Ökophysik: Plaudereien über das Leben auf dem Land, im Wasser und in der Luft 3540288783, 9783540288787

Prof. em. Dr. rer. nat. Werner Nachtigall, geb. 1934, war als Zoophysiologe und Biophysiker Leiter des Zoologischen Inst

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Ökophysik: Plaudereien über das Leben auf dem Land, im Wasser und in der Luft
 3540288783, 9783540288787

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¨ Okophysik

W. Nachtigall

¨ Okophysik Plaudereien u¨ ber das Leben auf dem Land, im Wasser und in der Luft

Unter Mitarbeit von A. Wisser

Mit 152 Abbildungen

123

Prof. em. Dr. rer. nat. Werner Nachtigall H¨ohenweg 169, 66133 Scheidt, Germany

Dr. rer. nat. Alfred Wisser Universit¨at des Saarlandes Naturwissenschaftlich-Technische Fakult¨at III FR 8.3, Biowissenschaften Campus Saarbr¨ucken, 66041 Saarbr¨ucken, Germany E-mail: [email protected]

ISBN-10 3-540-28878-3 Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York ISBN-13 978-3-540-28878-7 Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet u¨ ber abrufbar. ¨ Dieses Werk ist urheberrechtlich gesch¨utzt. Die dadurch begr¨undeten Rechte, insbesondere die der Ubersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielf¨altigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielf¨altigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zul¨assig. Sie ist grunds¨atzlich verg¨utungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media springeronline.com © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2006 Printed in Germany Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, daß solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten w¨aren und daher von jedermann benutzt werden d¨urften. Satz: Dr. A. Wisser Druckdatenerstellung: Frank Herweg Einbandgestaltung: design & production GmbH, Heidelberg Gedruckt auf s¨aurefreiem Papier

SPIN: 11540168

57/3141/XT - 5 4 3 2 1 0

Ich widme dieses Buch denen, die ich liebe: Martha, Ine und Aline, Bernhard und Niccoló.

Vorbemerkungen Dass Landlebewesen die unterschiedlichsten Formen und Lebensgewohnheiten annehmen, leuchtet ein. Das Land bietet ja unendlich viele unterschiedlich strukturierte „ökologische Nischen“. Wasser aber sollte doch gleich Wasser sein, und Luft erst recht gleich Luft – und trotzdem sind auch Wasserbewohner und Bewohner des Luftmeeres nicht weniger vielfältig; ihre „Biodiversität“ ist ebenfalls immens. Wie kommt das? Auf die richtige Spur zum Verständnis der Vielfalt im Organismischen und seine Einpassung in „ökologische Nischen“ führen bereits einfache und grundlegende physikalische Betrachtungen. Zum mindesten bilden sie ein ideales heuristisches Prinzip für ein Verständnis so manchen Leitlinien biologischer Entwicklung. Die Evolution verläuft bekanntlich nicht zielgerichtet. Physikalische Ansätze geben aber ganz klar Entwicklungsrichtungen für „optimale Einnischungen“ vor. Das scheint ein Widerspruch zu sein. Ein Beispiel. Atemgase, Jonen, auch „Wärme“ verteilen sich rein passiv. Das physikalische Verteilungsgesetz (hier: Fick’sches Gesetz, Abschnitt 1.3) sagt nun ganz klar, was die Evolution „ansteuern muss“, wenn sie in der Zeiteinheit möglichst viele Atemgasmoleküle oder Jonen oder Wärmeeinheiten durch eine Membran zwischen zwei Kompartimenten „schicken will“: Für ein gegebenes System muss (1) die Membranfläche möglichst groß sein, (2) die Membrandicke möglichst klein und (3) die Konzentrationsdifferenz möglichst groß. Es ist faszinierend zu verfolgen, wie strikt die Evolution diesen „Leitlinien folgt“, mit Aus- und Einstülpungen (Kiemen und Lungen) die erste Bedingung erfüllt, mit extrem dünnen Abgrenzungen im Mikrometerbereich die zweite und beispielsweise mit dem Gegenstromprinzip die dritte. Damit bietet eine bestimmte physikalische Formel nichts weniger als eine Verständnis-Basis für das So-Sein einer bestimmten Facette im Bereich der organismischen Systeme, hier beispielsweise für das funktionelle Verständnis einer Fisch-Kieme oder einer Vogel-Lunge. Oben sind im Zusammenhang mit der Evolution einige Worte in Gänsefüßchen gesetzt worden, damit ich nicht missverstanden werde. Die Evolution arbeitet ungerichtet, nicht zielorientiert, nach dem Versuchs-IrrtumsPrinzip. Im Nachhinein sieht es aber so aus, als ob auf der Zeitachse eine aufsteigende Entwicklung eingeplant gewesen wäre. In unserem Beispiel ist etwa die Sauerstoffaufnahme mit Fisch-Kiemen im Verlauf der FischPhylogenese immer effizienter geworden. Die Evolution hat das aber nicht „angepeilt“, sondern zu jedem Zeitpunkt eine Unzahl von Möglichkeiten

VIII

Vorbemerkungen

durchgespielt, von denen sich im Prüffeld der Selektion jeweils nur die effizientesten durchgesetzt haben. Viele Kenngrößen, an denen die biologische Evolution „dreht“, sind rein physikalische. Eine davon ist die Energieform „Wärme“. Abwärme entsteht zum Beispiel beim Langstreckenflug der Zugvögel in deren Muskel-Motoren. Diese Abwärme muss auch abgegeben werden können. Ein Vogel kann keinen Langstreckenflug ausführen, wenn er dabei überhitzt. Welche Mechanismen zur Wärmeabgabe werden benutzt, welche sind ungefährlich (Konvektion zum Beispiel) welche sind gefährlich (Wasserverdunstung, weil der Vogel dabei austrocknen kann), wie kommt er mit diesem Dilemma zurecht? Das heißt: Welche Anpassungsstrategien muss er entwickeln um innerhalb dieser physikalischen Randbedingungen, die er nicht außer Kraft setzen kann, leben und überleben zu können? Wir kommen also auch bei praktisch-bedeutsamen ökologischen Betrachtungen (Zugvogelschutz!) von der Physik nicht los. Leben auf dem Land, im Wasser und in der Luft: Pars pro toto habe ich zur Charakterisierung die folgenden Komplexe ausgewählt: Fortbewegung (und auch Wachstum), Stoffwechselleistung, Atmung, Temperatur- und Wärmehaushalt bei großen und bei kleinen Tieren. Diese Komplexe sind einerseits zwar begrenzt. Andererseits tangieren sie aber außerordentlich viele Probleme der „ökologischen Einnischung“. Und zum dritten sind sie in sich geschlossen und gut auf physikalische Grundgesetzlichkeiten zurückzuführen. Nun könnte man sagen, Energetik und Stoffwechsel seien eigentlich chemische, oder biochemische Aspekte, keine physikalischen. Man kann allerdings dagegenhalten, dass die ganze Chemie auch nichts anderes ist als molekulare Physik. Spaß beiseite: Man wird die Tricks nicht verstehen, mit denen der Flügel eines Vogels beim Langsteckenflug möglichst großen Hub (also eine Größe der Mechanik) erzeugt, wenn man nicht nachvollziehen kann, wie viel durch die Nahrungsstoffverbrennung freigesetzten Stoffwechselleistung (also eine Größe der Energetik) letztlich in die Huberzeugung gesteckt wird. An der Energetik kommt man also nicht vorbei, doch reicht es als Ausgangsbasis von einigen chemischen Grundgleichungen auszugehen. Somit gehört die Energetik integriert zur einer biomechanischen Betrachtung, und deshalb ist sie im vorliegenden Kontext mit eingebaut worden. Ökologische Einnischung und physikalische Randbedingungen könnte man freilich auch an ganz anderen physiologischen Fragen aufzeigen. Beispielsweise daran, welche physikalischen Umweltqualitäten Sinnesorgane aufnehmen, wie sie diese verarbeiten und wie sich die Lebewesen dann im Feld solcher Umweltreize orientieren. Oder wie Tiere elektrische Spannungen erzeugen, welche Rolle diese für das Funktionieren ihrer Sinnes-

Vorbemerkungen

IX

und Nervenleistungen spielen, wie sie damit Beute aktiv lokalisieren können oder wie sie Beutetiere an den elektrischen Spannungen erkennen, die diese selbst produzieren. Oder an den Fragen, wie Pflanzen und Tieren mit der Energie umgehen, die in den Lichtquanten steckt, wie sie damit energiereiche Substanzen aufbauen, sich über Augen orientieren, wie sie über Lichtblitze in Tropenwäldern und in der Dunkelregion der Tiefsee Informationen austauschen und Dinge dieser Art. Wir betrachten mit diesem Buch also nur ein Teilgebiet der biophysikalisch – ökologischen Einnischungsproblematik, wenn auch ein typisches und wesentliches. Für die sprachliche Form habe ich eine mehr erzählende Diktion gewählt und habe als Untertitel denn auch: „Ökologisch-physikalische Plaudereien über das Leben ...“ gewählt. Grundgleichungen und viele Zahlen und Formeln sind überwiegend in den Abbildungen untergebracht. Ich hoffe, dass diese „Ökophysik“ auch einen Beitrag zur Integration der Wissenschaftsdisziplinen leistet, ähnlich wie dies die von mir vertretene Bionik tut. Wenn man sich als naturwissenschaftlich Interessierter, als Schüler, Student und Lehrer, als Laie, der von der Biologie oder von der Physik oder von beiden angetan ist und sich noch die eine oder andere Grundkenntnis aus der Schule herübergerettet hat, wenn man sich also als Spezialist oder Generalist die Fähigkeit zum fragenden Staunen bewahrt hat, so wird man irgendwann darauf kommen, dass es abgegrenzte Disziplinen eigentlich gar nicht gibt. Wir studieren und betreiben Biologie oder Chemie oder Physik aus pragmatischen Gründen, aber im Grunde genommen geht es (wenn man von der praktischen Anwendung einmal absieht) um allgemeine Erkenntnis. Und die Erkenntnis, dass wir in der Wissenschaft eigentlich nichts anderes tun als ein wenig an der Oberfläche des großen Kontinuums zu kratzen, das uns umgibt (und das nicht in Fachrichtungen gegliedert ist), ist wesentlich für unser Leben. – Einige weitere Aspekte habe ich im Nachwort angesprochen. Auch der Spaß hat im übrigen seinen Stellenwert. Und Spaß macht es schon, wenn man irgendwo einen Zusammenhang aufblitzen sieht, der einem vorher nicht oder nicht so recht bewusst war. In diesem Sinne also: viel Spaß! Saarbrücken, im Herbst 2005

(Prof. em. Dr. rer. nat. Werner Nachtigall)

Inhalt

Land ...................................................................................

1

1

3

Leben und Umwelt auf dem Land .............................

1.1 Plumpheit ist der Preis für Größe ................................ 3 Ein Gedankenversuch zu Belastung und Widerstandsfähigkeit 3 Geometrisches Wachstum bei winzigen Schleimpilzen ............ 4 Von Grashalmen und Fabrikschornsteinen............................... 5 Allometrisches Wachstum bei Bäumen.................................... 7 Theoretische Ähnlichkeitsansätze............................................ 8 Allometrie bei Knochen und bei Skeletten............................... 10 Vorschlag für eine fächerübergreifende Schulstunde ............... 14 1.2 Fortbewegung durch Springen ........................................ Absprung, Sprung und Sprunglauf........................................... Springen der Springspinnen und Schnellkäfer.......................... Der Feldheuschreckensprung................................................... Der Flohsprung ....................................................................... Sprunghöhe, Luftwiderstand und Tiergröße.............................

16 16 18 19 21 24

1.3 Gasaustausch und Wärmehaushalt ................................ Das Grundgesetz der Diffusion................................................ Gastransport im Blut ............................................................... Zur Höhenatmung des Menschen ............................................ Effektives Zusammenspiel beim Gastransport im Blut............. Physikalische Prinzipien des Wärmetransfers .......................... Zum Wärmehaushalt des Menschen......................................... Oberflächen-Volumen-Verhältnis und Wärmeabgabe .............. Fellisolation bei kleinen und großen Tieren............................. Energieeinsparung durch Torpor ............................................. Das Oberflächengesetz und die kleinsten Säuger ..................... Die Dalton’sche Beziehung und die Wasserhomöostase ..........

25 25 28 29 31 32 33 36 37 39 42 44

1.4 Biologische Ähnlichkeit im Bereich der Stoffwechselleistung .................................................. 48 Die Stoffwechselleistung als energetische Zentralgröße........... 50 Absoluter und relativer Sauerstoffverbrauch und entsprechende Stoffwechselleistung ............................................................... 51

XII

Inhalt

Biologische Treibstoffe und ihr Abbau .................................... Zur Massenabhängigkeit der Stoffwechselleistung .................. Similaritätsüberlegungen und der Reduzierte Exponent ........... Zur „mittleren Steigung“ der P m (mb)-Kennlinie....................... Gullivers Reise und kleine und große Menschen...................... Nochmals zur Stoffwechselleistung und zur spezifischen Stoffwechselleistung .....................................

51 55 56 58 59 62

Land–Wasser............................................................................... 65 2

Land und Wasser: Unterschiedliche Kraftübertragungen ...................... 67

2.1 Abstoßen und Reaktionskraft-Nutzung .......................... 67 2.2 Impulsübertragung als Lokomotionsvoraussetzung auf dem Land....................................................................... 68 2.3 Impulsübertragung als Lokomotionsvoraussetzung im Wasser ............................................................................ 70 2.4 Formierung von Wirbelringen und Wirbelstraßen........ Wirbelringe und Impulsübertragung ........................................ Voraussetzung für gerichtete Kraftübertragung ....................... Gray’s Fischversuch................................................................ Fortbewegung auf der Wasseroberfläche .................................

73 73 74 75 75

Wasser ........................................................................................ 81 3

Leben und Umwelt im Wasser.......................................... 83

3.1 Ist Wasser für Lebewesen „nischenmäßig strukturiert“?....................................................................... 83 3.2 Wie schaffen es kleine Plankter, so langsam abzusinken? ........................................................................ Bedeutung eines langsamen Absinkens für photosynthetisierende Plankter ................................................ „Betrachten wir die Kuh als Kugel“......................................... Die Formeln von Ostwald und Stokes und das Absinken ......... Der Sinkquotient .....................................................................

85 85 85 88 90

Inhalt

Die Reynoldszahl .................................................................... Kennlinien für die Sinkgeschwindigkeit .................................. Parameter der Sinkgeschwindigkeit......................................... Absinken: Ideal- und Realsituation..........................................

XIII

94 95 97 99

3.3 Leben in Grenzschicht-Nischen strömender Gewässer ............................................................................. 100 Umströmung eines Steins im Bergbach ................................... 100 Die Grenzschicht und ihre Strömungsbedingungen.................. 102 Grenzschichten am umströmten Stein...................................... 103 Strömungswiderstand, Widerstandsbeiwert und Reynoldszahl . 107 Vom Vorteil kleiner Aufwuchsorganismen.............................. 109 Grenzschichten: Ideal- und Realbedingungen .......................... 113 Wie lebt sich’s „in der Grenzschicht“? .................................... 116 3.4 Fortbewegung und „Reynolds-Nischen“ ....................... 118 Die Reynoldszahl und das Verhältnis Trägheitskräfte/ Zähigkeitskräfte ...................................................................... 118 Der astronomisch große Reynoldszahl-Bereich für Lebewesen 120 Widerstand und Auftrieb ......................................................... 122 Reynoldsabhängigkeit von Widerstand und Auftrieb und kleine und große Forellen........................................................ 126 Strömungsmechanische Kräfte an Profilen .............................. 130 Zunehmender Bedeutungsverlust von Profilierung und Wölbung beim Übergang zu kleineren Reynoldszahlen ........... 131 Wie die Wasserflöhe hüpfen.................................................... 132 Etwas typisch Biologisches: Konvergente Formbildung .......... 134 Auch das Wasser ist also „mechanisch strukturiert“ ................ 135 Ökologische Nischen sind immer auch physikalische .............. 136

Wasser–Luft ............................................................................. 139 4

Wasser und Luft: Unterschiedliche Fluide .................... 141

4.1 Unterschiedliche Kenngrößen, die für die Ortsbewegung wichtig sind .......................... 141 4.2 Unterschiedliche bewegungsspezifische Probleme und Lösungen ..................................................................... 143 Effekte unterschiedlicher Dichten der Medien ......................... 143 Spezifische Effekte bei kleineren und ganz kleinen Lebewesen .............................................................................. 146

XIV

Inhalt

4.3 Unterschiedliche Kenngrößen, die für die Atmung wichtig sind....................................... 150 4.4 Unterschiedliche atmungs- und wärmespezifische Probleme und Lösungen ................................................... 153 Kenngrößen der Säugerlunge................................................... 153 Energiehaushalt und Lungenatmung ........................................ 155 Kenngrößen der Fischkieme .................................................... 155 Energiehaushalt und Kiemenatmung........................................ 157 Wasserbewohner haben es schwerer ........................................ 159 Die Harvey’sche Beziehung und das Auftreten von Atemhilfsorganen.................................................................... 159

Luft ............................................................................................... 165 5

Leben und Umwelt im Luftmeer....................................... 167

5.1 Passiver Gleitflug – ein scheinbar einfacher Flugzustand ......................................................................... 167 Einstellung der Gleitneigung ................................................... 169 Streckung................................................................................ 171 Flächenbelastung..................................................................... 173 Minimierung der Sinkgeschwindigkeit .................................... 173 5.2 Größenbeziehungen und Leistungseigentümlichkeiten bei Vögeln ............................................................................ 177 Spannweiten- und Massenunterschiede.................................... 178 Leistungen und Größenbeziehungen ........................................ 180 Theoretisches zu den schwersten flugfähigen Vögeln .............. 185 Menschenflug aus eigener Kraft .............................................. 187 5.3 Aktiver Schlagflug und Vogelzug .................................... 188 Vogelbeobachtung der Frühzeit ............................................... 189 Frühe Vorstellungen zur Luftkrafterzeugung ........................... 189 Zum Impulsgleichgewicht beim Flügelschlag .......................... 191 Zur funktionellen Morphologie des Vogelflügels..................... 193 Zu aerodynamischen Effekten am Vogelflügel ........................ 196 Flügelunterschiede bei Ente und Kolibri.................................. 199 Entfernungen beim Vogelzug .................................................. 201 Vogelzug mit Thermikgleiten.................................................. 203 Vogelzug mit Dauerschlagflug ................................................ 208 Flughöhen und Vogellunge...................................................... 212

Inhalt

XV

Transportkosten für den Flug und für andere Lokomotionsformen ................................................................ 214 Ein „treibstoffdynamischer“ Vergleich zwischen Vogel und Flugzeug ................................................................................. 216 5.4 Zur Ökophysik des Langstreckenflugs .......................... 219 Datengewinnung ..................................................................... 219 Flüge im Labor ....................................................................... 220 Training und Dressur .............................................................. 222 Respirationsmessungen zur Bestimmung der Stoffwechselleistung ............................................................... 223 Ein Abstecher zu den Fledermäusen ........................................ 227 Zwei Möglichkeiten für die Weiterarbeit ................................. 227 Abhängigkeit der Flugleistung und des Treibstoffverbrauchs von der Fluggeschwindigkeit................................................... 229 Optimale Reisegeschwindigkeiten ........................................... 230 Arbeitstemperaturen des Flugmotors ....................................... 231 Regelbereich und Überhitzungsgefahr ..................................... 232 Ein Abstecher zu den Bienen................................................... 234 Mechanismen der Thermoregulation ....................................... 236 Evaporative versus konvektive Wärmeabfuhr .......................... 237 Woher nimmt der fliegende Vogel das zur Wärmeabfuhr benötigte Wasser? ................................................................... 239 Wasserverlust, nicht Treibstoffmangel limitiert die Flugzeiten 241 Kompensatorische Verhaltensweisen....................................... 243 Einfluss von Fluggeschwindigkeit, Körpermasse (inkl. Fettgehalt) und Umgebungstemperatur auf die Stoffwechselleistung und die Fähigkeit zum Langstreckenflug 245 Zusammenschau und Ausblick ................................................ 248 Anhänge....................................................................................... 251 Nachbemerkungen..................................................................... 251 Literatur ....................................................................................... 253 Abbildungsnachweis................................................................. 259 Index............................................................................................. 261

LAND Flöhe, wie beispielsweise der Kaninchenfloh Spilopsyllus cuniculus (hier das Mikropräparat eines Flohs) besitzen mächtige Sprungbeine mit einem Katapultmechanismus. Dieser erlaubt es ihnen, trotz hohem Luftwiderstand (infolge der kleinen Reynoldszahl), Sprünge bis 30 cm Höhe auszuführen. Die Sprungmechanik ist in Abbildung 1.2-4 erklärt, der Widerstandseffekt in Abbildung 1.2-5.

1 Leben und Umwelt auf dem Land Alle Lebewesen sind der Schwerkraft unterworfen. Landlebewesen müssen sich mit starken Skeletten stützen, damit sie nicht unter der Eigenlast zusammenbrechen oder, bei der Fortbewegung, durch auftretende Trägheitskräfte gestaucht werden. Wasserlebewesen haben es hier einfacher. Sie benötigen zwar auch Skelette, an denen Muskeln angreifen können. Die Wirkung der Schwerkraft aber ist durch die Erzeugung eines hydrostatischen Auftriebs verringert oder ganz kompensiert. 1.1 Plumpheit ist der Preis für Größe Größere Tiere und Pflanzen brauchen entsprechend stärkere Skelette. Doch verläuft deren Ausbildung nichtlinear mit der Größe. Man kann sich das leicht durch eine gedankliche Überlegung klar machen, und es wird sich zeigen, dass größere Lebewesen in den Proportionen plumper sein müssen. Ein Gedankenversuch zu Belastung und Widerstandsfähigkeit Man überlege sich zwei Kuben, einen mit der Kantenlänge 1 cm, einen anderen mit der Kantenlänge 1 m, und nehme jeweils den untersten, horizontalen Querschnitt A. Jedes einzelne Massenelement, das über dem Querschnitt liegt, belastet diesen. Die Belastung B wird also dem Volumen proportional sein und damit der dritten Potenz der Kantenlänge a; B ~ a3. Wie die Statik lehrt, ist die Widerstandsfähigkeit W gegen eine solche Belastung proportional den Querschnitt A und damit dem Quadrat der Kantenlänge a; W ~ a2. Die auf die Belastung nominierte Widerstandskraft des Materials gehorcht also der Beziehung W/B = A/V = a2/a3 = a-1. Je kleiner man sich den Würfel vorstellt, desto unproblematischer wird es für ihn, bei gegebener Materialkonstanten einer Belastung zu widerstehen. Je größer er ist, desto mehr werden seine Materialkonstanten ausgereizt, und irgendwann hält das Material der Belastung nicht mehr stand, und er wird durch die Eigenlast zerdrückt. Man kann sich leicht einen Geleewürfel von 1 cm3 zuschneiden, aber keinen Würfel von 1 m3 vorstellen; der letztere würde durch seine Eigenlast wie ein Sofakissen auseinandergedrückt. Wie könnte man das verhindern oder doch verringern? Man müsste bei gegebenen Volumen die Grundfläche vergrößern; dann verringerte sich die Höhe. Auf einer Grundfläche von 4 m2 stünde beispielsweise eine Geleemasse von lediglich 25 cm Höhe. Diese würde sich kaum mehr unter der Eigenlast sofakissenartig aus-

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1 Leben und Umwelt auf dem Land

einander drücken. Die Geleesäule macht nun einen viel plumperen Eindruck; die Breite ist nicht mehr 100 % sondern 1600 % der Höhe. Schlichte Beziehungen dieser Art beherrschen nun sehr weitgehend das konstruktive Design von Landlebewesen. Ihre Einbeziehung verhindert auch eine Überschätzung der biologischen Konstruktionen. Überlegungen, wie biologische und technische „Hochbauten“ schlankheitsmäßig aussehen müssen, kann man aus der Theorie gewinnen, man kann aber auch natürliche Konstruktionen direkt vermessen. Beginnen wir mit ganz winzigen solchen Konstruktionen, nämlich säulenförmigen Schleimpilzen, die an ihrer Spitze noch dazu einen dicken Massentropfen tragen, ähnlich wie ein Fernsehturm sein Drehrestaurant. Geometrisches Wachstum bei winzigen Schleimpilzen Diese Schleimpilze wachsen, wie die Abbildung 1.1-1 erkennen lässt, etwa zwischen 70 und 400 µm hoch; die großen sind also immerhin rund sieben mal so lang wie die kleinsten. Würde sich bei diesen unterschiedlichen Größen die Schlankheit nicht ändern, wäre die Beziehung gegeben „Durchmesser ist proportional der Höhe“, d ~ h1. Oder die Gleichung „Durchmesser ist gleich Faktor mal Höhe hoch Exponent b, allgemein d = a · hb mit b = 1. Wie die Abbildung 1.1-8 in Erinnerung zurückruft, entspricht diese Beziehung einer Potenzfunktion, die sich im doppelt logarithmischen Koordinatensystem als Gerade dargestellt; den interessierenden Exponenten b kann man daraus als Steigerung der Geraden ablesen. Ich habe dies einmal für die in der Zeichnung als y1 x1 und y2 x2 bezeichneten Abstände auf der gerechneten Ausgleichsgeraden getan und war selbst erstaunt, das sich damit der genaue Wert b = 1,00 ergeben hat. Es ergibt sich also lineare Abhängigkeit; man kann auch von „geometrischem Wachstum“ sprechen. Wenn die Dictyostelium - Ständerchen einmal zweimal so hoch sind wie die kleinste Form, sind sie auch zweimal so breit. Dies scheint die oft gehörte Annahme zu bestätigen, dass ein „Riesenroggenhalm“ von 140 m Höhe nur 28 cm Durchmesser haben müsste. Doch kann dies aus statischen Gründen nicht der Fall sein, wie der nächste Abschnitt zeigt. Bei so winzig kleinen Organismen dagegen, wie sie Schleimpilzen darstellen, treten Stabilitätsprobleme nicht auf. Gegenüber der inneren Widerstandsfähigkeit des Baumaterials spielt die Belastung in diesen kleinsten Dimensionen keine Rolle. Solche Miniaturgebilde können sich also 1 : 1-Relation leisten. Wie aber ist es bei größeren und bei den ganz großen Formen?

1.1 Plumpheit ist der Preis der Größe

5

Abb. 1.1-1: Auftragung des Durchmessers d kleiner Schleimpilze über die Höhe h. Der Exponenten b = (y2 – y1)/(x2 – x1) berechnet sich zu 1,00.

Von Grashalmen und Fabrikschornsteinen Vor noch nicht allzu langer Zeit geisterte das Märchen durch die biologische Literatur, dass die Natur der Technik überlegen ist, weil sie beispielsweise ein Grashalm viel schlanker bauen kann als die Technik einem Fabrikschornstein. Man hat das Höhen – Durchmesser - Verhältnis als Schlankheitsgrad O bezeichnet. Das wollen wir aber nicht machen, den der Begriff Schlankheitsgrad ist physikalisch und baustatisch festgelegt zu O = h / ( I / A 0 ). In dieser Formel bedeutet h die Höhe, I das Flächenträgheitsmoment und A0 die basale Querschnittsfläche. Ein großes Flächenträgheitsmoment kann man dadurch erreichen, dass man die tragenden Strukturen – im pflanzlichen Bereich die Sklerenchyme – möglichst weit peripher anordnet. Die Abbildung 1.1-2 B zeigt anhand von Querschnitten durch unterschiedliche Pflanzenstängel, dass sich Gebilde der Botanik danach richten. Zum Unterschied zu O wollen wir das Längen – Durchmesser - Verhältnis h/d einfach als „Schlankheit“ oder als Schlankheitsverhältnis bezeichnen und mit dem griechischen Buchstaben ƭ abkürzen: ƭ = h/d. Für den Durchmesser d kann man bei nicht genauen zylinderförmigen, kreisrunden Hochbauten einen mittleren oder ein basalen Durchmesser festlegen. Wie man leicht nachprüfen kann, ist ein 1,5 m hoher Roggenhalm im Mittel 3 mm dick; seine Schlankheit beträgt damit ƭ = 500 (Abb. 1.1-2 A, links).

6

1 Leben und Umwelt auf dem Land

Abb. 1.1-2 A, B: Pflanzenstängel. A Klassische Darstellungen für Vergleiche eines Roggenhalms mit einem Fabrikschornstein; als Vergleichsbasis dient der höchste gemauerte Fabrikschornstein der Welt, die Halsbrücker Esse bei Freiberg in Sachsen. B Querschnitte von Pflanzenstängeln. Festigungsgewebe und Xylem der Leitbündel dunkel gezeichnet. 1 Cyathea usambaresis (ein tropischer Baumfarn), 2 Sambucus spec. (Holunder, junger Spross) 3 Saccharum spontaneum (ein tropische Gras), 4 Cladium mariscus (ein Sauergras), 5 Armeria elongata (Grasnelke), 6 Equisetum telmateja (ein Schachtelhalm).

Der schlankste Fabrikschornstein, der jemals gebaut worden ist, ist die Halsbrücker Esse bei Freiberg in Sachsen (er steht heute noch, allerdings etwas gekürzt). Er war 140 m hoch. Mit einem mittleren Durchmesser von 8 m erreicht er eine Schlankheit von lediglich ƭ = 17,5. (Abb. 1.1-2 A, Mitte) Damit sei also der Roggenhalm deutlich überlegen, hat man gesagt, denn würde man ihn so hoch bauen können wie diesen Fabrikschornstein, würde er bei gleicher Schlankheit nur 28 cm dick sein müssen (Abb. 1.1-2 A, links). Was kann an dieser Überlegung nicht stimmen? Welzien hat die Verhältnisse in einem Artikel in der populären Zeitschrift „Kosmos“ bereits im Jahr 1929 klargestellt – erstaunlich, dass sie danach immer noch nicht allgemein zur Kenntnis genommen worden. Wir betrachten zunächst allometrische Wachstumseffekte und kommen dann auf den „Riesengetreidehalm“ zurück.

1.1 Plumpheit ist der Preis der Größe

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Allometrisches Wachstum bei Bäumen Der amerikanische Biomathematiker G. Greenhill hat bereits 1881 sehr umfangreiche Messdaten über amerikanische Bäume gesammelt. Aus seinen jahrelangen Protokollen hat er für jede der insgesamt 576 gefundenen Baumarten dasjenige Individuum herausgesucht, das am höchsten gewachsen war, und dazu den Stammdurchmesser nahe dem Boden notiert. Im doppeltlogarithmischen System hat er dann diesen Durchmesser über die Höhe aufgetragen: eine Arbeit, die Messgeschichte gemacht hat (Abb. 1.13 A). Der Größenvergleich einiger typischen Arten (Abb. 1.1-3 B) zeigt, wie zwergenhaft ein Ahorn gegenüber dem großen Mammutbaum ist, wenngleich auch dieser Ahorn der größte seiner Art ist. Es fällt auch unmittelbar auf, dass höhere Bäume plumper aussehen; der „kastig“ wirkende Mammutbaum stellt schon ein Extrem dar. Für die Auftragung der 576 Messpunkte wurde eine mittlere Ausgleichsgerade gerechnet und in Abbildung 1.1-3 A eingetragen. Daran kann man die Steigung ablesen, entsprechend der in Abb. 1.1-1 eingetragenen Möglichkeit. Es ergibt sich eine Steigung b = 1,50. Ist diese theoretisch zu verstehen? Bei den Bäumen herrscht demnach ja keine „geometrische Ähnlichkeit“ (Exponent b = 1,00), aber doch wohl irgendeine „statische Ähnlichkeit“, die sich in dem Exponenten b = 1,50 widerspiegeln sollte.

Abb. 1.1-3 A, B: Höhen-Durchmesser-Beziehungen bei nordamerikanischen Bäumen. A Vergleich einer größeren Zahl von Arten; Messwert für das jeweils größte gefundene Individuum einer Art aufgetragen. B Direktvergleich einiger Arten.

Das bereits im 19. Jahrhundert formulierte „Barba-Kick’sche Gesetz der proportionalen Widerstände“ macht diesen Exponenten verständlich.

8

1 Leben und Umwelt auf dem Land

Demnach wächst – bei derartigen „linearen Hochbaukonstruktionen“ besonders klar formulierbar – ganz im Einklang mit dem eingangs angeführten Geleewürfel–Beispiel die Eigenbelastung B mit der Masse M (und damit dem Volumen oder der dritten Potenz der Höhe h), die Widerstandsfähigkeit W gegen eine derartige Belastung dagegen nur mit der Querschnittsfläche A (und damit mit der zweiten Potenz der Durchmesser d): B~M~h3, W~A~d2. Höhere Bäume geraten also bei gleicher Geometrie in immer größere Diskrepanzen zwischen ihrer Eigenlast und ihrer Widerstandsfähigkeit gegen eben diese Eigenlast. (Dabei sind Windbelastungen noch gar nicht berücksichtigt). Diese Diskrepanz wird ausgeglichen durch die Proportion: d2 ~ h3 bzw. d ~ 2лh3 ~ h 2лh~ h2/3 ~ h1,5. Das heißt: Geometrische Ähnlichkeit würde d ~ h1,00 bedeuten. Statische Ähnlichkeit erzwingt bei Bauten größerer Höhe eine zunehmende „Verplumpung“, die sich in der Proportion d ~ h1,5 niederschlägt. Alle Bauten, die dieser Proportionalität folgen, sind – unabhängig von ihrer absoluten Höhe – im Prinzip gleich sicher gegen ein eventuelles Versagen unter ihrer Eigenlast. Dies gilt auch für das Denkbeispiel eines „Riesengetreidehalms“. Trägt man Skizzen von Bäumen unterschiedlicher Höhe nebeneinander auf (Abb. 1.1-3 B), so fällt, wie erwähnt, der mit größerer Absoluthöhe zunehmende „Verplumpungsgrad“ unmittelbar auf. Nochmals zurück zu unserem Denkbeispiel mit dem Riesengetreidehalm. Könnte ihn die Natur so hoch bauen wie den Schornstein oder würde man ihn mit technischen Materialien „nachbauen“, so müsste er mindestens 3,3 m dick sein (statt 28 cm).Sein Schlankheitsverhältnis würde sich damit geändert haben. Es betrüge nur noch 42 (Abb. 1.1-2 A, rechts). Damit wäre er immer noch „raffinierter“ konstruiert als der Schornstein, näherte sich aber dessen Schlankheit schon eher an. (Natürlich darf man den Vergleich nicht überstrapazieren. Ziegelmauerwerk ist ja auch kein so günstiges Baumaterial wie Stahlbeton. Stahlbeton – zugfeste Eisenbewehrung in druckfester Zementmatrix – ist durchaus analog dem pflanzlichen Bauverfahren, nämlich zugfesten Sklerenchymsträngen in druckfester Parenchymmatrix). Theoretische Ähnlichkeitsansätze Kann man ein solches Schlankheitsverhältnis auch theoretisch - dimensionsmäßig einsehen? Die beiden amerikanischen Biophysiker T. A. Mc. Mahon und J. T. Bonner haben sich eine Dimensionsbetrachtung überlegt, die ebenfalls auf den Exponenten b = 1,5 führt (Abb. 1.1-4). Die Grundidee für solche Dimensionsverfahren ist etwas abenteuerlich. Man wählt

1.1 Plumpheit ist der Preis der Größe

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erst einmal die Kenngrößen, die für das genannte Beispiel sicher eine Rolle spielen. Im vorliegenden Fall ist das der Elastizitätsmodul, die Erdbeschleunigung und die Materialdichte. Diese ergänzt man dann multiplikativ durch (im Grunde frei wählbare) Kenngrößen so, dass diese, mit den genannten multipliziert, eine Größe der Dimension „eins“ ergeben (etwas salopp aber nicht ganz richtig spricht man in so einem Fall auch vom „Dimensionslos-Machen“ eines Ansatzes). Im vorliegenden Fall führt die Sache auf den Multiplikationsfaktor (d2/h3). In der Abbildung 1.1-4 sind große Buchstaben gewählt, um die Dimensionsbetrachtung zu kennzeichnen. Vergleicht man den linken Faktor in technischen Tabellen, so findet man, dass er angenähert konstant ist, unabhängig von der Höhe. Wenn dieses der Fall ist, muss dies auch für den rechten Faktor gelten, will die genannte Randbedingung eingehalten werden. Daraus ergibt sich über die Proportion d2 ~ h3 die Beziehung d ~ h1,5.

Abb. 1.1-4: Auch aus einer Dimensionsbetrachtung kann man auf das d ~ l1,5 Verhältnis schließen.

Ansätze dieser Art gehören zum großen Gebiet der physikalischen Ähnlichkeitsmechanik. Es gibt auch eine biologische Ähnlichkeitsmechanik, bei der die Exponenten für die Kenngrößen nur in einigen wenigen Fällen (die aus biologischen Eigentümlichkeiten folgen) von denen der physikalischen abweichen. Wir werden zwar einige Aspekte daraus benutzen, doch diese Ähnlichkeitsmechaniken nicht explizite darstellen. Weiter unten sind nur einige Allometrieaspekte angeführt. Zum näheren Nachlesen verweise ich auf mein einführendes Lehrbuch „Biomechanik“.

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1 Leben und Umwelt auf dem Land

Allometrie bei Knochen und bei Skeletten Der Exponent b = 1,5 hat, ähnlich wie andere, die weiter unten besprochen werden, auch im biologischen Bereich eine große Tragweite. Exemplarisch besprochen wurden bisher ja nur biologische und technische „Hochbauten“, die langgestreckt sind und zentrisch sowie achsenparallel belastet werden. Die Belastung folgt direkt aus der Gewichtskraft der eigenen Masse. Im botanischen Bereich spielen nun aber Windkräfte die ausschlaggebende Rolle, im zoologischen Muskelkräfte. Die letzteren greifen an Knochen an. Das gilt beispielsweise für ein stehendes Pferd genauso wie für ein laufendes Pferd. Dazu addieren sich selbstredend die Gewichtskräfte, die ebenfalls in beiden Fällen relevant sind. Schließlich kommen dazu noch Kräfte, die aus der Beschleunigung oder Verzögerung von Massen resultieren. Sie können Knochen besonders massiv belasten. Ein bekannter Extremfall, der zu ganz typischen Knochenbrüchen führen kann, ist die Belastung der Vorderlauf - Knochen von Sprungpferden beim Aufkommen nach dem Überspringen eines Hindernisses. Alles zusammengenommen ergeben sich knallharte evolutive Zwänge, die die Zartheit (oder, anders besehen, die Plumpheit) eines Skeletts mitbestimmen. Kann man auch hier Ähnlichkeitsbeziehungen finden? Die Abbildung 1.1-5 zeigt den Durchmesser des Oberarmknochens (Humerus) als Funktion der Körperlänge bei unterschiedlich großen Antilopen. Die kleinste vermessene Antilope war Kirk’s Dik-Dik mit einer Körpermasse von nur 3 kg. Die größte war der Kaffernbüffel mit 750 kg. Für die Beziehung zwischen Knochenlänge l und Knochendurchmesser d geben die Autoren die Gleichung an l = 24,09 · d0,66 . Aufgelöst nach d ergibt sich damit d = 0,0085 · l1,5. Also auch hier wieder, über einen sehr großen Bereich von Arten einer Säugerfamilie gemessen, der Exponent b = 1,5. Er scheint tatsächlich von allgemeiner Bedeutung zu sein. Dies verwundert nicht sonderlich, da auch beim kombiniert belasteten Knochen die Widerstandsfähigkeit (gegen Druck- und erst recht die gegen Biegebelastung) proportional dem Knochenquerschnitt ist. Technische Kenntnis verhilft also zu einem besseren Verständnis biomechanischen So-Seins, sowohl bei Pflanzen wie auch bei Tieren. Das wusste schon Galileo Galilei (1564-1642): „Es lässt sich leicht beweisen, dass nicht bloß die Menschen, sondern auch selbst die Natur die Größe ihrer Schöpfungen nicht über gewisse Grenzen hinaus ausdehnen kann, ohne ein festeres Material zu wählen und ohne sie monströs zu verdicken, so dass ein Tier von riesigen Dimensionen eine unmäßige Dicke haben müsste“. Von Galilei stammt die Abbildung 1.1-6 A.

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Abb. 1.1-5: Durchmesser des Oberarmknochens von Antilopen, über deren Körperlänge aufgetragen.

Richard Hesse und Franz Doflein, die alten Meister einer heute wieder sehr modernen synoptischen Betrachtungsweise von Lebewesen, haben bereits 1912 einen Doppelband über „Tierbau und Tierleben in ihrem Zusammenhang betrachtet“ herausgegeben, der 1935 eine bis heute beispielhafte 2. Auflage erfahren hat. Zu unserem Problem schreiben sie: „Wenn man ein Tier auf das Doppelte seiner Länge geometrisch vergrößert denkt, so würde damit die Tragfähigkeit seiner Knochen auf das Vierfache, seine Last dagegen auf das Achtfache vermehrt. Die Störung, die hierbei eintreten muss, verringert sich freilich dadurch, dass beim Säugetier die Leistungsfähigkeit der Knochen um ein Vielfaches größer ist als die Beanspruchung. Wird es also zur Verringerung der Leistungsfähigkeit kommen, so würde diese auch bei geometrischer Vergrößerung noch innerhalb der Grenzen der Beanspruchung bleiben. In der Natur finden wir einen mittleren Weg. Bei größeren Tieren sind die Knochverhältnisse dicker als bei kleineren, wie die in gleicher absoluter Größe nebeneinander gezeichnet Skelette eines Nilpferdes und eines Lemmings zeigen (hier: Abb. 1.1-6 B); aber die Leistungsfähigkeit des Skeletts liegt bei ihnen nicht so hoch über der Beanspruchungsgrenze wie bei kleineren. Bei der Maus könnte der Oberschenkel das 750-fache seiner tatsächlichen Belastung tragen, bei der Ratte das 325-fache, beim Elefanten das 120-fache. So ist denn das Ge-

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wicht des gesamten Skeletts mit den Bändern, im Verhältnis zum Gesamtgewicht des Körpers berechnet, bei kleineren Tieren kleiner als bei größeren; es beträgt bei der Spitzmaus 7,9 %, bei der Hausmaus 8,4 %, beim Kaninchen von etwa 1 kg Gewicht 9 %, bei einer 2 kg schweren Katze 11,5 %, bei einem jungen Dachshund von 4,8 kg 14 %, beim Menschen 17-18 % oder, in einer Reihe der Vögel, beim Zaunkönig 1 %, beim Haushuhn 11,7 %, bei der Gans 13,4 %“.

Abb. 1.1-6 A, B: Zur „Verplumpung“. A Skizzen unterschiedlicher Knochen (gez. v. Galilei). B Nilpferd (unten) und Lemming, auf gleiche Größe gebracht. Dieses Bild ist schon dutzende Male reproduziert und umgezeichnet worden und verliert trotzdem nichts von seiner Eindringlichkeit. Die Verplumpung des Skeletts beim größeren Tier ist unmittelbar auffallend.

Die Altmeister betrachten die Tiere also so, wie wir vorhin Grashalme und Bäume betrachtet haben. Bei kleineren Lebewesen spielen Optimierungsüberlegungen keine große Rolle; ihre Skelette sind in jedem Fall allen nur denkbaren Belastungen gewachsen. Bei größeren ist das schon anders; hier können Knochen selbst bei „noch physiologischen“ Maximalbelastungen schon leicht brechen; die Sicherheitsfaktoren werden „im normalen Leben“ ausgereizt. Im „unnormalen Leben“ – und sportliche Höchstleistungen stellen ja beim Menschen wie beim Tier, das abgerichtet wird, „unnormale“ Belastungen dar – können schon Knochenbrüche vorkommen, wie am Beispiel der Sprungpferde angesprochen. Extrem große und schwere Lebewesen kommen aber auch im „Normalfall“ bereits unter ihrem Eigengewicht langsam an die Stabilitätsgrenzen des Knochenmaterials, auch wenn sie es, wie am Beispiel des Antilopen-Oberarmknochens gezeigt, mit steigender Größe unproportional stärker einsetzen.

1.1 Plumpheit ist der Preis der Größe

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Die Abbildung 1.1-7 zeigt vier tetrapode Dinosaurier unterschiedlicher Größe und Körpermasse, in ihrer richtigen Größenrelation zusammengezeichnet; in der untersten Skizze ist der Kleinste nochmals auf die Größe des Größten hochkopiert. Das Massenverhältnis zwischen der kleinsten und größten Form beträgt „nur“ 36 : 1. Trotzdem ist die SkelettVerplumpung schon sehr deutlich merkbar.

Abb. 1.1-7: Hier sind tetrapode Dinosaurier kleinerer und größerer Arten mit Körpermassen zwischen 165 und 6000 kg im richtigen Größenverhältnis dargestellt; unten ist der Ornithomimide auf die Größe von Tyrannosaurus rex gebracht.

Galileo Galilei hatte durchaus recht. Die allergrößten Landlebewesen waren ja die großen Dinosaurier. Der riesige, rasch daherstürzende (große

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Trägheitskräfte!) Tyrannosaurus rex erreichte beispielsweise eine Körpermasse von vermutlich mindestens 6000 kg. Allein ein doppelt so schweres Wesen dieser Form wäre an Land nur schwer vorstellbar. Beim geringsten „Fehltritt“ würden stützende Beinknochen brechen. Man hat eine Zeitlang gemeint, dass die allergrößten Dinosaurier wohl im Flachwasser von Sümpfen und Küstenregionen gelebt haben, durch dessen Auftrieb der Körper mitgetragen wurde. Neuere Berechnungen unter anderem von Alexander haben aber gezeigt, das die Verteilung der Knochensubstanz in den tragenden Hauptknochen der Extremitäten so raffiniert ist, dass diese Saurier sogar noch mit halbwegs tragbaren Sicherheitsfaktoren am Trockenen leben konnten. Sie bedurften dazu allerdings einer anderen, „ausbalancierten“ Form und bewegten sich sehr gemächlich. Ein Landlebewesen das so schwer wäre wie ein Blauwal – 130 000 kg – wäre dagegen auf unserer Erde unter keinen Umständen vorstellbar. Vorschlag für eine fächerübergreifende Schulstunde Die bisherigen Überlegungen waren, zugegebenermaßen, sehr einfach. Trotzdem sind die daraus zu ziehenden Schlüsse außerordentlich weitreichend. Da die Grundlagen so schön einfach sind, habe ich mir einmal überlegt, ob man nicht ein Konzept für eine Schulstunde in Technischer Biologie und Bionik machen könnte. Technische Biologie versucht ja, unter Einbringung physikalisch-technischen Wissens Naturkonstruktionen und -vorgänge zu verstehen. Und das ist etwa das, was wir hier anstellen. Bionik spiegelt das aufbereitete biologische Wissen in die Technik zurück als Anregung für ingenieurmäßiges Gestalten. Technische Biologie und Bionik sind also gegengesetzte Sichtweisen; sie ergänzen sich wie Kopf und Zahl einer Münze oder wie Bild und Spiegelbild und führen damit zur Integration wissenschaftlicher Sichtweisen. Das wäre doch auch für eine Schulbetrachtung wichtig. In der Schule hat man beispielsweise Mathematik, Biologie und Physik. Die Ergebnisse stehen reichlich beziehungslos nebeneinander, und niemand vermittelt den jungen Leuten das Gefühl, das es sich um ein einzig großes Kontinuum handelt, das nur aus praktikablen Gründen in Fächer eingeteilt ist. Mit den Abbildungen 1.1-8 und 1.1-9 habe ich einmal versucht, am Beispiel pflanzlicher Hochbauten so eine fachübergreifende Sichtweise vorzustellen. Die Mathematik könnte Potenzfunktionen behandeln und zeigen, warum sich diese im doppellogarithmischen System zur Gerade strecken (Abb. 1.1-8 A). Die Biologie könnte Höhen-Durchmesser-Relationen von Pflanzen messen lassen oder entsprechende Tabellen besprechen, woraus sich der Eindruck ergibt, dass höhere Pflanzen plumper sind (Abb. 1.1-9 A). Die Physik könnte Proportionalitätsansätze und Ähnlichkeitsüberlegungen bringen, die zeigen, dass bei den hier gegebenen Randbedingungen die Durchmesser proportional der 1,5-ten Potenz der Höhe sind (Abb. 1.1-8 B).

1.1 Plumpheit ist der Preis der Größe

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Abb. 1.1-8 A-D: Beispiel für eine Betrachtung, mit der man in einer Schulstunde Mathematik, Biologie und Physik zusammenbringen könnte: A Mathematik. B Physik. C Qualitatives Ergebnis. D Quantitatives Ergebnis.

Daraus ließe sich ein qualitatives und ein quantitatives Ergebnis ableiten. Zeichnerisch auf gleiche Größe gebracht wirken größere Pflanzen tatsächlich

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1 Leben und Umwelt auf dem Land

plumper (qualitatives Ergebnis; Abb. 1.1-8 C). Die Tabelle der Abbildung 1.19 A, im doppeltlogarithmischen System aufgetragen, erlaubt es, eine Steigung von b = 2/3 = 1,5 abzulesen (quantitatives Ergebnis; Abb. 1.1-8 D). Damit ergibt sich die Erkenntnis, dass bei natürlichen Hochbauten ebenso wie bei physikalischen Hochbauten der theoretische Erwartungswert genau eingestellt ist oder eingestellt werden muss. Die Betrachtung führt also auf eine allgemeine Gesetzlichkeit, die weit über die Fachgrenzen hinausgeht, weil sie allgemein geltenden Naturgesetzen entspricht. Ich müsste mich sehr wundern, wenn dass letztendlich nicht auch bei denn reizüberfluteten hoffnungsvollen Nachwuchs unserer Zeit zu einem gewissen Staunen führt. Einige weitere Beispielmöglichkeiten stehen in Abbildung 1.1-9 B. 1.2 Fortbewegung durch Springen Bei der Fortbewegung auf dem Land kommen Sprünge häufiger vor als man meinen sollte, und sei es nur als „Sprunglauf“. In jeder Phase des Gehens hat zumindest ein Bein Bodenkontakt. Beim Laufen gibt es kurze Phasen, während derer beide Beine vom Boden abgehoben sind. Beim Springen schließlich gibt es während des gesamten Phasenbereichs zwischen Absprung und Landung keinen Bodenkontakt. Absprung, Sprung und Sprunglauf Die Kräfteverhältnisse beim Absprung sind prinzipiell einfach zu verstehen, wie die Abbildung 2.1-1 eines startenden Läufers zeigt, die im Folgekapitel näher besprochen wird. Die Sprungkraft weist nach schräg hinten-unten, so dass eine Reaktionskraft nach schräg vorne-oben auf den Organismus übertragen wird. Diese zerlegt sich in eine hebende und eine vorwärtstreibende Komponente. Überwiegt die hebende das Körpergewicht, was beispielsweise durch einen kräftigen und nicht zu flach aufwärtsgerichteten Absprung bewerkstelligt werden kann, so hebt der Organismus vom Boden ab und führt einen Sprung aus. Wenn eine Heuschrecke auf einer Wiese von Punkt A zu Punkt B kommen will, kann sie das beispielsweise durch Laufen oder mit einer Serie von Sprüngen ausführen. Verhaltensmäßig wird sich dasjenige Repertoire durchsetzen, das am wenigsten Energie verbraucht. Natürlich wird die Heuschrecke in einer hochgewachsenen Wiese nicht regelmäßig springen können sondern sich durch die Halmwildnis durcharbeiten müssen. Auf einer spärlich bewachsenen Trockensteppe könnte aber das Springen energetisch günstiger sein als das Laufen. Das haben Modellrechnungen an Feldheuschrecken tatsächlich gezeigt.

1.2 Fortbewegen durch Springen

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Abb. 1.1-9 A, B: Der gleiche Ansatz: A Biologie (Nr. 3). B weitere Beispiele.

Dies gilt auch für andere Tiere. In Abbildung 1.2-1 A-E sind einige davon dargestellt. Im Sprunglauf bewegen sich Springhase (A), Gepard (B) und beispielsweise Kängururatte (C) vorwärts. In allen Fällen liegen die Aufsatzstellen der Hinterbeine weit vorne, und die Schwänze dienen zum statischen und dynamischen Momentenausgleich. Der Springhase ist im Moment des Aufsetzens dargestellt, die Kängururatte im Moment des Abschnellens, und die Phasenbilder vom Geparden zeigen, wie er mit den

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Vorderpranken aufsetzt, dann mit den Hinterpranken „übergreift“ und sich mit den kräftigen Hinterbeinmuskeln abstößt. Springen der Springspinnen und Schnellkäfer Eine sehr eigenartige Form der Sprungkrafterzeugung haben die Springspinnen (Salticidae) entwickelt. Diese bauen keine Netze. Die kleinen, zebraartig schwarz-weiß gezeichneten Spinnen sieht man gelegentlich auf Hauswänden Fliegen jagen. Sie orientieren sich mit ihrem mächtigen optischen Apparat und springen dann insbesondere mit den Hinterbeinen ab. Spinnen haben zwar Muskeln zum Anziehen der Hinterbeine, aber keine Muskeln zum Abstoßen. Der Abstoß (Abb. 1.2-1 D) geschieht durch eine Hydraulik, ein plötzliches Aufpumpen des Beinrohrs von der hinteren Körperregion aus, wo eine Art Druckpumpe sitzt.

Abb. 1.2-1 A-E: Beispiele für springende Wirbeltiere, Spinnen und Insekten. A Springhase, Pedetes spec. B Gepard, Acinonyx jubatus. C Kängururatte, Dipodomys spec. D Springspinne, Sitticus pubescens. E Schnellkäfer, Stenagostus spec.

Eine wieder andere Art des Abspringens haben Schnellkäfer (Elateridae) entwickelt, zum Beispiel ein Vertreter der Gattung Stenagostus. Der auf dem Rücken liegende Käfer (Abb. 1.2-1 E), der sich sonst nicht umdrehen kann, macht eine Art Hohlkreuz mit einem Scharniergelenk zwischen Vorderbrust und Mittelbrust. Ein nach hinten gerichteter dornartiger Fortsatz der Vorderbrust wird am Rande einer Mittelbrustgrube verkeilt, und die Muskeln spannen sich an. Sobald die Spannung kräftig genug geworden ist, rutscht der Dorn blitzartig in die Mittelbrustgrube hinein, und dabei werden der vordere und hintere Körperabschnitt hochgerissen. Das bedeutet, dass der Schwerpunkt

1.2 Fortbewegen durch Springen

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nach oben verlagert wird, und der Käfer schnellt sich auf diese Weise ab. Er dreht sich in der Luft und kommt, wenn er Glück hat, mit der Bauchseite auf dem Boden zur Ruhe. Wenn er Pech hat, muss er seinen Schnellvorgang wiederholen. Die Sprunghöhe des gut 1 cm langen Käfers kann an die 30 cm betragen. Der Vorgang gehört zu den schnellsten Beschleunigungsvorgängen, die das Tierreich kennt. Die Beschleunigung beträgt umgerechnet nicht weniger als das 380-fache der Erdbeschleunigung (!). Es sei daran erinnert, dass ein Düsenjägerpilot in einer engen Kurve bereits beim 3-4fachen der Erdbeschleunigung ohnmächtig werden kann. Der Feldheuschreckensprung Neben dem Kängurusprung ist auch der Feldheuschreckensprung von Brown gut untersucht. Die Abbildung 1.2-2 A zeigt die Absprungphasen, gezeichnet im Abstand von 2 ms. Die kräftigen Sprungmuskeln sitzen im dicken Oberschenkel (Femur) (Teilabb. C). In ihrer Gesamtheit heißen sie Musculus extensor tibiae. Sie vergrößern den Winkel zwischen Schiene (Tibia) und Femur. Dabei wirken sie über eine massive Hebelübersetzung BB und BC (Teilabb. C). Die Hebellängen verhalten sich wie 1 : 35. Sehr geringe Kontraktionsstrecken des äußerst kräftigen Extensormuskels katapultieren den Tierschwerpunkt also im Verhältnis zum Aufsatzpunkt, der Tibia-Tarsus-Region (C), nach schräg oben. Dies geschieht etwa unter 45° (Teilabb. B und C), was nach den Gesetzlichkeiten des „Schiefen Sprungs“ Voraussetzung ist für größtmögliche Sprungweite.

Abb. 1.2-2 A-D: Zur Biomechanik des Sprungs der Wüstenheuschrecke. A Absprungphasen. B Übereinanderzeichnung von Absprungphasen. C Absprungwinkel. D Hebelverhältnisse am Sprungbein (Hinterbein). Vgl. den Text.

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1 Leben und Umwelt auf dem Land

Über Zeitlupenaufnahmen, die den Absprung ausmessen lassen, und Präparationen, die die Hebelverhältnisse klarstellen, kann man auf einfache Weise ganz erstaunliche Details ausrechnen. So beispielsweise die Muskelkraft sowie die Spannung und den Sicherheitsfaktor der Sehne, Apodem genannt, die den Muskel mit dem Punkt (B) verbindet. In der Abbildung 1.2-3 sind einige Kenndaten nach Brown formuliert, wie sie für die Wüstenheuschrecke, Schistocerca gregaria, typisch sind. Diese großen Feldheuschrecke entwickelt demnach eine Absprungbeschleunigung von immerhin dem 10-fachen der Erdbeschleunigung, und ihre spezifische Sprungmuskelleistung beträgt 3 W g-1 Sprungmuskulatur. Diese Leistung ist 150 bis 300 mal größer als die Leistung der Laufmuskulatur typischer Landwirbeltieren beim normalen Gehen. Allerdings kann diese letztere bei maximaler Anstrengung (unter Eingehung einer Sauerstoffschuld) bis auf 0,7 W g-1 gesteigert werden, aber auch hier sind die Sprungmuskeln der Heuschrecke, bezogen auf die Muskelmasse, noch viermal leistungsfähiger. Sie sind aber auch hochspeziell gebaut, vom sogenannten pinnaten Typ, und besser als alle hier betrachteten Vergleichsmuskeln in der Lage, in sehr kurzen Zeiten (im Hundertstelsekunden-Bereich) eine hohe Energie auszugeben, also eine große Momentanleistung einzustellen.

Abb. 1.2-3: Rechendaten zum Sprung der Wüstenheuschrecke.

Noch einige Zahlen, die die Berechnungen ergeben haben. Die Absprungkraft des Einzelbeins beträgt 0,15 N. Die zugehörige Kontraktionskraft des Sprungmuskels beträgt wegen des hohen Hebelverhältnisses das 21-fache, nämlich 3,20 N. Da seine Querschnittsfläche 3 mm2 beträgt, ergibt sich für den Sprungmuskel eine Muskelspannung von 0,107 N mm-2, entsprechend 107 kN m-2. Das Apodem, die Sehne also, mit welcher der Muskel an der Hebelmechanik angreift, hat lediglich einen Querschnitt von 0,01 mm2. Damit er-

1.2 Fortbewegen durch Springen

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gibt sich an ihr die Spannung von 320 N mm-2. Für eine experimentell ermittelte Reißfestigkeit von 600 N mm-2 und einen 30%igen Fehlerzuschlag ergibt sich damit für das Apodem ein Sicherheitsfaktor – gerechnet als Bruchspannung, bezogen auf die korrigierte Apodemspannung beim Absprung - von lediglich 1,25! Der überraschend geringe Sicherheitsfaktor weist darauf hin, dass ein ganz normaler Sprung dieser Heuschrecke die Apodemfestigkeit offenbar praktisch vollständig ausreizt. Die Natur nimmt das offensichtlich in Kauf. Würde sie das Apodem verstärken, käme sie zu klumpigeren Konstruktionen, die aus Sekundärgründen die Sprungweite begrenzen müssten. Offensichtlich arbeitet die „Konstruktion Heuschrecke“ eher mit einer irgendwie gearteten „Sprungkraftbeschränkung“, so dass der Muskel bei seiner typischen, heftigen Kontraktion tatsächlich das Tier hochschnellt und gerade noch nicht die Sprungsehne abreißt. Er arbeitet aber immer an der Grenze der Sehnenbeanspruchung. Hier schimmert ein allgemeines Naturprinzip durch. Worauf es ankommt, das ist eine möglichst große Zahl von Eiern, die eine Heuschreckenpopulation legt. Alles andere ist diesem Fortpflanzungsaspekt untergeordnet. Es kommt nicht darauf an, dass die einzelne Heuschrecke überlebt. Insofern kommt es noch viel weniger darauf an, dass es nicht hie und da passiert, dass der Sprungmuskel einer erschreckt hochspringenden Heuschrecke an seiner Sehne abreißt. Das ist für die Heuschrecke zwar letal; der nächste Vogel wird sie an- und auspicken. Für den Fortpflanzungserfolg der Population ist ein solcher Unglücksfall aber völlig irrelevant. Der Flohsprung Ist das Sprungsystem der Wüstenheuschrecke schon beachtlich speziell evoluiert, gilt das für einen Floh erst recht. Von Bennett-Clark und Lucey gut untersucht ist der Kaninchenfloh, Spilopsyllus cuniculus. Der Flohsprung bietet Gelegenheit, wieder einmal darauf hinzuweisen, dass man in der Biomechanik selten linear abstrahieren kann. Wir hatten das am Beispiel des Grashalms und des Fabrikschornsteins schon gesehen. Wenn Festigkeitsgrenzen ausgereizt werden, müssen höhere Bauwerke plumper ausgeführt werden. Von der früher viel beschworenen Überlegenheit pflanzlicher Hochbauten bleibt da nichts. Ähnlich ist es mit dem häufig zu lesenden Zitat, dass der Mensch über einen Kirchturm springen könnte, wäre er nur so kräftig wie ein Floh. Ein 2-mm-Floh kann problemlos 20 cm hoch springen, also dass Hundertfache seiner Körperlänge. Wäre der Mensch so kräftig wie der Floh, müsste ein 2-m-Mensch also 200 m hoch und damit weit über die höchsten Kirchtürme springen können. Worin liegt der Fehler dieser Annahme? Man kann sich die Problematik mit einer ähnlichen Prinzipbetrachtung klar machen wie sie eingangs für pflanzliche Hochbauten gegeben worden ist.

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1 Leben und Umwelt auf dem Land

Bei geometrisch ähnlichen Körpern wächst die Belastung mit der Masse, und diese wächst proportional der dritten Potenz der Körperlänge. Die Muskelkraft wächst nur mit dem Muskelquerschnitt, und dieser ist unter den genannten Randbedingungen proportional der zweiten Potenz der Körperlänge. Ein Kaninchenfloh besitzt eine Masse von 0,5 mg, der Mensch etwa 70 kg. Der Sprungmuskelquerschnitt beträgt am Bein des Kaninchenfloh vielleicht 0,03 mm2, beim Menschen etwa 50 cm2. Das ergibt für Mensch/Floh ein Massenverhältnis von 1,4 x 108 und ein Muskelquerschnittsverhältnis von lediglich 1,7 x 105. Damit ist der Mensch also rund 1000 mal „sprungschwächer“ als der Floh. Aus dieser Gegenüberstellung alleine kann man zwar die Sprunghöhe des Menschen im Vergleich zu der des Flohs nicht ausrechnen, aber dass diese nur wenige Meter betragen wird, kann man zumindest abschätzen. Der Floh ist also einfach deshalb ein wahrer Leistungsbolzen, weil er so klein ist! Kleinere Objekte haben ja eine bei geometrischer Ähnlichkeit eine größere Oberflächen-Volumen-Beziehung, wie in Abschnitt 3 an Beispielen aus dem Wasserleben noch ausführlich dargestellt wird. Der Floh weist damit eine günstigere Sprungkraft-Massen-Beziehung auf. Und trotzdem hat sich die Natur einige Tricks einfallen lassen müssen um ihn immerhin 20 bis 30 cm hochspringen zu lassen. Und das ist schon die Höhe, die er braucht, um beispielsweise vom Boden aus auf der Wade eines Menschen zu landen. Die Problematik liegt daran, dass der winzig kleine Floh bei einer sehr ungünstig kleinen Reynoldszahl durch die Luft springt. Damit weist er einen sehr großen Widerstandsbeiwert auf. Die Luft wirkt für ihn wie eine halbwegs zähe Flüssigkeit, die ihn rasch abbremst und trotz großen Krafteinsatzes nicht sehr hoch springen lässt. (Die Beziehungen werden später detailliert geschildert, wenn es um das Leben in Wasser und Luft geht.). Um diese physikalische Limitierung zu kompensieren und „wenigstens 20 bis 30 cm“ hochspringen zu können, hat sich der Floh einen Leistungswandler einfallen lassen, nämlich ein Sprungkatapult. In Abbildung 1.2-4 ist es dargestellt (und die flopsige Bemerkung, was die Evolution anbelangt, sei mir verziehen). Im Teilbild A ist der im Ausschnitt charakterisierte Mittelabschnitt des Flohs mit dem linken Sprungbein dargestellt. Die kräftige Sprungmuskulatur zieht über eine lange Sehne und ein ähnlich großes Hebelverhältnis wie bei der Heuschrecke das Bein nach schräg unten, so dass es den Floh nach schräg oben abstößt. Das Katapult besteht nun darin, dass beim hochgeklappten, in Absprungstellung arretierten Bein die Sprungsehne hinter dem Drehpunkt verläuft. Wenn sich der Sprungmuskel M1 kontrahiert, kann er das Bein also nicht losschnellen lassen. Er drückt dafür ein kugeliges Resilinpolster zusammen, ein Energie-Speichersystem mit ex-

1.2 Fortbewegen durch Springen

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trem hohen elastischen Wirkungsgraden von etwa 96 % (Teilbild B). Das tut er langsam, etwa innerhalb von tauf | 1 s . (Flohzirkusbesitzer sehen ihren Flöhen an, wann sie springen werden; eine Sekunde vorher erstarren sie richtiggehend.) Dann zieht ein Hilfsmuskel, der Sprungauslösemuskel M2, die Sehne in die richtige Stellung auf die andere Seite des Gelenks, und nun kann sich die gespeicherte Energie auswirken und lässt das Bein in tab | 1/1000 s auf den Boden schnappen (Teilbild C). Nennt man Wel die gespeicherte elastische Energie (sie beträgt rund 2,6 x 10-7 J pro Bein) und t die Wirkzeit, so ergibt sich für die Aufziehleistung Pauf die Beziehung: Pauf = Wel/tauf.

Abb. 1.2-4 A-C: Das Hinterbein des Kaninchenflohs Spilopsyllus cuniculus. A Übersicht, Lage zum Körper s. Einschaltbild. B Anspannen. C Abschnellen.

Die Abschnellleistung ist dann gleich Pab | Wel/ tab. =

Wel = 1000 ˜ Pauf. 1 t auf 1000

Wenn die Absprungzeit tab nur ein Promille der Aufzugszeit tauf beträgt, ist die Abschnellleistung also 1000-fach größer als die Aufziehleistung, praktisch vollständige Abgabe der gespeicherten Energie vorausgesetzt (und das macht das Resilin ja mit einem elastischen Wirkungsgrad von C § 0,96). Das also ist der Leistungswandler oder, salopp gesagt, das Sprungkatapult im Flohbein.

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1 Leben und Umwelt auf dem Land

Sprunghöhe, Luftwiderstand und Tiergröße Die Abbildung 1.2-5 kennzeichnet nun die oben andiskutierte Begrenzung der Sprunghöhe durch den Luftwiderstand. Aufgetragen sind die Sprunghöhen als Funktion der Länge verschiedener Tiere bei unterschiedlichen, auf den Luftwiderstand zurückzuführenden Energieverlusten. Die ausgezogene, abszissenparallele Gerade und die gestrichelte Kurve gelten für spezifische Sprungenergien von 20 J pro kg Körpermasse. Die dunklen Dreiecke entsprechen Flöhen, die hellen Dreiecke Heuschrecken, der dunkle Kreis entspricht dem Halbaffen Galago, der helle Kreis einem Geparden. Wie erkennbar kommen die kleinen Flöhe trotz geringer Energieverluste (hier sind die Gesamtenergieverluste angenommen, in die der Luftwiderstand bei kleineren Tieren stärker eingeht) zu nur geringen Sprunghöhen, trotz des Sprungkatapults. Bei einem Geparden dagegen, der etwa 2,50 m hoch springen kann, schlägt der Luftwiderstand nur mit rund 10 % zu Buch. Bennett-Clark und Lucey haben diese interessanten Beziehungen herausgefunden.

Abb. 1.2-5: Einfluss des Luftwiderstands auf die Sprunghöhe unterschiedlich großer Tiere. Die schrägen Geraden entsprechen den Gesamtenergieverlusten. Zu Symbolbezeichnungen vgl. den Text.

Kleine Springer haben es also aus physikalischen Gründen schwer, kleine Läufer dagegen leicht. Eine Ameise kann ohne weiteres das hundertfache

1.3 Gasaustausch und Wärmehaushalt

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ihrer Körpermasse tragen oder schleppen, weil sie eben im Vergleich zu ihrer Größe gerade zu riesige Muskelkräfte besitzt. Dabei sind die spezifischen Muskelleistungen in der belebten Welt nicht dramatisch unterschiedlich. Eine besonders hohe Mitochondrienzahl steigert die Leistung, aber auch hier gibt es Grenzen: Wenn die Mitochondrien in einem Muskel mehr Volumen einnehmen, bleibt in diesem Muskel weniger Volumen für die kontraktiven Elementen. Sogenannte pinnate („fiederförmige“) Muskelausformung steigert ebenfalls die verfügbare Muskelkraft (weil man nun in einem gegebenen Volumen „mehr Muskelfläche“ unterbringen kann, allerdings auf Kosten der Kontraktionsstrecke, die dann durch einen entsprechenden Hebelmechanismus wieder ausgeglichen werden muss). Rechnet man im Tierreich vielleicht mit spezifischen Muskelleistungs-Unterschieden von 10 (bei maximalem, kurzfristigem Einsatz) so ist schon klar, dass bei den massiv unterschiedlichen Effekten von Masse und Fluidreibung bei kleineren und größeren Tieren nicht die Muskelphysiologie die Limits bestimmt, sondern die „Ökophysik“. 1.3. Gasaustausch und Wärmehaushalt Gase diffundieren rein passiv durch Membranen, im Mittel in Richtung des Druckgefälles. Wenn in unseren Lungenalveolen ein höherer Sauerstoffpartialdruck herrscht als im Blut, so wird Sauerstoff aus den Alveolen über die zwischenliegenden dünnen Membranstrukturen ins Blut diffundieren. Ähnliches gilt für die Wärme. Herrscht in der Leber ein im Vergleich zum einströmenden Blut erhöhte Temperatur, so wird Wärme aus dem Lebergewebe ins Blut übertragen und mit diesem abgeführt werden. Reine Diffusionsvorgänge beschreibt das Fick´sche Gesetz. Das Grundgesetz der Diffusion Das Fick’sche Grundgesetz der Diffusion ist in Abbildung 1.3-1 A mit einer Schemazeichnung gekennzeichnet. Demnach ist der Nettofluss als in der Zeiteinheit durchdiffundierende Masse definiert. Er ist proportional der Durchtrittsfläche A und der Konzentrationsdifferenz ' c. Der Proportionalitätsfaktor heißt Diffusionskonstante D. Die Diffusion ist des weiteren umgekehrt proportional der Membrandicke s. An welchen Stellen kann die Natur nun „drehen“ um möglichst große Nettoflüsse zu erzielen? Große derartige Flüsse sind für die hier betrachteten Atemgase wichtig, aber auch für durch Membranen diffundierende Jonen und ebenso für durchfließende Wärme, auf die man ähnliche Gesetzmäßigkeiten anwenden kann.

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1 Leben und Umwelt auf dem Land

Die Möglichkeiten, welche die Natur zur Verfügung hat, sind in der Abbildung 1.3-1 B mit eingetragen. Zum einen ist eine möglichst große Diffusionsfläche A wichtig. Sie kann vergrößert werden durch Verästelungen wie bei Kiemen von Wasserinsekten, sowie durch Oberflächenveränderungen wie sie für Lungen und Fischkiemen typisch sind. Die Hautoberfläche des Menschen beträgt knapp 2 m2 ; die gesamte innere Oberfläche unserer Lungenalveolen ist aber so groß wie eine ordentliche schöne Neubauwohnung! Je nach der Größe des Menschen kann sie zwischen 70 und 120 m2 (!) schwanken. Schlauchfingerartige Ausstülpungen besitzen viele Krebse und Amphibienlarven mit ihren Kiemen, zarte weitgespannte Lamellen stellen die Tracheenkiemen einer Reihe von wasserbewohnenden Insektenlarven dar.

Abb. 1.3-1 A, B: Schemabetrachtung zum Fick’schen Diffusionsgesetz (A) und Verifizierungs-Möglichkeiten in der belebten Welt (B).

1.3 Gasaustausch und Wärmehaushalt

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Ein Kubikzentimeter „Gewebe“ von 1 g Masse stellt mit 1 cm2 Diffusionsfläche (also 1 cm2 Diffusionsfläche pro Gramm Masse) und einer Dicke von 1 cm ein sehr großes Diffusionshindernis dar. Man könnte ihn in 10 Scheibchen von je 1 cm2 Diffusionsfläche und 1 mm Dicke schneiden. Würde man diese 10 Scheibchen in einigen Abstand parallel anordnen und auf der einen Seite von Wasser umströmen lassen, so könnte jedes Scheibchen nun gut Atemgase austauschen, weil es für seine nun geringere Masse eine nun genügend große Diffusionsfläche (also 10 cm2 pro g Masse) hat. Fische haben respiratorische Oberflächen von maximal 20 cm2 Kiemenfläche pro g Fischmasse. Anders gesagt: Würde man in Gedanken einen Würfel von 1 cm Kantenlänge (der bei Fischen rund 1 g wiegt) in 10 Schnitte zu je 1 mm Dicke zerlegen, hätte die somit zerlegte Würfelmasse nun insgesamt 24 cm2 Oberfläche statt vorher 6 cm2. Die Fischkieme sorgt, bildlich gesprochen, dafür, dass eine gewisse, stark durchblutete Fischmasse eine große „innere Oberfläche“ bekommt. Zum zweiten sind kleine Diffusionswege gegeben durch die extrem dünnen Endothelien. Das Kiemenepithel von Fischen ist nur 1-2 µm dick. Noch weniger dick ist das Lungen-Alveolarepithel beispielsweise des Menschen. Es kann eine Minimaldicke von weniger als 1 µm erreichen (!). Die geringste Diffusionsstrecke ist allerdings „gar keine“. So trägt der Rückenschwimmer -eine wasserbewohnende Wanze- langgestreckte Luftblasen mit sich herum, in die hinein sein Tracheensystem mündet. Sauerstoff muss aus dem Wasser nur über die Grenzfläche Wasser-Luftblase diffundieren, und hier grenzen die Fluide ja molekular aneinander. Zum Dritten werden große Konzentrationsdifferenzen dadurch erreicht, dass eine Umströmung bewerkstelligt wird, entweder aktiv durch Atembewegungen oder passiv durch die Eigengeschwindigkeit eines Schwimmers. Es wird dadurch die Grenzschicht ventiliert, so dass stets neue, sauerstoffreiche und kohlendioxidarme Wassermengen ans Kiemenepithel grenzen. Fischkiemen, aber auch Vogellungen, arbeiten, wie wir sehen werden, nach dem Gegenstromprinzip, was eine weitaus größere Ausnutzung der Sauerstofffracht des Wassers (bei Fischen) oder der Luft (bei Vögeln) ermöglicht als Paralleldurchströmung. Fische erreichen dadurch einen Ausnutzungsgrad für Sauerstoff von 50 % bis 85 %. Krebse die zum Teil über ein angenähert ähnliches Prinzip verfügen, kommen auf 60 % bis 70 %. Muscheln, die als Filtrierter sowieso große Wassermassen durchschicken müssen um genügend Nahrungspartikelchen herauszufiltern, können sich Mechanismen zur Vergrößerung des Ausnutzungsgrads schenken. Sie arbeiten allerhöchsten mit 13 %.

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Gastransport im Blut Nachdem die Lunge Sauerstoff aufgenommen hat, muss dieser ja im Blut transportiert werden. In ähnlicher Weise muss Kohlendioxid von den Bildungsorten, den stoffwechselaktiven Zellen, ins Blut gelangen und darin transportiert werden, bevor es in der Lunge an die Luft „abgeraucht“ werden kann. Sauerstoff kann physikalisch in der Blutflüssigkeit gelöst werden, doch würde dies nur für einige wenige Prozent des Sauerstoffbedarfs reichen. Die Natur hat zur Vergrößerung der in der Volumeneinheit vom Blut oder einer entsprechenden respiratorischen Körperflüssigkeit (bei Insekten heißt diese „Hämolymphe“) transportierbaren Gasmenge sogenannte Respiratorische Pigmente entwickelt, beispielsweise das Hämoglobin. Die dick ausgezogene Kurve in Abbildung 1.3-2 B zeigt den prinzipiellen Verlauf einer Sauerstoffbindungs-Kurve für hämoglobinhaltiges Blut. Aufgetragen wird das Volumen Sauerstoff, das in der Volumeneinheit Fluid insgesamt gebunden werden kann (VO2) in Prozent der maximal möglichen Bindung („Sättigung“), als Funktion des Sauerstoffpartialdrucks (pO2) . Die Kurve ist „sigmoid“; der Wendepunkt W, an dem die Kurve ihre größte Steilheit aufweist, liegt etwa in der Mitte. Den sigmoiden Verlauf kann man sich durch sogenannte kooperative Effekte erklären. Ein Hämoglobinmolekül kann 4 Sauerstoffmoleküle aufnehmen, wobei durch derartige Effekte bei noch geringer Sauerstoffbeladung mit 1 bis 2 Molekülen die weitere Beladung erleichtert wird. Bei sehr geringer und sehr hoher Beladung mit 0 beziehungsweise 3 Molekülen dagegen ist sie erschwert. Deshalb ist die Bindungskurve in der Mitte am steilsten und flacht an den Rändern ab. Wie dem auch sei: ein wichtiger Kennzeichnungspunkt ist der Partialdruck, bei dem 50 % des maximal möglichen Sauerstoffvolumens aufgenommen wird, im Schema der Sauerstoffpartialdruck „p50“ unter dem Wendepunkt W. Wie kann die Natur reagieren, wenn weniger Sauerstoff angeboten wird, beispielsweise im sauerstoffarmen Bodenschlamm der Gewässer oder im Hochgebirge? Die Kurve könnte zum einen steiler verlaufen. Dann wird in der Nähe von p50 bei einem gegebenen ' pO2 das zugeordnete ' VO2 größer werden. Zum anderen kann die Kurve aber auch nach links verschoben werden. Dann wird ein gegebenes VO2 bei einem geringeren pO2 aufgenommen. Das wäre ganz im Sinne von Teichlebewesen oder von Hochgebirgstieren. Dass beide Aspekte bei der Höhenatmung benutzt werden, zeigen die Abbildungen 1.3-2 A und B. Kaulquappen leben oft in sauerstoffarmen Wasserbezirken, ganz im Gegensatz zu den ausgewachsenen Fröschen. Lama und Vicuña sind Tiere der Anden und leben in viel höheren Regionen als die meisten anderen Säuger. Die VO2-pO2-Kennlinien sowohl der Kaulquappen wie der Lamas und Vicuña sind steiler und nach links verschoben, verglichen mit den Normkennlinien.

1.3 Gasaustausch und Wärmehaushalt

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Abb. 1.3-2 A, B: Zum Sauerstofftransport im Blut; VO2-pO2-Bindungskurven. A „Linksverschieben“ und Steilheitsvergrößerung am Beispiel Frosch – Kaulquappe. B Die entsprechenden Kurven für die Andenbewohner Lama und Vicuña, im Vergleich zum Bereich, den die Bewohner niederer Höhen einnehmen.

Zur Höhenatmung des Menschen Die Lunge des Menschen ist für die Atmungen in großen Höhen nicht speziell ausgebildet, doch gibt es eine Reihe von Anpassungserscheinungen, die einen Aufenthalt auch in größeren Höhen ohne technischen Hilfsmittel ermöglichen. Wie die Abbildung 1.3-3 A zeigt, sinken mit größerer Höhe einerseits der Barometerdruck pB der Luftsäule, andererseits die Sauerstoffpartialdrücke pO2 Luft und pO2 alv in der Umgebungsluft und in der Alveolarluft der Lunge. Der Dampfdruck des Wassers beträgt bei 37 °C etwa 6,5 kPa; in 19 km Höhe käme es demnach – könnte der Mensch seine Körpertemperatur dort beibehalten – zum Sieden der Körperflüssigkeit. Abb. 1.3-3 A-E: Atmungs-Reaktion des Menschen bei Aufenthalt in größerer Höhe. A Barometerdruck pB und alveoläre Atmungs-Partialdrücke pO2 alv und pCO2 alv als Funktion der Meereshöhe h. B, C Der Regulierung des Atemzeitvolumens V TE zugrundeliegenden Prozesse V TE (pO2 art) und V TE (pCO2 art). D Wirkung des CO2-

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Der kritische alveolare Sauerstoffpartialdruck beträgt 4,7 kPa; darunter kommt es bereits zur Sauerstoff-Mangelerscheinungen (Anoxie) im Gehirn. Dieser Partialdruck würde sich einstellen in 4 km Höhe. Die höchsten menschlichen Siedlungen liegen aber bei 5,8 km Höhe. Wie lässt sich das Paradoxon lösen? Betrachten wir die Abbildung 1.3-3 B-D. Mit größerer Höhe nimmt das Atemzeitvolumen V TE für die Lunge des Menschen in bestimmter Weise zu, und zwar als Resultat zweier gegenläufiger Prozesse. Zum einen nimmt das Atemzeitvolumen zwar als Funktion des arteriellen Sauerstoffpartialdrucks pO2 art ab (B), zum anderen aber als Funktion des arteriellen Kohlendioxidpartialdrucks pCO2 art zu (C), allerdings mit unterschiedlichen Faktoren, von denen der „positiv wirkende“ überwiegt. Durch den CO2-Effekt kommt es zur einer Verschiebung der Atemzeitvolumen-Sauerstoffpartialdruck-Kennlinie; den Verschiebungsbereich bezeichnet man als Respiratorische Alkalose. Dieser wirkt sich insbesondere bei geringem Sauerstoffpartialdruck, also in größeren Höhen, aus. Damit liegt die Höhen-Atemzeitvolumen-Kennlinie mit CO2Effekt über der ohne CO2-Effekt (D). Und das bedeutet wieder, dass auf Grund des CO2-Effekts eine Atmungsmöglichkeit gegeben ist, die „nur“ mit einer Verdoppelung des Atemzeitvolumens (für das angegeben Beispiel von 7 auf 14 Liter pro Minute) auskommt. Damit erklärt sich die in der Abbildung D eingezeichnete Höhentoleranz von 5,8 km.

Effekts auf den Aufenthalt in unterschiedlicher Meereshöhe h. E Langfristige Höhenadaptation. Durch Übergang auf einen anderen Atmungstyp (SauerstoffMangel-Atmung) kann die tolerierte Höhe sowohl im Normalfall als auch bei Sauerstoffatmung aus Sauerstoffflaschen erhöht werden.

1.3 Gasaustausch und Wärmehaushalt

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Durch langfristige Adaptation an großen Höhen stellt sich der Mensch von einer normalen Atmung auf Sauerstoffmangelatmung um (Abb. 1.3-3 E). Die im Extremfall mögliche Höhe, in der er leben kann, verschiebt sich dadurch von 4 auf maximal 7 km. Eine ähnlich Differenz ergibt sich bei Atmung aus der Sauerstoffflasche mit und ohne Sauerstoffmangel-Anpassung. Bei der normalen Atmung sind 12 km Höhe möglich, bei vorheriger langfristiger Höhenanpassung dagegen nicht weniger als 14 km. Wie erkennbar benutzt der Mensch also Effekte, die mit dem Transport der beiden Atemgase „Sauerstoff“ und „Kohlendioxid“ zu tun haben, so, dass sie bei der Anpassung an das Leben in großen Höhen kooperativ zusammenwirken. Dieses komplizierte Zusammenspiel konnte nur im Prinzip geschildert werden. Die Art des Zusammenspiels physiologischer Adaptationen – die auf sehr unterschiedliche Organe wirken – an große Höhen ist sehr komplex. Diese Effekte sind physiologischer Art; im Grunde basieren aber alle auf physikalischen Zusammenhängen, die auf die grundlegenden Phänomene der Diffusion, der Lösung von Gasen in Flüssigkeiten, sowie der Abhängigkeit dieser letzteren Kenngrößen von Partialdrücken, Temperatur und pH zurückgehen. Effektives Zusammenspiel beim Gastransport im Blut Man findet die gleiche Art des Zusammenwirkens zwischen O2- und CO2-Gehalt, die eben bei der Höhenatmung besprochen worden ist, bereits bei dem Atemgastransport im Blut auf Normalhöhe. Lassen Sie uns deshalb nochmals einen – nun detaillierteren – Blick werfen auf den Gastransport im Blut. Beim Sauerstofftransport im Blut, gekennzeichnet durch die prozentuale Sauerstoffsättigung VO2, spielen neben dem Sauerstoffpartialdruck pO2 mindestens drei weitere Parameter eine Rolle: der Kohlendioxidpartialdruck pCO2, die Temperatur T, der pH und der Gehalt an DPG (2,3Diphosphogycerat). Für den Kohlendioxidtransport gilt sinngemäß VCO2 (pCO2, pO2, T, pH, [DPG]). Das „Aufbröseln“ der komplexen Abhängigkeiten ist eine Sache für sich. Aber wichtig ist ja – um einen bekannten Mann zu zitieren – das, was hinten heraus kommt. Und was sollte eigentlich heraus kommen? Am äußeren Gasaustausch-Ort (Lunge, Kieme) sollte möglichst viel O2 aus Luft oder Wasser ins Blut aufgenommen werden und möglichst viel CO2 aus dem Blut in diese Medien abgegeben werden. An den inneren Gasaustausch-Orten (stoffwechselaktive Gewebe wie zum Beispiel Leber oder Muskulatur) sollte das Blut umgekehrt möglichst viel O2 an das Gewebe abgeben und möglichst viel CO2 aus dem Gewebe aufnehmen. Die

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Natur hat es nun fertig gebracht, all die angeführten und reichlich vielfältigen Abhängigkeiten ausnahmslos positiv zu verkoppeln. So sind im Gewebe pO2 und pH klein, aber pCO2, T und DPG groß. Da pO2 Gewebe < pO2 Blut diffundiert in jedem Fall O2 passiv aus dem Blut ins Gewebe. Die Gewebe-Werte der anderen Parameter sorgen aber dafür, dass mehr O2 abgegeben wird, weil sie zusammen das VO2 des Blutes herabsetzen. Das O2Volumen, welches das Blut dadurch „nicht mehr halten kann“, wird dann ebenfalls abgegeben. Gleichzeitig sorgen sie dafür, dass das Blut mehr CO2 zu binden vermag. Damit kann ein zusätzliches Volumen an CO2, das aus dem Gewebe ins Blut strömt, vom Blut gebunden werden. In Kieme und Lunge verlaufen die Vorgänge sinngemäß andersherum. Eine absolut ideale Kooperation der Parameter, die wir hier aber nicht in Einzelheiten durchleuchten können. Pars pro toto zeigt die Abbildung 1.3-4 lediglich den positiven Einfluss von pCO2 auf die O2-Abgabe beispielsweise im Lebergewebe des Menschen. Durch diesen als „Bohr-Effekt“ bekannten Einfluss steigt die O2-Abgabe immerhin um 25 %. Der Effekt des pCO2 auf die O2-Aufnahme ist zwar ebenfalls positiv, aber so gering, dass er im Maßstab der Abbildung zeichnerisch nicht dargestellt werden konnte.

Abb. 1.3-4: Der als „Bohr-Effekt“ bekannte positive Einfluss des Kohlendioxidpartialdrucks pCO2 auf die Sauerstoffabgabe im stoffwechselaktiven Gewebe.

Physikalische Prinzipien des Wärmetransfers In der Abbildung 1.3-5 sind die physikalischen Prinzipien des Wärmetransfers zusammengestellt. Wir benötigen sie zur Diskussion der Mechanismen für die Wärmeabgabe, wie sie einem Warmblüter zur Verfügung stehen. Betrachtet seien langwellige Radiation, Konduktion + Konvektion sowie Transpiration. Bei den drei ersteren sind die Abgabeleistungen P der Differenz zwischen der Hauttemperatur TH und einer Umgebungstemperatur Ta proportional, wobei bei der Radiaton nach dem modifizierten Stefan-

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Boltzmann’schen Gesetz die vierten Potenzen der Temperaturen in die Gleichungen eingehen und die Bezugstemperatur diejenige einer nahestehenden Fläche, TF, ist. Bei der Transpiration ist P der Differenz zwischen Wasserdampfdruck an der Hautoberfläche PH2O und der umgebenden Luft PLuft proportional. In den Gleichungen bedeutet A jeweils die freie Hautoberfläche (m2) H die Emissionszahl (o 1; Dimension 1), V die Strahlungskonstante von 5,769 · 10-8 J m-2 s-1 K-4, O die Wärmeleitzahl (J m-2 s-1 K-1) und E die Verdunstungszahl (J m-2 s-1 Pa-1). Setzt man die Drücke p in Pa und die Temperaturen T in K ein, so erhält man die Abgabeleistungen jeweils in W. Das Stefan-Boltzmann’sche Gesetz kann man im übrigen mit genügender Genauigkeit linerarisierend vereinfachen zu Prad = h (TH – TF). Hierbei ist h die Strahlungswärmeleitzahl (J m-2 s-1 K-1), TH die Hauttemperatur (K) und TF die Temperatur einer nahestehenden Fläche (K).

Abb. 1.3-5: Physikalische Prinzipien des Wärmetransfers. Ein Warmblüter kann Überschusswärme durch langwellige Radiation, Konduktion + Konvektion sowie Transpiration (Evaporation) abgeben. Angegeben sind die kennzeichnenden physikalischen Gesetzlichkeiten; die einzelnen Parameter sind im Text definiert; dort sind auch die Einheiten angegeben.

Zum Wärmehaushalt des Menschen Wärme ist eine Energieform; ihre zeitliche Änderung hat deshalb die physikalische Dimension einer Leistung P, Einheit J s-1 = W. Wenn im Körper eines Warmblüters - etwa des Menschen - die Temperatur konstant gehalten werden soll, so muss, kurz gesagt, die gesamte Wärmeaufnahmeleistung gleich der Wärmeabgabeleistung sein. Über beispielsweise eine Stunde betrachtet muss die durch unterschiedliche Mechanismen produzierte beziehungsweise aufgenommene Wärmemenge durch das Zusammenspiel unterschiedlicher anderen Mechanismen auch wieder abgegeben werden.

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Wärme kann aufgenommen werden (Pacc) durch Radiation, (Strahlung) Konduktion, (Berühren eines Festkörpers) Konvektion, (Umströmung mit Luft oder Wasser) und schließlich gebildet werden (Pprod) durch biochemische Stoffwechselvorgänge (etwa in der Leber) oder durch die Abfallwärme bei Muskelbewegung. Diese Mechanismen sind in Abbildung 1.3-6 A mit 1 bis 4 durchnummeriert. Für die Wärmeabgabe kommen die Mechanismen 5 bis 8 in Frage. In Abbildung 1.3-6 B sind Betrachtungen zur oberflächenbezogenen Abgabeleistung beim Menschen gebracht, und zwar getrennt nach Radiation (5), Konduktion + Konvektion zusammengenommen (6 + 7), sowie Evaporation (8). Als Indifferenztemperaturbereich bezeichnet man diejenige Außentemperatur, bei der der Mensch unter hohen Umsatzbedingungen weder das Gefühl hat, überhitzt zu werden, noch zu frösteln. Ein etwa 70 kg schwerer Mann gibt mit seinem Grundumsatz bei dieser Indifferenztemperatur von 28–31°C im Tag etwa 6300 kJ ab. Dies entspricht einer Abgabeleistung von 73 W. Da die Energie hier praktisch vollständig als Wärme abgegeben wird, weil vergleichsweise wenig mechanische und chemische Arbeit geleistet wird, kann man die 73 W auch gleich als Wärmeabgabeleistung bezeichnen. Die Körperoberfläche des Mannes beträgt etwa 1,9 m2, woraus sich eine oberflächenspezifische Wärmabgabeleistung von 38 W m-2 berechnet. Dies ist für eine Außentemperatur (Lufttemperatur) von 30°C, die gerade in der Mitte des Indifferenztemperaturbereich liegt, im mittleren Teilbild der Abbildung 1.3-6 B eingetragen. Setzt man diese gleich 100 % so ergibt sich ein ausgeglichenes Bild: 46 % werden durch Radiation abgestrahlt, insgesamt 27 % durch Konduktion + Konvektion und weitere 27 % über Evaporation, also infolge Wasserverdunstung beim Schwitzen. Das Bild verschiebt sich, wenn man zu geringeren und zu größeren Temperaturen geht. Bei geringeren Temperaturen kann der physikalische Effekt greifen, dass Radiation der Differenz zwischen den 4. Potenzen der Hauttemperatur und der Temperatur einer nahestehenden Fläche entspricht (Stefan-Boltzmann’sches Gesetz, Abb. 1.3-5). Die Radiation wird also steigen. Sie tut dies auf Kosten der Evaporation, während Konduktion + Konvektion in etwa konstant bleiben (Abb. 1.3-6 B, linkes Teilbild für Ta = 20 °C). Wir erreichen somit wieder 100 % Wärmeabgabe. Doch ist die relative Abgabeleistung mit 63 W m-2 nun größer, da der Mensch bei geringerer Außentemperatur stärker auskühlt (Grundumsatzmessungen sind ja an einem ruhend liegenden, unbekleideten Menschen durchzuführen) und deshalb mehr Stoffwechselwärme produzieren muss.

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Abb. 1.3-6 A-B: Zur Wärmeaufnahme und -abgabe, skizziert am Beispiel des Menschen. A Prinzipielle Wege der Wärmeproduktion, Wärmeaufnahme und Wärmeabgabe. B Wege der Wärmeabgabe und ihre relative Bedeutung bei drei unterschiedlichen Randbedingungen. Vgl. den Text.

Anders bei einer vergleichsweise geringfügigen Erhöhung um 6 °C. Bei einer Außentemperatur von 36 °C brechen die Regulationsmechanismen 5 bis 7 zusammen, weil die Temperaturdifferenzen gegen Null gehen (Abb. 1.3-6 B, rechtes Teilbild). Es bleibt nur noch die Transpiration übrig, die nun 100 % der Wärmeabgabeleistung (hier 43 W m-2) bewerkstelligen muss. Deshalb schwitzen wir bei sehr hohen Außentemperaturen so stark.

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Das geht so lange gut, wie die Differenz zwischen dem Wasserdampfdruck der Hautoberfläche und der Luft genügend groß ist. Ist das nicht mehr der Fall, weil die relative Feuchte der Außenluft sehr hoch ist, dann wird die Sache schwierig. So kann es zumindest für den unangepassten Mitteleuropäer gefährlich rasch zum Hitzeschock kommen, wenn er sich im tropischen Regenwald mit seiner oft extremen Temperatur und seiner in fast jedem Fall sehr hohen Luftfeuchtigkeit zu heftig bewegt. Aus dem Vergleich ergibt sich also, dass mit höherer Außentemperatur Konvektionen + Konduktionsanteil sinken, wodurch zwangsläufig der Transpirationsanteil steigt und bei sehr hoher Außentemperatur praktisch alleine wirksam sein muss. Wir werden im Schlusskapitel dieses Buchs sehen, welche dramatischen Auswirkungen dies auf den Langstreckenflug der Vögel hat. Oberflächen-Volumen-Verhältnis und Wärmeabgabe Das Oberflächenvolumen-Volumen-Verhältnis A/V, das Bäume nicht in den Himmel wachsen lässt, wurde bereits in den vorhergehenden beiden Abschnitten bemüht. Sehr große Tiere haben wegen des sehr kleinen A/VVerhältnisses ihrer sehr hohen Belastung (~ V) nur eine geringe Muskelkraft und in den Skelettelementen einen vergleichsweise geringen inneren Widerstand gegen Belastung (~ A) entgegenzusetzen. Es ist wohl so, dass die allergrößten der seinerzeit größten Landlebewesen, die riesigsten Dinosaurier, der Grenze nahegekommen sind, wo sie unter ihrer Eigenlast zusammenbrechen können. Zumindest wurde ihre Mobilität deutlich herabgesetzt; sie mussten sich vorsichtig und langsam bewegen. Zur Kompensation konnten sie die Querschnittflächen ihrer Skelettelemente und Muskeln bis zu den letztmöglichen Grenzen hochtreiben. Vielleicht (und sicher gelegentlich) konnten sie auch den Auftrieb im Wasser nutzen, in dem sie sich fallweise zum Abweiden von Wasserpflanzen und/oder zum Ausruhen aufhielten. Die Verhältnisse werden später für Kugelformen in Abbildung 3.2-1 näher diskutiert. Diese Abbildung soll im Moment nur die Tatsache visualisieren, das dass A/V-Verhältnis mit sinkender Körpergröße ansteigt, und zwar in der Darstellung im doppeltlogarithmischen Koordinatensystem linear. Weiter kann man sich gut vorstellen, dass mittelgroße Tiere mit einem mittelgroßen A/V-Verhältnis eben „mittlere“, das heißt keine sonderlich ins Auge fallenden Probleme haben. Das zeigt auch ökophysiologische Forschung: Die interessantesten Anpassungserscheinungen finden sich an den Grenzen, dort, wo bestimmte Funktionen „gerade noch“ ablaufen können, in unserem Fall eben bei den besonders Kleinen und eben besonders Großen. Um funktionelle Abläufe „noch“ zu gewährleisten, ist die Natur gerade dort besonders erfinderisch.

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In Technik wie Natur steigt die Wärmeproduktion mit dem Volumen V eines wärmeerzeugenden Systems, die Wärmeabgabe mit seiner Oberfläche A. Das machen sich die Konstrukteure von Autokühlern zunutze. Sie versuchen, für die gegebene Motorengröße und damit auch eine ungefähr abschätzbare Motorenleistung eine möglichst große Kühleroberfläche zu Verfügung zu stellen. Da der Kühler selbst eine gewisse Größe nicht überschreiten kann, versucht man, seine „innere Oberfläche“ so groß wie nur irgend möglich zu machen. Wärmebildung ist im Bereich der Natur eine Funktion der Stoffwechselintensität. Wie bei jeder Energietransduktion wird Abfallwärme frei, die abgeführt werden muss. Sehr kleine Tiere, die im Verhältnis zum Volumen eine besonders große Oberfläche besitzen, haben kein Problem, die Wärme loszuwerden. Ganz im Gegenteil: sie werden sie so leicht los, dass sie ohne zusätzliche Schutzmittel in die Gefahr kommen, zu stark auszukühlen. Warmblüter müssen zumindest eine gewisse, recht konstante Innentemperatur (Kerntemperatur, Leberregion) aufrechterhalten. Zu Kompensation der Auskühlungsgefahr haben sie verschiedene Möglichkeiten. Sie könnten beispielsweise der Stoffwechsel hochfahren, und dies tun sie auch in ausgeprägter Weise. Wir werden an Hand von Abbildung 1.4-7 sehen, dass die Volumeneinheit „Mausgewebe“ ein Vielfaches der Stoffwechselintensität aufbringt wie die Volumeneinheit „Elefantengewebe“. Zum anderen können sie sich eine Reihe von Wärmeschutzmechanismen zulegen, ein dichtes Fell beispielsweise oder auch Verhaltensweisen, die die Oberfläche verkleinern. Zum dritten können sie sich in Zeiten, wo sie nicht fressen können und besonders viel Energie einsparen müssen (in kalten Nächte beispielsweise) hormonell selbst in eine Art „kurzfristigen künstlichen Winterschlafs“ versetzen. Man nennt diesen Zustand stark herabgesetzten Stoffwechsels und damit stark reduzierter Wärmebildung Torpor. Betrachten wir von den drei angeführten Mechanismen die beiden letztgenannten weiter; der ersterer wird in Zusammenhang mit der Abbildung 1.4-7 später besprochen. Fellisolation bei kleinen und großen Tieren Zur Kompensation des Wärmeverlustes, der bei kleineren Tieren stärker ins Gewicht fällt, sollte man erwarten, dass kleine Tiere ein besonders langes Fell haben: Bei lufthaltigen Fellen und ebenso bei Schichtungen lufthaltigen technischen Isoliermaterials (Glasvlies zum Beispiel) steigt die Isolationsfähigkeit mit der Gesamtdicke der isolierende Schicht (Abbildung 1.3-7 A). In Abbildung 1.3-7 B ist die Isolationsfähigkeit verschiedener Tiere als Funktion der Körpermasse aufgetragen, vom kleinen Wiesel bis zum großen Elch. Als Isolationsfähigkeit wird der Kehrwert des Wärmedurchgangskoeffi-

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zienten k (Einheit dieses Kopeffizienten: W m-2 K-1 bzw. W m-2 °C-1) betrachtet; Wärmedurchgang und Wärmenichtdurchgang (Isolation) sind ja reziprok.

Abb. 1.3-7 A, B: Wärmedurchgang und Isolationsfähigkeit bei Wirbeltieren. A Die Isolationsfähigkeit steigt mit der Felldicke. B Die Isolationsfähigkeit von Fellen, d.h. auch die Felldicke, strebt bereits bei Körpermassen etwas unter 10 kg einem Grenzwert zu.

Diese Abbildung ist auch insofern sehr interessant, als sie aufweist, dass die Isolationsfähigkeit des Fells (die, wie gesagt in etwa der seine Länge der Haare und damit der Felldicke proportional ist) beim Übergang von kleineren zu mittelgroßen Tieren ansteigt, aber schon bei Tieren von

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Fuchsgröße, die noch nicht einmal 10 kg Masse aufweisen, einem Maximum zustrebt. Die Felldicke wird auch bei größeren Tieren, die im kalten Polarregionen leben, etwa Eskimohund, Wolf, Ren, Karibu und Polarbär (Eisbär) nicht weiter gesteigert. Der Schluss daraus: Bereits die Felldicke wie sie bei einem Schneehasen oder Polarfuchs gegeben ist, isoliert gegen den Polarwinter ausreichend. Eine weiter Stärkung der Isolationsfähigkeit ist nicht nötig; der Polarfuchs hat wohl bereits das Optimum erreicht. Die Erwartung, dass gerade kleine Tiere wegen der Gefahr, besonders schnell auszukühlen, ein besonders dickes oder langes Fell tragen, wird durch die Graphik nicht bestätigt. (Die Graphik lässt sich nach links bis zur Körpermasse von etwa 10 g extrapolieren: Mäuse). Wie sollte das auch möglich sein! Um in der Polarregion bestehen zu können, müssten die kleine Mäuse mindestens die Felldicke eines Eisfuchses aufweisen. Das Fell müsste dabei so lang sein wie ihr ganzer Körper, was aus der mittelgroße Maus eine Fellkugel von etwa Fußballgröße machen würde. So ein Gebilde könnte sich gar nicht mehr bewegen. Das geht also auf Grund geometrischer Beziehungen nicht, und das ist auch der Hauptgrund, warum es in der Arktis keine Mäuse gibt. Trotzdem haben Kleinsäuger des Nordens, die die Polarregion tangieren können (Lemminge zum Beispiel) ein besonderst dichtes, wärmeisolierendes und hochspezielles, mit wohl ausgebildeten, feinen Untergrannen versorgtes Fell. Dieses isoliert besser als beispielsweise ein gleichlanges Fell von Kaninchen unserer Breiten. Man kann also schon sagen, dass arktische Kleinsäuger Wärmeschutzmechanismen durch eine speziellen Fell-Feinbau entwickelt haben, wobei sie aber nicht auf den geometrisch unmöglichen Parameter „Felllänge“ setzen. Es gibt auch Verhaltensmerkmale, die gegebenenfalls für eine kleine Oberfläche sorgen. Mäuse ringeln sich beim Schlafen zur Kugelgestalt zusammen, Kleinfledermäuse hüllen sich mit den herumgerollten Flügeln dicht ein, kleinste Kolibris stecken in der Ruhe den Kopf besonderst tief ins Gefieder und plustern sich zu einer Art Federkugel auf. Sie fallen notfalls auch in eine Art Kältestarre: Torpor. Energieeinsparung durch Torpor Die Anpassungsmöglichkeit des Torpor tritt bei Vögeln ebenso wie bei Kleinsäugern auf, beispielsweise bei amerikanischen Taschenmäusen der Gattung Perognathus. Die Tiere reduzieren des nachts oder bei kalter Witterung ihre Stoffwechselaktivität so weit, dass sie vollständig „erstarren“ können. Auf diese Weise können nordamerikanische Nachtschwalben der Gattung Phalaenotilus etwa 80 Tage verdämmern. In Afrika gibt es einen unserer Nachtschwalben verwandten Vogel, den die Einwohner dort als „Armen Willi“ („Poorwill“)bezeichnen. Des Nachts kann man ihn von sei-

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nem Sitzplatz richtiggehend abpflücken und in die Hosentaschen stecken. Er ist stocksteif wie ein Stück Holz. In der Frühe wacht er wieder auf und fliegt davon. Bei der Kalifornischen Taschenmaus Perognathus californicus sind viele Versuche darüber ausgeführt worden, wie groß denn nun die prozentuale Einsparung an Stoffwechselenergie ist, die ja letztendlich ausschließlich als Wärme frei wird. Die Abbildung 1.3-8 zeigt ein Beispiel. Als relative Stoffwechselleistung Pm rel ist hier das auf die Masseneinheit (Gramm) und die Zeiteinheit (Stunde) bezogene aufgenommene Sauerstoffvolumen angegeben. Man kann aber auch in die Einheit Watt pro Kilogramm umrechnen. Aus physiologischen Leistungstafeln kann man entnehmen, dass bei der Verbrennung von Kohlenhydraten die stündlich aufgenommene Masse von 1 Milliliter Sauerstoff einer Stoffwechselleistung von Pm = 6,10 mW entspricht. Bei Fettverbrennung beträgt der Wert 5,36 mW. Bei einer fettreichen Mischkost entspricht er rund 6 mW. Nach dem Einschaltbild in Abbildung 1.3-8 verbraucht die Taschenmaus bei einer Umgebungstemperatur von 15 °C normalerweise 4,10 ml O2 g-1 h-1. Dies entspricht einem mittleren relativen Stoffwechselleistung von 24,6 mW pro Gramm. Eine mittelgroße Taschenmaus wiegt etwa 20 g und leistet damit 492 mW oder rund ½ W. Dies gilt für Nahe-Ruhebedingungen.

Abb. 1.3-8: Überlegungen zur Einsparung von Stoffwechselenergie bei der Kalifornischen Taschenmaus durch Torpor-Phasen.

Bei widrigen Umständen, etwa großer Kälte, Nahrungsmangel oder einer Kombination beider, können die Taschenmäuse über längere Nachtstunden auf Torpor umschalten. Ihre Stoffwechselleistung sinkt dann von 4,1 auf 0,17 der genannten Einheiten, also auf gut 4 %. Beim „Einschlafen“ nimmt die in der Zeiteinheit ausgegebener Energie, entsprechend der

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gestrichelten Fläche unter der Kurve, exponentiell ab und entspricht insgesamt 0,7 ml O2 g-1. Beim „Aufwachen“ innerhalb einer knappen Stunde kommt es dagegen zu einem Überschießen, es werden 5,8 ml O2 g-1 benötigt. Wie die Abbildung 1.3-8 weiter zeigt, verbrennt „1 g Taschenmaus“ in einem 10-stündigen Normalleben insgesamt 41 ml Sauerstoff, in einem 10-stündigen Leben mit einer 7,1-stündigen Torporperiode nur 9,71 ml Sauerstoff. Durch Torpor eingespart wird also nicht weniger als ¾ der insgesamt einzusetzenden Stoffwechselenergie beziehungsweise Abwärme. Dagegen fällt die für das Aufwachen nötige - momentan überhöhte - Wärmebildung nicht sonderlich ins Gewicht. Fasst man nun die ökophysiologischen Anpassungsmöglichkeiten kleiner und kleinster Warmblüter zusammen, die die Gefahr übermäßigen Wärmeverlustes und damit die des Auskühlens und Verhungerns (Wärme muss ja durch Nahrungsverbrennung nachgeliefert werden!) geringer halten, so kommt man auf die Möglichkeiten von Abbildung 1.3-9. Zwergspitzmäuse und Goldhähnchen sind an der Grenze. Sie müssten eigentlich pausenlos fressen um wärmetechnisch überleben zu können, und zwar in 24 Stunden etwa ebenso viel, wie sie selbst wiegen. Für ein Goldhähnchen kann jede einzelne lange Winternacht kritisch werden, wenn es nicht sofort mit Tagesanbruch etwas zu fressen finden.

Abb. 1.3-9: Wie kleine und kleinste Warmblüter mit einer höheren spezifischen Stoffwechselleistung und damit größeren Wärmeverlusten zurechtkommen.

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Das Oberflächengesetz und die kleinsten Säuger Kleinste Säuger und Vögel wiegen, grob betrachtet, etwa 2 g. Wie kommt man darauf? Nun ja, man kann diese kleinen Tiere wiegen. Vor nicht so langer Zeit wurde eine Minifledermaus entdeckt, die noch kleiner und leichter ist als die bisher bekannten Zwerge, die Craseonycteris tbonglongyai. Die kleinsten Hummelkolibris wiegen rund 1,6 g, Etruskerspitzmaus und Zwergspitzmäuse etwas unter und etwas über 2 g. Aber kann man auch aus theoretischen Gründen auf diese Miniaturmasse kommen, die ein Warmblüter auf dieser Welt nicht unterschreiten kann? Für Betrachtung dieser Art ist das Meeh’sche Oberflächengesetz interessant. Wie die Abbildung 1.3-10 zeigt gilt die von dem Physiologen K. Meeh bereits 1879 aufgestellt Beziehung A = k ˜ V2/3 exakt für alle geometrisch ähnlichen Körper, ob komplex oder weniger komplex, also für Kugeln und Würfel, für Hunde und Pferde. Dabei ist k die sogenannte Formkonstante des Körpers. Sie erreicht die angegebenen Werte, wenn man die Fläche A in praktikablen dm2, das Volumen V in ebenso praktikablen dm3 oder Liter einsetzt. Für die Kugel ist der Wert in der Abbildung ausgerechnet; er beträgt k = 4,836 und stellt den kleinstmöglichen Wert dar. Für den Würfel ergibt sich k = 6,00 , für den Menschen k = 10,8. Säuger liegen in dem Bereich 6,3 < k < 12,3; für Warmblüter kann man einen Mittelwert von k = 8,24 annehmen. Damit lassen sich nun Modellüberlegungen zur geringst möglichen Körpermasse eines Warmblüters durchführen, wie in Abbildung 1.3-11 dargestellt. Geht man davon aus, dass die Tiere spezifische Massen um 1 kg l-1 aufweisen, kann man statt des Volumens (gemessen in Litern) auch die numerisch gleiche Masse M (gemessen in Kilogramm) einsetzen. Für die Kugel beträgt der Exponent b für die Gleichung a = k ˜ Mb selbstredend b = 2/3 = 0,66. Für Warmblüter wird er in Abbildung 1.4-2 besprochen; daraus wird hier der Wert b = 0,734 übernommen. Trägt man die Oberfläche über die Masse auf, so ergeben sich im doppeltlogarithmischen Koordinatensystem nach links abfallende Geraden mit den beiden angegebenen Steigungen für die Kugel und für Warmblüter (Homoiotherme). Geht man nun davon aus, das die kleinsten Warmblüter optimalerweise auch ein möglichst geringes Oberflächen-Volumen-Verhältnis aufweisen, sich also dem geringst möglichen der Kugel annähern sollten, so dürften die kleinsten Homoiothermen also dort zu liegen kommen, wo sich die beiden Geraden schneiden. Dies ist bei einem Wert Mmin = 0,39 g der Fall. Der stimmt nun aber nicht mit den bekannten kleinsten Warmblütern überein, für die man vielleicht einen absolut untersten Mittelwert von 1,5 g abschätzen kann; der berechnete Wert ist viermal zu klein. Angesichts der vielen abgeschätzten Randbedingungen wundert einen das eher nicht. Vor allem die Stei-

1.3 Gasaustausch und Wärmehaushalt

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gung b variiert ein wenig, je nach dem Tiermaterial, wie aus der Abbildung 1.4-2 zu entnehmen ist. Die minimal mögliche Körpermasse Mb min ist stark von der Steigung b abhängig, wie das Einschaltbild in Abbildung 1.3-11 zeigt Es lässt sich leicht nachrechnen, dass sich die beiden Kurven beim Erwartungswert 1,5 g schneiden würden, wenn die Steigung für die Homoiothermen-Gerade etwas anders gewählt wird; die Rechnung ergibt b = 0,748 (statt b = 0,734). Dieser Wert liegt aber in dem angegebenen Streubereich. So besehen ist die Berechnung des kleinstmöglichen Säugers über den uralten Meeh’schen Ansatz eigentlich sogar verblüffend treffend. Sie widerspricht nicht den bekannten Messungen, und dies zeigt nun wiederum, dass unsere angenommenen Randbedingungen nicht ganz unvernünftig waren. Sie gingen ja letztendlich auf das – hier nun sattsam oft zitierte aber in seiner grundlegenden Bedeutung gar nicht hoch genug einzuschätzende – Oberflächen-Volumen-Verhältnis zurück. Ganz einfache physikalische Kenngrößen, sind also wichtig. Ihre Betrachtung und Beachtung erweitert das Verständnis für ökologische Zusammenhänge ganz entscheidend. Sie beruhen auf schlichten geometrischen Relationen, bestimmen aber das So-Sein von Lebensformen und Lebensfunktionen bis in Details hinein.

Abb. 1.3-10: Das Meeh’sche „Oberflächengesetz“ und einige kennzeichnende Formkonstanten k.

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1 Leben und Umwelt auf dem Land

Abb. 1.3-11: Überlegung, wie schwer der kleinstmögliche existenzfähige Homoiotherme (Warmblüter) sein könnte, wenn man ihm das (bestmögliche) Oberflächen-Volumen-Verhältnis einer Kugel zuordnen würde.

Die Dalton’sche Beziehung und die Wasserhomöostase Wasserabgabe und -verdunstung ist ein außerordentlich wesentliches Mittel zur Wärmeabgabe. Mit 1 g verdunstetem Wassers kann bei der Temperatur im Atemtrakt eines Säugers oder Vogels eine Wärmemenge von etwa 2,3 kJ abgeführt werden. Dieses Wasser muss aber irgendwo herkommen. Stammt es aus den Körperreserven, so muss dafür gesorgt werden, dass es dorthin nachgeliefert und stets in etwa gleicher Menge aufbewahrt wird. Man spricht von Wasser-Homoöstase. Da sie für eine funktionierende Wärmeabfuhr – momentan unser Thema – von ausschlaggebender Bedeutung ist, sei sie hier mitbetrachtet. Das Leben hat sich im Wasser entwickelt. Über Vorgänge der Osmoregulation steht die Außenfläche eines Wassertiers mit dem umgebenen Medium in Verbindung. Bei ursprünglichen Lebewesen war das wässrige Innenvolumen des Körpers sicher dem Meerwasser isotonisch. Bei heutigen Lebewesen ist es entweder hypertonisch (enthält in der Volumeneinheit weniger Jonen als Meerwasser) oder hypertonisch (enthält mehr Jonen). Jonen werden stets an Membranen reguliert; durch Jonenpumpen wird un-

1.3 Gasaustausch und Wärmehaushalt

45

ter Energieeinsatz für ein Ungleichgewicht „links“ und „rechts“ an der Membran gesorgt. Werden in ein Kompartment mehr Jonen hineingepumpt, so wird dahinein osmotisch Wasser aus dem Interstitium nachgezogen, und dann kann wiederum Ersatzwasser von außen über die Körperoberfläche nachziehen. Anders bei Landlebewesen. Auch hier verläuft die interne Wasserregulation wie eben geschildert, doch muss Ersatzwasser eigens eingeregelt werden: die Tiere müssen trinken, Stoffwechselwasser produzieren, den Wasserverlust herabsetzen und was es weiter an Anpassungsmöglichkeiten gibt. Beim Menschen setzt ein Säugling von 7 kg Körpermasse im Tag 0,7 l Wasser um, also 10 % seiner Körpermasse. Der Erwachsene von 70 kg bringt es auf 2,5 l entsprechend 3,6 % der Körpermasse, das durch den Urin, über den Faeces, sowie über Schweißdrüsen abgegeben wird. Die Toleranzgrenze, als die man den noch tolerierten Wasserverlust in Prozent der Körpermasse bezeichnet, ist dabei nicht sonderlich hoch. Der Mensch zeigt schon bei weniger als 3 % klinische Symptome, bei 12 % tritt der Tod ein. Beim Wasserfrosch ist das erst bei 25 % der Fall. Die langstreckenfliegende Taube kann nach unseren Windkanalmessungen 5 % an Körperwasser verlieren ohne dass sie hinterher hingestelltes Wasser berührt, maximal können Zugvögel vielleicht 10 % verlieren. Dies ist wichtig für Sahara-Überquerungen. Frösche sind umso toleranter, in je trockeneren Gebieten sie leben. Unser Wasserfrosch kann, wie gesagt, etwa 25 % verlieren, der Laubfrosch deutlich mehr als 25 %, ein Vertreter der Gattung Cyclorana, der in australischen Tropengebieten lebt, sogar mehr als 50 %. Ähnlich hohe Verlustraten von etwa 30 % vertragen Wüstenechsen, zum Beispiel Vertreter der Gattung Arenivaga. Wahre Künstler sind in dieser Hinsicht manche Insekte, so die Bücherlaus Liposcelis. Sie verträgt 67 % Körpermassenverlust durch Wasserabgabe. Abgesehen von Wasserlebewesen besitzen alle anderen Tiere Möglichkeit zur Herabsetzung der Verdunstungsrate. Diese werden beschrieben durch die Dalton’sche Beziehung. Die Formeln und ihre Kenngrößen sind in Abbildung 1.3-12 A gegeben, in Teilabbildung B sind die Möglichkeiten genannt, die sich nach der Dalton’schen Beziehung für Lebewesen ergeben. Diese können auf der einen Seite die Konstanten k1 und k2 möglichst klein halten, was durch Verhornungen (auch unsere „Hornhaut“ dient diesem Zweck), Schuppen, Hornpanzer und epikutikuläre Wachsschichten geschehen kann. Die Schuppen der Python-Schlange erlauben es ihr, mit einem Massenverlust von 0,1 % Körpermasse pro Tag auszukommen, und zwar bei einer Außentemperatur von 20 °C und einer relative Luftfeuchte von nur 20 %.

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1 Leben und Umwelt auf dem Land

Abb. 1.3-12 A, B: Zur Dalton’schen Beziehung. A Definition. B Möglichkeiten für Lebewesen.

Des weiteren kann das Sättigungsdefizit  cH2O zwar nicht beeinflusst, aber doch durch physiologische oder verhaltungsphysiologische Maßnahmen ausgetrickst werden. Tiere können Standorte höherer Luftfeuchte wählen, wenn sie dazu die Möglichkeit haben. Der Regenwurm hat in seinen Röhren eine relative Feuchte von ungefähr 90 %, der Wasserfrosch, wenn er im Morgen auf Seerosenblättern sitzt, in seiner Umgebung rund 75 %. Wasser kann auch aus der Atemluft rückgewonnen werden, wobei auch das Gegenstromprinzip eine Rolle spielt. Gut untersucht sind die Verhältnisse in der Kamelnase, die praktisch die gesamte Feuchtigkeit, die sonst mit dem ausgeatmeter Ausatmungsluft abgegeben würden, im Atemtrakt zurückhält. Dadurch trocknet die Lunge und damit indirekt das ganze Tier nur sehr wenig aus. Sie tut dies dadurch, das der Wasserdampf der Ausatmungsluft in einem speziellen, auf großer Oberfläche verteilten Nasensekret gebunden wird. Der nächste Einatmungsschub, der trockene Luft antransportiert, „trocknet den Schleim aus“, verfrachtet also seine Feuchtigkeit wieder

1.3 Gasaustausch und Wärmehaushalt

47

nach innen, in die Lungenregion. Mit dem nächsten Ausatmungsschub beginnt das Spiel von neuem. Das ist einer der Gründe, warum Kamele so ungeheuer lange nicht trinken müssen. Nachdem sie an ihre Kapazitätsgrenze gekommen sind, können sie dafür mehr als 100 Liter Wasser auf einmal aufnehmen. In Abbildung 1.3-13 sind die Transpirationsraten, die eine Art normierten Wasserverlusts darstellen, in der Einheit der Originalliteratur für Asseln und Reptilien angeschrieben und zwar für Bewohner unterschiedlich feuchter Umgebung. Bei allen drei genannten Gruppen zeigt sich, dass zwischen den Feuchtgebietbewohnern und den Bewohnern extremer Trockengebiete dramatische Unterschiede bestehen. Bei den Asseln sinkt die Transpirationsrate auf 35 %, bei den Reptilien auf knapp 20 %, wenn man Bewohner der Feuchtregionen (Ligia, Kaiman) mit Wüstenbewohnern (Rollassel, Wüstenschildkröte) vergleicht. Asseln Art (Gattung) Habitat

Strandassel (Ligia) feuchte Strandfelsen (Frühstunden)

Mauerassel (Oniscus) feuchte Mauerspalten

Kellerassel (Porcellio) mäßige Trockenheit

Rollassel (Armadillidium) trockene Kaltsteppen

Transpirationsrate (µgH2O h-1cm-2 Torr-1)

220

165

110

78

Reptilien Art (Gattung)

Kaiman (Caiman)

Schmuckschildkröte Grüner Le(Pseudemys) guan (Iguana)

Habitat

(Wasser) Feuchtufer, Wassernähe

(Wasser) Mauerspalten

Randstreifen Tropenwald

Transpirationsrate (µgH2O h-1cm-2 Torr-1)

65

24

10

Wüstenschildkröte (Gopherus) Trockensteppe Wüsten

3

Abb. 1.3-13: Transpirationsraten für Asseln und Reptilien. Im Vergleich ergibt sich eine drastische Herabsetzung der Wasserabgabe bei Trockenregionenbewohnern im Verhältnis zu Feuchtgebietbewohnern.

Auch hier wieder lassen sich komplexe physiologische Sachverhalt auf einfach formulierbare physikalische Grundgesetze zurückführen. Diese

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1 Leben und Umwelt auf dem Land

gelten ganz allgemein, ob das betrachtete Objekt nun belebt oder unbelebt ist. Was man aus dem Vergleich lernen kann, und was diese Ansätze gerade auch für den biologischen Interessierten, der Lebensformen und ihre Funktionen verstehen will, so faszinierend macht, das sind die morphologischen und physiologischen Details, die hier zusammenfließen. Es ist eine ungeheuere Menge an Detail-Buchwissen, das, betrachtet man es nur aus dem Blickwinkel des nüchternen physikalischen Formelansatzes, auf einmal vergleichbar und „erklärbar“ wird. Erklärbar in dem Sinn, dass viele zunächst unzusammenhängend erscheinende Ergebnisse auf einmal als Sonderfälle allgemeinerer Gesetzlichkeiten erkannt werden. Erklären bedeutet ja immer, die Basis des Erkennens auf ein allgemeineres und damit höheres Niveau zu verschieben. Dazu benutz man gerne das Verfahren der gekoppelten Induktion - Deduktion (Abb. 1.314, s. Seite 48). Da das physikalische Erkenntnisniveau höher ist als das biologische (einfach deshalb weil es das letztere einschließt, nicht umgekehrt), ist die „Reduktion“ auf das übergeordnete physikalische Niveau auch und gerade für den biologischen Bereich erkenntnisfördernd. Außerdem eignen sich solche Ansätze in geradezu faszinierender Weise als heuristische Prinzipien. Vermutet man die Gültigkeit eines physikalischen Zusammenhangs in irgendwelchen biologischen, physiologischen oder ökologischen Datensätzen oder (und das geht genauso gut) auch nur in einfachen Beschreibungen, so kann man die Daten oder Beobachtungen an diesem Zusammenhang spiegeln. Man sieht dann sehr rasch, ob sich etwas zu einem Bild fügt und ob dazu etwas fehlt. Es lässt sich dann gezielt nach dem Fehlenden suchen, ohne dass man zu große Umwege einschlagen müsste. Auch die nächste und letzte Darstellung in unserem ersten Kapitel „Leben und Umwelt auf dem Land“ liefert dafür gute Beispiele. Mitbetrachtet sind hier allerdings auch Lebewesen, die das Wasser bevölkern, weil sie den Körpermassenbereich sowohl in Richtung auf die kleinsten wie die größten Massen erweitern. 1.4 Biologische Ähnlichkeit im Bereich der Stoffwechselleistung Etwa seit den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts konnten die Zoophysiologen genügend präzise und genügend einfach Stoffwechselleistungen messen. Seit dieser Zeit gibt es eine wahre Datenflut zu Mensch und Tier, von den kleinsten bis zu den größten Lebewesen, gemessen unter allen nur denkbaren Randbedingungen, vom ruhigen Daliegen bis zum schnellstmöglichen Lauf, von arktischen Außentemperaturen bis zu sol-

1.3 Gasaustausch und Wärmehaushalt

49

chen des tropischen Regenwaldes. Überall ist die Stoffwechselleistung die wesentliche Kenngröße. Was aber stellt sie eigentlich dar?

Abb. 1.3-14 A, B: Induktion und Deduktion. A Beweis der Richtigkeit einer zunächst hypothetisch formulierten Gesetzlichkeit. B Spezielles physikalisches Beispiel zu A: Galileis Fall- und Kugellauf-Versuche.

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1 Leben und Umwelt auf dem Land

Die Stoffwechselleistung als energetische Zentralgröße Alle Lebensvorgänge mit Ausnahme der Photosynthese und der Chemosynthesen sind endergonische Vorgänge. Sie brauchen Energie, um ablaufen zu können. Tiere fressen energiereiche Nahrung, spalten sie auf, synthetisieren zum Teil Speicherprodukte und deponieren sie. Wird Energie benötigt, werden diese energiereichen Verbindungen im Stoffwechsel abgebaut. Das geschieht beispielsweise in Muskelzellen. Die durch zellinterne „Verbrennungsvorgänge“ freiwerdende Energie unterscheidet sich praktisch nicht von derjenigen, die in den Nahrungsbestandteilen chemisch gebunden war; der Wirkungsgrad der Umsetzung ist hier nahe 100 %. Sie unterscheidet sich damit auch nicht von der Energie, die frei würde, würde man entsprechende Nahrungsbestandteile in einem Kalorimeter verbrennen. Ein Gramm Würfelzucker würde im Kalorimeter eine Energie von etwa 16 kJ liefern, im Stoffwechsel ebenfalls. Dies gilt für alle Nahrungsbestandteile und Nährstoffe, die bis zu (praktisch energiefreien) Endprodukten „verbrannt“ werden, Zucker beispielsweise unter Sauerstoffaufnahme zu Kohlendioxid und Wasser. Da dies im Kalorimeter die gleichen Endprodukte sind wie im Stoffwechsel, ist, summa summarum, die freiwerdende Energie auch gleichgroß. Diese Gleichsetzung gilt nicht für Nahrungsstoffe, die nicht bis zu den genannten Endprodukten verbrannt sondern vorher ausgeschieden werden. Das kann nötig sein, wenn Zwischenprodukte schwere Gifte darstellen und folglich so schnell wie möglich abgeschieden werden müssen, und sei es unter Energieverlusten. So werden stickstoffhaltige Aminosäuren nicht soweit abgebaut, dass als Endprodukt neben Kohlendioxid und Wasser Stickstoffgas (N2 ) entstehen würde, sondern beispielsweise bis zum Stadium des Ammoniak, NH3. Da dieser ein schweres Zellgift darstellt, synthetisiert die Natur daraus ungefährlichere Endprodukte wie Harnstoff (bei Säugern) oder Harnsäure (zum Beispiel bei Vögeln) und scheidet diese Stoffe dann beispielsweise im Urin aus. Biologisch gesehen sind sie damit entgiftet, energetisch gesehen zahlt man dabei aber drauf. Unser Organismus verbrennt Harnstoff nicht weiter. Harnstoff enthält aber immer noch 634 kJ pro Mol. Ein Mol Harnstoff ließe sich im Kalorimeter noch weiter verbrennen (zu Stickoxiden und anderen Verbindungen) und würde dort diese noch enthaltene Energie abgeben. Überall wo Stickstoffverbindung vorkommen ist es in der Regel so, dass der chemischen Energiegehalt der Nahrung nicht vollständig ausgenutzt wird. Das ist bei allen Proteinen der Fall. Bei den anderen Nährstoffen, bei Fetten und Kohlenhydraten, kommt es dagegen zur vollständigen Energieausnutzung. Wird 1 g Fett, das einen Energiegehalt von etwa 39 kJ hat, in einer Minute verbrannt, so ergebe sich eine Stoffwechselleistung von:

1.4 Biologische Ähnlichkeit im Bereich der Stoffwechselleistung

51

3 J Pm = 39 ˜ 10 ( J ) = 650 = 650 W. 60

(s)

s

Eine solche Leistung von 650 Watt könnte ein Spitzensportler über kurze Zeit im Stoffwechsel freisetzen. Dafür veratmet er in der Minute 2,02 l Sauerstoff, wie man aus dem stöchiometrischen Ansatz für Fett nach Abbildung 1.4-1 entnehmen kann. Absoluter und relativer Sauerstoffverbrauch und entsprechende Stoffwechselleistung Sauerstoffverbrauch und Stoffwechselleistung sind einander proportional. Den Sauerstoffverbrauch kann man, beispielsweise über eine Atemmaske, relativ leicht messen. In physiologischen Diagrammen wird deshalb gerne der Sauerstoff als Kenngröße angegeben, entweder absolut (zum Beispiel in ml O2 h-1) oder relativ, das heißt auf die Masseneinheit bezogen (zum Beispiel ml O2 g-1 h-1). Im letzteren Fall muss man angeben, ob man die Einheit der gesamten Tiermasse meint oder die Einheit eines bestimmten sauerstoffverbrauchenden Organs, zum Beispiel die Masse der Flugmuskulatur bei einer Taube. Wenn nichts dasteht, ist in der Regel die gesamte Tiermasse gemeint. Die stöchiometrischen Gleichungen nach Art der Abbildung 1.4-1 kann man für Kohlenhydratverbrennung, Fettverbrennung und Treibstoffgemische aller Art aufstellen. Biologische Treibstoffe und ihr Abbau Biologische Treibstoffe sind wie technische zu betrachten. Sie werden verbrannt, das heißt oxidativ zu praktisch energiefreien Endprodukten abgebaut. Für Biologie wie Technik interessant ist hierbei insbesondere die Energiedichte des Treib- oder Betriebsstoffs, die jenige Energie also, die in seiner Masseneinheit steckt. Während Kohlenhydrate eine vergleichsweise geringe Energiedichte aufweisen (Glukose beispielsweise 15,63 kJ g-1) sind die energiereichsten biologischen Treibstoffe Fettgemische. Das Fett Tripalmitylglycerid enthält beispielsweise 39,02 kJ g-1. Damit vergleichbar sind die besten technischen Treibstoffe. Flugbenzin der oberen Brennwertklasse enthält 43,20 kJ g-1. In Abbildung 1.4-1 sind die Abbaugleichung für ein Kohlenhydrat (Glukose), eine Fettsäure (Palmitinsäure), ein Fett, (Tripalmitylglycerid) und Flugbenzin der oberen Brennwertklasse zusammengestellt. Bei den biologischen Treibstoffen ist die Molmassenschreibweise, die Massenschreibweise und die gemischte Massen-VolumenSchreibweise angegeben. Insbesondere die Technik schätzt die letztere, da die Treibstoffe in Masseneinheiten, die entstehenden Gase (auch als

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1 Leben und Umwelt auf dem Land

Wasserdampf) in Volumeneinheiten erscheinen. Molmassen für den Glukoseabbau stehen als Beispiel in der Legende. Die Stoffwechselleistung, die ein Tier umsetzt oder abgibt, entspricht also der auf die Zeiteinheit bezogenen chemischen Energie, die durch Verbrennungsvorgänge frei wird. Man kann sie absolut nehmen, misst dann die Gesamtleistung, die ein Tier umsetzt und nennt sie Pm (P wie „power“; Internationale Einheit: W, m wie „metabolic“). Man kann sie auch auf die Einheit der Masse beziehen und nennt sie dann Pm rel (Einheit W kg-1). Noch etwas zeigt die Abbildung 1.4-1: die Menge des Wassers, die beim Abbau von 1 g Betriebsstoff freigesetzt wird. Die Werte stehen dort in Liter (Wasserdampf) und sind hier nochmals in Gramm angegeben. Glukose: 0,75 l entsprechen 0,60 g; Tripalmitylglycerid: 1,36 l entsprechen 1,09 g; Flugbenzin: 1,63 l entsprechen 1,31 g. Diese Werte werden uns gegen Ende unserer Betrachtungen wieder beschäftigen, wenn es nämlich darum geht, auszurechnen, wie viel Stoffwechselwärme dadurch abgeführt wird, das dass im Stoffwechsel freigesetzte Wasser verdampft wird. Wenn dies nicht ausreichen sollte, muss die Natur aufwendige Kühllungen vorsehen oder, beispielsweise beim anstrengenden Langstreckenflügen von Zugvögeln, Flugpausen einlegen, während derer nachgetrunken werden kann. Solche vielleicht reichlich theoretisch wirkenden Werte sind also von großer ökophysiologischer Relevanz. Deshalb kommt man für ein Verständnis ökophysiologischer Fragestellungen um die Ökophysik nicht herum. Kennzeichnend ist auch der Respiratorische Quotient RQ, das auf das aufgenommene Sauerstoffvolumen bezogene abgegebene Kohlendioxidvolumen: RQ =

 V CO2  V O2

.

Bei Kohlenhydraten beträgt er 1,00, bei Fetten um die 0,70. Aus volumetrischen Messungen der Atemgase Sauerstoff und Kohlendioxid über eine Gasaustauschmaske und Gasanalysegeräte kann man also auf den momentan verbrannten Betriebsstoff in einem Organismus rückschließen. Zwischenwerte bedeuten bei unseren Überlegungen Mischungen aus den beiden Betriebsstoffklassen. Die dritte Klasse, Proteine, sei hier nicht betrachtet, da Proteine in der Regel nur in Ausnahmefällen als Betriebsstoffe verbrennt werden, zum Beispiel bei blutsaugenden Tse-Tse-Fliegen oder Vampirfledermäusen, welche die reichlich enthaltenen Blutproteine verwerten.

1.4 Biologische Ähnlichkeit im Bereich der Stoffwechselleistung

53

Abb. 1.4-1: Gleichungen und Kenngrößen für den oxidaktiven Brennstoffabbau. Als Beispiel für ein Kohlenhydrat ist Glukose angegeben, als Beispiel für eine Fettsäure Palmitinsäure, als Beispiel für ein Fett Tripalmitylglycerid, als Beispiel für eine Aminosäure Alanin und schließlich als Beispiel für einen technischen Treibstoff Flugbenzin der oberen Brennwertklasse. Im Technischen Bereich werden Brennstoffe in Masseneinheiten (hier: g), Gase, auch Wasserdampf, in Volumeneinheiten (hier: l) angegeben. Molmassen für „Glukose + Sauerstoff = Kohlen-

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1 Leben und Umwelt auf dem Land

dioxid + Wasser“: Molmasse C6H12O6: 180 g mol-1; Molmasse O2: 32 g mol-1; Molmasse CO2: 45 g mol-1, Molmasse H2O: 18 g mol-1.

Weiter interessant ist auch die Energiemenge, die ein Liter Sauerstoff bei vollständigen Verbrauch aus einem Betriebsstoff herausholt. Man nennt diese Kenngröße das Oxikalorische Äquivalent des Betriebsstoffs OÄ. Mit zunehmender Energiedichte des Betriebsstoffes sinkt sie ein wenig. Einige Werte: für Kohlenhydrat (RQ = 1,000) 20,91 kJ lO2 oder 468,32 kJ molO2, für Fette (RQ = 0,707) 19,59 kJ lO2 oder 438,82 kJ molO2. Mit den beiden letztgenannten Kenngrößen lässt sich nun die Energie oder Arbeit W sowie die Leistung P im biologischen Bereich leicht ansetzen: J ) und W (J) = VO2 (l) ˜ OÄ ( lO2 Pm (w) =

VO2 (lO2 ) J ˜ OÄ ( ) = V (l O2 s-1) ˜ OÄ ( J l-1O2). ǻt(s) l O2

1.4 Biologische Ähnlichkeit im Bereich der Stoffwechselleistung

55

Hierbei bedeutet W die Energie, P die Stoffwechselleistung, VO2 das aufgenommene Sauerstoffvolumen, T die Zeit, in der das Sauerstoffvo lumen aufgenommen wird, V O2 das in der Zeiteinheit aufgenommene Sauerstoffvolumen, auch als Sauerstofffluss bezeichnet, und OÄ das oxikalorische Äquivalent des Betriebstoffs. Insbesondere die letztere Gleichung ist biologisch wichtig, weil sie die Sauerstoffaufnahme (die leicht messbar ist) mit der gewünschten Stoffwechselleistung verknüpft. Man muss nur die Sauerstoffaufnahme mit dem betriebsstofftypischen oxikalorische Äquivalent multiplizieren, das in Tafeln als Funktion des Respiratorische Quotienten vorliegt. Der letztere gibt den Betriebsstofftyp an. Damit hat man alle Kenngrößen, die zur Berechnung der Stoffwechselleistung nötig sind. Was wir gerade eben betrachtet haben ist eigentlich Biochemie. Wenn mich die Chemiker ärgern wollen, sagen sie: „Was wollen Sie denn als Physiologe. Die ganze Physiologie ist nicht anderes als Biochemie“. Wenn ich die Chemiker ärgern will, sage ich: „Was wollen sie denn als Chemiker. Die gesamte Chemie (nicht nur die Biochemie) ist eigentlich Molekulare Physik“. Wie dem auch sei: Wir befassen uns hier mit ökologisch bedeutsamen physikalischen Ansätzen und wollten uns eigentlich auf die Mechanik beschränken. In der Praxis läuft aber alles auf die Energetik hinaus; jede mechanische Anpassung eines Lebewesen dient letztlich dazu, mit seinem begrenzten Energievorrat sparsam umzugehen. Somit kann man Aspekte des Treibstoffverbrauchs und damit gekoppelt des Wasserhaushalts sowie der Stoffwechselleistung und damit wiederum gekoppelt der mechanischen Leistung aus unserem Kontext nicht ausklammern. Zur Massenabhängigkeit der Stoffwechselleistung Doch zurück zu massenabhängigen Auftragungen der Stoffwechselleistung. Insgesamt wurden mehrere tausend kennzeichnende Messpunkte zusammengetragen. Die Abbildung 1.4-2 verzichtet auf die Punkteschar und zeigt nur die gerechneten Ausgleichsgeraden. Die Stoffwechselleistung ist hier, der Originalvorlage folgend, in kcal h-1 angegeben. Die Energie von 1 kcal entspricht 4,187 kJ; die Leistung von 1 kcal h-1 entspricht 1,163 W. Eingetragen sind auch die beiden Grenzexponenten; b = 0,66 steht für die oben genannte 2/3-Proportionalität zwischen Oberfläche und Volumen, wie sie ja beispielsweise für Kugeln typisch ist. Der Wert b =1,00 würde eine massenproportionale Atmung bedeutet. Zu beachten ist der riesenhafte, gerade astronomische Massenbereich zwischen etwa 10-12 und 108 g. Wie erkennbar liegen die Urtiere (Protozoa), als kleinste Wasserlebewesen, die wechselwarme Tiere (Poikilotherme, wie beispielsweise die Frösche) und die Warmblüter (Homoiotherme, zu denen ja auch der Mensch

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1 Leben und Umwelt auf dem Land

gehört) auf unterschiedlichen Niveaus. Sie haben aber die gleiche Steigung von, grob gesprochen, 0,75 oder 3/4. In der Höherentwicklung nimmt die Stoffwechselleistung zu. Die drei genannten Kurvenabschnitte liegen gestaffelt übereinander. Die Art der Zunahme, wie sie sich im Exponenten äußert, bleibt jedoch dieselbe. Es gibt auch Detailkorrelationen für verschiedene Artengruppen, zum Beispiel Reptilien und Froschlurche zusammengenommen. In Abbildung 1.3-11 waren einige Exponenten angegeben worden, dort im Zusammenhang mit der geringst möglichen Körpermasse. Sie schwanken „lediglich“ zwischen 0,728 und 0,750.

Abb. 1.4-2: Stoffwechselleistung sehr unterschiedlich großer Tiere aus drei unterschiedlichen Gruppen (Urtiere: Protozoa; Wechselwarme: Poikilotherme; Warmblüter: Homoiotherme), als Funktion der Körpermasse aufgetragen. Vereinfachte Darstellung; Messpunkte weggelassen.

Worin liegt nun die Bedeutung dieser mittleren Steigung, die zwischen Oberflächenproportionalität (b = 0,66) und Massenproportionalität (b = 1,00) liegt? Darüber wurden tatsächlich ganze biologischen Bibliotheken geschrieben. Wir wollen es hier bei einer qualitativen Überlegung lassen und kommen in Abbildung 1.4-4 auf das Problem zurück. Simularitätsüberlegungen und der Reduzierte Exponent Die genannten Exponenten sind ja empirisch bestimmt worden, ergeben sich aus den Ausgleichsgeraden durch Messpunkte - Scharen. Lassen sie sich auch rein theoretisch ansetzen? Wie in Abbildung 1.4-3 vermerkt ist, ergeben sich aus physikalischen bzw. biologischen Theorien unterschiedliche Exponenten. Dazu einige Kurzbemerkungen.

1.4 Biologische Ähnlichkeit im Bereich der Stoffwechselleistung

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Abb. 1.4-3: Vier Beispiele des Exponenten b nach der physikalischen Ähnlichkeitstheorie, verglichen mit den Werten der biologischen Ähnlichkeitstheorie nach Günther (1971).

Die physikalische Simularitätstheorie ist ausgereift. Auch biologische Simularitätstheorien sind weitgediehen, doch können sie noch nicht alles erklären und arbeiten deshalb unter manchmal etwas seltsam erscheinenden Randbedingungen. Die Mechanik beruht ja auf den drei Grundgrößen Länge L, Masse M, Zeit T. Jede zusammengesetzte Größe y der Mechanik lässt sich aus diesen drei Grundgrößen multiplikativ bilden. Die wichtigste Grundgröße ist die Masse. Man bezieht deshalb die Grundgrößen L, M und T auf M und kommt dann für irgendeine Größe für M auf die Beziehung y ~ MbyM (gelesen: Steigung b bei der Auftragung der Kenngröße y über der Masse M), für L auf MbyL, für T auf MbyT. Jede abgeleitete Größe kann man dann formulieren als Produkt aus diesen drei Beziehungsgrößen, y ~ MbyM · MbyL · MbyT. Daraus folgt der gesamte Exponent bygesamt = byM + byL + byT. Die Masse ist sich selbst proportional, der Exponent bMM ist also gleich 1,00. Die Länge ist der dritten Wurzel aus der Masse proportional, der Exponent bLM ist dann 0,3 3 . Für die Zeit ist die Ableitung nicht so ohne weiteres einsehbar und muss in der Originalliteratur studiert werden. Die Physik rechnet mit bTM = 0,1 6 , die Biologie mit bTM = 0,33. In der Abbildung 1.4-3 sind vier Beispiele für die Gesamtexponenten bgerechnet gegeben, und zwar für die Fläche, das Volumen, die Dichte und die Leistung. Aufgrund der unterschiedlichen Werte für bTM ergibt sich für die physikalische Leistung Pges = 1,18, für die physiologische („Stoffwechselleistung“) ein korrigierter Wert Pges korr = 0,73, genauer 0,732. Dieser entspricht recht gut dem obengenannten mittleren empirischen Wert. Nun war das keine Beweisführung, sondern nur ein Hinweis darauf, dass sich dieser seltsame „mittlere“ Exponent größer als 2/3 und kleiner als 1 (0,66 < b < 1,00) übereinstimmend aus empirischen Verrechnungen sehr vieler Messdaten und theoretischen Ansätzen ergibt.

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1 Leben und Umwelt auf dem Land

Worin liegt nun aber die Bedeutung dieser „Mittellage“? Zur „mittleren Steigung“ der Pm (mb)-Kennlinie Die Abbildung 1.4-4 versucht eine qualitative Diskussion. Hier sind die drei Steigungen nicht maßstäblich eingetragen sondern übertrieben, damit man Schnittpunkte besser darstellen kann. Die drei Kennlinien liegen so im Koordinatensystem, dass sie sich bei mittelgroßen Tieren von Hundegröße schneiden, und die Berechtigung dazu ergibt sich einfach aus der Beobachtung, dass mittelgroße Tiere die geringsten Einnischungsprobleme haben, was den Wärmehaushalt anbelangt. Ihnen ist der Exponent sozusagen egal; ihr Wärmehaushalt ist in jedem Fall „normal“. Anders sieht das aus bei sehr kleinen und sehr großen Tieren.

Abb. 1.4-4: Plausibilitätsdarstellung, wie unterschiedlich Steigungen der Pm (mb)Kennlinie zwischen b = 1,0 und b = 0,66 sich auf sehr große und sehr kleine Tiere auswirken würden.

Für den Exponenten 1,00 würden sehr große Tiere überhitzen, sehr kleine Tiere auskühlen. Die Mittellage von 0,75 vermeidet diese Extreme (EV 1,00 o 0,75).

1.4 Biologische Ähnlichkeit im Bereich der Stoffwechselleistung

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Für den Exponenten 0,66 würden sehr große Tiere auskühlen, sehr kleine Tiere überhitzen. Die Mittellage von 0,75 vermeidet auch diese Probleme (EV 0,66 o 0,75). Diese sogenannten allometrischen Beziehungen spielen bereits beim innerartlichen Größenvergleich eine beachtliche Rolle, wie die folgende Überlegungen für unterschiedlich große Menschen zeigen werden (Abb. 1.4-6). Doch zuerst eine historische Scherzgeschichte. Gullivers Reise und kleine und große Menschen Ein hübsches, seit Slijper (1967) vielzitiertes Beispiel, ist die Sache mit Gulliver. Jonathan Swift, der 1726 „Gullivers Reisen“ publiziert hat, berechnete, wie viele Liliputanerportionen Gulliver bekommen musste um satt zu werden (Abb. 1.4-5). Nach dem schlichten Volumenvergleich Swifts, der von Massenproportionalität ausgeht (b = 1,00), erhält Gulliver 1728 Liliputanerportionen. Das ist eine gewaltige Belastung für den Kleinstaat der Kleinen. Nach der modernen Simularitätstheorie ist der Stoffwechsel aber nicht massenproportional (b = 0,75), und danach erhält Gulliver nur 268 Liliputanerportionen. Mit dieser Zahl wäre die Geschichte wohl anders ausgegangen. Bekanntlich ging der Gulliver den Liliputanern durch seine Gefräßigkeit allmählich auf die Nerven.

Abb. 1.4-5: Was Jonathan Swift noch nicht wissen konnte: Er hat seinen Gulliver überfüttern lassen.

Barnes (1989) hat im Übrigen ausgerechnet, dass Gulliver mit den Liliputanern gar nicht sprachlich kommunizieren konnte – weil er sie überhaupt nicht hörte! Die Überlegungen gehen wie folgt.

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1 Leben und Umwelt auf dem Land

Betrachtet seien die Stimmbänder als schwingungsfähige Saite mit der Frequenz I, der Spannung T, der Länge L, der Querschnittsfläche A, der Dichte M und der längenbezogenen Masse H. Dann gilt: B = 1

2l

1Ag = Ag und I = 1 l 2l

I~ 1

l ~1 A l

T ,H= µ

T . Da T und M konstant sind, gilt die Proportion Ag

l

~ 1. 2 2 l l Nimmt man die Grundfrequenz der menschlichen Stimme für den Mann (Körperlänge l = 1,8 m) zu 150 s-1, für die Frau ca. 250 s-1 an, so gilt nach der Simularitätstheorie im Vergleich zum 15 cm großen Liliputaner: l

ILiliputaner = IMann

·2 § ¨ lMann ¸ ¸ ¨ © lLiliputaner ¹

§ 1,8 m · 2

= 150 s-1 ¨¨ 0,15 m ¸¸ = 22 000 s-1. ©

¹

Eine so hohe Frequenz konnte Gulliver wohl nicht mehr hören. Noch weniger im Übrigen die eines weiblichen Liliputaners: Sie lag bei 22 000 · § 250 · ¨ ¸ = 37 400 s-1. Das Hörvermögen des Menschen endet bekanntlich im © 150 ¹

mittleren Alter bei etwa 20 000 s-1. Das nur nebenbei. Zurück zu Effekten der Größe, der Fläche und des Volumens. Wir brauchen zum Vergleich nicht unbedingt ins Liliputanerreich zu gehen. Genügend drastische Größenunterschiede gibt es beispielsweise bereits zwischen Mitteleuropäern selbst (1.4-6 links) oder zwischen sehr großen Mitteleuropäern und sehr kleinen Zentralafrikanern (Abb. 1.4-6 rechts). Junge Mitteleuropäer mit 2 m Größe sind heutzutage keine extreme Ausnahme mehr, Leute, die 1,70 m groß sind, gelten heute eher als klein. Im Vergleich haben wir ein Längeverhältnis zu 1 : 1,18 damit ergibt sich ein Flächenverhältnis von 1 : 1,38 und eine Volumenverhältnis von 1 : 1,63. Da die Anzugpreise nach Quadratmeter Stoff zählen, müsste der große Europäer theoretisch allein für den Stoff 1,38 dreimal soviel bezahlen wie der kleine; Slijper hat das bereits vor hundert Jahren ausgerechnet. Vernünftig wäre es, wenn die Flugpreise nach der Passagiermasse berechnet würden. Das könnte so schwierig nicht sein; man müsste die Leute nur auf die Waage stellen. Dann müsste der große Europäer 1,63 mal soviel bezahlen wie der kleine, wenn man gleiche spezifische Masse voraussetzen kann. Gerechnet mit einem Exponenten von 0,732 verhalten sich die Stoffwechselleistungen zwischen den beiden wie 1 : 1,43. Der Große setzt also im Ruhezustand ca. 43 % mehr um, verglichen mit dem Kleinen. Interessant ist das Verhältnis der spezifischen, das heißt massenbezogenen Stoffwechselleistung. Die Masseneinheit des Kleinen setzt das 1,45-fache um,

1.4 Biologische Ähnlichkeit im Bereich der Stoffwechselleistung

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verglichen mit der Masseneinheit des Großen. Diese Relation erscheint seltsam. Eine Masseneinheit Körpermasse würde beim Kleinen einen 1,45-fach größeren Leistungsumsatz aufweisen als beim Großen. Diese Tendenz ist aber durchaus stimmig.

Abb. 1.4-6: Real existierende sehr kleine und sehr große Menschen unterscheiden sich bereits sehr deutlich in Kenngrößen, die sich auf ihre Oberfläche A, ihr Volumen V, ihre Stoffwechselleistung Pm und ihre relative Stoffwechselleistung Pm rel beziehen.

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1 Leben und Umwelt auf dem Land

Noch auffallender ist ein Extremvergleich. Einer meiner Bekannten ist 2,12 m groß. Im Vergleich mit einem 1,05 m großen Pygmäen ergeben sich die Werte von Abbildung 1.4-6 rechts. Die Masseneinheit des Pygmäen setzt das 6,25-fache um wie die Masseneinheit des Nordischen Riesen. Wie kommt es zu solchen Unterschieden? Nochmals zur Stoffwechselleistung und zur spezifischen Stoffwechselleistung All diese Daten beziehen sich zunächst einmal auf Ruheumsätze, also nicht auf den Zustand starker körperlicher Arbeit. Das Problem „Grundumsatz und Körpergröße“ hat die Forscher schon kurz nach der Goethezeit beschäftigt. Eine der ersten Arbeiten stammt von Sarrus und Rameaux (1839). Später hat sich Bergmann (1847) damit beschäftigt: („Bergmann’sche Regel“), und der bekannte Physiologe Rubner (1883; „Rubner’sches Oberflächengesetz“). Ab den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts hat Kleiber sehr viel zu dieser Thematik beigetragen („Kleiber’sches Gesetz“), und die größte verarbeitete Datenmasse bietet Hemmingsen (1960). Seine Originalgrafik ist tausendmal für Lehrbücher umgezeichnet worden, so auch für unsere Abbildung 1.4-2. Hemmingsen hat auch nachgewiesen, dass ein Exponent von rund 0,75 „durchgehend“ gilt, von den Kleinsten bis zu den Größten. Wir können hier weder die Historien noch die immer noch andauernde wissenschaftliche Diskussion detailliert nachvollziehen, aber vielleicht die Aussagen, die hier zu Abbildung 1.4-4 gemacht worden sind, durch einen Satz von Kleiber (1961) verdeutlichen: „Hätte ein 10 t schwerer Elefant pro Gewichtseinheit den selben Grundumsatz wie eine 1 kg schwere Ratte, d. h. wäre V O2 = a ˜ M1,0, dann müsste die Oberflächentemperatur des Elefanten weit über 100 °C betragen um die anfallende Stoffwechselwärme abstrahlen zu können. Umgekehrt hätte die Ratte pro kg bloß den selben Stoffwechselumsatz wie ein Elefant, dann bedürfte sie eines 20 cm dicken Pelzes, um nicht sofort auf die Umgebungstemperatur abzukühlen.“ Die Abbildung 1.4-7 zeigt die spezifische Stoffwechselleistung als Funktion der Körpermasse bei unterschiedlich schweren Tieren. Dies wurde umgerechnet aus der Abbildung 1.4-2 und ist hier „nur“ über vier Größenordnungen aufgetragen. Die Kennlinien für Plazentatiere (Placentalia) liegt über derjenigen der Beuteltiere (Marsupialia); die höher entwickelte Plazentatiere haben durchwegs eine höhere Stoffwechselleistung. Die Steigungen dagegen sind praktisch gleich. Mit dem mittleren Exponenten für Homoiotherme gerechnet ergibt sich ein Durchschnittswert für den Exponenten b von - 0,266. Nach der Similaritätstheorie ergibt sich ein Expo-

1.4 Biologische Ähnlichkeit im Bereich der Stoffwechselleistung

63

nent b von -0,263. Nach der Empirie gilt: Größere Tiere haben damit einen kleineren relativen Stoffumsatz. Dies kann man leicht einsehen. ~ M 0,734 P o M0,734-1,000 o M-0,266. Nach der Empirie gilt Pm rel = m o 1,000 Mg ~M Nach der Ähnlichkeitstheorie ergibt sich die Dimension von Pm rel zu º ª M1L2 T 3 L2 T 3 » . Damit ergibt sich ( M 0,3 3 )2 · ( M 0,31 )-3 = M0,667 · M-0,937 « 1 ¼ ¬ M = M0,263, und der Exponent ist 0,263.

Abb. 1.4-7: Spezifische Stoffwechselleistung unterschiedlich großer Tiere aus den Gruppen der Planzentatiere und der Beuteltiere.

Geradezu dramatisch wird die Geschichte aber, wenn man sie in umgekehrter Richtung betrachtet, hin zu kleinen und kleinsten Lebewesen. Kein Wunder, wenn sich Physiologen Gedanken darüber gemacht haben, wie die kleinsten Säuger eine so extrem hohe spezifische Stoffwechselleistung schaffen. Der Innsbrucker Zoophysiologe W. Wieser schreibt dazu: „Das kleinste Säugetier, die 2 g schwere Etruskische Spitzmaus, Suncus etruscus (die Zahl stammt aus dem Jahre 1986; in der Zwischenzeit ist eine noch leichtere Fledermaus entdeckt worden; Anm. d. Verf.) verbraucht pro g Körpergewicht und pro Zeiteinheit etwa 175 mal mehr Sauerstoff als der Elefant, und dieser Faktor lässt vielleicht ahnen, in welch hohem Maße sämtliche Funktionen der kleinen Spitzmaus auf ihr außerordentliches Leistungsvermögen abgestimmt sein müssen. Ihre Lungenalveolen sind kleiner als die anderen Tiere; ihr Herz schlägt 1000 bis 1300 mal pro Minute, etwa 40 mal schneller als das Herz des Elefanten, und mit jedem Schlag bewegt das kleine Herz im Verhältnis 3 mal soviel Blut. Außerdem

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1 Leben und Umwelt auf dem Land

ist das Blutvolumen um 45 % größer, und das Hämoglobin vermag wesentlich mehr Sauerstoff an die Gewebe abzugeben als das des Elefanten. Die überproportionale Stoffwechselintensität kleiner Arten ist nur möglich, weil bei ihnen der Anteil der inneren Organe am Gesamtgewicht sehr viel höher ist als bei großen Arten. Dies hängt wieder damit zusammen, dass die Tragfähigkeit der Stützorgane mit dem Querschnitt, also mit der Länge2, zunimmt, die zu tragende Körpermasse jedoch mit dem Volumen, also mit Länge3. Daraus folgt, dass die stoffwechselträgen Stützorgane der Wirbeltiere überproportional, die stoffwechselintensiven inneren Organe jedoch unterproportional mit dem Körpergewicht zunehmen müssen. Für das Skelett gilt denn auch ein Massenexponent von b = 1,11, für die inneren Organe einer von 0,87. Für Säugetiere lautet die Abhängigkeit des Gewichts der inneren Organe (y) von Gesamtkörpergewicht (M) y = 0,17 ˜ M0,87, was soviel heißt, dass die stoffwechselaktiven inneren Organe bei der 2 g schweren Spitzmaus 14,6 % der Körpermasse ausmachen, bei einem 10 t schweren Elefanten jedoch nur 1,9 %. Innerhalb der inneren Organen sind die Dichten der Mitochondrien, die Oberflächen der mitochondrialen Cristae, sowie die Konzentrationen der geschwindigkeitsbestimmenden Enzyme (vor allem der Cytochromoxidase) direkt mit der Stoffwechselintensität verknüpft. Soweit unsere Kenntnisse reichen, lässt sich sagen, dass die rund 200-fache Spannweite der Stoffwechselintensität zwischen den größten und den kleinsten Säugetieren auf bekannte und messbare Veränderungen enzymatischer, zytologischer und physiologischer Parameter zurückzuführen ist. Trotzdem sollte man Unerwartetem gegenüber offen bleiben und die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass die gewaltige Leistungssteigerung der allerkleinsten Säugetiere auch die Beteiligung noch unbekannter Faktoren verlangen mag. Als solche kämen etwa besondere Enzymvarianten, neue Kontrollmechanismen und generell höhere Metabolitenkonzentrationen in Frage.“ (Leicht gekürztes Zitat: Literaturhinweise weggelassen). Der Autor hat sich seine eigenen Gedanken gemacht, warum die Natur wohl nicht mit dem 0,66-Exponenten, sondern mit dem einem Exponenten nahe 0,75 arbeitet. Er macht nähere Ausführungen dazu, dass der Grund wohl „in den unterschiedlichen Bedingungen zu suchen sind, unter denen sich einerseits die Ontogenie (Individualentwicklung), andererseits die Phylogenie (Stammesentwicklung) des Energiestoffwechsels vollzieht“. Mit der Besprechung der Stoffwechselleistung, die wir bei Landtieren eingeführt haben und bei Bewohnern des Luftmeers noch einmal bemühen werden, müssen wir hier aufhören. Wer sich für Phylogenie und Ontogenie und ihren Stoffwechseleinfluss näher interessiert, sei auf die „Bioenergetik“ des eben zitierten Autors verwiesen.

LAND–WASSER Die Fußsohlen-Gestaltung des Braunbären, Ursus arctos, erlaubt mit ihren Krallen und den stoßdämpfenden Polstern einerseits ein gutes Laufen (hoher Reibungskoeffizient µ) andererseits ist sie durch Abplattung und Haarbesatz auch für gelegentliches Schwimmen nicht ungeeignet hoher Widerstandsbeiwert cW). Man vergleiche dazu die Abbildungen 2.1-1 und 2.3-2 A.

2 Land und Wasser: Unterschiedliche Kraftübertragungen Wenn ein Tier laufen will, kann es sich ja offensichtlich „vom Boden abstoßen“. Bei einem schwimmenden Tier sieht das schon anders aus. Wovon kann es sich abstoßen? Während ein joggender Mensch den Weg unter sich ja nicht gegenüber der Nachbarregion nach hinten verschiebt, ist das bei einem schwimmenden Fisch wohl der Fall: er ergreift sich ein Wasserpaket und beschleunigt dies gegenüber dem umgebenden Ruhewasser nach hinten. Sind die Verhältnisse vergleichbar? Vergleichbar werden sie über Impulsbetrachtungen. Doch kann man schon erahnen, dass es das Wasserlebewesen schwerer haben wird als das Landlebewesen, weil es sozusagen „mit dem Schlupf“ leben muss, und das kostet zusätzliche Energie. 2.1 Abstoßen und Reaktionskraft-Nutzung Wenn ein Hundertmeterläufer vom Startblock aus startet (Abb. 2.1-1) ist die Schuhsohle seines Startbeines mit der Startblockoberfläche kraftschlüssig; sie rutscht auf ihr nicht herum. Im Moment des Starts überträgt der Läufer eine schräg abwärts gerichtete Kraft F auf dem Boden, und dieser überträgt nach dem ersten Newton'schen Axiom („Kraft ist gleich Gegenkraft“) eine entgegengesetzt gerichtete, gleichgroße Kraft F' auf den Läufer zurück. Diese kann man zerlegen in eine vorwärtstreibende horizontale Kraftkomponente Fhorizontal = FV und eine anhebende Komponente Fvertikal = FH. Der Läufer wird im Moment des Abstoßes also schräg nach vorwärts - oben schnellen. Er wird die vollständige eingesetzte Kraft F als F' letztlich wieder zurückbekommen, und wenn die Startanlage und die Starthaltung des Läufers clever sind. wird er auch einen großen Anteil als horizontale Schubkraft Fhorizontal daraus herausziehen. (In der Skizze ist die vertikale Komponente im Verhältnis zur horizontalen aus Übersichtsgründen zu groß gezeichnet). Die Produkte „Kraft mal Zeit“ beziehungsweise „Masse mal Geschwindigkeit“ bezeichnet man als Kraftstoß beziehungsweise Impuls. Kraftstoß und Impuls sind dimensionsgleich, wie man sich durch eine Dimensions- bzw. Einheitenbetrachtung klar machen kann: FT = MLT -2T = MLT -1 Ns = kg m s-2s = kg m s-1.

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2 Land und Wasser: Unterschiedliche Kraftübertragungen

Abb. 2.1-1: Kräfteverhältnis beim Start eines Läufers. Die Horizontalkomponente FV der Gegenkraft F’ treibt den Läufer vorwärts.

Wir sprechen in der Folge nur von Impulsen, auch wenn man manchmal ansatzmäßig den Begriff Kraftstoß gebrauchen sollte. Die beiden Größen hängen wie folgt zusammen: War der Impuls eines Körpers vor der Wirkung eines (gleichgerichteten) Kraftstoßes gleich J1, so ist er nach dessen Wirkung auf J2 erhöht: Ein Kraftstoß Ft führt zu einer Impulsränderung  J = J2 – J1. Bleibt die Kraft F während der Kontaktzeit t unverändert, so gilt J = mv = Ft. Ändert sich die Kraft während der Kontaktzeit, so muss man ein Zeitintegral ansetzen, aber die Prinzipbeziehungen bleiben dieselben. Daraus folgt in Worten: Die zeitliche Änderung eines Impulses und damit die Änderung der Geschwindigkeit einer Masse (die selbst im allgemeinen ja konstant bleibt) entspricht einer Kraft. Mit noch anderen Worten: Ein System kann eine Kraft erzeugen, wenn es in der Lage ist, eine Impulsänderung auszuüben, das heißt, einer Masse in der Zeiteinheit eine Geschwindigkeitsänderung aufzuprägen, beispielsweise diese Masse in der Zeiteinheit auf eine höhere Geschwindigkeit zu beschleunigen. 2.2 Impulsübertragung als Lokomotionsvoraussetzung auf dem Land In einem geschlossenen System bleibt die Summe der Impulse aller seiner Teile konstant, solange keine äußere Kräfte einwirken. Zwei Kugeln mit ihren Schwerpunkten S und unterschiedlichen Massen m1 und m2

2.2 Impulsübertragung als Lokomotionsvoraussetzung auf dem Land

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werden durch eine Feder auseinandergedrückt (Einschaltbild in Abbildung 2.2-1). Im Ruhefall gilt für die Summe der Impulse m1 v1 + m2 v2 = 0, im Bewegungsfall m1 v1 = -m2 v2. Die Kugel mit der kleineren Masse fliegt also mit der größeren Geschwindigkeit weg. Nach dem Schwerpunktsatz ändert sich dabei die Lage des gemeinsamen Schwerpunkts Sgem nicht; im vorliegenden Fall bleibt sie raumfest erhalten. Ein bekanntes Beispiel zum Impulserhaltungssatz ist die in viele „Sternschnuppen“ explodierende Silvesterrakete, deren gemeinsamer Schwerpunkt im Explosionszentrum erhalten bleibt.

Abb. 2.2-1: Impulsgleichgewicht im gedachten System „bewegter Mensch + bewegte Erde“. Auf dem Land ist Impulsübertragung schlupffrei möglich. Einschaltbild: „2Kugel-Versuch“. Vgl. den Text.

So, wie die beiden unterschiedlich schweren Kugeln Impulse übertragen, wobei der beiden gemeinsame Schwerpunkte erhalten bleibt, wäre es letztendlich auch, wenn sich ein Mensch über eine ähnliche Spannfeder von der Erde wegschnellen würde. Hier sind, wie die Abbildung 2.2-1 zeigt, die Massen nun freilich sehr unterschiedlich. Vom Prinzip her gilt aber auch hier der Im-

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2 Land und Wasser: Unterschiedliche Kraftübertragungen

pulserhaltungssatz, und wenn sich der Mensch „nach oben“ schnellt, muss sich die Erde unter ihm mit entsprechend geringer Geschwindigkeit „nach unten“ wegschieben. Solange der Mensch mit seinen Fußsohlen nicht durchrutscht, gilt diese Überlegung zumindest theoretisch streng. Am Land ist also Impulsübertragung „schlupffrei“ möglich. Als Halbwüchsige haben wir uns kurz nach dem Krieg tatsächlich einmal darangemacht, auf unserem gemütlichen Dorfbahnhof die Schienen mit – von den Amis geklauter – Schmierseife einzureiben und aus dem Gebüsch beobachtet, wie die mächtig arbeitende Lokomotive im Stand durchrutschte. Über die Lokomotivenleistung wird eine Radumfangskraft F erzeugt (Abb. 2.2-2 A), die sich als Reibungskraft F* auf den Schienen wiederfindet, wobei der Proportionalitätsfaktor µ in der Beziehung FR = µ · F* der Reibungskoeffizient ist. Im Fall des Schmierseifenbelags ist dieser praktisch gleich 0, so dass auch F* und damit die voraustreibende Gegenkraft Fv gleich 0 ist. Wenn Schienen vereisen, tritt dieses Phänomen auch ein. Die früheren Dampflokomotiven hatten einen Sandbehälter; ausrieselnder Sand hat dann für einen genügend großen Reibungskoeffizienten gesorgt, so dass eine vorwärtstreibende Kraft Fv auftreten konnte (Abb. 2.2-2 B).

Abb. 2.2-2 A, B: Anfahrende Dampflok. A Mit einer noch so großen Lokomotivenleistung (Krafteinsatz F) kann die Radumfangskraft F* nicht auf glatten Schienen (Reibungskoeffizient µ | 0) übertragen werden, so dass auch keine reibungsbedingte Vortriebskraft FV auftritt; die Lok „rutscht am Ort durch“. B Bei rauen Schienen dagegen wird eine vorwärtstreibende Gegenkraft F V = -F * generiert.

2.3 Impulsübertragung als Lokomotionsvoraussetzung im Wasser Im Fluid ist die Sache nun etwas komplexer. Nehmen wir an, ein Wasserkäfer, der mit den beiden gegen das Körperende gegeneinanderbewegten Hinterbeinen (Abb. 2.3-2 A) Schub erzeugt, stößt sich unter Wasser von einem Stein ab (Abb. 2.3-1 A). Solange Kraftschluss zwischen Beinen und Stein besteht, entspricht diese Situation dem 2-Kugel-Versuch aus dem Einschaltbild von Abbildung 2.2-1. Der Stein entspräche einer weitaus massiveren

2.3 Impulsübertragung als Lokomotionsvoraussetzung auf dem Wasser

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Kugel, die sich beim Abstoßen praktisch nicht bewegt, so dass sich der Käfer mit einer großen Geschwindigkeit v1 nach vorne bewegt. Das mechanische Analogon dazu wäre eine schwere, im Boden eingemauerte Wand und ein leichter, federabgedrückter Rollwagen (Abb. 2.3-1 A´). Im freien Wasser würden die schwimmhaarbesetzten, abgeplatteten Ruderbeine eine Portion Wasser der Masse m2 erfassen und als Ringwirbel mit der Geschwindigkeit v2 nach hinten beschleunigen (Impuls J2 = m2 · v2). Dadurch würde sich der Käfer der Masse m1 mit der Geschwindigkeit v1 in Gegenrichtung in Bewegung setzen (Impuls J1 = m1 · v1; Abb. 2.3-1 B). Das mechanische Analogon wäre eine auf Rollen stehende Wand, die nach hinten wegläuft, wenn der Rollwagen nach vorne läuft (Abbildung 2.3-1 B´ ).

Abb. 2.3-1 A-D: Gedankenversuche zum Schwimmstart eines Wasserkäfers und Rollwagen-Analogon. A Stößt sich ein schwimmender Wasserkäfer unter Wasser von einem Stein ab, hat man Impulsübertragung „wie am Festland“; vgl. Abb. 2.1-1 und 2.2-1. B Das Analogon ist eine feststehende Wand, von der sich über eine Druckfeder ein Rollwagen abstößt. C Im freien Wasser ist dagegen Impulsübertragung nur „mit Schlupf“ möglich. D Das Analogon im Vergleich mit B ist eine Wand auf Rollen.

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2 Land und Wasser: Unterschiedliche Kraftübertragungen

Wie groß v1 beim Käfer sein wird, das kann man nicht ohne weiteres sagen. Man kann den Käfer zwar wiegen (m1), aber ohne Spezialeinrichtung weder die Wassermasse m2 noch ihre Abdriftgeschwindigkeit v2 genau bestimmen. Auf jeden Fall wird, gleicher Krafteinsatz durch den Käfer vorausgesetzt, v1 von Abbildung 2.3-1 B kleiner sein als v1 von Abbildung 2.3-1 A; (B) läuft im Vergleich zu (A) „mit Schlupf“ ab. Da das Wasser im Gegensatz zur festen Wand „ausweicht“, kann sich der Käfer, bildlich gesprochen „nicht so gut abstoßen“. Doch erfordert auch dieses Abstoßen eine gewisse Leistung, die sich dann allerdings nicht in einer so großen Geschwindigkeit äußert. Durch die Beschleunigung des Wasserpakets nach hinten geht Leistung verloren. Der Wirkungsgrad einer solchen hydrodynamischen Schubbewegung wird also deutlich kleiner als 1 sein. Bei Wasserkäfern erkennt man das unmittelbar, wenn man über Filmaufnahmen die Trajektorien von Beinpunkten aufnimmt. Nach Abbildung 2.3-2 B beschreibt die Beinspitze Schleifen mit Rückwärtskomponenten; Der „Neutralpunkt“, wo sich die Beinlinien überkreuzen, liegt etwas außerhalb der Beinmitte. Beim „Abstoßen von einem Stein“ nach dem Schema von Abbildung 2.3-1 A läge der „Neutralpunkt“ an der Beinspitze, die auf den Stein drückt.

Abb. 2.3-2 A, B: Schwimmende Wasserkäfer (Dytiscidae). A Beinbewegung beim Furchenschwimmer Acilius sulcatus, Länge 1,7 cm. B Ruderbeinstellungen und Beinspitzentrajektorien beim Gelbrand Dytiscus marginalis, Länge 3,5 cm, Schwimmen nach rechts.

2.4 Formierung von Wirbelringen und Wirbelstraßen

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2.4 Formierung von Wirbelringen und Wirbelstraßen Sowohl schlagende Vogelflügel im Fluid „Luft“ als auch schlagende Fisch-Schwanzflossen im Fluid „Wasser“ beschleunigen Fluidmassen nach hinten und erzeugen damit eine horizontal gerichtete Schubkraft. Insbesondere an den Umkehrstellungen der Schlagflügel beziehungsweise Schlagflossen lösen sich periodisch Wirbel ab, die sich aus energetischen Gründen zu ringförmigen Wirbelstrukturen aufrollen. Wirbelringe und Impulsübertragung Wirbelringe sind bei Vögeln und Fischen (Abb. 2.4-1), auch bei Insekten,

Abb. 2.4-1 A, B: Wirbelringformierung. In Fluiden formieren sich bei schlupfbehafteten Impulsübertragungen jeglicher Art, etwa über Schlagflügel in Luft (A) oder Schlagflossen im Wasser (B) aus minimalenergetischen Gründen immer schlagperiodische Wirbelringe, deren Kenngrößen bei B eingetragen sind. Somit ist im Fluid Impulsübertragung letztlich nur über Wirbelringe möglich.

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2 Land und Wasser: Unterschiedliche Kraftübertragungen

qualitativ gut nachgewiesen. Eine Impulsübertragung im Fluid ist also mit der Genese von Wirbelringen oder Ringwirbeln gekoppelt; im Fluid ist Impuls-Übertragung letztendlich nur über solche Wirbelringen möglich. Die energetischen Gründen dafür lassen sich geben, führen aber weit in Wirbeltheorie hinein. Es soll deshalb bei dieser qualitativen Feststellung bleiben. Kennt man die Art, wie sich Wirbel im Nachlauf zu ring- oder leiterartigen Strukturen zusammentun (vgl. Abb. 2.4-4) genau, so kann man recht detaillierte Rückschlüsse auf den prinzipiellen Schlagablauf, die Energetik und die Effizienz der Kräfteerzeugung im Fluid machen. Voraussetzung für gerichtete Kraftübertragung Das Beispiel mit der Lokomotive (und der Schmierseife beziehungsweise dem Sand, Abb. 2.2-2 A, B) kann man durchaus auch auf das Wasser übertragen. Ein Boot kann ein noch so kräftigen Motor haben. Wenn die über die Welle eingeleitete Kraft nicht über einen günstigen Schuberzeuger auf das Fluid übertragen werden kann, nützt die gesamte Motorenleistung nichts. Befestigt man am Wellenende ein Quirl, so beschleunigt dieser das Wasser in Richtungen senkrecht zur Welle (Abb. 2.4-2 A). Die damit erzeugten hydrodynamischen Kräfte können folglich keine Vortriebskomponente haben. Ein guter Schiffspropeller dagegen saugt Wasser an und beschleunigt es im relativ zum Boot nach hinten, so dass eine „richtig gerichtete“ vorwärts treibende hydrodynamische Reaktionskraft F* auftritt (Abb. 2.4-2 B). Wegen der hydrodynamischen Verluste, wie sie beim Wasserkäferbeispiel (Abb. 2.3-1) an-

Abb. 2.4-2 A, B: Gedankenversuche zur Schuberzeugung im Wasser. Die Verhältnisse der Teilabbildung A entsprechen denen von Abbildung 2.2-2 A. Da der Quirl ein ungeeignetes Vortriebssystem ist, weil er das Wasser senkrecht zur Schwimmrichtung beschleunigt, kommt es nicht zum Auftreten einer Schubkraft Fv. Die Verhältnisse der Teilabbildungen (B) entsprechen denen von Abbildung 2.2-2 B. Da der Propeller das Wasser nach hinten beschleunigt, tritt eine nach vorne gerichtete Schubkraft Fv auf.

2.4 Formierung von Wirbelringen und Wirbelstraßen

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diskutiert worden sind, wird die erzeugte hydrodynamische Reaktionskraft kleiner sein. In der Beziehung F* = C · F ist der Proportionalitätsfaktor C der hydrodynamische Wirkungsgrad. Bei einem guten Wasserpropeller (Schiffsschraube) beträgt er etwa 0,8. Wenn keine weiteren Verluste durch Seitkräfte oder ähnliches eintreten (was freilich in der Regel der Fall ist), wird die erzeugt Schubkraft FV also entgegengesetzt gleich der resultierende hydrodynamischen Kraft F* sein. Gray’s Fischversuch Was der „Schlupf“ ausmacht, das hat der Altmeister der Bewegungsphysiologie, der englische Physiologe James Gray, bereits in den dreißiger Jahren mit einem berühmt gewordenen Versuch demonstriert, dem „Gray’schen Fischversuch“ (Abb. 2.4-3). Setzt man eine aus dem Wasser genommene Forelle oder einen anderen Fisch auf eine glatte, tropfnasse Platte, so schlängelt er zwar wild hin und her, kommt aber nicht vorwärts. Der Grund ist einsehbar, wenn man die Abbildung 2.3-1 A betrachtet. Bietet man hier aber eine Möglichkeit der Kraftübertragung (was man weniger mit Sand auf der Platte als mit Reihen eingeschlagener Nägeln erreichen kann), so wird die Forelle zwischen den Nägeln „durchflutschen“, weil sie auf diese Kräfte übertragen kann (sie verschieben sich ja nicht) und von vorwärtstreibenden Komponenten ihrer Reaktionskräfte profitiert. Man macht durchaus keinen prinzipiellen Fehler, wenn man sich das wässrige Umfeld der Forelle so vorstellt, dass es durch lauter Wassersäulen „á la Nägel“ gegliedert ist. Der einzige Unterschied: die Wassersäulen bleiben nicht ortsfest, sondern sind verschiebbar. Teile der Wirbelringe kann man somit als sich verschiebende Wassersäulen interpretieren (Abb. 2.4-4). Fortbewegung auf der Wasseroberfläche Bisher war die Rede von der Fortbewegung im Wasser selbst, also vom Schwimmen unter Wasser. Wasser bildet aber eine Grenzfläche zur Luft, das Oberflächenhäutchen. Hier herrschen ganz besondere Verhältnisse. Aufgrund der Oberflächenspannung kann ein leichter, hydrophober Körper auf dem Oberflächenhäutchen ruhen ohne unterzugehen. Mit eingefetteten Nähnadeln oder Rasierklingen kann man das bekanntlich ausprobieren. Es gibt auch Tiere, die auf diesen Oberflächenhäutchen leben, herumlaufen und herumspringen: die Wasserläufer. Auf Tümpeln und Teichen sieht man sie häufig, die etwa zentimeterlangen, längselliptischen Wanzen mit ihren vier Auslegerbeinen (das erste Beinpaar tragen sie als Raubbeine eng an den Körper geschmiegt). Ihre blitzschnellen Sprünge oder Fortbewegungs-Stöße erreichen sie dadurch, dass sie die Hinterbeine sehr rasch gegeneinander schlagen, wie Zeitlupenaufnahmen

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2 Land und Wasser: Unterschiedliche Kraftübertragungen

Abb. 2.4-3: Gray’scher Fischversuch. Sir James hat sich diesen „Fischversuch“ für eine christmas-lecture für Kinder ausgedacht. Auf glatter Oberfläche kommt der schlängelnde Fisch nicht vorwärts, wohl aber zwischen den Reihen eines „Nagelwalds“. Vgl. den Text.

2.4 Formierung von Wirbelringen und Wirbelstraßen

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Abb. 2.4-4: Idealisierte Darstellung einer Kármánschen Wirbelstraße hinter einem aktiv schwimmenden Fisch. Vertikalerstreckungen nur über die Schwanzflossenhöhe betrachtet (eigentlich sind das Ausschnitte aus Ringwirbeln, die sich zu einer verknickt-leiterartigen Nachlaufstruktur zusammenfügen). Die Analogie zum Gray’schen Nagelbrett (Abbildung 2.4-3) fällt unmittelbar auf.

ergeben haben (Abb. 2.4-5 A). Dass sie nicht untergehen ist erklärbar über die Ausgestaltung ihrer Beinspitzen (vgl. Abb. 2.4-5 C), die mit Zehntausenden kleinster, hydrophober Härchen besetzt sind. Wie aber kommen sie vorwärts? Beim Nach-hinten-Schlagen der Beine müssten diese auf der Wasseroberfläche durchrutschen wie die Lock auf den schmierseifebestrichenen Gleisen; der Reibungskoeffizient müsste nahe Null sein. Darnhofer-Demar (1969) hat das Rätsel gelöst. Demnach werfen die Wasserläufer beim Ruderschlag nach hinten eine Oberflächenwelle auf, die sich mit der Geschwindigkeit der Oberflächenwellen erster Ordnung (unter den genannten „Teichbedingungen“ etwa 21,3 cm pro Sekunde) nach allen Seiten ausbreitet. Wenn sie nun etwa so rasch nach hinten schlagen wie die Oberflächenwelle wegläuft, bleiben sie mit der Beinspitze immer auf dem „Hang“ dieser Welle, können sich somit abstoßen, eine Reaktionskraft entwickeln und nach vorwärts schnellen. Neuerdings ist von Hu und anderen (2003) ein anderer Mechanismus vorgeschlagen worden. Die leicht eintauchenden Beinspitzen sollen

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2 Land und Wasser: Unterschiedliche Kraftübertragungen

halbe Ringwirbel induzieren („Hufeisenwirbel“), die mit einer gewissen Geschwindigkeit v unter Ausbildung von Oberflächenwellen der Wellenlänge O nach hinten wandern. Somit kommt es zum Impulstransport und, ganz entsprechend den Phänomenen bei den besprochenen Fischen, zur Ausbildung einer nach vorne gerichteten Reaktionskraft. Der Impuls, den ein Wasserläufer von 0,01 g bei einer Geschwindigkeit von 100 cm s-1 besitzt, beträgt I = 1 g cm s-1 oder 10-5 Ns. Den gleichen Impuls erzeugt ein unter den gegebenen Randbedingungen nach hinten wanderndes Paar von Hufeisenwirbeln. Berechnet man dagegen den Impuls den die nach hinten laufende Oberflächenwelle transportiert, so kommt man nur auf ein Zehntel dieses Wertes. Die Autoren schließen daraus, dass der Massentransport in den selbsterzeugten Wirbeln der eigentliche Vortriebsfaktor ist (vgl. 2.4-5 D). Es gibt noch andere Tiere die auf der Wasseroberfläche leben und die dort ebenfalls heftige Sprünge ausführen, meist Startsprünge, die in den Flug übergehen. Gemeint sind Salzfliegen der Gattung Ephydra, wie sie auf Brackwassertümpeln in Meeresnähe zu Myriaden vorkommen können. Bei Salzfliegen habe ich in den flachen Tümpeln von Quinta do Lagos in Portugal die Vorgänge einmal videographisch registriert (im sogenannten Urlaub kann man sich solch hübschen Kleinigkeiten widmen). Etwa 1 cm unter der Wasseroberfläche wurde eine weißes Papierstückchen lokalisiert. Die Sonne projiziert die Eindellungsstellen der sechs Beine dann als rundliche schwarze Scheibchen auf das Papier (Abb. 2.4-5 E 1). Im Moment des Hochkatapultierens sieht man, dass die Eindellungsstelle der Mittelbeine breiter und langgestreckter geworden ist und nach hinten wandert (2). Ein Moment später sieht man die Oberflächenwelle auseinanderlaufen (3). Die Bildabstände dieser 3 Aufnahmen betragen ein 50stel Sekunde. Aus geeigneten Serien kann man die Beingeschwindigkeit und die Wellengeschwindigkeit in etwa bestimmen und findet, dass sie im Prinzip gleich sind. Daraus lässt sich schließen, dass die Beine mit „der Welle“ mitwandern, so dass wohl auch bei den Salzfliegen das Schema von Abbildung 2.4-5 B, C zutrifft, was für den Darnhofer-Demar´schen Ansatz sprechen würde. Welche der beiden Theorien immer zutreffen mag: Sicher ist, dass all diese oberflächenbewohnenden Tiere die Oberflächenspannung des Wasserhäutchens also nicht nur dazu benutzen, nicht unterzugehen. Für das Stehen wie die Ortsbewegung tragen sie einen hydrophobe, stark wasserabweisenden Besatz feinster Härchen an den Berührungsstellen. Beim Wasserläufer gibt es diese auch auf der Bauchseite, die ebenfalls gelegentlich aufliegt.

2.4 Formierung von Wirbelringen und Wirbelstraßen

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Abb. 2.4-5 A-D: Sprünge von Wasserläufern und Salzfliegen auf der Wasseroberfläche. A Übereinander gezeichnete Zeitlupen-Bilder von dem Wasserläufer Gerris lacustris. B, C Schema des Abstoßens von Gerris von einer selbst aufgeworfenen Oberflächenwelle nach Darnhofer-Demar (1969). C Schema des Impulstransports durch Hufeisenwirbel nach Hu et al. (2003). Kennzeichnungen: vWirbelpaar (WP) = 4 cm s-1; RWirbel | 0,4 cm; MGerris = 0,01 g; vGerris = 100 cm s-1; ImpulsGerris = MGerris · vGerris = 1 g cm s-1; MWP = 2,2 R3KM/3 = 0,26 g; ImpulsWP = MWP · vWP = 1 g cm s-1 | ImpulsGerris. Dagegen, gerechnet nach der Kapillarwellen-Theorie, ImpulsWelle | 0,05 g cm s-1 = 5 % von ImpulsGerris. Die Autoren schließen daraus, dass die den Wasserläufer vorantreibende Reaktionskraft im Wesentlichen auf den Impulstransport durch das Wirbelpaar zurückzuführen ist. D Drei aufeinander folgende Phasenbilder vom Absprung/Abflug einer Salzfliege von der Wasseroberfläche. Vgl. den Text.

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2 Land und Wasser: Unterschiedliche Kraftübertragungen

Doch kommen wir zurück zur Fortbewegung im Wasser selbst. Wasser ist offensichtlich ein schwieriges Substrat für die Fortbewegung. Das Tierreich hat es aber meisterhaft verstanden, mit diesen Problemen fertig zu werden. Allerdings ist es nicht gleichgültig, wie groß das betrachtete Tier ist und wie schnell es schwimmt. Ganz im Gegenteil. Das bringt uns auf das im folgende diskutierte Problem der Größen- und Geschwindigkeitsabhängigkeit von „ökologischen Einnischungen“ im Wasser. In dieser Hinsicht gesehen ist Wasser alles anderes als einheitlich, auch wenn uns ein Kubikmeter Wasser immer gleich erscheint, ob wir nun ein Fisch hineinsetzen oder ein Wasserfloh. Für den Fisch oder den Wasserfloh sieht die Sache aber ganz unterschiedlich aus, wie wir sehen werden.

WASSER Die planktische Kieselalge Asterionella formosa bildet durch Zusammenlegen von Einzelzellen sternförmige Konfigurationen aus. Durch Erhöhung des Sinkquotienten C auf einen Wert von etwa 4 reduziert die planktische Alge ihre Sinkgeschwindigkeit. Das ist in Abbildung 3.2-8 verdeutlicht.

3 Leben und Umwelt im Wasser In Abschnitt 2 wurden die spezifischen Probleme besprochen, die es Wasserlebewesen schwerer machen, sich bei der Ortsbewegung irgendwie „von der Umgebung abzustoßen“. Dies scheint in gleicher Weise für alle Wasserlebewesen zu gelten, ob sie groß oder klein sind, schnellbewegt oder langsam. Doch ist dies ein Trugschluss. Wiederum sind es physikalischen Grenzen, die beinharte ökophysiologische Randbedingungen aufbauen. Demnach kann man kurz sagen: Wasser ist nicht gleich Wasser. Wasser wirkt auf Organismen in ganz unterschiedlicher Weise als umgebendes Medium, je nachdem, ob sie winzige Langsamschwimmer oder riesige Schnellschwimmer sind, mit allen Kombinationen dazwischen. Es soll dies an drei typischen Möglichkeiten der „Einnischung“ klar gemacht worden. Zum einen kann man dies an Planktonorganismen ohne Eigenbewegung aufzeigen, die darauf achten müssen, in Seen möglichst langsam abzusinken. Zum anderen an -ebenfalls sehr kleinen- Bewohnern der Grenzschichten strömender Gewässer. Schließlich sind die Größen- und Geschwindigkeitseffekte als Reynolds-Einflüsse vergleichend dargestellt und decken die große Spanne ab zwischen Bakterien, die sich mit Geißeln im Wasser bewegen, und Walen, die mit ihrer riesigen Schwanzflosse Vortrieb erzeugen. Da die Fluideffekte gleichartig sind, treten sie nun in Wasser auf oder in der Luft, führen diese über eine Zwischenbetrachtung dann weiter zum Leben im Luftmeer. 3.1 Ist Wasser für Lebewesen „nischenmäßig“ strukturiert? Wenn sich eine Organismengruppe evolutiv entwickelt, versucht sie, möglichst viele „ökologische Nischen“ der Umwelt auszunutzen, sich dort einzupassen, zu spezialisieren und zu behaupten. So bewohnen Insekten den Ackerboden, das Laubstreu, die Wiesenoberfläche, Baumstämme, Blätter und Blüten; sie legen ihre Eier unter Steinvorsprüngen ab oder in Blütenböden, bohren in Holz oder minieren in Pflanzenstängeln. Auf dem Land, das für eine „evolutive Radiation“ ganz offensichtlich sehr viele strukturelle Nischen bietet, hat sich eine Vielzahl von ökophysiologischen Anpassungen zwischen dem Ambiente und auf dieses eingestellten Lebewesen entwickelt. Hier sind die Möglichkeiten der Einnischung ganz augenscheinlich (Abb. 3.1-1). Das Land bietet den Lebewesen eine Vielzahl von Nischen, die man als morphologische oder ökophysiologische bezeichnen kann. Tiere und Pflanzen können sich so spezialisieren, dass sie diese Nischen nutzen.

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3 Leben und Umwelt im Wasser

Wie aber ist es mit dem Wasser als Lebensraum? Wasser ist offensichtlich nicht strukturiert. Ein Kubikmeter Wasser, in Gedanken herausgenommen aus der durchsonnten Oberflächenregion des Bodensees, einer Flussmündung, oder der Tiefsee der Meere, ist eben Wasser, und seine physikalischen Eigenschaften werden durch Unterschiede im Salzgehalt, der Temperatur, dem Gasgehalt und dem Druck nicht dramatisch verändert. Setzt man einen Fisch in eine Badewanne voller Wasser, würde er sich schwimmend fortbewegen, ein Wasserfloh hüpfend, ein begeißeltes Bakterium wird seine Mikro-Spiralen ziehen. Warum eigentlich bewegen sich die Organismen so unterschiedlich? Mit anderen Worten: Bietet auch Wasser, ein für uns unstrukturiert erscheinendes Medium, Lebewesen, die darin leben und sich darin fortbewegen, spezielle Nischen, dann also „physikalische Nischen“? Das wird zu untersuchen sein.

Abb. 3.1-1: Überlegungen zur Einnischung auf offensichtlich strukturiertem Land und in offensichtlich unstrukturiertem Wasser.

3.2 Wie schaffen es kleine Plankter, so langsam abzusinken?

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3.2 Wie schaffen es kleine Plankter, so langsam abzusinken? Beginnen wir mit der Betrachtung kleiner Plankteer, die im allgemeinen keine Eigenbewegung aufweisen. Sie werden von Wasserströmungen mitgetragen (das zugrunde liegende griechische Wort SG)IFOJI bedeutet „das Herumgetriebene“). Ist das Wasser nicht bewegt, so werden die meisten Plankter langsam absinken, da sie spezifisch schwerer sind als Wasser. Worin liegt dabei das Problem? Bedeutung eines langsamen Absinkens für photosynthetisierende Plankter Eine winzige Grünalge, die im Wasser flottiert, wird photosynthetisieren. Wenn sie genügend Nährstoff aufgebaut hat, wird sie sich teilen, Tochterorganismen bilden. Dafür braucht sie einige Zeit. Seen werden seit jeher als Schichtungen betrachtet. Die obere Schicht, das Epilimnion, ist durchsonnt und warm. Sie misst wenige Dutzend Meter. Auf eine nur wenige Meter dicke Schicht, in der die Temperatur sehr rasch auf geringe Werte springt („Sprungschicht“) folgt die Tiefenregion des Sees, die dunkel und kühl ist (Hypolimnion). Wenn eine absinkende Grünalge durch die Sprungschicht gesunken ist, ist sie praktisch verloren. Im Jahreszyklus gibt es lange Phasen, während derer das Epilimnion und das Hypolimnion kaum durchgemischt werden; die Wassermassen bleiben getrennt. Einmal im Hypolimnium abgesunken kann die Alge mangels Licht und geeigneter Temperatur nicht mehr photosynthetisieren und stirbt ab. Je langsamer eine Alge absinkt, desto länger hat sie also Zeit, Reservesubstanz aufzubauen, sich zu teilen und damit fortzupflanzen. Einige Fortpflanzungsprodukte werden absinken und sind „verloren“ (nicht eigentlich für das Gesamtsystem: sie werden von den Organismen der tieferen Seeschichten gefressen beziehungsweise abgebaut), andere werden von gelegentlich einsetzenden Zirkulationsströmungen im Epilimnion wieder hochgehievt und können den Zyklus weiter fortsetzen. Je langsamer sie absinken, desto größer ist aber doch ihre Fortpflanzungswahrscheinlichkeit. „Betrachten wir die Kuh als Kugel“ Diesen schönen Spruch hat ein berühmter Physiker einmal gebracht. Die Physik kann versuchsweise abstrahieren, um Vorgänge rechnen zu können. Die Kugel ist ein geometrisch leicht zu beschreibender Körper, im Gegensatz zur Kuh. Günstigerweise sind viele kleine Planktonorganismen, ob Pflanzen oder Tiere, häufig angenähert kugelförmig; bleiben wir also ein wenig bei dieser geometrischen Form.

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3 Leben und Umwelt im Wasser

Die Abbildung 3.2-1 vergleicht Kugelorganismen, die einen Tausendstelmillimeter, eine Hundertstelmillimeter, einen Zehntelmillimeter und einen Millimeter im Radius r messen, und zwar als Tabelle (A) und Grafik (B). Für die Kugeloberfläche (A) und das Kugelvolumen (V) gelten bekanntlich die Formeln: 4 3 AKugel = 4 r2 K; VKugel = r K. 3 Die Gleichungen entsprechen der allgemeinen Form y = a xb mit a als Proportionalitätsfaktor und b als Exponenten. Dies sind Potenzfunktionen. Trägt man Potenzfunktionen im doppellogarithmischen Koordinatennetz auf, so strecken sie sich zu Geraden: Gleichung: y = a xb Logarithmiert: log y = log a + b log x. Transformiert: y* = Konstante ˜ Steigung ˜ x*.

3.2-1 A-B: Zur Kugel und zur Sinkgeschwindigkeit. A Tabellierte Kenngrößen. B Auftragung der Potenzfunktionen für die Oberfläche A, das Volumen V und das Oberflächenvolumenverhältnis A/V von Kugeln im doppelt logarithmischen Maßstab.

3.2 Wie schaffen es kleine Plankter, so langsam abzusinken?

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Dies letztere ist eine Geradegleichung mit der Konstanten (dem Ordinatenabschnitt) log a und der Steigung b. Wählt man Koordinatensysteme von vorneherein logarithmisch, so müssen sich solche Potenzfunktionen also als Gerade darstellen. Dies zeigt die Abbildung 3.2-1 B für die Kugeloberfläche A, die eine geringere Steigung aufweist (quadratische Abhängigkeit) und das Kugelvolumen V mit größerer Steigerung (kubische Abhängigkeit). Das sind einfache geometrische Aspekte. Was in unserem Zusammenhang nun aber interessant ist, das ist das Verhältnis A/V. Da der Nenner stärker mit dem Radius steigt als der Zähler, nimmt das Oberflächen-Volumen-Verhältnis mit größerem Radius ab; A/V ~ r-1. Auch dies zeigt die Abbildung 3.2-1 B. Diese geometrischen Beziehungen, so schlicht sie sein mögen, sind außerordentlich bedeutsam für alle möglichen physiologischen Funktionen. Wenigstens angesprochen sei bereits hier die weiter unten detaillierter betrachtete Atmungsfunktion. Kleinste Lebewesen bis etwa zu Zentimetergröße besitzen praktisch keine Atemorgane, größere, etwa ab 1 cm Körperlänge, aber wohl. Kann man das verstehen? Die Sauerstoffaufnahme kann bei einem kugelförmigen Kleinorganismus über die gesamte Körperoberfläche erfolgen; sie ist oberflächenproportional. Der Sauerstoffverbrauch im Stoffwechsel dagegen erfolgt in jeder kleinen Zelle, in jeder Volumeneinheit; er ist volumenproportional. Die auf den Sauerstoffverbrauch bezogene Sauerstoffaufnahme entspricht also dem Verhältnis A/V und damit dem Quotienten r2/r3 = r-1. Sie entspricht genau dem unteren Graphen in Abbildung 3.2-1 B. Wenn als kugelförmig gedachte Organismen immer größer werden, steht also, relativ gesehen, immer weniger Oberfläche für die Sauerstoffaufnahme zur Verfügung. Sie müssen folglich irgendwann damit beginnen, zusätzliche Oberfläche aufzubauen. Dies tun Wasserlebewesen mit stark gefältelten (und damit oberflächenvergrößernden) Ausstülpungen, und es bilden sich Kiemen. Landlebewesen reagieren mit entsprechenden Einstülpungen, und es bilden sich Lungen. Die Größe, bei welcher der Übergang erfolgt, kann man beispielsweise bei Würmern gut abschätzen; sie liegt, wie gesagt etwa bei einem Zentimeter. Bleiben wir aber beim Absinken. Für diese Betrachtungen ist es besonders interessant, die A/V (r)-Beziehung, den unteren Graphen von Abbildung 3.2-1 B, umgekehrt zu lesen, in Richtung eines geringeren Körperradius r. Der Graph steigt dann an. Könnte es nicht sein, dass die Sinkgeschwindigkeit in diesem Fall kleiner wird? Wie man sich vorstellen kann, liegt man mit einem solchen Plausibilitätsansatz „nach Gefühl“ nicht schlecht, denn wenn der Zählerwert A größer wird, erzeugte er mehr Bremsreibung (langsameres Absinken), und wenn der Nennerwert kleiner würde ergäbe sich weniger „Übergewicht“ (ebenfalls langsameres Absinken). Planktonorganismen mit einem größeren A/V Verhältnis soll-

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3 Leben und Umwelt im Wasser

ten also langsamer absinken, und sie täten dies, wenn sie kleiner wären. Kleinere Plankter sollten also langsamer absinken. Die Formeln von Ostwald und Stokes und das Absinken Wenn man die biologischen Literatur nach formelmäßigen Beziehungen für die Sinkgeschwindigkeit durchsieht, stößt man unweigerlich auf die „Ostwald’sche Schwebeformel“, die bereits an der Wende zum 20. Jahrhundert aufgestellt worden ist. In Abbildung 3.2-2 ist sie notiert. Eine Einheitenbetrachtung zeigt aber gleich, dass sie nicht stimmen kann. Rechts und links des Gleichheitszeichen müssten die Einheiten für Geschwindigkeit stehen (m s-1). Übergewicht und Formwiderstand sind Kräfte (Einheiten N), die sich herauskürzen. Es bleibt rechts des Gleichheitszeichens die Dimension des Kehrwerts einer Zähigkeit, also keineswegs die Dimension einer Geschwindigkeit.

Abb. 3.2-2: Die „Ostwald’sche Schwebeformel“.

Ganz im Gegensatz dazu ist die Stokes’sche Formel physikalisch korrekt (Abb. 3.2-3). Der englische Forscher Osborne Stokes hat sie bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts gefunden, als er beobachtet hat, wie langsam winzige Nebeltröpfchen in der Luft absinken. Danach ist der Reibungswiderstand beim Absinken proportional der Zähigkeit, dem Radius und der Sinkgeschwindigkeit. Das Produkt der Dimensionen dieser drei Kenngrößen entspricht dem Produkt aus Masse und Beschleunigung (Einheit : kg m s-2), und dieses ist nach dem zweiten Newton’schen Gesetz die Dimension einer Kraft (Einheit N). Das Stokes´sche Gesetz ist also eine klare Sache. Wenn man einen Stein von der Wasseroberfläche aus absinken lässt, wird er zunächst beschleunigen und damit seinen Widerstand erhöhen. Sobald die Widerstandskraft so groß geworden ist wie die abwärtstreibende Kraft (das Übergewicht), wird der Stein mit konstanter Geschwindigkeit abwärts sinken. Gleiches gilt für einen Planktonorganismus. Hier ist die bremsende Kraft praktisch ausschließlich Reibungswiderstand FWR, der bei einem Absinken mit konstanter Geschwindigkeit entgegengesetzt gleich dem Übergewicht FGÜ sein muss (Abb. 3.2-4). Beide Kräfte kann man ansetzen. In die Übergewichtskraft geht nach Abbildung 3.2-4 das Kugelvolumen, die Differenz der Dichten M

3.2 Wie schaffen es kleine Plankter, so langsam abzusinken?

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zwischen Kugelkörper und Wasser sowie die Erdbeschleunigung g ein, und die Reibungskraft entspricht der Stokes’schen Reibung. In sie geht die Zähigkeit C, der Radius r und die Sinkgeschwindigkeit v ein.

FWR= 6 ʌȘ r v (Reibungswiderstand FWR in N, Zähigkeit oder dynamische Viskosität Ș in kg m-1 s , Radius r in m, Geschwindigkeit v in m m s-1. Setzt man die Einheiten in das Produkt rechts vom Gleichheitszeichen ein, so ergibt sich die für ein Kraft zu erwartende Einheit N = kg m s-2; die Gleichung stimmt also dimensionsmäßig.)

Abb. 3.2-3: Einheitenbetrachtung zum Stokes’schen Gesetz.

g 4/3 ʌr3 (ȡKugelkörper - ȡWasser) = 6 ʌ Ș r v (Beim Absinken mit konstanter Geschwindigkeit gilt, dass die ,,abwärtstreibende Übergewichts-Kraft“ FGÜ = gVǻp = gV (ȡKugelkörper ȡWasser) = g 4/3 ʌr3 (ȡKugelform - ȡWasser) gleich der Reibungswiderstands-Kraft FWR ist: FGÜ = FWR.)

Abb. 3.2-4: Beim Absinken von kugelförmigen Planktonorganismen mit konstanter Geschwindigkeit ist die Übergewichtskraft entgegengesetzt gleich der Reibungskraft.

Die Zähigkeit C des Süßwassers von 20 °C beträgt etwa 10-3 kg m-1 s-1, für null Grad beträgt sie 1,8 x 103 kg m-1 s-1. Im Sommer ist die Zähigkeit größenordnungsmäßig also nur halb so groß wie im Winter, und deshalb sinken die kleinen Plankter im Sommer auch schneller ab als im Winter. Setzt man die Übergewichtskraft und die Reibungskraft (Abb. 3.2-4) gleich und löst nach der Sinkgeschwindigkeit auf, so ergibt sich die Gleichung von Abbildung 3.2-5. Die Sinkgeschwindigkeit der Kugel ist proportional dem Quadrat ihres Radius r. Mit dieser Erkenntnis könnte man versuchen, aus dem Plausibilitätsansatz nach Gefühl einen Funktionsansatz zu machen. Wie die Abbildung 3.2-6 zeigt, kann man r2 auch durch den Bruch (r3/r2)2 ersetzen. Da der

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3 Leben und Umwelt im Wasser

Zähler dem Kugelvolumen, der Nenner der Kugeloberfläche proportional ist, ist die Sinkgeschwindigkeit also auch proportional (V/A)2. Kleinere Sinkgeschwindigkeit bedeutet also, dass (V/A)2 kleiner oder eben (A/V)2 größer wird. Der letztere Quotient wird aber nach Abbildung 3.2-1 B größer, wenn die betrachteten Organismen kleiner werden. Mit kleinerer Organismengröße wird die Sinkgeschwindigkeit also „quadratisch kleiner“.

Abb. 3.2-5: Berechnung der Sinkgeschwindigkeit vsink von kugelförmigen Organismen nach Abb. 3. 2-4.

Abb. 3.2-6: Funktionsansatz über das Stokes’sche Gesetz, der die Sinkgeschwindigkeit vsink von Planktonorganismen mit dem Oberflächen-VolumenVerhältnis A/V verbindet.

Die Richtung unserer Plausibilitätsüberlegungen stimmte also schon, nur die Größe nicht. Die Sinkgeschwindigkeit wird wegen der quadratischen Abhängigkeit bei kleineren Organismen dramatisch deutlich kleiner als zunächst plausibel erschien. Der Sinkquotient „Betrachten wir die Kuh als Kugel“: die Rechnung bezog sich bisher auf Nebeltröpfchen in Luft und viele winzige Planktonorganismen, die

3.2 Wie schaffen es kleine Plankter, so langsam abzusinken?

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praktisch perfekte Kugeln sind. Es gibt jedoch auch abweichende Planktonformen. Da die Kugel der geometrische Körper ist, der im Verhältnis zum Volumen (und bei gegebener spezifischer Masse damit auch im Verhältnis zur Masse) die kleinste Oberfläche hat, können alle anderen Körper nur eine vergleichsweise größere Oberflächen haben, die also stärkere Bremskräfte erzeugten; sie müssten im Vergleich zu sonst gleichartigen Kugelorganismen langsamer absinken. Dies kann man berücksichtigen durch die Definition eines Sinkquotienten CKörper. Damit berechnet sich die Sinkgeschwindigkeit eines beliebigen Körpers aus dem Produkt der Sinkgeschwindigkeit einer Kugel und dem Kehrwert des Sinkquotienten dieses Körpers (Abb. 3.2-7). Wie groß sind nun die Sinkquotienten für Planktonorganismen?

Abb. 3.2-7: Erweiterung der Sinkgeschwindigkeit auf nicht kugelförmige Organismen über den Sinkquotienten CKörper .

Dies kennzeichnet die Abbildung 3.2-8. Chlorococcum infusionum ist eine Kugelalge, der also der Sinkquotient C = 1 zuzuordnen ist. Ganz im Gegensatz dazu steht die Sternchenalge Asterionella formosa, eine Kieselalge. Ein einzelnes Element dieser Gruppe hat einen Sinkquotienten von etwa 2,5, die ganze sternchenförmige Gruppe eine etwas größeren von etwa 3,9. Größere Sinkkoeffizienten und damit langsameres Absinken kann die Natur auch dadurch erreichen, dass sie ihre Formen besonderst langgestreckt macht. So gibt es im Plankton nadelförmig-langgezogene Algen aus unterschiedlichen Gruppen, beispielsweise die Kieselalge Synedra acus und die Zieralge Closterium kützingii; ihr Sinkquotient beträgt übereinstimmend etwa 4 - 5 (Abb. 3.2-8). Sinkquotienten sind also zwar unterschiedlich, aber doch nicht so drastisch. Sie unterscheiden sich höchstens um eine Größenordnung. Nun berechnen wir einmal die Sinkgeschwindigkeit für einen „durchschnittlichen Kugelplankter“. Die Abbildung 3.2-9 zeigt nach Sommer (1984) die Dichteverteilung für eine Reihe von Planktern. Die Grenze, in der sich Grünalgen und leichtere Kieselalgen in etwa überschneiden, liegt bei einer Dichte von rund 1,05 g ml-1 beziehungsweise 1,05 x 103 kg m-3. Errechnet für einen Kugelorganismus mit einem Radius von 10 µm bei „Sommerverhältnissen“, ergibt sich damit eine

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3 Leben und Umwelt im Wasser

Sinkgeschwindigkeit von vsink = 0,98 m d-1 also rund einen Meter pro Tag (Abb. 3.2-10). Für eine Schichtdicke des Epilimnions von etwa 15 m hätte ein solcher Organismus also rund zwei Wochen Zeit um Syntheseprodukte aufzubauen und sich zu teilen, wohl ausreichend für eine geregelte Fortpflanzung.

Abb. 3.2-8: Skizzen einiger kennzeichnender, langsam absinkender Planktonorganismen mit Angabe ihres Sinkquotienten.

3.2 Wie schaffen es kleine Plankter, so langsam abzusinken?

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Abb. 3.2-9: Dichteverteilungen bei Arten von Cyanobakterien (schräg gestreift), Grünalgen und Zieralgen (hell) sowie Kieselalgen (dunkel).

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3 Leben und Umwelt im Wasser

Abb. 3.2-10: Kennzeichnender Wert der Sinkgeschwindigkeit vsink für einen gegebenen Kugelorganismus.

Ist dies nun etwas Besonderes oder nicht? Um hier näher einzudringen müssen wir eine auch ökophysiologisch sehr wichtige physikalische Kenngröße betrachten, die Reynoldszahl. Die Reynoldszahl Nach Abbildung 3.2-11 ist die Reynoldszahl Re wie folgt definiert: v˜l . Hierbei ist die Geschwindigkeit v (m s-1) gleich der RelativRe = Ȟ geschwindigkeit zwischen dem betrachteten Körper und dem umgebenden Medium, in unserem Fall also gleich der Sinkgeschwindigkeit vsink, wenn man einen Organismus im Ruhewasser betrachtet. Die Größe l (m) entspricht einer typischen geometrischen Länge, etwa der Tierlänge bei einem Fisch oder der Rumpflänge bei einem Flugzeug. In unserem Fall kann man den Durchmesser d des kugelförmigen Planktonorganismus einsetzen. Der Nennerwert Q heißt kinematische Zähigkeit; er ist der Quotient aus Dichte und Zähigkeit des Mediums. Beide sind in etwas unterschiedlicher Weise temperaturabhängig; aus praktikablen Gründen werden sie gerne zusammengefasst. Die Dimension des Betrachtung

3.2 Wie schaffen es kleine Plankter, so langsam abzusinken?

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zeigt, dass der Quotient aus Dichte und Zähigkeit die Dimension „Fläche pro Zeit“ und damit die Einheit m2 s-1 aufweist (Diese unanschauliche Dimension resultiert als Strafe für das Kürzen).

Abb. 3.2-11: Beispiel für die Reynoldszahl, die der absinkende Organismus nach Abb. 3.2-10 aufweist.

Aus Tabellen kann man die kinematische Zähigkeit für jedes praktikable Fluid – Luft, Wasser, Öle etc. –, als Funktion der Temperatur entnehmen. Für Wasser von 20 °C beträgt der Wert – der einzige der hier interessiert – 1,01 ˜ 10-6 m2 s-1. Wie erkennbar haben der Zähler (Produkt einer Geschwindigkeit mit einer Länge, Einheit m2 s-1) und der Nenner die gleiche Dimension, so dass die Reynoldszahl eine „dimensionslose“ Kenngröße darstellt. Berechnet man die Reynoldszahl für das Beispiel von Abbildung 3.2-10, so ergibt sich nach Abbildung 3.2-11 der Wert 2,24 · 10-4, also ein recht kleiner Wert. Wir werden auf die Reynoldszahl im Detail zurückkommen, wenn wir im Abschnitt 3.4 Reynolds–Effekte besprechen, die das Leben im Medium „Wasser“ entscheidend prägen. Sie wurde hier nur deshalb bereits definiert, weil sie in ein Kennliniendiagramm eingeht, das die Sinkgeschwindigkeit von Planktonorganismen beschreibt. Kennlinien für die Sinkgeschwindigkeit In Abbildung 3.2-12 ist ein Kennlinendiagramm dargestellt. Hier ist im doppeltlogarithmischen Koordinatensystem die Sinkgeschwindigkeit

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3 Leben und Umwelt im Wasser

von Kugelorganismen über die Reynoldszahl aufgetragen, mit dem Parameter Dichte des Körpers, MKörper. Die Dichte des Wassers und seine Temperatur wurden mit 103 kg m-3 und 20 °C als konstant angenommen. Wie erkennbar und wie nach den bisherigen Betrachtungen ja auch nicht anders zu erwarten, ist nimmt die Sinkgeschwindigkeit mit kleinerer Reynoldszahl ab, wenn man sie für eine gewisse Dichtedifferenz betrachtet. In dem angegebenen Dichtebereich liegen nach Sommer (1984) für schwere Algen mit Kieselpanzer (Kieselalgen: dunkle Kreisscheibchen) und leichtere Algen, zum Beispiel Grünalgen, ohne solche Panzer (helle Kreisscheibchen). Die Kennlinien kann man noch nach links extrapolieren, da es auch noch kleineren Organismen gibt als die hier betrachteten. Für die allerkleinsten und zugleich allerleichtesten kommt man dann zu Sinkgeschwindigkeiten bis unter 1cm pro Tag, die natürlich nur im absoluten Ruhewasser zum Tragen kommen könnten.

Abb. 3.2-12: Auftragung der Sinkgeschwindigkeit vsink von Kugelorganismen über deren Radius r und Reynoldszahl Re mit dem Parameter Dichte U bei gegebener Dichte und Temperatur des umgebenen Wassers. Nicht verkieselte Algen helle Kreisscheiben, Kieselalgen dunkele Kreisscheiben. Kreuzsymbol: Rechenwert für das Beispiel von Abb. 3.2-10.

3.2 Wie schaffen es kleine Plankter, so langsam abzusinken?

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Die Steigung der Kennlinien entspricht der oben diskutierten quadratischen Abhängigkeit der Sinkgeschwindigkeit vom Radius. Die Kennlinien besagen, dass kleinere Organismen unter sonst konstanten Randbedingungen langsamer absinken, und zwar umso langsamer, je geringer ihre Dichtedifferenz zum Wasser ist. Wir finden damit unsere vorherigen Ansätze und Überlegungen bestätigt. Parameter der Sinkgeschwindigkeit Nach Abbildung 3.2-13 sind es vier Parameter, die die Sinkgeschwindigkeit bestimmen. An dreien davon kann die Evolution „drehen“. Demnach sollten die Radien möglichst klein, die Dichtedifferenzen möglichst klein, die Sinkquotienten möglichst groß und die Zähigkeit des Wassers möglichst groß sein. Die letztere ist für jede Jahreszeit vorgegeben; es bleiben also die Kenngrößen 1 bis 3. Wie sieht es mit deren Realisation aus?

Abb. 3.2-13: Ein besonders langsam absinkender Plankter sollte die vier angegebenen Forderungen erfüllen.

Die Abbildung 3.2-14 gibt die Grenzwerte an. Bezieht man diese Grenzwerte in eine Überlegung darüber ein, welche von den genannten Kenngrößen nun wirklich die wesentlichsten sind, so ergibt sich ein Bild, das überraschend deutlich ist. Absolut essentiell und damit gebieterisch bestimmend ist eine geringe Größe. Zwischen den kleinsten Organismen des Pikoplanktons und den großen, typischen Organismen der Plankton-Hauptmasse (Wasserflöhen beispielsweise: Länge rund 2 mm), ergibt sich wegen der quadratischen Abhängigkeit eine Beeinflussung der Sinkgeschwindigkeit im Verhältnis 1 : 108 (!). Mögliche Dichteunterschiede ergeben nur ein Verhältnis bis 1 : 43, mögliche Sinkquotienten nur 1 : 4 (vielleicht bis 1 : 8). Die Zähigkeiten unterscheiden sich im Sommer und Winter, wie gesagt, nur im Verhältnis 1 : 1,8. Damit wäre die Eingangsfrage im Grunde beantwortet. Es ist tatsächlich im wesentlichen die Kleinheit, die die Plankter vor dem zu raschen Absinken bewahrt. Es herrscht in dieser Hinsicht also ein sehr starker evolutiver Druck auf kleine Plankter; dementsprechend findet man sehr

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viele Mikro- bis Nanoformen. Wenn die Plankter zusätzlich recht leicht sind und durch Gestaltausformung günstige Sinkquotienten erreichen, ist das nicht verkehrt, doch nicht prinzipiell entscheidend. • Effekt der Größe r: Plankter sind etwa zwischen 0,2 µm und 2000 µm groß, unterscheiden sich also um den Längenfaktor 10-4. Wegen der quadratischen Abhängigkeit muss sich dann ihre Sinkgeschwindigkeit um den Faktor (104)2 = 108 (gleich Hundert Millionen!) unterscheiden. (vsink ĺ größer wenn r ĺ größer). • Effekt des Dichteunterschieds ǻȡ: Plankter, die spezifisch schwerer sind als Wasser, können Dichten etwa zwischen 1,005 • 103 und 1,3 • 103 kg m-3 aufweisen und damit in 20° warmem Süßwasser Werte für ǻȡ zwischen etwa 0,07 und 0,302. Wegen der linearen Abhängigkeit muss sich dann ihre Sinkgeschwindigkeit um den Faktor 0,302/0,007 = 43 unterscheiden (vsink ĺ größer wenn ǻȡ ĺ größer). • Effekt der Körpergestalt: Plankter unterscheiden sich im c-Wert etwa um den Faktor 4. Wegen der linearen Abhängigkeit muss sich dann ihre Sinkgeschwindigkeit ebenfalls um den Faktor 4 unterscheiden (vsink ĺ größer, wenn c ĺ kleiner). Abb. 3.2-14: Den Forderungen von Abb. 3. 2-13 entsprechende Kenngrößen.

Damit relativiert sich auch die Bedeutung der früher so detailliert diskutierten „Schwebefortsätze“. Man hat die Tatsache, dass beispielsweise Wasserflöhe oder Rädertiere im warmen Sommerwasser (geringere Zähigkeit o stärkere Absinktendenz) besonders lange und verzweigte, also oberflächenvergrößernde Fortsätze tragen, als „Saisondimorphismus“ bezeichnet. Diskutiert wurde dieser im Hinblick auf seinen Effekt auf langsameres Absinken einerseits, auf besseren Schutz gegen Gefressenwerden andererseits. Heute tendiert man mehr der letzteren Sichtweise zu. Es gibt Registrierungen, die zeigen, dass Beuterädertiere mit langen Fortsätzen von räuberischen Rädertieren weniger

3.2 Wie schaffen es kleine Plankter, so langsam abzusinken?

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leicht aufgenommen werden als solche mit kürzeren Fortsätzen, und dass Wasserflöhe mit besonders langen Fortsätzen von Kleinfischen wieder ausgespuckt werden. Absinken: Ideal- und Realsituation Noch einmal zurück zur Sinkgeschwindigkeit, dem Hauptthema für Abschnitt 3.2. In Abbildung 3.2-12 sind einige typische Sinkgeschwindigkeiten für Plankter aufgetragen worden. Sie reichen von kaum mehr als 1 mm pro Tag bis etwa 10 m pro Tag. Große, schwere Diatomeen durchmessen das Epilimnion also in nur ganz wenigen Tagen. Die größten und schwersten Diatomeen mit massivsten Panzern sind zwar Bodendiatomeen, doch gibt es auch schwere planktische Formen. Allein deren Existenz relativiert die ganze physikalische Betrachtung etwas. Nun kennzeichnet „absolutes Ruhewasser“ eine physikalisch zwar leicht definierbare, in der freien Natur aber in dieser apodiktischen Form eher selten auftretende Situation. Es wird immer Durchmischungsvorgänge geben, durch Wind oder durch unterschiedliche thermische Aufheizung (beispielsweise an dunklen Haldehängen induziert), deren Verdriftungsgeschwindigkeiten die Sinkgeschwindigkeiten sehr deutlich überschreiten können. Planktonorganismen werden dann mitgerissen und neu verteilt, bevor sie in Ruhigwasserperioden wieder absinken können. Schließlich gibt es ja auch Planktonorganismen, die relativ groß sind, wie fädigen Flocken von Blaualgen und was auch immer. Diese allerdings verfügen über spezielle Schwebehilfsmittel. Entweder scheiden sie Sauerstoffbläschen (die bei der Photosynthese entstehen) ab, welche sich im Gewirr verfangen und die Flocken oder Kolonien hochhieven. Andere Formen, zum Beispiel Zieralgen, arbeiten häufig mit besonders leichten Gallerten. Die Larve der Büschelmücke, Chaoborus plumicornis, ist gar zentimeterlang. Sie sinkt aber überhaupt nicht ab, weil sie vorne und hinten je eine Doppelblase besitzt, die mit Luft gefüllt ist. Ihren Auftrieb kann sie so genau regulieren, dass sie in einer Wassertiefe von einigen Dezimetern völlig ruhig schwebt. Die biologische Evolution schlägt der Physik zwar kein Schnippchen; sie richtet sich präzise nach physikalischen Parametern und Kenngrößen (was anders sollte sie auch: physikalische Gesetze gelten allüberall). Doch ist sie Meister darin, Randbedingungen und Kenngrößen in immer wieder neuer und überraschender Art zu kombinieren. „Physik bestimmt das Leben, aber das Leben bestimmt, wie es sich durch Physik bestimmen lässt.“ Das gilt auch für die Besiedlung wasserumströmter Oberflächen, die wir nun betrachten wollen.

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3.3 Leben in Grenzschichtnischen strömender Gewässer Jeder Stein auf dem Bachgrund hat seine eigene Strömungssituation. Besser gesagt, er erschafft sie sich selbst. Betrachten wir im Gedankenversuch einen ellipsoiden Stein von vielleicht 20 cm Länge, der frei umströmt werden soll (Abb. 3.3-1).

Abb. 3.3-1: Prinzipumströmung eines von links nach rechts frei umströmt gedachten ellipsoiden Steins.

Umströmung eines Steins im Bergbach An der Vorderkante des betrachteten Steins wird eine Stromlinie direkt aufprallen und sich nach allen Seiten teilen. Man spricht vom Staupunkt. Andere Stromlinien, die vor dem Stein gleichen Abstand haben sollen (Geschwindigkeit in der freien Strömung konstant), würden durch den Körper bis zu seiner größten Breite gegeneinander gedrückt, danach wieder auseinandergezogen. Enger aneinandergedrückte Stromlinien bedeuten kleineren Strömungsquerschnitt. Da Wasser nicht kompressibel ist, muss es an dieser Stelle schneller strömen, so dass ein gleichartiger Volumendurchsatz erhalten bleibt (Kontinuitätsprinzip); dies zieht Druckeffekte nach sich (s. Bernoulli-Gleichung) und wird an anderer Stelle betrachtet. Bis zur größten Breite wird der Stein also schneller umströmt, danach wieder langsamer, und gegen Ende pflegt die Strömung sich abzulösen beziehungsweise in einen verwirbelten Nachlauf umzuschlagen, den man (im übrigen nicht sehr gut) auch als „Totwasser“ bezeichnet. All diese Vorgänge spielen sich in einiger Entfernung vom Stein ab. Was aber geschieht direkt an dessen Oberfläche? Nach der Haftbedingung der Hydrodynamik ist die Strömungsgeschwindigkeit direkt an der Oberfläche – dort also, wo die innerste Molekularschicht des Wassers auf die äußerste Molekularschicht des Steins trifft – gleich Null. Messungen mit feinen Strömungssonden zeigen, dass aber schon einige wenige Millimeter über dem Stein die Geschwindigkeit der freien Außenströmung -1 herrscht, also vielleicht 2 m s in einem mittelschnell strömenden Bergbach.

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Angenommen, das ist schon bei einem Abstand von 1 mm von der Steinoberfläche der Fall. Dann muss in diesem einen Millimeter die Strömungsge-1 schwindigkeit von Null auf 2 m s angestiegen sein, wenn man von innen -1 nach außen geht; von dort an bleibt sie dann konstant auf 2 m s . Trägt man die Geschwindigkeiten nach Art der Abbildung 3.3-2 auf, so enthält man das sogenannte Geschwindigkeitsprofil an der Messstelle. Dies allerdings würde an der gekennzeichneten Stelle einen Knick machen, und das ist nicht einzusehen. Gefühlsmäßig würde man einen Kurvenverlauf erwarten wie er in Abbildung 3.3-2 gestrichelt eingetragen ist. Der Bereich, in der sich die Geschwindigkeit von Null bis nahe dem Wert der Außenströmung (definiert: 0,99 • v∞ ; v∞ Geschwindigkeit der freien Außenströmung) erhöht, heißt seit dem epochemachenden Ansätzen von Ludwig Prandtl zu Beginn des letzten Jahrhunderts „Grenzschicht“.

Abb. 3.3-2: Zur Vorstellung des Grenzschichtbegriffs.

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3 Leben und Umwelt im Wasser

Die Grenzschicht und ihre Strömungsbedingungen Die Dicke der Grenzschicht wird mit δ abgekürzt. Das Denkbeispiel in Abbildung 3.3-2 zeigt mit seiner gestrichelten Kurve schon in etwa durchschnittliche Verhältnisse bei einem rascher strömenden Bergbach und nach einer Umströmungsstrecke für den obengenannten Stein von etwa zehn Zentimetern, vom Staupunkt aus gerechnet. Hier beträgt die Ge-1 schwindigkeit der freien Strömung, wie gesagt, etwa 2 m s und die Grenzschichtdicke etwa 1 mm. Kleine Tiere und Pflanzen, die auf der Steinoberfläche sitzen – „klein“ bedeutet hier klein gegenüber der Grenzschichtdicke - werden sich also in einem Strömungsbereich aufhalten, in dem die Geschwindigkeit kleiner ist als in der freien Außenströmung. Sie werden deshalb geringeren Scherkräfte unterworfen sein und weniger leicht abgespült werden. Dies ist das Geheimnis des mikroskopischen Aufwuchses auf den Steinen rasch tosender Gebirgsbäche. Er hält sich in einer „ökologischen Geschwindigkeitsnische“ auf, eben im unteren Bereich der Grenzschicht, der mit der tosenden Strömung im Außenbereich wenig zu tun hat. Es ist eine friedliche Nische kleinerer Geschwindigkeit. Auch hier erweist sich also die Kleinheit als evolutive Lösung des Besiedlungsproblems, genau so, wie die Kleinheit von Planktonorganismen die evolutive Lösung für die Besiedelung des Epilimnions ist. Grenzschichten können laminar oder turbulent strömen. Bewegt sich ein gedachtes Fluidteilchen auf einer geraden oder stetig gekrümmten Bahn (Schema in Abb. 3.3-3 A, oben), und die benachbarten Teilchen tun das auch, so können sie sich nicht ins Gehege kommen, auch wenn sie mit unterschiedlicher Geschwindigkeit in Schichten aneinander vorbeiströmen. Man spricht dann von einer Schichtenströmung oder laminaren Strömung („lamina“: Schicht). Das Geschwindigkeitsprofil in der Grenzschicht sieht dann etwa so aus wie in Abbildung 3.3-3 A, unten. Die Teilchen können aber auch turbulent strömen. Ihrer mittleren Bewegungsrichtung sind dann statistische Bewegungsschwankungen nach allen möglichen Richtungen überlagert (Schema in Abb. 3.3-3 B, oben). Das in der gleichen Abbildung skizzierte Grenzschichtprofil sieht nun etwas „völliger“ aus; die Geschwindigkeiten in Wandnähe sind größer. Das liegt daran, dass die Teilchen sich gegenseitig anstoßen und dass damit letztlich „Strömungsimpuls“ von der Außenströmung gegen die Steinoberfläche transportiert wird.

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Abb. 3.3-3 A, B: Teilchenströmung und Grenzschichtprofile. A Laminar strömendes Teilchen und laminares Grenzschichtprofil. B Turbulent strömendes Teilchen und turbulentes Grenzschichtprofil.

Grenzschichten am umströmten Stein Bei der Umströmung unseres gedachten Steins von Abbildung 3.3-1 bildet sich nach dem Staupunkt in jedem Fall eine laminare Grenzschicht aus. Durch kleine Störungen, wie sie immer vorhanden sind, kommt es nach einiger Zeit zum Umschlag in die Turbulenz. Von dort ab strömt die Grenzschicht turbulent weiter, wobei sich ihre Dicke aufweitet. Unter ihr befindet sich aber nach wie vor eine sehr zarte laminare Unterschicht mit sehr geringer Strömungsgeschwindigkeit. Ein Aufwuchsorganismus wäre natürlich fein heraus, wenn er so klein wäre, dass er sich in dieser laminaren Unterschicht verbergen könnte. Grenzschichtverläufe, Grenzschichtdicken und der Umschlag laminar-turbulent und schließlich auch die Ablösung turbulenter (oder auch laminarer) Grenzschichten in der hinteren Region umströmter Körper sind sehr gut untersucht. Ein bekanntes Beispiel ist das „Reibungsblatt“, eine sehr dünne Platte, die vorne auch noch zugeschärft ist, und die genau parallel angeströmt wird. In Abbildung 3.3-4 sind an zwei Stellen Grenzschichtprofile eingezeichnet, einmal ein laminares, nach dem Umschlag ein turbulentes. Man erkennt die Aufweitung der turbulenten Grenzschicht und schließlich, schematisch, auch deren Ablö-

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sung. Die lokale Grenzschichtdicke kann man als Funktion der Lauflänge nach den unten eingezeichneten Formeln berechnen.

Abb. 3.3-4: Grenzschichten am „Reibungsblatt“, einer dünnen, vorne zugeschärften, exakt parallel angeströmten glatten Platte. Vgl. den Text.

Danach ist die Abbildung 3.3-5 gerechnet, in die für unseren Normstein, der hier nochmals eingezeichnet ist, an unterschiedlichen Stellen Grenzschicht-Kenngrößen eingetragen sind. Diese sind durchaus real, denn solche Steine und solche Strömungsbedingungen findet man in nicht zu langsam strömenden Bächen, speziell in Gebirgsbächen, allüberall. Die Sache kompliziert sich ein wenig dadurch, dass die Grenzschichtdicke nicht nur mit größerer Lauflänge größer wird, sondern auch bei kleineren Geschwindigkeit größer ist (Abb. 3.3-6). Für Kleinorganismen unter 1 mm Gesamtlänge bedeutet dies, dass sie bei geringerer Strömungsgeschwindigkeit einen doppelten Vorteil haben: Zum einen ist die Gefahr des Abreißens an sich kleiner, auch wenn sie aus der Grenzschicht herausragen. Zum anderen brauchen sie sich, wenn sie eine „Grenzschichtnische“ aufsuchen, nicht allzu genau in Oberflächennähe zu positionieren. Das letztere verdeutlicht das Einschaltbild in Abbildung 3.3-6. Dargestellt ist eine kleine Cymbella-Kieselalge auf ihrem Gallertstielchen. In der Grenzschicht mit der großen Dicke δ2 wird

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sie nur mit einem Drittel der Geschwindigkeit angeströmt wie in der Grenzschicht mit der geringen Dicke δ1.

Abb. 3.3-5: Ausgewählte Punkte an dem umströmten Stein nach Abb. 3.3-1: mit Angabe von Grenzschichtdicken, ausgewählten Grenzschichtgeschwindigkeiten und Strömungskennzeichnungen.

Wie dem auch sei: je enger an der Steinoberfläche, desto besser. In Abbildung 3.3-7 ist ein „Normkügelchen“ mit einem Durchmesser von 1/10 mm, wie es typisch ist für größere Glockentierchen und kugelige Algen, an unterschiedlichen Stellen einer Grenzschicht mit der Dicke δ = 1 mm gesetzt. Bei der halben Grenzschichtdicke wird es noch mit etwa 80 % der Geschwindigkeit der freien Strömung angeströmt, bei 1/4 der Grenzschichtdicke nur noch mit 40 %, bei 1/8 mit 20 % und bei 1/16 mit 10 %. Das gilt für laminare Grenzschichten mit ihrer angenähert linearen Steigung in Wandnähe.

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Abb. 3.3-6: Kennlinie für die Grenzschichtdicke δals Funktion der Reynoldszahl Re. Einschaltskizzen: Doppelter Vorteil für eine auf einem Gallertstielchen sitzende Kieselalge in einer Grenzschicht geringerer Strömungsgeschwindigkeit. Vgl. den Text.

Abb. 3.3-7: Denkbeispiel für den Widerstand eines kleinen, kugelförmig gedachten Organismus, der sich in einer gegebenen Grenzschicht an unterschiedlichen Stellen aufhält.

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Strömungswiderstand, Widerstandsbeiwert und Reynoldszahl Bisher wurde als Kenngröße die Strömungsgeschwindigkeit betrachtet, und es wurde stillschweigend angenommen, dass kleinere Strömungsgeschwindigkeiten auch kleinere Widerstände und damit Scherkräfte erzeugen, die den Aufwuchsorganismus abreißen könnten. Wie die obere Einschaltbezeichnung in Abbildung 3.3-9 zeigt, ist die Widerstandskraft FW von der Anströmgeschwindigkeit v aber quadratisch abhängig. Weiter ist sie von der Größe der Stirnfläche A des umströmenden Körpers und von der Dichte ρ des Mediums abhängig. Die letztere kann man für Wasser in erster Nährung als unabhängig von der 3 -3 Temperatur annehmen (ρ = 10 kg m ). Der Proportionalitätsfaktor in dieser Beziehung ist der Widerstandsbeiwert cw. Soweit so gut. Die Sache wird aber dadurch kompliziert, das der Widerstandsbeiwert cw von der Reynoldszahl Re abhängt (die in Abbildung 3.2-11 für ein Beispiel angeführt worden ist). Mit abnehmender Reynoldszahl aber steigt der Widerstandsbeiwert eines jeden Körpers in Abbildung 3.3-8 verdeutlicht an der Kugel – im Bereich der kritischen Reynoldszahl Rekrit (vgl. dazu Abb. 3.4-10) und „links davon“ mehr und mehr an. Das kompliziert die Sache etwas.

Abb. 3.3-8: Abhängigkeit des Widerstandsbeiwerts cw von der Reynoldzahl Re. Beispiel Kugel. Über einen großen Re-Bereich aufgetragen. 2 Nach FW ~ v sinkt der gefährliche Widerstand, wenn die Anströmgeschwindigkeit kleiner ist. Nach Fw ~ cw (Re) steigt dieser Widerstand aber bei kleinerer Geschwindigkeit (das heißt auch kleinerer Reynoldszahl für einen gegebenen Körper), weil cw dann größer wird. Es kommt nun darauf an, welcher Effekt überwiegt.

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Abb. 3.3-9: Änderung von Umströmungskenngrößen mit dem Wandabstand von einem umströmten Körper; reale und fiktive Annahmen. Vgl. den Text.

In der Nähe der kritischen Reynoldszahl Rekrit , die relativ hoch ist und weiter unter näher erläutert wird, kann man da seine Wunder erleben. Hier kann der Widerstand sinken, wenn die Strömungsgeschwindigkeit steigt! Für die kleinen Aufwuchsorganismen bei Reynoldszahlen geht die Sache aber doch gut aus, wie in Abbildung 3.3-9 dargestellt ist. Hier sind noch einmal Verläufe aufgezeichnet, die mit der Grenzschicht zu tun haben. Auf der Ordinate ist die normierte Grenzschichtdicke aufgetragen, in Bruchteilen der Gesamtdicke δ. Außerdem ist noch eine Skala für δ = 1 mm zugezeichnet, wie wir sie bisher verwendet haben. Auf der Abszisse sind Kenngrößen in Prozent aufgetragen. Die Werte dieser Größen am oberen Ende der Grenzschicht (bei δ = 1 mm) sind gleich 100 % gesetzt. Die Kurve (1) kennen wir schon; sie kennzeichnet den Verlauf der Grenzschichtgeschwindigkeit v. Die Kurve (2) kennzeichnet die nach der Newton’schen Widerstandsformel gerechnete Widerstandskraft FW* mit einem als konstant angenommenen Widerstandsbeiwert von 0,8. Dieser ist so etwas wie ein Mittelwert für den hier vorliegenden Reynoldszahlbereich. In der Kurve (3) ist die Zunahme des Widerstandsbeiwerts bei kleinerer Anströmgeschwindigkeit aufgetragen. Wie erkennbar steigt dieser von δ bis δ/16 auf fast 400 % an. Die Kurve (4) schließlich ist nach der Newton’schen Formel mit diesen veränderten Widerstandsbeiwerten cw (Re) gerechnet. Infolge der cw (Re) Abhängigkeit ist FW bei gegebener Grenzschichtlage (Ordinatenhöhe) nun etwas

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größer. Mit kleinerem v (d.h. geringerem Oberflächenabstand) werden sowohl FW* wie auch FW kleiner, doch nimmt der Re-bedingte Anteil an FW zu. Bei δ/4 ist FW rund doppelt so groß wie FW*, bei δ/8 etwa drei mal so groß usw. Je kleiner also der Oberflächenabstand des Aufwuchses ist, je kleiner damit auch die effektive Anströmgeschwindigkeit, desto geringer ist selbstredend der gefährliche Widerstand, wobei aber der relative Anteil der Reynoldszahlabhängigkeit des Widerstandsbeiwerts zunimmt. Dem kleinen Aufwuchsorganismus kann das alles egal sein. Nach wie vor gilt: je kleiner er sich macht, je stärker er sich „in die Grenzschicht duckt“, desto geringer ist die Gefahr, dass er von der Strömung abgerissen wird. Auch die zum Teil durchaus nicht unkomplexen physikalische Gegebenheiten sprechen nicht dagegen, dass die Evolution Aufwuchsorganismen in stark umströmten Fließwässergebieten besonders klein ausgestaltet. Vom Vorteil kleiner Aufwuchsorganismen Nun wäre man aber doch an einer typischen Relativzahl interessiert. Betrachten wir ein „Normkügelchen“ von 1/100 mm Durchmesser (entsprechend einem kleinen Glockentierchen oder einer kleinen Grünalge), das einmal an der oberen Grenze einer Grenzschicht angesiedelt ist (Re = 20, 10-1, cw = 240). Oben cw = 1,2), einmal in der laminaren Unterschicht (Re -1 wird das Kügelchen mit einer Geschwindigkeit von 2 m s angeströmt, hat aber einen vergleichsweise geringen Widerstandsbeiwert von nur 1,2. Unten -1 wird es zwar nur mit 1 cm s angesäuselt, hat nun aber einen geradezu riesenhaften Beiwert von 240. Vergleicht man die Widerstände für diese beide Fälle, so kommt man auf einen Faktor von 192. Wenn sich der Kugelorganismus vom oberen Grenzschichtende in die laminare Unterschicht verkriecht, sinkt sein Widerstand also auf , grob gesagt, ein 200stel, auf 0,5%. Als Kieselalge reicht ihm für den letzteren Fall ganz zartes Anheftungsgallert. Um im ersteren Fall überleben zu können, müsste er massiv dicke und zähe Gallertstränge zur Verbindung bauen, was er gar nicht schafft. In Abbildung 3.3-10 ist unsere sattsam diskutierte Geschwindigkeitsverteilung in einer typischen Grenzschicht nochmals aufgetragen. Dazu sind Mikroorganismen gezeichnet, die für diesen Biotop typisch sind, wenngleich sie zum Teil auch in anderen Biotopen vorkommen können. Die Legende gibt Auskunft über die Arten und ihre grobe Zugehörigkeit. In Abbildung 3.3-11 sind einige davon nach Mikrofotos abgebildet. Die kleinsten Cyanobakterien („Blaualgen“), Kieselalgen und Schalenamöben (Nr. 1-5) sind tatsächlich so winzig, dass sie im Bereich minimaler Geschwindigkeit einer laminaren Grenzschicht beziehungsweise in der laminaren Unterschicht einer turbulenten Grenz-

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Abb. 3.3-10: Vergleich der Größen einiger grenzschichtbewohnender Organismen mit einer „Normgrenzschicht“ von 1 mm Dicke bei einer Außenge-1 schwindigkeit von rund 2 m s . 1 Nostoc verrucosum (Cyanobakterie, 7 µm). 2 Chamaesiphon fuscus (Cyanobakterie, 20 µm). 3 Calothrix parietina (Cyanobakterie, 30 µm). 4 Fragilaria capucina (Kieselalge, 40 µm). 5 Euglypha laevis (Schalenamöbe, ≤ 60 µm). 6 Gomphonema acuminatum (Kieselalge, Körperlänge ≤ 70 µm). 7 Vorticella spec. (Glockentier, mit Stiel ≥ 60 µm). 8 Cymbella cistula (Kieselalge, Körperlänge 180 µm). 9 Stentor spec. (Wimpertier, ≤ 400 µm). 10 Collotheca calva (Rädertier ≤ 520 µm). 11 Cladophora spec. (Grünalge, Jungform, ≤ 1000 µm). 12 Ulothrix zonata (Grünalge, Jungform ≤ 1000 µm). 13 Lyngbia martensiana (Cyanobakterie, Jungform, ≤ 1000 µm).

schicht ohne sonderliche Anheftungsmechanismen existieren können; sie befestigen sich dort auch nicht. Das ist also durchaus nicht anders als auf einem Stein in einem stillen Waldsee. Ja, sie können sogar ohne weiteres auf der Steinoberfläche herumkriechen, wie das etwa die beschalten Amöben (5) tun. Die normalen Anheftungskräfte ihrer Schleimfüßchen reichen völlig. Dass nur Millimeterbruchteile weiter draußen eine im

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wahrsten Sinne todbringende (weil abspülende) Strömung tobt, das können sie gar nicht wahrnehmen. Für sie ist das heftige Fließwasser des Bergbachs ununterscheidbar vom kaum merklichen Wellengang am Ufer eines stilles Sees. Selbst Organismen, die halb so groß sind wie die genannte Grenzschichtdicke, etwa große Rädertierchen (10) oder Jugendformen von Grünalgen (11) können hier noch gut existieren, bedürfen allerdings wohlfunktionierender Klebedrüsen zum Festheften (10) oder wurzelartiges Verbindungswerk (11), um nicht abgerissen zu werden. Andere Fadenalgen wie etwa gewisse schwadenbildende Grünalgen und Blaualgen (12), (13) ragen dagegen weit aus der Grenzschicht heraus und flottieren im freiem Wasser. Ihre Enden werden dadurch regelmäßig abgerissen, aber sie wachsen immer weiter nach. Dies ist eine ganz andere biologische Art, mit der Strömung umzugehen.

Abb. 3.3-11: Beispiele für mikroskopische Aufwuchsorganismen, die in Grenzschichten von Fließgewässern leben (können). Nr. 2 in Gallertpolstern, Nr. 8, 9, 10 auf Gallertstielen, Nr. 13 in flächigen Lagern, Nr. 23–27 langgestielt, Nr. 28–32 kurzgestielte Gehäuse, Nr. 33 und 35 temporär anheftend. Bei längeren fädigen Strukturen Länge nicht angegeben. Fädige Bakterien: 1 – Beggiatoa leptomitiformis. Blau“algen“: 2 – Nostoc spec., d ≈ 50 µm, 3 – Phormidium unicatum. Kieselalgen: 4 – Nitzschia sp. (?), l ≈ 40 µm, 5 – Meridion circulare, l ≈ 60 µm (und Gomphonema sp.), 6 – Synedra vaucheriae, l ≈ 40 µm, 7 – Eunotia sp., l ≈ 80 µm, 8 – Gomphonema sp., lgesamt ≈ 80 µm, Stiel dunkel, 9 – Cymbella ventricosa, l ≈ 30 µm, 10 – Cymbella rostrata, l ≈ 180 µm, 11 – Cymbella (Encyonema) in Gallertfaden. Grünalgen: 12 – Auswachsende Grünalge mit Haftapparat, l ≈ 40 µm, 13 – Coleochaete scutata, d ≈ 20 µm, 14 – Draparnaldia glomerata, 15 – Microthamnion sp., 16 - Cladophora glomerata. Goldalgen: 17 – Hydrurus foetidus. Rotalgen: 18 – Batrachospermum moniliferum. Fädige Zieralgen: 19 – Desmidium swartzii, bei geringer Geschwindigkeit in Moorgräben, 20 – Desmidium cylindricum, bei geringer Geschwindigkeit in Moorgräben. Pilze: 21 – Saprolegnia thureti, 22 – Dendrospora sp. Wimperntiere: 23 – Vorticella sp., l ≈ 130 µm, 24 – Vorticella sp., l ≈ 180 µm, 25 – Opercularia sp., lKöpfchen 50 ≈ µm, 26 – Zoothamnium sp., lKöpfchen ≈ 50 µm, 27 – Carchesium sp. (?), lKöpfchen ≈ 60 µm, 28 – Acineta sp., l ≈ 200 µm, 29 - Tokophrya sp., l ≈ 50 µm, 30 – Cothurnia sp. (?), l ≈ 80 µm, 31 – Cothurnia sp., l ≈ 70 µm, 32 – Platycola coelochila, l ≈ 120 µm, 33 – Stentor sp., l ≈ 800 µm. Rädertiere: 34 – Collotheca sp., l ≈ 800 µm, 35 – Rotaria sp., l ≈ 700 µm. Moostiere: 36 – Polypid eines Moostierchens, l ≈ 1000 µm, bei geringer Geschwindigkeit.

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Grenzschichten: Ideal- und Realbedingungen Auch an dieser Stelle muss allerdings die globale Aussage wieder relativiert werden, genauso, wie wir das beim Absinken kleiner Planktonorganismen in stillen Seen gesehen haben. Grenzschichtausformungen „nach Art des Lehrbuches“ kommen vor und wurden in der Natur auch ausgemessen, sind aber beileibe nicht die Regel. Kleinste Oberflächenrauhigkeiten verändern die lokale Strömung so, dass sich örtlich immer wieder unterschiedliche Strömungsnischen ausbilden, selbst innerhalb einer sich formierenden Grenzschicht. So bilden sich in Tälern hinter (mikroskopisch kleinen) Vorsprüngen stehende Wirbel aus (Abb. 3.312 A), die dort walzenförmig rotieren, wobei die kleinste Geschwindigkeit sogar in einigem Abstand vom Untergrund herrschen kann. In einer Nische gegebener Geometrie wird dann auch eine ganz bestimmte Größe und damit - da die Größen von Arten oft nicht dramatisch variieren eine ganz bestimmte Art oder eine Gruppe weniger, hier genau hineinpassender Arten zu finden sein. Auch so etwas ist durch Untersuchungen in der freien Natur bestätigt worden. Dies gilt auch für Turbulenzeffekte, Nahrungsaufnahme-Phänomene und für die Bewohner des „Sandlückensystems“. Dafür einige Beispiele. Wir haben uns bisher im wesentlichen mit laminarer Strömung befasst. Dittrich und Träbing (1999) haben zusammengestellt, welche turbulenzbedingte Prozesse in kleinen Fließgewässern auftreten können. Die Abbildung 3.3-12 B zeigt – im Vergleich mit Grenzschichtprofilen und sich formierenden „Hufeisenwirbeln“ – Modellvorstellungen darüber, wie sich periodische Turbulenz-bursts ausbilden können. Ein Hufeisenwirbel zerfällt und bildet sich periodisch aufs Neue. Diese Prozesse können beachtliche Einflüsse haben, sowohl auf die Sohlenstabilität des Fließgewässers, als auch auf seinen Sedimenttransport, den Porenwasserraum und die Lebensgemeinschaften des sogenannten Interstitials im feinen Sandlückensystem. Mit den sich ablösenden Turbulenz-bursts sind Druckschwankungen verbunden, die sich bis in die Sandlücken hinein auswirken. Schon bei stationärer Umströmung zeigt sich, dass im Bereich der rauen Gewässersohlen starke Abweichungen vom „logarithmischen Wandgesetzt“ (hier als laminare Geschwindigkeitsverteilung in der Grenzschicht bezeichnet) auftreten. Der Sohlenbereich ist demnach in drei Teile zu gliedern, dem klassischen Grenzschichtbereich, einer Rauhigkeitsunterschicht und einer bis tief in das Sandlückensystem hineinreichenden zweiten Unterschicht bei der noch eine mittlere Geschwindigkeit größer als Null vorherrscht und die mit größerer Tiefe linear abnimmt.

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Abb. 3.3-12 A-C: Allgemeines und Besonderes. A Der Realfall relativiert den Idealfall. B Modellvorstellungen zur Ausbildung von Turbulenz-bursts. C Wirkung einer turbulenten Druckschwankung.

Die genannten Turbulenz-bursts induzieren Geschwindigkeits- und Druckschwankungen, die wiederum die Sohlenschubspannung periodisch verändern. Im Interstitial sind diese Druckschwankungen noch im Bereich etwa des dreifachen des mittleren Rauhigkeitsdurchmessers auffallend (dieser liegt im Millimeterbereich). Damit wird periodisch Wasser in den Porenwasserraum hineingedrückt und herausgesaugt.

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Wenn eine Überdruckdelle erscheint, muss das Porenwasser an anderer Stelle wieder herausgedrückt werden (Abb. 3.3-12 C). Damit würden auch die kleinsten Bewohner des Interstitials herausgedrückt, besäßen sie nicht Mechanismen zum Festheften, beispielsweise Klebepapillen. Aber auch kleine Organismen auf der Substratoberfläche dürften sich weniger auf eine konstante Anströmgeschwindigkeit (wie im laminaren Fall) einstellen, sondern Mechanismen entwickeln, wie sie mit raschen und beträchtlichen Druckschwankungen fertig werden ohne dass sie abgerissen werden. Aspekte dieser Art sind noch wenig untersucht. Tiere – etwa die Larven der Gattung Simulium –, die auf einem Substrat sitzen und mit Filterborsten Plankton aus der Strömung herausfischen (Abb. 3.3-13), erzeugen allein durch ihre Anwesenheit eine Störung der Umströmung, die sich positiv oder negativ auswirken kann. Ein geschicktes Zusammenspiel von Körperbau, Körperhaltung und Fächerspreizung sorgt für Strömungsaufspaltung und rückströmende Wirbel, die die Durchströmung des Fangfächers und damit dessen Effizienz verbessern können. Dies gilt für höhere Strömungsgeschwindigkeiten. Bei Geschwindigkeiten kleiner als 8 cm pro Sekunde fließt dagegen praktisch kein Wasser durch den Fächer. Dies ist denn auch die untere Strömungsgeschwindigkeit, bei der die Larven der genannten Simulium-Art noch auftreten können.

Abb. 3.3-13: Larve von Simulium vittatum in der Strömung, die sie durch ihre Anwesenheit beeinflusst. Vereinfachte Umzeichnung.

Einen ganz besonderen Lebensraum stellen beispielsweise die flottierenden Schwaden des untergetaucht lebenden Wasser-Quellmooses Fontinalis antipyretica dar. Diese flottierenden Schwaden schließen

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Räume ein, die sich zwar mit deren Schwingungen verändern, in denen aber durchgehend ganz andere Bedingungen herrschen können als in der Außenströmung. Dort halten sich beispielsweise gerne Kleinlibellen-Larven auf, die ansonsten abgetrieben würden. Die Schwaden selbst sind starken, periodisch oder zufällig wechselnden Strömungskräften ausgesetzt, die an den Stämmchen stark zerren und die Enden heftig schwingen lassen. Biehle et al. (1998) haben dazu Messungen ausgeführt und bemerkenswerte biomechanische Eigenschaften dieser MoosArt festgestellt. Der Elastizitätsmodul der Stämmchen schwankt zwischen 130 und 630 MPa; die kritische Längung vor dem Abreißen beträgt beachtliche 12 %, und die Reißspannung etwa 23 MPa. Die ZugBruchkraft der Hauptstämmchen von einem mittleren Durchmesser von etwa 0,4 mm beträgt nicht weniger als 2,3 N, während die Seitästchen bereits bei einer Zugkraft unter 2 N abreißen. Um die Pflanze von ihrem Substrat loszureißen benötigt man zwischen 1 und 1,4 N. Der Widerstand solcher Schwaden steigt erwartungsgemäß mit dem Quadrat der Strömungsgeschwindigkeit und außerdem mit der Länge der Schwaden. Bei 15 cm Länge und 30 cm pro Sekunde Strömungsgeschwindigkeit beträgt er nur etwa 0,05 N, so dass die Pflanze bei mittleren Randbedingungen also noch sehr gute Sicherheitsfaktoren gegen das Zerreißen aufweist. Ein Schwaden von einem halben Meter Länge -1 mit zwei Seitästen erfährt bei Strömungsgeschwindigkeiten von 1,5 m s (wie sie bei Schneeschmelze ohne weitere auftreten können) eine Zugkraft von etwa 1,7 N. In solchen Extremfällen ist die Sicherheit gegen Abreißen also ausgereizt. Wie häufig in der Natur zeigt sich auch hier, dass „Grenzbedingungen“ in Kauf genommen werden, statt dass unter großem Masseneinsatz gegen Brüche angekämpft wird. Ähnlichkeiten mit der Reißfestigkeit von Sehnen der Sprungmuskulatur von Heuschrecken fallen auf: Es kommt nicht auf das Einzelindividuum an, sondern auf die Erhaltung der Art. Von den obengenannten „einfachen“ Strömungs-Randbedingungen gibt es also viele und vielfältige Abweichungen. Nichtsdestoweniger gelten die hier gemachten Ausführungen im Prinzip. Und mehr als Prinzipien kann die Biophysik sowieso nicht herausarbeiten. Wie lebt sich’s „in der Grenzschicht“? Dem speziell biologisch Interessierten sei die genauere Durchsicht der Abbildung 3.3-11 und ein detaillierter Vergleich mit der Legende empfohlen. Interessant sind beispielsweise die Gallertstielchen von Kieselalgen (10), (9), die im Phasenkontrast dunkel herauskommen (8). Sie schieben die Kieselalge etwas vom Untergrund weg, sind aber so zäh, dass sie nicht leicht abreißen. Möglicherweise ist die direkte Substratbesiedelung, die aus strömungsmechanischen Gründen die beste wäre, aus biologischen Gründen für die Alge

3.3 Leben in Grenzschichtnischen strömender Gewässer

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gar nicht so gut. Ein gewisser Bodenabstand kann beispielsweise günstigere Frischwasserversorgung bedeuten, oder aber ein Herausheben aus sehr bodennahen, fädigen oder flächigen Lagern beispielsweise von Schwefelbakterien oder Grünalgen. Diese könnten die Kieselalge sonst stark beschatten, so dass sie zu wenig photosynthetisieren kann. Andere Kieselalgen sitzen aber mit einem Ende dem Substrat direkt auf, und zwar mit verhärteten Klebetröpfchen (6) – warum gerade diese Arten? Glockentierchen sitzen auf langen, kontraktilen Stielen (23), (24). Wenn sie sich ausstrecken und zu flimmern anfangen, das heißt, ihre Wimpern zur Nahrungsaufnahme spielen lassen, kommen sie auch in größere Strömungsgeschwindigkeiten, werden abgebogen und geraten bei turbulenten Grenzschichten ins Zittern, worauf sie sich blitzartig wieder zusammenziehen. Nach wenigen Sekunden beginnt das Spiel von Neuem. Vielleicht müssen sie deshalb immer wieder „mutvoll“ in heftigere Strömungsbereiche vordringen, weil dort in der Zeiteinheit mehr Bakterien mitgespült werden, von denen diese Konsumenten leben. So lange auswachsende Grünalgen noch sehr klein sind, erscheint der Haftapparat, den sie ausbilden (12), überdimensioniert groß. Man muss aber bedenken, dass sie schließlich lange Fäden ausformen, die weit aus der Grenzschicht herausragen und mit eben diesem Haftapparat immer noch sicher verankert werden müssen. In ähnlicher Weise bilden manche Algen (17) dicke, gallertige Fäden, die gegen die Basis hin immer größere Dicke erreichen, weil dort auch die Biege- und Scherspannungen, die von der weit in die Strömung hineinragenden Alge ausgehen, am größten sind. Manche Kieselalgen leben in sehr zähen Gallertröhrchen (11), so dass sie sich weit von der Oberfläche entfernen können und von der Strömung gar nicht direkt getroffen werden. Ähnliches gilt für Rädertiere, die sich sehr lange ausziehen können (35), dabei aber mit dem hinteren Klebefuß angeklebt bleiben. Wenn ihnen die Strömung zu stark ist, kugeln sie sich blitzartig ab und strecken sich anschließend vorsichtig wieder aus. Schließlich bilden sich gewisse tonnenbewohnende Urtiere (31), (32) ihre eigene strömungsgeschützte Nische. Sie sind gar nicht so klein, und die Tonne ist deshalb sehr massiv am Untergrund angeklebt. Das Bakterien einstrudelnde Räderorgan kann vorsichtig bis in die freie Strömung hinausgeschoben aber auch blitzartig eingefahren werden, wenn diese zu stark zerrt. Wahrhaft ein Kosmos im kleinen, ein Mikrokosmos, der die Strömungsphysik verinnerlicht hat.

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3 Leben und Umwelt im Wasser

3.4 Fortbewegung und Reynolds-Nischen Zum dritten Mal in dieser Betrachtung über Gewässer als Umwelt kommen wir auf die Reynoldszahl zurück. In Abbildung 3.4-1 (A) ist sie als Koeffizient zweier Kräfte angesetzt, nämlich von Trägheitskräften T und Reibungskräften oder Zähigkeitskräften Z. Die Reynoldszahl und das Verhältnis Trägheitskräfte/Zähigkeitskräfte In Abbildung 3.4-1 B ist als Beispiel eine mit der Geschwindigkeit v schwimmende Libellenlarve dargestellt, die aus dem Enddarm über eine Art Düse ein vorher langsam eingesogenes Wasservolumen kräftig und rasch ausspritzt. Sie bewegt sich durch Rückstoß (Ausstoß der Fluidmasse M in der Zeit t) vorwärts. Wo Massen in Bewegung gesetzt worden sind wie bei diesem Rückstoßprinzip, spielen Trägheitskräfte eine Rolle. Auf der anderen Seite wird die Larve durch Wasserschichten umströmt, die unterschiedliche Geschwindigkeiten aufweisen und wegen der realen Zähigkeit des Wassers Reibungs- oder Zähigkeitskräfte zwischen sich und letztlich der Körperoberfläche austauschen (Schubspannung O). Osborne Reynolds hat die Beziehung zwischen der später nach ihm benannten Zahl und dem Quotient dieser Kräfte bereits im 19. Jahrhundert vollständig herausgearbeitet.

Abb. 3.4-1 A, B: Zur Reynoldszahl. A Definition der Reynoldzahl Re als Quotient der Trägheitskräfte T und der Zähigkeitskräfte Z. B Schwimmende Libellenlarve.

Interessant sind neben dem Übergangsbereich, in dem beide Kräfte in etwa gleichgroß sind (um Re = 100 = 1) vor allem die Extreme. Bei sehr großen Reynoldszahlen sind die Zähigkeitskräfte Z vernachlässigbar,

3.4 Fortbewegung und Reynolds-Nischen

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und die Lokomotion beruht vollständig auf Trägheitskräften T, beispielsweise abgeschleuderten Wirbelpaketen. Die Schwanzfinne des Blauwals ist ein Extrembeispiel. Bei sehr kleinen Reynoldszahlen beruht die Lokomotion auf der anderen Seite vollständig auf Zähigkeitseffekten; Trägheit spielt keine Rolle. Die Bakteriengeißel ist ein Beispiel, sowie das Cilienkleid von Pantoffeltierchen. Die Abbildung 3.4-2 fasst die Effekte zusammen. Große Tiere, die sich rasch im Wasser bewegen, finden in diesem Medium eine völlig andere „Reynolds-Nische“ vor als kleine Tiere, die sich langsam bewegen. Sie müssen die Entwicklung ihrer Lokomotionsapparate an die sich mit ihrem Größerwerden wandelnde „Reynolds-Nische“ anpassen. Einer Forelle wird es überhaupt nichts nützen, sich mit einem (entsprechend größeren) Cilienkleid zu umgeben: sie käme damit nicht vorwärts, weil sie auf Trägheitskräfte angewiesen ist und die Cilien solche nicht nutzen können. Andererseits wäre das Pantoffeltierchen schlecht beraten, würde es sich eine hin und her schwingende Miniaturflosse zulegen. Es käme auch damit nicht vorwärts, weil es auf Zähigkeitskräfte angewiesen ist, die wiederum eine solche schwingende Flosse nicht nutzen könnte.

Abb. 3.4-2: Vortriebsorgane und Zähigkeitseffekte bei unterschiedlich großen Reynoldszahlen.

In der letztgenannten Abbildung ist noch ein kleines Scherzbeispiel eingefügt, nämlich ein fußballkickendes Bein. Im Realfall fliegt der einmal angekickte Ball vom Schuh weg, weil er, einmal beschleunigt, wegen seiner Massenträgheit die Bewegung beibehalten möchte. (Er wird dann von der Luft abgebremst.) Könnte man einen Fußballspieler auf die Größe eines Pantoffeltierchens verkleinern und wieder kicken lassen, bewegte er sich nun im Bereich kleinster Reynoldszahlen mit

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3 Leben und Umwelt im Wasser

überwiegenden Zähigkeitseffekten. Nach dem Aufhören der Bewegung würde sich der Ball gar nicht von der Fußspitze wegschleudern lassen, er würde praktisch anhaften. Unter dem Mikroskop wird man (deshalb?) nie ein Fußballspiel beobachten können. Allein diese Reynoldszahl-Effekte zeigen schon, dass Wasser nicht gleich Wasser ist. Es bilden sich „physikalische Reynolds-Nischen“, deren erfolgreiche Besetzung verlangt, dass sich die Organismen den dort herrschenden physikalischen Gegebenheiten unterwerfen. Wir können im Wasser ganz gut schwimmen. Wären wir so klein wie ein Pantoffeltierchen, käme uns das Wasser vor wie ein zäher Honig, in dem man mit unseren Schwimmbewegungen nicht vorwärts kommt. Dann müsste man sich einen anderen Vortriebsmechanismus überlegen, der mit einem solchen seltsamen Medium zurechtkommt. Einen Regenschirm vielleicht, den man zusammengelegt vorstößt, dann langsam anzieht bis er sich geöffnet hat, und an dem man sich dann nachzieht. Er würde sich in dem zähen Medium „verankern“ können. Wie sich die Umströmung mit der Reynoldszahl ändert, das habe ich einmal zu demonstrieren versucht, indem ich ein etwa handgroßes Knetmodell eines Wasserflohs in unserem Rauchkanal angeströmt habe (Abb. 3.4-3). Die Reynoldszahlunterschiede sind noch nicht einmal allzu groß, und trotzdem merkt man schon, wie bei geringerer Reynoldszahl die Strömung nicht mehr am hinteren Ende des Wasserflohs abreißt sondern wie ein breites, erkennbar zähes Paket an ihm hängen zu bleiben scheint. Der astronomisch große Reynoldszahl-Bereich für Lebewesen Nun lassen sie uns einmal nachsehen, welche Reynoldszahlen bei Wasserorganismen überhaupt vorkommen. Dazu berechnen wir zwei noch nicht allzu extreme Beispiele, aus dem Bereich, der in Abbildung 3.4-4 zusammengefasst ist. Zum einem den Kugelorganismus von 1/50 mm Durchmesser, den wir schon in einem vorhergehenden Kapitel mit einer Sinkgeschwindigkeit von einem Meter pro Tag haben absinken lassen (1). Wir erhalten eine Reynoldszahl von 2,24 ˜ 10-4. Dann stellen wir uns einen großen Fisch vor mit der Stirnfläche eines Fußballes, einen Schwertfisch beispielsweise (2), der kurzfristig mit 10 m pro Sekunde durchs Wasser schießen kann. Wir erhalten eine Reynoldszahl von 2 ˜ 106. In der eben genannten Abbildung ist der gesamte Reynoldsbereich für Wasserlebewesen abgesteckt, und die beiden eben genannte Beispiele sind eingetragen. Wie erkennbar entsprechen sie noch nicht den Extremen. Bei kleinen, geißelbewegten Mitgliedern des Pikoplanktons können Reynoldszahlen von 10-6 vorkommen, beim großen Blauwal bis 108. Wasserlebewesen überdecken also einen geradezu astronomischen Reynoldsbereich von 13 bis 14 Größenordnungen! Um sich klar zu machen was das bedeutet: das ent-

3.4 Fortbewegung und Reynolds-Nischen

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spricht in etwa der Entfernung zwischen Erde und Sonne, in Metern gerechnet! Für die Extreme, das geißelbewehrte Bakterium und den Blauwal, gelten die Überlegungen zu Abbildung 3.4-2 erst recht und noch ausgeprägter.

Abb. 3.4-3: Umströmung eines Wasserfloh-Modells bei unterschiedlichen Reynoldszahlen. Aufnahmen mit dem Rauchkanal des ehem. Zoologischen Instituts der Universität des Saarlandes, Arbeitsgruppe Nachtigall. Gemessen bei Anstellwinkeln von 60° (links) und 40° (rechts) zur Strömung. Eingetragen sind jeweils oben die Anströmungsgeschwindigkeit v in m s-1, jeweils unter die Reynoldszahl Re.

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3 Leben und Umwelt im Wasser

Abb. 3.4-4: Der Reynoldszahl-Bereich, den Wasserlebewesen mit ihrer Reisegeschwindigkeit vReise umspannen können. Eingetragen sind die im Text angegebenen beiden Fälle (1) und (2) für kleine und große Reynoldszahlen.

Das geißeltragende Bakterium und der schwanzfloßentragende Blauwal leben zwar im „gleichen Wasser“. Wegen ihrer extrem unterschiedlichen Größe und extrem unterschiedlichen Schwimmgeschwindigkeit erscheint ihnen das Medium aber sozusagen auch extrem unterschiedlich. Dem Blauwal, auf Bakteriengröße gebracht, würde das Medium so zäh erscheinen wie flüssiges Teer; mit seiner Schwanzflosse würde er hilflos an Ort und Stelle zappeln und käme nicht vorwärts. Dem Bakterien, auf Blauwalgröße gebracht, würde das Medium irgendwie „luftig“ erscheinen; mit seiner schwingenden oder rotierenden Geißeln käme es darin auch nicht vorwärts. Widerstand und Auftrieb An strömungsmechanischen Kräften haben wir bisher nur die Widerstandskraft FW betrachtet, kurz als Widerstand bezeichnet. Es ist eine Kraft, die stets in Anströmrichtung wirkt. Eine Kugel erzeugt nur Widerstand (Abb. 3.4-5 A), aus welcher Richtung sie auch angeströmt wird. Eine dünne Kreisscheibe, entweder genau parallel angeströmt (Abb. 3.4-5 D) oder senkrecht angeströmt (Abb. 3.4-5 C), erzeugt ebenfalls nur Widerstand. Im ersteren Fall wird es praktisch ausschließlich

3.4 Fortbewegung und Reynolds-Nischen

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Reibungswiderstand FWR sein, im zweiten wegen des Strömungsabrisses und der gewaltigen Wirbelschleppe praktisch ausschließlich Druckwiderstand FWD. Der letztere ist größer als der erstere. Er ist bei gleichen Randbedingungen (gleiche Strömungsgeschwindigkeit, gleiche Stirnfläche) auch größer als der der Kugel, weil der Widerstandsbeiwert einer Kreisscheibe größer ist als der einer Kugel. Die Situation verändert sich, wenn die dünne Kreisscheibe schräg angeströmt wird. In der Orientierung der Abbildung 3.4-5 B wird ein Teil des Fluids nach unten abgelenkt, und es entsteht deshalb zusätzlich zum Widerstand eine nach oben gerichtete Reaktionskraft. Man nennt sie Auftriebskraft FA oder kurz Auftrieb. Die Bezeichnung ist nicht sehr gut, denn sie suggeriert eine Kraft, die senkrecht nach oben gerichtet ist. Definiert ist die Auftriebskraft aber als eine Kraft, die senkrecht zur Anströmung steht. Mit dem Sprachgefühl stimmt die Bezeichnung nur überein, wenn die Anströmung horizontal ist, so wie in Abbildung 3.4-5 B. Die beiden Kräfte Widerstand und Auftrieb, FW und FA, kann man als Komponenten eines Kräfteparallelogramms betrachten, deren geometrischen Summe dann die resultierende Kraft Fres ergibt (Abb. 3.4-5 B). Wir erinnern uns, dass Kräfte Vektoren sind, die durch Angriffspunkt, Richtung und Größe gekennzeichnet und als Pfeile graphisch dargestellt werden können. Den Angriffspunkt der resultierenden Luftkraft kann man in die Mitte der Kreisscheibe verlegen, und wenn Auftrieb und Widerstand gleichgroß sind (was zufällig mal der Fall sein kann) weist die Resultierende in der Orientierung von Abbildung 3.4-5 B unter 45% schräg nach hinten-oben. Die Strömungsmechaniker reiten die Komponenten Widerstand und Auftrieb geradezu zu Tode. Bei allem Laborjargon darf man aber nicht vergessen, dass es sie eigentlich gar nicht gibt; real ist letztendlich die Fluidkraftresultierende Fres, die man beispielsweise in eine Komponente in Anströmrichtung (Widerstand) und eine senkrecht dazu (Auftrieb) zerlegen kann, was für viele Betrachtungen und Rechnungen sehr praktisch aber eben doch nur ein Hilfsmittel ist. Die Abbildung 3.4-6 zeigt eine „reale Kreisscheibe“, nämlich einen Bierfilz, im Rauchkanal. Bei A schiebe ich den Bierfilz in den Kanal, bei B wird er parallel angeströmt (nur wenig Widerstand), bei C schräg angeströmt (sowohl Widerstand als auch Auftrieb vorhanden), bei D senkrecht angeströmt (sehr großer Widerstand; man beachte den hier geradezu riesenhaften Abrissbereich mit Totwasser).

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3 Leben und Umwelt im Wasser

Abb. 3.4-5 A-D: Kräfte an umströmter Körpern. A Kugel (nur Widerstandserzeugung), B schräg angeströmte Kreisscheibe (Widerstands- und Auftriebserzeugung), C senkrecht angeströmte Kreisscheibe (nur Erzeugung hohen Widerstands), D parallel angeströmte Kreisscheibe (nur Erzeugung geringen Widerstands).

Abb. 3.4-6 A-D: Ein Bierdeckel im Rauchkanal demonstriert den Strömungsverlauf, Anströmung von rechts. Vgl. den Text und Abb. 3.4-5.

3.4 Fortbewegung und Reynolds-Nischen

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Widerstand und Auftrieb sind Kräfte, die beispielsweise an schwingenden Flossen und Flügeln auftreten, der Widerstand immer, ein Auftrieb fast immer. In Abbildung 3.4-7 A, B sind zwei Schlagphasen aus einer vollen Schlagperiode der Schwanzflosse bei einer Forelle herausgezeichnet, und zwar beim Rechtsschlag und, spiegelbildlich, beim Linksschlag. Was interessiert die Forelle letztlich von allen Kräfte, die sie mit ihren Schwanzflossen erzeugt? Zweifellos der Schub oder Vortrieb Fv, der sie vorwärts treibt. Sie wird die Flosse also so bewegen, dass über die gesamte Schlagperiode ein möglichst großer Schub entsteht. Betrachten wir die oberste Teilzeichnung. Die Schwanzflosse schlägt, von oben gesehen, nach „rechts“ (Teilabbildung A) und wird folglich „von rechts“ angeströmt. Die Anströmrichtung ist eingezeichnet, außerdem der fluidmechanische Anstellwinkel < der Flosse zur Anströmung. Angenommen, die Flosse erzeugt bei dieser Anstellung gerade dreimal soviel Auftrieb wie Widerstand. Der Widerstand FW in Anströmrichtung und der Auftrieb FA senkrecht dazu addieren sich geometrisch zur Fluidkraftresultierenden Fres, die nach schräg vorne weist. Man kann sie wiederum zerlegen in eine Schuboder Vortriebskomponente FV und, senkrecht dazu, eine Seitentriebskomponente FS.

Abb. 3.4-7: Spiegelbildsymmetrische Anströmungen beim Schlag einer Forellen-Schwanzflosse nach rechts (A) und nach links (B). Über eine gesamte Schlagperiode addieren sich die Seitentriebskomponenten FS zu 0 auf.

Nun betrachten wir mit der nächsten Teilzeichnung B die spiegelbildliche Situation bei einem „Linksschlag“. Wieder entsteht gleichartiger Vortrieb FV, doch ist der Seitentrieb FS nun entgegengesetzt gerichtet. Über beide Schlaghälften, die spiegelbildsymmetrisch ablaufen, addieren sich

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jeweils die Vortriebskräfte, während sich die Seitentriebskräfte aufheben. Seitentrieb kostet also Antriebsleistung, ohne das er etwas bringt; er wird den Schubwirkungsgrad der Schlagschwingung verringern. Diese Art der Kräfteverteilung ist nun ganz typisch für schlagende Flossen oder schlagende Flügel, sei es bei Fischen, Insekten oder Vögeln. Der Vergleich wird in einer Abbildung weiter unten nochmals aufgegriffen. In der Abbildung 3.4-7 wurde mit einem Auftriebs-Widerstandsverhältnis von 3 : 1 gearbeitet. Dies könnte beispielsweise für eine mäßig gute „Durchschnittsflosse“ gelten bei Reynoldszahlen um Re = 104. Die Forelle wäre dann 30 cm lang. In Abbildung 3.4-8 A ist die Situation zum Vergleich nochmals dargestellt; die Forelle schwimmt hier nach links. Reynoldsabhängigkeit von Widerstand und Auftrieb und kleine und große Forellen Wir hatten bereits bei Abbildung 3.3-8 gesehen, dass der Widerstandsbeiwert von der Reynoldszahl abhängig ist. Für eine gegebene Stirnfläche und Anströmgeschwindigkeit bestimmt der Widerstandsbeiwert die Größe des Widerstands. Ähnlich ist es auch für den Auftriebsbeiwert, der analog die Größe des Auftriebs bestimmt. Wir nehmen nun merksatzartig etwas voraus, das in den Folgeabbildungen noch graphisch verdeutlicht wird: Mit kleinerer Reynoldszahl steigt der Widerstandbeiwert und sinkt der Auftriebsbeiwert. Bei nicht zu großen Reynoldszahlen sind diese Tendenzen für alle Körper merklich, die neben Widerstand auch Auftrieb erzeugen. Dies hat nun geradezu ungeheuerliche Konsequenzen für die Gestaltung der Vortriebsorgane von Tieren. Bei fliegenden Tieren ist das etwas anderes, wie später die Abbildung 3.4-11 und 4.2-1 erläutern wird. Aus dem Vergleich der Teilabbildungen A (Flügel Vogel) und B (Schwanzflosse Wal), die hier zeichnerisch gleich positioniert dargestellt sind, wird erkennbar, dass die für den Fisch nutzlose Seitkraftkomponente beim Vogel eine wichtige Rolle spielt: sie ist hier senkrecht nach oben gerichtet und wird als Hub FH bezeichnet. Sie muss das Körpergewicht des fliegenden Vogels kompensieren, ein Problem, das beispielsweise ein wohl austarierter schwimmblasentragender Fisch ja nicht hat. Es sei mit diesem Vergleich bereits auf die Bewohner des Luftmeers hingewiesen, weil wir nun, gegen Ende dieses Abschnitts, Aspekte des Schwimmens und Fliegens mischen wollen. Wasser und Luft sind ja Fluide, und schwimmende wie fliegende Tiere sind der Reynolds’schen Beziehung ausgesetzt. Doch zurück zu unseren schwimmenden Forellen. Ausgehend von einer 30-cm-Forelle stelle man sich einmal vor, dass dieser Fisch immer kleiner würde. Könnte er die Strömungskräfte in gleicher Weise nutzen? Die Verhältnisse sind in Abbildung 3.4-8 B, C skizziert.

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Abb. 3.4-8 A-D: Gedankenexperiment mit unterschiedlich großen Forellen. Mit geringerer Reynoldszahl würde sich jeweils der Widerstand FW vergrößern, der Auftrieb FA verringern, so dass das für den Realfall A geltende Kräfteschema bei kleineren Reynoldszahlen B, C nicht mehr verwendbar wäre. Eine Alternative ergäbe sich durch D. Vgl. den Text.

Die Teilabbildung A wurde schon besprochen. Es entsteht vorwärtstreibender Schub oder Vortrieb + FV. Machen wir die Forelle im Gedankenversuch hundertmal kleiner. Sie würde nun bei einer Reynoldszahl von 102 schwimmen (Teilabbildung B). Bei dieser kleineren Reynoldszahl ist aber FW relativ größer und FA relativ kleiner anzusetzen, etwa so, wie eingezeichnet. Nun ist

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3 Leben und Umwelt im Wasser

Fres genau zur Seite gerichtet. Die Forelle würde sich während ihrer beiden Halbschlagphasen hin und her drehen, aber sie käme nicht vorwärts, denn es gilt: ¦ FV = ¢ 0. Nun machen wir die Forelle nochmals hundertmal kleiner. Die entsprechende Reynoldszahl wäre nun 100 (Teilabbildung C). Hier ist der Widerstand 4 bis 5 mal so groß wie der Auftrieb. Es entstünde, wie das Kräfteparallelogramm zeigt, Rücktrieb, -FV. Eine so klein gedachte Forelle könnte erst recht nicht schwimmen. Wie könnte man sie schwimmfähig machen? Betrachten wir eine 0,3 mm langes Gedankengebilde bei einer Reynoldszahl von 101 (Teilabbildung D). Auch hier ist der Widerstand im Vergleich sehr groß. Würde ein solches Gebilde seine Brustflossen rasch nach hinten schlagen, so würde es Widerstand FW erzeugend, dessen Gegenkraft nun als Schub oder Vortrieb FV nach vorne gerichtet ist. Würde dann die Brustflosse langsamer oder angeschmiegt wieder nach vorne gezogen werden (weniger Gegenschub erzeugend), so könnte die Miniforelle mit dieser Koordination vorwärts schwimmen. Wenn die Forelle aus dem Ei schlüpft, so ist sie aber bereits mehrere Millimeter groß, also rund zehn mal größer. Hier funktioniert schon ihr Schwanzantrieb, wenn auch noch recht schlecht. Sie verliert mit diesem System viel Energie und muss deshalb entsprechend viel nachgeliefert bekommen; unter anderem dafür schleppt sie auch ihren dicken Dottersack noch herum, dessen Inhalt sie in einigen Tagen aufbraucht. Je größer sie wird, desto günstiger ist das Auftriebs-Widerstands-Verhältnis, und wenn sie ausgewachsen ist, schwimmt sie „mit dem Auftrieb“, weil der nun eben die Hauptkomponente darstellt, die es zu nutzen gilt. (Manche kleinen, langsam bewegten Fische benutzen aber tatsächlich den geschilderten Brustflossen-Antrieb nach dem Widerstandsprinzip.) Rund 0,3 mm „groß“ wird keine Forelle, aber es gibt so große Wasserflöhe. Sie müssten dann eigentlich nach dem geschilderten Ruderprinzip „mit dem Widerstand“ schwimmen können, und das tun sie auch, wie wir etwas später sehen werden. Dass der Widerstandsbeiwert mit kleinerer Reynoldszahl größer wird, das wurde für die Kugel bereits mit Abbildung 3.3-8 gezeigt. In Abbildung 3.4-9 sind zwei weitere Objekte dazugezeichnet, nämlich ein langgestreckter Kreiszylinder, senkrecht angeströmt, und die bereits erwähnte Kreisscheibe („der Bierdeckel“). Während die scharfkantige Kreisplatte, von einem kleinen Hoppel etwa bei Re = 3 ˜ 102 abgesehen, mit kleinerer Reynoldszahl ihren Beiwert „stetig“ vergrößert, gibt es bei Kreiszylinder und erst recht bei Kugeln etwa bei Reynoldszahlen von 4 ˜ 105 einen seltsamen Sprung. Man nennt diese Reynoldszahl die kritische, Rekrit. Die Strömung bei höheren Re-Bereichen nennt man überkritisch, bei niederen unterkritisch. Über das Zustandekommen dieses Sprungs wollen wir uns hier nicht unterhalten; strömungsmechanische

3.4 Fortbewegung und Reynolds-Nischen

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Lehrbücher erklären das. Hier geht es eher um die qualitativen Tendenzen. Diese sind nun sehr überraschend. In Abbildung 3.4-10 ist sowohl der Widerstandsbeiwert wie der Auftriebsbeiwert als Funktion der Reynoldszahl dargestellt, und zwar für das Gipsmodell einer Lachmöwe, Larus ridibundus (Windkanal; Feldmann 1944). Man sieht sehr deutlich die auffallende Änderung sowohl von cW wie auch cA im Bereich von Rekrit. Hier springt, wenn man vom überkritischen in den unterkritischen Bereich geht, cW dramatisch an. (Bei noch kleineren Reynoldszahlen stiege cW dann etwa nach Art der Abb. 3.4-9 weiter.) Im gleichen Bereich fällt cA, ebenfalls ganz dramatisch, ab. Das sollten wir uns einmal näher ansehen.

Abb. 3.4-9: Nochmals Auftragung der cW (Re)- Kennlinie für die Kugel, zusammen mit den Kennlinien für Kreisscheibe und langgestrecktem Kreiszylinder. Der Bereich kritischer Reynoldszahlen Rekrit liegt zwischen 105 und 106.

Zum Erreichen einer hohen Gleitzahl H = cA/cW kann sich die Möwe nun keineswegs im unterkritischen Bereich bewegen. Bei diesen relativ kleinen Reynoldszahlen ist ja nun gerade der Auftriebsbeiwert relativ klein, der Widerstandsbeiwert relativ groß, und damit ergibt sich eine kleine, das heißt schlechte Gleitzahl. Es ist also zu erwarten, dass die Möwe im überkritischen Bereich fliegt, und das tut sie denn auch, sowohl beim Gleitflug wie auch beim Schlagflug. Wenn wir die Möwe im Gedankenversuch als bienengroßes und schon flugfähiges Vögelchen auf die Welt kommen lassen, würde damit ein flugphysikalisches Problem geschaffen. Die Möwe müsste nolens volens im unterkritischen Bereich mit seinen schlechten aerodynamischen Beiwerten fliegen, und es sind keine Tricks vorstellbar, wie sie damit auskommen sollte. Nun werden die Jungmöwen mit ihrem ersten, „richtigen“ Flügelschlag ja bereits in den überkritischen Bereich hineingeboren, und damit umgehen sie elegant gewisse physikalische Grenzen.

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Abb. 3.4-10: Überkritische und unterkritische Umströmung bei einem Möwenmodell, sowie dramatische Veränderung des Widerstandsbeiwert cW und des Auftriebsbeiwerts cA im Bereich der kritischen Reynoldszahl Rekrit.

Bei den jungen Forellen ist das dagegen anders. Sie müssen sich durch den „ungeschickten“ Bereich durchwursteln, und es bleibt ihnen anfangs nichts übrig, als relativ hohe Energien auszugeben und trotzdem nur wenig vorwärts zu kommen. Andererseits ist ihnen anzuraten, recht schnell zu wachsen um sobald wie möglich in einen Bereich günstigerer Relationen strömungsmechanischer Beiwerte zu kommen. Das tun sie denn auch. Strömungsmechanische Kräfte an Profilen Die Abbildung 3.4-11 A zeigt eine Schemadarstellung der Luftkraftverteilung beim Abschlag einer typischen Möwe oder einer typischen Taube unter „vernünftigen“ Anstellwinkeln. Hierbei ist die Auftriebskomponente größenordnungsmäßig zehnmal größer als die Widerstandskomponente. Das erreicht der Vogel mit einem günstig profilierten Flügel, dessen Mittellinie in günstiger Weise gewölbt ist. Wölbung und Profilierung spielen also zusammen, und sie können bei diesen relativ hohen Reynoldszahlen ideal zum Tragen kommen. Das zeigt ja auch der Flugzeugflügel. Die Schwanzflossen der Fische sind zwar profiliert, aber nicht gewölbt, da sie ja Anströmung beim „Abschlag“ genauso vertragen müssen wie beim „Aufschlag“. Ähnliches werden wir sehen für die Handschwingen der Kolibris beim Vorschlag und Rück-

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schlag. Hier ist die Mittellinie etwa eine Gerade. Trotzdem werden noch hohe Auftriebs-Widerstands-Relationen herausgeholt. Aber das gilt, wie gesagt, nur für relativ hohe Reynoldszahlen, einen Bereich, in dem sich die Vögel gerade so, die Fische genau eingepasst bewegen.

Abb. 3.4-11 A, B: Beispiel für die strömungsmechanischen Kräfte an einem gewölbten, profilierten Flügelprofil eines Vogels (A) und einem ungewölbten, profilierten Schwanzflossenprofil eines Fischs (B). Das Verhältnis von Widerstandskräften und Auftriebskräften entspricht in der zeichnerischer Darstellung nicht der Realität; vgl. Einschaltbild bei A.

Zunehmender Bedeutungsverlust von Profilierung und Wölbung beim Übergang zu kleineren Reynoldszahlen Wenn man in Gedanken weiter zurück geht zu kleineren Reynoldszahlen, bei denen kleinere Vögel, größere Insekten, kleinere Insekten fliegen und schließlich kleine Wasserinsekten und Wasserflöhe schwimmen und hüpfen, so verliert zunächst die Profilierung, dann die Wölbung ihre Bedeutung. Die

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großen Segelfalter haben noch gewölbte aber nicht mehr profilierte Flügel. Eine Stubenfliege hat im Mittel ebene und ebenfalls unprofilierte Flügel (Sekundäreffekte kommen hier allerdings dazu). In diesem Reynoldsbereich können die bestmöglichen Auftriebs-Widerstands-Relationen mit ebenen, unprofilierten Flügeln herausgeholt werden. Die großen Relationen, wie sie profilierte und gewölbte Flügel bei höheren Reynoldszahlen erreichen, sind in diesem Bereich überhaupt nicht mehr möglich. Würde man einen Fliegenflügel dagegen leicht profiliert und gewölbt machen, würde er noch schlechtere Relationen herausholen als diejenigen, die er mit seinen im Mittel ebenen und ungewölbten Flächen erreicht. Jeder Reynoldszahlbereich erfordert also eine andere Flügelgeometrie um diejenigen Auftriebs-Widerstands-Verhältnisse herauszuholen, die in diesem Bereich strömungsmechanisch noch möglich sind. Die Natur richtet sich ganz genau nach diesem Prinzip. Es gibt allerdings eine Möglichkeit, die Nachteile etwas „hinauszuschieben“, und das ist eine größere Schlagbahnneigung. Werfen wir noch einmal einen Blick auf die Verhältnisse mitten beim Abschlag (Abb. 3.4-11 A). Da die Auftriebskomponente viel größer ist als die Widerstandskomponente, liegt die Resultierende dieser beiden Kraftkomponenten, die Luftkraftresultierende Fres, schräg nach vorne gerichtet im Raum. Sie legt sich deshalb in eine hebende Komponente FH und eine schiebende Vortriebskomponente FV. Wird nun FW immer größer und FA immer kleiner, so verkleinert sich nicht nur Fres, sondern ändert auch die Lage im Raum (steilt sich auf). Irgendwann kommt man soweit, dass gar keine Vortriebskomponenten mehr entstehen. Das Tier kann dann aber immer noch seine Schlagbahnneigung vergrößern und damit die Luftkraftresultierende wieder etwas nach vorne-oben weisen lassen (Abb. 3.4-12). Das geht aber nicht ins Unendliche. Irgendwann funktioniert der von kleinen Fliegen sicher benutzte Schlagbahnneigungs-Trick nicht mehr, so dass die kleinsten Fluginsekten, Wasserinsekten und Wasserflöhe auf andere Mechanismen, nämlich solche praktisch reiner Widerstandserzeugung ausweichen müssen. Wie die Wasserflöhe hüpfen Wasserflöhe bewegen ihre beborsteten Ruderantennen nach schräghinten-unten (Abb. 3.4-13). Damit erzeugen sie eine Reaktionskraft in Gegenrichtung nach schräg-vorne-oben. Sie ist allein auf Widerstandserzeugung zurückzuführen, wir können sie deshalb durchaus F W nennen. Diese zerlegt sich in eine hebende Komponente FH und eine vorwärts treibende Komponente FV. Der Wasserfloh hüpft also nach schräg-oben. Nach Aufhören der Bewegung und Restituierung der Ruderantennen sinkt er langsam wieder ab, bewegt sich aber aufgrund seiner Eigenträgheit noch ein wenig nach vorn. Dadurch kommen die hüp-

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fenden Bewegungen zustande, die dem Wasserfloh ja seinen Namen gegeben haben. Der Unterschied zu den bisherigen Mechanismen liegt darin, dass er sich nicht mehr auf Auftriebsanteile verlässt sondern die Fluidkraftresultierende zur Gänze auf der (nun recht hohen) Widerstandserzeugung beruht.

Abb. 3.4-12: Wenn man von großen zu kleinen Reynoldszahlen geht, verliert zunächst die Profilierung, dann die Wölbung ihre Bedeutung. Bei kleineren Reynoldszahlen sind flache Blätter die besten Strömungskrafterzeuger. Da, in diese Richtung betrachtet, der Widerstand FW zunimmt und der Auftrieb FA abnimmt, kann diese Tendenz durch ein Schräger-Anstellen der Schlagbahn irgendwann nicht mehr kompensiert werden. Dann bietet sich die Nutzung der Widerstandserzeugung an (Aus Platzgründen ist hier FW als W bezeichnet etc.).

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Wir haben soviel von physikalischen Aspekten gesprochen und können nun einen tatsächlich wunderschönen „Beweis“ (nicht im strengen Sinne) für die Richtigkeit unserer Überlegungen anbieten, der typisch biologisch ist: das Prinzip der Konvergenz. Konvergente Formbildung bedeutet, dass unterschiedliche Tiergruppen beispielsweise unter dem Einfluss physikalischer Sachzwänge ganz ähnlich aussehende Ausformungen entwickeln (Abb. 3.4-14). Das ist bei den genannten Beispielen sicher gegeben.

Abb. 3.4-13: Wie die „hüpfende“ Bewegung eines Wasserflohs zustande kommt.

Etwas typisch Biologisches: Konvergente Formbildung Bei den hier betrachteten kleinen Reynoldszahlen von vielleicht 100 bis 102 herrscht bereits starker Zähigkeitseinfluss und es kann zwar Widerstand aber kein guter Auftrieb mehr erzeugt werden. Die Widerstandserzeugung wird in diesem Bereich optimiert durch die Blattgestaltung nach Art eines „Besens“: ein trommelschlägelförmiges Organ trägt ringsherumstehende Borsten. Die kleinsten Insektenflügel und dann die Schwimmbeine der Wasserinsekten ebenso wie die Ruderantennen der Wasserflöhe sind nach diesem Prinzip gebaut. Auch bei an-

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deren Krebstieren und bei Würmern kommt es vor. Selbst die kleinsten Flügel so unterschiedlicher Insektenordnungen wie Käfer, Hautflügler und Thripse, die systematisch also weit auseinander stehen, sind nach dieser Form zum Verwechseln ähnlich gebaut. Ein starker Hinweis darauf, dass sie nach einem einheitlichen strömungsmechanischen Prinzip arbeiten, hier also nach dem Widerstandsprinzip. Für den genannten Reynoldszahlbereich wäre sie denn auch die besten Widerstandserzeuger, doch ist Näheres (noch) nicht bekannt.

Abb. 3.4-14: Konvergente Formbildungen an kleinsten Flügeln von Thripsen, Hautflüglern und Käfern sowie Schwimmbeinen von Wasserkäfern und Antennen von Wasserflöhen.

Auch das Wasser ist also „mechanisch strukturiert“ Wie Abbildung 3.4-15 verdeutlicht, ist das Land mechanisch strukturiert, was man sofort einsieht. Auch Wasser und Luft, also die beiden biologisch wichtigen Fluide, sind aber mechanisch strukturiert, allerdings im Bezug auf Größen und Fortbewegungsgeschwindigkeiten ihrer Bewohner. Ein kleiner, langsam bewegter Wasserbewohner wird eben im Wasser ein

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völlig andersartiges physikalisches Milieu vorfinden als ein großer, schnellbewegter. Wir können es hier bei dieser Feststellung belassen, denn sie wurde bereits diskutiert, als wir den geradezu astronomischen Reynoldszahlbereich betrachtet hatten (Abb. 3.4-4), in dem sich Lebewesen bewegen. Dass „Wasser nicht gleich Wasser“ ist, betrachtet aus der Sicht eines Schwimmers, und „Luft nicht gleich Luft“, betrachtet aus der Sicht eines Fliegers, ist ein überraschendes Ergebnis, an das wir uns mit einfachen physikalischen Überlegungen herangetastet haben. Daraus resultiert eine erste Schlussfolgerung: Das Problem „Leben in Fluiden“ ist bei kleinen Lebewesen anders zu lösen als bei großen.

Abb. 3.4-15: Nicht nur das Land, sondern auch Luft und Wasser sind mechanisch strukturiert, die letzteren in Bezug auf Größen und Fortbewegungsgeschwindigkeiten ihrer Bewohnern.

Ökologische Nischen sind immer auch physikalische Und eine zweite Schlussfolgerung kann man anschließen: ökologische Nischen sind im fluidmechanischen Bereich immer auch physikalische, in denen sich reynoldsabhängige Größen stetig verändern. In Abbildung 3.4-16 kennzeichnet die Horizontalstrecke den Bereich zwischen der kleinsten und der größten biologisch auftretenden Reynoldszahl. Den kleinsten Bereich bestimmt das Widerstandsprinzip, den größten das Auftriebsprinzip. Geht man von einem zum anderen, so nimmt jeweils eines dieser Prinzipien an Bedeutung ab, dass andere zu. Am schwierigsten ist es „in der Mitte“; da sind beide Prinzipien zwar gleichartig, aber beide nicht recht gut wirksam. Demgemäß findet man gerade bei Re | 100 bei näherem Hinsehen „Re-Kompromisskonstruktionen“. Sie sind allerdings mehr oder minder eine Sache für den Spezialisten. Wenn die „evolutive Radiation“ Nischen besitzen will, wird sie das versuchsweise in steter Wiederholung machen. Durchsetzen wird sich nur das, was nicht nur physiologisch, sondern auch physikalisch „angepasst“ ist (Abb. 3.4-16). Natürlich kann man bei der Evolution von keiner Strategie sprechen; sie erfolgt ja zufällig-ungerichtet, aber gerade

3.4 Fortbewegung und Reynolds-Nischen

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damit produziert sie rein zufällig auch Kombinationen, die sich in hochspeziellen Nischen besonders gut behaupten können, geraten sie denn einmal da hinein. Sie werden mit einiger Wahrscheinlichkeit andere, wenig gut angepasste, im Laufe der Zeit verdrängen. Halten wird sich nur das, was die jeweils geltenden physikalischen Prinzipien souverän benutzt. Die Physik lässt sich nicht austricksen. Sie beherrscht alles, die tote wie die lebende Materie.

Abb. 3.4-16: Wenn die „evolutive Radiation“ ökologische Nischen zu füllen trachtet „muss sie bedenken“, dass ökologische immer auch physikalische Nischen sind. Bei einer tendentiellen Ausstrahlung zu kleineren Reynoldszahlen muss das Widerstandsprinzip, bei entsprechender Ausstrahlung zu größeren Reynoldszahlen das Auftriebsprinzip als Grundlage dienen.

Man kann das, etwas flapsig, vielleicht auch so ausdrücken. Nachdem der große Schöpfer nun einmal seine Gesetze gegeben hat, muss selbst er sich auch danach richten. Selbst dem großen Meister ist es verwehrt, Fische zu bauen, die man nur unter dem Mikroskop sieht oder Riesenalgen mit Geißelantrieb, die so groß sind wie ein U-Boot. Einsichten in diese Zusammenhänge können, wie wir gesehen haben, schon mit ganz einfachen physikalischen Ansätzen gewonnen werden. Man braucht dazu weder Differentialgleichungen noch Matrizendarstellungen. (Genauer gesagt: in der Forschung braucht man diese schon als alltägliches Hilfsmittel. Aussagen wie die hier gemachten beruhen auf vielfältige Forschungsansätze. Wenn man sie abstrahiert und zusammenfasst, braucht man aber die Wege nicht unbedingt präzise nachzuvollziehen, auf denen diese Ergebnisse gewonnen worden sind).

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3 Leben und Umwelt im Wasser

Überlegungen wie diese bewahren aber auch vor unangemessener Übertragung von Naturvorbildern. Wir haben das in Abschnitt 1.1 bereits gesehen, als wir Grashalme und Industriekamine verglichen haben. Einen Riesengrashalm von Kaminhöhe mit der Schlankheit des Roggenhalms kann es aus physikalischen Gründen nicht geben. Wenn man die Natur abstrahiert – und das tut die Bionik ja, die aus dem Formenund Funktionenkanon der Natur schöpfen will und damit der Technik Anregungen zu geben versucht-, so muss das Vorgehen immer „mit der Physik im Hinterkopf“ geschehen. In den zwanziger Jahren wurde ein U-Boot Konzept vorgeschlagen, dass sich durchs Wasser schraubt wie eine begeißelte Amöbe oder begeißelte Alge. Über technische Durchführungsprobleme eines solchen Konzeptes braucht man gar nicht erst nachzudenken: es ist aus Gründen physikalischer Ähnlichkeitsgesetze von vorne herein nicht hinzukriegen. Trotzdem bleibt ein ungeheuerer Fundus an Konstruktionen und Verfahrenweisen, die genauso real sind wie unsere menschliche Technik. Diesen Fundus anzuschauen und einzubauen lohnt sich. Aber auch dann, wenn man das alles nur staunend zur Kenntnis nimmt, ist, schon etwas erreicht. Das fragende Staunen ist nicht nur die Basis für wissenschaftliches Weiterdenken. Es ist auch die beste Basis für die Achtung, welche man der Schöpfung entgegenbringen sollte, die uns umgibt.

WASSER–LUFT An der Wasser-Luft-Grenze spielt die Oberflächenspannung des Wassers eine große Rolle. Sie trägt zum Beispiel den Wasserläufer Gerris lacustris. Die Auflagefläche der Beine erscheinen, je nach dem Sonneneinfall, als helle oder dunkle Flecken. Über die eigenartige Fortbewegung dieser Tiere informiert die Abbildung 2.4-5 A bis D.

4 Wasser und Luft: unterschiedliche Fluide Gegen Ende des letzten Abschnitts wurde bereits betont, dass Wasser und Luft, die beiden wichtigen biologischen „Umweltmedien“, strömungsmechanisch besehen im Prinzip gleichartig sind. Beide sind reale, zähigkeitsbehaftete Fluide. Die Art und Weise, wie sich größere und kleinere Organismen auf dieses Ambiente einstellen, beispielsweise auf die Zunahme von Widerstandskräfte und die Abnahme von Auftriebskräften mit sinkender Reynoldszahl, sind ebenfalls im Prinzip gleichartig. In Abbildung 3.4-12 wurden ja unterschiedlich große Flügel luftbewohnender Lebewesen betrachtet und dann wieder mit Wal-Flossen, Wasserfloh-Antennen und Wasserkäfer-Beinen verglichen. Und trotzdem finden sich auch charakteristische Unterschiede zwischen den beiden Fluiden, die dem Leben auch andere Randbedingungen setzen als die bisher betrachteten strömungsmechanischen. Eine wesentliche derartige Randbedingung liegt in den unterschiedlichen Dichten. Angenommen, ein Landlebewesen tauscht mit seiner Lunge in der Sekunde einen Liter Luft aus. Und angenommen, es gäbe ein Wasserlebewesen mit einer morphologisch völlig gleichartig gebauten „Wasserlunge“, das in der Sekunde einen Liter Wasser austauschen müsste. Das Medium müsste jedenfalls zweimal beschleunigt werden, einmal beim Einatmen, einmal beim Ausatmen. Die dafür in der Sekunde ausgegebene Energie, die physikalische Leistung also, ist unter anderem der Masse proportional und diese entspricht ja der Dichte, multipliziert mit dem genannten Einheitsvolumen von einem Liter. Da die Dichte von Wasser etwa 830 mal – oder sagen wir für eine Grobbetrachtung rund 1000 mal (Abb. 4.1-1) – größer ist als die von Luft, wäre das Wasserlebewesen in abenteuerlicher Weise stärker leistungsbelastet. Kein Wunder, dass es auf anderen Mechanismen ausweicht. Mit Überlegungen dieser Art befasst sich der vorliegende Abschnitt, und zwar an zwei Beispielgruppen: an bewegungsspezifischen Problemen und an atmungsspezifischen Problemen. 4.1 Unterschiedliche Kenngrößen, die für die Ortsbewegung wichtig sind Die Abbildung 4.1-1 fasst die in diesem Zusammenhang relevanten Daten zusammen. Wie erwähnt ist die Dichte und damit auch die Wichte von Wasser, grob gesprochen, tausendmal größer als die von Luft. Nicht sehr unterschiedlich sind (erstaunlicherweise?) die dynamischen Zähigkeiten,

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4 Wasser und Luft: Unterschiedliche Fluide

nämlich nur sechzig mal. Für die Reynoldszahlberechnung braucht man die kinematische Zähigkeit, den Quotienten aus Zähigkeit und Dichte. Sie ist fünfzehnmal unterschiedlich; für Wasser ist die kinematische Zähigkeit kleiner als für Luft. Da sie bei der Reynoldszahl im Nenner steht, ist diese für Wasser also größer als für Luft, ebenfalls fünfzehnmal.

Abb. 4.1-1: Physikalische Kenngrößen, die für die Ortsbewegung von Tieren in Luft und Wasser wichtig sind, und ihre Vergleichswerte. Diese spiegeln die größere Bedeutung von Masseneffekten für Wassertiere wieder,

Man kann einen angeströmten Körper im Wasserkanal oder Windkanal untersuchen, das kommt aufs gleiche heraus, solange Benetzungseffekte keine sonderliche Rolle spielen. Wenn man allerdings Reynolds’sche Ähnlichkeit einstellen will - die gleiche Reynoldszahl in Wasser und Luft, das heißt auch das gleiche Verhältnis von Trägheitskräften und Zähigkeitskräften für die beiden Versuchsvorgänge – muss man für eine gegebene, konstante Länge des Versuchskörpers sein Messobjekt in Luft fünfzehnmal rascher anströmen als in Wasser. So haben wir in unserem Labor Wasserkäfer im Wasserkanal bei 10 cm pro Sekunde und im Windkanal bei 1,5 m pro Sekunde untersucht, was eine gleiche Reynoldszahl ergibt. Mit der Luftgeschwindigkeit darf man nur nicht zu hoch gehen. Das bringt in der Technik Probleme,

4.1 Unterschiedliche Kenngrößen, die für die Ortsbewegung wichtig sind

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wenn man unter Wahrung der Reynolds-Ähnlichkeit große Strömungskörper in Riesenwindkanälen untersuchen will. Bei Geschwindigkeiten höher als Mach 0,3 (1/3 der Schallgeschwindigkeit, etwa 110 m s-1) beginnen bei der Luft Kompressibilitätseffekte eine Rolle zu spielen, die dann die Umströmung prinzipiell verändern. Windkanalingenieure können ein Lied davon singen. In der Biologie spielt dies aber keine Rolle, da die Grenzgeschwindigkeiten viel kleiner sind. 4.2 Unterschiedliche bewegungsspezifische Probleme und Lösungen Auf die Abbildung 4.2-1 sind wir früher schon eingegangen, sie wurde als Abbildung 3.4-11 bereits „vor“-gestellt. Betrachten wir sie nun etwas näher. Bei (B) schwimmt das Abstraktum eines Fisches nach links und ist von oben gesehen. Die Schlagflosse schwingt nach links und ist geblitzt, kurz bevor sie die Mittellinie durchläuft. Der Vogel (A) bewegt sich ebenfalls nach links. Er schlägt seine Flügel von hinten-oben nach vorne-unten, und der Flügel ist geblitzt, kurz bevor er in der Projektion die Mittellinie durchläuft. Der Unterschied: der Fisch ist von oben gesehen, der Vogel von der Seite. Welche unterschiedliche Problematik ergibt sich? Effekte unterschiedlicher Dichten der Medien Ein karpfenartiger Fisch ist zwar nicht ganz genau, aber doch in etwa austariert; seine spezifische Masse entspricht in etwa der des Wassers. Die Übergewichtskraft FÜG des Körpers und seine passive Hubkraft (Schwimmblase) FH heben sich also in etwa gegenseitig auf. Beim Schwingen der Schwanzflosse sind die Seitkräfte FS bei jedem Halbschlag entgegengesetzt gerichtet und löschen sich, über eine gesamte Schlagperiode betrachtet, damit gegenseitig aus. Es bleiben die Vortriebskräfte FV, die sich aufaddieren. Sobald diese Vortriebskräfte entgegengesetzt gleich sind dem Gesamtwiderstand, schwimmt die Forelle mit konstanter Geschwindigkeit vorwärts. Der Vogel, der in der viel weniger dichten Luft fliegt, hat nun nichts, womit er seinen Körpergewicht ohne eigenen Leistungseinsatz ausgleichen könnte. Ein Ballon kann das wegen seiner Gas- oder Heißluftfüllung. Der Vogel dagegen muss Aktivleistung aufwenden um nicht herunterzufallen. Er kann es sich also gar nicht leisten, auf eine Kraftkomponente zu verzichten, die wir beim Fisch mit FS bezeichnet haben, und die beim Vogel Hub FH genannt wird. Auch beim Vogel ist der mittlere Vortrieb FV entgegengesetzt gleich dem mittleren Widerstand FW. Gleichzeitig muss aber auch der mittlere Hub FH entgegengesetzt gleich sein dem Körpergewicht FG.

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4 Wasser und Luft: Unterschiedliche Fluide

Abb. 4.2-1 A, B nochmals die Abb. 3.4-11: Schlagflügel von Vögeln und Schwanzflossen von Fischen arbeiten im Prinzip gleichartig. A Vogel von der Seite gesehen, Flügelschlag nach abwärts. B Fisch, von oben gesehen, Schwanzflossenschlag nach links. Insbesondere bei A ist FA im Verhältnis zu FW aus zeichnerischen Gründen viel kleiner gewählt als dies real der Fall ist (vgl. Einschaltbild). Beim Fisch muss praktisch nur das Gleichgewicht Vortrieb Fv Widerstand FW betrachtet werden, beim Vogel essentiell auch das Gleichgewicht Hub FH Körpergewicht FG.

Die Hubkräfte sind im allgemeinen sogar größer als die Vortriebskräfte; sie schlucken den Löwenanteil der verfügbaren Flugleistung. Dies alles ist auf die geringere Dichte oder spezifische Masse der Luft

4.2 Unterschiedliche bewegungsspezifische Probleme und Lösungen

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zurückzuführen, in der passiver Auftrieb nach dem Ballonprinzip für ein Insekt, einen Vogel, eine Fledermaus oder ein Flugreptil der Vergangenheit nicht möglich ist beziehungsweise war. Anders beim Wasser. Karpfenartige Fische haben bekanntlich ihre Schwimmblasen, mit denen sie sich im Wasser austarieren können. Tintenfische tun dies mit ihrem Schulp, einem grazilen Etagenbau aus Kalksubstanz, in dessen Zwischenräume sie osmotisch mehr oder minder Wasser einziehen und damit ihre spezifische Masse sehr fein regulieren können. Sie können damit in jeder beliebigen Wassertiefe völlig bewegungslos – also auch ohne die geringste einzusetzende Stoffwechselleistung – schweben. Die Larven der Büschelmücke, Chaoborus plumicornis, wurden schon genannt. Mit ihrem Doppelpaar luftgefüllter Schwimmblasen schweben sie in 10 oder 20 oder 50 cm Wassertiefe ebenfalls bewegungslos. Auf eine weitere Möglichkeit sei hingewiesen, die nur im Wasser mit seiner dramatisch höheren Dichte möglich ist: das Schießen mit Wasserstrahlen zum Betäuben von Beutetieren. Der nur wenige Zentimeter große Pistolenkrebs Alphaeus heterochaelis lebt an und unter Steinen an Mittelmeerstränden. Seine rechte Schere ist im Vergleich riesenhaft vergrößert und zu einer „Wasserpistole“ umgestaltet. Unter Anspannung sehr kräftiger Scherenmuskeln wird ein Dorn in eine längliche Grube gedrückt, aus deren Vorderdüse ein Wasserstrahl herausschießt (Abb. 4.2-2 A). Dieser kann kurz nach dem Klauenschluss Geschwindigkeiten bis 6,5 m s-1 erreichen (Teilabb. C). Der Pistolenkrebs kann bis etwa 2 cm weit „schießen“; zum Zeitpunkt der höchsten Geschwindigkeit reicht der Strahl allerdings nur etwa 7 mm (Teilabb. B) weit. Aus dieser Entfernung getroffen kann ein kleines Beutetier durchaus betäubt werden. Der Krebs hat dann Zeit, es zu finden, zu ergreifen und zu zerteilen. Es gibt Berichte, nach denen ein solcher kleiner Pistolenkrebs, in ein dünnwandiges Weinglas mit Wasser gesetzt, durch einen solchen Schuss das Glas regelrecht zum Zerspringen gebracht hat. Auf jeden Fall hört man einen deutlichen „Klick“-Laut. Diese interessante Art mit Wasser zu schießen ist von Herberholz und Schmitz (1999) näher untersucht worden. Weitere Effekte stehen auf den folgenden Seiten. Dann gehen wir zu einem anderen Bereich, dem der atmungsphysiologisch wirksamen Kenngrößen.

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4 Wasser und Luft: Unterschiedliche Fluide

Abb. 4.2-2 A-C: Zum “Schießen“ des Pistolenkrebses, Alpheus heterochaelis. A „Schussvorgang“. B Reichweite-Zeit-Funktion der „Schusswolke“. C Geschwindigkeits-Zeit-Funktion der „Schusswolke“.

Spezifische Effekte bei kleineren und ganz kleinen Lebewesen Spezifische Probleme, die im aerodynamischen Fall ganz anders liegen als im hydrodynamischen, bieten sich wieder bei besonders kleinen Lebewesen. Zu den kleinsten „konventionellen“ Fluginsekten (konventionell insofern, als sie noch „richtige“, flächige Flügel besitzen) gehören die Essigfliegen der Gattung Drosophila, Haustiere der Genetiker. Die bei uns häufige Drosophila melanogaster ist nur etwa 3 mm groß, und die Flügellänge beträgt knapp 2 mm. Da die Luft so wenig dicht ist, müssten diese Fliegen insbesondere zur Erzeugung genügend großer Hubkräfte für den Schwirrflug (den sie gerne ausführen) ihre Flügel sehr rasch schwingen lassen. Die Schlagfrequenz beträgt in etwa 500 s-1. Auch das scheint noch nicht auszureichen, und noch höherfrequent können sie wohl aufgrund ihrer Thoraxmorphologie und ihrer Muskelfunktion nicht schlagen. Rechnet man nämlich die Luftkräfte nach konventioneller stationärer Aerodynamik aus, so ergibt sich, dass die Tiere damit nur etwa 50 % der nötigen Hubkraft zustandebringen. „Stationär“ bedeutet in diesem Zusammenhang, dass ein Flügel bei gegebener Anströmung unter konstanten anderen Randbedingungen ein und dieselbe Luftkraft erzeugt,

4.2 Unterschiedliche bewegungsspezifische Probleme und Lösungen

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ob er nun nur Sekundenbruchteile lang oder viertelstundenlang angeströmt wird. Die kleinen Essigfliegen haben beim Flügelabschlag nur etwa 1/1000 Sekunde Zeit, in etwa stationäre Kräfte zu erzeugen, dann sind sie mit ihren Flügeln am unteren Umkehrpunkt und müssen sie abbremsen und wieder nach oben beschleunigen und umgekehrt. Wie die Abbildung 4.2-3 zeigt, erfolgt der Abschlag und auch der Aufschlag ganz konventionell. In der unteren Umkehrung dagegen werden die Flügel blitzartig um die Längsachse herumgerissen. Man sieht das besonders gut beim linken Flügel im Vergleich von Stellung 1 zu Stellung 2. Ähnlich bei der oberen Umkehrung: beide Flügel im Vergleich von Stellung 1 zu Stellung 3. Die Rotationsgeschwindigkeiten sind, wie gesagt, riesenhaft und können 50 000 Winkelgrade pro Sekunde betragen. Damit werden Wirbel abgeschleudert, die eine Reaktionskraft in Gegenrichtung erzeugen müssen. Diese und andere Tricks spielen zusammen und sorgen für die restlichen 50 % der nötigen Hubkraft. Man spricht hier von instationären Effekten. Diese kleinsten Fliegen müssen sich stark auf solche Effekte verlassen. Bei größeren Insekten sind instationäre Effekte auch vorhanden, aber prozentual nicht so wesentlich. Offensichtlich ist das Ausweichen ins Instationäre bedingt durch die hohe Schlagfrequenz und der (angesichts der winzigen Flügelgröße) trotzdem kleinen Reynoldszahl, und die hohe Schlagfrequenz wiederum wird erzwungen durch das dünne Medium „Luft“ (Dickinson et al. 1999). Anders sind die Verhältnisse bei kleinen Wasserorganismen wie etwa Flagellaten, die sich mit einer Geißel durchs Wasser ziehen oder drücken. Hier überwiegen, wie wir bereits früher festgestellt haben, Zähigkeitseffekte dramatisch. Schlagflügel würden in diesem dichten und zähen Medium nichts nützen, und auch die Geißeln arbeiten mit schlechten Wirkungsgraden, aber daran lässt sich eben nichts ändern. Es ist der einzige in diesem Bereich noch funktionierende Vortriebsmechanismus. In Abbildung 4.2-4 ist der Vortriebsbeiwert cV nach einer von Holwill (1977) gegebenen Theorie ausgerechnet, und zwar für einen Radius des kugelförmigen Kleinstorganismus von 0,1 µm und einer Wellenlänge der sogenannten metachronen, nach hinten laufenden Welle von 25 µm. Es ergibt sich ein Vortriebsbeiwert von cV = 0,02, der sehr klein ist. Der größte Teil der eingesetzten Kraft wird also wohl zur Überwindung der Zähigkeitseinflusse nötig sein, und nur ein geringer Anteil wird in Vortrieb umgewandelt. Auch dies wird diktiert durch das seltsame Medium: Wasser erscheint bei sehr kleiner Reynoldszahl als sehr zäh.

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4 Wasser und Luft: Unterschiedliche Fluide

Abb. 4.2-3: Bei kleinen Fliegen, wie sie die Essigfliegen darstellen, reicht stationäre Luftkrafterzeugern gerade für etwa 50 % der nötigen Gesamtkräfte. Dargestellt sind Einzelaufnahmen, die nach Zanker (1990) in etwa richtiger, zeitlicher Reihenfolge angeordnet sind, und zwar in den folgenden vier Reihen: Abschlag (oben), unterer Umkehrpunkt, Aufschlag (jeweils von oben gesehen) und obere Umkehrung (von schräg oben gesehen). Überpunktiert: Vorderkante des linken (l) bzw. rechten (r) Flügels. Pfeile: Auffallende Verbiegungsstellen.

4.2 Unterschiedliche bewegungsspezifische Probleme und Lösungen

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Abb. 4.2-4: Berechnungen des Schubbeiwerts cV nach Holwill 1977.

Man kann einen Vortriebswirkungsgrad K = P1 - P2 definieren. P1 wäre die Leistung, die nötig ist um den Organismus im Gedankenversuch mit einer gegebenen Geschwindigkeit „an einem Bändchen“ durchs Wasser zu ziehen, und P2 ist die Antriebsleistung, die der Organismus selbst aufbringen muss um eben diese Geschwindigkeit zu erzielen. Man kommt hier auf Werte von einigen wenigen, wenn nicht gar nur auf 1 %. Bis zu 99 % der eingesetzten Stoffwechselleistung muss in diesem offensichtlich höchst problematischen Reynolds-Bereich „verschleudert“ werden, geht als Wärme verloren. Nur 1 % kann in die Fortbewegung gesteckt werden. Der Heidelberger Zoologe Wilhelm Ludwig hat bereits in den Dreißiger Jahren nachgewiesen, dass so etwas ähnliches für Pantoffeltierchen gelten muss, die sich ja mit einem Kleid rasch schwingender Wimpern vorwärtsbewegen. Auch hier bleibt letztlich nur 1% der hineingesteckten Leistung für physikalische Schwimmleistung übrig. Man muss sich freilich hüten zu sagen, diese Lebewesen wären „schlecht angepasst“. Wir können diese Frage hier nur qualitativ andiskutieren: offensichtlich sind das schon die bestmöglichen Vortriebsmechanismen, die der Evolution in diesem wie gesagt recht schwierigen Strömungsbereich hinkriegen kann. Und eben so offensichtlich funktioniert das Ganze, den es gibt ja genügend begeißelte Bakterien, Algen oder Zooflagellaten und genügend bewimperte Mikroorganismen. Ihre „reale Existenz“ zeigt, dass sie sich in dieser Fluidnische gut bewegen können – auch bei winzigen Wirkungsgraden. Allerdings wohl nicht bei winzigen Körperformen. Dusenbery (1987) hat dazu Modellberechnungen angestellt.

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4 Wasser und Luft: Unterschiedliche Fluide

Unter bestimmten, „vernünftig“ erscheinenden Randbedingungen hat der genannte Autor durch Dimensionsansätze- und vergleiche herausgefunden, dass es eine gewisse minimale Körpergröße für freischwimmende Mikroben gibt, unter der sich eine Ortsbewegung aktiver Art nicht mehr rentiert. Die Berechnungen führen auf etwa 0,6 µm Minimaldurchmesser bei (kugelförmig gedachten) freischwimmenden Bakterien. Der Vergleich von 97 existierenden Genera hat für den kleinsten Freischwimmer einen Wert von 0,8 µm gebracht. Festsitzende Bakterien sind dagegen kleiner; von 94 festsitzenden Genera waren 18 kleiner als 0,8 µm. Die Gründe dafür liegen im wesentlichen in Diffusionsprozessen, der Nahrungsaufnahme und der Orientierung gegenüber chemischen Reizen und Temperaturreizen. Unterhalb einer Größe von etwa 0,6 µm rentiert sich Ortsbewegung also nicht – energetisch gesehen. Wieder findet man ganz gute Übereinstimmung zwischen Beobachtung und theoretischen Ansätzen. 4.3 Unterschiedliche Kenngrößen, die für die Atmung wichtig sind Eingangs wurde darauf hingewiesen, dass die im Vergleich mit Luft dramatisch höhere Dichte des Mediums Wassertieren große energetische Probleme bereiten würde, wenn sie sich „Pump-Atmungsorgane“ leisten würden, so wie dies Landlebewesen mit ihren Lungen tun. Zu dem energetischen Problem kommt aber noch ein Problem der Lösungsphysik: die Atemgase Sauerstoff und Kohlendioxid diffundieren und lösen sich in Luft und Wasser durchaus unterschiedlich. Diffusionsprobleme beschreibt das erste Fick’sche Gesetz, das wir im ersten Abschnitt (Abb. 1.3-1) schon diskutiert haben. Betrachten wir ein gasförmiges Medium, etwa Luft. Demnach ist der Massenfluss 'M/'t (in mol s-1), in unserem Fall die Änderung einer Gasmasse pro Zeiteinheit, proportional der Fläche A, durch die hindurch die Diffusion erfolgt, sowie der Konzentrationsdifferenz 'c = c2 - c1 für die beiden Kompartimente, welche die Diffusionsfläche trennt. Der Massenfluss ist umgekehrt proportional der Dicke s der Schicht, aus der die Diffusionsfläche besteht. Aus dieser Proportion wird eine Gleichung durch die Einbeziehung eines Proportionalitätsfaktors, der Diffusionskonstanten D. Setzt man die in Abbildung 4.3-1 angegebenen Einheiten ein, so ergibt sich, dass es sich bei D um eine dimensionsbehaftete Konstante handelt; sie besitzt die unanschauliche Dimension „Fläche pro Zeit“ und die Einheit m2 s-1. Das erste Fick’sche Gesetz beschreibt also die – rein passive – Diffusion von Gasen, im Mittel aus einem Kompartiment mit der größeren Konzentration c2 in ein Kompartiment mit der geringeren Konzentration c1, wobei die beiden Kompartimente durch eine diffusionsbehinderte Membran der Fläche A und der Schichtdicke s getrennt sind.

4.3 Unterschiedliche Kenngrößen, die für die Atmung wichtig sind

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Abb. 4.3-1: Ansätze für Diffusions-Beziehungen; Fick’sches Diffusionsgesetz mit Diffusionskonstante D; Krogh’sche Diffusionskonstante K.

Für Wasser gilt im Prinzip das gleiche, nur betrachtet man statt der Konzentrationsdifferenz 'c die Druckdifferenz 'p des Atemgases, und statt der Diffusionskonstanten wird dann die Krogh’sche Diffusionskonstante K = < ˜ D verwendet (< Löslichkeitskoeffizient oder Bunsen’scher Absorptionskoeffizient). Wenn man die in Abbildung 4.3-1, unten, angegebenen Einheiten einsetzt, ergibt sich für 'M/'t wieder die Massenfluss-Einheit mol s-1. In Wasser sind ja unterschiedliche Gase gelöst, Sauerstoff, Kohlendioxid, Stickstoff, Spuren anderer Gase; in Luft nehmen diese Gase unterschiedliche Volumenanteile ein. Nach dem bereits 1807 formulierten Henry-Dalton’schen Gesetz von der Unabhängigkeit der Partialdrücke lässt sich aber jedes Gas unabhängig von den anderen betrachten, wenn man für p seinen eigenen Partialdruck einsetzt. Da sowohl D wie auch < temperaturabhängig sind, ist das Produkt aus beiden, die Krogh’sche Diffusionskonstante K, ebenfalls temperaturabhängig. Sie wächst um etwa 1,4 % pro ° C. In der Tabelle von Abbildung 4.3-2 sind die Diffusionskenngrößen FW beschleunigt er. Damit steigt FW, und zwar quadratisch mit der Gleitgeschwindigkeit, bis wieder Kräftegleichgewicht herrscht. Dann gleitet der Vogel - nun mit einer größeren Gleitgeschwindigkeit wieder stationär, das heißt, in gleichen Zeiten über gleiche Strecken. Die Verhältnisse sind in Abb. 5.1-1 C dargestellt. Statt der Strecken kann man auch die Geschwindigkeiten einsetzen (Abb. 5.1-1 B und C). Den Quotienten aus Gleitweite l und Gleithöhe h bezeichnet man als Gleitzahl H = l/h. Aus geometrischen Gründen und im Vergleich mit Abbildung 5.1-1 C gelten die Beziehungen: H = l/h = vgrund/vsink = FA/FW = cA/cW = cotg E (cA Auftriebsbeiwert, cW Widerstandsbeiwert; es sei erwähnt, dass in manchen Büchern der Quotient h/l als Gleitzahl bezeichnet wird). Im hier definierten Sinne bedeutet eine große Gleitzahl H einen kleinen Gleitwinkel E und kennzeichnet ein gutes Gleitsystem. In Abbildung 5.1-2 sind einige Beispiele gegeben. Die Größe H gibt an, wie viele Kilometer ein Flieger aus einem Kilometer Höhe gleiten kann, bevor er den Boden berührt. Man sieht, dass Vögel respektable Werte erreichen. Durchschnittliche biologische Gleiter werden aber schon von Verkehrsflugzeugen übertroffen, und die besten werden von den hochgezüchteten Segelflugzeugen der Technik weit überholt. Während der Mäusebussard aus 1 Kilometer Höhe "nur" etwa 12 Kilometer gleiten kann, schaffen die besten derzeitigen Segelflugzeuge an die 60 Kilometer. (Sie sind aber schon so hochgezüchtet, dass es reicht, aus einem leicht geöffneten Cockpitfenster den Zeigefinger herauszustrecken: der Strömungsabriss reduziert sofort die Extremgleitzahl.) Einstellung der Gleitneigung Der geringstmögliche Gleitwinkel, das heißt also die maximale Gleitstrecke l bei gegebener Ausgangshöhe h, wird durch die größte Gleitzahl H vorgegeben. Was aber macht ein Vogel, wenn er steiler gleiten will? Beim Segelflugzeug setzt sich der im Schwerpunkt angreifende, dem Gewicht entgegengesetzt gleiche Gesamtauftrieb geometrisch zusammen aus dem Flügelauftrieb vor dem Schwerpunkt und dem Höhenleitwerksauftrieb hinter dem Schwerpunkt. Will der Flugzeugführer steiler gleiten, so dreht er die Höhenleitwerksklappen nach unten, vergrößert damit die Wirkung des Leitwerks und erhöht dessen Auftrieb: das Flugzeug stellt sich mit der Nase steiler nach unten.

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5 Leben und Umwelt im Luftmeer

Abb. 5.1-2: Gleitkenngrößen. @ Gleitzahl = Gleitwert in km über Grund aus einer Höhe von 1 km, = Gleitwinkel.

Auf der neuen, steileren Gleitbahn muss nun wieder Kräftegleichgewicht herrschen. Wieder muss die Luftkraftresultierende entgegengesetzt gleich dem Gewicht sein, aber sie setzt sich nun aus anderen Auftriebs- und Widerstandsanteilen zusammen. Die Gleitgeschwindigkeit vergrößert sich zunächst, und damit steigt der Fahrtwiderstand. Flugzeug wie Vogel müssen sich in diesem Fall so austarieren, dass die Resultierende aus dem (durch die geringere Anstellung kleiner gehaltenen) Auftrieb und dem nun größeren Widerstand wieder entgegengesetzt gleich dem Gewicht ist. Dann gleitet das System wieder stationär, wenngleich mit größerer Gleitgeschwindigkeit unter größerem Gleitwinkel. Es kommt dann also steiler und schneller zu Boden. Gleitflug beim extrem langsamen Absinken ist beispielsweise wichtig für energiesparendes Streckenzurücklegen über Land unter Nutzung von Thermikschläuchen. Steiler Sturzflug kann wichtig sein beim Beuteschlagen, der Flucht vor einem Flugfeind oder für das "Erstankommen" eines Geiers bei einem Kadaver. In diesem Zusammenhang sind zwei Kenngrößen wichtig, die Streckung und die Flächenbelastung.

5.1 Passiver Gleitflug – Ein scheinbar einfacher Flugzustand

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Streckung Die Streckung / kennzeichnet den Schlankheitsgrad eines Flügels. Für den Rechteckflügel der Breite b (von Flügelspitze zu Flügelspitze) und der Tiefe t gilt die Definition / = b/t. Die meisten Flugzeugflügel und erst recht Vogelflügel sind nun allerdings nicht angenähert rechteckig. Man wählt hier die Definition / = b2/A mit der Flügelfläche A (Abb. 5.1-3 A). Die beiden Definitionen sind formal identisch, bei beiden ist die Dimension gleich; die Größe / ist eine dimensionslose Zahl.

Abb. 5.1-3 A, B: Zu den Begriffen Streckung und Flächenbelastung. A Streckung  = b2/A. B Flächenbelastung = FG/A. Vgl. den Text.

Gut gleitende Vögel haben üblicherweise eine relativ große Streckung. Sie verringern damit den induzierten Widerstand, der auf die Bildung von Wirbelzöpfen bei der Umströmung der Schlagflügel von der unteren Druckseite zur oberen Saugseite zurückzuführen ist. Es wäre freilich falsch, den Geiern wegen der geringern Streckung eine "schlechteres" Gleitverhalten zuzuschreiben als den Albatrossen (s.u.). Wären die Flügel aber geometrisch ähnlich, so käme der mit der größeren Streckung bei sonst gleichen Randbedingungen weiter über Grund. Vielleicht kann sich ein Geier als Landsegler auch deshalb keine so große Streckung leisten wie ein Albatros als Meeressegler, weil er öfters landen und die Flügel zusammenfalten muss. Gut gleitende Vögel haben üblicherweise eine relativ große Streckung (Abb. 5.1-3 A).

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5 Leben und Umwelt im Luftmeer

Dies gilt seltsamerweise nicht für ganz leichte Gleitflieger, zu denen manche Insekten gehören. Ennos (1988) hat sich darüber Gedanken gemacht. Seine Überlegungen widersprechen nicht der Tatsache, dass der Gleitwinkel unter sonst gleichen Randbedingungen mit sinkender Körpermasse größer (also schlechter) wird. Um aus dieser Gesetzlichkeit das jeweils Beste herauszuholen, muss aber die Streckung mit geringerer Körpermasse geringer werden, der Flügel muss relativ groß werden, aber weniger langgestreckt. Für einen maximalen Auftriebskoeffizienten von cA = 0,6 gelten beispielsweise die folgenden Wertegruppen (Masse M in g, Reynoldszahl Re, Gleitwinkel E in Grad, Streckung /): M = 1; Re = 4350; E = 11,3 / = 3,86 M = 0,1; Re = 1734; E = 18,0; / = 2,43 M = 0,01; Re = 682; E = 29,2 / = 1,53. Der Grund für die seltsam erscheinende Tatsache, dass geringere (schlechter erscheinende) Streckungen bei besonders kleinen Körpermassen noch die bestmöglichen Gleitwinkel herausholen liegt darin, dass nur mit solchen „stumpfen“ Flügeln eine besonders kleine Gleitgeschwindigkeit eingestellt werden kann, die noch unterhalb derjenigen Geschwindigkeit liegt, bei der es zum Strömungsabreißen kommt. Vergleicht man gleitfliegende Insekten (Neptis parthenos) und gleitfliegende Samen (Alsomitra, Ulmus) mit schwirrfliegenden Insekten (Eristalis, Drosophila) und rotierenden Samen (Acer, Picea) in etwa gleicher Körpermassen, so kommt klar heraus, dass die Gleitflieger eine vergleichsweise viel geringere Streckung aufweisen. Die gleitfliegende Neptis sappho mit 70 mg Körpermasse besitzt eine Streckung von 2,9, die schwirrfliegende Eristalis tenax mit 100 mg Körpermasse dagegen eine solche von 7,1. Der gleitfliegende Samen von Ulmus glabra mit einer Masse von 5 mg besitzt eine Streckung von 0,8, der DrehflüglerSamen von Picea abies mit 7 mg Masse dagegen eine solche von 3,2. Berechnungen und Messungen weisen also in eine gleiche Richtung. Somit muss man vorsichtig sein, Aspekte der technischen Aerodynamik, die für sehr viel höhere Reynoldszahlen gelten, unkritisch auf besonders kleine und leichte biologische Flieger zu übertragen. Bei diesen steigt insbesondere der Profilwiderstand dramatisch an, und das ist letztlich der Auslöser für die genannten morphologischen Anpassungen (relativ große Flügelfläche aber kleine Streckung) der Kleinsten. Das sind Anpassungen, die einem Segelflieger völlig gegen den Strich gehen.

5.1 Passiver Gleitflug – Ein scheinbar einfacher Flugzustand

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Flächenbelastung Unter der Flächenbelastung FG/A versteht man das gesamte Tiergewicht FG, bezogen auf die tragende Fläche A. Als solche gelten beim Vogel definitionsgemäß die beiden Flügel und das eingeschlossene "Mittelstück", analog der Definition beim Flugzeug. Der Schwanz kann hierbei berücksichtigt werden oder nicht. Wenn man Flächenbelastungen und Flugstile vergleicht, so ist das vorzugsweise bei Vögeln sinnvoll, die keinen allzu großen Gewichtsunterschied aufweisen. Dies ist der Fall bei den beiden in Abbildung 5.1-3 B skizzierten Vögeln, nämlich dem Adler-Fregattvogel und der Dickschnabellumme (Gesamtgewicht jeweils 19,6 N). Die Lumme besitzt aber eine viel geringere Flügelfläche und damit eine rund 5-fach höhere Flächenbelastung. Der Effekt: Die rasch angleitenden, schwerfällig steuernden Lummen unterscheiden sich im Flugstil drastisch von den leicht im Hangaufwind segelnden, rasche feingesteuerte Flugmanöver ausführenden Fregattvögeln. Wenn man aber Vögel unterschiedlicher Körpermasse vergleichen will, sind die Verhältnisse nicht so einfach. In Abbildung 5.1-4 sind Flügelumrisse von sechs Vögeln aufgezeichnet; ihr Gleitvermögen ist angegeben, und für Streckung / und Flächenbelastung FG/A sind Mittelwerte angegeben. Demnach haben gut gleitende Vögel langgestreckte Flügel; alle guten Gleiter haben relativ hohe Flächenbelastungen und die Nicht-Gleiter (z.B. das Rotkehlchen) geringe. Dennoch kommt es auch vor, dass mäßige Gleiter wie die Amsel und hervorragende Gleiter wie der Turmfalke und die Lachmöwe gleiche (relativ große) Flächenbelastungen aufweisen. Das Ganze scheint irgendwie nicht zusammenzuspielen. Man kommt der Sache aber etwas näher, wenn man sich die Formulierung der Sinkgeschwindigkeit ansieht. Minimierung der Sinkgeschwindigkeit Prinzipiell ist der Gleitflug ein einfacher physikalischer Flugzustand, und es sollte deshalb auch der Gleitflug von Vögeln leicht durchschaubar sein. Im Gegensatz zum Flugzeug können Vögel freilich physikalische Parameter wie Winkel, Anströmrichtungen, Flächen und damit auch die hier genannten Kenngrößen Streckung und Flächenbelastung blitzartig und feingesteuert verändern. Nur an ihrem Gewicht können sie nicht drehen. Stellt sich einem Vogel das Problem, seine Sinkgeschwindigkeit zu optimierten (d.h. zu minimieren) wenn er - wie es afrikanische Geier tun - unter möglichst geringem Höhenverlust von einer Thermik zu nächsten gleiten will, so sollte er "nach dem gesunden Geierverstand" seine Flügel möglichst weit spreizen, und seine Gleitgeschwindigkeit sowie seinen Widerstand möglichst klein halten.

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Abb. 5.1-4: Beispiele für Vogelflügel mit Angabe der Streckung  und der Flächenbelastung FG/A..

Die nähere physikalische Betrachtung zeigt aber, dass dem keineswegs so ist, sondern dass der Vogel für ein optimales Zusammenspiel sehr unterschiedlicher Effekte eine ganz eigentümliche geometrische Näherung anstreben muss. Gleitflug ist für den Vogel mit seinen großen Variations- und raschen Einstellungsmöglichkeit offensichtlich ein anders zu optimierendes Problem als für ein Flugzeug, dem nur wenige Regelungsparameter zur Verfügung steht. Wie also ist die Sinkgeschwindigkeit zu minimieren? Über einige aerodynamische Grundgleichungen erhält man die folgende Beziehung, die hier in Worten, weiter unten mit Kenngrößen angegeben ist:

Was besagt diese Formel? So einfach sie ist: man kann sich bei ihrer (physikalischen oder biologischen) Interpretation die Zähne ausbeißen. Für einen guten Gleitflieger sollte die Sinkgeschwindigkeit aus naheliegenden Gründen möglichst klein sein. Sie ist dann klein, d.h. günstig, wenn beide Terme rechts des Gleichheitszeichens klein sind. Der erste Term ist aber klein, wenn die Gleitgeschwindigkeit klein ist, die Fläche klein und die Flächenbelastung groß ist. Der zweite Term hingegen ist

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klein, wenn die Gleitgeschwindigkeit groß, die Fläche groß und die Flächenbelastung klein sind; zudem wird er klein, wenn die Streckung groß ist – das reinste Verwirrspiel. Gleitgeschwindigkeit, Fläche und Flächenbelastung spielen also die beiden Terme gegeneinander aus, und man kann sich vorstellen, das sich irgendwo ein Optimum ausbildet. Bei einer ganz bestimmten Kombination und damit Gleitgeschwindigkeit wird die Sinkgeschwindigkeit am kleinsten (günstigsten) sein, bei kleinerer und größer Gleitgeschwindigkeit dagegen wird sie ansteigen. Ähnliches gilt für die Flächenbelastung. Nun kann man allerdings die Überlegung noch weiter führen. Der erste Term wird groß und damit gefährlich und ungünstig, wenn die Gleitgeschwindigkeit groß wird. Klein gehalten werden kann er ja nur durch eine kleine Fläche und eine große Flächenbelastung. Wenn der Vogel schnell gleiten und dabei nur langsam sinken will, sollte er also eine kleine Fläche bzw. eine große Flächenbelastung einstellen. Der zweite Term wird dann groß und damit gefährlich, wenn die Gleitgeschwindigkeit besonders klein wird. Kleingehalten werden kann er nur dadurch, dass die Fläche möglichst groß und damit die Flächenbelastung möglichst klein gemacht wird, außerdem auch noch durch eine große Streckung. Bis vor einiger Zeit konnte man die "Enden" dieser Zusammenhänge weder physikalisch noch biologisch so recht zusammenbringen. Angeregt durch diese Problematik hat sich der Aerodynamiker Siegfried Wagner Gedanken über die Zusammenhänge gemacht und das Problem durch einen Ansatz unter Einbezug von Nebenannahmen, die in der Flugmechanik üblich sind, gelöst. Seine Vorgehensweise und Schlussfolgerungen seien hier kurz umrissen. Die oben in Worten umschriebene Gleichung für die Sinkgeschwindigkeit lautet: 1 1 2 FG 1 1 3 vsink = cWO U ˜ ˜ v gleit + ˜ ˜ ˜ . FG /A 2 ȡʌ A ȁ v gleit Sie lässt sich umformen zu: 2 c wi 2 FG 1 ˜ ˜ ˜ . FG ˜ vsink = Fwo ˜ vgleit + c A 2 ȡ A v gleit Hierin bedeuten U die Luftdichte, FWO den Profilwiderstand bei Nullanstellwinkel und cWi den Beiwert des induzierten (auftriebsabhängigen) Widerstands. Für symmetrische Profile gilt: 1 ˜ cA2 mit dem Auftriebswert cA. cWi = ʌȁ

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Die Terme in der Gleichung 1 haben jeweils die Dimension einer Leistung. Man kann diese Gleichung deshalb in Worten so charakterisieren: Gesamtleistung 1 (links des Gleichheitszeichens) ist gleich Leistung 2 + Leistung 3 (rechts des Gleichheitszeichens). Die Leistung der Erdanziehung 1 muss der zur Überwindung des auftriebs-unabhängigen Profilwiderstands nötigen Leistung 2 und der zur Überwindung des auftriebsabhängigen Widerstand nötigen Leistung 3 entsprechen. S. Wagner’s weitere Ansätze zur Lösung der aufgeworfenen Frage zum optimalen Zusammenspiel von Streckung und Flächenbelastung zum Erzielen einer möglichst geringen Sinkgeschwindigkeit sind in Abbildung 5.1-5 zusammengefasst.

Abb. 5.1-5: S. Wagner’s Ansatz zur Formulierung der optimalen Sinkgeschwindigkeit bei Vögeln.

5.2 Größenbeziehungen und Leistungseigentümlichkeiten bei Vögeln

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Nach einigen einfachen Umformungen (1) bis (5) erhält man Gleichung (6). In ihr hängt die Sinkgeschwindigkeit vsink von drei Parametern ab. Um das Optimum von vsink zu finden, muss aber eine Form gesucht werden, in der vsink möglichst nur noch von einem Parameter (und von Konstanten) abhängt. Dies gelingt über den Ersatz der Gleitgeschwindigkeit durch die Flächenbelastung (7) und eine Näherungsbetrachtung. Der hieraus folgenden Gleichung (8) lässt sich nun entnehmen, dass die Sinkgeschwindigkeit klein wird, wenn auch c W2/cA3 klein wird. Das Minimum von cW2/cA3 – und damit auch das Minimum von vsink – lässt sich ermitteln, indem man für Flügel mit elliptischem Grundriss die Gleichung (9) nach cA differenziert und den erhaltenen Ausdruck (10) gleich Null setzt. Unter der Annahme cW