph Kahn empfohlen wurde, entsprach wesentlich mehr den Vorstellungen des jüdischen Vorstandes.256 Die luxemburgische Regierung entschloss sich 253 Vgl. ebd. Vgl. Volkszählungsliste von Ettelbrück, 1852, in: ANL Rpop 221 f. Vgl. Lazarus Levy au gouverneur du Grand-duché de Luxembourg, 19.1.1842, in: ANL E55. 254 Vgl. Isaac Levy an den Bürgermeister und die Schöffen der Stadt Lützemburg, 22.1.1843, in: ANL F68. 255 Vgl. Administrateurs de la communauté israélite du Grand-Duché de Luxembourg au Bourgmestre et échevins de la ville de Luxembourg 24.1.1843, in: ANL F68. Vgl. Statistique des communautés Israélites de la circonscription consistoriale de Metz, ca. 1854, in: AJMB MF509 reel 1 fol. 55. Vgl. Urbah, S. 102. 256 Vgl. ebd. Vgl. Oberrabbiner Joseph Kahn von Trier an den Vorstand der israelitischen Gemeinde von Luxemburg, 11.12.1841, in: ANL F68. In den französischen Akten findet sich kein Hinweis auf eine Anwesenheit Hirschs in Metz. Vgl. Monz, S. 161 f. Vgl. zu Hirsch auch Wiese, Christian: Von Dessau nach Philadelphia. Samuel Hirsch als Philosoph, Apologet und radikaler Reformer, in: Guiseppe Veltri/Christian Wiese (Hg.):

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letztlich, Samuel Hirsch ohne Rücksicht auf die Mehrheitsverhältnisse innerhalb der Gemeinde anzustellen, da dieser ihren eigenen Erwartungen eher entsprach als Levy. Vor Amtsantritt musste der neue Rabbiner sich einbürgern lassen, da die luxemburgische Staatsangehörigkeit eine Voraussetzung für die Ausübung öffentlicher Funktionen im Großherzogtum war.257 In den Jahren 1866 und 1871 wurde dies von seinen Nachfolgern, dem aus dem Niederelsass stammenden Michel Sopher und dem in Baden geborenen Isaac Blumenstein, nicht mehr verlangt.258 Eine Besonderheit, die in keiner der anderen untersuchten Regionen auftrat, stellte der temporäre Dienst des Rabbiners als Vorsänger dar. Dies geschah erstmals, als die jüdische Gemeinde 1843 ihren Vorsänger Nathan Schuster entließ, weil dieser nach Ansicht der großherzoglichen Regierung nicht die Fähigkeiten besaß, um auch als Lehrer fungieren zu können, und die jüdische Gemeinschaft finanziell nicht in der Lage war, einen zusätzlichen Lehrer zu unterhalten. Bis zur Aufnahme des als Lehrer und Vorbeter fungierenden Heinrich Oberdörfers zum Ende des Jahres 1844 übte Hirsch die Funktionen des Vorsängers in der Hauptstadt aus.259 Nach dem Weggang Oberdörfers 1847 übernahm der Rabbi zumindest das Vorlesen aus der Thora erneut, da das für die Stelle des Vorbeters vorgesehene Gemeindemitglied Jakob Bonn nicht in der Lage war, diesen Teil des Amtes zu versehen.260 Zwar wurde 1852 mit Lippmann Hess ein neuer Vorbeter angestellt, aber gewisse Handlungen, die eigentlich diesem oblagen, übernahm Hirsch weiterhin. Zu Konflikten zwischen Hirsch und der Gemeinde führte der beschriebene Zustand mehrfach, u. a. da er eine zusätzliche Bezahlung für die Verrichtung der Vorbeterfunktionen erwar­ tete.261 Von der Tätigkeit des Rabbiners in der Synagoge, zu der das Abhalten von

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Jüdische Aufklärung und Kultur in Sachsen-Anhalt von der Aufklärung bis zum National­ sozialismus (Minima Judaica, Bd. 7), Berlin 2009, S. 363 – 410. Vgl. Conseil de gouvernement de Luxembourg au roi Grand-Duc, 7.3.1843, in: ANL F68. Vgl. Gouverneur von Luxemburg an Samuel Hirsch, 13.4.1843, in: ANL H78. Vgl. maire de Dijon, 16.11.1866, président de l’assemblé des Etats au ministre d’Etat du Grand-Duché de Luxembourg, 15.1.1867, ministre d’Etat du Grand Duché de Luxembourg, 30.12.1871, in: ANL H78. Vgl. Conseil de gouvernement du Grand-duché de Luxembourg au maire et échevins de la ville de Luxembourg, 29.9.1843, in: ANL F68. Vgl. Oberrabbiner Hirsch an den Regierungsrat von Luxemburg, 9.5.1844, in: Oberrabbiner Hirsch und der Vorstand der jüdischen Gemeinde von Luxemburg, 21.3.1845, in: ANL G128. Vgl. Lehrmann, S. 55. Vgl. Samuel Hirsch an die großherzogliche Regierung, 14.7.1848, in ANL H78. Vgl. Randbemerkung, 15.10.1847 (auf einem Schreiben des Bürgermeisters und der Schöffen der Stadt Luxemburg, 9.11.1846), in: ANL G128. Vgl. Samuel Hirsch an den luxemburgischen Generalverwalter der Kulte und den General­ verwaltungs-Präsidenten, 2.1.1854, in: ANL H78. Vgl. Lehrmann, S. 55.

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Predigten gehörte, profitierten auch die jüdischen Landbewohner, die zumindest an höheren Feiertagen das Gebetshaus der Hauptstadt besuchten.262 Der Rabbiner von Luxemburg überwachte die Ausbildung der jüdischen K ­ inder und erteilte diesen zeitweise auch Religionsunterricht, u. a. lehrte er vor allem die Kinder der Hauptstadt nach der Schließung der jüdischen Schule im Jahr 1847 Hebräisch und biblische Geschichte.263 Die jüdischen Kinder Ettelbrücks nahmen an diesem Unterricht nicht teil, da sie in den Vierziger- und Fünfziger­jahren am Sabbat sowie verschiedenen Feiertagen vom Händler Léon Cahen, einem Bruder des damaligen Trierer Oberrabbiners Joseph Kahn, im jüdischen Glauben unterwiesen wurden. Dass dieser über ein – im Vergleich zu den anderen im Dorf lebenden Juden – überdurchschnittliches religiöses Wissen verfügte, hing damit zusammen, dass er sich in seiner Jugend dem Studium der Theologie gewidmet hatte. Wie sein älterer Bruder Joseph besuchte er zunächst die alte Talmudschule von Metz, bevor er sein Wissen in Mainz und Wiesbaden vertiefte. Dass er kein anderes Amt übernahm, hing angeblich mit seiner schwachen Körperkonstitution zusammen.264 Im Gegensatz zu dem erwähnten Hebräisch- und Bibelunterricht nahmen die jüdischen Jungen aus Ettelbrück an dem „Confirmandenkursus“ teil, den Rabbiner Hirsch seit seinem Amtsantritt wöchentlich veranstaltete und der sie auf ihre Bar Mizwa vorbereitete, so z. B. den Sohn von Isaac Cahen im Jahr 1847.265 In den Vierzigerjahren entwickelte sich infolge der Zunahme der jüdischen Bevölkerung in verschiedenen Dörfern ein nachweisbares jüdisches Kultusleben auf dem Land. So liehen die Juden Ettelbrücks, die gemeinsam mit ihren Glaubensbrüdern aus Medernach und Waldbillig den Minjan – d. h. die für den jüdischen Gottesdienst notwendige Zahl von zehn männlichen erwachsenen Teilnehmern – erreichten, im Jahr 1845 eine Thora aus Luxemburg aus, um den Sabbat gemeinsam in einem Zimmer bei Salomon Israel zu feiern. In den Besitz einer eigenen Thora kam die kleine jüdische Gemeinschaft 1850, als Isaac Cahen in Frankfurt

262 Vgl. Samuel Hirsch an die großherzogliche Regierung, 14.7.1848, in ANL H78. Vgl. ­Dondelinger/Muller, Teil II, S. 25. Vgl. Lehrmann, S. 67. 263 Vgl. Randbemerkung, 15.10.1847 (auf einem Schreiben des Bürgermeisters und der ­Schöffen der Stadt Luxemburg, 9.11.1846), in: ANL G128. Vgl. Oberrabbiner Samuel Hirsch an die luxemburgische Regierung bzw. den Staatsminister, 14.7.1848, 22.4.1858, administration de la communauté israélite du Grand-Duché de Luxembourg, 22.5.1843, in: ANL H78. Vgl. Luxemburger Wort, Nr. 143, S. 2. 264 Vgl. Dondelinger/Muller, Teil II, S. 27. Vgl. AZJ Nr. 49, 1881, S. 815. In Mainz gab es zwar im 19. Jahrhundert keine spezielle jüdische Lehreinrichtung, aber wohl durchaus einzelne Rabbiner, die Vorträge hielten. Vgl. Monz, S. 162. 265 Vgl. Oberrabbiner Samuel Hirsch an die luxemburgische Regierung, 14.7.1848, in: ANL H78.

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am Main eine solche erwarb und der Glaubensgemeinschaft schenkte. Da sich die jüdische Gemeinde Ettelbrücks noch keinen Vorsänger leisten konnte, leitete der bereits erwähnte Léon Cahen den Gottesdienst. Das Schächten übernahm zunächst Gerson Israel, und nach dessen Tod sorgte Salomon Hertz aus Medernach für koscheres Fleisch.266 Spätestens seit dem Jahr 1864 beschäftigte die jüdische Landgemeinde mit Jacob Besslinger einen eigenen Vorsänger, der zugleich auch als Lehrer und Schächter fungierte.267 Dass dies zusammen mit der Unterhaltung eines kleinen Gebetsraumes im Haus von Joseph Cahen eine starke Belastung für die Gemeindemitglieder darstellte, bezeugte der damalige Oberrabbiner Sopher: „Cette communauté peu nombreuse et peu fortunée s’est imposée de grands sacrifices pour entretenir cet oratoire et subvenir aux besoins d’un desservant faisant fonction d’un ministre officiant.“268 Im Jahr 1881 versuchten die Ettelbrücker Juden finanzielle Unterstützung vom Staat zu erwirken, u. a., weil der Bau der Synagoge die kleine Glaubensgemeinschaft immer noch belastete und gleichzeitig die Anlegung des jüdischen Friedhofes anstand. Dass die ökonomische Lage der jüdischen Landgemeinde trotz des Bevölkerungszuwachses schwierig war, ist auch an dem abgesunkenen Gehalt des Lehrerkantors abzulesen.269 Zur Begründung ihrer Bitte verwiesen die ­jüdischen Vorsteher darauf, „daß zur Zeit[,] als das Rabbinat in Luxemburg gegründet wurde, die Zahl der dortigen jüdischen Familien nicht größer war, als die heutige in Ettelbrück“.270 Zusätzlich erwähnte die Führung der jüdischen Landgemeinde die Lage in Belgien, wo „die kleinern Gemeinden wie Arlon, Namm, Lüttich & Gend[,] denen Ettelbrück an jüdischer [Einwohnerschaft] gleichsteht, jüdische […] Religions­ beamte […] haben, die durch Staats und Gemeindemitteln besoldet werden“.271 Die Ablehnung des Gesuchs durch die luxemburgische Regierung war zu großen Teilen auf deren Befürchtung gegründet, dass auch andere kleine jüdische oder protestantische Gemeinden vergleichbare Forderungen stellen könnten: „Une décision favorable à la demande en question, donnerait lieu à des grands inconvénients, si

266 Vgl. Dondelinger/Muller, Teil II, S. 26 und Teil III, S. 24. 267 Die Besoldung betrug 1866 ungefähr 800 Francs. Vgl. Vorstand der jüdischen Gemeinde von Ettelbrück an Staatsminister Blochhausen, 26.8.1881, in: ANL H78. Vgl. Gesuch der jüdischen Gemeinde von Ettelbrück an die Assemblée des Etats de Luxembourg, 23.11.1866, in: ANL H1024,100. Vgl. Recensement de la population d’Ettelbruck, 1864, in: ANL Rpop 505 f. Vgl. Dondelinger/Muller, Teil II, S. 27. 268 Grand-rabbin Sopher au ministre d’Etat de Luxembourg, 29.7.1868. Vgl. Flies, S. 1612. 269 Vgl. Vorstand der jüdischen Gemeinde von Ettelbrück an Staatsminister Blochhausen, 26.8.1881, in: ANL H78. Das Gehalt betrug 1881 nur noch etwa 650 Francs. 270 Ebd. 271 Ebd.

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elle devait être appliquée à d’autres cultes et à tous les israélites qui se trouvent en nombre assez élevé dans les cantons d’Echternach, Esch s/Alz., Grevenmacher et Remich.“272 Daher waren die Ettelbrücker Juden gehalten, weiter­hin die in ihrem Ort anfallenden Kultuskosten ohne staatliche Bezuschussung zu tragen.273 Die Entscheidung der staatlichen Stellen verdeutlicht, dass diese die Gleichberechtigung der Kulte in der Praxis nicht immer umsetzten. Dass der langjährige Vorbeter und Religionslehrer Besslinger bei seinem Tod 1889 der jüdischen Landgemeinde von Ettelbrück sein gesamtes Vermögen vermachte, stellte für diese eine gewisse Erleichterung dar. Es ermöglichte ihr, den Bau einer eigenen kleinen Schule mit einer Lehrerwohnung in Angriff zu nehmen. Als Nachfolger des Verstorbenen agierte für einige Jahre Moses Levy, bevor Mitte der Neunzigerjahre Abraham Kahn als Religionslehrer tätig wurde.274 Dass sich die finanzielle Situation der Religionsgemeinschaft mittlerweile deutlich gebessert hatte, zeigte sich an der Bezahlung der Gemeindebediensteten. Als der seit einigen Jahren in Ettelbrück arbeitende Abraham Rabinowitch 1911 seine Naturalisierung beantragte, sprach sich der Gemeinderat des Ortes günstig aus, „da er u. a. ein ansehnliches Gehalt beziehe“.275 Im Gegensatz zu den jüdischen Landgemeinden der Rheinprovinz sowie Lothringens ließen sich in Ettelbrück keine Konflikte um die Besetzung der Vorsängerstelle nachweisen. Die einzige nachweisbare Kritik, die an einem der jüdischen Gemeindebediensteten geäußert wurde, kam vom Gemeinde­vorstand und betraf die mangelhafte pädagogische Bildung von Lehrer­ kantor Besslinger. Da anscheinend kein geeigneterer Kandidat für die Stelle zu finden war, blieb dies allerdings folgenlos.276

272 Ministre d’Etat au commissaire de district de Diekirch, in: ANL H78. 273 Vgl. auch Flies, S. 1613 sowie Dondelinger/Muller, Teil III, S. 26. 274 Vgl. Dondelinger/Muller, Teil III, S. 28. Vgl. Flies, S. 1630. Zum Anfang des 20. Jahrhunderts unterhielt die stark angewachsene jüdische Gemeinde sogar eine eigene Primärschule. 275 Flies, S. 1630. 276 Vgl. Vorstand der jüdischen Gemeinde von Ettelbrück an Staatsminister Blochhausen, 26.8.1881, in: ANL H78.

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4.3 Die Organisation der jüdischen Gemeinden und ihre Verhältnisse zu den weltlichen Behörden bzw. den übergeordneten jüdischen Institutionen 4.3.1 Weitgehende Autonomie. Jüdische Gemeinden in der Rheinprovinz

Da die Konsistorialverfassung in der Rheinprovinz nur teilweise umgesetzt wurde und die Bestimmungen hinsichtlich der Organisation der einzelnen jüdischen Gemeinden vage waren, wurde deren Verwaltung in der ersten Jahrhunderthälfte weiterhin von einem Vorstand übernommen, der von den stimmberechtigten Mitgliedern seiner Gemeinde gewählt wurde. Die wohl wichtigste Aufgabe der Vorsteher bestand in der Verwaltung der Finanzen der jüdischen Gemeinden, die im Gegensatz zu den beiden großen christlichen Konfessionen allein für ihre Kultusbedürfnisse aufkommen mussten. Wie bereits erwähnt war die Belastung der einzelnen Mitglieder in den jüdischen Landgemeinden in der Regel hoch, da verhältnismäßig wenige Personen die gesamten Kosten tragen mussten. Die Vorsteher waren für die Erhebung der Beiträge genauso zuständig wie für die Einstellung und Entlassung der Gemeindebediensteten. Zudem sollten sie für Ordnung in der Synagoge sorgen und die Einhaltung religiöser Vorschriften überwachen. Darüber hinaus agierten die Vorstände als Repräsentanten der jüdischen Gemeinden nach außen: Sie dienten den Behörden als Ansprechpartner und versuchten die Rechte der jüdischen Gemeinden zu verteidigen bzw. ihre Rechte einzuklagen.277 Sowohl für Gemünden als auch für Illingen belegen zahlreiche Briefwechsel mit den Behörden, Eingaben, Anträge und Klagen diese zentrale Funktion des Gemeindevorstandes.278 Die Zahl der Vorsteher variierte je nach Gemeinde: Während in den meisten ein einzelnes Gemeindemitglied das Amt übernahm, bildeten in anderen bis zu fünf Personen den Vorstand.279 Das Erstere war in Gemünden der Fall, wohin­gegen in Illingen meist mehrere Juden die Aufgaben des Vorstands übernahmen, so z. B. Samuel Strauß, Süßel Löb und Michel Weiler im Jahr 1847.280

277 Vgl. Jehle, Juden, Bd. 4, S. 1386, 1398 – 1400, 1480. Vgl. Werner, Organisation, S. 4. Vgl. Zittartz-Weber, Religion, S. 178 f. 278 Im Zusammenhang mit der jüdischen Schule von Gemünden stellte Schellack, Schule, S. 34 fest: „Der kämpferische Vorsteher der Synagogengemeinde, Ochs, bombardierte Gemeinde, Schöffenrat und Schulinspektor mit Anträgen.“ 279 Vgl. Jehle, Bd. 4, S. 1386, 1398 – 1400. Vgl. Zittartz-Weber, Religion, S. 178 f. 280 In Gemünden wählten die jüdischen Gemeindemitglieder allerdings noch zwei G ­ ehilfen, die den Vorsteher unterstützten und von denen einer die Gemeindekasse führte. Vgl.

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Der Einfluss der jüdischen Konsistorien auf die Wahl der Vorsteher war unterschiedlich stark ausgeprägt und hing davon ab, welchen Spielraum ihnen die ­preußische Verwaltung einräumte, und von ihrem eigenen Interesse an inner­ gemeindlichen Vorgängen. Während sich die Trierer Bezirksregierung nicht in die Bestimmung der jüdischen Vorstände einmischte, ordnete diejenige von Koblenz 1823 von sich aus die Abhaltung von Vorstandswahlen in allen jüdischen ­Gemeinden an. Das Motiv für dieses Vorgehen lag wohl in dem Verlangen der Regierung begründet, feste jüdische Ansprechpartner vor Ort zu haben. Seit dem genannten Jahr ließ die Koblenzer Behörde die Wahlen durch Beamte – meist die Bürger­meister – leiten und behielt sich zudem die Bestätigung der Gewählten vor. In einigen Fällen ernannte sie sogar eigenmächtig Vorsteher, z. B. bei strittigen Wahlen. Dem jüdischen Konsistorium gestand die Koblenzer Regierung keinen Einfluss auf die Bestimmung der jüdischen Vorsteher zu. Daher wies sie 1831 eine Beschwerde des Konsistoriums, dass der Vorsteher von Gemünden ohne seine Mitwirkung ernannt worden sei, als grundlos zurück.281 Im Regierungsbezirk Trier gestaltete sich die Interpretation der jüdischen Kultus­ organisation anders: Die dortige Regierung stimmte dem ebenfalls in der Stadt an­ sässigen Konsistorium darin zu, dass „sämmtliche Vorstände des Regierungsbezirks […] dem hiesigen israelitischen Consistorium untergeordnet [sind]“.282 Das Letztere gab dementsprechend 1845 an, dass normalerweise die einzelnen Gemeinden dem Konsistorium einen Vorstand vorschlugen und es diese Empfehlung annehmen oder verwerfen konnte.283 Bereits der erste Oberrabbiner Samuel Marx war sich allerdings im Klaren darüber, dass die von ihm ernannten Führungspersonen kaum gegen den Willen der verwalteten Juden handeln konnten, weswegen er 1820 bezüglich der beiden in Illingen tätigen „Kommissare“ betonte, dass diese „was sie zu feranstalten netig finden auf Beschluß der Mehrheit der Gemeinde thun“.284 Einer seiner Nachfolger, Joseph Kahn, versuchte, über die Ernennung der Vorstände mehr Einfluss auf die Land­ gemeinden zu gewinnen. Daher verwickelte sich das Konsistorium in Konflikte, u. a. in eine Auseinandersetzung mit den Juden Illingens, weil es im Jahr 1843 den Vorsteher

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Bürgermeister von Illingen an den Landrat von Ottweiler, 11.12.1847, in: LAS Dep. I­ llingen Nr. 1541, S. 12. Vgl. Meyer, Geschichte, S. 18 f. Vgl. Jehle, Bd. 4, S. 1400. Ob die Vorsteher auf unbestimmte Zeit im Amt blieben oder sich, wie in Gemünden, alle drei Jahre einer Wahl unterziehen mussten, war den Behörden gleichgültig. Vgl. ­Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz, Bd. 3, S. 30. Vgl. auch Jehle, Bd. 4, S. 1393 – 1411. Vgl. Meyer, Geschichte, S. 18 f. Jehle, Bd. 4, S. 1466. Vgl. Jehle, Bd. 4, S. 1480. Nauhauser, S. 295. Samuel Marx war ein Onkel von Karl Marx. Vgl. Kasper-Holtkotte, Kultus, S. 85. Vgl. Kasper-Holtkotte, Juden, S. 303.

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Salomon Straus in seinem Amt bestätigte, da es ihn für den geeignetsten hielt. Straus hatte als Notabler bei der Wahl des Rabbiners und der anderen Konsistorial­mitglieder mitgewirkt und war daher persönlich mit diesen bekannt.285 Über den Beschluss des Konsistoriums regte sich Unmut innerhalb der Landgemeinde, weil einer der von ihr favorisierten Kandidaten keine Berücksichtung fand. In der Folge sah sich das Konsistorium genötigt, den widerstrebenden Juden das Ernennungsschreiben für den Vorstand durch den Bürgermeister Fuhrmann vorzulegen, da „der Plebs der Gemeinde den Michel Weiler, der durchaus zum Vorsteher untauglich ist, als solchen wünscht, und der Gemeinde aufdrängen wolle“.286 Die Auseinandersetzung verschränkte sich mit sozialen Konflikten innerhalb der Gemeinde: Der die Mehrheit bildende Teil der ärmeren Mitglieder wollte einen der Ihren – Weiler zahlte eine sehr geringe Klassensteuer – an der Spitze sehen, während das Konsistorium mit Samuel Straus den reichsten Juden des Dorfes als ersten Vorsteher wünschte.287 Das Konsistorium konnte sich insofern durchsetzen, als in den folgenden Jahren Salomon Straus das Amt des ersten Vorstehers übernahm, allerdings gehörte auch Michel Weiler zeitweise dem Vorstand an.288 Allgemein lässt sich sagen, dass die jüdischen Vorsteher zumeist der finanziellen Oberschicht ihrer Gemeinden zuzurechnen waren, z. B. in Gemünden der Vieh- und Pferdehändler Abraham Strauss und der Kaufmann Marx Löb.289 Das Gesetz von 1847 wurde im Gegensatz zu anderen Landesteilen in der Rheinprovinz nur sehr zögerlich umgesetzt, vor allem im sehr ländlich geprägten Süden. Die Ursache hierfür war, dass die vom Gesetz vorgesehene Kultusorganisation eher für die östlichen Provinzen – d. h. größere jüdische Gemeinden – geeignet war, aber weniger für eine auf viele Orte verstreute jüdische Bevölkerung.290 Zudem differierten die Vorstellungen der preußischen Behörden und die Wünsche der Juden hinsichtlich der konkreten Durchführung stark voneinander. 1856 schwebte z. B. dem Landrat von Simmern, Hardt, die Bildung einer einzigen 285 LAS Dep. Illingen Nr. 1686, S. 28, 32, 42. Vgl. zur Wahl Kahns die Unterlagen in: LHAK Best. 442 Nr. 2043. Vgl. AZJ, Nr. 37, 1842, S. 523 f. Vgl. Marx, Geschichte, S. 123. 286 LAS Dep. Illingen Nr. 1686, S. 41. 287 Eventuell spielten auch religiöse Meinungsverschiedenheiten eine Rolle, denn Straus war wohl genauso wie die Mitglieder des Konsistoriums als liberal einzuordnen, während die Illinger Juden mehrheitlich eher traditionell gesinnt waren. Vgl. Liste der Klassensteuer der Juden Illingens, 1844, in: LAS Dep. Illingen Nr. 1686, S. 44a-b. Vgl. Der treue Zionswächter, Nr. 14, 1845, S. 115 f. Vgl. Marx, Geschichte, S. 123. 288 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1541, S. 6, 12. 289 In dieser Hinsicht lässt sich eine Parallele zu den christlichen Kirchenvorständen er­kennen, welche sich ebenfalls aus den wohlhabenderen Bürgern des Ortes zusammensetzten. Vgl. Dietrich, Gemeinden, S. 119 f. 290 Vgl. Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz, Bd. 3, S. 68. Vgl. Werner, Organisation, S. 8. Vgl. Zittartz-Weber, Religion, S. 202 – 217, 231 – 242.

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Synagogengemeinde für den gesamten Kreis vor: Simmern als Hauptort sollte u. a. einen Hauptvorbeter sowie einen Religionslehrer erhalten, während die jüdischen Gemeinden von Gemünden, Kirchberg, Laufersweiler und Rheinböllen nur noch Filialen mit Aushilfsvorbetern sein sollten. Dieses Ansinnen stieß jedoch auf den Widerspruch der jüdischen Gemeinden.291 Sie fürchteten den Verlust ihrer Selbstständigkeit, denn im Falle eines Zusammenschlusses hätte es lediglich eine Repräsentantenversammlung und einen Vorstand für alle Juden des Kreises gegeben. Infolge des vehementen Protests gab Hardt 1863 seinen Plan auf, sodass der Kreis schließlich in fünf Synagogenbezirke aufgeteilt wurde. Aufgrund dieser Entscheidung stimmten die Angehörigen der 1864 gegründeten Synagogengemeinde von Gemünden mit den Mitgliedern der bis dahin bestehenden jüdischen Gemeinde von Gemünden überein.292 Noch länger als im Regierungsbezirk Koblenz zog sich die Einrichtung von Synagogen­gemeinden in dem von Trier hin. Nachdem die Juden des Kreises Ottweiler 1856 die Idee eines Anschlusses an die jüdische Gemeinschaft von Saarbrücken abgelehnt hatten, erwog die Regierung 1863, die jüdische Bevölkerung des Saargebiets in zwei Synagogengemeinden zusammenzufassen, u. a. die jüdischen Einwohner der Kreise Ottweiler und St. Wendel in einen gemeinsamen Bezirk.293 Diese Idee konnte aufgrund des Protests der betroffenen jüdischen Gemeinden ebenfalls nicht durchgeführt werden. Die Illinger Juden trugen zum Scheitern des Vorhabens bei, weil sie sich nicht mit ihren Ottweiler Glaubensgenossen darüber einigen konnten, welcher Ort Hauptsitz des gedachten Synagogenbezirks werden sollte. Dabei spielte die Furcht vor finanziellen Mehrbelastungen für den Fall, dass die eigene Gemeinde nicht zum Zentrum der neuen Synagogengemeinde werden sollte, ebenso eine wichtige Rolle wie die Furcht vor einer stärkeren staatlichen Kontrolle.294 Erst Mitte der Siebzigerjahre begannen an der Saar erneut Verhandlungen über die Einrichtung von Synagogengemeinden, die sich allerdings vielfach bis Ende des 19. Jahrhunderts zogen. Ausschlaggebend für den Schritt waren vor allem die zunehmenden Probleme der schrumpfenden Landgemeinden bei der Einziehung der Kultusbeiträge.295 Im Fall von Illingen war es wohl die aufgrund der sinkenden Schülerzahl immer schwieriger werdende Aufbringung des 291 Vgl. LHAK Best. 441 Nr. 9740, S. 3 – 8. Vgl. Wesner, S. 262. 292 Vgl. LHAK Best. 441 Nr. 9740, S. 351 – 353. Vgl. LHAK Best. 441 Nr. 9719, S. 5 – 15. Vgl. Zittartz-Weber, Religion, S. 231 – 245. 293 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1686, S. 99 f. Vgl. LHAK Best. 442 Nr. 14094, S. 347 f. 294 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1686, S. 119. Vgl. die diesbezüglichen Verhandlungen, in: LHAK Best. 442 Nr. 14095. Vgl. auch Marx, Geschichte, S. 124 f. Vgl. Werner, Organisation, S. 9. 295 Vgl. Marx, Geschichte, S. 128.

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jüdischen Lehrergehaltes, die den Vorstand bewog, eine Synagogengemeinde zu gründen. Als öffentliche Schule hätte die örtliche jüdische Lehranstalt in den Genuss einer finanziellen Unterstützung vonseiten des Staates kommen können. Die Regierung von Trier weigerte sich 1889 aber, die jüdische Schule zu einer solchen zu erklären, da „die Anlage einer öffentlichen Schule nur auf Antrag des Vorstands einer ,Synagogen-­Gemeinde’ erfolgen kann“.296 1892 entschied sich der jüdische Vorstand schließlich, zusammen mit den Gennweiler und ­Merchweiler Juden, die ohnehin der jüdischen Gemeinde von Illingen angehörten, eine Synagogen­gemeinde zu bilden.297 Sowohl in Gemünden als auch in Illingen änderte sich unmittelbar nach der Verabschiedung des Gesetzes von 1847 nichts an der internen Organisation, da in beiden Orten die Bildung einer Synagogengemeinde erst in der zweiten Jahrhunderthälfte erfolgte und auch die Konsistorien zunächst weiter existierten.298 In dem Hunsrückdorf hatte die 1864 erfolgende Umstrukturierung die Folge, dass die Aufgaben des Vorstandes, die weitgehend unverändert blieben, nicht mehr einer einzigen Person übertragen wurden. 299 Dass sich infolge der Bildung einer Synagogengemeinde personell nicht zwangsläufig etwas im Vorstand ändern musste, zeigte sich in Illingen. Hier war der Kaufmann Abraham Simon Levy sowohl vor als auch nach der Einführung der Neuorganisation Vorsitzender des jüdischen Vorstandes.300 Die Einführung der Repräsentanten­ versammlung stellte für die Juden der untersuchten Dörfer und die vieler anderer jüdischer Landgemeinden keine gewichtige Neuerung dar, weil es in der ­Praxis kaum einen Unterschied machte, ob der Vorstand der Mehrheitsmeinung der Gemeindemitglieder folgte oder ob er die Beschlüsse der Repräsentanten­ versammlung umsetzte.301 296 LAS Dep. Illingen Nr. 1551, S. 12. 297 Im Mai 1893 erklärte sich der Regierungspräsident von Trier mit diesem Vorhaben einverstanden und ordnete die Wahl einer Repräsentantenversammlung und eines Vor­ standes unter der Leitung des Bürgermeisters an. LAS Dep. Illingen Nr. 1535, S. 1 – 3. Vgl. ­Nauhauser, S.  195 – 199. 298 Vgl. Werner, Organisation, S. 5. Vgl. Zittartz-Weber, Religion, S. 190 f., 247. 299 Dass es langjährigen Vorstehern schwerfallen konnte, die Meinungen ihrer neuen K ­ ollegen im Vorstand zu berücksichtigen, zeigt der Fall von Marx Löb, der daran erinnert wurde, dass er „nicht alleine alle Rechte des Vorstands besitzt“. LHAK Best. 441 Nr. 9719, S. 64. 300 Vgl. Nauhauser, S. 195, 232. 301 Zudem erwies sich die Besetzung der Gremien in der Rheinprovinz häufig als schwierig, da nur wenige Mitglieder zu deren Besetzung vorhanden waren, die geeignet waren, ohne wie gefordert untereinander verwandt zu sein. Vgl. Werner, Organisation, S. 8. Vgl. Zittartz-Weber, Religion, S. 203. Sowohl in Gemünden als auch in Illingen entschieden

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Für viele jüdische Landgemeinden stellte das Problem der Einziehung der Mitgliedsbeiträge den ausschlaggebenden Grund für die Gründung einer Syna­ gogengemeinde dar, denn erst in dem neuen organisatorischen Rahmen war es den Vorstehern möglich, bei der Einnahme der Kultusbeiträge die lokalen Verwaltungen, d. h. die Steuereinnehmer, hinzuzuziehen.302 Vor dem Gesetz von 1847 war dagegen der Einsatz staatlicher Zwangsmittel bei der Einziehung dieser Gelder nicht vorgesehen, da die jüdischen Gemeinden rechtlich lediglich als Privatgesellschaft eingestuft wurden. Dementsprechend kümmerten sich die Regierungen von Trier und Koblenz nicht um Zwistigkeiten wegen der Aufbringung der Kultuskosten bzw. lehnten Bitten um Hilfe bei der Eintreibung der Kultusbeiträge in der Regel ab.303 Insofern handelte es sich um einen Einzelfall, als die Koblenzer Regierung 1825 in Gemünden tätig wurde. Der jüdische Vorsteher Strauss hatte um Hilfe bei der Einnahme der Kultusbeiträge gebeten, da „die Gemeinde-Mitglieder ohne Zwang durch den Steuerboten nicht dahin zu bringen seyen, die schuldigen Beiträge zu entrichten“.304 Die Regierung, welche die „eingerissene Unordnung“305 nicht d ­ ulden wollte, drohte daraufhin mit der Schließung der Synagoge. Dieser Schritt hatte allerdings kaum Wirkung, denn drei Monate darauf berichtete Bürgermeister Dicht, dass „sich mehrere der Debenten weniger daraus machen, dass die Synagoge geschlossen würde als dass sie ihre Schuld zahlen müssten“.306 Von der Durchführung der Strafe sah die Regierung ab, da dies auch die Zahlungswilligen getroffen hätte. Stattdessen wurde Dicht beauftragt, die Rückstände vor das Schiedsgericht zu bringen.307 In Illingen griff die Regierung nie direkt in die Einnahme der jüdischen Kultusbeiträge ein, aber dort wurde auf lokaler Ebene eine Regelung zur Eintreibung des Geldes für jüdische Begräbnisse getroffen. 1840 schloss der Bürgermeister einen Vertrag mit dem katholischen Nachtwächter von Illingen, seinem evangelischen Kollegen aus Uchtelfangen und dem jüdischen Tagelöhner Jakob Levy ab, durch den die Letzteren zu Totengräbern für die verschiedenen Friedhöfe bestimmt wurden. Für den Fall, dass Hinterbliebene nicht die fälligen Gebühren zahlten, wurde festgelegt, dass diese durch den Steuereinnehmer eingetrieben werden sollten.308

sich die Juden, die Gremien jeweils mit der kleinstmöglichen Personenzahl zu besetzen. Vgl. Nauhauser, S. 205, 212. Vgl. LHAK Best. 441 Nr. 9719, S. 155, 163. 302 Vgl. Barkai, Minderheit, S. 59 und S. 85. 303 Vgl. Jehle, Bd. 4, S. 1396, 1464 – 1472, 1485 f. Vgl. Dokumentation, Bd. 3, S. 29 – 31. Vgl. auch Zittartz-Weber, Religion, S. 110 – 113. 304 LHAK Best. 655,12 Nr. 158, S. 9. 305 LHAK Best. 655,12 Nr. 158, S. 9. 306 Ebd., S. 11. 307 Vgl. LHAK Best. 655,12 Nr. 158, S. 13. 308 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1135, S. 8 – 10. Vgl. auch Nauhauser, S. 342.

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Obwohl die Vorstände der jüdischen Gemeinden sich nach der Umsetzung des Gesetzes von 1847 auf den Beistand der Behörden verlassen konnten, erwies sich die Einnahme der Kultusbeiträge teilweise weiterhin als schwierig. So sahen sich z. B. die Vorsteher Gemündens gezwungen, die Entziehung von Ehren­rechten als Druck­ mittel anzuwenden, die nach Angaben des Landrats von Simmern aus dem Jahr 1866 immer noch „das wirksamste Exekutionsmittel gegen renitente ­Gemeinde-Glieder“309 darstellten. Der Ausschluss von der Ausübung der Ehrenfunktionen war als Sanktion gegenüber zahlungsunwilligen Glaubensgenossen weit verbreitet in den jüdischen Gemeinden der Rheinprovinz in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, so auch im Kreis Trier einschließlich Illingens, wie der dortige Bürgermeister 1826 berichtete: „Nicht nur hier, sondern beynahe in allen Juden-Gemeinden besteht der Gebrauch, daß zum Vortheil der Synagoge […] an jedem Sabbat die Abnahme des Zehn Gebottes und zwar in der Synagoge ver­steigert wird. Wer zu dieser Ehre zugelassen seyn will, muß sich zuerst gefallen lassen, zur Unterhaltung der Synagoge eine Leistung von 5fl 30r (jedoch nur einmal) zu leisten, und wer diese Leistung versagte, der war von dieser Ehre ausgeschlossen.“310 Dieses Verfahren wurde u. a. deswegen so oft genutzt, weil nach der Auflösung der jüdischen Gemeinden als Korporationen den jüdischen Vorständen abgesehen von Ermahnungen und der Verhängung kleinerer Geldstrafen keine anderen Druckmittel mehr blieben.311 Die Androhung des Ausschlusses von den Ehrenrechten stellte zumindest in einem Teil der jüdischen Landgemeinden bis ins 20. Jahrhundert hinein eine Sanktionsmöglichkeit dar, wie auch die 1901 verabschiedete Synagogenordnung von Illingen belegt. Diese verpflichtete jedes Gemeindemitglied „an Sabbat und Feiertagen zu jedem Gottesdienste […] zu erscheinen. […] Wer dieser Verordnung nicht nachkommt, wird zu keiner Funktion beim Gottesdienst […] zugelassen.“312 Da normalerweise die ärmeren Mitglieder der jüdischen Gemeinden am ehesten Probleme hatten, zur Unterhaltung der Synagoge beizutragen, verschränkten sich Auseinandersetzungen um die Ausübung von Ehrenfunktionen häufig mit sozialen Spannungen. So untersagte z. B. im Jahr 1864 der jüdische Vorstand von Gemünden dem als arm anzusehenden Moses Roos wegen rückständiger Beitragszahlungen die Ausübung der Ehrenrechte.313 Gegen eine solche Praxis suchten sich die sozial schwächeren Gemeindemitglieder zu wehren, indem sie Beschwerden an die Koblenzer Regierung sandten, in denen sie dem jüdischen Vorstand das Recht absprachen, ihnen 309 LHAK Best. 441 Nr. 9719, S. 202. 310 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1686, S. 5 f. 311 Vgl. Zittartz-Weber, Religion, S. 180 f. Vgl. Zittartz-Weber, Suzanne: Die jüdischen Gemeinden in der preußischen Rheinprovinz 1815 – 1871, in: Grübel/Mölich, S. 118 f. 312 Nauhauser, S. 318. 313 Vgl. LHAK Best. 441 Nr. 9719, S. 64 f. Vgl. Ullmann, S. 225.

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die Ehrenrechte vorzuenthalten. Die Vorgehensweise der überwiegend wohlhabenden Vorsteher kritisierten sie als ungerecht, da das Vorbeten aus der Thora ihnen genauso zustünde wie jedem reichen Mann.314 Die preußischen Behörden lehnten allerdings in der Regel Interventionen in gemeindeinterne Angelegenheiten ab und wurden nur tätig, wenn sie die öffentliche Ruhe und Ordnung als gefährdet ansahen.315 Dementsprechend wurde die Koblenzer Regierung erst 1866 in Gemünden tätig, als die Streitigkeiten um die Ausübung des Ehrenrechtes, aus der Thora vorzulesen, so ausarteten, dass ein Mitglied der Repräsentantenversammlung einem anderen „beinah eine Thorarolle auf dem Kopf geschlagen hätte“.316 Sie verwies einige Juden wegen der Verübung „groben Unfugs“ vor das Polizeigericht, aber eine Entscheidung darüber, welche Partei im Recht gewesen sei, lehnte sie ab, da die Ehrenrechte eine Kultusangelegenheit waren.317 Ähnlich zurückhaltend zeigte sich die Trierer Regierung 1826 gegenüber einer Beschwerde eines in Ottweiler lebenden Juden über den Ausschluss seines der Illinger Gemeinde angehörenden Sohnes von den Ehrenfunktionen: Die Regierung empfahl ihm, sich an den Trierer Rabbiner zu wenden.318 Ein seltener Fall, in dem sich die preußische Verwaltung verpflichtet sah, im Interesse der öffentlichen Sicherheit in jüdische Belange einzugreifen, lag 1856 in Illingen vor, als der Landrat die Synagoge „wegen ihrer technisch festgestellten lebensgefährlichen Baufälligkeit“319 schließen ließ. In Gemünden kam es im Jahr 1824 zu einem Ereignis, das von der ­Koblenzer Regierung als so bedrohlich für die Sicherheit der Bevölkerung angesehen wurde, dass es sogar eine gesetzliche Anordnung zur Folge hatte. Der Nachtwächter hatte einen Brand in der Küche eines jüdischen Hauses gelöscht, allerdings ohne Hilfe der Bewohner, die glaubten, eine solche Tätigkeit am Sabbat nicht verrichten zu dürfen. Er bemerkte, „daß wenn das Feuer noch etwas stärcker geworden wäre, so wäre er nicht mehr im Standte gewesen es zu tödten, und hätte als dann im F ­ lecken Feuerlärm schlagen müßen, welches doch bloß allein der Nac­h­lässigkeit dieser Juden, oder auch ihrem einfältigen Gebrauch von S­ chawes […] hätte zugeschrieben werden müssen“.320 Der Bürgermeister forderte Maß-

314 Vgl. LHAK Best. 441 Nr. 9719, S. 203 f., 231 – 234, 271 – 274. Vgl. auch Kastner, Einführung, S. 39. 315 Vgl. Verfügung des Innenministeriums, 5.6.1849, in: LHAK Best. 441 Nr. 25280. Vgl. Zittartz-Weber, Religion, S. 109 f. Vgl. Zittartz-Weber, Gemeinden, S. 119. Vgl. Marx, Geschichte, S. 122. 316 LHAK Best. 441 Nr. 9719, S. 272 f. 317 Vgl. ebd., S. 267 – 270. 318 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1686, S. 3 – 10. 319 LAS Dep. Illingen Nr. 1541, S. 20. 320 LHAK Best. 441 Nr. 3167, S. 5 f.

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regeln vonseiten der höheren Behörden, da er befürchtete, dass sich der Vorfall wieder­holen und eventuell „ein Brand entstündte, welcher bey e­ twaigen starcken Wind Unglück und Verderben über viele verbreiten“321 könne. Die Regierung zu Koblenz erkundigte sich daraufhin beim jüdischen Konsistorium von Bonn, ob das Ruhe­gebot wirklich die Löschhilfe am Sabbat verbiete. Dieses führte das Handeln der Gemündener Juden auf einen „irrgeleidetem Religionsbegriff“322 zurück und betonte, dass die m ­ osaischen Gesetze den Juden befehlen würden einzugreifen, wenn Menschenleben in Gefahr seien, und die Zeremonial­gesetze in solchen Fällen zurückstehen müssten. Die Regierung erließ daraufhin eine Verordnung, die sich auf das Gutachten des Konsistoriums berief und die Verweigerung von Hilfe am Sabbat als Aberglauben einstufte, der in bürgerlicher sowie religiöser Hinsicht strafbar sei. Den Polizeibehörden wurde befohlen, „nicht zu dulden daß die Religion zum Vorwande der Lieblosigkeit genommen werde, sondern die Juden ernstlich zu ihrer Schrift anzuhalten, den Widerstand aber gesetzlich zu verfolgen“.323 Der beschriebene Fall stellte einen der wenigen Fälle dar, in denen sich der preußische Staat eines der Konsistorien bediente, um Einfluss auf die jüdische Bevölkerung der Rheinprovinz zu üben. Ansonsten benutzte er die Konsistorien kaum in dem ursprünglich beabsichtigten Sinne, z. B. um Informationen über die ansässigen Juden zu erhalten oder die Letzteren zum Ergreifen von Hand­ werken ermuntern zu lassen. Die Gründe dafür lagen in der eher kritischen Einstellung der preußischen Verwaltung gegenüber den jüdischen Institutionen und der Erfahrung, dass diese kaum in der beabsichtigten Weise tätig wurden. Auch weil die preußischen Behörden die jüdischen Konsistorien nur selten bei der Ausübung ihrer Aufgaben unterstützten, nahmen die jüdischen Gemeinden diese als Autoritäten kaum ernst.324 Der Einfluss des Konsistoriums von Bonn auf die jüdischen Gemeinden außerhalb seines Sitzes war sehr gering, wozu die zerstreute Siedlungsweise der Juden beitrug.325 Erst 1830, d. h. mehr als 20 Jahre nach seinem Amtsantritt, unternahm der aus dem Elsass stammende Oberrabbiner Abraham Auerbach seine erste Inspektions­reise durch den Bonner Bezirk, um den Zustand der 321 322 323 324

Ebd., S. 3. Ebd., S. 9. Vgl. auch ebd., S. 1. Ebd., S. 12 f. 1845 kritisierte z. B. die Koblenzer Regierung, dass ihr von „einer reellen Thätigkeit der nicht-rabbinischen Mitglieder […] nichts bekannt geworden [sei]. Von einer Fürsorge des Oberrabbiners […] findet sich in unsern Acten keine Spur.“ Jehle, Bd. 4, S. 1409. Vgl. Zittartz-Weber, Religion, S. 92 f., 117 f. Vgl. Zittartz, Gemeinden, S. 119. 325 Vgl. Werner, Organisation, S. 5.

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jüdischen Schulen zu begutachten. Bis nach Gemünden gelangte er allerdings nicht, da er die Reise aufgrund gesundheitlicher Probleme abbrechen musste.326 Der seit den Vierzigerjahren im Konsistorialbezirk Trier tätige Rabbiner Kahn war zwar aktiver als sein Bonner Kollege und versuchte, auch auf die nicht­ städtischen Juden seines Bezirks einzuwirken, aber auch ihm bereitete die zerstreute Siedlungsweise Probleme bei der Betreuung.327 In den Vierzigerjahren begab er sich einige Male nach Illingen, um die dortigen Juden zum Neubau der Synagoge zu bewegen.328 Im Gegensatz zu den Beiträgen, die der Bestreitung der Kultusbedürfnisse der jüdischen Gemeinden selbst dienten und die bis zur Umsetzung des G ­ esetzes von 1847 ohne behördliche Hilfe gesammelt werden mussten, wurden die Kultus­ steuern zur Finanzierung der jüdischen Konsistorien stets mithilfe der Lokal­ behörden erhoben und eingenommen.329 Da das Konsistorium von Bonn nur für sehr wenige jüdische Gemeinden Leistungen erbrachte, erfreute sich die Institution unter den meisten von ihnen keiner großen Beliebtheit, so auch nicht in Gemünden, wo z. B. 1841 Beschwerden über die Konsistorialabgaben laut wurden.330 Im Trierer Konsistorialbezirk sah die Lage bis in die Vierziger­ jahre hinein nicht wesentlich anders aus: Auch hier klagten viele jüdische Land­ gemeinden über die Nutzlosigkeit des städtischen Konsistoriums.331 Einen generellen Widerstand gegen die Konsistorialabgaben scheint es vonseiten der Illinger Juden nicht gegeben zu haben, allerdings kam es im Jahr 1835 zu einem Konflikt über die Verteilung der Lasten. Das Konsistorium hatte in dem genannten Jahr einen Teil der ärmeren Juden nicht zur Bezahlung der Abgaben hinzuge­zogen, was die Besteuerten, die in vielen Fällen finanziell nicht wesentlich besser gestellt waren, als ungerecht empfanden. Der Bürgermeister, der jährlich eine Liste der 326 Vgl. LHAK Best. 403 Nr. 15219, S. 105 – 110. Vgl. Kasper-Holtkotte, Juden, S. 80 – 86. 327 Vgl. Jehle, Bd. 4, S. 1482. Vgl. AZJ, Nr. 31, 1875, S. 493. 328 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1541, S. 1 – 6, 15. Dieser Einsatz erwies sich allerdings als erfolglos, da die jüdische Gemeinde nach Ansicht des Bürgermeisters eher aus Verlegenheit einige Beschlüsse über die Neuerrichtung des Gebetshauses fasste. Insofern ist Marx, Geschichte, S. 122 nicht zustimmen. 329 Vgl. für Gemünden z. B. die Aufforderung von Landrat Schmidt an Bürgermeister Mendel, die Kultussteuern für das Jahr 1828 einnehmen zu lassen, in: LHAK Best. 655,12 Nr. 158, S. 23. Vgl. für Illingen die Verordnung der Trierer Regierung an den Bürgermeister, ein Verzeichnis der von den Juden bezahlten Grund-, Gewerbe- und Klassensteuer anzufertigen, um ihren Beitrag am Rabbinergehalt zu ermitteln, 1833, in: LAS Dep. Illingen Nr. 1686, S. 15. 330 Vgl. LHAK Best. 403 Nr. 943, S. 3 – 5. Vgl. Kasper-Holtkotte, Juden, S. 390. 331 Erst nach dem Amtsantritt von Oberrabbiner Kahn änderte sich dies teilweise. Vgl. AZJ Nr. 2, 1867, S. 28 f. Vgl. Marx, Geschichte, S. 122 – 125.

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jüdischen Steuerzahler an das Konsistorium sandte, damit dieses die Kosten auf die jüdischen Gemeinden umlegen konnte, ergriff Partei für die klagenden Juden, da „unter den Ausgelassenen Leute sind, die eben sogut ihren verhältniß­mäßigen Betrag […] entrichten können. […] Übrigens ist die Last für die I­ sraeliten zu bedeutend[,] als daß man solche willkührlich nur auf Einzelne werfen dürfte.“332 Die Trierer Regierung wies daraufhin das Konsistorium an, ab 1835 alle Juden, die mindestens zwei Taler Klassensteuer entrichteten, zur Bezahlung der Konsistorialabgaben hinzuziehen.333 Im Jahr 1849 verfasste die jüdische Gemeinde von Gemünden ein Gesuch an die Koblenzer Regierung, in welchem sie bat, von der Bezahlung der Konsistorialabgaben befreit zu werden. Sie begründete ihre Eingabe mit den fehlenden Leistungen für die Gemeinde: „Schon seit einer Reihe von Jahren das Bedürfnis eines Oberrabbiners durchaus nicht vorhanden war, indem wir von Seiten desselben für unser zu zahlende alljährigen Cultus-Kosten auch nicht die geringsten Dienste empfangen […]. Derselbe besucht nicht unsere Schulen, ordnet nicht unsere Synagogen-Angelegenheiten […] und dazu besitzt auch derselbe unser Vertrauen nicht.“334 Zudem wies der Vorstand darauf hin, dass das einzige Motiv, das die Juden Gemündens bisher davon abgehalten hatte, die Zahlungen zu verweigern, mit dem Gesetz von 1847 entfallen sei: Sie seien nicht mehr auf die Ausstellung eines Moralitätszeugnisses des Konsistoriums zur Erlangung eines Handelspatents angewiesen.335 Die Koblenzer Regierung lehnte den Antrag der Gemündener ab, da erst nach vollständiger Ausführung des Gesetzes von 1847 die Konsistorien aufgelöst werden sollten und somit die Verpflichtung der Juden, diese zu unterhalten, noch weiter bestand.336 Die Praxis gestaltete sich allerdings dann doch etwas anders: Das Konsistorium von Bonn wurde 1863, dasjenige von Trier 1867 aufgehoben – also lange, bevor sich alle Juden der südlichen Rheinprovinz zu Synagogengemeinden zusammengeschlossen hatten. Ebenso wie der Trierer Rabbiner Kahn versah auch sein Bonner Kollege Auerbach sein Amt noch bis zu seinem Tod. Aus diesem Grund wurden für die Gehälter der Oberrabbiner sogar noch nach der Auflösung der Konsistorien Beiträge von den jüdischen Gemeinden erhoben.337

332 LAS Dep. Illingen Nr. 1686 S. 19. 333 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1686, S. 22. 334 LHAK Best. 403 Nr. 4886, S. 275. 335 Vgl. ebd. 336 Vgl. LHAK Best. 403 Nr. 4886, S. 279. Vgl. Zittartz-Weber, Religion, S. 247 – 249. 337 Vgl. AZJ, Nr. 31, 1975, S. 492 f. Vgl. Marx, Geschichte, S. 128. Vgl. Zittartz-Weber, ­Religion, S. 249 f.

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4.3.2 Zwischen konsistorialer Kontrolle und behaupteter Eigenständigkeit. Die Landgemeinden Lothringens

Nach der Einführung der napoleonischen Kultusordnung stellte sich in Lothringen genauso wie in den linksrheinischen Gebieten die Frage, wie die Verwaltung der kleinen jüdischen Gemeinschaften auf dem Lande organisiert werden sollte. Wie bereits im Zusammenhang mit den juristischen Rahmenbedingungen erwähnt, suchten die Konsistorien die Gemeinden außerhalb ihres Sitzes zu verwalten, indem sie für diese „commissaires surveillants“ ernannten, die in ihrem Sinne vor Ort agieren sollten.338 In Grosbliederstroff wurde etwa 1817 ein Überwachungskommissar in Person von Lion Lambert installiert, welcher der Gruppe der wohlhabenderen Juden angehörte.339 Der 1840 in Boulay als Kommissar agierende Jacob Rheims war sogar der reichste jüdische Einwohner des Ortes. In seinem Fall ist davon auszugehen, dass die Konsistorialmitglieder ihn ernannten, da er aufgrund seiner Wohlhabenheit dem kleinen Kreis der jüdischen Notabeln angehörte und ihnen wohl auch persönlich bekannt war.340 Eine Besetzung für den Posten des Commissaire zu finden, war mitunter schwierig, weil der Amtsinhaber bis 1819 allein für die Eintreibung der Konsistorialbeiträge verantwortlich war, die in Lothringen wegen der Existenz des Zentralkonsistoriums höher ausfielen als in der benachbarten Rheinprovinz, aber auch weil der Kommissar je nach Amtsführung als Kontrollperson des Konsistoriums wahrgenommen wurde.341 Obwohl die Praxis der Konsistorien, Überwachungskommissare zu e­ rnennen, durch die Ordonnanz von 1823 bestätigt wurde, erlaubten sie den jüdischen ­Gemeinden nicht selten, diese Personen selbst auszuwählen bzw. ihnen vorzuschlagen. Der Grund dafür war, dass die Konsistorialmitglieder anders als im Fall von 338 Vgl. Kapitel 2.3.2.2. 339 Vgl. Lion Lambert au consistoire israélite de la circonscription de Metz, 22.7.1847, in: ADM 17J61. Vgl. Liste des électeurs censitaires de la commune de Grosbliederstroff, 8.1.1846, in: ADM 41M6. 340 Dasselbe galt wohl für seinen Vater Sissel Rheims, der 1809 das Oberhaupt der jüdischen Gemeinde war. Vgl. Kapitel 3.3.3. Vgl. recensement de la population juive, 31.8.1809, in: ADM ED 100, 3P1. Vgl. Liste de 16 candidats présentée à S. E. M. le ministre de l’Intérieur, pour la nomination de 8 notables manquant dans le collège de la circonscription de Metz, 22.4.1829, Tableau des sorties periodiques qui auront lieu jusqu’en 1850 parmi les membres du Collège des notables isrélites de la circonscription de Metz, 11.10.1842, in: LBIJMB MF509 reel 2 fol. 1566 und fol. 1569. Vgl. Liste des électeurs censitaires de la commune de Boulay, 5.1.1846, in: ADM 40M4. 341 Vgl. Girard, S. 177 – 180. Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 121. Vgl. Neher-Bernheim, documents, Bd. 2, S. 230 – 232.

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Boulay zumeist niemanden in den zahlreichen verstreuten Gemeinden kannten und es für die Konsistorien schon ohne die Einsetzung unbeliebter Führungs­personen schwierig war, in den aus ihrer Sicht abgelegenen Gegenden – wie dem flachen Land in Lothringen – ihre Autorität durchzusetzen.342 Im Fall von Grosbliederstroff sorgten neben dem Vertrauen seiner Glaubensgenossen praktische Probleme dafür, dass Lion Lambert über Jahrzehnte hinweg von der eigenen Gemeinde zum Überwachungskommissar gewählt wurde: „Je suis le seul parmi mes correligionnaires que parle français.“343 Es ist allerdings zu betonen, dass Lamberts etwa von 1817 bis 1868 dauernde Tätigkeit eine Ausnahmeerscheinung war.344 Zudem erschwerte auch ihm ein Teil der jüdischen Einwohner das Leben, z. B. erklärte er 1847, seine Aufgaben nur dann weiter zu erfüllen, „si je ne serais plus en but à des vexations que rendraient ma charge difficile“.345 Es gab eine Reihe von Gründen für die Auseinandersetzungen der jüdischen Gemeinden mit ihren „commissaires surveillants“: Sie reichten von genereller Kritik an der Absicht der Konsistorien, die Gemeinden durch einen Beauftragten in ihrem Sinne verwalten zu lassen, über seltene religiöse Meinungsverschiedenheiten bis hin zur Unzufriedenheit über die Finanzverwaltung der Kommissare. Das Letztere war z. B. im Jahr 1838 in Boulay der Fall, als der Kommissar die Gelder, die für die Unterhaltung des jüdischen Kultus gedacht waren, mit denen aus einer Spendenaktion zur Unterstützung einiger armer Gemeindemitglieder vermischte. Allgemein lässt sich sagen, dass die Landjuden den Konsistorien die Fähigkeit absprachen, angemessene Entscheidungen in Unkenntnis der lokalen Verhältnisse treffen zu können.346 Das Metzer Konsistorium selbst kam in den Vierzigerjahren zu der Überzeugung, dass eine Vielzahl von Konflikten zu verhindern wäre, wenn den jüdischen Einwohnern ein stärkeres Mitspracherecht bei der Besetzung ihrer Gemeindeführung zugestanden würde.347 Aus diesem Grund entschied die jüdische Behörde 1846, ein neues Verfahren zur Bestimmung der jüdischen

342 Vgl. Mendel, S. 31. Vgl. Job, juifs à Lunéville, S.231 f. Vgl. Albert, modernization, S. 182 f. 343 Lion Lambert au consistoire israélite de la circonscription de Metz, 22.7.1847, in: ADM 17J61. 344 Vgl. ebd. Vgl. extrait de registre des déliberations de la commission administrative de la communauté israélite de Grosbliederstroff, 13.5.1868, in: ADM V156. 345 Lion Lambert au consistoire israélite de la circonscription de Metz, 22.7.1847, in: ADM 17J61. 346 Vgl. consistoire de la circonscription de Metz au préfet de Metz, 22.2.1838, in: ADM V156. Vgl. Albert, modernization, S. 183 – 187. Vgl. Roos, relations entre les juifs, S. 57. Vgl. Berkovitz, rites, S. 140. 347 Vgl. Consistoire de la circonscription de Metz au consistoire central israélite de la France, 8.3.1847, in: ACP Icc 18. Vgl. auch Albert, modernization, S. 183.

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Verwaltung auf lokaler Ebene einzuführen. Jede Gemeinde sollte eine Verwaltungs­ kommission, bestehend aus drei bis sieben Personen, wählen, und das Konsistorium ernannte anschließend zwei der Gewählten zum Präsidenten sowie Vizepräsidenten des Gremiums und übertrug diesen die Aufgaben eines „commissaire surveillant“ bzw. „adjoint“. Die Aufgaben des Überwachungskommissars wurden auf mehrere Schultern verteilt: Er war weiterhin für die Aufrechterhaltung der Ordnung in der ­Synagoge und die Korrespondenz mit dem Konsistorium zuständig, aber die Verwaltung der Gemeindefinanzen und die Überwachung des Religionsunterrichtes lag nun in den Händen der Kommission.348 Nachdem das Zentralkonsistorium der Änderung zugestimmt hatte, fanden im Juli 1847 sowohl in Grosbliederstroff als auch in Boulay Wahlen statt. Dass in diesen Dörfern die Mehrheit der jüdischen Einwohner mit der Tätigkeit ihrer bisherigen Überwachungskommissare zufrieden war, zeigte sich an den Wahlergebnissen: In beiden Orten erhielten die bisher diese Funktion ausübenden Personen – Jacob Rheims in Boulay sowie Lion Lambert in Grosbliederstroff – die meisten Stimmen.349 Leichte Unterschiede ließen sich hinsichtlich der sozialen Herkunft der gewählten Personen feststellen, denn im Gegensatz zu Boulay, wo sie allesamt zur wirtschaftlichen Oberschicht gehörten, waren in Grosbliederstroff auch ärmere Gemeindemitglieder in der Kommission vertreten, so z. B. im Jahr 1852 der Händler Isaac Sinay.350 Die Zustimmung der jüdischen Einwohner zu den bisherigen Kommissaren kam daher, dass sich diese keineswegs nur als Vertreter der Konsistorien verstanden, sondern ähnlich den jüdischen Vorständen in der Rheinprovinz als Interessenvertreter ihrer Gemeinden fungierten. Da sie die letztere Rolle häufig als wichtiger einschätzten als die erstere, verwickelten sie sich auch in Konflikte mit dem ihnen übergeordneten Konsistorium, wenn auch nicht selten erfolglos, so z. B. Lion Lambert aus Grosbliederstroff.351 Dieser setzte sich 1833 für einen ­Neubau 348 Vgl. Consistoire israélite de la circonscription de Metz, 11.1.1846, in: ADM 17J40. Vgl. Règlement relatif à l’administration des communautés comprises dans la circonscription consistoriale de Metz, in: LBIJMB MF509 reel 2 fol. 1541 – 1543. Vgl. Albert, ­modernization, S. 183. Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 124 f. Vgl. Debré, Jews, S. 376 f. 349 Vgl. Protocole d’Election de 7 membres d’un commission administrative de la communauté israélite de Boulay, 2.7.1847 sowie Lion Lambert commissaire suveillant de la communauté israélite de Grosbliederstroff, 22.7.1847, in: ADM 17J61. 350 Vgl. ebd. Vgl. Liste des électeurs censitaires de la commune de Boulay, 5.1.1846, in: ADM 40M4. Vgl. Séance extraordinaire des membres de la commission de surveillance près le temple de Grosbliederstroff, 30.10.1852, in: AJMB MF509 reel 3 fol. 2339. Vgl. Liste des électeurs censitaires de la commune de Grosbliederstroff, 8.1.1846, in: ADM 41M6. Vgl. Willigsecker, S. 54. 351 Dem Urteil von Cohen, dass es sich bei den Überwachungskommissaren meist um ungebildete Leute handelte, die unbedachte Entscheidungen trafen, ist zu widersprechen. Es

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der örtlichen Synagoge ein, weil die ursprünglich beabsichtigte Erweiterung des alten Gebetshauses genauso teuer gewesen wäre.352 Das den Plan ablehnende Konsistorium kritisierte den seiner Meinung nach unbedacht handelnden Lambert mit einer gewissen Herablassung: „Non, Mr. le Commissaire […] il faut d’agir en bon père de famille avec prudence, et une mûre reflexion. Tant que l’entrepreneur fait bâtir, on ne s’inquiette de rien, […] mais les termes des payements arrivés, les embarras surviennent successivement, les procès commencent, les mécontements et la division surgissent parmi les contribuables.“353 Obwohl Lambert der jüdischen Verwaltungsbehörde ausführlich die lokalen Gründe für die abgeänderte Planung darlegte, blieb das Konsistorium bei seiner Meinung, was die Folge hatte, dass die jüdische Gemeinde keinen staatlichen Zuschuss für den Neubau erhielt.354 Die Finanzierung des jüdischen Kultus gestaltete sich für alle jüdischen Einwohner nach 1831 etwas einfacher, da die Gehälter der Rabbiner größtenteils vom Staat bezahlt wurden. Das Entfallen der Konsistorialabgaben und die staatlichen Zuschüsse zum jüdischen Kultus stellten eine finanzielle Erleichterung für alle Juden dar, wenn auch die größeren jüdischen Gemeinschaften stärker profitierten.355 Die Verwaltung der jüdischen Gemeinden gestaltete sich deswegen aber nicht unbedingt einfacher für die jüdischen Kommissare bzw. die Verwaltungskommissionen. Als sich z. B. in Boulay 1838 mehrere jüdische Einwohner weigerten, ihre Beiträge zur Unterhaltung des Kultus zu entrichten, da sie sich über die Finanzverwaltung des Kommissars ärgerten, scheiterten dessen Versuche, das Geld zwangsweise einziehen zu lassen. Der Grund dafür lag in dem Gesetz von 1831, welches den bisher möglichen Einsatz behördlicher Zwangsmaßnahmen unterband, wie der Präfekt von Metz betonte: „Dans tous les cas les frais du Culte étant à la charge de l’état, ne peuvent pas maintenant donner lieu à des répartitions obligatoires.“356 Das M ­ etzer Konsistorium, welches die Spannungen in der Gemeinde besänftigen wollte, teilte

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spiegelt in erster Linie die Sicht der Konsistorien wider, die Gehorsam verlangten, aber nicht immer erhielten. Vgl. Cohen, promotion, Bd. 1, S. 234. Vgl. Kapitel 4.1.1. Consistoire de Metz au Lion Lambert commissare près de la synagogue de Grosbliederstroff, 15.11.1833, in: ADM V156. Vgl. ministre sécretaire de l’Etat de l’Intérieur et des cultes au préfet de Metz, 11.3.1834, in: ADM V156. Staatshilfe erhielten jüdische Gemeinden in der Regel nur mit Unterstützung ihres Konsistoriums. Vgl. Etat über die Ausgaben des Staats bei der Cultusverwaltung pro 1871, in: ADM 7AL20. Vgl. Etat des fonctionnaires et employés du culte israélite dans le district de la Lorraine, 1872, in: ADM 7AL3. Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 112. Vgl. Neher-Bernheim, documents, Bd. 2, S. 232 f., 245 – 249. Vgl. Avine-Goetz, S. 217. Vgl. Berkowitz, shaping, S. 160. Vgl. auch Kapitel 4.2.2. Préfet de Metz au consistoire israélite de la circonscription de Metz, 1.2.1838, in: ADM V156.

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dies ihrem Kommissar mit und konnte ihm lediglich raten, „d’user de son influence pour porter les rétardataires à être moins tenaces“.357 Die jüdische Gemeinde von Boulay finanzierte 1854 den Kultus und den jüdischen Schulunterricht vor allem über die Vermietung der Plätze in der ­Synagoge sowie den Verkauf von Ehrenrechten, während freiwillige Gaben einen eher kleinen Teil an dem 4750 Francs betragenden Gesamtbudget ausmachten. Immerhin 20 % des Letzteren stammten aus Zuschüssen des Staates bzw. der Zivilgemeinde. In Grosbliederstroff war dieser Anteil in demselben Jahr mit knapp 35 % noch höher, weil die dortigen jüdischen Einwohner aufgrund ihrer schlechteren wirtschaftlichen Lage weniger für ihren Kultus ausgeben konnten und ihr Kultusetat lediglich 2600 Francs betrug. Im Gegensatz zu Boulay, wo keine allgemeinen Kultussteuern mehr erhoben wurden, legte in Grosbliederstroff die jüdische Verwaltungskommission fest, dass die Gemeindemitglieder zusammen 600 Francs dieser Abgaben entrichten müssten. 358 Die Finanzierung des Kultus in Boulay und Grosbliederstroff änderte sich zum Ende des Jahrhunderts, als die staatlichen Vorsängergehälter entfielen. So bestritten 1892 die Juden Boulays ihr Budget größtenteils über Beiträge und die Vermietung der Sitzplätze in der Synagoge, während in Grosbliederstroff 1890 das meiste Geld aus Mitgliederbeiträgen und den Einnahmen aus der Versteigerung der Ehrenrechte stammte.359 Ähnlich wie diesen beiden Gemeinschaften fiel auch anderen lothringischen Landgemeinden – sowohl im annektierten als auch im französisch bleibenden Teil der Region – die Finanzierung des Kultus infolge der Abwanderung vom Land immer schwerer.360 Offiziell handelte es sich bei den nach 1831 von den Mitgliedern der jüdischen Gemeinden erhobenen Beiträgen nur um freiwillige Gaben, aber in der Realität griffen die Kommissare und die Verwaltungskommissionen im Falle der Zahlungsverweigerung zu ähnlichen Mitteln wie die jüdischen Vorstände in der Rhein­ provinz. Auch sie benutzten den Entzug der Ehrenrechte als Druckmittel, wie das Konsistorium 1840 berichtete: „La seule mésure répressive qui soit au pouvoir des commissaires délégués […] c’est de priver les déliquants des honneurs religieux

357 Consistoire de Metz au préfet de Metz, 22.2.1833, in: ADM V156. 358 Vgl. Statistique des communautés Israélites de la circonscription consistoriale de Metz, ca. 1854, in: AJMB MF509 reel 1 fol. 64 – 66. Im Vergleich zu noch kleineren jüdischen Landgemeinden in Lothringen gestaltete sich die Lage der Grosbliederstroffer Juden allerdings noch komfortabel. 359 Vgl. Auszug der Sitzung der Verwaltungskommission der israelitischen Gemeinde von Großblittersdorf, 27.4.1890, in: ADM 7AL131. Vgl. Budget der israelitischen Gemeinde zu Bolchen, 1892, in: ADM ED100 3P1. 360 Vgl. Avine-Goetz , S. 221. Vgl. Mendel, S. 38. Vgl. Debré, Jews, S. 377 f.

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pendant un temps plus ou moins long.“361 Dass diese Methode funktionieren konnte, lag an der traditionellen Religiosität, die sich bis zur Mitte der Vierzigerjahre nach Angaben des Präfekten des Départements Moselle auf dem Land noch genauso wie zum Anfang des Jahrhunderts gestaltete. Dass sich diese Lage in den folgenden Jahrzehnten nur teilweise änderte, belegt u. a. die Synagogenordnung von Bionville, nach der denjenigen, die sich nicht an den Kultuskosten beteiligten, die Ausübung der Ehrenrechte zu verweigern war.362 Manche Kommissare setzten auch nichtreligiöse Sanktionsmittel ein, allerdings war deren Wirksamkeit teilweise fraglich. So ging z. B. Lion Lambert im Jahr 1840 folgendermaßen vor, um die seiner Meinung nach gestörte Ruhe in der Synagoge von Grosbliederstroff wiederherzustellen: „Depuis un certain temps quelques uns des fidèles de notre Sinagogue se permettent de causer à haute voix, et de faire des plaisanteries pendant le service religieux, et par là ils causent le plus grand désordre. Pour mettre une fin à ce scandale qui a déjà lieu il y a quelques années, nous avons fait jurer un homme de notre culte, devant Mr. le Juge de paix de Sarreguemines, pour qu’il puisse dresser des procès verbaux contre ceux qui causent du désordre dans la synagogue pendant le service; mais cet homme juré vient de donner sa démission parce qu’on se moquait devant lui et qu’on ne l’écoutait point lorsqu’il voulait imposer le silence.“ 363 Da der Erfolg ausblieb und niemand anderes bereit war, die Aufgabe zu übernehmen, bat Lambert den Präfekten, ihm die ­Genehmigung zu erteilen, Geldstrafen zu verhängen, abhängig vom Grad der gestifteten Unordnung. Die fraglichen Beträge sollten der jüdischen Gemeindekasse zugutekommen.364 Der Präfekt sah grundsätzlich die Möglichkeit, Lambert die erstere Kompetenz zuzugestehen, aber die Verhängung von Strafzahlungen lehnte er ab: „En ce qui concerne le droit d’infliger des amendes, il est de toute crédance qu’il n’appartient pas au Commissaire de la Synagogue ni à aucun autre agent du culte.“365 Trotz dieses Standpunktes verabschiedete die jüdische Gemeinschaft von Boulay 1850 ein

361 Président du consistoire israélite de Metz au préfet de Metz, 22.6.1840, in: ADM V156. Vgl. allgemein Hermon-Belot, S. 98, Dienemann, S. 80 sowie Albert, modernization, S. 188. 362 Vgl. Préfet de la Moselle au ministre de l’intérieure, 21.7.1843, in: ADM V149. Vgl. Mendel, S. 56. 363 Lion Lambert commissionnaire de la communauté israélite de Grosbliederstroff au préfet de la Moselle, 11.5.1840, in: ADM V156. 364 Vgl. ebd. 365 Préfet de Metz au président du consistoire israélite de la circonscription de Metz, 9.9.1840, in: ADM V156.

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Reglement, in dem sie genau die Pflichten ihrer Mitglieder sowie kleinere Geldstrafen für den Fall von Verstößen festlegte.366 Im Rahmen der sich 1840 abspielenden Diskussion über die Befugnisse der jüdischen Verwaltung von Grosbliederstroff verwies der Präfekt noch auf eine s­ einer Meinung nach wesentlich wirksamere Möglichkeit, gegen die Unruhestifter in der Synagoge vorzugehen: „Le code pénal […] donne des moyens plus efficaces de repression contre celui qui trouble les exercices d’un Culte que qu’il soit.“367 Ähnlich wie die preußischen Behörden glaubte die französische Verwaltung also, dass sie im Falle des Auftretens öffentlicher Unruhe oder von Gefahr für die öffentliche Sicherheit in religiöse Angelegenheiten eingreifen könne bzw. müsse. Im Jahr 1852 tat sie Letzteres auch, indem sie die baufällige Synagoge von Boulay im Interesse der öffentlichen Sicherheit schließen ließ.368 Da die Behörden für das Argument, für Ruhe und Ordnung sorgen zu wollen, empfänglich waren, versuchten die Konsistorien teilweise mit dieser Begründung, nicht von ihnen genehmigte jüdische Gebetsversammlungen, d. h. Spaltungen innerhalb der jüdischen Gemeinden, zu unterbinden.369 Während die Ent­stehung solcher – „Minyan“ genannter – Gruppen in größeren französischen Städten zumeist auf den mangelnden Platz in den Synagogen oder religiöse Meinungsver­ schiedenheiten zurückzuführen war, bildeten in den jüdischen Landgemeinden häufig interne Streitigkeiten den Anstoß für Abspaltungen, z. B. Unzufriedenheit mit der lokalen jüdischen Gemeindeverwaltung.370 Ein Fall dieser Art trug sich Mitte der Achtzigerjahre fast in Grosbliederstroff zu, als ein Teil der jüdischen Einwohner 1885 das Regierungspräsidium von Lothringen „mit schwerem und betrübtem Herzen“ um die Erlaubnis bat, sich zukünftig „zur Ab­­haltung der vorschriftsmäßigen Andachtsübungen“371 in einem Privathaus versammeln zu dürfen. Der Grund für den Wunsch lag in Streitigkeiten über die Besetzung der örtlichen Verwaltungskommission, in welche auch das Konsistorium von Metz eingriff, um den Frieden in der Gemeinde wiederherzustellen. Auf Anraten des Letzteren lehnte

366 Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 224. Vgl. auch Règlement concernant l’administration du culte et de la police du temple israélite d’Insming, 17.1.1848, in: LBIJMB mf509 reel 3, fol. 2557 und Mendel, S. 56. 367 Préfet de Metz au président du consistoire israélite de la circonscription de Metz, 9.9.1840, in: ADM V156. 368 Vgl. Préfet de Metz au maire de Boulay, 19.10.1852, in: ADM V156. 369 Vgl. z. B. consistoire de Nancy au préfet de Nancy, 17.5.1844, in: ADMM V300. 370 Vgl. Albert, modernization, S. 197, 209 – 219. 371 Gesuch von 25 Mitgliedern der israelitischen Cultusgemeinde von Großblittersdorf an das Präsidium in Metz, 7.9.1885, in: ADM 7AL131.

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der Bezirkspräsident das Gesuch ab, da „ein auf Glaubenssachen beruhender i­ nnerer Grund“372 nicht vorliege. Die Ablehnung von „Minyanim“ durch die Konsistorien war u. a. auf Ängste um die Finanzierung der offiziellen jüdischen Gemeinden zurückzuführen, da bei Spaltungen deren Einnahmen absanken. Aus diesem Grund wandten sich auch die Überwachungskommissare kleiner Landgemeinden an die Konsistorien, damit diese ihnen halfen, privat organisierte Gebetsversammlungen zu unterdrücken.373 Der Wille der Konsistorien, keine „Minyanim“ zu dulden, hing auch mit ihrem Monopol­anspruch hinsichtlich der Verwaltung des jüdischen Kultus zusammen, auch wenn sie diesen nie vollkommen durchsetzen konnten.374 Ob in Grosbliederstroff in den Achtzigerjahren ein „Minyan“ gebildet wurde, ist unklar, allerdings bestanden die Spannungen in der jüdischen Gemeinde weiter. Seit 1887 verweigerten die Mit­glieder der Verwaltungskommission ihre Beitragszahlungen zur Unterhaltung des Kultus aus Empörung darüber, dass der Vorstand – also der Überwachungskommissar und sein Vertreter – ihnen entgegen den offiziellen Bestimmungen keine Einsicht in die Einnahmen und Ausgaben der jüdischen Gemeinde gewährte. Den Protestierenden war bewusst, dass dies die „größte Unordnung“ hervorrief und zu „unangenehmen Streitig­keiten“ führte, nahmen dies aber billigend in Kauf.375 Nach der Veröffent­lichung des Budgets legte sich die Unruhe entgegen den Hoffnungen des Konsistoriums nicht, weswegen es sogar eines seiner Mitglieder zur Prüfung der Klagen in den Ort delegierte, das die Angelegenheit zumindest vorläufig klärte: „Nach verschiedenen gegenseitigen Ausführungen erklärten sich Letztere [die Beschwerdeführer; Anm. der Autorin] als befriedigt und wurde eine vollständige Einigung herbeigeführt, so dass der Streit nunmehr als beigelegt zu betrachten ist.“376

372 Präsident von Lothringen an die Bittsteller in der jüdischen Gemeinde von Großblittersdorf, 8.9.1885, in: ADM 7AL131. 373 Vgl. u. a. Consistoire de Metz, 25.8.1822, in: ADM 17J39. Vgl. Albert, modernization, S.  198 – 218. Vgl. Girard, S.  198 – 201. 374 Vgl. consistoire de Metz au communauté israélite de Bliesbrucken, 16.1.1856, in: ADM 17J40. Vgl. Job, juifs de Nancy, S. 104 f. Vgl. Albert, modernization, S. 196 – 199. Vgl. Albert, Phyllis: Le rôle des consistoires israélite vers le milieu du XIXe siècle, in: REJ, Jg. 130, 1971, S. 249. 375 Vgl. Gesuch der jüdischen Verwaltungskommission von Großblittersdorf an das Bezirks­ präsidium von Lothringen, 3.9.1889, israelitisches Konsistorium von Lothringen an Michel Uhry zu Großblittersdorf, 25.8.1889, in: ADM 7AL131. 376 Israelitisches Konsistorium von Metz an den Präsident von Lothringen, o. D., ca. Oktober/ November 1889, in: ADM 7AL131. Vgl. auch Beschwerde von Mitgliedern der jüdischen Gemeinde von Großblittersdorf an das Bezirkspräsidium von Lothringen, 30.6.1890, in: ADM 7AL131.

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Persönliche Besuche von Konsistorialmitgliedern in den jüdischen Gemeinden wurden in Lothringen bereits in den Zwanzigerjahren unternommen und standen nicht selten im Zusammenhang mit der Aufgabe, den Schulunterricht zu überprüfen. So reiste z. B. 1820 der Großrabbiner zusammen mit einem anderen Mitglied des Konsistoriums nach Sarreguemines, um dort Erkundigungen über die schulische Unterweisung der jüdischen Jugend im dortigen Arrondissement einzuziehen. Im Jahr 1825 begab sich der Großrabbiner Wittersheim nach Boulay, wohl um dort den Unterricht zu inspizieren.377 Solche Visiten fanden bis in die zweite Jahrhunderthälfte hinein allerdings nur vereinzelt statt. Erst nach einer „tournée pastorale“ durch seinen Bezirk im Jahr 1869, die ihn auch nach Boulay und Grosbliederstroff führte, fasste der Großrabbiner Lipman ins Auge, den Gemeinden zukünftig alljährlich einen Besuch abzustatten, um den Religionsunterricht zu prüfen.378 In den folgenden Jahrzehnten bürgerte sich diese Praxis u. a. aufgrund der zunehmend besseren Verkehrsverbindungen tatsächlich ein.379 Die Sorge der Konsistorien um die Bildung der jüdischen Kinder hing mit der ihnen übertragenen Aufgabe der „Verbesserung“ der Juden zusammen. Schulen wurden als deren Instrument betrachtet: Sie sollten den jüdischen Kindern die Er­ lernung der französischen Sprache und Kultur und somit die Ergreifung „nützlicher“ Berufe erlauben. Auch wenn sich das Metzer Konsistorium im inner­französischen Vergleich am stärksten um die Einrichtung und Kontrolle jüdischer Schulen kümmerte, so ist doch zu bemerken, dass es zunächst lediglich die Einwohner größerer Städte erreichte. Auf dem Land bestimmten hingegen noch längere Zeit die jüdischen Gemeinden den jeweiligen Lehrstoff.380 Nicht selten lag das Augenmerk der Familien, welche die Lehrer entlohnten, auf der religiösen Komponente des Unterrichts, z. B. wurde gegenüber dem jüdischen Lehrer von Boulay in den 377 Vgl. Consistoire israélite de Metz, 22.10.1820, in: ADM 1T23. Vgl. Instituteur israélite de Boulay à l’avocat au cour royale de Metz Anspach, 7.7.1825, in: ADM 17J71. Vgl. ­Chaumont/Lévy, S. 900. 378 Vgl. Grand-rabbin de Metz aux collègues dans consistoire israélite de Metz, 21.6.1869, Bericht des Konsistoriums und Liste der besuchten Orte einschließlich der Reisekosten, beide o. D. (ca. 1869), in: ADM 17J66. Vgl. Albert, modernization, S. 132 – 134. 379 Vgl. Daltroff, juifs, S. 110 f. Der 1900 sein Amt antretende Metzer Großrabbiner N ­ etter bereiste jährlich die Gemeinden, auch kleinere wie z. B. die in der Nähe von Boulay existierende Gemeinschaft in Niedervisse, um sich ein Bild vom Religionsunterricht zu machen und zu predigen. 380 Vgl. Albert, modernization, S. 128 – 130. Vgl. Berkovitz, shaping, S. 152 – 164. Vgl. Nahon, Monique: L’école consistoriale élémentaire de Paris 1819 – 1833. La „Régénération“ à l’œuvre, in: Archives Juives, Nr. 2, Jg. 35, 2002, S. 30 f. Vgl. Hazan, Katy: Du heder aux écoles actuelles. L’éducation juive, reflet d’un destin collectif, in: Archives Juives, Nr. 2, Jg. 35, 2002, S. 5 – 10. Vgl. Hyman, Jews of modern France, S. 66 – 68.

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Zwanzigerjahren die Meinung geäußert, dass die Erlernung bestimmter Gebete das Wichtigste sei.381 Aufgrund solcher Gegebenheiten kritisierten die Konsistorien wie auch jüdische Intellektuelle bis weit in die zweite Jahrhunderthälfte hinein die Qualität des Unterrichts jüdischer Kinder.382 Abgesehen vom Schulwesen gab es nur wenige Initiativen vonseiten der Konsistorien, die die Anpassung der Juden an die umgebende Gesellschaft vorantreiben sollten.383 Das Streben der Konsistorien nach einer „Verbesserung“ der jüdischen Bevölkerung war eine Folge der Erwartungen des französischen Staates, spiegelte aber auch die negative Meinung der städtischen jüdischen Oberschicht gegenüber der nur langsam schrumpfenden jüdischen Unterschicht, bei der es sich zu großen Teilen um Landjuden handelte.384 Die Konsistorialmitglieder selbst gehörten – abgesehen von den Rabbinern – der jüdischen Elite der Städte an. Dies hing damit zu­­sammen, dass die Laienmitglieder der Konsistorien sich aus dem Kreis der jüdischen Notabeln rekrutierten, welche bis 1844 in erster Linie aufgrund ihres Vermögens berechtigt zur Wahl dieses Gremiums waren.385 Da die wohlhabendsten Juden mehrheitlich in den Städten Lothringens lebten, hatten nur wenige Landjuden die Möglichkeit, sich an der Wahl beteiligen. Zu diesen zählten u. a. Sissel Rheims und sein Sohn Jacob aus Boulay.386 Die Ordonnanz von 1844 vergrößerte die Zahl der Wahlberechtigten in Lothringen und stärkte formell den Einfluss jüdischer Landbewohner auf die

381 Vgl. Instituteur israélite de Boulay à l’ avocat au cour royale de Metz Anspach, 7.7.1825, in: ADM 17J71. 382 Vgl. consistoire israélite de Metz, o. D. (ca. 1869), in: ADM 17J66. Vgl. Berkovitz, shaping, S. 130 f., 163 f. 383 Vgl. Berkovitz, rites, S. 141. Vgl. Albert, modernization, S. 136 – 140. Vereine, die jüdische Jugendliche zu Handwerkern ausbilden ließen, gingen meist auf die Initiative jüdischer Privatleute zurück. Vgl. Kapitel 5.3.5. Einer der wenigen Versuche des Metzer Konsisto­ riums, jüdische Einwohner an den Ackerbau heranzuführen, war die mithilfe einer Schenkung finanzierte Errichtung einer Farm in Forbach im Jahr 1855, die allerdings nur kurz existierte. Vgl. Consistoire de la circonscription de Metz au consistoire central israélite de la France, 20.11.1862, in: ACP Icc 18. Vgl. Albert, modernization, S. 142. Vgl. Cohen, promotion, Bd. 2, S. 335 – 343. Vgl. Girard, S. 209. 384 Vgl. Berkovitz, rites, S. 139. Vgl. Hyman, Jews of modern France, S. 45 f., 65. Vgl. Job, juifs de Nancy, S. 90. 385 Vgl. Girard, S. 178 – 181. Vgl. Albert, modernization, S. 105 f. 386 Vgl. Tableau des notables israélites de la circonscription de Metz, 15.4.1824, in: 17J61. Vgl. Tableau des sorties periodiques qui auront lieu jusqu’en 1850 parmi les membres du Collège des notables israélites de la circonscription de Metz, 11.10.1842, in: LBIJMB MF509 reel 2 fol. 1569. Vgl. für den Konsistorialbezirk von Nancy Liste des notables de la circonscription de Nancy, 1823, in: LBIJMB MF509 reel 2 fol. 1985.

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Besetzung der Konsistorien, da in mehreren Dörfern jüdische Einwohner als Gemeinderäte tätig waren, u. a. in Boulay und Frauenberg.387 In der Praxis sorgte dies allerdings kaum für Veränderungen, was nicht nur mit dem begrenzten Inte­ resse der ländlichen Notabeln an den Wahlen zusammenhing, sondern auch damit, dass sie auf eigene Kosten zum Sitz der Konsistorien reisen mussten.388 Nach der Einführung des allgemeinen Wahlrechts im Jahr 1848 fanden die Konsistorialwahlen in allen Orten statt, in welchen sich jüdische Gemeinden befanden. Das Interesse war allerdings eher mittelmäßig.389 Im Bezirk von Metz beteiligten sich 1854 knapp 39 % der Wähler an der Entscheidung über die Besetzung von drei Konsistorialplätzen. In Boulay nahmen 42 und in Grosbliederstroff 31 jüdische Einwohner an der Wahl teil, bei der sie anscheinend allerdings keine wirkliche Auswahl hatten: Wie in allen anderen Orten bestätigten sie lediglich die bisher amtierenden Metzer Juden in ihren Ämtern. Da 1862 die Armen ihr Wahlrecht wieder verloren, änderte sich auch in den folgenden Jahrzehnten wenig an der unrepräsentativen Besetzung der Konsistorien mit Mitgliedern einflussreicher jüdischer Familien.390 Insgesamt lassen sich die Beziehungen der jüdischen Konsistorien zu den kleinen jüdischen Gemeinden auf dem Land nicht als eng bezeichnen. Im Gegensatz zu Preußen benutzte der französische Staat die Konsistorien zumindest in der ersten Jahrhunderthälfte, um Informationen über die jüdischen Einwohner zu erhalten und kontrollieren zu können, inwiefern diese sich in die nichtjüdische Gesellschaft integrierten.391 Ein Problem sahen die Konsistorien darin nicht, wie die Aussage eines Metzer Konsistorialen von 1822 belegt: „Si la conduite d’un individu devient repréhensible, si c’est en matière civile, c’est au consistoire à le faire appeller pour le

387 1846 gehörten den 67 Notabeln des Metzer Bezirks 14 Juden aus Dörfern an. Ähnlich gestaltete sich die Lage im Bezirk von Nancy. Vgl. Liste des notables israélites de la circonscription consistoriale de Metz pour l’année 1846, in: ADM 17J61. Vgl. Neher-­Bernheim, Bd. 2, S. 170 – 174, 191 – 193. Vgl. Halphen, S. 200. 388 Vgl. Liste des notables israélites de la circonscription consistoriale de Metz pour l’année 1846, in: ADM 17J61. Vgl. Neher-Bernheim, documents, Bd. 2, S. 191 – 193. Vgl. Girard, S. 185. Vgl. Albert, modernization, S. 107 – 110. Vgl. Roos, juifs, S. 37. 389 Vgl. Consistoire israélite de Nancy au consistoire central, 8.2.1851, in: APC Icc 31. 390 Vgl. Election des 3 membres du consistoire israélite de la circonscription de Metz, 18.10.1854, in: LBIJMB mf509 reel 3, fol. 1487 f. Vgl. Albert, modernization, S. 116 – 119. Vgl. Girard, S. 188 – 190. Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 130. Vgl. Bansard, S. 49. Vgl. Hidiroglou, Patricia: Rites funéraires et pratiques de deuil chez les Juifs en France XIXe-XXe siècles, Paris 1999, S. 42. 391 Vgl. z. B. die von den jüdischen Konsistorien erstellten Statistiken, in: ANF F19 Nr. 11024. Vgl. Bensimon/Della Pergola, S. 11.

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faire entrer dans le devoir.“392 Während die Konsistorien der Rhein­provinz wegen des mangelnden Interesses des preußischen Staates kaum Autorität gegenüber den jüdischen Gemeinden hatten und kaum Einfluss auf diese ausüben konnten, ­griffen die Institutionen in Frankreich stärker in die Angelegenheiten der einzelnen Gemeinden ein. Dies war ihnen möglich, weil sie nicht nur auf dem Papier die zentralen Verwaltungsorgane des jüdischen Kultus darstellten, sondern auch von den staatlichen Behörden als solche behandelt wurden. In Lothringen wirkte sich allerdings die räumliche Entfernung der Konsistorien zu den zahlreichen Landgemeinden insofern aus, als dort ihre Durchsetzungsfähigkeit geringer ausgeprägt war als an ihrem Amtssitz. Dass die Konsistorien nichtsdestotrotz für die jüdischen Landbewohner von Bedeutung waren, zeigte sich u. a. daran, dass sich die Letzteren im Fall von gemeindeinternen Konflikten wesentlich eher an die jüdischen Oberbehörden wandten als ihre Glaubensgenossen in der Rheinprovinz. Trotz der zentralen Rolle der Konsistorien bildete auf lokaler Ebene aber auch hier die jüdische Gemeinde weiterhin die grundlegende Verwaltungseinheit.393 Im fran­zösisch gebliebenen Teil Lothringens verwalteten sich nach 1905 die als „associations cultuelles“ bezeichneten jüdischen Gemeinden wieder vollkommen selbstständig, da sich das Konsistorium von Nancy auflöste und das Zentralkonsistorium lediglich als freiwillige Interessenvertretung jüdischer Gemeinden fortbestand.394 Im annektierten Lothringen hielten die deutschen Behörden an den Konsistorien fest und behandelten sie ähnlich wie die französische Staatsverwaltung zuvor.395 4.3.3 Späte Selbstständigkeit. Das luxemburgische Konsistorium und die Landgemeinden

Die jüdische Gemeinschaft von Luxemburg gehörte nach der Einführung der napoleonischen Kultusorganisation dem Konsistorialbezirk von Trier an. Zum „commissaire surveillant“ der jüdischen Gemeinde Luxemburgs wurde der Münzprüfer Pinhas Godchaux ernannt, der nicht nur der reichste luxemburgische Jude war,

392 Vgl. Schwab, membre du consistoire israélite de la circonscription de Metz au Grand rabbin de Metz, 5.4.1822, in: ADM 17J71. Vgl. auch Albert, modernization, S. 143 – 146. 393 Vgl. Hyman, Jews of modern France, S. 65 f. Vgl. Berkovitz, rites, S. 139. Vgl. Girard, S. 177. 394 Vgl. Associations cultuelles israélites. Déclaration et statuts des Départements Meurthe-etMoselle, Vosges, 1906 – 1923, in: ANF F19 Nr. 11158. Vgl. Job, juifs de Nancy, S. 115 – 118. Vgl. Bansard, S. 54 f., 158 f. 395 Die Abneigung der alteingesessenen jüdischen Lothringer gegenüber den zuwandernden Glaubensgenossen zeigte sich u. a. darin, dass erst 1900 der erste „altdeutsche“ Jude ins Konsistorium gewählt wurde. Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 139. Vgl. Meyer, présentation, S. 26.

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sondern wohl auch schon zuvor als Oberhaupt der Glaubensgemeinschaft agiert hatte. Wie der Illinger Vorsteher Samuel Strauss mehrere Jahre später gehörte er zeitweise dem Kreis der jüdischen Notabeln an, nämlich 1810.396 Inwiefern sich das Konsistorium von Trier mit den Luxemburger Juden beschäftigte, ist unklar, allerdings äußerte Oberrabbiner Hirsch einige Jahrzehnte später eine Kritik, die derjenigen vieler preußischer Landgemeinden glich: „[Il] ne s’occupait des israélites luxembourgeois que quand il fallait encaisser leurs cotisations.“397 Dass diese Einschätzung eventuell an der Realität vorbeiging, zeigt eine Aussage des Trierer Konsistoriums vom 1815, nach der die Luxemburger Juden fortfuhren, „in religiösen Angelegenheiten ihre Zuflucht zum hiesigen Groß-Rabbiner zu nehmen“.398 Erst nach dem Pariser Frieden unterbanden die Behörden des Groß­ herzogtums diese Verbindung ins preußische Ausland.399 Während der niederländischen Zeit beschäftigten sich weder die Hauptsynagoge von Maastricht noch die dieser übergeordnete Den Haager Hauptkommission je intensiv mit den Juden des Großherzogtums. Angesichts der geringen Größe der jüdischen Bevölkerung Luxemburgs sowie der räumlichen Entfernung ist dies allerdings nicht als verwunderlich anzusehen. Zwar schlug die Hauptsynagoge Kandidaten für die Verwaltung der jüdischen Gemeinde Luxemburgs vor, aber in der Praxis zeitigte dies kaum Änderungen, denn weiterhin blieb Pinhas Godchaux als „administrateur du district du culte des israélites du Grand-Duché“400 das Oberhaupt seiner Gemeinde, dem zeitweise Jonas Lippmann und Abraham Cahen als Verwalter und Kassenführer beigeordnet waren.401 Dass sich die jüdischen Ober­ behörden allenfalls oberflächlich mit den Juden des Großherzogtums beschäftigten, fand seinen Ausdruck auch darin, dass die Arloner Juden, die von Luxemburg aus verwaltet hätten werden müssen, bereits 1818 einen eigenen Vorsteher wählten.402 396 Vgl. Lehrmann, S. 52, 126. Vgl. Kasper-Holtkotte, Kultus, S. 33 – 39. Vgl. Goedert, S. 347. Vgl. Kasper-Holtkotte, Juden, S. 302, 312, 391. Vgl. Peuckert, Valérie/Pierret, Philippe: Catalogue de l’exposition „Traces juives au Pays d’Arlon“, in: Bulletin trimestriel de ­l’Institut archéologique du Luxembourg – Arlon, Nr. 3/4, Jg. 81, 2005, S. 91 397 Goedert, S. 348. 398 Goedert, S. 351. 399 Vgl. Gouverneur au commissaire général de Son Majesté, 2.10.1815, in: ANL C654. 400 Goedert, S. 382. 401 Vgl. Président du consistoire israélite de la circonscription de Maestricht, 16.9.1819, ­Lippmann et Cahen au gouverneur du Grand-duché de Luxembourg, 12.2.1828, in: ANL C654. Vgl. „Algemeen Reglement op het Kerkbestuur der Israelitsche Synagogale ­Ringen of Kerkgangen binnen in het Koningrijk Nederlanden“, 1816, in: ANL C654. Vgl. ­Goedert, S.  352 – 359. 402 Vgl. Burnotte, S. 73. Gemeindestrukturen entwickelten sich entgegen Kasper-Holtkotte bereits vor der Gründung Belgiens. Vgl. Kasper-Holtkotte, Westen, S. 445 f.

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Die Hauptsynagoge Maastrichts wandte sich in erster Linie an die jüdische Gemeinschaft von Luxemburg, wenn sie Gelder für die Bezahlung des Großrabbiners und für die anfallenden Verwaltungskosten einsammeln wollte. 403 Im Gegenzug wandten sich die Juden Luxemburgs kaum an die ihnen übergeordneten jüdischen Institutionen. Als z. B. Lippmann und Cahen im Jahr 1828 ihre Posten in der Verwaltungskommission der jüdischen Gemeinde aufgeben wollten, wandten sie sich direkt an den Gouverneur von Luxemburg. Erst bei der Behandlung des Gesuchs wurde der Rat der Hauptkommission in Den Haag eingeholt. Ausschlaggebend für die abschlägige Bescheidung des zuständigen Ministers war allerdings die Meinung des Gouverneurs, dass das Gesuch lediglich auf persönliche Animositäten zurückzuführen sei.404 Zwar oblag es der Den Haager Hauptkommission, innergemeindliche Konflikte zu lösen, aber praktisch ließ sich dies nicht umsetzen, da sie nicht umfassende Kenntnisse über die Lage in allen – u. a. den kleineren bzw. abgelegenen – jüdischen Gemeinden hatte. Auch die ihr und den Hauptsynagogen zugewiesene Funktion, die Umsetzung gesetzlicher Verordnungen sowie Reglements in den Gemeinden zu kontrollieren, wurde nur unvollständig erfüllt. Die jüdische Gemeinde von Luxemburg beachtete z. B. nicht die königliche Anordnung über die Orga­nisation jüdischer Schulen, indem sie kein Zertifikat über die Fähigkeiten des von ihr angestellten Lehrers einholte.405 Der Ausbruch der belgischen Revolution zog eine völlige Abtrennung der jüdischen Gemeinde des Großherzogtums von den ihr übergeordneten Institutionen in Maastricht und Den Haag nach sich.406 Eine Folge davon war, dass die jüdische 403 Entgegen den Vorschriften forderten weder die Maastrichter Behörde noch die Haager Kommission die jüdische Gemeinde des Großherzogtums je auf, Rechenschaft über ihre Einnahmen und Ausgaben abzulegen. Vgl. Commissaire spécial Wahlen au président de la commission du gouvernement à Luxembourg, 12.6.1835, in: ANL E55. Vgl. Commission de gouvernement au referendaire intime, 19.1.1835, in: ANL H78. Vgl. Goedert, S. 352 f. Vgl. Krier, S. 120. 404 Vgl. Lippmann et Cahen au gouverneur du Grand-duché de Luxembourg, 12.2.1828, gouverneur du grand-duché de Luxembourg au directeur général des cultes protestants et autres, 22.5.1828, Minister van Staat belast met de generale directie voor de zaken der hervormde Kerk enz., 26.7.1828, in: ANL C654. 405 Vgl. ebd. Vgl. Goedert, S. 352. 406 Vgl. Procureur général d’Etat au président du gouvernement de la justice, 22.12.1851, in: ANL H78. Die Grenzverschiebungen sorgten anfangs für eine gewisse Unsicherheit bei den luxemburgischen Behörden hinsichtlich der Frage, wie interne jüdische Angelegenheiten geregelt werden sollten. So verwies die Regierung 1841 z. B. Lazarus Levy bei einem Konflikt mit der jüdischen Gemeinde an die Obersynagoge von Maastricht, obwohl diese nicht mehr zuständig war, „dor het Groot Hertogdom Luxemburg niet meer in de

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Gemeinde von den Zivilbehörden seit 1835 angehalten wurde, regelmäßig Budgets zu erstellen, die von der Regierung zu genehmigen waren.407 Der leicht veränderte Modus der Besetzung der Gemeindeverwaltung brachte kaum Änderungen mit sich, da die Zivilverwaltung sich vor der Ernennung der Verwalter der Zustimmung der Gemeindeelite versicherte und praktisch die amtierenden Verwalter die Kandidaten für Neubesetzungen benannten, ggf. sich selbst.408 Diese Praxis führte 1843 allerdings zu Klagen seitens eines Teils der Gemeinde, der sich übergangen fühlte und den amtierenden Verwaltern vorwarf, dass sie illegalerweise an ihren Ämtern festhielten. Die Mitglieder des Verwaltungsrates widersprachen dem Vorwurf mit der Begründung, dass sie von den Notabeln der Gemeinde, d. h. der jüdischen Oberschicht, welcher sie selbst angehörten, ausgewählt worden seien. Da die Einsetzung der jüdischen Verwaltungskommission gesetzmäßig verlaufen war und der Bürgermeister sowie die Schöffen der Stadt Luxemburg davon ausgingen, dass der Protest auf eine Intrige zurückging, beschied die Regierung die Beschwerde abschlägig.409 Ähnlich wie die jüdischen Gemeindeführungen in den Nachbarregionen hatte auch diejenige von Luxemburg Probleme bei der Einziehung der Beiträge für die Unterhaltung des Kultus. Besonders außerhalb der Hauptstadt konnte die jüdische Verwaltung die Eintreibung der Gelder nicht gewährleisten, wie eine Aufstellung der „côtes irrecouvrables“ von 1835 zeigt, laut der sich 37 luxemburgische Juden im Rückstand mit der Zahlung ihrer Beiträge befanden.410 Die Mehrzahl

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Grondwet van het Koningryk der Nederlanden wordt vermeld en dus eene op zich zelven staanden Staat uitmacht“. Correspondend Lid der Hoofd-Commissie tot de zaken der Israeliten voor het Synagogaal ressort in Limburg, 8.9.1841, in: ANL E55. Vgl. Lazarus Levy an die Regierung von Luxemburg, 12.7.1841, Regierung von Luxemburg an Lazarus Levy 21.7.1841, in: ANL E55. Auch die Beziehungen zu den Arloner Juden wurden schwächer. Vgl. Hannick, Pierre: La construction et le financement de la synagogue d’Arlon et du cimetière juif (1855 – 1872), in: Bulletin trimestriel de l’Institut archéologique du Luxembourg – Arlon, Nr. 3/4, Jg. 81, 2005, S. 83. Vgl. Commissaire spécial au président de la commission de gouvernement, 12.6.1835, conseiller intime au commission de gouvernement à Luxembourg, 4.8.1839, in: ANL E 55. Vgl. auch Goedert, S. 362. Vgl. Referendaire intime au commission de gouvernement, 29.1.1838, Bourgmestre et échevins de la ville de Luxembourg au gouvernement, 8.2.1838, Regierungsrat an Bürgermeister und Schöffen der Stadt Luxemburg, 14.9.1840, in: ANL H78. Vgl. Goedert, S. 358 f. Vgl. Lehrmann, S. 54 f. Vgl. Administrateurs de la communauté israélite de Luxembourg au Bourgmestere et échevins de la ville de Luxembourg, 30.11.1842, conseil de gouvernement au roi-grand duc, 6.2.1844, in: ANL F68. Vgl. Etat des côtes irrécouvrables rélatives aux revenus ordinaires de la communaute Israélite à Luxembourg des exercices 1830 et antérieurs 1831, 1832, 1833 et 1834, 20.9.1935,

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der Letzteren war unbekannt verzogen oder lebte verstreut auf dem Land, wo die jüdische Gemeindeverwaltung ihre Ansprüche nicht geltend machen konnte, z. B. bemerkte sie über den in Frisange lebenden Seligman Worms, dass er sich „à raison de son domicile hors d’Atteinte de poursuites“411 befände. Dieselbe Aussage traf auch auf die im nahe Ettelbrück gelegenen Bous wohnenden Brüder Cahn zu. Nach den Bestimmungen von 1816 galt allerdings der Grundsatz: „tous les israélites du Grand-Duché appartiennent à la synagogue de Luxembourg et doivent contribuer aux frais du culte dont ils dépendent.“412 Dies führte 1836 dazu, dass die Staatsverwaltung dem Wunsch der jüdischen Gemeindeführung zustimmte, die Verteilungsliste exekutorisch zu erklären.413 Wie notwendig die staatliche Hilfestellung bei der Einziehung der Beiträge war, zeigte sich zwischen 1848 und 1852, als in der Zivilverwaltung die Meinung vorherrschte, dass die Verfassung von 1848 die zwangsweise Einziehung von Kultusbeiträgen nicht zulasse.414 In diesen Jahren gestaltete sich die Einnahme der Gelder unter den Landjuden für die jüdische Gemeindeführung erneut als problematisch, weswegen sie „la presqu’impossibilité d’asteindre les retardataires des cantons d’Esch, de Grosbous, d’Ettelbruck devant leurs juges respectifs“415 beklagte. Den Weg vor die dortigen Gerichte scheute die jüdische Gemeindeverwaltung u. a. wegen der Kosten, welche sie für die Reisen zu den Prozessorten hätte aufbringen müssen.416 Im Jahr 1852 handelte es sich daher bei zahlreichen Zahlungsrückständigen um jüdische Landbewohner. Unter diesen befanden sich auch Isaac und Léon Cahen aus Ettelbrück, deren Beiträge für die Jahre 1850 und 1851 noch ausstanden.417 Die Gründe für die Verweigerung der Beiträge waren wohl überwiegend öko­nomischer Art, allerdings spielte zumindest bei einem Teil der Zahlungsrückständigen auch Unzufriedenheit über den Umgang mit dem Gemeindebudget eine Rolle, i­ nsbesondere in: ANL E55. 411 Ebd. 412 Régence de pays au roi grand-duc, 25.12.1841, in: ANL F68. Vgl. auch Conseil d’Administration de la communauté israélite de Luxembourg au Bourgmestre et échevins de la ville de Luxembourg, 22.4.1851, Bourgmestre et échevins de la ville de Luxembourg, 6.5.1852, in: ANL G128. 413 Vgl. Commission de gouvernement au réferendaire intime, 16.12.1836, in: ANL E55. 414 Vgl. Conseil d’Administration de la communauté israélite de Luxembourg au B ­ ourgmestre et échevins de la ville de Luxembourg, 22.4.1851, in: ANL G128. 415 Ebd. Vgl. zudem Goedert, S. 374. 416 Einige Zahlungsverweigerer aus der Hauptstadt brachte sie allerdings erfolgreich vor den Richter, z. B. Samuel Worms. Vgl. Conseil d’Administration de la communauté israélite de Luxembourg au Bourgmestre et échevins de la ville de Luxembourg, 22.4.1851, in: ANL G128. Vgl. Goedert, S. 377. 417 Vgl. Liste des retardataires, 5.7.1852, in: ANL G128.

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der Unmut darüber, dass Rabbiner Hirsch für den Religionsunterricht der Kinder 200 Gulden extra eingeräumt wurden – obwohl gar nicht alle jüdischen Kinder vom Land diesen besuchten.418 Das 1852 von der luxemburgischen Verwaltung genehmigte Reglement, das alle Juden, die keine Kultusbeiträge entrichteten, von sämtlichen religiösen Dienstleistungen ausschloss, wurde u. a. den zahlungsrückständigen Juden des Groß­herzogtums vorgelegt, die bekannt geben mussten, ob sie sich dem Reglement unterwerfen oder aus der jüdischen Gemeinde ausscheiden wollten. 419 Isaac und Léon Cahen sowie Salomon und Gerson Israel aus Ettelbrück wählten wie die meisten die erstere Alternative.420 Da das Reglement nur unzureichend umgesetzt wurde, blieben die Probleme bei der Einnahme der Kultusbeiträge bestehen, da diejenigen, die behaupteten, sie wollten nicht mehr zur jüdischen Gemeinde gehören, „gar nicht benachtheiligt sind, […] zur Synagoge kommen können und auch […] die Energie fehlt, das Begräbnis auf dem Gottesacker zu weigern“.421 Die Ordnung innerhalb der jüdischen Gemeinschaft von Luxemburg war um die Jahrhundertmitte nicht nur wegen finanzieller Probleme gestört, sondern auch wegen Spannungen zwischen dem Rabbiner und einem Teil der jüdischen Gemeindeverwaltung sowie der Unzufriedenheit vieler Gemeindemitglieder mit ihrem mangelnden Mitspracherecht.422 1849 bestimmte die jüdische Gemeindeverwaltung de facto selbst über ihre Nachfolge, indem sie der Regierung nur fünf Kandidaten präsentierte. Die Dominanz der Familie Godchaux bestand fort, denn nun saß Samson Godchaux, ein Neffe von Pinhas und der Vater des mehrere Jahre in Ettelbrück lebenden Jules dem Rat vor.423 418 Vgl. Gesuch eines Teils der jüdischen Gemeinschaft Luxemburgs 7.6.1848, in: ANL H78. 419 Vgl. Administration général des affaires communales au administration général des ­cultes, Juli 1852, Administration général des affaires communales au comissaire du district de Luxembourg, 28.7.1852, Liste des retardataires, 5.7.1852, in: ANL G128. Vgl. Goedert, S. 378 f. 420 Die Unterschrift des Sohnes von Lazard Levy fehlt unter dem zum Reglement erhobenen Beschluss des jüdischen Vorstandes, 9.11.1851, in: ANL G128. 421 Oberrabbiner Hirsch an den Generalverwalter der Kulte, 2.1.1854, in: ANL H78. 422 Vgl. Oberrabbiner Samuel Hirsch an den Generaladministrator der Kulte, 14.7.1848, 21.8.1848, président de l’administration de la communauté israélite au Bourgmestre et échevins de la ville de Luxembourg, 8.9.1848, Administrateur général au Bourgmestre et échevins de la ville de Luxembourg, 21.2.1849, conseil d’administrative de la communauté israélite de Luxembourg, 10.4.1849, in: ANL H78. Vgl. Goedert, S. 376. 423 Vgl. Administrateur général, 4.5.1849, conseil d’administrative de la communauté israélite de Luxembourg, 10.4.1849, Bourgmestre et échevins de la ville de Luxembourg au administrateur général, 24.4.1849, in: ANL H78.

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Die Binnenstrukturen der jüdischen Gemeinden

Da die einfachen Mitglieder der jüdischen Gemeinde keinen Einfluss auf die Besetzung des jüdischen Verwaltungsrates ausüben konnten, bildete sich Mitte der Fünfzigerjahre eine separate jüdische Gebetsversammlung in der Stadt. Der Unwille gegenüber der jüdischen Gemeindeverwaltung hing u. a. mit den Kultusbeiträgen zusammen. Die sich abspaltenden Juden waren der Überzeugung, dass von der staatlichen Unterstützung der jüdischen Gemeinde lediglich die reichsten Gemeindemitglieder profitierten, während die große Mehrheit weiterhin schwere Opfer für die Unterhaltung des Gottesdienstes erbringen müsste.424 Religiöse Motive spielten bei der Abspaltung anscheinend ebenso eine gewisse Rolle wie persön­liche Animositäten. Der jüdische Vorstand wandte sich an die Justizverwaltung, um die Gebetsversammlung, der sogar ein eigener Rabbiner – der aus Merzig stammende Isaias Levy – vorstand, verbieten zu lassen. Die luxemburgische Verwaltung stimmte den Verwaltern der jüdischen Gemeinde nur darin zu, dass die Tätigkeit Levys ungesetzlich sei, da die Einsetzung der „chefs du culte“ nach der Verfassung alleine dem luxemburgischen Staat oblag, weswegen Levy abgeschoben wurde.425 Das Existenzrecht der Gebetsversammlung selbst bestritten die luxemburgischen Behörden aufgrund der in der Verfassung garantierten Glaubensfreiheit nicht. Dies führte schließlich dazu, dass die jüdischen Gemeindeverwalter von ihren Ämtern zurücktraten und eine Wahl stattfinden ließen, obwohl eine solche nach dem immer noch gültigen Reglement von 1821 nicht vorgesehen war.426 Salomon Worms, der der abgespaltenen Gebetsversammlung angehörte, äußerte die Meinung, dass nur eine Wahl die neue jüdische Verwaltung zu einer „expression de la volonté de tous, et non d’une famille ou d’une coterie“427 machen könne. Die bisherigen Verwalter ließen allerdings nicht alle Mitglieder zur Wahl zu. Über einen Aushang in der ­Synagoge machten sie bekannt, dass lediglich die mitstimmen dürften, die versicherten, zukünftig ihre Beiträge zu bezahlen sowie noch ausstehende Summen nachträglich zu entrichten. Dass sich viele Landjuden weiterhin als Bestandteil der luxemburgischen Gemeinde verstanden und die Hauptstadt gelegentlich besuchten, zeigt sich daran,

424 Vgl. Salomon Worms à l’administrateur général des affaires étrangers, 12.11.1856, in: ANL H78. 425 Vgl. Oberrabbiner Hirsch an den Generalverwalter der Kulte, 7.11.1853, conseil d’administrative de la communauté israélite de Luxembourg au Bourgmestre et échevins de la ville de Luxembourg, 2.12.1856, in: ANL H78. Vgl. Administrateur de la justice à l’administrateur des affaires étrangers, 20.12.1854, 2.8.1855, in: ANL G128. Vgl. Kapitel 4.4. 426 Vgl. conseil d’administrative de la communauté israélite de Luxembourg au Bourgmestre et échevins de la ville de Luxembourg, 2.12.1856, Salomon Worms à l’administrateur général des affaires étrangers, 12.11.1856, in: ANL H78. 427 Salomon Worms aux administrateurs de la communauté israélite démissionée à Luxembourg, 15.10.1856, in: ANL H78.

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dass sie von dem Aushang Kenntnis nahmen und diesen mit ihrer Unterschrift bestätigten, so z. B. Salomon Israel und Léon Cahen aus Ettelbrück.428 Die Wahl, an der 33 Gemeinde­mitglieder teilnahmen, brachte letztlich kaum eine Änderung mit sich: Samson ­Godchaux erhielt die Stimmen aller Wähler und blieb Präsident.429 Das zur Absicherung der Kultusbeiträge entwickelte, 1861 in Kraft tretende Reglement erwies sich ähnlich wie das von 1852 nur als begrenzt wirksam, wes­ wegen das Budget der jüdischen Gemeinde immer stärker ins Minus abzurutschen drohte.430 Der luxemburgische Staat griff trotz Bitten der Gemeindespitze nicht in die Auseinandersetzungen innerhalb der jüdischen Gemeinde von Luxemburg ein, sondern er überprüfte lediglich, ob das Handeln den allgemeinen Gesetzen entsprach. Ähnlich wie die französischen und preußischen Behörden vertraten diejenigen des Großherzogtums die Meinung, dass interne Spannungen einer Sphäre angehörten „sur lequel il ne nous semble pas que l’autorité ait action, tant que la police de l’Etat et l’ordre public ne sont pas troublés“.431 Während die jüdische Gemeindeverwaltung versuchte, die in der Hauptstadt befindliche Gebetsversammlung verbieten zu lassen, kümmerte sie sich nicht um derartige Gruppen auf dem Land. Die jüdischen Einwohner von Ettelbrück hielten seit Mitte der Vierzigerjahre Gottesdienste in ihrem Ort ab und bildeten somit eine Gemeinschaft, die laut dem Reglement von 1852 den Ausschluss aus der jüdischen Gemeinde des Großherzogtums nach sich hätte ziehen müssen. Die jüdischen Verwalter wurden in dieser Hinsicht aber nicht tätig, da sie die Gebetsversammlung nicht als Konkurrenz wahrnahmen und zudem auch nur teilweise über die Lage auf dem Lande informiert waren.432 Während die jüdische Gemeindeführung keine grundlegenden Einwände gegen die Abhaltung von Gottesdiensten auf dem Land durch die dort lebenden Juden hatte, begann sich die luxemburgische Verwaltung über deren rechtmäßiges Bestehen Gedanken zu machen, als die jüdische Gemeinde von Ettelbrück 1868 um ein 428 Vgl. ebd. Vgl. Aushang des jüdischen Verwaltungsrates, 16.10.1856, in: ANL H78. Bei dem auf der Liste geführten Léon Cahen kann es sich allerdings auch um einen Stadtbewohner gleichen Namens gehandelt haben. Vgl. Etat des répartitions faites sur les israélites de la communauté israélite du Grand Duché de Luxembourg, 11.8.1850, in: ANL G128. 429 Vgl. Conseil d’administrative de la communauté israélite de Luxembourg, 28.11.1856, Administrateur général des affaires étrangers 14.2.1857, in: ANL H78. 430 Vgl. Règlement für den inneren Dienst um auf eine dauernde Weise für die Bedürfnisse des israelitischen Kultus Sorge zu tragen, Beschluss vom 1.11.1861, Druck von Julien Luxembourg, S. 6 – 14. Vgl. Israelitischer Verwaltungsrat von Luxemburg, 13.9.1880, in: ANL H78. 431 Vgl. Bourgmestre et échevins à l’administrateur général des affaires étrangers, de la justice et des cultes, 13.9.1848, in: ANL H 78. 432 Vgl. Flies, S. 1612. Vgl. Dondelinger/Muller, Teil II, S. 27.

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Subsidium für den Bau ihrer Synagoge bat. Der „directeur général des affaires communales“ sprach der kleinen Religionsgemeinschaft schlichtweg das Existenzrecht ab: „D‘après le decret du 17.3.1808 sur la réligion israélite, il faut une autorisation Royale […] pour pouvoir établir une synagogue particulière.“433 Die Anwendung des napoleonischen Dekrets von 1808 wurde allerdings vom Präsidenten der Regierung abgelehnt: „Les anciennes dispositions sur la matière telles que le décret du 17.3.1808 ne sont plus applicable en présence des articles 11 & 19 de la constitution“.434 Die Stellung der jüdischen Gemeinde Ettelbrücks blieb aufgrund der ­fehlenden Bestimmungen zwar ungeklärt, aber die Gewährung von Zuschüssen zu ihren Insti­tutionen kann als De-facto-Anerkennung betrachtet werden. Angesichts der lange Zeit eher geringen Zahl der jüdischen Familien etablierte sich in Ettelbrück zunächst noch keine eigene Gemeindeverwaltung. Falls die jüdische Gemeinschaft sich einmal an die luxemburgischen Behörden wandte, z. B. beim Gesuch um die Einrichtung des Friedhofs im Jahr 1859, dann übernahmen normalerweise Isaac und Léon Cahen diese Aufgabe.435 Dies lag einerseits wohl an ihren verwandtschaftlichen Beziehungen zur Familie Godchaux, andererseits aber auch daran, dass Léon gerne wie sein Bruder Joseph Rabbiner geworden wäre und sich durch seine „Begeisterung für den väterlichen Glauben“436 auszeichnete. Spätestens Mitte der Sechzigerjahre übernahm Joseph, einer der Söhne Isaac Cahens, die Aufgaben des jüdischen Vorstehers, u. a. kaufte er für seine Gemeinde das Grundstück zum Synagogenbau an. Es ist allerdings zu erwähnen, dass er sich zu Beginn seiner Amtszeit selten alleine an die Verwaltung wandte; häufig taten dies die jüdischen Familienväter der kleinen Glaubensgemeinschaft gemeinsam, z. B. bei den Gesuchen um ein Subsid für die Synagoge.437 Erst für 1870 ist die Existenz eines anscheinend gewählten jüdischen Vorstandes in der anwachsenden Gemeinde festzustellen, denn Joseph Cahen trat nun als „membre dirigeant du comité institué par la communauté israélite de ce lieu“438 auf. Wie ein großer Teil der jüdischen Vorsteher bzw. Überwachungskommissare in den anderen betrachteten Regionen, so übte auch Joseph Cahen sein Amt lange aus, in seinem Fall waren es ungefähr drei Jahrzehnte. Neben ihm gehörten im Jahr 1881 auch

433 Directeur général des affaires communales au Ministre d’Etat, 14.7.1868, in: ANL H 78. 434 Ministre d’Etat, président du gouvernement au directeur général des affaires communales, 9.10.1868, in: ANL H 78. 435 Vgl. Administrateurs de la communauté israélite du Luxembourg au Ministre d‘Etat, 23.4.1859, Ministre de l’Etat au directeur général de l’Intérieur, 27.4.1859, in: ANL H 78. 436 AZJ, Nr. 49, 1881, S. 815. 437 Vgl. Kaufvertrag, 1.4.1865, adhérents au culte israélite d’Ettelbrück à l’Assemblée des Etats, 23.11.1866, 19.2.1868, in: ANL H1024,100. 438 Joseph Cahen au directeur général d’Intérieur, 7.3.1870, in: ANL H1024,100.

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Joseph Mayer sowie Clément Israel dem jüdischen Vorstand an. Sie zählten zu den wohlhabenderen jüdischen Einwohnern des Ortes, allerdings scheint der reichste zu diesem Zeitpunkt in Ettelbrück lebende Jude, Jules Godchaux, keine Ambitionen auf eine administrative Tätigkeit in der jüdischen Gemeinde gehabt zu haben.439

4.4 Tradition ohne Stillstand: die Religiosität der Landjuden Die Religiosität der jüdischen Landbewohner lässt sich aufgrund der Quellenüberlieferung und von Interpretationsproblemen nur bruchstückhaft beschreiben. Aspekte dieser Thematik schlugen sich in den Akten der Verwaltung, Zeitungs­ artikeln und persönlichen Erinnerungen nieder – die Letzteren betrafen über­ wiegend die Lage während der Zeit des Zweiten Deutschen Reichs. Während sich die religiösen Praktiken und deren Entwicklung erfassen lassen, sind die persönlichen Glaubens­haltungen kaum greifbar.440 Das Gewicht, welches die jüdischen Einwohner der verschiedenen Regionen auf die Einhaltung religiöser Formen und Pflichten legten – z. B. die Einhaltung des Sabbats –, kann als Ausdruck von Frömmigkeit gewertet werden. Allerdings ist in diesem Zusammenhang zu bedenken, dass die jüdischen Landbewohner innerhalb ihrer Gemeinden einem stärkeren Konformitätsdruck ausgesetzt waren als ihre Glaubensgenossen in den Städten. Dies gilt vor allem für kleine Gemeinden, in denen teilweise die Anwesenheit aller erwachsenen Männer notwendig war, um einen Gottesdienst feiern zu können.441 Wie Susanne Zittartz-Weber treffend bemerkte, hat die historische Forschung immer wieder die traditionelle Religiosität und den allgemeinen Konservatismus der im 19. Jahrhundert im Rheinland lebenden Juden betont. Generell wird davon ausgegangen, dass Traditionen auf den Dörfern stärker gepflegt wurden als in den

439 Vgl. Vorstand der jüdischen Gemeinde von Ettelbrück an den Staatsminister, 26.8.1881, in: ANL H78. Vgl. Flies, S. 1612. Vgl. Dondelinger/Muller, Teil II, S. 28, sowie Teil III, S. 26. Vgl. zur ökonomischen Lage der Ettelbrücker Juden Kapitel 3.3.1 bzw. 3.3.3. 440 Vgl. Löwenstein, jüdisches religiöses Leben, S. 219 f. Vgl. Wiesemann, S. 114 f. Vgl. Meyer, Michael A.: Jüdische Gemeinden im Übergang, in: ders./Brenner, Bd. 2, S. 98. 441 Vgl. Richarz, Entdeckung, S. 17. Vgl. Zittartz-Weber, Religion, S. 273 – 285. Vgl. Cahnmann, S. 181. Vgl. Rohrbacher, Landgemeinde, S. 18. Bei einem Teil der jüdischen Stadtbewohner trat ähnlich wie bei protestantischen Städtern die traditionelle Religionsausübung infolge der zunehmenden Individualisierung des Glaubens in den Hintergrund. Vgl. Hölscher, Lucian: The religious divide. Piety in 19th century Germany, in: Helmut Walser-Smith (Hg.): Protestants, Catholics and Jews in Germany 1800 – 1914, Oxford 2001, S. 36.

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Städten.442 In dem gleichen Sinne äußerten sich die Historiker auch über die öst­ lichen Gebiete Frankreichs, wo die jüdischen Einwohner im 19. Jahrhundert mehrheitlich weiterhin ihren althergebrachten Sitten folgten und ebenfalls ein StadtLand-Gefälle in religiöser Hinsicht bestand.443 Auch wenn die genannten Tendenzen grundsätzlich nicht anzuzweifeln sind, so muss doch darauf hingewiesen werden, dass es hinsichtlich der religiösen Praxis Unterschiede zwischen den verschiedenen auf dem Land gelegenen jüdischen Gemeinden gab. Zudem änderten sich im Lauf der Jahrzehnte die Vorstellungen von dem, was als „traditionell“ begriffen wurde.444 Auseinandersetzungen in den jüdischen Gemeinden geben teilweise Auskunft darüber, welche religiösen Gebräuche für die jüdischen Landbewohner von Bedeutung waren. Die Ehrenfunktionen im Gottesdienst wurden von der großen Mehrheit der in den betrachteten Regionen lebenden Juden als wesentlicher Bestandteil der Religionsausübung betrachtet, weswegen sie von den jüdischen Gemeindeführungen auch als Druckmittel eingesetzt werden konnten. Das Streben nach Ehrenrechten war allerdings genauso wie der regelmäßige Besuch der Synagoge nicht unbedingt ein Zeichen von Frömmigkeit, sondern beide dienten auch als Ausdruck der Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft.445 Es lässt sich allerdings feststellen, dass die Intensität des Synagogenbesuches in den verschiedenen Gemeinden differierte. In Gemünden fanden Mitte der Sechzigerjahre an jedem Sabbat gut besuchte Morgen-, Mittags- und Abendgottesdienste statt. Darüber hinaus gab es an jedem der übrigen Wochentage Morgen- und Abendgebete in der Synagoge.446 Im Gegensatz dazu gab es in der jüdischen Gemeinschaft von Illingen bereits in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts Probleme, die morgendlichen sowie abendlichen Gottesdienste am Sabbat abzuhalten, da nicht immer alle Mitglieder erschienen. Nach eigener Auskunft waren sie wegen der Notwendigkeit, ihrem Nahrungserwerb nachzugehen, teilweise verhindert.447 Dass einzelne Juden nicht 442 Vgl. Zittartz-Weber, Gemeinden, S. 127. Vgl. Brämer, Andreas: Reform und Orthodoxie im europäischen Judentum der Neuzeit, in: Kotowski, S. 138. Vgl. Meyer, Gemeinden, S. 97 f. 443 Vgl. Hyman, Jews of modern France, S. 65, 67. Vgl. Becker, S. 52 – 55. 444 Vgl. Löwenstein, jüdisches religiöses Leben, S. 219. Vgl. Kaplan, Marion: Konso­lidierung eines bürgerlichen Lebens in Deutschland 1871 – 1918, in: dies., Geschichte, S. 310. Zur Problematik des Begriffs „Tradition“ im jüdischen Kontext vgl. Volkov, Shulamit: Die Erfindung einer Tradition. Zur Entstehung des modernen Judentums in Deutschland (Schriften des Historischen Kollegs, Vorträge, Bd. 29), München 1992, S. 5 – 9. 445 Vgl. Löwenstein, jüdisches religiöses Leben, S. 219 – 228. Vgl. Rohrbacher, Land­gemeinden, S. 18. 446 Vgl. LHAK Best. 441 Nr. 9719, S. 59 f., 232. 447 Vgl. Kirsch, Juden, S. 73 f.

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alle in ihren Gemeinden stattfindenden Gottesdienste besuchten, konnte kleinere Gemeinden in Verlegenheit bringen, weil in manchen Fällen keine genügende Anzahl von Gläubigen für deren Abhaltung zusammenkam. Aus diesem Grund drohten sie Säumigen Strafen an.448 Dies geschah auch in der 1901 vom Vorstand der jüdischen Gemeinde Illingens verabschiedeten Syna­gogenordnung, in der darauf hingewiesen wurde, dass jedes Gemeindemitglied an Sabbat und Feiertagen zu jedem Gottesdienste zu erscheinen habe. Dass zu der genannten Zeit kaum ein Jude des Ortes völlig Abstand vom Kultusleben genommen zu haben scheint, zeigt sich an der Strafe für die Versäumnis von Sabbatgottesdiensten, die darin bestand, in der Folge keine Ehrenfunktionen ausüben zu dürfen.449 Der regelmäßige Besuch der Wochengottesdienste war um die Jahrhundertwende in Illingen keine Selbstverständlichkeit, auch wenn unter dem 1900 eingestellten Vorbeter Marx die Beteiligung zeitweise wieder reger wurde.450 Allgemein ist festzustellen, dass seit den Siebzigerjahren in deutschen Landstrichen mit dörflichen und kleinstädtischen jüdischen Gemeinden mit 100 bis 300 Mitgliedern häufig noch täglich Gottesdienste abgehalten wurden, während in größeren Orten bereits der wöchentliche Gottesdienst überwog.451 Die jüdische Gemeinde von Boulay war spätestens zur Mitte des 19. Jahrhunderts damit konfrontiert, dass nicht alle ihre Angehörigen zu den morgendlichen Sabbatfeierlichkeiten erschienen, weswegen den Fehlenden Geldstrafen angedroht wurden.452 Dass es sich zu dieser Zeit noch eher um eine Ausnahme handelte, belegt ein Schreiben des Metzer Präfekten von 1843, in dem er die Auskünfte der ihm unterstellten Verwaltung hinsichtlich der Religionsausübung der Landjuden folgendermaßen zusammenfasste: „Les pratiques de Culte sont exactement ou du moins à fort peu de chose près les mêmes qu’avant l’émancipation. Aucun ne voudrait s’abstenir de la prière en commun que préscrit leur rite.“453 Bis ins 20. Jahrhundert hinein nahm die Mehrzahl der in den Dörfern beheimateten Juden am Sabbat und an anderen Feiertagen an den Gottesdiensten teil.454

448 449 450 451 452 453 454

Vgl. Jehle, Bd. 4, S. 1423. Vgl. Nauhauser, S. 318. Vgl. Artikel, in: Der Israelit, 29.6.1903. Vgl. Kaplan, Konsolidierung, S. 307. Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 224. Préfet de la Moselle au ministre de l’intérieure, 21.7.1843, in: ADM V149. Auch in etwas größeren Orten wie Sedan bildete die Synagoge für einen Teil der Juden weiterhin einen wesentlichen Bestandteil ihres Lebens, wie der Mediziner Debré in seinen Kindheitserinnerungen schildert: Die Gottesdienste in der Synagoge und das (teilweise häusliche) Gebet blieben wichtige Determinanten des jüdischen Lebens. Vgl. Becker, S. 56 f. Vgl. Debré, Robert: L’honneur de vivre. Témoignage, Paris 1974, S. 5 – 30. Vgl.

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Auch im luxemburgischen Ettelbrück, wo noch zur Mitte des 19. Jahr­hunderts nur unter der Teilnahme aller religiös mündigen Männer Gottesdienste abge­halten werden konnten, scheinen die jüdischen Einwohner regelmäßig und nahezu vollständig teilgenommen zu haben.455 Fraglich ist allerdings, ob der in den Siebzigersowie Achtzigerjahren im Dorf lebende Jules Godchaux dies ebenfalls tat, da er mit den gleichen Gegebenheiten wie andere jüdische Geschäftsleute des Großherzogtums zurechtkommen musste, u. a. damit, dass der „Hauptverkehrstag […] gerade Sonnabend [ist] und so […] die Gebildeten fast gezwungen [sind], den öffentlichen Gottesdienst zu versäumen“.456 Anders gestaltete sich die Lage auf dem Land, z. B. begingen noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts die jüdischen Einwohner Ettelbrücks gewissenhaft die jüdischen Feiertage.457 Die seitens der deutsch-jüdischen Reformbewegung 458 geäußerte Kritik gegenüber dem als rückständig empfundenen jüdischen Kultuswesen in der Rheinprovinz wurde dort erst Ende der Dreißigerjahre von Teilen der jüdischen Bevölkerung aufgegriffen. In fast allen städtischen Judengemeinden bildeten sich Kreise, die sich gegen die traditionelle Form der jüdischen Religionsausübung aussprachen und nach Reformen verlangten. In der Regel handelte es sich bei diesen Gruppen um sozial aufgestiegene Juden, die eine Anpassung des jüdischen Lebens an bürgerliche Maßstäbe von Vernunft, Bildung und Ästhetik

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Daltroff, histoire, S. 19. Vgl. Daltroff, juifs, S. 108 – 110. Vgl. Raphael, préface, S. 5. Vgl. zum Elsass auch Hyman, Familie, S. 253. Vgl. Volkszählungsliste von Ettelbrück, 1852, in: ANL Rpop 221 f. Vgl. Dondelinger/ Muller, Teil II, S. 25 f. Rabbiner Hirsch an den Generalverwalter der Kulte, 7.11.1853, in: ANL H78. Vgl. Flies, S. 1630. Diese Lage glich stark derjenigen von Esch-sur-Alzette, wo zum Ende des 19. Jahrhunderts noch die Praxis der strikten Observanz vorherrschte – wohl weil die Gemeinde fast ausschließlich aus zugewanderten Landjuden bestand. Vgl. Lehrmann, S. 76 f. Die Vertreter der Anfang des 19. Jahrhunderts entstehenden jüdischen Reformbewegung empfanden – u. a. infolge verstärkter Kontakte zur christlichen Umwelt – das Judentum als eine Art Fremdkörper in der modernen Welt und glaubten, dass die religiösen Traditionen durch äußere Unterdrückung und Fehlinterpretationen der göttlichen Gebote entstellt worden seien. Vgl. Gotzmann, Andreas: Zwischen Nation und Religion. Die deutschen Juden auf der Suche nach einer bürgerlichen Konfessionalität, in: ders./Rainer Liedtke/ Till van Rahden (Hg.): Juden, Bürger, Deutsche. Zur Geschichte von Vielfalt und Differenz 1800 – 1933 (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo-Baeck-Instituts, Bd. 63), Tübingen 2001, S. 242 – 250. Vgl. Meyer, Michael A.: Die religiösen Strömungen im modernen Judentum (Veröffentlichungen des Lehrstuhls für jüdische Geschichte und Kultur, Bd. 6), München 2003, S. 13 – 17. Vgl. Reinke, Andreas: Geschichte der Juden in Deutschland 1780 – 1933, Darmstadt 2007, S. 24 – 35.

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wünschten. Dieses Ansinnen leitete sich nicht nur daher ab, dass die sich entwickelnde bürgerliche Gesellschaft eine solche Leistung als Voraussetzung für eine vollständige Emanzipation ansah, sondern auch daher, dass die reform­ orientierten jüdischen Kreise selbst dieser Gesellschaft angehörten. Sie wollten dem jüdischen Gottesdienst die ihm gebührende Würde geben, die in ihren Augen Kennzeichen einer modernen Religion war, und teilweise die sie von der Mehrheitsgesellschaft separierenden Aspekte des Judentums – z. B. Speise- und Sabbatgesetze, Hebräisch als Liturgiesprache – aufgeben. Anhänger solcher Ideen fanden sich in der südlichen Rheinprovinz vor allem in Saarbrücken, Saarlouis, Trier und Koblenz. Allerdings konnten die Neuerer sich nicht überall durchsetzen, da auch in den Städten nicht wenige jüdische Einwohner an traditionellen Glaubensformen festhalten wollten.459 In Trier drückte sich dies 1845 z. B. in einer Adresse des konservativen Teils der jüdischen Gemeinde an Großrabbiner Kahn aus: „Wir fordern Achtung und Schonung für unsere Religionsansichten […]. Sie dürfen daher nicht fortfahren, durch Lobessprüche der bekannten Tendenz der Rabbiner-Versammlungen diese unsere Ansichten von der Kanzel herab zu bekämpfen und dasjenige zu tadeln, was uns heilig ist.“460 Die erwähnten Treffen, an denen zwischen 1844 und 1846 reformwillige Rabbiner teilnahmen, hatten das Ziel verfolgt, die bis dahin regional begrenzten Reformbemühungen zu koordinieren und ein einheitliches Programm zu entwickeln. Die Debatten empörten allerdings das traditionell eingestellte Rabbinat, welches gegen die Treffen protestierte, so z. B. der Bonner Konsistorialrabbiner Aron Auerbach.461 Die Diskussionen um Neuerungen beschränkten sich nicht auf die Städte, sondern sie spielten sich auch im ländlichen Kontext ab. So fand z. B. seit den Vierziger­jahren die Landessprache (u. a. über die Einführung von Predigten) Eingang in die Gottesdienste eines Teils der jüdischen Landgemeinden. Auch in Gemünden war zur Mitte des 19. Jahrhunderts nicht mehr ausschließlich die hebräische, sondern auch die deutsche Sprache im Gottesdienst zu hören.462 Auf pragmatische Überlegungen scheint diese Entwicklung nicht zurückzuführen

459 Vgl. Gotzmann, S.  242 – 260. Vgl. Zittartz-Weber, Religion, S.  252 – 259, 277 – 280, 299 – 302. Vgl. Lässig, Simone: Jüdische Wege ins Bürgertum. Kulturelles Kapital und sozialer Aufstieg im 19. Jahrhundert (Bürgertum Neue Folge, Studien zur Zivil­gesellschaft, Bd. 1), Göttingen 2004, S. 242 – 289. Vgl. Brämer, reform, S. 140. Vgl. Kastner, Ein­führung, S. 39. Vgl. Meyer, présentation, S. 126 f. 460 Der treue Zions-Wächter, Nr. 14. 1845, S. 116. 461 Vgl. Brämer, reform, S. 144. Vgl. Meyer, Selbstverständnis, S. 171 – 175. Vgl. Kastner, ­Provinziallandtag, Bd. 2, S. 952 f. 462 Vgl. Kastner, Einführung, S. 39 f. Vgl. Zittartz-Weber, Religion, S. 281 – 283. Vgl. Meyer, Geschichte, S. 19.

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sein, denn als Liturgiesprache wurde das Hebräische trotz des zumeist fehlenden Verständnisses – vor allem unter den Landjuden – nicht aufgegeben.463 Die vermehrte Verwendung der deutschen Sprache in Gottesdiensten stellte allerdings nicht unbedingt ein Kennzeichen für eine umfassende Reformbereitschaft dar: Selbst in Gemeinden mit traditionellen Gottesdiensten geschah die Einführung von Predigten zumeist reibungslos, auch wenn es zunächst kaum Personen gab, die in der Lage waren, diese zu halten. Erst im Lauf der Jahrzehnte änderte sich Letzteres allmählich, sodass z. B. in den Siebzigerjahren in Illingen der Vorbeter Simon u. a. anlässlich von Begräbnissen predigte. Dass dies in der Gemeinde erwünscht war, wurde 1879 deutlich, als sie auf der Suche nach einem neuen Vorsänger war und betonte, dass Bewerber in der Lage sein müssten, deutsche Vorträge zu halten.464 Vorstellungen über einen „würdigen Gottesdienst“ und seine Elemente entwickelten sich nicht nur in den jüdischen Gemeinden der Städte, sondern auch in den auf dem Land befindlichen Glaubensgemeinschaften, wobei festzustellen ist, dass diese Ideen meistens zuerst von außen an sie herangetragen wurden. Zwar stammten nicht wenige derjenigen, welche sich als Erste für Neuerungen einsetzten – ein Teil der Rabbiner sowie Lehrer – häufig selbst aus einem ländlichen Umfeld, allerdings waren sie im Verlauf ihrer Ausbildung in der Regel mit einer städtischen Lebenswelt konfrontiert worden.465 Als die jüdische Gemeinde von Illingen 1861 einen Vorsänger suchte, schaltete z. B. der Trierer Großrabbiner Kahn, der die Gottesdienste im Sinne der Reformbewegung verbessern wollte, in der liberal ausgerichteten AZJ eine Anzeige, in der er einen Vorsänger für Illingen suchte, der helfen sollte, sein persönliches Anliegen zu verfolgen: Neben musikalischer Bildung und einer angenehmen Stimme sollte der Vorbeter auch die Fähigkeit besitzen, als Chorleiter tätig zu werden. Die schon in den Vierzigerjahren vermehrt auftretende Einführung von Chören in jüdischen Gemeinden stellte eine Neuerung dar, die auch bei traditionelleren Landgemeinden wie derjenigen von Illingen kaum auf Widerstand stieß, solange es sich um Männerchöre handelte. Dagegen traf die Einrichtung von Orgeln auf

463 Vgl. Jehle, Bd. 4, S. 1425. Vgl. Heyen, S. 52. Vgl. Löwenstein, jüdisches religiöses Leben, S. 220. Vgl. Breuer, Mordechai: Jüdische Kultur und Religion in den ländlichen ­Gemeinden 1600 – 1800, in: Richarz/Rürup, S. 73. 464 Vgl. Artikel, in: Der Israelit, Nr. 22, 1878, S. 548. Vgl. Anzeige des jüdischen Vorstandes, in: Der Israelit, Nr. 42, 1879, S. 1127. Vgl. Lässig, S. 296 f. Vgl. Nauhauser, S. 323. Vgl. Zittartz-Weber, Religion, S. 282 f. 465 Vgl. Löwenstein, Steven M.: The 1840s and the Creation of the German-Jewish Religious Reform Movement, in: Mosse, 1848, S. 265 f., 276 – 283. Vgl. Schorsch, S. 245 – 247.

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starke Ablehnung in konservativen Kreisen, weswegen es solche nur in wenigen liberalen Gemeinden gab, z. B. Saarbrücken.466 Ähnlich wie bei den Konflikten um die Einführung von Orgeln gestaltete sich die Lage, wenn es um die Frage ging, ob die Mädchen genauso wie die Jungen dem Ritus der Bar Mizwa unterzogen werden sollten. Die Mehrheit der jüdischen Gemeinschaften der Rheinprovinz lehnte dies ab, während die Erweiterung der bisherigen Zeremonie der Jungen um eine Predigt und eine Religionsprüfung größere Verbreitung fand.467 Die Bereitschaft zu Veränderungen war allerdings begrenzt, wie sich in Gemünden Mitte der Vierzigerjahre zeigte, als der jüdische Lehrer und Vorsänger Weinzweig dazu überging, „die Konfirmation nach der Art der christlichen Kirchen“468 vorzunehmen. Es regte sich starker Widerstand unter den jüdischen Dorfbewohnern, die eine religiöse Verwahrlosung ihrer Kinder befürchteten.469 Nach Aussagen des Schulinspektors überwarf sich der von Reform­ideen erfüllte Vorbeter praktisch mit der gesamten jüdischen Gemeinde und betonte: „Die Fanatiker hassen ihn“.470 Dass die Haltung der Landbewohner sich mit der Zeit entwickelte, Bereitschaft zu Neuerungen auch im dörflichen Milieu entstand und Anstöße von außen eine positive Resonanz finden konnten, zeigte sich in beiden preußischen Untersuchungsorten. Zunächst begrenzte sich die Reformbereitschaft allerdings zumeist auf die Vorsteher, wie z. B. den Illinger Salomon Strauß, der zu den Fürsprechern Kahns bei der Rabbinerwahl gehörte.471 In Gemünden zog der jüdische Vorstand im Jahr 1866 praktische Konsequenzen aus seiner Haltung, indem er auf eine vom Vorsänger geäußerte Bitte einging und den Entschluss traf, dass „nur die kundigen und frommen Gemeinde-Mitglieder als Vorbeter zugelassen werden“.472 Zwar waren sich die Vorstandsmitglieder des Bruchs mit der bis­herigen Tradition in ihrer Gemeinde bewusst, aber sie glaubten, zum Wohl ihrer Glaubensgemeinschaft zu handeln: Der Leiter des Gottesdienstes solle die Hörer zu Andacht, Tugend und Frömmigkeit begeistern. Die bisherige

466 Vgl. AZJ, Nr. 30, 1861, S. 436. Vgl. AZJ, Nr. 31, 1875, S. 491 f. Vgl. Nauhauser, S. 255 f. Vgl. Marx, Geschichte, S. 131 f. Vgl. Zittartz-Weber, Religion, S. 280, 301. Vgl. ­Löwenstein, 1840s, S.  268 – 271. 467 Vgl. Jehle, Bd. 4, S. 1488 f. Vgl. Zittartz-Weber, Religion, S. 281. Vgl. Zittartz-Weber, Gemeinden, S. 128. 468 Meyer, Geschichte, S. 19. 469 Vgl. LHAK Best. 441 Nr. 9811, S. 273. 470 LHAK Best. 441 Nr. 9811, S. 262. 471 Vgl. AZJ Nr. 37, 1841, S. 523 f. Vgl. Marx, Geschichte, S. 123. Vgl. Kastner, Provinziallandtag, Bd. 1, S. 335. 472 Vgl. LHAK Best. 441 Nr. 9719, S. 236.

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Praxis führe zu Störungen, und zudem seien Vortragende ohne Gewandtheit und Würde nur ein Spott des Heiligen. Deswegen müssten die „Gebräuche aus der düsteren Zeit der Not“ beseitigt werden, um zur „Hebung des geregelten Gottes­dienstes“473 beizutragen. Die Haltung des Vorstandes beruhte u. a. auf dem Wissen, dass mehrere städtische Gemeinden dies bereits getan hätten: „Diese erlauben wir uns zum Muster zu nehmen“.474 Dass die Gemeindeführung sich an ästhetischen Vorstellungen jüdischer Reformer orientierte, hing damit zusammen, dass sie der wirtschaftlichen Oberschicht ihres Ortes angehörte und in einem gewissen Rahmen verbürgerlichte. Reibungslos ließen sich die Änderungen allerdings nicht umsetzen, da sich ein Teil der Gemeindemitglieder durch die neuen Regelungen in seinen Rechten verletzt fühlte.475 Wenn auch Teile der jüdischen Gemeinden der Rheinprovinz sich bis zum Ende des Jahrhunderts skeptisch gegenüber Neuerungen äußerten, so bedeutet dies doch keineswegs, dass sie selbst nicht einige Ideen, die von reformgesinnten Juden geäußert wurden, verinnerlichten. Bereits 1843 berichtete der Trierer ­Rabbiner, dass viele Gemeinden eine Modernisierung des Gottesdienstes wünschten, u. a. das Verlangen danach, dass „viele veraltete Formen und Missbräuche […] abgestellt [würden], daß in diesem Ordnung und Ruhe herrsche“.476 Die Neuerungsbereitschaft beschränkte sich in den meisten Landgemeinden allerdings auf Fragen der Ästhetik. So war z. B. schon Mitte der Vierzigerjahre ein Kritikpunkt der Gemündener Juden an ihrem Vorbeter Weinzweig ästhetischer Natur, nämlich dass er wegen seiner schlechten Stimme nicht zum Vorsänger geeignet sei.477 Die Illinger Juden legten Ende des Jahrhunderts ebenfalls Wert auf die musikalische Bildung ihres Vorsängers, betonten aber zugleich, dass sie keinen liberal gesinnten Vorbeter wünschten. So sollten sich 1898 „nur religiöse Bewerber, die im Besitze von Kabolos von orthodoxen Rabbinen sind“,478 auf die freie Stelle bei ihnen melden. Trotz dieser konservativen Ausrichtung der Illinger Gemeinde finden sich in deren Synagogenordnung von 1901 viele Vorschriften, die dem Gottesdienst eine – im Vergleich zu früheren Zeiten – als würdig empfundene Form verleihen sollten:

473 Ebd., S. 235 f. 474 Ebd., S. 231, 236. 475 Vgl. ebd. S. 231 f. Von ärmeren sowie ungebildeten Gemeindemitgliedern gingen im Allgemeinen fast nie Impulse für eine Modernisierung aus. Vgl. Löwenstein, Steven M.: Two silent minorities. Orthodox Jews and poor Jews in Berlin, in: LBIYB, Jg. 36, 1991, S. 14. Vgl. Lässig, S. 409. 476 Jehle, Juden, Bd. 4, S. 1487. Das Verlangen erstreckte sich nach Kahns Angaben auch auf diejenigen, die weiterhin streng die Religionsgesetze befolgten. 477 Vgl. LHAK Best. 441 Nr. 9811, S. 272. 478 Stellenanzeige des jüdischen Vorstandes von Illingen, in: Der Israelit, 23.2.1898.

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Niemand sollte zum Gebet in einem Kittel oder mit Pantoffeln erscheinen und Unterhaltungen und sonstige Geräusche (z. B. Mitsingen mit dem Vorbeter, lautes Küssen der Schaufäden) waren genauso zu unterlassen wie das Lesen von Zeitungen. Die Mizwoth wurden nicht mehr während des Gottesdienstes versteigert, sondern vor diesem gegen festgelegte Gebühren vergeben. Solche auch in den jüdischen Landgemeinden anderer Regionen zu konstatierenden Veränderungen lassen sich durchaus als Übernahme „bürgerlicher“ Verhaltensnormen bezeichnen.479 Die auf dem Land lebenden Juden in Lothringen waren im 19. Jahrhundert ähnlich wie in der Rheinprovinz größtenteils als konservativ in religiöser Hinsicht anzusehen. Allerdings konnten sich auch in der französischen Region manche kultischen Veränderungen – wenn auch später und schwächer – durchsetzen. Einer der ersten Kritiker des traditionellen Judentums in Frankreich war der in Metz geborene Olry Terquem, der seit den Zwanzigerjahren Vorschläge zur Reformierung jüdischer Riten machte, aber aufgrund seiner Extrempositionen weitgehend auf Ablehnung stieß.480 Ähnlich wie er waren andere aus den Städten Lothringens stammende Juden, die sich für moderate Reformen einsetzten, stark von der Berliner Haskalah, der jüdischen Aufklärung beeinflusst, als deren Nachfolger sie sich betrachteten.481 Die Reformorientierten stellten eine äußerst kleine Gruppe dar, die sich Anfang der Dreißigerjahre bildete und der u. a. einige Laien des Pariser Zentralkonsistoriums angehörten. Ihr Ziel war es, der jüdischen Religion über eine verbesserte religiöse Ausbildung und eine Anpassung der Form des jüdischen Kultus an den Katholizismus ein höheres Ansehen zu verschaffen und sie an die von ihnen erfahrene moderne Lebenswelt anzupassen.482 479 Vgl. Nauhauser, S. 317 – 322. Vgl. Löwenstein, 1840s, S. 269. Vgl. Zittartz-Weber, Religion, S. 281. Vgl. Mehler, Richard: Die Entstehung eines Bürgertums unter den Landjuden in der bayerischen Rhön vor dem Ersten Weltkrieg, in: Gotzmann/Liedtke/van Rahden, S. 205 f. Wie schwierig es ist, zwischen konservativen und fortschrittlichen Elementen zu trennen, verdeutlichen u. a. die Talmud-Thora-Vereine im Bezirk Trier. Prinzipiell waren sie konservativ, aber auch Reformorientierte beteiligten sich an ihnen. Vgl. Marx, Geschichte, S. 130. 480 Vgl. Landau, Philippe-Éfraim: Olry Terquem (1782 – 1862). Régénérer les juifs et réformer le judaïsme, in: REJ, Jg. 160, 2001, S. 169 – 183. Vgl. Meyer, Michael A.: Response zo modernity. A history of the Reform Movement in Judaism, Detroit 1995, S. 165 – 167. Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 123. Vgl. Benbassa, histoire, S. 147. Vgl. Roos, relations entre les juifs, S. 63 f. 481 So z. B. Samuel Cahen, der mit den „Archives israélites“ ab 1840 jüdischen Reformanhängern ein Forum bot. Vgl. Berkovitz, shaping, S. 134, 203 – 207. Vgl. Brämer, reform, S. 147. 482 Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 123 f. Vgl. Benbassa, histoire, S. 147 f. Vgl. Roos, relations entre les juifs, S. 63 f. Vgl. Cahen, juifs lorrains, S. 116 – 118. Vgl. Meyer, survol, S. 15.

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In den östlichen Provinzen, wo eine starke Verbundenheit zu den bis zur Jahrhundertmitte meist neuerungsunwilligen Rabbinern existierte, lösten die ersten Reformvorhaben Proteste aus. Als das Zentralkonsistorium 1839 den Einfluss der Rabbiner zu beschneiden suchte, führte dies zu einer Petitionsbewegung, die den Unmut der jüdischen Mehrheit ausdrückte und an der sich auch die Grosbliederstroffer Juden beteiligten. Die Protestierenden, unter denen sich zahlreiche Land­ bewohner befanden, warfen den Pariser und den Metzer Konsistorialen ­Irreligiosität vor. Der vom Metzer Großrabbiner organisierte Widerstand offenbarte, dass Anfang der Vierzigerjahre die überwältigende Mehrheit der lothringischen Juden nicht von bestimmten Traditionen Abstand nehmen wollte.483 Die jüdischen Landbewohner schienen kein Interesse zu haben, ihre religiösen Gebräuche der modernen Zeit „anzupassen“, um ihre Integration in die sie umgebende Gesellschaft voranzu­ treiben – zumal sich die dörfliche Lebenswelt stark von derjenigen der städtischen jüdischen Oberschicht unterschied: Ein tiefer Graben trennte die für gemäßigte Reformen plädierende Metzer Elite, die teilweise den Gottesdienstbesuch vernachlässigte, von den jüdischen Viehhändlern, die jeden Morgen vor dem Aufbruch zu ihren Kunden ihre Gebetsriemen anlegten und die bis zum Ende des Jahrhunderts eine geläufige Erscheinung in Lothringen blieben.484 Die Unterschiede zwischen den beiden Lebenswelten dürfen allerdings nicht zu der Folgerung führen, dass auf dem Land alles unverändert blieb. Vielmehr vollzog sich auch auf den Dörfern ein Wandel, nur wurde dies von städtischer Seite nicht immer wahrgenommen und die ländliche Betonung des Festhaltens an alten Traditionen täuscht darüber hinweg, dass die Definition dessen, was als erhaltenswerte „Tradition“ galt, sich fortentwickelte.485 Die Konsistorien waren aufgrund der in das Kultussystem integrierten Großrabbiner bis in die Vierzigerjahre hinein kaum in der Lage, Reformen durchzuführen. Zugleich beugte die staatlich festgelegte Kultusorganisation einer Spaltung des französischen Judentums in eine konservative und eine reformerische

483 Aufgrund der gegen sie gerichteten Vorwürfe traten die Laien des Metzer Konsisto­riums 1841 von ihren Ämtern zurück. Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 123 – 126. Vgl. Roos, juifs, S. 40 – 43, 234 – 236. Vgl. Berkovitz, shaping, S. 211 – 217. Vgl. Cahen, juifs lorrains, S. 118. Vgl. Meyer, survol, S. 15. Vgl. Girard, S. 181 – 184. Vgl. Roos, relations entre les juifs, S. 63. Vgl. Roos, juifs, S. 40 – 43. Vgl. Neher-Bernheim, documents Bd. 2, S. 290 – 297. 484 Vgl. Meyer, présentation, S. 23. Meyer, survol, S. 14. Vgl. Girard, S. 189. 485 Daher ist Birnbaum zu widersprechen, wenn er davon ausgeht, dass sich die kleinen Landgemeinden in Ostfrankreich immer mehr vom Rest der Welt abschotteten. Vgl. Birnbaum, Pierre: Between social and political assimilation. Remarks on the history of Jews in France, in: ders./Katznelson, S. 111.

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Fraktion vor.486 Erst infolge des allmählichen sozialen Aufstiegs der jüdischen Bevölkerung traten in den Städten zunehmend modernisierungsbereite G ­ ruppen in Erscheinung, sodass zumindest an den Sitzen der Konsistorien moderate Veränderungen vor­genommen werden konnten, z. B. die Abschaffung des Verkaufs von Ehrenrechten während des Gottesdienstes.487 Um dem Letzteren eine gewisse Würde zu geben, schrieb das Metzer Konsistorium über ein Reglement im Jahr 1847 allen Gemeinden seines Bezirks vor, dass die Gläubigen im Allgemeinen nur mit leisen Stimmen beten dürften und die zu den Ehrenfunktionen Aufgerufenen ordentliche Kleidung tragen müssten.488 Die Idee eines würdigen Gottesdienstes fand auch bei einem Teil der in der Regel eher konservativ eingestellten Landjuden seit der Jahrhundertmitte immer mehr Anklang, allerdings unterschieden sich deren ästhetische Vorstellungen mitunter stark von den Idealen städtischer Notabeln. Daher setzten die Landgemeinden des Metzer Konsistorialbezirks das erwähnte Reglement zumeist nicht genau um, sondern passten es den eigenen Vorstellungen von Würde an.489 Die Einführung von Neuerungen erleichterte sich in Frankreich um die Jahrhundertmitte etwas, da ein Teil der jüngeren Rabbiner gegenüber gemäßigten Veränderungen offener war als ihre älteren Kollegen, so z. B. Salomon Ullmann, einer der ersten Absolventen der Metzer Rabbinerschule, der 1843 Großrabbiner von Nancy wurde und für eine Hebung des jüdischen Kultes eintrat. Hinzu kam, dass die religiöse Abkehr eines immer größeren Teils der Juden – in erster Linie in den wachsenden städtischen Gemeinden – und der damit verbundene Autoritätsverlust der Rabbiner die Großrabbiner 1856 zu einer Versammlung veranlasste,

486 Daher scheiterte 1841 in Metz der Versuch, eine separate Gebetsversammlung zur Abhaltung eines reformierten Gottesdienstes einzurichten. Vgl. Berkovitz, rites, S. 193 f. 487 Vgl. Berkovitz , shaping, S. 210 – 216. Vgl. Berkovitz, rites, S. 197 – 201, 209. Vgl. Albert, Phyllis Cohen: Nonorthodox Attitudes in Nineteenth-Century French Judaism, in: ­Frances Malino (Hg.): Essays in modern Jewish history. A tribute to Ben Halpern, Rutherford 1982, S. 123. Erst nach der Trennung von Staat und Kirche bildete sich 1907 in Paris mit der „Union libérale“ eine selbstständige vom Konsistorialsystem unabhängige jüdische Glaubensgemeinschaft. Vgl. Malinovich, Nadia: French and Jewish. Culture and the politics of Identity in Early Twentieth-Century France, Oxford 2008, S. 71 f. 488 Vgl. Règlement relatif à l’administration des communautés comprises dans la circonscription consistoriale de Metz, 1847, in: LBIJMB MF509 reel 2 fol. 1541 – 1543. 489 Dort durfte in Insming z. B. niemand aus der Thora vorlesen, der mit Pantoffeln zum Gottesdienst erschien Vgl. Règlement concernant l’administration du culte et de la police du temple israélite d’Insming, 17.1.1848, in: LBIJMB mf509 reel 3, fol. 2557. Vgl. Girard, S. 218, 223. Vgl. Hyman, Jews of modern France, S. 71, 75. Vgl. Heymann, vie, S. 131. Vgl. Berkovitz, rites, S. 193 f.

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auf der sie Beschlüsse trafen, die dieser Entwicklung entgegenwirken sollten.490 Das Ergebnis waren Empfehlungen, die darauf abzielten, die Gottesdienste attrak­ tiver zu machen. Die Versammlung sprach sich für eine Reduzierung der Pijutim (d. h. bestimmter synagogaler Gesänge) aus, sah die Möglichkeit der Einführung von Chören und Orgeln – die Letzteren blieben allerdings stark umstritten – und ermunterte darüber hinaus zu Predigten in französischer Sprache. Es wurde den einzelnen Großrabbinern vorbehalten, der Einführung von Neuerungen in ihren Bezirken zuzustimmen, was ein Zugeständnis an die noch vorhandenen tradi­ tionellen Kräfte darstellte. Innerhalb von Lothringen gab es bei der Umsetzung der angedachten Reformen große Unterschiede zwischen den wenigen städtischen Zentren. Während Ullmann schon vor 1856 die Einführung einer Orgel in Nancy durchgesetzt hatte, rief das gleiche Vorhaben in Metz eine solche Entrüstung hervor, dass es erst 1888 – unter dem Einfluss aus dem Reich hinzugezogener liberaler Juden – umgesetzt werden konnte.491 Dass es nicht früher zu Reformen kam, hing damit zusammen, dass nach der Annexion die reformbereite gehobene jüdische Schicht für Frankreich optiert hatte, sodass zeitweise die konservativeren Kräfte im Reichsland gestärkt wurden. Erst die Immigration von deutschen Juden änderte die Gemengelage wieder. Die Zugewanderten setzten sich nicht selten für Neuerungen ein, z. B. in Metz für die Bat Mitzwa, eine Bar Mizwa für Mädchen, was die vergleichsweise traditionellen einheimischen Juden irritierte.492 Dass ein Teil der jüdischen Landgemeinden Lothringens die Entwicklungen innerhalb des französischen Judentums verfolgte und die Idee vom würdigen Gottes­dienst aufgriff, zeigt das Beispiel von Boulay. Die dortige jüdische Gemeinde­ verwaltung äußerte 1860 den Wunsch nach einem neuen Vorsänger, da sie ihren langjährigen Vorbeter, den sie u. a. aufgrund seiner geringen religiösen Kenntnisse 490 Er führte z. B. die „initiation religieuse“ ein, eine Zeremonie, in der Jungen und Mädchen u. a. ihre Fähigkeiten im Hebräischen nachwiesen. Die jüdischen Landgemeinden verhinderten deren Durchführung allerdings teilweise, so z. B. in Puttelange. Im Metzer Bezirk wurde die „initiation“ wegen des Widerstandes des konservativen Großrabbiners erst in den Fünfzigerjahren in modifizierter Form eingeführt. Vgl. Ullmann letters, Nr. 12, 1844, in: AJTS. Vgl. Uhry, S. 9 – 19. Vgl. Berkovitz, shaping, S. 216 f. Vgl. Berkovitz, rites, S. 142, 203 – 209. Vgl. Cahen, juifs lorrains, S. 118. Vgl. Girard, S. 225 – 236. Vgl. Urbah, S. 105. Vgl. Hyman, Jews of modern France, S. 72. 491 Vgl. Albert, attitudes, S. 129 – 134. Vgl. Berkovitz, rites, S. 206 – 211. Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 130, 139. Vgl. Avine-Goetz, S. 175 – 182. 492 Trotz des deutsch-jüdischen Zuzugs in die Städte gelang es der „Vereinigung für das liberale Judentum“ nicht, sich in Lothringen zu etablieren. Bezüglich des französisch gebliebenen Lothringens lässt sich das Gleiche über die 1907 in Paris gebildete „Union libérale“ sagen. Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 139. Vgl. Meyer, survol, S. 17. Vgl. Dienemann, S. 81 – 84. Vgl. Malinovich, S.  71 – 78.

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als „unwürdig“ empfand, entlassen wollte. Die Gemeindeverwalter wiesen darauf hin, dass im ganzen Land versucht werde, den Kultus zu heben und sie mit einem neuen Vorsänger auch dieses Ziel erreichen könnten: „Les cérémonies religieuses seraient agréables, édifiantes, si l’on avait à la tête un homme digne de Dieu, digne des hommes.“493 Die Mitglieder der jüdischen Verwaltungskommission Boulays, deren Mitglieder größtenteils der Elite ihrer Gemeinde angehörten, beklagten die Situation in ihrer Gemeinde, den „état des choses, incompatible à notre siècle et plus encore à notre Sainte réligion“.494 Bemerkenswert am Boulayer Fall ist, dass das Streben nach einem würdigen Gottesdienst nicht nur durch die Rezeption der innerjüdischen Debatten und das veränderte, persönliche Empfinden der Juden im Ort ausgelöst wurde, sondern dass auch die von christlichen Mitbürgern ge­­ äußerten Meinungen eine Rolle spielten. Ein Teil der christlichen Einwohner maß den jüdischen Vorsänger an den eigenen Vorstellungen über einen katholischen bzw. protestantischen Geistlichen und sah den Vorbeter daher als unpassend für ein kirchliches Amt an. Ihre ablehnende Haltung gegenüber der kulturellen Anders­ artigkeit des jüdischen Vorbeters teilten sie ihren jüdischen Mitbürgern offen mit. Diese Situation trug zu dem jüdischen Wunsch nach einem neuen Vorbeter bei: „Nous sommes la risée et le mépris de nos concitoyens des autres cultes, et chacun nous demande: Sont celà vos pasteurs?“495 Die jüdische Gemeindeführung strebte anscheinend nicht nur für die eigenen Glaubensgenossen gottesdienstliche Neuerungen an, sondern auch, weil sie Wert auf die Außenwirkung der jüdischen Religion im Ort legte. Wie bereits erwähnt, spielten bei der Einführung von gottesdienstlichen Neuerungen in jüdischen Landgemeinden in der zweiten Jahrhunderthälfte die sich verändernden Vorstellungen der Juden selbst eine wichtige Rolle. Die armen Juden Lothringens gehörten zu den entschiedensten Verteidigern des tradi­ tionellen Judentums, allerdings sank ihre Zahl aufgrund der Auswanderung und des sozialen Aufstiegs in den Sechzigerjahren so stark, dass es in der Region kaum noch Proteste gegen moderate, sich zumeist auf ästhetische Aspekte beschränkende Reformen gab.496 Wie weit einzelne Landgemeinden gehen konnten, ver-

493 Commission administrative israélite de Boulay, 17.7.1860, in: AJMB mf509 reel 3 fol. 2176. 494 Commission administrative israélite de Boulay, 3.7.1860, in: AJMB mf509 reel 3 fol. 2179. Die jüdische Gemeinde Boulays stellte keine Ausnahme unter den lothringischen Landgemeinden dar. So setzte sich z. B. auch die jüdische Gemeindeverwaltung von Bionville für gottesdienstliche Neuerungen ein und beschwerte sich 1864 über den Brauch „de réciter leurs prières à gorges déployées […] ce qui occasionne un tintamarre extraordinaire“. Mendel, S. 30. 495 Commission administrative israélite de Boulay, 6.7.1860, in: AJMB mf509 reel 3 fol. 2180. 496 Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 130 – 136. Vgl. Meyer, présentation, S. 24.

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deutlicht der Fall von Grosbliederstroff. Als dort 1908 die renovierte Synagoge eingeweiht wurde, sang der Vorbeter das „Ma Tauvu“ von Louis Lewandowski, dessen Musik ursprünglich speziell für den orgelbegleiteten gemischten Chor der liberalen S­ ynagoge von Berlin entstanden war. Zwar erklangen die Stücke des Kompo­nisten zu dieser Zeit in Arrangements für unbegleitete Männerchöre nicht selten auch in orthodoxen Gemeinden, aber in Grosbliederstroff wurde der Vortrag des Vorsängers nicht nur von einem anscheinend gemischten Chor, sondern auch von der mittlerweile eingeführten Orgel untermalt, was für eine Landgemeinde als außergewöhnlich gelten kann. Eventuell ahmten die Juden Grosbliederstroffs damit Neuerungen nach, die im nahen Sarreguemines nach starkem deutschen Zuzug in den Neunzigerjahren eingeführt wurden, nämlich einen gemischten Jungen- und Mädchenchor sowie eine Orgel, die zunächst vom Direktor der protestantischen Schule gespielt wurde.497 Der Gebrauch der Landessprache in den Gottesdiensten blieb nach der Rabbiner­konferenz von 1856 weiterhin eine Ausnahme in den lothringischen Gemeinden. Allerdings ist zu bemerken, dass die Benutzung des Hebräischen als Gottesdienstsprache in Frankreich niemals so umstritten wie in den deutschen Territorien war, u. a. da in den katholischen Messen – die einem Teil der Reformer als Vorbild dienten – mit dem Lateinischen ebenfalls eine Fremd­sprache benutzt wurde.498 In den östlichen Teilen Lothringens spielten wohl auch praktische ­Probleme eine Rolle, denn in vielen der dort gelegenen Orte, vor allem kleinen Dörfern, wurde kaum französisch gesprochen, so z. B. in Grossbliederstroff.499 Die Benutzung der Landessprache im Gottesdienst beschränkte sich weit­gehend auf Predigten der Rabbiner an ihren Wohnsitzen. In anderen Gemeinden wurde seltener gepredigt, in erster Linie bei feierlichen Anlässen oder wenn der zuständige Rabbiner bei Inspektionsreisen seine Gemeinden besuchte, so z. B. Niedervisse, Boulay oder Grosbliederstroff.500 In Luxemburg setzte sich die Spitze der jüdischen Gemeinschaft bemerkenswert früh für die Einrichtung eines würdigen und ansprechenden Gottes­ dienstes ein. Nach einem Bericht der „Israelitischen Annalen“ wurde bereits in

497 Vgl. Nicault, S. 14, 18. Vgl. Heymann, vie, S. 132 f. Vgl. Juda, S. 3. Vgl. Löwenstein, Das religiöse Leben, S. 108. Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 301. Vgl. Chaumont/Lévy, S. 951. 498 Vgl. Cahen, juifs lorrains, S. 120. Vgl. Cohen, promotion, Bd. 1, S. 117 f. Vgl. Hyman, Jews of modern France, S. 72. 499 Vgl. Lion Lambert au consistoire israélite de la circonscription de Metz, 22.7.1847, in: ADM 17J61. Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 301. 500 Vgl. Girard, S. 225. Vgl. Daltroff, juifs, S. 110 f. Vgl. Juda, S. 3. Vgl. Liste der vom M ­ etzer Großrabbinern besuchten Orte einschließlich der angefallenen Reisekosten, o. D. (ca. 1869), in: ADM 17J66.

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den Zwanzigerjahren „alles zeitgemäß geordnet, und fand endlich sogar bei den benachbarten Gemeinden, welche jeder Neuerung entgegen waren, gebührenden Beifall“.501 Neu war u. a. die Abschaffung der Versteigerung der Ehrenrechte während der Gottesdienste, allerdings wurde dieses Element nach kurzer Zeit wieder eingeführt, da ein Verzicht auf die dadurch erzielten Einnahmen nicht möglich war. Während die Gemeindeverwaltung zu Beginn der Vierzigerjahre weitere Neuerungen wünschte, lehnte der Großteil der Luxemburger Juden dies ab. Deutlich wurden die unterschiedlichen Haltungen bei der Auseinandersetzung um die Besetzung der neuen Rabbinerstelle, in deren Verlauf die Gemeindeleitung ausdrücklich nach einem Rabbiner verlangte, der „zu einer reformierenden Partei gehört“.502 Die Mehrheit der im Großherzogtum lebenden Juden betrachtete dies allerdings nicht als notwendige Voraussetzung für ihren zukünftigen Rabbiner und setzte sich für den in der Hauptstadt geborenen Isaias Levy ein, so auch Gerson Israel aus Ettelbrück.503 Der Vater des luxemburgischen Bewerbers betonte, dass lediglich die in der Hauptstadt lebenden Gemeindeverwalter und ihre Familien gegen seinen Sohn seien, da „er ihnen zu religiöse ist“504 und einen vorzögen, „der die Religion erleuchtert“.505 In der Tat hegte die Spitze der jüdischen Gemeinschaft eine Ab­­ neigung gegen die religiösen Einstellungen von Levy, gegen die ihrer Meinung nach „tendances religieuses retrogrades de plusieurs siècles“. 506 Die Gemeinde­ verwalter waren überzeugt, dass die Bildung des Kandidaten ungenügend für die Zeit sei, in der sie lebten: „toute sa science très contestable d’ailleurs consiste dans la connaissance des commentaires du Talmud et des principes surannés des anciens Rabbins que parfois, au scandale des hommes éclairés de la communauté, il est venu étaler dans le temple.“507 Letztlich konnte die Gemeindeführung den von ihr favorisierten und vom Trierer Rabbiner empfohlenen Hirsch durchsetzen, da sie auf die Unterstützung der Regierung zählen konnte.508 Mit Hirsch erhielt die jüdische Gemeinschaft Luxemburgs einen Rabbiner, der außerordentlich reformorientiert war. Er nahm an den bereits erwähnten

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Israelitische Annalen, Nr. 25, 1839, S 198. Gesuch von 43 jüdischen Gemeindemitgliedern an den König, 1842, in: ANL F68. Vgl. ebd. Vgl. Volkszählungsliste von Ettelbrück, 1852, in: ANL Rpop 221 f. Isaac Levy an den Bürgermeister und die Schöffen der Stadt Lützemburg, 22.1.1843, in: ANL F68. 505 Isaac Levy an den König, 18.1.1843, in: ANL F68. 506 Administrateurs de la communauté israélite du Grand-Duché de Luxembourg au ­Bourgmestre et échevins de la ville de Luxembourg 24.1.1843, in: ANL F68. 507 Vgl. Administrateurs de la communauté israélite du Grand-Duché de Luxembourg au Bourgmestre et échevins de la ville de Luxembourg 23.1.1843, in: ANL F68. 508 Vgl. zur Besetzung der Stelle Kapitel 4.3.3. Vgl. Monz, S. 170 f.

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deutschen Rabbinerkonferenzen teil und positionierte sich dort im radikalen Lager, z. B. empfahl er die Verlegung des Sabbats auf den Sonntag.509 Gegenüber den Juden Luxemburgs sah er sich in der Rolle eines Verbesserers: Sie sollten nicht „auf der niedrigen Stufe der Cultur wie bisher, verbleiben“, sondern durch ihn „der Bildung unseres Jahrhunderts entgegen geführt werden“.510 Gleich nach seinem Amtsantritt setzte sich Hirsch dafür ein, bestimmte Elemente des jüdischen Gottesdienstes, die ihm missfielen, abzuschaffen.511 Dass solche Änderungen von einem Teil der jüdischen Gemeinde abgelehnt wurden, nahm die städtische Verwaltung wahr, die einen „esprit opposition à tout changement à l’ordre intérieur du culte mosaique“512 auszumachen glaubte. Diese Ablehnung war allerdings nicht einhellig, denn im Herbst 1847 beschloss die Gemeinde eine Veränderung des Ritus.513 Die Vorsteher unterstützten Hirschs Meinung, dass ein Teil der jüdischen Gebräuche nicht mehr passend für ihre Zeit sei und daher Neuerungen notwendig seien, „quelques modifications jugées neçessaire par la grande majorité des israélites de France et d’Allemagne“. 514 In diesem Zusammenhang verwiesen sie auf die deutschen Rabbinerversammlungen und darauf, dass „la majorité des Israélites luxembourgeois éprouvent également le besoin du Siècle et notre digne rabbin s’efforce à nous amener dans cette voie d’amélioration“.515 Dass die Meinungen über die Reformen innerhalb der jüdischen Gemeinde auseinandergingen, zeigt der Umstand, dass sich Mitte der Fünfziger eine separate jüdische Gebetsversammlung in der Stadt bildete. Deren Gründung hing allerdings auch wesentlich mit dem Ärger eines Teils der Gemeindemitglieder

509 Vgl. Haberman, Joshua O.: Samuel Hirsch, in: Skolnik/Berenbaum, Bd. 9, S. 132 f. Vgl. Monz, S. 170. 510 Oberrabbiner Samuel Hirsch an den Gouverneur des Großherzogtums Luxemburg, 8.4.1844, in: ANL F68. 511 Schon 1844 wurde das Kol-Nidre durch das vom Frankfurter Oberrabbiner Leopold Stein komponierte Lied „O Tag des Herrn“ ersetzt, allerdings die Melodie des Gebetes beibehalten. Vgl. conseil de gouvernement de Luxembourg au roi grand-duc 24.7.1844, in: ANL F68. Vgl. Der Orient, Nr. 48, 1844, S. 370. Zu Stein vgl. Meyer, Gemeinden, S. 134 sowie ders., Selbstverständnis, S. 171. 512 Bourgmestre et échevins de la ville de Luxembourg à l’administrateur des affaires é­ trangers, de la justice et des cultes, 13.9.1848, in: ANL H78. 513 Vgl. Samuel Hirsch an die königlich-großherzogliche Regierung, 14.7.1848, in: ANL H78. 514 Nathan und Bonn an Bourgmestre et échevins de la ville de Luxembourg, 7.9.1848, in: ANL H78. Trotz persönlicher Konflikte zwischen Hirsch und der Familie Godchaux bestand hinsichtlich der Notwendigkeit eines würdigen Gottesdienstes stets Einvernehmen. Vgl. der Orient, Nr. 48, 1844, S. 370. Vgl. Nathan und Bonn an Bourgmestre et échevins de la ville de Luxembourg, 7.9.1848, in: ANL H78. Vgl. Goedert, S. 376. 515 Ebd. Vgl. auch Krier, S. 124.

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über die Verteilung der Kultuskosten und dem mangelnden Mitspracherecht innerhalb der jüdischen Gemeinschaft zusammen.516 Dass es Hirsch letztlich gelang, seine Glaubensgenossen von Neuerungen zu überzeugen, hing eventuell mit seiner Toleranz gegenüber anderen Auffassungen zusammen, denn der Rabbiner war überzeugt, dass er nicht einfach Gehorsam einfordern dürfe: „Wollte Jemand dem Judenthum des Mittelalters mit allen seinen Auswüchsen nachleben, ich hatte nichts dagegen; dem wahren Judenthum, und wie die Neuzeit es anstrebt, mir war das lieber, aber nie habe ich mich der Herrschaft, des Befehlens schuldig gemacht. […] Gewissensfreiheit ist mein Wahlspruch.“517 Hirsch verließ nach 23 Jahren zum Bedauern seiner Gemeinde Luxemburg, weil ihm eine Reformgemeinde in Philadelphia eine Stelle auf Lebenszeit anbot. Aufgrund der sich unter seinem Rabbinat entwickelnden religiösen Ein­stellungen der Luxemburger Juden und seiner ausgleichenden Haltung konnte Hirsch in Luxemburg moderate Reformen durchsetzen, allerdings keine Maßnahmen wie die Verlegung des Sabbats auf den Sonntag erreichen, was ihm in Amerika als tragende Kraft innerhalb der dortigen Reformbewegung gelang.518 Nach dem Weggang Hirschs kam es erst unter Isaac Blumenstein zu weiteren Modifikationen des Gottesdienstes, für welche die Eröffnung der neuen Synagoge 1893 den Anlass bot: „Le service religieux fut reoganisé à l’exemple d’illustres synagogues modernes.“519 Zu der neuen Ordnung gehörte es, dass die Gottesdienste regelmäßig von Orgel- und Chormusik ausgeschmückt wurden. Die musikalische Begleitung an sich stellte allerdings keine Neuerung dar, denn die Luxemburger Gemeinde verfügte bereits in den Vierzigerjahren über einen Chor. Darüber hinaus wurden die jüdischen Gottesdienste gelegentlich von einer Orgel musikalisch untermalt, die zeitweise von Antoine Zinnen gespielt wurde. Der in der Rheinprovinz geborene Komponist der luxemburgischen Nationalhymne übernahm auch die Aufgabe, den Chor zu dirigieren. Gegen diese musikalische Untermalung regte sich interessanter­weise erst nach 1900 eine gewisse Opposition.520

516 Vgl. Salomon Worms à l’administrateur général des affaires étrangers, 12.11.1856, in: ANL H78. Vgl. Luxemburger Wort, Nr. 142, 1855, S. 1. Vgl. Kapitel 4.3.3. 517 Samuel Hirsch an die königlich-großherzogliche Regierung, 14.7.1848, in: ANL H78. 518 Vgl. Israelitischer Verwaltungsrat an Bourgmestre und Schöffen der Stadt Luxemburg, 24.9.1866, in: ANL H78. Vgl. Monz, S. 174 f. Vgl. Lehrmann, S. 61 f. Vgl. Goedert, S. 366. Vgl. Katz, Jacob: Samuel Hirsch. Rabbi, philosopher and freemason, in: REJ, Jg. 125, 1966, S. 113 – 126. Vgl. ders.: The historical origins of God and Man. Samuel Hirsch’s Luxembourg Writings, in: LBIYB, Jg. 20, 1975, S. 129 – 148. 519 Lehrmann, S. 71. 520 Vgl. ebd. Vgl. Der Orient, Nr. 31, 1843, S. 244. Vgl. Bürger- und Beamtenzeitung, Nr. 136, 1899, S. 2. Vgl. Lehrmann, S. 53, 64 – 70, 127.

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Die seit der Einrichtung des Rabbinats regelmäßig erfolgenden Predigten stellten für die Juden des Großherzogtums keine Neuerung dar, da solche schon in den Dreißigerjahren hin und wieder von Rabbinats-Kandidaten gehalten wurden.521 Anfang der Vierzigerjahre predigte der Trierer Oberrabbiner Kahn des Öfteren in der luxemburgischen Hauptstadt, u. a. am Pessachfest 1841. Dass Kahn dazu bereit war, hing eventuell mit verwandtschaftlichen Banden zusammen, denn seine Brüder Léon und Isaac Cahen wohnten einige Jahre in der Hauptstadt des Großherzogtums, bevor sie nach Ettelbrück zogen.522 Dass die Gläubigen die Predigten nicht immer aufmerksam verfolgten, verdeutlicht eine Klage von Hirsch. In seinem Katechismus von 1856 äußerte er Unmut da­­rüber, dass dieses Buch „für viele israelitische Familienväter und -mütter als nötig betrachtet werden müsse, [obwohl] doch dieselben Grundsätze und Lehren seit ebenso vielen Jahren allsabbathlich und an jedem Feiertage von der Kanzel herab entwickelt würden“.523 Das Werk war ausdrücklich auch für die auf dem Land lebenden Juden gedacht, damit diese ihre Kinder in der Religion unterrichten könnten, weil diese normalerweise höchstens an Feiertagen seine gottesdienstlichen Vorträge hörten.524 Die sich in Ettelbrück ansiedelnden Juden wurden allerdings nicht nur über gelegent­liche Besuche der hauptstädtischen Synagoge mit reformerisch aus­ gerichteten Auffassungen konfrontiert, sondern Einzelne auch über persönliche Beziehungen und ihr zeitweise städtisches Umfeld. Isaac und Léon Cahen waren Brüder des reformerischen Trierer Rabbiners und darüber hinaus eng mit reform­ orientierten Kräften des luxemburgischen Judentums – der Familie ­Godchaux – verbunden. Hinzu kam, dass nicht nur sie, sondern auch einige der anderen Ettelbrücker Juden zeitweise in der Hauptstadt des Großherzogtums gelebt hatten, bevor sie sich im Dorf niederließen.525 Léon Cahen, der bis in die Sechzigerjahre hinein in Ettelbrück als Vorbeter agierte, hatte in seiner Jugend religiöse S­ tudien tradi­tioneller Prägung betrieben. So hatte er u. a. talmudische Vorträge jüdischer ­Gelehrter in Metz, Mainz und Wiesbaden gehört und galt darüber hinaus unter seinen Glaubensgenossen als „ausgezeichneter Kenner der biblischen und rabbinischen

521 Vgl. Israelitische Annalen, Nr. 25, 1839, S. 199. 522 Vgl. Der Orient, Nr. 31, 1843, S. 244. Vgl. Monz, S. 171. Vgl. AZJ, Nr. 10, 1871, S. 198. Vgl. Recensement de la population d’Ettelbruck, 1851, in: ANL Rpop 221 f. Vgl. D ­ ondelinger/ Muller, Teil II, S. 25. 523 Monz, S. 171. Vgl. auch Hirsch, Samuel: Systematischer Katechismus der israelitischen ­Religion, auf Beschluß des Vorstandes der israelitischen Gemeinde zu Luxemburg, ­Luxemburg 1856, S. If. 524 Vgl. ebd. 525 Vgl. Kapitel 3.1.2.

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Literatur“.526 Er selbst hielt sich zwar genau an die Religionsgesetze, aber dies verhinderte nicht, dass er gewissen Modifizierungen des Gottesdienstes positiv gegenüberstand. Das gute Verhältnis von Léon zu seinem Bruder Joseph zeigte sich u. a. Mitte der Fünfzigerjahre, als Letzterer der Ettelbrücker Gemeinschaft eine von ihm geweihte Thora zur Verfügung stellte.527 Léon Cahen war „für sich streng orthodox, […] doch zeitgemäßen Verbesserungen auf dem Gebiete des synagogalen Lebens nicht abgeneigt“.528 Inwieweit die Gottesdienste in Ettelbrück regelmäßig durch Predigten bereichert wurden, ist unklar, allerdings kam die kleine Gemeinde zumindest anlässlich besonderer Gegebenheiten in den Genuss solcher Vorträge, z. B. bei der Einweihung der Synagoge, zu der Rabbiner Sofer aus der Hauptstadt anreiste.529 Darüber hinaus boten Beerdigungen einflussreicher Gemeindemitglieder Gelegenheit zu Ansprachen. Beispielsweise begab sich der Luxemburger Rabbiner Blumenstein 1895 nach Ettelbrück, um bei der Trauerfeier für den langjährigen Vorsteher Joseph Cahen dessen Leben und Wirken zu würdigen.530 Das religiöse Leben der jüdischen Bevölkerungen der betrachteten Regionen spielte sich nicht nur in den Synagogen ab, sondern auch außerhalb von ihnen. Während die sich ausschließlich im häuslichen Rahmen abspielenden Ge­­bräuche kaum dokumentiert sind, lassen sich die Einstellungen der Juden gegenüber den religiösen Ruhegeboten besser erfassen. Dass die Mehrheit der Landjuden in der Rheinprovinz, Lothringen und Luxemburg dem Ruhegebot das gesamte 19. Jahrhundert hindurch eine große Bedeutung beimaß, fand seinen Ausdruck darin, dass Viehmärkte verlegt wurden, falls sie sich mit jüdischen Feiertagen ­überschnitten.531 Welch eine starke Bedeutung dem genannten Gebot von manchen Juden bei­gemessen wurde, demonstriert ein bereits erwähnter Vorfall in Gemünden im Jahr 1824.532 Nach Angaben des Nachtwächters sei fast ein ­größeres Feuer ausgebrochen „durch die von den Haußleuthen des Mayers auf Töpfe gedeckte Tücher, worin ihr Schawesessen warm zu halten im Gebrauch haben, die in Brand gerathen sind“.533 Dies ist ein Hinweis darauf, dass am Sabbat nicht gekocht wurde, da es als verbotene Arbeit galt.534 Nach Angaben der Koblenzer

526 AZJ Nr. 49, 1881, S. 815. 527 Vgl. Dondelinger/Muller, Teil II, S. 27. 528 Vgl. AZJ Nr. 49, 1881, S. 815. Vgl. Dondelinger/Muller, Teil II, S. 27. 529 Vgl. AZJ, Nr. 10, 1871, S. 198. 530 Vgl. Dondelinger/Muller, Teil III, S. 26. 531 Vgl. Kapitel 3.3.1. 532 Zu dem Vorfall vgl. 4.3.1. 533 LHAK Best. 441 Nr. 3167, S. 5. 534 In der Regel bereiteten die jüdischen Frauen die Mahlzeiten bereits vorher zu. Vgl. Kaplan, Konsolidierung, S. 307 f.

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Regierung von 1843 bildeten die Gemündener Juden keine Ausnahme, sondern hielt die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung an den Zeremonialgesetzen fest, vor allem „unwissende Landjuden [….] in mechanischer stumpfsinniger Anhänglichkeit an eine ihnen kaum bekannte Tradition“. 535 Dass in den Dörfern der Rheinprovinz die Einhaltung der Sabbatruhe auch nach der Jahrhundertmitte beachtet wurde, zeigt sich u. a. daran, dass im Jahr 1863 die jüdischen Gemeinde­ ratsmitglieder von Illingen einen Beschluss „wegen des israelitischen Sabbats“ 536 nicht unterschreiben konnten. Ein Jahr darauf beglaubigte der Gemündener Bürgermeister die Aussagen eines jüdischen Vorstandmit­gliedes, da dieses angab, wegen des Sabbats „heute nicht unterschreiben zu dürfen“.537 Wohlhabendere jüdische Bewohner griffen in den betrachteten Regionen das gesamte 19. Jahrhundert über auf christliche Angestellte zurück, um das Ruhe­ gebot einhalten zu können.538 In Illingen gab es Ende der Sechzigerjahre zudem eine Sabbatdienerin, die sogenannte „Schawesmagd“, welche für eine Entschädigung kleinere Arbeiten in der Synagoge versah.539 Sogenannte Sabbatmägde wurden auch von manchen jüdischen Gemeinden in Lothringen angestellt, wo sie vor allem für die Entzündung von Kerzen in den Synagogen zuständig waren, so z. B. in Grosbliederstroff im Jahr 1890. Im nahe Boulay gelegenen Niedervisse war noch bis zum Ende der Zwanzigerjahre des 19. Jahrhunderts eine „chabbesgoye“ tätig, die nicht nur für die Beleuchtung in der Synagoge sorgte, sondern auch in einem Teil der jüdischen Haushalte kleinere Arbeiten übernahm und diesen dadurch eine traditionelle Religionsausübung ermöglichte.540 Eine jüdische Bewohnerin des Ortes berichtete, dass in ihrer Familie noch zum Ende des Ersten Weltkrieges kein Feuer am Sabbat entzündet wurde: „on laisserait éteindre les fourneaux entre ses jambes quitte à mourir de froid plutôt que de toucher au bois ou à l’huile“.541 Auch in Boulay selbst wurde während des Z ­ weiten Kaiserreichs noch Wert auf die Sabbatruhe gelegt, z. B. betonte die jüdische

535 Jehle, Juden, Bd. 4, S. 1424. 536 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1315, S. 24. 537 LHAK Best. 441 Nr. 9719, S. 65. 538 Vgl. die Angaben zu christlichen Angestellten bei jüdischen Einwohnern der betrachteten Dörfer in Kapitel 3.2. 539 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1546, S. 106. 540 Vgl. Auszug der Sitzung der Verwaltungskommission der israelitischen Gemeinde von Großblittersdorf, 27.4.1890, in: ADM 7AL131. Vgl. Cerf, Alphonse: Shabath à Niedervisse, o. J., online im Internet: http://judaisme.sdv.fr/histoire/rabbins/hazanim/al-cerf/shabath. htm [Stand 24.06.2014]. Vgl. Daltroff, juifs, S. 110 – 112. Vgl. allgemein Katz, Jacob: The „Shabbes Goy“. A study in Halakhic Flexibility, Philadelphia 1989. 541 Daltroff, juifs, S. 111.

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Gemeindeverwaltung 1875, dass die jüdischen Kinder „durch ihre Religion an praktischen Schularbeiten gehindert sind“.542 Nach Angaben des Präfekten von Metz nahm 1843 nur eine kleine Schicht städtischer Juden Abstand davon, die religiösen Praktiken genau zu befolgen, wobei es sich ähnlich wie in Luxemburg lediglich um Angehörige der Oberschicht handelte.543 In den kleineren Städten Lothringens verhielten sich die jüdischen Einwohner ähnlich wie die jüdischen Landbewohner, z. B. in Toul, wo der Unterpräfekt „leur attachement pour la loi de Moyse“544 betonte. Erst in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts achteten auch die in lothringischen Kleinstädten lebenden Juden immer ­weniger auf die Einhaltung der Religionsgesetze.545 Die letztere Tendenz zeigte sich zum Ende des 19. Jahrhunderts verstärkt bei jüngeren Juden, teilweise zum Unmut ihrer Eltern und Erzieher. In Illingen suchte um die Jahrhundertwende Vorbeter Marx über regelmäßige Vorträge auf die männliche jüdische Jugend des Ortes einzuwirken. Teilweise gelang ihm dies auch, sodass zumindest ein Teil der Letzteren das „sabbatentweihende Kegelspiegel“546 einstellte. Aus dem Hunsrück stammende junge Juden hielten sich ähnlich wie ein Teil der Illinger Glaubensgenossen ebenfalls nicht mehr genau an die Gebote. Als z. B. der fortgezogene Sohn der aus Gemünden stammenden Theresia Mayer diese und seinen Vater in Simmern besuchte, zeigte der Letztere kein Verständnis dafür, dass der Sohn nach langer Fahrt erst freitagabends – also nach Beginn des Sabbats – eintraf.547 Dieser Vorfall deutet auf eine Entwicklung hin, die sich sowohl in der Rheinprovinz als auch in Lothringen in der zweiten Jahrhunderthälfte zunehmend auf das religiöse Leben der Landjuden auswirkte, nämlich die Migration jüngerer Glaubensgenossen in Richtung der Städte. Dem Verlassen der vertrauten Lebenswelt folgte nicht selten die Aufgabe der bisherigen religiösen Traditionen. Ein Teil der jüdischen Landbewohner blieb bewusst im Dorf wohnen, da er die eigenen Kinder in einem traditionellen Rahmen aufziehen wollte. Es kann angenommen werden, dass zumindest ein Teil der Landjuden, die bereit waren, die vertraute Umgebung zu verlassen, auch aufgeschlossener gegenüber anderen Formen von Religiosität waren als ihre im Dorf zurückbleibenden Glaubensgenossen. Zwar lehnten aus religiöser Sicht nicht wenige Juden einen Wegzug vom Land ab, aber

542 Gesuch der israelitischen Verwaltungs-Commission der israelitischen Synagoge zu Bolchen, 9.9.1875, in: ADM 9AL40. 543 Vgl. Préfet de Metz au ministre de l’intérieur, 21.7.1843, in: ADM V149. 544 Sous-préfet de Toul au préfet de Nancy, 15.7.1843, in: ADMM V300. 545 Vgl. Job, juifs à Lunéville, S. 289. 546 Artikel, in: Der Israelit, Nr. 51, 1903, S. 1128. 547 Vgl. Wesner, S. 113.

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letztlich erwiesen sich die ökonomischen Faktoren in den meisten Fällen doch als wirkungsvoller.548 Eine nicht zu unterschätzende Rolle spielte in der zweiten Jahrhunderthälfte, dass auch traditionell eingestellte jüdische Eltern ihre Kinder in der Regel an nicht in ihren Heimatorten gelegene höhere Schulen schickten, um deren Fortkommen zu sichern. Mit Ausnahme von Ettelbrück, wo es u. a. infolge einer auch von jüdischen Einwohnern getragenen Elterninitiative 1848 zur Gründung einer Mittelschule kam, gilt dies auch für die untersuchten Orte.549 Der jüdische Vorsänger von Grosbliederstroff war finanziell zwar nicht in der Lage, sein Kind an ein Collège zu schicken, aber er sorgte 1860 dafür, dass es die Schule in Sarreguemines besuchen konnte, um dort Französischunterricht zu erhalten.550 Nach der Annexion äußerten die Einwohner von Boulay – auch das jüdische Gemeinderatsmitglied Cerf – den Wunsch nach Einrichtung einer Mittel- bzw. Realschule, damit die Kinder möglichst lange im Ort unterrichtet werden könnten. Da die Bemühungen scheiterten, schickten die Eltern, die es sich leisten konnten, ihre Kinder wohl weiterhin nach Frankreich in Pensionate, die weniger wohlhabenden Eltern mussten auf eine Weiterbildung der Kinder verzichten.551 In der südlichen Rheinprovinz begannen Landjuden ebenfalls verstärkt ­während des Zweiten Kaiserreichs, ihren Kindern eine weiterführende Bildung zu­­kommen zu lassen. So wurde z. B. der 1866 geborene Bernhard Mayer aus dem nahe Gemünden gelegenen Laufersweiler von seinen Eltern ans Kreuznacher Gymnasium geschickt.552 Nur äußerst wenige Kinder aus Gemünden kamen in den Genuss einer gymna­ sialen Bildung: Der 1897 geborene Sohn des Viehhändlers Joseph Wirth Louis, der später als Soziologieprofessor in Chicago arbeitete, war erst das zweite Kind aus dem Dorf überhaupt, das eine weiterführende Schule besuchte. Bis zum Ende der Elementarschule wuchs er wie seine sechs Geschwister in einer noch von reli­ giösen Traditionen geprägten Familie auf: Seine Mutter achtete auf einen koscheren

548 Vgl. Löwenstein, community, S. 235. Vgl. Wesner, S. 17. Vgl. Hyman, Jews of modern France, S. 59 f. Vgl. Berkovitz, rites, S. 224. Vgl. Mendel, S. 36 f. Vgl. Hyman, Paula E.: Village Jews and Jewish Modernity. The case of Alsace in the Nineteenth century, in: Ronald Dotterer/Deborah Dash Moore/Steven M. Cohen (Hg.): Jewish Settlement and community in the Modern Western World, Selinsgrove 1991, S. 21 f. 549 Vgl. zu der Ettelbrücker Elterninitiative Kapitel 5.3.1. Vgl. für Lothringen Mendel, S. 33. 550 Vgl. maire de Grosbliederstroff, 22.2.1860, in: ADM V152. 551 Vgl. conseil municipal de Boulay, 10.2.1878, 7.7.1878, Kreisdirektor von Boulay an den Bezirkspräsidenten von Lothringen, 4.8.1878, Bezirkspräsident von Lothringen, 22.8.1878, in: ADM 9AL40. 552 Vgl. Wiehn, S. 22.

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Haushalt und besuchte gleich ihrem Mann, der zeitweise als Vorsteher tätig war, regelmäßig die Gottesdienste.553 Neben dem neuen Umfeld sorgte auch die an den Gymnasien erhaltene Bildung dafür, dass die „Jugend […] jener starren Orthodoxie entrückt [wurde], und mit […] dem Leben im elterlichen Hause in directen Widerspruch“554 geriet. Der erwähnte Bernhard Mayer verlor zwar seine Lehrstelle in einem Kreuznacher Laden, weil er sich an einem jüdischen Feiertag weigerte, die Kunden zu bedienen, allerdings war dies nach eigener Aussage nicht auf seine persönliche Religiosität zurückzuführen. Vielmehr verhielt er sich auf diese Weise, um von der ungeliebten Stelle loszukommen. Anschließend fand er in Simmern Arbeit: „Da ich meine alte Lehrstelle aus ’Frömmigkeit’ aufgegeben hatte, blieb mir nichts anderes übrig, als diese Rolle nun weiterzuspielen.“555 Ähnlich wie Mayer hielten auch andere junge Juden in Kleinstädten und Dörfern der Rheinprovinz und Lothringens eher ihren Eltern zuliebe und wegen des Erwartungsdrucks ihrer Umgebung an der tradi­ tionellen Religionsausübung fest.556 Wie bereits erwähnt, führte der Zug in die Stadt häufig zu einem Ablegen der bisherigen Traditionen, so auch bei Bernhard Mayer, der in den Achtzigerjahren zeitweise in Sarreguemines lebte und sich dort samstags regelmäßig mit Freunden in einem Café traf.557 So wie in den Städten zuvor, so zeichnete sich um die Jahrhundertwende auch in den ländlichen Gegenden der Rheinprovinz eine allmähliche Lockerung der traditionellen jüdischen Lebensführung ab, z. B. in Gemünden, wo einige Juden der freiwilligen Feuerwehr beitraten und bei der Teilnahme an deren Übungen manchmal gegen das Arbeitsverbot am Sabbat verstießen.558 Allgemein ist festzuhalten, dass die jüdischen Landgemeinden der Rhein­ provinz nicht als orthodox bezeichnet werden können, da ihre Weise, das Judentum zu praktizieren, sich von derjenigen in den wenigen städtischen Zentren der Neo-Orthodoxie (z. B. Frankfurt) unterschied. Die Mitglieder der letztgenannten

553 Vgl. LBI AR1683 reel 1, fol. 121. Vgl. Salerno, Roger A.: Louis Wirth. A Bio-Bibliography, Selbstverlag, New York 1987, S. 3 – 5. 554 AZJ, Nr. 19, 1878, S. 295. 555 Wiehn, S. 25. 556 Vgl. Kaplan, Konsolidierung, S. 310 f., 317. Vgl. Hyman, village jews, S. 15, 21 f. 557 Vgl. Wiehn, S. 27 f. 558 Die Übungen fanden seit 1897 jeden Sonntagmorgen um sieben Uhr statt, sodass zumindest im Winter die teilnehmenden Juden gegen das Arbeitsverbot am Sabbat verstießen, da der Sabbat erst mit dem Sonnenaufgang endete. Vgl. Jung, Hans Robert: 100 Jahre freiwillige Feuerwehr Gemünden. Festschrift zum 100-jährigen Jubiläum, o. O. 1996, S. 34, 57. Vgl. auch Löwenstein, jüdisches religiöses Leben, S. 227 – 229 und Wiesemann, S. 115.

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Gemeinden hielten sich genau an die Buchstaben des jüdischen Gesetzes, während in den meisten Landgemeinden eher eine Art „volkstümliches Judentum“559 vorherrschte, bei dem dies – auch wegen der mangelnden Kenntnis der religiösen Schriften – nicht der Fall war. Im orthodoxen Blatt „Der Israelit“ wurden 1889 sogar die „Armuth“ und „Unfruchtbarkeit“ des religiösen Lebens der Hunsrücker Juden explizit kritisiert, u. a. die Teilnahme an Tanzvergnügungen am Sabbat.560 Obwohl das gemeinsame Tanzen von Männern und Frauen gegen Gebote des jüdischen Gesetzes verstieß, wurde die Organisation von Simchasthorabällen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – Tanzveranstaltungen am Tag des Thora­ freudenfestes – auf dem Land häufig als eine verdienstvolle Aufgabe betrachtet. Losgelöst von der religiösen Feier in der Synagoge fand z. B. in Gemünden 1895 ein solcher Ball in der Festhalle des „Hotel zur Post“ statt, für dessen musikalische Untermalung die Grohe’sche Kappelle unter Leitung des Protestanten Adam Grohe zuständig war.561 Als die jüdische Gemeinde von Ettelbrück 1896 das 25-jährige Jubiläum ihrer Synagoge beging, endeten die Feierlichkeiten „mit einem Freundschaftlichen Tanzabend im Hôtel Dondelinger“.562 In Lothringen gestaltete sich die Lage auf dem Land, wo eine „religion très familiale“563 dominierte, ähnlich. Oft verfügte nur der jüdische Vorsänger über weiterreichendes religiöses Wissen und Patrick Girard hat zutreffend bemerkt, dass diejenigen, welche sich für die Erhaltung religiöser Traditionen einsetzten, „moins orthodoxe qu’orthopraxe“ 564 waren. In Frankreich entwickelte sich aufgrund des Fehlens einer starken Reform­ bewegung im 19. Jahrhundert auch keine Neo-Orthodoxie.565 Konversionen von Juden zum Christentum kamen in der Rheinprovinz relativ selten vor, und ihre Zahl lag unter dem preußischen Durchschnitt. Bei denjenigen, die diesen Schritt unternahmen, geschah er meist in einem städtischen Umfeld und wurde von dem Wunsch nach sozialem Aufstieg oder der Heirat eines christlichen Partners motiviert. Trotz staatlicher Unterstützung erwiesen

559 Löwenstein, jüdisches religiöses Leben, S. 227. 560 Vgl. Der Israelit, Nr. 9, 1889, S. 159 f. 561 Vgl. Löwenstein, jüdisches religiöses Leben, S. 227. Toury, Antisemitismus, S. 185. Vgl. ­Stoffel, Manfred: Versöhnung braucht Erinnerung. Juden in Kirchberg/Hunsrück (Schriften­reihe zur Geschichte der Stadt Kirchberg, Bd. 2), Simmern 2000, S. 34. Vgl. Volkszählungsliste von Gemünden, 1864, in: LHAK Best. 655,12 Nr. 46. 562 Dondelinger/Muller, Teil III, S. 28. 563 Becker, S. 52. Berkovitz bezeichnet dies als „folk religion“, während Hyman im Zusammenhang mit den elsässischen Landjuden den deutschen Begriff „Milieufrömmigkeit“ anwendet. Vgl. Berkovitz, rites, S. 235. Vgl. Hyman, village jews, S. 21 f. 564 Girard, S. 218. 565 Vgl. ebd., S. 219, 239. Vgl, Heymann, chantres, S. 33.

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sich Missionsgesellschaften in der Rheinprovinz – vor allem im ländlich geprägten Umfeld – als erfolglos. Insgesamt lag die Zahl der Juden, die in Preußen konvertierten, allerdings wesentlich höher als in Frankreich: Allein innerhalb der preußischen Grenzen von 1847 ließen sich zwischen 1822 und 1846 etwa 3000 Juden taufen, unter ihnen auch ca. 250 rheinische Juden. In dem hier im Mittelpunkt stehenden südlichen Teil der Rheinprovinz war die Zahl allerdings sehr gering.566 Einer der wenigen im ländlichen Umfeld vorkommenden Übertritte zum Christen­ tum spielte sich in Moselkern ab, wo sich eine jüdische Magd taufen ließ und ihren Umgang mit christlichen Mädchen als Beweggrund nannte.567 Nicht nur in Lothringen, sondern im gesamten Frankreich kamen Konver­ sionen von Juden zum Christentum im Vergleich seltener vor. Zumeist fehlte den Konvertiten die Verbundenheit zum (traditionell geprägten) Judentum, oder die Heirat mit einem christlichen Partner war der Anstoß für ihren Schritt. In der Regel entstammten die Konvertiten den städtischen jüdischen Eliten, so z. B. einige Nachkommen von Cerf-Berr.568 Einen außergewöhnlichen Fall stellte daher die Konversion des jüdischen Lehrers von Sarrelouis Jacob Bluth im Jahr 1848 dar, der sich während eines Besuchs bei seiner ältesten Tochter und unter deren Einfluss taufen ließ. Die Folge dieser Entscheidung war der Verlust seiner Arbeit und der Ausschluss der restlichen, zwangsweise in die Hauptstadt nachkommenden Familien­mitglieder aus der jüdischen Gemeinde.569 Die genaue Zahl der franzö­ sischen Juden, die sich taufen ließen, ist in der Forschung zwar umstritten, aber die letzten Schätzungen gehen für das Frankreich des 19. Jahrhunderts von 1000 – 1800 Konvertiten aus, wobei die Übertritte zum Katholizismus überwogen, was sich aus dem Willen, nicht mehr einer Minderheit anzugehören, erklärt.570 Die meisten stammten aus Familien, die aufgehört hatten, religiöse Traditionen zu pflegen, und 566 Vgl. Zittartz-Weber, Religion, S. 270 – 273. Vgl. Debus, S. 235 – 238. Nur 16 Übertritte zum Christentum – jeweils acht zur katholischen und zur protestantischen Kirche – waren in den südlichen Regierungsbezirken für die Zeit zwischen 1815 und 1848 zu ermitteln. Vgl. Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz, Bd. 4, Anhang: Konversionen, o. S. Vgl. Toury, Geschichte, S. 52 – 61. 567 Ihre Angehörigen suchten vergebens, ihre Entscheidung rückgängig zu machen. Vgl. Scheindl, Angelika: Spuren der Vergangenheit. Jüdisches Leben im Landkreis CochemZell, Briedel 1996, S. 116. 568 Vgl. Benbassa, histoire, S. 191. Vgl. Roos, juifs, S. 54 – 56. 569 Jacob Bluth kehrte allerdings nach einigen Jahren zurück zum Judentum. Vgl. Delmaire, Danielle: L’intégration par la liberté des consciences et l’égalité des cultes. L’exemple de l’affaire Bluth-Mallet (1861), in: Archives Juives, Nr. 2, Jg. 35, 2002, S. 45 f. 570 Vgl. Gugelot, Frédéric: Conversions et apostasies. Quelques mots d’introduction, in: Archives Juives, Nr. 1, Jg. 35, 2002, S. 5 f. Vgl. ders.: De Ratisbonne à Lustiger. Les convertis à l’époque contemporaine, in: Archives Juives, Nr. 2, Jg. 35, 2002, S. 9. Vgl. Landau,

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Die Binnenstrukturen der jüdischen Gemeinden

konvertierten entweder aus pragmatischen Gründen oder, da das Judentum keine Antwort auf spirituelle Fragen zu bieten schien. Im Gegensatz zu Preußen war die Taufe zumeist keine „Eintrittskarte“, die erst beruflichen Erfolg in der öffentlichen Sphäre möglich machte.571

4.5 Fazit: ähnliches religiöses Leben unter verschiedenen Bedingungen Zusammenfassend ist festzuhalten, dass sich die jüdischen Landgemeinden in den betrachteten Regionen hinsichtlich ihrer Gemeindeinstitutionen sowie der von ihnen angestellten Gemeindebediensteten nur gering voneinander unterschieden. Sowohl in der Rheinprovinz als auch in Lothringen und Luxemburg lebten die Rabbiner fast ausschließlich im städtischen Umfeld. Inwiefern sie sich um die Juden außerhalb ihres Wohnsitzes kümmerten, hing nicht nur von ihrem Rabbinatsbezirk ab, sondern auch von ihrem persönlichen Interesse für die Landgemeinden.572 In den Letzteren übernahm in der Regel ein Vorsänger den Gottesdienst, der häufig auch als Lehrer tätig war. In gerade erst entstandenen kleinen Gemeinden füllte meist zunächst ein Mitglied die Leerstelle, bis sich die Gemeinschaft einen Vorbeter leisten konnte. Während sich in der Rheinprovinz auch größere Landgemeinden nur selten mehrere Gemeindebedienstete leisteten, war dies in Lothringen aufgrund der finanziellen Unterstützung durch den Staat des Öfteren der Fall. Allerdings dauerte es sowohl in Lothringen als auch in Luxemburg mehrere Jahre, ehe die Regierungen konkrete finanzielle Konsequenzen aus der formellen Gleichstellung der jüdischen Religion mit den christlichen Konfessionen bzw. dem Katholizismus zogen. Vor allem die größeren jüdischen Landgemeinden ­Lothringens profitierten davon, dass der französische Staat ab 1831 den jüdischen Kultusbeamten ein staatliches Gehalt zahlte bzw. unter dem Zweiten Empire Zuschüsse zu deren Einkommen gewährte und häufig Synagogenbauten mitfinanzierte. In Luxemburg beteiligte sich der Staat ab den Vierzigerjahren an der Unterhaltung des jüdischen Philippe E.: Se convertir à Paris au 19e siècle, in: Archives Juives, Nr. 2, Jg. 35, 2002, S. 41. Vgl. Roos, juifs, S. 56. 571 Vgl. Gugelot, Ratisbonne, S. 8 – 11, 15. Vgl. Birnbaum, Pierre: Les juifs et l’affaire, in: Becker/Wieviorka, S. 76. Vgl. Benbassa, Esther: La formation des identités juives modernes en Europe, in: dies./Pierre Gisel (Hg.): L’Europe et les juifs (Religions en perspective, Bd. 11), Genf 2002, S. 133 f. Vgl. Roos, juifs, S. 56 f. 572 Im Gegensatz zu den Bonner Oberrabbinern kümmerte sich z. B. der Trierer Oberrabbiner Kahn sehr um die Landgemeinden seines Bezirks.

Ähnliches religiöses Leben unter verschiedenen Bedingungen

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Kultus, in erster Linie über das Gehalt des Oberrabbiners. Davon profitierten die auf dem Land lebenden Juden indirekt, indem ihre Kultusbeiträge nicht stiegen. Abgesehen von einigen Bauzuschüssen blieben die kleinen jüdischen Gemeinden des Großherzogtums außerhalb der Hauptstadt allerdings weitgehend auf sich gestellt. Zu betonen ist, dass die kleine protestantische Glaubensgemeinschaft in Luxemburg ähnlich wie die jüdische behandelt wurde. Sowohl in Lothringen als auch in Luxemburg gestaltete sich die finanzielle Lage der größeren städtischen Judengemeinden günstiger als diejenige der Landgemeinden, weil sie eher Zuschüsse erhielten und sich die Belastungen zunehmend auf mehr Personen verteilten. Das Letztere galt auch für die Rheinprovinz, wo der Staat grundsätzlich nichts zu den jüdischen Kultusausgaben beisteuerte. Aus diesem Grund war die finanzielle Situation der dortigen jüdischen Landgemeinden angespannter als in den beiden benachbarten Regionen. Hinsichtlich der vom Staat vorgeschriebenen jüdischen Kultusorganisation ist festzustellen, dass sie sowohl im französischen als auch im preußischen Fall auf große Gemeinden zugeschnitten war und daher für Regionen wie Lothringen bzw. die Rheinprovinz eher ungeeignet war. Die auf dem Land verstreuten jüdischen Gemeinden waren in beiden Gebieten von den städtischen Konsis­torien aus nur schwer zu kontrollieren. In Lothringen etablierten die Konsistorien Überwachungs­ kommissare als Vermittlungsinstanz zwischen den lokalen jüdischen Gemein­schaften und sich selbst, allerdings verstanden sich die Kommissare nicht selten in erster Linie als Vertreter ihrer Gemeinden und nicht als Untergebene der Konsistorien. Dass die einzelnen Gemeinden Kontakt zur staatlichen Verwaltung normalerweise nur über die Konsistorien aufnehmen konnten und auf deren Fürsprache bei An­ trägen um finanzielle Beihilfen angewiesen waren, erhöhte die Einflussmöglich­ keiten der Konsistorien in Frankreich allerdings. In der Rheinprovinz gestaltete sich die Lage trotz der Beibehaltung der Konsistorialordnung bis zur Jahrhundertmitte anders: Über ihre Vorsteher wandten sich die jüdischen Gemeinden stets direkt an die staatlichen Behörden, was diese auch akzeptierten – u. a., weil sie die Konsis­torien größtenteils kritisch betrachteten. Seltsamerweise unterstützten sie trotzdem die Einnahme der Gelder für die Konsistorien, während die französischen Behörden sich in dieser Hinsicht zurückhielten. Nach 1847 wehrten sich die jüdischen Gemeinden der südlichen Rheinprovinz am längsten von allen in Preußen gegen die Einführung der von staatlicher Seite gewünschten Synagogenbezirke und -gemeinden, da viele der zahlreichen Landgemeinden einen Verlust ihrer Selbstständigkeit durch Zusammenlegungen befürchteten. Sie waren insofern erfolgreich, als letztlich die meisten bestehenden Gemeinden als Synagogen­gemeinden an­­erkannt wurden. Die Luxemburger Juden unterstanden bis zur belgischen Revolution zwar jüdischen Institutionen, die außerhalb des Großherzogtums ihren Sitz hatten, allerdings nahmen diese kaum Einfluss auf die kleine Gemeinschaft. Die

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Die Binnenstrukturen der jüdischen Gemeinden

Juden Luxemburgs bildeten streng genommen das gesamte Jahrhundert über eine einzige Gemeinde, die von ihrem Verwaltungsrat geleitet wurde, der direkt mit den verschiedenen staatlichen Behörden kommunizierte. Die sich in der zweiten Jahrhunderthälfte auf dem Land etablierenden jüdischen Gemeinschaften ließen sich gegenüber den staatlichen Behörden zunächst von einzelnen ihrer Mitglieder vertreten oder wandten sich gemeinschaftlich an diese. Erst seit den Siebzige­rjahren gab es Vorstände, welche sich regelmäßig um die Belange ihrer Gemeinden kümmerten, auch wenn die luxemburgischen Gesetze weder solche Gremien noch die Existenz verschiedener jüdischer Gemeinden vorsahen. Es lässt sich sagen, dass sowohl in den Landgemeinden der Rheinprovinz als auch denjenigen von Lothringen und Luxemburg die jüdischen Einwohner bis zum Ende des Jahrhunderts an einem großen Teil ihrer traditionellen religiösen ­Gebräuche festhielten (Sabbatruhe sowie Gottesdienst). Dies verhinderte allerdings in keiner der Regionen die Einführung bestimmter Neuerungen, die dem Gottesdienst eine gewisse Würde verleihen sollten. Die auf dem Land lebenden Juden standen keineswegs alle auf dem Standpunkt, dass ihre gesamte Religionsausübung so bleiben sollte, wie sie war, sondern waren durchaus zu Modifi­­­ka­tionen bereit – sich stützend auf städtische Vorbilder und eigene sich entwickelnde Vorstellungen von Würde. Gelegentlich beeinflussten auch christliche Einwohner durch Vergleiche mit der eigenen Religionsausübung, die sie als nachahmenswert ansahen, die jüdischen Landbewohner. Die Diskussion um die Reformbedürftigkeit der jüdischen ­Religionsausübung wurde zunächst in deutschen Regionen geführt und später von den jüdischen Eliten in Frankreich und Luxemburg rezipiert. Die Ideen verbreiteten sich im preußisch-lothringisch-luxemburgischen Grenzraum auch trans­regional, denn es bestanden verwandtschaftliche und wirtschaftliche Beziehungen zwischen den dortigen jüdischen Gemeinschaften. Dies gilt in besonderem Maße für das Großherzogtum, dessen jüdische Bewohner zu einem großen Teil aus einer der Nachbarregionen zugewandert waren. Unterschiede zwischen den betrachteten Regionen zeigten sich bei der Geschwindigkeit und den Arten der eingeführten Neuerungen: Während ein Teil der Landgemeinden der Rheinprovinz und die Juden Luxemburgs sich bereits Anfang der Vierzigerjahre mit bestimmten Veränderungen beschäftigten, zogen ihre Glaubensgenossen in Lothringen Neuerungen größtenteils erst in den Sechzigerjahren in Betracht. Während in den ersteren Regionen Predigten und Chöre keine Zeichen für eine besonders ausgeprägte Reformorientierung der Gemeinden waren, blieben solche Elemente in Lothringen länger die Ausnahme. Die Gründe für diese Unterschiede waren vielschichtig: Die Juden der Rhein­provinz kamen über den deutschen Kontext f­rüher in Berührung mit der jüdischen Reformbewegung, deren Anhänger zumindest teilweise dadurch motiviert waren, dem Judentum eine zeitgemäße Form zu geben, um seine Anhänger emanzipationswürdig erscheinen zu lassen. Das letztere Motiv entfiel in Frankreich

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aufgrund der bereits vollzogenen Gleichstellung. D ­ arüber hinaus geht Michael Meyer davon aus, dass der vorherrschende Katholizismus mit seinen lateinischen Messen und oft schlecht ausgebildeten Priestern selbst nicht als Vorbild für Reformen dienen konnte, während den preußischen Juden durch den vorherrschenden Protestantismus Veränderungsmöglichkeiten aufgezeigt w ­ urden. Diese Einschätzung ignoriert allerdings die Tatsache, dass viele Teilnehmer der reformorientierten Rabbinerkonferenzen aus katholisch geprägten süd- und westdeutschen Gebieten stammten.573 Sowohl in der Rheinprovinz als auch in Lothringen und Luxemburg hielten sich die Staatsverwaltungen weitgehend aus den innerjüdischen Diskussionen um Reformen heraus, allerdings übten sie zumindest indirekt Einfluss auf das Judentum in ihren Ländern aus. In Preußen wurde zeitweise die Einführung von Reformen unterbunden, um eine größere Zahl von (städtischen) Juden zur Konversion zum Protestantismus zu bewegen; im Groß­herzogtum schlug sich die Regierung bei der Wahl des ersten Rabbiners auf die Seite der reformorientierten Gemeindeführung und in Lothringen sorgte das staatlich vorgeschriebene Konsistorialsystem dafür, dass es nicht zu Spaltungen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft kam. Insgesamt ist festzustellen, dass in den jüdischen Gemeinden Frankreichs weniger und schwächere kultische Neuerungen vorgenommen wurden und es im Gegensatz zu Gemeinden im deutschen Raum nicht zu Spaltungen kam. Von den Letzteren waren in der Regel nur wenige städtische Gemeinden betroffen. Bei Konversionen handelte es sich ebenfalls um ein nahezu ausschließlich städtisches Phänomen.574

573 Vgl. Meyer, response, S. 143, 164 – 168. 574 Vgl. Girard, S. 220.228. Vgl. Albert, attitudes, S. 123, 126.

5. Dörfliches Miteinander? Die christlich-jüdischen Beziehungen im Wandel der Zeit 5.1 Orte der christlich-jüdischen Begegnung 5.1.1

In der Nachbarschaft

Infolge der während des 19. Jahrhunderts zunehmenden Zerstreuung der jüdischen Einwohner innerhalb der untersuchten Dörfer wuchs auch die Zahl der christlichen Einwohner mit jüdischen Nachbarn.1 Das sich daraus ergebende nachbarschaftliche Zusammenleben bzw. die Benutzung gemeinsamer Häuser verlief wie in den meisten anderen Dörfern der Regionen ohne größere – d. h. nachweisbare – Reibungen. Von verschiedenen christlichen Zeitzeugen aus Gemünden wurde berichtet, dass schon vor der Weimarer Republik die jüdischen Einwohner stets um gute nachbarschaftliche Beziehungen bemüht gewesen seien. Bezüglich der Juden und Christen im Kreis Boulay ist überliefert, dass das gemeinschaftliche Leben zwar nicht frei von Konflikten gewesen sei, aber Letztere normalerweise nicht schwerwiegend waren.2 Die Aussagen aus beiden Regionen stimmen darin überein, dass die christlich-jüdischen Beziehungen sich von denen der Christen untereinander unterschieden. Während allerdings im preußischen Gemünden wie in anderen deutschen Dörfern auch die Sorge um eine gute Nachbarschaft das Verhalten der jüdischen Einwohner beeinflusste, scheinen die lothringischen Glaubensgenossen unbefangener mit ihren christlichen Nachbarn umgegangen zu sein. Als romantisch verklärend sind weder die einen noch die anderen Berichte anzusehen, vor allem im ersteren Fall, in dem sich nur Personen äußerten, die auch bereit waren, über die spätere Verschlechterung der christlich-jüdischen Beziehungen im Verlauf der Weimarer Zeit und des Nationalsozialismus zu sprechen.3 Das zumeist friedliche Zusammenleben bedeutet allerdings nicht, dass die christlichen Dorfbewohner grundsätzlich frei von antijüdischen Ressentiments waren. Nur musste das Verhältnis zu einzelnen Juden nicht unbedingt mit dem

1 Vgl. Kapitel 3.2. 2 Vgl. Meyer, présentation, S. 23. Vgl. Richarz, Entwicklung, S. 18 f. Vgl. Boch, S. 217. Vgl. Daltroff, juifs, S. 135, 146. 3 Vgl. Boch, S. 32 f. Vgl. Richarz, Entdeckung, S. 18 f. Auch Ulrich Baumann und Jacob Borut stellten eine Verschlechterung der christlich-jüdischen Beziehungen in den Dörfern und Kleinstädten im Süden und Westen des Deutschen Reiches während der Weimarer Republik fest. Vgl. Nonn, S. 67 – 69.

Orte der christlich-jüdischen Begegnung

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Verhältnis zur abstrakt wahrgenommenen jüdischen Gruppe übereinstimmen: Selbst wenn man Juden beispielsweise generell für Betrüger hielt, so nahm man doch zumindest einige, die man selbst kannte, davon aus. Zudem wirkten sich dementsprechende Haltungen nicht unbedingt in allen Lebensbereichen aus.4 Einer der wenigen nachweisbaren christlich-jüdischen Nachbarschaftskonflikte war die bereits im Zusammenhang mit den jüdischen Friedhöfen erwähnte Ausein­ andersetzung des Boulayer Pfarrers mit der jüdischen Gemeinde um den Besuch des alten jüdischen Begräbnisplatzes, für welchen der Pfarrgarten durchquert werden musste.5 In einem anderen Nachbarschaftsstreit verwickelte sich der in demselben Dorf lebende Georges Schir, der 1832 dem ehemaligen Bürgermeister von Niedervisse ein Haus samt dem direkt an die Synagoge des Dorfes angrenzenden Stall abkaufte. Da das Fundament des Stalls über demjenigen der Synagoge lag, ergab sich bei der Benutzung des Ersteren das Problem, dass das Mistwasser in den Gottesdienstraum durchsickerte. Im Gegensatz zum Vorbesitzer, der die Benutzung des Stalls aufgegeben hatte, nahm Schir diesen wieder in Betrieb. Zudem beabsichtigte er auch noch, sein Holz direkt an der Wand der Synagoge zu stapeln, was zur Folge gehabt hätte, dass das Fenster zum Gebetsraum versperrt worden wäre. Der jüdische Überwachungskommissar Bernard Israel wandte sich erfolglos an Schir, um Letzteres zu verhindern, worüber er sich enttäuscht zeigte, da er den Boulayer Bürger als religiös einschätzte und daher auf dessen Rücksicht gegenüber den Angehörigen seines Glaubens gehofft hatte.6 Während der Bürgermeister von Niedervisse die Beschwerde Israels gegen die Benutzung des Stalles und das Ver­decken eines Fensters als gerechtfertigt einstufte und Partei für diesen ergriff, war das Metzer Konsistorium der Ansicht, dass die Angelegenheit juristisch gesehen



4 Vgl. Baumann, Ulrich: „Ich weiss, was sich gehört“. Das Zusammenleben von Juden, Katholiken und Protestanten im ländlichen Baden 1862 – 1933, in: Haus der Geschichte Baden-Württemberg, S. 93. Vgl. von Friedeburg, Robert: Kommunaler Antisemitismus. Christliche Landgemeinden und Juden zwischen Eder und Werra vom späten 18. bis Mitte des 19. Jahrhunderts, in: Richarz/Rürup, S. 169. Vgl. Blaschke, Olaf: Katholizismus und Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 120), Göttingen 1997, S. 230 – 235. Vgl. Richarz, Entwicklung, S. 18 f. Auf konkrete Konflikte zwischen Juden und Christen wird im Folgenden eingegangen werden. Zum Zusammenhang zwischen antijüdischen Meinungen und Handlungen vgl. Fein, Helen: Dimensions of Antisemitism. Attitudes, Collective Accusations, and Actions, in: dies. (Hg.): The persisting question. Sociological perspectives and social contexts of modern antisemitism (Current research on antisemitism, Bd. 1), Berlin 1987, S.  67 – 85. 5 Vgl. Kapitel 4.1.2. 6 Vgl. Bernard Israel commissaire du temple israélite de la commune de Niedervisse au préfet, 28.12.1832, in: ADM V152.

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Dörfliches Miteinander?

unklar sei und daher vor ein Gericht gehöre.7 Zwar ist es möglich, dass Schir lediglich die von ihm erworbenen Besitzungen – ganz unabhängig von seinen Nachbarn – in der für ihn günstigsten Weise nutzen wollte, allerdings lässt sich sein Verhalten durchaus als rücksichtslos gegenüber den Angehörigen der jüdischen Gemeinschaft charakterisieren, und es drückte wohl auch seine Geringschätzung gegenüber dieser aus. Dass nicht alle Christen dies guthießen und die Klage der Juden ernst nahmen, zeigt die Parteinahme des Bürgermeisters. Die Nachbarschaft jüdischer Gebetshäuser zu von Christen benutzten Häusern sowie Grundstücken und Straßen führte auch in anderen Orten zu Reibungen. In Illingen wurde die Synagoge wegen ihrer Baufälligkeit und der nicht nur für die jüdischen Gläubigen, sondern auch für (christliche) Passanten bestehenden Gefährdung geschlossen.8 Eine ähnliche Gemengelage bestand in den Vierzigerjahren im lothringischen Pontpierre, wo einige christliche Einwohner den Einsturz der alten Synagoge befürchteten. Die Eigentümer zweier angrenzender Grundstücke verließen jedes Mal, wenn ein Sturm kam, aus Angst ihre Häuser und der Hüter des Tempels – wohl der jüdische Lehrer – tat es ihnen gleich.9 Zwar wurde 1842 auch die Benutzung der Wege entlang der Synagoge als gefährlich angesehen, aber zum Bedauern der Anwohner kam es nicht zu einer Einigung „en manière de conserver la rélation d’un bon voisinage“.10 1849 wurde die Synagoge abge­rissen, nachdem u. a. das Hausdach eines christlichen Nachbarn durch die teilweise zusammen­fallende Synagoge zerstört worden war.11 In Ettelbrück kam es ebenfalls zu Spannungen zwischen Juden und Christen infolge der Nutzung des eigenen Grundbesitzes und der damit einhergehenden Folgen für die Nachbarn. 1873 beschwerte sich Nicolas Wagner darüber, dass die Arbeiten am Damm der Fabrik der Familie Godchaux für das starke Hoch­wasser verantwortlich seien, welches die Mauer seines Gartens und die Muttererde ab­tragen würde. Obwohl der Ingenieur für öffentliche Arbeiten im Arrondissement die Feststellung traf, dass die fragliche Mauer nicht infolge der Erhöhung des Damms zerstört worden sei, initiierte Wagner im folgenden Jahr eine weitere Klage, die er zusammen mit über 20 anderen Eigentümern, die Land oberhalb des Damms der Godchaux’ besaßen, an die oberste Justizverwaltung richtete. In dieser forderten sie die Wiederabsenkung des Dammes. Letztlich kam es zu einer Einigung, in der festgelegt wurde, den Kamm des Damms auf eine Höhe von 1.95 Meter

7 Vgl. Maire de Niedervisse Rimmel, 28.12.1832, consistoire israélite de Metz au maire de Niedervisse, 2.1.1833, in: ADM V152. 8 Vgl. Kapitel 4.1.1. 9 Vgl. Gesuch von Mangin und Jacob, 22.7.1841, in: ADM V156. 10 Gesuch von Jacob und Albert, 5.7.1842, in: ADM V156. 11 Vgl. officier public 21.1.1849, Maire de Pontpierre, 12.3.1849, in: ADM V156.

Orte der christlich-jüdischen Begegnung

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beschränken – d. h. fünf Zentimeter höher als bei der Errichtung im Jahr 1865 und fünf Zentimenter niedriger als nach der Erhöhung 1872.12 Der Konflikt hatte allerdings keine spezifisch antijüdische Stoßrichtung, denn ähnliche Auseinandersetzungen hatte es bereits zwischen den christlichen Einwohnern des Ortes in den Fünfzigerjahren gegeben.13 Das nachbarschaftliche Leben in den verschiedenen Dörfern bedingte Austausch zwischen den jüdischen und christlichen Familien. So halfen die jüdischen und christlichen Frauen einander aus, wenn etwas im Haushalt fehlte, z. B. Öl oder Essig im lothringischen Niedervisse. Bei solchen Gelegenheiten wurde meist ein kurzes Gespräch gehalten, bei dem alltägliche Sorgen oder die Vorbereitungen für bestimmte Feiern thematisiert wurden.14 Im luxemburgischen Ettelbrück tauschten die jüdischen und die christlichen Frauen zudem Kochrezepte unter­ einander aus und im benachbarten Medernach besuchte die Jüdin Henriette Hertz regelmäßig die benachbarte christliche Familie Faltz, um in deren Ofen Kuchen mitbacken zu lassen.15 Eine Möglichkeit, sich beiläufig über die Dorfneuigkeiten aus­zutauschen, bot häufig auch das Waschen, welches z. B. im Hunsrückort Laufersweiler fast alle Frauen des Dorfes an den Brunnenplatz führte, da nur wenige Familien über eigene Brunnen verfügten. In Grosbliederstroff, wo es ein gemeinschaftliches Waschhaus gab, und in Ettelbrück gestaltete sich die Lage ähnlich.16 In allen drei betrachteten Regionen fand sich zum Ende des 19. Jahrhunderts der Brauch, dass die jüdischen Einwohner den christlichen Mitbürgern anlässlich des Pessach­festes Matzen schenkten. Im lothringischen Niedervisse war diese Spezialität, die sich die jüdischen Einwohner dieses Dorfes bei dem Betrieb von Leon Lazard in Boulay besorgten, unter den Christen sogar außerordentlich beliebt. Da Pessach häufig mit den Osterfeierlichkeiten zusammenfiel, zeigten sich die christlichen Einwohner im Gegenzug erkenntlich, indem sie den jüdischen Nachbarn Ostereier schenkten. In Ettelbrück handelte es sich bei den christlichen „Gegengeschenken“ für die „Maateskuch“ um Meerrettich.17 Die Kontakte zwischen jüdischen und

12 Vgl. Flies, S. 1608. Vgl. Godchaux, Fabien: Barrage à Ettelbruck, o. J., online im Internet: http://godchaux.f.e.c.pagesperso-orange.fr/page_13.html [Stand 24.06.2014]. 13 Vgl. Flies, S. 1564. 14 Vgl. Daltroff, juifs, S. 135. 15 Vgl. Dondelinger/Muller, Teil III, S. 28. Vgl. Schoentgen, S. 323. 16 Vgl. Wiehn, S. 20. Vgl. Keuth, Hermann (Hg.): Materialsammlung, Teil 1: Siedlungen, Gehöfte, Gebäude (Veröffentlichungen des Instituts für Landeskunde, Bd. 21), Saar­ brücken 1973, S. 227. Vgl. Flies, S. 1373, 1543, 1563. 17 Vgl. Daltroff, juifs, S. 115. Vgl. Dondelinger/Muller, Teil III, S. 28. Vgl. auch ­Schoentgen, S. 319 f. Vgl. Löwenstein, Anfänge, S. 219. Vgl. Kapitel 3.3.1 zur Matzenbäckerei in ­Boulay.

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christlichen Nachbarn intensivierten sich zwar anscheinend im 19. Jahrhundert, aber Kontakte dieser Art gab es durchaus bereits während des Ancien Régime, z. B. in Steinbiederstroff, dem heutigen Pontpierre, oder Freudenburg im Gebiet der späteren Rheinprovinz.18 Während nach Ulrich Baumann in Baden nachbarschaftliche Hilfe unter den christlichen Einwohnern gegenseitige Hilfe bei bäuerlichen Tätigkeiten einschloss, war dies bei christlich-jüdischen Nachbarschaften nicht der Fall.19 Diese Feststellung dürfte für die erste Jahrhunderthälfte größtenteils auch für die hier betrachteten Regionen gelten, da sich zahlreiche jüdische Händler aufgrund ihres Berufes während der Woche selten im Dorf aufhielten. Allerdings darf nicht vergessen werden, dass auch jüdische Dorfbewohner – vor allem in der Rheinprovinz – nebenberuflich Ackerbau betrieben oder Gärten zur Selbstversorgung anlegten.20 Vor allem für die zweite Jahrhunderthälfte gibt es Hinweise darauf, dass sie bei der Verrichtung von Feldarbeit teilweise mit ihren christlichen Nachbarn zusammenarbeiteten bzw. diesen unter die Arme griffen.21 So halfen im lothringischen Niedervisse Anfang des 20. Jahrhunderts jüdische Kinder nach der Schule oder während der Ferien den Bauern z. B. beim Entladen der Heuwagen.22 Dem ähnelten die Verhältnisse im Hunsrück in den Siebzigerjahren, wo z. B. in Laufersweiler die Kinder – ohne Unterschied der Religionszugehörigkeit – bei der Heuernte und dem Kartoffel­ ausmachen helfen mussten.23 Dass die jüdischen Landbewohner nicht ausschließlich ihre christlichen Angestellten für sich im Bereich der Landwirtschaft arbeiten ließen, zeigt auch der Fall des 81-jährigen Simon Levy aus Illingen, der sich 1898 verletzte, als er der christlichen Magd das Heu abnahm und dabei ausrutschte, sodass er vom Heuboden in die Scheune hinabfiel.24 18 Vgl. Ulbrich, S. 267. Vgl. Heidt/Lennartz, S. 124. 19 Vgl. Baumann, Nachbarschaften, S. 55 – 61. Gegenseitige Hilfe im agrarischen Bereich – z. B. das Ausleihen von Pflügen – war im Frankreich des Ancien Régime ein wesentlicher Bestandteil des sozialen Lebens der Landgemeinden, der u. a. aufgrund des langsamen Wandels der Mentalitäten auch im 19. Jahrhundert in Lothringen fortbestand. Vgl. Roth, François: Lothringen als Teil der französischen Nation (1789 – 1870) in: Parisse, S. 881 – 412. Vgl. Soboul, Albert: Problèmes paysans de la révolution 1789 – 1848, Paris 1976, S. 188 – 199, 286 – 289. 20 Vgl. Kapitel 3.3.1. 21 Dies gilt auch für Nordbaden. Vgl. Kaplan, Konsolidierung, S. 329. 22 Vgl. Daltroff, juifs, S. 131. 23 Vgl. Wiehn, S. 18. 24 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 816, S. 73 f. Dies steht im Gegensatz zu den Ergebnissen von Baumann, Nachbarschaften, S. 55 – 57. Er weist allerdings selbst darauf hin, dass die von ihm erfassten Aussagen vorurteilsbeladen und Ergebnis einer u. a. durch den National­ sozialismus geprägten Stereotypbildung waren.

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Hinsichtlich der Tätigkeit erwachsener Frauen im Bereich der Landwirtschaft widersprechen sich die Aussagen der Zeitgenossen. Während nach Angaben des aus Laufersweiler stammenden Bernhard Mayer jüdische Frauen in den Siebziger­jahren durchaus Feld- und Gartenarbeit verübten,25 machte der evangelische Schul­inspektor Reuß 1863 die Aussage, dass in Gemünden die christlichen Frauen im Gegensatz zu ihren jüdischen Geschlechtsgenossinnen „außer zu häuslicher Arbeit auch zu schweren Feldarbeiten gezwungen“26 seien. In dieselbe Richtung weist die Äußerung einer aus Niedervisse stammenden Jüdin, dass die jüdischen Frauen in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts nicht außerhalb ihres Haushaltes arbeiteten, sondern ihren Kindern die Pflege des zumeist auf den Eigen­bedarf ausgerichteten Gartens überließen.27 Wenn auch viele jüdische Frauen schon aufgrund finanzieller Verhältnisse keineswegs ausschließlich im Haus arbeiteten, sondern beispielsweise auch im Handelsbetrieb ihrer Männer mitwirkten, so ist doch davon auszu­ gehen, dass sich ihr Tagesablauf von demjenigen ihrer christlichen Nachbarinnen unterschied. Letztere waren in der Regel in einem wesentlich stärkeren Maße als Erstere mit Feldarbeit beschäftigt, da ihre Ehemänner häufig Handwerker- oder Arbeiterbauern waren, die nur einen kleinen Teil ihrer Zeit ihren Grundstücken widmen konnten. Die jüdischen Ehefrauen widmeten sich schon wegen der religiösen Anforderung, einen koscheren Haushalt zu führen, stärker der Arbeit im Haus und mit der teilweise in der zweiten Jahrhunderthälfte auch auf dem Land einsetzenden Verbürgerlichung verstärkte sich dies noch. Aufgrund dieser Gegeben­ heiten war der Kontakt zwischen jüdischen und christlichen Frauen im Dorf abseits der direkten Nachbarschaft und gelegentlichen Treffen am Brunnen wohl eher schwach ausgeprägt.28 Das bei jüdischen Familien angestellte christliche Gesinde stellte den christlichen Bevölkerungsteil dar, der am besten mit den religiösen Gebräuchen der jüdischen Bewohner vertraut war. Sie ermöglichten ihren Arbeitgebern nicht nur die Einhaltung des Ruhegebots, sondern wurden des Öfteren auch Zeugen religiöser Gebräuche im häuslichen Rahmen.29 Im nahe Boulay gele­ genen Niedervisse lernte das katholische Hausmädchen Cathérine Kuntzler zu Beginn des 20. Jahrhunderts z. B. ein jüdisches Abendgebet dadurch, dass sie die drei Kinder der jüdischen Familie Cerf, die es vor dem Schlafen aufsagten,

25 26 27 28

Vgl. Wiehn, S. 21. LHAK Best. 441 Nr. 9811, S. 570. Vgl. Daltroff, juifs, S. 130 – 132. Vgl. Kapitel 3.3.1. Vgl. Altenkirch, S. 62. Vgl. Baumann, Nachbarschaften, S. 60, 75 – 78. Vgl. Richarz, Landjuden, S. 185 f. Vgl. Hyman, Jews of modern France,S. 61 f. 29 Vgl. Pies, S. 67. Vgl. Ulbrich, S. 265.

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regelmäßig zu Bett brachte.30 Ein großer Teil der jüdischen religiösen Zeremonien war auch den übrigen Dorfbewohnern bekannt, wie u. a. die Aussage des Gemündener Nachtwächters anlässlich des bereits erwähnten Feuers im Haus des Jacob Mayer zeigt: Er wusste zumindest oberflächlich um den religiösen Hintergrund des Warmhaltens des Sabattessens und der Verweigerung der Löschbeihilfe Bescheid.31 Dies hing vor allem mit der räumlichen Nähe im Dorf zusammen, die eine unbeobachtete Ausübung vor allem der außerhäus­ lichen Gebräuche kaum zuließ. Im 19. Jahrhundert nahm diese Nähe durch die immer zerstreutere Siedlung der jüdischen Bevölkerung in den verschiedenen Untersuchungsorten sogar noch zu.32 So konnte es z. B. nicht unbemerkt bleiben, dass Grosbliederstroffer Juden im Jahr 1867 an Rosh-Hashanah – dem jüdischen Neujahrstag – zur Saar gingen, an welcher das Dorf lag, um dort ihre Taschen zu leeren. Ob die christlichen Nachbarn allerdings wussten, dass diese Handlung dazu gedacht war, symbolisch Sünden abzuwerfen, ist zweifelhaft. Mit dem Wissen um bestimmte rituelle Verrichtungen der jüdischen Bevölkerung ging nämlich nicht notwendigerweise ein tieferes Verständnis für deren Bedeutung einher, wie u. a. Erzählungen christlicher Dienstmädchen und Nachbarn jüdischer Familien im Kreis Simmern belegen.33 Noch in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts empfanden die christlichen Einwohner Gemündens die Religionsriten ihrer jüdischen Mitbürger als „sehr befremdlich“34 und stuften die Duldung von ihrer Seite als besonderen Ausdruck von Toleranz ein. 5.1.2 Der Handel: zwischen Konflikt und Vertrauen

Ein Großteil der Kontakte zwischen Juden und Christen beschränkte sich in den Dörfern der betrachteten Regionen abseits der direkten Nachbarschaft bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein häufig auf den Handel und die damit verbundenen Sitten. Aus diesem Grund ergaben sich in diesem Bereich auch die meisten Auseinandersetzungen, zumal der von vielen Juden betriebene Viehhandel

30 Vgl. Daltroff, juifs, S. 107. Vgl. Guth, Klaus: Alltagsleben auf dem Land. Zum Zusammen­ leben von Juden und Christen am Ausgang der Weimarer Republik, in: Burmeister, S. 191. 31 Zum gleichen Ergebnis gelangt Breuer für das 17. und 18. Jahrhundert. Vgl. Breuer, Kultur, S. 77. Guth bestätigt die Einschätzung für die Zeit der Weimarer Republik. Vgl. Guth, Alltagsleben, S. 190 f. Zur Zubereitung des Sabbatessens vgl. Hyman, Familie, S. 52. 32 Vgl. Kapitel 3.2. 33 Vgl. Coypel, Edouard: Le judaïsme. Esquisse des mœurs juives, Mulhouse 1876, S. 195 – 202. Vgl. Daltroff, juifs, S. 112. Vgl. Baumann, Nachbarschaften, S. 24. Vgl. Jeggle, S. 112, 259. Vgl. Pies, S. 67. 34 Vgl. Boch, S. 17.

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ohnehin ein konfliktreiches Feld darstellte. Die Beziehungen zwischen jüdischen und christlichen Geschäftspartnern zeichneten sich durch ihren ambivalenten Charakter aus: In allen Regionen schienen sie in der Regel relativ reibungslos gewesen zu sein, aber vor allem in Krisensituationen offenbarten sie ihr Konfliktpotenzial. Bei hoher Verschuldung und zunehmender Verarmung bestand die Gefahr, dass die Beziehung in Aggression umschlug.35 In Grosbliederstroff kam es im Umfeld der Revolution von 1848 zu einer Schlägerei zwischen einigen jüdischen und christlichen Einwohnern, bei der eventuell ökonomische Spannungen eine Rolle spielten.36 In den anderen betrachteten Orten geschah zwar nichts Vergleichbares, aber die jüdischen Einwohner hielten es teilweise für möglich, dass Zorn über als ungerecht empfundene Geschäfte Gewalt gegen sie selbst zur Folge haben könnte. Nachdem 1849 ein jüdischer Viehhändler aus Boulay auf seinem Rückweg ins Dorf von zwei Männern zunächst mit Steinen beworfen und anschließend verprügelt wurde, strengte er einen Prozess an. In diesem fragte er die beiden Täter: „was hatte ich euch denn gethan? Habe ich Euch etwa mit meiner Waare betrogen?“37 Im Gegensatz zu diesem Fall, in dem der Gendarm von Boulay betonte, dass die antijüdische Gesinnung der beiden Angeklagten wohl das Motiv für die Tat dargestellt habe, war der Überfall im Jahr 1837, dessen Opfer der Gemündener Jude Moses Löb wurde und der dabei seiner Barschaft beraubt wurde, wohl eher nicht Ausdruck einer antijüdischen Haltung.38 In der Regel sahen die christlichen Landbewohner Gewalttätigkeiten nicht als Mittel zur Problemlösung an. Mit Ausnahme von Ettelbrück waren in allen Untersuchungsorten vor allem die Kleinbauern auf die jüdischen Handelsleute ange­wiesen, die ihnen zu günstigen Konditionen Vieh zur Verfügung stellten, Gebrauchsgegenstände verkauften und selbst landwirtschaftliche Produkte benötigten oder weitervertrieben. Wenn es zu Streit kam und eine gütliche Einigung nicht erfolgte, trugen die Händler und ihre Kunden ihre Konflikte zumeist vor Gericht aus.39 Eine Fortentwicklung im Vergleich zum Ancien Régime stellte dies eher nicht dar, da bereits zu dieser Zeit die Landbewohner die ökonomischen Beziehungen eher pragmatisch angingen und Streitigkeiten notfalls gerichtlich lösen ließen. So zogen schon in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Illinger Juden häufig vor Gericht, um Geld von ihren Schuldnern einzufordern. In Lothringen ließ ein Christ 1776 einen Prozess einleiten, um Abraham Levy und David Isaac aus Grosbliederstroff und zwei Christen der Fälschung von Schuldscheinen 35 36 37 38 39

Vgl. Richarz, emancipation, S. 99 f. Vgl. Kapitel 5.4. AZJ, Nr. 19, 1849, S. 259. Vgl. Bürgermeister von Gemünden, Februar /März 1837, in: LHAK Best. 655,12 Nr. 161. Vgl. Kronenberger, S. 17. Vgl. Roos, juifs, S. 106 f.

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sowie der Beeinflussung von Zeugen anzuklagen. Während Levy freigesprochen wurde, musste Isaac eine lebenslange Galeerenstrafe auf sich nehmen; einer der Christen erhielt lediglich eine Verwarnung, während der andere verbannt wurde.40 Die Umstände, unter denen jüdische Handelsleute vor die Gerichte zogen bzw. von ihren christlichen Geschäftspartnern vor dieselben zitiert wurden, waren in der Rheinprovinz und Lothringen grundsätzlich die gleichen. Dass die in der Folge aufgeführten Beispiele vor allem die erste Jahrhunderthälfte beleuchten, hängt mit der lückenhaften Überlieferung der Gerichtsakten für die untersuchten Regionen zusammen.41 Jüdische Handelsleute strengten in der Regel Prozesse an, um Geld zu erhalten, welches ihnen christliche Kunden schuldeten. Beispielweise klagte 1817 der Gemündener Jude Jacob Marx gegen den Katholiken Christian Kühnreich, der ihm nach einem halben Jahr immer noch nicht seine Krämerwaren gezahlt hatte.42 In ähnlicher Weise rief 1819 der jüdische Händler Schwab aus Hellimer in Lothringen die Justiz an, um eine Forderung gegenüber dem Tagelöhner Jean Ballevre aus Bistroff geltend zu machen.43 Die christlichen Schuldner bestritten in der Regel ihre Schulden nicht, erbaten aber häufig einen Zahlungsaufschub. 1817 stimmte das Friedensgericht von Kirchberg einer solchen Bitte vonseiten des Gemündeners Paul König zu und gestand ihm einen Ausstand bis zur Ernte zu, allerdings gegen zusätzliche Zinsen.44 Ähnlich erging es dem im lothringischen Requerange lebenden Bauer Claude Gerber, der 1820 von Jacob Levy aus Hellimer wegen Schulden vor das Friedensgericht zitiert wurde. Levy bot an, gegen die Entrichtung einer Gebühr bis in den Herbst auf die Zahlung zu warten.45 1818 zahlte der Rouhlinger Maurer Louis Schweitzer demselben jüdischen Händler die Zinsen für die 108 Francs, die er sich von Levy geliehen hatte, um nicht ein weiteres Mal vor Gericht erscheinen zu müssen.46 Den jüdischen Geschäftsleuten war bewusst, dass ihre Kunden mit finanziellen Engpässen zu kämpfen hatten, aber Zahlungsaufschub konnten sie nicht immer gewähren, da sie das Geld selbst benötigten. Dementsprechend zeigte sich der Gemündener Joseph Strauss zwar geneigt, dem

40 Vgl. Kirsch, Juden, S. 56. Vgl. Ulbrich, S. 273 – 285. Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 243. Vgl. Mendel, S.  12 – 17. 41 Die Unterlagen der Friedensgerichte, welche die ergiebigste Quellenart für Gerichts­prozesse zwischen Dorfbewohnern darstellen, sind leider größtenteils während des Zweiten Weltkrieges vernichtet worden. 42 Prozess Jacob Marx gegen Christian Kühnreich, 31.1.1817, in: LHAK Best. 311,3 Nr. 7. 43 Vgl. Jean Ballevre au consistoire israélite de Metz, 30.5.1820, in: ADM 17J46. 44 Vgl. Prozess Joseph Strauss gegen Paul König, 28.3.1817, in: LHAK Best. 311,3 Nr. 7. 45 Vgl. Claude Gerber au consistoire israélite de Metz, 1821, in: ADM 17J46. Vgl. allgemein Roos, relations entre les juifs, S. 123. 46 Vgl. Louis Schweitzer au consistoire israélite de Metz, 1821, in: ADM 17J46.

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Katholiken Franz Kuhn einen Ausstand zu gewähren, befristete diesen aber auf drei Monate, da „er sein Geld zum Handel nöthig brauche“.47 Die Konfliktlinien verliefen nicht immer zwischen jüdischen Handelsleuten und christlichen Kunden, auch wenn solche Fälle wohl die Mehrheit darstellten. Es zogen durchaus Juden gegen Juden vor Gericht, wenn sie Probleme hatten, Kredite von Glaubensgenossen zurückzuerhalten oder wenn sie gemeinsam Handel mit Dritten betrieben hatten, aber einer der jüdischen Geschäftsleute seinem Partner nicht seinen Anteil auszahlte. So klagte z. B. 1817 Joseph Benedict aus Kirchberg gegen Jacob Mayer aus Gemünden, weil Letzterer ihm noch Geld schuldete.48 In Lothringen zog 1820 Uri Coblentz aus Lixheim vor Gericht, weil Joseph Jacob ihm vier Jahre nach dem Kauf einer Kuh immer noch nicht die zweite von drei Raten bezahlt hatte.49 In Luxemburg befreite sich 1852 das Geschäftshaus Cahen und Bonne von Hypotheken bei seinen christlichen Gläubigern, indem es beim Gericht von Diekirch eigene Forderungen an Dritte an diese weitergab. Vor dasselbe Gericht wurde Catherine Hips 1864 zitiert – auf Antrag des jüdischen Händlers Hippolyte Cahen, der die Forderungen an sie von dem Kaufmann Pierre Siebenaller aus Harlange übernommen hatte.50 Es zogen nicht nur jüdische Gläubiger vor Gericht, um ihre Schulden einzuklagen, sondern es gab auch christliche Kreditgeber, die Probleme hatten, die an christliche und jüdische Landbewohner verliehenen Geldbeträge zurückzu­ bekommen. Im Jahr 1836 wurde z. B. ein jüdischer Handelsmann aus Phalsbourg angeklagt, Geld unterschlagen zu haben. Die meisten (christlichen) Gläubiger wollten ihn allerdings nur ungern belasten, u. a., da er vor seinem Bankrott die Hälfte seiner Schulden beglichen hatte. Den christlichen Gläubigern ging es in der Regel eher darum, ihre Schulden zurückzuerhalten, als jüdische Gläu­ biger bestraft zu sehen.51 Zumeist war vorübergehende Geldarmut der jüdischen Händler die Ursache ihrer Schulden bei christlichen Gläubigern: Ihre eigenen Schuldner zahlten Kredite oft nicht pünktlich zurück, und zudem investierten sie zeitweise ihr gesamtes Guthaben in Handelsobjekte. So berichtete der Präfekt des Départements Meurthe schon 1807, dass jüdischen Geschäftsleuten zumeist nur ein sehr kleiner Teil ihres Vermögens zur Verfügung stände. Ein weiterer 47 Vgl. Prozess Joseph Strauss gegen Franz Kuhn junior, 22.12.1817, in: LHAK Best. 311,3 Nr. 7. Vgl. für Lothringen Roos, juifs, S. 107 f. und Roos, relations entre les juifs, S. 134. 48 Vgl. Prozess Joseph Benedict gegen Jacob Mayer, 19.12.1817, in: LHAK Best. 311,3 Nr. 7. 49 Vgl. Roos, relations entre les juifs, S. 114. Vgl. Mendel, S. 14. Vgl. Roos, juifs, S. 353. Vgl. Meyer, Pierre-André: Michel Goudchaux (Nancy, 1797–Paris, 1862). Banquier et ministre, in: Decomps/Moinet, S. 74. 50 Vgl. Der Wächter an der Sauer, 7.2.1852, S. 4, 24.11.1864, S. 4. 51 Vgl. Roos, relations entre les juifs, S. 265, 354.

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Grund für die Schulden jüdischer Dorfbewohner war, dass sie wie ihre christlichen Mitbürger gelegentlich Waren auf Kredit kauften und sich genauso wie die Letzteren nicht immer an Zahlungstermine hielten. So klagte der Gemündener Protestant Peter Scherer gegen den Viehhändler Joseph Marx, da dieser ihm noch Geld für den Kauf von Heu schuldig war, und der im selben Dorf lebende katholische Metzger Franz Gräff ließ den Juden Philipp Brück vorladen, da er ihm noch einen Gulden für verkauftes Fleisch schuldete.52 Von bäuerlicher Seite wurden Prozesse oft eingeleitet, wenn sich erworbenes Vieh später als krank herausstellte oder es bestimmte Qualitätsmerkmale, z. B. Alter oder Trächtigkeit, die der jüdische Händler beim Kauf versprochen hatte, nicht erfüllte.53 Klagen dieser Art wurden in Illingen vom Ancien Régime bis weit ins 19. Jahrhundert hinein immer wieder laut: Beispielsweise wurde 1764 Löw Caan vor Gericht zitiert, weil er einen kranken Ochsen verkauft haben soll, und im Jahr 1842 erhob ein Einwohner von Hüttigweiler denselben Vorwurf gegen Lazarus Levy.54 Auch in Gemünden waren derartige Anschuldigungen nicht ungewöhnlich. 1817 wurde z. B. der Gemündener Vieh- und Pferde­ händler Joseph Strauss von Franz Mühlenberger aus Kirchberg angeklagt, ihm eine kranke Kuh verkauft zu haben, die später an einer Krankheit gestorben sei. Das Gericht entschied allerdings, dass der Viehhändler nicht haftbar sei, da der Verkäufer nur 33 Tage für den beanstandeten Fehler zu haften habe, die Kuh aber erst nach 55 Tagen krepiert sei. Ein anderes Mal klagte Nicolas Schein aus Sötern gegen Strauss, da jener ihm ein Pferd verkauft habe, das nicht ziehen könne, also untauglich für den Gebrauch sei.55 In Lothringen gestaltete sich die Lage ähnlich. So beschwerte sich der Tagelöhner Jean Ballevre aus Bistroff im Jahr 1820 u. a. darüber, dass ein von dem jüdischen Handelsmann Schwab aus Hellimer erworbenes Pferd nur kurze Zeit nach dem Kauf gestorben sei.56 Ähnlich lautete der 1818 gegen den Pferdehändler Jacob in Nancy erhobene Vorwurf: Er hatte angeblich ein unter der Rotzkrankheit leidendes Pferd verkauft.57

52 Vgl. Préfet de Nancy, 14.6.1806, in: ANF Nr. 11011. Vgl. Prozess Peter Scherer gegen Joseph Marx, 27.1.1815, in: LHAK Best. 311,3 Nr. 6. Vgl. Prozess Franz Graeff gegen ­Philipp Brück, 5.12.1817, in: LHAK Best. 311,3 Nr. 7. 53 Vgl. Kronenberger, S. 17. 54 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1149, S. 96. Vgl. Kirsch, Juden, S. 52. 55 Vgl. Prozess Franz Mühlenberger gegen Joseph Strauss, 11.4.1817, Prozess Nicolas Schein gegen Joseph Strauss, 10.4.1815, in: LHAK Best. 311,3 Nr. 6. 56 Vgl. Jean Ballevre au consistoire israélite de Metz, 30.5.1820, in: ADM 17J46. 57 Vgl. procès contre Jacob Jacob, Tribunal de 1ère instance de Nancy, 27.3.1818, in: ADMM 3U III 1423.

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Es sei an dieser Stelle noch darauf eingegangen, dass Viehseuchen aufgrund der häufigen Tätigkeit der jüdischen Einwohner im Viehhandel eine Gefährdung deren Einkommens darstellten, insbesondere wenn der Handel mit betroffenen Orten völlig verboten wurde.58 Die Viehhändler waren in solchen Fällen stets der Versuchung ausgesetzt, die Vorschriften zu umgehen, um ihren Lebensunterhalt zu sichern. Als im Oktober 1838 die Maul- und Klauenseuche in den lothringischen Orten Grosbliederstroff, Spichern und Karlingen ausbrach, unterblieb der Verkehr von Rindvieh mit benachbarten Orten allem Anschein nach nicht, weswegen die Krankheit den Sprung in das benachbarte preußische Dorf Bubingen schaffte. Die im Einverständnis mit den französischen Behörden getroffenen Vorsichtsmaß­nahmen erwiesen sich als wenig wirksam, denn auch in anderen Kommunen des Kreises Saarbrücken brach die Seuche aus – knapp drei Wochen nach den ersten Fällen in Grosbliederstroff auch in Illingen. Zwar wurde den jüdischen Handelsleuten der Abschluss von Geschäften nicht vollständig verboten, aber sie waren verpflichtet, die Herkunft der Tiere mit Ursprungsscheinen zu belegen.59 Eine Kontrolle ihrer Ware wurde im Jahr 1870 auch den Metzgern von Boulay durch Bürgermeister Le Secq de Crépy auferlegt, da zu dieser Zeit eine Rinderseuche im Ort selbst und in der Umgebung grassierte. Damit das Fleisch infizierter Tiere nicht in den Handel gelangte, wurde verlangt, dass jedes Stück Vieh vor seiner Schlachtung vom Vete­ rinärmediziner des Kantons zu begutachten sei und dieser ggf. ein Zertifikat ausstelle, dass das Fleisch von einem gesunden Tier stamme. Zwar waren vor allem jüdische Gewerbetreibende von der Maßnahme betroffen, da sie Rindermetzger waren, aber auch ihre christlichen Kollegen wurden kontrolliert, denn der Bürgermeister ließ den Veterinärmediziner alle Fleischereien überprüfen.60 Dass manche Beamte ein gewisses Misstrauen speziell gegenüber den jüdischen Metzgern und Fleischhändlern hegten, zeigt ein Bericht des Boulayer Bürgermeisters Werner von 1884, der bemängelte, dass es nicht selten geschehe, dass Fleisch von Tieren ohne ärztliches Attest in den Handel komme. U. a. kritisierte er, dass Tiere im örtlichen Schlachthaus getötet würden, ohne dass der zuständige Auf­ seher davon erfahre, und danach das Fleisch nach Vantoux – „bekannter Bestimmungsort verdächtigen Fleisches“61 – verkauft werde. Dass der Beamte das Dorf in der Nähe von Metz so bezeichnete, belegt ein gewisses Misstrauen gegenüber den jüdischen Einwohnern, denn der dortige Fleischhandel war fest in jüdischer 58 1839 wurde in Illingen z. B. die Zulassung von Vieh aus Bliesen im Kreis St. Wendel völlig verboten. Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1149, S. 57. 59 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1149, S. 38 – 48, 54. 60 Vgl. Maire de Boulay, 21.9.1870, 4.5.1907, in: ADM ED100 5I5. 61 Bericht des Bürgermeisters von Boulay über die Schlächterei, 1.11.1883 – 1.4.1884, in: ADM ED100 5I5.

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Hand.62 Auch in der Rheinprovinz hielten sich die jüdischen Handelsleute nicht immer genau an die von den Behörden gestellten Bedingungen des Fleisch- bzw. Viehhandels. So führte 1841 z. B. Lazarus Levi ein Stück Vieh nach Illingen ein, ohne einen Gesundheitsschein vorzuzeigen, und verkaufte es später an Jacob Ziegler in Uchtelfangen. Zwar lieferte Levi den Gesundheitsschein nach, aber eine Strafe war sowohl ihm als auch dem Käufer sicher.63 Wie sehr manche preußischen Beamten den jüdischen Handelsleuten misstrauten, zeigt das Verhalten des Illinger Bürgermeisters Fourmann im Jahr 1846. Er bemängelte, dass die Händler bei dem häufigen Erwerb von Vieh im Köllertal nur geschriebene Ursprungsscheine von den dortigen Ortsbehörden erhielten, häufig ohne ein Siegel der Beigeordneten, was bei ihm Zweifel über deren Echtheit habe aufkommen lassen. Als er sämtliche Viehhändler versammelte, erklärten diese, dass sie keine anderen Scheine beibringen könnten, weil die betroffenen Ortsbehörden weder gedruckte Formulare noch Dienstsiegel besäßen. Der Bürgermeister von Niedersalbach – eines der fraglichen Dörfer – erklärte im weiteren Lauf der Diskussion, dass die Schöffen seines Ortes Gesundheitsscheine ausstellen dürften und dass diese nicht alle mit Siegeln versehen seien, was dem Illinger Bürgermeister doch bekannt sei. Dessen Misstrauen gegenüber den Händlern sah er als übertrieben an. Wenn Fourmann wolle, könne er seine Handelsleute anweisen, sich nur noch Atteste von Spezialabgeordneten ausstellen zu lassen – dazu zwingen könne er sie allerdings nicht. Dieser Tatsache waren sich auch die übergeordneten Behörden bewusst, welche Fourmann mitteilten, ihm bliebe nichts übrig, als die von den Schöffen ausgestellten Scheine anzunehmen.64 Dass der Weg vor die Gerichte ein gängiger Konfliktlösemechanismus im 19. Jahrhundert blieb, zeigen u. a. die in den Vierzigerjahren angefertigten Berichte der Behörden der Rheinprovinz und Lothringens. So teilte der Friedensrichter von Kirchberg dem Oberprokurator zu Koblenz 1842 mit, dass die Juden „fast an einem Drittel der beim dortigen Friedensgericht vorkommenden Rechtsstreitig­ keiten beteiligt seien“.65 Die Trierer Bezirksregierung konstatierte zur gleichen Zeit, dass die Verträge zwischen Händlern und Kunden oft vieldeutig seien und zudem die Verbindung verschiedenartiger Geschäfte dafür sorge, dass es zu vielen Pro­ zessen käme.66 Das Letztere galt auch für Lothringen, wo jüdische Händler Kredite teilweise nur in Verbindung mit dem Kauf bestimmter Waren gewährten.67 Der Unterpräfekt von Château-Salins teilte die Auffassung der Trierer Behörde und 62 Vgl. Roos, relations entre les juifs, S. 143 f. Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 310 f. 63 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1149, S. 69 f. 64 Vgl. ebd., S. 117 – 119. 65 Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz, Bd. 2, S. 113. 66 Vgl. Jehle, Juden, Bd. 2, S. 531. 67 Vgl. Roos, juifs, S. 109.

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betonte 1843, dass es vor Gericht wegen der Komplexität der Verträge oft schwierig sei festzustellen, welche Verpflichtungen die Schuldner gegenüber ihren jüdischen Kreditgebern ­hätten. Sein Kollege in Sarrebourg gab an, dass die Juden noch in demselben Ausmaß vor Gericht erschienen wie in der Vergangenheit.68 Da die Juden in Luxemburg zur Mitte des Jahrhunderts nur eine kleine (zum Großteil städtische) Minderheit darstellten und die dortigen Behörden keine derartigen Berichte erstellten, lässt sich nur vermuten, dass die Verhältnisse im Großherzogtum ähnlich wie in den Nachbarregionen waren. Für den Beginn des Untersuchungszeitraums belegen Gerichtsakten diese Annahme: Gelegentlich zogen jüdische und christliche Einwohner gegeneinander vor Gericht, aber es gab keine Klagen über unrechtmäßige Geschäftspraktiken jüdischer Handelsleute.69 Dass sich die Praxis im Verlauf des 19. Jahrhunderts nicht veränderte, legt die Lage zu Beginn des 20. Jahrhunderts nahe. So zitierten 1904 die Witwe und die Söhne des Grevenmacher Händlers Benjamin Wolf die in Niederonvan ansässige Anne Klein wegen noch nicht beglichener Schulden für gelieferte Waren vor das Friedensgericht.70 Eine Erwähnung verdient die Tatsache, dass am Friedensgericht von Diekirch, in dessen Bereich Ettelbrück lag, vor der belgischen Teilung ein jüdischer Richter tätig war. Es handelte sich um Cerf Godchaux, einen Onkel des später nach Ettelbrück ziehenden Jules Godchaux. Er begann seine juristische Karriere als Anwalt in Arlon, wo er später zum Ergänzungsrichter ernannt wurde. Die 1837 in Diekirch angetretene Stellung bedeutete eine Beförderung, allerdings gab er sie 1839 wieder auf, um in den neu entstandenen belgischen Staat zurückzuziehen, wo er bis zum stellvertretenden Staatsprokurator von Mons aufstieg.71 In der Rheinprovinz blieben jüdischen Einwohnern derartige Stellungen verwehrt, während in Lothringen schon 1819 ein Jude als Gerichtsdiener im Arrondissement Thionville tätig war.72 Es wurde bereits erwähnt, dass christliche Kunden ihre Schulden in der Regel nicht abstritten, aber hin und wieder versuchten sie, sich selbst als Opfer der jüdischen Händler darzustellen, um ihre Schulden gar nicht oder zumindest nur teilweise bezahlen zu müssen. Als der Gemündener Jude Samuel Strauss von dem Protes­ tanten Peter Seibel 1817 seine aus Viehhändeln resultierenden Schulden einforderte, verlangte Letzterer, dass der Händler beweisen solle, dass die Geschäfte ohne List 68 Vgl. Sous-préfet de Château-Salins au préfet de Nancy, 18.7.1843, Sous-préfet de Saarebourg au Préfet de Nancy, 29.7.1843, in: ADMM V300. 69 Vgl. Goedert, S. 349. 70 Vgl. Luxemburger Wort, 9.11.1904, S. 4. 71 Vgl. AZJ, Nr. 11, 1844, S. 259. Vgl. Schreiber, Jean-Philippe: Dictionnaire biographique des Juifs de Belgique. Figures du judaisme Belgique XIXe – XXe siècles, Brüssel 2002, S. 126. 72 Vgl. Sous-préfet de Thionville au préfet de Metz, 20.10.1819, in: ADM V156.

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und Betrug zustande gekommen seien. Er habe dem Kläger bereits „wucherliche Zinsen“ bezahlt und wolle deswegen nach dem Dekret von 1808 behandelt werden. Er verlangte somit eine Annullierung seiner Schulden, die ihm das Gericht aber nicht gewährte, da es sich an dem vom Schuldner und vom Gläubiger unterzeichneten Schuldschein orientierte, an welchem es nichts auszusetzen hatte.73 In Lothringen versuchten ebenfalls manche der christlichen Schuldner, sich über das Dekret von 1808 von ihren Schulden zu befreien, indem sie den jüdischen Geschäftspartnern Betrug oder „Wucher“ vorwarfen. Gemessen an der Vielzahl der abgeschlossenen Geschäfte war die Zahl allerdings eher gering. Beispielsweise kam es in Thionville zu elf derartigen Prozessen in erster Instanz, von denen sechs zu einer Annullierung der Schulden führten. Aus Nancy berichtete der dortige Staatsanwalt 1818 sogar, dass nicht ein Prozess dieser Art vorgekommen sei.74 Dass auch die christlichen Bewohner der Rheinprovinz sich in Prozessen gegen jüdische Händler eher selten auf die Bestimmungen des „schändlichen Dekrets“ beriefen und dies ohnehin nur selten zu einem Erfolg führte, legt eine Aussage der Trierer Regierung vom Anfang der Vierzigerjahre nahe, denn nach ihr war die Zahl der „Fälle, in denen das Dekret vor Gericht angewendet wird […] verhältnismäßig spärlich“.75 Es ist allerdings festzustellen, dass auch nach dem Auslaufen des napoleonischen Dekrets im Jahr 1847 christliche Einwohner hin und wieder versuchten, jüdische Handelsleute als unlauter zu denunzieren, indem sie ihnen unterstellten, dass sie Handelsverträge verändert oder solche sogar selbst erfunden hätten. Einem derartigen Vorwurf gegen den Illinger Handelsmann Alexander David ging z. B. die Staatsanwaltschaft von Saarbrücken 1903 nach.76 In Lothringen führte ein Prozess dieser Art 1828 zu einer Verurteilung des jüdischen Händlers ­Zacharie Levy aus Fénétrange: Das Schwurgericht von Nancy befand ihn für schuldig, wissent­lich Gebrauch von gefälschten Wechseln gemacht zu haben, erließ ihm aber wegen eines vom Konsistorium unterstützten Gnadengesuchs – in dem er erneut seine Unschuld beteuerte – letztlich eine Strafe.77 Es ist zu betonen, dass jüdischen Händlern in Lothringen nur selten Betrug nachgewiesen wurde, wie

73 Prozess Samuel Strauss gegen Peter Seibel, 14. 2.1817, 21.2.1817, in: LHAK Best. 311,3 Nr. 7. 74 Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 110. Vgl. Roos, relations entre les juifs, S. 94. 75 Jehle, Juden, Bd. 2, S. 532. 76 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 875, S. 612. 77 Vgl. Roos, relations entre les juifs, S. 260 f. Dass jüdische Handelsleute beschuldigt ­wurden, unrechtmäßig Gebrauch von Schuldscheinen zu machen bzw. diese zu fälschen, war eine Erscheinung, die bereits während des Ancien Régime in Lothringen verbreitet war. Beispielsweise behauptete 1775 u. a. ein Gerber aus Kédange, dass jüdische Geschäftsleute sich weigerten, Schuldscheine herauszugeben, obwohl sie von ihren christlichen Kunden die Rückzahlungen erhalten hatten. Er wurde allerdings wegen Falschaussage verurteilt,

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lothringische Beamte 1843 bezeugten. So berichtete z. B. der Präfekt des Départements Moselle, dass „crimes commis par les Israélites sont fort rares“.78 Ein Vorwurf, dem jüdische Geschäftsleute das gesamte 19. Jahrhundert von christlicher Seite immer wieder ausgesetzt waren, bestand im sogenannten „Wucher“. Dieser Begriff diente häufig als Synonym für als zu hoch empfundene Zinssätze. Er konnte aber auch der allgemeinen Missbilligung jeder Art von jüdischem (und manchmal auch von christlichem) Handel dienen.79 Das Stereotyp vom jüdischen Wucherer stellte keine Neuentwicklung dar, denn bereits während des Ancien Régime war es in den betrachteten Regionen verbreitet. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts äußerten z. B. christliche Bewohner der Boulayer Gegend wieder­ holt derartige Klagen gegen die jüdischen Händler. So behaupteten 47 Bauern im Jahr 1756, dass einige der in Boulay ansässigen jüdischen Familien im Rahmen des Getreide-, Vieh- und Pferdehandels „Wucher“ trieben. Vor Gericht stellte sich jedoch heraus, dass die christlichen Landbewohner mit dem Vorwurf sowie falschen Zeugenaussagen einer Rückzahlung ihrer Schulden entgehen wollten.80 Im Verlauf der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist für den lothringischen Fall eine gewisse Abschwächung des Stereotyps des Wuchers unter den Land- und Stadtbewohnern festzustellen. 1806 machte der Unterpräfekt des Arrondissements Lunéville den jüdischen Händlern noch den Vorwurf, dass sie häufig Landbewohner in den Ruin trieben.81 Einer seiner Nachfolger konnte 1843 dagegen berichten, dass die christliche Bevölkerung zwar noch Vorurteile gegenüber den jüdischen Einwohnern hege, sie aber in einem beträchtlichen Maße abgenommen hätten: „aujourd’hui les Israélites jouissent près de la population chrétienne de plus de confiance qu’autrefois. Ils les doivent surtout à la bonne foi qu’ils apportent généralement dans leurs trans­ actions.“82 Zudem zitierte der Beamte den Friedensrichter von Baccarat, der betonte, dass sie keine Verbrechen verübten und „qu’aucun d’eux enfin ne se livre à l’usure“.83 Eine ähnliche Meinung vertrat schon 1823 der Metzer Präfekt Tocqueville, der schrieb:

da er versucht habe „à nuire à l’état et à l’honneur de la nation juive“. Vgl. Cahen, juifs lorrains, S. 42. 78 Préfet de Metz, 21.7.1843, in: ADM V149. 79 Vgl. Rohrbacher, Stefan/Schmidt, Michael: Judenbilder. Kulturgeschichte antijüdischer Mythen und antisemitischer Vorurteile, Hamburg 1991, S. 95. Vgl. Roos, relations entre les juifs, S. 103 – 123. 80 Vgl. Cahen, juifs lorrains, S. 42. 81 Vgl. Sous-préfet de Lunéville au préfet de Nancy, 22.5.1806, in: ADMM 298. Vgl. Roos, relations entre les juifs, S. 116. 82 Sous-préfet de Lunéville au préfet de Nancy, in: ADMM V300. 83 Ebd.

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„Les juifs de la Moselle ont cessé de se livrer à l’usure“.84 Einer seiner Nachfolger war 1843 zwar noch geneigt zu glauben, dass die jüdischen Einwohner gewinnsüchtig seien, und nahm an, dass einige noch „Wucher“ trieben, aber er stellte auch fest, dass sie sich mittlerweile zumeist mit kleinen Gewinnen zufriedengäben und insgesamt einen vertrauenerweckenden Eindruck machten.85 Um die Jahrhundertmitte zeichneten die lothringischen Beamten zumeist ein positives Bild von den jüdischen Einwohnern, allerdings taten dies nicht alle. So gab der Unterpräfekt von Sarrebourg 1843 zwar zu, dass seit dem Ende der Zwanziger­jahre keine Fälle von jüdischem „Wucher“ mehr aktenkundig geworden seien, aber er argwöhnte, dass die Juden nun lediglich vorsichtiger vorgingen. Seine Einschätzung stand in einem gewissen Widerspruch zu der Bevölkerung des Arrondissements, die sich den jüdischen Einwohnern gegenüber wohlgesonnener als in der Vergangenheit zeigte.86 Dass die Einstellung der Beamten eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der Wahrnehmung und Beurteilung der jüdischen Einwohner spielte, zeigen die im Gegensatz zu den Mitteilungen der anderen Beamten von 1843 fast durchweg negativ gehaltenen Berichte der Unterpräfekten von Toul und Château-Salins: Beide waren wie ihr Kollege in Sarrebourg der Überzeugung, dass jüdische Handelsleute „Wucher“ trieben, er ihnen vor Gericht nur nie nachgewiesen werden könne.87 Die Berichte, welche die Bezirksregierungen von Koblenz und Trier fast zur selben Zeit anfertigten, ähnelten den in Lothringen nur eine Minderheit darstellenden negativen Einschätzungen. Noch weniger als im französischen Fall stellten die Texte eine objektive Schilderung der Stellung und des Verhaltens der jüdischen Einwohner dar, weil sie von den Beamten in der Absicht verfasst wurden, Vorschläge für die Neuregelung der gesetzlichen Stellung der Juden zu begründen.88 Die Trierer Regierung beklagte zusammen mit zahlreichen Landräten, dass es viele Juden gäbe, die „Wucher und Schacher treiben, und den leichtgläubigen Landmann in seinem

84 Roos, relations entre les juifs, S. 117. 85 Vgl. Préfet de Metz, 21.7.1843, in: ADM V149. 86 Vgl. Sous-préfet de Sarrebourg au Préfet de Nancy, in: ADMM V300. Vgl. Roos, relations entre les juifs, S. 116 f. Der Nachfolger des Sarrebourger Unterpräfekten betonte 1853, dass „Wucher“ keine speziell jüdische Beschäftigung sei, sondern vielmehr häufig auch von Christen betrieben werde. Vgl. Mendel, S. 31. 87 Vgl. Sous-préfet de Toul au préfet de Nancy, 15.7.1843, sous-préfet de Château-Salins au préfet de Nancy, 29.7.1843, in: ADMM V300. Vgl. Neher-Bernheim, documents, Bd. 2, S. 353 f. Im Vergleich zu den Berichten von 1843 waren die Darstellungen von 1806 negativer gehalten, aber immer noch positiver als die zeitgleich im Elsass verfassten Schil­derungen. Vgl. Neher-Bernheim, Bd. 1, S. 316 – 321. 88 Vgl. Jehle, Enquêten, S. LXXIf.

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Nahrungszustande gefährden“.89 Als Beweis für die Wahrheit dieser Behauptung konnte sie allerdings nur eine (!) gegen einen Juden einge­leitete Untersuchung anführen und musste zudem zugeben, dass es hinsichtlich der Meinung der Christen über die Juden eine Entwicklung gegeben habe und „im allgemeinen von den Vorurtheilsfreieren ein günstiges Urtheil über die jüdische Einwohnerschaft“90 gefällt werde. Der Anfang der Vierzigerjahre amtierende Bürgermeister von Illingen zählte nicht zu dieser Gruppe, denn er betonte, dass der Handel beinahe ganz in Händen der jüdischen Geschäftsleute sei und sie diesen zum Nachteil ihrer christlichen Mitbürger ausübten.91 Der Gemündener Bürgermeister Dicht teilte die Einstellung seines Illinger Kollegen: Er warf den jüdischen Händlern vor, dass sie sich immer zum Nachteil der christlichen Einwohner bereicherten. Sie trieben Wucher und unerlaubten Handel, aber sie seien so listig, dass ihnen – wenn sie auch noch so betrügerisch seien – niemand etwas nachweisen könne.92 Die Koblenzer Regierung äußerte sich nicht explizit zum „Wucher“, aber sie kritisierte den „Schachergeist“, der bei den jüdischen Einwohnern anzutreffen sei und der ihre „Scheu vor Händearbeit“ bedinge und die „Quelle aller ihrer Mängel“93 sei. In diesem Fall bezog sich der Begriff „Schacher“ nicht auf den jüdischen Handel mit Kleinwaren von oft minderer Qualität, sondern er bezeichnete eine gewinnsüchtige Geisteshaltung.94 Angesichts der negativen Berichte aus der Rheinprovinz wäre davon auszu­ gehen, dass viele christliche Kunden Prozesse auf der Grundlage des „décret infâme“ gegen jüdische Handelsleute einleiteten. In der Realität war dies wie bereits erwähnt aber nicht der Fall. Im Jahr 1842 räumte der Bürgermeister von Illingen ein, dass in den letzten Jahren die jüdischen Einwohner seines Verwaltungsgebiets keinerlei Verbrechen – also auch keinen „Wucher“ im Sinne des „décret infâme“ – begangen hätten.95 Dass diese Feststellung hinsichtlich des „Wuchers“ im Fall von ­Illingen wohl für die gesamte Zeit bis zur Abschaffung des napoleonischen Dekrets gemacht werden kann, zeigen die Gutachten des

89 Jehle, Juden, Bd. 2, S. 525. Die Regierung war der Meinung, dass die „entsittlichteren Juden für ihr Wucher und Ausbeutesystem auf dem Lande ein freieres, ungehemmteres Gebiet finden, als in den Städten“. Ebd., S. 529. 90 Ebd., S. 525. 91 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1686, S. 29 f. 92 Vgl. Bericht des Bürgermeisters von Gemünden, Februar/März 1829, in: LHAK Best. 655,12 Nr. 161. 93 Jehle, Juden, Bd. 2, S. 497. 94 Vgl. Rohrbacher/Schmidt, S. 90 – 94. Vgl. Toury, Jacob: Der Eintritt der Juden ins deutsche Bürgertum. Eine Dokumentation (Veröffentlichungen des Diaspora Research Institute, Bd. 2), Tel Aviv 1972, S. 220 – 222. 95 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1686, S. 29 f.

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Schöffenrats über das Betragen der jüdischen Geschäftsleute. Die zu dieser Zeit noch ausschließlich christlichen Gemeindevertreter hatten alljährlich Angaben darüber zu machen, ob die Juden, welche ein Handelspatent erwerben wollten, Wucher oder unerlaubten Handel trieben. Über einen Zeitraum von mehr als 20 Jahren kam das Gremium stets zu denselben Ergebnissen, wenn es Gutachten über die Geschäftspraxis der jüdischen Händler erstellte. So betonte es z. B. 1827, dass „gegen das Betragen derselben nichts einzuwenden ist, und daß man bis jetzt noch nichts Ungünstiges gegen ihre Moralität vernommen habe“. 96 1830 stellte der Schöffenrat fest, dass „dieselben sich keines Wuchers verdächtig gemacht haben“,97 und 1840 bestätigten die Gemeindevertreter, dass gegen das Verhalten der Antragsteller „keine Klage bekannt geworden [sei]“.98 Zwischen 1825 und 1847 gab es keine einzige Ablehnung aufgrund von „unmora­lischem“ Geschäftsverhalten. Die Beratungen des Schöffenrats waren anscheinend nicht besonders intensiv oder konfliktgeladen. Vielmehr wurde jedes Jahr formelhaft bestätigt, dass die jüdischen Händler sich nichts hätten zuschulden kommen ­lassen.99 Nur in einigen Fällen wurden den Antragstellern bereits bewilligte Patente nicht ausgehändigt, nämlich wenn die betreffenden Personen es versäumt hatten, einen normalen Gewerbeschein zu beantragen.100 Dass Illingen keine Ausnahme, sondern vielmehr die Regel darstellte, belegt eine Aussage der Trierer Regierung von 1842: Zwar waren Klagen gegen jüdische „Übervortheilungen“ in ihrem Verwaltungsbezirk weit verbreitet, aber lediglich in zwei Fällen hatten Schöffenräte die Ausstellung eines positiven Gutachtens zur Erlangung eines Handelspatents verweigert. 101 Auch die anderen Regierungen der Rheinprovinz berichteten, dass die jährlichen Patentvergaben „stets ohne Aufhebens erfolgten“.102 In Lothringen gestaltete sich die Ausstellung der Gutachten über das jüdische Geschäftsgebaren bis zum Auslaufen des Dekrets im Jahr 1818 nicht wesentlich anders. Auf dem Land beschäftigte man sich auf Geheiß der Präfekturen mit der Frage, welchen jüdischen Händlern ein positives Betragen bezeugt werden

96 97 98 99

LAS Dep. Illingen Nr. 1539, S. 9. Ebd., S. 20. Ebd., S. 55. Einschränkend ist zu erwähnen, dass die Unterlagen für die Jahre 1829, 1836 und 1838 unvollständig sind. Vgl. ebd., S. 5 – 82. 100 Allerdings handelte es sich in diesen Fällen oft um Formfehler, z. B. wurde dem Landrat 1838 versichert, dass die betroffenen Personen die Gewerbesteuer regelmäßig bezahlten. Vgl. ebd., S. 48. 101 Vgl. Jehle, Juden, Bd. 2, S. 533. 102 Jehle, Enquêten, S. LXXV.

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sollte. Im nahe Boulay gelegenen Bionville bewilligte 1809 der Gemeinderat zwölf von elf beantragten Patenten: Lediglich David Salomon Jacob stellten die Gemeindevertreter kein positives Gutachten aus, da er nicht das öffent­ liche Vertrauen besäße und betrügerischen Handel treibe. Dass der Präfekt des Départements Moselle die Gemeinderäte in den folgenden Jahren nicht mehr explizit aufforderte, Gutachten über die Moralität der jüdischen Handelsleute auszustellen, hatte zur Folge, dass sich die kommunalen Gremien größtenteils nicht mehr mit diesem Thema beschäftigten. Erst als der Präfekt 1813 erneut eine Aufforderung an die Gemeinderäte schickte, änderte sich dies wieder. Wie in Bionville, wo in diesem Jahr alle Anträge befürwortet wurden – auch derjenige des 1809 abgelehnten Jacobs – stellten auch die Vertreter anderer Kommunen in der Regel positive Gutachten aus. Es lässt sich feststellen, dass nicht alle jüdischen Geschäftsleute Handelspatente zu erwerben suchten, z. B. sank in Bionville die Zahl der Anträge von 25 im Jahr 1808 auf acht im Jahr 1813, obwohl die Zahl der jüdischen Handeltreibenden nicht zurückgegangen war. Zu Problemen führte dies allem Anschein nach nicht, weswegen sich konstatieren lässt, dass der Zwang, ein Handelspatent zu erwerben, das Leben der jüdischen Händler kaum beeinflusste.103 Wie wenig bewusst sich die jüdischen Einwohner des Dekrets teilweise waren, zeigt u. a. eine Anfrage von Juden aus dem Elsass und aus Lothringen, die in Erfahrung bringen wollten, ob das napoleonische Dekret von 1808 überhaupt noch in Kraft sei.104 In Luxemburg hatte die ohnehin kleine Zahl jüdischer Handelsleute keinerlei Probleme, die vorgeschriebenen Handelspatente zu bekommen. Schon 1810 berichtete der Präfekt des Départements Forêts, dass das Betragen der jüdischen Handelsleute, die um ein Handelspatent nachgesucht hatten, tadellos sei. Der sich in diesem Jahr in Ettelbrück niederlassende Joseph Levy hatte nie Probleme, vom Gemeinderat einen Nachweis über gute Moralität zu erhalten, z. B. wurde 1812 bezeugt, dass er keinen Wucher oder sonstigen illegalen Handel treibe.105 Auch verschiedene Gerichte bezeugten, dass kein Mitglied der jüdischen Gemeinde von Luxemburg „ait été inculpé d’un commerce usuraire“.106 Der Prokurator fasste die

103 Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 110. Vgl. Mendel, S. 24 f. Vgl. Anchel, Napoléon, S. 335. Vgl. Weill, Georges: Les Juifs dans le Barrois et la Meuse du Moyen Age à nos jours, in: REJ, Jg. 125, 1996, S. 296. 104 Vgl. Roos, relations entre les juifs, S. 87 – 90. Vgl. Gerson, S. 148 – 152. Auch im Elsass gab es jüdische Händler, die sich um Handelspatente nicht bemühten, obwohl die dortigen Behörden tendenziell strenger waren als die der lothringischen Départements. 105 Vgl. Goedert, S. 349. Vgl. Conseil municipal d’Ettelbruck, 19.2.1812, in: ANL B527. Vgl. Dondelinger/Muller, Teil II, S. 23 f. 106 Goedert, S. 349.

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Situation folgendermaßen zusammen: „La surveillance de la police ne rencontre aucun sujet de plainte particulière contre eux, ce qui est un témoignage constant de leur moralité.“107 Dass Anfang des 19. Jahrhunderts nichtsdestotrotz auch die Verwaltung des Großherzogtums ein gewisses Misstrauen gegenüber jüdischen Händlern hegte, vor allem, wenn sie dort keinen festen Wohnsitz besaßen, belegen Anordnungen des (niederländischen) Ministers de Thiennes, der 1816 klagte: „Des escroqueries et filouteries de differentes espèces ont été commises […] dans les provinces meridionnales par des juifs […] qui se donnaient le plus souvent la qualité de Marchands colporteurs, pour motiver leur séjour dans nos contrées.“108 Von den örtlichen Behörden wurde verlangt, Vorsichtsmaßnahmen gegen diese Händler zu treffen: Deren Aktionen müssten überwacht und eventuell Gerichts­verfahren eingeleitet werden, da sie normalerweise keine Handelspatente besäßen.109 Dass auch die ansässigen Juden von de Thiennes kritisch beäugt wurden, zeigt seine Aufforderung an die lokalen Behörden, Register über die jüdischen Einwohner zu führen, deren Beschäftigung öfters wechselte, um „d’établir sur les juifs de cette catégorie, une surveillance toute particulière“.110 Die Maßnahme beruhte auf dem Verdacht, dass jüdische Hausierer, die Mischhandel betrieben, sich vereinzelt der Hehlerei schuldig machten, und die Kontrolle sollte helfen, dies zu unterbinden. Dass die Maßnahme nur auf Juden und nicht auf Christen angewandt wurde, belegt, dass die Ersteren aufgrund ihrer Herkunft verdächtig erschienen. Die wenigen im Arrondissement Diekirch – in Ettelbrück und Echternach – lebenden Juden wurden von der dortigen Verwaltung allerdings nicht als verdächtig eingestuft, obwohl einige von ihnen mit Gegenständen handelten, die wohl das Misstrauen der höheren Behörden erweckt hätten, z. B. Joseph Levy mit Altwaren.111 Dass die jüdischen Bewohner des Großherzogtums zumeist einen guten Ruf unter der Bevölkerung ihrer Wohnorte besaßen, belegen u. a. Berichte der Bürgermeister von Luxemburg, Dalheim und Mertert aus dem Jahr 1818: Sie alle gaben an, dass „tous les juifs etablis dans leurs communes jouissent d’ une bonne réputation“.112

107 Ebd. 108 Ministre de l’état aux gouverneurs des Provinces méridionales, 8.5.1816, in: ANL C386. Vgl. auch Krier, S. 121 f. 109 Vgl. gouverneur du Luxembourg, 24.5.1816, in: ANL C386. 110 Surveillance générale au sous-inténdants, 8.12.1817, in: ANL C386. 111 Vgl. ebd. Vgl. Krier, S. 122. Vgl. Etat nominatif des Juifs dans l’arrondissement de D ­ iekirch, 16.2.1818, in: ANL C386. 112 Sous-inténdant de Luxembourg au gouverneur du Grand-Duché de Luxembourg, 14.3.1818, in: ANL C386.

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Zwar waren die in den lokalen Entscheidungsgremien vertretenen Personen nicht frei von Vorurteilen gegenüber ihren jüdischen Mitbürgern, aber sie sahen durchaus die Notwendigkeit des jüdischen Handels und wollten verhindern, dass aus Steuerzahlern Bedürftige wurden, damit die Gemeindekasse keinen Schaden davontrug. Der Oberpräsident der Rheinprovinz betonte 1826, dass sich die Schöffen­räthe bewusst waren, dass sie „durch die Verweigerung [guter Zeugnisse] das Vermögen und den Gewerbsbetrieb ihrer jüdischen Miteinwohner […] gefährden“113 könnten. In Illingen vertrat darüber hinaus ein Teil der christlichen Einwohner offensiv die Meinung, dass Handel – auch der jüdische – nützlich sei.114 Im Regierungsbezirk Trier teilten die meisten Beamten diese Einschätzung: „Der Nutzen der Juden auf dem Lande […] ist, abgesehen vom Wucher, von fast allen Landräthen anerkannt.“115 Der von Mitte der zwanziger bis in die Vierzigerjahre im Kreis Ottweiler tätige von Rohr gehörte allerdings nicht zu diesen, denn ihm erschien es verdächtig, dass die jüdischen Händler ihre Schulden vor Gericht einklagten. Daher beauftragte er den Illinger Bürgermeister 1833, die Handelsleute genau zu überwachen und bei Anträgen auf Erteilung von „jüdischen Handelsautorisationen mit der größten Vorsicht zu Werke zu gehen, und selbst auf den Verdacht solcher betrüglichen Händel […] sofort die Anträge solcher Viehhändler und Gehülfen zurück zu weisen, die ihr Gewerbe so offenkundig zum Schaden und Ruin des unerfahrnen Landmannes mißbrauchen“.116 Den Umstand, dass nur in Einzelfällen jüdischen Handelsleuten „Wucher“ nachgewiesen wurde, erklärten Beamte, die eine negative Einstellung gegenüber der Minderheit hatten (z. B. der Gemündener Bürgermeister Dicht) genauso wie einige ihrer lothringischen Kollegen damit, dass die Juden so geschickt seien, dass nie etwas bewiesen werden könnte.117 Nach 1818 konnten in Lothringen christliche Kunden gegen jüdische Kreditgeber nicht mehr vor Gericht ziehen, nur weil sie glaubten, dass diese außer­ordentlich hohe Zinsen von ihnen verlangt hätten. Zumindest in den ersten Jahren nach diesem Zeitpunkt beschritten einige christliche Einwohner, die sich als Opfer

113 Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz, Bd. 3, S. 109. Vgl. auch Kasper-Holtkotte, Juden, S.  348 – 371. 114 Beispielsweise forderten 1833 einige Illinger die Veranstaltung von mehr Märkten im Ort mit der Begründung, dass diese „dem Orte so wie der Umgegend Nahrung bringen werden“. Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1313, S. 23. 115 Jehle, Juden, Bd. 2, S. 529. 116 LAS Dep. Illingen Nr. 1539, S. 29. 117 Vgl. Bericht des Bürgermeisters von Gemünden, Februar/März 1829, in: LHAK Best. 655,12 Nr. 161. Vgl. Sous-préfet de Sarrebourg au Préfet de Nancy, sous-préfet de Toul au préfet de Nancy, 15.7.1843, sous-préfet de Château-Salins au préfet de Nancy, 29.7.1843, in: ADMM V300.

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„wucherischer“ – wenn auch nicht unbedingt ungesetzlicher – Praktiken sahen, einen Weg abseits der Gerichte und wandten sich an die jüdischen Konsistorien, von denen sie glaubten, dass sie Einfluss auf ihre jüdischen Geschäftspartner ausüben könnten. So richteten in den Jahren 1820 und 1821 vier bzw. drei Christen Gesuche an das Konsistorium von Metz. Die Witwe Anne Marie Schang aus Rouhling bat z. B. darum, dass Jacob Levy aus Hellimer, von dem sie Tuche und einen Kredit (zu 5 % Zinsen) erhalten hatte, entweder die Ware wieder zurücknehmen solle oder ihr eine Zahlungsfrist von sechs Jahren zugestehen solle. Der Einsatz des Konsistoriums sorgte in diesem Fall dafür, dass der jüdische Gläubiger seiner Kundin eine Frist von vier Jahren einräumte.118 Nicht immer war das Engagement der Konsistorialen allerdings von Erfolg gekrönt, zumal sie generell Probleme hatten, ihre Autorität in den Landgemeinden geltend zu machen, wie sich am Fall von Jean Gerard aus Remering zeigte, der sich bei Ephraim Isaac Hesse aus Puttelange verschuldet hatte. Nachdem das Konsistorium Hesse eingeladen hatte, dieser aber nicht erschienen war, berichtete Gerard, dass der jüdische Händler sich über ihn und die Mitglieder des Konsistoriums lustig gemacht und gesagt habe, dass ihm niemand etwas zu befehlen habe.119 Das einzige Druckmittel, dessen sich die Konsistorien bedienen konnten, war eine Anordnung des Ausschlusses von den Ehrenrechten, allerdings blieb die Umsetzung den einzelnen Gemeinden überlassen. Es ist festzuhalten, dass sich die jüdischen Gremien mit den an sie gerichteten Klagen über jüdische „Wucherer“ befassten, aber grundsätzlich vertraten sie die Meinung, dass solche Dinge vor staatliche Gerichte gehörten.120 Zwar bildete das „décret infâme“ in Lothringen nach 1818 keine Grundlage mehr für Prozesse, aber bestimmte, von christlicher Seite in der Folgezeit er­­hobene Beschwerden orientierten sich anscheinend an der nunmehr ungültigen Bestimmung. Im Osten des Départements Moselle beklagte z. B. um die Jahrhundertmitte eine große Zahl christlicher Einwohner die Handelspraktiken jüdischer Händler. Vor allem Einwohner von Stiring – einem weniger als zehn Kilometer von Grosbliederstroff entfernten Ort – prangerten 1834 an, dass jüdische Hausierer christliche Frauen besuchten, wenn ihre Männer nicht anwesend seien, und sie zu unvernünftigen Käufen verleiteten, was wiederum zu Konflikten in den Haushalten führe. Beweise für diese Behauptung konnten die Beschwerdeführer zwar nicht vorweisen, aber der Bürgermeister von Stiring untersagte daraufhin allen Juden den Zugang zu weiten Teilen seines Ortes mit der Begründung, dass dieser 118 Vgl. Anne Marie Schang au consistoire de Metz, 26.5.1820, déclaration d’Anne Marie Schang, 10.8.1820, in: ADM 17J46. 119 Vgl. Jean Gerard au consistoire israélite de Metz, 16.3.1821, 27.5.1821, in: ADM 17J46. Vgl. Kapitel 4.3.2. 120 Vgl. Roos, juifs, S. 115 – 117.

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Privateigentum der Familie Wendel, der Inhaber der dortigen Eisenhütte, sei. Der Unterpräfekt von Sarreguemines erklärte den Beschluss jedoch für unrechtmäßig und annullierte ihn.121 Für Lothringen ist trotz immer wieder auftretender Beschwerden festzustellen, dass sich die Einstellung der christlichen Landbewohner gegenüber den jüdischen Geschäftsleuten im Verlauf des 19. Jahrhunderts fortentwickelte. Es handelte sich um eine „évolution allant de méfiance vers le respect des differences“.122 Die in den Berichten von 1843 angedeutete Veränderung der Meinungen über die jüdischen Händler interpretieren manche französische Autoren als eine tatsächliche Entwicklung des jüdischen Geschäftsgebarens: „L’usurier des campagnes avait disparu.“123 Dementgegen ist allerdings zu betonen, dass die grundsätzlichen Konfliktkon­ stellationen zwischen jüdischen Händlern und christlichen Kunden bis ins 20. Jahrhundert hinein bestehen blieben und dass Vorurteile über die Schädlichkeit des jüdischen Handels auch in der zweiten Jahrhunderthälfte immer wieder laut wurden. Am Beispiel des lothringischen Autorenduos Erckmann-Chatrian lassen sich die unterschiedlichen Einstellungen von Dorfbewohnern gegenüber ihren jüdischen Mitbürgern gut illustrieren. Erckmann machte jüdische Einwohner aus Imling, die sich an der Glasfabrik seines Vaters in Hagenthal geschäftlich beteiligt hatten, dafür verantwortlich, dass diese bankrott gegangen war. Als sein Partner Chatrian die Idee hatte, die Geschichte einer jüdischen (elsässischen) Familie zu schreiben, entgegnete Erckmann 1864: „Autant vaudrait peindre une nichée de renards, qui vit aux dépens de la ferme et du village […], je serais ton homme. Quant à vouloir les présenter comme des petits saints, comme d’honnêtes patriarches et comme de bons citoyens français, cela me paraît terriblement faux“.124 Chatrian, der in Phalsbourg aufgewachsen war, hatte eine ganz andere Einstellung gegenüber der jüdischen Minderheit, die u. a. in dem biografisch geprägten Buch „L’ami Fritz“ seinen Ausdruck fand: „Tous les personnages […] sont pris de ma propre existence: […] le vieux Rabbin Sichel, c‘est le

121 Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 244. Vgl. Roos, juifs, S. 113. 122 Daltroff, histoire, S. 21. Die genannte Entwicklung verlief schneller als im Elsass. Vgl. auch Roos, juifs, S. 112 f., 319 f., Mendel, S. 31 f., Neher-Bernheim, documents, Bd. 2, S. 354 und Hyman, Jews of modern France, S. 95. 123 Lang/Rosenfeld, S. 131. 124 Neher, Richard: Les Juifs d’Alsace dans l’œuvre d’Erckmann-Chatrian, in: Evidences, novembre, 1950, S. 32. Vgl. auch Lang/Rosenfeld, S. 286. Vgl. zu den beiden Schrift­ stellern und ihrer Darstellung von Juden Schoumacher, L.: Eckmann-Chatrian. Etude biographique et critique d’après des documents inédits (Publications de la Faculté des Lettres de l’université de Strasbourg, 62), Paris 1933 und Raphael, Freddy: Présence du Juif dans l’oeuvre d’Erckmann-Chatrian, in: ders./Robert Weyl (Hg.): Regards nouveaux sur les Juifs d’Alsace, Strasbourg 1980, S. 150 – 207.

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Rabbin Heymann de Phalsbourg, notre voisin et l‘ami intime de mon père…“.125 Die Freundschaft zwischen Heymann und dem Vater Chatrians ging so weit, dass L ­ etzterer hin und wieder jüdische Frauen bei sich aufnahm, die Rat bei Ersterem suchten.126 Dass negative Meinungen über die Geschäftstätigkeit der Juden nach der ­Annexion weiter existierten, zeigte sich in Lunéville im französisch gebliebenen Teil Lothringens z. B. 1881, als der Direktor des Collège gegenüber einem jüdischen Schulabgänger die Meinung äußerte: „Vous allez maintenant apprendre à voler les paysans.“127 Der Vorfall blieb nicht ohne Folgen, denn die gesamte „aufgeklärte“ Einwohnerschaft – Juden wie Christen – zeigte sich betroffen, sodass der Direktor sich schließlich öffentlich entschuldigte.128 Im Umfeld der Dreyfus-Affäre konnten Klagen gegenüber Juden in den lothringischen Medien allerdings laut werden, ohne dass es zu wirksamem Widerstand kam, z. B. ließ Jules Guérin, der Begründer der „Ligue antisémitique et anti-maçonnique“ von 1900 bis 1907 die Zeitung „Le petit antijuif de l’Est“ verbreiten. Das Periodikum wandte sich an ein breites Publikum – auch das ländliche – und vertrat sowohl einen ökonomischen als auch einen religiösen und rassischen Antijudaismus.129 Der erste – von Drumont – verfasste Artikel wandte sich u. a. explizit gegen die auf dem Land lebenden Juden: „Usuriers, bazardiers, marchands de bestiaux ou bouchers, ils affament le paysans“.130 Da es den französischen Antisemiten allerdings nie gelang, eine funktionierende Organisation außerhalb der urbanen Zentren zu errichten, blieb ihr Einfluss in ländlichen Gegenden abseits der Städte gering.131 Im deutsch gewordenen Teil Lothringens suchten die deutschen Behörden im Umfeld der Dreyfus-Affäre jegliche antijüdische Propaganda zu unterdrücken, was ihnen auch weitgehend gelang. Postkarten aus Frankreich, die gelegentlich Stempel mit der Aufschrift „Pour l’honneur et le salut de l’Alsace Lorraine – N’achetez rien aux Juifs“ trugen, gehörten zu den wenigen Medien, die gegen die jüdischen Einwohner gerichtete Parolen verbreiteten. Dass auch im annektierten Lothringen ökonomische Vorurteile gegenüber den Juden in Teilen der Bevölkerung bestanden,

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Neher, S. 33. Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 286. Job, juifs à Lunéville, S. 109. Zu einem Tadel vonseiten der höheren Behörden kam es nicht. Vgl. ebd., S. 109 – 112. Vgl. Wilson, Stephen: Antisemitism in France at the time of the Dreyfus Affair, in: ­Herbert A. Strauss/Werner Bergmann (Hg.): Hostages of modernization. Studies on modern antisemitsm 1870 – 1930/39 (Current research on antisemitism, Bd. 3/1), Berlin 1992, S. 553 – 557. Vgl. Decomps/Moinet, S. 214 – 216. 130 Le petit Antijuif de l’est, Nr. 1, 1900, S. 1. 131 Vgl. Burns, Michael: Boulangism and the Dreyfus Affair 1886 – 1900, in: Strauss/­Bergmann, S.  529 – 538.

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zeigt ein in den „Metzer Monatsbriefen“ veröffentlichter Artikel, in dem u. a. die Ausbeutung der lothringischen Bauern durch die jüdischen Getreidehändler und Viehhändler beklagt wurde. Da der Beitrag wohl aus der Feder eines aus dem Reich zugezogenen Bürgers stammte, kann er allerdings nicht als genuine Meinungs­ äußerung der ländlichen Bevölkerung gesehen werden.132 Für die Rheinprovinz lässt sich grundsätzlich dieselbe Feststellung wie für Lothringen hinsichtlich der Meinung über die jüdische Handelstätigkeit machen: Auch hier entwickelte sich die Einstellung der christlichen Landbewohner fort, allerdings etwas langsamer als in Lothringen. Hinzu kam, dass in der südlichen Rheinprovinz in der zweiten Jahrhunderthälfte wesentlich öfter und lauter Kritik an „wucherischen“ Geschäftspraktiken der Juden geübt wurde, vor allem während der Agrarkrise der späten Siebziger- und der Achtzigerjahre, welche mit der allgemeinen Wirtschaftskrise und dem Aufstieg des modernen Antisemitismus zusammenfiel.133 Beamte und Vereinsfunktionäre aus der südlichen Rheinprovinz – u. a. der katholische Kaplan und Gründer des Trierer Bauernvereins Dasbach – äußerten sich in regionalen Periodika sowie auch den Veröffentlichungen des „Vereins für Socialpolitik“ negativ über die jüdische Handelstätigkeit. Dass die Wahrnehmungen nicht der Realität entsprachen, zeigt sich daran, dass unter den Personen, die nach dem 1880 eingeführten „Wucherparagrafen“ abgeurteilt wurden, Juden unterrepräsentiert waren.134 Nichtsdestotrotz lebte auch in Illingen die Vorstellung vom

132 Die alteingesessene Bevölkerung der Metzer Region war im Gegensatz zum Autor des Artikels französischsprachig. Vgl. einen Auszug aus der „Mainzer Wucherpille“, 21.6.1884, in: ADM 1AL90. Vgl. auch Avine-Goetz, S. 342 – 348. Vgl. Meyer, présentation, S. 26. Vgl. Reuter, Ansichten, S. 74. 133 Vgl. Rosenberg, Hans: Anti-Semitism and the „Great Depression“, in: Strauss/Bergmann, S. 19 – 28. Vgl. zur öffentlichen Diskussion über den „Wucher“ Peal, David: Antisemitism by Other Means? The rural Cooperative Movement in Late Nineteenth century Germany, in: LBIYB, Jg. 32, 1987, S. 135 – 153. 134 Vgl. Dasbach, Georg Friedrich: Der Wucher im trierischen Lande, Sonderabdruck aus den Schriften des Vereins für Socialpolitik, Bd. 35, Trier 1887. Kartels, J. J.: Die wirtschaftliche Lage des Bauernstandes in den Gebirgsdistricten im Kreise Merzig, in: Verein für Socialpolitik: Bäuerliche Zustände in Deutschland, Bd. 1, (Schriften des Vereins für Socialpolitik, Bd. 22), Leipzig 1883, S. 206 – 208. Vgl. Blaschke, Katholizismus, S. 166. Vgl. Walser-Smith, Helmut: The learned and popular Discourse of Antisemitism in the Catholic Milieu of the Kaiserreich, in: Central European History, Jg. 28, 1994, S. 315 – 329 und ders.: The Discours of Usury. Relations between Christians and Jews in the German Countryside 1880 – 1914, in: Central European History, Jg. 32, 1999, S. 255 – 277. Abgesehen vom Regierungsbezirk Trier waren die Klagen über „Wucher“ in der Rheinprovinz nicht so vehement wie in anderen ländlichen Regionen, z. B. Hessen. Vgl. Mosse, Werner, E.: Die Juden in Wirtschaft und Gesellschaft, in: ders./Arnold Paucker (Hg.): Juden im

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„jüdischen Wucherer“ fort. So wurden im Jahr 1900 ein Untersuchungs­verfahren gegen den jüdischen Handelsmann David Alexander wegen „Wuchers und Betrugs“ eingeleitet und seine Wohnung ohne Ankündigung durchsucht.135 In Luxemburg wurden im Vergleich zu den Nachbarregionen zwar seltener Vorurteile gegenüber jüdischen Geschäftsleuten geäußert, aber dass solche auch hier existierten und sich Stereotype über Staatsgrenzen hinweg verbreiten ließen, belegen einige 1888 in der katholischen Tageszeitung „Luxemburger Wort“ ver­ öffentlichte Artikel. Das von großen Teilen der katholischen Bevölkerung gelesene Organ verfolgte vor allem das Ziel, die durch die Folgen der zunehmenden Industrialisierung und Urbanisierung infrage gestellte ideologische Vormachtstellung der katholischen Kirche zu befestigen. In diesem Kontext griffen die Zeitungsschreiber die jüdische Minderheit an und verleumdeten diese als eine Gemeinschaft, die die Christen u. a. über ihre ökonomische Tätigkeit schädigen wolle. Die Verfasser stützten sich sowohl auf deutsche als auch auf französische antijüdische Schriften, z. B. den „Talmudjuden“ von Rohling sowie „Les Juifs rois“ von Toussenel und „La France Juive“ von Drumont.136 Ein Artikelschreiber gab sogar an, dass „die von der ausländischen, speciell der deutschen Presse geführte Campagne gegen die Juden […] ihn angetrieben“137 habe. Dies zeigt, dass ein Teil der Bewohner des Großherzogtums die in den Nachbarländern geführten öffentlichen Debatten verfolgte und die diskutierten Themen in Bezug zu den Verhältnissen im eigenen Staat setzte. Dass nicht alle katholischen Luxemburger die vom „Wort“ propagierte Meinung über die Juden teilten, belegt die seitens des Blattes gemachte Feststellung, dass „die Leute, Gebildete wie Volk, […] sich über seine Mittheilungen wundern und ganz erstaunt darüber“138 seien. wilhelminischen Deutschland, 1890 – 1914 (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhand­ lungen des Leo-Baeck-Instituts, Bd. 33), Tübingen 1976, S. 97 – 99. 135 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 923, S. 447 f., 494 – 497. 136 Vgl. AZJ, Nr. 6.1889, S. 86 f. Vgl. Blau, Lucien: Antisémitisme au Grand-Duché de ­Luxembourg de la fin du XIXe siècle à 1940, in: Moyse/Schoentgen, S. 58 f. Vgl. ders.: Histoire de l’extrême-droite au Grand-Duché de Luxembourg au XXe siècle, Esch-Alzette 1998, S. 123 – 132. Vgl. Schoentgen, S. 308. Bereits 1880 druckte das „Wort“ an Glagau angelehnte Artikel ab, aber die liberale luxemburgische – vor allem französischsprachige – Presse trat solchen Artikeln mit Gegendarstellungen entgegen. Vgl. AZJ, Nr. 2, 1880, S. 24 f. Vgl. zu Rohling Daxelmüller, Christoph: Folklore vor dem Staatsanwalt. Anmerkungen zu antijüdischen Stereotypen und ihren Opfern, in: Helge Gerndt (Hg.): Stereotypenvorstellungen im Alltagsleben. Beiträge zum Themenkreis Fremdbilder – Selbstbilder – Identität, Festschrift für Georg R. Schroubek zum 65. Geburtstag (Münchner Beiträge zur Volkskunde, Bd. 8), München 1988, S. 20 – 33. 137 AZJ, Nr. 25, 1888, S. 395. 138 AZJ, Nr. 6, 1889, S. 86.

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Die Artikelserie der Zeitung blieb nicht ohne Folgen, denn sowohl das jüdische Konsistorium als auch der luxemburgische Staatsanwalt erhoben Klage gegen diese. Die jüdische Beschwerde wurde allerdings abgewiesen, da die Gerichte glaubten, dass die Zeitung allgemein die „talmudische Moral des Judentums“, aber nicht speziell die jüdischen Einwohner des Großherzogtums angegriffen habe. Dass dieser Schritt nicht als Zeichen von Judenfeindlichkeit zu werten war, zeigte der Verlauf des von den luxemburgischen Behörden eingeleiteten Prozesses wegen Beschimpfung der jüdischen Religion und Aufwiegelung einer Klasse von Bürgern gegen die andere.139 Der Verteidiger der Zeitung suchte das Gericht zu überzeugen, dass die geäußerten Vorwürfe nicht unbegründet seien: „Ja, viele jüdische Bewohner unseres Landes sind nicht einmal Luxemburger, und die meisten Eingewanderten kommen aus Preußen herüber. […] der Luxemburger muß sich natürlich fragen: Haben diese Juden nicht einen Theil jener Eigenschaften mit über die Grenze gebracht, die den Gegenstand so mancher Vorwürfe bilden?“140 In der Wahrnehmung des Verteidigers war der Großteil der im Großherzogtum lebenden Juden nicht luxemburgisch, was die Frage nach den Unterschieden zur (katholischen) Mehrheit aufwarf. Die angebliche Andersartigkeit der Juden lud er durch den Verweis auf Debatten in der Nachbarregion, in denen auf judenfeindliche Stereotype zurückgegriffen wurde, negativ auf. Staatsanwalt Velter antwortete auf die suggestiven Fragen der Verteidigung u. a. mit Statistiken, welche die geringe Zahl gerichtlicher Verurteilungen von Juden belegten. Zudem wies er darauf hin, dass die jüdischen Einwohner eine bedeutende Rolle im Wirtschaftsleben des Großherzogtums spielten, und hob dabei industrielle Unternehmen – wie das­jenige der Familie Godchaux – hervor: Sie „tragen ihren Großen Theil zum nationalen Reichthume und Wohlstande bei. Ueberdies beschäftigen diese hunderte von katho­ lischen Familien, denen sie den Lebensunterhalt gewähren.“141 Velter zeichnete somit ein positives Bild der jüdischen Minderheit, deren Anwesenheit als Bereicherung für das gesamte Land und seine Bevölkerung geschildert wurde. Der Staatsanwalt bezeichnete die Artikel des „Worts“ als Zündschriften, die beabsichtigten, den „naiveren Teil der Bevölkerung gegen die Juden, welche auf den inländischen Messen und Märkten ihr Gewerbe ausüben, aufzuhetzen“.142 Das Gericht kam letztlich zu dem Ergebnis, dass die Artikel „böswillige Angriffe gegen einen im Großherzogtum eingeführten Cultus“ darstellten und – da sie „in einem bei der Landbevölkerung verbreiteten Blatte erfolgt“143 – geeignet gewesen seien, die Stimmung gegen die Juden aufzubringen. 139 Vgl. AZJ, Nr. 28, 1888, S. 395 f., Nr. 51, 1888, S. 811 f., Nr. 4, 1889, S. 55 f., Nr. 5, 1889, S. 72, Nr. 6, 1889, S. 86 f., Nr. 13, 1889, S. 196 f. Vgl. Der Israelit, Beilage, Nr. 9, S. 160. 140 Schoentgen, S. 308. 141 AZJ, Nr. 30, 1889, S. 468. 142 AZJ, Nr. 13, 1889, S. 197. 143 AZJ, Nr. 15, 1889, S. 235.

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Daher wurde der Redakteur des „Worts“ zu einer Geldstrafe von 500 Franken – der Höchststrafe für Beleidigung – verurteilt und dazu, das Urteil abzudrucken.144 Die Vorstellung vom jüdischen „Wucherer“ war unter der luxemburgischen Landbevölkerung zumindest in einem gewissen Maße verbreitet, wie das 1920 von Louis Biren veröffentlichte Dorftheaterstück „Zwé Judden als Schmoggler“ belegt, in dem das Klischee vom „Wucherjuden“, der die armen ehrlichen Bauern zu ruinieren sucht, kolportiert wird. Es scheint allerdings, als ob beim direkten Kontakt diese Stereotype kaum eine Rolle spielten.145 Von dem Ettelbrücker Händler Léon Cahen berichtete ein Glaubensgenosse 1881, dass er seine Geschäfte „mit der allergrößten Rechtlichkeit und unter allgemeiner Beliebtheit der ganzen hiesigen Gegend betrieb“.146 Dass dies kein Einzelfall war und auch andere jüdische Kaufleute einen guten Ruf bei christlichen Kunden genossen, zeigt die Schilderung des aus Weicherdingen stammenden Lehrers Bourg über die Ettelbrücker Geschäftswelt: „Ettelbruck ensuite la grande cité de commerce, avec des costumes et des robes à la mode, avec la boutique de l’aimable Juif […], qui vous permettait de palper longuement les vêtements et les étoffes, de les tourner et de les retourner et qui avait ainsi gagné la réputation d’un homme honnête, d’un marchand qui n’avait rien à cacher.“147 Trotz der immer wieder (auch vonseiten des städtischen Milieus) geäußerten Vorwürfe gegenüber den jüdischen Händlern auf dem Land ist festzuhalten, dass die Beziehungen zwischen diesen und ihrer Kundschaft zumindest in der zweiten Jahrhunderthälfte weitgehend vertrauensvoll waren. In allen betrachteten Territorien war es nämlich spätestens in der zweiten Jahrhunderthälfte gang und gäbe, dass Handelspartner beim Viehkauf keine schriftlichen Verträge abschlossen, sondern das Geschäft per Handschlag besiegelten, so z. B. die Gemündener Pferdehändler: „Da wurde geboten, gefordert, die Hände vorgestreckt und eingeschlagen, um den Handel zu besiegeln.“148 Auch die jüdischen Vieh- und Pferdehändler Ettelbrücks machten „durch Handschlag mit den Bauern ihr Geschäft verbindlich“.149 Ein gewisses Vertrauen in die Ehrlichkeit des Handelspartners war bei einem solchen Vorgehen unabdingbar, wie auch die Aussage eines Viehhändlers aus dem Kreis Boulay belegt: „A la conclusion de chaque vente on se tapait la main, signe de

144 Vgl. ebd. Vgl. AZJ Nr. 22, 1889, S. 340. 145 Vgl. Schoentgen, S. 308, 323, 362. 146 AZJ , Nr. 49, 1881, S. 815. Die zumeist guten Geschäftsbeziehungen erwähnt auch ­Schoentgen, S. 300. 147 Dondelinger/Muller, Teil III, S. 34. 148 Kronenberger, S. 19. Vgl. auch ebd., S. 7 – 14 und Pies, S. 34. 149 Vgl. Dondelinger/Muller, Teil III, S. 38. Vgl. auch Flies, S. 1632.

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l’accord entre les deux partennaires. Il y avait une sorte de code d’honnêté de la parole entre les vendeurs et les acheteurs.“150 Zu Konflikten im Bereich des Handels kam es in den betrachteten Dörfern nicht nur zwischen jüdischen Geschäftsleuten und christlichen Kunden, sondern in einigen Fällen auch zwischen den Ersteren und christlichen Konkurrenten, vor allem im Bereich des Fleischhandels. So beschwerte sich in Gemünden 1820 der katholische Metzger Gräff darüber, dass neben den Metzgern, die ihr Handwerk mit Zustimmung der Obrigkeit ausübten, auch einige andere Einwohner Fleisch verkauften. Er klagte sowohl über den Protestanten Johannes Orlob, der schon öfters das Fleisch kranker Tiere verkauft hatte, als auch über mehrere Juden. Neben der Gesundheit der Kunden hatte er vor allem seine eigene durch die Konkurrenz gefährdete Existenz im Blick. Er betrachtete die jüdischen Händler als übermächtige Mitbewerber, gegen die er nichts ausüben könne: Wenn „mehrere Juden schlachten, […] muß der Mann, der seine Lasten vom Handwerk trägt[,] zu Grunde gehen.“151 Der Metzger artikulierte somit das Bild der übermächtigen Juden, die in die Schranken gewiesen werden müssten, und er äußerte zudem die Meinung, dass die Behörden verpflichtet seien, ihm beizustehen. Gräffs Verlangen, dass zukünftig niemand ohne ein Patent für das Metzgerhandwerk mehr schlachten dürfe, wurde vom Landrat als rechtens anerkannt, und dieser wies den Bürgermeister an, in Zukunft darauf zu achten, ob die erforderlichen Patente vorhanden seien, d. h., dass die Mehrzahl der Juden kein Fleisch mehr verkaufen durfte.152 Ein ähnlicher Fall spielte sich 1852 in Illingen ab, wo der katholische Metzger Peter Hauk über die Geschäfte der jüdischen Einwohner klagte. Er beschwerte sich darüber, dass alle jüdischen Metzger „sowohl in den Dörfern unserer Bürger­ meisterei, als außerhalb, Fleisch zum Verkaufe umhertragen und die Leute […] zum Kaufe nöthigen“.153 Zudem kauften sie auch noch Säugekälber auf, die sie an Metzger anderer Orte weiterveräußerten. Er betonte, dass er wegen der Juden starke Einbußen hinnehmen müsse, und bat darum, dass „dieser mir sehr nach­ theilige Unfug beseitigt wird“.154 Auch in diesem Fall zeigte sich der zuständige Landrat zu einem gewissen Entgegenkommen bereit und befahl, den Handel 150 Daltroff, juifs, S. 127. Vgl. auch Lang/Rosenfeld, S. 131. 151 Franz Gräff an den Bürgermeister von Gemünden. 18.10.1820, in: LHAK Best. 655,12 Nr. 43. 152 Nur der jüdische Viehhändler Peter Hammel war im Besitz des Metzgerpatents. Vgl. ebd. Vgl. Landrat Schmidt an Bürgermeister Dicht, 29.10.1822, Gewerbesteuerliste pro 1821, in: LHAK Best. 655,12 Nr. 43. 153 LAS Dep. Illingen Nr. 843, S. 214. 154 Ebd.

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mit frischem Fleisch stärker zu kontrollieren.155 Da es in Illingen anders als in Gemünden spätestens seit der Jahrhundertmitte relativ viele christliche Handeltreibende gab, war die ökonomische Konkurrenz zwischen jüdischen und christlichen Einwohnern dort ausgeprägter als in dem Hunsrückort. Nur aufgrund dieser Gegebenheit war es 1907 möglich, dass im Gefolge der Reichstagswahl die jüdischen Geschäfte eine Zeit lang boykottiert werden konnten: Die christlichen Dorfbewohner, die über die Niederlage des Zentrumskandidaten gegen einen Liberalen verärgert waren, konnten die meisten benötigten Produkte auch bei christlichen Handelsleuten erwerben. Es ist nicht auszuschließen, dass der in Illingen verbreitete anonyme Boykottaufruf aus Kreisen der christlichen Konkurrenz stammte.156 In Ettelbrück sowie den französischen Dörfern wurden keine vergleichbaren Klagen von christlicher Seite gegenüber jüdischen Mitbewohnern laut, allerdings kann diese Feststellung nicht auf die Regionen als Ganze übertragen werden. So warfen im Großherzogtum christliche Tuchfabrikanten und -händler aus Wiltz den Gebrüdern Godchaux zur Jahrhundertmitte vor, eine Monopolstellung einzu­ nehmen, und in Lothringen beschimpfte 1819 der Sohn eines christlichen Metzgers einen Juden aus Königsmacker, der Fleisch verkaufte und seinem Vater Konkurrenz machte.157 In den betrachteten lothringischen Orten kam es aufgrund struktureller Gegebenheiten sowie des einvernehmlichen Verhaltens von jüdischen und christlichen Dorfbewohnern nicht zu vergleichbaren Vorfällen. Im Grosbliederstroff konnte es nicht zu Konkurrenzkonflikten kommen, da nicht nur der Handel, sondern auch das Metzgerhandwerk das gesamte Jahrhundert über weitgehend eine jüdische Angelegenheit in dem Dorf war. In Boulay war dies zwar nicht der Fall, aber hier hatte sich – anders als in Illingen – im Verlauf des Jahrhunderts eine Arbeitsteilung zwischen jüdischen und christlichen Metzgern herausgebildet: Um die Jahrhundertwende waren Juden auf Rindvieh, die Christen auf Schweine spezialisiert.158 Es war allerdings nicht ausschließlich diese Arbeitsteilung, die dafür sorgte, dass die jüdischen und die christlichen Metzger miteinander auskamen, sondern sie betrachteten sich trotz der religiösen Unterschiede anscheinend als eine Berufsgruppe. Es ist festzustellen, dass die jüdischen und die christlichen Metzger es vorzogen, geschlossen aufzutreten, wenn es um ihr ökonomisches Wohl ging, anstatt wie in den preußischen Dörfern einander Vorwürfe zu machen. So berichtete 155 Vgl. ebd., S. 214. 156 Vgl. zur Reichstagswahl und dem Boykott Kapitel 5.4. 157 Vgl. Godchaux Fabien: Un affaire de monopole (extraits de journaux), o. J., online im Internet: http://godchaux.f.e.c.pagesperso-orange.fr/page_12.html [Stand 24.06.2014]. Vgl. Sous-préfet de Thionville au préfet de Metz, 20.10.1819, in: ADM V156. 158 Vgl. z. B. Bürgermeister von Boulay, 4.5.1907, in: ADM ED100 5I5. Vgl. Kapitel 3.3.2.

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Bürgermeister Weber 1905 missbilligend darüber, dass die Fleischer sich absprächen und „auf Parole“ die Fleischpreise erhöhten, was er als Preistreiberei einstufte.159 In Boulay agierten die ansässigen Metzger als Gemeinschaft, während sie Konkurrenz von außen abzuwehren suchten. So beschwerten sich kurz vor Beginn des Ersten Weltkrieges die Metzgermeister – drei Juden und sechs Katholiken – beim Bürgermeister darüber, dass Fleisch von notgeschlachteten Tieren aus anderen Orten in Boulay verkauft werde. Ähnlich wie der erwähnte Gemündener Metzger kriti­sierten sie die Minderwertigkeit dieser Waren und die ihnen entstehenden finan­ziellen Verluste. Die Praxis stelle „eine ganz enorme Schädigung der hiesigen Metzger [dar], die auf gute Qualität ihre feste Aufmerksamkeit richten“.160 Der stellvertretende Bürgermeister entschied nach einer Beratung mit dem Kreistierarzt zugunsten der einheimischen Metzger: Fleisch aus Notschlachtungen sollte nur noch zum Verkauf zugelassen werden, wenn diese von ansässigen Einwohnern durchgeführt würden. Von außerhalb durfte derartige Ware in der Regel nicht mehr importiert werden.161 Bis 1902 bestand in Boulay zudem eine besondere jüdisch-christliche Zusammenarbeit im Be-reich des Fleischerhandwerks, denn es war gang und gäbe, dass die (christlichen) Schweinemetzger das Blut der Tiere auffingen, die der jüdische Schächter schlachtete, und es für die Herstellung von Wurst verwendeten. Erst auf Wunsch des Kreistierarztes wurde diese Praxis eingestellt, da dieser eine Verunreinigung des Blutes durch die Schlachtweise befürchtete.162 In Grosbliederstroff gab es aufgrund der Berufsstruktur zwar keine mit Boulay vergleichbare Zusammenarbeit im Bereich des Metzgerhandwerks, aber die Einwohner des Dorfes verteidigten einen der jüdischen Fleischer bei einer Ausein­ andersetzung um dessen Nebentätigkeit entschieden gegen Angriffe von außerhalb des Ortes. Lion Lambert, der über mehrere Jahrzehnte an der Spitze der jüdischen Gemeinde stand, war nicht nur Fleischer und Händler, sondern er fungierte auch als Arzt, was ihm einen Prozess wegen illegaler Ausübung dieses Berufs in Forbach einbrachte. Aufgrund der positiven Zeugenaussagen – besonders seine Behandlung von Knochenbrüchen wurde gelobt – wurde er allerdings freigesprochen.163 Grundsätzlich ist festzuhalten, dass es in den betrachteten lothringischen

159 Vgl. Bürgermeister von Boulay an die Redaktion der Allgemeinen Fleischerzeitung, 22.9.1905, in: ADM ED100 5I5. 160 Metzgermeister von Boulay an den Bürgermeister von Boulay, 22.3.1914, in: ADM ED100 5I5. 161 Vgl. stellvertretender Bürgermeister von Boulay an Metzgermeister Staudt, 2.4.1914, in: ADM ED100 5I5. 162 Vgl. Kreistierarzt Scherer an den Bürgermeister von Boulay, 10.10.1902, Bürgermeister von Boulay, 13.10.1902, in: ADM ED 100,5I5. 163 Vgl. Lambert/Rosenfeld, S. 251. Vgl. Juda, S. 2.

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Landgemeinden keine Konflikte zwischen jüdischen und christlichen Einwohnern aufgrund von Konkurrenz gab, aber dass sich in den Städten der Region die Lage anders gestaltete. Dort gab es keine jüdisch-christliche Arbeitsteilung wie auf dem Land, und zumindest in Krisenzeiten forderten christliche Geschäftsleute Schutz gegen die jüdische Konkurrenz, so z. B. in Nancy 1898. Antisemitische Organisationen suchten derartigen Meinungen durch Kampagnen zu weiterer Verbreitung zu verhelfen und dieses Engagement trug wohl dazu bei, dass im französischen Lothringen im Rahmen der landesweiten antijüdischen Ausschreitungen im Jahr 1898 in mehreren Städten jüdische Geschäfte boykottiert bzw. sogar angegriffen und ausgeraubt wurden. Dass es auf dem Land kaum zu solchen Vorkommnissen kam, lag u. a. daran, dass die wirtschaftliche Situation auf dem Land sich nach den Achtzigerjahren verbessert hatte und die jüdisch-christlichen Konfliktkonstellationen sich anders darstellten. Zu betonen ist darüber hinaus, dass die Motive der Ausschreitungen nicht allein ökonomischer Natur waren.164 Im Fall von Ettelbrück spielte es eine wichtige Rolle, dass die jüdischen Einwohner bis zum Ende des 19. Jahrhunderts nur eine kleine Minderheit innerhalb des Dorfes bildeten und daher weniger als ihre Glaubensgenossen in den übrigen Untersuchungsorten als Zielscheibe der christlichen Konkurrenz geeignet waren. So gab es im Ort in den Sechzigerjahren zwar mehrere christliche Fleischer, aber nur einen jüdischen. 1865 erließ der Gemeinderat ein Reglement für die Metzgereien, das u. a. verbot, Tiere auf öffentlichen Plätzen zu schlachten und Fleisch außerhalb der Läden zu verkaufen. Des Weiteren schrieb es den Fleischern vor, die Schlachträumlichkeiten reinlich zu halten und Fleisch aus anderen Orten nur mit der Bescheinigung eines Tierarztes zu importieren. Die Gemeindevertreter ließen vorsichtshalber mehrere Metzgereien des Ortes besichtigen, aber nicht diejenige von Cerf Israel, weswegen von Misstrauen gegenüber jüdischen Metzgern nicht die Rede sein konnte. Der Wunsch nach Hygiene hatte allerdings Auswirkungen für Isaac Cahen, der 1866 auf eine Verordnung hin gezwungen war, seinen in der Nähe der Oberprimärschule gelegenen Häuteladen zu schließen.165 Im Großherzogtum traten im 19. Jahrhundert abgesehen von der Auseinandersetzung der Tuchfabrikanten aus Wiltz mit den Brüdern Godchaux anscheinend weder auf dem Land noch in der Hauptstadt Reibungen aufgrund von Konkurrenz auf. Klagen wurden erst nach der Jahrhundertwende laut, allerdings ­weniger vonseiten christlicher Geschäftsleute als vielmehr von der 1910 von Studenten 164 Vgl. Job, juifs de Nancy, S. 112. Vgl. Wilson, S. 545 – 559. Vgl. Nord, Philip G.: The Politics of Shoppkeeper Protest, in: Strauss/Bergmann, S. 505 – 513. Vgl. Burns, Boulangism, S. 535 – 540. Vgl. Kapitel 5.4. 165 Zu Cerf vgl. Volkszählungsliste von Ettelbrück, 1864, in: ANL Rpop 505 f. Vgl. Flies, S. 1542, 1605 f. Vgl. Dondelinger/Muller , Teil II, S. 26.

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gegründeten antisemitischen „Letzebuerger Nationalunio’n“. Sie wollte den Antisemitismus als Klammer für ein die sozialen Trennungen überbrückendes Luxemburger Nationalgefühl benutzen und griff besonders im Jahr 1916 die jüdischen Handelsleute an, denen sie vorwarf, „de se livrer à une concurrence outrancière contre le monde commercant luxembourgeois“.166 Bei der großen Mehrheit der Luxemburger Bevölkerung fanden die Aufrufe der „Nationalunio’n“ zum Boykott jüdischer Geschäfte keinen Rückhall. Die Organisation griff sogar das den Juden nicht geneigte „Luxemburger Wort“ an, weil es Werbeanzeigen jüdischer Geschäftsleute abdruckte, und lamentierte, dass die Zeitung damit ihre Bemühungen um einen Geschäftsboykott behindere.167 5.1.3 In den Wirtshäusern

Im Bereich des Viehhandels wurde nach einem Geschäftsabschluss häufig kurz das nächste Wirtshaus von beiden Parteien besucht. Die jüdischen Viehhändler Gemündens kehrten z. B. des Öfteren nach erfolgreicher Einigung mit ihren Kunden in Mengerschied in einer von Christen betriebenen Gastwirtschaft ein, um dort Wein oder Schnaps zu trinken.168 Im Kreis Boulay herrschten bis nach dem Ersten Weltkrieg ähnliche Verhältnisse. Wenn die oft langwierigen Verhandlungen in einem Kauf endeten, gingen Viehhändler und Käufer „danauch noch erinn in’s Haus de Schnapps und Kaffe drinke“.169 Über diesen Aspekt hinausreichende Treffen in den örtlichen Wirtschaften bürgerten sich spätestens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein. Am Sonntagnachmittag stellte z. B. die Wirtschaft in Niedervisse einen Ort dar, an dem sich sowohl christliche als auch jüdische Männer trafen, um gemeinsam Karten zu spielen.170 Im Hunsrück, wo Stammtische weit verbreitet waren, stellten die Wirtshäuser in der zweiten Jahrhunderthälfte ebenfalls Orte der geselligen Begegnung zwischen Juden und Christen dar, allerdings war das Interesse an der Gemeinschaft von jüdischer Seite anscheinend teilweise größer als von der christlichen. So berichtete Bernhard Mayer von seiner Zeit in Simmern Anfang der Achtzigerjahre, dass der Händler Adolf Emmanuel, der Sohn des jüdischen Vorstehers, „sich glücklich und geschmeichelt fühlte, wenn er im Gasthof mit den Honoratioren, wie dem Gerichts- und Postbeamten und etlichen 166 167 168 169 170

Blau, antisémitisme, S. 62. Vgl. ebd., S. 62 – 67. Vgl. Kronenberger, S. 14 – 19. Daltroff, juifs, S. 161. Vgl. Cerf, Shabat. Dies gilt auch für andere ländliche Regionen, z. B. Baden. Vgl. ­Baumann, Nachbarschaften, S. 101. Vgl. Guth, Alltagsleben, S. 192.

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­ erbereibesitzern am selben Tisch sitzen durfte“.171 Etwas anders verhielt es sich G spätestens um die Jahrhundertwende im luxemburgischen Medernach, dessen jüdische Einwohner zeitweise der Glaubensgemeinschaft von Ettelbrück angehörten und wo die ansässigen jüdischen Männer regelmäßig ins Wirtshaus Kieffer kamen. In Ettelbrück selbst besuchten jüdische Einwohner ebenfalls hin und wieder die Gastwirtschaften des Ortes, z. B. das „Café Walich Huss“.172 Über ökonomisch motivierte Gasthausbesuche und die vereinzelt nachweisbare Teilnahme an den Stammtischen hinaus begaben sich jüdische Landbewohner aufgrund ihrer Mitgliedschaft in den zumeist während des Zweiten Kaiserreichs gegründeten Dorfvereinen zum Ende des Jahrhunderts immer öfter in christliche Wirtschaften, in denen die meisten Assoziationen ihre regelmäßigen Treffen abhielten.173 In einigen der betrachteten Dörfer betrieben jüdische Einwohner zeitweise jüdische Gast- bzw. Schankwirtschaften, so 1852 Benoit Lazard in Boulay und Samuel Löb 1849 in Illingen.174 In der Regel wandten sich die Inhaber primär an ein jüdisches Publikum, wie beispielsweise Joseph Levy, der den die Märkte von Ettelbrück besuchenden jüdischen Händlern eine (koschere) Unterkunft bieten wollte.175 Die auf dem Land lebenden Juden beschränkten sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts allerdings nicht mehr auf den Besuch solcher Etablissements. In der Rheinprovinz war dies teilweise sogar schon in den Vier­ziger­ jahren der Fall, vor allem wegen der geringen Zahl jüdischer Gasthäuser und Schankwirtschaften.176 Die wenigen jüdischen Wirtshäuser zogen in einzelnen Fällen nicht nur ein jüdisches, sondern auch ein christliches Publikum an.177 Für Lothringen und das Großherzogtum Luxemburg ist für den Anfang des 20. Jahrhunderts nachzuweisen, dass sich einige christliche Lokale auf die Gewohnheiten und Wünsche jüdischer Gäste eingestellt hatten. In Gros­bliederstroff wurde im Wirtshaus Doub nicht nur ein Zimmer für die jüdischen Gäste reserviert, die 171 172 173 174

Wiehn, S. 25. Vgl. Dietrich, Konfession, S. 315. Vgl. Schoentgen, S. 318 f. Vgl. Dondelinger/Muller, Teil III, S. 31. Vgl. Kapitel 5.3.2. Vgl. auch Dietrich, Konfession, S. 316 – 318. Vgl. die Volkszählungsliste von Boulay, 28.6.1851, in: ADM ED100 1F1. Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1218, S. 123. 175 Vgl. Extrait du registre des déliberations du Conseil municipal de la mairie d’Ettelbruck, 19.2.1812, in: ANL B 527. Vgl. Muller, Arthur: Jüdische Bevölkerung in Ettelbrück, in: Administration communale d’Ettelbruck, S. 267. 176 Vgl. Jehle, Juden, Bd. 2, S. 501, 524. 177 Von dem in der Nähe von Saarburg gelegenen preußischen Dorf Kirf ist bekannt, dass dort regelmäßig katholische Männer den sonntäglichen Gottesdienst verließen, um in dem von dem Juden Michel Kahn betriebenen „Branntweinhaus“ die Predigt zu schwänzen. Vgl. Heidt/Lennartz, S. 126 f. Vgl. Löwenstein, Anfänge, S. 214.

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sich dort am Sabbat und den Feiertagen trafen und Karten spielten, sondern es wurden neben dem Kaffee auch „gâteaux pessahtiques“ serviert. Nahe Boulay befand sich die Wirtschaft Koch, in der im Sommer auch jüdische Familien auf ihren kurzen Spaziergängen am Sabbat einkehrten. Die Kinder bekamen dort Limonade, die sie aber erst am folgenden Montag bezahlen mussten, da sie am Sabbat kein Geld bei sich tragen durften und die besagte Wirtschaft sonntags geschlossen war. Im luxemburgischen Medernach stellte sich das Wirtshaus Kieffer ebenfalls auf seine nichtchristliche Kundschaft ein, indem der Inhaber stets besondere „Juddeglieser“ für die jüdischen Gäste, die bei ihm nur Kaffee zu sich nahmen, bereithielt.178 Wirtshäuser bildeten jedoch nicht nur einen Ort, an dem jüdisch-christ­ liche Geselligkeit stattfinden konnte, sondern sie stellten auch einen Platz dar, an dem die christlichen Einwohner ggf. ihre negativen Meinungen über „die Juden“ bzw. ihre jüdischen Mitbürger äußern konnten. Infolge gemeinschaftlicher Ge­­spräche und des Alkoholkonsums waren sie teilweise auch zu Handlungen außerhalb des Wirtshauses im Dorf bereit. In Illingen beschwerte sich im Jahr 1845 die jüdische Witwe Bernard über einen gegen ihr Haus gerichteten Steinwurf, woraufhin der Bürgermeister Ermittlungen begann, in deren Mittelpunkt das Wirtshaus der Witwe Eberhard stand.179 Der Beamte konnte die Angelegenheit zwar nicht aufklären, aber er hoffte nichtsdestotrotz, dass wegen des gerichtlichen Vorgehens in der Sache „die Bübereien mit dem Stein- und Kieswerfen pro futuro unterbleiben“.180 Der genannte Fall war nur eines von mehreren derartigen Vorkommnissen, weswegen man nicht unbedingt davon ausgehen kann, dass er eine spezifisch antijüdische Stoßrichtung hatte. Kurze Zeit zuvor waren nämlich auch dem christlichen Gastwirt Doerr die vor dem Hause hängenden Laternen eingeworfen worden. Anders gestaltete sich die Situation im August 1846, als sich in Illingen das Gerücht verbreitete, ein Auswanderer habe einen Geldbeutel verloren und der Krämer Lazarus Levy ihn gefunden, aber nicht zurückerstattet. Im Anschluss an diese Begebenheit, die nicht eindeutig geklärt werden konnte, kam es u. a. zum Singen eines eigens gedichteten Spottliedes – „der Geldbeutel“ – in den Wirtshäusern des Dorfes, so auch in demjenigen von Peter Doerr. Neben dem Gesang riefen einige der Besucher öfters „Geldbeutel“, u. a. als der jüdische Händler Simon das Haus passierte, worüber er sich beim Bürgermeister beschwerte.181 Dieser begab sich darauf hin „an Ort und Stelle, wo die Versammelten […] versicherten den p. 178 Vgl. Juda, S. 5. Vgl. Daltroff, juifs, S. 149. Vgl. Schoentgen , S. 318 f. 179 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 843, S. 38 – 41. 180 Ebd. S. 39. 181 Vgl. ebd., S. 38, 55 – 60.

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Albert weder gesehen noch gehört zu haben, und ihm auch mündlich in meiner Gegenwart versichern zu wollen, dass es keineswegs wegen ihm geschehen oder gerufen worden sey“.182 Selbst wenn diese Aussage der Wahrheit entsprochen haben sollte, so ist doch nachweisbar, dass in den Straßen des Dorfes Vergleichbares geschah, wo christliche Jugendliche das Spottlied auf den Straßen sangen und in der Nähe befindlichen Juden „Geldbeutel“ hinterherriefen.183 5.1.4 Die Schulen: vom Wunsch, Abstand zu wahren

Auch Schulen stellten Orte des Treffens von jüdischen und christlichen Einwohnern dar, allerdings in unterschiedlichem Maße. In Ettelbrück besuchten die jüdischen Kinder bis zum Ende des 19. Jahrhunderts die katholische Elementar­ schule, z. B. bereits 1813 eine Tochter aus der ersten im Ort an­­sässigen jüdischen Familie.184 Dies stellte einen Unterschied zur Situation in der Hauptstadt dar, wo die jüdischen Einwohner 1810 aus religiösen Gründen noch nicht bereit waren, ihre Kinder an die katholischen Schulen zu schicken, und zeitweise einen jüdischen Elementarlehrer engagierten. Die bis in die zweite Jahrhunderthälfte hinein zumeist verstreut auf dem Land lebenden jüdischen Familien konnten sich die Anstellung von Lehrpersonen nicht leisten und zeigten nicht zuletzt des­ wegen wenig Berührungsängste, weil sie ihre Kinder an die katholischen Schulen ­schicken mussten, wenn sie ihnen eine schulische Bildung zukommen lassen wollten.185 Im Fall von Ettelbrück betrachteten wohl auch die christlichen Einwohner den überkonfessionellen Kontakt im Schulwesen nicht als problematisch. Als Mitte der Siebzigerjahre das Gebäude der Ettelbrücker Gemeindeschule zu eng wurde, wurde der Unterricht einer Klasse zeitweise in das Haus der Jüdin Salomon verlegt. Das in den Fünfzigerjahren von Schwestern der „doctrine chrétienne“ eröffnete Pensionat besuchten zumindest um die Jahrhundertwende auch einige jüdische Mädchen.186 In den Untersuchungsorten der Rheinprovinz und Lothringens gestaltete sich die Lage anders als in dem luxemburgischen Dorf, denn dort existierten über Jahrzehnte hinweg separate jüdische Schulen. In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts gründete sowohl in der Rheinprovinz als auch in Lothringen ein Teil der jüdischen Landgemeinden Einrichtungen, an denen die Kinder nicht mehr ausschließlich eine religiöse Ausbildung

182 183 184 185 186

Ebd., S. 60. Ebd., S. 58 f. Vgl. Dondelinger, Teil II, S. 24. Vgl. Goedert, S. 349. Vgl. Thilman, S. 48. Vgl. Dondelinger/Muller, Teil III, S. 28. Vgl. Flies, S. 1463 – 1572.

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erhielten, sondern auch profanen Unterricht.187 1833 existierten in Lothringen elf solcher Schulen, u. a. eine in Boulay. Hinzu kamen mindestens vier sogenannte „écoles clandestines“ – im deutschen Kontext oft „Winkelschulen“ bezeichnet –, in denen ein eher traditioneller Unterricht mit Schwerpunkt auf der Lehre des Hebräischen erteilt wurde.188 Die Zahl der jüdischen Elementarschulen stieg dem Bevölkerungswachstum folgend leicht an, sodass 1851 allein im Konsistorialbezirk von Metz sieben Schulen dieser Art in kleineren Orten existierten, u. a. eine in Grosbliederstroff. Die Mehrheit der jüdischen Landbewohner Lothringens schickte ihre Kinder allerdings auf die in der Regel katholischen Ortsschulen und ließ ihnen ergänzend Religionsunterricht durch die Vorsänger erteilen. Diese Praxis hatte sich in Lothringen wegen Bedenken gegenüber dem christlich-jüdischen Kontakt allerdings erst in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts durchgesetzt: Noch 1810 besuchten in den Départements Moselle und Meurthe lediglich 210 jüdische Kinder katholische Gemeindeschulen, in erster Linie in den Städten. 1851 gingen trotz der Gründung moderner jüdischer Schulen im Metzer Konsistorialbezirk etwa 62 – 64 % der knapp 1200 jüdischen Kinder an christliche Schulen.189 In der südlichen Rheinprovinz gestaltete sich die Entwicklung des Schul­besuchs der jüdischen Kinder ähnlich wie in Lothringen. Nicht zuletzt infolge der 1824 auch für die jüdischen Kinder eingeführten Schulpflicht entstanden in der Rheinprovinz jüdische Schulen mit einem modernen Lehrplan, allerdings besuchten aufgrund der zerstreuten Siedlungsweise viele jüdische Kinder die christlichen ­Schulen. Im Jahr 1832 gingen im Regierungsbezirk Koblenz 35 % der schulpflichtigen Juden­kinder in eine jüdische Schule, während es im tendenziell noch ländlicher geprägten Bezirk Trier 46 % waren. In dem ersteren Verwaltungsbezirk existierten 1845 neun und in dem von Trier zwölf jüdische Elementarschulen, wobei die Lehreinrichtungen von Gemünden und Illingen mit 44 bzw. 39 Kindern zu den am stärksten besuchten Einrichtungen zählten. Während im Verwaltungsbezirk von Koblenz der Anteil der Kinder, die ausschließlich jüdische Schulen besuchten, schon im Abnehmen

187 Vgl. Schellack, das jüdische Schulwesen, S. 23 – 26. Vgl. Mendel, S. 32. Vgl. Levy, Cerf: Les écoles juives d’Alsace et de Lorraine vers 1833, o. J., extrait d’un article de La tribune juive, Nr. 32 – 37, online im Internet: http://judaisme.sdv.fr/histoire/document/ecoles/ plevy/plevy.htm [Stand 24.06.2014]. Vgl. Decomps, lieux, S. 134. Vgl. Roos, relations entre les juifs, S. 231 – 239. 188 Vgl Levy, écoles. Vgl. Job, Françoise: Les communautés israélites de l’arrondissement du Lunéville au début du XIXe siècle. Aspects sociologique et économique, vie religieuse, in: Archives Juives Nr. 2, Jg. 9, 1973, S. 26. Vgl. Hyman, Jews of modern France, S. 68. 189 Vgl. Etat des écoles israélites dans la circonscription consistoriale de Metz, 18.7.1851, in: CAHJP zf/469. Vgl. Roos, juifs, S. 283 – 293. Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 129. Vgl. Meyer, présentation, S. 22. Vgl. Posener, effects, S. 307 – 312. Vgl. Kapitel 4.3.2.

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begriffen war, erreichte dieser im Nachbarbezirk erst 1848 seinen Höhepunkt mit 57 %. Dass die jüdische Elementarschule ein vor allem auf dem Land b­ eheimatetes Phänomen war, gilt nicht nur für Lothringen und die Rhein­provinz, sondern auch für andere deutsche und französische Regionen, z. B. Baden oder das Elsass.190 Dass in den Städten jüdische Kinder zumeist in einem größeren Umfang christliche Schulen besuchten, hatte mehrere Gründe: Zum einen boten die jüdischen Lehreinrichtungen nicht immer genügend Platz für alle Kinder, zum anderen zeigten besonders die soziale Ober- und Mittelschicht der Minderheit nur wenig Berührungsängste.191 Dass die Einrichtung jüdischer Schulen in der Regel nicht ausschließlich die Folge eines von der christlichen Bevölkerung erzwungenen Ausschlusses war, sondern auch die jüdischen Einwohner diese Art der Trennung befürworteten, lässt sich am Beispiel von Illingen nachweisen. Bis 1823 besuchten die jüdischen und christlichen Kinder eine Schule, dann aber befanden es die Eltern beider Reli­ gionen als sinnvoller, den Unterricht getrennt stattfinden zu lassen, da es zu „fortwährenden Beschwerden, Reibungen und Conflicten“192 gekommen war. Noch 1855 äußerten die Vorsteher der jüdischen Gemeinde die Überzeugung, dass „die confehsionelle Verschiedenheit […] eine segensreiche Combination israelitischer und katholischer Kinder in einer und derselben Schule nicht zulässt. Beide Confehsionen müssen darunter leiden, und sich entweder verflachen, oder immer ­bitterer anfeinden.“193 Die jüdische Gemeindeführung sprach sich für eine Akzeptanz der Unterschiede zwischen Juden und Christen aus. Beide Religionen sollten in ihrer jeweiligen Einzigartigkeit existieren und die Grundlage dafür sollte durch die Trennung der jüdischen und christlichen Kinder im schulischen Bereich gelegt werden. Der Grund, warum auch die jüdischen Eltern von Gemünden trotz der großen finanziellen Belastung die Existenz einer jüdischen Schule sicherten, war 190 Vgl. Brämer, Leistung, S. 464 – 479. Vgl. Jehle, Juden, Bd. 4, S. 1431, 1468, 1495 – 1504. Vgl. Richarz, Monika: Jüdische Lehrer auf dem Lande im Kaiserreich, in: Shulamit Volkov/Frank Stern (Hg.): Sozialgeschichte der Juden in Deutschland. Festschrift zum 75. Geburtstag von Jacob Toury (Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte, Bd. 20), Gerlingen 1991, S. 182 – 184. Vgl. Szajkowski, Zosa: Jewish Education in France, 1789 – 1939, New York 1980. Vgl. Für den Norden der Rheinprovinz Zittartz-Weber, Religion, S. 354. 191 Vgl. Etat des écoles israélites dans la circonscription consistoriale de Metz, 18.7.1851, in: CAHJP zf/469. Vgl. Hyman, Jews of modern France, S. 68. Vgl. Richarz, Lehrer, S. 184 f. Metz stellte eine Ausnahme unter den größeren Städten Frankreichs dar, denn hier besuchte anscheinend die Mehrheit der jüdischen Kinder die beiden als kommunal anerkannten jüdischen Elementarschulen. Insofern ist Cohen, promotion, Bd. 2, S. 760 zu korrigieren. 192 LAS Dep. Illingen Nr. 1546, S. 13. 193 LAS Dep. Illingen Nr. 1546, S. 39.

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ebenfalls religiöser Natur: Sie fürchteten, dass beim Besuch der christlichen Elementarschulen der jüdische Religionsunterricht, den sie mitunter als wichtigsten Lehrgegenstand ansahen, entfallen würde.194 In Lothringen nahmen die jüdischen Eltern ebenfalls große finanzielle Belastungen auf sich, um die religiöse Ausbildung ihrer Kinder – vor allem der Jungen – zu gewährleisten. So tat im Jahr 1825 ein jüdischer Vater in Boulay die Meinung kund, dass die Erlernung bestimmter Gebete und liturgischer Gesänge das wesentliche Ziel des Unterrichts sei. In den ersten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts spielte es zudem eine Rolle, dass viele christliche Franzosen einer Vermischung ihrer Kinder mit den jüdischen Kindern in den Schulen ablehnend gegenüberstanden. So lobte z. B. 1821 die Pariser Gesellschaft für die Verbesserung des Elementarunterrichts den Bildungswillen der jüdischen Einwohner des Départements Moselle, beklagte allerdings dass deren Kindern nicht in allen Orten die öffentlichen (katholischen) Schulen offen ständen. In manchen jüdischen Landgemeinden Lothringens verstärkten zudem Konflikte zwischen katholischen Lehrern und jüdischen Eltern den Wunsch der Letzteren, eine eigene Lehranstalt einzurichten. Dass in Lothringen anders als in der Rheinprovinz nach der Jahrhundertmitte eine Reihe von jüdischen Schulen neu eingerichtet wurde, hing mit dem „Loi Falloux“ von 1850 zusammen, das eine Gleichbehandlung von christlichen und jüdischen Schulen vorsah. In manchen Städten der Region sahen die jüdischen Gemeinden dennoch davon ab, eigene Schulen einzurichten, z. B. besuchten die jüdischen Kinder ­Thionvilles ohne Widerstände die katholische Schule.195 In der Hauptstadt von Luxemburg waren Anfang der Vierzigerjahre ähnlich wie im Illinger Fall sowohl die jüdischen Einwohner als auch die christliche Stadtführung der Meinung, dass eine Trennung der Kinder der verschiedenen Konfessionen aus Rücksicht auf die religiösen Befindlichkeiten sinnvoll sei. Die Rücksicht auf die religiösen Gefühle der Minderheit nahm jedoch ein Ende, als die Kommune sich finanziell an der Unterhaltung der Schule beteiligen sollte.196 Rabbiner Hirsch wandte daraufhin ein, dass es noch andere Gründe für eine separate jüdische Schule gäbe: Die Juden, die „kaum vom mittelalterlichen Druck befreit sind, [haben] eine besondere Erziehung nöthig, um sich als Mitbürger eines freien Staates zu fühlen, um ihre Pflichten in einem solchen zu 194 Vgl. LHAK Best. 441 Nr. 9811, S. 16, 399. 195 Vgl. Instituteur israélite de Boulay Fabius à l’avocat au cour royale de Metz Anspach, 7.7.1825, in: ADM 17J71. Vgl. Journal d’éducation publié par la Société formée à Paris pour l’amélioration de l’enseignement élémentaire, Bd. 11, 1821, S. 216. Vgl. Levy, écoles. Vgl. Posener, effects, S. 311 f. Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 129. Vgl. auch Kapitel 5.5.3. 196 Bourgmestre et échevins de la ville de Luxembourg au Régence du Pays, 17.12.1841, délibération du conseil communal de la ville de Luxembourg, 2.4.1844 in: ANL F68.

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begreifen, die ihnen von einem christlichen Lehrer, der nichts von der Schmach je gefühlt hat, die auf den Juden gelastet hat und nichts von den Wirkungen kennt, die diese im Gemüth des Juden hervorbrachte […] wahrlich nicht ertheilt werden kann“.197 Der Rabbiner lehnte sich stark an Vorstellungen von Dohm an, indem er davon ausging, dass die „Verbesserung“ der Juden nicht einfach durch Gleichstellung, sondern erst durch Erziehung erreicht werden könne. Anders als seine Glaubensbrüder in der Rheinprovinz und Lothringen argumentierte Hirsch nicht mit dem Ziel der Bewahrung der religiösen Eigenheiten des Juden- und des Christentums, sondern er ging von einer durch Unterdrückung hervorgerufenen, negativen jüdischen Wesensart aus. Seine Sichtweise erwies sich insofern als nicht ausreichend, als die jüdische Schule aufgrund finanzieller Probleme 1847 schloss.198 Es ist festzustellen, dass jüdische Schulen durchaus ein Ort der Begegnung von Juden und Christen sein konnten, da zumindest zeitweise christliche Lehrkräfte aushalfen. In Illingen übernahm ab 1823 der katholische Lehrer König für drei Jahre den von den christlichen Kindern getrennt stattfindenden Unterricht der jüdischen Schüler, da keine jüdische Lehrkraft vorhanden war.199 In Gemünden unterrichtete sein katholischer Kollege Wilhelmy ebenfalls für drei Jahre ab 1833 die jüdischen Schüler. Zwar stellten solch lange Zeiträume eine Ausnahme dar, aber in dem Hunsrückdorf kam es wegen der häufigen Lehrerwechsel des Öfteren dazu, dass christliche Lehrer die Bildung der jüdischen Kinder übernahmen. Sie überbrückten mit ihrer Tätigkeit, die einen willkommenen Nebenverdienst darstellte, die Zeit bis zum Antritt eines neuen jüdischen Lehrers. Eine Ausnahme stellte das Engagement von Pfarrer Hirsch in Gemünden dar, der 1866 für einige Monate einen Teil des Unterrichts übernahm: Hirsch unterrichtete die jüdischen Kinder jeden Morgen drei Stunden, ohne eine Entschädigung dafür zu verlangen.200 In Grosbliederstroff übernahm zwar nie ein christlicher 197 Oberrabbiner Samuel Hirsch an den luxemburgischen Regierungsrat, 9.5.1844, in: ANL G128. 198 Vgl. Consistoire israélite de Metz, au préfet de la Moselle, 4.9.1830, in: ADM 1T23. Vgl. Behm, Britta L.: Moses Mendelssohn und die Frage der „bürgerlichen Verbesserung“ der Juden – Ansätze zur jüdischen Integration zwischen „Gleichheit“ und Mannigfaltigkeit“, in: dies. (Hg.): Jüdische Erziehung und aufklärerische Schulreform. Analysen zum s­ päten 18. und frühen 19. Jahrhundert (Jüdische Bildungsgeschichte in Deutschland, Bd. 5, Münster 2002, S. 275 – 279. Vgl. Kapitel 4.3.2 und 5.5.3. 199 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1546, S. 35 f. 200 Nachweislich unterrichteten christliche Lehrer 1827, 1833 – 1836, 1861, 1863 und 1865/1866 die jüdischen Kinder. Vgl. Nachweisung der in der Bürgermeisterei Gemünden am Anfang des Jahres 1827 vorhandenen öffentlichen Unterrichtsanstalten, in: LHAK Best. 655,12 Nr. 157. Vgl. LHAK Best. 441 Nr. 9811, S. 75 – 81, 109 – 117, 519 – 525, 575 f., 601 – 611.

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Lehrer den Unterricht an der jüdischen Schule, aber spätestens während der deutschen Herrschaft bürgerte sich die Sitte ein, dass die jüdischen Kinder die katholische Schule besuchten, wenn ihr eigener Lehrer außerstande war, sie zu unterrichten. Dass es sich bei den Lehrerinnen zumindest teilweise um Nonnen handelte, stellte kein Hindernis dar. Wenn eine von ihnen aufgrund des Alters ihre Stelle aufgab und das Dorf verließ, erhielt sie von jüdischer Seite ein Abschiedsgeschenk.201 Bekehrungsversuche unternahmen christliche Lehrkräfte in der Regel nicht, weswegen die Ende des Jahres 1866 gegen den Willen der jüdischen Mutter im ­luxemburgischen Strassen vollzogene Taufe eines jüdischen Mädchens eine Ausnahme darstellt. Henriette Levy besuchte die katholische, von Nonnen geleitete Ortsschule und diese „konnten, wie es scheint, dem frommen Wunsche, dem ­lieben Herrgott ein Weihnachtsgeschenk mit einer getauften israelitischen Seele zu machen, nicht widerstehen“.202 Das Mädchen wurde anscheinend weder vom Pfarrer noch von den bei der Taufe anwesenden Mitgliedern der Kommunal­ verwaltung zum Religionswechsel gezwungen, sondern es waren wohl die u. a. im Schulunterricht verbreiteten Lehren, die sie zu dieser Entscheidung bewegt hatten. Von einem gewissen sozialen Druck ist angesichts der Dominanz des Katholizismus im schulischen Umfeld dennoch auszugehen. Nach Angaben des „Wächters an der Sauer“ sei sie auf die ernsten Folgen eines Religionswechsels hingewiesen worden. Wie außergewöhnlich die Angelegenheit war, belegt das grenzüberschreitende ­mediale Echo, welches der Fall auslöste und die in diesem Zusammenhang geäußerten Vergleiche mit der sogenannten „Mortara-Affäre“.203 Das Mädchen wurde nach der Begebenheit mithilfe der Spenden aus einer von der jüdischen Gemeindeverwaltung veranstalteten Kollekte in ein Pensionat nach Frankreich geschickt. Die Reaktionen auf christlicher Seite widersprachen sich. Der liberale „Courier du Luxembourg“ bedauerte den Vorfall, betonte seine Sympathie für die jüdische Bevölkerung und glaubte, „im Namen aller Ehrenmänner des Landes zu sprechen, wenn wir unserer Entrüstung Ausdruck geben“.204 Das „Luxemburger Wort“ dagegen betonte, dass die junge Jüdin freiwillig zum Übertritt bereit gewesen sei und die Mutter Druck auf ihre Tochter ausgeübt und somit deren Gewissensfreiheit verletzt habe. Die AZJ nutzte den Vorfall, um jüdischen Eltern gründliche Überlegungen bei der Wahl der Schule nahezulegen.205 201 Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 228, 252. Vgl. Roos, juifs, S. 293. 202 AZJ, Nr. 3, 1867, S 50. 203 Vgl. ebd. Vgl. Luxemburger Wort, 1.1.1867, S. 1 f. Vgl. Der Wächter an der Sauer, 6.1.1867, S. 3. Vgl. Der Israelit, Nr. 2, 1867, S. 26. 204 AZJ, Nr. 3, 1867, S. 50. 205 Vgl. Luxemburger Wort, 1.1.1867, S. 2. Vgl. AZJ, Nr. 3, 1867, S. 50.

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In Ettelbrück verlief der Schulbesuch der jüdischen Kinder reibungslos und anders als in den übrigen betrachteten Orten trat sogar der Fall ein, dass eine jüdische Lehrkraft christliche Schüler lehrte: Im Ouvroir von Ettelbrück, der sogenannten Gemeindearmenschule, war in der zweiten Jahrhunderthälfte neben mehreren Nonnen auch eine Jüdin tätig. Die Letztere erteilte zeitweise zusammen mit der katholischen Schwester Hyazinth armen Mädchen aus dem Dorf Näh- und Zuschneideunterricht.206 Für Lothringen ließen sich für die zweite Jahrhunderthälfte mehrere ähnliche Fälle finden, während in der vorhergehenden Zeit Vorbehalte vonseiten der katholischen Kirche solche Arrangements behindert hatten.207 Für die Rheinprovinz ließ sich lediglich ein Fall auf dem Land finden, in dem der jüdische Lehrer den Unterricht des evangelischen Lehrers übernahm, da dieser zu einer Schießübung musste: Im Jahr 1875, als der Kulturkampf gerade erst abzuflauen begann, zog es der evangelische Kreisschuldirektor (und Pastor) von Simmern vor, den jüdischen Lehrer Eisenkrämer aus Laufersweiler mit der Betreuung der dortigen evangelischen Kinder zu beauftragen – vor dem katholischen Lehrer des Ortes.208 In Preußen wurden allerdings selbst nach der Jahrhundertwende und in Großstädten nur in Ausnahmefällen jüdische Lehrer als Lehrkräfte an den (christlichen) Volksschulen eingesetzt, nicht zuletzt wegen der ablehnenden Haltung der christlichen Eltern.209 Erst nach der Auflösung der jüdischen Lehreinrichtungen wurden die christlichen Dorfschulen von Gemünden und Boulay zu Institutionen, in denen sich jüdische und christliche Kinder regelmäßig begegneten. Dass zumindest ein Teil der jüdischen Eltern dieser Entwicklung weiterhin skeptisch gegenüberstand, zeigte sich in beiden Orten. Zwar wurde 1874 in Gemünden die jüdische Schule mit Zustimmung des jüdischen Vorstandes aufgelöst, allerdings bestand bei einem Teil der jüdischen Eltern Unbehagen darüber, was sich in erfolglosen Gesuchen um 206 Vgl. Flies, S. 1446, 1467, 1472. 207 In Phalsbourg organisierte z. B. Mathilde Salomon den Sekundärunterricht für die Mädchen und wurde sogar Direktorin der Lehreinrichtung. Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 285. Vgl. Roos, juifs, S. 161. 208 Eisenkrämer betrachtete seinen Auftrag als Anzeichen dafür, dass „das Licht der Auf­klärung und der wahren Humanität überall siegen wird“, übersah aber die Rolle des protestantisch-katholischen Gegensatzes. Vgl. AZJ, Nr. 26, 1875, S. 412 f. Vgl. Brämer, Andreas: Kein Beruf für Israels Töchter? Jüdische Frauen im niederen Schulwesen 1800 – 1914, in: Kaplan/Meyer, S.  121 – 124. 209 Das früheste Beispiel für die gemeinsame Unterrichtung von jüdischen und christlichen Kindern durch jüdische Lehrer in Preußen ist die Berliner Freischule. Vgl. Lohmann, Ingrid/Mayer, Christine: Educating the Citizen. Two Case Studies on Inclusion and Exclusion in Prussia in the Early Nineteenth Century, in: Paedagogica Historica, Nr. 1, Jg. 43, 2007, S. 26.

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eine Wiedereinrichtung der Schule ausdrückte.210 In Boulay wurde die jüdische Schule in demselben Jahr wie in Gemünden geschlossen und schon im folgenden Jahr wünschten die Juden des Ortes eine Wiedereinrichtung dieser Anstalt. Als Ursache für dieses Verlangen nannte der Schulinspektor Montada einen Besuch des Straßburger Rabbiners, der den jüdischen Einwohnern diese Maßnahme zur „Reinhaltung des Glaubens“ nahegelegt hatte.211 Die jüdische Gemeindeverwaltung argumentierte, dass die (außerschulische) Erlernung des Hebräischen, das die Grundlage für den Religionsunterricht darstellte, sehr zeitaufwendig sei. Wenn ein (jüdischer) Lehrer den Sprach- sowie den Elementar- und Religionsunterricht übernähme, würde dies eine Erleichterung für die Kinder bedeuten, zumal diese beim Besuch der katholischen Dorfschule unter den unterschiedlichen religiösen Feiertagen litten: An den jüdischen Festtagen besuchten sie die Schule nicht und zudem dürften sie am Sabbat nicht mitschreiben, was „wenig fruchtbringend“ sei.212 Die Schließung der jüdischen Schulen in den beiden Untersuchungsorten war Teil einer allgemeinen Entwicklung, die sich auf dem Land vollzog. Wie in anderen ähnlich strukturierten Regionen mussten in der Rheinprovinz und in Lothringen zum Ende des 19. Jahrhunderts viele jüdische Dorfschulen aufgelöst werden, weil die Zahl der Juden immer mehr abnahm. Die schrumpfenden jüdischen Gemeinden bzw. die Eltern waren häufig außerstande, das Gehalt für eigene Elementarlehrer aufzubringen, und auch öffentliche Schulen verloren zumeist beim Unterschreiten einer gewissen Kinderzahl die finanzielle Unterstützung der Kommunen.213 Das luxemburgische Ettelbrück stellt eine Ausnahme dar, denn zu der Zeit, als in den benachbarten Territorien immer mehr jüdische Schulen verschwanden, gründete die im Verlauf der zweiten Jahrhunderthälfte stark angewachsene jüdische Gemeinschaft ihre Elementarschule. Im Jahr 1889 verstarb der jüdische Religionslehrer Besslinger, der sein relativ ansehnliches Vermögen der 30 Familien umfassenden Religionsgemeinschaft hinterließ, die daraufhin die Einrichtung einer

210 Vgl. LHAK Best. 441 Nr. 9811, S. 742 f., 781. Vgl. auch LHAK Best. 467 Nr. 1716, S. 347. Vgl. Schellack, Schule, S. 37. 211 Vgl. Kreisschuldirektor Montada an den Kreisdirektor von Boulay, 17.10.1875, Präsident von Lothringen an die Verwaltungskommission der jüdischen Gemeinde von Boulay, 15.11.1875, in: ADM 9AL40. 212 Vgl. Gesuch der Verwaltungs-Commission der israelitischen Synagoge zu Boulay, 9.9.1875, in: ADM 9AL40. Dass in den lothringischen Dörfern die jüdischen Schüler wegen des Sabbats regelmäßig Unterricht versäumten, kritisierte bereits 1843 ein Schulinspektor. Vgl. Roos, juifs, S. 288. 213 Vgl. Hazan, S. 9. Vgl. Daltroff, histoire, S. 20. Vgl. Brämer, Leistung, S. 340 – 344. Vgl. Scheindl, S. 103, 108. Vgl. Schellack, das jüdische Schulwesen, S. 27. Vgl. Marx, Geschichte, S. 147.

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eigenen Schule in Angriff nahm, welche auch noch in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts existierte.214 Angaben darüber, wie sich das christlich-jüdische Miteinander in den Schulen gestaltete, finden sich in erster Linie in Erinnerungen, die sich auf die Zeit des Deutschen Kaiserreichs beziehen. Wie schon Monika Richarz für die deutschen Territorien festgestellt hat, variierten die Erlebnisse, welche jüdische Kinder machten, regional, allerdings unterschieden sie sich auch stark von Ort zu Ort.215 In Grosbliederstroff verlief der gelegentliche Besuch der katholischen Schule durch jüdische Kinder ohne Konflikte. In dem nahe Boulay gelegenen Niedervisse kam es hingegen hin und wieder zu Reibungen, z. B. weigerte sich im Umfeld des Ersten Weltkrieges ein jüdisches Mädchen weinend, die Dorfschule zu besuchen, „car l’on disait que les juifs avaient tué le bon Dieu“.216 Vergleichbare Situationen sollte eine Vorschrift des 1880 in Luxemburg erlassenen Schulgesetzes verhindern, in der Lehrern verboten wurde, irgendetwas zu lehren, was die Achtung vor den religiösen Anschauungen anderer verletzen würde. Das ultramontane „Luxemburger Sonntagsblatt“ beklagte daraufhin, dass die Lehrkräfte nicht mehr über den „Gottesmord der Juden“ reden könnten, weil dadurch die jüdischen Einwohner verletzt werden könnten.217 Der Hunsrücker Jude Bernhard Mayer, der in den Siebzigerjahren das Gymnasium in Kreuznach besuchte, kam sich anfangs als Ausgestoßener vor, aber als ihn seine christlichen Mitschüler besser kennengelernt hatten, änderte sich dies. Konfrontiert mit Judenfeindlichkeit wurde er allerdings einmal auf dem Weg zur Schule, als er einige Kameraden in einem Dorf – die Kinder des dortigen Bürgermeisters – abholte und von einem der dort lebenden Jungen mit Steinen beworfen wurde. Als dies dem Vater seiner Mitschüler zu Ohren kam „marschierte er sofort wutentbrannt zur Dorfschule und verprügelte den Missetäter“.218 Es setzten sich allerdings keinesfalls immer Autoritätspersonen zugunsten jüdischer Schüler ein, sondern sie verhielten sich teilweise eher gleichgültig. Als sich in Kaisersesch im Kreis Cochem ein jüdischer Schüler bei seinem Lehrer darüber beschwerte, dass ein katholischer Mitschüler ihn „stinkiger Jud“ genannt habe, erwiderte dieser nur, dann hätte er ihn einen stinkigen Christen nennen sollen.219 Nach dem 1846 in

214 Vgl. Dondelinger/Muller, Teil III, S. 26. Vgl. Flies, S. 1630. 215 Vgl. Richarz, Einführung, Leben, Bd. 2, S. 38. 216 Daltroff, juifs, S. 119, 135. Vgl. auch Raphael, Freddy: L’œuvre d’Erckmann-Chatrian à l’épreuve de la mémoire des Juifs de la campagne lorraine, in: Decomps/Moinet, S. 81. 217 Vgl. AZJ, Nr. 27, 1880, S. 422 f. 218 Wiehn, S. 22. 219 Vgl. Wagener, Harald: Die Geschichte der Juden in Kaisersesch, unveröff. Facharbeit Bonn 1992, als PDF online im Internet: http://www.harryw.de/wp-content/uploads/2011/10/ JudenInKaisersesch.pdf [Stand: 02.07.2014], S. 8.

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­ halsbourg geborenen Isidore Aron waren die jüdischen Einwohner seines Heimat­ P ortes manchmal derselben Beschimpfung ausgesetzt. Seinen Angaben zufolge waren die Urheber der Rufe „sale juif“ ausschließlich „enfants de basse classe, ceux dont les parents, nés dans les villages d’Alsace ou environnants, étaient venus s’installer à Phalsbourg“.220 Insofern gilt die Feststellung von Richarz, dass die Einstellung der Schüler von derjenigen der Eltern und von deren sozialer Stellung abhing, auch für Lothringen. Der Annahme, dass sich antijüdische Haltungen vor allem an kleinbürgerlichen Schulen äußerten, widersprechen allerdings die Erfahrungen des erwähnten Bernhard Mayer. Wenn auch im Heimatdorf von Isidore Aron die dort geborenen christlichen Einwohner – Katholiken und Protestanten – keine anti­jüdischen Äußerungen machten, so gilt dies nicht für ganz Lothringen. Noch in den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts wurden jüdische Schulkinder in Lothringen als „sale juif“ gehänselt, z. B. Alphonse Cerf in N ­ iedervisse, der sich entweder von anderen christlichen Schulkameraden beschützen ließ oder sich selbst wehrte.221

5.2 Die Auswirkungen der Religion auf das Zusammenleben Der Stellenwert religiöser Praktiken im Alltagsleben war in den Untersuchungsdörfern genauso wie in den kleinen Orten anderer ähnlich strukturierter Regionen das gesamte 19. Jahrhundert über als hoch einzuschätzen: Weder der Kirchgang noch Taufen und Trauungen stellten rein private Angelegenheiten dar, sondern waren Bestandteil des kirchlichen Gemeindelebens sowie des gesellschaftlichen Dorflebens und somit so­­ zialer Kontrolle unterworfen.222 Aussagen von Dorfbewohnern legen zudem nahe, dass es sich in der Rheinprovinz und Lothringen zum Beginn des 20. Jahrhunderts nicht nur um eine nach außen zur Schau getragene Kirchenfrömmigkeit 223 handelte,

220 Meyer, présentation, S. 23. 221 Vgl. Richarz, Einführung, Leben, Bd. 2, S. 38. Vgl. Daltroff, juifs, S. 105 f., 119, 165. 222 Vgl. Dietrich, Konfession, S. 177 – 194. Vgl. Roth, époque, S. 106. Vgl. Mechin, Colette: Fêtes et saisons, in: Jean Lanher (Hg.): La vie traditionnelle (Encyclopédie illustrée de la Lorraine. La vie en Lorraine, Bd. 4), Metz 1989, S. 83 – 126. Vgl. zum Beginn des 19. Jahrhunderts Molitor, Hansgeorg: La vie religieuse populaire en Rhénanie française, 1794 – 1815, in: Bernard Plongeron (Hg.): Pratiques religieuses. Mentalités et spiritualités dans l’Europe Révolutionnaire (1770 – 1820). Actes du colloque, Chantilly 27 – 29 novembre 1986, Turnhout 1988, S. 59 – 66 und Schneider, René: Dévotions et vie spirituelle dans les paroisses de Moselle selon une enquête de 1807, in: Plongeron, S.  626 – 633. 223 Der Besuch der Gottesdienste war in einem Teil der untersuchten Dörfer sogar eher als nachlässig anzusehen.

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so z. B. im Illinger Umfeld oder in Boulay, wo 1881 der Bürgermeister 90 % der Bevölkerung eine „streng religiöse Gesinnung“ zuschrieb.224 Die Feier des Sabbats und der jüdischen Feiertage verband die Mitglieder der jüdischen Gemeinden untereinander, trennte sie zugleich aber vom christlichen Bevölkerungsteil. Die unterschiedliche Einteilung der Woche in Arbeits- und Ruhetage führte zu einem anderen Lebensrhythmus, und der auf dem Land bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zumeist befolgte jüdische Ritus führte in einigen alltäglichen Lebensbereichen zu einer Abgrenzung von der christlichen Umwelt.225 So nahmen z. B. wegen des Reinheitsgebots jüdische Einwohner im Kreis Boulay Abstand davon, bei christlichen Bauern zu essen und auch im Hunsrück suchten die jüdischen Einwohner die Speisegebote soweit wie möglich einzuhalten. Die zahlreichen Bestimmungen in diesem Bereich hatten sogar zur Entwicklung einer speziellen jüdischen Küche geführt, die regionaltypische Sonderheiten berücksichtigte.226 Religiös geprägte Familienfeste wie Beschneidung, Bar-Mizwa und Hochzeit, aber auch Beerdigungen fanden bis weit ins 19. Jahrhundert hinein häufig ausschließlich im Kreis der jüdischen Gemeinde statt. Dies bedeutet, dass trotz der Emanzipation das soziale Leben der Landjuden zunächst in weiten Teilen mit ihrem religiösen Leben identisch blieb.227 Während die jüdische Gemeinde auf dem Land in der ersten Hälfte des Jahrhunderts noch „im Grunde eine große Familie“228 bildete, begann in den wenigen größeren Städten der betrachteten Regionen allmählich das Auseinanderfallen der sozialen und religiösen Gemeinschaft. Selbst in den Letzteren beschränkte sich diese Entwicklung allerdings zunächst auf die kleine Gruppe der gehobenen Schicht.229 In kleineren Städten 224 Vgl. Bürgermeister von Boulay an den Präsidenten von Lothringen 18.4.1881, in: ADM 9AL40. Vgl. Bajetti, histoire, S. 23. Vgl. Zingerlé, Marie Françoise: Toujours fidèle à la France. Journal der guerre d’une paysanne lorraine, annoté et commenté par Philippe Tomasetti, Sarreguemines 2003, 68, 220 – 227, 344. Vgl. Haupert, S. 58 f., 64, 11 – 113. Vgl. Jüngst, Karl Ludwig: „Auch dafür danke ich dem lieben Gott“. Lebenserinnerungen des Holzer Bergmanns Johann Meiser, in: Mallmann, S. 44 – 47. 225 Vgl. Toury, Geschichte, S. 122 f. Vgl. Ullmann, S. 417. Vgl. Grözinger, Karl Erich: „Schadday“ – Hüter der Türen Israels. Jüdische Frömmigkeit in Alltag Schabbat im 19. Jahrhundert, in: Haus der Geschichte Baden-Württemberg, S. 66. Vgl. Richarz, Entdeckung, S. 18. 226 Vgl. Daltroff, juifs, S. 112 – 117, 121, 131 – 135. Vgl. Gérard, Claude: L’alimentation, in: Jean Lanher, S. 2128. Vgl. Meyer, présentation, S. 23. Vgl. Pies, S. 79 f. Vgl. Cerf, Eve/Raphael, Freddy: La cuisine juive d’Alsace, in: Freddy Raphael (Hg.): Le judaïsme alsacien. H ­ istoire, patrimoine, traditions, überarb. u. verm. Aufl., Strasbourg 2003, S. 83 – 99. 227 Vgl. Richarz, Entdeckung, S. 18. Vgl. Daltroff, juifs, S. 39, 108, 135, 146. 228 Richarz, Einführung, Leben, Bd. 2, S. 53. 229 Vgl. Préfet de la Moselle au ministre de l’Intérieur, 21.7.1842, in: ADM V149. Vgl. Meyer, présentation, S. 23.

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blieb die Situation zunächst mit derjenigen auf dem Land vergleichbar: „malgré leur émancipation ils ont continué à vivre dans l’isolement, ce que l’on doit surtout attribuer, à leur attachement pour la loi de Moyse“.230 Erst ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann sich die Situation in solchen Orten sowie auf dem Land in stärkerem Maß zu ändern. 5.2.1 Begräbnisse und Hochzeiten: zwischen Missachtung und Anteilnahme

Seit der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts nahmen in den ländlichen Gebieten der Rheinprovinz und Lothringens vermehrt Christen aus Pietät an Beerdigungen jüdischer Bekannter teil.231 Als 1862 der von einer jüdischen Familie aus Boulay abstammende David Sopher in Forbach starb, wo er jahrzehntelang als Kultusbeamter gewirkt hatte, nahmen nicht nur zahlreiche Juden aus der Stadt und der ländlichen Umgebung teil, sondern auch eine große Menge von Christen, u. a. der Bürgermeister und Mitglieder des Stadtrates.232 Dass das gemeinschaftliche Andenken an einen Verstorbenen nicht selbstverständlich war, zeigt u. a. die Tatsache, dass der Metzer Großrabbiner anlässlich einer Beerdigung in Boulay noch 1920 ausdrücklich seine Befriedigung darüber äußerte, „de voir combien l’entente cordiale règne entre la population des différentes confessions de Boulay“.233 Diese Situation unterschied sich grundlegend von der Lage, die noch in den ersten Jahrzehnten nach der Annexion des Reichslandes im Ort geherrscht hatte. Die Leidtragenden waren zu dieser Zeit allerdings weniger die jüdischen als vielmehr die protestantischen Einwohner des Ortes: Die Katholiken verboten den Protestanten, bei Beerdigungen den katholischen Kirchhof zu durchqueren, und verlangten, dass jene einen fast unpassierbaren Weg benutzen sollten.234 ­Dieser Konflikt, der keinen Einzelfall darstellte, ist wie andere protestantisch-katho­lische Auseinandersetzungen dieser Zeit vor dem Hintergrund der Annexion und des Wissens der größtenteils katholischen Lothringer um den Kulturkampf zu sehen.235 Noch bis in die Neunzigerjahre störten die katholischen Kinder Boulays wiederholt

230 Sous-préfet de Toul au préfet de la Meurthe, 15.7.1843, in: ADMM V300. 231 Vgl. Debus, S. 241. Vgl. Löwenstein, Anfänge, S. 219. Vgl. für Baden Baumann, Nachbarschaften, S. 73 f. 232 Vgl. Univers Israélite, Nr. 5, 1862, S. 222 f. 233 Vgl. Maire de Boulay au consistoire israélite de Metz, 6.8.1920, in: ADM ED100 3P1. 234 Vgl. Mitglieder der evangelischen Gemeinde Bolchen an den Kreisdirektor von Bolchen, 31.7.1874, in: ADM 7AL282. 235 Vgl. Roth, Lorraine, S. 138 – 142. Vgl. Wahl, Alfred: Communauté protestante et communauté catholique (1871 – 1914), in: Les cahiers Lorrains, Nr. 2/3, 1995, S. 145 – 158. Vgl.

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die protestantischen Beerdigungen durch Lärmen.236 Letzteres geschah in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts des Öfteren bei jüdischen Beerdi­gungen in Lothringen. Bis 1835 erfuhr die Grosbliederstroffer Judengemeinde u. a. deswegen Zuwachs aus dem nahe gelegenen Rouhling, da die dortigen jüdischen Beerdigungen wiederholt mit Beschimpfungen oder gar Steinwürfen der dortigen Dorfjugend einhergingen.237 Auch in der Rheinprovinz kam es zu ähnlichen Auftritten, z. B. in Koblenz 1824. Dass in den ländlichen Gebieten der Region auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht immer Pietät vorherrschte, demonstriert die seit Beginn der Sechzigerjahre wiederholt vorkommende Beschädigung von jüdischen Grab­ steinen auf dem Simmerner Friedhof im Hunsrück. Bis Anfang der Dreißigerjahre des 19. Jahrhunderts störten in Luxemburg Teile der christlichen Bevölkerung jüdische Beerdigungen, die auf dem nahe der Hauptstadt gelegenen Friedhof ihr Ende fanden.238 In den Vierzigerjahren bürgerte sich bei Beerdigungen von Angehörigen der jüdischen Oberschicht die Teilnahme von Christen im städtischen Rahmen ein, z. B. anlässlich des Todes von Cerf Godchaux, der als Staatsprokurator im belgischen Mons tätig gewesen war: „Nicht nur […] ging dem Sarge die Trauermusik voraus, sondern das ganze hiesige Justizpersonal und eine unzählige Menschenmenge erwiesen ihm die letzte Ehre“.239 Auf dem Land lässt sich eine solche Praxis schon kurz nach der Errichtung örtlicher jüdischer Friedhöfe feststellen. In Ettelbrück wurde z. B. 1881 Léon Cahen, einer der ersten jüdischen Einwohner des Ortes, „unter großer Betheiligung seitens der hiesigen Stadt zu Grabe getragen“,240 und anlässlich des Begräbnisses seines Neffen, des langjährigen jüdischen Vorstehers Joseph Cahen, der als einer der achtbarsten Bürger des Ortes galt, bildete sich 1895 ein „endloser Zug von einheimischen und auswärtigen Trauergästen“.241

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Dietrich, Tobias: Regierte Religion? Zur Landgemeinde als Kirchengemeinde im 19. Jahrhundert, in: Franz/Grewe/Knauff, S. 139. Vgl. Kreisdirektor von Bolchen an den Bezirkspräsidenten von Lothringen, 14.11.1894, in: ADM 7AL282. Vgl. den Bericht über die Beerdigung des Protestanten Zickermann in Boulay in: Metzer Zeitung, 18.10.1896. Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 250 f., 290. Vgl. Juda, S. 2. Vgl. auch Roos, relations entre les juifs, S. 171. Vgl. Wesner, S. 296 f. Vgl. Rohrbacher, Stefan: Gewalt im Biedermeier. Antijüdische Ausschreitungen in Vormärz und Revolution (1815 – 1848/49) (Schriftenreihe des Zentrums für Antisemitismusforschung, Bd. 1), Frankfurt a. M. 1993, S. 45. Vgl. Landesarchiv­verwaltung Rheinland-Pfalz, Bd. 4, S. 76. Vgl. Lehrmann, S. 32. AZJ, Nr. 11, 1844, S. 159. AZJ, Nr. 49, S. 815. Dondelinger/Muller, Teil III, S. 26.

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Ein Teil der christlichen Ettelbrücker nahm nicht nur an diesen letzten Ehr­ bekundungen gegenüber jüdischen Mitbürgern teil, sondern auch an der Feier der goldenen Hochzeit der Eltern von Jules Godchaux im Jahr 1887. Es handelte sich dabei um Angestellte des jüdischen Textilbetriebes, die sich dafür nach Schleifmuhl begaben, wo das Fest stattfand. Zusammen mit Kollegen aus der dortigen Nieder­lassung brachten die Ettelbrücker Arbeiter „ihre Glückwünsche nebst Fest­ geschenken dar“.242 Ähnlich wie die 400 ebenfalls anwesenden Arbeiter der Pulvermuhler Fabrik ließen sie dem Paar von weiß gekleideten Kindern Blumen überreichen und zu dessen Ehren eine Rede halten. Darüber hinaus organisierten die Arbeiter auch noch ein Feuerwerk. An dem an diesem Tag stattfindenden Festessen nahmen sie zwar nicht teil, aber am folgenden Tag wurde ein Bankett mit Tanzvergnügen für sie ausgerichtet.243 Ein mit der beschriebenen Feier vergleichbares Ereignis fand in keinem der Untersuchungsdörfer statt. Als Simon und Johanetta Levy 1895 in Illingen ebenfalls goldene Hochzeit hatten, wurde ihnen wie allen im Deutschen Reich lebenden Ehepaaren, die diesen seltenen Jahrestag begehen konnten, die kaiserliche Ehejubiläumsmedaille verliehen.244 Dieselbe Aufmerksamkeit wurde auch der aus Gemünden stammenden Theresia Heymann zuteil, die diese zusammen mit ihrem Mann im Mai 1918 empfing. Der Bürgermeister von Simmern überreichte die Medaille und hielt genauso wie der Vorsänger Emanuel und der evangelische Pastor Lehmann eine Ansprache zu Ehren des Paares.245 Die religiösen Hochzeitsfeiern in der Synagoge wurden im 19. Jahrhundert stets im Kreis der jüdischen Glaubensgemeinschaft gefeiert, allerdings kam es spätestens seit dem Ende des Jahrhunderts häufiger vor, dass auch christliche Bekannte der Zeremonie beiwohnten, so z. B. im Hunsrück.246 Bei den zivilen Eheschließungen von Juden stellte die Teilnahme christlicher Landbewohner anscheinend sogar keine Besonderheit dar. So waren z. B. in den Sechzigerjahren in Lothringen bei jüdischen Hochzeiten hin und wieder christliche Einwohner auf dem Standesamt als Zeugen anwesend. In Illingen kam es das gesamte 19. Jahrhundert über recht häufig – verstärkt allerdings seit den Vierzigerjahren – vor, dass christliche

242 Der Israelit, Beilage zu Nr. 71, Jg. 28, 1887. 243 Vgl. ebd. Etwa 60 Angestellte, die mindestens 40 Jahre für ihren Chef tätig waren, ­wurden zudem von Samson Godchaux an seine Tafel geladen. Unter diesen befanden sich aufgrund der erst Ende der Sechzigerjahre erfolgenden Gründung der Ettelbrücker Filiale allerdings keine der dortigen Einwohner. Vgl. Kapitel 3.3.1. 244 Vgl. Dep. Illingen Nr. 33, S. 3 – 7. Vgl. Nauhauser, S. 134. 245 Vgl. Hunsrücker Zeitung, Nr. 102 f., 2. und 3.5.1918. Vgl. auch Wesner, S. 112 f. 246 Vgl. Pies, S. 70. Vgl. Jeggle, S. 283 – 286 und Baumann, Nachbarschaften, S. 73 f. stellen für Württemberg und Baden fest, dass die Beteiligung von Christen an jüdischen Hochzeiten seltener war als die an Beerdigungen.

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­Mitbürger als Zeugen bei der zivilen Eheschließung auftraten, so z. B. der Wirt Adam Dörr als Zeuge bei der Trauung des Illinger Händlers Gottschall Levi mit der aus Grosbliederstroff stammenden Sara Bloch im Jahr 1825. Auch im nahe Ettelbrück gelegenen Medernach fungierten christliche Einwohner als Zeugen jüdischer Familien, z. B. erschien der Tagelöhner Schuster als Zeuge bei neun Geburten, zwei Hochzeiten und einem Sterbefall, die sich in den Familien Herz und Kahn abspielten. Allzu große Bedeutung sollte diesem Umstand nicht beigemessen werden, da die Eintragung in die Personenstandsunterlagen eine eher formelle Angelegenheit war; nichtsdestotrotz ist davon auszugehen, dass jüdische Landbewohner kaum christliche Bekannte als Zeugen ausgewählt hätten, wenn das Verhältnis zu diesen belastet gewesen wäre.247 Auf dem Land kamen jüdisch-christliche Mischehen in jeder der betrachteten Regionen nur äußerst selten zustande. In Gemünden, Illingen, Grosbliederstroff und Ettelbrück schloss im 19. Jahrhundert offenbar kein Paar eine solche Verbindung.248 Nach Angaben von Houdaille ist für Boulay in der ersten Jahrhunderthälfte eine Heirat bezeugt, bei der es sich eventuell um eine Mischehe handelte, allerdings ist der Fall uneindeutig. Dass eine solche Verbindung in diesem Dorf denkbar war, belegt allerdings eine 1720 abgeschlossene Ehe: Ein jüdischer Mediziner, der im Alter von zehn Jahren getauft worden war, später aber wieder zu seinem alten Glauben zurückkehrte, heiratete ein katholisches Mädchen.249 Im Dorf Merchweiler, dessen jüdische Einwohner der Gemeinde von Illingen angehörten, bestand im Jahr 1910 wohl eine christlich-jüdische Mischehe: Der Bahnarbeiter J. Zentz gehörte nicht der jüdischen Gemeinde an, aber seine Frau war jüdischer Religion.250 In der ersten Hälfte des Jahrhunderts beschränkten sich jüdisch-christliche Mischehen weitgehend auf die Städte und selbst dort handelte es sich in dieser Zeit nur um Einzelfälle, die auf wenig Wohlwollen in der christlichen sowie der jüdischen Gesellschaft trafen. Im lothringischen Lunéville waren die wenigen, die vor 1850 Mischehen eingingen, Angehörige der Familie Brisac, der wohl­ habendsten jüdischen Familie des Ortes. Aber selbst in dieser als angepasst an die christliche Gesellschaft geltenden Familie gab es Widerstand gegen der­artige Verbindungen, nicht zuletzt, weil solche Ehen mit einem Religionswechsel 247 Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 254. Vgl. Nauhauser, S. 128 – 145. Vgl. Schoentgen, S. 306 f. 248 Vgl. Willigsecker, S. 7 – 73. Vgl. Nauhauser, S. 149. Vgl. Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz, Bd. 4, Anhang: Konversionen, o. S. Vgl. Volkszählungslisten von Ettelbrück, 1852, 1864, in: ANL Rpop 221 f. und RPop 505 f. Vgl. Roos, relations entre les juifs, S. 267. Vgl. Debus, S. 238. Vgl. Richarz, Landjuden, S. 185. 249 Vgl. Houdaille, S. 1078. 250 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 934, S. 309 in Verbindung mit LAS Dep. Illingen Nr. 1535, S.  51 – 53.

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einhergehen konnten, wenn sie es in Frankreich aufgrund der Zivilehe auch nicht mussten.251 Vor diesem Hintergrund stellte ein 1834 im Dorf Remering im Département Vosges lebendes jüdisch-katholisches Paar eine bemerkenswerte Ausnahme dar: Ein dort beheimateter Jude „s’est allié avec une Catholique et qui élève ses enfants dans la réligion de sa femme, sans jamais faire paraître aucun signe de la sienne qu’il n’a pas abjurée encore“. 252 Einen außergewöhn­ lichen Fall stellte die Heirat eines im luxemburgischen Strassen lebenden Juden mit einer Katholikin zur Jahrhundertmitte dar, da sie für ihren Ehemann zum Judentum übertrat.253 In der Rheinprovinz bestand anders als in vielen deutschen Gebieten schon in der ersten Jahrhunderthälfte formell die Möglichkeit, dass jüdische und christliche Partner eine Zivilehe abschlossen, aber in der Praxis zeigten sich die preußischen Behörden unwillig, dies zuzulassen. Manche der ohnehin nur wenigen jüdisch-christlichen Mischehen mussten nachträglich durch den Übertritt des jüdischen Partners zum Christentum sanktioniert werden, oder die Partnerschaften wurden wieder aufgelöst. Ein Übertritt zum Judentum durch den christlichen Partner war bis 1848 verboten. Im Gegensatz zu Frankreich, wo die christlich-jüdischen Paare selbst darüber entscheiden konnten, in welcher Religion sie ihre Kinder aufzogen, war dies in Preußen nicht der Fall, denn dort galt die Regel, dass die Kinder – unabhängig von der Meinung der Eltern – bis zum 14. Lebensjahr christlich erzogen werden mussten.254 Der Widerstand, mit dem christlich-jüdische Paare in ihrem sozialen Umfeld rechnen mussten, sorgte dafür, dass Liebesbeziehungen zumeist nur im Geheimen gepflegt und erst bekannt wurden, wenn es zu einer Schwangerschaft kam. Nachdem in Gemünden 1818 die Katholikin Barbara Gisbert ein unehe­ liches Kind zur Welt gebracht hatte, dessen Vater ein Jude war, sanktionierten die ansässigen Katholiken dieses Vorkommen mit der Vertreibung der Mutter aus dem Dorf.255 Dass sich die Einstellung der Dorfbewohner in Hinsicht auf dieses Thema 251 Vgl. Job, juifs à Lunéville, S. 262. Vgl. Roos, relations entre les juifs, S. 267. In Frankreichs gehobenem Milieu kam es hin und wieder zu jüdisch-protestantischen Mischehen, obwohl die Angehörigen beider Minderheiten bis ins 20. Jahrhundert hinein zumeist innerhalb der eigenen Gruppe heirateten. Vgl. Cabanel, Patrick: Juifs et protestants en France. Les affinités électives (XVIe–XXIe siècle), Paris 2004, S. 113 – 125. 252 Vgl. maire de Remering au sous-préfet, 13.1.1834, in: ADM V152. 253 Vgl. Luxemburger Wort, 1.1.1867, S. 2. 254 Vgl. Toury, Geschichte, S. 64 – 67. Vgl. Debus, S. 238. Vgl. Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz, Bd. 4, S. 257 f. Vgl. ebd., Anhang: Konversionen, o. S. Vgl. Löwenstein, Anfänge, S. 220. 255 Der Vater sowie die Reaktion der jüdischen Gemeinde auf den Vorfall sind nicht bekannt. Vgl. Kirchenbuch der katholischen Pfarrei Gemünden, 1812 – 1931, o. S., in: Katholisches Pfarrarchiv Ravengiersburg.

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bis zur Jahrhundertmitte kaum veränderte, zeigt ein Vorkommnis aus den Vierziger­ jahren: Der jüdische Lehrer Weinzweig zeugte zusammen mit einer Protestantin aus dem nahen Rheinböllen ein Kind und führte diese Beziehung auch nach der Geburt fort. Der protestantische Pfarrer von Gemünden fühlte sich verpflichtet, dagegen vorzugehen, brachte das Thema in Presbyterialsitzungen mehrfach zur Sprache und drängte auf die Ergreifung von Maßnahmen.256 Als folgenreich erwies sich allerdings erst das Eingreifen der jüdischen Gemeindeführung, die Weinzweig der „Hurerei mit einer christlichen Person“257 beschuldigte, was dafür sorgte, dass er jegliche Achtung innerhalb der Religionsgemeinschaft verlor. Dass die Mutter des Kindes vor Gericht zog, um Alimente zu erhalten und ihr Kind ernähren zu können, sorgte für zusätzliche Betroffenheit in der jüdischen Gemeinde, welche die Entlassung Weinzweigs beantragte. Sowohl die jüdischen als auch die christ­ lichen Einwohner hegten nach Ansicht des Schulinspektors den Wunsch, dass der jüdische Lehrer möglichst schnell entlassen werde, da er allen ein Ärgernis sei. Der jüdische Schulvorstand bestätigte die Einschätzung und betonte, dass alle ansässigen Bürger, Beamten und Geistlichen die Situation als unerträglich empfänden.258 Mit der unehelichen Beziehung zu einer christlichen Frau hatte Weinzweig die zwischen Juden und Christen existierende und von beiden Seiten akzeptierte Grenze überschritten: Beide religiösen Gemeinschaften lehnten christlich-jüdische Verbindungen ab, bei denen die Möglichkeit bestand, dass ein Mitglied der eigenen Gruppe zu der anderen überwechselte. In dem geschilderten Fall kam hinzu, dass es sich um eine uneheliche Beziehung handelte, die beide Seiten vom moralischen Standpunkt her als nicht tolerierbar einstuften. Der Bürgermeister merkte daher an, dass ein Auftreten wie das des Lehrers „jeden andern Menschen veranlasst hätte, den hiesigen Ort zu verlassen, um sich nie wieder sehen zu lassen“.259 Grundsätzlich gestaltete sich die Einstellung der lothringischen Landbevölkerung und großer Teile der Stadtbevölkerung gegenüber Mischehen ähnlich wie in der benachbarten Rheinprovinz. Daher war die Zahl der unehelichen ­Kinder gemischter Paare höher als die Zahl der Heiraten. In Boulay bekamen in der ­ersten Jahrhunderthälfte drei Jüdinnen uneheliche Kinder, allerdings ist unklar, welcher Religion die Väter angehörten. Wie stark der Widerstand von außen sein konnte, zeigt das Beispiel der Katholikin Thérèse Kirberger, die zusammen mit dem Juden Mayer Arnold ein Kind bekam. Der Vater weigerte sich entgegen seinem Versprechen, sie zu heiraten. Zwei seiner folgenden Versuche, eine Ehe mit einer Glaubensgenossin abzuschließen, vereitelte die Verlassene dadurch, dass sie 256 Vgl. LHAK Best. 441 Nr. 9811, S. 253, 328. 257 Ebd., S. 235. 258 Vgl. ebd., S. 235, 275. 259 Ebd., S. 271.

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die Familien, in die er einzuheiraten beabsichtigte, über die frühere Beziehung des künftigen Ehemannes informierte. Erst die dritte jüdische Heiratskandidatin aus Sierck ließ sich nicht davon abbringen, Mayer zu ehelichen, wahrscheinlich, da sie kaum Aussichten auf einen anderen Partner hatte.260 In der zweiten Jahrhunderthälfte kam es in den preußischen und lothringischen Städten zwar etwas öfter zu Mischehen, aber ihre Zahl blieb bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts weiterhin gering. In Luxemburg änderte sich die Lage ebenfalls nicht: Christlich-jüdische Heiraten waren Ausnahmeerscheinungen. Auf dem Land entwickelte sich die Situation in den verschiedenen Regionen nicht grundlegend, denn zwischen Angehörigen der christlichen Agrarbevölkerungen und der jüdischen Landgemeinden wurden in der Regel weiterhin keine Ehen geschlossen. Daher stellte ein während des Kaiserreichs in Brotdorf in der Nähe von Merzig lebendes jüdisch-christliches Paar eine Besonderheit dar. Sie stammten allerdings nicht aus dem Dorf, sondern waren aus Frankreich zugezogen, wo der christliche, aus Württemberg stammende Mann mehrere Jahre mit seiner im lothringischen Beaumarrais geborenen jüdischen Ehefrau gelebt hatte. Die Zahl der Mischehen stieg im Deutschen Reich in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg zwar stark an, aber zumeist wurden sie in Großstädten abgeschlossen.261 Im Vergleich zum preußischen Rheinland kamen im annektierten Elsass-Lothringen weniger Mischehen zustande. Im Jahr 1906 heirateten in dem ersteren Gebiet 82 jüdische Einwohner einen christlichen Partner und stellten damit ungefähr 10 % der jüdischen Brautleute dieses Jahres. Im Reichsland schlossen 1905 dagegen nur 24 Paare eine Mischehe, was bedeutet, dass nicht einmal 5 % der jüdischen Heiratswilligen einen Partner wählten, der einer anderen Religion angehörte.262 5.2.2 Die Ambivalenz religiöser Feierlichkeiten und antijüdische Traditionen

Religiöse Feste wurden wie bereits erwähnt spätestens zum Ende des 19. Jahr­hunderts teilweise von Juden und Christen benutzt, untereinander kleine Aufmerksam­ keiten auszutauschen. In manchen Fällen nahmen die jüdischen Einwohner sogar an der Gestaltung christlicher Feiern im öffentlichen Raum teil. Dies war in erster 260 Vgl. Job, juifs à Lunéville, S. 261. Vgl. Houdaille, S. 1079. Vgl. Roos, juifs, S. 357 f. 261 Außergewöhnlich war an dem in Brotdorf lebenden Paar, dass die Söhne ab 1875 jüdisch erzogen wurden. Bei den wenigen in Preußen erst seit 1848 zulässigen Übertritten zum Judentum handelte es sich normalerweise um Großstadterscheinungen. Vgl. Der Israelit, Beilage zu Nr. 21, 1875, S. 468. Vgl. auch Der Israelit, Beilage zu Nr. 20, 1875, S. 437 Vgl. Job, juifs à Lunéville, S. 262. Vgl. Schoentgen, S. 304. Vgl. Richarz, Lehrer, S. 185. Vgl. Scheindl, S. 125 f. Vgl. Toury, Geschichte, S. 67 f. Vgl. Kaplan, Konsolidierung, S. 337. 262 Vgl. ZDSJ Nr. 10, 1906, S. 159, Nr. 4, 1908, S. 63.

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Linie in mehrheitlich katholischen Dörfern wie z. B. Illingen oder in Niedervisse der Fall. Dort schmückten die jüdischen Einwohner anlässlich der Prozession an Fronleichnam ihre Häuser bzw. halfen ihren christlichen Mitbürgern bei den Vorbereitungen.263 Die Gründe für dieses Verhalten waren vielschichtig und änderten sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts. Noch während der Restauration dekorierten französische Juden, deren Behausungen an Prozessionsstrecken lagen, keineswegs aus freien Stücken ihre Häuser, sondern sie waren – genauso wie die Protestanten – dazu unter Androhung von Geldstrafen verpflichtet.264 In den Vierziger­jahren war dies nicht mehr der Fall, aber dennoch betonte der Metzer Präfekt 1843 in einem Bericht die auffällige Rücksichtnahme der jüdischen Bevölkerung gegenüber den Angehörigen anderer Glaubensrichtungen: „Jamais, à ma Connaissance, une plainte ni seulement une observation contre les cérémonies, même publiques, des autres religions, n’a été faite par un israélite.“265 Er führte dieses Verhalten auf die tolerante Geisteshaltung der jüdischen Bevölkerung zurück. Im Anschluss an Monika Richarz lässt sich allerdings vermuten, dass das Verhalten der jüdischen Einwohner auch mit ihrer Minderheitenposition zusammenhing und sie auf diese Weise Konflikte mit der christlichen Mehrheit – sei es katholisch oder protestantisch – verhindern wollten.266 Letzteres mag auch ein Motiv gewesen sein, wenn jüdische Dorfbewohner anlässlich des Besuches von kirchlichen Würdenträgern bei den Vorbereitungen zu den damit verbundenen Feierlichkeiten halfen, so z. B., als der Metzer Bischof nach Niedervisse kam und die jüdische Einwohnerin Henriette Cerf bei der Zubereitung des Essens half.267 Als der Trierer Bischof 1882 sein Bistum bereiste, herrschte im Kreis Ottweiler „das geradezu als demonstrativ zu bezeichnende Bestreben der Judenschaft, durch reichliches Beflaggen, Bekränzen und Beleuchten ihrer Häuser sich an den bezüglichen Feierlichkeiten zu beteiligen“.268 Dass es sich bei der Teilnahme von Juden an christlichen Feiern allerdings nicht ausschließlich um Zu­­ geständnisse an die Mehrheitsbevölkerung handelte, legt die Kritik nahe, welche Ende der Achtzigerjahre ein orthodoxer deutscher Jude an seinen Glaubensbrüdern im Hunsrück übte: Er warf manchen von ihnen vor, „meilenweite Excursionen“ nicht zu scheuen, nur um an Kirchweihen teilzunehmen.269 Im Großherzogtum 263 Vgl. Toury, Geschichte, S. 132. Vgl. Nauhauser, S. 266. Vgl. Debus, S. 241 f. Vgl. Daltroff, juifs, S. 136. 264 Vgl. Roos, relations entre les juifs, S. 53 f. 265 Préfet de la Moselle au ministre de l’Intérieur, 21.7.1843, in: ADM V149. 266 Vgl. Richarz, Entdeckung, S. 19. Vgl. auch Jeggle, S. 270 f. 267 Vgl. Daltroff, juifs, S. 135. 268 Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz, Bd. 4, S. 298. 269 Vgl. Der Israelit, 1889, S. 159 f.

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zeigten die jüdischen Einwohner ebenfalls wenig Berührungsängste gegenüber der Teilnahme an religiösen Festen der christlichen Mehrheit. Im luxemburgischen Ettelbrück wirkte in den Sechzigerjahren zumindest ein Teil der jüdischen Einwohner als Mitglieder der Philharmonischen Gesellschaft des Ortes „stets ohne Bedenken bei allen christlichen Festlichkeiten“270 mit, so z. B. bei Gottesdiensten oder 1864 bei der Einweihung der renovierten katholischen Kirche.271 Umgekehrt zeigten sich die christlichen Dorfbewohner anscheinend zumindest neugierig, wenn der zuständige Rabbiner einmal in ihren Ort kam, z. B. anlässlich von Rundreisen durch die Orte seines Bezirks oder Sabbateinweihungen. Am Anfang des 20. Jahrhunderts begaben sich beispielsweise in Bionville manche Christen in die Synagoge, um einen Vortrag des Metzer Großrabbiners verfolgen zu können.272 Ein seltener Fall, in dem die christliche Dorfbevölkerung offene Abneigung gegenüber einem Rabbiner demonstrierte, spielte sich 1880 in Trittenheim an der Mosel ab, wo zahlreiche katholische Einwohner lärmten, als sich der Trierer Oberrabbiner zur Synagoge begab.273 Die Einweihungen von Synagogen stellten in jeder der betrachteten Regionen im 19. Jahrhundert öffentliche Ereignisse dar, wobei dies in besonderem Maße für kleine, ländliche Ansiedlungen gilt. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nahmen häufig Personen des öffentlichen Lebens an den Feierlichkeiten zur Eröffnung der Gebetshäuser teil.274 In den betrachteten Dörfern verfolgte die christliche Mehrheit die Einweihung der jüdischen Gebetshäuser zumeist interessiert und teilweise beteiligte sie sich aktiv an den Feiern. In Gemünden fand die Ein­ weihung der Synagoge, zu der zahlreiche Juden aus anderen Orten angereist waren, im September 1859 statt. In einem feierlichen Zug durch das Dorf wurden die Thorarollen in Gegenwart vieler Festteilnehmer in die Synagoge gebracht. Zudem nahm Bürgermeister Mendel als Vertreter der „Behörde der Zivilgemeinschaft“ an der Feierlichkeit teil.275 In Illingen, wo die Synagoge im November des gleichen Jahres eingeweiht wurde, erschienen ebenfalls Ehrengäste, die der preußischen

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AZJ, Nr. 24, 1871, S. 477. Vgl. Flies, S. 1423, 1428. Vgl. Kapitel 4.1.1. Vgl. Daltroff, juifs, S. 110 f. Vgl. Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz, Bd. 4, S. 297. Dass es in Trittenheim zu einem solchen Auftritt kam, ist bemerkenswert, weil noch 1857 viele katholische Ein­ wohner an der Einweihung der Synagoge teilgenommen hatten und manche zugereiste Juden beherbergt hatten. Vgl. AZJ, Nr. 17, 1857, S, 225. 274 Vgl. Debus, Karl Heinz: Das Verhältnis zu den christlichen Religionsgemeinschaften, in: Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz, Bd. 4, S. 239. Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 134. 275 Vgl. Bericht des jüdischen Lehrers Salomon vom 11.2.1860, in: Meyer, Geschichte, S. 20. Vgl. Bericht von Bürgermeister Mendel für September 1859, in: LHAK Best. 655,12 Nr. 163.

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Verwaltung angehörten: Neben dem Illinger Bürgermeister und seinem Kollegen aus Ottweiler kamen auch die Baumeister von Ottweiler und Saarbrücken sowie der Landrat in das Dorf, um das Geschehen zu verfolgen.276 1908 fanden in Grosbliederstroff nach der umfassenden Renovierung der ­Synagoge ebenfalls Einweihungsfeierlichkeiten statt, bei denen neben der jüdischen Bevölkerung auch der Großteil der christlichen Dorfbewohner anwesend war. Im Rahmen eines Umzuges wurden die Thorarollen von der jüdischen Schule in die Synagoge gebracht, wobei das Ende des Zuges von den geladenen Gästen – dem Bürgermeister, den Gemeinderäten und einem Abgeordneten der Regierung – gebildet wurde.277 An der Einweihung der kleinen Synagoge von Ettelbrück im Jahr 1870 beteiligten sich neben dem luxemburgischen Rabbiner Sopher und dem Vorbeter der jüdischen Gemeinde von Trier auch der Bürgermeister und mehrere Gemeinderatsmitglieder des Ortes, welche die Prozession zur Synagoge begleiteten. Darüber hinaus verfolgten viele Einwohner das Geschehen, und die philharmonische Gesellschaft des Ortes, der sowohl Juden als auch Christen angehörten, untermalte die Feierlichkeiten musikalisch.278 Bei der 1894 in der luxemburgischen Hauptstadt stattfindenden Einweihung des neuen Tempels waren neben einigen Stadtratsmitgliedern, dem Staats- und Stadtarchitekten ein Regierungsmitglied anwesend.279 In der Regel verliefen die Feierlichkeiten friedlich, aber sie konnten auch zu Auseinandersetzungen führen. So nahm in Ettelbrück der katholische Pastor die Einweihungsfeier der Synagoge zum Anlass, seinen Gemeindemitgliedern eine Strafpredigt zu halten und sie zum Verzicht auf Kontakte mit Juden aufzufordern. Auf viel Zustimmung traf er damit allerdings nicht: Der Großteil der Katholiken einschließlich des Bürgermeisters zeigte sich nach Angaben eines jüdischen Einwohners indigniert angesichts des Verhaltens des Geistlichen, das als völlig unangebracht betrachtet wurde. Die jüdischen Einwohner Ettelbrücks waren enttäuscht, dass weder Rabbiner Sofer noch die jüdische Gemeindeverwaltung der Hauptstadt auf den Vorfall reagierte.280 In der luxemburgischen Presse fand das Auftreten des Geistlichen dagegen großen Widerhall: So kritisierte die Luxemburger Zeitung,

276 Vgl. Nauhauser, S. 311. 277 Vgl. Juda, S. 3. 278 Vgl. AZJ, Nr. 10, 1871, S. 198. Vgl. AZJ, Nr. 24, 1871, S. 477. Vgl. Luxemburger Wort, Nr. 304, 1870, S. 2, Nr. 272, 1871. Vgl. auch Philharmonie grand-ducale et municipale Ettelbruck (Hg.): Philharmonie grand-ducale et municipale Ettelbruck. 150e anniversaire, 1852 – 2002, Diekirch 2002, S. 30. 279 Vgl. Lehrmann, S. 69 f. 280 Vgl. AZJ, Nr. 24, 1871, S. 477. Das Verhältnis zwischen der lokalen Verwaltung Ettelbrücks und Pfarrer Rauen war anscheinend ein gespanntes, da der Letztere kein Verständnis für die liberale Haltung der Ersteren in kirchlichen Belangen zeigte, z. B. protestierte er dagegen,

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dass der Pfarrer die „mittelalterliche Finsterniß wieder heraufbeschwören“281 wolle. Das Luxemburger Wort verteidigte dagegen den Pfarrer als einen wahren Katholiken, der sich dem liberalen Wunsch widersetze, dass alles „amalgamirt und in einem gemeinschaftlichen Kessel zusammengeräunt“282 werde. Wie das Vorkommnis in Ettelbrück zeigt, konnten religiöse Festlichkeiten Anlässe für antijüdische Manifestationen bieten. Der Schwerpunkt derart motivierter Äußerungen in den verschiedenen Regionen lag zwar in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, beschränkte sich aber nicht auf diese Zeit. Im Großherzogtum war ihre Zahl anscheinend am geringsten, denn neben dem Vorfall in Ettelbrück ließ sich lediglich eine weitere Begebenheit nachweisen. Am Osterfest 1821 nahm der jüdische Lehrer Picard auf die Einladung eines katholischen Kollegen hin am Gottesdienst in der Kirche Saint Pierre teil, wurde vom Küster allerdings aufgefordert, sich zu entfernen.283 Picard folgte der Anweisung, aber „hors de l’église il fut poursuivi par les désoeuvrés et les gamins qui l’invectivèrent, le menacèrent et lui jetèrent des pierres“.284 Die jüdische Gemeinde­führung reagierte auf den Vorfall mit Protest bei der städtischen Verwaltung, weil sie die Gefahr sah, dass die gesamte jüdische Gemeinschaft zukünftig schlechter Behandlung ausgesetzt sein könnte wegen des „fureur de préjugé“ bei einem Teil der christlichen Bewohner, der stets bereit sei, „à commettre le desordre, à poursuivre le faible, le sentiment de la haine et le désir d’obtenir un signal qui lui assure l’impunité pour se fondre sur la victime“.285 In der daraufhin angeordneten Untersuchung kam der städtische Polizeikommissar allerdings zu dem Schluss, dass die Befürchtungen der jüdischen Gemeindeführung lediglich auf Einbildungen beruhten und unbegründet seien.286 Dass die Einschätzung eine Verharmlosung darstellte, ist u. a. daran abzulesen, dass fünf Jahre zuvor ein Teil der christlichen Hauptstädter bereits eine antijüdische Haltung gezeigt hatte. Nach einem 1816 von einem Juden begangenen Mord „cris de sang se faisaient

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dass ein Selbstmörder auf Anweisung von Bürgermeister Schmit und Polizeikommissar Poncin auf dem geweihten Friedhof begraben wurde. Vgl. Flies, S. 1432 f. Luxemburger Wort, Nr. 272, 1871. Luxemburger Wort, Nr. 22, 1871. Vgl. Krier, S. 120 f. Vgl. Goedert, S. 355 f. Goedert, S. 355. Notables de la communauté juive à l’administration municipale de la ville de Luxembourg, 26.4.1821, in: ANL C639. Bezüglich des jüdischen Lehrers vertrat die jüdische Gemeindeführung die Meinung, dass dieser mit dem Gottesdienstbesuch einen Fehler begangen habe. Eventuell vertrat er diese Meinung, da es sich bei der Gruppe der Täter ausschließlich um Personen aus der unteren sozialen Schicht sowie Kinder handelte. Vgl. Commissaire de police au bourgmestre de la ville de Luxembourg, 29.4.1821, in: ANL C639.

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entendre contre toute la communauté, chacun de ses membres sans distinction“. 287 Die Reaktion der jüdischen Vorsteher im Jahr 1821 beruhte auf der Erfahrung, dass ein Teil der christlichen Einwohner die gesamte jüdische Gemeinde für Taten einzelner Glaubensgenossen verantwortlich machte. Im Gegensatz zur Polizei nahm das Schöffenkolleg die Sorgen der jüdischen Gemeinde ernst und befahl, alle Vorfälle, welche das ruhige Leben der jüdischen Einwohner störten, zu verfolgen. Motiviert zu dieser Anordnung wurde das Gremium wohl durch den Wunsch, die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten.288 In Boulay zogen trotz eines Verbots der Präfektur in der Karwoche 1818 katholische Kinder mit ihren Klappern durch die Judengasse, die zu diesem Zeitpunkt tatsächlich noch größtenteils von Juden bewohnt war. Von der ge­ nannten Behörde wurden diese „scènes si contraires à la tolérance des divers cultes“289 verurteilt. Am Karfreitag eskalierte die Lage in Boulay: „On m’assure que des Israélites ont été insultés, qu’on leur a lancé des pierres et que plusieurs vitres de leurs maisons ont été cassées.“290 Dass der zuständige Polizeiagent dem Geschehen keinen Einhalt gebot, sondern die christlichen Angreifer noch anstachelte, stufte die übergeordnete Verwaltung als grobes Fehlverhalten ein, weswegen sie den Bürgermeister beauftragte, den Ordnungshüter von seinem Amt zu entbinden.291 Es ist möglich, dass die beschriebene Unruhe in Boulay im Zusammenhang mit der angespannten ökonomischen Lage in Lothringen stand, die u. a. durch die Besatzung der alliierten Truppen, die erst im Herbst 1818 abzogen, verursacht wurde. Die bereits 1816 einsetzende Agrarkrise ging mit steigenden Getreidepreisen einher, als deren Ursache die lokalen Auto­ritäten im Nordosten Frankreichs zumindest teilweise die Spekulationen jüdischer Händler sahen. Infolge der hohen Preise kam es in Lothringen genauso wie im übrigen Frankreich in den Jahren 1816 und 1817 zu Hungersnöten, deren Folgen noch länger spürbar waren.292 Eine rein ökonomische Ursache der Vorkommnisse in Boulay in der Karwoche 1818 ist jedoch auszuschließen, da es in dem Ort anscheinend noch bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts immer wieder nach den Gottesdiensten in der Karwoche zu Ruhestörungen – in erster Linie vonseiten katholischer Kinder – gegenüber den jüdischen Einwohnern kam, weswegen diese sich manchmal sogar genötigt sahen, 287 Krier, S. 120. 288 Vgl. Notables de la communauté juive à l’administration municipale de la ville de ­Luxembourg, 26.4.1821, in: ANL C639. Vgl. Goedert, S. 356. 289 Conseiller de Préfecture au maire de Boulay, 29.3.1818, in: ADM ED100 3P1. 290 Ebd. 291 Vgl. ebd. 292 Vgl. Roos, relations entre les juifs, S. 28 f. Vgl. Contamine, S. 30.

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den Eingang zur Synagoge zu verbarrikadieren.293 In anderen lothringischen ­Dörfern kam es auch nach diesem Zeitpunkt wiederholt zum Auftreten von Spannungen während der Osterwoche, so z. B. in Niedervisse, wo die katholischen Kinder noch Anfang des 20. Jahrhunderts mit Klappern durch den Ort liefen und während­ dessen antijüdisch gefärbte Lieder aus Heftchen sangen, die von den Vätern an die Söhne weitergegeben worden waren. Aufgrund negativer Erfahrungen versammelten sich noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts die älteren Juden dieses Dorfes an Heiligabend und wachten gemeinsam, wobei sie sich die Zeit teilweise mit Kartenspielen vertrieben. Wenn es auch nicht mehr zu physischer Gewalt kam, so kam es doch nicht selten vor, dass nach der Mitternachtsmesse antijüdische Äußerungen zu hören waren.294 Spuren vergleichbarer Formen von ritualisiertem Antijudaismus, der nur relativ selten schrift­ lichen Niederschlag fand, ließen sich zwar nicht in den beiden preußischen Unter­ suchungsdörfern, aber in anderen Orten der Rheinprovinz finden. So war es in Erkelens noch im 19. Jahrhundert üblich, nach dem Kirchgang am Ostersonntag die Häuser der jüdischen Einwohner mit Steinen zu bewerfen. Ob und inwiefern die Geistlichen mitverantwortlich für diese Vorkommnisse waren, ist unklar. Zwar deutet der Zeitpunkt nach den kirchlichen Feiern auf einen möglichen Einfluss hin, aufgrund der Regelmäßigkeit könnte es sich aber auch um primär durch die Praxis tradierte lokale Bräuche gehandelt haben, deren Verbreitung im 19. Jahrhundert anscheinend immer mehr zurückging.295 Dies würde auch erklären, warum sich im Großherzogtum Luxemburg, wo sich erst seit der napoleonischen Zeit Juden niederließen, anscheinend keine vergleichbaren Vorkommnisse ereigneten.296 Eine antijüdische Tradition, von der sich im Lothringen des 19. Jahrhunderts keine Spuren mehr finden ließen, war der Ritualmordglaube. Dies ist insofern bemerkenswert, als es noch in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zu einer solchen Anklage gegen Raphael Levy, einen jüdischen Einwohner aus Boulay, gekommen war. Eine Frau aus dem Dorf Glatigny in der Nähe von Metz vermisste ihr Kind, und Zeugen gaben an, einen bärtigen Reiter mit einem größeren Gegenstand unter dem Mantel beobachtet zu haben. Die vage Beschreibung passte

293 Vgl. Guir, S. 74. 294 Vgl. Daltroff, juifs, S. 135 f. Vgl. Cahen, juifs lorrains, S. 31. Im deutschen Raum ver­hielten sich zumindest in einem Teil badischer Landgemeinden die christlichen Einwohner ähnlich am Weihnachtsabend. Vgl. Baumann, Nachbarschaften, S. 92 f., 138. 295 Vgl. Rohrbacher, Gewalt, S. 50 – 53. Vgl. Ullmann, S. 261. 296 Die Störungen von jüdischen Beerdigungen Anfang des 19. Jahrhunderts können als Form ritualisierter Gewalt angesehen werden, aber sie erfolgten nicht regelmäßig und zudem nur im Umfeld der Hauptstadt, wo sich Juden aus geschäftlichen Gründen auch vor ihrer Ansiedlung regelmäßig aufhielten.

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auf Raphael Levy, der auf seinem Weg von Boulay nach Metz das genannte Dorf passiert hatte. Trotz falscher und sich teilweise widersprechender Zeugenaussagen wurde er zum Tode verurteilt und 1670 verbrannt.297 Zwar wurden während des 19. Jahrhunderts in Lothringen keine Klagen über angebliche Ritualmorde von der christlichen Bevölkerung erhoben, aber dass die jüdische Bevölkerung sich dieser antijüdischen Tradition bewusst war, zeigt die Reaktion der jüdischen Gemeinde von Phalsbourg auf die sogenannte Damaskusaffäre. In der syrischen Stadt kam es nach einer Ritualmordanschuldigung zur Gefangennahme sowie Folterung mehrerer Juden und zu antijüdischen Unruhen in der gesamten Region. Es war u. a. dem Engagement von Adolphe Crémieux zu verdanken, dass die Gefangenen wieder freigelassen wurden. Die Juden von Phalsbourg dankten ihm mit einer goldenen Tabakdose für seinen Einsatz.298 Im Gegensatz zu Lothringen zeigte sich der Ritualmordglaube in Teilen der Rheinprovinz noch im 19. Jahrhundert lebendig, wahrscheinlich, weil er über bestimmte Traditionen stetig aktualisiert wurde. Infolge eines angeblichen Ritualmordes im Mittelalter war z. B. Bacharach noch im 19. Jahrhundert ein Wallfahrtsort, an dem das vermeintliche Opfer als Märtyrer von Einwohnern aus der näheren Umgebung – u. a. dem Hunsrück – verehrt wurde. Die im 19. Jahrhundert in erster Linie im Norden der Rheinprovinz erhobenen Ritualmordbeschuldigungen fanden zwar am meisten Anklang bei der katholischen Landbevölkerung, aber auch ein Teil der Stadtbewohner war für sie empfänglich, z. B. in Köln 1819. Im Anschluss an die in diesem Jahr in Dormagen erhobene Ritualmordbeschuldigung waren jüdische Landbewohner in der Umgebung u. a. Steinwürfen und Schmähungen 297 Das Gericht verdächtigte mehrere Metzer Juden der Komplizenschaft an dem vermeint­ lichen Ritualmord, was ihm die Möglichkeit gab, die Vertreibung der gesamten Gemeinde zu fordern, die Levy nicht unterstützt hatte, da er als Angehöriger des Fürstentums von Lothringen nicht als Franzose galt. Diese Forderungen verstummten erst, nachdem der König die Metzer Judenschaft gegen die Anklagen in Schutz genommen und ihr Aufenthaltsrecht bestätigt hatte. Im Gegensatz zu Lothringen fanden sich im Elsass deutliche Anzeichen für eine Überlieferung des Ritualmordglaubens unter der katholischen Bevölkerung. Als 1828 ein Mann aus Kaisersberg vier jüdische Viehhändler beschuldigte, seinen Sohn ermordet zu haben, kam es in dem Dorf fast zu einem Aufruhr, obwohl ein Gericht befand, dass der Kläger die Beschuldigten lediglich erpressen wollte und das Kind in einem anderen Ort wiedergefunden wurde. Vgl. Blumenkranz, Bernhard: Juifs en France, Juifs de France, Juifs français. Les Juifs en Lorraine, in: ders.: Juifs en France. Ecrits dispersés de Bernhard Blumenkranz (Franco Judaica, Bd. 13), Paris 1989, S. 52 – 54. Vgl. Reinach, Joseph: Raphael Levy. Une erreur juiciaire sous Louis XIV, Paris 1898. Vgl. Birnbaum, Pierre: Un récit de „meurtre rituel“ au Grand Siècle. L’Affaire Raphael Lévy, Metz 1669, Paris 2008. 298 Vgl. Roos, juifs, S. 162 – 164. Vgl. Roos, relations entre les juifs, S. 171 f.

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ausgesetzt.299 Auch im südlichen Teil der Region waren vereinzelt Reaktionen auf die durch Zeitungsberichte weiter verbreitete Beschuldigung festzustellen, so in Binningen an der Mosel, wo der jüdische Lehrer durch Steinwürfe von der Dorfjugend schwer verletzt wurde.300 In den Jahren 1834 und 1891 wurden nach dem Auffinden toter Kinder erneut Ritualmordbeschuldigungen erhoben, die ähnlich wie 1819 das größte Echo in der Region zwischen Köln und Düsseldorf fanden. Neben Steinwürfen kam es zur Plünderung jüdischer Häuser und der Vernichtung von Handelsbüchern. Dies weist darauf hin, dass bei den zumeist von Angehörigen der Unterschicht getragenen Aktionen auch ökonomische Motive eine Rolle spielten, die aber keinesfalls als alleinige Ursache für die Vorkommnisse zu betrachten sind. Die Haltung der katholischen Geistlichkeit spielte in keinem der Fälle eine besondere Rolle.301 5.2.3 Der Umgang mit der Sonntags- und Feiertagsruhe

Für die christlichen Geistlichen konnte die Tatsache, dass die Sabbatmägde eventuell die Sonntagsgottesdienste versäumten – da sie noch für ihre jüdischen Geldgeber arbeiten mussten – einen Missstand darstellen.302 In den betrachteten Regionen äußerten sowohl die katholischen Priester als auch die evangelischen Pastoren allerdings nur selten Unbehagen gegenüber dieser Praxis, evtl. auch, da es sich nur um eine kleine Zahl von Personen handelte. Von Illingen ist bekannt, dass der katholische Pfarrer Johann Emmerich Marx sowie einige Vikare in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Tätigkeit der christlichen Sabbatmägde verbieten wollten, allerdings konnten sie sich langfristig nicht durchsetzen.303 Einer der wenigen für 299 Vgl. Rohrbacher, Gewalt, S. 62 – 69, 84 f. Vgl. Mentgen, Gerd: Die Ritualmordaffäre um den „Guten Werner“ von Oberwesel und ihre Folgen, in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte, Jg. 21, 1995, S. 159 – 198. 300 Vgl. Bericht des Landrats von Cochem, 9.12.1819, in: LHAK Best. 441 Nr. 3163. Vgl. Rohrbacher, Gewalt, S. 68 – 70. 301 Vgl. Rohrbacher, Gewalt, S. 67 – 85, 90. Die Ausschreitungen von 1819 standen anscheinend nicht in direktem Zusammenhang mit den Hepp-Hepp-Verfolgungen des gleichen Jahres. Vgl. ebd., S. 130 f. Zur Berichterstattung der Presse über die Hepp-Hepp-Verfolgungen vgl. Schlesier, Stephanie: Die Hep-Hep-Verfolgungen von 1819. Antijüdische Berichterstattung der Zeitungen?, in: Michael Nagel/Moshe Zimmermann (Hg.): Judenfeindschaft und Antisemitismus in der deutschen Presse über fünf Jahrhunderte. Erscheinungsformen, Rezeption, Debatte und Gegenwehr (Die jüdische Presse – Kommunikationsgeschichte im Europäischen Raum, Bd. 14; Presse und Geschichte – Neue Beiträge, Bd. 73), Bremen 2013, Bd. 1, S. 123 – 146. 302 Vgl. Ullmann, S. 420 – 430. 303 Vgl. Kirsch, Juden, S. 104 f., 121 f. Vgl. Kirsch, Illingen, S. 31.

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die Untersuchungsregionen nachweisbaren Fälle im 19. Jahrhundert spielte sich in dem lothringischen Dorf Erstroff in den Zwanzigerjahren ab.304 Der katho­lische Kaplan beklagte sich über eine Frau seiner Pfarrei, die „seule n’a pas voulu se soumettre aux justes loix de sa réligion pour pouvoir gagner quelque sols dans le Culte des Israélites“.305 Er hatte zuvor das Anzünden der Kerzen in der Synagoge durch Christen untersagt, was zu Spannungen im Ort führte. Die jüdischen Einwohner beschwerten sich über das Verhalten des Geistlichen beim jüdischen Konsis­torium, aber der Kaplan wies die gegen ihn erhobenen Vorwürfe zurück und beteuerte, dass er es nie gewagt hätte, „d’inspirer de la haine à mes ouailles contres des personnes d’une Religion, qui est tolérée de notre bon Roi et de Dieu même“.306 Allerdings betonte er, dass es den Katholiken verboten sei, an Sonn- und Feier­tagen aus materiellen Interessen heraus zu arbeiten. Von den Konsistorialen erhoffte der Kaplan größeres Verständnis für seine Position als von den jüdischen Dorfbewohnern, weswegen er sich mit den Ersteren auf eine Stufe stellte: „Messieurs que pensiez vous des Votres qui travailleriez chez nous les Sabbats? ou qui viendront les Dimanches dans nos temples allumer mouches & nos chandels? Mais parce que ces cultes sont libres, et parce que vous êtes si exacts pour remplir Vos devoirs de Religion, J’espère Messieurs comme hommes et Comme Israélites, que vous ne trouverez pas mauvais, si je continue à m’acquitter plus exactement encore des miens, et à les faire observer“.307 Da der Kaplan von Juden eine genaue Befolgung der religiösen Pflichten gewohnt war, erwartete er von jüdischer Seite Verständnis für seinen Wunsch nach Einhaltung der Sonntagsruhe durch seine Gemeinde. In den betrachteten Untersuchungsdörfern fand sich für den im Vordergrund stehenden Zeitraum lediglich ein Geistlicher, der offensiv gegen die Arbeit von Christen bei Juden auftrat. Der von 1866 bis 1878 in Ettelbrück wirkende Pfarrer Matthias Rauen nutzte im November 1871 seine Predigten u. a. dafür, den katho­ lischen Gemeindemitgliedern unter Androhung kirchlicher Strafen zu untersagen, bei Juden in Dienst zu treten. Wie bereits im Zusammenhang mit der Einweihung der Synagoge erwähnt, trafen seine Forderungen auf wenig Verständnis bei den meisten Katholiken des Ortes.308 Ansonsten gingen die Geistlichen der ­verschiedenen

304 In den Dörfern Bourscheid und Nelling kam es in den Dreißiger- und Vierzigerjahren ebenfalls zu Diskussionen über die Arbeitstätigkeit von Christen bei Juden. Vgl. Lang/ Rosenfeld, S. 225 f., 282. 305 Desservant d’Erstroff au consistoire israélite de Metz, 20.5.1822, in: ADM 17J46. 306 Ebd. 307 Ebd. 308 Vgl. Der Israelit, Beilage zu Nr. 48, 1871, S. 895. Vgl. Flies, S. 1430 – 1433. Vgl. Kapitel 5.2.2. Blaschke sieht den niederen Klerus im Deutschen Reich als eine wichtige Trägergruppe für judenfeindliche Einstellungen. Vgl. Blaschke, Katholizismus, S. 193 – 201.

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Dörfer – die katholischen ebenso wie die protestantischen – anscheinend nicht gegen die Arbeit von Christen bei Juden vor, die bis ins 20. Jahrhundert hinein überall üblich war.309 Ein Argument gegen die Tätigkeit von Christen bei Juden, das der erwähnte lothringische Geistliche aus Erstroff vorbrachte, war die Sorge darum, dass die Christen die Sonntagsruhe nicht einhielten. Jene wurde das gesamte 19. Jahrhundert über allerdings in keiner der Regionen flächendeckend streng beachtet, auch nicht auf dem Land, wo die Praxis der Landbewohner von Dorf zu Dorf variierte. Im Jahr 1816 beauftragte z. B. der niederländische Staatsminister den luxemburgischen Gouverneur, die Teilnahme der (katholischen) Bevölkerung an Gottesdiensten und Festen überwachen zu lassen, da zuvor Klagen über die nur geringe Beachtung der vom Großherzog angeordneten Sonntags- und Feiertagsruhe eingegangen waren.310 Der Gouverneur erwiderte daraufhin, dass die Bevölkerung ihre religiösen Pflichten genau erfülle, aber die Vorschrift, an Sonn- und Feiertagen die Geschäfte geschlossen zu halten, als sehr lästig empfinde, weil diese Tage immer als vorteilhaft für den Handel angesehen worden seien.311 Persön­liche Frömmigkeit oder Religiosität drückten sich im Großherzogtum, aber auch den angrenzenden Regionen also nicht unbedingt in der strengen Einhaltung der Sonntagsruhe aus, sondern eher im zumindest sonntäglichen Besuch der Kirche. Die Katholiken von Ettelbrück zeichneten sich mehrheitlich allerdings nicht als eifrige Kirchgänger aus: Mitte der Dreißigerjahre wohnten nach Angaben des Gemeinderats von den über 2000 Einwohnern in der Regel nicht mehr als 75 den Gottesdiensten bei.312 Gegenüber der Sabbatruhe der Juden wurde lediglich in dem nahe Ettelbrück gelegenen Medernach manchmal Kritik seitens der christlichen Bevölkerung laut, wenn Bauern auf dem Heimweg vom Feld beobachteten, dass die Juden samstags nicht arbeiteten, und darüber Ärger empfanden. Ihr Unmut ist ein Zeichen dafür, dass zumindest ein Teil der christlichen Landbevölkerung aufgrund des Sabbats den Eindruck hatte, dass die jüdischen Mitbürger weniger arbeiteten als sie selbst.313

309 Vgl. zu den christlichen Angestellten bei jüdischen Einwohnern die Kapitel 3.2 und 4.4. Zwar ist einzuschränken, dass die Predigten der Geistlichen nicht fassbar sind, allerdings hätten sie, falls sie ein positives Echo in der christlichen Bevölkerung gefunden hätten, wohl schriftlichen Niederschlag gefunden. 310 Vgl. ministre d’Etat au gouverneurs des provinces méridionales, 1.1.1816, Gouverneur de Luxembourg au sous-intendants, 9.1.1816, in: ANL C386. 311 Vgl. ministre d’Etat au gouverneur de Luxembourg, 7.11.1816, in: ANL C386. 312 Vgl. Flies, S. 1358 – 1360. 313 Vgl. Mic, Albert: Plazen, Gaassen, Weeer a Pied, in: Organisatiounscomité „75 Jar Miedernacher Musek“, S. 223.

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In Lothringen beklagten sich schon während des Ancien Régime katholische Priester über die nachlässige Haltung der Gläubigen hinsichtlich der Sonntagsruhe, z. B. kritisierte der aus Créhange die teilweise alternativ zum Kirchenbesuch veranstalteten öffentlichen Tänze. Hinzu kam, dass er den ansässigen Juden den Vorwurf machte, durch ihre Händel die christlichen Sonn- und Feiertage zu entweihen.314 Diese Kritik zielte allerdings keineswegs nur auf die Juden, sondern auch auf die katholischen Einwohner, die vor Geschäften mit den jüdischen Handelsleuten auch an Sonntagen nicht zurückschreckten. Letztere Gewohnheit änderte sich in Lothringen im Verlauf des 19. Jahrhunderts nicht. Im Kreis Boulay suchten z. B. bis nach dem Ersten Weltkrieg noch regelmäßig christliche Kunden, die zum Teil von außerhalb kamen, die ansässigen jüdischen Viehhändler an Sonntagen auf. Die beschriebene Praxis beschränkte sich normalerweise allerdings auf die Zeit vor und nach der Messe, da die meisten Katholiken in Boulay und Umgebung hinsichtlich des Besuchs der Gottesdienste als streng anzusehen waren.315 Zu diesem Befund passt, dass sich in zwei in den Vierzigerjahren vorgenommenen Untersuchungen der Diözesen Metz und Nancy über die religiöse Praxis der Gläubigen zeigte, dass in den deutschsprachigen Teilen Lothringens die katholische Bevölkerung ihren religiösen Verpflichtungen stärker nachkam als in den französischsprachigen Teilen.316 Auch unter der deutschen Herrschaft änderte sich dies nicht, wie u. a. 1881 an der ablehnenden Haltung der Katholiken Boulays gegenüber einem Lehrer abzulesen ist, der die Kirche bei Beginn der Predigt verließ, was nach Angaben des Kreisdirektors „nur böses Blut machen“317 konnte. Die jüdischen Frauen nutzten den Sonntagmorgen u. a. zum Waschen der Sabbatkleidung, während die jüdischen Geschäftsleute sich auf die kommende Woche vorbereiteten und die Viehhändler sich um ihre Tiere kümmerten oder die Ställe ausmisteten.318 Zumindest teilweise anders als in Boulay, wo die christlichen Einwohner strenge Kirchgänger waren, sah es im konfessionell gemischten Gemünden aus. Dort war

314 Vgl. Ulbrich, S. 261. Auch in der Rheinprovinz des 19. Jahrhunderts fürchteten die Priester, wegen der Abhaltung von Tanzveranstaltungen vor leeren Kirchenbänken zu stehen. Vgl. Dietrich, Tobias: Lenkung und Ablenkung. Gastwirte im thurgauischen und rhei­ nischen Dorf (1830 – 1900), in: Ruth Dörner/Norbert Franz/Christine Mayr (Hg.): Lokale Gesellschaften im historischen Vergleich. Europäische Erfahrungen im 19. Jahrhundert (Trierer Historische Forschungen, Bd. 46), Trier 2001, S. 331. 315 Vgl. Daltroff, juifs, S. 128, 161 f., 166. 316 Vgl. Barral, Pierre: Les églises concordataires 1801 – 1870, in: Taveneaux, S. 191. Vgl. Roth, Lothringen als Teil, S. 402. 317 Bürgermeister von Gemünden an den Präsidenten von Lothringen 18.4.1881, in: ADM 9AL40. 318 Vgl. Daltroff, juifs, S. 160 f.

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die Kirchenfrömmigkeit unter einem Teil der christlichen Handwerker nach An­ gaben des Bürgermeisters von 1838 schwach ausgeprägt: „Metzger, Bäcker, Krämer machten keine Anstalten ob Gottesdienst oder keiner […] und die Händler schacherten in allen Wirthsstuben.“319 Die Kritik richtete sich ähnlich wie im Fall des Geistlichen von Créhange gegen den Teil der christlichen Bevölkerung, welcher den Gottesdienstbesuch vernachlässigte, bezog aber die jüdischen Dorfbewohner, welche zu dieser Zeit die einzigen Handelsleute im Ort und vereinzelt Metzger waren, ein. Ohne ihre christlichen Kunden, die größtenteils in die Kirche gingen, aber bereit waren, im weiteren Verlauf des Sonntags Geschäfte abzuschließen, ­hätten die jüdischen Händler allerdings keine Verkäufe machen können. Der Bürger­ meister zog daher den katholischen Pfarrer und den protestantischen Pastor des Dorfes zurate, die auf seine Bitte hin gegen das bestehende „Unwesen“ predigten, und er selbst ließ das Verbot der Sonntagsarbeit von den Gemeindebediensteten überwachen. Der Erfolg der Maßnahmen war allerdings nur kurzfristig, da die Bevölkerung schon bald wieder zu ihren Gewohnheiten zurückkehrte.320 Während die Geistlichen in Gemünden die Frage, ob die ansässigen Juden die Sonntagsruhe einhielten, anscheinend unberührt ließ, zeigte sich im Umfeld einer Auseinandersetzung um Unterrichtsausfall an der jüdischen Schule, dass dies bei hohen Feiertagen anders sein konnte. Vom 25. bis zum 31. Dezember 1856 hatte in Gemünden keine jüdische Schule stattgefunden, der jüdische Lehrer die Schulkinder am 29. und 31. Dezember einfach sich selbst überlassen. Der Vater einer Schülerin erhob daraufhin beim Bürgermeister Anzeige gegen den Lehrer wegen Amtsvernachlässigung. Der evangelische Pfarrer und Schulinspektor Koch glaubte allerdings, dass der Kläger sich über den Ausfall der Schule an Weihnachten beschwert hätte, was dazu führte, dass er diesen als „gehäßigen Talmudjuden […], der eine bigotte Schadenfreude empfindet, wenn er seine Kinder an einem höchsten Feste der Christen in Alltagskleidern, welche beschmutzt sind, und mit einem schweren Schulbücherkasten auf den Rücken zur Schule schicken kann“321 bezeichnete. Der jüdische Vorsteher Marx Löb sah seine Religion von den

319 Zeitungsbericht von Bürgermeister Kaiser für Oktober und November 1838, in: LHAK Best. 655,12 Nr. 161. 320 Ebd. Vgl. Zeitungsbericht von Bürgermeister Kneip für Juli und August 1843, in: LHAK Best. 655,12 Nr. 161. Zwar ist nicht klar, ob es sich bei den Handwerkern mit eher ­lockerer Kirchenbindung um Protestanten handelte, allerdings ist dies wahrscheinlich, da die Katholiken im Vergleich häufiger die Gottesdienste besuchten. Vgl. Dietrich, Tobias: Zwischen Milieu und Lebenswelt. Kirchenbindung und Konfession im Hunsrück des 19. Jahrhunderts, in: Monatshefte für Evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes, Jg. 50, 2001, S. 37 – 60. 321 LHAK Best. 441 Nr. 9811, S. 424.

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Äußerungen Kochs ­beleidigt, war sich allerdings bewusst, dass die Vorstellung, die jüdischen Ein­wohner verspotteten das Weihnachtsfest, auf den Pastor und die preußische Verwaltung provozierend wirken musste. Aus diesem Grund glaubte er, den eigentlichen Vorwurf – nämlich die Missachtung der christlichen Feiertage – zunächst entkräften zu müssen, ehe er eine Entschuldigung für Kochs Aussagen verlangte. Er betonte, dass Unterricht an den Weihnachtsfeiertagen nie zur Debatte gestanden habe: Es handelte „sich keineswegs um die beiden Tage des 25. und 26., an welchen die hohen christlichen Festtage gefeiert werden! Gott bewahre! Von diesen beiden Tagen konnte und durfte keine Rede sein, da es sich von selbst versteht, daß alle öffentlichen Schulen an den hohen christlichen Festtagen geschlossen bleiben m ­ üssen“.322 Es gäbe keinen Juden, der „auf unanständige bei den C ­ hristen ­Aergernis und Anstoß erregende Weise“323 seine Kinder an Weihnachten in die Schule schicken wolle. Der Jude, der gegen den ausgefallenen Unterricht geklagt habe, sei ein „armer Mann, den C ­ hristen wie Juden gut zu leiden haben, und [der] niemals die christlichen Segnungen zu kränken beabsichtigte“.324 Dass bis auf den letzteren Fall in Gemünden die Initiative zur Einhaltung der Sonn- und Feiertagsruhe von den amtierenden Bürgermeistern ausging, scheint bezeichnend für die Lage in der südlichen Rheinprovinz zu sein. Die preußische Verwaltung – vor allem die höhere – sah keine Alternative zum christlichen Wochenrhythmus.325 Teilweise zeigten sich die preußischen Behörden hinsichtlich der Sonntagsruhe strenger als die Geistlichen selbst: Der Pfarrer von Illingen bat 1887 vergebens darum, dass auch sonntags an der Kirche zu Uchtelfangen gebaut werden dürfe. Seine Bitte wurde mit der Begründung abgelehnt, dass sich die Regierung wiederholt für die Heilighaltung der Sonntage eingesetzt habe.326 Ähnlich nachdrücklich verhielt sich der Illinger Gendarm Bethmann, als er im Jahr 1894 den katholischen Metzger Ernst Heckler und den jüdischen Kaufmann Moritz Lazard anzeigte, weil beide während der nichtgesetzlichen Verkaufsstunden ihre Waren angeboten hatten.327 1896 stellte die Ortsverwaltung sogar Anzeigen gegen 13 Personen, weil sie an einem Sonntag mit Heumachen beschäftigt gewesen waren. Die Beklagten – auch die vier betroffenen jüdischen Einwohner unter ihnen – ver­wiesen darauf, dass die Erlaubnis dazu, wie in früheren Jahren auch schon, von einem 322 Ebd., S. 409. 323 Ebd. 324 Ebd., S. 410. 325 1842 beklagte z. B. die Koblenzer Regierung, dass es kaum jüdische Lehrlinge gäbe, da sie am Sabbat nicht arbeiten dürften, aber zugleich lehnte sie Sonntagsarbeit vehement ab. Vgl. Jehle, Juden, Bd. 2, S. 501. 326 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 986, S. 13 f. 327 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 923, S. 31, 34.

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Geistlichen in der Kirche erteilt worden sei. Dies stellte keinen Einzelfall dar, denn in der Rheinprovinz und in anderen ländlichen Regionen erteilten die Geistlichen zu bestimmten Anlässen – wie der Pflug- und Erntezeit und dem Heumachen im Herbst – den Einwohnern die Erlaubnis zur Sonntagsarbeit.328 In manchen Fällen zeigten allerdings auch die preußischen Bürgermeister Verständnis für die von ihnen verwaltete Dorfbevölkerung und nahmen sie gegen die übergeordneten Behörden in Schutz. In Illingen war dies 1889 der Fall, als in mehreren Zeitungsartikeln die Nichteinhaltung der Sonntagsruhe vonseiten jüdischer Händler beklagt wurde. Der Bürgermeister von Illingen relativierte die vom Landrat erhobenen Vorwürfe, indem er bemerkte, dass es kein regelrechtes Umherfahren mit Vieh seitens der jüdischen Handelsleute an Sonntagen gäbe – zumindest nicht in der Regel. Einschränkend gab er zu, dass Viehhandel in den Ställen betrieben werde, was mit der Lage im benachbarten Lothringen vergleichbar ist. Die geschilderte Praxis sah der Beamte aufgrund der örtlichen Verhältnisse als ökonomische Notwendigkeit an: Viele Bürger könnten wegen ihrer Arbeit als Bergleute während der Woche nicht zu Hause sein. Daher müssten sie sich am Wochenende mit solchen Dingen beschäftigen.329 Diese Situation ähnelte stark derjenigen, die im nahen Grosbliederstroff in Lothringen herrschte, wo auch ein Teil der (katholischen) Männer sich die Woche über als Arbeiter verdingte. Dass Juden und Christen in Lothringen an Sonntagen miteinander handelten, lag wie in der Rheinprovinz keineswegs daran, dass die zivilen Behörden es erlaubt hatten. Vielmehr wurde von der zivilen Verwaltung auch hier erwartet, dass sich die Juden grundsätzlich an die Sonntagsruhe hielten, zumal der Katholizismus bis 1830 Staatsreligion war. Erwähnenswert ist, dass seit Beginn der zweiten Jahr­ hunderthälfte lokale Behörden in Einzelfällen die jüdische Religion und die mit ihr verbundenen Ruhetage in ihre Überlegungen einbezogen. Bei der kurz nach der Jahrhundertmitte erfolgenden Neuerrichtung der Synagoge von Boulay war die Arbeit auf der Baustelle nicht nur an Sonntagen verboten, sondern es wurde in der Ausschreibung zugleich festgelegt, dass auch der jüdische Rhythmus zu beachten sei, weswegen auch nicht am Sabbat, also den Samstagen, gebaut werden durfte.330 Eine vergleichbare Art der Berücksichtigung des jüdischen Kalenders ließ sich – abgesehen von der bereits erwähnten Verschiebung von Viehmärkten, falls sie auf einen jüdischen Feiertag fielen – weder in der Rheinprovinz noch in Luxemburg finden. Dass das seit 1852 in Boulay existierende öffentliche Schlachthaus auch an

328 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 875, S. 5 f. Vgl. Ullmann, S. 422 – 424. 329 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 986, S. 11 f. 330 Vgl. Adjoint du maire de Boulay au préfet de Metz, 19.6.1853, in: ADM V156. Vgl. Roos, relations entre les juifs, S. 54. Vgl. Wahl, confession, Bd. 2, S. 643.

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den christlichen Sonn- und Feiertagen von vier bis neun Uhr geöffnet war, kam nicht zuletzt den zahlreichen jüdischen Metzgern des Ortes entgegen.331 Unter der deutschen Herrschaft änderte sich zunächst nichts an den gesetzlich festgesetzten Feiertagen im annektierten Lothringen, da die französischen Regelungen beibehalten wurden. Der Karfreitag, der bei den Evangelischen höheren Stellenwert hatte, zählte zwar seit 1887 zu den gesetzlichen Feiertagen im Reichsland, aber er wurde in Lothringen wegen der nur geringen Zahl evangelischer Einwohner teilweise nicht als solcher von den lokalen Behörden behandelt. Dies war auch in Boulay der Fall, obwohl dort eine kleine protestantische Gemeinschaft existierte. Aufgrund solchen Verhaltens kam es im Reichsland – vor allem im konfessionell stärker gemischten Elsass – wiederholt zu Konflikten zwischen evangelischen und katholischen Christen, die den jeweils anderen vorwarfen, durch bestimmte Aktivitäten (z. B. die Kornernte) die Feiertagsruhe nicht einzuhalten.332 Auch in Boulay fühlte sich ein Teil der christlichen, vor allem der katholischen Bevölkerung von den Folgen der von anderen Mitbürgern verrichteten Arbeit an Sonn- und Feiertagen belästigt. Infolge häufiger „Klagen über die durch Austreiben von Schafen, Ziegen und Schweinen an den Sonn- und Festtagen verursachte Verunreinigung der Wege, Straßen und Plätze“ verbot der Bürgermeister 1897 allen Einwohnern, ihre Tiere an den Sonntagen und den katholischen Feiertagen durch den Ort zu führen oder irgendwo stehen zu lassen. Diese Regelung betraf die gesamte Bevölkerung, war aufgrund der Sonn- und Feiertagsregelung jedoch besonders einschränkend für die jüdischen sowie teilweise auch die protestantischen Einwohner.333 Von ihrer Art her war die Regelung allerdings kein Einzelfall bzw. keine Neuerung, die erst unter der deutschen Herrschaft möglich wurde.334 Insgesamt ist festzuhalten, dass das Maß, in welchem sich die Geistlichen für die Einhaltung der Sonntagsruhe und der Feiertage gegenüber allen Einwohnern 331 Vgl. Règlement de police concernant l’abattage des bestiaux à Boulay 27.12.1852, in: ADM ED100 5I5. 332 Nur Neujahr, Christi Himmelfahrt, Mariä Himmelfahrt, Allerheiligen und ­Weihnachten galten in Boulay als Feiertage. Vgl. Polizeiverordnung von Bürgermeister Weber von ­Boulay, 2.8.1897, in: ADM ED100 2N2. Vgl. Wahl, confession, Bd. 2, S. 642 – 644. 333 Vgl. Polizeiverordnung von Bürgermeister Weber von Boulay, 2.8.1897, in: ADM ED100 2N2. Dass die jüdische Bevölkerung nicht das ausschließliche Ziel der Verordnung darstellte, zeigt sich daran, dass sie nicht zu den Schweinebesitzern des Ortes gehörten, die auch von der Regelung betroffen waren. Vgl. Viehzählung in Bolchen, 2.12.1907, in: ADM ED100 3F7. 334 Bereits 1820 hatte der Gemeinderat von Vantoux beschlossen, dass die in der Regel jüdischen Metzger den im Umfeld des örtlichen Schlachthauses befindlichen Mist so be­­seitigen müssten, dass der öffentliche Weg bereits Sonntag morgens frei wäre. Vgl. Roos, relations entre les juifs, S. 143 f.

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engagierten, in allen Regionen eher gering war. Im überwiegend katholischen Lothringen setzten sich die Pfarrer nur gelegentlich dafür ein, dass ihre Gläubigen die Sonntagsruhe befolgten und deswegen nicht bei Juden arbeiteten. Ansprüche gegenüber der Einhaltung vonseiten der Juden stellten sie aber anscheinend nicht, zumal sich die zivilen Behörden meist eher tolerant zeigten. Im ebenfalls fast ausschließlich von Katholiken bewohnten Großherzogtum, wo die Staatsverwaltung zeitweise Verständnis für die Nichteinhaltung der Sonntagsruhe signalisierte, äußerte sich die katholische Geistlichkeit im Zusammenhang mit den Juden nicht über die Einhaltung der Sonn- und Feiertage.335 In den Untersuchungsdörfern der Rheinprovinz tat lediglich ein Geistlicher deutlich die Meinung kund, dass auch die jüdischen Einwohner christliche Festtage achten sollten, während die ­meisten Bürger­ meister die Sonntagsruhe für die gesamte Bevölkerung durch­setzen ­wollten. Dass die Letzteren sich anders als ihre Kollegen in Lothringen und im Groß­herzogtum verhielten, lag wohl daran, dass sie im Gegensatz zu diesen von außerhalb ihrer Orte kamen und eine Kontrollfunktion für den Staat ausüben sollten, während ihre Kollegen in den anderen Regionen aus den Dörfern selbst kamen und den Bedürfnissen der Dorfbevölkerung stärker Rechnung trugen.336

5.3 Das Vereinswesen: zwischen Interessen und Geselligkeit Eine wesentliche Veränderung des gesellschaftlichen Lebens in den Dörfern stellte die vor allem seit Beginn der zweiten Jahrhunderthälfte erfolgende Etablierung eines Vereinswesens dar, welches in der Regel städtischen Vorbildern folgte, gleichzeitig aber von den Dorfbewohnern an die eigene Lebenswelt angepasst wurde. Sowohl in den urbanen Zentren als auch später auf dem Land entwickelte sich das Vereinswesen zu einem Massenphänomen, sodass der Verein vor dem Ersten Weltkrieg zu einer selbstverständlichen Organisationsform für gesellschaftliche und politische Aktivitäten wurde. In Frankreich kam es im 19. Jahrhundert aufgrund der poli­ tischen Gegebenheiten erst später als im deutschen Bereich zur ­Insti­­­­tu­tionalisierung von Vereinen, d. h., in Städten etablierte lockere Geselligkeitsformen wie „cercles“ blieben bis in die zweite Jahrhunderthälfte hinein informal, während in deutschen Staaten schon längst Vereine mit Vorständen und Statuten eingerichtet wurden. In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass die unterschiedliche Entwicklung des Vereinswesens in den betrachteten Regionen, die sich u. a. aus ihrer Einbindung in

335 Der bereits erwähnte Pfarrer Rauen wandte sich allgemein gegen jüdisch-christliche Beziehungen, aber nicht gegen Arbeitsverrichtungen von Juden am Sonntag. 336 Vgl. Mayr, S. 38 – 41, 366 f.

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verschiedene nationale Zusammenhänge ergab, vor allem in den Städten sichtbar war, während auf dem Land die Differenzen weniger deutlich ausfielen: Die meisten Dorfvereine wurden in den Jahrzehnten um die Wende zum 20. Jahrhundert gegründet. Im lothringischen Fall gilt dies nicht nur für das annektierte Terri­torium, sondern auch für das französisch gebliebene.337 Wegen der auf den unterschiedlichen nationalen Entwicklungen beruhenden Forschung über Zusammenschlüsse von Staatsbürgern – die ökonomisch, politisch, gesellig, religiös oder patriotisch motiviert sein konnten – stößt der Vergleich auf gewisse Probleme. Zur Forschung über das deutsche Vereinswesen gibt es kein französisches Pendant, wenn es auch einzelne Publikationen gibt, die sich an ihr orientieren.338 Die auf Agulhon zurückgehende französische „Sociabilité“-Forschung geht über das Konzept der Vereinsforschung hinaus, indem sie sich mit „den konkreten Formen und Vorgänge[n], Strukturen und Prozesse[n] gesellschaftlicher Vergemeinschaftung im ganzen sozialen Bereich zwischen der Familie einerseits, dem Staat und den etablierten politischen Körperschaften (Parteien) andererseits“339 beschäftigt.340 Im Folgenden wird die Entwicklung von Zusammenschlüssen und Vereinen in den Dörfern, die Kommunikation zwischen jüdischen und christ­ lichen Einwohnern zur Folge haben konnten bzw. jüdischen Ursprungs waren, vor allem aus dem Blickwinkel der deutschen Vereinsforschung betrachtet. Dies ist in erster Linie dem Umstand geschuldet, dass die Quellen häufig lediglich über die Gründung bzw. die Existenz von Vereinen Auskunft geben, während die Praxis des Vereins­lebens sowie unorganisierte informelle Treffen häufig im Dunkeln bleiben.341

337 Vgl. Mehler, S. 200. Vgl. Von Friedeburg, Robert: Ländliche Gesellschaft und Obrigkeit. Gemeindeprotest und politische Mobilisierung im 18. und 19. Jahrhundert (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 117), Göttingen 1997, S. 204 f. Vgl. Wahl, confession, Bd. 1, S. 6 f. Vgl. Hirsch, Jean-Pierre: Les associations, une affaire d’allemands? In: Bernard Desmars/Alfred Wahl (Hg.): Les associations en Lorraine (De 1871 à nos jours), Metz, 2000, S. 11. Vgl. Steffens, Horst: Autorität und Revolte. Alltagsleben und Streikverhalten der Bergarbeiter an der Saar im 19. Jahrhundert, Weingarten 1987, S. 276. Vgl. Dörner, S. 277 f. Vgl. Herres, Jürgen: Städtische Gesellschaft und katholische Vereine im Rheinland 1840 – 1870, Essen 1996, S. 14. 338 Vgl. für Lothringen den Sammelband von Desmars und Wahl. 339 Reichardt, Rolf: Zur Soziabilität in Frankreich beim Übergang vom Ancien Régime zur Moderne. Neuere Forschungen und Probleme, in: Etienne François (Hg.): Sociabilité et société bourgeoise en France, en Allemagne et en Suisse, 1750 – 1850, Paris 1987, S. 29. 340 Vgl. Dann, Otto: Die bürgerliche Vereinsbildung in Deutschland und ihre Forschung, in: François, sociabilité, S. 43. 341 Betrachtet werden auch ökonomisch motivierte Vereinigungen, die Agulhon ausschließt. Vgl. Reichardt, S. 32 f. Zu den Wirtshäusern, die nach Agulhon einen Ort der „Sozia­ bilität der kleinen Leute“ darstellten, vgl. Kapitel 5.1.3.

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5.3.1 Vereinigungen zur Durchsetzung lokaler Partikularinteressen

Zusammenschlüsse zur Durchsetzung konkreter lokaler Interessen wurden in mehreren der betrachteten Dörfer von Teilen der Bevölkerung ins Leben gerufen, um bestimmte Ziele zu verfolgen, und lösten sich nach deren Erreichen zumeist wieder auf. Neben diesen tendenziell kurzlebigen Vereinigungen werden hier aber auch Assoziationen betrachtet, an denen sich die Angehörigen bestimmter Berufsgruppen beteiligten. In Illingen strebten 1852 nach Angaben des Bürgermeisters alle Einwohner des Dorfes die Einrichtung eines Wochenmarktes an, da der Ort ein Zentrum der Umgebung darstellte. Die ansässigen Geschäftsleute hofften durch den Wochenmarkt mehr Käufer für ihre Waren zu gewinnen, wenn sie auch selbst nicht unbedingt Produkte anboten, die auf dem Wochenmarkt verkauft werden sollten. Um der potenziellen Kundschaft einen möglichst attraktiven Markt mit vielen Verkäufern bieten zu können, gründeten 48 Einwohner des Ortes einen Verein, dessen Zweck es war, „viele Verkäufer aus der Umgebung nach Illingen zu ziehen“,342 und der den Anbietern von Lebensmitteln einen sicheren Absatz ihrer Waren garantierte. Jedes Vereinsmitglied war verpflichtet, mindestens eine Aktie im Wert von 15 Silbergroschen zu erwerben. Von dem eingenommenen Geld sollten gegebenenfalls nach Beendigung jedes Markttages nicht verkaufte Waren – beispielsweise Eier oder Butter – angekauft werden, welche danach an die Vereinsmitglieder ausgegeben werden sollten.343 Unter den Vereinsmitgliedern fanden sich auch zwölf jüdische Einwohner, die aufgrund der Berufsstruktur im Ort einen im Verhältnis zu ihrem Bevölkerungsanteil überproportionalen Anteil der Vereinsmitglieder stellten. Es handelte sich bei ihnen in erster Linie um Krämer wie Joseph Levy, aber auch mehrere Viehhändler wie Salomon Strauß waren vertreten.344 Für die Viehhändler war der Markt interessant, da sie beispielsweise Kälber kaufen oder verkaufen konnten. Weil sich der Wochenmarkt gut entwickelte, erhielten die Vereinsmitglieder teilweise ihr Geld wieder zurück, da sich der Ankauf übrig gebliebener Waren erledigte.345 Ungefähr zur gleichen Zeit wie in Illingen verfolgte auch in Boulay ein Teil der Einwohner ein Ziel, für dessen Erreichung sie bereit waren, sich finanziell einzubringen. Die Metzger des Ortes, unter denen sich zur Jahrhundertmitte zahlreiche Juden befanden, schlachteten bis 1852 Kälber und Schafe auf den Plätzen 342 LAS Dep. Illingen Nr. 1315, S. 6. 343 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1315, S. 1 – 7. 344 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1315, S. 8 f. Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1539, S. 51 – 81. Vgl. Nauhauser, S. 152 f. 345 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1315, S. 11, 18 – 20.

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und in den Straßen des Ortes sowie das Rindvieh in Scheunen, die sie teilweise extra zu diesem Zweck anmieten mussten. Die unbrauchbaren Überreste und das Blut entsorgten sie auf den Misthaufen im Innern des Dorfes, die nach Angaben des Bürgermeisters daher einen scheußlichen Geruch im Sommer verbreiteten. Mit diesen Verhältnissen waren zur Jahrhundertmitte alle Einwohner des Ortes unzufrieden, weswegen es auch nicht zu Auseinandersetzungen unter ihnen kam, sondern dazu, dass sie geschlossen die Einrichtung eines Schlachthauses forderten: „l’établissement d’un abattoir est […] unanimement réclamé: par les bouchers, dans leur intérêt personnel, et bien entendu, par les habitants dans des rues de salubrité et de moralité.“346 Mehr als 30 Dorfbewohner schlossen sich 1852 zusammen, um das Geld für den Bau der ersehnten Einrichtung aufzubringen. Sie liehen der Zivilgemeinde – in Form eines Ankaufs von Aktien – für mehrere Jahre Geld, ohne Zinsen für diesen Kredit zu erhalten. Unter ihnen befanden sich neben Bürgermeister Le Secq de Crépy und seinem Stellvertreter Jean-Joseph Jager mehrere Mitglieder des Gemeinderats, einschließlich des jüdischen Handelsmanns Jacob Rheims sowie seines Glaubensgenossen Lion Cerf und des protestantischen Unternehmers Somborn. Darüber hinaus beteiligten sich einige Gemeindebeamte wie der Steuereinnehmer Jean Bretzner und einzelne wohlhabendere Einwohner wie Ferdinand de Bony und der jüdische Pferdehändler Isaac Bénédic. Von den ansässigen Metzgern beteiligte sich lediglich ein Mitglied der jüdischen Familie Rheims.347 Die Rückzahlung des geliehenen Geldes erfolgte über die Einnahme von Gebühren für die Nutzung des neuen Schlachthauses.348 Bemerkenswert ist, dass die jüdischen und die christlichen Metzger auch im weiteren Verlauf der zweiten Jahrhunderthälfte immer wieder zusammenarbeiteten bzw. sich für gemeinsame Interessen einsetzten. So wandten sich alle Fleischer 1888 an den Gemeinderat, da ihnen die Arbeitsbedingungen, die ihnen das bestehende Schlachthaus bot, ungenügend erschienen. Die jüdischen Rindviehmetzger unterstützten den Wunsch der christlichen, auf Schweine spezialisierten Kollegen, das Schlachthaus um einen Schuppen zu vergrößern, in welchem Schweine gebrannt werden könnten. Ein direkter Erfolg war den Antragstellern zwar nicht vergönnt,

346 Devis estimatif et descriptif des travaux à éxcecuter dans la ville de Boulay, pour la construction d’un abattoir 15.5.1852, in: ADM ED100 1M3. 347 Vgl. Liste de souscription pour la construction d’un abattoir à Boulay au moyen d’un emprunt de 3600 francs, 30.5.1852, in: ADM ED100 1M3. Vgl. Liste des électeurs censitaires de la commune de Boulay, 5.1.1846, extrait du régistre des délibérations du conseil municipal de Boulay, 4.2.1849, 14.12.1851, élection du conseil municipal de Boulay, 30.7.1848, 5.9.1852, in: ADM 40M4. 348 Vgl. Extrait du régistre des délibérations du conseil municipal de Boulay, 22.8.1852, in: ADM ED100 1D2.

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aber eine erneute Eingabe aller Metzger um die Einrichtung einer „SchweineBrenn-Halle“ sorgte dafür, dass 1897 das Projekt in Angriff genommen wurde. In dem zweiten Gesuch von 1896 verlangten die Fleischer zudem die Errichtung eines Viehstalles, in dem das Schlachtvieh kurzfristig untergebracht werden könne. Der Gemeinderat vertraute auf die Einschätzung der Metzger, dass eine Erwei­ terung des bisherigen Schlachthauses notwendig sei, nicht zuletzt deswegen, weil sie geschlossen auftraten.349 Auch im luxemburgischen Ettelbrück zeigten jüdische Einwohner keine Scheu vor der Zusammenarbeit mit christlichen Einwohnern in Interessengruppen. So beteiligte sich Isaac Cahen im Oktober 1848 an der Gründung einer Eltern­ vereinigung. Der zwölf Väter umfassenden Gruppe gehörten neben ihm auch der Gemeindesekretär Michael Faber sowie der Gerber Gustav Weyland und die Händler Decker und Goedert an. Ihr Ziel war es, eine Privatschule zu eröffnen, an der die aus der Primärschule entlassenen Kinder drei Jahre lang einen mitt­leren Unterricht erhielten, um dann in die 4. Klasse der Staatsschule eintreten zu können. Sie verpflichteten sich, die entstehenden Kosten zu übernehmen, und beauftragten den ehemals am Progymnasium in Diekich beschäftigten, nun aber in Ettelbrück lebenden Schmid und den Lehrer Scharff mit der Arbeit an dieser Schule.350 Dass der Gemeinderat unter Anführung des Bürgermeisters Herckmans zustimmte, ist nicht besonders verwunderlich, da der Letztere selbst der Elternvereinigung angehörte. Zwar erwies sich die getroffene Regelung letztlich als nicht umsetzbar, aber Erfolg in ihrem Bemühen um eine weiterführende Schule hatten die Eltern insofern, als 1849 im Ort eine Mittelschule eingerichtet wurde, an der sich die Zivilgemeinde finanziell beteiligte und die 1855 in eine Oberprimärschule umgewandelt wurde.351 Neben den bisher beschriebenen Fällen, in denen sich Dorfbewohner akzidentiell zum Erreichen eines Zieles zusammenschlossen, bildeten sich in den betrachteten Dörfern auch Vereinigungen, welche auf längere Dauer angelegt waren und die sich den Interessen der Angehörigen einer Berufssparte widmeten. Dies taten z. B. Agrargesellschaften und -vereine, die sich u. a. um günstige Bedingungen für den Bezug von landwirtschaftlichen Gerätschaften oder Futter- und Dünge­ mitteln einsetzten. Das 1874 in Gemünden gegründete „landwirthschaftliche Casino“ erfreute sich zwar einer starken Beteiligung seitens der Ackerbau treibenden Bevölkerung, allerdings dürften ihm aufgrund der Berufsstruktur kaum 349 Vgl. Gesuch der Metzger von Boulay an den Gemeinderat von Boulay, 1.7.1888, 6.3.1897, Bürgermeister von Boulay an den Kreisdirektor von Boulay, 10.3.1897, Gemeinderat von Boulay, 4.7.1897, in: ADM ED100 1M3. 350 Vgl. Elternvereinigung Ettelbrück, 18.10.1848 sowie Scharff, Schmitt und Vikar Müllendorff an den General-Administrator des Innern, 20.10.1848, in: ANL H620. 351 Vgl. Flies, S. 1487 – 1491.

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jüdische Einwohner angehört haben. Dasselbe gilt für den landwirtschaftlichen Lokalverein von Ettelbrück, der wohl zu Beginn der Achtzigerjahre eingerichtet wurde.352 Völlig auszuschließen ist eine Teilnahme der jüdischen Einwohner an den genannten Vereinen allerdings nicht, da sie teilweise Ackerbau im Nebenerwerb betrieben. Dem landwirtschaftlichen Verein von Illingen traten 1863 die jüdischen Händler Aron und Abraham Levy bei und im Jahr 1884 zählten u. a. der Krämer Marum Coblenz sowie der Kaufmann Moritz Lazar zu seinen Mitgliedern.353 Die unterschiedlichen Beschäftigungen der jüdischen und christlichen Einwohner führten also nicht zwangsweise zu einer Trennung im Bereich der auf bestimmte Berufe ausgerichteten Organisationen. In Illingen, wo die jüdischen Handelsleute auch christliche Kollegen hatten, wirkte sich die Berufszugehörigkeit sogar verbindend aus, wie schon der bereits erwähnte Verein zur Gründung des örtlichen Wochenmarktes verdeutlicht hat. Der 1905 ins Leben gerufenen kaufmännischen Vereinigung „Club Fidelitas“, als deren Erster Vorsitzender Jacob Alexander tätig war, gehörten sowohl Juden als auch Christen an.354 In der Überzahl waren die Ersteren in dem zunächst 15 Personen umfassenden Verein, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, „kaufmännische und soziale Interessen unter seinen Mitgliedern [zu] verbreiten“ und „gesellschaftliches, kameradschaftliches Interesse kauf­männisch Angestellter zu heben“,355 aber nicht. Ähnlich wie in dem Illinger Verein dürfte die Lage im luxemburgischen Ettelbrück gewesen sein, wo sich 1907 der „Kaufmännische Verein von Ettelbrück“ konstituierte, dem 75 aktive Mitglieder angehörten. In beiden Orten führte die Anwesenheit zahlreicher christlicher Geschäftsleute dazu, dass – anders als in Gemünden, wo kaum christliche Einwohner im Bereich des Handels tätig waren – Vereine, die sich den Anliegen der Angehörigen einer Berufssparte widmeten, sich nicht nur aus Mitgliedern einer Religionsgruppe zusammensetzten. In Bezug auf Luxemburg ist noch zu erwähnen, dass Jules Godchaux, der nach dem Weggang aus Ettelbrück Leiter der Tuchfabrik von Schleifmuhl wurde, 1917 sogar zum Mitglied der luxemburgischen Handelskammer ernannt wurde.356 Im Großherzogtum beteiligten sich jüdische Einwohner allerdings nicht nur an Vereinen, mit denen sie ihre ökonomischen Interessen verfolgen konnten, sondern ihre Oberschicht gehörte in manchen Fällen auch zu den Mitinitiatoren von Assoziationen, die diese absichern sollten. Die Idee eines Unterstützungsvereins für Arbeiter setzte sich 1867 mit der „Société ouvrière de secours mutuel“ in Ettelbrück 352 Vgl. Dörner, S. 280 f. Vgl. Flies, S. 1598. 353 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1320, S. 3, 145. Vgl. Nauhauser, S. 192 – 197. 354 Vgl. Dep. Illingen Nr. 1001, S. 48 – 53. 355 Ebd. S. 48. 356 Vgl. Flies, S. 1628. Vgl. Mémorial, 18.1.1917, S. 46.

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durch, wobei davon auszugehen ist, dass ihre Gründung mit der Niederlassung der Tuchfabrik der jüdischen Industriellenfamilie zusammenhing. Nur zwei Jahre zuvor hatte Louis, ein Bruder des in Ettelbrück lebenden Jules Godchaux, die „caisse de secours des travailleurs de Schleifmuhl“ gegründet, womit er an das Vorbild seines Vaters Samson und seines Onkels Guetschlik anschloss. Diese beiden hatten sich bereits um die Mitte des Jahrhunderts für soziale Belange ihrer christlichen Arbeiterschaft eingesetzt, wobei dies auf paternalistisches Fürsorgedenken zurückzuführen war, welches sie mit einem Teil der christlichen Industriellen des Landes teilten. Im Anschluss an die Unruhen des Jahres 1848 erachteten liberale Fabrikanten beider Religionen die Gründung von Unterstützungsvereinen als sinnvoll, um den sozialen Frieden zu wahren, weswegen sie 1849 den „luxemburgischen, Arbeiter-, Unterstützungs- und Schiedsverein“ ins Leben riefen, der im Fall von Krankheit bzw. Arbeitsunfällen finanzielle Hilfe leisten sollte. Samson Godchaux war im Verwaltungsrat der Gesellschaft und sein Bruder Guetschlik einfaches Mitglied.357 Eine Vereinigung mit ähnlicher Zielsetzung wie die Luxemburger Asso­ziationen gründete Mitte der Fünfzigerjahre in Boulay der Bürgermeister Le Secq de Crépy. Die „Société de secours mutuels“ sollte Handwerkern und Arbeitern bei ein­tretender Krankheit, also Arbeitsunfähigkeit helfen.358 Bereits einige Jahre zuvor hatte der aus Metz zugezogene Schneider Wibratte, der bei der Revolution 1848 aktiv ge­­ wesen war, versucht, eine Vereinigung nach dem Vorbild der „union des travailleurs de Metz“ zu gründen. Diese Idee traf vor allem bei Angestellten der örtlichen Hutfabrik auf Zustimmung, aber auch bei anderen Dorfbewohnern, z. B. dem

357 Vgl. Flies, S. 1606. Vgl. Marx, Tuchfabrik, S. 47 – 49. Vgl. Thewes, Guy: Das Leben der Arbeiter der Schleifmillen im 19. Jahrhundert, in: Schneider/Nottrot, S. 23 – 25. Vgl. Hilgert, Romain: Das Manifest der Kommunistischen Partei. Eine Gespenstergeschichte, in: Forum, Nr. 185, 1998, S. 48. Vgl. City Tourist office Luxembourg: Der Godchaux-Rundweg. Auf den Spuren der industriellen Revolution, Faltblatt, Luxembourg, o. D., S. 1 f. Vgl. Scuto, Denis: 1848 – Die erste Revolution des industriellen Zeitalters. Zum Geburtsakt der Luxemburger Arbeiterbewegung, in: Forum, Nr. 185, 1998, S. 43 – 46. Vgl. Statuts de l’association de la caisse de secours des ouvrier de ­Schleifmuhl, 21.8.1865, in: Fabien Godchaux: Activités sociales, o. J., online im Internet: http://godchaux.f.e.c.pagesperso-orange.fr/page_7.html. [Stand: 24.06.2014] Vgl. Statuten und Regulativ des luxemburgischen, Arbeiter-, Unterstützungs- und Schiedsvereins, Luxembourg 1849, S. 11, 21. Vgl. Bürger- und Beamtenzeitung, Nr. 29, 1902, Beilage, S. 1. Auf Initiative der luxemburgisch-jüdischen Industriellen wurde 1888 zudem die „Crèche de Luxembourg“ gegründet, in der Arbeiterinnen ihre Kinder abgeben konnten und für die sich u. a. Louise Godchaux und Elise Nathan engagierten. Vgl. Schneider, Klaus: Proletarierkinder. Kinderschutz im Spiegel der industriellen Entwicklung des 19. Jahrhundert, in: Forum, Nr. 271, 2007, S. 12 f. 358 Vgl. Guir, S. 91. Vgl. Bajetti, histoire, S. 62.

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ehemaligen Gerichtsschreiber Salmon. Die französischen Behörden beäugten die Entwicklung im Dorf wachsam, da sie den Verdacht hegten, dass diese Assoziation eine politische Organisation unter dem Mantel der Wohltätigkeit sei. Zwar trafen sich einige Zeit mehrere Personen regelmäßig in einem der örtlichen Wirtshäuser und tauschten sich über politische Entwicklungen aus, aber schon nach einigen Monaten scheint das Interesse verschwunden zu sein.359 Dass die gemeinsame Verfolgung von Interessen Spannungen zwischen jüdischen und christlichen Einwohnern bzw. antijüdische Haltungen der Letzteren nicht unbedingt unterdrückte, zeigte sich 1908 in Illingen, als eine Ortsgruppe des dezidiert antisemitischen Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verbandes gebildet wurde. Unter den Begründern befand sich u. a. Joseph Deutsch, der nur drei Jahre zuvor noch zu den Mitgliedern des von mehreren Juden mitbegründeten „Club Fidelitas“ gehört hatte.360 Die Gründung stand möglicherweise in Beziehung zu der Reichstagswahl 1907, bei der der Zentrumskandidat verloren hatte, was zu Spannungen zwischen den katholischen und den jüdischen Einwohnern geführt hatte.361 5.3.2 Zwischen Freizeitvertreib und Patriotismus: Gesang und Sport, Feuerwehr, Schützen- und Veteranenvereine

Für alle untersuchten Orte lässt sich feststellen, dass nichtreligiöse Vereinigungen, deren Ziele über die Vertretung bestimmter zumeist ökonomischer Interessen ihrer Mitglieder hinausgingen und einen stark geselligen Charakter hatten, sich erst in der zweiten Jahrhunderthälfte bildeten. Insofern unterscheiden sich die betrach­ teten Regionen von Baden, wo in manchen Landgemeinden dörfliche Honora­tioren bereits zuvor begonnen hatten, mit der Bildung von Kasino- und Lesevereinen ­städtische Geselligkeitsformen nachzuahmen. In Einzelfällen gehörten diesen sich aus den lokalen Oberschichten zusammensetzenden Assoziationen auch Juden an.362 Trotz des Fehlens vergleichbarer Institutionen in allen betrachteten Dörfern zeigte sich auch hier, dass die kulturellen Grenzen zur Außenwelt durch die sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts verändernden Verhaltensweisen der Juden zunehmend 359 Vgl. Procureur au préfet de Metz, 28.1.1850, Ministre de l’intérieur au préfet de Metz 1.3.1850, in: ADM M270. Ob es sich bei Salmon um einen jüdischen Einwohner handelte, ist unklar, da er in der Volkszählung von 1851 nicht aufgeführt wird, und die anderen Träger dieses Nachnamens im Dorf entweder katholisch oder jüdisch waren. Vgl. Volkszählungsliste von Boulay, 28.6.1851, in: ADM ED100 1F1. 360 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1001, S. 48 – 52, 111 f. 361 Auf die genauen Vorkommnisse wird noch an anderer Stelle eingegangen. 362 Vgl. Baumann, Nachbarschaften, S. 104 f.

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durchlässiger wurden. Manche der preußischen jüdischen Landbewohner demonstrierten ihr Interesse an der sie umgebenden nichtjüdischen Kultur z. B. über den Bezug von Zeitungen oder Literatur, auch wenn sie dies in geringerem Umfang als ihre städtischen Glaubensgenossen taten.363 Im Fall von Gemünden war es Interesse an der Religion der anderen: Vier jüdische Einwohner kauften in den Vierziger­ jahren die vom evangelischen Pfarrer Abicht geschriebene Kirchen­geschichte Gemündens, während kein ansässiger Katholik dies tat.364 In Illingen richtete der seit 1895 im Ort tätige jüdische Lehrer Berlinger eine kleine Schulbibliothek ein, deren Bücher keineswegs nur jüdische Themen behandelten, sondern die neben allgemeiner Kinder- und Jugendliteratur auch patriotisch ausgerichtete Publika­ tionen – in erster Linie über die preußische Königsfamilie – beinhaltete.365 Wie viele seiner Kollegen zählte Berlinger zu der im Verlauf des 19. Jahrhunderts anwachsenden Zahl jüdischer Erzieher, die sich für Schillers Werke begeisterte, vor allem wegen der in ihnen propagierten Gedanken von Humanität und Freiheit. Den hundertsten Todestag des Dichters im Jahr 1905 nahm der Lehrer daher zum Anlass, den beiden als würdigsten angesehenen jüdischen Schülern zwei Schillerbücher zu überreichen.366 Auch für Lothringen lässt sich feststellen, dass die jüdischen Einwohner von Dörfern und Kleinstädten Interesse am allgemeinen kulturellen Leben entwickelten. In Grosbliederstroff boten z. B. nach der Annexion die katholischen Schulen zusammen mit der jüdischen Unterrichtsanstalt Französischkurse für Erwachsene an. Nach einer überraschend starken positiven Aufnahme, die wohl auf die Neugier der Einwohner zurückzuführen war und mehrere Wochen anhielt, ließ das Interesse allerdings spürbar nach.367 In Gemünden etablierte sich eine Vereinigung, der nachweislich Mitglieder aller im Ort vorhandenen Konfessionen angehörten, erst kurz vor der Jahrhundertwende. Der erste dörfliche Gesangsverein wurde zwar bereits 1847 ins Leben gerufen, allerdings handelte es sich bei diesem um den evangelischen Kirchenchor.368 363 Vgl. Rohrbacher, Landgemeinde, S. 33. Vgl. Löwenstein, Steven M.: Der jüdische Anteil an der deutschen Kultur, in: Meyer/Brenner, S. 305. 364 Vgl. Abicht, Friedrich Kilian: Kirchengeschichte des Fleckens Gemünden und seines Filials Schlierschied auf dem Hunsrück. Ein Beitrag zur Kirchen- und Reformationsgeschichte des Hunsrücks, Bad Kreuznach 1845, S. XVI. 365 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1380, S. 37 f., 55, 97 – 99, 125 – 127. Vgl. Marx, Geschichte, S. 153. Vgl. Nauhauser, S. 330. 366 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1381, S. 80. Vgl. Meyer, Deutsch werden, S. 210 f. 367 Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 252. Dass ein Teil der christlichen Bevölkerung das Engagement jüdischer Mitbürger offen begrüßte, zeigte sich 1877 im französisch gebliebenen Lothringen in Lunéville, wo ein jüdischer Richter zum Präsidenten der „bibliothèque populaire“ gewählt wurde. Vgl. Job, juifs à Lunéville, S. 265. 368 Vgl. Dörner, S. 283.

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Im Jahr 1874 entstand ein Kriegerverein, von dem allerdings keine Mitglieder­ listen überliefert sind. Die 1896 gegründete freiwillige Feuerwehr stellte den ersten Zusammenschluss von Einwohnern des Ortes dar, an der sich nachgewiesener­ maßen Angehörige aller drei Glaubensgruppen beteiligten. Im Jahr 1902 gehörten ihr neben dem Kaufmann Ferdinand Löb auch Josef und Eduard Wirth sowie der Viehhändler Wilhelm Strauß an. Die Mitglieder der Feuerwehr trafen sich neben den regelmäßigen Übungen auch an Vereinsabenden im Wirtshaus sowie zu Festen, weswegen ihr ein geselliger Charakter nicht abgesprochen werden kann. Für 1906 sind neben dem bereits erwähnten Kriegerverein zudem ein Schützen- und ein Gesangsverein nachzuweisen, die nicht konfessionell ausgerichtet waren. Ob sich jüdische Einwohner an diesen beteiligten, ist zwar nicht überliefert, aber Informationen über die Lage in anderen Hunsrückorten legen dies zumindest nahe. Von Kastellaun, wo die ersten Vereine Ende der Siebzigerjahre begründet wurden, ist bekannt, dass jüdische Mitglieder ohne Probleme aufgenommen wurden, so z. B. der Viehhändler Isaak Forst in den Schützenverein mit 24 zu vier Stimmen. Dem sich im Anschluss an diese Assoziation versammelnden Kriegerverein gehörten auch jüdische Einwohner an, die im Deutsch-Französischen Krieg gekämpft hatten.369 In den dem Nationalismus verpflichteten Kriegervereinen, die im Rheinland im Gegensatz zu anderen Regionen politisch nicht eindeutig ausgerichtet (d. h. nicht unbedingt konservativ) waren und welche die größte Massenorganisation im Kaiser­reich bildeten, wurden interessanterweise kaum antijüdische Töne laut. Vielmehr scheinen die christlich-jüdischen Beziehungen in diesen ausgesprochen gut gewesen zu sein.370 Dies zeigte sich u. a. 1910 in Kreuznach, wo der Kriegerverein anlässlich eines Jubiläums zusammen mit dem Vorsitzenden des linksrheinischen Kriegerverbandes die christlichen und die jüdischen Gefallenen ehrte. Die Erinnerung an die Waffenbrüderschaft mit christlichen Soldaten bot gleichermaßen 369 Vgl. Jung, S. 31 – 34, 57 – 63. Vgl. Begräbnisregister des israelitischen Begräbnisplatzes zu Gemünden, in: AvgKb, Abt. 4 Bauverwaltung. Vgl. Boch, S. 44. Vgl. Pies, S. 43 f. 370 Vgl. Rohkrämer, Thomas: Der Militarismus der „kleinen Leute“. Die Kriegervereine im Deutschen Kaiserreich 1871 – 1914 (Beiträge zu Militärgeschichte, Bd. 29), München 1990, S. 28 – 32, 40 f. Vgl. Henning, Hansjoachim: Das westdeutsche Bürgertum in der Epoche der Hochindustrialisierung 1860 – 1914. Soziales Verhalten und soziale Strukturen (Historische Forschungen im Auftrag der Historischen Kommission der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Bd. 6), Wiesbaden 1972, 2 Bde., hier Bd. 1, S. 205. Vgl. für Baden Kaplan, Konsolidierung, S. 331 f. und für Bayern Mehler, S. 214 f. Ehrenfreunds These, dass die Nationalisierung nach 1871 zu einer Isolierung der jüdischen Minderheit führte, ist vor dem geschilderten Hintergrund zu wider­sprechen. Vgl. Ehrenfreund, Jacques: Citizenship and acculturation. Some Reflections on German Jews during the Second Empire and French Jews during the Third Republic, in: Brenner, emancipation, S. 163.

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den in der Stadt wie auf dem Land lebenden Juden die Möglichkeit, Anerkennung von ihren Mitbürgern zu erhalten.371 In Illingen entstanden ein wenig früher als in Gemünden Vereine, die An­­ hänger unter den Vertretern der verschiedenen Glaubensrichtungen fanden. Begünstigt wurde dies sowohl durch die Nähe zu den im Zuge der Industria­ lisierung wachsenden Städten, deren Geselligkeitsformen sich die Land­bewohner zum Vorbild nahmen, als auch durch das starke Bevölkerungswachstum in dem Ort.372 Zu den ersten überkonfessionellen Assoziationen zählten in Illingen pa­tri­ otisch ausgerichtete Gesellschaften wie der 1864 gegründete Verein zur Pflege verwundeter und erkrankter Krieger und eine Zweigstelle der Kaiser-­WilhelmStiftung, der u. a. Moses Schwarz angehörte.373 Die beiden Organisationen erinnerten nicht nur an die Verdienste der ansässigen Veteranen der Kriege von 1866 bzw. 1870/71, sondern ließen ihnen im Falle von Erwerbsunfähigkeit Hilfe zukommen bzw. setzten sich für die Gewährung einer solchen vonseiten des Staats ein. Auch einige jüdische Kriegsteilnehmer profitierten davon, z. B. der Händler Emmanuel Levy, dem aufgrund seiner Teilnahme am Deutsch-Französischen Krieg eine Beihilfe zum Lebensunterhalt zugestanden wurde. Die beiden Illinger Vereine konzentrierten sich zwar in erster Linie auf das Wohlergehen von Veteranen, aber sie boten auch ein Umfeld, in dem christliche und jüdische Einwohner die gemeinsame Erfahrung des Krieges bzw. die Erinnerung an die Rekrutenzeit pflegten.374 Dass die militärischen Auseinandersetzungen von 1870/71 in dem Dorf genauso wie in anderen Teilen der Saarregion und der deutschen Gesellschaft insgesamt ein gewisses Zusammenrücken der christlichen und der jüdischen Einwohner unter nationalen Vorzeichen hervorriefen, zeigte sich nicht zuletzt daran, dass die jüdische Gemeinschaft direkt nach dem Kriegsausbruch ihren Gemeindesaal für die Unterbringung von Verwundeten zur Verfügung stellte.375 Hinzu kam, dass auch jüdische Soldaten an Kriegen teilnahmen und 371 Vgl. Im Deutschen Reich, Nr. 1, 1910, S. 31 f. Vgl. Baumann, Nachbarschaften, S. 110. 372 Vgl. Linsmayer, Ludwig: Geselligkeit und Selbstbestimmung. Die Vereinskultur, in: Richard von Dülmen (Hg.): Industriekultur an der Saar. Leben und Arbeit in einer Industrie­ region 1840 – 1914, München 1989, S. 232 – 235. Vor allem für zuziehende Personen waren Vereine wichtig, da sie eine Möglichkeit der Integration in den Ort boten. 373 Vgl. Dep. Illingen Nr. 1731, S. 3 f., 17, 65 f., 115 – 152, 202 – 204. Vgl. Dep. Illingen Nr. 1732, S.  14 – 22, 54 – 67. 374 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1729, S. 59 – 62, 103. Nauhauser, S. 197, 234. Vgl. Westphal, Alfred: Handbuch für die Kriegervereine des Preußischen Landes-Kriegerverbandes, 3. neubearb. und erw. Aufl., Berlin 1909, S. 137. Vgl. Baumann, Nachbarschaften, S. 110. 375 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1716, S. 409. Vgl. Marx, Geschichte, S. 93 f. Vgl. Lindner, Erik: Patriotismus deutscher Juden von der napoleonischen Ära bis zum Kaiserreich.

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auf den Schlachtfeldern starben, z. B. im Rahmen des deutsch-deutschen Konfliktes von 1866 Jacob David und im Krieg gegen Frankreich Adolph Blum, der 1881 für tot erklärt wurde.376 Ob sich jüdische Einwohner in dem 1894 eingerichteten Turnverein betätigten, ist zwar unklar, allerdings zählte der ebenfalls zu dieser Zeit gegründete Turnerbund Merchweiler einige jüdische Mitglieder, die wiederum der jüdischen Gemeinde von Illingen angehörten. Auf das Engagement jüdischer Illinger in Turnvereinen kurz nach der Jahrhundertwende weist der Gründungsaufruf für den Bund „Jungdeutschland“ hin, den auch mehrere Juden unterzeichneten.377 Wie in Gemünden beteiligten sich auch in Illingen jüdische Einwohner um die Jahrhundertwende an der Feuerwehr, so z. B. Moses Barth, der in der örtlichen Pflichtfeuerwehr war. Wie auch in anderen Orten war die Mitgliedschaft in dieser allerdings bis zum 50. Lebensjahr nicht freiwillig, und die mit ihr verbundenen Pflichten erfreuten sich häufig nicht allzu großer Beliebtheit unter ihren Mitgliedern. Als der erwähnte Barth dieses Alter erreichte, hörte er sofort auf, an den Übungen teilzunehmen. Anders gestaltete sich die Lage in der Freiwilligen Feuerwehr Illingens und denen der ­anderen Orte der Bürgermeisterei, denen zahlreiche jüdische Einwohner an­ gehörten.378 Seit der Mitte der Neunzigerjahre kam es in Illingen ähnlich wie in anderen Dörfern vergleichbarer Größe im Saargebiet zu einer wahren Welle von Vereins­ gründungen, an der sich auch jüdische Einwohner beteiligten, wenn sie auch nicht unter den Mitgliedern aller Vereine vertreten waren.379 Dem 1907 eingerichteten nationalistischen „Flottenclub“, dessen Sinn darin bestand, „untereinander fröhliche Zwischen korporativem Loyalismus und individueller deutsch-jüdischer Identität (Europäische Hochschulschriften, Bd. 726), Frankfurt a. M. 1997, S. 319 – 329. Zumindest ein Teil der jüdischen Bevölkerung wollte mithilfe der Teilnahme am Krieg den eigenen Patriotismus und die Zugehörigkeit zur deutschen Nation belegen. Vgl. Krüger, Christine G.: „Sind wir denn nicht Brüder?“ Deutsche Juden im nationalen Krieg 1870/71 (Krieg in der Geschichte, Bd. 31), Paderborn 2006, S. 42 – 92. 376 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1715, S. 233. Vgl. Nauhauser, S. 168 f., 239. Vgl. zur Teilnahme deutscher Juden an den Kriegen von 1864, 1866 und 1870/71 Lindner, Patriotismus, S.  307 – 340. 377 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 994, S. 415. Vgl. Dep. Illingen Nr. 1420, S. 200. Vgl. Marx, Geschichte, S. 152. Vgl. Turnverein 1894 (Hg.): Festschrift zum 90jährigen Vereins­jubiläum des Turnvereins 1894 Illingen, Illingen 1984. 378 In Merchweiler wurde 1911 der jüdische Händler Emmanuel Weiler zusammen mit einigen christlichen Mitgliedern für seine fünfjährige Amtszeit geehrt. Vgl. Dep. Illingen Nr. 934, S. 72 – 78. Vgl. Dep. Illingen Nr. 1038, S. 35, 79 – 86, 105 – 109, 238 – 285. Vgl. Dep. ­Illingen Nr. 1045, S. 93 – 96. Vgl. Nauhauser, S. 237. Vgl. Kaplan, Konsolidierung, S. 333. 379 Vgl. Steffens, S. 272 – 277.

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Stunden [zu] bereiten und die Bestrebungen des Flottenvereins [zu] unterstützen“,380 gehörten mit Moritz und Leopold Schwarz zwei jüdische Einwohner an. Der Letztere war zudem auch Mitglied im Verein „Gemüthlichkeit“, in dessen Rahmen ab 1908 Abendveranstaltungen mit Gesang und Vorträgen stattfanden. Zu den Gründungsmitgliedern des 1910 eingerichteten Gesangsvereins Laetitia zählte der jüdische Kaufmann Jakob Alexander.381 Dass sich das christlich-jüdische Beisammensein im Verein nicht immer harmonisch gestaltete, zeigen die Statuten des 1912 gegründeten Gemütlichkeitsvereins, dessen Zweck „kameradschaftliches Zusammenkommen und Unterhaltung im Vereinslokal“382 waren und dem der jüdische Fuhrmann Lazard August angehörte.383 Ausdrücklich wies ein Statut darauf hin, dass Mitglieder aller Konfessionen Zutritt hätten und „eine jede Beleidigung für solche mit Ausstoßen bestraft“384 werde. Die genannte Bestimmung war eventuell eine Reaktion auf die Vorkommnisse im Ort nach der Reichstagswahl von 1907, bei welcher der Zentrumskandidat zum Unmut der katholischen Bevölkerung einem liberalen Kandidaten unterlegen war. Es kam zu verschiedenen Aktionen der katholischen Bevölkerung gegenüber den jüdischen Einwohnern, von denen angenommen wurde, sie hätten liberal gestimmt.385 Auch im Vereinsleben hinterließ die Begebenheit deutliche Spuren: Die Karnevalsgesellschaften Illingens gaben anlässlich der nächsten Fastnacht antijüdisch gestimmte Gedichte zum Besten und verteilten zudem selbst komponierte Lieder gleicher Stoßrichtung. Der Karnevals­dienstag wurde zu einer Kundgebung gegen die jüdischen Einwohner genutzt: „Auf einem Wagen sammelten sich mehrere Personen mit die Israeliten verhöhnenden Masken, und, gefolgt von einer mehr als tausendköpfigen (!) Menge, zog man durch die Straßen; vor den Häusern der israelitischen Geschäftsinhaber machte man Halt und sang Spottlieder auf die Juden.“386 Im Vergleich zum preußischen Fall ist die Überlieferung betreffend die Vereine in den lothringischen Untersuchungsdörfern äußerst dünn.387 Allgemein ist betreffend die Musik- und Gesangsvereine in Frankreich zu bemerken, dass die Sechziger- bis Achtzigerjahre die wichtigste Phase für Neugründungen darstellten, sowohl in größeren

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LAS Dep. Illingen Nr. 1001, S. 99. Vgl. ebd., S. 102, 161 – 166, 252 – 257. Vgl. Nauhauser, S. 237, 248. LAS Dep. Illingen Nr. 1001, S. 270. Vgl. ebd., S. 272. Vgl. Nauhauser, S. 247. LAS Dep. Illingen Nr. 1001, S. 271. Vgl. Marx, Geschichte, S. 155. Vgl. Kapitel 5.4. Marx, Geschichte, S. 155 f. Vgl. auch LAS Dep. Illingen Nr. 860, S. 229 – 237. Sowohl für allgemeine als auch für jüdische Vereine sind aufgrund von archivarischen Kriegsverlusten nur wenige Hinweise für die Zeit vor 1918 vorhanden. Vgl. Avine-Goetz, S. 395.

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urbanen Zentren als auch in Kleinstädten.388 Musik- und Chorgesellschaften bildeten sich in Lothringen z. B. in Lunéville seit der Mitte der Sechzigerjahre. Dem wohl auf Kirchengesang spezialisierten Chor Sainte-Cécile gehörten zwar keine Juden als aktive Mitglieder an, aber unter den 84 Ehrenmitgliedern, die ihn finanziell unterstützten, fanden sich zehn Juden.389 In Boulay gründete ein Teil der Dorfbewohner spätestens unter der deutschen Herrschaft mit „la Lyre“ eine Musikgesellschaft und des Weiteren eine Blaskapelle. Besonders die Erstere war der deutschen Verwaltung aufgrund ihrer profranzösischen Ausrichtung ein Dorn im Auge, die sich u. a. durch das Spielen von Stücken wie „Sambre et Meuse“ kundtat. Die deutschen Beamten kritisierten, dass der für die Jugend gedachte Verein dem Ziel der Germanisierung zuwider war. Da keine Mitgliederlisten vorhanden sind, lässt sich die Beteiligung jüdischer Einwohner nicht belegen. Fest steht allerdings, dass die Haltung der jüdischen Bürger Boulays gegenüber der deutschen Herrschaft derjenigen entsprach, welche die Musikgesellschaft und viele alteingesessene katholische Einwohner immer wieder kundtaten und wegen welcher der Ort auch als „Franzosennest“ galt.390 Belege für die profranzö­ sische Haltung der jüdischen Einwohner finden sich sogar im reli­giösen Bereich: Auf einer etwa seit 1879 von der Gemeinde benutzten Mappah – einem „Torah Wimpel“ genannten Tuch, in welches die Thorarolle eingeschlagen wurde – waren drei französische Flaggen abgebildet.391 Ob sich die lothringischen Juden an den Feuerwehren ihrer Wohnorte betei­ ligten, lässt sich aufgrund der lückenhaften Überlieferung zumeist nicht bestimmen. Von Niedervisse im Kreis Boulay ist bekannt, dass mehrere jüdische Einwohner der nach dem Ersten Weltkrieg gegründeten Feuerwehr beitraten.392 Für den hier interessierenden Zeitraum ist immerhin zu konstatieren, dass in mehreren Orten die Feuerwehren bereit waren, jüdische Feierlichkeiten mitzugestalten. So nahm 1845 im Dorf Fénétrange die Feuerwehr an dem anlässlich der Einweihung des neuen Pentateuchs der jüdischen Gemeinde veranstalteten Festumzug teil.393 388 Vgl. Quéniart, Jean: La sociabilité musicale en France et en Allemagne (1750 – 1850), in: François, sociabilité, S. 143 f. Vgl. Dörner, S. 286. 389 An der „Société de musique“ beteiligten sich ebenfalls jüdische Einwohner, allerdings in nicht so starkem Maße. Vgl. Job, juifs à Lunéville, S. 265. 390 Vgl. Bajetti, histoire, S. 121 – 123. Vgl. Roth, Lorraine, S. 552. Vgl. Raphael Bechhöfer an das Kultusministerium in Berlin, 24.12.1874, in: ADM 7AL128. 391 Vgl. Decomps/Moinet, S. 238 – 240. Ähnlich gestaltete Mappoth wurden auch im Elsass verwandt. Vgl. Wahl, Jean-Jacques: Le judaïsme rural alsacien au XIXe siècle, in: Raphael, judaïsme, S. 80. 392 Vgl. Daltroff, juifs, S. 173 f. In Boulay entstand bereits 1816 eine kleine Feuerwehr. Vgl. Guir, S. 58. 393 Vgl. Archives Israélites, Jg. 6, 1845, S. 331 f. Vergleichbares geschah 1863 in Toul, wo die Feuerwehr anlässlich der Einweihung der neuen Synagogen musizierte. Vgl. ebd., Jg. 18,

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Es ist zu bemerken, dass die östlich gelegenen Départements zu den Ersten in Frankreich gehörten, in denen sich Musik-, Gesangs- und Gymnastikvereine etablierten, wobei sie sich wohl am Vorbild der deutschen Nachbarn orientierten. Bereits 1867 existierte in Lunéville ein Schützenverein, und im elsässischen Guebwiller gab es sogar schon 1861 einen Turnverein, während sich solche in der Pariser Region erst nach 1871 etablierten – und zwar häufig auf Initiative von Zuwanderern aus den annektierten Gebieten. 1876 gründete sich z. B. die „Société gymnastique alsacienne et lorraine“, die jedem Franzosen ohne Unterschied der Herkunft oder Konfession offen stand. Dieser Verein war nur einer von vielen, welche Emigranten aus den annektierten Regionen in Frankreich bildeten und denen häufig auch Juden angehörten. Beispielsweise stellten diese im Jahr 1889 etwa 13 % der 1163 Mitglieder zählenden „Société de prévoyance et de Secours mutuel des Alsaciens-Lorrains“. Die „Société de réintégration des Alsaciens-Lorrains“, welche die Einbürgerung von offiziell bereits deutsche Staatsbürger gewordenen Emigranten aus dem Reichsland erleichtern wollte, hatte zwischen 1884 und 1918 sogar drei Juden als Vorsitzende.394 Nicht nur die nach Frankreich emigrierten Juden, die größtenteils einen ­städtischen Hintergrund hatten, betätigten sich in patriotischen Vereinen, sondern auch ihre im Reichsland zurückgebliebenen Glaubensgenossen beteiligten sich an profranzösischen Gesellschaften. Sie stellten Ende der Achtzigerjahre z. B. 22 % der 237 Mitglieder der „Ligue des patriotes“. Gemessen an ihrem Bevölkerungs­anteil engagierten sie sich auch überproportional in Veteranenvereinen.395 Unter der ländlichen Bevölkerung, den Arbeitern und den Kleinunternehmern im Bereich von Handel und Industrie fanden die Kriegervereine bis 1890 einen so bedeutenden Zulauf in Lothringen, dass in dem genannten Jahr bereits 50 Vereine existierten. Bis 1913 wuchs ihre Zahl auf 190 an. Das erste Gesuch um Genehmigung eines solchen Vereins war 1874 aus Hayange gekommen, in dem auch eine jüdische Gemeinde 1863, S. 187. 394 Vgl. Job, juifs à Lunéville, S. 264. Vgl. Riederer, Günter: Culture festive politique, nationalisme et régionalisme dans une région frontalière objet de conflit. La création manquée de l’Alsacien-Lorrain, in: Jeanne Bennay/Jean-Marc Leveratto (Hg.): Culture et histoire des spectacles en Alsace et en Lorraine. De l’annexion à la décentralisation (1871 – 1946) (Convergences, Bd. 39), Bern 2005, S. 17. Vgl. Wahl, Alfred: Introduction, in: Desmars/ Wahl, S. 7. Vgl. Avine-Goetz, S. 138 – 140. Vgl. Chastenet, Jacques: La France de M. ­Fallières. Une époque pathétique, Paris 1949, S. 327. Vgl. Ehrenfreund, S. 157. Ein Exempel für kulturellen Austausch war der mit großem Applaus bedachte Auftritt preußischer Chöre auf der Weltausstellung von Metz im Jahr 1861. Vgl. Roth, François: Espace sarrois et Lorraine, relations et convergences 1815 – 1925, in: Wolfgang Brücher/Peter Robert Franke (Hg.): Probleme von Grenzregionen. Das Beispiel Saar-Lor-Lux-Raum, Saar­brücken 1987, S. 71. 395 Vgl. Caron, Germany, S. 96 – 103. Vgl. Caron, conséquences, S. 87.

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bestand. Erwähnenswert ist, dass die Kriegervereine aus den anderen Teilen des deutschen Staates den Annektierten eine gefühlsmäßige Distanz gegenüber dem Deutschen Reich zugestanden.396 Die Verwaltung des Reichslandes war 35 Jahre nach der Annexion so überzeugt von der Ergebenheit der Mehrheit der lothringischen Bevölkerung, dass sie 1906 nicht die Bildung von Sektionen der französischen Erinnerungsorganisation „Souvenir Français“ unterband, deren alteingesessene lothringische Anhänger dem­ selben Milieu wie die Mitglieder der Kriegervereine entstammten und teilweise auch mit Letzteren zusammenarbeiteten. Jüdische Einwohner spielten eine aktive Rolle in den Ortsgruppen des „Souvenir Français“. Eine von der deutschen Verwaltung unvorhergesehene Auswirkung auf das Vereinsleben in Lothringen hatte die 1908 stattfindende Einweihung des zu Ehren der 1871 gefallenen französischen Soldaten errichteten Denkmals von Noisseville. Die Feierlichkeiten, in deren Rahmen drei kirchliche Gedenkfeiern abgehalten wurden – eine im protestantischen Gotteshaus, eine in der katholischen Kathedrale sowie eine in der Synagoge – und an der sich mehrere Tausend Stadt- und Landbewohner beteiligten, belebte die profranzösischen Gefühle der alteingesessenen Bevölkerung so stark wieder, dass verschiedene Vereine mit einer solchen Ausrichtung gegründet wurden, u. a. Sportund Musikvereine.397 Im Hinblick auf die Erinnerung an den verlorenen Krieg in Frankreich ist zu bemerken, dass auch dort die Gedenkfeiern ggf. verschiedene Konfessionen einbezogen, und anders als in Paris wurden in der Provinz sogar im Umfeld der

396 Vgl. Metzler, Lionel: Les Kriegervereine en Lorraine annexée de 1874 à 1914, in: Desmars/ Wahl, S. 20 – 24. Vgl. Rohkrämer, S. 34 f., 189. Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 254 f. Die starke Verbreitung der Kriegervereine nach 1890 ist u. a. auf die steigende Zahl der zuziehenden Altdeutschen zurückzuführen. Hinzu kam, dass die Annektierten ihre Zugehörigkeit zum Reich allmählich zu akzeptieren begannen und eine neue Generation heranwuchs, die nach der Absolvierung ihres Wehrdienstes im deutschen Heer teilweise diesen Assoziationen beitrat. Vgl. Roth, Lorraine, S. 555 f. Vgl. von Aretin, Felicitas: Erziehung zum Hurra­ patrioten? Überlegungen zur Schulpolitik des Oberschulrates im Reichsland Elsaß-Lothringen 1871 – 1914, in: Angelo Ara/Eberhard Kolb (Hg.): Grenzregionen im Zeitalter der Nationalismen. Elsaß-Lothringen/Trient-Triest 1870 – 1914, Berlin 1998, S. 102 – 110. Vgl. Hiery, Hermann: Wahlen und Wahlverhalten im Reichsland Elsass-Lothringen 1871 – 1914, in: Ara/Kolb, S. 83 f. Vgl. Kolb, Eberhard: Elsaß-Lothringen/Trient-Triest – umstrittene Grenzregionen 1870 – 1914. Einige Beobachtungen und Bemerkungen, in: Ara/ ders., S. 303. 397 Vgl. Roth, Lorraine, S. 544 – 549. Vgl. Maas, Annette: Kriegerdenkmäler einer Grenzregion – Die Schlachtfelder um Metz und Weißenburg/Wörth 1870/71 – 1918, in: Ara/ Kolb, S. 295 – 297. Vgl. Caron, conséquences, S. 87. Ob Mitglieder der Kriegervereine zum „Souvenir français” überwechselten, ist nicht bekannt.

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Dreyfus-Affäre bestehende Unterschiede zu solchen Anlässen zurückgestellt. Bei einer Gedenkfeier im lothringischen Mars-la-Tour kursierte 1899 zwar eine anti­ semitische Broschüre, aber sie fand wegen der Betonung der „unité nationale“ kaum ein Echo.398 Dies ist bemerkenswert, weil es nur ein Jahr zuvor u. a. in Lothringen zu Ausschreitungen gegen jüdische Einwohner gekommen war. In den dortigen Städten hatte sich in den Achtzigerjahren ein neuer Antisemitismus – als Teil eines extremen Nationalismus mit ethnischen und kulturellen Kriterien – etabliert, der die Juden als zugezogene Deutsche, als Fremdlinge diffamierte und in ihnen Mitschuldige an der Niederlage von 1871 sah. Dieser Geisteshaltung gelang es allerdings erst mit dem Beginn der Dreyfus-Affäre, in weiteren Bevölkerungskreisen Fuß zu fassen. Diejenigen, die überzeugt waren, dass der jüdische, aus dem Elsass stammende Offizier Alfred Dreyfus zu Recht für schuldig befunden worden war, Spionage für das Deutsche Reich betrieben zu haben, glaubten häufig, dass ihre jüdischen Mitbürger keine „wahren Franzosen“ seien.399 Die Ausschreitungen, zu denen es nach der Veröffentlichung von Zolas „J’accuse“ – einer Klage gegen das Militär – 1898 kam, konzentrierten sich in Lothringen wie auch in anderen R ­ egionen weitgehend auf urbane Zentren. Dass es im Rahmen der häufig in grenznahen Gebieten auftretenden Unruhen zu Bekundungen zugunsten der Armee kam, ist ein Beleg für deren nationalistisch-patriotischen Charakter, allerdings spielten auch andere Motive (z. B. ökonomische) eine Rolle.400 In den annektierten Gebieten sorgten die Vorkommnisse für Irritationen unter der alteingesessenen jüdischen Bevölkerung und auch dafür, dass diese sich zunehmend bereit zeigte, die deutsche Oberherrschaft zu akzeptieren.401 Im französisch gebliebenen Lothringen etablierten sich neben den Veteranenvereinen Schießgesellschaften, deren Ziel u. a. darin bestand, Reservisten Trainingsmöglichkeiten zu bieten. Es ist allerdings zu bemerken, dass diese Vereine, die 398 Vgl. Metzing, Andreas: Kriegsgedenken in Frankreich (1871 – 1914). Studien zur kollek­ tiven Erinnerung an den Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71, Koblenz 2002, S. 70, 135 – 143. 399 Vgl. Francfort, Didier: L’affaire Dreyfus en Lorraine. Un accent singulier dans l’antisémitisme de la Belle Époque, in: Decomps/Moinet, S. 90 – 93. Vgl. Decomps/Moinet, S. 214 – 216. Vgl. Hyman, Jews of modern France, S. 98. Wahrscheinlich aufgrund der eigenen Minderheitsposition waren die meisten evangelischen Franzosen Dreyfusarden, d. h., sie glaubten an die Unschuld des jüdischen Offiziers und standen auf der Seite des republikanischen Regimes. Vgl. Cabanel, S. 172 – 180. 400 Vgl. Hyman, Jews of modern France, S. 105. Vgl. Wilson, S. 542 – 559. Vgl. zum Stadt-Land-Gegensatz und zur Verbreitung Burns, Michael: Rural society and French Politics. Boulangism and the Dreyfus Affair, Princeton 1984 und Birnbaum, Pierre: Le moment antisémite. Un tour de la France en 1898, Paris 1998. 401 Vgl. Caron, Germany, S. 120 – 155. Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 140.

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explizit auf die Landesverteidigung ausgerichtet waren, weniger Anhänger fanden als die Kriegervereine im Reich, welche Gelegenheit boten, die eigene nationale Größe zu feiern, und bei denen Geselligkeit eine wichtige Rolle spielte. Dem bereits erwähnten Schützenverein von Lunéville gehörten auch jüdische Ein­wohner an, und sie stellten u. a. 1880 mit Justin Brisac dessen Präsidenten. Dasselbe galt für den Turnverein „La Lorraine“, dem 1885 der Arzt Adolphe Job vorstand, der zudem Vizepräsident der „Société pour la propagation de l’éducation gymnastique et militaire“ war.402 Aus dem annektierten Lothringen ist bekannt, dass in Grosbliederstroff nach der Jahrhundertwende ein Fußballverein gegründet wurde, dem auch der 1898 geborene Jude Gustave Joseph angehörte. Die genannte Sportart verbreitete sich zunächst von Süddeutschland aus in das Elsass und nach der Begründung der ersten Vereine in Metz 1903 bald in ganz Lothringen.403 Früher als die jüdische Bevölkerung der betrachteten preußischen und lothringischen Dörfer beteiligten sich die jüdischen Einwohner aus Ettelbrück an einem Verein, welcher sie mit den Katholiken des Ortes regelmäßig zusammenbrachte. Es handelte sich um die Philharmonische Gesellschaft, die auf Initiative des Vikars Viktor Müllendorf 1854 gegründet wurde. Auf dessen Betreiben hin erklärte sich der Gemeinderat bereit, den örtlichen Organisten den Musikunterricht an den Schulen – die auch die jüdischen Kinder des Ortes besuchten – erteilen zu lassen, wodurch Nachwuchs für die Gesellschaft gesichert werden sollte. Neben Instrumentalmusik gehörte zunächst auch Chorgesang zu den Aktivitäten des bis in die Neunzigerjahre hinein zwischen 20 und 30 aktive Mitglieder umfassenden Vereins. Wie bereits erwähnt, sah Pfarrer Rauen die Teilnahme der katholischen Bevölkerung insbesondere der Philharmonischen Gesellschaft an der Einweihung der Synagoge im Jahr 1870 mit Missfallen. In der Folge verwehrte er bei der Feier des Geburtstags des Großherzogs im Ort den Musikern den Zutritt zur Kirche, wofür der Großteil der Bevölkerung allerdings kein Verständnis zeigte. Ob die Krise, welche die Philharmonische Gesellschaft Anfang der Siebzigerjahre durchlief, mit dem Vorgehen des Pfarrers im Umfeld der Synagogeneinweihung zusammenhing oder nur auf Schwierigkeiten mit dem musikalischen Leiter zurückging, lässt sich aufgrund der Quellenlage nicht entscheiden.404 Einen Aufschwung erlebte die Philharmonie nach der ­Verpflichtung 402 Vgl. Job, juifs à Lunéville, S. 264 f. Vgl. Dörner, S. 290 – 294. 403 Vgl. Juda, S. 4. Vgl. Willigsecker, S. 35. Vgl. Pirot, Pierre: Pratiquants et dirigeants dans le football messin. Des origines à 1930, in: Desmars/Wahl, S. 87 – 91. 404 Vgl. Kapitel 5.2.2. Vgl. D’Wäschfra, 4.3.1871, S. 2. Fest steht, dass sich während der Amtszeit des besagten Pfarrers der „Ettelbrücker Liederkranz“ bildete, dessen Tätigkeitsgebiet sich auf die „Pflege und Beförderung des Kirchen- und guten Gesellschaftsgesangs“ erstreckte, also eine Alternative zur Musik der Philharmonie im Gottesdienst darstellte.

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von Philipp Manternach als Musik- und Gesangslehrer, der 1880 mit der Philharmonie von Fels an einem Musikfest in Ettelbrück teilgenommen und mit der Aufführung des „Pardon de Ploermel“ des jüdischen Komponisten Giacomo Meyerbeer so sehr beeindruckt hatte, dass man ihm eine Stelle im Ort anbot.405 Die Philharmonische Gesellschaft blieb bis zum Ende des 19. Jahrhunderts der einzige Verein, in dem sich die Beteiligung sowohl christlicher als auch jüdischer Einwohner eindeutig nachweisen lässt. Allerdings ist es nicht unwahrscheinlich, dass dem 1872 gebildeten Schützenverein, der „Société de tir“ bzw. „Société des Arquebusiers“ genannt wurde, zumindest Jules Godchaux angehörte, der zeitweise die Jagd des Bannes Ettelbrück pachtete und dessen Vater Samson bereits Mitglied eines derartigen Vereines war.406 Gesichert ist, dass dem im Jahr 1894 gebildeten Turnverein „Société de gymnastique et de Sauvetage“, der 1902 in „La Patrie“ umbenannt wurde, auch Juden angehörten. Spätestens im Jahr 1905 trat mit Arthur Wolff, der später sogar Präsident des Vereins wurde, der erste jüdische Einwohner ein.407 Auch die jüdische Bevölkerung anderer luxemburgischer Dörfer traf allem Anschein nach auf keine Hindernisse, wenn sie am nicht konfessionell ausgerichteten Vereinsleben teilnehmen wollte. Dass bis zur Jahrhundertwende vor allem auf dem Land viele Assoziationen katholisch geprägt waren, stellte allerdings ein Hindernis für die jüdischen Einwohner dar.408 Die Person von Jules Godchaux war ein Sonderfall unter den jüdischen Einwohnern Ettelbrücks, denn als Mitglied der jüdischen Industriellendynastie war er stets eng mit seinen Verwandten verbunden, die in einem städtischen Milieu lebten. Er selbst zog Ende der Achtziger in die Nähe eines solchen zurück, indem er in dem in der Nähe der Hauptstadt gelegenen Schleifmuhl seinen Wohnsitz bezog. 1910 war er u. a. Ehrenpräsident des Gesangsvereins „Orpheon“.409 Wie sein Onkel Guetschlik bereits vor ihm und gleich seinem Bruder Henri wurde er Mitglied einer Freimaurerloge. Sein in Ettelbrück geborener Sohn Maurice gehörte 1909

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Vgl. Inspection du directeur de l’Ecole de musique à Luxembourg Zinnen, du professeur de l’Athénée d’Arlon Engelhardt et du maître de chant et de musique à l’Athené de Luxembourg Decker, 19.8.1875, in: ANL H704. Vgl. Philharmonie Grand-ducale et municipale Ettelbruck, centenaire, S. 30. Vgl. Flies, S. 1523 f. Vgl. Flies, S. 1524 – 1526. Vgl. zu Meyerbeer Meyer, Deutsch werden, S. 255 – 257. Vgl. Flies, S. 1612, 1661. Vgl. Godchaux, activités sociales. Vgl. Dondelinger/Muller, Teil III, S. 28 – 36. Vgl. Flies, S. 1529. Vgl. auch Société de gymnastique “La patrie” Ettelbruck (Hg.): Livre d’or de la Société de gymnastique “La patrie” Ettelbruck, Diekirch 1994. Vgl. Cerf, Paul: Les juifs de Mondorf, in: Martin Gerges (Hg.): Mondorf, son passé, son présent, son avenir, Luxembourg 1997, S. 309 – 312. Vgl. Thilman, S. 70 – 74. Vgl. Schoentgen, S. 317. Vgl. Bürger- und Beamtenzeitung, 21.7.1910, S. 2.

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genauso wie er selbst der „Grand Loge du Luxembourg“ an.410 Anzumerken ist, dass die Luxemburger Freimaurer bereits in den Vierzigerjahren Offenheit gegenüber jüdischen Mitbürgern zeigten. 1844 bestanden zwei Logen in der Hauptstadt des Großherzogtums, nämlich die Bürgerloge und die preußische Militärloge, die beide eine Vereinigung anstrebten, welche aber angeblich nicht erfolgte, da die Erstere keinerlei Beschränkungen gegenüber Juden machte, während die Letztere Juden nicht einmal als Besucher zuließ.411 Außerhalb der Logen waren einzelne Mitglieder der Familie Godchaux auch im kulturellen Bereich aktiv, so z. B. François, der 1862 in der Hauptstadt Mitglied der Chorgesellschaft „L’Harmonie“ war.412 Die Mitglieder der Familie Godchaux zeichneten sich hinsichtlich des asso­zia­tiven Lebens nicht nur durch ihre Teilnahme an diesem aus, sondern auch dadurch, dass sie es selbst aktiv mitgestalteten. Die Gründung der „sapeurs pompiers“ in Schleifmuhl um die Jahrhundertmitte ging auf Jules’ Vater S­ amson Godchaux zurück. Diese Feuer­wehr bestand in erster Linie aus Arbeitern der Tuchfabriken, allerdings beteiligten sich auch einige Familienmitglieder, so S­ amsons Schwager Bernard Fix, der zunächst Kommandant des Feuerwehrkorps war.413 Auch in Ettelbrück wurde im Betrieb der Godchaux’ eine Fabrik-Feuerwehr gegründet, die in Notfällen die Feuerwehr des Ortes unterstützte, so beispielsweise 1885, als die Arbeiter unter der Leitung des Fabrik­direktors Kramer maßgeblich dazu beitrugen, dass ein Brand nicht auf andere Ortsteile übergriff. Dass sich jüdische Einwohner an ihr beteiligten, ist aufgrund der Berufsstruktur zwar möglich, aber eher unwahrscheinlich. Ob ein Teil der jüdischen Männer dem bereits 1883 gebildeten örtlichen Feuerwehrkorps angehörte, ist ebenfalls ungewiss, allerdings nahmen manche von ihnen an den Feuerwehrfesten teil, da die Philharmonische Gesellschaft diese musikalisch mitgestaltete, so z. B. 1886. Die Kontakte zwischen den verschiedenen Ettelbrücker Vereinen erwiesen sich auch an anderer Stelle als eng, so 410 Neben den Godchaux’ gab es noch weitere jüdische Freimaurer in Luxemburg, so z. B. den Fabrikanten Isaie Lippmann oder Rabbiner Hirsch, der auch Kontakte zu den M ­ etzer Logen unterhielt. Vgl. Fotos der Mitglieder der Luxemburger Loge, 1869, 1909, in: Godchaux, activités. Vgl. Rousseau, Paul: Requiem à la place du Te Deum. Une lecture franc-maçonnique des évènements de 1848, in: Forum, Nr. 189, 1998, S. 39. Vgl. Katz, Jacob: Juifs et Francs-maçons en Europe (1723 – 1939), Paris 1995, S. 208. Vgl. Roos, juifs, S. 160 f. 411 Vgl. AZJ, Nr. 11, 1844, S. 158. Nach Information von Paul Rousseau ist die in der AZJ gemachte Angabe, dass die beiden Logen sich wegen unterschiedlicher Einstellungen gegenüber der Beteiligung von Juden nicht zusammenschlossen, falsch, da die Ordnungen der beiden generell nicht miteinander vereinbar waren. Vgl. dazu auch den demnächst erscheinenden Sammelband Thorsten Fuchshuber (Hg.): Samuel Hirsch – Religions­philosoph, Emanzipationsverfechter und radikaler Reformer. Jüdische Identität im 19. Jahrhundert am Beispiel von Werk und Wirkung des ersten Oberrabbiners Luxemburgs. 412 Vgl. Godchaux, activités sociales. 413 Vgl. ebd.

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z. B. 1907, als die Philharmonische Gesellschaft, der Turnverein „La Patrie“ und die neue Vereinigung „La Bourgeoise“ zusammen ein Waldfest organisierten.414 5.3.3 Ein Randphänomen auf dem Land: wissenschaftliche Gesellschaften und Provinzakademien

Bevor im nächsten Abschnitt die spezifisch jüdischen Vereine ins Blickfeld rücken, soll noch auf Assoziationsformen kultureller Art eingegangen werden, die auch unter einem Teil der Landbewohner der betrachteten Regionen Anhänger fanden, nämlich wissenschaftliche Gesellschaften – in erster Linie Geschichtsvereine – und Provinz­ akademien. Zu den Letzteren zählte in Frankreich die „Académie de Metz“, welche die Diskussion um die Emanzipation der Juden mitangeregt hatte und die nach ihrer zwischenzeitlichen Auflösung während der Restauration wieder eingerichtet wurde.415 Unter ihren Mitgliedern fand sich seit 1845 auch der Bauer Joseph Fistié aus Grosbliederstroff, nachdem er zum Bürgermeister gewählt worden war, und der Grund­ besitzer Bach aus demselben Ort. Etwas später wurde auch Fistiés Kollege, der Boulayer Bürgermeister und Notar Le Secq de Crépy, aufgenommen. Der Letztere gehörte allerdings nicht zu denjenigen, die nur aufgrund ihres Amtes formell der Akademie angehörten, sondern er wirkte aktiv mit, z. B. gab er 1867 Auskunft über den ebenfalls aus Boulay stammenden Autoren Charles de Villers.416 Damit setzte sich Le Secq de Crépy von Fistié ab, dessen Mitgliedschaft wie die anderer „membres correspondents“ bzw. der Ehrenmitglieder (z. B. Präfekten, Bischöfe) eher eine formelle Angelegenheit war.417 Auch einige Juden fanden sich unter den Mitgliedern, u. a. der Metzer Pub­ lizist ­Gerson Levy seit 1819. Das einzige jüdische Mitglied, das in einer relativ kleinen lothringischen Stadt lebte, war Rabbiner Isaac Levy in Lunéville, der 1864 zur Gesellschaft hinzustieß. G ­ erson Levy zeichnete sich durch sein jahrzehntelanges Engagement aus und unterhielt auch Beziehungen zu wissenschaftlichen Gesellschaften in der benachbarten Rheinprovinz, z. B. referierte er 1852 über die Tätigkeit der „Trierer Gesellschaft für nützliche Forschungen“.418

414 Vgl. Flies, S. 1616, 1669 – 1671, 1699 f. Vgl. Luxemburger Wort, 1.8.1885, S. 2. 415 Vgl. Kapitel 2. Vgl. Chaline, Jean-Pierre: Sociétés savantes et académies de province en France dans la première moitié du XIXe siècle, in: François, sociabilité, S. 172. 416 Vgl. Bulletin de l’Académie impériale nationale de Metz. Lettres, sciences, arts et agriculture, Jg. 34, (2. Serie, Jg. 1), 1852/53, S. 357 – 359, Jg. 48, (2. Serie, Jg. 15), 1866/67, S. 176, 508. Vgl. Liste des électeurs censitaires de la commune de Grosbliederstroff, 8.1.1846, in: ADM 41M6. 417 Vgl. Chaline, S. 175. 418 Vgl. Bulletin de l’Académie impériale nationale de Metz. Lettres, sciences, arts et agriculture, Jg. 34, (2. Serie, Jg. 1), 1852/53, S. 351, 382, Jg. 48, (2. Serie, Jg. 15), 1866/67, 504, 512.

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Im Regierungsbezirk Trier stellte diese bereits 1801 gebildete Assoziation nicht die einzige Vereinigung dar, in der sich wissenschaftliche Laien betätigen konnten. In Saarbrücken sowie der kleinen Kreisstadt Ottweiler und Merzig gründeten interessierte Einwohner in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts historische Vereine, wobei sie nicht nur archäologische Überreste zu erhalten, Vorträge zu veranstalten und Publikationen zu veröffentlichen suchten, sondern über die Beachtung der Geschichte der Heimat hinaus auch Liebe zur Heimat wecken wollten. Wie den meisten derartigen Gesellschaften gehörten sowohl dem 1838 gebildeten „Verein für Erforschung und Sammlung von Alterthümern in den Kreisen St. Wendel und Ottweiler“ als auch dem „Verein für Geschichte und Altertum zu Ottweiler“ im Jahr 1850 neben Beamten wie dem Landrat auch die örtlichen Honoratioren – d. h. die Gemeinderäte – und mehrere Pfarrer und Lehrer an. In dem Ersteren war Ende der Dreißigerjahre der Steuereinnehmer von Illingen Mitglied, während der dortige katholische Lehrer Schlegel zur Jahrhundertmitte dem Letzteren angehörte. Jüdische Bewohner des Dorfes betätigten sich zwar nicht in den Vereinen, aber grundsätzlich waren sie nicht von ihnen ausgeschlossen, wie die Mitgliedschaften von Händler Judas Albert und von Jakob Coblenz aus Ottweiler belegen.419 Ähnlich wie in der Rheinprovinz erwachte unter einem Teil der Bewohner Lothringens um die Jahrhundertmitte das Interesse an der Vergangenheit der Heimat­region, weswegen 1848 im Département Meurthe die „Société d’Archeologie Lorraine“ und 1858 im östlichen Teil der Region die „Société d’archéologie d’histoire de la Moselle“ gegründet wurde. Die Mitgliederstrukturen glichen denjenigen der historischen Vereine in der Rheinprovinz, wenn auch anscheinend weniger Lehrer beitraten. Neben Beamten aus den Städten beteiligten sich von Anfang an auch Bewohner kleinerer Orte, z. B. der bereits erwähnte Boulayer Bürgermeister Le Secq de Crépy an der archäologischen Gesellschaft des Départements Moselle.420 Wenn auch die Zahl der Vereinsmitglieder anders als bei vielen französischen „Sociétés savantes“ nicht grundsätzlich beschränkt war, so musste doch jeder Interessierte erst um Aufnahme in die Gesellschaft bitten. Dass anscheinend keine Vorbehalte gegenüber Juden bestanden, zeigte sich bereits

419 Vgl. Voss, Jürgen: Akademien, gelehrte Gesellschaften und wissenschaftliche Vereine in Deutschland 1750 – 1850, in: François, sociabilité, S. 154 – 165. Vgl. Verein für Erforschung und Sammlung von Altherthümern in den Kreisen St. Wendel und Ottweiler: 1. Bericht des Vereins für Erforschung und Sammlung von Altherthümern in den Kreisen St. ­Wendel und Ottweiler, Zweibrücken 1838, S. 51 f. Vgl. Verein für Geschichte und Alterthum zu Ottweiler: Verhandlung vom 23.12.1850, Nr. 2, S. 35 – 37. 420 Wie bei seiner Mitgliedschaft in der Metzer Akademie beteiligte sich der Le Secq de Crépy aktiv an dieser Assoziation. Vgl. Bulletin de la Société d’archéologie et d’histoire de la Moselle, Jg. 1, 1858, S. 11, Jg. 2, 1859, S. 151 – 153. Vgl. Roze, Francine: La collection juive du Musée historique lorrain, in: Job, juifs de Nancy, S. 150.

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1860, als der Metzer Rabbiner ­Lambert zugelassen wurde.421 Noch deutlicher trat dieser Umstand bei der in Nancy beheimateten archäologischen Gesellschaft hervor, denn dort gehörte mit Lucien Wiener ein jüdischer Einwohner zu den Gründungsmitgliedern, der darüber hinaus 30 Jahre lang als stellvertretender Schriftführer agierte und ab 1869 im „Musée lorraine“ als Konservator tätig war.422 Ähnlich wie bei der Metzer Akademie waren die jüdischen Landbewohner Lothringens zunächst nicht an einer Mitwirkung in den historischen Gesellschaften interessiert, auch nicht die Oberschicht. Manchmal stellten die jüdischen Landbewohner aufgrund des von ihnen betriebenen Handels mit allen möglichen Gegenständen sogar ein Ärgernis für geschichtlich interessierte Zeitgenossen dar. Im Jahr 1838 wurde z. B. in einer lothringischen Zeitschrift das Verhalten eines Teils der Grosbliederstroffer Juden beklagt, die histo­rische Fundstücke anscheinend „nur“ als lohnendes Handelsgut betrachteten. Bei den Arbeiten an der örtlichen Kirche waren die Bau­arbeiter auf Münzen aus dem Mittelalter gestoßen, welche diese an einige Juden weiterverkauften, weswegen „jusqu’à ce jour les ont soustraite à la curiosité des numismates lorrains et messins“.423 Befürchtungen, die in dieselbe Richtung wiesen, äußerte 1860 in Luxemburg der Krei­sarchitekt von Diekirch, der Mitglied der „sociéte archéologie du Grand-Duché“ war. Für die Letztere sollte er sich wegen Ausgrabungen nach Usseldingen begeben, welches der Ettelbrücker Verwaltung unterstand. Der Architekt bedauerte, dies nicht sofort tun zu können, da Juden das Land durchstreiften und wie in anderen Fällen zuvor schon an den Fundstellen auftauchen könnten, d. h., interessante Stücke erwerben und somit seinem Zugriff entziehen könnten.424 Gelegentlich nahmen die historischen Gesellschaften allerdings die Dienste jüdischer Handelsleute in Anspruch und kauften diesen archäologische Überreste ab, z. B. erwarb der historische Verein von Saarbrücken für seine Sammlung Münzen aus der Römerzeit, die in Grosbliederstroff aufgefunden worden waren.425 Interesse an der Geschichte der eigenen Heimatregion machte sich unter den jüdischen Landbewohnern der betrachteten Regionen größtenteils erst nach der Jahrhundertwende bemerkbar, z. B. bei Jules Bing aus Boulay, der 1912 Mitglied der „Société d’histoire et d’archéologie de Lorraine“ wurde. Die 1888 gegründete

421 Vgl. Bulletin de la Société d’archéologie et d’histoire de la Moselle, Jg. 2, 1859, S. 38. Vgl. ebd., Jg. 3, 1860, S. 226, 232. Vgl. Chaline, S. 176. 422 Vgl. Mémoires de la Société d’archéologie lorraine, Jg. 8, 1858, S. 249. Vgl. ebd., 2. Serie, Jg. 10, S. I. Vgl. Roze, S. 150. 423 L’Austrasie. Revue du nord-est de la France, Jg. 3, 1838, S. 220. 424 Vgl. Architecte du district de Diekrich au secretaire-conservateur de la Société d’Archéologie du Grand-Duché, 6.5.1860, in: ANL SHL 16,195. 425 Vgl. Kienast, Dietmar (Bearb.): Die Fundmünzen der römischen Zeit in Deutschland, Abt. 3: Saarland, Mainz 1962, S. 169.

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Gesellschaft versuchte, im annektierten Lothringen eine Nach­folgeorganisation für die bereits erwähnte Assoziation zu bilden, deren Wirkungsbereich sich bis 1871 auf das Département Moselle erstreckt hatte. Der neue Verein verfolgte u. a. das Ziel, die aus anderen Teilen des Reichs nach Lothringen Eingewanderten mit den Einheimischen ohne Unterschied der Religion oder der poli­ tischen Ausrichtung zusammenzubringen, da diese in Lothringen stärker als im Elsass Abstand von­einander im gesellschaftlichen Leben hielten. In den ländlichen Gebieten traten vor allem Beamte, Geistliche und wohl­habende bzw. gebildete Personen bei: Neben „altdeutschen“ Beamten wie dem in B ­ oulay lebenden Schul­inspektor Montada waren nach der Jahrhundertwende auch vermehrt einheimische Lothringer wie der Boulayer Bürgermeister Weber oder der Grosblieder­stroffer Mühlen­besitzer Hoen unter den Mitgliedern zu finden.426 Keine Ausnahme war das Vorgehen des Gemeinderats von Boulay, der 1902 auf eine Anfrage des Vereins hin stellvertretend für die gesamte Zivilgemeinde beitrat.427 Altein­gesessene Lothringer beteiligten sich wohl auch deswegen immer stärker an der Gesellschaft, weil diese ihnen die Möglichkeit bot, sich mit ihrer Heimatregion zu befassen, ohne eindeutig eine positive Stellung gegenüber dem Deutschen Reich beziehen zu müssen.428 Wie im annektierten Lothringen zeigte sich im französisch gebliebenen Teil von Lothringen unter den im Vergleich ohnehin weniger zahlreichen Landjuden erst nach der Jahrhundertwende Interesse an gelehrten Vereinen. So trat 1911 z. B. Raymond Cahen aus Longlaville in die bereits erwähnte archäologische Gesellschaft ein.429 Deren langjähriger jüdischer Schatzmeister René Wiener aus Nancy engagierte sich seit dem genannten Jahr zudem im Komitee des eng mit der Gesellschaft verbundenen „Musée lorrain“.430

426 Zu den ersten jüdischen Mitgliedern des Vereins, die in einem kleinstädtischen Milieu beheimatet waren, gehörten im Jahr 1900 der Notar Levy und ein gleichnamiger jüdischer Kaufmann, die beide in Sarrebourg lebten. Vgl. Bulletin de la Société d’archéologie et d’histoire de la Lorraine, Jg. 1, 1889, S. 5 f., 332, Jg. 2, 1890, S. 429 f., Jg. 7, 1895, S. 233 – 235, Jg. 12, 1900, S. 483, Jg. 23/24, 1912, S. 529 – 548. Vgl. zu Montada dessen Bericht, 6.11.1880, in: ADM 9AL40. Vgl. auch Schlesier, Grenzen, S. 67 f. 427 Vgl. Conseil municipal de Boulay, 4.5.1902, in: ADM ED100 6D2. 428 Vgl. Rauschenberger, Katharina: Jüdische Tradition im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Zur Geschichte des jüdischen Museumswesens in Deutschland (Forschungen zur Geschichte der Juden, Abt. A, Abhandlungen, Bd. 16), Hannover 2002, S. 168. 429 Vgl. Bulletin mensuelle de la Société d’archéologie Lorraine et du musée historique l­orrain, Nr. 1, Jg. 12, 1912, S. 3. 430 Vgl. Roze, S. 150 – 153.

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5.3.4 Das jüdische Vereinswesen

Vereine boten für die jüdische und die christliche Dorfbevölkerung nicht nur die Möglichkeit, gemeinsame Interessen zu verfolgen bzw. sich in einem geselligen Rahmen zu treffen, sondern sie konnten auch Abstände zwischen verschiedenen Einwohnergruppen verdeutlichen bzw. der Abgrenzung dienen. Besonders offensichtlich ist dies im Bereich der religiösen und kirchlichen Vereine.431 Im Fall von Ettelbrück waren z. B. die Pfadfinder und der Jünglingsverein katholisch geprägt und den christlichen Jungen vorbehalten.432 Im gemischtkonfessionellen Gemünden machte sich nicht nur die Segregation zwischen Juden und Christen, sondern auch diejenige zwischen Protestanten und Katholiken bemerkbar. So entstanden zwischen 1875 und 1881 u. a. ein protestantischer Jungfrauen- und ein Jünglingsverein, während der in den Sechzigerjahren gegründete Borromäusverein ausschließlich die Katholiken des Ortes mit katholischer Literatur versorgte.433 In Lothringen bildeten sich wie im Elsass katholische Vereine größtenteils erst nach 1890, als der Klerus versuchte, seine Einflussmöglichkeiten auf die Jugend zu wahren und dabei die Bildung von konfessionellen Turn- und Musikvereinen als geeignetes Instrument für sich entdeckte. Bis zum Ersten Weltkrieg entstanden unter der Leitung der Pfarrer in fast allen Orten Lothringens Jünglings- und Jungfrauenvereine. In den Städten, in denen die Zahl der evangelischen Einwohner anstieg, entstanden den katholischen entsprechende Vereinigungen, u. a. in Sarreguemines.434 In Einzelfällen scheuten jüdische Landbewohner nicht davor zurück, sich in christlichen Vereinen zu engagieren, wie sich in der Bürgermeisterei Illingen zeigte. 1906 fanden sich unter den Mitgliedern bzw. Unterstützern des katholischen Krankenschwestern-Vereins von Merchweiler mehrere der dortigen Juden sowie der Illinger Kaufmann Moritz Lazar.435 Einige Merchweiler Juden erschienen darüber hinaus bereits 1889 als Spender in den Listen des örtlichen katholischen Kirchenvereins.436 Ebenso wie die christliche Bevölkerung der betrachteten Regionen verfügte auch die jüdische über ein eigenes Vereinswesen. Ähnlich dem allgemeinen Vereinswesen ist festzustellen, dass in Lothringen Gründungen später erfolgten als in der Rheinprovinz

431 Vgl. Baumann, Nachbarschaften, S. 106. Vgl. Wahl, introductions, S. 7. 432 Vgl. Dondelinger/Muller, Teil III, S. 28. 433 Vgl. Dietrich, Gemeinden, S. 101 – 105. Vgl. Dietrich, Konfession, S. 205 – 211. Vgl. zum Elsass Wahl, confession, Bd. 2, S. 863 – 873. 434 Vgl. Hirsch, associations, S. 10 f. Vgl. Benoit, J.: Die religiösen und kirchlichen Verhältnisse, in: Ruppel, S. 108 f. Vgl. Roth, Lorraine, S. 549 f. Vgl. Hiery, Reichstagswahlen, S. 339 f. 435 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1004, S. 80 – 92. Vgl. Nauhauser, S. 236 f. 436 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 994, S. 145 – 150.

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und zudem ihre Zahl geringer war: 280 kleineren jüdischen Lokalvereinen in der preußischen Region standen 1906 lediglich 22 in Lothringen gegenüber.437 Bei den um die Mitte des 19. Jahrhunderts existierenden jüdischen Vereinen handelte es sich in allen betrachteten Gemeinden um religiös geprägte Wohltätigkeitsgesellschaften. Im Kreis Simmern bestanden nach Angaben von 1860 in verschiedenen jüdischen Gemeinden schon seit vielen Jahren Gebetsvereine, welche regelmäßig Nachtwachen bei armen Kranken abhielten und versuchten, bei Todesfällen armer Gemeinde­ mitglieder angemessene Leichenbestattungen zu organisieren. Darüber hinaus hielten sie an Sonn- und Festtagen religiöse Vorträge sowie Gebete ab.438 Der Aufgaben­­ beschreibung nach handelte es sich bei den Gebetsvereinen um Beerdigungsbruderschaften. Über eine solche Einrichtung, eine „Chewra Kaddischa“, verfügte so gut wie jede jüdische Gemeinde im deutschen und französischen Bereich. Primär hatten die Begräbnis­bruderschaften einen religiösen Charakter, allerdings trat ihr karitatives Wirken im Verlauf des 19. Jahrhunderts häufig in den Vordergrund. Ein Teil von ihnen nahm in dieser Epoche offiziellen Vereinscharakter an, z. B. in Grosbliederstroff und in Boulay, wo dies spätestens zur Jahrhundertmitte geschah. Bei Begräbnisbruderschaften mancher kleinerer Gemeinden war dies allerdings nie der Fall, beispielsweise im Hunsrück.439 In Illingen wurde offiziell erst 1905 ein Verein gegründet, der sich der Wohltätigkeit und der Krankenpflege verschrieb, aber auch die Aufgaben einer traditionellen Begräbnis­bruderschaft erfüllte: Vorsänger Marx richtete zusammen mit dem Vorstand 1905 einen „Verein für gutes Wirken“ ein, der das Ziel verfolgte, hilfsbedürftige Gemeindemitglieder zu unterstützen und sich an der Pflege ebenfalls hilfsbedürftiger kranker Juden zu beteiligen, wenn die Kräfte der Ange­hörigen nicht ausreichen sollten. Der religiöse Charakter der Einrichtung bestand darin, dass die Mitglieder versprachen, sich am Bett Sterbender zu versammeln, um sie zu begleiten und Gottesdienste in Trauerhäusern abzuhalten. Hinzu kam, dass der Vereinsleiter – der jeweilige Kantor – an jedem Sabbat Religionsvorträge halten sollte.440

437 Wenn auch die letztere Zahl eventuell aufgrund unvollständiger Angaben zu gering ausfiel, so ist doch davon auszugehen, dass ein erheblicher Unterschied bestand. Vgl. Bureau für Statistik der Juden: Die jüdischen Gemeinden und Vereine in Deutschland (Veröffent­ lichungen des Bureaus für Statistik der Juden, Heft 3), Berlin 1906, S. 60. 438 Vgl. LHAK Best. 441 Nr. 9740, S. 197. 439 Vgl. Statistique des communautés Israélites de la circonscription consistoriale de Metz, ca. 1854, in: AJMB MF509 reel 1 fol. 55 f. Vgl. LHAK Best. 441 Nr. 9740, S. 197. Vgl. Richarz, Einführung, Leben, Bd. 1, S. 57. Vgl. Dienemann, S. 83. Vgl. Hidiroglou, S. 28 f., 63,151. Vgl. Rohrbacher, Landgemeinde, S. 23. Vgl. Daltroff, juifs, S. 155. Vgl. Decomps, synagogue, S. 35 – 39. Vgl. Watschke, Kurt: Jüdische Wohltätigkeitsvereine und Stiftungen, in: Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz, Bd. 3, S. 285 – 289. 440 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1001, S. 55.

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Im Luxemburg gründete nach Angaben seiner Tochter erst Rabbiner Isaac Blumenstein, der 1871 seine Stelle im Großherzogtum antrat, eine Beerdigungsbruderschaft, „une pieuse association des hommes pour le soin des malades et les services suprêmes auprès des morts“.441 Allerdings weist der Posten „frais d’enterrement“ in den Budgets der jüdischen Gemeinschaft aus der ersten Jahrhunderthälfte darauf hin, dass sich die Juden des Großherzogtums auch schon vorher um die Grablegung armer Glaubensgenossen kümmerten. Dazu trugen auch die in Ettelbrück lebenden Juden über ihre Kultusbeiträge bei. Wenn es auch keine kon­kreten Aussagen hinsichtlich Ettelbrück gibt, so ist doch angesichts der Situation in vergleichbaren jüdischen Landgemeinden der betrachteten Regionen davon auszugehen, dass sich eine informelle Chewra bildete, deren Mitglieder das Kaddisch für Verstorbene sprachen.442 Der Wandel, den die jüdischen Vereine im 19. Jahrhundert durchliefen, beschränkte sich nicht auf das Zurückweichen religiöser Elemente zugunsten von karitativen. In den beiden betrachteten jüdischen Gemeinden Lothringens lässt sich eine zunehmende Differenzierung der Wohltätigkeitsvereine feststellen. In Boulay wurde z. B. im Jahr 1846 eine Armenkasse von Mitgliedern der jüdischen Gemeinde eingerichtet, sodass die Zahl der vorhandenen jüdischen Wohltätigkeitsgesellschaften anstieg.443 Auch in Grosbliederstroff kam es zu einer entsprechenden Entwicklung, denn dort gab es nach Angaben des Metzer Konsistoriums von 1854 „plusieurs sociétés de bienfaisance“.444 Im Fall von Boulay gibt es Anzeichen dafür, dass es sich bei einem der 1866 existierenden jüdischen Wohltätigkeitsvereine um eine Gesellschaft vom „type mutualiste“445 handelte. Im Gegensatz zu einem anderen Verein, dessen Einnahmen sich aus freiwilligen Gaben zusammensetzten, scheint sich jener aus regelmäßigen Mitgliedsbeiträgen finanziert zu haben, die bei Bedarf seinen Mitgliedern zustehen sollten. Dies stellte eine qualitative Fortentwicklung gegenüber den bisherigen Institutionen dar, denn es ging nicht mehr um Barmherzigkeit, sondern um eine Form der Selbsthilfe, die zuerst von Juden in deutschen und französischen Großstädten praktiziert wurde.446 Das beschriebene

441 Lehrmann, S. 71. 442 Vgl. Budget de la synagogue paroissale des israélites à Luxembourg pour l’exercice 1833, in: ANL F149. Vgl. besonders die Lage der Begräbnisbruderschaft in Niedervisse bei Daltroff, juifs, S. 155. 443 Vgl. Moses Bing an den Bürgermeister von Boulay, 6.9.1898, in: ADM ED 100,3P1. 444 Statistique des communautés Israélites de la circonscription consistoriale de Metz, ca. 1854, in: AJMB MF509 reel 1 fol. 56. 445 Hidiroglou, S. 63. 446 Vgl. Statistique des communautés Israélites de la circonscription consistoriale de Metz, 1866, in: AJMB MF509 reel 1 fol. 64. Vgl. Hidiroglou, S. 63, 153 – 156. Vgl. Lässig, S. 522 – 525.

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Konzept wurde in Boulay allerdings nicht nur von den jüdischen, sondern auch von den christlichen Einwohnern rezipiert, denn wie bereits erwähnt gründete Mitte der Fünfzigerjahre der Bürgermeister – evtl. orientiert an dem jüdischen Verein – eine „Société de secours mutuels“, die Handwerkern und Arbeitern bei Arbeitsunfähigkeit helfen sollte.447 Ob und ab wann es im Großherzogtum jüdische Vereine gab, die sich in erster Linie mit der Wohltätigkeit gegenüber Glaubensbrüdern befassten, ist aufgrund der dünnen Überlieferung unklar, allerdings waren im Budget der jüdischen Gemeinschaft schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stets Ausgaben für die Armen der Gemeinde bzw. durchreisende bedürftige Juden vorgesehen.448 Für die Annahme, dass es spätestens zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine jüdische Einrichtung gab, die sich speziell um bedürftige Juden kümmerte, spricht die länderübergreifende Gründung des „Zentralverbandes der jüdischen Wanderfürsorge Lothringen und Luxemburg“ im Jahr 1911 in Metz.449 In der Rheinprovinz differenzierte sich das jüdische Vereinswesen ähnlich wie in Lothringen, wobei zu betonen ist, dass auch hier nur relativ große jüdische Landgemeinden von diesem Phänomen betroffen waren. Während in Gemünden das jüdische Vereinswesen mit drei verschiedenen Assoziationen übersichtlich blieb, gestaltete es sich in Illingen mit zeitweise neun jüdischen Vereinen gerade­ ­zu au­­s­ufernd. Neben der unterschiedlichen Mitgliederzahl der beiden jüdischen ­Gemeinden spielte auch die allgemeine Entwicklung des Vereinswesens in den Orten eine wesentliche Rolle: Im Vergleich zu Gemünden war die Zahl der Assoziationen in Illingen wesentlich höher. Als Antwort auf Antisemitismus ist das differenzierte jüdische Vereinswesen des letzteren Ortes nicht zu betrachten, zumal sich jüdische Einwohner auch an mehreren nichtjüdischen Zusammenschlüssen beteiligten.450 Der Zusammenhang zwischen der Entwicklung des allgemeinen und des jüdischen Assoziationswesens zeigte sich auch bei den Gesellschaften, die dem weiblichen Geschlecht offen standen. Sowohl die jüdischen als auch die christ­lichen Frauen konnten sich bis ins 20. Jahrhundert hinein fast nur in konfessionell bzw. sozial-­karitativ ausgerichteten Vereinen betätigen, wobei zu erwähnen

Vgl. allgemein Dann, S. 45. 447 Vgl. Guir, S. 91. Vgl. Bajetti, Histoire, S. 62. 448 Vgl. Budget de la synagogue paroissale des israélites à Luxembourg pour l’exercice 1833, in: ANL F149. Vgl. Compte des recettes et des dépenses de la Communauté Israèlite pour l’exercice 1835, in: ANL E55. 449 Vgl. Dienemann, S. 85. 450 Vgl. Deutsch-israelitischer Gemeindebund: Handbuch der jüdischen Wohlfahrtspflege. Statistisches Jahrbuch, Berlin 1911, S. 102, 111 f. Vgl. Nonn, S. 68.

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ist, dass die Ersteren sich teilweise auch in „christlichen“ Vereinen engagierten.451 In Illingen gründete sich 1905 parallel zum ausschließlich Männern offen stehenden „Verein für gutes Wirken“ ein jüdischer Frauenverein, dessen Angehörige es sich zur Aufgabe machten, Arme und Hilfsbedürftige über die Verteilung von Naturalien zu unterstützen, wobei in erster Linie ortseingesessene Mitglieder der jüdischen Gemeinde berücksichtigt werden sollten. Allerdings behielt es sich der Verein vor, Zuwen­dungen an „Anstalten und Vereine ohne Unterschied des Bekenntnisses“ zu verteilen, sofern diese selbst „wohltätigen und gemeinnützigen Zwecken ohne Unterschied des Bekenntnisses dienen“.452 Ähnlich wie in Illingen wurde in Luxemburg Anfang der Siebzigerjahre parallel zu der den Männern vorbehaltenen „Chewra Kaddischa“ ein Frauenverein gegründet. In Ettelbrück selbst vermachte der „Frauenverein von Ettelbrück“ der jüdischen Synagoge einen selbst gewirkten Vorhang zur Verzierung der Synagoge. Ob es sich um einen nur aus jüdischen Frauen bestehenden Verein handelte oder einen gemischt-konfessionellen ist unklar. Das aufgestickte Motiv bestand u. a. aus Löwen – Symbol für Juda – und einer Thorakrone. Diese traditionelle Darstellung fand sich auch auf einem Vorhang, den die Beerdigungsbruderschaft von Grosbliederstroff 1866 ihrer Gemeinde schenkte. Der in dem lothringischen Grenzort zudem existierende jüdische Frauen­verein vermachte 1908 der renovierten Synagoge neue Vorhänge, während die beiden jüdischen Männervereine des Ortes elektrische Lüster erworben hatten, die in früherer Zeit einem Kloster gehört hatten. In Gemünden bestand im Jahr 1911 ebenfalls ein jüdischer Frauenverein, allerdings ist über dessen Zweck nichts Genaueres bekannt. Ein Unterschied zu den katholischen sowie protestantischen Frauenvereinen bestand darin, dass in den jüdischen Zusammenschlüssen normalerweise Frauen selbst die Leitung übernahmen, während dies bei den christlichen Frauenvereinen in der Regel Männer taten.453 Manchmal kam in der Neugründung jüdischer Vereine der Wunsch nach religiöser Veränderung zum Ausdruck, so z. B. bei dem 1846 in Gemünden auf Initiative des Vorstehers Löb errichteten Gebetsverein, der u. a. dem Gottesdienst

451 Vgl. Linsmayer, S. 232. Vgl. Fuchs, Antje: Wege in die Öffentlichkeit. Frauenvereine an der Saar im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Eva Labouvie (Hg.): Frauenleben – Frauen leben. Zur Geschichte und Gegenwart weiblicher Lebenswelten im Saarraum (17.-20. Jahrhundert) (Saarland Bibliothek, 6), St. Ingbert 1993, S. 132 – 153. 452 Statuten des israelitischen Frauenvereins zu Illingen 1905, in: LAS Dep. Illingen Nr. 1001, S. 23. 453 Vgl. Lehrmann, S. 71. Vgl. Dondelinger/Muller, Teil III, S. 28. Vgl. Decomps, synagogue, S. 35 – 39. Vgl. Deutsch-israelitischer Gemeindebund, S. 102, 111, 204. Vgl. Juda, S. 3. Vgl Fuchs, S.  146 – 153.

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eine geregelte Form geben wollte.454 Die Einführung von jüdischen Chören in manchen Landgemeinden am Ende des 19. Jahrhunderts verdeutlicht, dass ästhetische Neuerungen im Gottesdienst nicht auf die Städte beschränkt blieben. So gründete sich in Illingen 1899 ein Synagogenchor, der jeden Freitag und gelegentlich auch samstags Gesänge abhalten sollte. In Grosbliederstroff existierte um die Jahrhundertwende ebenfalls ein Chor, und vor 1911 gründete sich in Gemünden auch ein „Synagogen-Gesangsverein“, der die Gottesdienste verschönern sollte.455 Es ist wahrscheinlich, dass die jüdischen Landgemeinden in Lothringen bei der Bildung von Chören Vorbildern aus der Nachbarregion folgten.456 Dass in jüdischen Landgemeinden trotz der Ausdifferenzierung verschiedener Vereine der Grad an Informalität hoch blieb, weil jeder jeden kannte, zeigte sich während der deutschen Herrschaft in Boulay. 1898 beschwerte sich nämlich Moses Bing darüber, dass die (von der Regierung nicht bestätigten) Statuten der Armenkasse nicht eingehalten würden: Zu Unrecht sei Lion Cerf nach 10 Jahren immer noch deren Präsident, da nach den Statuten alle drei Jahre ein neuer zu wählen sei. Zudem habe Cerf seit Jahren keine Rechenschaft mehr abgelegt: „es ist die reinste Willkürherrschaft“.457 Der Bürgermeister hielt die Geschichte für eine interne Angelegenheit der jüdischen Gemeinde, weswegen er sich außerstande sah, Maßregeln zu treffen.458 Spätestens um die Jahrhundertwende begann der Niedergang des jüdischen Vereinswesens in Boulay, was wohl mit dem Rückgang der jüdischen Bevölkerung zusammenhing. In Grosbliederstroff, wo sich diese Entwicklung noch nicht so stark bemerkbar machte, bestanden 1911 immerhin vier jüdische Vereine.459 Das Interesse an jüdischen Organisationen, Vereinen oder Stiftungen, die sich im 19. Jahrhundert auf regionaler sowie nationaler Ebene bildeten, war in den verschiedenen Dörfern unterschiedlich ausgeprägt. Neben den Zielen der betreffenden Vereine, welche die Mitglieder der jüdischen Landgemeinden nicht immer teilten, spielten im Fall von Lothringen nach der Annexion Vorbehalte gegenüber dem Reich eine gewisse Rolle. Im Jahr 1825 bildete sich in Münster ein Verein, welcher eine „Verbesserung“ der Juden anstrebte und dieses Ziel über das Heranführen junger Juden an handwerkliche

454 Vgl. LHAK Best. 441 Nr. 9773. 455 Vgl. Nauhauser, S. 255 f. Vgl. Juda, S. 3. Deutsch-israelitischer Gemeindebund, S. 102. Vgl. auch Kapitel 4.4. 456 So trat z. B. 1885 der Merziger Synagogenchor bei der Einweihung der neuen Synagoge von Sierck auf, was in dem lothringischen Dorf „einen wahren Beifallsturm entfesselt[e]“. Vgl. dazu Der Israelit, 9.3.1885. 457 Moses Bing an den Bürgermeister von Boulay, 6.9.1898, in: ADM ED100 3P1. 458 Vgl. Bürgermeister von Boulay an Moses Bing, 19.9.1898, in: ADM ED100 3P1. 459 Vgl. Deutsch-israelitischer Gemeindebund, S. 203 f.

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Tätigkeiten sowie über die Ausbildung von Lehrern zu realisieren suchte. Er ging auf die Initiative des jüdischen Mediziners Alexander Haindorf zurück, der selbst einer Landjudenfamilie entstammte und zur „Emanzipations­fähigkeit“ seiner Glaubensgenossen beitragen wollte. Der Verein, der sich an anderen bereits bestehenden Assoziationen in deutschen Staaten orientierte, dehnte 1836 seinen Wirkungsbereich von Westfalen auf die Rheinprovinz aus, traf aber bei den meisten Landjuden allenfalls auf mäßiges Interesse.460 Um die Jahrhundertmitte war der jüdische Lehrer von Ottweiler damit beauftragt, Beiträge für den Verein in seinem Kreis einzusammeln, wobei er allerdings eher erfolglos war. Der jüdische Vorsteher von Illingen ließ verlauten, dass seine Gemeinde fast nur aus armen Mitgliedern bestünde und daher keine Beiträge leisten könne. Da allerdings dem Landrat von Ottweiler und dem Trierer Konsistorium die Unterstützung des Vereins ein An­­ liegen war, verpflichteten sie 1852 in Illingen den jüdischen Vorsteher, Subskriptionen für den Verein zu veranlassen. Aufgrund des Druckes erklärte sich die jüdische Gemeinde bereit, in den nächsten drei Jahren jeweils sechs Taler aus ihrer Kasse für den Verein zu erübrigen.461 Von den jüdischen Einwohnern Gemündens entrichtete lediglich der Lehrer Ferdinand Salomon 1858 im Rahmen der Rückvergütung für seine Ausbildung zehn Taler an den Verein.462 Als der in „Marks-Haindorf ’sche Stiftung“ umbenannte Verein 1866 die jüdischen Gemeinden der Rheinprovinz aufforderte, sich an der Wahl zum Kuratorium des Vereins zu beteiligen, lehnten die Gemündener Juden dieses Ansinnen ab und weigerten sich darüber hinaus, den Verein durch regelmäßige Beiträge zu unterstützen. Zwar versicherte die jüdische Gemeinde, alljährlich eine freiwillige Leistung zu erbringen, aber die Realität sah anders aus: Sie veranstaltete keine Sammlungen und nur selten spendeten einzelne Mitglieder Geldbeträge. Die geringe Spendenbereitschaft hing sowohl mit der angespannten ökonomischen Situation vieler jüdischer Gemeinden zusammen als auch mit der Lehrerausbildung durch den Verein, den die häufig traditionell gesinnten Landjuden nicht selten als ungenügend betrachteten. Bei christlichen Beamten und Geistlichen fand die Idee des Vereins, die Juden den Christen anzupassen, eine positive Aufnahme, weil diese Vorstellung häufig

460 Vgl. LHAK Best. 441 Nr. 9696, S. 175 f. Vgl. Berichte der Marks-Haindorf ’schen Stiftung für die Jahre 1871 bis 1890, eingeheftet in: LHAK Best. 441 Nr. 9696. Vgl. Freund, Susanne: Jüdische Bildungsgeschichte zwischen Emanzipation und Ausgrenzung. Das Beispiel der Marks-Haindorf-Stiftung in Münster (1825 – 1942) (Forschungen zur Regional­geschichte, Bd. 23), Münster 1995, Paderborn 1997, S. 13 – 42, 53 – 55. 461 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1686, 83 – 88. 462 Vgl. die Jahresberichte des Vereins für Westfalen und die Rheinprovinz zur Bildung von Elementarlehrern und Beförderung von Handwerk und Künsten unter den Juden, 1830 – 1850, in: LHAK Best. 403 Nr. 10204.

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mit ihren eigenen Auffassungen übereinstimmte. So traten im Kreis Simmern in den Fünfzigerjahren u. a. der evangelische Superintendent Arens und der Landrat von Arnim als Spender auf. Anders als im Kreis Ottweiler scheinen sich die dortigen preußischen Beamten allerdings nicht nachhaltig für eine Beteiligung der jüdischen Einwohner selbst eingesetzt zu haben.463 Dass der Haltung und dem Einsatz der Lokal- und Kreisbehörden eine große Bedeutung hinsichtlich der Sammlung von Geldern für die Stiftung zukam, belegen Schreiben der Stiftung aus den Siebzigerjahren an die Bürgermeister: Sie hoffte, dass diese „durch fortgesetztes Bemühen uns eine möglichst große Anzahl von freiwilligen Gaben und reichlichen Spenden verschaffen und das Curatorium dadurch in den Stand setzen, seine Wirksamkeit in entsprechendem Umfange ausdehnen zu können“. 464 Aufgrund des wiederholten Engagements des O ­ ttweiler Landrates willigte die jüdische Gemeinde von Illingen 1873 ein, alljährlich zehn Mark an die Stiftung abzuführen, solange die Mitglieder dadurch nicht allzu sehr belastet würden.465 In Lothringen bildete sich bereits 1823 eine Gesellschaft, mit deren Hilfe eine relativ kleine Zahl von zumeist städtischen Juden die „Produktivierung“ ihrer Glaubensgenossen anstrebte.466 Die „Société d’Encouragement pour les arts et métiers parmi les israélites de Metz“ wurde infolge des Einsatzes mehrerer jüdischer Privatleute gegründet. Die Mitglieder der Gesellschaft, unter denen sich mit dem Präfekten und dem Bürgermeister von Metz auch einzelne Christen befanden, lebten fast ausschließlich im städtischen Umfeld, z. B. gehörte ihr im Jahr 1844 nur ein Landjude an. In den erfolgreicheren Anfangszeiten des Vereins zwischen 1824 und 1829 sah dies nicht wesentlich anders aus: Lediglich einzelne Juden aus Hellimer, Bouzonville, Dieuze und Pont-à-Mousson unterstützten die Gesellschaft mit Beiträgen, während die meisten Mitglieder in Metz und Paris lebten. Da­­rüber hinaus gehörten dem Verein in den Zwanzigerjahren nicht nur mehrere Juden aus urbanen Zentren des Elsass – Strasbourg und Mulhouse – an, sondern auch mehrere jenseits der Grenzen. Neben drei Juden aus dem erst seit 1815 preußischen Saarlouis waren auch mehrere Glaubensgenossen aus Frankfurt und einzelne aus Stuttgart, Karlsruhe sowie Mannheim vertreten. Mit fünf Mitgliedern – u. a. aus den Familien Godchaux und Lippmann – war darüber hinaus die Oberschicht der 463 Vgl. LHAK Best. 441 Nr. 9696, S. 103, 175 f. Vgl. Berichte der Marks-Haindorf ’schen Stiftung für die Jahre 1871 bis 1890, eingeheftet in: LHAK Best. 441 Nr. 9696. Vgl. Freund, S.  56 – 58. 464 LAS Dep. Illingen Nr. 1550, S. 19. 465 1876 erhöhten die Illinger Juden ihren Beitrag auf 30 Mark. Vgl. ebd., S. 22 – 27. 466 Vgl. auch die Unterlagen der „Société de l’encouragement dans les arts et métiers parmi les israélites de Metz“, in: ADM M270. Inwiefern deutsche Vorbilder bei der Gründung eine Rolle spielten, ist unklar.

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jüdischen Gemeinschaft von Luxemburg relativ stark vertreten. Das Interesse der nichtfranzösischen Mitglieder an dem Verein schwand allerdings ähnlich wie das Interesse der französischen Unterstützer außerhalb Lothringens, sodass 1844 kein einziges Mitglied mehr aus dem Ausland stammte.467 Die erste Organisation, an der sich nicht nur einzelne interessierte Personen, sondern zahlreiche jüdische Gemeinden aus jeder der drei betrachteten Regionen betei­ ligten, war die 1860 in Paris gegründete „Alliance Israélite Universelle“. Ihre Mitglieder verfolgten das Ziel, bedrängten Glaubensgenossen in der gesamten Welt zu helfen, indem sie sich in verschiedenen Ländern für die Rechte der jüdischen Einwohner einsetzten und für deren „moralische Verbesserung“ Schulen gründeten. Vor allem mehrheitlich muslimische Länder und Osteuropa bildeten das Betätigungsfeld der Hilfsorganisation, deren Zivilisierungsgedanke eine Tendenz des französischen Imperia­ lismus widerspiegelte. Die liberalen Anhänger des Letzteren sahen sich nämlich in der Pflicht, die Werte der Französischen Revolution in der Welt zu verbreiten. Schnell wuchs die Alliance über den ursprünglichen nationalen Rahmen hinaus und bereits 1870 besaß sie in Deutschland mehr Mitglieder als in Frankreich.468 Interessanterweise fand sie auch in Landgemeinden Rückhall, welche der Idee der „Verbesserung“ in der ersten Jahrhunderthälfte noch skeptisch gegenübergestanden hatten – also solange diese sich auf sie selbst bezogen hatte. Sowohl unter den jüdischen Einwohnern von Boulay und Grosbliederstroff als auch unter denen Illingens und Ettelbrücks fand die Allianz in den ersten 25 Jahren ihres Bestehens Mitglieder. Zu den Ersten gehörte der spätere jüdische Vorsteher Joseph Cahen aus Ettelbrück, der spätestens 1862 beitrat.469 Auf besondere Art beteiligte sich der 1840 in Grosbliederstroff geborene Felix Bloch, der Sohn des relativ wohlhabenden Händlers Volf Bloch: Nach seiner Ausbildung am französischen Rabbinerseminar ging er für die Alliance 1867 ins Osmanische Reich. Zunächst war er in Adrianopel, um dort eine jüdische Schule einzurichten, und ab 1874 war er als Schuldirektor in Konstantinopel tätig und später auch als Inspektor.470 467 Vgl. die Schriftwechsel der Gesellschaft mit der französischen Verwaltung, 1823 – 1852, in: ADM M270. Vgl. Société d’Encouragement pour les arts et métiers parmi les israélites de Metz, fondée en 1823 et autorisée par ordonnance Royale, en 1828, reconstitué en 1839, nouveaux statuts approuvés en 1840, Metz 1844, S. 7 – 11. Vgl. Meyer, présentation, S. 21. Vgl. Albert, modernization, S. 136 – 140. Vgl. Goedert, S. 353 f. 468 Vgl. Leff, Lisa Moses: Sacred bounds of solidarity. The Rise of Jewish Internationalism in Nineteenth-century France, Stanford 2006, S. 154 – 164. Vgl. Hyman, Jews of modern France, S.  83 – 90. 469 Vgl. Central-comité der allgemeinen israelitischen Allianz: Die allgemeine israelitische Allianz. Bericht des Central-comités über die ersten Fünfundzwanzig Jahre 1860 – 1885, Berlin 1885, S. 63 – 66. Vgl. Bulletin de l’Alliance israélite universelle, mai 1862, S. 142. 470 Vgl. AAIU France IV B 110. Vgl. AAIU Turquie VI E 103, XLII E 502.1, I C 6.2 h, I C 6.4i, XLIII E 502.2 – 5. Vgl. Willigsecker, S. 16. Vgl. Liste des électeurs censitaires de la

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Ihre Sympathie für die Anliegen der Alliance bewiesen die jüdischen Landbewohner nicht zuletzt über ihre Spendenbereitschaft. Als die Organisation 1912 Gelder für die Opfer antijüdischer Exzesse im marokkanischen Fez sammelte, kamen u. a. aus Grosbliederstroff Beträge in Höhe von 188 Francs sowie 75 Francs aus Ettelbrück. In dem genannten Jahr trafen nur aus einigen großen deutschen ­Gemeinden Spenden ein, wenn man von denjenigen in Elsass-Lothringen und derjenigen von Merzig absieht. Der wesentliche Grund dafür war, dass der „Hilfsverein der deutschen Juden“ im Reich die Sammlung von Spenden übernommen hatte und den Betrag – über 10 % der gesamten Summe – gebündelt an die Alliance weiterleitete. Dass der Hilfsverein dazu bereit war, ist insofern bemerkenswert, als diese Organisation einen ausgesprochen patriotischen Charakter hatte und u. a. das Ziel verfolgte, dem kulturellen Einfluss Frankreichs, der über die Alliance ausgeübt wurde, entgegenzuwirken. In dem genannten Fall überwogen jedoch die philanthropischen Absichten der 1901 gegründeten Organisation, die notleidende Juden im Nahen Osten und Osteuropa unterstützen wollte.471 Infolge der Annexion hatten die in Lothringen lebenden Juden genauso wie diejenigen der Rheinprovinz die Möglichkeit, an den im Kaiserreich immer zahlreicher werdenden regionalen und nationalen jüdischen Organisationen teilzuhaben. Die Ersteren zeigten sich allerdings eher reserviert gegenüber deutschlandweiten Organisationen, was mit der zumeist bis zum Ende des Jahrhunderts vorherrschenden ablehnenden Haltung gegenüber dem Reich zusammenhing. Zu dieser Einstellung trugen auch die fortgesetzten Beziehungen zu den jüdischen Glaubensgenossen in Frankreich bei.472 Dem 1869 eingerichteten Deutsch-israelitischen Gemeindebund gehörten bis zum Ende der deutschen Herrschaft lediglich die bedeutenderen jüdischen Gemeinden des Reichslandes an, in die nicht selten Juden aus anderen Teilen des Deutschen Reichs eingewandert waren.473 Für den 1893 eingerichteten Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens galt grundsätzlich dasselbe, denn in Lothringen etablierte sich lediglich in Metz eine Ortsgruppe. Dass solche sich nicht in anderen Gemeinden bildeten, ist allerdings nicht ausschließlich auf eine kritische Haltung gegenüber dem Reich zurückzuführen, denn der Centralverein

commune de Grosbliederstroff, 8.1.1846, in: ADM 41M6. Vgl. Girard, S. 243. 471 Vgl. Ost und West, Nr. 7, 1912, S. 676. Vgl. Löwenstein, Gemeinde, S. 149 f. Vgl. B ­ ar-Chen, Eli: Two communities with a sense of Mission. The Alliance Israélite Universelle and the Hilfsverein der deutschen Juden, in: Brenner, emancipation, S. 111 – 121. 472 1881 richteten französische Juden in Paris die „Association Générale d’Alsace et de Moselle“ ein, die jüdischen Emigranten aus Elsass-Lothringen Beistand leisten sollte und auf diese Art zur Auswanderung nach Frankreich ermutigte . Vgl. Avine-Goetz, S. 138 f. Vgl. Caron, Germany, S.  97 – 116. 473 Vgl. Löwenstein, Gemeinde, S. 136 – 143. Vgl. Dienemann, S. 85.

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fand allgemein bis 1918 kaum in den betrachteten ländlichen ­Regionen Widerhall. Da sich in erster Linie das städtische Bildungsbürgertum in der Organisation engagierte, bildeten sich in der südlichen Rheinprovinz bis zu dem genannten Zeitpunkt lediglich in einigen Städten Ortsgruppen.474 Etwas anders gestaltete sich die Lage bei dem Verband der Vereine für jüdische Geschichte und Literatur, der hoffte, durch die Veranstaltung von volkstümlichen Vorträgen über jüdische Themen das jüdische Selbstwertgefühl steigern und den Antisemitismus bekämpfen zu können. Im Jahr 1898 schloss sich ein in Metz gegründeter Verein dem Gesamtverband an, wobei zu erwähnen ist, dass sich unter den 117 Mitgliedern sowohl alteingesessene als auch aus dem Reich hinzugezogene Juden befanden.475 Ein Grund für die bereitwillige Einbindung in den deutschen Gesamtverband waren wohl die zunehmend ambivalente Haltung der alteingesessenen jüdischen Einwohner gegenüber Frankreich und die steigende Bereitschaft, sich als Teil der deutschen jüdischen Gemeinschaft zu sehen, besonders im Anschluss an die Dreyfus-Affäre.476 1901 trat dem Verband vonseiten Lothringens eine Gruppe aus Sarreguemines bei, und in der Rheinprovinz kam eine aus Trier hinzu. Danach begann der Verband, zunehmend auch in ländlich geprägten Orten Widerhall zu finden: In Merzig konstituierte sich 1905 ein Verein für jüdische Geschichte und Literatur und desgleichen einer in dem direkt an der Grenze gelegenen Kleinblittersdorf. Im folgenden Jahr schlossen sich auch 30 jüdische Einwohner aus dem benachbarten Grosbliederstroff zu einem solchen zusammen. Die erste Begeisterung, die sich 1906 in der Veranstaltung von drei Vorträgen – über die Juden in Spanien, Maimonides sowie die Juden in der Dichtung des Mittelalters – ausdrückte, ebbte allerdings schon im Jahr darauf wieder ab, sodass die Zahl der Mitglieder auf 20 absank. Diese nutzten 1907 die Sonntage, um wöchentlich einen gemeinsamen Diskussionsabend zu veranstalten, und begannen zudem, eine kleine Bibliothek aufzubauen, wobei sich vor allem der jüdische Lehrer Emil Frank engagierte. Laut den Berichten des Gesamtverbandes beschränkte sich die Tätigkeit der Vereinsmitglieder in Grosbliederstroff in den folgenden Jahren auf die Pflege der Bibliothek.477 Zwar bildete sich in keinem der anderen Untersuchungsorte

474 Vgl. Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens: Ein Vierteljahrhundert Kampf um das Recht der deutschen Juden. Ein Rückblick auf die Geschichte des Central­ vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens in den Jahren 1893 – 1918, Berlin 1918, S. 73 – 81. Vgl. Richarz, Einführung, Leben, Bd. 2, S. 41 f. 475 Vgl. Jahrbuch des Verbandes der Vereine für jüdische Geschichte und Literatur, Jg. 6, 1898, S. 8. Vgl. Dienemann, S. 84 f. Vgl. Löwenstein, Gemeinde, S. 143. 476 Vgl. Caron, Germany, S.  128 – 155. Vgl. Rauschenberger, S.  166 – 168. Vgl. Wilson, 541 – 559. 477 Vgl. Jahrbuch des Verbandes der Vereine für jüdische Geschichte und Literatur, Jg. 7, 1899, S. 293, Jg. 9, 1901, S. 12, Jg. 13, 1905, S. 11 – 16, Jg. 14, 1906, S. 10, 30, Jg. 15, 1907,

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ein derartiger Verein, aber mit dem Vorsteher Levy aus Illingen bekundete schon Mitte der Sechzigerjahre ein jüdischer Einwohner sein über die Religionsausübung hinausgehendes Interesse an der jüdischen Kultur, indem er sich am Institut zur Förderung der israelitischen Literatur beteiligte. Dies ist bemerkenswert, da sich im Gebiet der südlichen Rheinprovinz neben ihm lediglich noch der Trierer Oberrabbiner Kahn dazu bereitfand.478 In Bezug auf die jüdische Gemeinschaft des Reichslandes ist noch auf die „Gesellschaft für die Geschichte der Israeliten in Elsaß-Lothringen“ hinzuweisen, die 1904 in Mulhouse ins Leben gerufen wurde und sich im regionalen Kontext mit jüdischer Geschichte beschäftigte. Ein wesentliches Ziel bestand darin, der christ­ lichen Bevölkerung zu zeigen, dass die Kultur der ansässigen Juden ein wesentlicher Bestandteil der elsässischen Geschichte sei und diese ebenso wie ihre christlichen Mitbewohner ihre Heimat liebten. Dies geschah u. a. über das „jüdische Museum“, eine Abteilung im elsässischen Museum, zu deren Einrichtung die christlichen Leiter des Hauses die jüdische Gesellschaft ermuntert hatten. Letztere fand zwar auch Anhänger in einigen kleinen Orten, allerdings kamen die meisten Mitglieder aus elsässischen Städten. Während einige Juden aus Frankreich der Gesellschaft beitraten, fand sie in Lothringen kaum Anhänger, vor allem wohl wegen ihrer weitgehenden thematischen Beschränkung auf den elsässischen Raum. Dieses ablehnende Verhalten entspricht demjenigen, welches die meisten Lothringer bis ins 20. Jahrhundert hinein gegenüber Organisationen pflegten, die auf reichsländischer Ebene eingerichtet wurden, da sie die zahlenmäßige Überlegenheit der Elsässer in solchen Institutionen fürchteten.479 Im französisch gebliebenen Lothringen wurde im Rahmen des „Musée historique lorraine“ anders als im Elsässer Museum zu Beginn des 20. Jahrhunderts zwar noch keine spezifische Abteilung zur jüdischen Geschichte der Region angestrebt, aber René Wiener, der Sohn des bereits erwähnten Lucien, vermachte die Kunstsammlung seines Vaters, die sich im Wesentlichen aus lothringischer nichtjüdischer Volkskunst zusammensetzte, dem Museum. René selbst begann auch Gegenstände zu erwerben, die einem jüdischen zumeist traditionell religiösen Kontext entstammten. Dass die Stücke nicht unbedingt in Lothringen hergestellt S. 31, Jg. 16, 1908, S. 10, 31, Jg. 18, 1910, S. 11. 478 Vgl. Institut zur Förderung der israelitischen Literatur, Jg. 12, 1866 – 67, S. 12, 29. Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1546, S. 106. 479 Vgl. Ginsburger, Moses: Jüdische Altertümer in Elsass-Lothringen, in: Ost und West, Nr. 12, 1912, S. 1097 – 1106. Vgl. Rauschenberger, S. 165 – 174. Vgl. Roth, François: Les relations entre l’Alsace et la Lorraine à l’époque de l’annexion, 1871 – 1918 et leur héritage, in: ders. (Hg.): Lorraine et Alsace, mille ans d’histoire, numéro spécial d’ Annales de l’est, 6e série, Jg. 56, 2006, S. 178 – 188.

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waren, auch wenn sie aus lothringischen Judengemeinden kamen, zeigt ein jüdisches Gebetbuch, das um 1830 in Grosbliederstroff benutzt wurde, aber 1814 in Wien gedruckt worden war. Neben hebräischen Gebeten enthält es eine Liste der beschnittenen Kinder des Dorfes. Vor diesem Hintergrund wird klar, dass das Vorhaben, ein regionsspezifisches Judentum darzustellen – wie es das elsässische Museum anstrebte –, aufgrund des Austausches mit anderen Regionen nicht einer gewissen Problematik entbehrte.480 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass in den ländlichen Gemeinden der betrachteten Regionen die Teilnahme an überörtlichen jüdischen Organisationen bzw. Dachverbänden eher zögerlich erfolgte. Die einzige Ausnahme stellte die auf internationaler Ebene agierende Alliance Israélite dar, die auch unter den jüdischen Landbewohnern auf breite Zustimmung traf. Dass das Bestehen von jüdischen Vereinen in den betrachteten Orten nicht als eine Reaktion auf Antisemitismus zu werten ist, wurde bereits erwähnt. Darüber hinaus kann die Beteiligung von Juden an allgemeinen Vereinen nicht als Ausdruck der Verneinung der eigenen jüdischen Identität betrachtet werden, da diese sich nicht selten auch am jüdischen Gemeindeleben beteiligten, wie es sich besonders gut für den preußischen Fall nachweisen lässt. So war in Gemünden Josef Wirth nicht nur zeitweise im Vorstand der jüdischen Gemeinde tätig, sondern auch Mitglied der freiwilligen Feuerwehr.481 In Illingen wurde Kaufmann Moritz Lazard nicht nur in die Repräsentantenversammlung der jüdischen Gemeinde gewählt, sondern er engagierte sich auch für den katholischen Krankenschwesternverein.482 Für diesen Ort lässt sich zudem nachweisen, dass manche Assoziationen sozial segmentiert waren, z. B. die kaufmännische Vereinigung „Fidelitas“, der vor allem Vertreter der Ober- und Mittelschicht angehörten.483 Es beteiligten sich allerdings nicht nur wohlhabende jüdische Einwohner am allgemeinen Vereinsleben, sondern auch die Ärmeren. So gehörten der Händler Lazar August und der Knecht Leopold Schwarz zeitweise nicht nur dem israelitischen Jünglingsverein an, sondern beide traten auch in örtliche Gemütlichkeitsvereine ein, deren Mitglieder zu einem großen Teil Bergleute waren, die ebenfalls nur über ein bescheidenes Einkommen verfügten. Das Letztere galt auch für den Gesangsverein Laetitia, an dem sich ebenfalls jüdische Einwohner 480 Nach Wieners Tod 1939 ging die etwa 350 Gegenstände umfassende Kollektion, die er aus Stücken aus Lothringen, Holland, Deutschland und anderen europäischen Ländern zusammen­gestellt hatte, in den Besitz des lothringischen Museums von Nancy über, wo es die Grundlage der heutigen „collection juive“ bildete. Vgl. Roze, S. 150 – 153. Vgl. Kapitel 5.3.4. 481 Vgl. Deutsch-israelitischer Gemeindebund, S. 102. Vgl. Jung, S. 34. 482 Vgl. Dep. Illingen Nr. 1535, S. 92. 483 Vgl. Steffens, S. 277. Dies gilt auch für die übrige Saarregion. Vgl. Linsmayer, S. 232.

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beteiligten.484 Zumindest auf dem Land lassen sich nur schwache Spuren des nach Olaf Blaschke in den Neunzigerjahren einsetzenden „Dissimilations­prozesses“ finden. In beiden preußischen Untersuchungsorten begannen jüdische und christliche Einwohner sogar erst in den Jahrzehnten um die Jahrhundertwende, sich gemeinsam in Vereinen zu engagieren.485 Die für die Rheinprovinz gemachte Feststellung, dass das Engagement von Juden in der nichtjüdischen Sphäre keinesfalls eine Aufgabe der eigenen Identität darstellte, gilt auch für den luxemburgischen Fall und die lothringischen Dörfer. In Ettelbrück beteiligten sich die jüdischen Einwohner am allgemeinen Asso­ ziationswesen, ohne dabei das eigene Kultusleben zu vernachlässigen.486 Auch in Lothringen scheuten die jüdischen Landbewohner den Kontakt mit christlichen Mitbürgern nicht, insbesondere informelle Kontakte im Wirtshaus. In der Region war die Mitwirkung von Juden am Vereinswesen allerdings im kleinstädtischen Bereich eher festzustellen als auf dem Land, was den dort eher zögerlich erfolgenden Vereinsbildungen und der Quellenlage geschuldet ist. Trotzdem sind auch für die lothringischen Dörfer Hinweise dafür zu finden, dass sich jüdische Einwohner sowohl im Rahmen ihrer Glaubensgemeinschaft als auch im nichtjüdischen Gemeinwesen betätigten, z. B. Lion Lazard aus Boulay im jüdischen Gemeindevorstand sowie in der örtlichen Finanzkommission, die u. a. die im Schlachthaus zu zahlenden Gebühren festlegte.487

5.4 Die Mitwirkung an der Gemeindepolitik In den betrachteten Regionen stellte die napoleonische Gemeindeordnung des Jahres 1800 den gemeinsamen Ausgangspunkt für die sich in der Folgezeit unterschiedlich entwickelnden Gemeindeverfassungen dar. Die Ernennung der Bürger­ meister, ihrer Stellvertreter und der Gemeinderäte oblag für Orte mit weniger

484 Vgl. Dep. Illingen Nr. 1001, S. 161 – 166, 252 – 255, 272. Vgl. Dep. Illingen Nr. 1535, S. 45 f. Vgl. Nauhauser, S. 237. Vgl. Kapitel 5.3.2. Grundsätzlich ist Baumann zuzustimmen, dass jüdische Landbewohner im gesellschaftlichen Bereich Nähe zur Arbeiterschaft s­ uchten. Im Illinger Fall galt dies für Juden, die sich in einer ähnlichen ökonomischen Lage befanden. Vgl. Baumann, Nachbarschaften, S. 113. 485 Vgl. Blaschke, Olaf: Bürgertum und Bürgerlichkeit im Spannungsfeld. Verschiedene Arten von Bürgertum, in: Gotzmann/Liedtke/van Rahden, S. 33 – 66. Vgl. für die Saargegend Marx, Geschichte, S. 152. 486 Vgl. dazu Kapitel 4.1, 4.4 und 5.3.2. 487 Vgl. Finanzkommission von Boulay, 31.8.1912, in: ADM ED 100 5I5. Vgl. Deutsch-­ israelitischer Gemeindebund, S. 203.

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als 5000 Einwohnern den Präfekten. Aufgrund der verschiedenen nationalen Gesetzgebungen nach 1815 variierten die Möglichkeiten der Dorf­bewohner, an der kommunalen Verwaltung mitzuwirken, und darüber hinaus gab es auch Unterschiede hinsichtlich der Behandlung der jüdischen Einwohner.488 In der Rheinprovinz ist bei der Betrachtung der Kommunalverwaltung die Zeit zwischen 1817 und 1845 von derjenigen zwischen 1845 und dem Ende des Unter­ suchungszeitraums zu unterscheiden: Bis zur Einführung der neuen Gemeinde­ ordnung im Jahr 1845 gab es für jede Bürgermeisterei einen Schöffenrat, in dem jedes angehörige Dorf vertreten war. Neben dem Bürgermeister und seinen zwei Bei­ ständen bestand der Rat aus Schöffen, die nach Zensuswahlrecht in jeder Gemeinde der Bürgermeisterei gewählt wurden. Die wichtigste Aufgabe des Schöffenrats war die Beratung des Etats, über den letztlich der Landrat entschied.489 In den Muni­ zipalräten von Illingen und Gemünden waren bis 1845 keine jüdischen Einwohner vertreten. In Gemünden war dies nicht zuletzt deswegen der Fall, weil kein Jude für ein Amt kandidierte. Von einem generellen Desinteresse der jüdischen Bevölkerung an der Kommunalpolitik bzw. einem größeren Maß als bei den christ­ lichen Einwohnern kann allerdings nicht die Rede sein. In Gemünden erschienen im Jahr 1823 zur Wahl des Schöffen und zweier Beistände mindestens 13 jüdische Wahlberechtigte, womit sie etwa 12 % der Abstimmenden stellten – eine Zahl, die nur leicht unter ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung lag. Ähnlich verhielt es sich bei einer Nachwahl 1820, als acht Juden unter den 68 Wahlteilnehmern waren. Im Fall von Gemünden ist auffällig, dass die Wahlbeteiligung erheblich schwankte: Während sie 1838 bei etwa 72 % lag, war sie bei Abstimmungen in den Jahren 1841 und 1844 so gering, dass die Wahlen wiederholt werden mussten. Von Diskri­minierung aufgrund der Religionszugehörigkeit ist aufgrund der geringen Zahl der zu Wählenden eher nicht auszugehen.490 Es muss betont werden, dass das Fehlen jüdischer Vertreter in den Schöffenräten bis 1845 typisch für die Lage auf 488 Vgl. Franz, Norbert/Knauff, Michael: Gemeindeverfassungen und gesellschaftliche Verhältnisse ausgewählter Landgemeinden zwischen Maas und Rhein im 19. Jahrhundert – eine Skizze, in: Franz/Grewe/Knauff, S. 21 – 31. 489 Vgl. Instruction für die von der Königlichen Regierung zu Coblenz provisorisch ernannten Bürgermeister von 1817, in: LHAK Best. 441 Nr. 10562. Zwar wurde diese Gemeinde­ ordnung nie im preußischen Amtsblatt verabschiedet, aber sie bildete bis 1845 den Leitfaden für die Verwaltungspraxis. Vgl. Franz/Knauff, S. 29 – 31. Vgl. Mayr, S. 74 – 76. Auf die nur einige Jahre gültige Gemeindeverfassung von 1850 wird nicht eingegangen. 490 Vgl. Protokoll der Wahlen in Gemünden 29.10.1820, 11.3.1823, 3.4.1841, in: LHAK Best. 655,12 Nr. 134. Vgl. Bürgermeister von Gemünden, 22.1.1843, in: LHAK Best. 655,12 Nr. 135. Vgl. LHAK Best. 655,12 Nr. 158, S. 19 f., 37. Vgl. Johann, S. 5. Im mehrheitlich protestantischen Gemünden wurde erst 1838 mit Christoph Kuhn als Beistand ein Katholik in die Gemeindeverwaltung gewählt. Vgl. Für Illingen Protokolle des Schöffenrats vom

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dem Land in der südlichen Rheinprovinz war. In den Städten gestaltete sich die Lage allerdings ähnlich. Beispielsweise war 1842 im Regierungsbezirk Trier „kein Jude zu einem Kommunal-Amte gewählt“.491 Im Koblenzer Bezirk gab es vor 1845 lediglich einen jüdischen Einwohner, der infolge allgemeiner Unterstützung in ein kommunales Entscheidungsgremium gewählt wurde, nämlich David Rothschild in Simmern.492 Kein einziger Jude wurde von der preußischen Verwaltung in der Rhein­provinz zum Bürgermeister berufen. Dies stellte einen Rückschritt im Vergleich zur französischen Zeit dar, denn in einzelnen Fällen bekleideten vor 1815 in den links­ rheinischen Territorien jüdische Einwohner dieses Amt.493 Offiziell bestand in der Rheinprovinz zwar das unter der französischen Herrschaft den Juden gewährte Recht, öffentliche Ämter zu bekleiden, nach 1815 fort, aber in der Praxis verwehrte die preußische Verwaltung den jüdischen Einwohnern dies. Beispielsweise entschied der Innenminister in einem Konflikt um die Zulassung jüdischer Einwohner zum Geschworenenamt, dass keine Juden mehr auf den entsprechenden Listen erscheinen sollten. Ebenso wie die Berliner Regierung begründete auch die ihr untergeordnete Koblenzer Regierung den faktischen Ausschluss von Kommunalämtern u. a. mit der angeblichen Stimmung unter der christlichen Bevölkerung.494 Seit der Einführung der neuen Gemeindeordnung von 1845 wählte jede Gemeinde einen eigenen Gemeinderat. Den Kreis der Wahlberechtigten bildeten die Meistbeerbten und diejenigen, denen das Gemeinderecht durch besondere Zustimmung erteilt wurde. Im Fall von Illingen und Gemünden galt jeder als Meistbeerbter, der ein Wohnhaus in der Gemeinde besaß, dort wohnte und einen Klassensteuerbeitrag von mindestens zwei Talern zahlte. Der Gemeinderat bestand aufgrund der Einwohnerzahl in beiden Orten zunächst aus zwölf, in Gemünden später nur noch aus sechs, dafür in Illingen zeitweise sogar aus 14 Mitgliedern. Zudem waren Vertreter zu bestimmen, die im Bedarfsfall einsprangen. Die Meistbeerbten wurden aufgrund des preußischen Wahlrechts in drei Klassen eingeteilt, und jede der gebildeten Abteilungen wählte aus ihren Reihen einen Teil der Ratsmitglieder und deren Vertreter für die Dauer von sechs Jahren. Der Gemeinderat war u. a. für

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10.10.1827, 12.5.1830, 26.10.1832, 11.10.1834, 10.11.1839, 19.10.1842 und 29.09.1844, in: Dep. Illingen Nr. 1539, S. 10, 21, 28, 34, 51, 64, 75. Jehle, Juden, Bd. 2, S. 523. Im Norden der Rheinprovinz wurden bis zum Jahr 1845 acht Juden in Stadträte gewählt, während ihnen auf dem Land dieser Erfolg nicht beschieden war. Vgl. Kastner, Provinzial­ landtag, Bd. 2, S. 969 f. Vgl. Wesner, S. 17, 183 f. Vgl. Pies, S. 167, 172. Vgl. Jehle, Juden, Bd. 2, S. 499. Vgl. Willmanns, S. 37. Vgl. Brammer, S. 130 – 139. Vgl. Toury, Geschichte, S. 279.

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die Ausgaben der Gemeinde zuständig. Falls es sich um finanzielle Unterstützung für Armenanstalten, Kirchen oder Schulen handelte, durfte der Rat allerdings nur als Gutachter fungieren und musste den Verordnungen höherer Behörden folgen. Der von der höheren Verwaltung eingesetzte Bürgermeister war befugt, gegen Beschlüsse des Gemeinderats vorzugehen, wenn sie den Gesetzen widersprachen oder seiner Meinung nach für das Gemeinwohl nachteilig waren, d. h., er besaß ein weitgehendes Vetorecht. Unter seiner Aufsicht stand der Ortsvorsteher, der aus und von den Gemeinderatsmitgliedern gewählt wurde und die Aufsicht über die Gemeindebeamten führte. Das Amt des Gemeindevorstehers durfte nicht von Juden bekleidet werden, da die Gemeindeordnung die Zugehörigkeit zur christ­ lichen Religion einforderte, weil die preußische Regierung Juden nicht zu Ämtern zulassen wollte, in denen sie Aufsicht über Christen führen könnten. Die bereits bestehende Praxis wurde gesetzlich legitimiert und dementsprechend fand sich unter den Bürgermeistern der Rheinprovinz nach 1845 genauso wenig wie in der vorangegangenen Zeit ein Angehöriger der jüdischen Minderheit.495 Der erste nach der Einführung der neuen Gemeindeordnung in Gemünden gewählte Rat setzte sich aus neun Protestanten, einem Katholiken und zwei Juden zusammen und bei den sechs Stellvertretern handelte es sich um fünf Protestanten und einen Juden.496 Im Verhältnis zu ihrem Bevölkerungsanteil waren die jüdischen und die protestantischen Einwohner in dem 1846 gewählten Gremium über­repräsentiert, während bei den Katholiken das Gegenteil der Fall war. Ein wichtiger Grund für diese Zusammensetzung lag in der Sozialstruktur des D ­ orfes, denn aufgrund ihres niedrigen Einkommens zählten nur wenige katholische Einwohner zu den Meistbeerbten, die wählen durften bzw. sich zur Wahl stellen konnten. 1862 ver­teilten sich die 61 Meistbeerbten folgendermaßen auf die verschiedenen Bekenntnisse: 41 Protestanten (66 %), sechs Katholiken (10 %) und 15 Juden (24 %). Die Letzteren waren aufgrund des allmählichen ökonomischen Aufstiegs überrepräsentiert, denn sie stellten nur etwa 14 % der Dorfbevölkerung. Hinzu kam, dass die jüdischen Wahlberechtigten teilweise motivierter waren als ihre christlichen Mitbürger, von ihrem Abstimmungsrecht Gebrauch zu machen: Bei einer 1862 in Gemünden stattfindenden Nachwahl eines Gemeinderatsmitglieds

495 Vgl. Gemeindeordnung für die Rheinprovinz von 1845, in: Engeli, Christian/Haus, Wolfgang (Bearb.): Quellen zum modernen Gemeindeverfassungsrecht in Deutschland (Schriften des deutschen Instituts für Urbanistik, Bd. 45), Stuttgart 1975, S. 290 – 302. Vgl. Willmanns, S.  38 – 42. 496 Vgl. Auszug aus dem Gemeindebuch von Gemünden, 30.6.1846 in Verbindung mit den pro 1849 ausgeschiedenen und neu gewählten Gemeindeverordneten, in: LHAK Best. 655,12 Nr. 135 und 146.

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für die 2. Klasse erschienen alle fünf jüdischen Wahlberechtigten, aber keiner der zwölf christlichen.497 In der zweiten Jahrhunderthälfte waren nicht nur in dem Hunsrückdorf, sondern auch in vielen Städten des Deutschen Reichs jüdische Bürger in kommu­nalen Entscheidungsgremien vertreten. Die nicht selten überproportionale jüdische Beteiligung erklärt sich teilweise aus der besonderen Bereitschaft, ehrenamtliche Aufgaben in den Kommunen zu übernehmen, die daher rührte, dass jüdische Stadtbewohner, denen eine Beschäftigung im Staatsdienst verwehrt blieb, ihre lokale politische Tätigkeit als eine Art Ersatz dafür betrachteten. Hinzu kam, dass die jüdischen Stadtbewohner in einem größeren Maß als die christliche Bevölkerung der Mittel- und Oberschicht angehörten und bei Kommunalwahlen aufgrund des Zensuswahlrechts überproportional vertreten waren. Auf dem Land, wo sich der ökonomische Aufstieg der Juden länger hinzog, war die Lage gemischt.498 Anders als in Gemünden gestaltete sich die Situation in Illingen, denn dort stellten die jüdischen Einwohner 1845 proportional weniger Meistbeerbte als die christliche Bevölkerung des Ortes. Der Grund lag in den unterschiedlichen Sozialstrukturen der beiden Dörfer: Während in dem Hunsrückort die jüdische Bevölkerung wohlhabender als die christliche Einwohnerschaft war, stellte sich die Situation in Illingen genau andersherum dar. Infolgedessen war auch nach Einführung der neuen Gemeindeordnung zunächst kein jüdischer Einwohner im Rat vertreten. Dies änderte sich allerdings Anfang der Sechzigerjahre, als drei jüdische Einwohner in den Gemeinderat einzogen.499 Nicht nur an den Gemeinderatswahlen beteiligten sich die jüdischen Einwohner Illingens, sondern darüber hinaus engagierten sie sich auch im Rahmen der im Deutschen Reich stattfindenden nationalen ­Wahlen, z. B. wurde der jüdische Vorsteher A. S. Levy für den Wahlvorstand für die Reichstagswahl von 1881 ernannt.500 Bei der Wahl spielte für die jüdischen Meistbeerbten die Religionszugehörigkeit oft nur eine untergeordnete Rolle, denn sie stimmten häufig für christliche Einwohner und zogen solche teilweise sogar Glaubensgenossen vor. In Gemünden

497 Vgl. Abteilungsliste der Gemeinde Gemünden, 15.8.1862, Bürgermeister von Gemünden, 22.5.1867, in: LHAK Best. 655,12 Nr. 137. In mehreren württembergischen Dörfern verhielt sich die Lage ähnlich wie in Gemünden: Die Zahl der jüdischen Wahlberechtigten war überproportional und sie beteiligten sich stärker als die christlichen Einwohner. Vgl. Baumann, Nachbarschaften, S. 120. 498 Vgl. Richarz, Einführung, Leben, Bd. 2, S. 45 f. Vgl. zur Entwicklung der jüdischen Sozial­struktur Kapitel 3.3.3. 499 Vgl. Kapitel 3.3.2. Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1546, S. 49. Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1315, S. 17, 24. 500 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 52, S. 153.

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gab z. B. Matthias Brück 1862 nach dem Ausscheiden des von ihm favorisierten protestantischen Bauern Pullig seine Stimme erst in der Stichwahl seinem jüdischen Glaubensgenossen Emmanuel Brück. Dass Christen jüdische Kandidaten wählten, kam in Gemünden zwar vor, war aber anscheinend eher eine Ausnahme. Emmanuel Brück verdankte seine Wahl im September 1862 ausschließlich jüdischen Wählern. Der protestantische Jakob Pullig wählte 1873 zwar Abraham Wirth, aber er musste einen jüdischen Kandidaten wählen, da keine christlichen Kandidaten antraten. Lediglich der protestantische Bürgermeister Mendel zog im Dezember 1862 bei einer Stichwahl mit Emmanuel Brück einen jüdischen gegenüber einem christlichen Kandidaten – einem Katholiken – vor.501 Zur selben Zeit zeigten sich in Illingen die christlichen Wahlberechtigten etwas geneigter gegenüber jüdischen Kandidaten als die christlichen Wähler Gemündens. Dort waren Anfang der Sechziger nämlich Salomon Strauß, Salomon Barth und Marum Coblenz Mitglieder im Gemeinderat, also zu einer Zeit, als die jüdischen Einwohner wegen ihrer Ein­ kommen noch unterrepräsentiert unter den Meistbeerbten waren. Bei den gewählten Juden handelte es sich um die wohlhabendsten jüdischen Einwohner des Ortes: Neben dem Krämer Coblenz handelte es sich um die Kaufleute Strauß und Levy, die zugleich als jüdische Vorsteher agierten. Dass ihnen ein Teil der christlichen Meistbeerbten Vertrauen schenkte, hing u. a. mit ihren Berufen zusammen, die die Grundlage für ihre soziale Stellung bildeten: Als Kaufleute mit einem festen Geschäft im Ort waren sie angesehener als ihre vielfach noch umherziehenden Glaubensgenossen. Zudem ist es möglich, dass die christlichen Wähler anders als in Gemünden die große jüdische Minderheit politisch einzubinden suchten bzw. deren Bedeutung innerhalb des Dorfes durch die Einräumung von Mitspracherecht Rechnung tragen wollten.502 Allgemein ist festzustellen, dass die jüdischen Gemeinderatsmitglieder häufig eine Rolle in der jüdischen Gemeindeführung innehatten, und nicht selten handelte es sich bei ihnen um die Vorsteher der jüdischen Gemeinde. In Illingen betätigten sich nicht nur die beiden bereits erwähnten jüdischen Vorsteher im Gemeinderat der Zivilgemeinde, sondern auch mehrere ihrer Nachfolger, nämlich Abraham Simon Levi in den Siebzigerjahren und Hermann Barth kurz nach der Jahrhundert­wende.503 1846 war in Gemünden mit Jakob Löb ebenfalls der Vorste 501 Vgl. Wahlprotokolle, 20.9.1862, 15.12 1862, 20.9.1872, in: LHAK Best. 655,12 Nr. 137. 502 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1315, S. 24. Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1686, S. 58. Vgl. ­Baumann, Nachbarschaften, S. 120. Vgl. Dietrich, Konfession, S. 379 f. Vgl. auch Kapitel 3.3.2. 503 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1315, S. 24, 48. Vgl. Dep. Illingen Nr. 1541, S. 8. Vgl. Dep. Illingen Nr. 1546, S. 57, 98, 116, 123. Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 108, S. 30. Vgl. N ­ auhauser, S. 322, 326.

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her der jüdischen Gemeinschaft im Gemeinderat vertreten und 1873 gelang einem seiner Nachfolger, Abraham Wirth, ebenfalls der Einzug in dieses Gremium.504 In Frankreich wurde die napoleonische Gemeindeverfassung bis 1831 beibehalten, weswegen die Einwohner von Dörfern wie Boulay und Grosbliederstroff während der Zeit der Restauration kein Mitspracherecht bei der Besetzung der Lokalverwaltung hatten. An anderen Wahlen konnten wegen des hohen Zensus fast nur die tendenziell wohlhabenderen Stadtbewohner teilnehmen. Die überwältigende Mehrheit der jüdischen und der christlichen Landbevölkerung hatte weder die Möglichkeit, politisch mitzubestimmen, noch zeigten sie ein derartiges Interesse.505 Hinsichtlich des Amts des Bürgermeisters ist zu erwähnen, dass die französische Verwaltung vor 1815 in Lothringen genauso wie im Gebiet der späteren Rheinprovinz in Einzelfällen dazu bereit war, jüdische Einwohner mit den Funktionen des Bürgermeisters zu versehen, so z. B. im Jahr 1800 Lazare Levy in Donnelay. Während der Restauration war dies nicht mehr der Fall, aber immerhin wurden weiterhin einzelne Juden in die kommunalen Entscheidungsgremien berufen.506 Erst das 1831 verabschiedete Gemeindegesetz räumte den Einwohnern der Landgemeinden Mitspracherechte ein, allerdings in erster Linie der lokalen ökonomischen Oberschicht: Von den direkt Besteuerten hatten nur die 10 %, welche die meisten Abgaben leisteten, das Recht, den Gemeinderat zu wählen. Hinzu kamen noch Angehörige der Nationalgarde und Armeeoffiziere. Solche Personen waren in den Untersuchungsdörfern wie in den meisten Landgemeinden allerdings selten ansässig. 1846 gab es in Grosbliederstroff zwei Militärangehörige, die wahlberechtigt waren, während in Boulay ihre Zahl mit acht Personen höher lag. Zu den Letzteren gehörte mit Lipmann Rheims, einem „officier de la garde nationale“, auch ein Jude.507 Wie in der Rheinprovinz wirkten sich auch in Lothringen die dörflichen Sozial­ strukturen infolge des während der Julimonarchie geltenden Zensuswahlrechtes auf die Möglichkeiten der Dorfbewohner der verschiedenen Konfessionen, politisch

504 Vgl. Auszug aus dem Gemeindebuch von Gemünden, 30.6.1846, in: LHAK Best. 655,12 Nr. 146. Vgl. LHAK Best. 441 Nr. 9811, S. 379, 637 f., 737, 777. Vgl. Bürgermeister von Gemünden, 15.11.1873, in: LHAK Best. 655,12 Nr. 138. 505 Vgl. Roos, relations entre les juifs, S. 174 – 179. Vgl. Franz/Knauff, S. 22 f. Auf nationaler Ebene blieb die Zahl der jüdischen Wahlberechtigten auch während der Julimonarchie gering: Ihre Zahl betrug 1845 nur 965, also etwa 1 % der jüdischen Bevölkerung Frankreichs. Vgl. Szajkowski, French jews, S. 1023. 506 Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 239. Vgl. Job, juifs à Lunéville, S. 263. 507 Vgl. Franz/Knauff, S. 22 f. Vgl. Gisselmann, S. 445. Vgl. Liste des électeurs censitaires de la commune de Grosbliederstroff, 8.1.1846, in: ADM 41M6. Vgl. Liste des électeurs censitaires de la commune de Boulay, 5.1.1846, in: ADM 40M4.

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mitzubestimmen, aus. Bereits im Zusammenhang mit den jüdischen und christlichen Berufs- und Sozialstrukturen der betrachteten Dörfer wurde erwähnt, dass die Lage in Grosbliederstroff derjenigen in Gemünden ähnelte. Dies gilt auch für die Möglichkeit der jüdischen Einwohner, über Wahlen an Personalentscheidungen mitzuwirken. In Grosbliederstroff fanden sich im Jahr 1846 unter den 156 Zensuswählern (ausschließlich der Ersatzwähler) 22 jüdische Einwohner, die somit ungefähr 14 % dieser Personen­ gruppe stellten. Gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil, der zu dieser Zeit 10 bis 11 % betrug, waren die jüdischen Bewohner also leicht überrepräsentiert. In Boulay gestaltete sich die Lage anders, denn dort war die Zahl der wahlberechtigten Juden mit 14 geringer als in dem lothringischen Grenzort. Von dem 185-köpfigen Kreis derjenigen, die 1846 über die Zusammensetzung des Gemeinderats bestimmen durften, stellten sie 7,5 %. Angesichts ihres Anteils von etwa 12 % an der Dorfbevölkerung Boulays waren die jüdischen Einwohner unterrepräsentiert.508 Nach Angaben des Unterpräfekten von Lunéville aus dem Jahr 1843 machten die jüdischen Einwohner, falls sie das Wahlrecht besaßen, rege von diesem Gebrauch: „Les droits civiques et politiques leurs sont chers: électeurs exacts, empressés“.509 Eine Analyse der Praxis in den beiden untersuchten Orten weist allerdings darauf hin, dass nur ein Teil der jüdischen Einwohner Interesse hatte, an den Gemeinderatswahlen mitzuwirken. In Boulay machten 1846 lediglich sechs der 15 wahl­berechtigten jüdischen Einwohner von ihrem Recht Gebrauch. Ein Zusammenhang zwischen ihrer sozialen Stellung und der Wahlteilnahme bestand nicht: Während der wohlhabende Pferdehändler Louis Felix Ach an der Abstimmung teilnahm, verzichtete sein Kollege Michel Vorms, der über ein ähnliches Einkommen verfügte, darauf. Am unteren Ende der Zensuswahlliste verhielten sich die jüdischen Wahlberechtigten ähnlich verschieden.510 Etwas größer als in Boulay war das Interesse der jüdischen Bürger von Grosbliederstroff an den Gemeinderatswahlen. Lediglich sieben der 22 jüdischen Wahlberechtigten verzichteten 1846 völlig darauf, an der Bestimmung von acht Gemeinderatsmitgliedern mitzuwirken. Zu den eigentlichen Zensuswählern kamen noch drei ­weitere jüdische Einwohner hinzu, die als Ersatzwähler auftraten. Sieben jüdische Dorfbewohner nahmen an den beiden Wahlgängen teil, die benötigt wurden, weil bei dem Ersteren nicht genügend Personen die absolute Mehrheit erreichten, während zwei ausschließlich zum ersten und neun lediglich zum zweiten Wahlgang 508 Vgl. Liste des électeurs censitaires de la commune de Grosbliederstroff, 8.1.1846, in: ADM 41M6. Vgl. Liste des électeurs censitaires de la commune de Boulay, 5.1.1846, in: ADM 40M4. Vgl. Kapitel 3.1.1. 509 Vgl. Sous-préfet de Lunéville, 12.7.1843, in: ADMM V300. 510 Vgl. Protocoles des Assemblées de Electeurs communaux de Boulay, sections A-C, 21., 23. et 25.6.1846, in: ADM 40M4.

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erschienen. Hinsichtlich der sozialen Stellung der zur Wahl erscheinenden Juden ist das Bild ebenso durchwachsen wie im Fall von Boulay.511 Vergleiche mit der Wahlbeteiligung der christlichen Einwohner weisen in unterschiedliche Richtungen. Während 1846 in Boulay mit 157 von 178 christlichen Wahlberechtigten ein außerordentlich hoher Teil zur Abstimmung kam, erschienen im Grosbliederstroff lediglich 58 der 136 nichtjüdischen Wahlberechtigten. Während sich in dem ersteren Ort die christlichen Wahlberechtigten stärker einbrachten als die jüdischen, gestaltete sich die Lage in dem anderen Dorf umgekehrt. Ähnlich wie in Gemünden wählten die jüdischen Einwohner von Boulay und Grosbliederstroff nicht selten Angehörige christlicher Konfessionen. Im Gegensatz zum preußischen Fall lässt sich allerdings feststellen, dass christ­ liche Wähler in den untersuchten Dörfern schon in den Vierzigern für jüdische Kandi­daten stimmten, z. B. erhielt Jacob Rheims 1846 innerhalb seiner Wahlsektion im ersten Wahlgang 30 von 63 Stimmen – mindestens 26 von christlichen Wählern – und verpasste damit nur knapp den Einzug in den Rat von Boulay.512 Anders als in den beiden betrachteten lothringischen Orten gelang es mehreren Juden in anderen Dörfern der Region während der Julimonarchie, in die Gemeinderäte einzuziehen. Als Vorreiter waren die Städte nicht anzusehen, denn öfter als im urbanen Bereich waren jüdische Einwohner auf dem Land in den Gemeinderäten vertreten. 1846 gehörten im Département Moselle in 12 Dörfern und Kleinstädten Angehörige der jüdischen Konfession Gemeinderäten an, während dies in demselben Jahr in keinem der größeren urbanen Zentren (z. B. Metz) der Fall war.513 Ähnlich gestaltete sich die Lage im Département Meurthe: Mitte der Vierzigerjahre war in Nancy kein jüdischer Einwohner im Stadtrat, aber auf dem Land und in einigen Kleinstädten waren sie in die lokalen Entscheidungsgremien gewählt worden. Dass Juden eher in kleinen Ortschaften gewählt wurden als in den urbanen Zentren, wo sie eine kleinere Minderheit im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung bildeten, weist darauf hin, dass sie ihre Wahl zumindest teilweise ihren Glaubensgenossen verdankten. Auch der Unterpräfekt des Arrondissements Château-Salins betonte im Jahr 1843 diesen Zusammenhang. Allerdings ist einschränkend zu erwähnen, dass in einigen Orten schon 511 Vgl. Liste des électeurs censitaires de la commune de Grosbliederstroff, 8.1.1846, élection de huit conseillers municipaux à Grosbliederstroff, 28./29.6.1846, in: ADM 41M6. 512 Vgl. Protocole d’Assemblée de Electeurs communaux de Boulay, section B, 23.6.1846, in: ADM 40M4. 513 Vgl. Liste des notables Israélites de la circonscription consistoriale de Metz pour l’année 1846, in: ADM 17J61. Vgl. Neher-Bernheim, documents, Bd. 2, S. 172 f. Vgl. Lang/­ Rosenfeld, S. 235. Vgl. Etat des Israélites du département de la Moselle, 14.8.1843, in: CAHJP zf/469.

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vor der Jahrhundertmitte jüdische Kandidaten unter der gesamten Bevölkerung positive Aufnahme fanden, z. B. in Phalsbourg.514 Nach dem Gemeindegesetz von 1831 stand weiterhin dem Präfekten das Recht zu, den Bürgermeister und seinen Adjunkten aus den Reihen der Gemeinderatsmitglieder zu bestimmen. Neben den zahlreichen jüdischen Gemeinderäten ist ein Indiz für die wachsende Akzeptanz der jüdischen Bevölkerung – auch der Landbevölkerung – vonseiten der höheren Verwaltung darin zu sehen, dass während der Julimonarchie auch Juden zu Bürgermeistern ernannt wurden, z. B. David Vormus 1842 in Delme. Wie viele seiner christlichen Kollegen war er vor seinem Amtsantritt bereits im Gemeinderat tätig gewesen.515 Die Revolution von 1848 wirkte sich nicht nur auf nationaler Ebene auf das Wahlrecht aus, sondern auch auf kommunaler Ebene. Sie brachte die Einführung des allgemeinen Wahlrechts für alle erwachsenen Männer, die ihren Wohnsitz in einer Gemeinde hatten, und diese Art der Bestimmung der Gemeinderäte blieb auch während des Zweiten Empires sowie der Dritten Republik bzw. während der Zeit der deutschen Annexion bestehen. Jeder Wähler durfte so viele Stimmen abgeben, wie Gemeinderatsmitglieder zu ernennen waren. In ländlichen G ­ ebieten änderte das neue Wahlrecht allerdings wenig an der Besetzung der Gemeinderäte, denn viele der amtierenden Mitglieder wurden 1848 wiedergewählt, z. B. in Grosbliederstroff sieben von acht.516 Als Nachteil für jüdische Kandidaten erwies sich die Änderung des Wahlrechts weder in Boulay noch in Grosbliederstroff. In Boulay zog 1848 der jüdische Arzt Lion Cerf als erster jüdischer Einwohner in den Gemeinderat ein, und in Grosbliederstroff verfehlte Lion Lambert als 17. nur knapp den Einzug in den dortigen 16-köpfigen Gemeinderat.517 514 Vgl. Consistoire israélite de Nancy, Liste des notables, o. D., ca. 1843, in: CAHJP zf/470. Vgl. Sous-préfet de Château-Salins au préfet de la Meurthe, 29.7.1843, in: ADMM V300. Für die Ortsgrößen vgl. Tableau des ministres du culte Israélite de la circonscription de Nancy renumérés par l’Etat, 29.12.1846, in: AJMB MF509 reel 1 fol. 73. Vgl. Philippe, Béatrice: Etre juif dans la société française du Moyen Âge à nos jours, überarb. u. verm. Aufl., Brüssel 1997, S. 195. 515 Vgl. Consistoire israélite de Nancy, Liste des notables, o. D., ca. 1843, in: CAHJP zf/470. Vgl. Daltroff, histoire, S. 21. Vgl. Mayr, S. 68, 79. Vgl. Franz/Knauff, S. 24. 516 Vgl. Franz/Knauff, S. 24. Vgl. Election du conseil municipal de Grosbliederstroff, 28.6.1846, 29.6.1846, 30.7.1848, in: ADM 41M6. Vgl. Ardaillou, Pierre: L´église, l´école et la mairie. Les enjeux du pouvoir local dans le pays de Caux des années 1840, in: Roger Dupuy (Hg.): Pouvoir local et Révolution 1780 – 1850. La frontière intérieure, colloque international à Rennes du 28 septembre au 1er octobre 1993, Rennes 1995, S. 471 – 491. 517 Vgl. Résultat des élections qui ont eu lieu dans la commune de Boulay 30./31.7.1848, in: ADM 40M4. Vgl. Protocole d’élection des conseillers municipaux de Grosbliederstroff, 30.7.1848, in: ADM 41M6.

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Seit der Mitte des Jahrhunderts waren in den Gemeinderäten von Boulay und Grosbliederstroff wie in anderen lothringischen Orten auch fast durch­gängig jüdische Einwohner vertreten. Zu betonen ist, dass diese ihre Wahl nach­gewiesenermaßen nicht nur ihren Glaubensgenossen verdankten. Dass die christlichen Einwohner zufrieden mit der Arbeit der jüdischen Gemeinderäte waren bzw. ihre Meinungen durch diese repräsentiert sahen, zeigt sich daran, dass einige jüdische Gemeinderatsmitglieder über mehrere Wahlperioden hinweg Zustimmung fanden. In Boulay gelang es Jacob Rheims, der 1852 zum ersten Mal in das Gremium einzog, 1855, 1860 und 1865 wiedergewählt zu werden. Im Jahr 1852 erhielt er von 79 % aller Wählenden eine Stimme, 1860 von 70 % und 1865 von 82 %. Im Jahr 1855 erhielt er mit 267 Stimmen nur geringfügig weniger Mandate als Jean Joseph Jager, der mit 292 Stimmen die meiste Zustimmung bekam. Ähnlicher Beliebtheit erfreute sich in Grosbliederstroff Isaac Moise Joseph, der nach 1855 in den Jahren 1860, 1863 und 1865 wiedergewählt wurde. Nachdem ihn 1855 bereits 72 % der Ab­­stimmenden als Gemeinderatsmitglied wünschten, stieg dieser Anteil 1860 sogar auf 87 % und fiel 1865 leicht auf 74 % ab. Bei der außerplanmäßigen Wahl von 1863, zu der es aufgrund von Querelen zwischen dem Bürgermeister und dem Gemeinderat gekommen war, schnitt Joseph sogar am stärksten ab: Er vereinte 325 von 334 Wählerstimmen, also 97 % auf sich. Die meisten Stimmen nach ihm erhielt mit dem Getreidehändler Isaac Loeb ein weiterer jüdischer Einwohner des Ortes.518 Die Wahlbeteiligung in Lothringen schwankte zwar, aber anders als im preußischen Fall war sie niemals so gering, dass die jüdische Minderheit den Ausschlag bei den Abstimmungen hätte geben können.519 Besonders in Grosbliederstroff variierte die Wahlbereitschaft der Dorfbevölkerung, denn während 1848 um die 75 % der 452 Wahlberechtigten von ihrem Abstimmungsrecht Gebrauch machten, waren es 1852 gerade einmal 39 %. Nach diesem Absturz wuchs das Interesse der Wahlberechtigten in den folgenden Jahren wieder, sodass der Anteil der Wähler 1855 bei 50 % und 1860 bei 61 % lag, ehe er 1865 sogar auf 72 % stieg. Tendenziell entwickelte sich die Lage in Boulay in dieselbe Richtung, allerdings nicht so extrem: Im Jahr 1848 nutzten in Boulay 78 % von 599 Personen ihr Wahlrecht, während dies 1852 nur die Hälfte der Berechtigten tat. Im Jahr 1865 begaben sich aber wieder 518 Vgl. Meyer, présentation, S. 23. Vgl. Election du conseil municipal de Boulay, 5.9.1852, 29.7.1855, 19.8.1860, 22.7.1865, in: ADM 40M4. Vgl. Election du conseil municipal de Grosbliederstroff, 29.7.1855, 19.8.1860, 31.5.1863, 23.7.1865, in: ADM 41M6. 519 Als Grund für die stärkere Wahlbeteiligung in Frankreich wird in der Literatur angeführt, dass die Landbewohner über das auf kommunaler sowie nationaler Ebene geltende all­ gemeine Wahlrecht demokratische Partizipationsformen einüben konnten. In Preußen war dies auf der kommunalen Ebene nie der Fall und auf nationaler deutscher Ebene erst ab 1871. Vgl. Dörner, S. 89 – 93, 296 – 307.

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74 % der 688 Wahlberechtigten zur Urne. In Hinblick auf die gewählten jüdischen Einwohner lässt sich daraus folgern, dass die aus ihren Reihen hervorgegangenen Gemeinderäte tatsächlich Rückhalt im Großteil der Dorfbevölkerung genossen. In Grosbliederstroff erhielt Isaac Moise Joseph bei den Wahlen in den Fünfzigerjahren zwar nur etwa 35% Zustimmung von allen Wahlberechtigten, aber in den Sechzigerjahren lag dieser Anteil stets über 50%, 1863 sogar bei 68%. Steigenden Rückhalt in der gesamten Bevölkerung seines Ortes genoss in Boulay auch der jüdische Gemeinderat Rheims, für den 1852 zwar nur 39% aller Wahlberechtigten stimmten, aber der diesen Anteil bis 1865 auf 60% steigern konnte.520 Genauso wie in der Rheinprovinz ist auch in Lothringen zu beobachten, dass die jüdischen Gemeinderäte oft auch in der Führung der jüdischen Gemeinschaften tätig waren. Der 1855 in Grosbliederstroff gewählte Lion Lambert war „commissaire surveillant“ der jüdischen Gemeinde, und der während der Annexion im Boulayer Gemeinde­ rat tätige Lion Cerf fungierte auch als Präsident der jüdischen Armenkasse.521 Hinsichtlich der Bürgermeister ist zu bemerken, dass diese während der Zweiten Republik, also zwischen 1848 und 1851, direkt von den Gemeinde­räten gewählt wurden, aber nach 1852 wieder von den Präfekten ernannt wurden. Während der Zweiten Republik gelang es keinem lothringischen Juden, in dieses Amt einzuziehen, aber unter dem Zweiten Empire änderte sich dies, allerdings ausschließlich in einigen Dörfern. So wurde z. B. 1854 in Bliesbruck Juda Bonoff zum Bürgermeister ernannt. Zwar konnten die Präfekten seit 1855 nicht im Gemeinderat vertretene Männer zu Bürgermeistern ernennen, aber aufgrund negativer Erfahrungen riet die Regierung davon ab. Im Fall des erwähnten Bonoff führte dies dazu, dass dessen Amtszeit 1866 nicht verlängert wurde, weil er nicht mehr in den Gemeinderat gewählt wurde. Nach Angaben des Unterpräfekten von Sarreguemines lag dies nicht an der Amtsführung Bonoffs, sondern am katholischen Pfarrer, der sich an der Religion des Bürgermeisters gestört habe. Insofern ist festzuhalten, dass gewisse Ressentiments gegenüber den jüdischen Mitbürgern fortbestanden und die Religionszugehörigkeit ihrer Verwalter einem Teil der lothringischen Landbewohner in der zweiten Jahrhunderthälfte noch keineswegs gleichgültig war.522 520 Vgl. Election du conseil municipal de Boulay, 5.9.1852, 29.7.1855, 19.8.1860, 22.7.1865, in: ADM 40M4. 521 Vgl. Election du conseil municipal de Grosbliederstroff, 5.9.1852, in: ADM 41M6. Vgl. Kapitel 4.3.2. Vgl. Budget der israelitischen Gemeinde zu Bolchen, 1892, Moses Bing an den Bürgermeister von Boulay, 6.9.1898, in: ADM ED100 3P1 Vgl. Conseil municipal de Boulay, 18.2.1900, in: ADM ED100 5I5. Vgl. Conseil municipal de Boulay, 8.1.1893, in: ADM ED100 2N2. 522 Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 222, 295 f. Vgl. Mayr, S. 80 f.

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Nach der Annexion änderte sich in Lothringen nichts daran, dass in vielen Dörfern mit jüdischer Bevölkerung Angehörige dieser Religion in den Gemeinderäten vertreten waren. So wurde in Boulay Lion Cerf vom Anfang der Siebzigerjahre bis zur Jahrhundertwende wiederholt in das lokale Entscheidungsgremium gewählt.523 In Elsass-Lothringen war die Zahl der jüdischen Lokalpolitiker zwischen 1870 und 1892 nahezu doppelt so groß wie in den Gebieten des preußischen Rheinlands und Westfalens zusammen. Erst um die Jahrhundertwende veränderte sich dies, indem die Zahl in Lothringen absank, während sie im Rheinland anstieg. Es ist allerdings auch zu beobachten, dass es jüdischen Einwohnern während der deutschen Herrschaft noch öfter als in der Zeit zuvor gelang, in Kleinstädten und Dörfern höhere Ämter in der lokalen Verwaltung zu erreichen. Der Grund hierfür lag wohl in der weiter zunehmenden Akzeptanz durch ihre christlichen Mitbürger.524 Die 1895 in Elsass-Lothringen eingeführte neue Gemeindeordnung brachte für die kleinen Gemeinden kaum Änderungen mit sich, da der Bürgermeister und die Beigeordneten auf Vorschlag des Gemeinderats hin und aus dessen Mitte von der höheren Verwaltung ernannt werden sollten. Die Regierung verfügte über die Möglichkeit, die Vorschläge abzulehnen und stattdessen ihr passend erscheinende Bürgermeister einzusetzen.525 In der Regel akzeptierten die deutschen Behörden weiterhin den Willen der Gemeinderäte, auch wenn es sich um jüdische Bürger handelte, z. B. wurde in Boulay kurz nach der Jahrhundertwende das jüdische Gemeinderatsmitglied Lazard zum Beigeordneten ernannt.526 In einem Fall drängte die deutsche Verwaltung einen jüdischen Bürgermeister aus seinem Amt, allerdings geschah dies wohl in erster Linie wegen seiner politischen Orientierung und nicht wegen seiner Religionszugehörigkeit.527 523 Vgl. Conseil municipal de Boulay, 14.2.1875, in: ADM 9AL40. Vgl. Conseil municipal de Boulay, 4.7.1877, 15.6.1886, 12.10.1887, 18.2.1900, in: ADM ED100 5I5. Vgl. Conseil municipal de Boulay, 8.1.1893, in: ADM ED100 2N2. Vgl. Daltroff, histoire, S. 21. Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 259. Vgl. Mendel, S. 39. 524 In Delme bekleidete Abraham Vormus trotz der sinkenden Zahl der jüdischen Orts­ bevölkerung von 1872 bis 1892 den Posten des Bürgermeisters. Vgl. Daltroff, histoire, S. 21. Lang/Rosenfeld, S. 235, 297, 301. Vgl. Toury, Jacob: Die politischen Orientierungen der Juden in Deutschland. Von Jena bis Weimar (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo-Baeck-Instituts, Bd. 15), Tübingen 1966, S. 324. 525 Vgl. Mandel: Die Verfassung und die Verwaltung des Landes, in: Statistisches Bureau für Elsass-Lothringen, Bd. 1, S. 217. Vgl. Schuman, Robert: Verfassung und Verwaltung des Landes, in: Ruppel, S. 85 f. 526 Vgl. Finanzkommission des conseil municipal de Boulay, 31.8.1912, in: ADM ED100 5I5. Vgl. Conseil municipal de Boulay, 23.9.1918, in: ADM ED100 6D2. 527 Die Regierung verweigerte 1908 Sylvain Beer – wohl wegen dessen Mitgliedschaft im „Souvenir français“ – die Wiederernennung zum Bürgermeister von Sarrebourg. Vgl.

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Im Großherzogtum Luxemburg galt ab 1815 die niederländische Verfassung, die wesentliche Elemente der französischen Gemeindeordnung beibehielt und den Bewohnern von Dörfern mit weniger als 2500 Einwohnern kaum Mit­ bestimmungsrechte einräumte. Die Funktion der von der Ständeversammlung aus dem Kreis der wohlhabendsten Einwohner ernannten Gemeinderatsmitglieder, welche ihre Nachfolger selbst vorschlugen, war eher eine beratende. Die vom Großherzog ernannten Bürgermeister und die von der Ständeversammlung bestimmten Schöffen hatten die Aufgabe, die staatlichen Anweisungen auszuführen und das Gemeindevermögen zu verwalten. Die Unzufriedenheit mit den „Notabeln-Beamten“ war Anfang der Dreißigerjahre in Ettelbrück so groß, dass sich seine Einwohner – wie die übrige Landbevölkerung Luxemburgs – der belgischen Revolution anschlossen und den Bürgermeister absetzten. In der belgischen Zeit zwischen 1830 und 1839 wurde den Landbewohnern zeitweise das Recht zugestanden, ihre Gemeinderäte selbst zu wählen. Da es sich um ein Zensuswahlrecht handelte, war es nicht verwunderlich, dass ein Teil der bisherigen Gemeinderatsmitglieder im Amt blieb, z. B. in Ettelbrück der Händler Augustin.528 1843 trat ein neues Gemeindegesetz in Kraft, nach dem jede Gemeinde einen aus einer indirekten Wahl hervorgegangen Rat erhielt. In Samtgemeinden wie Ettelbrück, die sich aus mehreren Orten (Sektionen) zusammensetzten, sollten alle Sektionen angemessen im Gemeinderat vertreten sein. Die Bürgermeister wurden direkt vom Staatsoberhaupt ernannt und übernahmen weiterhin gemeinsam mit den Schöffen die lokale Verwaltung. In erster Linie führten sie Bestimmungen des Staates aus, allerdings sollten sie auch Beschlüsse des Rates gewährleisten. Der Zensus für die Wahlen war so hoch angesetzt, dass nur eine kleine Schicht daran teilnehmen konnte. Erst die Revolution von 1848 brachte eine starke Senkung des Wahlzensus und die Direktwahl der Mitglieder des Gemeinderats. Für die zwölf für die Ettelbrücker Sektion zu besetzenden Sitze im Gemeinderat kandidierten im Revolutionsjahr 36 Einwohner, unter denen sich kein Angehöriger der jüdischen Minderheit befand.529 Bis zur Jahrhundertmitte waren in Ettelbrück keine jüdischen Einwohner in den Gemeinderäten vertreten, und für die Mehrheit der jüdischen Bewohner Luxemburgs lassen sich ebenfalls keine lokalpolitischen Ambitionen feststellen. Der Grund dafür war nicht allein der Wahlmodus, der viele jüdische Einwohner ausschloss, sondern vor allem die geringe Zahl der Letzteren. Im Großherzogtum Lang/Rosenfeld, S. 297. 528 Vgl. Franz/Knauff, S. 25 f. Vgl. Mayr, S. 83 f. Vgl. Flies, S. 1257 f., 1292 f. 529 Vgl. Franz/Knauff, S. 26 f. Vgl. Mayr, S. 84 f. Vgl. Flies, S. 1415 f. Vgl. Recensement de la population d’Ettelbruck, 1851, in: ANL Rpop 221 f.

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bildeten die Juden anders als in den beiden anderen Regionen nicht nur auf Landes­ ebene, sondern auch auf der lokalen Ebene in der Regel nur eine kleine Minderheit.530 Wie in anderen Belangen stellte die Familie Godchaux auch hinsichtlich ihrer politischen Tätigkeit eine Ausnahmeerscheinung innerhalb der jüdischen Bevölkerung dar. Bereits 1837 zog Samson Godchaux für die Sektion Hamm, der u. a. Schleifmuhl angehörte, in den Gemeinderat von Sandweiler ein.531 Nach der Einführung der neuen Gemeindeordnung wurde er im Jahr 1844 nicht nur wiedergewählt, sondern von der Regierung auch zum ersten Schöffen ernannt. Die Reaktion der katholischen Bevölkerung in der zu dieser Zeit noch ländlich geprägten Sektion war eine überwiegend positive. Einige Hundert Bauern zogen mit einem Musikchor und einem mit Blumen geschmückten Baum – an dem Landesfahnen mit der Aufschrift „vive monsieur Samson Godchaux, 2e Bourgmestre de Hamm“ befestigt waren – zur Wohnung des Ernannten. In einer Rede wurde betont, dass „an dem Wahltage schon die Stimmung sämmtlicher Ortsbewohner sich […] laut für [ihn] aussprach“.532 Die Freude über die Ernennung mag u. a. darin begründet gewesen sein, dass die Dorfbewohner hofften, dass ihre Interessen über den Posten eines Schöffen stärkere Berücksichtigung innerhalb der Samtgemeinde fänden als über ein einfaches Gemeinderatsmitglied. Dass nicht alle katholischen Einwohner der Gemeinde Sandweiler bereit waren, einen jüdischen Amtsträger zu akzeptieren, zeigte sich 1846, als Samson Godchaux nach dem Tod des bisherigen Bürgermeisters zu dessen Nachfolger ernannt wurde. Ähnlich wie der Großherzog im Jahr 1842 lobte auch die luxemburgische Regierung die ökonomische Entwicklung, welche die Fabrik der Godchaux hervorgerufen hatte, als sie die beiden Kandidaten für das Bürgermeisteramt – Godchaux und einen Bauern aus Sandweiler – miteinander verglich.533 Zwar störte die Regierungsmitglieder die Religion des jüdischen Fabrikbesitzers anscheinend ein wenig, allerdings erwies sich diese bei der Empfehlung an den Großherzog – auch aufgrund der von der Verfassung garantierten Gleichheit aller Luxemburger – nicht als ausschlaggebend. Zudem war der Regierungsrat sicher, dass die katholische Mehrheit keine Probleme mit einem jüdischen Amtsträger haben würde: „Quant à l’opinion publique dans ce pays, elle est trop éclairée, trop avancée pour qu’elle 530 Vgl. Flies, S. 1417 f. Vgl. Moyse, S. 8 – 10. Vgl. Lehrmann, S. 128. Vgl. Kapitel 3.1.2. 531 Vgl. AZJ, Nr. 12, 1844, S. 173. Vgl. Jeck. Vgl. Flies, S. 1607. Der Gemeinde Sandweiler gehörte neben Hamm auch die Sektion Pulvermuhl an, wo die Familie Godchaux ebenfalls tätig war. Vgl. Mémorial, Nr. 33, 1873, S. 414 f. 532 AZJ, Nr. 12, 1844, S. 173. 533 Vgl. Krier, S. 124. Vgl. Mémorial, Nr. 14, 1846, S. 169 f. Vgl. Godchaux, Fabien: Historique 1. Ma famille originaire de Thionville s’installa au Luxembourg en 1793, o. J., online im Internet: http://godchaux.f.e.c.pagesperso-orange.fr/page_1.html [Stand 24.06.2014].

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puisse s’alarmer par la nomination d’un israélite à des fonctions publiques.“534 Dass diese Einschätzung teilweise nicht der Wirklichkeit entsprach, zeigte der Protest von 48 Einwohnern von Sandweiler, die sich über die Ernennung von Godchaux beschwerten.535 Die Ernennung wurde nicht zurückgenommen, aber der Großherzog zeigte ein gewisses Verständnis für die ablehnende Haltung eines Teils der Bürger: „Sa majesté comprend toutefois qu’il n’est pas agréable pour les habitants de la commune de Sandweiler d’avoir un Bourgmestre de la communauté israélite“.536 Daher sollte Samson Godchaux nur sechs Jahre, also eine Amtszeit lang, amtieren. Am Ende der Letzteren wurde der jüdische Bürgermeister allerdings wiederernannt. Dies geschah mit einer gewissen Zustimmung vonseiten des Gemeinderats, denn von 1848 bis 1854 – also in der fraglichen Zeit – hatten die Gemeinderäte das Recht, dem Großherzog drei Kandidaten für den Posten des Bürgermeisters vorzuschlagen, von denen das Staatsoberhaupt einen ernannte.537 Frei von Anfechtungen blieb Godchaux als Bürgermeister allerdings auch im folgenden Jahrzehnt nicht. Anteil daran hatte die katholische Geistlichkeit von Sandweiler, die 1861 einen Teil des Gemeinderats gegen den Bürgermeister aufhetzte. Das Entscheidungsgremium behinderte Godchaux daraufhin in der Ausübung seines Amtes mit der Begründung, dass er als Jude nicht die zivile Eheschließung von Christen vornehmen solle. Dass das Vorgehen nur die Meinung eines Teils der Gemeindeangehörigen widerspiegelte, zeigte sich in dem „allgemeine[n] Unwillen“ gegenüber dem Rat und einem Reiterumzug „der Jugend aller Stände zu Ehren des Bürgermeisters“, die auf diese Weise „feierlich Protest gegen jenen Fanatismus einlegte“.538 Godchaux wurde schließlich von der Regierung wieder in sein Amt eingesetzt.539 Dass sich die meisten jüdischen Einwohner des Großherzogtums auch nach der Jahrhundertmitte eher zurückhaltend hinsichtlich der Lokalpolitik verhielten, hing nicht nur mit ihrer geringen Zahl zusammen, sondern auch damit, dass sie häufig aus der Rheinprovinz oder Ostfrankreich zugewandert waren und die luxem­ burgische Staatsangehörigkeit erst viele Jahre nach ihrer Niederlassung im Großherzogtum erhielten.540 In Ettelbrück bat z. B. der aus dem preußischen Wawern stammende Joseph Mayer erst 1880, ungefähr 20 Jahre nach seiner Niederlassung im Dorf, um die Naturalisierung. Sein aus Koblenz kommender Glaubensgenosse 534 535 536 537 538 539

Conseil de gouvernement au roi, 24.1.1846, in: ANL F287/2. Vgl. Godchaux, Historique 1. Vgl. Krier, S. 124. Chancelier d’Etat au gouverneur de Luxembourg, 21.4.1846, in: ANL F287/2. Vgl. ebd. Vgl. Franz/Knauff, S. 26 f. Vgl. AZJ Nr. 5, 1856, S. 63. Vgl. Mayr, S. 85 f. AZJ, Nr. 39, 1861, S. 568. Dass Godchaux im Jahr 1862 zurücktrat, hing mit dem Beginn seiner Tätigkeit in der luxemburgischen Handelskammer zusammen. Vgl. ebd. Vgl. Godchaux, Historique 1. 540 Vgl. Thilman, S. 78. Vgl. Kapitel 3.1.2.

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Bernhard Kann wartete 14 Jahre, ehe er einen solchen Antrag stellte, und der in Schweich geborene Abraham Kahn entschied sich sogar erst nach 24 Jahren im Ort für die Einbürgerung. In anderen Teilen des Großherzogtums gestaltete sich die Lage ähnlich, so z. B. im Kanton Esch oder der Gemeinde Mondorf-les-Bains.541 Wie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gehörten auch in dessen zweiter Hälfte die jüdischen Einwohner des Großherzogtums, die sich politisch enga­gierten, zumeist der Familie Godchaux an. 1863 scheiterte H. Cahen genauso wie neun christliche Kandidaten mit dem Ziel, sich in den Stadtrat von Luxemburg wählen zu lassen, da er lediglich 15 von 486 Stimmen erhielt.542 In Ettelbrück gelang es Jules Godchaux, der 1870 in den Ort zog, bereits 1873, in den Gemeinderat einzuziehen, in dem er bis 1878 verblieb. Aufgrund der geringen Zahl der wahlberechtigten Juden ist davon auszugehen, dass er nur wegen ausreichenden Zuspruchs von christ­ licher Seite Mitglied des Rats wurde.543 Infolge seines Umzugs nach Schleifmuhl Ende der Achtzigerjahre gewann Jules Godchaux größeren Einfluss auf die Lokal­ politik, als er ihn in Ettelbrück je besessen hatte: Er wurde 1888 Bürgermeister der 1874 gebildeten Gemeinde von Hamm, die sich aus zwei ehemaligen Sektionen der Gemeinde Sandweiler (Hamm und Pulvermuhl) zusammensetzte. Die poli­ tische Selbstständigkeit war u. a. dem Bevölkerungszuwachs geschuldet, der durch den Zufluss von Arbeiterfamilien nach Schleifmuhl und Pulvermuhl verursacht wurde. Die Haushaltsvorstände dieser beiden Orte sowie von Hamm setzten sich 1872 unter der Federführung der jüdischen Industriellenfamilie vergeblich für ein stärkeres Mitspracherecht im Gemeinderat von Sandweiler ein. Nicht zuletzt auf das Betreiben der Familie Godchaux hin entschied die luxemburgische Regierung schließlich, eine neue Gemeinde zu gründen. Zwar war Hamm offiziell der Mittelpunkt der Gemeinde, aber praktisch stellte Schleifmuhl ihr Zentrum dar: Bis zum Ende des Ersten Weltkrieges entstammten alle Bürgermeister der jüdischen Industriellendynastie und waren zugleich als Fabrikleiter tätig. Jules Godchaux übernahm das Amt des Bürgermeisters von seinem Cousin Paul und bekleidete den Posten bis zu seinem eigenen Tod 1917. Ihm wiederum folgte Emile Godchaux als Bürgermeister, sodass die Feststellung Jecks und Banges, dass die Politik in Hamm vom Schreibtisch des Patrons aus gemacht wurde, als zutreffend zu bezeichnen ist.544 In Ettelbrück gestaltete sich die Lage anders: Jules Godchaux wurde 1878 nicht in 541 Vgl. Mémorial, Nr. 53, 1903, S. 769 und Nr. 60, 1906, S. 992. Vgl. Flies, S. 1613, 1619. Vgl. Dondelinger/Muller, Teil III, S. 28. Vgl. Dostert, S. 213. Vgl. Thilman, S. 25 – 28, 37, 40, 74 f. Vgl. Bürger- und Beamtenzeitung, 21.7.1910, S. 2. 542 Vgl. L’Union, Nr. 294, 1863, S. 1. 543 Vgl. Flies, S. 1611, 1717. Vgl. Kapitel 3.3.1. 544 Vgl. Jeck. Vgl. Bange, Evamarie: Die Schleifmühl im Spiegel der Stadtarchive. Analyse der Quellen, in: Schneider/Nottrot, S. 64 – 66. Vgl. Godchaux, Historique 1.

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den Gemeinderat wiedergewählt und der ihm folgende (christliche) Fabrikdirektor Kremer war nie im örtlichen Gemeinderat vertreten. Es dauerte bis 1920, ehe mit dem Viehhändler Emile Hertz erneut ein jüdischer Einwohner in den Gemeinderat von Ettelbrück einzog.545 Seit der Jahrhundertwende gab es gelegentlich Juden, die Interesse an der Gemeindepolitik ihres Heimatortes zeigten, aber nicht genügend Wählerstimmen auf sich vereinigen konnten. So gaben 1910 bei einer Ersatzwahl für den Gemeinderat von Hollerich, bei der sieben Ortsbewohner kandidierten, 88 von 872 Wählern Lucien Cahen ihre Stimme. Drei der Bewerber erhielten mehr, drei weniger Stimmen als er.546 Hinsichtlich des Verhaltens der jüdischen Gemeinderatsmitglieder bzw. ihrer Behandlung durch ihre christlichen Kollegen und die Mehrheit der Dorf­bevölkerung lassen sich sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede zwischen den verschiedenen Regionen feststellen. Dass in Luxemburg der jüdische Bürger­meister ­Godchaux bis in die Sechzigerjahre hinein wegen seiner politischen Tätigkeit Anfeindungen aufgrund seiner Religionszugehörigkeit ausgesetzt war, wurde bereits erläutert. In der Rheinprovinz ging während der Reaktionszeit nach der Revo­lution von 1848 zunächst die Beteiligung von jüdischen Bürgern an der kommunalen Verwaltung zurück. Nach Angaben von Jacob Toury waren in der Zeit zwischen 1850 und 1866 in den rheinländischen preußischen Gebieten gerade einmal halb so viele jüdische Bürger in der Lokalpolitik engagiert wie in der Zeitspanne von 1867 bis 1878. In Gemünden war zwischen 1851 und 1871 nur ein jüdischer Einwohner als Gemeinde­ratsmitglied tätig – Emannuel Brück von 1862 bis 1867 –, obwohl wegen der zahlreichen jüdischen Meistbeerbten die Chance, gewählt zu werden, als hoch anzu­sehen war. Ein Grund dafür mag die Erfahrung der jüdischen Minder­heit gewesen sein, dass der Gemeinderat – trotz der Präsenz ­jüdischer Mitglieder – Beschlüsse fasste, die für die jüdischen Einwohner nachteilig waren.547 Dass der Gemeinderat von jüdischer Seite nicht unbedingt als ein von der Religion unabhängiges Organ der Zivilgemeinde empfunden wurde, geht aus einer Bemerkung eines jüdischen Gemeinderatsmitglieds hervor, welches sich als „Gemeinderaths-­ Mitglied der christlichen Gemeinde“548 sah. Das selbstbewusste Auftreten von jüdischen Gemeinderatsmitgliedern wurde auf christlicher Seite nicht mit Wohlwollen wahrgenommen, wenn deren Meinung von den eigenen Ansichten abwich: 1867 beschlossen die christlichen Gemeinderatsmitglieder sogar, Emmanuel Brück 545 Vgl. Flies, S. 1718 f. Vgl. Kapitel 3.3.1. Vgl. Dondelinger/Muller, Teil III, S. 32. 546 Vgl. Luxemburger Wort, 8.1.1910, S. 2, 14.1.1910, S. 3. 547 LHAK Best. 441 Nr. 9719, S. 53. Wahlprotokoll, 10.12.1868, in: LHAK Best. 655,12 Nr. 137. Vgl. Toury, Orientierungen, S. 101, 114 f., 322 – 324. Vgl. Toury, Geschichte, S. 120. Vgl. auch Kapitel 5.5. 548 LHAK Best. 441 Nr. 9719, S. 46. Ist im Original unterstrichen.

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aus dem Gemeinderat auszuschließen.549 Dies geschah auf Antrag des Bürger­ meisters, dem es missfiel, dass das jüdische Gemeinderatsmitglied „fortwährend mit Beschwerden in G ­ emeinde-Angelegenheiten gegen mich auftritt“.550 Es ist zu erwähnen, dass die Zustimmung der christlichen Ratsmitglieder keine Selbst­ verständlichkeit war, denn es kam des Öfteren vor, dass sie offen Opposition gegen ihren Bürgermeister bezogen.551 Von Illingen ist zwar kein vergleichbarer Umgang von christlicher Seite mit einem jüdischen Gemeinderatsmitglied bekannt, aber hier zeigte sich anlässlich von Reichstagswahlen, dass die christliche – in diesem Fall katholische – Mehrheit eine gewisse Anpassung vonseiten der jüdischen Einwohner in politischer Hinsicht erwartete. Bei der im allmählich abklingenden Kulturkampf stattfindenden Wahl von 1874 zählten die Angehörigen der jüdischen Gemeinde von Illingen zu dem kleinen zumeist religiös orthodoxen Kreis ihrer Glaubensgemeinschaft, der für das Zentrum stimmte.552 Ob sich das Wahlverhalten der Illinger Juden in den folgenden Jahrzehnten änderte, ist zwar nicht bekannt, aber nach dem Abebben des Kulturkampfes und der Regierungsbeteiligung des Zentrums in der wilhelminischen Ära fehlte den Reichstagswahlen die Brisanz, welche die Stimmabgabe 1874 wohl noch besessen hatte. Im Jahr 1907 kam es allerdings zu einem Wahlkampf, in dem die ehemaligen Koalitionspartner des Zentrums (Konservative und die meisten Liberalen) zusammen eine gegen die „Zentrumsherrschaft“ gerichtete und an die Zeit des Kulturkampfes erinnernde Wahlkampagne führten.553 Illingen gehörte zum Wahlkreis St. Wendel–Ottweiler–Meisenheim, wo u. a. der Zentrumskandidat Marx

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Vgl. Bürgermeister von Gemünden, 14.9.1867, in: LHAK Best. 655,12 Nr. 137. LHAK Best. 441 Nr. 9719, S. 53. Vgl. Kapitel 5.5. Es wird geschätzt, dass zu dieser Zeit 80 – 90 % der im Deutschen Reich lebenden Juden liberale Parteien wählten. Das Zentrum erhielt kaum Zustimmung von jüdischer sowie protestantischer Seite, da es als eine genuin katholische Partei wahrgenommen wurde, welche die Interessen einer Konfession zu vertreten suchte. Vgl. Toury, Orientierungen, S. 246 – 252. Vgl. Colonge, Paul: L’antisémitisme à l’époque Bismarckienne et l’attitude des catholiques Allemands, in: Valentin Nikiprowetzki (Hg.): De l’antijudaïsme antique à l’antisémitisme contemporain, Lille 1979, S. 146 – 188, S. 163. Vgl. Richarz, Einführung, Leben, Bd. 2, S. 44 f. Greive, Hermann: On Jewish Self-Identification. Religion and Political Identification, in: LBIYB, Jg. 20, 1975, S. 41 f. geht davon aus, dass manche Juden Sympathien für das Zentrum hegten, da es mit den Katholiken eine religiöse Minderheit innerhalb des Deutschen Reichs vertrat, die ähnlichen Vorwürfen wie sie selbst ausgesetzt waren. 553 Vgl. Loth, Wilfried: Katholiken im Kaiserreich. Der politische Katholizismus in der Krise des wilhelminischen Deutschlands (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd. 75), Düsseldorf 1984, S. 117 – 130.

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und der Nationalliberale Schubert antraten, aber zunächst beide die notwendige Mehrheit verfehlten. Die spätere Stichwahl endete mit dem Sieg Schuberts. Die katholische Bevölkerung Illingens sah in den jüdischen Einwohnern, von denen sie annahm, sie hätten nationalliberal gestimmt, die Schuldigen für die Niederlage des von ihr favorisierten Zentrumskandidaten. Bereits nach der Hauptwahl waren die jüdischen Einwohner einer gegen sie gerichteten Agitation ausgesetzt, u. a. erhielten sie Drohbriefe, aber nach der Stichwahl nahmen die antijüdischen Manifestationen ein noch größeres Ausmaß an.554 Die Behauptung, dass die im Wahlkreis lebenden Juden nationalliberal gewählt hätten, wurde u. a. in einem Flugblatt verbreitet, welches dazu aufforderte, die „gebührende Antwort darauf“555 zu geben und nur noch in katholischen Geschäften zu kaufen. Die letztere Idee traf auf positiven Rückhall bei zahlreichen christlichen Dorfbewohnern, zu denen die jüdischen Händler bis dahin angeblich „das denkbar beste“ Verhältnis gehabt hatten, und fand auch in der Umgebung Anhänger: „Jüdische Metzger, die seit Jahren ihrer Kundschaft das Fleisch ins Haus trugen, finden die Türen verschlossen. Verkauft das Fleisch an Schubert so lauten die Zurufe. Die großen Geschäftshäuser hier im Platze, die besonders nach dem Kirchgang gedrängt voll waren, sind jetzt leer, kein Kunde kommt.“556 Neben dem Geschäftsboykott, der viele Juden in ihrer wirtschaftlichen Existenz bedrohte, kam es auch noch zum Singen von antijüdischen Spottliedern in den Wirtschaften und bei Fastnachtsveranstaltungen, zu denen der Ottweiler Landrat vorsichtshalber zehn Gendarmen beorderte, um etwaige Ausschreitungen zu verhindern. Der Illinger Dechant erklärte zwar öffentlich, dass die katholische Geistlichkeit die antijüdischen Kundgebungen missbillige, aber ein gewisses Maß an Verantwortung an der Stimmung trug diese wohl indirekt, da sie im Regierungsbezirk Trier heftig für das Zentrum geworben hatte. Die katholische „Germania“ zweifelte zwar an, dass die Lage in Illingen so zugespitzt sei, wie es die Berichterstattung anderer Zeitungen nahelege, aber sie verurteilte den Wirtschaftsboykott, u. a., weil in anderen ­Regionen katholische Geschäftsleute unter solchen Maßnahmen von protestantischer Seite gelitten hatten.557 Es ist möglich, dass christliche Konkurrenten der jüdischen Händler aus eigenem Interesse die Idee des Geschäftsboykotts befürworteten, ihre Umsetzung war allerdings nur möglich, weil die Parolen bei vielen Einwohnern auf fruchtbaren Boden fielen. 554 Vgl. Im deutschen Reich, Nr. 4, 1907, S. 260. Vgl. Der Gemeindebote. Beilage zur AZJ, Nr. 12, 1907, S. 2 f. Vgl. Marx, Geschichte, S. 155 f. Vgl. auch Kapitel 5.3.2. 555 LAS Dep. Illingen Nr. 860, S. 238. 556 Der Gemeindebote. Beilage zur AZJ, Nr. 12, 1907, S. 3. 557 Vgl. Marx, Geschichte, S. 155. Vgl. Im deutschen Reich, Nr. 4, 1907, S. 260. Vgl. Loth, S. 123.

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Im lothringischen Grosbliederstroff gestaltete sich die Lage in den Sechziger­ jahren anders als in dem preußischen Hunsrückort, denn dort konnten es sich jüdische Gemeinderatsmitglieder leisten, ihre Meinung auch gegenüber dem Bürger­ meister kundzutun, ohne einen Ausschluss befürchten zu müssen. Ein Teil der Dorfbewohner war Anfang der Sechzigerjahre bereit, für den Bau eines Kanals seine Grundstücke herzugeben, allerdings fiel die Entschädigung geringer aus als von ihnen erhofft. Daraufhin suchten sie die Konstruktion des Kanals zu verhindern und wandten sich an die Gemeinderatsmitglieder, die sie zum Protest gegen Bürgermeister Karst und zum demonstrativen Rücktritt von ihren Ämtern aufforderten. Die Mehrheit der Gemeinderäte, auch Isaac Moise Joseph, taten diesen Schritt im Juli 1862, da nicht nur die ehemaligen Grundstücksbesitzer, sondern die Mehrheit der Einwohner den Kanalarbeiten kritisch gegenüberstand – vor allem, weil im Gemeindewald ein Steinbruch für die Beschaffung von Bau­material ein­ gerichtet worden war, der den Allmendeanteil verringerte. Erst nachdem ein An­­ treiber des Protests Anfang 1863 wegen Verleumdung gegen Karst verurteilt wurde, zog wieder Ruhe im Ort ein, und ein Teil der Einwohner änderte seine Meinung in der Angelegenheit. Bei den im Mai abgehaltenen Ersatzwahlen, die wegen des Rücktritts der Gemeinderatsmitglieder nötig waren, zeigte sich, dass zwei jüdische Einwohner, u. a. Isaac Moise Joseph, sich nach Meinung der meisten Dorfbe­ wohner am angemessensten in dem Konflikt verhalten hatten, denn sie erhielten die meisten Stimmen.558 In dem seit 1852 stets mit jüdischen Mitgliedern versehenen Rat von Grosbliederstroff waren die christlich-jüdischen Beziehungen allem Anschein nach harmonisch. Als Napoleon Bonaparte Forbach besuchte, begab sich neben alten Militärangehörigen auch der gesamte Gemeinderat des Ortes – einschließlich Isaac Moise Josephs – zu dieser Feierlichkeit. Dessen Mitglieder kamen bei dem aus ihrem Dorf stammenden Gastwirt Fistié unter, wo sie zum Ärger des Bürger­ meisters die Gelegenheit nutzten, weit mehr als nur die von diesem empfohlene eine Flasche Wein pro Person zu verköstigen: „on a passé succesivement des vins fins au café, du café à l’eau de vie, puis au vin chaud, puis pour terminer au champagne.“559 Ob der Gemeinderat wirklich den Besuch des Kaisers feiern wollte oder diesen eher als Möglichkeit sah, sich eine angenehme Zeit zu machen, muss offen bleiben. Erwähnenswert im Zusammenhang mit der Herrscherverehrung ist die Tatsache, dass nach der Annexion die Einwohner des Grenzortes an der 558 Vgl. Sous-préfet de Sarreguemines au préfet de Metz, 4.7.1862, 28.7.1862, 6.9.1862, 10.1.1863, 1.4.1863, élection du conseil municipal de Grosbliederstroff, 31.5.1863, in: ADM 41M6. 559 Sous-préfet de Sarreguemines au préfet de Metz, 29.5.1862, in: ADM 41M6. Vgl. dazu élection du conseil municipal de Grosbliederstroff, 19.8.1860, in: ADM 41M6.

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Saar – einschließlich der Juden – den deutschen Kaiser spätestens zum Ende des Jahrhunderts als ihr Staatsoberhaupt akzeptierten. Der Geburtstag des Letzteren wurde seit dieser Zeit regelmäßig von allen Schulen des Dorfes gefeiert und die Kinder erhielten anlässlich der Veranstaltung sogenannte „Kaiserwecken“. Als 1914 der Krieg ausbrach, ließen sich die aus dem Ort stammenden jüdischen Soldaten zusammen mit dem jüdischen Militärseelsorger ablichten, in Militärbekleidung und mit Pickelhauben.560 In dem mitunter „Franzosennest“ genannten Boulay spielte sich anscheinend nie Vergleichbares ab. Hinsichtlich der christlich-jüdischen Beziehungen im Gemeinderat ist festzustellen, dass sich Anfang der Achtzigerjahre die Anhänglichkeit an Frankreich verbindend auswirkte. Um den Kindern in der konfessionell gemischten Schule Französischunterricht erteilen lassen zu können, entschloss sich der Rat 1880 – einschließlich des jüdischen Mitglieds Cerf – zur Ein­führung einer vierten Klasse und somit zur Einstellung eines vierten ­Lehrers, was eine höhere Belastung der Gemeindefinanzen bedeutete.561 Eine positive Rück­meldung vonseiten der höheren Verwaltung blieb aus, u. a., weil der Kreisdirektor Französischunterricht zwar als grundsätzlich sinnvoll, aber auch als politisch bedenklich einstufte: „Ob in der deutschen Sprache etwas geleistet wird, ist dem größten Theile des Gemeinderaths mindestens gleichgültig, wenn nur die französische Sprache gelehrt wird und ein Lothringer die Stelle erhält“.562 Nachdem einer der Lehrer im Mai 1881 seine Stelle in Boulay aufgegeben hatte, sah der Gemeinderat eine Neueinstellung als überflüssig an, da er immer noch keine Antwort auf sein Gesuch um die Erteilung von Französischstunden erhalten hatte. Die Schulkommission, der neben Bürgermeister Werner auch der katholische Pfarrer Schumacher und der jüdische Kultusbeamte Leopold Levy angehörten, entschied vor diesem Hintergrund einstimmig, dass die Schüler wieder in drei Klassen eingeteilt werden sollten.563 Dieses Vorgehen wurde zusammen mit der Ablehnung eines Ersatzlehrers von den (alt)deutschen Beamten des Kreises als Affront betrachtet, und letztlich entschloss sich der Gemeinderat auf Initiative des Bürgermeisters und aus Opposition gegenüber dem Kreisschulinspektor, geschlossen zurückzutreten: „Wir wollen keinen Preußen mehr (als Lehrer), wir wollen unsere Kinder nicht verpreußen und uns nicht von den Deutschen unter

560 Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 252. Vgl. ebd., die Fotografien im unpaginierten Anhang „Au fil de temps“. 561 Vgl. Conseil municipal de Boulay, 17.10.1880, 24.11.1880, in: ADM 9AL40. 562 Kreisdirektor von Boulay, an den Präsidenten von Lothringen 3.11.1880, in: ADM 9AL40. 563 Vgl. Conseil municipal de Boulay, 24.5.1881, 29.5.1881, Ortsschulkommission, 24.5.1881, in: ADM 9AL40.

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die Füße treten lassen.“564 Wie sehr der Schritt des Gemeinderats die deutschfreundliche Öffentlichkeit in Lothringen verärgerte, zeigte ein Artikel in der Metzer Zeitung, der sich über den Grund des Rücktritts echauffierte. In der folgenden Zeit nahmen die Gemeinderatsmitglieder ihre Demission allerdings wieder zurück, da sie erfuhren, dass Werner sie teilweise nur bruchstückhaft über die Meinung der höheren Verwaltung informiert hatte. Bei den folgenden Wahlen verlor Werner seinen Einfluss auf die Kommunalpolitik, denn anders als neun der bisherigen Gemeinderatsmitglieder (u. a. dem Juden Lion Cerf ) gelang es ihm nicht, erneut in den Rat einzuziehen, und zudem musste er sein Amt als Bürgermeister aufgeben.565 Dass die zumindest bis in die Neunzigerjahre vorherrschende ablehnende Haltung gegenüber dem Deutschen Reich auch auf regionaler Ebene für katholisch-­ jüdische Zusammenarbeit im politischen Bereich sorgte, zeigt der Wahlkampf von 1874. Edmond Goudchaux, ein Mitglied des Metzer Konsistoriums, unterstützte die Kandidatur des Metzer Bischofs für die „Protestler“ und rief seine Glaubensbrüder dazu auf, für diesen zu stimmen. Hinzu kam, dass sowohl im annektierten Lothringen gebliebene als auch ausgewanderte Juden die Protestler finanziell unterstützten.566 Erst die abnehmende Bedeutung der Protestler sowie die ­Dreyfus-Affäre führten zur Jahrhundertwende weitgehend zum Ende der profranzösischen katholisch-­jüdischen Zusammenarbeit in der Politik auf regionaler Ebene. 1912 verbündeten sich im Metzer Wahlkreis bei einer Stichwahl sogar die Liberalen mit den Sozial­demokraten und stimmten mit Georges Weil, welcher der letzteren Partei angehörte, für einen Juden und gegen den katholischen Kandidaten. Für die deutsch­sprachigen Gebiete Lothringens ist im Allgemeinen festzustellen, dass sich die Wähler spätestens seit der Jahrhundertwende stärker an konfessionellen Gesichtspunkten orientierten, was nicht zuletzt am wachsenden Einfluss des Zentrums lag. Dieser zeigte sich u. a. an der Saar, wo Franz Hoen aus Grosbliederstroff zum Ersten Vorsitzenden des Zentrumsvereins von Sarreguemines gewählt wurde.567

564 Kreisschulinspektor Montada an den Präsidenten von Lothringen, 24.6.1881, in: ADM 9AL40. 565 Vgl. Metzer Zeitung, Nr. 137, 1881, Bericht vom 15.6. aus Boulay. Vgl. Kreisdirektor von Boulay an den Präsidenten von Lothringen 15.11.1881, in: ADM 9AL40. Vgl. Conseil municipal de Boulay, 17.10.1880, in: ADM 9AL40. Vgl. Conseil municipal de Boulay, 15.8.1886, in: ED100 1M3. Vgl. Bajetti, histoire, S. 17. 566 Der Jude Louis Morhange verdankte seine Wahl in den Metzer Stadtrat im Jahr 1880 zum großen Teil christlichen Wählern, die den Protestlern angehörten. Vgl. Hiery, Reichstagswahlen, S. 50 f., 146. Vgl. Caron, mémoire, S. 23. 567 Vgl. Caron, Germany, S. 118 – 135. Vgl. Hiery, Reichstagswahlen, S. 341 – 359, 380 – 388. Vgl. Stadtler, Eduard: Jugendschicksale 1886 – 1914, Düsseldorf 1936, S. 81. Dass bis 1890

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In Lothringen kam es allerdings nicht zu ähnlichen Auftritten gegen die jüdische Bevölkerung wie in Illingen 1907 und zudem blieben auch antisemitische Kan­ didaten weitgehend erfolglos, insbesondere in Dörfern mit jüdischer Bevölkerung.568 Über national bedeutende Geschehnisse waren die Landbewohner der betrachteten Regionen über verschiedene Kanäle (Bekanntmachungen, Zeitungen, Kontakte zu Verwandten u. Ä.) zumeist informiert. Rückhall in Form von bestimmten Aktionen fanden solche Ereignisse vor Ort allerdings nur, wenn die Dorfbevölkerung sie nicht nur wahrnahm, sondern auch ein gewisses persönliches Interesse hatte, also einen Bezug zum eigenen Leben herstellen konnte.569 Ein herausragendes Beispiel dafür stellen die Revolutionen von 1848/49 dar, die in vielen europäischen Regionen mit Ausschreitungen gegenüber jüdischen Einwohnern einhergingen.570 Nach dem Bekanntwerden der Pariser Februarrevolution nutzten im Elsass viele christliche Landbewohner das entstandene Machtvakuum zu Gewalttätigkeiten gegen die jüdische Minderheit. In Lothringen kam es in Metz und einigen Dörfern zu antijüdischen Aktionen, allerdings waren nur äußerst wenige Ortschaften betroffen und die Auseinandersetzungen fielen weniger intensiv als in der Nachbarregion aus, wo sogar Todesopfer zu beklagen waren. Auffällig ist, dass sich die gegen Juden gerichteten Aktionen in Lothringen fast völlig auf Dörfer in der Nähe zum Elsass beschränkten.571 Es ist anzumerken, dass es während der Revolution nicht nur zu Auftritten gegen Juden kam, sondern in manchen ­Städten und Dörfern christliche und jüdische Einwohner gemeinsam die poli­ tischen Veränderungen begrüßten.572 In Grosbliederstroff führten allerdings nicht

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alteingesessene katholische und evangelische Landbewohner häufig unabhängig von der eigenen Konfession für Protestler stimmten, hat Dietrich für das Elsass gezeigt. Vgl. ­Dietrich, Konfession, S. 371 – 373. Im Elsass richtete sich die Stimmung im Umfeld von Reichstagswahlen teilweise sowohl gegen die jüdische als auch die evangelische Minderheit. Vgl. Hiery, Reichstagswahlen, S. 301 f., 328. Vgl. Dörner, S. 262 – 276. Zur geografischen Verbreitung vgl. Rohrbacher, Gewalt, S. 181 – 228. Vgl. zur Bedeutung im jüdischen Kontext Rürup, Revolutions, S. 16 – 53. Vgl. Roos, juifs, S. 153 f., 187 – 227. Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 131 f. Vgl. Gerson, S. 229 – 297. Vgl. Rohrbacher, Gewalt, S. 186. Vgl. Szajkowski, Zosa: Anti-Jewish riots during the Revolution of 1789, 1830, 1848, in: Zion, Nr. 20, 1955, S. 83 – 100. Bei der Schwere der Ausschreitungen ist ein Nord-Süd-Gefälle festzustellen: Im Haut-Rhin waren sie intensiver als in dem an Lothringen grenzenden Bas-Rhin. Vgl. Gerson, S. 245. So nahm z. B. in Pont-à-Mousson der jüdische Lehrer an der Einweihung des Freiheitsbaumes teil. Vgl. Roos, juifs, S. 102 f. Vgl. Florange, J./Loevenbruck, P.: Notre cher Pontà-Mousson, Metz 1956, S. 114.

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näher spezifizierte „dissentiments survenus entre la population catholique et la population juive“ zu einer Schlägerei zwischen jüdischen und christlichen Einwohnern. Nicht nur Männer waren an der Auseinandersetzung beteiligt, sondern zumindest auch eine Frau: Nachdem die Handgreiflichkeit ihr Ende gefunden hatte, fuhr die Frau des katholischen Fuhrmanns Lang fort, die jüdischen Einwohner zu beleidigen und zu beschimpfen.573 Es ist möglich, dass die angespannte Stimmung teilweise durch die schwierige ökonomische Lage hervorgerufen wurde, in der sich ein Teil der christlichen Bevölkerung Lothringens wegen der schlechten Ernten der Jahre 1845 und 1846 befand und die wohl mit stärkerer Verschuldung bei den jüdischen Handelsleuten einherging. Zumindest für Lixheim, dem einzigen Ort in Lothringen, in dem 1848 eine Synagoge verwüstet wurde, lässt sich dieser Zusammenhang nachweisen. Bei den Angreifern handelte es sich um Bewohner umgebender Dörfer, die sich als Opfer jüdischer „Wucherer“ betrachteten, weswegen sie u. a. die Fenster der Behausungen jüdischer Einwohner einschlugen. Hervorzuheben ist, dass ein Teil der christlichen Dorfbewohner dieses Vorgehen nicht nur ablehnte, sondern auch zugunsten der jüdischen Nachbarn eingriff: zum einen der Pfarrer, der die Menge aufforderte, sich wieder zu ent­ fernen; zum anderen zwei christliche Einwohner, welche mit Gewehren bewaffnet die Angreifer zum Rückzug bewegten.574 Dass materielle Beweggründe nicht die einzige Ursache für Ausschreitungen darstellten, zeigt sich daran, dass es in Lothringen anders als im Elsass nur in wenigen Orten zu antijüdischen Ausschreitungen kam, obwohl die allgemeine wirtschaftliche Lage sowie die ökonomischen Beziehungen zwischen Christen und Juden auf dem Land vergleichbar waren. In Boulay kam es zwar zur Aufstellung eines Freiheitsbaums, aber die dortige jüdische Minderheit war von antijüdischen Aktionen genauso wenig betroffen wie diejenige im luxemburgischen Ettelbrück, wo im März 1848 die ersten revolutionären Unruhen im Großherzogtum aus­brachen. Dies ist insofern erwähnenswert, als Ettelbrück zu diesem Zeitpunkt den wichtigsten Getreidemarkt des Landes veranstaltete und die Spekulationen der Handelsleute, unter denen sich wohl auch Juden befanden (z. B. war der Ettelbrücker Gaspard Israel Mehlhändler), die Getreidepreise steigen ließen. Der Protest wandte sich aber nicht gegen die Händler, sondern gegen die hohen Steuern und die Anordnung der Regierung, alle Stroh- durch Schieferdächer zu ersetzen, was viele Hausbesitzer

573 Vgl. demande de grace émanant de la cour d’appel de Metz, juin 1848, in: ANF BB24 327 – 347 S3 – 7168. 574 Vgl. demande de grace en faveur de Joseph Hoffmann, 1848, in: ANF BB24 361 – 368 S3 – 8983. Vgl. La presse, 2.4.1848, S. 3. Vgl. Roos, juifs, S. 187 – 189. Vgl. für das Elsass Gerson, S.  229 – 232, 260 – 262.

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finanziell überforderte. Dementsprechend bildeten nicht Handelsleute das Ziel des örtlichen Protests, sondern das Haus des Steuereinnehmers.575 Gegen die These von ausschließlich durch ökonomische Notsituationen hervorgerufene Ausschreitungen spricht auch der Umstand, dass in mehreren deutschen Regionen die Agrarunruhen nicht unbedingt mit Exzessen gegen an­­ wesende jüdische Minderheiten einhergingen.576 Im Kreis Trier kam es vielfach zu kollektiven Holzfällaktionen, zur Aneignung des seit 1815 durch die preußischen Behörden kontrollierten Gemeindewaldes durch Dorfbewohner, aber die jüdischen Einwohner stellten eher selten ein Ziel von Protest dar. Zwar veröffentlichte Oberrabbiner Kahn Anfang April eine Erklärung, in der er Verfolgungen von Juden in der Region beklagte, und der katholische Bischof Arnoldi unterstützte ihn, indem er sich in einem Hirtenbrief gegen solche Exzesse wandte, aber die beiden nahmen damit wohl nur auf Vorfälle in zwei Dörfern – Merzig und Osann – Bezug. Dass die in der Region lebenden Juden sich im All­ gemeinen nicht bedroht fühlten, zeigen Aussagen von Vertretern der jüdischen Gemeinden von Wittlich, Saarlouis und Trier, die angaben, dass es gar keine Verfolgungen gegeben hätte. Einer der beiden Fälle, auf die Kahn und Arnoldi sich wohl bezogen, spielte sich in Merzig ab, wo zwei jüdische Handelsleute eine Plünderung ihres Eigentums fürchteten.577 Die Ursache für die Befürchtung war die Androhung mehrerer betrunkener Schiffsknechte, die „Juden zu vertreiben“, wozu es allerdings u. a. deswegen nicht kam, weil die Unruhestifter „vom Gemeinderat, im Angesicht einer großen Versammlung’ verprügelt und nach Hause geschickt“578 wurden.

575 Vgl. Bajetti, histoire, S. 102. Vgl. Hacker, Peter: Die Anfänge eines eigenen National­ bewusstseins? Eine politische Geschichte Luxemburgs von 1815 bis 1865, Trier 2005, S. 211 – 261. Vgl. Flies, S. 1380 – 1406. Vgl. Recensement de la population d’Ettelbruck, 1851, 1864 in: ANL RPop 221 f. und 505 f. Vgl. zur Bedeutung konkreter Konflikte zwischen christlichen Schuldnern und jüdischen Gläubigern als Auslöser für die revolu­tionären Ausschreitungen Rohrbacher, Gewalt, S. 240 – 243. 576 Vgl. Rohrbacher, Gewalt, S. 225 f. 577 In Saarburg äußerte sich zwar vereinzelt Kritik an der Zinspraxis der jüdischen Einwohner, aber die eigentliche Zielscheibe des Protests war der christliche Kreisphysicus, der ebenfalls Geld verlieh und trotz seines guten Verdienstes niemanden unentgeltlich behandelte. Vgl. Luz-Y-Graf, Guillermo: 1848/49 in Trier und Umgebung. Revolution und Revolutionskultur einer Stadt und ihres Umlandes, in: Elisabeth Dühr (Hg.): „Der schlimmste Punkt in der Provinz“. Demokratische Revolution 1848/49 in Trier und Umgebung, Trier 1998, S. 284 – 295, 359. Vgl. Schmitt, Revolution, S. 294 f. Vgl. Lindner, Erik: Deutsche Juden in der Revolution von 1848/49, in: Dühr, S. 625. 578 Schmitt, Revolution, S. 294.

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Eine Erklärung für die antijüdischen Übergriffe im Elsass lautet, dass neben ökonomischen Schuldzuweisungen der Wunsch der christlichen Bevölkerung eine Rolle spielte, „mittels Demütigung und Vertreibung eine kurzfristige Aufhebung der Gleichstellung durchzusetzen“.579 Diese u. a. von Daniel Gerson und Stefan Rohrbacher (auch für den südwestdeutschen Kontext) vertretene These wird damit begründet, dass in manchen betroffenen Orten den Juden ihr selbstbewusstes Auftreten in Gemeinde­ angelegenheiten vorgeworfen wurde.580 Daher lässt sich argumentieren, dass in Lothringen, wo jüdische Einwohner schon vor der Revolution von 1848 mehrfach mithilfe christlicher Stimmen in Gemeinderäte gelangt waren, die Anerkennung der Emanzipation schon weiter gediehen war als in den südlichen Nachbardépartements. Für Luxemburg bietet die These insofern eine Erklärung, als sich dort zur Revolutionszeit kaum Angehörige der ohnehin kleinen jüdischen Minderheit an der Politik beteiligten, sie daher also kein Ziel darstellten. Für den Fall von Grosbliederstroff besitzt die These allerdings keinen Erklärungswert, da dort noch kein jüdischer Einwohner an der Gemeindevertretung beteiligt war. Dass nur ein Teil der dortigen christlichen Dorfbevölkerung die im Frühjahr 1848 stattfindende christlich-jüdische Auseinandersetzung für angebracht hielt, zeigen nicht zuletzt die bei den Gemeinderatswahlen im Juli abgegebenen Stimmen für jüdische Kandidaten. In Illingen, wo während der Revolutionszeit keine Juden im Gemeinderat vertreten waren, kam es genauso wenig zu Ausschreitungen wie in Gemünden, wo dies der Fall war. Trotzdem besitzt die These vom Protest gegen die fortschreitende jüdische Emanzipation während der Revolution auch für die Rheinprovinz, wo es nur zu wenigen gegen die jüdische Minderheit gerichteten Aktionen kam, und andere von dem Phänomen wesentlich stärker betroffene west- bzw. südwestdeutsche Regionen eine gewisse Plausibilität. Im rheinischen Nettesheim sah z. B. ein Teil der christlichen Einwohnerschaft es offenbar als „Frechheit“ an, dass ein jüdischer Viehhändler sich in den Gemeinderat hatte wählen lassen. Anfang April wurden daher Fenster und Läden an seinem Haus durch Steinwürfe beschädigt.581 Dass sich die Frage der Emanzipation mit ökonomischen Beweggründen verschränken konnte, zeigen die Geschehnisse im Moseldorf Osann, wo die Juden mit „Demolirung der Häuser bedroht [wurden], bis sie auf das bisher genossene Bürgerrecht verzichteten“.582 Bei dem Vorfall ging es nicht nur um die Ausübung der politischen Rechte, sondern auch um die Teilhabe am Gemeindegut, das der armen Bevölkerung 579 Gerson, S. 304 f. 580 Vgl. ebd. Vgl. Rohrbacher, Gewalt, S. 243. 581 Betroffen waren allerdings auch andere jüdische Dorfbewohner, von denen „Geldgeschenke“ erpresst wurden. Vgl. Rohrbacher, Gewalt, S. 218 – 228. Vgl. Reuter, Gemeinden, S. 67. 582 Trierer Zeitung, Nr. 92, 1.4.1848, zitiert in: Herres, Jürgen: Einleitung, in: Dühr, S. 29. Vgl. auch Luz-Y-Graf, S. 295, 359.

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in Notsituationen häufig erst die Existenzsicherung ermöglichte. Die Steinwürfe auf die Fenster wiederholten sich, als die jüdischen Einwohner ihre Rechte wieder geltend machen wollten.583 Dass sich die gegen jüdische Einwohner gerichteten Aktionen in den west- und südwestdeutschen Regionen wie im benachbarten Ostfrankreich im Wesentlichen im kleinstädtischen und ländlichen Milieu abspielten, lässt darauf schließen, dass die Gleichstellung von Juden und Christen zur Jahrhundertmitte in den größeren Städten eher akzeptiert wurde.584 Die nur wenigen antijüdischen Aktionen in den hier im Mittelpunkt stehenden Regionen lassen allerdings die Vermutung zu, dass die jeweilige rechtliche Lage der jüdischen Minderheit auch auf dem Land weitgehend akzeptiert bzw. Widerstand gegen diese auf andere Art artikuliert wurde.585

5.5 Die Behandlung der jüdischen Gemeinden bzw. „der Juden“ als Kollektiv im Rahmen der Zivilgemeinden 5.5.1 Die Allmende

Unter der Allmende wurde in den betrachteten Gebieten sowohl das von den Kommunen besessene Land als auch das Recht der Einwohner, dieses für ihre Zwecke zu benutzen (z. B. als Weideland), verstanden. Das Feldweiderecht („vaine pâture“), die Möglichkeit auf abgeernteten Feldern von Privatleuten Vieh weiden zu lassen, gehörte streng genommen zwar nicht zur Allmende, aber da die Dorfbewohner es praktisch als solches wahrnahmen, soll es hier berücksichtigt werden. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts kam es zwar sowohl in Teilen Frankreichs als auch in vielen deutschen Regionen zur Aufhebung der Allmende, d. h., das Gemeindeland wurde unter den Einwohnern aufgeteilt bzw. verkauft, aber in kleinbäuerlichen G ­ ebieten – wie den hier betrachteten Regionen – blieb sie zumindest teilweise erhalten.586

583 Vgl. Luz-Y-Graf, S. 295. 584 Vgl. Rohrbacher, Gewalt, S. 223. Vgl. Weber, Eugen: Peasants into Frenchmen. The Modernization of Rural France 1870 – 1914, Stanford 1976, S. 39 f. 585 Vgl. Lindner, Juden, S. 625. 586 Vgl. Prass, Reiner: Allmendeflächen und Gemeinheitsnutzung. Neue Perspektiven zu einem lange unterschätzten Thema, in: ders. (Hg.): Ländliche Gesellschaften in Deutschland und Frankreich 18.-19. Jahrhundert, Göttingen 2003, S. 206 – 211. Vgl. Vivier, Nadine: Die wirtschaftliche und soziale Bedeutung der Gemeinheiten in Frankreich, in: Prass, Gesellschaften, S. 225 – 238. Vgl. Peltre, Jean: Bans et villages. Une longue histoire, un avenir en question, in: Lanher, S. 151 – 156.

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Streitigkeiten um die Beteiligung jüdischer Einwohner am Gemeinnutzen waren im 19. Jahrhundert in den deutschen Regionen keine Seltenheit, sondern kamen recht häufig vor, u. a. im Vormärz in Württemberg und Baden. Im Hunsrück war das Recht auf die Nutzung der Allmende wie in anderen Teilen der Rheinprovinz in erster Linie abhängig von der Anerkennung als Bürger, sodass auch den jüdischen Einwohnern ein Anrecht darauf zustand.587 Zur Situation in Gemünden ist zu bemerken, dass die jüdischen Einwohner bereits in den Zeiten der Schutz­herrschaft im 18. Jahrhundert versucht hatten, sich einen Anteil an der Allmende zu erstreiten.588 Dieser Kampf wurde im 19. Jahrhundert unter geänderten gesetzlichen Vorzeichen fortgeführt. Im Jahr 1833 lehnten die evangelische und die katholische Gemeinde einen Antrag auf Unterstützung der jüdischen Schule ab, weil die Gemeindekasse zum großen Teil aus Erträgen der Allmende – „hauptsächlich von verpachteten Gemeindefeldern, versteigtem Holze und dergleichen“589 – bestand, an denen die Juden ihrer Meinung nach keinen Anteil hatten. Diese Einschätzung stand allerdings in einem gewissen Widerspruch zur Realität, denn die jüdischen Einwohner erhielten zu dieser Zeit wie die christlichen Bürger – gegen eine vom Bürgermeister und dem Schöffenrat festzulegende Abgabe – Brennholz aus dem Gemeindewald. Die Vergabe des Holzes an jüdische Bürger sahen die Vertreter der christlichen Gemeinden und Bürgermeister Dicht nicht als Begründung für ein generelles Anrecht der Juden auf Beteiligung an der Allmende an: Der Brennholzanteil sei den jüdischen Einwohnern nur gutwillig gestattet worden, ohne dass sie daraus ein Recht ableiten könnten. Zudem wurde bemäkelt, dass das Brennholz, welches die Juden erhielten, immer mehr Wert habe als die dafür zu bezahlende Taxe.590 In dem genannten Zusammenhang ist zu erwähnen, dass die jüdischen Einwohner wie die christlichen Einwohner Land für die sogenannten Gemeinheiten zur Verfügung stellten: Als Gemeinheit galt neben dem Recht auf Nutzung des Gemeindelandes auch das Recht, „an der turnusgemäßen Nutzung des Privat­ landes der Bauern“591 teilzunehmen. Zum Letzteren gehörte das Weiderecht auf der Brachflur oder auf abgeernteten Heuwiesen. In Gemünden wurden die Äcker der jüdischen Grundstücksbesitzer „eben so gut von den Hammeln benutzt […],

587 Vgl. Rohrbacher, Gewalt, S. 256 – 266. Vgl. Müller, Lothar: Die Landwirtschaft auf dem Hunsrück unter besonderer Berücksichtigung des Kreises Simmern, Bonn 1906, S. 114. 588 Vgl. Beschwerde der Bürgerschaft zu Gemünden, 1739, in: LHAK Best. 53 C 16 Nr. 458. 589 LHAK Best. 441 Nr. 9811, S. 92. 590 Vgl. LHAK Best. 441 Nr. 9811, S. 91 f. Vgl. Zissel, Ines: Öffentliche Armenversorgung in den Landgemeinden des Hunsrücks 1814 – 1870 am Beispiel der Gemeinde Gemünden, unveröff. Staatsexamensarbeit, Trier 1997, S. 34 f. 591 Müller, S. 110.

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als die Güter der christlichen Einwohner“.592 Die Juden hatten also nicht nur Nutzen, sondern auch Pflichten hinsichtlich der Allmende: Sie gaben Feld für die Viehund Schafweide her. Es bestand ein offener Widerspruch zwischen der Auffassung der christlichen Gemeindevertreter, dass die jüdischen Einwohner generell keinen Anteil an der Allmende hätten, und der Beteiligung der jüdischen Ortsbewohner in der Realität. Als es 1838 wegen der geringen Einkommen der jüdischen Gemeindemitglieder Probleme bei der Finanzierung der jüdischen Schule gab, versuchte der jüdische Vorsteher Ochs, Brennholz für die jüdische Schule aus der Allmende zu erhalten. Unterstützung erhielt er von Bürgermeister Kaiser, der darauf aufmerksam machte, dass die beiden christlichen Schulen ihr Brennholz kostenlos aus dem Gemeindewald erhielten. Der Schöffenrat lehnte das Gesuch jedoch ab, da solches der jüdischen Gemeinde noch nie bewilligt worden sei.593 Ochs erinnerte daraufhin daran, dass die Hammelweide versteigert worden sei und dieser Betrag zur Bezahlung der Gehälter der christlichen Lehrer verwandt werde. Er sah es als ungerecht an, dass die christlichen Einwohner kein Schulgeld bezahlen mussten, da ihre Lehrer durch die Gemeindeallmende finanziert wurden, während die Juden „keinen Pfennig Nutzen davon“594 haben sollten. Der neue Bürgermeister Reusch kritisierte den Schöffenrat zwar ebenfalls, aber er unternahm keine Versuche, ihn umzustimmen. Die Angelegenheit wurde erst 1840 im Rahmen einer Ausein­andersetzung um Zuschüsse aus der Gemeindekasse für die jüdische Schule geklärt, an deren Ende die Gemeinde u. a. zur Verabreichung von einem Klafter Holz aus dem Gemeinde­ wald verpflichtet wurde.595 So wie die jüdische Bevölkerung von Gemünden hatte sich auch ein Teil der jüdischen Minderheit von Illingen bereits während des Ancien Régime darum bemüht, Anteil an der Allmende – speziell dem Weiderecht – zu erhalten. Zeitweise gelang dies Einzelnen von ihnen auch, allerdings sprachen sich die christ­ lichen Gemeindevertreter in den Achtzigerjahren des 18. Jahrhunderts gegen diese Praxis aus, u. a., weil die Juden anders als die christlichen Einwohner keine Frondienste leisteten und es auch nicht allen Christen erlaubt war, ihr Vieh auf die „Nachtweide“ zu treiben. Als repräsentativ für die Zeit des Ancien Régime können weder die Praxis in Illingen noch diejenige in Gemünden gesehen werden, da die Behandlung der Juden je nach Herrschaft stark differierte.596 Allgemein ist hinsichtlich der Saarregion zu bemerken, dass die dortigen Kommunen auf Druck 592 593 594 595 596

LHAK Best. 441 Nr. 9811, S. 163. Vgl. auch ebd., S. 157 f. Vgl. ebd., S. 151 f., 159. Ebd., S. 164. Vgl. ebd. Vgl. dazu Kapitel 5.5.3. Vgl. Kirsch, Juden, S. 105 – 120.

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der oberen preußischen Behörden hin im Verlauf des 19. Jahrhunderts häufig ihr Gemeindeland und sogar das Weiderecht aufgeben mussten. Nicht selten blieben Rechte am Gemeindewald als einzige „Gemeinheit“ übrig.597 In Illingen gestaltete sich der Umgang mit den jüdischen Einwohnern bezüglich der Nutzung der Allmende im 19. Jahrhundert widersprüchlich. Konflikte zwischen der jüdischen und christlichen Bevölkerung über die Benutzung der gemein­samen Weide gab es anscheinend nicht, dafür aber über die Frage des Genusses des Gemeinde­waldes.598 Als die jüdischen Einwohner 1838 Holz aus dem Gemeindewald für die Einrichtung eines neuen Schulhauses verlangten, entschied die Trierer Regierung, dass da „dieselben bisher aus den Gemeinde Waldungen nichts bezogen haben, […] ihnen auch kein Holz zum Bau eines Schulhauses für ihre Kinder aus diesen Waldungen verabreicht werden“599 könne. Laut einer Aussage von Landrat Linz im Jahr 1843 konnte von einem generellen Ausschluss der Juden vom Gemeinde­nutzen allerdings keine Rede sein. Er betonte, dass „an dem Gemeindewald alle Bürger ohne Unterschied der Confehsion gleichmäßig Antheil haben“.600 Daher glaubte er, dass der Anspruch der jüdischen Einwohner gerechtfertigt sei, zumal die Neuerrichtung der christlichen Schule u. a. aus Revenuen des Gemeindewaldes finanziert worden war. Bürgermeister Fourmann bestätigte zwar, dass die Juden an den Gemeindewaldungen Anteil hätten, aber die Verabreichung von Holz lehnte er dennoch ab: Die Einnahmen aus dem Verkauf des Gemeindeholzes flössen in die Gemeindekasse, von deren Nutzen keine Konfession ausgeschlossen sei. Wenn die Zivilgemeinde den jüdischen Einwohnern nun direkt Holz aus dem Gemeindewald zugestehe, so stellte dies eine Übervorteilung der christlichen Einwohner dar. Indirekt versagte Fourmann den jüdischen Einwohnern allerdings ihren Anteil an der Allmende, indem er einen Zuschuss aus der Gemeindekasse zur jüdischen Schule verweigerte. Zwar bekam die jüdische Schule in den folgenden Jahren kein Brennholz aus dem Gemeindewald, aber der Landrat sorgte immerhin dafür, dass sie einen Heizkostenzuschuss erhielt, weil ein Großteil der Ausgaben für die christlichen Schulen aus dem Erlös der Gemeindewaldungen bestritten wurde, die nach seiner Meinung auch den Juden gehörten. Die jüdischen Einwohner empfanden das Verhalten der Zivilgemeinde allerdings weiterhin als ungerecht: 1856 kritisierten sie, dass die Einkünfte aus den Waldungen ausschließlich der katholischen Schule zugutekämen, und forderten rück­ wirkend Ersatz für die Ausgaben, die sie anders als die christlichen Einwohner für 597 Vgl. Kartels, S. 209 f. Vgl. Schmitt, Agrargemeinde, S. 256. 598 Vgl. zum Gemeindebesitz LAS Dep. Illingen Nr. 104, S. 22 f., 54, 193. Vgl. Las Dep. ­Illingen Nr. 108, S. 94 f. 599 LAS Dep. Illingen Nr. 1546, S. 28. 600 Ebd., S. 30.

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ihre Schule hatten machen müssen. Die Regierung lehnte dieses Ansinnen jedoch als unbegründet ab.601 Wie schwierig sich die Einforderung der Gleichbehandlung mit den christ­lichen Einwohnern in der Frage der Allmende gestaltete, zeigte sich 1856 erneut in Gemünden. Die jüdische Gemeinde bat darum, dass die jüdische Schule mit den christlichen Lehreinrichtungen hinsichtlich des von der Zivilgemeinde bereit­gestellten Brennholzes gleichgestellt werde. Neben der finanziell prekären Lage spielte auch der Wunsch nach Gleichberechtigung eine wichtige Rolle: „Die Schulen der beiden christlichen Konfessionen bekommen aber aus den Gemeindewaldungen ihren ganzen Bedarf Brennholz, welches für jede 4 bis 5 Klafter jährlich ausmacht, während die jüdische Schule nur ein Klafter bekommt und 1 ½ kaufen muß. Gleiche Verpflichtungen in ein und derselben Gemeinde sollten auch zu gleichen Berechtigungen Anspruch zulassen.“602 Mit Hinweis darauf, dass die jüdischen Bürger die gleichen Kommunallasten trügen wie ihre christlichen Mitbürger, verlangte die jüdische Gemeinde, genügend Holz zur Deckung des Brennholzbedarfs der Schule zu erhalten. Da sich der Anspruch auf Ortsebene nicht durchsetzen ließ, wandte sich die jüdische Gemeinde mit dem Gesuch an die Regierung, die es jedoch aus formalen Gründen ablehnte.603 Zusammenfassend lässt sich über die Lage in den beiden preußischen Unter­ suchungsorten sagen, dass die Juden als Einzelpersonen hinsichtlich der Allmende ähnlich wie die christlichen Einwohner behandelt wurden.604 Nicht alle Christen sahen dies allerdings mit Wohlwollen, und im Fall von Gemünden wurde die Teilhabe der jüdischen Einwohner explizit als besondere Großzügigkeit eingestuft. Problematisch wurde es in beiden Dörfern, wenn die jüdischen Gemeinden als Kollektiv Anteil an der Allmende forderten: In diesen Fällen wurde den Juden als Gruppe ein Platz außerhalb der Realgemeinde zugewiesen. Als Argumente dienten Verweise auf die bisherigen Zustände, nach denen die jüdischen Einwohner kein Anrecht auf die Allmende geltend machen könnten. Insofern wurde Modernisierungstendenzen vor dem Hintergrund der Emanzipation der Juden mit dem Verweis auf altes Recht ablehnend entgegengetreten. Im Fall von Gemünden wäre es möglich, dass die Existenzangst christlicher Einwohner ein Motiv für diese Haltung darstellte: Die Weiderechte erlaubten ärmeren Handwerkern und Bauern häufig erst den Besitz einer Kuh oder einer Ziege, da sie dadurch kein Futter für 601 Vgl. ebd., S. 31 – 36, 47, 57 – 67. 602 LHAK Best. 441 Nr. 9811, S. 400. 603 Die Regierung teilte der jüdischen Gemeinschaft mit, dass vor einer Behandlung der Angelegenheit eine Synagogengemeinde nach dem Gesetz von 1847 gegründet werden müsse. Vgl. ebd., S. 403. 604 Dies gilt auch für andere Orte der Region, z. B. Laufersweiler. Vgl. Wiehn, S. 19.

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diese Tiere besorgen mussten. In guten Zeiten war die christliche Seite bereit, den jüdischen Einwohnern einen Anteil an der Allmende zu gönnen, aber im Hinblick auf schlechtere wirtschaftliche Zeiten wollte man eine grundsätzliche Anerkennung der Beiteiligungsrechte der Juden verhindern, um diese zugunsten der christlichen Einwohner ausschließen zu können.605 Auch in Illingen spielten finanzielle Überlegungen der christlichen Einwohner eine Rolle bei der Entscheidung, die Einnahmen aus dem Gemeindewald nur zum eigenen Nutzen zu gebrauchen. Hinzu kam wohl noch, dass die Gleichberechtigung der Juden bis in die zweite Jahrhunderthälfte hinein als unnatürlich empfunden wurde. Der dauernde Verweis auf frühere Zustände weist in diese Richtung.606 Im Gegensatz zur Rheinprovinz war die Beteiligung der jüdischen Einwohner an der Allmende in Lothringen in der Regel kein besonders umstrittenes ­Thema.607 Dies lag u. a. daran, dass die jüdischen Gemeinschaften sich bei Diskussionen um die Unterstützung der Zivilgemeinden zugunsten jüdischer Institutionen zumeist nicht explizit auf die Nutzung der Allmende bezogen. Wenn dies doch einmal der Fall war, konnte es durchaus zu Auseinandersetzungen kommen, so z. B. in Tragny. In diesem Dorf baten 1854 die jüdischen Einwohner, die etwa ein Drittel der Bevölkerung stellten, um einen Holzschlag im Gemeindewald, um mit d ­ essen Erlös Reparaturen an der Synagoge durchzuführen. Der christlich dominierte Gemeinderat verweigerte dies u. a. mit dem Verweis, dass der Tempel kein öffentliches Gebäude sei. Über die Entscheidung waren die jüdische und ein Teil der christlichen Einwohnerschaft so irritiert, dass der Bürgermeister offenen Widerstand befürchtete.608 Auch der Präfekt kritisierte den Entschluss des Rates: „Il serait […] contraire à l’équité de faire concourir une notable fraction des ­habitants aux dépenses communales, sans les admettre à la jouissance des avantages de la communauté.“609 Anders als die jüdischen Einwohner der Rheinprovinz, die nie einen Zweifel an der Bereitschaft, ihren (steuerlichen) Verpflichtungen gegenüber den Zivilgemeinden nachzukommen, aufkommen ließen, drohten diejenigen von Tragny, ihre Kommunalabgaben nicht mehr zu entrichten, falls es bei der Entscheidung bleiben sollte. Auch der Präfekt übte Druck aus, indem er seine Drohung, die Zustimmung zum Projekt der Restaurierung der katholischen Kappelle

605 Vgl. Zissel, Begriff, S. 37. Vgl. Erb/Bergmann, S. 254 – 256. 606 Vgl. dazu Rohrbacher, Gewalt, S. 293 f. 607 Im Elsass war das Bild gemischt. In einigen Dörfern gab es zwar Widerstände, aber in vielen anderen Dörfern eben nicht. Vgl. Roos, relations entre les juifs, S. 172 f. 608 Vgl. maire de Tragny au préfet de Metz, 31.12.1854, préfet de Metz au maire de Tragny, 29.1.1855, in: ADM V156. 609 Préfet de Metz au maire de Tragny, 29.1.1855, in: ADM V156.

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abzulehnen, in die Tat umsetzte.610 Er wollte nicht dulden, dass die Gemeinde­ vertreter „s’éloignent du principe de reprocité […] qui doit être suivi, relativement à l’emploi des ressources communales, dans les localités où la population appartient à différents cultes“.611 Nach einem Jahr lenkte der Gemeinderat ein und trug etwa 60 % der Kosten für die Reparatur der Synagoge.612 In Grosbliederstroff kam es anscheinend nie zu Diskussionen über die Beteiligung der jüdischen Bevölkerung an der Allmende bzw. dem Gemeindegut. Der Umgang mit dem Gemeindewald gestaltete sich ähnlich wie in Gemünden: Jedes Jahr wurde Holz an die Bürger des Dorfes abgeben, wobei sie stets etwas weniger für das Erhaltene bezahlten, als es der Marktpreis erfordert hätte. Das Gemeinde­ land wurde ebenfalls unter Wert an Dorfbewohner verpachtet. Darüber hinaus profitierten die Einwohner des Grenzortes davon, dass die Zivilgemeinde 140 Hektar Wiesen an die Bürger verteilte. Ein derartiger oder ähnlicher Umgang mit dem Gemeindegut war bis in die zweite Jahrhunderthälfte hinein gängige Praxis in Lothringen und stellte einen wichtigen Beitrag zum Lebensunterhalt der Landbewohner, insbesondere der ärmeren, dar. Dies gilt auch für die Einwohner von Grosbliederstroff, deren Einkommen der Kreisdirektor zu Beginn des 20. Jahrhunderts als mittelmäßig einstufte. Eine unterschiedliche Behandlung der katholischen und der jüdischen Bevölkerung war im Hinblick auf das Gemeindeeigentum nicht festzustellen.613 Ähnlich wie für Grosbliederstroff stellten auch für viele andere Gemeinden in Lothringen, im Elsass und im Norden Frankreichs die mit der Allmende erzielten Einnahmen einen wichtigen Bestandteil der Kommunaleinnahmen dar. Dieser Umstand war ein Grund dafür, dass die Allmende in diesen Regionen im 19. Jahrhundert anders als in Westfrankreich größtenteils nicht aufgehoben wurde. Ein starkes Interesse an der Erhaltung der Gemeinheiten hatten auch Kleinbauern und Tagelöhner, für welche die Allmende eine Absicherung gegen die größte Armut darstellte. Erst in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts setzte in Lothringen – im annektierten und im französisch gebliebenen Teil – der Niedergang des Allmendesystems ein.614

610 611 612 613

Vgl. ebd. Préfet de Metz au maire de Tragny, 1.5.1855, in: ADM V156. Vgl. Préfet de Metz au maire de Tragny, 14.6.1855, 21.11.1855, in: ADM V156. Vgl. Nachweisung der Vermögenslage der Gemeinde Grosbliederstroff, 25.8.1909, in: ADM 7AL131. Vgl. Gerdolle, D. H.: Die bäuerlichen Verhältnisse in dem westlichen Theile Lothringens, speciell im Landkreise Metz, in: Verein für Socialpolitik: Bäuerliche Zustände in Deutschland, Bd. 3 (Schriften des Vereins für Socialpolitik, Bd. 24), Leipzig 1883, S. 314. Vgl. Roth, Lothringen als Teil, S. 393 f. 614 Vgl. Roth, Lothringen als Teil, S. 393 f. Vgl. Roth, das geteilte Lothringen, S. 420. Vgl. Vivier, S.  231 – 238. Vgl. Soboul, S.  210 – 212, 278 – 297.

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Die Kommune von Boulay verfügte im Gegensatz zu den übrigen Unter­ suchungsdörfern nicht über einen Gemeindewald und nur über wenig Gemeinde­ land. Das einzige Gemeinderecht, von welchem die Einwohner unmittelbar profitierten, bestand in den auf dem Bann der Gemeinde und den nicht eingezäunten Privatgrundstücken ausgeübten Weiderechten. Die Zivilgemeinde von Boulay trug in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zwar einen Konflikt mit der Kommune von Helstroff um das Recht von deren Einwohnern aus, ihre Tiere auf dem Boulayer Bann weiden zu lassen, aber Spuren von Auseinandersetzungen innerhalb der Dorfbevölkerung sind nicht zu finden.615 Grundsätzlich hatte nach franzö­sischem Recht jeder Einwohner – christlich oder jüdisch – das Recht, seine Tiere auf nicht eingezäunten Brachflächen oder abgeernteten Feldern weiden zu lassen. Eine 1832 erlassene Vorschrift stellte allerdings eine Einschränkung für die häufig als Viehhändler tätigen Juden dar: Tiere, die ausschließlich als Handelsobjekte galten, sollten nicht auf die Gemeindeweide zugelassen werden. In Boulay blieb die genannte Einschränkung wie in vielen anderen Dörfern auch anscheinend unbeachtet, weswegen der Weidgang bis zum Ende des Jahrhunderts weitgehend ungeregelt blieb. Erst 1891 wurde es den Viehhändlern verboten, ihre Schafe unbefugt auf fremde Wiesen zur Weide zu führen.616 Schon seit der ersten Jahrhunderthälfte existierte in Boulay wie in anderen lothringischen Orten auch eine Gemeindeherde. Sie bestand aus Schafen, deren Tiere sowohl christlichen als auch jüdischen Einwohnern gehörten, und wurde von einem von der Zivilgemeinde bezahlten Schäfer gehütet. 1891 beschloss der Gemeinderat mit Zustimmung der großen Mehrheit der Bauern, Grund- und Viehbesitzer, dass kein Schäfer mehr angestellt werde und es den Viehhändlern nun verboten sei, ihre Schafe ohne Wissen der Grundstückseigner auf deren Wiesen führen zu lassen. Die Regelung traf vor allem die Besitzer mit den meisten Schafen, bei denen es sich zum großen Teil um jüdische Einwohner handelte, z. B. Salomon Cahen, dem 18 Tiere gehörten. Es ist allerdings zu vermuten, dass es sich nicht um eine gezielt gegen jüdische Einwohner gerichtete Aktion handelte, denn auch christliche Einwohner – z. B. Pierre Diederich mit 21 Schafen – waren betroffen, und zudem hatte das jüdische Gemeinderatsmitglied Lion Cerf dem Beschluss zugestimmt. Vier jüdische Schafbesitzer taten sich in der Folge zusammen und stellten auf eigene Rechnung einen Hirten an, allerdings kam es infolgedessen zu Konflikten. Der 615 Vgl. Arrêté du conseil de Préfecture du département de la Moselle, 2.5.1822, conseil municipal de Boulay, 10.11.1822, in: ADM ED100 2N2. Vgl. Conseil municipal de Boulay, 30.1.1886, in: ADM ED100 1R1. 616 Vgl. Parcours et vaine pâture, 1832, Anzeige des Bürgermeisters von Boulay, 8.1.1892, Polizeiverordnung betr. den Weidgang auf der Gemarkung Bolchen, 29.11.1897, in: ADM ED100 2N2. Vgl. Soboul, S. 297.

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Bürgermeister wollte keinen Schäfer mehr in der Gemeinde dulden und zudem beanstandete der Feldhüter das unbefugte Weiden auf den Grundstücken anderer Dorfbewohner. Den angedrohten Geldstrafen zum Trotz änderten die vier jüdischen Dorfbewohner ihre Praxis nicht.617 Allgemein ist festzuhalten, dass in Lothringen zum Ende des 19. Jahrhunderts immer mehr Gemeindeherden aufgelöst wurden. Die Boulayer Entwicklung entsprach also der allgemeinen Entwicklung. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass 1892 die unter der Führung von Isaac Brisac um Anstellung eines neuen Gemeindehirten bittenden Schafbesitzer mit ihrem Anliegen scheiterten. Wie unnachgiebig der Gemeinderat bezüglich der Frage der Weiderechte war, zeigte sich allerdings nicht nur bei dorfinternen Konflikten, sondern auch bei einem Beschluss gegenüber den Einwohnern von Macher in demselben Jahr. Diese durften ihr Vieh gegen eine Abgabe auf dem Boulayer Bann weiden lassen, forderten aber wegen ihres abnehmenden Viehbestandes eine Reduzierung des zu leistenden Betrages. Der Gemeinderat von Boulay lehnte dies einhellig und ohne besondere Begründung ab.618 Bezüglich des Weidganges innerhalb von Boulay blieb die Lage angespannt, denn die Schafbesitzer einschließlich der (jüdischen) Viehhändler ließen ihre Tiere weiterhin auf fremden Wiesen grasen, worüber sich Landwirte und andere Grundeigentümer 1895 beschwerten. Um die Konflikte zu regeln, beschloss der Gemeinderat eine Polizeiverordnung zu erlassen, welche die Bedingungen für den zukünftigen Weidgang festlegen sollte.619 1897 trat eine Regelung in Kraft, welche die Zahl der Tiere, die zum Weidgang zugelassen werden durften, beschränkte: Personen ohne eigenen Landbesitz sollten nur noch sechs Schafe, Ziegen bzw. Schweine sowie eine Kuh mit Kalb oder ein Pferd mit Fohlen auf dem Bann von Boulay weiden lassen. Grundstücksbesitzer durften eine größere Anzahl von Vieh weiden lassen, entsprechend der Größe ihrer Ländereien, die sie zur Verfügung stellten.620 Im Vergleich zu den im Elsass und in Teilen 617 Vgl. Notizen des Bürgermeisters von Boulay über die „vaine pâture“, ca. 1896, Fragebogen betr. der in der Gemeinde Bolchen sich befindenden Schafherden, 15.5.1888, Bürger­meister von Boulay, 8.1.1892, in: ADM ED100 2N2. Vgl. Roth, Lothringen als Teil, S. 394. In den Vierzigerjahren nahmen auch die jüdischen Viehhändler des Arrondissements Château-­ Salins Geldstrafen wegen des unzulässigen Weidens ihrer Tiere in Kauf. Vgl. Sous-préfet de Château-Salins, 29.7.1843, in: ADMM V300. 618 Vgl. Kreisdirektor von Boulay an Isaac Brisac, 2.7.1892, Bürgermeister und Gemeinderat von Macher an den Bürgermeister von Boulay, 2.7.1892, Gemeinderat von Boulay, 8.1.1893, in: ADM ED100 2N2. Vgl. Roth, Lothringen als Teil, S. 394. Vgl. Roth, das geteilte Lothringen, S. 420 f. 619 Gemeinderat von Boulay, 17.11.1895, in: ADM ED100 2N2. 620 Vgl. Polizeiverordnung betr. den Weidgang auf der Gemarkung Bolchen, 29.11.1897, in: ADM ED100 2N2.

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Südwestdeutschlands verbreiteten Vorschriften war die Regelung großzügig, denn sie verwehrte Dorfeinwohnern ohne Landbesitz nicht völlig den Genuss der Allmende. Die Bestimmungen ermöglichten den ärmeren Einwohnern weiterhin den Besitz einiger Tiere, um deren Futter sie sich nicht zu sorgen brauchten, z. B. der Witwe Coignard, die zwei Schweine und eine Ziege besaß. Für die Mehrheit der jüdischen Einwohner war die Regelung unproblematisch, so besaß Alexandre Benjamin nach der Jahrhundertwende zwar 10 Rinder und 20 Schafe, aber als Grundstücksbesitzer mit eigenem Schlacht- und Nutzhof musste er sich über die Begrenzung der Viehzahl auf der Weide wohl keine Gedanken machen. Theoretisch verschlechterte sich die Lage für die bereits erwähnten jüdischen Schafbesitzer zwar, da sie wenig Land besaßen, aber in der Praxis fanden sie Wege, mit der neuen Situation umzugehen: 1899 gelang es ihnen, den Schweinehirten Bailly zu überzeugen, ihre Tiere auf die Weide mitzuführen. Bürgermeister Weber hatte dagegen nichts einzuwenden und verpflichtete sie lediglich – gleich den Schweinebesitzern –, einen angemessenen Lohn zu zahlen. Die erfolgreiche Bewältigung der neuen Lage zeigte sich u. a. daran, dass 1914 Salomon Cahen und Isidor Brisac immer noch 30 bzw. 26 Schafe ihr Eigen nennen konnten.621 Dass die Dorfverwaltung nicht im Sinne gehabt hatte, den christlichen Einwohnern einen Vorteil gegenüber den jüdischen zu verschaffen, zeigte sich bereits 1900, als der Gemeinderat den Antrag ausschließlich christlicher Rinderbesitzer auf die Gründung einer Gemeindeherde genauso zurückwies wie den damit verbundenen Wunsch nach freiem Weidgang.622 Die spärlichen Informationen über die Situation im Großherzogtum hinsichtlich der Allmende lassen vermuten, dass die jüdischen Einwohner ähnlich wie in Lothringen behandelt wurden. Für ganz Luxemburg verbindliche Vorschriften bezüglich dieses Gegenstandes erließ die Regierung im 19. Jahrhundert nicht, da sie es nicht für angebracht hielt, die „lois rurales et forestières“ einer Revision zu unterziehen. Im Jahr 1864 forderte sie allerdings die Kommunen, welche auf lokaler Ebene noch keine schriftlich fixierte Regulierung vorgenommen hatten, auf, solche zu erarbeiten.623 Ein Grund für diese Anweisung stellte der Missstand dar, dass in vielen Gemeinden vor allem die (wohlhabenden) Gemeinderatsmitglieder – Besitzer größerer Schafherden – profitierten, indem sie ihre Tiere Tag und Nacht weiden ließen. Darunter litten die Besitzer mit wenig Vieh, deren Tiere teilweise 621 Vgl. Viehzählung in Boulay, 10.12.1907, Betriebsliste von Boulay, 1.7.1914, in: ADM ED100 3F7. Vgl. Bürgermeister von Boulay, 6.4.1899, in: ADM ED100 2N2. Vgl. Vivier, S. 238. 622 1920 stellten 52 Viehbesitzer (u. a. einige Juden) gemeinsam einen Hirten an, der ihre Tiere auf dem Bann weiden ließ. Vgl. François Beck au maire de Boulay, 12.5.1920, Gesuch mehrerer Rindviehbesitzer von Boulay an den Bürgermeister, 7.9.1900, Gemeinderat von Boulay 23.9.1900, in: ADM ED100 2N2. 623 Vgl. Procureur d’Etat, 21.11.1864, in: ANL H1024,98a.

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kaum mehr Futter fanden. Neue Reglements sollten dieser „odieuse exploitation du pauvre au riche“624 entgegenwirken. Klagen gegen jüdische Bürger wurden im Zusammenhang mit der Nutzung der Gemeindewiese nicht erhoben. Ähnlich wie die Zivilgemeinde Boulay besaß auch diejenige von Ettelbrück nur wenig Gemeindeland, was einer der Gründe war, warum bis 1864 kein Reglement über Weiderechte verabschiedet wurde. Es war lokaler Brauch, dass die Grundstücksbesitzer abgeerntetes Feld für den Weidgang unentgeltlich zur Verfügung stellten. 1817 hatte die Gemeindeverwaltung zwar die Absicht, eine Taxe für das auf die Weide geführte Vieh zu erheben, aber dies wurde nie umgesetzt. Auf den Wunsch der Regierung hin erließ der Ettelbrücker Gemeinderat 1864 eine Regulierung des Weiderechts, welche dieser bis dahin – mangels Konflikten – nicht als notwendig erachtet hatte. Die jüdischen Viehhändler waren bezüglich der Weiderechte wohl nie auf Widerstand innerhalb der Dorfgemeinschaft getroffen. Die Vertreter der Kommune sahen den Sinn des neuen Reglements lediglich darin, eventuell in der Zukunft auftretenden Konflikten vorzubeugen. Grundsätzlich durfte jeder Einwohner Vieh auf dem Bann der Gemeinde weiden lassen. Wie in Boulay wurde die Zahl der zugelassenen Tiere beschränkt und war von den Grundstücken abhängig, welche die Viehbesitzer selbst für die Weide zur Verfügung stellten. Diejenigen, die kein Land besaßen, wurden aber auch berücksichtigt und durften bis zu sechs Schafe bzw. eine Kuh mit Kalb auf die Gemeindeweide treiben.625 Ähnlich wie in den ostfranzösischen Gebieten waren auch in Ettelbrück die Einkünfte aus den Gemeindegütern wichtig für das Budget der Kommune. Beispiels­ weise zahlten Hausbesitzer, deren Gebäude auf Gemeindeland standen, eine Bodenrente. Dass seit 1818 die Eichel- und Bucheckernernte versteigert wurde, stellte für diejenigen, welche sie zur Mast benutzen wollten, zwar einen Nachteil dar, da sie nun an den Ersteigerer eine Abgabe zahlen mussten, aber der Kommune garantierte dies eine weitere Einnahmenquelle. Ein weiteres Recht, das die Kommune Ettelbrück verpachtete, war die Jagd auf dem Bann der Gemeinde. Zur Gruppe derjenigen, welche dieses Recht in Anspruch nahmen, gehörte u. a. der jüdische Fabrikleiter Jules Godchaux in den Siebzigerjahren. Vom Gemeindewald profitierten die jüdischen Einwohner nicht anders als die christlichen Einwohner des Ortes, z. B. erhielt die Elementarschule des Ortes, die fast das gesamte Jahrhundert über von den jüdischen Kindern besucht wurde, Brennholz aus dem Wald.626

624 Ebd. 625 Vgl. Conseil municipal d’Ettelbruck, 2.10.1864, in: ANL H1024,98a. Vgl. Flies, S. 1261. 626 Vgl. Flies, S. 1216, 1612. Vgl. Conseil municipal d’Ettelbruck 2.8.1858, bordereau des pièces de recette et de dépenses annexés au compte de la gestion de l’Ex-receveur Suttor 20.8.1857, in: ANL H1024,98a.

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5.5.2 Die Verantwortung für die Armen

Seit der Zeit der französischen Herrschaft stellte die Armenfürsorge in allen betrachteten Gebieten eine wichtige Aufgabe der Zivilgemeinden dar, für welche diese auch die Kosten aufbringen mussten. Die Kommunen waren für die Armen zuständig, die auf keine alternativen Versorgungsmöglichkeiten zurückgreifen konnten (z. B. Unterstützung durch Verwandte).627 Neben der gemeindlichen (und der mit ihr verbundenen staatlichen) Armenfürsorge bestand im christlichen und im jüdischen Umfeld die private bzw. kirchliche Wohltätigkeit fort, welche dafür sorgte, dass sich die Bedürftigen nicht immer an die staatlichen Behörden wandten.628 Im Folgenden geht es um die Frage, ob die armen jüdischen Einwohner von den Zivilgemeinden bzw. den höheren Behörden genauso wie die christlichen Armen behandelt wurden oder ob sie aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur jüdischen Minderheit nicht in den Genuss bestimmter Leistungen kamen. Aufgrund der Quellenlage wird die Frage nach der Bezahlung des Schulgelds für arme Kinder im Vordergrund stehen. Hinsichtlich der Armenfürsorge ist die Einstellung des Schöffenrats von Illingen insofern bemerkenswert, als er bereits 1824 die jüdischen Einwohner in seine Überlegungen einbezog. In diesem Jahr gestaltete sich die Wirtschaftslage der jüdischen Bevölkerung ebenso schlecht wie diejenige der christlichen Bevölkerung. Die ausschließlich christlichen Gemeindevertreter zögerten nicht, dies anzuerkennen und setzten zwölf von 36 jüdischen Schülern auf die Liste derer, deren Eltern als unfähig eingestuft wurden, das Schulgeld für den christlichen

627 Vgl. Zissel, Ines: „…daß der Begriff der Armuth in jeder Gemeinde ein anderer ist“. Dörfliche Armenversorgung im 19. Jahrhundert, in: Franz/Grewe/Knauff, S. 217 – 225. Zissel, Begriff, S. 19 – 24. Vgl. zur Entwicklung in der späteren Rheinprovinz H ­ udemann-Simon, Calixte: L’état et les pauvres. L’Assistance et la lutte contre la mendicité dans les quatre départements rhénans, 1794 – 1814 (Beihefte der Francia, Bd. 41), Sigmaringen 1997. 628 Vgl. Albert, modernization, S. 35. Vgl. Marzi, Werner: Armut, Elend und Barmherzigkeit in der Frühen Neuzeit, in: Roland Ries/Werner Marzi (Hg.): Caritas im Bistum Trier. Eine Geschichte des Heilens und Helfens, Trier 2006, S. 258 – 261. Vgl. zur Armenfürsorge im Bistum Trier Schneck, Ernst: Das 19. Jahrhundert: Brüche – Neuanfänge – Differenzierung. Caritas zwischen Säkularisation und Gründung des Diözesan-Caritasverbandes, in: Ries/Marzi, S. 293 – 372. Vgl. auch Althammer, Beate/Brandes, Inga/Marx, Katrin: Religiös motivierte Armenfürsorge in der Moderne – Katholische Kongregationen im Rheinland und in Irland 1840 – 1930, in: Andreas Gestrich/Lutz Raphael (Hg.): Inklusion/ Exklusion. Studien zu Fremdheit und Armut von der Antike bis zur Gegenwart, Frankfurt 2004, S. 537 – 579. Sie konnten nachweisen, dass es zur Mitte des 19. Jahrhunderts sogar zu einem Wiederaufschwung der kirchlichen Armenfürsorge, u. a. in der Rheinprovinz kam. Vgl. zu Frankreich und Luxemburg Franz, S. 179 – 192, 221 – 226.

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Elementarschullehrer, der die jüdischen Kinder separat unterrichtete, zu bezahlen.629 Der Rat war sich der schwierigen Lage der Familien bewusst, welche bereits Abgaben für den Vorsänger und den jüdischen Religionslehrer leisten mussten, und erachtete es daher „für billig […], diese Leute dadurch einigermaßen zu unterstützen, indem er den Schullohn ihren Kindern auf die Gemeindecasse übernimmt“.630 Der Ottweiler Landrat Schoenberger kritisierte das Vorgehen der Gemeindevertreter, weil er glaubte, dass diese die Bezeichnung „unzahlfähig“ zu leichtfertig gebraucht hätten. Diesem Vorwurf trat allerdings Bürgermeister Schneider entgegen, der klarstellte, dass die genannten jüdischen Eltern teilweise dem Bettelstabe nah seien.631 Im Gegensatz zu dem letzteren Beamten, der sich intensiv für die Schulbildung der jüdischen Kinder engagierte, zeigte sich Landrat Schoenberger abgeneigt, die bedürftigen Juden zu unterstützen. Im Jahr 1825 teilte er dem Bürgermeister mit, dass es sich von selbst verstehe, dass das Schulgeld für die armen jüdischen Eltern nicht aus der Gemeindekasse genommen werden dürfe, da ihre Kinder nicht die öffentliche Gemeindeschule besuchten. Dass die jüdischen Schüler wie bisher den Elementarunterricht vom christlichen Lehrer erhielten, ließ er nicht als Argument gelten: Da die Stunden getrennt von den christlichen Kindern gegeben würden, sei dieser Unterricht als Privateinrichtung einzustufen. Es ist festzustellen, dass die Illinger Schöffenräte Anfang der Zwanzigerjahre eher bereit waren, die armen jüdischen Mitbürger ähnlich wie die bedürftigen Christen zu behandeln als der genannte Landrat. Es waren also keinesfalls immer „aufgeklärte“ höhere Beamte, die sich gegen eine rückständige Landbevölkerung für die Gleichstellung von Juden und Christen einsetzten. Zur Einstellung der Gemeindevertreter dürfte die Tatsache beigetragen haben, dass die jüdischen Kinder bis 1823 zusammen mit den christlichen die Gemeindeschule besuchten, ehe aufgrund religiös begründeter Reibungen und der Überfüllung der (katholischen) Gemeindeschule ein getrennter Unterricht organisiert wurde.632 Die Haltung der Gemeindevertreter kann allerdings auch als ein Akt des Widerstandes gegen den Herrschaftsanspruch der gerade erst ein Jahrzehnt tätigen preußischen Verwaltung verstanden werden. Die Dorfgemeinschaft wollte das eigene Rechtsverständnis durchsetzen, was sich in diesem Fall günstig für die Juden auswirkte. Fiskalische Überlegungen, die sich negativ für die jüdischen Kinder auswirkten, rückten in Illingen erst mehrere Jahre später in den Fokus der christlichen Dorfbewohner. 629 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1545, S. 14 – 16, 50 – 53. Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1546, S. 35. 630 LAS Dep. Illingen Nr. 1545, S. 16. 631 Vgl. ebd., S. 13 – 16. 632 Vgl. ebd., S. 30 – 35 49 – 54, 66 f., 81 – 88. Vgl. Dep. Illingen Nr. 1546, S. 33 f. Vgl. GpStA I. HA Rep. 76 Kultusministerium III Sekt. 37 Abt. XVI Nr. 1 Bd. 1, S. 343.

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Obwohl die Trierer Regierung 1829 die Haltung des Illinger Schöffenrats in­­direkt bestätigte, wiederholte der neu eingesetzte Landrat Rohr 1830 die Ein­ schätzungen seines Vorgängers und betonte, dass „es keinem Bedenken unterliegt, daß das Schulgeld zahlungsunfähiger israelitischer Eltern von der Judengemeinde allein aufgebracht werde“.633 1834 schloss sich die Zivilgemeinde Illingen dem Landrat an und weigerte sich fortan, den armen jüdischen Eltern zu helfen.634 Die jüdische Gemeinde wandte sich daher an die Trierer Regierung, aber diese erwiderte lediglich, dass mit der Gründung der jüdischen Schule das Anrecht auf diese Leistung verloren sei.635 Landrat Rohr ließ daher dem jüdischen Vorsteher mitteilen, dass die Zivilgemeinde nur für arme Kinder, die die Gemeinde­schulen besuchten, das Schulgeld zahlen müsse. Jüdische Schulen seien „nur geduldete Nebenschulen[,] für deren Bedürfnisse die Gesellschaft[,] für welche sie bestehen, ganz allein zu sorgen habe, ohne eine Beihülfe aus der Gemeindekasse in Anspruch nehmen zu können“.636 Die jüdischen Einwohner verfassten daraufhin mithilfe eines protestantischen Juristen aus Ottweiler ein neues Gesuch. Sie hielten ihre Schule für eine öffentliche Schule und begründeten ihre Bitte nach Übernahme des Schulgeldes armer jüdischer Kinder zudem mit der Gleich­ berechtigung der Bürger auf lokaler Ebene. Sie verwiesen auch darauf, dass in mehreren Orten des Bezirks Trier die jüdischen Lehrer das Schulgeld aus der Gemeindekasse erhielten, und sprachen darüber hinaus die Lage in Frankreich an.637 Dies bewegte die Trierer Regierung jedoch nicht zum Einlenken und sie betonte 1838, dass „die bürgerliche Gemeinde mit dieser [jüdischen] Schul-­ Oeconomie nichts zu schaffen hat“.638 In Gemünden kam es zwischen 1833 und 1836 ähnlich wie in Illingen zu Auseinandersetzungen um die Bezahlung des Schulgelds für bedürftige Kinder. Seit März 1833 mussten die jüdischen Eltern an zwei Lehrer Geld entrichten, einerseits an den Religionslehrer Silberberg, andererseits an den katholischen Elementarlehrer ­Wilhelmy. Im Gegensatz zu den armen jüdischen mussten die bedürftigen christlichen Eltern dem Letzteren kein Schulgeld bezahlen, da die Gemeindekasse dies für sie tat. Im Oktober äußerte der jüdische Gemeindevorsteher Ochs die Bitte, dass das Schulgeld für die armen jüdischen Schulkinder „eben so aus der Gemeindekasse bezahlt werden möge, […] wie es für die armen Kinder der 633 LAS Dep. Illingen Nr. 1546, S. 17. Vgl. auch GpStA I. HA Rep. 76 Kultusministerium III Sekt. 37 Abt. XVI Nr. 1 Bd. 1, S. 51 – 59. 634 Vgl. GpStA I. HA Rep. 76 Kultusministerium III Sekt. 37 Abt. XVI Nr. 1 Bd. 1, S. 164. 635 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1546, S. 25 – 27. 636 Ebd., S. 25. 637 Vgl. GpStA I. HA Rep. 76 Kultusministerium III Sekt. 37 Abt. XVI Nr. 1 Bd. 1, S. 163 – 170. 638 Ebd., S. 162.

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christlichen Religion geschieht“.639 Die armen jüdischen Eltern hätten das gleiche Recht auf Beihilfe aus der Gemeindekasse wie die bedürftigen christlichen Eltern. Die christlichen Kirchenvorstände teilten diese Sicht allerdings nicht und gaben dem Bürgermeister zu verstehen, dass „die christlichen Gemeinden sich nicht für verpflichtet halten, das Schulgeld armer jüdischer Kinder auf die Gemeindekasse zu übernehmen“.640 In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dass nicht die jeweiligen Kirchengemeinden, sondern die Zivilgemeinde das Schulgeld für die armen christlichen Kinder bezahlte. Die Vertreter der evangelischen und der katholischen Kirchengemeinden betrachteten nur die christlichen, aber nicht die jüdischen Einwohner als Angehörige der Zivilgemeinde. Sie vertraten die Ansicht, dass die Juden keinen Anspruch auf Fürsorge durch die Zivilgemeinde hätten, da sie noch nie dazu berechtigt gewesen seien. Zudem wiesen sie der jüdischen Gemeinde selbst die Verantwortung für die finanziell belastende Lage zu: Wenn sie einen jüdischen Lehrer angestellt hätten, der auch den Elementarunterricht geben könnte, dann gäbe es nicht die Probleme bei der Bezahlung des katholischen Lehrers. Während der Landrat der Argumentation der christlichen Gemeinden folgte und betonte, dass der Gemeindekasse keine neue Last aufgebürdet werden könne, die ihr bisher fremd gewesen sei, befasste sich die Koblenzer Regierung ausschließlich mit der Frage, ob die jüdische Schule eine unterstützungswürdige öffentliche Schule oder nur eine private Konfessionsschule sei: Wenn die Juden ihre Kinder an die christlichen Schulen schickten, so müssten die Kinder armer Juden gleich denen armer Christen behandelt werden, da sie alle Rechte der Eingesessenen hätten und somit auch Ansprüche auf Armenmittel. Für Gemünden entschied die Regierung, dass die Zivilgemeinde nicht zu Beiträgen für die armen jüdischen Schüler verpflichtet sei, da die Juden einen eigenen Lehrer und folglich eine Konfessionsschule hätten. Daher wurde Ochs mitgeteilt, dass die Juden die armen Kinder in die öffentlichen Ortsschulen überweisen müssten, wenn sie Unterstützung aus der Gemeindekasse erhalten wollten. Dass bereits 1830 jüdische Eltern darum gebeten hatten, ihre Kinder in die christlichen Schulen schicken zu dürfen, da der neue Vorsänger nur den Religionsunterricht erteilen konnte, war den höheren Behörden ebenso unbekannt wie die Ablehnung dieses Wunsches aufgrund des Platzmangels in den christlichen Schulen.641 1836 informierte der jüdische Vorsteher die höheren Behörden darüber und argumentierte, dass die jüdische Schule sehr wohl eine öffentliche sei, da die jüdischen Kinder nur deswegen separaten Elementar­ unterricht vom katholischen Lehrer erhielten, weil sie die Gemeindeschulen nicht

639 LHAK Best. 441 Nr. 9811, S. 91. 640 Ebd., S. 91. 641 Vgl. ebd., S.  31 – 43, 91 – 105.

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besuchen dürften. Er betonte, dass die Juden „Unterthanen und Gemeinde­glieder wie Angehörige anderer Religions­gemeinden“ seien und beantragte, die jüdischen Kinder auf die christlichen Ortsschulen zu verteilen oder das Schulgeld für die bedürftigen jüdischen Kinder zu bezahlen, da das Schulgeld für die christ­ lichen Armenkinder „nicht aus den respectiven Kirchen-Caßen, sondern aus der ­Communal-Caße bezahlt wird“.642 Der jüdische Vorsteher verstand die Zivilgemeinde als Zusammenschluss gleichberechtigter Dorfbewohner, in dem den Juden aufgrund der Übernahme der Pflichten gleiche Rechte wie den Christen zustanden, aber die (christlichen) Schöffenräte teilten diese Meinung nicht. Sie gaben zwar zu, dass die christlichen Schulen aufgrund der wachsenden Schülerzahl nicht in der Lage seien, die jüdischen Kinder aufzunehmen, aber sie hielten dennoch an der Überzeugung fest, dass die jüdische Schule eine Privatanstalt sei. Wenn die Juden einen Religionslehrer halten könnten, dann sollten sie auch für den Elementarunterricht sorgen. Wenn einige arme Eltern das Schulgeld nicht zahlen könnten, dann sollten diese Kosten „nach der Classen-Steuer auf die jüdische Gemeinde [verteilt werden], worauf der Beitrag des Schulgeldes für die Kinder armer jüdischer Eltern keine Schwierigkeit“643 mehr sei. Der Schöffenrat schob die Pflicht für die Armenfürsorge somit der jüdischen Gemeinde zu. Im Jahr 1839 tat das Gremium dies erneut, als es einen weiteren Antrag des jüdischen Vorstehers ablehnte – unter dem Hinweis auf den Almosenund Schulfonds der jüdischen Gemeinde.644 Dieser ging auf das wohlhabende Gemeindemitglied Herz Ganges zurück, welcher seiner Glaubensgemeinschaft 1796 einen Geldbetrag vermacht hatte, dessen Zinsen zum Nutzen der Gemeinde verwendet werden sollten. Als die Zivilgemeinde nicht bereit war, das Geld für die armen Kinder zu zahlen, wurden Gelder aus dem Fonds für diesen Zweck erübrigt.645 Auch in Illingen wurde die Bezahlung des Schulgelds bedürftiger jüdischer ­Kinder Mitte der Vierzigerjahre wieder zum Thema. Zwar waren sich die christlichen Gemeindevertreter immer noch der ökonomischen Belastung bewusst, welcher die jüdischen Einwohner durch ihr Schul- und Kultuswesen ausgesetzt waren, aber hinsichtlich der armen jüdischen Eltern zeigten sie sich nicht mehr bereit, freiwillig finanzielle Zugeständnisse zu machen. Landrat Linz bemerkte zwar 1843, dass die Juden implizit zur christlichen Schule finanziell beitrügen, da das Schulgeld für die armen christlichen Kinder aus der Gemeindekasse bezahlt würde, aber deswegen sahen sich die christlichen Einwohner nicht zu einer ähnlichen Behandlung der bedürftigen jüdischen Schüler veranlasst. Vielmehr betonte der Bürgermeister, dass 642 643 644 645

Ebd., S. 113. Ebd., S. 117. Vgl. ebd., S. 158 f. Vgl. Meyer, Geschichte, S. 19. Vgl. LHAK Best. 441 Nr. 9811, S. 547 – 551.

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die Gemeindekasse nicht speziell für arme christliche Kinder Schulgeld entrichte, sondern der katholische Lehrer eine feste Besoldung von der Zivilgemeinde erhalte. Daher könne nicht erwartet werden, dass die Gemeindekasse spezielle Ausgaben für arme jüdische Eltern mache.646 Den Letzteren stehe es aber „frei[,] ihre Kinder in die christliche Schule zu schicken, in welchem Falle sie kein Schulgeld zu zahlen haben werden“.647 Im Gegensatz zu dem Gemündener Fall waren die christlichen Einwohner Illingens somit wenigstens indirekt bereit, die armen jüdischen Eltern zu unterstützen. Anders als der Gemündener Schöffenrat, der die jüdischen Einwohner grundsätzlich als Nichtmitglieder der Zivilgemeinde ansah, konzentrierten sich die Illinger Gemeindevertreter und der Bürgermeister auf die Frage, ob die jüdischen Einwohner die eigene Schule freiwillig gegründet hatten oder ob sie aufgrund von Platzmangel in der christlichen Gemeindeschule dazu gezwungen gewesen waren. Während Landrat Linz von Letzterem ausging, versteifte sich Bürgermeister ­Fourman darauf, dass das Erstere der Fall gewesen sei. Der Schöffenrat habe 1824 das Schulgeld für die armen jüdischen Kinder nur auf die Gemeindekasse übernommen, weil dies getan werden musste, da zu diesem Zeitpunkt der christliche Lehrer den Unterricht erteilt habe. Dass die jüdischen Einwohner später das Schulgeld für arme jüdische Kinder selbst hatten aufbringen müssen, sei kein Unrecht gewesen, sondern nur Folge der mit der Gründung der (privaten) Schule eingegangenen Verpflichtung, selbst für deren Unterhaltung zu sorgen.648 In der zweiten Jahrhunderthälfte blieben die Gemündener Lokalpolitiker bei der Überzeugung, dass die Juden verpflichtet seien, füreinander zu sorgen, während sich in Illingen seit Ende der Fünfzigerjahre Indizien für ein Umdenken abzeichneten. Spätestens 1857 zeigte der noch ausschließlich aus Christen bestehende Gemeinde­rat „aus Billigkeitsgründen“ Rücksicht gegenüber der jüdischen Minderheit: Den armen jüdischen Kindern wurden auf Kosten der Gemeindekasse Papier und Federn zur Verrichtung der Schreibarbeiten gegeben.649 Bis 1872 entwickelte sich die Einstellung gegenüber den jüdischen Einwohnern so weit, dass Bürgermeister Neumeister berichten konnte: „Zu […] dem Schulgeld für arme Kinder tragen alle Eingesessenen, ohne Unterschied der Confehsion bei, so daß die Israeliten hierin nicht benachtheiligt sind.“650 Die armen jüdischen Einwohner von Gemünden mussten ohne der­artige Zugeständnisse von christlicher Seite auskommen. Um der Zahlung des 646 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1546, S. 30 – 43. 647 Ebd., S. 44. 648 Vgl. ebd., S.  33 – 38, 44 – 46. 649 Vgl. ebd., S. 53 – 55, 178. 650 Ebd., S. 113 f.

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Schulgeldes zu entgehen, versuchten manche, die vorzeitige Entlassung ihrer Kinder aus der Schule zu erreichen, so z. B. der Lumpensammler Jacob Wagner im Jahr 1862. Der Pfarrer unterstützte sein Gesuch, da die neun Taler Schulgeld, die Wagner für drei schulpflichtige Kinder entrichten musste, eine „fast unerschwingliche Summe für einen armen Mann [seien], der [..] mit Pfennigen hantieren muß“.651 Schulinspektor Reuß sprach sich aber gegen eine vorzeitige Entlassung der jüdischen Tochter aus und schlug stattdessen vor, dass die jüdische Gemeinde einen Teil des von Wagner zu zahlenden Schulgeldes übernehmen solle. Die Koblenzer Regierung beauftragte daraufhin die jüdische Gemeinde, Wagner eine Ermäßigung des Schulgelds zu gewähren,652 was diese aber ablehnte, da „das hiesige jüdische Schulgeld für die übrigen jüdischen Einwohner, welche ebenfalls teilweise unbemittelt sind, gleichfalls eine bedeutende Last darstellt“.653 Bürgermeister Mendel hakte zwar nach, ob nicht vom Almosenfonds der jüdischen Gemeinde Geld zur Verfügung gestellt werden könnte, aber diese Möglichkeit bestand nicht mehr, weil der Großteil des Kapitals für die Errichtung der Synagoge verwendet worden war. Daher musste Wagner weiterhin Schulgeld zahlen. Die Höhe des Letzteren empfand die Koblenzer Regierung 1866 als so hoch, dass sie sich erkundigte, ob nicht eine übermäßige Belastung der ärmeren Gemeindemitglieder zu befürchten sei. Landrat Hardt bejahte diese Frage, bemerkte aber, dass eine Übernahme des Schulgelds der armen Eltern auf Kosten der Gemeindekasse nicht gerechtfertigt sei.654 Ebenso wie für die Rheinprovinz ist auch für Lothringen festzustellen, dass zeitweise arme jüdische und christliche Eltern unterschiedlich behandelt wurden, wenn es um die Entrichtung von Schulgeld ging. Aufgrund der vom preußischen Kontext abweichenden Stellung der Schulen in Frankreich 655 und der Quellenlage sind die Informationen über die Lage in den französischen Untersuchungsorten in der ersten Jahrhunderthälfte vergleichsweise gering. Von der Zivilgemeinde von Boulay ist bekannt, dass sie bereits Mitte der Dreißigerjahre einen kleinen Betrag zur Bezahlung des jüdischen Lehrers beisteuerte, aber das Schulgeld für die armen jüdischen Kinder nicht übernahm. Dies stellte allerdings keine Benachteiligung dar, da es den christlichen Eltern ähnlich erging, weil die Kommunen aufgrund der fehlenden Schulpflicht nicht gezwungen waren, Schulgeld für arme Kinder zu entrichten. Bedürftige Eltern verzich­teten zudem häufig darauf, ihre Kinder zur Schule zu schicken, weil sie nicht auf deren 651 652 653 654 655

LHAK Best. 441 Nr. 9811, S. 545. Vgl. ebd., S. 543 – 547 Vgl. LHAK Best. 403 Nr. 7442, S. 202. LHAK Best. 441 Nr. 9811 S. 549. Vgl. ebd., S. 548 – 554, 638 – 640. Vgl. auch LHAK Best. 441 Nr. 9719, S. 24. Vgl. das folgende Unterkapitel 5.5.3.

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Arbeitskraft verzichten wollten.656 Im Fall von Boulay waren die Töchter jüdischer Einwohner stark betroffen: 1825 befanden sich unter den 33 jüdischen Schülern nur acht Mädchen. Eine wichtige Ursache für diesen Zustand stellte die Tat­ sache dar, dass die Kinder zu dieser Zeit getrennt nach Geschlecht unterrichtet wurden: Die Schülerinnen erhielten bei gleichem Schulgeld nur zwei Stunden Unterricht, während es bei den Jungen sechs waren.657 Für Metz, das in Hinsicht auf das jüdische Schulwesen eine Vorreiterrolle in Lothringen, aber auch im französischen Kontext innehatte, lässt sich feststellen, dass schon Anfang der Dreißigerjahre die armen jüdischen Kinder von städtischer Seite finanziell unterstützt wurden, auch wenn der Präfekt bedauerte, dass die zur Verfügung gestellten Mittel noch unzureichend seien. Im Verlauf der Dreißigerjahre verbesserte sich auch die Lage für die jüdischen Eltern von Boulay sowie die einiger anderer lothringischer Dörfer mit geprüften jüdischen Lehrern, denn nun konnten diejenigen, die als bedürftig eingestuft wurden, ihre Kinder kostenlos zur Schule schicken. In Boulay handelte es sich zeitweise um fünf von 20 Schülern.658 Dass private Wohltätigkeit im jüdischen – genauso wie im christlichen – Kontext eine nicht zu vernachlässigende Größe im Bereich der Armenfürsorge darstellte, zeigte sich 1835, als der jüdische Bankier Fould eine Spende für die armen jüdischen Kinder in Boulay machte. Dem offenbar noch immer in Kontakt mit seinem Geburtsdorf stehenden Pariser Geschäftsmann war zu Ohren gekommen, dass „un grand nombre d’enfants de la religion israélite ne recevaient aucun instruction“.659 Um diesem Übel abzuhelfen, wandte er sich an den Bürgermeister, dem er 50 Francs übergab, um den betroffenen Kindern einen Zugang zur Bildung zu ermöglichen. 1854 machten im Département Moselle die Kommunen von dem Recht, Eltern von der Bezahlung eines Schulgelds zu befreien, in sehr unterschiedlichem Maße Gebrauch: Während die einen selbst von wohlhabenden Eltern kein Schulgeld verlangten, wurde in anderen auch von ärmeren Eltern ein solches eingefordert, weswegen diese ihre Kinder teilweise nicht am Unterricht teilnehmen ließen. In Boulay war in dem genannten Jahr die von Schulbrüdern geleitete katholische

656 Vgl. Maire de Boulay au préfet de Metz, 19.5.1835, in: ADM 1T23. Vgl. Hyman, Jews of modern France, S. 68. Vgl. Nicolas, Gilbert: Le grand débat de l’école au XIXe siècle. Les instituteurs du Second Empire, Paris 2004, S. 136 – 139. Vgl. Franz, S. 290. 657 Vgl. instituteur israélite de Boulay Fabius à l’avocat au cour royal de Metz Anspach, 7.7.1825, in: ADM 17J71. 658 Vgl. Préfet de Metz au ministre de l’intérieur, ca. 1833, in: ADM 1T23. Vgl. auch Roos, relations entre les juifs, S. 232 – 240. Vgl. Roos, juifs, S. 287 – 289. 659 Maire de Boulay au préfet de Metz, 19.5.1835, in: ADM 1T23.

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Jungenschule fast für alle Eltern kostenfrei.660 Die Gemeinderäte entschieden in Zusammenarbeit mit den Primärschulinspektoren über die Zahl der Kinder, die sie umsonst in die öffentlichen Schulen gehen ließen, d. h. für die sie die Kosten übernahmen.661 In einem Teil der lothringischen Dörfer berücksichtigten sie Kinder aus jüdischen Familien, z. B. in Louvigny.662 Für die beiden hier im Mittelpunkt stehenden Dörfer lässt sich nachweisen, dass die armen jüdischen und christlichen Eltern nicht immer gleichbehandelt wurden, aber die Tendenz in diese Richtung zumindest in Boulay in der zweiten Jahrhunderthälfte immer stärker wurde. Dass in Boulay die katholische Jungenschule für die Eltern weitgehend kosten­ los war, hing damit zusammen, dass sie von den „Frères de la doctrine chrétienne“ geleitet wurde, die es ablehnten, Schulgeld von den Eltern einzufordern. Daher übernahm die Gemeindekasse die Bezahlung dieser Lehrer und verlangte lediglich von einigen wohlhabenden Eltern einen kleinen Beitrag zur Heizung der Klassenräume. An den übrigen Schulen des Ortes – der jüdischen genauso wie der katholischen Mädchenschule – mussten die Eltern dagegen alleine für das erhobene Schulgeld aufkommen. Eine gewisse Erleichterung stellte es allerdings dar, dass einzelne Kinder von der Leistung der Beiträge befreit wurden, z. B. 1851 zwölf der 50 jüdischen Schüler. Die katholische Mädchenschule wurde zwar von Ordensschwestern geführt, aber diese sahen im Gegensatz zu den Schulbrüdern kein Problem darin, Schulgeld zu verlangen. Dasselbe gilt für die an der katholischen Mädchenschule von Grosbliederstroff tätigen „soeurs de la Providence de Peltre“.663 In dem letzteren Ort gestaltete sich die Lage Ende der Fünfzigerjahre etwas anders als in Boulay, denn hier wurde zunächst nur ein Teil der Eltern von der Zahlung des Schulgelds befreit. Die Ersten, die von der Regelung profitierten, waren 25 Paare, deren Söhne 1858 die kommunale (katholische) Jungenschule besuchten. Im folgenden Jahr mussten weitere 23 christliche Elternpaare nichts für den Schulbesuch ihrer Töchter entrichten. 1860 fanden die ersten jüdischen Eltern Berücksichtigung, als der Gemeinderat entschied, zehn von ihnen von der Schulgeldzahlung zu befreien. Die unterschiedliche Behandlung der jüdischen und christlichen Eltern trat im folgenden Jahr allerdings wieder deutlich in Erscheinung, denn während die Zahl der vom Schulgeld befreiten jüdischen Kinder gleich 660 Vgl. Univers israélite, Nr. 1, 1865, S. 93. Vgl. Inspecteur de l’instruction primaire de Metz, 22.6.1854, maire de Boulay au préfet de Metz, 10.8.1861, in: ADM 1T23. 661 Vgl. Inspecteur de l’académie de Metz, 7.8.1855, préfet de Metz, 24.10.1855, in: ADM 1T23. 662 Vgl. Etat des écoles israélites dans la circonscription consistoriale de Metz, 18.7.1851, in: CAHJP zf/469. 663 Vgl. ebd. Vgl. élèves à admettre gratuits dans l’arrondissement de Metz, 1857/58, Inspecteur de l’académie de Metz, 13.7.1861, maire de Boulay, 10.8.1861, 13.8.1861, in: ADM 1T23. Vgl. Bajetti, histoire, S. 112. Vgl. Roth, époque, S. 107.

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blieb, beschloss der Gemeinderat, alle katholischen Kinder kostenfrei zur Schule zuzulassen.664 Im Jahr 1861 zählten die katholischen Jungenschulen von Boulay und Grosbliederstroff und die Mädchenanstalt des zweiten Dorfes zu den 42 Kommunalschulen des Départements Moselle, für welche von den betroffenen Eltern kein Schulgeld erhoben wurde. Die übergeordneten Behörden kritisierten diese Praxis im Fall der beiden untersuchten Orte, da die Erhebung von Schulgeld in Boulay die Gemeindefinanzen entlastet und die Einrichtung einer Schulbibliothek sowie im Fall von Grosbliederstroff eine bessere Lehrerbezahlung ermöglicht hätte.665 Ab dem Jahr 1866 berücksichtigte die Zivilgemeinde von Grosbliederstroff auf der Liste der kostenfrei zum Unterricht zuzulassenden Kinder nur noch Katho­ liken. Dies führte 1868 zu Protest vonseiten der jüdischen Gemeinde, die betonte, dass eine große Zahl ihrer Mitglieder arm sei oder sich in einer bedrückenden finanziellen Lage befände. Mit der Lage der katholischen Schulen vor Augen und im Vertrauen auf ihre Gleichberechtigung mit den christlichen Einwohnern betonten sie, dass es gerecht wäre, wenn man den jüdischen Schülern die gleichen Vorteile wie den katholischen Schülern zugestände. Zwar wurde dieser Wunsch nicht erfüllt, aber es ist zu berücksichtigen, dass sich die Zivilgemeinde von Grosbliederstroff genauso wie diejenige von Boulay schon an der Unterhaltung der jüdischen Schulen beteiligte. Daher lässt sich behaupten, dass die lothringischen jüdischen Gemeinden grundsätzlich im Vorteil gegenüber denjenigen von Gemünden und Illingen waren: Die Beiträge, welche die jüdischen Einwohner zur Unterhaltung ihrer Schulen (und des übrigen Kultuswesens) leisten mussten, waren aufgrund der Zuschüsse der Zivilgemeinden geringer, was indirekt zu einer Entlastung der ärmeren Eltern führte.666 Von Boulay ist zu berichten, dass die Eltern armer jüdischer Kinder ab 1874 – seit sie die katholische Gemeindeschule besuchten – genauso wie die christlichen Eltern behandelt wurden. Nach einem Gesetz aus dem Jahr 1881 stellte der Bürgermeister „jedes Jahr in Gemeinschaft mit den Geistlichen bzw. den Religionsdienern die Liste der Kinder auf, welche unentgeltlich in die Schule aufgenommen werden sollten“.667 Im Fall von Boulay bestimmte daher der jeweilige jüdische Vorsänger mit, welche Kinder kostenlos die Schule besuchen durften. Die Kinder der jüdischen Minderheit wurden genauso wie diejenigen des kleinen protestantischen Bevölkerungsanteils nicht benachteiligt. 1912 profitierte z. B. neben den Kindern mehrerer christlicher Arbeiter und Waschfrauen auch die Tochter des jüdischen Hausierers 664 Vgl. élèves à admettre gratuits dans l’arrondissement de Metz, 1857 – 1864, in: ADM 1T23. 665 Vgl. inspecteur de l’académie au préfet de Metz, 13.7.1861, in: ADM 1T23. 666 Vgl. élèves à admettre gratuits dans l’arrondissement de Metz, 1866, conseil de la communauté israélite de Grosbliederstroff, 3.7.1868, in: ADM 1T23. 667 Bürgermeister Weber, 27.8.1896, in: ADM ED100 1R2.

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Lion Leopold.668 Die Gleichbehandlung zeigte sich auch in den A ­ chtziger- und den Neunzigerjahren, als die Zivilgemeinde zeitweise die Armenfürsorge vernachlässigte, da sie finanziell in Schwierigkeiten war – u. a. wegen des von den höheren Behörden erzwungenen Baus einer neuen Mädchenschule. Sowohl die jüdischen als auch die christlichen armen Kinder bekamen den ökonomischen Engpass gleichermaßen zu spüren. So beschwerte sich 1898 Lehrer Feyel darüber, dass die Söhne armer Eltern weder Bücher noch Hefte hätten.669 Im Gegensatz zu den beiden anderen betrachteten Regionen stellte im Luxemburger Fall die Frage nach der Behandlung armer jüdischer Kinder im schulischen Kontext keine Frage dar, die intensiv diskutiert wurde. Dies hing damit zusammen, dass es keine jüdische Schule gab, die über längere Zeit während des 19. Jahrhunderts existierte, weil die Zahl der jüdischen Einwohner und dementsprechend auch die ihrer Kinder gering war. In Ettelbrück und anderen nicht in unmittelbarer Nähe der Hauptstadt gelegenen Dörfern besuchten die Kinder die katholischen Gemeindeschulen und wurden allem Anschein nach nicht anders behandelt als die christlichen Kinder. Das 1843 erlassene Schulgesetz schrieb den Kommunen vor, die Schulgelder für die bedürftigen Kinder zu entrichten, allerdings ist von Ettelbrück bekannt, dass die Zivilgemeinde bereits zuvor für ärmere Schüler die Gebühren für die Erlernung des Lesens und Schreibens übernahm. Einige Jahre nach der Einführung der Schulpflicht – 1888 – verfügte der Gemeinderat offiziell, dass der Besuch der Primärschule für alle Kinder, also auch die jüdischen, kostenfrei sei.670 In der Hauptstadt wurde das Schulgeld für die jüdischen armen Kinder wohl ebenfalls von der Kommune übernommen, allerdings änderte sich die Haltung der Zivilgemeinde, als 1844 eine separate jüdische Elementarschule eingerichtet wurde. 1845 erklärte sich der Luxemburger Stadtrat zwar bereit, der jüdischen Gemeinde ein Subsidium für die Unterrichtung armer Kinder bereitzustellen, allerdings nur unter der Bedingung, dass die von diesen besuchte Schule keine private sei. Die neue jüdische Schule sahen die Gemeindevertreter allerdings als eine solche an.671 Die Angehörigen der religiösen Minderheit beschwerten sich daher darüber, dass die Zivilgemeinde „für die zahlungsunfähigen israelitischen Kinder […] gar Nichts thun [will]. Und wir fragen wohl mit Recht, ob da denn die […] Gleichheit aller 668 Vgl. Aufstellung der von Schulgeldzahlung zu befreienden Kinder für 1912, in: ADM ED100 1R2. 669 Vgl. Lehrer Feyel an den Bürgermeister von Boulay, 29.4.1891, in: ADM ED 100 1R1. 670 Vgl. Schülerliste des Lehrers von Ettelbrück, 1813, in: ANL B 527. Vgl. Rabbiner Hirsch und die Vorsteher der jüdischen Gemeinde, 3.7.1845, 12.2.1846, in: ANL G128. Vgl. Flies, S. 1275. Vgl. Bisdorff, Sylvie: Primärschule in Ettelbrück, in: Administration communale d’Ettelbruck, S. 89. 671 Conseil communal de la ville de Luxembourg, 26.12.1845, in: ANL G128.

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Luxemburger vor dem Gesetze ist, wenn die Juden genöthigt sind, ihre Kinder entweder in katholische oder in eine Privatschule zu schicken, während die Stadt aus städtischen Mitteln, wozu die Juden verhältnismäßig beitragen, öffentliche katholische Schulen gründet?“672 Der Einwand, dass die jüdischen Einwohner über ihre Abgaben indirekt die christlichen armen Kinder unterstützten, blieb erfolglos. Ähnlich wie im Illinger Fall war die Zivilgemeinde nur bereit, für die armen Kinder, welche die öffentlichen katholischen Schulen besuchten, die Zahlung des Schulgelds zu übernehmen.673 Die Regierung, an die sich die jüdische Gemeindeführung daraufhin wandte, verpflichtete die Kommune allerdings, 50 Gulden für den Schulbesuch der armen Kinder zu zahlen und weitere 30 Gulden für Unterrichtsutensilien. Die Stadtverwaltung bewilligte daraufhin 80 Gulden, allerdings betonte sie auch, dass sie darüber hinausgehende Ausgaben zugunsten bedürftiger jüdischer Kinder an der jüdischen Schule nicht leisten werde.674 Nach der Auflösung der jüdischen Schule der Hauptstadt kam es lediglich noch kurzzeitig zu Auseinandersetzungen um die Finanzierung des Religionsunterrichts. Dieser war nach dem Schulgesetz von 1843 obligatorischer Teil des Unterrichts, weswegen die jüdische Gemeinde hoffte, dass zumindest für die armen jüdischen Kinder das Schulgeld übernommen werde. 1852 ließ die Regierung allerdings verlautbaren, dass das Schulgesetz den Religionsbeamten diese Art der Unterweisung übertrage. Daher verpflichtete die jüdische Gemeinschaft den jeweils amtierenden Rabbiner, den armen Schülern unentgeltlich Religionsunterricht zu erteilen. Ein Teil des an ihn gezahlten Gehaltes wurde explizit für diese Leistung entrichtet. Die Stadtkasse beteiligte sich indirekt an diesen Kosten, indem sie der jüdischen Gemeinde ein Subsidium zukommen ließ und für die Beheizung des Schulraums sorgte.675 Dass in Lothringen die jüdischen Einwohner schon in der ersten Jahr­ hunderthälfte zumindest von den höheren Behörden als Angehörige der Zivilgemeinden gesehen wurden und somit ggf. auch als berechtigt auf Armenfürsorge, verdeutlicht eine Auseinandersetzung, die sich in Boulay abspielte. Bis in die Dreißigerjahre hinein verwandte die jüdische Gemeinde die von den Mit­gliedern ­eingenommenen Beiträge zur Unterhaltung des Kultus auch, um Bedürftigen zu helfen. 1838 weigerte sich jedoch ein Teil der Juden, seine Beiträge 672 Rabbiner Hirsch und die Vorsteher der jüdischen Gemeinde, 12.2.1846, in: ANL G128. 673 Vgl. dazu auch Kapitel 5.5.3. 674 Vgl. Conseil de gouvernement au Maire et échevins de la ville deLuxembourg, 28.9.1846, conseil communal de la ville de Luxembourg, 7.11.1846, in: ADM G128. 675 Vgl. Administrateur général, président du gouvernement au Bourgmestre et échevins de la ville de Luxembourg, 11.5.1852, Oberrabbiner Hirsch an den Regierungspräsidenten von Luxemburg, 6.1.1855, in: ANL G128. Vgl. Procureur général de Luxembourg au président du conseil administrateur général, 3.8.1855, in: ANL H78.

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zu entrichten, da er dieses „amalgame […] des fonds destiné aux frais de la fabrique avec une souscription consacré au soulagement de quelque personnes très misérables“676 ablehnte. Das jüdische Konsistorium stellte sich hinter die Kritiker, indem es die Verwendung der Kultusbeiträge zu einem anderen als dem eigentlichen Zweck tadelte. Zugleich schlug es der Zivilverwaltung vor, den armen jüdischen Familien in Boulay aus den für solche Zwecke vorhandenen Fonds der Zivilgemeinde oder des Départements Hilfe zukommen zu lassen.677 Der Präfekt schloss sich der Meinung des Konsistoriums an und betonte, dass Subskrip­tionen zugunsten jüdischer Armer ähnlich wie bei christlichen Kirchengemeinden nur auf freiwilliger Basis geschehen könnten. Für den Fall, dass die auf diese Weise gesammelten Gelder nicht ausreichen sollten, trug er dem mit dem Fall betrauten Friedensrichter von Boulay auf, sich mit dem Bürgermeister in Verbindung zu setzen und „faire d’accorder aux pauvres familles quelques secours sur les fonds du bureau de bienfaisance“.678 Spätestens im Verlauf der zweiten Jahrhunderthälfte setzte sich die von den Behörden geäußerte Auffassung, dass die jüdischen Einwohner Anspruch auf Armenfürsorge hätten, auch unter den Einwohnern des Ortes selbst durch. So erhielt der jüdische Vorsänger Leopold Samuel nicht nur einen Wohnungszuschuss von der Zivilgemeinde, sondern der Bürgermeister setzte sich darüber hinaus für ihn ein, als seine Tätigkeit als Schächter immer weniger abwarf. Wie er profitierte auch Ephraim Weil, der seine Familie – u. a. seine herzleidende Ehefrau, seine nervenkranke Tochter sowie den 80-jährigen Schwiegervater – kaum mit seiner Tätigkeit als Handelsvertreter und Vorsänger in Kurzel ernähren konnte, von dem Engagement des Beamten: Beide erhielten Geld aus einem Landesfonds.679 Als die beiden während des Ersten Weltkrieges erneut um Hilfe baten, betonte der Bürger­ meister: „Beide […] sind einer Unterstützung würdig und bedürftig.“680 Dass es sich bei den Antragstellern um Juden handelte, spielte für den Bürgermeister, der auf

676 Consistoire de la circonscription de Metz au préfet de Metz, 22.2.1838, in: ADM V156. 677 Vgl. ebd. 678 Préfet de Metz au juge de paix de Boulay, 1.3.1838, in: ADM V156. Ob die jüdischen ­Familien tatsächlich etwas erhielten, ist aufgrund der vernichteten Akten des „bureau de bienfaisance“ nicht mehr festzustellen. Vgl. Cahen, Gilbert/Brunet, Valérie: Boulay-­ Moselle, unveröff. Repertorium, Metz 2001, S. 31 – 36. Dass die Einstellung der Verwaltung teilweise von christlichen Landbewohnern geteilt wurde, belegt das Verhalten des Gemeinderats von Remirement, der 1838 den armen jüdischen Familien des Ortes 150 Francs zukommen ließ. Vgl. Roos, juifs, S. 289. 679 Vgl. Zahlungsanweisungen der Gemeinde Boulay für die Rechnungsjahre 1901 – 1903, Bürgermeister von Boulay, 16.12.1916, 27.1.1917, 16.12.1918, in: ADM ED100 3P1. 680 Bürgermeister von Boulay, 16.12.1918, in: ADM ED100 3P1.

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ihre Religionszugehörigkeit – abgesehen von der Beschreibung der Berufs­tätigkeit Weils – nicht einging, keine Rolle. In der Rheinprovinz wurden die jüdischen Einwohner im 19. Jahrhundert von den Zivilgemeinden am ehesten in akuten Notsituationen ähnlich wie die christlichen Einwohner behandelt. In der Agrarkrise der Jahre 1846/47 litten besonders die ärmeren Teile der Landbevölkerung unter den hohen Preisen für Nahrung und Saatgut. In Gemünden entschied der Gemeinderat, einen Teil dieser Einwohner zu unterstützen, indem er ihnen Hafer und Setzkartoffeln auf Kosten der Zivil­ gemeinde zur Verfügung stellte. Nach der Ernte mussten die Empfänger den Wert des erhaltenen Saatguts zwar an die Gemeindekasse zurückzahlen, aber die Maßnahme linderte die akute Armut während des Frühjahrs.681 Neben notleidenden Bauern erhielten auch andere wirtschaftlich Schwache, die im Nebenberuf oder zur Selbstversorgung Landwirtschaft trieben – u. a. Handwerker, Händler und Tagelöhner – eine Beihilfe. Unter den insgesamt 53 Empfängern befanden sich 28 Protestanten, 19 Katholiken und fünf Juden. Die Religionszugehörigkeit spielte bei der Gewährung der Beihilfe anscheinend keine Rolle.682 Ein ähnliches Verhalten zeigte die Zivilgemeinde von Illingen während des Deutsch-Französischen Krieges. Zusammen mit den in der Nähe stattfindenden kriegerischen Auseinandersetzungen sorgte eine Missernte im Regierungsbezirk Trier dafür, dass zahlreiche kleine Grundbesitzer in eine Notsituation gerieten. Verschärft wurde die Situation in Illingen dadurch, dass die Zivilgemeinde im Jahr 1870 auf eigene Kosten die durchziehenden Truppen verpflegen musste. Neben den Letzteren erhielten auch christliche und jüdische Dorfbewohner Viktualien von der Kommune, allerdings sollten sie die Kosten für die Lieferungen zurückzahlen. Aufgrund der schwierigen finanziellen Situation hatten vier Jahre nach dem Ausbruch des ­Krieges immer noch nicht alle ihren Betrag an die Kommune abgeführt, so auch Lion Marx. Im Herbst 1870 war ein Teil der Ackerbautreibenden des Dorfes gezwungen, sein Vieh zu veräußern, da er nicht genügend Futter geerntet hatte und auch keine Mittel besaß, solches zu erwerben. Um die Situation der Kleinbauern zu verbessern, gewährte der Staat dem Bezirk Trier ein Darlehen, von dem den bedürftigen Grundbesitzern Geld zur Verfügung gestellt werden sollte. Eine Erleichterung der Situation stellte dies allerdings nur für einen Teil der Notleidenden dar, da das Geld nur zu einem Zins von vier Prozent und gegen Bürgschaft eines als wohlhabend anerkannten Eingesessenen gewährt wurde. Unter diesen Voraussetzungen stellte im März 1871 681 Vgl. Auszug aus dem Gemeindebuch Gemünden vom 12.2.1847, Bericht des Landrats vom 23.2.1847, in: LHAK Best. 655,12 Nr. 156. 682 Die Konfession eines Empfängers war nicht zu ermitteln. Vgl. Verzeichnis der Personen, die Saamhafer und Setzkartoffeln durch die Gemeinde erhalten, 8.2.1847, in: LHAK Best. 655,12 Nr. 156.

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lediglich ein Dutzend Illinger einen Antrag auf eine Beihilfe. Unter ihnen befand sich kein einziger jüdischer Einwohner, aber einer von ihnen – Metzger Jacob Alexander – trat als Bürge für Johann Gestier vom Weilerhof auf.683 Diejenigen, die am meisten auf finanzielle Unterstützung angewiesen waren, erhielten sie in dem beschriebenen Zusammenhang nicht, da sie kaum in der Lage waren, Bürgen zu finden. Erst die Verteilung von Notstandsgeldern im Amtsbezirk sorgte dafür, dass sich dies änderte. Innerhalb der Bürgermeistereien entschieden die Ortsvorsteher und Vertrauensmänner, welche Personen zum Bezug einer Hilfe berechtigt waren. Als Entscheidungsgrundlage diente im Fall von Illingen die Grund- und Klassensteuer: Ein Teil derjenigen, die über wenig bzw. kein Land sowie über kein Vermögen verfügten, erhielten eine kleine Beihilfe. Neben 18 christlichen Einwohnern erhielten auch fünf ihrer jüdischen Mitbürger einen Betrag.684 Hinsichtlich der privaten Wohltätigkeit gegenüber Armen ist zu erwähnen, dass die jüdischen Bürger sich in allen Regionen bereit zeigten, in Not geratene Christen zu unterstützen. Als 1880 in Baumholder im Kreis St. Wendel über 1000 Menschen durch einen Brand obdachlos wurden, rief u. a. der Bürgermeister von Illingen zu Spenden auf und ermahnte die Eingesessenen, „sich an dem Liebeswerke recht rege zu beteiligen“.685 Knapp 200 der Dorfbewohner folgten seinem Appell, u. a. etwa 25 Juden, die wie ihre christlichen Mitbewohner – je nach Vermögenslage – zumeist 20 bis 50 Pfennige spendeten. Ähnlich gestaltete sich die Lage 1888, als Einwohner der verschiedenen Religionen ein Hilfskomitee für die überschwemmten Ostprovinzen bildeten und Spenden aus der gesamten Bevölkerung erhielten. Ein Anfang des 20. Jahrhunderts in Illingen gegründeter jüdischer Frauenverein widmete sich ausdrücklich nicht nur der Hilfe für bedürftige Glaubensgenossen, sondern bezog auch Andersgläubige ein.686 In Lothringen betonte der Metzer Präfekt schon 1802, dass die jüdischen Einwohner „une charité exemplaire, même aux autres que ceux de leur nation“687 praktizierten und 1843 räumte der ihnen gegenüber eher misstrauische Unterpräfekt von Château-Salins ein: „Ils se montrent assez généreux lorsqu’il s’agit de secourir les malheureux.“688 Neben Stadtbewohnern waren auch die in Dörfern und ­Kleinstädten

683 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1310, S. 13, 24 – 28, 49, 103, 139. 684 Neben dem schon 1859 als Bettler bezeichneten Jakob Levy gehörten auch der Fleischer Nathan Levy und die Witwe Fanny Schwarz zu den Empfängern. Vgl. ebd., S. 74 – 81. Vgl. Nauhauser, S. 170, 192 f. 685 LAS Dep. Illingen Nr. 1310, S. 167. 686 Vgl. ebd. Vgl. LAS Dep. Illingen Nr, 768, S. 5, 12 – 16. Dies gilt auch für andere jüdische Gemeinden. Vgl. Marx, Geschichte, S. 153. Vgl. Kapitel 5.3.5. 687 Colchen, S. 56. 688 Sous-préfet de Château-Salins au préfet de la Meurthe, 29.7.1843, in: ADMM V300.

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lebenden Juden bereit, arme Christen zu unterstützen, so betonte z. B. eine Jüdin aus einem Nachbarort von Nancy 1866, dass sie „keinen Unterschied zwischen Christen und Juden mache; daß sie Almosen ohne Unterschied des Glaubens vertheile“.689 Neben Geldspenden handelte es sich manchmal auch um praktische Hilfe, z. B. beteiligte sich der Rabbiner von Phalsbourg während des Deutsch-Französischen Krieges an der Pflege der im Dorf befindlichen Verletzten.690 Von dem 1881 in Ettelbrück verstorbenen Léon Cahen berichtete einer seiner dort lebenden Glaubensgenossen, dass er „wohlthätig und hilfreich gegen alle ohne Unterschied des Glaubens“691 gewesen sei. Als der Fabrikbesitzer Samson Godchaux und seine Frau ihre goldene Hochzeit feierten, richteten sie zum Andenken an diesen Tag u. a. eine philanthropische Stiftung zugunsten der Arbeiter ein.692 Es zeigten sich auch christliche Bürger hin und wieder wohlwollend gegenüber jüdischen Bedürftigen, allerdings kam dies wohl seltener vor als der umgekehrte Fall.693 U. a. waren manche Christen beim Bau von Synagogen spendenwillig, z. B. 1890 zwei katholische Bürger der Stadt Luxemburg. Dass die dortigen Staatsbehörden der Hilfe über Religionsgrenzen hinweg offen gegenüberstanden, zeigte sich 1882, als sie das jüdische Konsistorium ermächtigten, im Großherzogtum eine Kollekte „ohne Unterschied der Confession zu Gunsten der unglücklichen russischen Juden durchzuführen“.694 Nicht selten zielten Spenden vonseiten der christlichen Einwohner darauf, die Juden zu „verbessern“, z. B. im Fall der Metzerin Barbé Marbois, welche eine Stiftung einrichten ließ, die das Ziel verfolgte, armen jüdischen Jugendlichen eine Ausbildung zu ermöglichen. Dass Vereine, welche die Heranführung von Juden zu Handwerken oder Ackerbau bezweckten, vor allem in der Rheinprovinz vonseiten christlicher Beamter und Geistlicher Zuspruch erhielten, wurde bereits erwähnt.695 In Illingen entschloss sich 1829 der Bürgermeister zusammen mit dem Schulkommissarius – Pfarrer ­Küppers aus Dirmingen –, eine Subskription zu bilden, um Schul­ bücher anzuschaffen und „den unbemittelten vielen Juden dadurch eine Erleichterung zu gewähren“.696 Dass Christen für Juden spendeten, war also kein auf das städtische Umfeld begrenztes Phänomen, sondern es kam auch auf dem Land vor. Diese

689 AZJ, Nr. 3, 1866, S. 40. Vgl. auch Lang/Rosenfeld, S. 257. 690 Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 285. Vgl. Roos, juifs, S. 340. 691 AZJ, Nr. 49, 1881, S. 816. 692 Vgl. AZJ, Nr. 37, 1887, S. 588. 693 Vgl. Job, juifs à Lunéville,, S. 266 f. Beispielsweise vermachten in Lunéville in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zwar mehrere Juden einen Teil ihres Erbes zugunsten der Armen verschiedener Religionen, aber umgekehrt war dies nicht der Fall. 694 AZJ, Nr. 28, 1882, S. 467. Vgl. Lehrmann, S. 68. 695 Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 128. Vgl. Kapitel 5.3.5. 696 LAS Dep. Illingen Nr. 1545, S. 85.

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Feststellung gilt auch für Lothringen, wo um die Jahrhundertmitte u. a. die Einwohner von Remirement die Armenfürsorge als gesamtgesellschaftliche Aufgabe ansahen und daher 24 Bürger – u. a. auch der jüdische Tuchhändler David Kinsbourg – eine „Association pour l’extinction de la mendicité“ gründeten.697 Ähnlich verhielt sich die Lage in einem in der Nähe von Nancy gelegenen Ort, wo das „Bureau de bienfaisaince“ dem „comité des Dames“, dem sowohl christliche als auch jüdische Einwohnerinnen angehörten, die Aufgabe anvertraute, wöchentlich Gaben an die Armen zu verteilen und halbjähr­liche Sammlungen zu veranstalten.698 Dass teilweise nicht nur konfessions-, sondern auch grenzüberschreitend geholfen wurde, belegt die Aktivität des belgischen „comité du pain d’Arlon“ während des Deutsch-Französischen Krieges. Diese Vereinigung, der auch einige Juden angehörten, machte es sich zur Aufgabe, den Bewohnern der durch den Krieg verwüsteten Teile des Départements Moselle zu Hilfe zu kommen.699 Einen staatsübergreifenden Charakter hatten auch einige jüdische Organisationen, die sich der Unterstützung von Glaubensgenossen widmeten und in den betrach­teten Regionen Mitglieder hatten, nämlich die Alliance Israélite Universelle und der Zentralverband der jüdischen Wanderfürsorge Lothringen und Luxemburg. Letzterer versuchte, regionale Bemühungen um Arbeitsbeschaffung bzw. um Heimführung von Wanderarmen zu koordinieren.700 5.5.3 Die Stellung der jüdischen Schulen

Ein Thema, bei dem sich viele Gemeinsamkeiten hinsichtlich der Behandlung der jüdischen Minderheiten trotz unterschiedlicher Gesetzgebungen feststellen lassen, ist die Frage der Unterhaltung jüdischer Schulen. In allen betrachteten Regionen gehörte der Auf- bzw. Ausbau des (Elementar-)Schulwesens zu den zentralen Auf­ gaben der Zivilgemeinden im 19. Jahrhundert. In der Rheinprovinz wurde schon kurz nach Beginn der preußischen Herrschaft bestimmt, dass jedes Kind eine Schule zu besuchen habe, um dort Religions- und Elementarunterricht durch staatlich geprüfte Lehrer zu erhalten. Zudem erließ der Regierungspräsident 1824 eine Verordnung, welche die jüdische Bevölkerung daran erinnerte, dass ihre Kinder schulpflichtig seien. In Luxemburg wurde erst 1843 eine Schulpflicht eingeführt, und in Frankreich dauerte es sogar bis 1881, bis allen Kindern der Schulbesuch 697 Vgl. Roos, juifs, S. 105, 344. 698 1866 kam es zu einer kurzen Auseinandersetzung zwischen einer Jüdin und dem neuen Pfarrer, der sie ausschließlich zu Juden bei den Spendensammlungen schicken wollte. Ihr Hinweis, dass die bisherigen Pfarrer sich nie an ihrer Tätigkeit gestört hätten, bewegte den Geistlichen zum Einlenken. Vgl. AZJ, Nr. 3, 1866, S. 40. 699 Vgl. Schreiber, dictionnaire, S. 116. 700 Vgl. Kapitel 5.3.4. Vgl. Dienemann, S. 85.

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vorgeschrieben wurde. In Elsass-Lothringen führte die deutsche Verwaltung allerdings schon nach der Annexion die Schulpflicht nach preußischem Vorbild ein.701 Welche Stellung die in allen Regionen existierenden jüdischen Schulen innerhalb des Elementarschulwesens innehaben sollten bzw. ob ihre Schüler genauso wie die christlichen Schüler behandelt werden sollten, war auf lokaler Ebene stark umstritten, da die Beantwortung dieser Frage finanzielle Implikationen für die Gemeindebudgets hatte. In der Rheinprovinz wie im übrigen Preußen blieb der Status der jüdischen Schulen fast das gesamte 19. Jahrhundert über umstritten.702 Ob eine jüdische Lehranstalt als öffentlich – und somit als berechtigt auf Zuschüsse aus der Gemeindekasse – oder als privat eingestuft wurde, hing nicht nur von den Gesetzen, Erlassen und Ver­ fügungen ab, sondern auch von der Haltung der zuständigen Beamten gegenüber der jüdischen Minderheit: Die teilweise widersprüchlichen Bestimmungen eröffneten ihnen einen Entscheidungsspielraum. Zu welcher Unsicherheit die Fülle an Bestimmungen führte, zeigt ein Bericht der Koblenzer Regierung, in deren Bezirk 1873 elf jüdische Elementarschulen existierten: „Von diesen haben sieben (bestimmt) den Charakter von Privatschulen, eine (bestimmt) den einer öffentlichen Schule, während betreffs der drei übrigen das bezügliche Verhältnis kein völlig klar geordnetes sei“.703 Die Konfusion rührte nicht zuletzt daher, dass immer wieder auf Präzedenzfälle ver­ wiesen wurde, die teilweise aber vor dem Hintergrund einer anderen Gesetzgebung entschieden worden waren.704 Bezüglich der jüdischen Lehranstalten von Illingen und Gemünden ist festzustellen, dass nicht nur die Haltungen der preußischen Beamten der verschiedenen Ebenen differierten, sondern auch die Meinungen der Bewohner der beiden Orte bzw. die der sie vertretenden Räte. In Gemünden forderte der jüdische Vorsteher 1839 einen Zuschuss zur Unterhaltung der jüdischen Schule aus der Gemeindekasse mit der Begründung ein, dass die jüdischen Bürger wie die christlichen Bürger behandelt werden müssten, da sie die gleichen Beschwerlichkeiten – also Steuern – trügen. Der Bürgermeister befürwortete angesichts der Lage im Dorf – die christlichen Lehrer erhielten ein festes Gehalt aus der Gemeindekasse – das als bescheiden betrachtete Gesuch der jüdischen Gemeinde ebenso wie der Landrat.705 Die Regierung übertrug die 701 702 703 704

Vgl. Franz, S. 22, 287 – 361. Vgl. Dörner, S. 242 f. Vgl. Roth, Lorraine, S. 148. Vgl. Toury, Geschichte, S. 163 – 167. Vgl. Epperstedt, S. 179 – 181. Landesarchivverwaltung, Bd. 3, S. 253. Vgl. Jehle, Enquêten, S. LXXII. Vgl. dazu die in diesem Kapitel weiter unten behandelte Berufung der jüdischen Gemeinde von Illingen auf die Entscheidung der preußischen Regierung betr. der jüdischen Schule von Gemünden. Vgl. GpStA I. HA Rep. 76 Kultusministerium III Sekt. 37 Abt. XVI Nr. 1 Bd. 1, S. 343 – 345. 705 Vgl. LHAK Best. 441 Nr. 9811, S. 149 – 152.

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­Entscheidung dem Schöffenrat, der den bürgermeisterlichen Vorschlag ablehnte, weil er die jüdische Institution als Privatanstalt einstufte und da die „Juden­gemeinde noch nie solche Ansprüche gemacht hat und ihr auch noch keine bewilligt worden sind“.706 Finanzielle Überlegungen spielten bei der Beratung keine Rolle. Dass die ökonomische Situation der Kommune eine Unterstützung zugelassen hätte, zeigte sich nicht zuletzt daran, dass 1839 die Zivilgemeinde die Bezahlung des Schulgelds für alle christlichen Schulkinder übernahm. Ausschlaggebend für die Entscheidung war die Meinung der Schöffen, dass die Juden nicht der Zivilgemeinde angehörten.707 Der jüdische Vorsteher war nicht bereit, die auf lokaler Ebene gefallene Entscheidung zu akzeptieren, und wandte sich mit einem weiteren von Bürger­meister Reusch unterstützten Gesuch an die höheren Behörden, in dem er betonte, dass die Juden wie die Christen Staatsbürger seien und die gleichen Rechte hätten. Reusch bemerkte, dass „es für die Israeliten empfindlich und hart sein muß, daß sie für ihre Schulkinder hohe Beiträge zahlen müssen, während die Schul- und Cultuskosten der Christen aus der Gemeindekasse […] bestritten werden“, und gab zu bedenken, dass „sie einen weit höheren Beitrag erhalten [werden], als sie gefordert haben, wenn sie[,] wie sie vorhaben, eventuell bis zur höchsten Instanz auf einer confessionellen Ausgleichung bestehen“.708 Von dem Wunsch nach einem einvernehmlichen Zusammenleben im Dorf geleitet, wären die jüdischen Ein­ wohner bereit gewesen, sich mit einem kleinen Zuschuss zu begnügen, aber da die christlichen Gemeindevertreter diesen verweigerten, forderten sie das ein, was sie als ihr Recht ansahen. Die Koblenzer Regierung kam zu dem Ergebnis, dass die Gemündener Juden Anspruch auf einen Zuschuss aus der Gemeindekasse hätten. Sie seien bereit, ihre Kinder an die christlichen Schulen zu s­ chicken, aber diese könnten die Kinder aufgrund Platzmangels nicht auf­nehmen. In einem solchen Fall sei „die betreffende Gemeinde verpflichtet, ihnen zur Unter­haltung einer eigenen Schule, da sie dieselbe zu errichten gezwungen sind[,] nach Verhältniß der Bevölkerung gleiche Rechte mit den christlichen Konfessionen und folglich gleiche Ansprüche auf verhältnismäßige Unter­stützung aus Kommunalmitteln angedeihen zu ­lassen“.709 Die zuständigen Berliner Ministerien schlossen sich der Einschätzung in einem Erlass im März 1840 ein: Was „die jüdische Schule zu Gemünden betrifft, so beansprucht dieselbe mit Recht eine Unterstützung aus Communal-Mitteln und überhaupt gleiche Rechte mit den christlichen Schulen des Orts, da sie […] als eine öffentliche betrachtet werden muss, insofern sie lediglich im Interesse der beiden christlichen Schulen, welche zur Aufnahme 706 707 708 709

Ebd., S. 158. Vgl. ebd., S. 151 – 159. Ebd., S. 164. Ebd., S. 171.

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der jüdischen Kinder nicht den erforderlichen Raum bieten[,] als ausschließlich jüdische Schule organisiert ist“.710 Die Koblenzer Regierung verpflichtete die Zivilgemeinde darauf dazu, u. a. fünf Taler Zuschuss aus Kommunalmitteln zu leisten, blieb damit aber hinter dem, was die Ministerien als verpflichtend festgelegt hatten – Zuschuss entsprechend dem Bevölkerungsanteil –, zurück. Die jüdische Gemeinde war daher unzufrieden und forderte, dass das Schulgeld der jüdischen Kinder genauso wie das Schulgeld der christlichen Kinder von der Gemeindekasse bezahlt werden müsse.711 Die Koblenzer Regierung folgte dem und befahl, dass die jüdische Gemeinde den christlichen Gemeinden hinsichtlich der Übernahme des Schulgeldes durch die Gemeindekasse gleichgestellt werde. In der christlichen Bevölkerung Gemündens trafen die behördlichen An­ordnungen auf starken Widerspruch. Bereits die Verpflichtung, den Juden einen kleinen Zuschuss zu gewähren, war in Gemünden nach Auskunft des Bürgermeisters auf Ablehnung gestoßen: „Der Haß der christlichen Einwohner gegen die hiesigen Juden sei […] in dieser Angelegenheit so groß, daß der Versuch einer Belehrung über die darüber bestandenen gesetzlichen Bedingungen keinen Erfolg gehabt“712 habe. Die beiden evangelischen Beistände hatten sich zusammen mit dem katholischen gegen die Bewilligung der Beihilfe aufgelehnt. Anschließend protestierte der gesamte Schöffenrat gegen eine Beteiligung der Juden an der Gemeindekasse und verwies darauf, dass die Gewährung eines Zuschusses „große Erbitterung der Christen gegen die Juden hervorgerufen“ habe, diese aber noch weiter wachsen würde, „wenn auch noch das jüdische Schulgeld auf die Gemeindekasse übernommen werden müsse“. 713 Die Gemeindevertreter wünschten, dass „die jüdische Schule nach wie vor von jedem Antheil an der Gemeindekasse ausgeschlossen bleibe“,714 waren sich aber bewusst, dass sie kaum auf Zustimmung seitens der Behörden hoffen konnten. Um den Anspruch der jüdischen Gemeinde auf Schulgeld aus der Gemeindekasse abwehren zu ­können, beschloss der Schöffenrat daher für den Fall, dass sein Antrag abgelehnt würde, dass die Christen wieder Schulgeld für ihre Kinder entrichten sollten. Da die oberen Behörden nicht bereit waren, weiter gegen die Stimmung im Dorf anzugehen, kam es zur Wiedereinführung der Schulgeldzahlung für christliche Eltern. Von der Verpflichtung, der jüdischen Schule jährlich einen kleinen Zuschuss zu

710 711 712 713 714

Ebd., S. 207 f. Vgl. auch ebd., S. 173. Vgl. ebd., S. 178 f. Ebd., S. 197 f. Ebd., S. 199. Vgl. ebd., S. 178, 197. Ebd., S. 200.

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zahlen, konnte sich die Zivilgemeinde durch die Wiedererhebung des Schul­ geldes allerdings nicht befreien.715 Der im März 1840 wegen des beschriebenen Gemündener Konflikts von den Berliner Ministerien verabschiedete Erlass hatte weitreichende Auswirkungen, da er einen Präzedenzfall darstellte und in der Folge auch von anderen jüdischen Gemeinden der Rheinprovinz als Argument im Kampf um Zuschüsse zu jüdischen Schulen bzw. von den Behörden zur Ablehnung derartiger Ansprüche benutzt wurde. Dies war auch bei Auseinandersetzungen über den Status der jüdischen Schule von Illingen der Fall. Im Jahr 1844 stellte der Ottweiler Landrat fest, dass die jüdische Schule von Illingen anders als diejenige von Gemünden nur auf Wunsch von der jüdischen Gemeinde gegründet worden sei – und nicht wegen Über­füllung der christlichen Schulen auf Veranlassung der Zivilgemeinde. Tatsächlich hatte der Trierer Oberrabbiner 1823 die Gründung einer jüdischen Schule angeregt, aber nach Angaben der jüdischen Gemeinde war diese Entscheidung auch den Wünschen der christlichen Einwohner zuliebe gefallen. Daher kämpften sie um finanzielle Unterstützung aus der Gemeindekasse.716 Dass der in den Zwanziger­jahren tätige Bürgermeister Schneider eine treibende Kraft bei der Gründung der jüdischen Schule gewesen war, stritt sein in den Vierzigerjahren amtierender Nachfolger Fourmann nicht ab, aber er betonte, dass Schneider „nicht im Namen der Zivil­ gemeinde gehandelt, wenigstens keine Verbindlichkeit für dieselbe über­nommen“717 habe. Er lehnte daher Zuschüsse zur Unterhaltung der jüdischen Schule aus der Gemeindekasse ab und weigerte sich zudem, jüdische Zeitzeugen über die Gründung der Lehranstalt zu befragen, da er diesen unterstellte, dass sie ihn zum eigenen Vorteil belügen würden. Als Ungerechtigkeit empfanden es die jüdischen Einwohner Illingens in den Vierziger­jahren, dass die Neuerrichtung des katholischen Schulhauses zu einem großen Teil von der Zivilgemeinde übernommen wurde und die christlichen Einwohner – die große katholische Mehrheit sowie die wenigen evangelischen Familien – lediglich etwa 15 % der Kosten über Umlagen erbrachten; sie selbst aber sollten sich nach dem Willen von Bürgermeister Fourmann allein um die Beschaffung eines neuen Schullokals kümmern, als der bisherige Unterrichtsraum unbenutzbar wurde.718 Während Fourmann eine Auflösung der jüdischen Schule als Option sah, war dies beim Schöffenrat nicht der Fall. Letzterer glaubte zwar 715 Vgl. LHAK Best. 441 Nr. 9811, S. 193 – 202, 352. 716 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1546, S. 39 – 41, 59, 73. 717 Ebd., S. 36. 718 Der Beamte vertrat diese Meinung auch deshalb, weil die jüdischen Einwohner seinem Rat, eine Person als Vorsänger und Lehrer anzustellen, nicht gefolgt waren. Vgl. ebd., S.  31 – 50.

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nicht, zu einem Zuschuss verpflichtet zu sein, war aus Billigkeitsgründen aber bereit, „einen freiwilligen Beitrag zu[r] Beschaffung eines neuen Schullocals zu bewilligen“.719 Auf Druck von Linz hin musste Fourmann 1845 den Betrag, den die jüdische Gemeinde erhalten sollte, bestimmen. Den von den christlichen Einwohnern geleisteten Steuern wurden die für das katholische Schulhaus gemachten Ausgaben aus der Gemeindekasse gegenübergestellt und dann der Betrag errechnet, der den jüdischen Einwohnern im Verhältnis zu den von ihnen gezahlten S­ teuern zustand.720 Ähnlich wie in Illingen war es auch in Gemünden der zuständige Landrat, der dafür sorgte, dass sich die Zivilgemeinde an den Kosten für den jüdischen Unterrichtsraum beteiligte. Er war nach einer Inspektion mit dem Zustand des Letzteren unzufrieden gewesen, weswegen Bürgermeister Reusch 1842 kleinere Bauarbeiten vornehmen und eine neue Einrichtung besorgen ließ. Anders als im Illinger Fall war der Bürgermeister davon überzeugt, dass die von der Gemeindekasse bezahlten Maßnahmen den jüdischen Einwohnern zuständen, da die Kommune auch die Kosten für die Gebäude der evangelischen sowie der katholischen Schule übernommen hatte.721 Das Gesetz von 1847 änderte nichts daran, dass die Stellung jüdischer Schulen umstritten und abhängig von der Haltung der zuständigen Beamten blieb: Es legte fest, dass jüdische Schulen generell Privatschulen seien, ihnen aber ein öffentlicher Charakter zugestanden werden könne, wenn sie „im allgemeinen Schulinteresse“722 existierten. Die Interpretationen des Gesetzes wichen je nach Standpunkt voneinander ab, wie sich am Beispiel der beiden Untersuchungsorte zeigen lässt. In Illingen argumentierte die jüdische Gemeinde 1855, dass ihre Schule eine öffentliche sei, u. a., weil die Trennung der christlichen und jüdischen Kinder im allgemeinen Interesse liege, da so Streitigkeiten und einer Verflachung der Religionen vorgebeugt würde. Daher forderte sie von der Zivilgemeinde Zuschüsse. Mit den am Fortbestand der jüdischen Schule ebenfalls interessierten christlichen Gemeindevertretern konnte aber keine Einigung erzielt werden, weswegen sich die jüdische Gemeinde an die Trierer Regierung wandte. Diese lehnte es jedoch ab, die Schule zu einer öffentlichen Anstalt zu erklären, da sie überzeugt war, die Institution sei allein auf Initiative der Juden und somit nicht im allgemeinen Interesse eingerichtet worden. Dass die Zivilgemeinde nach dem Verständnis mancher Beamter keine konfessionell neutrale Einrichtung war, zeigt eine Aussage des Landrats, der 1856 feststellte, dass „die 719 Ebd., S. 42. 720 Vgl. ebd., S. 48 – 50. 721 Vgl. LHAK Best. 441 Nr. 9811, S. 436 – 447. Vgl. Meyer, Juden, S. 20. Vgl. LHAK Best. 441 Nr. 25285, S. 387 – 394. 722 Vgl. Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz, Bd. 2, S. 150.

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christliche Gemeinde“ – womit er die Kommune meinte – nicht zur Unter­ haltung der jüdischen Schule herangezogen werden könne.723 1858 zeigte sich auch in Gemünden, dass die Bestimmungen über den Status der jüdischen Schulen verschieden interpretiert wurden, je nach eigenem Standpunkt und Interesse. Der Wiederaufbau der Synagoge (welche die Schule beherbergt hatte) verschärfte zu dieser Zeit die finanzielle Situation der Gemündener Juden – besonders der Eltern, die für ihre Kinder mehr als doppelt soviel Schulgeld zahlen mussten wie die christlichen Eltern. Der jüdische Vorsteher bat um mehr Unter­ stützung aus der Gemeindekasse, weil die jüdische Schule seiner Meinung nach auch nach dem Gesetz von 1847 weiterhin eine öffentliche war. Landrat Hardt verwarf diese Auffassung: Zwar sei der Platzmangel in den christlichen Schulen der Grund für die Existenz der jüdischen Schule, aber seit der Neuerrichtung der christlichen Schulhäuser bestände kein Bedürfnis mehr, sie zu erhalten.724 Trotzdem bat der Vorsteher 1859 mit Verweis auf die Finanzierung der christlichen Schulgebäude durch die Gemeindekasse erneut um Unterstützung: „Was den einen Recht[,] muß für den anderen billig sein; gleiche Lasten in der Commune, […] warum dann nicht gleiche Rechte?“725 Die Koblenzer Regierung und der Landrat wiederholten ihre Ablehnung, da sie die Schule als Privatanstalt einstuften. Bürgermeister Mendel zog daraus den Schluss, dass der Zivilgemeinde generell „keine Subventionspflicht dem jüdischen Schulwesen gegenüber obliegt“.726 Dass es den jüdischen Kindern unmöglich war, die christlichen Schulen zu besuchen, da diese wieder überfüllt waren, sah er nicht als Grund an, die jüdische Schule zu unterstützen. Er suchte sich die Beweisführung heraus, die seinem eigenen Verständnis entsprach. Er hätte genauso gut argumentieren können, dass die Zivilgemeinde zu Zahlungen verpflichtet sei, da die jüdische Schule nur im Interesse der christlichen Schulen bestand. Ende der Fünfzigerjahre gingen die jüdischen Vorsteher Illingens in dem Konflikt um den Status der jüdischen Schule dazu über, auf die beengte räumliche Situation in den christlichen Schulen hinzuweisen, und beriefen sich dabei auf den Erlass von 1840 bezüglich Gemündens. Sie verwiesen darauf, dass die Zivilgemeinde ein weiteres Schullokal für die christliche Schule besorgen müsse, wenn die jüdischen Kinder diese besuchten. Die jüdische Schule bestehe daher im allgemeinen ­Interesse und die Zivilgemeinde sei verpflichtet, die jüdische Schule zu unter­stützen. Der Landrat sah dies zwar nicht als ausreichende Argumentation an, um die Lehranstalt zu einer öffentlichen zu erklären, aber er machte der Zivil­ gemeinde den Vorschlag, einen freiwilligen Zuschuss zur Unterhaltung der jüdischen 723 Vgl. LAS Dep. Illingen 1546, S. 58 – 74. 724 Vgl. LHAK Best. 441 Nr. 9811, S. 443 – 453. 725 LHAK Best. 441 Nr. 25285, S. 390. 726 LHAK Best. 441 Nr. 9811, S. 675.

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Schule zu geben, um somit den Kosten einer Erweiterung der christlichen Schule zu entgehen. Eine gesetzliche Verpflichtung der Kommune zu Zuschüssen für die jüdische Schule sah er nicht. Bürgermeister Fourmann lehnte den Vorschlag ab, da er die Einrichtung einer gemeinsamen Schule im Gegensatz zum Landrat und den meisten christlichen und jüdischen Einwohnern nicht als die schlechteste Lösung betrachtete. Aufgrund der angespannten finanziellen Lage äußerten die jüdischen Vorsteher in den nächsten Jahren mehrmals den Gedanken, die jüdische Schule aufzulösen, auch wenn sie dies nicht umsetzten.727 Die jüdischen Einwohner Illingens waren somit in den Sechzigerjahren ge­ zwungen, ihre Schule weiterzubetreiben, ohne im Gegenzug höhere Zuschüsse von der Kommune zu erhalten. Die mehrheitlich christlichen Gemeindevertreter verweigerten dem jüdischen Lehrer zu dieser Zeit jeglichen Gehaltszuschuss aus der Gemeindekasse. Landrat Schlechtendahl, der das Gesuch von Lehrer Pfeffer unterstützt hatte, konnte diesem nur mitteilen, dass der Gemeinderat sich ab­­lehnend geäußert habe, und vertröstete ihn damit, dass „möglicherweise die Neuheit der Sache einen nachtheiligen Einfluß auf den Ausfall des Beschlusses gehabt“728 habe. Weitere Anträge fielen ebenfalls ablehnend aus und Bürgermeister Fourmann machte 1868 die Prognose, dass die Gemeinderäte „nie dazu [zu] bewegen sein [werden], demselben [Lehrer Pfeffer; Anm. d. Autorin] nur eine kleine Zulage zu bewilligen“.729 Diese Einschätzung spiegelte allerdings eher den Wunsch des Bürgermeisters als die Realität wider, denn in den folgenden Jahren entwickelte sich das Verhalten der christlichen Gemeindevertreter allmählich in eine andere Richtung. Trotz der verbreiteten Abwehrhaltung im Hinblick auf Verpflichtungen gegenüber jüdischen Schulen finden sich in den Sechzigerjahren Anzeichen für einen gewissen Wandel in der Rheinprovinz: So wurde z. B. in Illingen ein Teil der Kosten für das Heizungsmaterial der jüdischen Einrichtung freiwillig aus der Gemeindekasse bestritten. Auch in Gemünden lassen sich Spuren der Veränderung finden: Obwohl die Zivilgemeinde nach der 1859 geäußerten Auffassung der höheren Behörden nicht mehr zu Zuschüssen verpflichtet war, erklärte sich der Gemeinderat „aus Billigkeitsgründen“ bereit, die Innenausstattung des Schulsaals aus Gemeindemitteln zu finanzieren. Darüber hinaus strich er der jüdischen Schule auch nicht die in den Vierzigerjahren erstrittenen Zuschüsse aus der Gemeindekasse, noch verweigerte er das Brennholz. Im Verlauf der Sechzigerjahre erhöhte die Zivil­gemeinde ihren jährlichen Zuschuss zur Unterhaltung der jüdischen Schule sogar von fünf auf 20 Taler, behielt sich allerdings vor, diese Unterstützung jederzeit wieder zu

727 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1546, S. 75 – 96. 728 Ebd., S. 104. 729 Ebd., S. 105.

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streichen.730 In Illingen ist nach dem Deutsch-Französischen Krieg eine deutlich positivere Haltung der christlichen Gemeinderäte gegenüber den Anliegen der jüdischen Gemeinde festzustellen, die auch Bürgermeister Neumeister überraschte. 1872 beantragte der jüdische Lehrer Pfeffer seine Pensionierung und hoffte auf die Bezahlung eines Ruhegeldes vonseiten der jüdischen Gemeinde und der Kommune. Entgegen der Befürchtung von Neumeister wies der Gemeinderat die Bitte nicht zurück, sondern stellte fest, dass Pfeffer „über 40 Jahre hier als Lehrer fungirt und sein Amt zur Zufriedenheit der Eingesessenen […] geführt habe, es daher auch in der Billigkeit liege[,] demselben bei seinem Ausscheiden aus dem Dienste eine angemessene Pension zuzuwenden“.731 Die langsame Veränderung der Haltungen der christlichen Gemeindevertreter weist auf eine sich wandelnde Wahrnehmung jüdischer Einrichtungen als Teil der Zivilgemeinden hin. In den Argumentationen für die Gewährung von Gemeindemitteln spielte die Gesetzeslage allenfalls eine untergeordnete Rolle, vielmehr stützten sich die christlichen Dorfbewohner bei ihren Entscheidungen auf ihr eigenes Gerechtigkeitsempfinden. In diesem hatten die jüdischen Schulen zwar nicht denselben Stellenwert wie die christlichen Schulen, aber eine vollständige Abwälzung der Kosten auf die jüdischen Einwohner erschien den Gemeindevertretern als ungerecht – selbst wenn die übergeordnete Verwaltung dies teilweise als legitim ansah. In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts wich die Entwicklung der jüdischen Schulen in Gemünden und Illingen stark voneinander ab. Als in dem ersteren Dorf die Unterhaltung der jüdischen Schule aufgrund der sinkenden Kinderzahl und der damit einhergehenden Schulgelderhöhung praktisch unmöglich wurde, strich der Gemeinderat alle Zuschüsse an die Schule, sodass diese 1874 geschlossen werden musste. Obwohl der jüdische Vorstand mit der Lösung einverstanden ge­­ wesen war, setzten sich immer wieder jüdische Einwohner für eine Wiedereinrichtung einer jüdischen Elementarschule ein, z. B. 1876, als einige wünschten, dass der Vorsänger und Religionslehrer Strasser auch den Elementarunterricht übernehme.732 Ihre Bemühungen scheiterten allerdings an dem Widerwillen der lokalen sowie der höheren Behörden. Das 1894 von den jüdischen Vorstehern eingebrachte Gesuch auf Umwandlung der privaten Religionsschule in eine Volksschule mit öffentlichem Charakter wurde abgelehnt. Ausschlaggebend für diese Entscheidung war – wie bei der Auflösung der Schule – die wegen des jüdischen Bevölkerungsrückgangs geringe Zahl schulpflichtiger jüdischer Kinder.733 730 Vgl. ebd., S. 88, 106 f. Vgl. LHAK Best. 441 Nr. 9811, S. 500 f, 639. 731 LAS Dep. Illingen Nr. 1546, S. 117 f. Vgl. ebd. S. 115 f. 732 Vgl. LHAK Best. 441 Nr. 9811, S. 742 f, 781. Vgl. auch LHAK Best. 467 Nr. 1716, S. 347. Vgl. Schellack, Schule, S. 37. 733 Vgl. LHAK Best. 403 Nr. 15223. Vgl. LHAK Best. 441 Nr. 26642. Vgl. auch Kapitel 3.1.1.

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In Illingen, wo die jüdische Bevölkerung bis zur Jahrhundertwende konstant blieb, bestand die jüdische Elementarschule anders als in Gemünden fort. Zwar war auch hier die Belastung der jüdischen Eltern durch das Schulgeld hoch, aber dies führte nicht zur Auflösung. Ermutigt durch das 1872 an den alten jüdischen Lehrer gemachte Zugeständnis der Zivilgemeinde, baten die jüdischen Vorsteher darum, hinsichtlich ihrer Schule die „jüdische Gemeinde mit der christlichen in gleiche Berechtigung zu stellen“.734 Der Vorstoß scheiterte jedoch genauso wie derjenige, den der jüdische Vorstand 1888 machte. Wie schon in den Fünfzigerjahren lautete die Begründung der Trierer Regierung, dass nur eine Synagogengemeinde im Sinne des Gesetzes von 1847 einen solchen Antrag stellen könne.735 Daher organisierte sich die jüdische Gemeinschaft von Illingen auf die geforderte Weise und beantragte direkt nach der Bestätigung der Satzungen der Synagogengemeinde im Januar 1895 die Erhebung der jüdischen Schule zu einer öffentlichen Volksschule. Die Vertreter der Zivilgemeinde waren allesamt der Meinung, dass die politische Gemeinde aus Billigkeitsgründen die jüdische Schule wie die anderen behandeln solle. Daher beschloss der Gemeinderat, die anfallenden Kosten auf den Gemeindehaushalt zu übernehmen. Zwar mussten die jüdischen Eltern weiterhin Schulgeld an den Lehrer entrichten, aber dies stellte keine Benachteiligung dar, da die christlichen dies ebenso machen mussten. Die Regierung Trier genehmigte den Beschluss des Gemeinderats und die Zivilgemeinde hielt über den Untersuchungszeitraum hinaus an der Gleichbehandlung der jüdischen und christlichen Schulen fest.736 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass zunächst die Gemeindevertreter einzelner größerer Orte bereit waren, jüdische Schulen als öffentliche und somit gleichberechtigt mit den christlichen Einrichtungen anzusehen, während dörfliche Zivilgemeinden dies zumeist erst in der Zeit des Deutschen Reichs taten. Die zu dieser Zeit im ländlichen Bereich sinkende jüdische Kinderzahl sorgte allerdings dafür, dass die jüdischen Schulen häufig geschlossen werden mussten, bevor es zu einem solchen Schritt kommen konnte. Im Fall von Illingen verhinderte die demografische und ökonomische Situation in der Nähe des Industriegebiets eine solche Entwicklung. Bereits seit 1816 waren alle französischen Gemeinden angehalten, eine Schule zu unterhalten, aber erst die Regierungen der Julimonarchie betrachteten das Elementarschulwesen als wichtiges Handlungsfeld und machten die jüdischen Bildungseinrichtungen bis in die lothringischen Dörfer hinein zu einem Thema, 734 LAS Dep. Illingen Nr. 1546, S. 123. 735 Vgl. ebd., S.  129 – 134. Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1548, S. 6. Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1551, S. 12. 736 Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1547, S. 1 f. Vgl. LAS Dep. Illingen Nr. 1540, S. 1 f. Vgl. ­Nauhauser, S. 232, 324 f.

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mit dem sich die lokalen Entscheidungsgremien beschäftigen mussten. Dass unter der Julimonarchie die jüdischen Einrichtungen vom „Loi Guizot“ profitieren sollten, verdeutlicht das Verhalten des französischen Kultusministers, der 1834 u. a. den Metzer Stadtrat aufforderte, über den Status und somit die Finanzierung der dortigen jüdischen Jungenschule zu beraten. Daraufhin teilte der Rat mit, dass er die Institution als „école communale“ ansehe und ihm deswegen auch schon eine Subvention gewährt habe.737 Dass auch Landgemeinden mit einer größeren jüdischen Bevölkerung sich mit der Frage beschäftigten, zeigt ein Schreiben des Boulayer Bürgermeisters Weber aus dem Jahr 1835. Nach seinen Angaben bestand in dem Dorf hinsichtlich der jüdischen Einwohner schon länger die Absicht „d’ériger en leur faveur une école communale“.738 Da aber kein geeignetes Lokal für den Lehrer zur Verfügung stehe, habe sich die Zivilgemeinde bisher mit der Gewährung einer Beihilfe in Höhe von 50 Francs für den Lehrer begnügt. Als Almosen betrachtete Weber diesen Betrag nicht, sondern er glaubte vielmehr, dass die jüdischen Einwohner sogar Anrecht auf 200 Francs Zuschuss hätten, „puisque les Israélites contribuent aux charges de la ville“.739 Mit dem Vorschlag, die Schule zu einer kommunalen Einrichtung zu erklären, konnte sich der Bürgermeister im Gemeinderat aber nicht durch­setzen, da die Regierung nicht die Absicht erkennen ließ, die Zivilgemeinde dabei finan­ ziell zu unterstützen.740 Grundlegend anders gestaltete sich die Lage in Grosbliederstroff, denn dort stand eine finanzielle Unterstützung der jüdischen Schule durch die Zivilgemeinde in der ersten Jahrhunderthälfte anscheinend überhaupt nicht zur Debatte. Daher ist festzustellen, dass die Vorstellungen, die sich die jüdischen Einwohner der benachbarten Rheinprovinz teilweise von den Zuständen im westlichen Nachbarland machten, falsch waren. So glaubten z. B. die Illinger Juden 1837, dass in Frankreich „die Lehrer unserer, wie jene der anderen Confessionen vom Staate besoldet werden“.741 In der Realität wurden in Lothringen nicht selten

737 Die Stadt Metz kann als Vorreiter betrachtet werden, denn sie ließ schon seit 1821 den ansässigen jüdischen Schulen regelmäßig Zuschüsse zukommen, wohl weil sie die Idee des Konsistoriums teilte, dass diese einen Ort der „régénération“ bildeten. In Sarreguemines war der Stadtrat spätestens seit 1830 bereit, eine Subvention für die jüdische Schule zu gewähren. Vgl. Préfet de Metz au ministre d’instruction publique, 24.9.1830, 4.11.1833, Préfet de Metz au maire de Metz, 12.4.1834, 5.7.1834, in: ADM 1T23. Vgl. Franz, S. 290 f. Vgl. Hyman, Jews of modern France, S. 66 – 69. Vgl. Roos, juifs, S. 284. Vgl. Lang/ Rosenfeld, S. 127. 738 Maire de Boulay au préfet de Metz, 19.5.1835, in: ADM 1T23. 739 Ebd. 740 Vgl. ebd. Vgl. Préfet de Metz au maire de Boulay, 21.5.1835, in: ADM 1T23. 741 GpStA I. HA Rep. 76 Kultusministerium III Sekt. 37 Abt. XVI Nr. 1 Bd. 1, S. 166.

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jüdische und evangelische Einrichtungen gegenüber den katholischen benachteiligt, was an ihrem Status abzulesen war. In Sarrebourg verweigerte z. B. der Kommunalrat in der ersten Jahrhunderthälfte nicht nur der jüdischen Schule die Erhebung zur kommunalen Institution, sondern auch der protestantischen Lehranstalt.742 Die durch das „Loi Falloux“ den Kommunen übertragene Verpflichtung, öffentliche Schulen für die Kinder der anerkannten Konfessionen einzurichten, wurde in den Dörfern Lothringens nur zögerlich umgesetzt. Die meisten lothringischen Landjuden schickten ihre Kinder daher weiterhin auf katholische Ortsschulen, allerdings geschah dies teilweise nur, weil die Kommunen nicht bereit waren, jüdische Schulen zu unterstützen.743 1851 gab es im Metzer Konsistorialbezirk sieben jüdische Elementarschulen in kleineren Orten, u. a. in den beiden Untersuchungsorten, aber nur drei der zumeist 40 bis 50 Kinder betreuenden Institutionen erhielten finanzielle Unterstützung von den Zivilgemeinden, z. B. diejenige von Boulay 100 Francs.744 Abgesehen von Zuschüssen der Zivilgemeinden konnten die größeren jüdischen Landgemeinden, die eigene Schulen eingerichtet hatten, auf Unterstützung aus dem Etat der Départements hoffen. Bereits im Jahr 1833 wurden den jüdischen Bildungseinrichtungen von Metz, Sarreguemines und Forbach auf diesem Weg Zuschüsse gewährt.745 Spätestens seit 1843 profitierten auch jüdische Schulen auf dem Land von diesen bis zum Ende des Zweiten Empires regelmäßig gewährten Subventionen. In dem genannten Jahr wurden z. B. der Einrichtung in Boulay 50 Francs zugestanden.746 Die Verteilung des Geldes erfolgte in der Regel auf Vorschlag des Konsistoriums, was nicht unproblematisch war, da es die an seinem Sitz befindlichen jüdischen Bildungseinrichtungen oft als wichtiger einstufte als die Dorfschulen. Die Zivilbehörden achteten allerdings darauf, dass die bewilligten Mittel in ihrem Sinne verwandt wurden. Im Jahr 1853 äußerte der Präfekt z. B. Unmut darüber, dass nicht immer die bedürf­ tigsten – d. h. die auf dem Land befindlichen – Schulen von dem Zuschuss profi­ tierten. Das Konsistorium beugte sich der Kritik, indem es den jüdischen Schulen auf dem Land einen größeren Betrag zugestand und neben den bisher berücksichtigten Schulen u. a. auch diejenige von Grosbliederstroff bedachte.747

742 Vgl. Roos, juifs, S. 86, 284 – 289. 743 Vgl. Univers Irsaélite, Nr. 1, 1865, S. 93. Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 260. 744 Vgl. Etat des écoles israélites dans la circonscription consistoriale de Metz, 18.7.1851, in: CAHJP zf/469. Vgl. Neher-Bernheim, documents, Bd. 2, S. 141 – 159. Vgl. Albert, moder­nization, S. 129 f. Die lothringischen Kommunen zeigten sich insgesamt etwas wohlwollender gegenüber den jüdischen Schulen als die Elsässer Zivilgemeinden. Vgl. Kapitel 4.3.2. 745 Vgl. Préfet de Metz au consistoire israélite de la corconscription de Metz, in: ADM 1T23. 746 Vgl. Préfet de Metz, 23.13.1842, in: ADM 1T23. 747 Vgl. Préfet de Metz au consistoire israélite de la circonscription de Metz, 20.9.1853, consistoire de la circonscription de Metz au préfet de Metz, 24.11.1853, Arrêts du Préfet

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Während des Zweiten Empires sank der vom Département Moselle gewährte jährliche Zuschuss zur Unterhaltung der jüdischen Elementarschulen leicht ab. Dennoch ist festzustellen, dass sich die finanzielle Lage der jüdischen Bildungseinrichtungen tendenziell verbesserte, da die Zivilgemeinden zunehmend williger waren, sie zu unterstützen. Ein Grund dafür war, dass die höheren Behörden die Kommunen des Öfteren an die Beachtung des „Loi Falloux“ erinnerten.748 Im Jahr 1861 beschloss der Gemeinderat von Grosbliederstroff, die jüdische Schule des Dorfes mit einer Subvention von 200 Francs zu unterstützen. Das Motiv für diesen Schritt der mehrheitlich christlichen Entscheidungsträger stellte allerdings weniger die Berücksichtigung der herrschenden Gesetzgebung bzw. Verständnis für die jüdische Bevölkerung dar, als vielmehr die Tatsache, dass die katholischen Schulen weitgehend ausgelastet waren. Der Gemeinderat wollte den Unannehmlichkeiten entgegenwirken, die entstanden wären, wenn die jüdischen Kinder die christlichen Schulen hätten besuchen müssen, wenn die jüdischen Einwohner außerstande gewesen wären, ihre Schule zu unterhalten.749 Von einer wirklichen Gleichberechtigung der katholischen und jüdischen Lehreinrichtungen konnte insgesamt nicht die Rede sein. 1856 baten die Anführer der jüdischen Gemeinschaft von Boulay um die Erhebung ihrer Schule zu einer kommunalen Einrichtung, in erster Linie, um dem Lehrer ein angemessenes Gehalt sichern zu können, wozu sie sich selbst nicht in der Lage sahen. Sie appellierten an den Gemeinderat, „d’imiter les idées généreuses des autres parties de notre France et de rendre notre Ecole […] communale“.750 Sie argumentierten mit der Gleichberechtigung der Kulte und darüber hinaus – wie die preußischen Juden­ gemeinden – damit, dass bei gleichen Verpflichtungen den Einwohnern gleiche Rechte zuständen: „les charges sont les mêmes pour tous les habitants – et sans doute qu’à l’Egalité des charges doit répondre l’Egalité des droits.“751 Die ­Bedenken gegenüber den finanziellen Konsequenzen sorgten dafür, dass dem Ersuchen kein Erfolg beschieden war. Die Zivilgemeinde zeigte sich zwar weiterhin bereit, zur Unterhaltung der jüdischen Schule beizutragen, aber als eine mit den katholischen Schulen gleichberechtigte Einrichtung wurde sie nicht von den mehrheitlich christlichen Gemeindevertretern betrachtet. de Metz, 20.11.1844, 30.12.1845, 6.1.1848, 18.8.1849, 7.8.1850, 13.10.1851, 5.11.1852, 14.12.1853, in: ADM 1T23. 748 Vgl. Arrêts du préfet de Metz 27.7.1854, 27.7.1855, 9.11.1857, 4.10.1861, 17.1.1866, 3.1.1868, 21.2.1870, in: ADM 1T23. Vgl. Univers Irsaélite, Nr. 1, 1865, S. 93. Vgl. Lang/Rosenfeld, S. 288. 749 Vgl. Préfet de Metz au sous-préfet de Sarreguemines, 22.3.1862, in: ADM 1T23. 750 Délégués de la communauté israélite de Boulay, 12.11.1856, in: ADM ED100 2M3. 751 Ebd.

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Auch im Fall von Grosbliederstroff trat diese Haltung der katholischen Bevölkerungsmehrheit klar zutage. Als der Metzer Präfekt 1862 den Wunsch äußerte, die jüdische Schule des Dorfes in eine kommunale, öffentliche Anstalt umzuwandeln, stieß er bei den christlichen Dorfbewohnern auf taube Ohren. Dies ist insofern verwunderlich, als der Beamte der Meinung war, dass der bisherige Zuschuss vonseiten der Zivilgemeinde ausreiche und die wünschenswerten Konsequenzen einer Kommunalisierung der Schule in weniger Unterrichtsausfall und einer besseren Qualitätskontrolle über regelmäßige Inspektionen bestünden.752 Ungehalten über den Umgang der Grosbliederstroffer Zivilgemeinde mit der jüdischen Schule zeigte sich allerdings der „conseil départemental de l’instruction publique de la Moselle“ 1864, der die Ungleichbehandlung der jüdischen und christlichen Einwohner Grosbliederstroffs kritisierte. Insbesondere die Tatsache, dass die jüdischen Eltern für ihre Kinder monatlich ein Schulgeld von 1,50 bis 2,50 Francs leisten mussten, während katholische höchstens 6 Francs jährlich beitragen mussten, stellte für das Gremium einen Missstand dar.753 Unter den gegebenen Umständen hätte die Kommune nach Meinung des Rats die Verpflichtung gehabt, eine Schule für die jüdischen Kinder einzurichten, was aber nicht geschehen war. Die Untätigkeit der Zivilgemeinde – einschließlich des als unzureichend eingestuften Zuschusses von 200 Francs – wurde scharf verurteilt: Die Gemeinde „y [obligations; Anm. d. A.] contrevient expressément en laissant dans un entier état d’abandon l’école israélite, et en maintenant, sous le rapport scolaire, une égalité regrettable entre les fractions de différents cultes de la même population“.754 Zwar führte die Kritik nicht direkt zu einer Änderung der Stellung der jüdischen Schule, aber sie wirkte sich dennoch positiv aus. Der Zuschuss aus der Gemeindekasse wurde 1866 so erhöht, dass er 300 Francs betrug, was etwa 21 % der Ausgaben für die Schule ausmachte.755 Im Jahr 1868 kam es zu einer erneuten Diskussion über den Status der jüdischen Schule von Grosbliederstroff, wobei die Initiative zum ersten Mal von der jüdischen Gemeinschaft selbst ausging, die sich direkt an den Präfekten wandte. Ihre Argumentation glich derjenigen, der sich die jüdischen Gemeinden in der Rheinprovinz bedienten, denn sie pochte auf die Gleichberechtigung der jüdischen und christlichen Einwohner innerhalb der Zivilgemeinde: „Qu’il serait juste qu’on accordât aux enfants israélites les mêmes avantages qu’aux élèves catholiques qui jouissent d’un enseignement entièrement gratuit et dont les Maîtres sont retribués sur les

752 753 754 755

Vgl. Préfet de Metz au sous-préfet de Sarreguemines, 22.3.1862, in: ADM 1T23. Vgl. Univers israélite Nr. 1, 1865, S. 92 f. Ebd., S. 93. Statistique des communautés Israélites de la circonscription consistoriale de Metz, 1866, in: AJMB MF509 reel 1 fol. 63 – 67.

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fonds communaux“.756 Der Gemeinderat, dem auch ein Jude angehörte, folgte der Beweisführung grundsätzlich und stimmte zu „qu’ ils contribuent à toutes les charges communales, et que dès-lors il est de toute justice qu’ils participent aussi à toutes les avantages qu’offrent les ressources de la commune“.757 Aus diesem Grund sprach sich das Gremium einstimmig für die Erklärung der jüdischen Schule zu einer kommunalen Einrichtung aus, allerdings stellte es gleichzeitig die Bedingung, dass die jüdische Gemeinde weiterhin das Schulgebäude mit der Lehrerwohnung zur Verfügung stellen müsse. Daher ist festzustellen, dass die jüdisch-christliche Gleichberechtigung zwar nicht angezweifelt wurde, aber Widerstände gegenüber deren finanziellen Implikationen fortbestanden, denn eigentlich war die Zivil­ gemeinde für die Beschaffung eines Schulgebäudes und die Unterbringung des Lehrers zuständig. Nichtsdestotrotz zeigten sich die jüdischen Einwohner zufrieden mit dem Kompromiss, weil die erreichte Lösung eine Verbesserung für die jüdische Schule darstellte und das Lehrergehalt nun von der Zivilgemeinde bezahlt wurde.758 Dass es in erster Linie finanzielle Bedenken waren, welche die christlich dominierten Gemeinderäte in Lothringen davon abhielten, jüdische Schulen zu kommunalen, öffentlichen Einrichtungen zu erklären, zeigte sich auch im Fall von Boulay Ende der Sechzigerjahre. 1866 unterstützte die Zivilgemeinde die jüdische Schule mit 350 Francs, was etwa 25 % der anfallenden Kosten deckte.759 Bis 1870 sank diese freiwillige Beteiligung allerdings auf 250 Francs ab. Die wiederholten Petitionen der jüdischen Einwohner, die verlangten, die Schule in eine kommunale Institution umzuwandeln, lehnte der Kommunalrat ab. Verweise auf das „Loi Falloux“, nach welchem die Kommune die Verpflichtung hatte, eine spezielle jüdische Schule einzurichten, blieben erfolglos.760 Die Absenkung des gemeindlichen Zuschusses zur jüdischen Schule erfolgte wie die Verweigerung der Kommunalisierung der Schule aus Furcht vor einer weiteren Belastung der strapazierten Gemeindefinanzen, wenn auch nicht ohne Bedauern. Bürgermeister Le Secq de Crépy teilte im Juni 1870 dem Präfekten mit, dass er den Wunsch der jüdischen Einwohner gerne erfüllen wolle, und zugleich wollte er wissen, was er tun solle, „pour les israélites afin de

756 Vgl. Communauté israélite de Grosbliederstroff au préfet de Metz, 3.7.1868, in: ADM 1T23. 757 Extrait de registre des déliberations du conseil communal de Grosbliederstroff, 9.7.1868, in: ADM 1T23. 758 Vgl. Communauté israélite de Grosbliederstroff, 20.12.1868, Maire de Boulay au sous-préfet, 22.1.1869, in: ADM 1T23. Vgl. zum Verhalten der Gemeinderäte in Lothringen und im Elsass Roos, juifs, S. 286 – 301. 759 Statistique des communautés Israélites de la circonscription consistoriale de Metz, 1866, in: AJMB MF509 reel 1 fol. 63 – 67. 760 Vgl. Commission administrative Près le israélite à Boulay au maire et conseil municipal de Boulay, o. D., Maire de Boulay au préfet de Metz 1.6.1870, in: ADM ED100 3P1.

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leur donner satisfaction sans surcharger encore le budget de la commune“.761 Die finanzielle Lage des Ortes war spätestens seit einer Choleraepidemie in den Jahren 1866 und 1867 angespannt, denn diese hatte u. a. die Anlage von Wasserleitungen notwendig gemacht und zur Verschuldung der Kommune geführt. 1870 standen Ausgaben in Höhe von 5840 Francs für die Unterhaltung der verschiedenen Schulen und der Kinderverwahranstalten nur 2990 Francs Einnahmen gegenüber. Kritisch ist zu bemerken, dass eine Ursache für diese Situation darin bestand, dass nur ein Teil der christlichen Eltern Schulgeld zahlen musste und zudem immer mehr von ihnen kostenfreien Unterricht forderten. Daher lässt sich sagen, dass die jüdischen Eltern benachteiligt wurden, da sie (abgesehen von den Armen) ihrem Lehrer stets ein Schulgeld zahlen mussten, das zudem vergleichsweise hoch war, da es sich auf relativ wenige Personen verteilte.762 Trotz der Benachteiligung gegenüber den katholischen Schulen war die finanzielle Situation der jüdischen Schulen in den lothringischen Landgemeinden im Vergleich zur Rheinprovinz wesentlich weniger angespannt, da sie seit den Vierzigerjahren von den Zivilgemeinden bzw. vom Staat bezuschusst wurden. Wie schon in der ersten Jahrhunderthälfte ist festzustellen, dass auch die evangelischen Einwohner gezwungen waren, für die Gleichberechtigung ihrer Schulen mit den katholischen (öffentlichen) Schulen zu kämpfen, manchmal sogar mehr als die jüdischen Lothringer. In Forbach lehnte der Stadtrat noch 1864 die Erklärung der protestantischen Schule zu einer kommunalen Einrichtung ab. Der Verweis der evangelischen Antragsteller, dass doch auch die Schule der jüdischen Minderheit als eine öffentliche Anstalt anerkannt werde, erschien den Gemeinde­vertretern nicht als ausreichend. Das Gremium betonte, dass die jüdischen Einwohner alle französische Staatsbürger seien, während die meisten Protestanten Arbeiter aus dem nahen Ausland seien. Die jüdischen Einwohner wurden als zur Zivilgemeinde gehörig angesehen, während dies bei den Protestanten nicht der Fall war, da sie wegen ihrer Berufstätigkeit als „population flottante“ angesehen wurden. Erst auf Wunsch des Präfekten hin erklärte der Stadtrat die protestantische Schule zu einer kommunalen.763 Unter der deutschen Herrschaft verschlechterte sich die Lage der jüdischen Schulen nicht grundsätzlich, denn die neue Verwaltung änderte die gesetzlichen Rahmenbedingungen des Unterrichtswesens zunächst nicht.764 Der zuneh 761 Maire de Boulay au préfet de Metz 1.6.1870, in: ADM ED100 3P1. 762 Vgl. Maire de Boulay au préfet de Metz 1.6.1870, in: ADM ED100 3P1. Vgl. Kreisdirektor von Boulay an den Präsidenten von Lothringen, 14.7.1874, in: ADM 9AL40. 763 Vgl. Conseil municipal de Forbach, 4.9.1864, Préfet de Metz au sous-préfet de Sarreguemines, 17.7.1865, in: ADM 1T23. 764 Vgl. Roth, Lorraine, S. 148 – 156.

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mende Zug jüdischer Landbewohner in die Städte wirkte sich aber nachteilig auf das Bestehen der jüdischen Lehreinrichtungen aus. Der 1871 vom elsässischen General­gouvernement verabschiedete Erlass, nach dem die Lehrer der annektierten ­Regionen, die mehr als fünf Jahre angestellt waren, eine Gehaltserhöhung von 100 Francs erhalten sollten, galt auch für jüdische Lehrpersonen. Probleme berei­teten den Letzteren anscheinend weniger die neuen deutschen Behörden als die in Einzelfällen noch zutage tretenden Vorbehalte der alteingesessenen christ­ lichen Bevölkerung. In Grosbliederstroff zeigte sich dies, als der Bürgermeister zusammen mit einem Teil der Gemeinderatsmitglieder dem jüdischen Lehrer Blum die Gehaltserhöhung vorzuenthalten suchte. Die Begründung lautete, dass Blum bereits mehr als die ihm nun zustehenden 800 Francs als Lehrer verdiene, da ihm die jüdische Gemeinde zusätzlich Geld für den Hebräisch­unterricht zahle. Auf eine Beschwerde des Lehrers hin, der betonte, dass es sich bei dem Sprachunterricht um ein Zuverdienst in Form von Privatstunden handelte, entschied der Lothringer Präsident, dass die Zivilgemeinde Blum das Gehalt vollständig zahlen müsse.765 Während die jüdische Schule von Grosbliederstroff ähnlich wie im Illinger Fall aufgrund der bis zum Ende des Jahrhunderts nur leicht schrumpfenden jüdischen Bevölkerung und der finanziellen Bezuschussung fortbestehen konnte, glich das Schicksal der jüdischen Lehreinrichtung von Boulay derjenigen von Gemünden. Allerdings war nicht nur die sinkende Kinderzahl, sondern auch die neue deutsche Verwaltung indirekt für die Schließung verantwortlich. 1874 – im Umfeld des Kulturkampfes – entschied der Präsident von Lothringen nämlich, dass die von den katholischen Brüdern geleitete Jungenschule geschlossen und durch eine von nichtgeistlichen Lehrern geleitete Einrichtung ersetzt werden müsste. Finanziell problematisch war dies, weil das Schulhaus der katholischen Pfarrei gehörte und nur für den Unterricht durch die Brüder genutzt werden durfte. Daher war die Zivilgemeinde gezwungen, für neue Unterrichtslokalitäten zu sorgen, was den finanziellen Spielraum – einschließlich der Bezuschussung der jüdischen Schule – beschnitt. Da es der jüdischen Gemeinde unter den gegebenen Bedingungen nicht mehr gelang, einen neuen Lehrer zu finden, wurde sie in dem genannten Jahr geschlossen.766 Ein bereits 1875 gestelltes Gesuch der jüdischen Verwaltungskommission auf eine Wiedereinrichtung der jüdischen Schule wurde vom Schulkreisdirektor und vom Lothringer Präsidenten abgelehnt,

765 Vgl. Blum an den Bezirkspräsidenten von Lothringen, 15.2.1872, in: ADM 7AL131. Vgl. Präsident Lothringen an den Kreisdirektor von Boulay, 20.2.1872, in: ADM 7AL131. 766 Vgl. Kreisdirektor von Boulay an den Präsidenten von Lothringen, 14.7.1874, 12.8.1874, Gemeinderat von Boulay, 2.8.1874, ADM 9AL40.

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da sie nicht glaubten, dass ein solcher Schritt aufgrund der geringen Kinderzahl von 26 angebracht sei.767 Dass die deutschen Behörden Lothringens nicht grundsätzlich gegen jüdische Unterweisung waren, zeigte sich um die Jahrhundertwende: Der Präsident von Lothringen bestimmte 1902, dass in Orten, in denen jüdische Kultusbeamte außerhalb der regulären Schulzeit Religionsunterricht gäben, die Zivilgemeinde auf Verlangen einen Raum für diesen Zweck zur Verfügung stellen müsse.768 Darüber hinaus regte das Konsistorium die Zivilgemeinden an, den jüdischen Religionslehrern aus Billigkeitsgründen eine Vergütung zu gewähren, wie dies auch schon in einigen Orten der Region der Fall war. In Boulay sahen der konfessionell gemischte Ortsschulvorstand und der Gemeinderat allerdings keinerlei Handlungsbedarf: Zum einen besaß die jüdische Gemeinde einen eigenen Unterrichtsraum; zum anderen bestand nach Ansicht aller Gemeindevertreter (einschließlich des jüdischen) bezüglich der religiösen Unterweisung keine Verpflichtung der Zivilgemeinde, diese zu unterstützen: Weder die katholischen noch die protestantischen Gemeinden hatten je Wünsche dieser Art geäußert. Die Erteilung des religiösen Unterrichts wurde im Dorf als Sache der jeweiligen Konfessionsangehörigen angesehen.769 Dass in Luxemburg im ländlichen Bereich aufgrund der relativ geringen Zahl der dort lebenden Juden und ihrer geografischen Zerstreuung bis zum Ende des 19. Jahrhunderts keine jüdischen Elementarschulen eingerichtet wurden, ist bereits erwähnt worden. Die im Rahmen über die Einrichtung einer jüdischen Primärlehranstalt in der Hauptstadt geführten Diskussionen erinnern allerdings an die in den preußischen Untersuchungsorten geführten Dispute, weswegen sie an dieser Stelle berücksichtigt werden sollen. Die Initiative zur Gründung einer speziellen Schule ging 1841 zwar von der jüdischen Minderheit aus, aber ähnlich wie im Fall von Illingen hielt auch die christliche Seite das Vorhaben für sinnvoll. Die Verwalter 767 Interessant an dem Fall ist, dass die jüdischen Einwohner keine Gleichberechtigung mit der Gemeindeschule forderten, sondern sich bereit zeigten, alleine für die Kosten auf­zukommen. Vgl. Gesuch der Verwaltungskommission der jüdischen Gemeinde von ­Boulay, 9.9.1875, Kreisschuldirektor Montada an den Kreisdirektor von Boulay, 17.10.1875, Präsident von Lothringen an die Verwaltungskommission der jüdischen Gemeinde von Boulay, 15.11.1875, in: ADM 9AL40. 768 Vgl. Präsident von Lothringen, 25.1.1902, in: ADM ED100 2M3. 769 Vgl. Kreisdirektor von Boulay an den Bürgermeister von Boulay, 7.3.1902, Bürgermeister von Boulay, 12.3.1902, Gemeinderat von Boulay 4.5.1902, in: ADM ED100 2M3. Anders als in Boulay gab es in einigen lothringischen Kommunen Konflikte um die Bereitstellung von Heizmaterial für den jüdischen Religionsunterricht. Sie wurden zur Übernahme der Kosten verpflichtet, da die höheren Behörden den Religionsunterricht als obligatorischen Teil der Schulausbildung betrachteten. Vgl. Kreisdirektor von Boulay an den B ­ ürgermeister von Boulay, 27.11.1902, in: ADM ED100 3P1.

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der jüdischen Gemeinde baten in dem genannten Jahr um einen Zuschuss für die einzurichtende Schule, mit der Begründung, dass sie den christlichen Bürgern gleichgestellt seien und ihre bürgerlichen Pflichten genauso wie ihre christlichen Mitbürger erfüllten: „Comme Citoyens, les Chrétiens ont des écoles où leurs enfants recoivent les bienfaits de l’instruction et une éducation réligieuse conforme à la croyance de leurs pères. Les avantages leur sont assurés par une allocation permanente au budget de l’Etat. […] vos sujets israélites […] n’ont point une école où les mœurs et l’intelligence de leurs enfants puissent être formées et dirigées.“770 Obwohl der Bürgermeister und die Schöffen der Hauptstadt zugaben, dass die jüdische Gemeinde ein Recht auf eine Hilfe hätte, erhielt diese zunächst keine Beihilfe, weswegen die Kinder weiter die christlichen Schulen besuchten.771 1844 bat die jüdische Gemeinde erneut um die Einrichtung und Unterhaltung einer jüdischen Elementarschule, aber die Mitglieder des Stadtrats lehnten das Gesuch erneut ab, u. a., weil sie mittlerweile die Meinung vertraten, dass der gemeinsame Unterricht einer unvorteilhaften Isolierung der jüdischen Kinder vorbeuge. Die Zivilgemeinde müsse allen Kindern Elementarunterricht ermöglichen, aber sie hätte nicht die Pflicht „d’établir et d’entretenir des écoles séparées et spéciales pour les enfan[t] s de chacune de différentes religions“.772 Zudem gäbe es zu wenige Kinder, als dass eine solche Einrichtung angebracht wäre. Die Gemeindevertreter verwiesen zudem auf die kleine evangelische Minderheit des Großherzogtums: Die protestantischen Kinder müssten auch die katholischen Schulen besuchen. Dieser Hinweis entsprach allerdings nur teilweise der Realität, da die evangelischen Kinder die Schule der (protestantischen) Angehörigen der preußischen Festung besuchen konnten. Der Stadtrat war lediglich dazu bereit, die Errichtung einer Privatschule zu genehmigen und das Schulgeld, welches die jüdischen Eltern für den Unterricht ihrer Kinder an die Kommune entrichteten, der jüdischen Gemeinde als Subsid zurückzugeben.773 Oberrabbiner Hirsch protestierte gegen diese Entscheidung bei der Regierung und betonte, dass die erst seit Kurzem emanzipierten Juden noch einer besonderen Erziehung bedürften. Darüber hinaus wollte er das finanzielle Argument nicht gelten lassen: „Unserm König sind auch die Reli­gionen der Minder­zahl Ihrer Unterthanen achtungswerth[,] und weil die Juden und Protestanten eine Minorität sind, so sollen sie deshalb doch an allen Wohlthaten eines jeden Gesetzes Theil haben.“774 770 Administrateurs de la communauté israélite du Luxembourg au Roi Grand-Duc, 15.11.1841. in: ANL F68 771 Vgl. Bourgmestre et échevins de la ville du Luxembourg au Régence du Pays, 17.12.1841, in: ANL F68. 772 Déliberation du conseil communal de la ville de Luxembourg, 2.4.1844, in: ANL G128. 773 Vgl. ebd. 774 Oberrabbiner Samuel Hirsch an den luxemburgischen Regierungsrat, 9.5.1844, in: ANL G128.

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Die luxemburgische Regierung teilte Hirschs Meinung, nach der die jüdischen Kinder in einer eigenen Lehranstalt „verbessert“ werden könnten, weswegen sie sich für die Einrichtung einer separaten öffentlichen jüdischen Schule entschied. Die Gefahr der Verletzung religiöser Gefühle der jüdischen Minderheit durch den Besuch der bestehenden Primärschulen nahm sie ernst.775 Der Stadtrat weigerte sich trotz der Regierungsentscheidung in der Folgezeit, die 1844 ihre Arbeit aufnehmende jüdische Schule als eine öffentliche Institution zu betrachten, da er überzeugt war, dass die Schule im alleinigen Interesse der jüdischen Kinder eingerichtet worden war und das Gehalt des Lehrers von der jüdischen Gemeinde bezahlt werden sollte. Das Gremium fürchtete, in einem größeren Umfang zur Unter­haltung der jüdischen Schule finanziell beitragen zu müssen, wenn diese erst einmal als öffentlich eingestuft würde.776 Das Verhalten der Stadtführung wurde von der jüdischen Gemeinde mit Verbitterung notiert und Letztere forderte in den Jahren 1845 und 1846 erneut finanzielle Unterstützung für die mittlerweile eingerichtete Schule. Sie beklagte, dass nur die katholischen Schulen zur Hälfte von der Stadt finanziert seien: „Zur Gemeindekasse tragen die Juden verhältnismäßig wie die Christen bei; sie haben also ein offenbares Recht, zu verlangen, daß auch sie an den Vortheilen der Gemeindekasse verhältnißmäßig partizipiren. [und], daß die Stadt für die jüdische Schule verhältnißmäßig das thue, was sie für die christlichen thut […]. Die Stadt zieht wohl unsere Beiträge zur Gemeindekasse; aber die Wohlthaten dieser Kasse sind nach ihrer Ansicht nur für Katholiken, aber nicht für Juden.“777 Die jüdische Minderheit hatte zwar die Regierung auf ihrer Seite – die betonte, dass die Einrichtung von konfessionell getrennten Schulen notwendig sei, da der jüdische Religionslehrer von der Stadt keinen Zutritt zu den anderen Schulen erhalte, dass gesetzliche Verpflichtungen gegenüber den Verwalteten eingehalten werden müssten und dass viele öffentliche Schulen auf dem Lande weniger Schüler hätten als die jüdische Schule – aber dies nützte nichts. Die Stadt verweigerte sich gegen den ausdrücklichen Willen der ihr übergeordneten Autorität: Sie hielt kein öffentliches Examen in der jüdischen Schule ab und gestand ihr kein Brennholz zu. Der Stadtrat äußerte zudem die Meinung, dass sich die bestehenden Vorschriften nur auf katholische Schulen bezögen und auch nur der katholische Religions­unterricht gesetzlich vorgeschrieben sei. Die Regierung widersprach dem zwar, aber der Stadtrat blieb bei seiner Meinung, dass die den Kommunen ob­­ liegende Unterhaltung von Primärschulen sich nur auf katholische Einrichtungen, 775 Conseil de gouvernement au bourgmestre et échevins de la ville de Luxembourg, 1.6.1844, 21.6.1846, in: ANL G128. 776 Vgl. Délibération du conseil communal de la ville de Luxembourg, 15.3.1845, Bourgmestre et échevins de la ville de Luxembourg au conseil de gouvernement 12.7.1845, in: ANL G128. 777 Rabbiner Hirsch und die Vorsteher der jüdischen Gemeinde, 12.2.1846, in: ANL G128.

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aber nicht auf jüdische und protestantische Institutionen, die er als privat ansah, bezog.778 Die Regierung, die der Überzeugung war, dass die Vertreter der Zivilgemeinde sich nur aus Sorge um die Stadtfinanzen so verhielten und nicht aus einer Abneigung gegenüber den jüdischen Einwohnern heraus, entschied letztlich, dass der Hauptteil des Lehrergehalts weiterhin von der jüdischen Gemeinschaft übernommen werden müsse, aber auch der Staat und die Stadt Subsidien bereitstellen müssten.779 Der Stadtrat weigerte sich zwar weiterhin, die jüdische Schule zu einer öffentlichen Anstalt zu erklären, erklärte sich aber gezwungenermaßen zu einem jährlichen Zuschuss bereit.780 Der aus der Rheinprovinz stammende Rabbiner zweifelte im Gegensatz zu den höheren Behörden am Wohlwollen der Kommunalverwaltung gegenüber den Juden und sah in der sich nur langsam wandelnden Mentalität der christlichen Bevölkerung den Grund für das Verhalten der Hauptstädter: „Es giebt viele Menschen, die es noch nicht vergessen haben, daß vor einem Säkulum der Jude sich noch nicht als Mensch und Staatsbürger fühlen durfte. Zu einem Almosen gegen den Juden ­wollen sie sich wohl verstehen; denn da können sie ihre eigene Humanität bewundern, die sogar dem Juden noch eine Wohlfahrt zu erweisen vermag; aber gerecht gegen den Juden zu seyn, den Juden mit gleichem Maaße als den Christen zu messen, die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetze wirklich anerkennen, das fällt vielen leider immer noch schwer.“781 Der ständigen Diskussion um den Status der jüdischen Schule wurde im Oktober 1847 ein Ende gesetzt: Da der jüdische Lehrer die Stadt verließ, wurde die jüdische Schule für aufgehoben erklärt.782 Dass die Haltung der christlichen Bevölkerung im Großherzogtum in einem gewissen Rahmen entwicklungsfähig war, zeigte sich anlässlich der Einrichtung einer jüdischen Elementarschule in Ettelbrück. Auf eine Bitte der jüdischen Religionsgemeinschaft hin war die Zivilgemeinde 1890 bereit, ein Subsidium zum Bau der neuen Einrichtung mit einer angeschlossenen Lehrerwohnung zu gewähren. Dass es sich allerdings nicht um eine Gleichberechtigung mit der katholischen Schule handelte, war daran abzulesen, dass die jüdische Gemeinde von Ettelbrück

778 Die Regierung betonte mehrmals, dass die jüdische Schule eine öffentliche sei: Vgl. Conseil de gouvernement au bourgmestre et échevins de la ville de Luxembourg, 7.6.1845, 11.11.1845, ANL G128. Vgl. zur Haltung der Stadt: Déliberation du conseil communal de la ville de Luxembourg (avec observations du conseil de gouvernement), 26.12.1845, in: ANL G128. 779 Conseil de gouvernement au bourgmestre et échevins de la ville de Luxembourg, 28.9.1846, in: ANL G128. 780 Vgl. Conseil communal de la ville de Luxembourg, 9.11.1846, in: ANL G128. 781 Rabbiner Hirsch und die Vorsteher der jüdischen Gemeinde, 12.2.1846, in: ANL G128. 782 Randbemerkung, 15.10.1847 (auf einem Schreiben des Bürgermeisters und der Schöffen v. 9.11.1846), in: ANL G128.

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die übrigen Kosten, vor allem die Entlohnung der Lehrer selbst übernahm.783 Dies galt auch für den bereits in den Sechzigerjahren vom Vorsänger erteilten Religionsunterricht. Da die von diesem geleistete Unterweisung der Kinder – die aus Ettelbrück, Medernach, Consdorf, Waldbillig, Grosbous und Everlingen kamen – einem Teil der jüdischen Eltern ungenügend erschien, u. a. wegen der dem Kultusbeamten fehlenden pädagogischen Ausbildung, bat der jüdische Vorstand die Regierung 1881 um ein Subsidium, um einen ge­­prüften Religionslehrer anstellen zu können. Dass das Gesuch zu dieser Zeit gestellt wurde, hing damit zusammen, dass nur wenige Monate zuvor ein Gesetz er­­lassen worden war, welches den Religionsunterricht für obligatorisch erklärte: „Da die Verfassung unseres Landes den jüdischen Cultus gleichberechtigt mit den beiden andern Culten stellt, so ist der Nachweis des gesetzmäßig erforderlichen Religionsunterrichtes auch auf den jüdischen Religionsunterricht anwendbar. Wir glauben demnach nicht ohne gegründeten rechtlichen Anspruch an die […] Regierung die ergebene Bitte richten zu dürfen.“784 Dass streng genommen der Rabbiner für den Religionsunterricht zuständig war, war den Ettelbrücker Juden zwar bewusst, aber sie verwiesen darauf, dass dieser praktisch nicht in der Lage war, diese Aufgabe zu erfüllen. Der Rabbiner konnte unmöglich in allen Orten des Großherzogtums, in denen jüdische Kinder lebten, Religionsunterricht erteilen und umgekehrt konnten viele jüdische Schüler aufgrund der Entfernung zur Hauptstadt keinesfalls regelmäßig am dort erteilten Religionsunterricht teilnehmen.785 Der Innenminister beharrte allerdings darauf, dass den Kultusbeamten die Erteilung des nunmehr obligatorischen Religionsunterrichts obliege, ohne dass ihnen dafür eine besondere Entlohnung zustehe. Auf die praktischen Probleme der jüdischen Landbevölkerung ging er nicht ein, sondern er betonte vielmehr, dass eine positive Entscheidung zugunsten der Ettelbrücker Juden einen bedenklichen Präzedenzfall darstellen könne: Es könne zu großen Unannehmlichkeiten führen, wenn im gesamten Großherzogtum die Angehörigen der jüdischen Religion und die anderer religiöser Minderheiten dementsprechend behandelt werden müssten.786 Der jüdischen Gemeinschaft von Ettelbrück wurde also aufgrund finanzieller Bedenken die Unterstützung eines Religionslehrers verwehrt, was zugleich eine absichtliche Nichtbeachtung der gesetzlich vorgesehenen Gleichheit der Konfessionen darstellte.

783 Vgl. Flies, S. 1617. Vgl. Dondelinger/Muller, Teil III, S. 28. Vgl. Muller, S. 269. 784 Vgl. Vorstand der jüdischen Gemeinde von Ettelbrück an Staatsminister F. von B ­ lochhausen, 26.8.1881, in: ANL H78. 785 Vgl. ebd. 786 Vgl. directeur générale d’intérieur au ministre d’Etat, 13.9.1881, in: ANL H78. Vgl. Schoentgen, S. 311.

6. Ergebnisse und Thesen Diese Studie behandelte die Frage, wie sich die Emanzipation der Juden im 19. Jahrhundert auf die jüdischen Landbevölkerungen in Lothringen, Luxemburg und der Rheinprovinz auswirkte und wie sich die jüdisch-christlichen Beziehungen durch sie veränderten. Mithilfe des mikrohistorischen Vergleichs und unter Berücksichtigung transnationaler bzw. transregionaler Verbindungen ließen sich Aussagen über verschiedene Entwicklungen in den Regionen und deren Ursachen treffen. Vor dem Hintergrund der Einstellungen der Landbevölkerungen zur Emanzipation, der demografischen, ökonomischen und sozialen Zustände in den Dörfern und der Binnenstrukturen der jüdischen Gemeinden (einschließlich des Einflusses der christlichen Behörden auf diese) wurde die Integration der Juden in die christlich geprägte Gesamtgesellschaft betrachtet. Die Studie ergänzt die bisher zumeist auf nationale oder regionale Räume beschränkte Forschung zum Landjudentum und zur Emanzipation der Juden in Frankreich, Lothringen und Preußen im 19. Jahrhundert. Sie zeigt, dass die unterschiedlich verlaufende Emanzipation von Juden und Christen ein wesentlicher Grund dafür war, dass sich die christlich-jüdischen Beziehungen auf dem Land in den betrachteten Regionen abweichend voneinander bzw. teilweise zeitversetzt entwickelten. Die Untersuchung verdeutlicht zudem, dass die Durchsetzung der Gleichstellung von Juden und Christen im gesamten Grenzraum ein langwieriger Prozess war und die christliche Landbevölkerung sowie die Behörden sie häufig schrittweise umsetzten. In diesem Verhalten spiegelt sich die „Longue durée“ der Haltungen gegenüber Juden im Speziellen sowie von Mentalitäten im Allge­meinen. Darüber hinaus kann die Analyse nachweisen, dass strukturelle Faktoren das Leben der Landjuden in manchen Bereichen stärker bestimmten als die Gesetzgebung. Diese waren auch der Grund dafür, dass das Leben der Landjuden in den verschiedenen Regionen teilweise einander mehr glich als das Leben von Juden in Dörfern und Städten innerhalb einer Region. Ein Ergebnis dieser Studie lautet, dass die jüdischen Landbewohner eine nicht zu vernachlässigende Rolle in der Debatte über die Emanzipation spielten, einerseits als Diskussionsgegenstand, andererseits als Akteure, die sich für die eigenen Rechte einsetzten. Die Landjuden gestalteten die Diskussionen des 18. Jahrhunderts selbst nicht aktiv mit, aber sie spielten insofern eine Rolle, als viele Autoren ihre Lage zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen wählten. Sowohl in Frankreich als auch in Preußen war die Idee einer „Verbesserung der Juden“ präsent, auch wenn sie im französischen Fall eine eher untergeordnete Rolle spielte und eine Anpassung erst nach der Gleichstellung der Juden als Bürger – und nicht als Vorbedingung wie in Preußen – gefordert wurde. Dass die mit der Emanzipation verbundenen

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Vorstellungen in beiden Ländern nicht allzu weit voneinander abwichen, hing damit zusammen, dass die Konzepte in gegenseitiger Abhängigkeit entwickelt wurden. Deren Entstehung wurde Ende des 18. Jahrhunderts durch persönliche Beziehungen und den geistigen Austausch zwischen Angehörigen der jüdischen Oberschichten Frankreichs (insbesondere des Elsass und Lothringens) und Preußens sowie christlichen Beamten ermöglicht. In Luxemburg fanden sich Echos der Idee der „Verbesserung“ in der Gesetzgebung, die während der französischen und der niederländischen Zeit erlassen wurden. Im 19. Jahrhundert wurde in der Rheinprovinz und in Luxemburg in öffentlichen Diskussionen über die Lage der Juden immer wieder auf die Zustände in den Nachbarregionen hingewiesen. In der preußischen Region nutzten vor allem die Befürworter der Gleichstellung von Juden und Christen den Hinweis auf die positiven Auswirkungen der Emanzipation der Juden im nahen Frankreich, um ihren eigenen Standpunkt zu bekräftigen. Im kleinen Großherzogtum stellte der Blick über die Staatsgrenze eine Selbstverständlichkeit dar, den Anhänger verschiedener Standpunkte zur Untermauerung der eigenen Meinungen gleichermaßen nutzten. Befürworter der Unterstützung jüdischer Kultuseinrichtungen wiesen auf die Lage in Frankreich oder den Niederlanden hin, während Anhänger judenfeindlicher Positionen antisemitische Debatten in Zeitungen der Rheinprovinz oder französischen Blättern verfolgten. Auf die Gesetzgebung suchten die jüdischen Einwohner der betrachteten Re­­ gionen in unterschiedlichem Maß Einfluss zu nehmen. In der Rheinprovinz, wo sich die Emanzipationsgesetzgebung über Jahrzehnte hinzog, war diese Tendenz stärker ausgeprägt als in Frankreich und Luxemburg. In der ersteren Region war die jüdische Landbevölkerung aufgrund der sich verbessernden Kommuni­kationsverbindungen seit den Vierzigerjahren zunehmend besser über die regionalen und nationalen, ihre rechtliche Lage betreffenden Entwicklungen informiert, und zumindest ihre Elite versuchte, über Petitionen die eigene Situation zu verbessern. Dass der mitunter pragmatische Einsatz einzelner Landgemeinden für die eigenen Rechte weitreichende Folgen haben konnte, belegt die auf Initiative der jüdischen Vorsteher Gemündens zustande gekommene Regierungsverordnung über die Unter­stützung jüdischer Schulen durch die Zivilgemeinden: Die neue Regelung bildete die Grundlage für einen Rechtsanspruch jüdischer Schulen auf Zuschüsse. Während die jüdischen Landbewohner als Gegenleistung für die Erfüllung von Pflichten die gleichen Rechte wie Christen forderten, beteiligten sich ihre christlichen Mit­bürger kam an der Emanzipationsdebatte. Die wenigen Meinungsäußerungen waren unterschiedlicher Färbung, wobei die Stimmen zugunsten der Gleichstellung erst in den Vierzigerjahren zahlreicher wurden. Zwar verbesserte sich um die Jahrhundertmitte auch in Lothringen die Kommunikation zwischen den wenigen Städten und ihrem Umland, und die dortigen Juden

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wurden stärker in nationale Diskussionszusammenhänge eingebunden, aber sie hatten kaum Gründe, sich für ihre Rechte einzusetzen, da sie – abgesehen vom „more judaico“ – individuell gleichgestellt waren und sie juristisch auch in ihrer Kultusausübung nicht mehr benachteiligt wurden. Lediglich Konflikte innerhalb der jüdischen Gemeinschaft über die Ausgestaltung des staatlich verordneten Kultus­systems führten vereinzelt zur Mobilisierung von Landjuden. In Luxemburg suchten erst in den Achtzigerjahren Juden vom Land die Gesetzgebung – bezüglich der jüdischen Kultusorganisation – zu beeinflussen. Zuvor war dies nicht der Fall gewesen, da sie nur verstreut siedelten und ihre Interessen von der städtischen Elite mitvertreten wurden. Der Einsatz von Landjuden für die Emanzipation ist ein Aspekt, der die jüdische Historiografie ergänzt, da bei der Frage der Gleichstellung zumeist die städtischen Eliten oder die Lage der Juden im Ancien Régime als Gesamtgruppe im Fokus der Aufmerksamkeit stehen. Der Blick auf die transnationalen Zusammenhänge bei der Entwicklung des Konzeptes der jüdisch-christlichen Gleichstellung regt an, statt der reinen Gegenüberstellung nationaler Entwicklungen künftig stärker die gegenseitigen Abhängigkeiten in den Blick zu nehmen. Die Einigkeit der Forschung darüber, dass die Frage der Emanzipation der Juden (aber auch anderer Minderheiten) in Europa im 19. Jahrhundert häufig eng mit liberalen B ­ estrebungen nach einem säkularen Staat und der Emanzipation des Bürgertums verbunden war, bietet dafür einen guten Ausgangspunkt. Die mit der Emanzipation gewährte Freizügigkeit verschaffte den Juden Bewegungs­freiheit und diese nutzten sie auch, aber sie führte in Lothringen und in der Rheinprovinz nicht direkt zu einer grundlegenden Umstrukturierung der jüdischen Siedlungsweise. In den beiden Regionen wurde diese Entwicklung durch ökonomische Faktoren begünstigt, die auch das Großherzogtum prägten: agrarischer Kleinbesitz, späte Industrialisierung und die Einbindung von Juden in das ländliche Wirtschaftssystem. In den preußischen und lothringischen Untersuchungsorten stellten die jüdischen Einwohner beachtliche Minderheiten dar, deren Anteil an den Dorfbevölkerungen in den Vierziger- und Fünfzigerjahren am größten war. In der ersten Jahrhunderthälfte wuchs die Zahl der Juden vor allem im Rahmen des allgemeinen Bevölkerungswachstums, auch wenn teilweise Zuzug eine Rolle spielte. Das „décret infâme“ stellte in der Rheinprovinz in diesem Zusammenhang kaum ein Hindernis dar, da nicht alle Beamten zuwandernde Juden den höheren Behörden meldeten und Migration auch nicht verhinderten. Die Staatsgrenzen zwischen der Rheinprovinz, Lothringen uns Luxemburg waren durchlässig und die verwandtschaftlichen Netzwerke der auf dem Land lebenden Juden reichten anders als bei den Christen häufig über sie hinweg. Die Pflege familiärer Beziehungen ging häufig mit der Pflege geschäftlicher Verbindungen einher, wobei das Überschreiten der staatlichen Trennungslinien nicht ungewöhnlich war, da in allen drei Regionen ähnliche wirtschaftliche Strukturen bestanden.

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Die Migration der jüdischen Landbewohner im 19. Jahrhundert ist im Kontext der allgemeinen Wanderungsbewegungen der Gesamtbevölkerung vor dem Hintergrund der Industrialisierung, der Urbanisierung und den mit dem Wandel des Wirtschaftssystems verbundenen Krisen zu betrachten. Die Auswanderung von Juden nach Übersee machte sich in erster Linie im preußischen Kontext bemerkbar, während es sich in Lothringen eher um eine Ausnahmeerscheinung handelte, die sich auf das deutschsprachige Grenzgebiet beschränkte. Daher erscheint die Er­­klärung, dass es sich um eine Art Emanzipationsersatz handelte, plausibel, auch wenn Armut zumeist den wesentlichen Antrieb darstellte. Erst in der zweiten Jahrhunderthälfte zogen in Preußen und in Lothringen immer mehr Juden vom Land in die Stadt, allerdings war dieser Prozess nicht gleichmäßig, sondern es lassen sich Unterschiede zwischen verschiedenen Arten von Dörfern ausmachen. Stadtferne Orte wie Gemünden und Boulay waren wesentlich stärker von jüdischer Abwanderung betroffen als stadtnahe Orte wie Illingen und Grosbliederstroff, die Schnittstellen zwischen urbanen Zentren und dem ländlichen Bereich bildeten und den zumeist als Handelsleuten tätigen Juden weiterhin ein Auskommen boten. Dass es Unterschiede zwischen der Entwicklung der jüdischen und christlichen Bevölkerungen gibt, ist auf die unterschiedlichen Erwerbsstrukturen zurückzuführen, welche die Folge hatten, das Juden und Christen verschieden auf ökonomische Veränderungen reagierten. Hinsichtlich Lothringens ist zu ergänzen, dass die Annexion zwar auch auf dem Land Spuren hinterließ und dort lebende Juden für Frankreich optierten, aber zumeist nur in politisierten Orten mit einer gewissen administrativen Bedeutung wie Boulay und nicht in Dörfern wie Grosbliederstroff. Die demografische Entwicklung in Luxemburg wich stark von den Entwicklungen in den beiden Nachbarregionen ab, da sich dort erst infolge der Eman­zipation Juden niederlassen durften und sich bis zur Jahrhundertmitte nur einige Familien auf dem Land ansässig machten. Dementsprechend war ihr Anteil an den Dorfbevölkerungen zunächst verschwindend gering. Erst in der zweiten Jahrhunderthälfte wuchs die jüdische Bevölkerung auf dem Land merklich, vor allem in Orten, die Handelszentren für die Umgebung und bzw. oder kommerzielle Schnittstellen darstellten. Ähnlich wie in der Rheinprovinz und Lothringen boten Siedlungen dieser Art auch im Großherzogtum jüdischen Geschäftsleuten eine Perspektive. Bei den jüdischen Landbewohnern des Großherzogtums handelte es sich um aus Dörfern der Nachbarregionen stammende Migranten, die sich in der Hoffnung, ein Auskommen zu finden, in Luxemburg niedergelassen hatten. Da dies funktionierte, wurden die luxemburgischen Juden nicht von der Auswanderung nach Übersee erfasst. Die Immigration von Juden aus der deutschen sowie der französischen Nachbarregion war der Grund für die Entwicklung einer jüdischen Gemeinschaft in Luxemburg im 19. Jahrhundert. Dies verdeutlicht, dass das Maß, in dem staatliche Grenzen im

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rheinpreußisch-lothringisch-luxemburgischen Raum die Fluktuation von Menschen behinderten, zeitweise äußerst gering war. Die Ergebnisse der Untersuchung der demografischen Entwicklungen präzi­sieren die Forschung zur jüdischen Abwanderung vom Land, da nicht nur aggregierte Daten und willkürliche Einzelbeispiele berücksichtigt werden, sondern durch die vergleichende Betrachtung exemplarisch ausgewählter Dörfer gezeigt werden kann, dass und aus welchen Gründen dieser Prozess nicht überall gleichmäßig verlief. Zudem zeigt das luxemburgische Beispiel, dass die Urbanisierung der jüdischen Bevölkerung nach der Gewährung der Freizügigkeit kein zwangsläufiger Prozess war, sondern dass der ländliche Raum unter bestimmten Bedingungen weiterhin einen Anziehungspunkt für Juden darstellte. Ein weiteres Ergebnis der Untersuchung bestätigt die neuere jüdische Historio­ grafie zu den deutschen Staaten, welche davon ausgeht, dass die Emanzipation keine „Produktivierung“ der Juden zur Folge hatte. Zugleich erlaubt die Studie, diese These auf Frankreich und Luxemburg zu übertragen, wo die jüdische Geschichtsschreibung ökonomische Aspekte nicht so stark thematisiert. Der Vergleich zeigte, dass Gesetze – sowohl die vollständige Emanzipation als auch die diskriminierenden Regelungen des „décret infâme“ – das Berufsleben der Landjuden wesentlich weniger beeinflussten als allgemeine strukturelle und ökonomische Entwicklungen. Die jüdischen Handelsleute erhielten in den ­preußischen Dörfern zumeist ohne Probleme positive Zeugnisse, um die bis 1847 von ihnen geforderten Handelspatente zu erwerben, vor allem weil ihre Tätigkeit trotz aller Kritik von den (christlichen) Gemeinderäten als notwendig für die ländliche Wirtschaft eingestuft wurde. In Lothringen und im Großherzogtum, wo die Behörden kaum Negatives über die jüdische Handelstätigkeit b­ erichteten, gestaltete sich die Lage vor 1818 ähnlich. In allen Untersuchungsorten lag der Schwerpunkt der jüdischen Berufstätigkeit im Handel und dies änderte sich das gesamte Jahrhundert über nicht, ungeachtet des in der Rheinprovinz, aber auch in Lothringen immer wieder geäußerten Wunsches der Behörden nach einer Anpassung der jüdischen Berufsstruktur an die christliche. Die christlichen Dorfbevölkerungen forderten anders als die Vertreter der Verwaltung nicht eine solche Annäherung der Juden an die Christen. Dass die Juden im ländlichen Raum den Handelsberufen trotz der durch die Emanzipation ermöglichten freien Berufswahl treu blieben, hatte mehrere Ursachen. Zum einen besaßen sie eine große Erfahrung in diesem Bereich, was einen Vorteil gegenüber Mitbewerbern darstellte. Zum anderen gewann der Handel im Verlauf des 19. Jahrhundert vor dem Hintergrund der Industrialisierung und der Durchsetzung des liberalen, kapitalistischen Wirtschaftssystems gegenüber der Landwirtschaft und dem Handwerk an Bedeutung, da Letztere infolge der strukturellen Veränderungen wiederholt Krisen ausgesetzt waren. Lediglich das Handwerk des Metzgers, das

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häufig zusammen mit Viehhandel ausgeübt wurde, war relativ weit verbreitet unter den auf dem Land lebenden Juden, während Landwirtschaft allenfalls nebenberuflich bzw. für den eigenen Bedarf betrieben wurde. Zwar erhielten in Lothringen und Luxemburg infolge der Emanzipation schon in der ersten Jahrhunderthälfte Juden auf dem Land die Möglichkeit, für den Staat zu arbeiten, allerdings handelte es sich bei ihnen um Einzelfälle. Wie schon in früheren Zeiten erfüllten die jüdischen Handelsleute während des Untersuchungszeitraums eine Mittlerfunktion zwischen Stadt und Land. Es ist hervorzuheben, dass sie nicht immer die Einzigen waren, welche die Dorf­bevölkerung mit bestimmten Waren versorgten, sondern dass es in einem Teil der Orte auch christliche Geschäftsleute gab, unabhängig davon, ob es sich um stadtnahe oder stadtferne Siedlungen handelte. Es ist allerdings festzustellen, dass in solchen Dörfern häufig eine Arbeitsteilung existierte, die dafür sorgte, dass bestimmte Produkte nur bei jüdischen Handelsleuten erwerbbar waren. Eine solche Gruppe stellten die jüdischen Viehhändler dar, die für die ländliche Ökonomie wichtig waren, da sie in den von Kleinbesitz geprägten Regionen auch weniger wohlhabenden B ­ auern Viehbesitz ermöglichten bzw. diese mit kurzfristigen Kleinkrediten versorgten. Lediglich in Luxemburg war die Bedeutung der jüdischen Viehhändler aufgrund der geringen Zahl der Juden etwas geringer. Die Spezialisierung der jüdischen Landbevölkerungen der drei betrachteten Re­ gionen auf die gleichen Berufszweige wirkte sich stabilisierend auf die B ­ eziehungen zwischen ihnen aus, da sich die wirtschaftlichen Kontakte nicht selten mit verwandtschaftlichen Verbindungen verschränkten, besonders im Bereich des Pferde-, Vieh- und Getreidehandels. Mit diesen Geschäftszweigen war zudem ein gewisses Maß an berufsbedingter Mobilität verknüpft, welches die Erfahrungswelt vieler jüdischer Handelsleute bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein prägte und sie somit von dem Großteil der christlichen Landbevölkerungen und einem Teil der jüdischen Bevölkerung abhob, deren Horizont sich räumlich enger gestaltete. Die Spezialisierung jüdischer und christlicher Dorfbewohner auf verschiedene Berufe führte dazu, dass beide Bevölkerungsgruppen voneinander abhängig waren und beim Erwerb bestimmter Waren bzw. bei der Inanspruchnahme ­bestimmter Dienstleistungen mit Angehörigen der anderen Glaubensgruppe kooperieren mussten. Die sich zum Ende des 19. Jahrhunderts auf dem Land etablierenden Kreditanstalten und Genossenschaften stellten zwar eine gewisse Konkurrenz für jüdische Kreditgeber dar, aber entgegen Teilen der Forschung können sie nicht als Ursache für die Abwanderung von Juden in die Städte betrachtet werden, sondern allenfalls als verstärkendes Element. Die Migration junger Juden in die Städte hing vor allem mit dem Bildungsstreben der Eltern und dem Wunsch nach einem ökonomischen Aufstieg zusammen, der vor allem in stadtfernen Orten wie Gemünden und Boulay nicht zu realisieren war.

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Hinsichtlich der Entwicklung der sozialen Stellung der Landjuden ist zu bemerken, dass sie in den betrachteten Regionen zu Beginn des Untersuchungszeitraums größtenteils als arm anzusehen waren und häufig einen Handel mit Altwaren im Umherziehen betrieben. Um die Jahrhundertmitte änderte sich dies allmählich, und die ersten Juden eröffneten feste Läden in ihren Heimatdörfern, wobei festzustellen ist, dass dies in verkehrsgünstig gelegenen Orten – was nicht notwen­digerweise mit Stadtnähe korrespondierte – früher und öfter der Fall war. Entgegen Teilen der bisherigen Forschung, welche die durchschnittliche Einkommens­entwicklung aller Juden – also der Stadt- und Landbewohner – als Indikator nahmen, bedeutete dies nicht automatisch einen sozialen Aufstieg. Festzustellen ist allerdings, dass sich in Lothringen, der Rheinprovinz und Luxemburg in den Fünfzigerjahren die finanzielle Lage der auf dem Land lebenden Juden zu bessern begann, auch wenn dieser Prozess weniger intensiv als in den Städten ausfiel. Dass der soziale Aufstieg mit einem allgemeinen Aufschwung im Bereich des Handels korrespondierte, belegt die Tatsache, dass in den Untersuchungsdörfern, in denen Juden und Christen Handel betrieben, die Einkommensunterschiede zwischen beiden Gruppen geringer ausfielen als in den Dörfern, in denen die Juden diesen Bereich dominierten. In den Orten, auf die der letztere Fall zutraf, war die jüdische Bevölkerung insgesamt besser gestellt als die christliche, während in den anderen Orten die Sozialstruktur der Juden derjenigen der Christen glich oder sie zeitweise sogar schlechtergestellt waren. Dementsprechend lässt sich nicht generell sagen, dass es Einkommensunterschiede zwischen Juden und Christen gab, die geeignet gewesen wären, Spannungen zu erzeugen. Eine wesentliche Erkenntnis dieser Studie ist, dass die jüdischen Gemeinden in der Rheinprovinz das gesamte Jahrhundert wesentlich anders als die protestantischen und katholischen Gemeinden behandelt wurden, während in Lothringen und Luxemburg der Umgang mit der jüdischen Glaubensgemeinschaft vergleichbar mit derjenigen der evangelischen Bürger war. In den letzteren Regionen profitierten die jüdischen Landbewohner seit den Dreißigern bzw. den Vierzigern davon, dass die staatlichen Behörden die jüdische Religionsgemeinschaft nicht mehr grundsätzlich als minderwertig gegenüber den christlichen Gemeinschaften betrachteten und Beihilfen gewährten. Zwar wurden die jüdischen Gemeinden in den beiden überwiegend katholischen Territorien nicht genauso wie die katholischen Gemeinden behandelt, aber aufgrund des vergleichbaren Verhaltens der Behörden gegenüber den kleinen evangelischen Glaubensgemeinschaften ist dies weniger als eine „Sonderbehandlung“ der Juden als Juden, sondern vielmehr als eine Spielart des allgemeinen Umganges mit religiösen Minderheiten zu betrachten. Diese Einschätzung bestätigt auch das Auftreten der dörflichen Zivilgemeinden gegenüber den Juden als Kollektiv sowohl im Bereich der Armenfürsorge als auch beim Verhalten gegenüber den jüdischen Schulen: Sie zeigten sich seit den Vierziger­jahren in der

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Regel bereit, die jüdischen Institutionen finanziell zu unterstützen, auch wenn im Vergleich zur katholischen Mehrheit nicht von Gleichbehandlung gesprochen werden kann, da die Letztere des Öfteren bevorzugt behandelt wurde. Nur vereinzelt regte sich Widerspruch von katholischer Seite gegen die beschriebene Praxis. In Luxemburg zeigten sich die kommunalen Gremien hinsichtlich der Unterstützung jüdischer Institutionen teilweise zurückhaltend, wobei es in ihren Überlegungen häufig weniger eine Rolle spielte, dass es sich um Juden handelte, als darum, dass diese – wie die Protestanten – häufig Immigranten waren und zudem die Unterstützung im Verhältnis zur Bevölkerungsgröße überproportional ausfiel. In Lothringen unterstützten die Zivilgemeinden die jüdischen Gemeinden durch eigene Mittel und durch Fürsprache gegenüber übergeordneten staatlichen und jüdischen Behörden. In beiden Regionen suchten die Zivilgemeinden aber gelegentlich, einen Teil der finanziellen Zuschüsse zu jüdischen Institutionen zu externalisieren, indem sie um direkte Zuschüsse vom Staat baten. In der mehrheitlich katholischen Rheinprovinz, die Teil eines protestantisch dominierten Staates war, gestaltete sich die Lage grundsätzlich anders als in den Nachbarregionen: Die katholischen und protestantischen Gemeinden wurden (trotz zeitweise intensiver Konflikte) grundsätzlich ähnlich behandelt, während die jüdischen Gemeinden deutlich benachteiligt waren. Während es in Lothringen nach 1831 häufig vorkam, dass auf dem Land die Bürgermeister und die mehrheitlich christlichen Gemeinderäte sich für die Unterstützung jüdischer Gemeinde­institutionen bzw. -bediensteter einsetzten, war dies in der Rheinprovinz nur selten der Fall. Die jüdischen Einwohner fühlten sich vor dem Hintergrund ihrer Gleichstellung als Bürger ungerecht behandelt, da sie aus der Emanzipation als Individuen auch eine Emanzipation als Glaubensgemeinschaft ableiteten, die allerdings nicht gegeben war. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – seit den Sechzigerjahren und verstärkt nach der Reichsgründung – lässt sich ein gewisser Wandel der Einstellungen der christlichen Dorfbevölkerungen feststellen: Aus „Billigkeitsgründen“, also der Erwägung, dass es gerecht wäre, auch jüdische Institutionen zu unterstützen, da die Juden genauso wie die Christen ihren (finanziellen) Beitrag zum Gemeinwesen leisteten, gewährten sie der jüdischen Minderheit Zuschüsse zu religiösen Einrichtungen und Schulen, obwohl sie gesetzlich nicht dazu verpflichtet waren. Im Fall des grenznahen Illingen scheinen die gemeinsame Kriegserfahrung und die damit verbundene Vorstellung als Mitglieder einer Nation diese Entwicklung begünstigt zu haben. Die vergleichbare Behandlung jüdischer Gemeinden und anderer ähnlich kleiner Glaubensgemeinschaften in Lothringen und Luxemburg weist darauf hin, dass nicht jegliche Zurücksetzung von Juden als spezifisch antijüdisches Verhalten der Mehrheitsgesellschaft aufgefasst werden kann. Dieser Befund ergänzt die bisherige Forschung zur Geschichte der Juden bzw. zum Antisemitismus, welche komparative

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Ansätze bislang kaum nutzte, um Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen der religiösen, ethnischen oder nationalen Diskriminierung von Minderheiten zu analysieren. Derartige Forschungen erlauben eine bessere Differenzierung zwischen benachteiligendem Verhalten, das auf einer speziellen Konstellation zwischen einer Bevölkerungsmehrheit und einer oder mehrerer Minderheiten beruht, und solchem, dass sich aus spezifisch antijüdischen Motiven speist. Ein in allen Regionen festzustellender Unterschied zum Ancien Régime bestand darin, dass die Staaten den Juden über gesetzliche Vorschriften die Kultus­organisation präzise vorschrieben. Auf deren Einhaltung achteten die Staatsverwaltungen allerdings in unterschiedlichem Maße. Daher variierte nach 1815 auch der Einfluss der jüdischen Konsistorien auf die Landgemeinden. Die Konsistorialordnung war aufgrund der zerstreuten jüdischen Siedlungsweise weder für Lothringen noch für die Rheinprovinz geeignet, aber in der französischen Region konnten die Konsistorien aufgrund des Rückhalts in der Staatsverwaltung zumindest teilweise die Zustände in den jüdischen Landgemeinden beeinflussen, während dies in letzterer Region kaum der Fall war. Es ist allerdings auch für den lothringischen Fall zu betonen, dass sich die von den Konsistorien ernannten „commissaires surveillants“ in erster Linie als Vertreter ihrer Gemeinden betrachteten, sie also ein ähnliches Amtsverständnis wie die jüdischen Vorsteher der Rheinprovinz hatten. Die sich in der Rheinprovinz über mehrere Jahrzehnte hinziehende Umsetzung der 1847 vorgeschriebenen Kultus­ organisation verdeutlicht den Willen der dortigen jüdischen Landgemeinden, die eigene Unabhängigkeit zu bewahren, ist aber auch Zeugnis einer gewissen Gleichgültigkeit gegenüber der jüdischen Religionsgemeinschaft aufseiten der regionalen und lokalen Staatsverwaltung. Auf lokaler Ebene griffen die Behörden sowohl in der Rheinprovinz als auch in Lothringen in jüdische Kultusangelegenheiten vor allem dann ein, wenn sie die öffentliche Ruhe oder Sicherheit gefährdet sahen, d. h., wenn es die allgemeine Lage im Dorf, also auch die christlichen Einwohner, betraf. Darüber hinaus beeinflussten sie das jüdische Gemeindeleben über (geleistete bzw. nicht geleistete) Zuschüsse für die jüdischen Kultuseinrichtungen sowie die Aufsicht über die Schulen. Paradoxerweise war die Kontrolle über die jüdischen Schulen in der Rheinprovinz, wo kaum finanzielle Ressourcen zugunsten dieser Einrichtungen erübrigt wurden, strenger als in Lothringen, wo dies aufgrund der Subventionierung eher zu erwarten gewesen wäre. Diese Tatsache erklärt sich aus der unterschiedlichen Entwicklung des allgemeinen Schulwesens in Frankreich und Preußen. Die luxemburgischen Staatsbehörden achteten nur in eingeschränktem Maße auf die Einhaltung der staatlichen Kultusordnung, z. B. korrespondierten sie direkt mit den Ettelbrücker Juden, obwohl die Verständigung über die jüdische Gemeindeführung in der Hauptstadt hätte geschehen müssen. Eine solche Art der Kommunikation zwischen dem Staatszentrum und den Landbewohnern war in den anderen Regionen nicht zu finden, da sie den spezifischen in einem Kleinstaat

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herrschenden Bedingungen geschuldet war, also der Nähe zwischen der Regierung und den Regierten sowie der geringen Zahl der Bürger. Neben dem Einsatz der jüdischen Landbewohner für ihre Gleichberech­ tigung verdeutlichen auch Veränderungen in der jüdischen Religionsausübung, dass die Landgemeinden in größere Kommunikationszusammenhänge eingebunden waren. Es handelte sich weder bei den stadtnahen noch den stadtfernen Orten um ver­schlafene Dörfer, die von nationalen Geschehnissen bzw. trans­natio­ nalen und -­ regionalen Debatten unbeeinflusst blieben. Zwar hielten die jüdischen Land­bewohner an vielen religiösen Gebräuchen fest, aber in der Rheinprovinz und Luxemburg kamen sie seit den Vierzigerjahren sowie in Lothringen seit den Sechziger­jahren mit reformerischen Ideen in Berührung. Zu Modifikationen in den Landgemeinden konnte es allerdings nur kommen, weil die jüdischen Landbewohner – zunächst deren Eliten – selbst Vorstellungen von einem würdigen, modernisierten Gottesdienst entwickelten. Dies geschah, weil sie bürgerliche Wertvorstellungen – die christliche und jüdische Stadtbewohner teilten – übernahmen und diese angepasst an das eigene Lebensumfeld umsetzen wollten. Die Ideen der Landbewohner unterschieden sich von denen radikalerer Reformer in den Städten, weswegen Letztere den Landjuden nicht selten Rückständigkeit vorwarfen, ohne dass sie die Veränderungen wahrnahmen bzw. würdigten. Dazu trug bei, dass jüdische Dorfbewohner selbst die Wichtigkeit von Traditionen betonten, was den Blick darauf versperrte, dass sich auch auf dem Land die Definition erhaltenswerter Traditionen im Verlauf der Zeit änderte und Neuerungen eingeführt wurden. Die christliche Landbevölkerung pflegte teilweise eine Erwartungshaltung gegenüber der jüdischen Religionsausübung, wie das Beispiel von Boulay zeigt, wo kritische Äußerungen christlicher Mitbürger die jüdische Bevölkerung im Wunsch nach Veränderungen bestärkten. Christliche Dorfbewohner bewerteten die kulturelle Andersartigkeit der jüdischen Gemeinschaft manchmal negativ, weil sie eigene Maßstäbe auf die jüdische Minderheit übertrugen und sie eine (partielle) Akkulturation befürworteten. Die teilweise an christlichen Vorbildern orientierten Neuerungen im jüdischen Kultus verdeutlichen, dass Juden die Unterschiede der eigenen Religionsausübung zu den Bräuchen der christlichen Mehrheit wahrnahmen und einzelne Elemente der Letzteren als übernehmenswert einstuften. Dieser Prozess ging über eine reine Nachahmung hinaus, da die jüdischen Gemeinden nur ausgewählte Aspekte ihrer Religionsausübung gemäß den eigenen, sich verändernden Vorstellungen von Würde modifizierten. Die Debatte um die Reformbedürftigkeit der jüdischen Religionsausübung hatte einen transnationalen Charakter. Zunächst führten sie jüdische Intellektuelle und Rabbiner im deutschen Kontext, später wurde sie von einem Teil der in Frankreich und Luxemburg lebenden Juden rezipiert, vor allem von den jüdischen Laien in den Konsistorien. In allen drei Regionen setzten sich die jüdischen Landgemeinden mit

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Reformansprüchen seitens der jüdischen, städtischen Eliten auseinander, wobei es nicht nur hinsichtlich des Zeitpunktes Unterschiede zwischen ihnen gab, sondern auch bezüglich der Intensität. Allgemein ist festzustellen, dass die reformerischen Tendenzen in Preußen stärker als in Frankreich ausgeprägt waren, u. a., weil ein Teil der Juden in ersterem Staat als emanzipationswürdig erscheinen wollte, was in dem Letzteren als Motiv entfiel. Zwar mischten sich die Behörden normalerweise nicht in die jüdischen Diskussionen ein, aber indirekt nahmen sie durchaus Einfluss, z. B. beeinflussten die staatlichen Vorschriften über die Kultusordnung die internen Entwicklungen. Im Großherzogtum griff die Regierung sogar direkt in die innerjüdische Diskussion ein, indem sie sich in dem Konflikt um die Bestimmung des ersten luxemburgischen Rabbiners für den reformerischen Hirsch entschied. Eine Besonderheit des rheinpreußisch-lothringisch-luxemburgischen Grenzraums ist, dass die Reformideen nicht nur durch die jüdischen Eliten in ihren jeweiligen Regionen verbreitet wurden, sondern dass es auch einen trans­regionalen Austausch gab. So setzte sich beispielsweise der in der Rheinprovinz geborene Samuel Hirsch im Luxemburg für Reformen ein. Im Fall des Großherzogtums ist zudem zu bedenken, dass die aus deutschen Gebieten zuziehenden Juden häufig bereits in ihrer bisherigen Heimat Reformdebatten wahrgenommen hatten. Die persönlichen Beziehungen zwischen den Juden der betrachteten Regionen be­­ wirkten schon zu Zeiten des Ancien Régime die grenzüberschreitende Verbreitung von religiös-kulturellen Praktiken. Der Austausch von Bräuchen zwischen den Re­ gionen dauerte aber auch im 19. Jahrhundert fort, wie die Verbreitung bestimmter Gottesdienstelemente in Grenznähe nahelegt. Dass die auf dem Land lebenden Juden die jüdische Reformbewegung rezi­pierten und den Kultus modernisierten, wurde in der jüdischen Historiografie – vor allem der französischen – bislang kaum registriert. Angesichts der in allen Regionen festzustellenden Entwicklungen sind Zweifel an der vorherrschenden Darstellung der Landjuden als eine generell neuerungsunwillige Gruppe angebracht. Ein weiteres Ergebnis der Studie ist, dass sich im Verlauf des Untersuchungszeitraums die Kontakte zwischen jüdischen und christlichen Landbewohnern in allen Regionen intensivierten, wobei der Schwerpunkt in allen Regionen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lag, dass diese Entwicklung allerdings nicht in allen Lebensbereichen auf die Emanzipation der Juden zurückzuführen war. Nicht nur die christlichen Mehrheiten, sondern auch die jüdischen Minderheiten wollten in bestimmten Bereichen Abstand zu den Angehörigen der anderen Religion wahren. Die Separation der Einwohner nach Religionen bzw. Konfessionen geschah teilweise im gegenseitigen Einverständnis, sodass deren Ursprung nicht immer in einer einseitig von der Mehrheitsbevölkerung vorgenommenen Exklusion zu sehen ist. Diesem Aspekt der jüdisch-christlichen Beziehungen ist in der jüdischen Historiografie und auch in der Antisemitismusforschung bislang nur wenig Aufmerksamkeit

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gewidmet worden. Es ist wünschenswert, Juden stärker, als es bisher geschehen ist, als handelnde Subjekte zu betrachten, die ihre Umwelt mitgestalteten, und ihre Rolle bei Inklusions- und Exklusionsprozessen stärker herauszuarbeiten. Hinsichtlich der jüdischen Siedlung innerhalb der Dörfer war zu beobachten, dass sich die jüdischen Einwohner im Verlauf des 19. Jahrhunderts immer stärker in ihren Dörfern verteilten und Juden und Christen gelegentlich gemeinsam Häuser bewohnten, auch wenn die jüdischen Einwohner häufig (ohne Zwang) die Nähe anderer Glaubensgenossen suchten, wahrscheinlich, weil es die Ausübung religiöser Praktiken erleichterte und zugleich den Zusammenhalt innerhalb der jüdischen Gemeinden stärkte. Die Emanzipation ermöglichte die Zerstreuung innerhalb der Dörfer häufig zwar erst, aber oft waren ökonomische Beweggründe ausschlag­ gebend für jüdisch-christliches Zusammenleben, wobei dies in der Rheinprovinz häufiger der Fall war als in Lothringen und Luxemburg. Die christlich-jüdischen Nachbarschaften, deren Zahl sich infolge der beschriebenen Entwicklung im Verlauf des 19. Jahrhunderts erhöhte, stellten einen zumeist friedlichen Ort der Begegnung zwischen Juden und Christen dar, aber völlig konfliktfrei waren sie in keiner der betrachteten Regionen. Bei den meisten christlich-jüdischen Streitigkeiten in diesem Umfeld handelte es sich um Auseinandersetzungen über die Nutzung von Grundstücken, die in der Regel keine spezifisch antijüdische Stoßrichtung auf­ wiesen. In allen Regionen war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Nachbarschaftshilfe zwischen Juden und Christen gängige Praxis, wobei anzumerken ist, dass zumindest zum Ende des Untersuchungszeitraums die Beziehungen in Lothringen entspannter gewesen zu sein scheinen als in der Rheinprovinz. Es gab aufgrund der häufig unterschiedlichen Berufstätigkeiten und der Religionsausübung zwar Unterschiede zwischen jüdisch-christlichen und rein christlichen Nachbarschaften, aber es lässt sich nicht nachweisen, dass die betroffenen Personen dies als besonders negativ empfanden. Der Handel stellte den einzigen Lebensbereich dar, in dem das gesamte 19. Jahrhundert hindurch ein intensiver Austausch zwischen Juden und Christen stattfand. Dies war allerdings nicht auf die Emanzipation zurückzuführen, sondern auf die ökonomischen Gegebenheiten in den betrachteten Regionen. Die wirtschaftlichen Beziehungen stellten insofern keine Neuerung im Vergleich zum Ancien Régime dar, als bereits in dieser Epoche rege Kontakte zwischen Juden und Christen im geschäftlichen Bereich existiert hatten. Ähnlich wie in den Nachbarschaften überwog der konfliktfreie Austausch, allerdings kam es öfters zu Streitigkeiten, auch wenn es nur selten zu Gewalttätigkeiten gegen Juden kam und die Handelspartner im Falle von Unstimmigkeiten häufig eine gerichtliche Lösung suchten. Die Studie bestätigt die vom Großteil der neueren Forschung konstatierte Ambivalenz der jüdisch-christlichen Wirtschaftsbeziehungen auf dem Land. Der Vergleich zeigt darüber hinaus auf, dass in den verschiedenen Regionen die

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Strate­gien der christlichen Bevölkerungen, mit dieser umzugehen, angesichts der unterschiedlichen Gesetzeslage variieren konnten. Während sich an der Ambivalenz der geschäftlichen Beziehungen zwischen Juden und Christen das gesamte Jahrhundert über wenig änderte, war festzustellen, dass in Lothringen nach und wohl auch infolge der Emanzipation die Einstellung der Beamten und der Bevölkerung gegenüber den jüdischen Handelsleuten langsam positiver wurde, sodass in den Vierzigerjahren kaum noch Klagen über deren Geschäftsgebaren laut wurden, während in der Rheinprovinz, wo der von Juden betriebene Handel weiterhin gesetzlichen Einschränkungen unterlag, negative Einschätzungen dominierten. Zwar entwickelten sich auch in der Rheinprovinz die Meinungen der Landbevölkerung hinsichtlich der Handelstätigkeit der Landjuden, aber Kritik an „wucherischen“ Praktiken wurde weiterhin öfter geäußert als in den beiden Nachbar­regionen, wo antisemitische Bestrebungen auf dem Land kaum Erfolg hatten. Dies bedeutet zwar nicht, dass es in Lothringen und Luxemburg keine christlichen Einwohner mehr gab, die ökonomische Vorurteile gegenüber Juden hegten, aber zumeist waren diese nicht handlungsleitend. Dass in dem betrachteten Grenzraum die christ­lichen Bevölkerungen die Einstellungen ihrer Glaubensgenossen in den benachbarten Regionen zum Handel der Juden wahrnahmen, zeigt u. a. die Rezeption von Wucherdebatten in der Rheinprovinz im Großherzogtum. Zu beruflicher Konkurrenz zwischen Juden und Christen kam es in den betrachteten Dörfern aufgrund der Berufsverteilung nur selten, allerdings lassen sich Unterschiede beim Umgang mit solchen Situationen ausmachen. Während in Preußen christ­liche Metzger unter Benutzung antijüdischer Stereotype versuchten, die jüdischen Kollegen mit behördlicher Hilfe aus dem Markt herauszudrängen, bevorzugten es die christlichen Dorfbewohner in Lothringen, gemeinsam mit den jüdischen Kollegen die eigenen Interessen zu verfolgen. Das unterschiedliche Verhalten lässt sich damit erklären, dass in der Rheinprovinz, wo die Emanzipation bis 1869 unvollendet blieb, christliche Einwohner auf Sonderregelungen des Staats zu hoffen wagten, da die Juden ohnehin nicht gleichbehandelt wurden, während dies in Lothringen spätestens seit den Dreißigerjahren nicht mehr der Fall war. Im Großherzogtum stellte sich die Konkurrenzfrage auf dem Land kaum, da die jüdischen Handelsleute und Handwerker nur eine kleine Minderheit innerhalb ihrer Berufsgruppen bildeten. Lediglich der Textilbetrieb der Familie Godchaux wurde zeitweise von anderen, teilweise im ländlichen Raum angesiedelten Tuch­ fabrikanten und -händlern kritisiert, allerdings wurden in diesem Zusammenhang keine Forderungen gegenüber dem Staat laut. Regelmäßige jüdisch-christliche Kontakte in den dörflichen Wirtshäusern ließen sich in allen Regionen erst für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts nach­ weisen, während dies in den Elementarschulen – zwischen nichtjüdischen Kindern und christlichen Mitschülern bzw. Lehrern – teilweise schon in der ersten

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Jahr­hunderthälfte der Fall war. In den betrachteten preußischen und lothringischen Dörfern existierten allerdings jüdische Schulen, welche die Zahl ­überkonfessioneller Kontakte deutlich begrenzten. Die Existenz der jüdischen Lehranstalten war in beiden Regionen nicht ausschließlich und in erster Linie Folge eines Ausschlusses durch die christliche Bevölkerung, sondern auch die jüdischen Einwohner befürworteten aus religiösen Motiven die Trennung der Kinder. Überkonfessionelle Kontakte ergaben sich in der Rheinprovinz allerdings häufiger als in Lothringen, da es den preußischen Landgemeinden aus finanziellen Gründen schwererfiel, jüdische Lehrkräfte zu finden. Dass zum Ende des Jahrhunderts ein Teil der jüdischen Dorfschulen – in den stadtfernen Orten und häufig zum Unmut der jüdischen Eltern – aufgelöst wurde, lag vor allem an der sinkenden Kinderzahl. In Luxemburg verlief die Entwicklung etwas anders: Dort existierte in der ersten Jahrhundert­hälfte nur in der Hauptstadt kurzfristig eine jüdische Schule, während wegen der zerstreuten jüdischen Siedlung auf dem Land die Kinder christliche Schulen besuchten. Erst Ende des Jahrhunderts konnte sich in Ettelbrück eine solche infolge des jüdischen Bevölkerungszuwachses etablieren. Hinsichtlich der Qualität der christlich-jüdischen Beziehungen war festzustellen, dass die christlichen Lehrkräfte in der Regel keine Bekehrungsversuche unternahmen, aber gelegentlich – in erster Linie in Preußen – auf ihrer Seite der Wunsch bestand, über Bildung zu einer „Verbesserung“ der Juden beizutragen. Dass das christlich-jüdische Zusammensein in christlichen Lehranstalten jüdische Schüler, die diese alleine besuchten, einem gewissen sozialen Druck aussetzte und dahin beeinflussen konnte, sich taufen zu lassen, zeigt das luxemburgische Beispiel. Um die Jahrhundertwende waren die jüdischen Schüler noch des Öfteren mit antijüdischen Stereotypen vonseiten christlicher Kinder konfrontiert, aber mit manchen schlossen sie auch Freundschaften. Eine eindeutige soziale Zuordnung des ablehnenden Verhaltens gegenüber den jüdischen Kindern war nicht möglich. Der hohe Stellenwert der Religion im dörflichen Leben war in allen Regionen der Grund dafür, dass die Zugehörigkeit zu verschiedenen ­Glaubensgemeinschaften – trotz der Emanzipation – dafür sorgte, dass ein Großteil des sozialen Lebens der Juden und der Christen getrennt voneinander verlief. In der zweiten Jahr­ hunderthälfte reduzierte sich der Abstand zwar etwas, wie die vermehrte Teilnahme von Juden und Christen an religiösen Feierlichkeiten, familiären Trauerfällen und Festen der Angehörigen der anderen Religion belegt, aber eine grundlegende Distanz blieb aufgrund der mit den verschiedenen religiösen Zugehörigkeiten verbundenen Gebräuche (einschließlich unterschiedlicher Arbeits- und Ruhetage) bestehen. Die vermehrten Kontakte boten zwar die Möglichkeit, Gemeinsamkeiten zu entdecken, zugleich konnten sie aber auch das Bewusstsein der religiös-kulturellen Unterschiede zwischen Juden und Christen stärken. Zu Mischehen kam es während des 19. Jahrhunderts in keinem der Untersuchungsdörfer, da sie im Allgemeinen bei

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jüdischen und christlichen Landbewohnern auf Ablehnung stießen. Für die große Mehrheit beider Seiten stellten Mischehen eine nicht zu tolerierende Erscheinung dar, eine Infragestellung der eigenen religiös-kulturellen Identität. Dies wurde wohl besonders auf jüdischer Seite wegen der eigenen Minderheitenposition als eine existenzielle Gefährdung angesehen. Zwar gab es vereinzelt Liebesbeziehungen zwischen Juden und Christen, allerdings zog deren Bekanntwerden häufig einen (erzwungenen) Wegzug aus dem Dorf nach sich. In diesem Zusammenhang ist allerdings zu berücksichtigen, dass uneheliche Beziehungen auch innerhalb einer Religionsgemeinschaft in der Regel nicht toleriert wurden. An einem Teil der christlichen Feierlichkeiten beteiligten sich die jüdischen Landbewohner aller Regionen äußerlich (z. B. in Form des Schmückens ihrer ­Häuser), wobei anzumerken ist, dass dies in der ersten Jahrhunderthälfte wohl geschah, um Konflikte mit der christlichen Mehrheit zu vermeiden, es in der zweiten Jahrhunderthälfte aber eher als freiwillige Respektbekundung gedeutet werden kann. Dass die christlichen Einwohner die Teilnahme von Juden in der letzteren Zeitspanne nicht mehr unbedingt als selbstverständlich ansahen, zeigen die ausdrücklichen Erwähnungen dieses Verhaltens durch Christen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verfolgten auch viele christliche Dorfbewohner größere jüdische Feierlichkeiten und einige beteiligten sich sogar aktiv an ihnen, besonders Vertreter der Zivilgemeinde und Musikvereine. Konfliktpotenzial bargen religiöse Feiern vor allem in der ersten Jahrhunderthälfte, als die christlichen Bevölkerungen noch ge­­ legentlich zu Übergriffen gegen die jüdische Bevölkerung bereit waren. Dies betraf vor allem die Festtage an Ostern oder Weihnachten, ­welche die Unterschiedlichkeit zwischen christlichen und jüdischen Glaubens­angehörigen besonders betonten. In späterer Zeit kam es vereinzelt noch zu verbalen Auseinandersetzungen. Die Toleranz gegenüber der jüdischen Religionsgemeinschaft entwickelte sich also trotz der (begonnenen) Emanzipation nur langsam in den christlichen Bevölkerungen. Anders als in der Rheinprovinz und Lothringen gab es in Luxemburg auf dem Land wegen der erst späten Ansiedlung von Juden kaum Formen von ritualisiertem Antijudaismus. Etwas anders gestaltete sich die Lage in der Hauptstadt des Großherzogtums, wo Christen schon während des Ancien Régime bestimmte Formen der Herabsetzung gegenüber zeitweise anwesenden Juden ausübten. Hinsichtlich des Verhaltens an Sonn- und Feiertagen war festzustellen, dass in allen Regionen nicht nur die jüdischen Dorfbewohner solche Tage nutzten, um bestimmte Arbeiten zu verrichten, sondern dass die Christen ebenso an diesen Tagen Erledigungen machten. Auch wenn die meisten christlichen Dorfbewohner der betrachteten Regionen den abweichenden Lebensrhythmus ihrer jüdischen Mitbürger akzeptierten und teilweise sogar als vorteilhaft für eigene Interessen betrachteten, so gibt es doch Hinweise darauf, dass ein Teil der Christen diesen kulturellen Unterschied als störend empfand. So äußerten gelegentlich Personen

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Unmut über die Sabbatruhe, weil sie selbst im Gegensatz zu den Juden samstags arbeiten mussten. Die Geistlichkeit kritisierte zwar vereinzelt die Arbeit von Christen bei Juden, allerdings ging es ihr in erster Linie darum, dass die eigenen Gläubigen die vorgeschriebene Ruhe einhielten. Im Gegensatz zu Lothringen und Luxemburg fanden sich in der Rheinprovinz allerdings auch Hinweise darauf, dass die Kirchenmänner an hohen christlichen Feiertagen ebenfalls von den Juden erwarteten, dass sie nicht arbeiteten. Die preußischen Behörden legten mehr als die lothringische und luxemburgische Verwaltung Wert darauf, dass die Feiertage von allen Bevölkerungsgruppen eingehalten wurden, während die Gleichbehandlung der Religionen in der französischen Region sogar dazu führte, dass lokale Behörden in der zweiten Jahrhunderthälfte gelegentlich den jüdischen Kalender in ihre Überlegungen einbezogen. Ein weiteres Ergebnis der Studie lautet, dass sich die jüdischen Landbewohner aller Regionen ins öffentliche Leben ihrer Dörfer einbrachten, wobei sie in der Rheinprovinz in stärkerem Maße auf Widerstand trafen als in Lothringen und Luxemburg. In allen Regionen bildeten Vereinigungen von Dorfbewohnern, die lokale Partikularinteressen durchsetzen wollten, zumeist die ersten Assoziationen, in denen sich Juden und Christen zusammentaten. Bei der Verfolgung ihrer Ziele war den Landbewohnern die Religionszugehörigkeit ihrer Mitstreiter offenbar gleichgültig. Zwar konnten die unterschiedlichen Beschäftigungen jüdischer und christlicher Dorfbewohner dazu führen, dass die Wahrscheinlichkeit sank, dass sich Juden und Christen in Vereinen der Angehörigen einer Berufssparte trafen, aber von einer vollständigen Trennung lässt sich auch in diesem Bereich nicht sprechen – zumal nicht in allen Dörfern Juden und Christen in verschiedenen Arbeitsbereichen tätig waren. Interesse an der nichtjüdischen Kultur zeigten die jüdischen Landbewohner aller Regionen spätestens in der zweiten Jahrhunderthälfte, auch wenn es in geringerem Ausmaß der Fall war als in den Städten. Für regionalhistorische Vereine stellte der Handel jüdischer Landbewohner mit historischen Überresten zwar manchmal ein Ärgernis dar, aber auch ihnen gehörten schon um die Jahrhundertmitte einige Juden an. Mitglieder in nicht konfessionell geprägten Vereinen mit geselligem Charakter wurden Juden der betrachteten Dörfer größtenteils erst im letzten Viertel des Jahrhunderts. Es war festzustellen, dass in verkehrsgünstig gelegenen Dörfern (Illingen, Ettelbrück), wo die Entwicklungen in den Städten intensiver wahrgenommen wurden, sich solche Assoziationen früher bildeten und sich auch früher Juden und Christen an ihnen beteiligten als in den anderen Orten. Allgemein gilt, dass das Vereinswesen in der Rheinprovinz umfangreicher als das in Lothringen war. Die ostfranzösischen Regionen – Städte wie Dörfer – orientierten sich bei der Etablierung dieser Organisationsform anscheinend generell an den deutschen Nachbarn, während sich im übrigen Frankreich die Bildung von Vereinen länger hinzog. Jüdische Dorfbewohner traten nicht nur bereits bestehenden

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Assoziationen bei, sondern teilweise gehörten sie auch zu deren Initiatoren. Zwar lassen sich nur in eingeschränktem Maße Aussagen über das christlich-jüdische Miteinander in den Vereinen machen, aber in der Rheinprovinz gab es anscheinend häufiger christliche Mitglieder, die den jüdischen Mitgliedern ablehnend gegenüberstanden, weswegen sie teilweise sogar konkurrierende Vereine ohne jüdische Beteiligung gründeten, was in Lothringen und Luxemburg nicht der Fall war. Wie die christlichen Landbewohner verfügten auch die jüdischen E ­ inwohner über ein eigenes religiös geprägtes Vereinswesen, wobei anzumerken ist, dass jüdische Assoziationen häufig bereits existierten, bevor sie offiziell als Vereine eingetragen wurden. Der religiöse Charakter vieler Vereinigungen rückte in der zweiten Jahrhunderthälfte zugunsten einer karikativen Ausrichtung zurück und zudem differenzierte sich das jüdische ähnlich wie das christliche Vereinswesen in größeren Landgemeinden aus, wobei dies vor allem in den stadtnahen, verkehrs­günstig gelegenen Dörfern der Fall war. Dass Letzteres in Luxemburg nicht geschah, hing mit der geringen Größe der dortigen jüdischen Landgemeinden zusammen. Im Großherzogtum hatte die Zerstreuung jüdischer Einwohner auf dem Land die Folge, dass diese zumeist auf nicht religionsgebundene Vereine angewiesen waren, wenn sie am gesellschaftlichen Leben in den Dörfern teilhaben wollten. Als Antwort auf antijüdische Haltungen in solchen Vereinen ist die Differenzierung des jüdischen Vereinswesens auf dem Land in der Rheinprovinz und Lothringen nicht zwangsläufig zu werten, da jüdische Dorfbewohner nicht selten gleichzeitig in religiösen und nichtkonfessionellen Vereinen tätig waren. Das Anwachsen der Zahl der jüdischen Assoziationen spiegelt vielmehr die allgemeine Entwicklung des Vereinswesens in den jeweiligen Dörfern wider. Belege für den von Teilen der Forschung angenommenen „Dissimilationsprozess“ im Vereinswesen in den Neunziger­jahren ließen sich nicht finden. Das Interesse an jüdischen Organisationen jenseits des lokalen Rahmens war unter den jüdischen Dorfbewohnern bis zum Ende des 19. Jahrhunderts eher gering ausgeprägt, was nach der Annexion im lothringischen Fall u. a. mit der Abneigung gegenüber dem deutschen Staat zusammenhing. Regionale Vereine zur Verbesserung der Juden, die teilweise sogar Unterstützer in benachbarten Ländern fanden, waren nicht erfolgreich auf dem Land. Lediglich der international agierenden Hilfsorganisation Alliance Israélite Universelle, die sich für die Rechte von Juden in der ganzen Welt einsetzte, gelang es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Anhänger in fast allen Untersuchungsdörfern zu gewinnen. Der Erfolg dieser Gesellschaft und der Vereine für jüdische Geschichte und Literatur um die Wende zum 20. Jahrhundert zeigt, dass die jüdischen Landbewohner Wert auf ihre jüdische Identität legten. Die simultane Zugehörigkeit von Juden in jüdischen und überkonfessionellen Assoziationen verdeutlicht, dass die Tätigkeit in Letzteren kein Zeichen der Aufgabe der jüdischen Identität war. Der Vergleich zwischen den verschiedenen Dörfern

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verdeutlicht zudem, dass die Existenz eines differenzierten jüdischen Vereins­ wesens entgegen einem großen Teil der Forschung nicht zwangsläufig als Zeichen eines Ausschlusses aus christlichen Vereinen zu werten ist. Die These einer „negativen Integration“ bestätigte sich in dieser Untersuchung also nicht, auch wenn sich die jüdischen Landbewohner bei der formalen Einrichtung von Vereinen am Beispiel der von der christlichen Bevölkerung in deutschen Städten entwickelten Orga­nisationsform orientierten. Erwähnenswert ist die Tatsache, dass sich mög­ licherweise umgekehrt auch christliche Landbewohner gelegentlich jüdische Vereinigungen zum Vorbild nahmen. Die Bedingungen, unter denen sich die jüdischen Landbewohner an der dörflichen Politik beteiligen konnten, differierten infolge der in den verschiedenen Regionen geltenden Kommunalverfassungen. In der Rheinprovinz zogen vor 1845 keine Juden in die Schöffenräte der betrachteten Dörfer ein, weil sie nicht kandidierten, da das Unterfangen angesichts der geringen Zahl der zu vergebenden Plätze und der Skepsis eines Großteils der christlichen Bevölkerung ihnen gegenüber wohl erfolglos geblieben wäre. Nach 1845 wurden Juden zu Gemeinderäten gewählt, allerdings zunächst anscheinend nur dort, wo sie über höhere Einkommen als die christliche Bevölkerung verfügten und mehr Wahlberechtigte stellten. Die Wahlbeteiligung der jüdischen Wahlberechtigten war vor 1845 nicht geringer als die der Christen und danach übertraf sie die der Letzteren sogar häufig. Auf dem lothringischen Land gestaltete sich die Lage anders, denn hier war die jüdische Wahlbeteiligung ungleichmäßig ausgeprägt und christliche Dorfbewohner gaben bereits in den Vierzigerjahren in größerer Zahl jüdischen Kandidaten ihre Stimmen. Dass nach der Einführung des allgemeinen Wahlrechts im Gefolge der Revolution regelmäßig Juden der betrachteten lothringischen Dörfer in die Gemeinderäte einzogen bzw. wiedergewählt wurden, ist ein Beleg dafür, dass sie eine breite Akzeptanz in der christlichen Bevölkerung besaßen. Auch nach 1871 war diese ausgeprägter als in der Rheinprovinz, wie die höhere Zahl jüdischer Gemeindevertreter belegt. Zudem gelang es in Lothringen jüdischen Landbewohnern seit der Julimonarchie und verstärkt seit der Jahrhundertmitte, das Amt des Bürgermeisters zu erlangen, was ihren Glaubensgenossen in der Rheinprovinz schon allein aufgrund der ab­­ lehnenden Haltung der Behörden verwehrt blieb. Im Großherzogtum verhielten sich die jüdischen Einwohner hinsichtlich der Kommunalpolitik eher zurück­ haltend. Dies war wohl darauf zurückzuführen, dass sie im Gegensatz zu den anderen Regionen nur eine äußerst kleine Minderheit in ihren Wohnorten bildeten und zudem nicht selten Immigranten ohne luxemburgische Staatsangehörigkeit und daher ohne Wahlrecht waren. Im 19. Jahrhundert traten ausschließlich Mitglieder der Familie Godchaux als Bürgermeister bzw. Gemeinderäte auf, wobei Ersteres bei einem Teil der katholischen Landbevölkerung bis in die Sechzigerjahre hinein auf Ablehnung stieß, allerdings ohne etwas daran zu ändern.

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Hinsichtlich des gegenseitigen Umgangs von Juden und Christen in den kommunalen Entscheidungsgremien war festzustellen, dass in den lothringischen Dörfern die Zugehörigkeit zu verschiedenen Religionen das Verhältnis der einzelnen Ratsmitglieder zueinander anscheinend nur wenig beeinflusste, während in der Rheinprovinz die christlichen Gemeinderäte bzw. Bürgermeister ein bestimmtes Verhalten von ihren jüdischen Kollegen erwarteten und abweichende Haltungen sanktionierten. In Einzelfällen waren die Katholiken in Preußen im Rahmen von Reichtagswahlen bereit, einem angenommenen, politisch-abweichenden Verhalten der Minderheit mit Boykotten entgegenzutreten. Dass sie judenfeindlicher auftraten als Protestanten, lässt sich allerdings nicht bestätigen. In Lothringen und in Luxemburg hatten Juden lediglich in der Position des Bürgermeisters gelegent­ lich mit Anfeindungen zu rechnen, deren Anstoß häufig von katholischen Geistlichen ausging. Eine ablehnende Einstellung gegenüber den politischen Mitspracherechten der jüdischen Bürger wurde von einem Teil der jüdischen Historiografie als Ursache für die 1848 vor allem im Elsass und dem südwestdeutschen Raum stattfindenden antijüdischen Ausschreitungen angenommen. Auf den lothringischen Fall angewendet erlaubt dies die These, dass die christliche Landbevölkerung die Emanzipation der Juden bereits stärker akzeptiert hatte, da es nur zu einzelnen (eher ökonomisch motivierten) Auftritten kam, obwohl in vielen Landgemeinden Juden politisch tätig waren. In der Rheinprovinz war Letzteres in geringerem Ausmaß der Fall, und bei der ohnehin geringen Zahl der Ausschreitungen spielten zumeist ökonomische Motive eine wesentliche Rolle. Die Verfolgung von Juden in verschiedenen Staaten im Jahr 1848 verdeutlicht genauso wie die Verbreitung der revolutionären Vorkommnisse insgesamt, dass die ländlichen Regionen Europas zunehmend in nationale und in Grenzräumen teilweise sogar in transnationale Kommunikationszusammenhänge eingebunden waren. Hinsichtlich des modernen Antisemitismus, der sich transnational in den europäischen Staaten verbreitete, ist festzustellen, dass er bei der ländlichen Bevölkerung der untersuchten Gebiete eher schwachen Rückhall fand. Dies ist allerdings nicht mit einer Abwesenheit von judenfeindlichem Gedankengut bzw. Handeln gleichzusetzen. Hinsichtlich der Teilhabe der Juden an den Ressourcen, welche die Zivil­ gemeinden ihren Bürgern für bestimmte Zwecke zur Verfügung stellten, ließen sich deutliche Unterschiede zwischen den preußischen Dörfern einerseits und denen in Lothringen sowie Luxemburg andererseits ausmachen. In der Rheinprovinz versuchten die christlichen Dorfbewohner häufig mit dem Verweis auf die bis­ herige Praxis, also die Behandlung der Juden vor der Emanzipation, den jüdischen Mitbürgern einen Anteil an der Allmende, Armenversorgung oder Zuschüsse zu den jüdischen Schulen vorzuenthalten, während dies in Lothringen und Luxemburg in deutlich geringerem Ausmaß der Fall war. Im Gegensatz zur Rheinprovinz,

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wo die Verwaltung die Entscheidungen letztlich oft den Zivilgemeinden überließ und kaum Druck zugunsten der jüdischen Minderheit ausübte, engagierten sich die höheren Behörden in Frankreich für eine zumindest ähnliche Behandlung der Katholiken und der jüdischen sowie der evangelischen Minderheit, wenn sie die vom Staat garantierte Gleichbehandlung der Bürger gefährdet sahen. Hinsichtlich der Rheinprovinz ist erwähnenswert, dass es Anzeichen dafür gibt, dass die Vorenthaltung von Gemeindemitteln für die jüdischen Bürger gegen den Willen der übergeordneten Behörden ein Ausdruck von Widerstand gegen den Herrschafts­ anspruch des Staates sein konnte, das Verhalten sich also nicht ausschließlich gegen die jüdischen Mitbürger richtete. In diese Richtung weist auch die Tatsache, dass in einigen Fällen, in denen die preußische Verwaltung keine Rechte der Juden auf Unterstützung anerkannte, die christlichen Gemeindevertreter diese freiwillig gewährten – manchmal sogar gegen den Willen der Staatsbehörden. Gegen die Teilhabe der Juden an der Allmende wehrten sich die christlichen Dorfbewohner der Rheinprovinz vor allem, wenn sie für jüdische Einrichtungen eingefordert wurden. In Lothringen kam es in der Regel nicht zu der­artigen Konflikten, weil die jüdischen Einwohner schon staatliche bzw. kommunale Zuschüsse zur Unterhaltung ihrer Institutionen erhielten und auch als Einzelpersonen wurden sie nicht benachteiligt. Vereinzelt kam es nach der Annexion zwar zu Aus­ einandersetzungen über die Weiderechte, aber eine spezifisch antijüdische Stoß­ richtung besaßen die Konflikte offenbar nicht. Im Großherzogtum ließen sich keine Konflikte zwischen Juden und Christen über den Genuss der Allmende finden, was wohl mit der geringen Zahl der jüdischen Landbewohner zusammenhing. Bezüglich der Armenfürsorge galt für die preußischen Untersuchungsorte trotz gewisser Unterschiede, dass sich die christlichen Gemeindevertreter jahrzehntelang weigerten, die armen christlichen und jüdischen Kinder gleichzubehandeln, also das Schulgeld für Letztere zu übernehmen, wobei die Existenz jüdischer Lehranstalten als Argument herangezogen wurde, obwohl diese nicht allein aufgrund jüdischer Wünsche existierten. Im Fall von Illingen ist bemerkenswert, dass die Gemeinde in den Zwanzigerjahren gegen den Willen der preußischen Behörden arme jüdische Kinder unterstützte. In diesem Fall wirkte sich das nicht auf Gesetzen beruhende Rechtsempfinden der christlichen Gemeindevertreter, welches sie offensiv gegen die Staatsbeamten vertraten, positiv für die Juden aus. In der Regel war dies bis in die Sechzigerjahre hinein allerdings nicht der Fall. Die Stadt Luxemburg bediente sich in den Vierzigerjahren einer ähnlichen Beweisführung wie die Zivilgemeinden in der Rheinprovinz, aber hier setzten die höheren Behörden eine Beihilfe für die armen jüdischen Kinder durch. Als die jüdische Lehranstalt schloss, behandelte die Stadt – wie die Landgemeinden – die jüdischen Schüler an den katholischen Schulen wie die christlichen Kinder. In Lothringen unterstützten die Kommunen schon während der Julimonarchie arme jüdische Schüler. Zwar wurden jüdische

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und christliche Kinder nicht gleichermaßen berücksichtigt, aber da die jüdischen Kultuseinrichtungen von den Zivilgemeinden unterstützt wurden, war die Belastung der jüdischen Eltern geringer als in der Rheinprovinz. Hinzu kam, dass die lothringischen Behörden schon Ende der Dreißigerjahre die allgemeine Armenfürsorge als eine Möglichkeit der Versorgung armer Juden ansahen, während in der Rheinprovinz häufig versucht wurde, den jüdischen Religionsgemeinschaften diese Aufgabe zuzuschieben. Privat zeigten sich die jüdischen Landbewohner aller Regionen bereit, zugunsten christlicher Notleidender zu spenden, während dies umgekehrt seltener der Fall war. Hinsichtlich der Behandlung der jüdischen Schulen war festzustellen, dass sie in allen Regionen häufig als Privatschulen eingestuft wurden, während die in der Rheinprovinz von christlichen Schülern sowie in Lothringen und Luxemburg von katholischen Kindern besuchten Einrichtungen in der Regel als Gemeindeschulen galten. In Preußen wurden bis in die Sechzigerjahre hinein den jüdischen Schulen trotz Anordnungen der höheren Behörden Zuschüsse von den Zivilgemeinden verweigert oder nur in geringerer Höhe entrichtet. Erst danach zeigten sich die Kommunen in größerem Maße zur Leistung von Beihilfen bereit. Dies geschah nun auch häufiger dann, wenn der Staat keine gesetzliche Verpflichtung der Zivilgemeinden dazu sah. Sowohl bei der Vorenthaltung von Gemeindemitteln als auch bei deren Verwehrung stützten sich die christlichen Gemeindevertreter häufig auf ihr von Gesetzen unabhängiges Verständnis von Gerechtigkeit. In Lothringen unterstützten schon in der ersten Jahrhunderthälfte einzelne Kommunen jüdische Lehranstalten freiwillig. Zwar gestanden die Gemeinderäte den jüdischen ebenso wie den evangelischen Schulen auch in der zweiten Jahrhunderthälfte nicht dieselbe Unterstützung wie den katholischen Schulen zu, aber anders als in der Rheinprovinz stritten sie das Recht dieser Schulen auf Gleichbehandlung nicht grundsätzlich ab. In Luxemburg wurde in den Vierzigerjahren die jüdische Schule der Hauptstadt auf Druck der höheren Behörden hin bezuschusst, aber eine grundsätzliche Gleichbehandlung von katholischen und jüdischen sowie protestantischen Lehranstalten befürworteten sie bis zum Ende des Jahrhunderts nicht, da sie den Kommunen keine Mehrkosten verursachen wollten. Letztere zeigten sich nun allerdings zu freiwilligen Beihilfen bereit. Die Ergebnisse dieser Studie zu den christlich-jüdischen Beziehungen bestätigen die These neuerer französischer Forschungsarbeiten, dass die Umsetzung der Emanzipation der Juden in Frankreich im 19. Jahrhundert kein reibungsloser, sondern ein teilweise von Widerständen geprägter Prozess war. Dasselbe gilt auch für Luxemburg. Im Vergleich waren in der Rheinprovinz die Widerstände der Landbewohner gegen eine Gleichstellung von Juden und Christen allerdings wesentlich stärker. Die allmähliche Veränderung der Haltungen der dortigen christlichen Landbewohner gegenüber der jüdischen Minderheit in der zweiten Jahrhunderthälfte zeigt aber,

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dass die Einbindung der auf dem Land lebenden Juden in die Dorfgesellschaften kein von Vornherein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen war. Eine Idealisierung der jüdisch-christlichen Beziehungen auf dem Land ist trotz der Unterschiede zwischen den betrachteten Regionen weder für die Rheinprovinz noch für Lothringen und Luxemburg angebracht. Die These, dass die Juden in Landgemeinden nicht integriert gewesen seien, sondern ein Fremdkörper waren, greift allerdings auch zu kurz. Die Einbindung der Juden in die Dorfgesellschaften variierte in verschiedenen Lebensbereichen, sodass sich von einem vielschichtigen Mit-, Nebenund Gegeneinander sprechen lässt, wie es teilweise bereits für Landgemeinden in der Schweiz und in Süddeutschland konstatiert wurde. Diese Studie ergänzt die Historio­grafie zum Landjudentum, da sie die Einbindung der jüdischen Dorfbewohner in verschiedene ländliche Gesellschaften direkt in Beziehung zueinander setzt und so allgemeine Schlussfolgerungen bezüglich des Einflusses der Eman­ zipation der Juden auf das Leben der Landjuden und betreffend die Situation von Landgemeinden im 19. Jahrhundert in den betrachteten Regionen ermöglicht. Es zeigte sich, dass die Emanzipationsgesetzgebung nur in bestimmten Bereichen die Integration der Landjuden in die Gesamtgesellschaft begünstigte, während sie in anderen Kontexten keine wesentlichen Auswirkungen hatte. Letzteres galt vor allem für die Einbindung in das ländliche Wirtschaftsleben, die bereits während des Ancien Régime vorhanden war. Dass die Emanzipation der Juden im umfassenden Sinne in der Rheinprovinz unvollendet blieb, verhinderte zwar nicht, dass die jüdischen Landbewohner ähnlich wie in Lothringen bzw. Luxemburg nachbarschaftliche und wirtschaftliche Kontakte zu Christen unterhielten und sich ins öffentliche Leben einbrachten, sie war aber ein Grund dafür, dass die Akzeptanz durch die christlichen Einwohner deutlich geringer blieb, weil Letzteren bewusst war, dass die Juden nicht gleichberechtigt mit ihnen waren. Zwar weist das Verhalten von christlichen lothringischen und luxemburgischen Landbewohnern darauf hin, dass sie sich teilweise auch in der zweiten Jahrhunderthälfte noch schwer damit taten, die jüdischen Mitbürger als gleichgestellt anzuerkennen, allerdings war diese Einstellung mit derjenigen gegenüber den evangelischen Christen vergleichbar und zudem zweifelten sie die Emanzipation nicht grundsätzlich an. Die Vorstellungen der jüdischen und christlichen Landbewohner darüber, wie viel Nähe bzw. wie viel Abstand zueinander angemessen sei, wiesen in allen Re­gionen große Schnittmengen auf. In der Kommunikation miteinander bzw. mit staatlichen Behörden definierten bzw. präsentierten sich Juden und Christen vor allem über die Zugehörigkeit zur jüdischen bzw. einer christlichen Religions­gemeinschaft, wobei diese jeweils mit der Ausübung spezifischer religiös-kultureller Praktiken verbunden war. Ethnische Kategorien spielten im Vergleich dazu eine eher untergeordnete Rolle und das Nationalbewusstsein als Franzosen, Luxemburger oder Preußen bzw. Deutsche gewann erst im Verlauf der zweiten Jahrhunderthälfte

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stärker an Bedeutung. Dass Juden in den betrachteten Dörfern lebten, dort eigene Institutionen besaßen und Kontakte zu Christen pflegten, war für die Mehrheit beider Bevölkerungsgruppen eine Selbstverständlichkeit. Auch hinsichtlich der Ablehnung von intimen Beziehungen der Angehörigen beider Gruppen zueinander und dem lange anhaltenden Wunsch nach einer separaten Erziehung der Kinder in konfessionellen Schulen herrschte Einigkeit. Nichtsdestotrotz verstanden Juden und Christen unter der Einbindung der jüdischen Minderheit in die Gesamtgesellschaft nicht immer dasselbe. Infolge des Prozesses der Emanzipation sahen sich die auf dem Land lebenden Juden als gleichberechtigte Staatsbürger, woraus sie auch eine Gleichberechtigung ihrer Glaubensgemeinschaft ableiteten. In allen Regionen betrachteten die Juden die Gesellschaft als eine pluralistische, die sie selbst gemeinsam mit den katholischen sowie evangelischen Christen bildeten. Auch wenn die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung und die Regierung christlich waren, erwarteten sie eine gewisse Neutralität des Staates und Akzeptanz für die eigene religiös-kulturelle Identität in Form einer (zumindest annähernden) Gleichbehandlung als religiöse Gemeinschaft. Die Vorstellungen der christlichen Landbewohner differierten häufig von der beschriebenen Überzeugung der Juden, wobei dies vor allem für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts und am stärksten für die Rheinprovinz gilt, in der die Gleichberechtigung der Juden als Individuen lange und die als Religions­gemeinschaft gänzlich unvollendet blieb. Die meisten christlichen Landbewohner akzeptierten die Juden im Verlauf des 19. Jahrhunderts zunehmend als Mitbürger, allerdings verstanden viele die Gesamtgesellschaft bzw. den Staat weiterhin als christlich bzw. katholisch. Dementsprechend betrachteten sie die Unterstützung von Juden als Individuen und religiös-kulturelle Gemeinschaft als eine freiwillige Leistung (Rheinprovinz), oder sie berücksichtigten in der Praxis die Belange christlicher und jüdischer Institutionen nicht in gleichem Maße (Lothringen, Luxemburg). Erst im Verlauf der zweiten Jahrhunderthälfte setzte hinsichtlich der Juden als Religionsgemeinschaft ein allmählicher Verständniswandel unter den meisten christlichen Dorfbewohnern ein. Die Beispiele der überwiegend von Katholiken bewohnten Regionen Lothringen und Luxemburg verdeutlichen, dass die beschriebene Haltung der Mehrheitsgesellschaft auch andere religiöse Minderheiten als die jüdische treffen konnte. Das wachsende Nationalbewusstsein verstärkte in den betrachteten Dörfern teilweise das jüdisch-christliche Gemeinschaftsgefühl, insbesondere im Umfeld des Deutsch-Französischen Krieges. Es konnte allerdings auch eine antijüdische Stoßrichtung besitzen, wie die allgemeinen, antisemitischen Debatten über die Zugehörigkeit von Juden im Deutschen Reich, Frankreich und Luxemburg belegen. Aus der Tatsache, dass die höheren Behörden aller Regionen bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein immer wieder gezwungen waren, Druck auf die Zivilgemeinden auszuüben, damit diese die staatlichen Bestimmungen betreffend die

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Juden einhielten, ist zu schließen, dass sich der Prozess der Durchstaatlichung nur langsam vollzog. Zum Widerstand gegen die Anordnungen der Verwaltung kam es vor allem dann, wenn es um die Verteilung kommunaler Ressourcen zugunsten der jüdischen Dorfbewohner ging, wobei die Proteste in der Rheinprovinz besonders stark ausgeprägt waren. Sie wurzelten in dem überkommenen Rechtsverständnis der Landbewohner, das von den Staatsgesetzen abwich. Dass der Widerstand teilweise erfolgreich war, lag nicht nur an der mangelnden Durchsetzungsfähigkeit der Behörden, sondern auch an deren geringem Interesse, die Rechte der jüdischen Bevölkerung durchzusetzen, was in Lothringen nicht der Fall war. Eventuell verteidigte die preußische Verwaltung die Rechte der Juden auf Gemeindemittel auch deshalb nicht konsequent, weil sie darin ein Ventil für Unmut in der Bevölkerung gegenüber dem Staat sah – in einem Feld, das den meisten Beamten anscheinend unwichtig erschien. In diese Richtung weist die Tatsache, dass die übergeordneten Behörden es akzeptierten, wenn die Zivilgemeinden Juden bzw. jüdische Institu­ tionen unterstützten, auch wenn sie selbst nicht diese Position vertraten. Dass lokale Widerstände im luxemburgischen Fall erfolglos blieben, hing damit zusammen, dass der Abstand zwischen dem Land und dem politischen Zentrum in einem Kleinstaat geringer war als in den beiden großen Nachbarstaaten. Die Studie bestätigt die These, dass der Topos vom „verschlafenen Dorf“ in die Irre führt. Spätestens seit den Vierzigerjahren wurden auch ländliche Re­­gionen verstärkt in nationale Kommunikationszusammenhänge eingebunden. Vor allem in Grenznähe ließ sich auch eine Einbeziehung in transnationale Zusammenhänge feststellen, die sich u. a. in der Wahrnehmung von Unterschieden zu den Nachbarregionen ausdrückte, die wiederum im eigenen nationalen Kontext kommuniziert wurden. Trotz der zunehmenden Vernetzung lassen sich gewisse Unterschiede zwischen dem Land und den Städten der Regionen hinsichtlich der jüdisch-christlichen Beziehungen und der Veränderungen innerhalb der jüdischen Gemeinschaften feststellen. Mit dem Raster „fortschrittlich“ bzw. „rückständig“ lassen sich diese allerdings nur unzureichend erfassen. Auf dem Land wurde nicht einfach die in den Städten begonnene Einbindung der Juden in die Gesamtgesellschaft nachvollzogen, sondern sie hatte ihr eigenes Gepräge. In den Dörfern, in denen Juden und ­Christen gemeinsam lebten, bestanden aufgrund der strukturellen Gegebenheiten wohl mehr Kontakte zwischen Juden und Christen als in den Städten. In Einzelfällen führten die speziellen Bedingungen sogar dazu, dass die dörflichen Gesellschaften Vorreiter bei der Integration waren, etwa im Rahmen der Kommunal­politik, wo Juden in größerer Zahl als Interessenvertreter auftraten als in den Städten. Dass Landbewohner Anregungen aus städtischen Kontexten rezipierten, sie aber dem eigenen Verständnis und den eigenen Bedürfnissen anpassten, zeigen der Einsatz jüdischer Landbewohner für die Emanzipation, die Entwicklung des Vereins­wesens in den Dörfern und die jüdischen Reformdebatten.

Anhang I) Abkürzungsverzeichnis AAIU ACC ACP ADM ADMM AJMB ANF ANL AVgKb AZJ CAHJP GprStA GWU HZ JTS LBI LBIYB LAS LHAK REJ ZDSJ

Archives d’Alliance Israélite Universelle Archives du Consistoire central, Paris Archives du consistoire de Paris, Paris Archives Départementales de la Moselle, Metz Archives Départementales de Meurthe-et-Moselle, Nancy Archiv des jüdischen Museums Berlin Archives Nationales de la France, Paris Archives Nationales du Grand-Duché de Luxembourg Archiv der Verbandsgemeinde Kirchberg Allgemeine Zeitung des Judentums Central Archives for the History of the Jewish people, Jerusalem Geheimes preußisches Staatsarchiv, Berlin Geschichte in Wissenschaft und Unterricht Historische Zeitschrift Archives of Jewish theological seminary of America, New York Leo Baeck Institute Leo Baeck Institute Year Book Landesarchiv Saarbrücken Landeshauptarchiv Koblenz Revue des études juives Zeitschrift für Demographie und Statistik der Juden

II) Quellen- und Literaturverzeichnis a) Ungedruckte Quellen Landeshauptarchiv Koblenz (LHAK) Best. 53 C 16: Herrschaft Gemünden Nr. 451, 458 Best 53C23: Herrschaft Kerpen Nr. 4 Best. 54/33: Herrschaft Illingen und Lixingen Nr. 315 Best. 256: Präfektur des Rhein- und Moseldepartements Nr. 364 Best. 311,3: Friedensgericht Kirchberg Nr. 6, 7

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Anhang

Best. 403: Oberpräsidium der Rheinprovinz Nr. 943, 943 X, 4886, 7442, 10204, 15218, 15219 Best. 441: Bezirksregierung Koblenz Nr. 1642, 3162, 3163,3167, 3168, 9696, 9719, 9740, 9773, 9811, 10.562, 24.052, 25.278, 25.280, 25.285, 26.46495 Best. 442: Bezirksregierung Trier Nr. 2043, 8508, 14094, 14095 Best. 491: Landratsamt Simmern Nr. 121, 2012 Best. 655,12: Bürgermeisterei Gemünden Nr. 32, 37, 38, 43, 46, 78, 91, 92, 134,135, 137, 142, 146, 156, 157, 158, 159, 161, 162, 163 Best. 656,54: Personenstandsunterlagen von Gemünden Nr. 4, 5, 6 Best. 733: Kataster, Mutterrollen, Flurbücher [Außenstelle Kobern-Gondorf ] Nr. 885, Bde. 1 – 8 Landesarchiv Saarbrücken (LAS) Depositum (Dep.) Illingen Nr. 33, 68, 72, 104, 108, 110, 111, 116, 768, 816, 817, 843, 849, 860, 875, 923, 934, 986, 994, 1001, 1004, 1014, 1038, 1045, 1134, 1135, 1149, 1218, 1310, 1313, 1315, 1320, 1380, 1381, 1420, 1535, 1539, 1540, 1541, 1542, 1543, 1544, 1545, 1546, 1547, 1548, 1550, 1551, 1563, 1715, 1716, 1729, 1731, 1732, 1758 Geheimes preußisches Staatsarchiv Berlin (GprStA) I. HA Rep. 76: Kultusministerium Sekt. 33 Abt. XVI Nr. 1, Bd. 1 I. HA Rep. 76: Kultusministerium III Sekt. 37 Abt. XVI Nr. 1 Bd. 1 I. HA Rep. 77: Innenministerium Tit. 505 Nr. 10 Bd. 1, Tit. 1014 Nr. 4 I. HA Rep. 84a: Justizministerium Nr. 47123, 47124 Archives Départementales de la Moselle (ADM) Série M: Administration générale et économie 40M4, 41M6, 109M, 188M2bis, 188M10bis, 192M1, 217M2, M 270 Série R: Affaires militaires, organismes de temps de guerre R121 – 169 Série T: Enseignements, affaires culturelles, sports 1T23 Série V: Cultes V149, V152, V156 Série Alsace-Lorraine 1AL90, 7AL3, 7AL20, 7AL43, 7AL128, 7AL131, 7AL282, 9AL18, 9AL40

Quellen- und Literaturverzeichnis

Sous-série J: Consistoire israélite 17J39, 17J40, 17J42, 17J44, 17J47, 17J57, 17J58, 17J61, 17J65, 17J66, 17J71 E-dépôt (ED) Boulay: ED100 1D2, 6D2, 1F1, 1F4, 3F2, 3F7, 4F1, 5I5, 1M3, 2M3, 2M6, 2N2, 3P1, 1R1, 1R2 Archives Départementales de Meurthe-et-Moselle (ADMM) Série V: Cultes V298, V300 Serie U: Prozesse 3U III 1423 Archives Nationales de la France (ANF) BB24: graces demandées Nr.  327 – 347 F7: Police générale Nr. 12202, 12202, 12218, 12354 F19: Cultes Nr. 11007, 11009, 11011, 11024, 11088, 11094, 11101, 11107, 11158 F20: Statistique Nr. 230 Archives nationales du Grand-Duché de Luxembourg (ANL) Affaires Etrangères AE265, AE265 Régime des Pays-Bas C386, C387, C639, C654 Régence du pays E55 Cabinet du Référendaire et Chancellerie de l’Etat à la Haye F68, F149, F225 Régime constitutionnel G128 Régime constitutionnel H78, H620, H704, H1024,98a, H1024,98b, H1024,99, H1024,100 Volkszählungen Rpop 221 f., Rpop 505 f. Registratur der Société historique luxembourgeoise SHL 16,195 Central Archives for the history of the jewish people, Jerusalem (CAHJP) Consistoire de Metz zf/469 Consistoire de Nancy zf/470

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568

Anhang

Archiv des jüdischen Museums Berlin (AJMB), Dépendance des Leo-Baeck-Instituts Consistoires israélites de Metz et Nancy MF509 John Henry Richter Collection MF534 Archives d’Alliance Israélite Universelle (AAIU) France IV B 110 Turquie VI E 103, XLII E 502.1, I C 6.2 h, I C 6.4i, XLIII E 502.2 – 5 Archives du consistoire central de France (ACC) Procès verbaux des scéances et des déliberations du consistoire central 1 B4, 1 B5 Archives du consistoire de Paris (ACP) Communication du consistoire central avec le consistoire de Metz Icc 17, Icc18 Communication du consistoire central avec le consistoire de Nancy Icc 30, Icc 31 Communication avec le ministre de l’intérieur et des cultes 1841 – 1848 Icc 69 Archives of Jewish theological seminary of America (AJTS) Ullmann Letters Archiv der Verbandsgemeinde Kirchberg (AVgKb) Abt. 4: Bauverwaltung Begräbnisregister des Israelitischen Begräbnisplatzes zu Gemünden

b) Gedruckte Quellen und Literatur vor 1914 Abicht, Friedrich Kilian: Kirchengeschichte des Fleckens Gemünden und seines Filials Schlierschied auf dem Hunsrück. Ein Beitrag zur Kirchen- und Reformationsgeschichte des Hunsrücks, Bad Kreuznach 1845. Benoit, J.: Die religiösen und kirchlichen Verhältnisse, in: Aloys Ruppel (Hg.): Lothringen und seine Hauptstadt. Festschrift zur 60. Generalversammlung der Katholiken Deutschlands in Metz 1913, Metz 1913, S. 105 – 110. Blumenstein, Isaak (u. a.): Reden gehalten am Grabe des verewigten Herrn Samson Godchaux, ge­­ boren den 11. November 1811, gestorben den 6. Oktober 1887, Luxembourg 1887.

Quellen- und Literaturverzeichnis

569

Bureau für Statistik der Juden: Die jüdischen Gemeinden und Vereine in Deutschland (Veröffent­ lichungen des Bureaus für Statistik der Juden, Heft 3), Berlin 1906. Central-comité der allgemeinen israelitischen Allianz: Die allgemeine israelitische Allianz. Bericht des Central-comités über die ersten Fünfundzwanzig Jahre 1860 – 1885, Berlin 1885. Colchen, C.: Mémoire statistique du département de la Moselle, Paris XI. Coypel, Edouard: Le judaisme. Esquisse des mœurs juives, Mulhouse 1876. Dasbach, Georg Friedrich: Der Wucher im trierischen Lande, Sonderabdruck aus den Schriften des Vereins für Socialpolitik, Bd. 35, Trier 1887. Debré, S.: The Jews of France, in: The Jewish Quarterly Review, Nr. 3, Jg. 3, 1891, S. 367 – 435. Deutsch-israelitischer Gemeindebund: Handbuch der jüdischen Wohlfahrtspflege. Statistisches Jahrbuch, Berlin 1911. Didot/Firmin: Panorama pittoresque de la France. Route de Paris à Strasbourg, traversant les départements de Seine-et-Marne, et l’Aisne. De la Meuse, de la Moselle, de la Meurthe, du Bas-Rhin et communiquant avec celle des Vosges, 98e livraison: Département de la Moselle, Paris 1839. Dohm, Christian Wilhelm: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden, Teil I, Berlin 1781. Ders.: De la réforme politique des Juifs, réedition avec un préface et notes de Dominique Bourel, Paris 1984. Engeli, Christian/Haus, Wolfgang (Bearb.): Quellen zum modernen Gemeindeverfassungsrecht in Deutschland (Schriften des deutschen Instituts für Urbanistik, Bd. 45), Stuttgart 1975. Föhlinger, Otto: Geschichte der Eisenbahnen in Elsaß-Lothringen und ihres Transportverkehres, Straßburg 1897. Gerdolle, H.: Die bäuerlichen Verhältnisse in dem westlichen Theile Lothringens, speciell im Landkreise Metz, in: Verein für Socialpolitik: Bäuerliche Zustände in Deutschland, Bd. 3 (Schriften des Vereins für Socialpolitik, Bd. 24), Leipzig 1883, S. 309 – 326. Ginsburger, Moses: Die Juden in Rufach (Schriften der Gesellschaft für die Geschichte der Israeliten in Elsaß-Lothringen, Bd. 2), Gebweiler 1906. Ders.: Jüdische Altertümer in Elsass-Lothringen, in: Ost und West, Nr. 12, 1912, S. 1095 – 1108. Girault des Fargeau, Pierre Augustin Eusèbe: Guide pittoresque du voyageur en France. Contenant la statistique et la déscription complète des 86 départements, Bd. 3, Paris 1838. Grégoire, Abbé: Essai sur la régénération physique, morale et politique des Juifs, reédition avec un préface par Robert Badinter, Paris 1988. Hagmaier: Die landwirthschaftlichen Verhältnisse in Elsass-Lothringen, in: Statistisches Bureau für Elsass-Lothringen, Bd. 1: Allgemeine Landesbeschreibung, S. 175 – 184. Halphen, Achille-Edmond: Recueil des lois, décrets, ordonnances, avis du conseil d’Etat, arrêtés et Règlements concernant les Israélites depuis la Révolution de 1789, Paris 1851. Hertzog, Aug.: Die Landwirtschaft, in: Aloys Ruppel (Hg.): Lothringen und seine Hauptstadt. Festschrift zur 60. Generalversammlung der Katholiken Deutschlands in Metz 1913, Metz 1913, S.  162 – 172. Hirsch, Samuel: Systematischer Katechismus der israelitischen Religion, auf Beschluß des Vorstandes der israelitischen Gemeinde zu Luxemburg, Luxemburg 1856. Hussong, Fr. W.: Cahiers de doléances des communautés en 1789. Bailliages de Boulay et de ­Bouzonville. Kritische Studie zur Vorgeschichte der französischen Revolution in Lothringen, Metz 1912.

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Anhang

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1 Da die einzelnen Bände innerhalb eines Zeitraums von 15 Jahren erschienen sind, wurden in der Literaturliste die in dem Werk erschienenen Artikel mit Jahresangaben angeführt.

Quellen- und Literaturverzeichnis

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c) Zeitungen, Zeitschriften und Jahrbücher vor 1914 Allgemeine Zeitung des Judenthums Annuaire statistique et historique de la Moselle Archives Israélites L’Austrasie. Revue du nord-est de la France Bürger- und Beamtenzeitung. Organ für die Interessen aller Stände des Landes Bulletin de l’Académie impériale nationale de Metz. Lettres, sciences, arts et agriculture Bulletin de l’Alliance Israélite universerselle Bulletin de la Société d’archéologie et d’histoire de la Lorraine Bulletin de la Société d’archéologie et d’histoire de la Moselle Bulletin mensuelle de la Société d’archeologie Lorraine et du musée historique lorrain Der Israelit Der Orient Der treue Zions-Wächter. Organ zur Wahrung der Interessen des orthodoxen Judenthums Der Wächter an der Sauer D’Wäschfra Im deutschen Reich Institut zur Förderung der israelitischen Literatur Israelitische Annalen Jahrbuch des Verbandes der Vereine für jüdische Geschichte und Literatur Journal d’éducation publié par la Société formée à Paris pour l’amélioration de l’enseignement ­élémentaire La presse Le Petit Antijuif de l’Est. Organe hebdomaire des sections de l’Est du G. O. F.

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Lothringer Zeitung Luxemburger Tageblatt Luxemburger Wort Metzer Zeitung Mémoires de la Société d’archéologie lorraine Mémorial législatif et administratif du Grand-Duché de Luxembourg [Mémorial] Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums Ost und West Trierer Zeitung Univers israélite Zeitschrift für Demographie und Statistik der Juden

d) Sekundärliteratur Administration communale d’Ettelbruck (Hg.): Ettelbruck. 100 Joer Stad 1907 – 2007, Ettelbruck 2008. Albert, Phyllis (Cohen): Le rôle des consistoires israélite vers le milieu du XIXe siècle, in: REJ, Jg. 130, 1971, S.  231 – 254. Dies: Nonorthodox Attitudes in Nineteenth-Century French Judaism, in: Frances Malino (Hg.): Essays in modern Jewish history. A tribute to Ben Halpern, Rutherford 1982, S. 121 – 141. Dies.: The Jewish Oath in Nineteenth Century France, Tel Aviv 1982. Dies.: The modernization of French Jewry. Consistory and community in the nineteenth century, Brandeis 1977. Altenkirch, Gunter: Jeder wusste, wo man ein „Gimmche“ machen konnte. Arbeiterbauern an der Saar, in: Mallmann, S. 61 – 65. Alter, Peter/Bärsch, Claus-Ekkehard/Berghoff, Peter (Hg.): Die Konstruktion der Nation gegen die Juden, München 1999. Althammer, Beate/Brandes, Inga/Marx, Katrin: Religiös motivierte Armenfürsorge in der Moderne – Katholische Kongregationen im Rheinland und in Irland 1840 – 1930, in: Andreas Gestrich/Lutz Raphael (Hg.): Inklusion/Exklusion. Studien zu Fremdheit und Armut von der Antike bis zur Gegenwart, Frankfurt 2004, S. 537 – 579. Anchel, Robert: Napoléon et les juifs, Paris 1928. Ders.: Notes sur les frais du culte juif en France de 1815 à 1831, Paris 1928. Angrand, Sophie: Les optants d’Alsace-Lorraine à l’étranger, Paris 2003. Ara, Angelo/Kolb, Eberhard (Hg.): Grenzregionen im Zeitalter der Nationalismen. Elsaß-Lothringen/ Trient-Triest 1870 – 1914, Berlin 1998. Ardaillou, Pierre: L´église, l´école et la mairie. Les enjeux du pouvoir local dans le pays de Caux des années 1840, in: Roger Dupuy (Hg.): Pouvoir local et Révolution 1780 – 1850. La frontière intérieure, colloque international à Rennes du 28 septembre au 1er octobre 1993, Rennes 1995, S. 471 – 491. Arroyo, Inka: Die Raison d’être der Central Archives for the History of the Jewish People als virtuelles „Staatsarchiv“ der Diaspora, in: Bischoff/Honigmann, S. 75 – 96. Avine-Goetz, Patricia: La communauté israélite de Moselle de 1870 à 1925 (vue à travers les communautés de Metz, Thionville, Sarreguemines et Saint-Avold), thèse, Metz 2002. Ayoun, Richard: L’école rabbinique de France à Metz de 1830 à 1840. in: REJ, Jg. 158, 1999, S. 125 – 154.

Quellen- und Literaturverzeichnis

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Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen

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III) Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen Abbildung 1: Die Bevölkerungsentwicklung in Illingen, Seite 143 Abbildung 2: Die jüdische Bevölkerung in Boulay, Seite 148 Abbildung 3: Durchschnitt der von den jüdischen Zensiten in Gemünden zu entrichtenden Klassensteuer, Seite 226 Abbildung 4: Durchschnitt der von den jüdischen Zensiten in Illingen zu entrichtenden Klassensteuer, Seite 227

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Anhang

Tabelle 1: Tätigkeiten der jüdischen Haushaltsvorstände in den Untersuchungsdörfern zu Beginn des Untersuchungszeitraums, Seite 178 Tabelle 2: Tätigkeiten der jüdischen Haushaltsvorstände in den Untersuchungsdörfern zur Mitte des 19. Jahrhunderts, Seite 185 Tabelle 3: Das Verhältnis der Haushaltsvorstände in Gemünden und in Grosbliederstroff zur Berufstätigkeit in % im Jahr 1852 bzw. 1854, Seite 203 Tabelle 4: Das Verhältnis der Haushaltsvorstände in Boulay und Ettelbrück zur Berufstätigkeit in % im Jahr 1851, Seite 205