Die Zukunft auf dem Land: Imagination, Projektion, Planung, Gestaltung 9783839456750

Die Vorstellungen und Ideen, wie menschliche Lebenswelten in Zukunft aussehen werden, befinden sich in erhöhter Bewegung

316 87 10MB

German Pages 604 Year 2022

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Die Zukunft auf dem Land?
Ländliche Zukünfte I: Perspektiven und Zugänge
Unbetretene Pfade und andere Zukünfte
Das sterbende Dorf
Vom Schäferspiel zur Gartenschau
Rurbane Zukunftsentwürfe
Kulturen des Unterwegsseins in rurbanen Landschaften
Was hat Regionalentwicklung mit Framing zu tun?
Ländliche Zukünfte II: Imaginationen und Projektionen
»Unbedingte Tätigkeit«
Städtisches Dorf, dörfliche Stadt
Das Ende der Städte
»Du weißt doch, wie die Leute hier sind.«
Geographien der Einsamkeit
Eine Zukunft auf dem Land?
Die Zukunft auf dem Lande – früher und heute
There’s quite a Future in England’s Dreaming
Rurale Teilzeitutopie
Ländliche Zukünfte III: Planungen und Gestaltungen
Vom Dorfplan zum Leitbild
utopie.raum.dorf
Raumkulturen kleiner Städte und großer Dörfer in peripheren Lagen
Die Zukunft von Bauernhäusern
Zukunftsressource Landbahnhof
In neuer Frische
Neue Attraktivität ländlicher Räume durch Digitalisierung?
Daten, Design und Zukunftswissen in der Mensch-Tier-Technik-Beziehung
»und es kam, wies kommen musste, ich hatte die Hälfte meiner Klasse um mich herum«
Dorf Neu Denken
Dörfer im Agrarmeer
Autorinnen und Autoren
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Die Zukunft auf dem Land: Imagination, Projektion, Planung, Gestaltung
 9783839456750

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Sigrun Langner, Marc Weiland (Hg.) Die Zukunft auf dem Land

Rurale Topografien  | Band 14

Editorial Rurale Topografien erleben nicht nur gegenwärtig in den medialen, literarischen und künstlerischen Bilderwelten eine neue Konjunktur – sie sind schon seit jeher in verschiedensten Funktionen ganz grundsätzlich am Konstituierungsprozess sowohl kultureller als auch individueller Selbst- und Fremdbilder beteiligt. Imaginäre ländliche und dörfliche Lebenswelten beeinflussen die personale und kollektive Orientierung und Positionierung in bestimmten Räumen und zu bestimmten Räumen. Dabei entwerfen sie Modelle, mit denen individuelle und gesamtgesellschaftliche Frage- und Problemstellungen durchgespielt, reflektiert und analysiert werden können. Auch in ihren literarischen Verdichtungsformen und historischen Entwicklungslinien können sie als narrative und diskursive Reaktions-, Gestaltungs- und Experimentierfelder verstanden werden, die auf zentrale zeitgenössische Transformationsprozesse der Koordinaten Raum, Zeit, Mensch, Natur und Technik antworten. Damit wird auch die Frage berührt, wie eine Gesellschaft ist, war, sein kann und (nicht) sein soll. Die Reihe Rurale Topografien fragt aus verschiedenen disziplinären Perspektiven nach dem Ineinandergreifen von künstlerischer Imagination bzw. Sinnorientierung und konkreter regionaler und überregionaler Raumordnung und -planung, aber auch nach Möglichkeiten der Erfahrung und Gestaltung. Indem sie die Verflechtungen kultureller Imaginations- und Sozialräume fokussiert, leistet sie einen Beitrag zur Analyse der lebensweltlichen Funktionen literarisch-künstlerischer Gestaltungsformen. Ziel der Reihe ist die interdisziplinäre und global-vergleichende Bestandsaufnahme, Ausdifferenzierung und Analyse zeitgenössischer und historischer Raumbilder, Denkformen und Lebenspraktiken, die mit den verschiedenen symbolischen Repräsentationsformen imaginärer und auch erfahrener Ländlichkeit verbunden sind. Die Reihe wird herausgegeben von Werner Nell und Marc Weiland. Wissenschaftlicher Beirat: Kerstin Gothe (Karlsruhe), Ulf Hahne (Kassel), Dietlind Hüchtker (Wien), Sigrun Langner (Weimar), Ernst Langthaler (Linz), Magdalena Marszalek (Potsdam), Claudia Neu (Göttingen), Barbara Piatti (Basel), Marc Redepenning (Bamberg) und Marcus Twellmann (Konstanz) Sigrun Langner (Prof. Dr.-Ing.) ist Landschaftsarchitektin und Professorin für Landschaftsarchitektur und -planung an der Bauhaus-Universität Weimar. Marc Weiland (Dr. phil.) ist Lektor an der Karls-Universität Prag.

Sigrun Langner, Marc Weiland (Hg.)

Die Zukunft auf dem Land Imagination, Projektion, Planung, Gestaltung

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Volkswagenstiftung und der Bauhaus-Universität Weimar.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2022 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Anke Tornow Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5675-6 PDF-ISBN 978-3-8394-5675-0 https://doi.org/10.14361/9783839456750 Buchreihen-ISSN: 2703-1454 Buchreihen-eISSN: 2703-1462 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Vorwort | 9 Die Zukunft auf dem Land? Intermediale Bilder, Narrative, Diskurse

Marc Weiland | 11 ⁎⁎⁎

LÄNDLICHE ZUKÜNFTE I: PERSPEKTIVEN UND ZUGÄNGE Unbetretene Pfade und andere Zukünfte. Entwicklungsperspektiven ländlicher Räume aus raumwissenschaftlicher Sicht

Ulf Hahne | 65 Das sterbende Dorf. Ein mediales Narrativ und die Rolle des sozialen Systems der Religion – ein diskursanalytischer Zugang

Raphael Singer | 111 Vom Schäferspiel zur Gartenschau. Ländlichkeit als Bildervorrat der (Post-)Moderne zwischen Macht und Unterhaltung

Werner Nell | 139 ⁎⁎⁎ Rurbane Zukunftsentwürfe. Mögliche Zukünfte in Raumbildern erzählen und verhandeln

Sigrun Langner | 163 Kulturen des Unterwegsseins in rurbanen Landschaften. Wo und wie verortet sich die multilokale Gesellschaft?

Henrik Schultz | 183 Was hat Regionalentwicklung mit Framing zu tun? Neue Geschichten braucht das Land!

Martin Heintel | 197 ⁎⁎⁎

LÄNDLICHE ZUKÜNFTE II: IMAGINATIONEN UND PROJEKTIONEN »Unbedingte Tätigkeit« – Land und Arbeitsgesellschaft in Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre

Marcel Krings | 213 Städtisches Dorf, dörfliche Stadt. Die Gartenstadt-Idee und vier russische Utopien von 1920/21

Eliane Fitzé | 231 Das Ende der Städte. Szenarien eines neuen Landlebens nach der atomaren Apokalypse in Science-Fiction-Romanen des Kalten Krieges. Komparatistische Perspektiven

Anne D. Peiter | 253 ⁎⁎⁎ »Du weißt doch, wie die Leute hier sind.« Zur Zukunftsfähigkeit von ›Heimat‹ in Dorfromanen der Gegenwart

Friederike Schruhl | 275 Geographien der Einsamkeit. Die seelische Kartierung bäuerlicher Welten in der Gegenwartsliteratur

Thomas Streifeneder, Barbara Piatti | 291 Eine Zukunft auf dem Land? Dystopische Imaginationen des Ländlichen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur

Alexandra Ludewig | 319 ⁎⁎⁎ Die Zukunft auf dem Lande – früher und heute. Verhandlungen über die Zukunftsfähigkeit des Dorfes im bundesdeutschen Fernsehdokumentarismus

Christian Hißnauer | 343 There’s quite a Future in England’s Dreaming. Das Rurale als Ort der Entscheidung in der britischen Fernsehserie Doctor Who

Janwillem Dubil | 375 Rurale Teilzeitutopie. Entwürfe ländlicher Kulissen vom Hameau de la Reine bis Westworld

Jonas Nesselhauf | 387

LÄNDLICHE ZUKÜNFTE III: PLANUNGEN UND GESTALTUNGEN Vom Dorfplan zum Leitbild. Anmerkungen zu Dorfkonzepten der 1950er bis 1970er Jahre in der Bundesrepublik

Karl H. Schneider | 409 utopie.raum.dorf. (Architektonische) Visionen von Ländlichkeit im Sozialismus

Uta Bretschneider | 421 Raumkulturen kleiner Städte und großer Dörfer in peripheren Lagen. Zukunftsvisionen aus der raumplanerischen Perspektive

Thomas Gräbel, Sabine Rabe, Hille von Seggern | 435 ⁎⁎⁎ Die Zukunft von Bauernhäusern. Über den divergenten Umgang mit historischen Gebäuden in ländlichen Räumen

Ines Lüder | 449 Zukunftsressource Landbahnhof. Bauprinzipien nachhaltiger Gebäudetransformation

Maria Frölich-Kulik | 463 In Neuer Frische. Die Sommerfrische Schwarzatal als regional selbstbestimmte Form des historischen Phänomens Sommerfrische

Richard Pantzier | 481 ⁎⁎⁎ Neue Attraktivität ländlicher Räume durch Digitalisierung? Sozial-innovative Nutzungen digitaler Technik im Ländlichen

Ariane Sept, Christian Reichel | 507 Daten, Design und Zukunftswissen in der Mensch-Tier-TechnikBeziehung. Zur Gestaltung von Architekturen und technischen Umgebungen beim Smart Farming

Ina Bolinski | 523 »und es kam, wies kommen musste, ich hatte die Hälfte meiner Klasse um mich herum« – Über das Bleiben in ländlichen Räumen

Melanie Rühmling | 545

⁎⁎⁎ Dorf Neu Denken. Ein räumliches Konzept für die Weiterentwicklung von Dörfern

Jeff Mirkes | 561 Dörfer im Agrarmeer. Entwurfsperspektiven für eine klimagerechte und lebenswerte Zukunft des Landes

Atidh Jonas Langbein, Sigrun Langner, Pia Müller | 579 ⁎⁎⁎ Autorinnen und Autoren | 595

Vorwort

In einer Welt, in der Urbanisierungsprozesse scheinbar unaufhaltsam und immer rasanter voranschritten, wurden die Zukunftsfragen der Menschheit nahezu ausschließlich in Städten verhandelt. Selbst wenn die Kehrseiten der Urbanisierung in den Blick genommen wurden, wenn z.B. nach den Auswirkungen von Klimawandel und Ressourcenverbrauch, technischen Innovationen und Entwicklungen, Migrationsbewegungen und Strukturwandelprozessen auf ländliche Räume und Regionen gefragt oder aber auch nach potenziellen Auswegen aus den Zumutungen und Überforderungen der Moderne gesucht wurde, dann geschah dies zumeist aus einer urbanen Perspektive heraus. Diese Perspektive fand sich immer wieder in den kulturellen Imaginationen des Ländlichen eingeschrieben. Ruralitäten dienten in gesellschaftlichen Selbstbeschreibungen vielmals – und dienen auch gegenwärtig noch allzu häufig – als Kontrastierungen zu bzw. Negationen von Modernisierung, Beschleunigung und Fortschritt. Als solche waren sie stets mit der Vergangenheit verhaftet: einerseits marginalisiert als defizitäre, abgehängte und verlassene Orte des Rückstands, andererseits überhöht als idealisierte, romantisierte und exotisierte Orte des Ausbruchs und der Flucht. Imaginationen und Projektionen wie auch Planungen und Gestaltungen der Zukunft moderner Gesellschaften waren hingegen nahezu konstitutiv mit dem Urbanen verbunden. Dabei ließ (und lässt) diese urbane Perspektive zugleich die ›weißen Flecken‹ jenseits der Städte und Agglomerationsräume stetig wachsen. Allerdings deutet sich gegenwärtig doch ein Perspektivwechsel – oder besser gesagt: eine Perspektivenerweiterung – an, der (bzw. die) möglicherweise auch ein Zeitenwechsel – oder besser: eine Zeitenerweiterung – bedeutet; ein Zeitenwechsel und eine Zeitenerweiterung, in denen neben die urbane nunmehr auch zunehmend eine rurale Zukunft tritt. Damit sind einige Fragen verbunden. Unter anderem: Wie sieht (und sah) überhaupt eine ausdifferenzierte Vorstellung – und damit eventuell auch: Wahrnehmung und Gestaltung – einer Zukunft auf dem Land aus? Welche medialen und planerischen Bilder und Narrative werden und wurden in Verbindung mit einer erstrebenswerten, aber ebenso mit einer zu vermeidenden Zukunft auf dem Land in jeweils unterschiedlichen historischen Zeiten und kulturellen Kontexten aufgerufen, (re)konstruiert und (re)aktualisiert? Und wie können uns diese historischen

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und gegenwärtigen Zukunftsbilder und -erzählungen möglicherweise beim Navigieren in eine, wenn man so sagen will, ›enkeltaugliche‹ Zukunft unterstützen? Solche und weitere Fragen sowohl nach der Zukunft im Ländlichen als auch nach der Zukunft des Ländlichen erfordern ein vertieftes Erkunden und Verstehen der diversen Motive, Problemlagen und Gestaltungsweisen, die mit imaginierten und realisierten Ruralitäten – verstanden als multidimensionale Raumkonzepte, die sich aus der Wechselwirkung materialer, mentaler und symbolischer Produktionen des Ländlichen ergeben – verbunden sind. Der hier vorliegende Band versammelt Beiträge, die vor dem Hintergrund unterschiedlicher disziplinärer Hintergründe das Imaginieren, Projizieren, Planen und Gestalten möglicher wie auch unmöglicher, erwünschter wie auch befürchteter ruraler Zukünfte im historischen Querschnitt analysieren und reflektieren. Dabei ist der Titel ein doppeldeutiger: Es soll einerseits um Imaginationen der Zukunft und des Zukünftigen (d.h.: wie und als was sie auf dem Land erscheinen) und andererseits um Imaginationen des Lands und des Ländlichen (d.h.: wie und als was es in Zukunft erscheint) gehen. Dafür verbindet der Band kultur- und literaturwissenschaftliche Perspektiven mit raum- und planungswissenschaftlichen sowie entwurfspraktischen Ansätzen. Er nimmt verschiedene mediale Formen in den Blick, mit denen ländliche Zukünfte imaginiert, konstruiert und verhandelt werden und wurden, und beleuchtet sie auch hinsichtlich ihrer gegenseitigen Beeinflussung und Durchdringung: von statistischen Daten und empirischen Analysen über Literatur, Film und Serie bis hin zu (landschafts)architektonischen und raumplanerischen Bildern und Entwürfen. Die Analyse und Reflexion dieser Zukunftsbilder und -erzählungen – u.a.: ihrer historischen, sozialen und kulturellen Kontexte, ihrer Ästhetisierungen und Funktionalisierungen, ihrer ökologischen und ökonomischen, technologischen und anthropologischen Ausgangspunkte sowie ihrer spezifischen Geltungsansprüche – trägt dazu bei, die Zukunft auf dem Land wie auch die Zukunft des Ländlichen als eine ›plurale Zukunft‹ zu sehen und zu denken; und ebenso das Land der Zukunft als ein ›plurales Land‹ zu gestalten. Das Prinzip der Reversibilität und der Aushandlung wird in diesem Verständnis eines stückweisen Entwickelns von Zukunft zentral. Die sowohl in utopischen wie dystopischen medialen Zukunftsimaginationen als auch in umsetzungsorientierten planerischen Zukunftsentwürfen aufgerufenen und erzeugten Ruralitäten können dabei als Orte, Bilder und Narrative fungieren, über die und mit denen gesellschaftliche Aushandlungsprozesse angestoßen werden, die gleichermaßen urbane, rurale und rurbane Zukünfte in ihren verschiedenen Verhältnissen zueinander nicht etwa aus einem (›großen‹) Wurf, sondern vielmehr aus vielen (›kleinen‹) Eingriffen erschaffen. Sie können uns somit zugleich als Orientierungsmarken dienen, die weitere (Re)Positionierungen in einer ›pluralen Zukunft‹ und auf einem ›pluralen Land‹ ermöglichen; ja, sie können unter Umständen auch neue Gegenbilder und -bewegungen herausfordern und uns so womöglich gar zu einem Um- und Neudenken im Umgang mit unseren urbanen, ruralen und rurbanen Gegenwarten anregen.

Die Zukunft auf dem Land? Intermediale Bilder, Narrative, Diskurse M ARC W EILAND

S TADT UND / ODER L AND : EIN GLOBALES P ROBLEM IN G EGENWART UND Z UKUNFT Eine alte Idee im neuen Gewand Thanos, der Oberschurke aus den Blockbustern des Marvel Cinematic Universe und Widersacher von Captain America, Iron Man und Co, Thanos also, der in den weltweit populären Filmen des Franchises schon über Jahre hinweg erfolglos die Strippen im Hintergrund gezogen hatte, dann doch endlich die Sache selbst in die Hand nahm und nach mehreren spektakulären und vor allem auch zerstörerischen Entscheidungsschlachten wahlweise in überfüllten Metropolen oder abgelegenen Provinzen schließlich mit einem fast schon legendären Fingerschnipsen die Hälfte aller Lebewesen des Universums hinwegfegte (bzw.: zu Staub zerrieseln lies), hat mittlerweile seine Rüstung an den Nagel gehängt (bzw.: zur Vogelscheuche umfunktioniert) und ist nun: Landwirt und Selbstversorger. Auch wenn die entsprechende Szene in AVENGERS: ENDGAME (2019), dem erfolgreichsten Film der Filmgeschichte (Stand: Sommer 2022), nur wenige Sekunden dauert: Die Zuschauer können die damit verbundenen Codierungen wohl problemlos verstehen. In warmen Farben wird hier ein ganzheitlicher Zusammenhang von Natur und Individuum gezeigt: unentfremdet, entschleunigt, autonom. Und im modernen Leben vermeintlich längst verloren. Die Szene nimmt hierbei den bekannten, seit der Antike etablierten und tradierten Topos vom guten Leben auf dem Land auf und reaktualisiert ihn im popkulturellen Comic-Gewand medialer Zukunftsvorstellungen. Allerdings: Wiewohl die bisherigen Filme des Marvel Cinematic Universe darüber keine explizite Auskunft geben, so ist eines doch auch naheliegend: Thanos könnte ebensogut LANDLUST-Leser sein.

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Abb. 1: Die neue alte Landlust der Zukunft nach der Apokalypse.

Filmstills AVENGERS: ENDGAME

Angesichts der globalen (hier genauer: kosmischen) Probleme einer urbanen Moderne – also: Überbevölkerung, Ressourcenverbrauch, Klimawandel etc. – verfolgt und realisiert er eine Zukunftsvision, die in die (imaginierte) Vergangenheit weist und als Gegenbild zur eigenen bisherigen Lebensführung dient. Man könnte sagen: Eine Rückkehr in die Idylle. Und zwar als Privatier, abseits des Sozialen. Thanos ist damit, etwas zugespitzt formuliert, ein Signum der Moderne und eine paradigmatische Figur der Gegenwart (sieht man einmal von der nicht nur latenten Aggressivität und dem Hang zum Massenmord ab). Das zeigt sich in seiner intrinsischen und extrinsischen Motivation (indem er aktuelle und zukünftige Probleme einer immer weiter voranschreitenden Urbanisierung durch deren Gegenbild zu kompensieren sucht),1 seiner dafür vorgenommenen Aneignung und Verwendung kultureller Diskurse und Deutungsmuster (anhand derer er eine mit spezifischen Wertsetzungen durchzogene und damit normativ wirkende Trennung von Stadt und Land konstatiert)2 und schließlich in seinem Verhalten und in seinen Taten (mittels deren er die

1

Damit steht er stellvertretend für die gegenwärtig weit verbreitete Sehnsucht der (Stadt-) Bevölkerung nach einem ›guten‹ Leben auf dem Land, die einerseits im Kontext einer umfassenden Urbanisierung der Lebenswelten von mehreren Studien empirisch festgehalten wurde (vgl. Rössel 2014, Baumann 2018) und andererseits gerade angesichts der CoronaPandemie weiter zugelegt hat (vgl. Berlin-Institut 2022) – und schließlich intermedial nahezu allumfassend in Szene gesetzt und etwa in Romanen, Filmen, Serien und Zeitschriften angesprochen wird (vgl. Nell/Weiland 2021).

2

Er bedient sich hierbei der ›klassischen‹ Oppositionen, die mit dem Dualismus aus ›Schreckbild‹ Stadt und ›Wunschbild Land‹ (Sengle 1963) einhergehen: Modernen, komplexen und beschleunigten Entwicklungen insbesondere in ihren (dystopischen) Dialektiken und Verwerfungen auf der einen Seite werden vormoderne, einfache und beständige Zustände insbesondere in ihren (utopischen) Idealisierungen und Romantisierungen

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AUF DEM

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als normativ ausgezeichneten Bilder und Narrative des Ruralen mitsamt ihren spezifischen Wertsetzungen in die eigene Lebenswelt überführt).3 Ihm zufolge hat die Zukunft mehr oder minder ›rural‹ zu sein.4 Zumindest aber: weniger geballt und verdichtet. Thanos steht damit, so ließe sich wohl einerseits sagen, nicht etwa als Außenseiter am gesellschaftlichen Rand (wie es, zumindest aus Perspektive der Menschheit, innerhalb der Filmreihe der Fall ist); vielmehr ist seine zukunftsorientierte Wendung ins Rurale im Kontext einer ganzen Reihe von Aussagen zu sehen, die sich in verschiedenen gesellschaftlichen Diskursen der letzten Jahre finden lassen, seien sie nun – selbstverständlich mit je unterschiedlichen Gewichtungen, Ansätzen und Hintergründen – bspw. in politischen und planerischen, ökologischen und ökonomischen, künstlerischen und kulturellen oder aber medialen und (populär-)wissenschaftlichen Bereichen zu verorten. So ist z.B. laut Julia Klöckner, der damaligen Bundesministerin für Ernährung und Landwirtschaft, mit Beginn des Jahres 2020 auch »das Jahrzehnt der ländlichen Räume« angebrochen.5 Nur ein Jahr später findet Ernst Paul Dörfler mit AUFS LAND in der engagierten Hinwendung zu eben jenen ländlichen

auf der anderen Seite entgegengesetzt. Dabei lässt sich gegenwärtig – trotz der vielfach konstatierten Überschneidungen und Verschränkungen von Urbanem und Ruralem (Dirksmeier 2009, Langner/Frölich-Kulik 2018) – eine Reaktualisierung (möglicherweise auch Konstanz) der damit verbundenen Orientierungsmuster und Lebenspraktiken feststellen, die sich in den raumbezogenen Semantiken (vgl. Redepenning 2019 u. 2021) von ›Stadt‹ und ›Land‹ sowie ihren Differenzsetzungen spezifisch verdichtet und funktionalisiert finden. Beetz (2010: 134) spricht hierbei auch von einer »Renaissance der Polarisierung zwischen Stadt und Land«, die sich allerdings nicht auf substanzielle Merkmale berufen könne, sondern vielmehr ökonomisch, politisch und medial hergestellt werde. 3

Womit er, wenngleich als filmischer Oberschurke naturgemäß am extremen Beispiel, nicht zuletzt darauf verweist, dass mit diesen medialen Imaginationen spezifische Praktiken auf Seiten der Rezipierenden einhergehen, die damit zugleich wieder zu (Re-)Produzierenden werden und ihre materiale Lebenswelt umformen. Die Wechselwirkung von medialem Diskurs, individuellem Handeln und materialer Produktion – und damit einhergehend auch: die potenziell zukunftsorientierte Umgestaltung sozialer Lebenswelten – wurde dabei ebenfalls jüngst in mehreren Studien am Beispiel von Ländlichkeitskonstruktionen thematisiert; vgl. neben den bereits erwähnten u.a. die raumtheoretisch orientierten Ansätze von Nell/Weiland (2014) und Hißnauer/Stockinger (2021).

4

Dass Thanos dabei jedoch letztlich, trotz vermeintlich ›guter‹ Absichten, nicht über die angemessenen humanen Mittel verfügt und v.a. mordend, zerstörend und unterdrückend agiert, sei hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt.

5

Siehe etwa die Pressemitteilung zur Rede Klöckners auf dem Zukunftsforum Ländliche Entwicklung am 22. Januar 2020 in Berlin (BMEL 2020).

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Räumen, so zeigt es bereits der Untertitel des Sachbuchs an, »Wege aus Klimakrise, Monokultur und Konsumzwang«, die in eine zukunftsfähige Gestaltung gesellschaftlichen Lebens führen.6 Dies korrespondiert, ebenfalls bereits angesichts der Erfahrungen einer globalen pandemischen Lage, mit der Proklamation einer »progressiven Provinz« (Zukunftsinstitut 2021a) durch das Zukunftsinstitut, das damit zugleich eine »Trendwende« (Zukunftsinstitut 2021b), die ebenso vom Berlin-Institut (2022) hinsichtlich des Wanderungssaldos festgestellt wird, eingeleitet sieht – und schließlich festhält: »Das Land wird zum neuen Zukunftsraum« (Zukunftsinstitut 2021b). Dabei sorgte bereits einige Jahre zuvor, im Dezember 2017, die Ankündigung des Architekten Rem Koolhaas, unter dem Arbeitstitel »Countryside: Future of the World« (der schließlich in der finalen Version zu COUNTRYSIDE, THE FUTURE wurde) eine Ausstellung für das Guggenheim Museum in New York zu initiieren und zu konzipieren (vgl. AMO 2017), für große Aufmerksamkeit. Diese neue Perspektivierung und Konzipierung des Ländlichen als Raum der Zukunft, wie unterschiedlich sie dann auch jeweils inhaltlich besetzt werden und welche Spannbreite zwischen Re-Idyllisierung und Technisierung sie auch aufmachen, sind im Rahmen einer umfassenden und medienübergreifenden Konjunktur des Ruralen zu verstehen, die in den letzten Jahren in den Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaften ebenso wie in den Sozial- und Raumwissenschaften in den Blick genommen wurde (vgl. zur Übersicht u.a.: Nell/Weiland 2019, Steinführer et al. 2019, Stockinger 2020, Bätzing 2020, Krajewski/Wiegandt 2020). Allerdings wurden eben jene Neuperspektivierungen und -konzipierungen, die mit ›ruralen‹ Zukunftsbildern und -narrativen verbunden sind, in der Forschung bisher noch weitestgehend ignoriert. Dabei gehen mit den Darstellungen einer ›neuen‹ Zukunft auf dem Land zwei einander korrespondierende Bewegungen einher: zum einen eine Umdeutung bzw. Umerzählung der ›klassischen‹ Bilder und Narrative des Ruralen (das bisher vornehmlich, aber nicht ausschließlich, als ein Raum der Vergangenheit erschien) und, damit zusammenhängend, zum anderen auch eine Erweiterung der ›klassischen‹ Bildbereiche der Zukunft und des Zukünftigen (die bisher beiderseits vornehmlich

6

Es bildet damit auf der Sachbuch-Bestsellerliste gewissermaßen den Gegenpart zu Gerhard Henkels RETTET DAS DORF! (2016): Erschien bei jenem das Dorf noch als vor dem eigenen Untergang zu rettender Ort, dessen Zukunft also weitestgehend unsicher sei, so bietet es hier nun fünf Jahre später selbst Rettung und einen Weg in die Zukunft; wenngleich sich beide Texte, insofern sie mit romantisierendem Einschlag gleichermaßen argumentieren und emotionalisieren, doch ähnlicher sind als der oberflächliche Blick vermuten ließe. Dass gerade die künstlerische und mediale Ästhetisierung der Narrative eines drohenden Verschwindens von Landschaften sowohl gesellschaftskritische Impulse entfalten als auch zeitgenössische Neuaneignungen fördern kann, zeigt sich ebenfalls in intermedialer Weise bspw. in Literatur, Film, Fotografie und Wissenschaft (vgl. Weiland 2018a).

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AUF DEM

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im Urbanen verortet und imaginiert wurden). Denn Thanos, und mit ihm Julia Klöckner, Ernst Paul Dörfler, Rem Koolhaas sowie eine Vielzahl weiterer Akteur/innen, Initiativen und Institutionen, steht, so ließe sich wohl andererseits sagen, eben auch in Opposition zu den gängigen Bildern und Narrativen moderner Zukunftsvorstellungen, die soziale, technische und künstlerische Entwicklungen, Fortschritte und Innovationen (auch in ihren Ambivalenzen) vor allem in den Großstädten und Metropolen finden bzw. auf und in sie projizieren. Urbane Zukünfte Es sind die Großstädte und Metropolen, die spätestens seit dem Anbruch der industriellen Moderne immer wieder als Projektionsflächen zukünftiger Entwicklungen dienten und nach wie vor dienen. Sie entwickelten eine Sogwirkung, die ihresgleichen sucht; und zwar sowohl im Sozialen, man denke bspw. nur an das auch heutzutage vielfach wahrgenommene und beklagte Phänomen der Landflucht, als auch im Imaginären: Der kulturelle Bildervorrat der Moderne und Postmoderne fokussiert nicht nur hauptsächlich urbane Räume, er ist häufig auch in ihnen produziert und von ihren jeweiligen Möglichkeiten bedingt. Die vermeintlich nur im Urbanen zu findenden Bilder und Narrative der Ausdifferenzierung und Unübersichtlichkeit, Beschleunigung und Ambivalenz, ja generell: der Fortschrittlichkeit und dementsprechend auch der Modernität und Zukünftigkeit, sind zu nahezu unhinterfragten Alltagsgewissheiten geworden, die sich bis in die Gegenwart hinein halten und u.a. in Kultur, Politik und Wissenschaft ihre Wirkungen entfalten. Wenn wir etwas über die je eigene Gegenwart und Zukunft erfahren wollen, dann richten wir unseren Blick in die Großstädte und Metropolen. Immer wieder fungieren sie gleichermaßen als Brenngläser der Gegenwart, unter und in denen das Aufkommen und Wirken neuer sozialer, kultureller und technischer Phänomene erforscht werden soll, Wegweiser in die Zukunft, in und mit denen sich potenzielle Entwicklungen ablesen, hochrechnen und antizipieren lassen, sowie Motoren zukunftsgerichteter Veränderungen, die durch sie angeschoben und vorangebracht werden können.7 Das hat nicht zuletzt mit einer generellen Tendenz der Forschung und Theoriebildung im 20. Jahrhundert zu tun, die im Zuge voranschreitender Urbanisierung ihren Fokus v.a. auf die Großstädte

7

So hebt etwa der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung zum Themenkomplex globaler Umweltveränderungen (WBGU 2016) angesichts der Aufgaben, die sich vor dem Hintergrund der ambivalenten Erfahrungen und Entwicklungen des 21. Jahrhunderts ergeben – das von einer umfassenden »Widerspruchsdynamik« (ebd.: 37, Hervorh. im Original) geprägt sei, die mit der Herausbildung einer »Zivilisation der beschleunigten Bewegung« (ebd., Hervorh. im Original) in der industriellen Moderne einhergehe –, vor allem »die transformative Kraft der Städte«, so der Untertitel seines Hauptgutachtens, hervor.

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und Metropolen richtete – in denen sie eben Modernität und Zukunft verortete: »Stellt das Städtische die Bedingung der Erkenntnis der modernen Kultur dar, so ist Ideengeschichte in der Moderne Stadtgeschichte« (Prigge 1996: 12). Theorien der Moderne und Bilder der Zukunft sind nahezu konstitutiv mit Wahrnehmungen und Erfahrungen des Großstädtischen verbunden.8 Das korrespondiert auch aktuell noch mit einer ebenso unhinterfragten alltäglichen Gewissheit, der zufolge die (gegenwärtige) Zukunft urban sei. Die OECD etwa bezeichnete bereits im Jahr 2015 das 21. Jahrhundert (das zu jener Zeit ja offensichtlich noch 85 Jahre vor sich hatte) als das »Jahrhundert der Metropolen« (OECD 2015). Das Zukunftsinstitut hat die Urbanisierung zum »Megatrend« ausgerufen.9 Und auch die Buchproduktion zur Stadt der Zukunft ist nahezu unüberschaubar geworden. Es handelt sich hierbei ebenfalls um einen kulturell verfestigten Topos; waren doch bereits die (vergangenen) Zukünfte der Moderne weitestgehend urban. Dafür lässt sich auf Lucian Hölschers wegweisende Monografie zur »Entdeckung der Zukunft« verweisen (vgl. Hölscher 2016). Ab Mitte des 19. und insbesondere zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden die Imaginationen der Zukunft, und zwar ganz im Gegensatz zu historisch vorangehenden Zukunftsvorstellungen, mit einer spezifisch neuartigen »Visualisierung und Ästhetisierung der Zukunft« (ebd.: 175) verbunden bzw. überhaupt erst erschaffen. Die entsprechenden Bilder und Narrative messen der Zukunft nunmehr eine eigene ästhetische Qualität – ja: ein gewisses eigenständiges Aussehen – zu, die sie explizit als Zukunft ausweist und von Vergangenheit und Gegenwart abgrenzt (ebd.). Dies zeigt sich medien- und diskursübergreifend u.a. in Literatur und Film, Musik und Malerei, Architektur und Städtebau; und nicht zuletzt in den alltäglich genutzten sowie popkulturellen Medien. Ihre Gegenstandsbereiche finden diese Ästhetisierungen in den großen Städten, angesichts derer sie nach neuen Formgebungen suchen. Seitdem, so ließe sich wohl etwas zugespitzt sagen, erscheint die Zukunft, in der wir quasi beständig leben, vor allem als eine urbane. Insbesondere der Bau neuer Städte wurde dabei, so Hölscher, »zu einem der wichtigsten Felder gesellschaftlicher Zukunftsgestaltung« (ebd.: 191). In mitunter äußerst populären medialen Genres und Formaten werden die sich ohnehin rasant vollziehenden aktuellen Entwicklungen immer wieder auch in die Zukunft hinein imaginiert und visualisiert, narrativisiert und nicht zuletzt auch propagiert: sei es nun in und mit Plänen, Prognosen und Manifesten oder Zukunftsromanen, Postkarten und Zeitschriften sowie nicht zuletzt im neu entstehenden Medium des Films. So zeigen etwa, um nur drei kurze bildliche Beispiele anzuführen, die um 1910 erstmals erschienene und in

8

Auch die Sozialwissenschaftlerin Annett Steinführer hält aus historischer Perspektive fest, »dass Städte von jeher beliebte Projektionsflächen erwarteter und gewünschter wie auch unerwünschter und kritisierter Zukünfte« (Steinführer 2010: 198) seien.

9

Siehe: https://www.zukunftsinstitut.de/dossier/megatrend-urbanisierung/ (12.09.2021).

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AUF DEM

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den dann kommenden Jahren in mehreren Variationen vertriebene Postkarte mit einer Illustration aus Moses Kings Buch KING’S VIEWS OF NEW YORK (1908) ebenso wie ein Zeitungsbericht in POPULAR SCIENCE MONTHLY aus dem Jahr 1925 über den Architekten Harvey Wiley Corbett und eine Skizze von Erich Kettelhut für ein Szenenbild in Fritz Langs METROPOLIS aus dem Jahr 1927 allesamt innovative Gebäude und Transportsysteme, die gleichermaßen mit den Menschenmassen umgehen sowie die technischen Entwicklungen weiterdenken und in ihren Auswirkungen auf das alltägliche Treiben darstellen sollen; wobei sie dieses Treiben zugleich auch hervorbringen und fördern. Abb. 2: Vergangene Zukünfte (in) der Stadt.

POPULAR SCIENCE MONTHLY; Moses King; Deutsche Kinemathek

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Imaginationen wie diese rücken die Zukunft sowohl räumlich als auch zeitlich in die Nähe der Rezipierenden und prägen somit auch deren konkrete Erwartungshorizonte. Ganz explizit geschieht dies etwa in POPULAR SCIENCE MONTHLY.10 Dort findet sich ein doppelseitiger Artikel mit dem Titel THE WONDER CITY YOU MAY LIVE TO SEE, der damit die antizipierte Zukunft auch schon in die Lebensgeschichte der Leserschaft einbindet und im Folgenden Fürsprache für die bildlich dargestellten Visionen sowie deren Urheber hält. Der Artikel stellt eine Reihe von Zeichnungen des Architekten Harvey Wiley Corbett (1873-1954), damaliger Präsident der Architectural League New York und für mehrere Wolkenkratzer verantwortlich, zur zukünftigen Stadt aus; wobei hier insbesondere der Umgang mit einer weiter zunehmenden Ballung und Verdichtung von Menschen und Verkehr – Corbett glaubte keineswegs an eine mögliche Dezentralisierung – einer der entscheidenden Punkte zukünftiger Stadtplanung sein werde (vgl. Anonym 1925: 40) und sich zeichnerisch etwa in der extensiven Vertikalisierung der Infrastrukturen sowie der Einrichtung mehrerer Ebenen für Transport und Aufenthalt niederschlägt.11 Ähnliche Strukturen, mit zunehmender Medialisierung dann vor allem noch ergänzt durch das jeweils technisch Mögliche bzw. Denkbare (z.B. allseits anwesende Maschinen, Bildschirme und/oder Hologramme etc.), gehören mittlerweile zum Markenzeichen filmischer Stadt-Utopien und -Dystopien – von METROPOLIS (1927), THINGS TO COME (1936) und ALPHAVILLE (1965) über SOYLENT GREEN (1973), LOGAN’S RUN (1976) und BLADE RUNNER (1982) bis hin zu THE FIFTH ELEMENT (1997), MINORITY REPORT (2002), I, ROBOT (2004) und BLADE RUNNER 2049 (2017) sowie, hier verweist bereits der Titel auf die gleichermaßen expansive wie integrative Kraft der Stadt, VALERIAN AND THE CITY OF A THOUSAND PLANETS (2017).12

10 Auch auf der Rückseite der Postkarte ist dies explizit der Fall, wenn das zukünftige New York in der jüngeren Vergangenheit und aktuellen Gegenwart verortet wird: »FUTURE NEW YORK will be pre-eminently the city of skyscrapers. The first steel frame structure that was regarded as a skyscraper was the Tower Building at 50 Broadway, a ten story structure 129 feet high. There are now over a thousand buildings of that height in Manhattan.« Nach einer Aufzählung bereits vorhandener Gebäude wird dann wieder der Blick in die Zukunft gerichtet: »The proposed Pan American Building is to be 801 feet high.« 11 Unter der Abbildungsunterschrift »How You May Live and Travel in the City of 1950« heißt es: »Future city streets, says Mr. Corbett, will be in four levels: The top level for pedestrians; the next level for slow motor traffic; the next level for fast motor traffic, and the lowest for electric trains. Great blocks of terraced skyscrapers half a mile high will house offices, schools, homes, and playgrounds in successive levels, while the roofs will be aircraft landing-fields, according to the architect’s plan.« (Anonym 1925: 41) 12 Eine äußerst prägnante und instruktive Übersicht medialer Zukunftsstädte sowie eine Analyse ihrer realweltlichen Bezüge (Architekturen, Infrastrukturen, Governance etc.) findet

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Abb. 3.: Filmische Zukünfte (in) der Stadt.

Von links oben nach rechts unten: Filmstills aus THINGS TO COME, LOGAN’S RUN, THE FIFTH ELEMENT und BLADE RUNNER 2049

Vom anonym bleibenden Autor des Artikels zur »Wonder City You May Live to See« wird aber zugleich auch das für jeglichen Zukunftsentwurf ohnehin problematische Verhältnis von Imagination und Realität bzw. Praxis angesprochen – ist doch Zukunft nicht nur als schwer bestimmbar, sondern als per se abwesend zu verstehen (vgl. Bühler/Willer 2016a: 9) – und anhand zweier Argumentationsstrategien, einer Einordnung und Wertung der Person des Architekten sowie einer Historisierung der jüngeren Entwicklungen, gelöst: »Though Mr. Corbett’s vision of the future city contains much imagination, it is in no sense fantastic. It is supplied by a practical man and a noted architect. His ideas are worthy of sober study. A picture of the present-day metropolis, with its skyscrapers and subways, would have seemed scarcely more remarkable 50 years ago than his conception of the future city seems today.« (Ebd.)

sich in der Publikation VON SCIENCE-FICTION-STÄDTEN LERNEN: SZENARIEN FÜR DIE STADTPLANUNG (BBSR 2015). Im »Dialog zwischen Stadtplanung und Science-Fiction« (ebd.: 8) dienen mediale Zukunftsstädte nicht nur als Mittel der Kritik an gegenwärtigen Entwicklungen oder der Vorausschau in zukünftige Möglichkeiten, sondern können auch auf Themen und Probleme verweisen, die »im stadtentwicklungspolitischen Diskurs bisher nicht näher betrachtet wurden« (ebd.). Für eine breit gefasste Analyse filmischer Zukunftsstädte siehe Podrez (2020).

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Die urbane Zukunft rückt damit immer näher an die Gegenwart heran, sie wird selbst denjenigen, die nicht in einer der zu jener Zeit (und immer noch) als zukunftsweisend angesehenen Metropolen leben, immer vertrauter und alltäglicher. Imagination und Realisierung gehen hierbei Hand in Hand; denn häufig sind es die fiktiven Zukunftsarchitekturen, die als »Blaupausen für zahlreiche Zukunftsstädte in aller Welt« (Hölscher 2016: 186) fungierten und nach wie vor fungieren. Dabei zeigt sich auch, dass Zukunft vor allem medial erzeugt wird und »überhaupt nur als imaginierte, gemachte, fiktive Zukunft gedacht werden« (Bühler/Willer 2016a: 9) kann – und zwar mittels »Modellen und Simulationen, Bildern und Visionen« (ebd.), die ihr wiederum mit ihrer je eigenen ›Logik‹ und Ästhetik eine spezifische Gestalt verleihen. Als auch narrativ strukturierte Gebilde13 weisen sie einerseits den Weg in eben jene Zukunft14 und reproduzieren zugleich andererseits bestimmte Formen, die die (urbane) Zukunft zu einem wiedererkennbaren Topos machen und sie beständig (medial) anwesend sein lassen. Sie erzeugen damit gleichermaßen eine gewisse Vertrautheit und Gegenwärtigkeit der (urbanen) Zukunft. Eine solche allseitige Gegenwärtigkeit urbaner Zukunft findet sich intermedial in künstlerischen, wissenschaftlichen und alltagsweltlichen Imaginationen und Narrativen. Mit besonders hoher medialer Aufmerksamkeit versehen sind hier etwa, um nur ein Beispiel für eine aktuell recht wirkmächtige Erzählform anzuführen, die medial vielfach reproduziert wird, die regelmäßig erscheinenden WORLD URBANIZATION PROSPECTS der Vereinten Nationen, denen zufolge die globale Urbanisierung weiter zunehme und die Ausbreitung der Großstädte und Metropolen auch zukünftig voranschreite;15 was sich logischerweise auf die Zukunftsaussichten ländlicher Räume

13 Dabei können auch (Raum-)Bilder unter narrativen Gesichtspunkten verstanden werden. Dies gilt, darauf weist Martina Löw (2008) am Beispiel von Städten hin, in einer zweifachen Weise: für den materiellen Raum als ›gebautes Bild‹ und für den imaginären Raum als ›grafisches Bild‹. Zum Verständnis der Stadt als ein narratives Gebilde vgl. die aktuelle stadtanthropologische Forschungsliteratur (zur Übersicht u.a. Lindner 2004, Wietschorke 2013) sowie die einschlägigen literaturwissenschaftlichen Studien zur ›Stadt als Text‹ (u.a. Smuda 1992, Mahler 1999, Peters 2012). 14 Ja, eine Verständigung über Zukunft erscheint, so Eva Horn in ihrer Monografie ZUKUNFT ALS KATASTROPHE,

nicht möglich »ohne Rückgriff auf Erzählungen« (Horn 2014: 22).

15 Leben aktuell, so die vielfach angeführte und mitunter auch kritisierte Statistik, laut Hochrechnungen ca. 55 Prozent der Weltbevölkerung in Städten, so sollen es im Jahr 2050 ca. 68 Prozent sein; also etwas mehr als zwei Drittel (UN 2018). Entsprechend würde sich dann das Verhältnis von urbaner zu ruraler Bevölkerung innerhalb von 100 Jahren umgekehrt haben; lebten doch nach dem gleichen Berechnungsschlüssel im Jahr 1950 gerade einmal ca. 30 Prozent der Weltbevölkerung in urbanen Räumen (ebd.). Siehe dazu ebenso die jeweils aktualisierten WORLD POPULATION PROSPECTS, die auch länderspezifische

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auswirkt. Dabei soll hier nur in aller Kürze auf die damit verbundene Erzählweise und Darstellungsform eingegangen werden. Denn die demografische Bezugnahme auf urbane und rurale Räume gehört zweifellos zu den einflussreichsten Faktoren im gesellschaftlichen (Zukunfts-)Diskurs und kann, wenn man so sagen mag, als eines der Zukunftsmedien schlechthin verstanden werden. Sie zeichnet sich durch zwei Besonderheiten aus, die ihre spezifische Wirksamkeit bedingen. Zum einen haben wir es hier mit einer auf Hochrechnungen basierenden Prognostik zu tun, der gerade deshalb in einer wissensbasierten technischen Gesellschaft eine besondere Evidenz zuerkannt wird.16 Zum anderen wird diese Form von Prognostik – wie auch weitere statistische Erhebungen und Berechnungen mit je unterschiedlichen Fokussetzungen17 – gerade aufgrund ihres hohen Abstraktionsgrades in aller Regel grafisch dargestellt: »kaum ein anderes soziales Phänomen«, so die Soziologin Eva Barlösius, werde »so häufig bildlich veranschaulicht« (Barlösius 2010: 231); was schließlich zu einer intuitiven Erfassung der komplexen Sachverhalte führt. Das führen zwei Beispiele vor Augen, die Gegenwartsanalyse und Zukunftsimagination mit konkreter Handlungsempfehlung (oder zumindest: -implikation) verbinden: Während der 2019 erschienene TEILHABEATLAS18 des BerlinInstituts mit seinen Farbgebungen eine gewisse Problematisierung der zunehmenden Ballung signalisiert, verfährt die im gleichen Jahr erschienene Sparda-Studie WOHNEN IN DEUTSCHLAND 201919 mit ihrer sog. »Zukunftsampel«, die als

Aufschlüsselungen vermitteln: https://population.un.org/wpp/ (24.09.2021). Für eine Kritik an und Alternative zu diesen Berechnungen sowie der ihnen zugrunde liegenden Konzeption ländlicher Räume siehe den Ansatz des Thünen-Instituts (vgl. u.a. Küpper 2016, Kreis 2021: 105-110). Zum Auseinanderdriften von demografischen Hochrechnungen und kulturellen (Wohn-)Wünschen siehe Nell/Weiland (2021a: 40ff.). 16 Laut Hartmann/Vogel (2010a: 8) kann die mathematisch-technokratische Prognostik als typisch für moderne industrialisierte Gesellschaften gelten. 17 Siehe neben den WORLD URBANIZATION PROSPECTS, um nur einige weitere Beispiele aus unterschiedlichen Bereichen anzuführen, etwa den vom Berlin-Institut erstellten TEILHABEATLAS

(2019), den IPCC-Sonderbericht KLIMAWANDEL UND LANDSYSTEME (2019)

oder die vieldiskutierte IWH-Studie VEREINTES LAND (2019), die mit Blick auf eine Prognose zur zukünftigen ökonomischen Lage ostdeutscher ländlicher Räume empfiehlt, die Einwohnerentwicklung zu antizipieren und daher die Städte zu stärken (IWH 2019: 24f.). 18 Der als Conclusio ein Cluster von sechs Regionstypen (drei urbane, drei rurale) erstellt, die je unterschiedliche Teilhabechancen signalisieren und von »Reiche Großstädte und ihre Speckgürtel« bis zu »›Abgehängte‹ Regionen« reichen. 19 Die, basierend auf den beiden Indizes wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit sowie Zukunftsfähigkeit der Wirtschaftsstruktur (vgl. Verband der Sparda-Banken 2019: 64), eine Analyse der derzeitigen und zukünftigen Immobilienmarktlage vornimmt.

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Metaphorisierung einer »Entwicklungsprognose zur wirtschaftlichen Lage von Regionen« (Verband der Sparda-Banken 2019: 65) herangezogen wird, in deutlich anderer, ja drastischer Weise.20 Abb. 4.: Zwei grafisch gestaltete Hochrechnungen zur näheren Zukunft der Regionen: einmal zur demografischen Entwicklung bis 2035 (links), einmal zur wirtschaftlichen Entwicklung bis 2030 (rechts)

Berlin-Institut (2019: 28 u. 29), Verband der Sparda-Banken (2019: 65)

Dabei zeigt sich auch ganz deutlich, dass die bildliche Darstellung des demografischen Wandels diesen nicht etwa nur veranschaulicht, sondern, so Barlösius, zugleich auch interpretiert; und zwar indem sie von der Bevölkerungsstruktur auf die Gesellschaft schließt. Drei Eigenheiten charakterisieren diese Interpretationen (vgl. Barlösius 2010: 232). Erstens präsentieren sie ihre Ergebnisse so, als könnte die Zukunft geradlinig aus der Gegenwart hergeleitet werden (ebd.). Die immer weiter voranschreitende Urbanisierung der Lebenswelten scheint dementsprechend, so ist vor auch kulturgeschichtlichem Hintergrund festzuhalten, »der natürliche Gang der Dinge zu sein« (Twellmann 2020: 91).

20 Wobei insbesondere die Diskrepanz auffällt zwischen der eher milden schriftlichen Aussage »Vor allem für die ländlichen Regionen im Osten Deutschlands sowie teilweise für Westdeutschland fällt der Prognosewert schwächer aus« (Verband der Sparda-Banken 2019: 65) und der grafischen Darstellung samt Handlungsanweisung via Ampel, die ganz direkt signalisiert: Stopp, begeben Sie sich nicht in diese Regionen!

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Abb. 5.: Lineare Narrative, die die Entwicklungen von 1950 bis 2050 nach- bzw. vorzeichnen: globale Bevölkerungsentwicklung im Urbanen und Ruralen auf der linken sowie urbane Bevölkerung (Säulen) und Urbanisierungsgrad (Linien) auf der rechten Seite.

UN (2018), WBGU (2016: 46) nach UN (2014)

Sie blenden dabei, zweitens, viele weitere soziale und kulturelle Aspekte aus und erzeugen ein eineindeutiges Bild; und sagen so »eine gesicherte Zukunftsdeutung, ja sogar eine Abgeschlossenheit der Zukunft zu.« (Barlösius 2010: 242) Damit vermitteln sie schließlich, drittens, den Eindruck, als ließe sich aus ihnen ganz konkret herleiten, »welcher Handlungsbedarf besteht, welche Eingriffe und Steuerungen erfolgreich sein werden, die Zukunft wie geplant einzurichten.« (ebd.: 232) Wird im Kontext der wissenschaftlichen Darstellung und Analyse moderner Gesellschaften immer wieder die Kontingenz und Unsicherheit dieser Tätigkeiten hervorgehoben, so erscheint Zukunft hier als nahezu »zwangsläufig und irreversibel« (Steinführer 2010: 197) – was nicht zuletzt die Funktion erfüllt, gesellschaftliche Ungewissheiten zu reduzieren (Barlösius 2010: 242). Entsprechend lässt sich die Herausbildung der oben bereits angesprochenen Gewissheit beobachten: Die Zukunft findet (nur) in den Städten statt.21

21 Damit korrespondiert eine komplementär angelegte (erzählerische) Kippfigur, die erst in einer Logik der Gegenüberstellung und Trennung von Stadt und Land Sinn macht: Den urbanen Räumen gehört die Zukunft, die ruralen Räume hingegen gehören in die Vergangenheit. Das Narrativ der zunehmenden Urbanisierung geht entsprechend mit dem Narrativ eines zunehmenden Verschwindens bzw. eines bereits festzustellenden VerschwundenSeins ländlicher Räume einher (vgl. Ehrler/Weiland 2018). Nahezu paradigmatisch für eine Vielzahl an Texten der Gegenwartsliteratur (vgl. dazu genauer Weiland 2018b und 2020) heißt es so etwa in Kathrin Gerlofs NENN MICH NOVEMBER: »Das Dorf würde nicht mehr lange existieren. Es gehört einer aussterbenden Spezies an.« (Gerlof 2018: 9) Dabei ist das Verschwinden ländlicher Wirtschafts- und Lebensräume, folgt man dem Geographen Werner Bätzing (2020: 227), auch ein realistisches Szenario für die Jahre nach 2035.

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Kultur- und medienhistorisch muss man wohl sagen: Die Zukunft, wie auch immer sie aussehen mag, ob freundlich oder unfreundlich, utopisch oder dystopisch, erwünscht oder befürchtet, findet fast schon naturgemäß nicht auf dem Land statt. Es gilt also, Beginn und – möglicherweise – Ende des dominierenden Narrativs einer Trennung von (ästhetischer bzw. ästhetisierter) Zukunft und ruralem Raum in den Blick zu nehmen. Innerhalb der sozialen und medialen Diskurse fällt die Zeit ihrer (vermeintlichen) Ablösung vom Ruralen in die Endphase des von Reinhart Koselleck beschriebenen Wandels moderner Zeitvorstellungen. Kosellecks Studien zur »vergangenen Zukunft« (vgl. Koselleck [1979] 2020) bilden dabei den Ausgangspunkt der grundlegenden Hypothese Hölschers, dass die Formen und Inhalte der jeweiligen Zukunftsimaginationen historisch bedingt sind22 und sich das auch gegenwärtig noch anerkannte und sozial geteilte Zeitmodell – »die Vorstellung von einer homogenen, allmählich verfließenden Zeit« (Hölscher 2016: 10) – im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts, vorangetrieben nicht zuletzt vom sich etablierenden Leitprinzip des Fortschritts, konstituiert hat (ebd.: 11) und schließlich im Zuge umfassender gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse individuell internalisiert wurde (vgl. Rosa 2005: 263ff.). Dieses Zeitmodell ist als eine wesentliche Voraussetzung für den modernen

22 Hölscher (2016: 11f.) vertritt dabei die Ansicht, »dass die Fähigkeit, sich selbst in die Zukunft hinein zu entwerfen, keine anthropologische Konstante, keine Vorgegebenheit menschlicher Existenz schlechthin ist, sondern eine historisch spezifische Denkform.« Demgegenüber betonen Konzepte philosophischer Anthropologie, dass die Fähigkeit des Menschen, sein Hier-und-Jetzt überschreiten zu können, in seiner Konstitutionsform angelegt und entsprechend universell zu verstehen ist. Ernst Tugendhat etwa spricht in diesem Kontext von der »immanenten Transzendenz« (Tugendhat 2007: 15) des Menschen. Dabei geht es ihm mit dieser Konzeption des Transzendierens nicht um ein Übersichhinausgehen, das sich auf ein Übersinnliches bezieht, sondern das im Sein des Menschen zu verorten ist (ebd.) und sich insbesondere an der menschlichen Symboltätigkeit, am Zeichengebrauch, festmachen lässt; führt dieser doch zu einer generellen Objektivierung, Distanzierung und schließlich auch Überschreitung der konkreten Gegebenheiten (vgl. ebd.: 20). Damit tritt er, der Mensch, ohne seine in Raum und Zeit gesetzte leibliche Existenz zu verlassen, aus den örtlichen und zeitlichen Gegebenheiten heraus und befindet sich so, mit einer Wendung Helmuth Plessners gesprochen, in einem »unlösbaren Widerspruch« (Plessner 1975: 342) – gleichzeitig sowohl innerhalb als auch außerhalb von Raum und Zeit stehend. Plessner hat diesen Zustand mit einer ebenfalls nur scheinbar paradoxen Wendung als »utopischen Standort« des Menschen bezeichnet: Er steht zugleich da, wo er steht, und nicht da, wo er steht (ebd.), sowohl im Hier-und-Jetzt als auch im Nirgendwo. Aus den Perspektiven philosophischer Anthropologie ließe sich der Mensch daher auch als ein homo utopicus bestimmen (vgl. Zyber 2007), dessen Existenz wesentlich auf die Zukunft ausgerichtet ist.

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Zukunftsbegriff zu verstehen, der eben auf die Planbarkeit und Veränderbarkeit des Kommenden abzielt und zugleich dessen Unbekanntheit und Unerwartetheit hervorhebt.23 Laut Koselleck ist hierbei die Herausbildung und Verbreitung einer neuen Zeiterfahrung und eines neuen Zeitbewusstseins beobachtbar, denen zufolge in der subjektiven Wahrnehmung »das Gewicht der Zukunft anwächst« (Koselleck 2020a: 12) und »die Herausforderung der Zukunft immer größer« (ebd.) wird. Methodisch erfassen lässt sich das Aufkommen dieses Zeitmodells anhand der Gegenüberstellung zweier Begriffe, die Koselleck »Erfahrungsraum« und »Erwartungshorizont« nennt. Sie sind als quasi-anthropologische Konzepte zu fassen (vgl. Koselleck 2020c: 352), die gleichermaßen Geschichte wie auch deren Erkenntnis konstituieren (ebd.: 353). Als solche sind sie in allen Epochen zu finden – und zwar in einem dialektischen Verhältnis: »Keine Erwartung ohne Erfahrung, keine Erfahrung ohne Erwartung.« (Ebd.: 352) Dabei definiert Koselleck Erfahrung als gegenwärtige Vergangenheit, Erwartung als vergegenwärtigte Zukunft.24 Beide sind gleichermaßen individuell und gesellschaftlich. Sie sind Teil personaler Verarbeitungen und kultureller Imaginationen. Die bekannte These von Koselleck ist nun, »daß sich in der Neuzeit die Differenz zwischen Erfahrung und Erwartung zunehmend vergrößert« (ebd.: 359); ja, dass genau dies es ist, was für die Neuzeit überhaupt als prägend gelten kann. Eines der zentralen Stichworte lautet auch hier: Beschleunigung.25 Als sozialgeschichtliches Beispiel zieht Koselleck ein für die hier diskutierten Zusammenhänge, die eben die kulturellen Verhältnisse von und Diskurse um Stadt und Land fokussieren, wichtiges

23 Zu einer Kritik der gängigen Annahme, den modernen Zukunftsbegriff als ein Produkt der Aufklärung zu fassen, siehe Fulda (2013), der, wiewohl sich der erste begriffsgeschichtliche Beleg von ›die Zukunft‹ erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts findet (ebd.: 143f.), eine Herausbildung des Konzepts einer ›offenen Zukunft‹ bereits um 1700 verortet. 24 »Erfahrung ist gegenwärtige Vergangenheit, deren Ereignisse einverleibt worden sind und erinnert werden können.« (Koselleck 2020c: 354) Dazu gehören sowohl rationale als auch unbewusste Verarbeitungen des Vergangenen ebenso wie bspw. auch fremde Erinnerungen, die im kulturellen Gedächtnis gespeichert sind. »Ähnliches lässt sich von der Erwartung sagen: auch sie ist personengebunden und interpersonal zugleich, auch Erwartung vollzieht sich im Heute, ist vergegenwärtigte Zukunft, sie zielt auf das Noch-Nicht, auf das nicht Erfahrene, auf das nur Erschließbare.« (Ebd.: 354f.) 25 Im Unterschied zur Prognose und zur Geschichtsphilosophie sei die Zukunft, die mit dem Konzept des Fortschritts verbundenen ist, wesentlich durch ihre Beschleunigung und Unbekanntheit gekennzeichnet: »Denn die in sich beschleunigte Zeit, d.h. unsere Geschichte, verkürzt die Erfahrungsräume, beraubt sie ihrer Stetigkeit und bringt immer wieder neue Unbekannte ins Spiel derart, daß selbst das Gegenwärtige ob der Komplexität dieser Unbekannten sich in die Unerfahrbarkeit entzieht.« (Koselleck 2020b: 34)

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Themenspektrum heran: die bäuerliche Welt. Sie fungiert – und so auch später bei Rosa (2005: 176-184) hinsichtlich der Erfassung und Konzeption eines beschleunigten sozialen Wandels – als Folie, von der sich das neue Zeitbewusstsein abgrenzen und eben auch besser konturieren lässt.26 »Die bäuerliche Welt, in die vor 200 Jahren vielerorten in Europa noch bis zu 80 % aller Menschen eingelassen waren, lebte mit dem Kreislauf der Natur. Sieht man von der Sozialverfassung ab, von Absatzschwankungen, besonders der Agrarprodukte des Fernhandels, und ebenso von den monetären Schwankungen, so blieb der Alltag geprägt von dem, was die Natur bot. Ernte oder Mißernte hingen von Sonne, Wind und Wetter ab, und was an Fertigkeiten zu erlernen war, das wurde von Generation zu Generation weitergereicht. Technische Neuerungen, die es auch gab, setzten sich so langsam durch, daß sie keinen lebensverändernden Einbruch erzielten. Man konnte sich ihnen anpassen, ohne daß der bisherige Erfahrungshaushalt in Unordnung geraten wäre.« (Koselleck 2020c: 360)27

Es zeigt sich dabei »eine fast nahtlose[] Überführung früherer Erfahrungen in kommende Erwartungen« (ebd.: 361), die Wiederholbarkeit (durch die Ausrichtung an der zirkulären Struktur der Jahreszeiten) und Beständigkeit (durch ein Leben in auf Dauer angelegten sozialen Strukturen) der Zeit mit sich brachte.28

26 Für ein im Unterschied dazu weniger linear angelegtes Zeitmodell siehe Landwehr (2016 u. 2020), der mittels des Begriffs der Chronoferenz die Relationen und Verschlingungen verschiedener Geschichtszeiten – und damit die Erzeugung einer Art ›Vielzeitigkeit‹ – hervorhebt und somit auch einen differenzierten Blick auf bäuerliche Gesellschaften ermöglicht, die gleichzeitig in und mit unterschiedlichen Zeiten leben und in sich wesentlich heterogener und dynamischer als vielfach angenommen sind (vgl. Nell 2019). 27 Als Beispiel für einen beschleunigten Wandlungsprozess, der seinen Ausgang in einer sich über mehrere Generationen hinweg erstreckenden Beständigkeit findet und sich zunächst im intergenerationalen, dann generationalen sowie schließlich intragenerational Veränderungstempo vollzieht, verweist Rosa (2005: 179) auf eine Studie Arthur Imhofs zur familiären Stabilität auf einem nordhessischen Hof: »Nicht der individuelle Johannes Hoos, geboren in diesem und jenem Jahr, war jeweils das Entscheidende. Wichtig war vielmehr, daß stets ein Nachkomme namens Johannes Hoos als Rollenträger bereitstand, um die Geschicke des Hofs während seiner physisch besten und sozial am stärksten integrierten Jahre zu lenken. Auf diese Weise war der Hof nicht bloß zehn oder zwanzig oder dreißig Jahre im Besitz von Johannes Hoos, sondern kontinuierlich während viereinhalb Jahrhunderten.« (Imhof 1984: 188, zit. nach Rosa 2005: 180) 28 Koselleck (2020c: 360): »die Erwartungen, die in der geschilderten bäuerlich-handwerklichen Welt gehegt wurden und auch nur gehegt werden konnten, speisten sich zur Gänze aus den Erfahrungen der Vorfahren, die auch zu denen der Nachkommen wurden.«

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Aus der Perspektive des Ruralen änderte sich dies – so die generelle Deutung – spätestens mit der industriellen Moderne und dem dann insbesondere im 20. Jahrhundert sich vollziehenden Strukturwandel ländlicher Räume. Er wird mit Koselleck als Kontinuitätsbruch (ebd.: 366) verstanden, der die Bewältigung gegenwärtiger Erfahrungen durch vergangene Erfahrungen (und damit das Verständnis der Gegenwart aus der Vergangenheit) ebenso verunmöglichte wie die Überführung von Erfahrung in Erwartung (und damit die Ableitung der Zukunft aus der Gegenwart);29 ein Kontinuitätsbruch, der sowohl als Chance30 (auf Reformation und/oder Revolution) als auch als Krise31 wahrgenommen werden konnte. Die Ausmaße, Dimensionen und Folgen dieses Strukturwandels wurden vielfach beschrieben.32 Sie werden in der von Plieninger/Bens/Hüttl (2006: 24) erstellten Tabelle mit Zahlen zur Veränderung der Landwirtschaft innerhalb eines Jahrhunderts deutlich: Tabelle 1: Strukturwandel in der Landwirtschaft des 20. Jahrhunderts.

Plieninger/Bens/Hüttl (2006: 24)33

29 Mit Hartmut Rosa ließe sich hier auch von einer »Gegenwartsschrumpfung« sprechen; sie meint »die generelle Abnahme der Zeitdauer, für die Erwartungssicherheit hinsichtlich der Stabilität von Handlungsbedingungen herrscht« (Rosa 2005: 184, Hervorh. im Original). 30 Koselleck (2020c: 367) spricht in diesem Kontext auch von einem »utopische[n] Überschußpotential«, das mit Kontinuitätsbrüchen einhergeht. Dieses lässt sich ebenfalls im Umgang mit ländlichen Räumen beobachten; siehe aus historischer Perspektive zu Phasen des Aufschwungs, der Reform und des Umbaus etwa die GRUNDZÜGE DER AGRARGESCHICHTE

(Brakensiek et al. 2016) sowie die GESCHICHTE DES DORFES (Troßbach/

Zimmermann 2006). 31 Dass Zukunftsimaginationen gerade in gesellschaftlichen Krisensituationen besonders virulent werden (vgl. Hartmann/Vogel 2010: 8), gehört nahezu zur Standardaussage jeglicher Zukunftsforschung. 32 Siehe dazu neben der einschlägigen Fachliteratur etwa auch das noch immer lesenswerte Sachbuch von Geert Mak WIE GOTT VERSCHWAND AUS JORWERD (1996) sowie jüngst Uta Ruges BAUERN, LAND (2020). 33 Siehe für Berechnungen bis ins Jahr 2016, in dem ein Landwirt ganze 135 Menschen ernährte, Bätzing (2020: 165ff.).

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Es zeigt sich hier nicht zuletzt auch eine Dialektik von technischem Fortschritt der Landwirtschaft und (vermeintlich) demografischem Niedergang der ländlichen Räume. Ernährte, um nur zwei Aspekte beispielhaft hervorzuheben, etwa ein Landwirt im Jahr 1900 noch vier Menschen, so sind es etwas mehr als 100 Jahre später ganze 127; und waren zu jener Zeit noch 38,2 % der Erwerbstätigen im Agrarsektor beschäftigt, so sind es nun nur noch 2,3 %. Die Industrialisierung und die mit ihr einhergehende Ertragssteigerung – man könnte vielleicht auch sagen: das Hereinbrechen (Hervorbringen?) von Moderne und Zukunft – führte jedoch nicht nur zu einer nie dagewesenen Änderung der Lebenswelten (gleichermaßen im Urbanen und Ruralen), sondern brachte eben auch ästhetische Neuerungen, die sich auf die Wahrnehmung dessen, wie und wo Zukunft erscheine und welche Gestalt sie annehme, niederschlugen. Allerdings: Wiewohl selbst vom beschleunigten Wandel betroffen – ja, diesen zugleich auch historisch hervorbringend (vgl. Oswalt 2018)34 – und in eine offene Zukunft gehend,35 wurden ländliche Räume doch weitestgehend als Räume der Beharrung36 (und entsprechend im weiteren Verlauf: der Rückständigkeit und der Vergangenheit) imaginiert.37 Die modernen Ästhetisierungen der Zukunft und des Zukünftigen erschienen im urbanen Gewand.

34 So verweist der Architekturtheoretiker Philipp Oswalt darauf, dass nicht nur die industrielle Revolution ihren Ausgang in ländlichen Räumen nahm, wo sich eben die nötigen Bodenschätze fanden sowie Energie erzeugt und große Ingenieurbauten zur Landgewinnung errichtet werden konnten – symptomatisch und besonders schillernd im »legendären Dorf Coalbrookdale« (Oswalt 2018: 247), in dem 1709 erstmals Eisen mit Steinkohle hergestellt, etwa 60 Jahre später die Eisenbahnschiene erfunden und schließlich die erste Eisenbrücke gebaut wurde –, sondern auch die Architektur der klassischen Moderne ihre Inspirationsquellen in agrarindustriellen Bauten fand; und schlussfolgert daraus, dass »zentrale Modernisierungsimpulse vom Land ausgingen« (ebd.: 246). Das zeigt sich ebenso im Kulturellen; so führt etwa der Historiker Andreas Schwab in ZEIT DER AUSSTEIGER anhand mehrerer Beispiele vor Augen, wie sich in den ruralen (Schutz- und Experimental-)Räumen der Künstlerkolonien neue Kunstbegriffe und Lebensstile entwickeln, »die sich erst deutlich später in der gesamten Gesellschaft durchzusetzen beginnen« (Schwab 2021: 13). 35 Zur ›offenen‹ und ›geschlossenen‹ Zukunft siehe u.a. Schmitz (2014: 149-163). 36 Wiewohl die Landwirtschaft, so Joachim Radkau in seiner GESCHICHTE DER ZUKUNFT, in der Gründungsphase der Bundesrepublik »bereits drei vergangene Zukünfte hinter sich« hatte (Radkau 2017: 67). Siehe daran anschließend den Beitrag von Karl H. Schneider zur Situation der Dörfer in der BRD der Nachkriegs- und Wirtschaftswunderzeit und den damit einhergehenden Leitbildern und Dorfentwicklungsplänen zwischen Modernisierung einerseits und bäuerlichem Familienbetrieb andererseits. 37 Dabei zeigt sich allerdings wohl auch ein Auseinanderdriften von kulturellem Diskurs und lebensweltlicher Erfahrung. Zwar lebte und lebt noch immer ein Großteil der Bevölkerung

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Rurale Zukünfte Die Annahme, dass die Zukunft der Gesellschaft urban sei, bildete also lange Zeit und bildet mitunter nach wie vor noch in den Literatur-, Kultur- und Mediengeschichten der Moderne ebenso wie in alltagsweltlichen Vorstellungen eine nahezu unhinterfragte Gewissheit. In modernen Literaturen, Filmen und Medien wird Zukunft und Zukünftiges vor allem in den Großstädten und Metropolen verortet, erzählt und bebildert. Die spezifische Ästhetik der Zukunft wurde seit der Industrialisierung als eine Ästhetik des Urbanen gesehen und verstanden. Demgegenüber vollzieht sich gegenwärtig ein umfassender Wandel. Er betrifft sowohl die künstlerischen Bilder und Narrative der Zukunft als auch die diskursiven Aushandlungsprozesse über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Gesellschaft – in deren Fokus vermehrt Ruralitäten treten.38 Dominierten bis vor Kurzem in den Diskursen über rurale Räume noch die medial heraufbeschworenen Untergangszenarien des Dörflichen und Ländlichen (die selbst auch als Zukunftsimaginationen zu sehen sind),39 so zeigt sich mittlerweile diskurs- und medienübergreifend, dass sie nicht mehr nur als vor allem defizitäre und/oder abgehängte Räume wahrgenommen werden, die auf eine einstmalige und bestenfalls hier noch konservierte Vergangenheit verweisen. Ländlichkeiten werden vielfach neu gedacht, erzählt und konzipiert; und zwar auch jenseits der ›klassischen‹ Deutungsmuster des Idyllischen einerseits und des Defizitären andererseits. Stellvertretend für diese umfangreiche (mediale, mentale und materiale) Neukonzipierung des Ländlichen kann die Ausstellung

in ländlichen Räumen – zur Erinnerung: die als »Meilenstein in der menschlichen Siedlungsgeschichte« (WBGU 2016: 43) hervorgehobene »urbane Wende« (ebd.), derzufolge weltweit erstmals mehr Menschen in Städten als in ländlichen Räumen lebten, fand eben erst im Jahr 2007 (!) statt –, doch ist die kulturelle Hegemonie längst in den Metropolen zu verorten: »Urban norms dominate our social imagination of what constitutes a normal life.« (Fulkerson/Thomas 2014a: 285). In der Forschung wurde dies jüngst mit dem Begriff der Urbanormativität gefasst (vgl. Fulkerson/Thomas 2014 u. 2019, Twellmann 2020). 38 Ruralitäten werden hier als multidimensionale Raumkonzepte verstanden, die sich aus der Wechselwirkung materialer, mentaler und symbolischer Produktionen sowie den damit einhergehenden Zuschreibungen und Konstruktionen von u.a. Dingen, Strukturen und Praktiken als ›ländlich‹ ergeben. 39 Dass dieser Topos vom ›sterbenden Dorf‹ dennoch eine wirkmächtige Rolle in den medialen Diskursen der jüngeren Vergangenheit und aktuellen Gegenwart über rurale Räume in der Gesellschaft einnimmt, zeigt der Beitrag von Raphael Singer. Siehe vor diesem Hintergrund auch den Beitrag von Thomas Streifeneder und Barbara Piatti, die einen Überblick über die literarischen Geographien der Einsamkeit, die in der Gegenwartsliteratur vermehrt mit ruralen Schauplätzen verbunden werden, erarbeiten und deren Funktionen diskutieren.

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COUNTRYSIDE, THE FUTURE (20.02.2020 bis 15.02.2021) im Guggenheim Museum New York stehen; beschäftigt sie sich doch vor allem mit Spekulationen über die Zukunft – und zwar durch die Erforschung der aktuellen Situationen, in denen sich rurale Räume befinden. Dabei ist die Ausstellung als Symptom einer gegenwärtig wahrnehmbaren doppelten Verschiebung zu verstehen: zum einen als Verschiebung der medialen und künstlerischen Blickrichtung,40 zum anderen aber auch als Verschiebung der klassischen Bilder und Narrative des Ländlichen – die bisher eben mehr oder minder in Opposition zu modernen Entwicklungen gedacht wurden. Das Land wird zum Raum der Zukunft. Das zeigt sich an diversen Beispielen: Technische Innovationen werden in ruralen Räumen hervorgebracht und angewandt,41 Planungsprojekte entwickeln neue Leitbilder und Modelle,42 Raumpioniere erproben alternative Formen sozialer Selbstorganisation,43 neue Akteur/innen und Initiativen realisieren ›neue Ländlichkeiten‹,44 journalistische Berichte künden von einer ›Neuentdeckung‹ und ›Wiederbelebung‹ des Lands.45 Angesichts komplexer sozialer, ökonomischer und ökologischer Problem-

40 Vom Fokus auf die Stadt zum Fokus auf das Land – wie sich etwa anhand der nach wie vor anhaltenden Konjunktur der Ländlichkeitsimaginationen zeigt. Bieten diese gerade in modernen Gesellschaften gleichermaßen ›Resonanzangebote‹ im Sozialen, Materiellen und Metaphysischen (H. Rosa) wie auch Mittel zur ›Singularisierung‹ alltäglicher Lebensformen (A. Reckwitz), so ließe sich diese Konjunktur vor dem Hintergrund philosophischanthropologischer Konzepte auch noch einmal neu fassen: als Ausdruck und Realisierung der je eigenen utopischen Standorte einer weitestgehend urbanisierten bzw. in ihren Selbstzuschreibungen als ›urban‹ verstehenden Gesellschaft. 41 Man denke allein die Innovationsgeschwindigkeit im Agrarsektor bei der Entwicklung und Anwendung von u.a. Drohnen, Melk- und Feldrobotern sowie die Schlagwörter des Smart und Precision Farming, der Landwirtschaft 4.0 oder der Smart Villages. Siehe den Beitrag von Ina Bolinski zu Gestaltungen und Entwürfen aktueller wie zukünftiger Architekturen in den Bereichen hochtechnisierter und digitalisierter Landwirtschaft und Tierhaltung, die schließlich auch mit einer neuen Mensch-Tier-Technik-Beziehung einhergehen. 42 Vgl. etwa die umfangreich angelegten Modellprojekte der IBA Thüringen und des TrafoProgramms der Kulturstiftung des Bundes. Siehe den Beitrag von Richard Pantzier, der sich in diesem Kontext mit der Wiederbelebung der Sommerfrische beschäftigt. 43 Siehe den entsprechenden Band von Faber/Oswalt (2013). 44 Siehe den Beitrag von Ariane Sept und Christian Reichel, die sich vor dem Hintergrund des digitalen Wandels mit zwei paradigmatischen Initiativen beschäftigen, die einerseits den temporären wie auch langfristigen Zuzug eines urban-kreativen Milieus und andererseits die Ruhestandsmigration befördern. 45 Eine kleine Auswahl an Schlagzeilen der jüngsten Vergangenheit aus diversen Zeitungen: »Was wollen die eigentlich alle auf dem Dorf?« (Die Welt, 26.03.2019) »Der neue Drang

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lagen und Krisenerfahrungen verfolgen sie allesamt eine Neuperspektivierung und mitunter Neuerfindung des Ruralen. Das haben sie nicht zuletzt mit gegenwärtigen Literaturen, Filmen, Serien und Künsten gemein, die im Erzählen von pluralen und heterogenen Ländlichkeiten neue Themen finden und Formen bilden, mittels derer sie zeitgenössische Entwicklungen deuten und in die Zukunft hinein imaginieren. In eigensinnigen Verschränkungen verschiedenartiger Erzählformen wie etwa der Dorfgeschichte,46 der Science Fiction,47 der Climate Fiction und des Nature Writing imaginieren sie – gesellschaftlich breit rezipiert – zukünftige Entwicklungen von Mensch und Maschine, Natur und Technik, Klima und Gesellschaft im Ländlichen. Zukünftiges erscheint im Ruralen und als Rurales. Dabei lässt sich eine solche Verschiebung der Blickrichtung auch in den klassischen Medien der Zukunftsimagination beobachten, die bisher vor allem auf die Metropolen ausgerichtet waren; so etwa in den aktuellen Zukunftserzählungen, den medialen Utopien und Dystopien wie auch der literarischen und filmischen Science Fiction.48 Paradigmatisch zeigt sich das anhand einer Gegenüberstellung der Eröffnungsszenen der beiden BLADE RUNNER-Filme aus den Jahren 1982 und 2017. Fokussiert die erste eine Dystopie des Großstädtischen, so verortet die zweite nun in einer parallel angelegten Panoramaaufnahme, die die Ausmaße der zukünftigen Lebenswelt vor Augen führt und sich aus Vogelperspektive im langsamen Anflug auf sie zubewegt, die Dystopie im Ländlichen. Die Zuschauer werden nun nicht mehr

aufs Land« (FAZ, 22.07.2020), »Corona und die wachsende Landlust: ›Zu Hause ist da, wo man WLAN hat‹« (RND, 01.08.2020), »Komm, wir zieh’n aufs Land!« (Die Zeit, 18.11.2020), »Wenn Hipster aufs Dorf ziehen« (Der Spiegel, 02.04.2021). 46 Siehe dazu den Beitrag von Friederike Schruhl, die sich am Beispiel dreier sehr erfolgreicher Dorfromane der Gegenwartsliteratur – Juli Zehs UNTERLEUTEN (2016), Alina Herbings NIEMAND IST BEI DEN KÄLBERN (2017) und Dörte Hansens MITTAGSTUNDE (2018) – mit der Frage beschäftigt, welche Zukunftsaussichten mit den symbolischen Repräsentationen einer dörflichen bzw. ländlichen Heimat verbunden werden. 47 Siehe dazu den Beitrag von Alexandra Ludewig, die am Beispiel dreier Zukunftsromane der Gegenwartsliteratur – Julia von Lucadous DIE HOCHHAUSSPRINGERIN (2018), Gianna Molinaris HIER IST NOCH ALLES MÖGLICH (2018) und Raphaela Edelbauers DAS FLÜSSIGE LAND (2019) – Projektionen futuristischer Stadt-Land-Verhältnisse untersucht. 48 Siehe den Beitrag von Janwillem Dubil, der am Beispiel der äußerst populären und langlebigen Fernsehserie DOCTOR WHO (von 1963 bis 1989 sowie erneut seit 2005) der Frage nachgeht, wo in der filmischen Science Fiction die zentralen Konflikte hinsichtlich des weiteren Verlaufs der Menschheitsgeschichte stattfinden und entsprechend zukunftsweisende Entscheidungen getroffen werden; und der dabei zeigt, dass die Serie, indem sie dafür unterschiedliche rurale Räume nutzt, zugleich auch eine Raumsemantik etabliert, die den üblichen Genregepflogenheiten diametral gegenübersteht.

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von dem feuerspeienden Lichtermeer eines zukünftigen Los Angeles im Jahr 2019 geschluckt, sondern von den weiten und monotonen Produktionslandschaften eines zukünftigen Kaliforniens im Jahr 2049; wobei insbesondere die jeweiligen Nahaufnahmen eines Auges, in dem sich einerseits die nächtlich-funkelnde Stadt, andererseits aber die graue und diesige Leere spiegelt, den Fokus auf die subjektive Wahrnehmung legen. Abb. 6: Zukunftsdystopien, auf die sich die Zuschauer mitsamt der Protagonisten langsam zubewegen: erst im Urbanen, dann im Ruralen.

Filmstills BLADE RUNNER und BLADE RUNNER 2049

Dabei wirft die Eröffnungsszene von BLADE RUNNER 2049 einen direkten Blick auf die unmittelbare Gegenwart der Rezipienten49 und nimmt aktuelle Entwicklungen der

49 Indem sie zunächst, der Handlungsraum des Filmes ist in das Kalifornien des Jahres 2049 verlegt, eine in der Nähe von Sevilla extensiv mit Solaranlagen bebaute (und via Computertechnik deutlich vergrößerte) Landschaft in den Fokus nimmt und anschließend die

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global countryside (siehe dazu Woods 2007) auf. Unter den Bedingungen digitaler Arbeitsorganisation und -optimierung entwickele sich das Land, das ist eine der Grundthesen der Ausstellung wie auch der Publikation (vgl. AMO/Koolhaas 2020) zu COUNTRYSIDE, THE FUTURE, zum Schauplatz einer allumfassenden Rationalisierung, die nicht notwendigerweise mehr damit rechnet, dass ländliche Räume auch menschliche Lebenswelten50 bilden – sondern vor allem als Versorgungssysteme dienen, in die sowohl die Produktion von Nahrungsmitteln, Energie und Autos als auch die massenhafte Speicherung von Daten (Stichwort: »Serverfarmen«) ausgelagert wird und die doch zugleich in Sekundenbruchteilen von nahezu jedem Punkt auf der Erde aus angesteuert werden können. Abb. 7: Nicht-menschliche Architekturen (links: Gewächshaus von innen und Serverfarm von außen) sowie nicht-menschliche Akteure (rechts: Drohne über und Roboter auf dem Feld) im Ruralen.

OMA, Equinox’s Drones, Fendt

ebenso extensive (vermutlich allerdings nicht filmtechnisch vergrößerte) Gewächshauslandschaft in Almería, bekannt als ›Gemüsegarten Europas‹, zeigt. 50 So wird Koolhaas etwa in einem Interview danach gefragt, ob er es reizvoll fände, ein Gebäude ausschließlich für Maschinen zu entwerfen. Seine Antwort: »Ja, sehr. In der Zukunft wird überhaupt nur noch ein gewisser Teil unserer Gebäude für Menschen gebaut werden. Gerade entsteht eine ganz neue Architektur nur für Maschinen. Und sie entsteht zum großen Teil auf dem Land. Das ist sehr, sehr interessant.« (Böhme 2019)

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Beobachten könne man dabei jedoch, so die Deutung von Koolhaas, die Entstehung eines neuen Sublimen, eines neuen Erhabenen51 – das allerdings weniger auf natürliche als auf künstlich-technisch erzeugte Unfassbarkeiten abzielt und sowohl einen bisher ungeahnten Grad an rationaler Organisiertheit und Strukturiertheit des Lands52 als auch eine ›posthumane‹ Architektur hervorbringe. Literarisch in Szene gesetzt wird sie u.a. in Niklas Maaks Roman TECHNOPHORIA (2020). In diesem erzählt Maak, der auch zum Projektteam um Koolhaas gehörte, in v.a. deskriptiver Weise von einer gegenwärtig wahrnehmbaren sowie weiter in die Zukunft weisenden zunehmenden Verschmelzung von Künstlichkeit und Natürlichkeit – und der daraus entspringenden »neue[n] Natur« (Maak 2020: 50). Er berichtet dabei aus der Perspektive seiner Figuren u.a. von der Entstehung einer vollvernetzten und -automatisierten Smart City, in der die Dinge und Algorithmen unabhängig vom Menschen miteinander kommunizieren, von Exoskeletten, die Landwirten bei schwerer Arbeit helfen und diese bald selbständig übernehmen,53 sowie nicht zuletzt auch von riesigen Serverfarmen, deren Anblick zu jener Wahrnehmung eines neuen Erhabenen, die auch von Koolhaas thematisiert wird, führt: »Die Serverfarm war schöner als der Dschungel mit seinen Geräuschen, dem Blinken der Glühwürmchen und den zur Jagd bereiten Augen, schöner als Manhattan bei Nacht, eine enorme Verdichtung aus Stahl und Beton und Licht und Energie und zigtausend Ideen und Absichten und Ambitionen: Was dort im blauen Dämmerlicht lag, war eine posthumane Welt und das Humanste überhaupt, das kollektive Denken der Menschheit […]. Totale Schönheit, totale Ordnung«. (Ebd.: 49, Hervor. im Original)

51 »We are witnessing the emergence of a new sublime.« (Koolhaas 2018) 52 Koolhaas spricht in seinen Vorträgen zum Thema immer wieder auch von einer »hyperCartesian rational order« (Koolhaas 2012, vgl. dazu genauer Driessen 2020), die gerade auch die Zufälligkeit, Kontingenz und Poetik der Stadt ermögliche (vgl. Koolhaas 2020a). Siehe dazu auch die Ausführungen von Engemann (2016): »die Stadt hege heute natürlichere, ungeordnete und freiere Orte als das Land. Rurale Gegenden dagegen seien maximal cartesianisch organisiert und nachgerade Avantgardeareale der Digitalisierung. Nirgendwo ist das Versprechen des Internets der Dinge mehr eingelöst als auf den Feldern, Weiden und Höfen der zeitgenössischen Agrarwirtschaft. Kein Fleckchen das nicht vermessen, in seiner Ertragsfähigkeit bestimmt und punkgenau ansteuerbar ist.« 53 »Das Land wird irgendwann mal ein Raum werden, in dem es überhaupt keine Menschen mehr geben wird. Aber irgendjemand muss dort ja säen und wässern und ernten, das werden dann Maschinen machen« (Maak 2020: 220).

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Es sind hierbei also nicht die Erhabenheiten imposanter Berge oder schöner Landschaften gemeint, sondern diejenigen neu entstehender technischer und architektonischer Möglichkeiten und Ordnungen, die sich wiederum aus spezifischen Anforderungen der Gegenwart (nicht nur hinsichtlich der Speicherung von Daten, sondern etwa auch hinsichtlich der Produktion von Nahrung und Energie) ergeben und zur Ausbildung von heterogenen Formationen und hybriden Gestalten des Ruralen führen. Es handelt sich dabei um eine Zukunftsvision, die bereits in der Gegenwart zu finden ist und das Verhältnis zwischen Künstlichkeit und Natürlichkeit neu vermessen wird. So sagt Koolhaas in einem Interview: »Die neue Realität wird zwischen absoluter klinisch-präziser Wissenschaft und emotionalen, romantischen Stimmungslagen stattfinden. Zwischen Naturschutzgebieten und einer neuen Landwirtschaft, die Dinge wie im Labor wachsen lässt, in riesigen Anlagen, in denen es nicht mehr nötig sein wird, Schädlinge zu bekämpfen, weil es in diesen total kontrollierten Umgebungen gar keine Schädlinge mehr geben wird.« (Böhme 2019)

In diesem Kontext dreht Koolhaas das mittlerweile klassisch gewordene Verständnis der Stadt als Ort der Beschleunigung und des Lands als Ort der Beständigkeit um. Konstituiere sich dieses Sublime doch in Reaktion auf die deutlich radikaleren und rapideren Transformationenprozesse, die das Land mittlerweile im Vergleich zur Stadt durchmache (vgl. u.a. Koolhaas 2018).54 Der ländliche Raum sei gegenwärtig, das zeige etwa eine Feldstudie in den ruralen Niederlanden (vgl. Koolhaas 2020b), die Speerspitze der Transformation; und dementsprechend auch deutlich flüchtiger als der urbane Raum: »The countryside is now the frontline of transformation. A world formerly dictated by the seasons and the organisation of agriculture is now a toxic mix of genetic experiment, science, industrial nostalgia, seasonal immigration, territorial buying sprees, massive subsidies, incidental inhabitation, tax incentives, investment, political turmoil, in other words more volatile than the most accelerated city.« (Koolhaas 2014)55

54 So schreibt Oswalt (2018: 248): »Selbstfahrende Fahrzeuge, Produktionssteuerung über Satelliten, ›Genetic Engineering‹, implantierte Transponder, ›Mass Customization‹, Roboter, Drohnen: Was in Städten zum Inventar aktueller Zukunftsszenarien gehört, ist auf dem Lande schon seit Jahren Alltag. In mancher Hinsicht ist das Land moderner als die Stadt.« 55 Siehe dazu auch den Text von Samir Bantal, in dem es u.a. heißt: »Countryside appears to be our frontier for humanity’s transitional challenges regarding nature, climate, energy, politics, technology, and culture. If the city is the engine of modernity, the countryside is its bodywork.« (Bantal 2020: 69)

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Angesichts der Entstehung dieser postmodernen und postagrarischen Zwischen- und Hybridräume geht es in der Ausstellung u.a. um Künstliche Intelligenz und Automatisierung, genetische Experimente und politische Radikalisierung, Massen- und Mikromigration, Fördergelder und Anreizsysteme, großflächiges Raummanagement, Mensch-Tier-Verhältnisse sowie die Auswirkungen des Digitalen auf die physische Welt. Allesamt Themen, die nicht unbedingt zur Landlust-Ländlichkeit passen. Dabei sind doch insbesondere die digitalen Medien, so der Medienwissenschaftlicher Christoph Engemann (2015: 50), »ganz konkret ländlich«. Vor diesem Hintergrund zeigt sich in den medialen Diskursen und individuellen Praktiken idyllischer Ländlichkeit (Baumann 2018) wieder einmal eine Überlagerung der konkreten Gegebenheiten durch kulturelle Bilder und Erzählungen, die mittels kulturgeschichtlich verfestigter Topoi sowie den ihnen innewohnenden romantisierenden Deutungsmustern die je aktuelle Entwicklungen ruraler Räume ausblendet und somit auf das komplexe Spannungsverhältnis von Land und Ländlichkeit (Marszałek/Nell/Weiland 2018) verweist. Allerdings kommen, und zwar ganz entgegen der wahrnehmbaren Tendenz einer Re-Romantisierung des eigenen Lebens via Kulturtechniken des Ländlichen, in den gegenwärtigen Bilderwelten doch nicht nur ausschließlich klassische Oppositionsstellungen – Natur vs. Technik, Mensch vs. Maschine, Land vs. Zukunft – zum Tragen. Es sind vielmehr auch, insbesondere in Bildern zukünftiger Landwirtschaft, zunehmend Verschränkungen von ursprünglich getrennten Bildelementen und Darstellungsformen zu beobachten. Hier düngen, schützen und ernten (gern auch im Licht einer warmen und goldigen Abendsonne) autonom fahrende Roboter, in urbanen Gemüsetürmen wächst Salat, via Drohnen, Satellitendaten und smarten Brillen werden Schädlinge bekämpft; und trotz moderner Technik scheint ein direktes Verhältnis zur Umgebung – Mensch, Tier und kultivierte Natur – möglich. Dabei werden, unter nunmehr anderen Vorzeichen, mit dieser Integration von technischen Bildelementen in romantische Darstellungsformen gewissermaßen auch wieder romantisierende Vorstellungen und Deutungsmuster aufgerufen: Es entstehen Bilder einer neuen (›gemachten‹) Ganzheit, in der gleichermaßen alles mit allem verbunden ist und doch der Mensch wieder im Mittelpunkt des (holistischen) Geschehens steht (bzw. stehen kann).

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Abb. 8: Bilder einer allumfassenden Vernetzung, in denen der Mensch wieder im Mittelpunkt steht: in der Werbung eines großen Landmaschinenproduzenten sowie den Beiträgen einer landwirtschaftlichen Fachzeitschrift und einer Wochenschrift.

Fendt, Topagrar 9/2019, Die Zeit 22/2018

Vermitteln diese technikoptimistischen Zukunftsbilder, die ja mitunter aus der Perspektive der großen Agrarkonzerne entworfen werden und dem Produktabsatz dienen, auch die Vorstellung neu zu erlangender Kontrolle, die sich sowohl in Präzision und Effizienz der eingesetzten Mittel als auch in einer generellen Überwachbarkeit und Beherrschbarkeit der zur Verfügung stehenden Umwelt niederschlägt,56 so entwickeln die medial-künstlerischen Imaginationen des technischen Fortschritts im Ländlichen zumeist differenziertere Szenarien, die zwischen utopischem und dystopischem Entwurf changieren. In der näheren wie ferneren Zukunft angesiedelte Filme

56 Bemerkenswert sind auch die nicht etwa in technizistischer Weise gestalteten, sondern vor allem im nahezu comichaften Stil gehaltenen Infografiken (seien sie nun von den Herstellern oder Ministerien erstellt), die den Eindruck des Kleinen und Spielerischen vermitteln.

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wie etwa AVATAR (2009), EX MACHINA (2014), ARRIVAL (2016) oder ANNIHILATION (2018) sowie Serien wie WESTWORLD (seit 2016), TALES FROM THE LOOP (2020) oder DEVS (2020), um nur ein paar aktuelle Beispiele zu nennen, imaginieren allesamt Grenzverschiebungen dessen, was der Mensch denn ›eigentlich‹ sei (oder: gewesen ist bzw. sein wird) – und verorten die sukzessive vollzogenen (anthropologischen, technischen, kulturellen) Grenzüberschreitungen jeweils in ruralen Räumen, die in der Handlungslogik der Werke unter je unterschiedlichen Vorzeichen als Ermöglichungsbedingungen dieser Überschreitungen fungieren. Abb. 9: Anthropologische, technische und kulturelle Grenzverschiebungen, die im Ruralen eingeleitet und vollzogen werden.

Von links oben nach rechts unten: Filmstills aus TALES FROM THE LOOP, ARRIVAL, DEVS und EX MACHINA

Entwarf der verrückte Wissenschaftler Rotwang in METROPOLIS den Maschinenmenschen noch im Alleingang und nahezu unentdeckt im stillen Kämmerlein der anonymen Stadt, so sind es in EX MACHINA und WESTWORLD57 die großen Tech-Konzerne mitsamt einem Heer an Wissenschaftlerinnen, Angestellten und Sicherheitskräften,

57 Siehe dazu den Beitrag von Jonas Nesselhauf, der die Imagination ruraler Teilzeitutopie, die in Film und Serie anhand eines hochtechnisierten und mit Androiden bestückten ruralen Vergnügungsparks in Szene gesetzt wird, in einer Traditionslinie verortet, die bis in die Kulissenlandschaft eines bäuerlichen Idylls zurückführt, die Marie Antoinette mit ihrem HAMEAU DE LA REINE errichten ließ und die seither nicht zuletzt auch als Ausdruck (gegenwärtiger/zukünftiger) gesellschaftlicher Machtverhältnisse verstanden werden kann.

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die in vermeintlich kontrollierbarer Umgebung ruraler Räume künstliche Intelligenzen erschaffen (und sowohl Empathie für diese entwickeln als natürlich auch die Kontrolle verlieren). Ruralitäten werden hierbei gleichermaßen zu imaginativen Spielräumen58 wie zu realitätsbezogenen Verhandlungsorten. Nach wie vor primär dem realistischen Erzählen zugeordnet, fungieren Geschichten ruraler Räume durch eine solche Verbindung mit Erzählformen des Utopischen und/oder Science Fictionalen nunmehr verstärkt als wissensbasierte, d.h. an den faktualen (technischen) Wissensbeständen ausgerichtete Erkundungsweisen potenziell zukünftiger Phänomene und Entwicklungen; können mit ihnen doch, gerade vor dem Hintergrund der aktuell geführten Diskussionen um das Anthropozän, den Klimawandel oder den Transhumanismus, etwa auch abstrakte, kontraintuitive und nicht-intuitive Frage- und Problemstellungen »in Form des Gedankenexperiments« (Siebenpfeiffer 2016: 310) auf die Zukunft hochgerechnet und im Modus imaginativen und mentalen Probehandelns59 in eben dieser Zukunft durchgespielt werden.60 Neben den nicht unwesentlichen Aspekt der

58 Ganz explizit zum Ausdruck gebracht wird dies in filmischen Blockbustern, die mit den Mitteln der Science Fiction und Fantasy arbeiten und die Abgeschiedenheit ruraler Räume als zu füllende Spielwiesen nutzen (via computergenerierter Inhalte); man denke nur an THE HUNGER GAMES (2012-2015) oder BLACK PANTHER (2018). Wobei Wakanda, das fiktive Land, in dem der Oberbösewicht Thanos einmal geschlagen wird, durchaus als mediales Paradebeispiel eines hidden champion gelten kann: Von den Industrienationen als vermeintliches ›Dritte-Welt-Land‹ verspottet, beherbergt es doch nicht nur den wertvollsten Rohstoff der Marvel-Filmserien, sondern die mit weitem Abstand modernsten technischen Mittel – und dient zugleich als Projektionsfläche einer weitestgehend gelingenden Verschmelzung von Tradition und Moderne. 59 Vgl. zum Begriff aus literaturanthropologischer Perspektive Neumann (2013: 44 u. 57ff.); vgl. zu seiner Verwendung im Kontext der Utopie Voßkamp (2013 u. 2016) 60 Dass bspw. literarische Dorfgeschichten seit dem 19. Jahrhundert in ihren Auseinandersetzungen mit zeitgenössischen Gesellschaften die Fragen verhandeln, »wodurch die Gegenwart beeinflusst wurde« und »wie Gegenwart und Zukunft der Gesellschaft aussehen können und sollen« (Wild 2012: 277), zeigen u.a. die Studien von Wild (2011) und Twellmann (2019). Im Zentrum des Erzählens stehen nahezu durchgehend Konflikte zwischen expandierenden und zurückgedrängten Ordnungen; Kräften der Innovation und Kräften der Beharrung. Dass die Science Fiction – »als Literatur des wissenschaftlich-technischen Zeitalters« (Esselborn 2019: 32) – gleichermaßen als »Ausdruck des Möglichkeitsdenkens« wie auch »Vorwegnahme überraschender Entwicklungen der Zukunft« (Esselborn 2019: 32) dient, zeigen u.a. die Studien von Esselborn (2019) und Roberts (2016) sowie der Band von Fuhse (2008). Dass sie sich allein darin allerdings nicht erschöpft, sondern immer auch »Probleme des Erkennens, des Wissens, des technischen Könnens und logischen

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Unterhaltung treten damit die Funktionen der historischen Horizontbildung und Zukunftsgestaltung (vgl. Hölscher 2016: 9). Bilder und Narrative ruraler Zukünfte stellen dabei einerseits dar, wie die Bestimmung des Menschen, seiner Verhältnisse zu Natur, Tieren, Technik, Klima etc. im Horizont der jeweils zeitlichen, kulturellen, sozialen und technischen Umstände gedacht bzw. problematisiert wird – und zielen andererseits mitunter auf eine Veränderung dieser Denkweisen ab. Damit verbunden ist sowohl eine ›transzendierende‹ als auch eine ›regulative‹ Funktion der Zukunftsimaginationen, die gleichermaßen darauf abzielen können, einen bestimmten Zustand herzustellen oder zu vermeiden (vgl. ebd.: 322). »Der Generierung von zukünftiger Zeit«, so Hölscher, »ist deshalb die Vernichtung von zukünftiger Zeit an die Seite zu stellen.« (Ebd.) So oder so: Die fiktionalen Entwürfe ruraler Zukünfte dienen dabei, wie auch andere Zukunftsimaginationen, gewissermaßen »als Initiatoren und Katalysatoren der Diskussion« (Orth/Scheffel/Seifert 2020: 1); und auch sie können als Projektionsflächen unterschiedlicher Gegenwartsinterpretationen und somit auch als »inhärente[r] Teil des aktuellen Wissens« (Hartmann/Vogel 2010: 7) verstanden werden. Sind mit ländlichen Räumen seit nahezu jeher komplexe Problemlagen und Zukunftsfragen jeweils gegenwärtiger Gesellschaften verbunden, so verdichten sich in ihnen aktuell, und zwar nicht nur in Deutschland und Europa, mitunter brisante und vieldiskutierte Themen: Demographie und Daseinsvorsorge, Klimakrise und Energiegewinnung, Landwirtschaft und Tierhaltung, Ernährung und Lebensstil, Landflucht und Wohnungsnot, Migration und Populismus, soziale Spaltung und gesellschaftlicher Zusammenhalt. Oder anders gesagt: »Die Zukunft der ländlichen Räume, der Provinz, der Peripherie ist zu einem gesellschaftlichen Megathema geworden.« (Doehler-Behzadi 2021: 600) Zugespitzt formuliert: Die Zukunft entscheidet sich insbesondere in einer zunehmend urbanisierten, digitalisierten und globalisierten Welt, darauf weist auch der Soziologe Berthold Vogel hin, auf dem Land: »Die Zukunft der Digitalisierung, der Logistik, der Ernährung, der Energiegewinnung, der Biodiversität, des Alterns, der Demokratie – sie nimmt ihren Ausgang jenseits der Metropolen.« (Vogel 2020). Entsprechend erscheint das Land nunmehr als »Experimentierfeld und Anwendungslabor« (ebd.), auf und in dem »die sozialen und technischen Architekturen der Zukunft entworfen« (ebd.) werden. Vogel verweist mit dieser Feststellung aber auch auf eine Forderung, die dem Projekt von Koolhaas und AMO inhärent ist. Ist es ihnen zufolge doch offensichtlich, »dass unsere Gesellschaften ihre Zukunft verpassen, wenn sie in den alten Kategorien von Stadt und Land hängen bleiben« (ebd.). Daraus leitet sich dann der nächste Schritt ab: »Ihnen muss eine Dezentrierung gelingen, das heißt der nicht zuletzt

Schließens« (Dath 2019: 81) thematisiert und reflektiert, das zeigt die monumentale Monografie von Dietmar Dath (2019).

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kognitive Schritt, Fläche, Region und Provinz nicht mehr als bloßes Hinterland zu betrachten.« (Ebd.) In seinen die Ausstellung vorbereitenden und begleitenden Vorträgen und Aufsätzen hebt Koolhaas immer wieder auf die allseits marginalisierte Rolle des Ruralen ab. Ihm zufolge bilden ländlichen Räume in einer urbanisierten Gesellschaft zunehmend blinde Flecken, die sich außerhalb der sozialen Aufmerksamkeit befänden: »Today there is an almost complete lack of exploration of the countryside.« (Koolhaas 2018) Es fehlt ihnen, sozusagen, an Repräsentation. Insbesondere Architekten fokussierten, so sagt es Koolhaas an die eigene Zunft gerichtet, vornehmlich urbane Räume und erzeugten damit »a colossal terra incognita« (Koolhaas 2012, siehe auch 2020a). Dabei wirkt es angesichts der zunehmenden medialen, literarischen, künstlerischen und wissenschaftlichen Diskussionen durchaus ein wenig skurril, wenn Koolhaas als einzig signifikante und noch zu hörende Stimme Henry David Thoreaus WALDEN von 1854 ausmacht bzw. vernimmt (vgl. ebd.). Allerdings liegt in der Zuspitzung doch gewissermaßen auch ein wahrer Kern: Wurden die unterschiedlichen Erscheinungsformen, Entwicklungspfade und Erzählweisen ruraler Räume in den kulturellen, wissenschaftlichen und auch politischen Diskursen lange Zeit systematisch vernachlässigt (und zeigt sich erst seit Kurzem, wie bereits erwähnt, ein neues interdisziplinäres und diskursübergreifendes Interesse an ihnen), so sind doch die urbanormativen Denkmuster, Handlungsweisen und Entscheidungsstrukturen als Folge dessen zu verstehen.61 Dies ist nicht zuletzt ein Erbe, mit dem eine sich neu formierende und interdisziplinär ausgerichtete Forschung zu ruralen Räumen umgehen muss und an dem sie, insbesondere aus der Perspektive einer kritischen Landforschung (vgl. Mießner/Naumann 2019, Maschke/Mießner/ Naumann 2020), auch ansetzen kann. Darüber hinaus trifft die Kritik bezüglich der Forschungslage zu spezifisch ruralen Zukünften durchaus zu. Denn mit Blick auf die Forschungsliteratur ist hier eine ambivalente Situation zu beobachten. Einerseits findet sich gegenwärtig wie auch historisch eine Vielzahl an medialen Bildern und Narrativen zukünftiger Ruralitäten. Sie stehen in doppelter Wechselwirkung sowohl mit der modernen Konzeption von Zukunft (Hölscher 2016), die eine spezifische Planung und Entwicklung von Räumen ermöglichte,62 als auch mit der

61 Dass dies ein Mangel ist, der vor dem Hintergrund der nach wie vor wirksamen Imagination einer umfassenden Trennung von Stadt und Land anfällig für populistische Bewegungen ist, die gerade auch diese Dualismen ausspielen, darauf ließe sich mit Kaschuba (2016) verweisen. Vgl. kritisch dazu die Studie von Förtner/Belina Naumann (2019), die ihren Fokus nicht auf Siedlungsstrukturen, sondern auf die sich im Raum manifestierenden sozialen Verhältnisse legen. 62 Gerade auch die beiden Aspekte der Planbarkeit und Veränderbarkeit, die mit der Herausbildung des neuzeitlichen Zeitmodells einhergingen, ermöglichten zukunftsorientierte Entwürfe und Gestaltungen ländlicher Räume; ja, auch die Ausrichtung an utopischen Idealen

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Pluralisierung dieser ›einen‹ Zukunft in unterschiedliche ›Zukünfte‹ (Seefried 2015), die mit der Ausdifferenzierung verschiedener (medialer) Methoden der Produktion von ›Zukunftswissen‹ (Hartmann/Vogel 2010, Bühler/Willer 2016) einherging. Entsprechend hat sich eine sehr umfangreiche Zukunftsforschung herausgebildet, die sich u.a. mit den Themen und Motiven sowie Formen und Funktionen von literarischen wie (inter-)medialen Zukunftsnarrationen in ihren jeweiligen historischen, sozialen und kulturellen Kontexten beschäftigt (siehe allein jüngst Windfuhr 2018, Dath 2019, Esselborn 2019, Herold 2020). Dabei können die verschiedenen Formen des fiktionalen wie faktualen Erzählens, sei es nun bspw. in und mit Bildern, Entwürfen oder Texten, als Kulturtechniken der Erzeugung von Zukunft verstanden werden. Andererseits muss aus literatur-, kultur- und medienwissenschaftlicher Perspektive jedoch konstatiert werden: Das kulturelle Archiv medialer Zukunftsbilder und -narrative des Ruralen ist, auch hinsichtlich ihrer Wechselwirkungen mit gesellschaftlichen Praktiken sowie ihres Einflusses auf konkrete Planungen, noch nahezu gänzlich unerforscht. Aus Perspektive der Ruralitätsforschung wird zwar festgehalten, dass mit Dörflichkeiten und Ländlichkeiten »eine lange Ideengeschichte politischen Veränderungswillens und alternativer Projekte der Raumaneignung« verbunden sei (Laschewski et al. 2019: 38) – allerdings finden sich hierfür bisher keine umfassenden Untersuchungen. Eine Literatur-, Kultur- und/oder Mediengeschichte ruraler Zukünfte, insbesondere hinsichtlich der Verflechtungen ihrer Bilder und Narrative mit zeitgenössischen sozialen Praktiken, ist ein Desiderat der Forschung.63

sowie die Imagination und Einrichtung von Musterdörfern. Dabei beziehen sich seit dem 18. Jahrhundert vermehrt in die Zukunft gerichtete Planungen auf ländliche Räume und suchen dort bspw. anhand von Modell- und Idealdörfern, die zunächst v.a. grafisch und bildlich in Szene gesetzt wurden, eine ›bessere‹ Gesellschaft einzurichten; Planen und Erzählen, das zeigen die Ausführungen von Twellmann (2019: 41-84) anhand verschiedener Beispiele, sind hierbei eng miteinander verflochten. 63 Dabei wären unterschiedliche Perspektiven zusammenzuführen: historische, die sich etwa mit der Planung agrarischer Zukünfte (z.B. Radkau 2017) oder der Entstehung alternativer Bewegungen im Ländlichen (z.B. Paulus 2018) beschäftigen; sozialwissenschaftliche, die erforschen, in welcher Weise mit wirtschaftlichen und technischen Neuerungen auch soziale Innovationen einhergehen (z.B. Richter 2016, Christmann 2019); geographische, die mit Blick auf die Verschränkungen von Urbanität und Ruralität verschiedene Szenarien ländlicher Zukünfte (Redepenning 2018, Bätzing 2020) diskutieren; und nicht zuletzt literatur-, kultur- und mediengeschichtliche, werfen doch die Literatur- und Kulturgeschichten der Zukunft (Hölscher 2016), der Utopie (Voßkamp 2016) und der Katastrophe (Horn 2014) bisher lediglich gelegentlich, v.a. im Kontext ökologischer Probleme, einige Seitenblicke auf Ruralitäten.

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Wie könnte, in ersten Ansätzen, eine solche aussehen? Zunächst einmal bietet sich aus analytischen Gründen eine doppelte Perspektivierung an, die sowohl danach fragt, wie das Land in der Zukunft erscheint, als auch danach, wie die Zukunft auf dem Land erscheint. Es geht also einerseits um Rurales in medialen Bildern und Narrativen des Zukünftigen und andererseits um Zukünftiges in medialen Bildern und Narrativen des Ruralen. Dadurch können auf diachroner Ebene zwei Entwicklungsstränge ruraler Zukunftsimaginationen untersucht und aufeinander bezogen werden. Um dies in aller Kürze anhand literarischer Diskurse zu skizzieren: Zum einen finden sich immer wieder rurale Elemente und Strukturen in literarischen Zukunftserzählungen. Die Geschichte ruraler Zukünfte schlägt hierbei – um ein paar Beispiele zu nennen – einen Bogen von der »Verzeitlichung der Utopie« (R. Koselleck) in Louis-Sébastien Merciers Roman L’AN 2440 (1771) (der angesichts einer umfassenden Kritik am Zentralismus u.a. Idealbilder dezentraler Strukturen und ländlicher Arbeit vermittelt) über William Morris’ NEWS FROM NOWHERE (1890) (der eine Verländlichung Londons und damit einhergehend eine multidimensionale Überformung des Urbanen durch das Rurale diskutiert) und H. G. Wells’ THE TIME MACHINE (1895) (der zeitgenössische Problemlagen der Klassengesellschaft in eine evolutionäre Spekulation einbindet und soziale Machtverhältnisse im anti-utopischen Setting der Oppositionsstellung zwischen einem oberirdischen Arkadien und unterirdischen Fabriklandschaften weiter verräumlicht sowie schließlich umkehrt) sowie die verschiedenen Dystopien des 20. Jahrhunderts (die in sich, siehe etwa Huxleys BRAVE NEW WORLD oder Orwells 1984 immer wieder Ländlichkeiten als utopische Gegenbilder entwerfen) und kritischen Utopien wie Ernest Callenbachs ECOTOPIA (1975) (der anhand des Konzepts eines ›stabilen Gleichgewichts‹, bei dem natürliche Entwicklungen und technische Innovationen zusammenwirken, die Herausbildung nachhaltiger Kreisläufe imaginiert und dabei u.a. regenerative Energiequellen, partielle Selbstversorgung, alternative Arbeitsweisen und neue Frauenbilder ins Zentrum rückt) bis hin zu Apokalypsen wie Valerie Fritschs WINTERS GARTEN (2015) und Post-Apokalypsen wie Cormac McCarthys THE ROAD (2006) (die ländliches Leben angesichts oder nach heraufziehenden Katastrophen imaginieren).64 Zum anderen finden sich immer wieder zukünftige Elemente und zukunftsgerichtete Entwicklungen in literarischen Landerzählungen. Die Geschichte ruraler Zukünfte schlägt hierbei – um ebenfalls ein paar Beispiele zu nennen – einen Bogen von der Imagination einer rationalen Neuordnung des Ländlichen (wie sie z.B. in

64 Siehe zu Imaginationen eines (Land-)Lebens nach der atomaren Apokalypse den Beitrag von Anne D. Peiter, die aus komparatistischer Perspektive untersucht, wie Science-FictionRomane aus der Zeit des Kalten Kriegs mit dem genuinen Darstellungsproblem der unsichtbaren Gefahr einer atomaren Wolke umgehen und welche neuen (alten) Gesellschaftsformationen sie imaginieren.

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Rousseaus JULIE OU LA NOUVELLE HÉLOÏSE, 1761, spezifisch ästhetisiert und mit philosophischen Reflexionen sowie moralischen Belehrungen verbunden wird; und immer wieder auch in die Realität überführt werden sollte) über das Auftauchen raumgreifender Modernisierungsmaßnahmen im Ruralen (wie sie z.B. in Goethes WILHELM MEISTER-Romanen, 1795 und 1829, anhand der Planung großflächiger Landbestellung und Maschinisierung sowie deren Einpassungen in globale Handelsnetze kritisch reflektiert werden)65 und die Implementierung umfassender sozialer, kultureller und juristischer Reformen (von denen z.B. Berthold Auerbachs SCHWARZWÄLDER DORFGESCHICHTEN, ab 1843, erzählen) sowie die Propagierung politischideologischer Zukunftsentwürfe (die sich u.a. in lebensreformerischen, kommunistischen und sozialistischen Landerzählungen finden) bis hin zu groß angelegten staatlichen Energie- und Versorgungsprojekten (wie sie z.B. in Valentin Rasputins ABSCHIED VON MATJORA, 1976, auf die lokale Bevölkerung treffen) sowie einer touristisch und klassen-spezifisch inszenierten zukünftigen Re-Regionalisierung und Wiederkehr politischer Spaltungen zwischen Stadt und Land (wie sie jüngst in den ›rurbanen‹ Romanen von Michel Houellebecq, LA CARTE ET LE TERRITOIRE, 2010, SOUMISSION, 2015, und SEROTONIN, 2019, erscheinen und angesichts der folgenden historischen Ereignisse mitunter gar als ›Voraussagen‹ und ›Prophezeiungen‹ verstanden wurden). Dabei bietet die Perspektivierung literarischer Erzählungen natürlich nur einen möglichen Ansatzpunkt, von dem aus auf je synchroner Ebene intermediale Verschränkungen und Verflechtungen in der sozialen Produktion von ›Zukunftswissen‹ und ›Zukünftigkeiten‹66 thematisiert werden können: so etwa hinsichtlich weitergehender Zukunftsentwürfe in historischen wie aktuellen Raumbildern des Ruralen bzw. Rurbanen, wie sie sich bspw. in Fouriers Idee der Phalanstère (1808), Howards Gartenstadtmodell (1898/1902),67 Migges GRÜNEM MANIFEST (1918), Wrights

65 Siehe den Beitrag von Marcel Krings, der dem literarischen Bild, das Goethe in den WANDERJAHREN von einer allumfassenden Ökonomisierung ländlicher Räume in ihren Auswir-

kungen auf Mensch, Gesellschaft und Landschaft zeichnet, nachgeht und der dabei auch danach fragt, warum die Moderne im Roman ausschließlich im Ruralen thematisiert wird. 66 Vgl. zum Begriff Eshel (2012: 15): »Literatur erschafft das Offene, Zukünftige, Mögliche, indem sie unser Vokabular mit innovativen Konstruktionen und Metaphern erweitert, die menschliche Handlungsfähigkeit untersucht und gleichzeitig zu Reflexion und Debatten anregt. Diese Fähigkeit bezeichne ich als ›Zukünftigkeit‹.« Eine solche Konzeption schließt nicht zuletzt an eine Theoriegeschichte an, die ›Literatur als Utopie‹ (Ueding 1978) versteht. 67 Siehe dazu auch den Beitrag von Eliane Fitzé, die die Rezeption und Aneignung der Gartenstadtidee in Russland, die insbesondere nach der Oktoberrevolution stark zunahm, anhand einer Untersuchung von vier literarischen Utopien thematisiert, die allesamt auf die

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BROADACRE CITY (1932/1935) oder, um ein jüngeres Beispiel heranzuziehen, Vincent Callebaut Architectures PARIS SMART CITY 2050 (2015) zeigen. Abb. 10: Eine ruralisierte Stadt: das Konzept PARIS SMART CITY 2050

Vincent Callebaut Architectures (2015)

Dabei zeigt sich allein an diesen Beispielen: Der umfassende Wandel der Bilder und Narrative sowohl des Ruralen als auch der Zukunft ist im Kontext zeitgenössischer ökologischer und ökonomischer, technischer und infrastruktureller sowie sozialer und kultureller Entwicklungen zu verstehen.68 Das veranschaulichen insbesondere die utopischen Entwürfe des frühen 20. Jahrhunderts, die quasi auch die ›Rückseite‹ der oben angesprochenen urbanen Zukünfte darstellen; sind sie doch als Reaktionen auf die sich abzeichnende »Not der Städte« (Hölscher 2016: 191) zu sehen, die nicht zuletzt durch deren rasches Wachstum verursacht wurde: »Die Straßen waren zu eng, um den vermehrten Verkehr aufzunehmen, die Innenstädte zu dicht besiedelt, die Häuser ohne Versorgungsleitungen für Wasser, Abwasser und Elektrizität. Die Fabriken lagen, Folge des raschen urbanen Wachstums, nicht mehr außerhalb der Städte, sondern am Rand der Innenstädte, wo sie die Luft verpesteten und einen für die Anwohner oft unerträglichen Lärm und Schmutz produzierten. Für moderne Versorgungsbetriebe, Großmarkthallen, Vieh- und Schlachthöfe, für Müllabfuhr, Polizei und Feuerwehr fehlte dagegen der Platz.« (Hölscher 2016: 191)

mit einer Verschränkung von Stadt und Land einhergehende Erschaffung einer neuen Gesellschaft wie auch auf die Lösung aktueller Problemlagen abzielen. 68 Das dürfte sich auch anhand einer diachrone Analyse der durchaus vorhandenen Masse an Untersuchungen, Ratgebern, Broschüren und grauer Literatur zeigen lassen, die insbesondere im 20./21. Jahrhundert – häufig unter dem Leitbild nachzuholender Modernisierung – zu den Zukunftsaussichten und -chancen ländlicher Räume fabriziert wurden.

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In diesem Kontext erschien die Ruralisierung der Stadt als eine mögliche Lösung. Sie wurde sowohl literarisch erzählt als auch visuell in Szene gesetzt und planerisch ausgeführt,69 so etwa von William Morris mit NEWS FROM NOWHERE als auch von Ebenezer Howard mit GARDEN CITIES OF TO-MORROW. Abb. 11: Howards Gartenstadtmodell: die drei Magneten, das Modell sowie eine zeitgenössische Werbeanzeige für Welwyn Garden City.

Ebenezer Howard: GARDEN CITIES OF TO-MORROW (1898/1902); Punch’s Almanack (1921)

Berichtet Morris in seinem utopischen Roman noch rückblickend auf die eigene Gegenwart aus der Perspektive einer erträumten Zukunft davon, »dass der Unterschied und Gegensatz zwischen Stadt und Land bald mehr und mehr verschwand« (Morris 2017: 134) und selbst der Londoner Trafalgar Square mittlerweile zur »anmutige[n] Gartenlandschaft« (ebd.: 102) geworden sei, so entwickelt Howard auch auf Basis konkreter Berechnungen, schließlich könne in einer Gartenstadt »viel vorteilhafter gewirtschaftet werden […] als unter gewöhnlichen Verhältnissen« (Howard 1968: 85), und unter Einbeziehung der »menschlichen Natur selbst« (ebd.: 116) ein projektiv veranlagtes Bild, das den sukzessiven Entwicklungsgang der neuen Stadt regelt (vgl. ebd.: 82) und, die berühmten ›drei Magneten‹ zeigen es an, auf die Vereinigung der jeweils besten Seiten des Stadt- und Landlebens abzielt.

69 Siehe zu einer Geschichte ruraler Differenzmarkierungen und Korrektivvorstellungen auch den Beitrag von Werner Nell, der den Bildlichkeits- und Künstlichkeitscharakter städtischer Ländlichkeiten unter den Bedingungen (post-)moderner Lebenswelten in seinen unterschiedlichen Funktionalisierungen reflektiert und dabei Entwicklungslinien von den Schäferromanen des 17. und 18. Jhs. über die Dorfgeschichten, Weltausstellungen und Gartenschauen des 19. Jhs. bis hin zu modernen und gegenwärtigen Literaturen des 20. und 21. Jhs. nachzeichnet.

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Raumbilder sind hierbei gleichermaßen historisch situiert und projektiv veranlagt (vgl. Ipsen 1997). Das gilt ebenso für Raumbilder des Ruralen; und zwar auch in urbanen Kontexten: Sie waren in unterschiedlichen historischen Phasen immer wieder von Bedeutung für die konkrete Raumplanung; und sind es ebenso aktuell.70 Wobei in der aktuellen Diskussion auch zunehmend der Einsatz und die Funktion narrativer Verfahren in Entwurfs- und Planungsprozessen (vgl. Schmidt 2018a u. 2018b) reflektiert wird.71 Imaginationen und Projektionen sind auf Planungen und Gestaltungen bezogen – und umgekehrt. Auch diese Wechselwirkung lässt sich in doppelter Perspektivierung verfolgen. Geht es doch auch der Planung und Gestaltung einerseits um die Imagination bzw. Projektion von Erscheinungsformen, Funktionen und Stellenwerten des Zukünftigen in ihren gegenwartsbezogenen Entwürfen ruraler Räume; dies umfasst die Frage nach potenziell zukünftigen Formen von Arbeit, Ernährung, Klima, Politik, Technik und Digitalisierung in ihren Auswirkungen auf bzw. Einbettungen in Konstruktionen von u.a. Tradition, Natur, Gesellschaft und Heimat. Und geht es ihr doch andererseits ebenso um die Imagination bzw. Projektion von Erscheinungsformen, Funktionen und Stellenwerten des Ruralen in Entwürfen zukünftiger Lebenswelten; wobei hier auch der Einsatz der jeweiligen erzählerischen Mittel, auf denen diese Entwürfe basieren bzw. mit denen die ihnen zugrundlegenden Zeit- bzw. Zukunftsmodelle erzeugt werden, von Bedeutung ist. Sie umfassen etwa Prognosen und Berechnungen, Extrapolationen und Evolutionen, Visionen und Spekulationen, Szenarien und Zyklen; und sind schließlich im gesamten Spektrum der je unterschiedlichen medialen Formen des faktualen (Dokumentation und Demographie, Foresight und Szenario, wissenschaftliche Studien und Sachbücher etc.) wie fiktionalen (Science Fiction, Climate Fiction, Utopie/Dystopie, Apokalypse und Postapokalypse etc.) Erzählens mit Text, Bild und Ton zu finden. Dabei zeigt eine kursorische Betrachtung der diversen medial erzeugten ruralen Zukünfte, dass sich hier zwei inhaltliche Ausrichtungen (mitsamt ihren formalen Entsprechungen), wie die Zukunft des Ruralen aussehen sollte oder könnte, im Spannungsverhältnis zueinander befinden und gewissermaßen zwei einander gegenüberstehende Pole markieren. Sie könnten – versuchsweise – als ›mediale

70 Siehe dazu den Beitrag von Sigrun Langner, die aus landschaftsentwerfender Perspektive die Funktionen von rurbanen Raumbildern, die sowohl handlungsleitend und raumprägend wirken als auch die kommunikative Aushandlungsprozesse über mögliche zukünftige Entwicklungen unterstützen können, thematisiert und dabei historische Beispiele und aktuelle Entwürfe in den Blick nimmt. 71 Siehe dazu auch den Beitrag von Thomas Gräbel, Sabine Rabe und Hille von Seggern, die in einem aktuellen Projekt zu gelingenden und damit zukunftsweisenden Raumkulturen in Dörfern und Kleinstädten neben Text, Zeichnung und Bild auch auf den Einsatz von Film als narrativ-bildliches und zugleich partizipatives Erkundungsmedium setzten.

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Stadtlandimaginationen‹ (die die vielfachen Verschränkungen von Urbanität und Ruralität erzählen und bebildern)72 und als ›mediale Eigenlogiken des Ländlichen‹ (die die jeweiligen Besonderheiten des konkreten ländlichen Raums auch in ihrer Differenz zu anderen ländlichen Räumen erzählen und bebildern)73 bezeichnet werden. Sei es gegenwärtig nun in die eine oder andere Richtung tendierend: Die Konjunktur eines medien- und diskursübergreifenden Erzählens von ruralen Zukünften und zukünftigen Ruralitäten kann gerade im Kontext einer sich zunehmend

72 Das Konzept medialer Stadtlandimaginationen, in den Literatur- und Medienwissenschaften noch unausgeführt, kann am aktuellen Diskussionsstand von Landschaftsarchitektur und Raumplanung anknüpfen. Es versteht Stadt und Land als Teile eines Netzwerks von übergreifenden ökonomischen, sozialen, kulturellen und kommunikativen Beziehungen, die in wechselseitigen Austausch- und Abhängigkeitsverhältnissen stehen und komplementäre Pole eines »Zivilisationssystems« (Oswalt 2018: 246) bilden. Dabei wird wiederholt die Auflösung der Stadt-Land-Differenz konstatiert und mittels hybrider Begrifflichkeiten wie »Zwischenstadt« (Sieverts 1997), »Stadtland« (Eisinger/Schneider 2003) und »Rurbanismus« (Pretterhofer/Spath/Vöckler 2010) gefasst. Angesichts der sich überschneidenden Prozesse einer Urbanisierung des Ruralen (z.B. Dirksmeier 2009) und einer Ruralisierung des Urbanen (z.B. Müller 2011) zielen sie darauf ab, die wahrnehmbaren Verschränkungen in ihren materiellen, immateriellen und performativen Dimensionen zu fassen. Allerdings sind die ihnen zugrundeliegenden intermedialen Bilder und Narrative, wie sie in Literaturen, Filmen, Künsten und Medien ebenso wie in Planungen und Entwürfen zum Ausdruck gebracht werden und sich gegenseitig bedingen, noch weitestgehend unerforscht; das gilt auch hinsichtlich ihrer spezifischen Konstruktion und Vermittlung von Zukünftigem. 73 Das Konzept medialer Eigenlogiken des Ländlichen, in der Ruralitätsforschung noch unausgeführt, kann konzeptionell und methodisch auf eine umfangreiche interdisziplinäre Forschung zur Eigenlogik der Städte (u.a. Berking/Löw 2008, Löw 2008) – die konstitutiv an die symbolisch-diskursiven Erzeugungen des jeweiligen urbanen Raums in Bild und Text gebunden ist (vgl. Löw 2008: 86 u.ö.) – zurückgreifen. So wird auch aus Perspektive der Raumplanung, und zwar gerade im Kontext einer global vernetzten Welt, die zunehmende Relevanz der Hervorhebung von Besonderheiten ländlicher Räume betont (vgl. Hahne 2021). Auch sie werden symbolisch (re)produziert und vermitteln Bilder und Narrative einer local distinctiveness (Clifford/King 1993) sowohl ›nach außen‹ als auch ›nach innen‹, die nicht zuletzt im Kontext einer vermehrten Konkurrenz der Ländlichkeiten untereinander (Heinz/Reda 2021) auch mit den spätmodernen Anforderungen an eine Singularisierung (A. Reckwitz) von u.a. Orten, Objekten, Ereignissen und Lebensstilen korrespondieren und sich gleichermaßen auf die ›Zukunftsfähigkeit des Raums auswirken wie sie Zukünftiges in Szene setzen.

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urbanisierenden oder bereits weitgehend urbanisierten – d.h. auch: sich selbst als ›urban‹ verstehenden – Gesellschaft als Wandel raumbezogener Imaginationen aufgefasst werden, der zur Refiguration von Räumen (Löw/Knoblauch 2021) beiträgt und zukunftsbildende Funktionen hat. Eine solche Perspektivierung und Analyse der praxisbezogenen und zukunftsgerichteten Neukonzeptionen räumlicher Zusammenhänge in/mit Narrativen und Bildern des Ruralen lässt sich im Rahmen der theoretischen und methodischen Konzepte neuerer Ruralitätsforschung denken.74 Setzt sie sich doch – gewissermaßen angeregt durch eine doppelte Öffnung kulturwissenschaftlicher Forschung für raumbezogene Fragestellungen sowie raumwissenschaftlicher Forschung für kulturwissenschaftliche Ansätze – mit symbolisch-diskursiven Konstruktionen von Ländlichkeiten in medialen Formen auseinander und untersucht diese Konstruktionen hinsichtlich ihrer Funktionen sowohl für das (kognitive) Verständnis und die (performative) Gestaltung sozialer Räume als auch für die Erzeugung wissenschaftlicher und praxisbezogener Wissensformen. Verbunden damit sind Fragen nach einer auch analytischen Modellierung sozialer/medialer Raumproduktionen des Ruralen. Dabei wurden in der jüngeren Vergangenheit aus literatur-, kultur- und medienwissenschaftlicher Perspektive mehrere Modelle diskutiert. Zum einen findet sich im Anschluss an die philosophische Erzähltheorie Paul Ricœurs (1988, 1989, 1991 u. 1996) ein analytisches Modell, das den Prozess der Konstituierung mentaler Raumbilder durch narrativ strukturierte Texträume veranschaulicht und in seinen lebensweltlichen Rückwirkungen, etwa in der spezifischen Weise der Positionierung des Subjekts in ruralen Räumen und zu ruralen Räumen, beobachtbar macht (vgl. Nell/Weiland 2014). Fokussiert werden dabei, in Übertragung des Konzepts der dreifachen Mimesis von zeit- auf raumtheoretische Fragestellungen, die ineinander verschränkten Ebenen der Präfiguration, Konfiguration und Refiguration von Raummodellen und Räumen; wobei sich am Beispiel von Erzählformen des Dörflichen das Ineinandergreifen mentaler, narrativer und praktischer Raumaneignung zeigt. Vorwissen,75 Erzählen/Rezipieren und Umgestalten stehen hierbei in einem dynamisch-zirkulären Verhältnis. Zum anderen lässt sich dieser narrative Fokus anhand eines neueren Modells (inter-)medialer Raumproduktion (Hißnauer/Stockinger 2021) weiter ergänzen und

74 Siehe dazu u.a.: Short (1991), Halfacree (1993 u. 2006), Woods (2005 u. 2011), Cloke/Marsden/Mooney (2006). 75 Als Beispiel für ein medial vermitteltes und verfestigtes ›Vorwissen‹ kann wohl auch das sog. Framing gelten, das im Beitrag von Martin Heintel hinsichtlich seiner Auswirkungen auf die Regionalentwicklung thematisiert wird.

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ausweiten.76 Dieses Modell, entwickelt am Beispiel aktueller medialer Diskurse – in Literatur, Dokumentar- und Fernsehfilm sowie Regionalmarketing – über ›gutes Leben‹ im Ländlichen (genauer: in der Uckermark), erweitert durch Hinzuziehung diskurstheoretisch-pragmatischer Konzepte das in den jüngeren sozialgeographischen Forschungen (z.B. Rössel 2014) und landschaftsarchitektonischen Planungen (z.B. Frölich-Kulik 2020) genutzte Modell der sozialen Raumproduktion von Lefebvre (1991) und überträgt es auf literatur- und medienwissenschaftliche Fragestellungen.77 Darüber hinaus besteht die Bedeutung dieses Modells in seinem spezifischen Raum- bzw. Regionsbezug, der damit konkrete rurale Räume als Ergebnis historischer und gegenwärtiger Raumdeutungen fassbar macht – in die eben auch (vergangene) Zukunftsbilder eingeschrieben sind. Dadurch rückt nicht zuletzt auch der spezifische Ortsbezug der erzählten Zukünfte in seinen Auswirkungen auf Erzählinhalte und -formen in den Blick. Vereinfacht gefragt: Macht es einen Unterschied, ob der Schauplatz ruraler Zukunft – zum Beispiel – im Alten Land, in der Uckermark, in der Lausitz, auf dem Hunsrück oder im Allgäu verortet und erzählt wird? (Bzw.: in je konkreten ruralen Räumen der USA, Chinas oder Indiens.) Vor diesem Hintergrund widmet sich der hier vorliegende Band der explorativen Erkundung sowohl aktueller als auch historischer Zukunftsentwürfe in ländlichen Räumen und von ländlichen Räumen. Er zielt dabei insbesondere auch auf eine Analyse der verschiedenen medialen Formen, mit denen mögliche wie auch unmögliche rurale Zukünfte bzw. zukünftige Ruralitäten entworfen werden – sei es nun in einer kurz- oder langfristigen zeitlichen Perspektive. Dies bewegt sich in einem Spektrum, das sowohl wissenschaftliche Darstellungen (z.B. demografische Hoch-

76 Siehe dazu den Beitrag von Christian Hißnauer, der vor dem Hintergrund dieses Modells die expliziten wie impliziten Verhandlungen der Zukunftsfähigkeit bundesrepublikanischer Dörfer in Fernsehdokumentationen von den 1960er Jahren bis zur Gegenwart analysiert, die dabei nicht nur eine vermeintlich authentische Nähe zu ihrem Gegenstandsbereich versprechen, sondern gleichermaßen den gesellschaftlichen Blick auf die Provinz mitprägen und, so zeigt sich in der filmhistorischen Rückschau, auch dessen Wandel festhalten. 77 Die drei miteinander in Wechselwirkung stehenden Dimensionen der sozialen Raumproduktion nach Lefebvre – die materielle Produktion, die Wissensproduktion und die Bedeutungsproduktion – werden hierbei vor allem in Zwischenräumen verortet: »So wie der konkrete Medientext dabei zwischen der Bedeutungs- und der Wissensproduktion vermittelt, vermittelt die Textlektüre zwischen der Wissensproduktion und der materiellen Produktion. Räumliche und (medien-)institutionelle Bedingungen schließlich vermitteln zwischen der materiellen Produktion und der Bedeutungsproduktion.« (Hißnauer/Stockinger 2021: 147, Hervorh. im Original)

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rechnungen, ökonomische Berechnungen, empirische Analysen etc.)78 und künstlerische Arbeiten (z.B. Literaturen, Filme, Serien) als auch jeweils tagesaktuelle Diskurse (z.B. ökologische Warnungen, politische Zielvorgaben),79 individuelle und soziale Praktiken (z.B. Mobilität und Wohnen,80 Arbeit und Tourismus, Wanderungsbewegungen und Bleibeentscheidungen,81 kulturelle Angebote und Tätigkeiten) sowie schließlich konkrete (landschafts-)architektonische Entwürfe und Planungen (z.B. Umgang mit dem baukulturellen Erbe,82 großflächige Dorf- und Raumplanung83) umfasst – ein Spektrum, in dem Gegenwarten und Zukünfte immer wieder aufeinander bezogen werden und in dem sich Imaginationen, Projektionen, Planungen und Gestaltungen des Ruralen in der Zukunft wie auch des Zukünftigen im Ruralen miteinander verschränken.

78 Siehe den Beitrag von Ulf Hahne, der aus raumwissenschaftlicher Perspektive die Frage der Herstellung von Zukunftswissen für rurale Räume wie auch der ›Zukunftsfähigkeit‹ von ruralen Räumen (nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Covid-Pandemie) in einer umfassenden Weise diskutiert. 79 Siehe den Beitrag von Uta Bretschneider, die architektonischen Entwürfen wie auch realen Entwicklung von Musterdörfern unter ideologischen Vorgaben des Sozialismus, die auf die Angleichung von Stadt und Land abzielten, nachgeht. 80 Siehe den Beitrag von Henrik Schultz, der aus raumplanerischer Perspektive die modernen Bewegungsformen multilokaler Gesellschaften in ihren Auswirkungen auf neu entstehende Gefüge und Geschichten zwischen Stadt und Land in den Blick nimmt. 81 Siehe den Beitrag von Melanie Rühmling, die in ihrer empirischen Studie die unterschiedlichen Faktoren untersucht, die die Bleibeentscheidungen von Frauen in ländlichen Räumen Mecklenburg-Vorpommerns rahmen. 82 Siehe die Beiträge von Ines Lüder, die sich anhand zweier Fallstudien mit divergierenden Motiven und Praktiken der Aneignung und Nutzung von historischen Bauernhäusern beschäftigt, und Maria Frölich-Kulik, die das Potenzial stillgelegter (und teilweise wiederbelebter) Landbahnhöfe als soziale Zukunftsressourcen diskutiert. 83 Siehe den Beitrag von Jeff Mirkes, der angesichts der architektonischen Auswirkungen zunehmender Suburbanisierungsprozesse, die u.a. eine generelle Beziehungslosigkeit der Gebäude zu ihrer lokalen Umgebung mit sich brachten, ein Konzept der räumlichen (Neu-)Entwicklung von Dörfern zur Diskussion stellt, das auf die Wiederherstellung von Identität abzielt. Siehe ebenso den Beitrag von Jonas Langbein, Sigrun Langner und Pia Müller, die – ebenfalls im Kontext einer weitreichenden Entkopplung dörflicher und agrarischer Räume – am Beispiel mehrerer Entwurfsprojekte zukunftsorientierte Raumbilder vorstellen und diskutieren, die mögliche Formen und Strategien des planerischen Umgangs mit diversen Nutzungskonflikten, die sich gerade auch angesichts von Klimawandel und Energie- sowie Mobilitätswende abzeichnen, imaginieren und anhand der Erschaffung von »Klimakulturlandschaften« auf eine klimagerechte Zukunft ländlicher Räume abzielen.

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Ländliche Zukünfte I: Perspektiven und Zugänge

Unbetretene Pfade und andere Zukünfte Entwicklungsperspektiven ländlicher Räume aus raumwissenschaftlicher Sicht U LF H AHNE

E INLEITUNG Die Zukunft ländlicher Räume in den Blick zu nehmen, das ist ein wissenschaftliches Wagnis. Schon allein von ›der Zukunft‹ im Singular zu sprechen, so als ob es nur einen einzigen künftigen Entwicklungspfad gäbe, verbietet sich. Es ist über Zukünfte, über mögliche Wege in die Zukunft nachzudenken. Während sich Kunst und Spiritualität leichttun, Zukünfte zu imaginieren oder gar zu versprechen, fällt es den Wissenschaften schwer über etwas nachzudenken, was sich der Betrachtung entzieht, weil es noch nicht geworden ist. Zudem lastet auf den Wissenschaften das epistemologische Problem, von Karl Popper auf den Punkt gebracht, dass wir den zukünftigen Verlauf der menschlichen Geschichte nicht vorhersagen können, weil wir das künftige Wissen nicht kennen können (Popper 1979: IX). Allerdings können sich in einer Wissensgesellschaft, in welcher das Wissen ständig wächst, die Wissenschaften damit auch nicht zufriedengeben. Insbesondere angewandte Sozialwissenschaften möchten etwas über den künftigen Verlauf von Raumentwicklung aussagen und begründete Handlungsempfehlungen abgeben. Wollen Gesellschaftswissenschaftler etwas über die Zukunft ausführen, müssen sie sich rational verhalten, mithin die Methoden der Zukunftserschließung sowie die Unsicherheiten des Eintretens vorhergesagter Entwicklungen benennen können, um eine Verständigung mit anderen über mögliche Zukünfte zu erreichen. Sie haben dafür gute Ausgangspunkte, denn die Zukunft basiert auf vielfältigen Entwicklungen der Gegenwart, welche auch in absehbare Zukünfte hineinwirken. Zudem wird mit dem hier betrachteten Raumausschnitt der ländlichen Räume die Komplexität der

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Realität ein Stück weit reduziert; wobei im Folgenden der spezifische Bezug auf die ländlichen Räume in Deutschland gewählt und entsprechend weiter eingekreist wird. Auch dieser Bezug auf die Betrachtung ländlicher Räume bedarf einer Begründung. Vor wenigen Jahren läuteten die Vereinten Nationen das Jahrhundert der Städte ein: Erstmals wohnten mehr Bewohner in Städten als in ländlichen Regionen (UN 2008), die Urbanisierung setzte und setzt sich weiter rasch fort, Städte gelten als die Lebensräume der Zukunft und dienen als Leitbild der weiteren Raumentwicklung in der Moderne. Damit rücken Fragen der Stadtentwicklung und urbanistische Utopien in den Vordergrund aktueller Zukunftsbetrachtungen. Dagegen wurde ländlichen Regionen mitunter gar die Zukunftsfähigkeit abgesprochen angesichts ihrer geringen wirtschaftlichen Leistungsbeiträge und ihrer demographischen Veränderungen (Stiftung Schloss Ettersburg 2012).1 Schließlich fallen die hier unternommenen Überlegungen in eine Zeit, welche durch ein aktuelles Großereignis geprägt wird, dessen Auswirkungen für die Zukunft noch nicht klar abzuschätzen sind: Die Covid-19-Pandemie ist ein global einschneidendes Ereignis, das neben allen gesundheitlichen Folgen erhebliche Nebenwirkungen in Gesellschaft und Wirtschaft ausgelöst hat, die vom Überdenken der globalen Wertschöpfungsketten über den Digitalisierungsschub und die Veränderungen der Arbeitswelt bis hin zum Wandel des Stadtlebens und zur Neubewertung anderer Raumqualitäten, unter anderem derer von ländlichen Regionen, reichen. Die Corona-Pandemie kann als Katalysator eines veränderten Verhältnisses von Zentrum und Peripherie, von Stadt und Land wirken. Vor diesem Hintergrund beginnt der Beitrag mit den beiden zentralen Gegenständen, die hier betrachtet werden sollen: Zukunft und Zukunftsprojektionen für ländliche Räume. Im ersten Teil wird auf Zukunft aus systemtheoretischer Sicht geblickt, es werden die Varianten kontingenter Möglichkeitsräume und überraschender Systembrüche vorgestellt, ehe die normativen Setzungen von Zukunftspolitik in den Blick genommen werden. Der zweite Abschnitt setzt sich mit verschiedenen Zukunftsprojektionen für ländliche Räume auseinander, welche sich aus Vergangenheitsentwicklungen ableiten. Besonders wird auf demographische Vorhersagen und ihre Verlässlichkeit abgestellt. Der dritte Abschnitt widmet sich dem Thema der Zukunftsfähigkeit ländlicher Räume im Jahrhundert der Städte. Dazu werden vier unterschiedliche Verständnisse von Zukunftsfähigkeit vorgestellt: Ein erstes Verständnis stellt auf die Verfügbarkeit von Basisinfrastrukturen und Daseinsvorsorge auch bei sinkenden Einwohnerzahlen ab. Im zweiten Ansatz werden Versuche der

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Vielfach fällt bei Betrachtungen zur Zukunft ländlicher Räume der Blick speziell auf Dörfer, hierzu gibt es eine umfangreiche Literatur (z.B. Schwencke 1987, Berlin-Institut 2011, Stiftung Schloss Ettersburg 2012, Henkel 2016), dieser Einengung wird hier explizit nicht gefolgt.

U NBETRETENE P FADE

UND ANDERE

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Messbarkeit von Zukunftsfähigkeit vorgestellt. Drittens wird die Resilienz ländlicher Räume gegenüber Krisen und langfristigem Wandel betrachtet. Die vierte Lesart versteht Zukunftsfähigkeit im Sinne der Nachhaltigkeit und stellt Ansatzpunkte zur sozial-ökologischen Transformation dar. Der abschließende Teil dieses Beitrags wirft einen Blick auf die Auswirkungen der Corona-Pandemie. Weisen ländliche Regionen eine höhere Resilienz in Pandemie-Zeiten auf? Können die angestoßenen Veränderungen von Wirtschaft und Arbeitswelt, von Konsum und Freizeit zu einer verminderten Bedeutung von Dichte als wichtigem Merkmal der Urbanisierung führen und die ländlichen Regionen damit aufwerten? Hierzu ein paar – und wie immer bei Wissenschaftlern, welche in die Zukunft blicken – vorläufige Überlegungen.

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UND

Z UKUNFTSERSCHLIESSUNG

Die Zukunft gilt als »unbetretener Pfad« (Dürr 1995), doch zweifellos wird es – abgesehen von unterschiedlichen Startpunkten – auf diesem Pfad Weggabelungen geben, die sich aus künftigen Entscheidungen wie aus Veränderungen der sonstigen Einflussvariablen ergeben können. Die Zukunft (als zeitliches Futurum) besteht damit aus einer unbekannten Zahl möglicher Zukunftspfade. Diese sind aber auch nicht beliebig zu denken, sondern finden sich innerhalb langfristiger Rahmenbedingungen, welche die Zukunft eindämmen. Hier sind beispielhaft zu nennen: Klima und sonstige natürliche Rahmenbedingungen von Plattentektonik bis zu Biodiversität, demographische Faktoren, Sozioökonomie und Politik. Im Blick auf die Biosphäre lässt sich auch von »planetaren Grenzen« (Rockström et al. 2009) sprechen, innerhalb derer sich die Raumentwicklung entfalten kann. Bildlich fasst dies Abbildung 1 zusammen: Auf einem Zeitstrahl ergibt sich eine Vergangenheitsentwicklung bis zur Gegenwart, von dieser aus aber sind diverse Zukunftspfade innerhalb der Zukunftsplanken zu denken2, es ergibt sich die Form eines Megaphons oder eines sich öffnenden Trichters. Zukunft als offener Möglichkeitsraum gesellschaftlicher Entwicklung enthält jede Art von Entwicklungsrichtungen: Es kann vorwärts, seitwärts oder rückwärts gehen. Progression wie Regression sind damit als Zukünfte der gesellschaftlichen Entwicklung denkbar. Die Gefahr für Regionen, zurückzufallen (wie auch immer gemessen), ist Ansporn, sich gegenüber der Regression zu wappnen und Stagnationsbzw. Schrumpfungsentwicklungen zu vermeiden oder sie kreativ zu nutzen.

2

Ein Überschreiten der Zukunftsplanken (zum Beispiel bei Teilbereichen der Biosphäre) führt systemisch zu einem drastisch veränderten Zukunftsraum. Dies bleibt hier unbetrachtet.

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Abb. 1: Zukunftsmegaphon.

Eigene Darstellung

Daraus ergeben sich zwei unterschiedliche, aber auch kombinierbare Zukunftsstrategien: Die Fortschrittsstrategie fokussiert die Chancen künftiger Entwicklungen, die Resilienzstrategie stellt auf Reduktion der Verletzlichkeit und Erhöhung der Anpassungs- und Widerstandsfähigkeit ab. Festlegung des Zeithorizonts Das Zukunftsmegaphon ruft denkbare Zukünfte aus, doch der Zeitstrahl weist keine Dimension auf: Welcher Zeithorizont ist nun gemeint? Geht es um Legislaturperioden, um Dezennien, um eine Generation oder gar um mehrere Jahrhunderte, wie es Hochwasserrisiko-Karten ausweisen, die auf Jahrhundertfluten (zum Beispiel: HQ100 = Hochwasserquantum 100-jährliches Hochwasser) oder noch größere Zeiträume abstellen, bis hin zu Zerfallszeiten von Atommüll oder stratigraphische Einteilungen der Erdzeitalter (Zeitalter des »Anthropozän«)? Je kleiner der Raumausschnitt, desto unschärfer werden Zukunftsvorhersagen (siehe dazu unten); die Bedeutung externer Einflussfaktoren wird mit zunehmender zeitlicher Entfernung immer weniger einschätzbar. Der Zeithorizont sollte also nicht zu weit gewählt werden. Wollen wir die wirtschaftliche und soziale Zukunft ländlicher Regionen in Deutschland in den Blick nehmen, so bietet sich ein Zeithorizont an, der vergleichsweise kurz ist und maximal etwa eine halbe oder ganze Generation, also 15 bis 30 Jahre umfasst. Der Beginn des Zukunftspfades ist ebenfalls nicht beliebig, beruht er doch auf vielfältigen Vergangenheitsentwicklungen. So wird eine Bevölkerungsvorausschätzung auf Bestandsentwicklung und Strukturkomponenten der bestehenden Bevölkerung aufbauen und Annahmen über deren Fortschreibung treffen. Prognosen leiten daher (häufig) Zukünftiges aus dem Gegenwärtigen ab. »Die unüberwindliche Schwierigkeit besteht jedoch darin, dass hierbei einerseits die Dauer des

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Bezugssystems vorausgesetzt werden muss, während andererseits eine Voraussage für dieses nicht möglich ist« (Hübner 1978: 383). Daher sind die Möglichkeiten der Fortsetzung von Pfaden wie von Pfadbrüchen gegeben. Zukunftspfade: Kontingenzen und Brüche Im Zukunftsmegaphon von Abbildung 1 sind verschiedene mathematisch stetige Pfade eingezeichnet, welche Kontingenzen, also vielfältige Möglichkeiten abbilden. Kipppunkte, Bi- und Multifurkationen sind dabei innerhalb der Systemberechnungen denkbar. Die Zukunft eröffnet verschiedene Möglichkeitsräume für Verzweigungen, Rückkopplungen, Verzögerungen und Variationen im Prozessverlauf. Dagegen sind Systembrüche selten in den Zukunftsbetrachtungen zu finden. Solche Systembrüche können von Naturkatastrophen, von Kriegen, von Pandemien ebenso wie von politischen oder auch technischen Revolutionen ausgelöst werden. Die Spätfolgen solcher Systembrüche liegen häufig weit in der Zukunft und können oft erst im Nachhinein erkannt werden. Um beim Beispiel Pandemie zu bleiben: Der »schwarze Tod«, die Pest, führte im Spätmittelalter unter anderem zur Notwendigkeit der Entwicklung lokaler Institutionen mit Entscheidungsgewalt, legte also die Basis für spätere kommunale Selbstverwaltung; sodann führte die rasch zunehmende Unverfügbarkeit des Produktionsfaktors Arbeit zu einem drastisch steigenden Wert der Arbeitskraft, so dass es leichter fiel, sich an anderer Stelle zu verdingen, und das System von Arbeitszwang und Leibeigenschaft erodierte (Gingerich/Vogler 2020). Abb. 2: Zukunftsmegaphon mit Systembruch.

Eigene Darstellung

Treiber von Entwicklung sind damit auch abrupte Entwicklungsbrüche, das Auftreten nicht-erwarteter Ereignisse. Schon jetzt lässt sich dies auch von den Auswirkungen der Covid-19-Pandemie der Jahre 2020/2021 sagen. Umgekehrt provoziert das Wissen um Entwicklungsbrüche damit auch die Frage: Können, um einen unerwünschten

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Pfadverlauf zu beenden, Pfadbrüche inszeniert werden? Lassen sich Sollbruchstellen definieren, an denen mit geeigneten Handlungsstrategien gezielt Änderungen in das System implementiert werden? Oder können Treiber benannt werden, welche als Impulsgeber dienen, wie z.B. das Auftreten von Raumpionieren (in Bezug auf ländliche Räume: Haid 1989, Grossarth 2011, Faber/Oswalt 2013)? Als entwicklungsstrategische Schlussfolgerung im Sinne der Resilienzstrategie kann daher Regionen empfohlen werden, sich auf mögliche Pfadbrüche vorzubereiten und entsprechende »Stressvorsorge« zu betreiben. Hierzu gehören einerseits Schutzmaßnahmen gegenüber Katastrophen (erdbebensichere Häuser, Deicherhöhungen, Schutzausrüstung). Andererseits geht es auch darum, grundlegende Widerstands- und Anpassungsfähigkeiten gegen Pfadbrüche zu erreichen. Intuition und Konterintuition Handlungsvorschläge, um Zukunft von Regionen zu gestalten, setzen gern an bekannten Erfolgsrezepten und Demonstrationsbeispielen an. Doch dieses Festhalten an bekannten Denkroutinen beinhaltet die Gefahr des Fehlschlages, denn welches Wissen garantiert den Erfolg eines kopierten Pfades? Das intuitive Erwarten an stets gleichbleibende Wirkmuster vernachlässigt die Komplexität hochverflochtener Systeme. Der demographische Wandel ist dafür ein gutes Beispiel. Seit den 1980er Jahren wurde in Deutschland mit mittelfristig rückläufigen Einwohnerzahlen gerechnet (»weniger, älter, bunter«: LPB 2016). Doch trotz zunehmender Überalterung trat die »demographische Zeitenwende« (Birg 2001) nicht im erwarteten Zeitraum bis 2020 ein, insgesamt nahm die Bevölkerungszahl in Deutschland seit 1990 (mit Ausnahme der Jahre 2005 bis 2011) zu, und nicht ab. Systematisch wurde der Einfluss sich verändernder Komponenten (Geburtenhäufigkeit, Lebenserwartung, Migration) unterschätzt. Kurzfristige Trends müssen sich nicht immer fortsetzen und selbstverstärken, sondern können auf lange Sicht auch aufgrund von Rückkopplungen in eine gegenteilige Entwicklung hineinlaufen. So untersuchte Jay Forrester in einer berühmten Computersimulation ein komplexes dynamisches städtisches System hinsichtlich der Wirkung eines radikalen Stadterneuerungsprogramms auf Beschäftigung und soziale Mobilität. In sehr langer Frist drehen sich die positiven Effekte um, weil Informationsrückkopplungen und veränderte Erwartungshaltungen die positiven Effekte konterkarieren (Forrester 1969; Fischer 1977). Innerhalb von Systemen sind Hebelpunkte von erheblicher Bedeutung. Sowohl im Modell von Forrester als auch in den wenig später veröffentlichten Simulationen des Weltmodells für den Club of Rome (Meadows et al. 1972) spielt der Hebelpunkt »Wachstum« eine wesentliche Rolle für die Zukunftsvorhersagen. Allerdings nicht

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im Sinne der naheliegenden Intuition, dass Wachstum von Bevölkerung und Wirtschaft positive Effekte auf das Gesamtsystem haben, sondern langfristig negative Rückkopplungseffekte bei diversen Größen wie Ressourcenverfügbarkeit, Nahrungsmittelangebot, Umweltqualität und Industrieoutput auftreten. Donella Meadows (1999: 2) spricht daher davon, dass häufig der falschen Intuition gefolgt werde und es angeraten sei, die Konterintuition zu formulieren und in die Modellüberlegungen und Projektionen einzubeziehen. Normative Setzungen: Zukunftspolitik Neben den Fakten und deren Veränderungen spielen für die Zukunftsvorhersagen auch normative Aussagen und Setzungen eine wichtige Rolle. Ein Teil der Normen und Wertesystem der vergangenen Entwicklung wird in Zukunft Wirkmacht auf Verhalten und Entscheidungen haben. Schließlich weisen die Probleme der Zukunft immer auf das Jetzt zurück: Wurden bisherige Entscheidungen dem Prinzip der Verantwortung (Jonas 1984) unterworfen und berücksichtigen bereits das Konzept der Nachhaltigkeit oder haben sie diese Frage verdrängt und den künftigen Problemlösern einen noch größeren ›Vergangenheitsrucksack‹ aufgeladen, der ihre Zukunftsperspektiven vermindert? Auch die Reaktionen der Vergangenheit auf Strukturbrüche haben deutlichen Einfluss auf die Zukunftspfade. So verändern derartige Brüche – aus jüngerer Zeit beispielsweise Fukushima 2011 oder Covid-19 – nicht nur den Verlauf des aktuellen Entwicklungspfades, sondern führen zu Reaktionen öffentlicher wie privater Akteure und setzen damit veränderte Normen für die Zukunft. Zudem verfolgt die Politik für ländliche Räume normative Ziele: Klassische Ziele für die Zukunft der ländlichen Räume folgen der Fortschrittsstrategie und stellen auf »gute Zukunftsperspektiven« und den Abbau der regionalen Disparitäten bei wirtschaftlicher Entwicklung, gesicherter Daseinsvorsorge und leistungsfähiger Infrastruktur ab (BMEL 2016: 6). Im Blick vorwärts geht es um die hoffnungsvolle Suche nach einem besseren Leben (Bloch 1970: 9), wobei schon die Einigung auf ein gutes Leben ein zwar starkes, aber doch »vages« Unterfangen darstellt (Nussbaum 1999). Üblicherweise richtet sich der Blick von Regionen auf diese Entwicklungshoffnungen, doch zunehmend wird der Blick auch auf die Zukunftsfähigkeit von Regionen gelenkt, wodurch wiederum Aspekte einer Resilienzstrategie in den Zielkatalog aufgenommen werden. So verfolgt die OECD, einst klar wachstumsorientiert, mit ihrer neuen Politik für die ländlichen Räume eine entsprechende Doppelstrategie. Sie zielt darauf, »die Wirtschaft und die Bewohner aller Arten von ländlichen Gebieten zu stärken und zu unterstützen und ihre Widerstandsfähigkeit in einer sich schnell verändernden Welt zu kräftigen« (OECD 2021). Auch die Zielsetzung der Bundesregierung für die

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ländlichen Räume hat Veränderungen erfahren und Aspekte der Resilienzstrategie in ihre Zielformulierung übernommen: »Ziele der Bundesregierung sind gleichwertige Lebensverhältnisse und ländliche Räume, die sich durch eine hohe Lebensqualität auszeichnen und dabei wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Erfordernissen gleichermaßen Rechnung tragen. Es gilt, ländliche Räume weiter zu stärken und Kommunen sowie Regionen zukunftsfest zu machen« (BMEL 2020: 8).

»Zukunftsfestigkeit« lässt sich als Hinweis auf das Verfolgen einer Resilienzstrategie interpretieren. Bemerkenswert ist die Verschleierung der Fortschrittszielsetzung: Es geht nicht mehr um ein Bekenntnis zum Wachstumsparadigma, sondern um wirtschaftliche und soziale »Erfordernisse«, denen »Rechnung« zu tragen sei. Die Förderinstrumente zur Wachstumsstimulierung, die insbesondere durch die regionale Wirtschaftspolitik zur Verfügung gestellt werden, sind dagegen ungebrochen. Mit den Formulierungen in Richtung von Nachhaltigkeitszielen (»wirtschaftliche, soziale und ökologische Erfordernisse«) wird internationalen Vereinbarungen gefolgt. Doch muss erwähnt werden, dass die benutzte Dreierformel zur Nachhaltigkeit nicht der neueren internationalen Einigung auf die 17 Nachhaltigkeitsziele (UN 2015) folgt. Hier hinkt der Bericht zu den ländlichen Räumen gedanklich weit hinter der Nachhaltigkeitsberichterstattung auf nationaler (und internationaler) Ebene und den Debatten vor Ort her. Begriffe wie »Zukunftsfestigkeit« und »Zukunftsfähigkeit« (Mager/Zinecker 2014, Berlin-Institut 2019a) implizieren eine längerfristige Verlässlichkeit bestimmter Strukturen und Maßnahmen. Sie wiegen Regionen in einer nur scheinbaren Sicherheit, denn weder lässt sich die Zukunft exakt vorhersagen noch nehmen die Begriffe die obigen Hinweise auf Brüche und veränderte Entwicklungsverläufe auf. Gleichwohl möchten Entscheider, Politiker und Raumplaner möglichst konkrete Aussagen in kleinräumiger Analyseschärfe erhalten, um Zukunftsbedarfe zu erkennen und Fehlinvestitionen zu vermeiden.

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Z UKUNFTSPROJEKTIONEN FÜR LÄNDLICHE R ÄUME L ICHTE VERGANGENER E NTWICKLUNGEN

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IM

An Zukunftsvorhersagen für ländliche Räume besteht kein Mangel. Zum einen machen Vorhersagen zur Zukunft der Städte implizit auch immer Aussagen über die Zukunft ländlicher Räume, zum anderen werden ländliche Räume direkt in das Blickfeld von Zukunftsbrillen gerückt. Das Ziel derartiger Betrachtungen liegt im Aufzeigen künftiger Entwicklungen, um damit privaten wie öffentlichen Entscheidern ein wenig Planungssicherheit und Perspektiven zu vermitteln. Ein zentrales Datum ist dabei die Bevölkerungsentwicklung, weil von Zahl und Struktur der Bevölkerung der Bedarf an Wohnungen, Schulen oder Krankenhäusern abhängt. Ein zweites sind die wirtschaftlichen Perspektiven, denn diese beeinflussen Wanderungsentscheidungen von Bewohnern wie Unternehmen und fordern die Politik zur Entwicklung ländlicher Räume heraus. Demographische Projektionen Die Begriffswahl ist vorsichtiger geworden: War es früher üblich, »Bevölkerungsprognosen« zu erstellen, so wird heute meist nur noch von »Bevölkerungsvorausschätzungen« gesprochen und mit verschiedenen Varianten gerechnet. Dies ist nicht nur dem kritischen Blick aus wissenschaftstheoretischer Perspektive geschuldet, wie eingangs erläutert, sondern auch der Erfahrung mit dem Nicht-Eintreffen und der Unsicherheit von Prognosen (Friedrich/Knabe 2018: 24). Mit dem Begriff ist etwas mehr Vorsicht in dieses Feld der Zukunftsforschung eingezogen. Methodisch scheint eine Bevölkerungsvorausschätzung relativ einfach: Der größte Teil der Bevölkerung ist bereits geboren, die Geburtenziffern wandeln sich historisch betrachtet nur langsam, sind also weitgehend bekannt. Gleiches gilt für die Mortalitätsziffern aller Alterskohorten, wobei die weiterhin steigende Lebenserwartung auch gern in die Zukunft fortgeschrieben wird. Die größte Unbekannte sind Wanderungen, hier hat man sich lange damit geholfen, die Wanderungstendenzen vergangener Zeiträume für gegeben zu erachten und dann jeweils jährlich anzupassen, um veränderten Entwicklungen gerecht zu werden. Zudem werden jeweils diverse Varianten mit unterschiedlichen Annahmen zur Veränderung der Variablen gerechnet. Besonders schwierig werden Vorausschätzungen nicht nur bei zeitlich entfernt liegenden Horizonten, sondern auch bei kurzfristigen Voraussagen, wenn immer kleinere Aggregate – hier: Raumausschnitte – betrachtet werden sollen. Seit 2003 nahm in Deutschland die Einwohnerzahl altersstrukturbedingt zunehmend ab. Nach dem Boom der geburtenstarken Jahrgänge der Mitte 1950 bis Mitte 1960 Geborenen ging die Zahl der Geburten deutlich zurück, mit Verzögerung setzte der Rückgang bei der Einwohnerzahl ein. Da der Rückgang der

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Geburtenzahlen nicht nachträglich gestoppt werden kann, wird die Auswirkung auch bei wieder ansteigender Geburtenrate nicht rasch, sondern nur auf sehr lange Sicht (oder rascher bei starker Zuwanderung) ausgeglichen werden können. In der Folge wurden die Auswirkungen des demographischen Wandels auf verschiedene Sektoren (Bildung, Erwerbspersonen, Arbeitsmarkt, Wohnungsmarkt etc.; Birg 2002) und Regionen unter dem Aspekt des langfristigen Bevölkerungsrückgangs diskutiert. Neben den vorhergesagten starken Schrumpfungsprozessen für ostdeutsche Regionen (mit Ausnahme der größten Städte) wurde für Westdeutschland bis 2020 eine weitgehende Stagnation mit innerräumlicher Umverteilung prognostiziert (BBR 2006). Der RAUMORDNUNGSBERICHT 2005 der Bundesregierung konstatierte: »Regionen mit Bevölkerungszuwachs gibt es in den alten Ländern nur noch außerhalb der Großstädte und Agglomerationszentren« (Bundesregierung 2005: 70). Entsprechend wurde ein rückläufiger Wohnungsneubaubedarf auch für Westdeutschland vorhergesagt (BBSR 2010: 8). An dieser Prognose lässt sich gut zeigen, welche Unsicherheiten Bevölkerungsvorausschätzungen aufweisen, auch wenn sie auf »guten Ausgangsbedingungen« beruhen. Tabelle 1 stellt der Prognose für 2020 die tatsächliche Veränderung der Einwohnerzahlen auf Basis der siedlungsstrukturellen Kreisregionen gegenüber. Die Regionsabgrenzung ist in Abbildung 3 dargestellt. Tabelle 1: Bevölkerungsentwicklung zwischen 2000 und 2019 nach siedlungsstrukturellen Kreisregionen und Vergleich mit der Vorhersage der BBRRaumordnungsprognose 2020.

Siedlungsstrukturelle Kreisregion Agglomerationsräume

Verstädterte Räume

Ländliche Räume

Kernstädte

Veränderung laut Raumordnungsprognose 2020*

Tatsächliche Veränderung 2000 bis 2019**

-4,0

6,9

Hochverdichtete Kreise

1,1

1,7

Verdichtete Kreise

4,3

-0,6

Ländliche Kreise

14,1

1,8

Kernstädte

-4,9

5,7

Verdichtete Kreise

-0,3

-1,8

Ländliche Kreise

-2,3

-3,6

höherer Dichte

-0,7

-0,2

geringerer Dichte

-5,8

-8,6

-0,8

1,1

Bundesrepublik Deutschland insgesamt * Daten: BBR (2004) ** Daten: DESTATIS verschiedene Jahre

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Abb. 3: Bevölkerungsentwicklung.

BBR (2004: 284)

Im Ergebnis von Tabelle 1 lässt sich erkennen, dass Raumordnungsprognose und tatsächliche Entwicklung in vielen Raumtypen deutlich auseinanderliegen. Wie lässt sich dies erklären? Kleinräumige Prognosen werden meist als Status-Quo-Prognosen angelegt, sie fragen nach den künftigen Raumentwicklungen unter der Bedingung, dass sich weder das Verhalten der Menschen noch politisches Handeln stark ändert. Bei Bevölkerungsvorausschätzungen werden daher die aus der Vergangenheit abgelesenen Trends in die Zukunft verlängert und mögliche Varianten der Variablen berechnet. Veränderungen und Brüche werden nicht bedacht, sondern es wird von der Stabilität der Trends ausgegangen. Schon die Erfahrungen aus den vergangenen beiden Jahrzehnten zeigen, dass die »guten Ausgangspunkte« der Projektionen doch nicht so sicher sind. Dennoch tragen aber die Vorhersagen in erheblichem Maß zur Anpassung von Planungen und Zukunftsentscheidungen bei und werden so selbst zukunftswirksam.

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Von Schwarmstädten und sterbenden Regionen Die RAUMORDNUNGSPROGNOSE 2020 prognostizierte Einwohnerrückgänge in allen Teilregionen mit Ausnahme der drei Umlandzonen um die Agglomerationskerne. Den abgelegenen ländlichen Regionen wurde der relativ stärkste Bevölkerungsrückgang vorausgesagt mit der Folge der Gefährdung von öffentlicher Infrastruktur und Daseinsvorsorge (Bundesregierung 2005: 145), dies wurde populär aufgegriffen in Formeln wie »sterbendes Land« (Bölsche 2006) oder »demographischer Niedergang« (Berlin-Institut 2011). Umgekehrt ergab sich daraus, dass das Wachstum der Agglomerationsräume sich fortsetzen würde, wobei die Projektionen dabei nicht die Kernstädte, sondern insbesondere das weiter entfernte ländliche Umland im Agglomerationsraum als Wachstumsregionen erwartete. Die Realität der Jahre bis zum aktuellen Zeitpunkt zeigte dann in Teilen ein gänzlich anderes Bild. Die Trendvorhersage, dass die Einwohnerzahl der Kernstädte stagnieren oder zurückgehen würde, erwies sich als falsch. Denn die meisten Großstädte in Deutschland (mit Ausnahme vieler Ruhrgebietsstädte) verzeichneten einen deutlichen Einwohnerzuwachs in den Jahren insbesondere nach 2008. Abbildung 4 zeigt die tatsächliche Einwohnerentwicklung von 1991 bis 2016 mit den deutlichen Wendepunkten um 2002. Abb. 4: Bevölkerungsentwicklung in Deutschlands Städten und Gemeinden 1991 bis 2016 (Basisjahr 1991).

Lauerbach (2020: 15)

Die Wende in der Entwicklung der Großstädte basierte auf deutlichen Zuwanderungsgewinnen, insbesondere der Altersgruppe der Bildungswandernden (18- bis 25Jährige). Die hiervon profitierenden Groß- und Universitätsstädte erhielten das Narrativ »Schwarmstädte« (Simons/Weiden 2015). Dem Bildungs- und Aufstiegsversprechen gemäß verlief die Einwohnerentwicklung der vergangenen Jahre in Deutschland vor allem in diese Richtung: Abwanderung aus den strukturschwachen, vornehmlich ländlichen, aber auch den ländlichen Regionen mit Verdichtungs-

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ansätzen und Zuwanderung in die Agglomerationsräume und größeren Städte samt deren Umland. Landgemeinden, Klein- und Mittelstädte, vielfach im ländlichen Raum gelegen, waren dagegen die Gewinner der Wanderungsbewegungen in den 1990er Jahren gewesen, obwohl auch dort fast überall der natürliche Bevölkerungssaldo negativ war. Die Entwicklung seit Beginn des Jahrhunderts, besonders ab 2009, kann als Periode der Reurbanisierung zugunsten der Großstädte bezeichnet werden. Unterstützt wurde der Großstadtsog durch das Narrativ der »kreativen Stadt« (Landry 2000), welche die »urbanen Innovatoren« (ebd.), die »kreative Klasse« (Florida 2002) und die »gut Ausgebildeten« (Südekum 2018) anziehe. In Verbindung des Demographie-Diskurses der 1990er Jahre mit dem Narrativ der kreativen Schwarmstädte aus der Zeit danach wurden die altindustrialisierten Regionen (»Rust Belt« Ruhrgebiet, Saarland) sowie die dünn besiedelten und peripher gelegenen ländlichen Räumen als »Globalisierungsverlierer« (Südekum/Dauth/ Findeisen 2017), »Schwundstandorte« (Berlin-Institut 2007) oder »abgehängte Regionen« (Südekum 2018) ausgemacht – bis hin zu der weitergehenden Forderung nach einer Abkehr von der Förderung nicht-metropolitaner Regionen (Aring/Sinz 2006, Blöchliger 2006, Leunig/Swaffield 2007) unter anderem mittels Wegzugsprämien (Berlin-Institut 2007). Die vorausgesagten Trends lassen sich ebenfalls empirisch an der realen Entwicklung überprüfen (Abbildung 5). Abb. 5: Bevölkerungsentwicklung 2000 bis 2019 nach siedlungsstrukturellen Kreistypen*

Daten: DESTATIS; Regionsabgrenzung: BBSR 2021a; eigene Berechnungen. * Die Abgrenzung der siedlungsstrukturellen Kreistypen erfolgte durch das BBSR und unterscheidet sich von den Abgrenzungen in Tabelle 1 und Abbildung 3.

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Schaut man nur auf die Extrema, so haben sich die Erwartungen hinsichtlich der Schwarmstädte und der ländlichen Regionen in Ostdeutschland erfüllt. Interessant wird der Blick auf die Details. So zeigen sich Brüche und Wendepunkte in der Entwicklung. 2011 gab es bei allen Regionstypen einen Knick nach unten, dieser beruhte auf den statistischen Korrekturen, die nach dem Zensus von 2011 erfolgten. Zum anderen ergibt sich durch die Flüchtlingswelle 2015 ein sprunghafter Zuwachs bei allen Regionen. Für die ländlichen Regionen lassen sich Wendepunkte der Entwicklung beginnend nach 2011 feststellen. Der eindeutig negative Trend der Vorjahre, den demographischen Vorhersagen folgend, wurde gebremst und teils deutlich gewendet. Die Agglomerationen und verdichteten Kreise waren zwar auch nach 2015 weiterhin Gewinner der Bevölkerungsentwicklung, aber innerhalb der Regionen gab es eine anhaltende Dekonzentrationstendenz zugunsten ländlicher Räume. Die Erwartung des raschen drastischen Zurückfallens aller dünn besiedelten ländlichen Kreisen wird seit 2014 nicht mehr voll erfüllt. Zwar nimmt im Osten die Einwohnerzahl weiter ab, doch im Westen erreichen die dünn besiedelten ländlichen Kreise im Jahr 2018 fast wieder ihren Ausgangswert von 2000, behaupten also für die vergangenen zwanzig Jahre eine nicht vorhergesagte Stabilität. Blickt man zudem nicht nur auf die dünn besiedelten Regionen, sondern auch die anderen Kategorien ländlicher Regionen, erscheinen ländliche Räume in einem anderen Licht: So schnitten die ländlichen Kreise mit Verdichtungsansätzen im Westen sogar besser ab als die städtischen Kreise. Dies widerspricht der Erwartung der oben genannten Kommentatoren. Festzuhalten bleibt aber, dass die Konzentration der Bevölkerung auf verdichtete und städtische Räume anhält, die demographische Entwicklung die Unterschiede in der Bevölkerungsdichte zwischen verstädterten Regionen und dünn besiedelten ländlichen Regionen verstärken dürfte. Es zeigt, dass beim Sprechen über ländliche Räume recht genau zu sagen ist, welche der vielfältigen Arten ländlicher Räume jeweils gemeint sind. Schrumpfen und Wachsen dicht benachbart Regionale Aggregationen, wie sie den vorangegangenen Betrachtungen zugrunde lagen, liefern stets nur einen Durchschnittswert für die jeweilige Region. Dieser setzt sich aus vielen Teilwerten der einzelnen Gemeinden und Ortsteile zusammen. Der Schluss vom regionalen Durchschnittswert auf Teilgebiete der Region ist zwar naheliegend, aber unzulässig. Wechselt man daher auf eine noch kleinräumigere Gebietsabgrenzung, die Gemeindeebene, zeigt sich, dass Wachstum und Schrumpfung nahe benachbart sein können. Abbildung 6 gibt dies anhand eines Indexwertes aus verschiedenen Indikatoren für die Zeit von 2013 bis 2018 wieder.

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Der Index mixt drei demographische und drei wirtschaftliche Indikatoren, wobei die demographischen Indikatoren eine doppelte Gewichtung erhalten, so dass sie den Gesamtwert dominieren. Ohne auf die Schwierigkeiten einer solchen Indexbildung hier eingehen zu wollen, zeigt das kartographische Ergebnis in vielen Teilgebieten eine direkte Nachbarschaft von wachsenden und schrumpfenden Gemeinden – auch innerhalb stark schrumpfender Kreisregionen. Der jeweilige Trend für die größere Region schlägt also nicht überall gleich durch. Das Argument lässt sich noch weiterführen, indem unterhalb der Gemeindeebene Ortsteile betrachtet werden. Auch auf dieser Betrachtungsebene ist anzunehmen, dass nicht alle Ortsteile sich wie der Gemeindedurchschnitt verhalten, sondern es deutliche Abweichungen gibt, die sich aus unterschiedlichen Strukturen und Entwicklungsdynamiken von Vergangenheit und Gegenwart ergeben. Diese Abweichungen können in verschiedene Richtungen gehen. Die übliche Vermutung geht dahin: »Generell lässt sich sagen, dass kleine Dörfer stärker in ihrer Zukunftsfähigkeit gefährdet sind als größere Orte« (Berlin-Institut 2011: 7). Systemisch lässt sich auch das Gegenteil denken, so kann eine positive Abweichung bestehende Möglichkeitsräume für eine Eigenentwicklung beweisen. Immer wieder gibt es Dörfer, die dank spezifischer Entwicklungsimpulse (z.B. als Künstlerdörfer, Seniorenwohnsitze, moderne Klöster oder Ökodörfer) neue Attraktivität für Zuzügler gewinnen und dem demographisch bedingten Leerstand begegnen.

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Abb. 6: Wachsen und Schrumpfen 2013 bis 2018 nach Gemeinden.

BBSR (2020). Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Bundesinstitutes für Bau-, Stadtund Raumforschung (BBSR) im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR).

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Selbst Kleinstsiedlungen können eine erstaunliche Stabilität erzielen. So belegt eine Untersuchung über Weiler in schrumpfenden ländlichen Räumen Thüringens (Schmidt 2020): Kleinstsiedlungen mit weniger als sechs Wohngebäuden weisen eine erstaunliche Persistenz auf. Sie werden immer wieder über Zuzüge jüngerer Familien aufgefüllt und sind in der Altersstruktur weniger überaltert als ihre jeweiligen Landkreise. Im Hinblick auf die Anpassungsfähigkeit und Resilienz sind diese Siedlungen vor allem auf die Eigeninitiative ihrer Bewohner angewiesen, aber dies funktioniert in vielen Kleinsiedlungen offenbar sehr gut.3 Raumplaner und andere Institutionen schlugen dagegen vor, die Kosten der dezentralen Siedlungsstruktur in schrumpfenden Regionen durch das Absiedeln von Orten, beginnend bei den kleinsten Siedlungseinheiten, zu senken. »Für einzelne Dörfer sollte es in Schrumpfgebieten eine Option zur Schließung geben. Diese kommt in Frage, wenn die Abwanderung sehr stark und die Versorgung bereits unzureichend ist« (Kuhn/Klingholz 2013: 71). Ein Arbeitskreis der Akademie für Raumforschung und Landesplanung befasste sich mit der Zukunft der Daseinsvorsorge und forderte: »Sollte es in der Zukunft Regionen geben, in denen die Aufrechterhaltung der Mindestversorgung an Grenzen stößt (beispielsweise bei abgelegenen Weilern und Einzelhöfen), ist eine koordinierte, planvolle Aufgabe von Siedlungen nicht grundsätzlich auszuschließen« (ARL 2016: II und 26). Sowohl die unzureichende Nahversorgung als auch die schlechte Erreichbarkeit von Grundeinrichtungen der Daseinsvorsorge ist den Bewohnern der untersuchten Kleinstsiedlungen in Thüringen schon bewusst, wenn sie dort hinzuziehen, und bewegt sie nicht dazu, ihr dortiges Eigentum aufzugeben (Schmidt 2020: 125 passim). Daher ist die Idee von Raumplanern, Dörfer und Kleinsiedlungen aufzugeben, weder systemtheoretisch schlüssig noch empirisch haltbar. Ferner stößt sie auf ethische und rechtliche Schwierigkeiten (Hahne 2017a). Auch ökonomisch kann der Vorschlag nicht viele Argumente für sich sammeln. Werden Ortsteile abgesiedelt, entfallen die Kosten der für diese Ortsteile bislang bereitgestellten öffentlichen Leistungen. Diese hängen von der Bedienungshäufigkeit (bei Bring- und Holdiensten), den Entfernungen des Ortsteils vom Hauptort sowie den Längen der leitungsgebundenen Infrastrukturen ab. Der durch die Absiedlung des Dorfes entstehenden »Freiraumdividende« stehen jedoch Entschädigungsleistungen für die Enteignungen entgegen. Insgesamt dauert es – je nach Konstellation – Jahrzehnte bis hin zu mehreren Jahrhunderten, bis die jeweilige Gemeinde fiskalische

3

Auch das Berlin-Institut kommt in einer Untersuchung im Vogelsbergkreis (Hessen) zum Ergebnis, dass zahlreiche der dortigen Dörfer mit weniger als 500 Einwohnern eine hohe Stabilität und Zukunftsfähigkeit sowie geringe Risiken aufweisen (Berlin-Institut 2011: 48). Für den Landkreis Greiz (Thüringen) kommt das Institut zum Ergebnis, dass es keinen klaren Zusammenhang zwischen Ortsgröße und Bevölkerungsentwicklung gäbe (ebd.: 41).

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Vorteile aus der Absiedlung erzielen kann (Hahne 2017b).4 Und: ein freigeräumter Raum ergibt noch lange keine »ökologische Rendite« (wie von Kuhn/Klingholz 2013: 71 behauptet). Ländliche Räume und wirtschaftlicher Wandel Die Zukunftsaussichten ländlicher Räume werden nicht nur von der Dynamik der demographischen Komponenten, sondern stark auch von der wirtschaftlichen Entwicklung bestimmt. Wanderungsbewegungen werden vielfach von Bildungs- und Jobaussichten ausgelöst, so dass in Teilen die Demographie dem ökonomischen Wandel folgt. Investitionen richten sich nach der künftigen Rendite und suchen dafür geeignete Standorte, das können auch periphere Regionen sein, wie das Beispiel Windenergiebranche zeigt. Daher ist im Blick auf die Zukunft ländlicher Räume auch die wirtschaftliche Perspektive zu betrachten. Auch hier lohnt es, aus der Vergangenheit zu lernen, um nicht zu verfrühten Schlussfolgerungen zu gelangen. Ein guter, wenn auch nicht perfekter Anzeiger für die wirtschaftliche Dynamik von Regionen ist die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit ausgedrückt im Bruttoinlandsprodukt je Einwohner. In dynamischer Betrachtung lassen sich Wachstum und Schrumpfung erkennen. Der folgenden Abbildung 7 liegen wiederum Daten auf Ebene der kreisfreien Städte und Landkreise zugrunde. Farblich unterschieden werden diese nach ihrer Zugehörigkeit zu den siedlungsstrukturellen Kreistypen. Es werden alle Einzelwerte für die 401 Kreise in Deutschland aufgetragen sowie die Mittelwerte der aggregierten Kreistypen. Die X-Achse gibt die prozentuale Veränderung der Einwohnerzahlen im Zeitraum 2000 bis 2018 wieder, die Y-Achse zeigt die Veränderung der Wirtschaftskraft durch das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner für denselben Zeitraum. Die entstehende Punktwolke unterschiedlicher Werte zeigt vier Quadranten unterschiedlicher Entwicklungen. Auffällig ist, dass die südlichen beiden Quadranten, die Aufschluss über eine negative Wirtschaftsentwicklung geben, einen einzigen Wert aufweisen. Hier handelt es sich um die Region Hannover, die aufgrund der EXPO 2000 im Jahr 2000 eine Sonderkonjunktur erlebte. Alle anderen Regionen hatten insgesamt eine positive Wirtschaftsdynamik. Innerhalb der nördlichen Quadranten finden sich im Nordosten die Regionen mit positiver Wirtschafts- und Einwohnerentwicklung, im Nordwesten liegen Regionen mit positiver Wirtschaftsdynamik bei sinkenden Einwohnerzahlen.

4

Ähnliche Ergebnisse erzielte unlängst ein Planspiel zum strategischen Rückzug aus kleinen peripheren Ortsteilen (Gutsche/Rößler/Lehmann et al. 2020).

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Abb. 7: Demographische Entwicklung und wirtschaftliche Dynamik: Entwicklung von Einwohnerzahlen und Bruttoinlandsprodukt je Einwohner von 2000 bis 2018 in von Hundert (Basisjahr: 2000), Kreise.

Daten: DESTATIS; Regionsabgrenzung: BBSR; eigene Berechnungen.

Anders als bei der demographischen Entwicklung schneiden die ländlichen Kreise und die dünn besiedelten ländlichen Kreise bei der Wirtschaftsdynamik der vergangenen beiden Jahrzehnte besser ab als der Durchschnitt der verstädterten Kreise und der kreisfreien Großstädte. Von einer sterbenden Regionskategorie kann also aus wirtschaftlicher Sicht nicht gesprochen werden.5 Zur künftigen Entwicklung ländlicher Räume Je kleinräumiger die Zukunftsvorhersage angewendet wird, desto stärker werden die möglichen Variationen und die Unsicherheiten der Projektion, wie zuvor gezeigt wurde. Gleichwohl werden die großen Trends des langfristigen Bevölkerungsrückgangs und der fortschreitenden Überalterung in Deutschland sich fortsetzen und auch kleinräumig auswirken. Die überdurchschnittlich starke Zuwanderung der Jahre 2014 bis 2017 hat die Einwohnerzahl in Deutschland vergrößert und die Bevölkerung insgesamt etwas verjüngt, was vor allem die Zahl der Personen im Erwerbsalter mittelfristig stabilisiert. Zudem hat sich seit 1995 die Geburtenhäufigkeit kontinuierlich

5

Hinweis: Ein Teil der Verbesserung der Wirtschaftskraft je Einwohner beruht auf dem statistischen Effekt, dass sich der Quotient bei kleiner werdendem Divisor vergrößert.

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erhöht, ohne allerdings ein bestandserhaltendes Niveau zu erreichen. Der Schrumpfungsprozess der Bevölkerung wird somit etwas verzögert, der Alterungsprozess nicht gestoppt. Die 14. Koordinierte Bevölkerungsvorausschätzung des Statistischen Bundesamtes sieht bis 2060 einen deutlichen Anstieg der älteren Bevölkerungsgruppen voraus, ein Rückgang der Bevölkerung insgesamt werde danach spätestens 2040 einsetzen (Destatis 2019). Auf Basis dieser Projektion hat das Bundesinstitut für Bau-, Stadt und Raumforschung eine regionalisierte Bevölkerungsvorausschätzung erarbeitet (BBSR 2021b, 2021c). Ausgehend von dem leichten Bevölkerungsrückgang wird folgende räumliche Verteilung erwartet: weiterhin Zuzüge in die Kernstädte der Agglomerationsräume, leichte Gewinne für die Kernstädte in den verstädterten Räumen, in allen anderen Raumkategorien dagegen Verluste. Tabelle 2 zeigt die Ergebnisse bezogen auf die bereits in Tabelle 1 verwendeten Raumtypen. Tabelle 2: Bevölkerungsveränderung 2017 bis 2040 nach siedlungsstrukturellen Kreisregionen gemäß BBSR-Raumordnungsprognose 2040. Siedlungsstrukturelle Kreisregion Agglomerationsräume

Verstädterte Räume

Ländliche Räume

Kernstädte

Veränderung 2017 bis 2040 in Prozent 3,7

Hochverdichtete Kreise

-0,3

Verdichtete Kreise

-3,1

Ländliche Kreise

-0,7

Kernstädte

1,0

Verdichtete Kreise

-3,3

Ländliche Kreise

-4,9

höherer Dichte

-2,3

geringerer Dichte

-8,8

Bundesrepublik Deutschland insgesamt

-0,8

* Daten: BBSR 2021d; Abgrenzung: BBR 2004; eigene Berechnung

Für die ländlichen Regionen insgesamt erwartet die Vorausschätzung einen weiteren Bevölkerungsrückgang, der besonders stark die ländlichen Räume mit geringerer Dichte, aber auch die ländlichen Kreise in den verstädterten Räumen treffe. Das BBSR unterscheidet in weiterer Typisierung die Kreise auch nach Lagetypen sowie nach Entwicklungskriterien. Nach Lagekriterien seien die peripheren und sehr peripheren Kreise die Verlierer, nach Entwicklungskriterien seien es die schrumpfenden und stark schrumpfenden Kreistypen. Im Ergebnis findet sich ein sich weiter verstärkendes Zentrum-Peripherie-Muster wieder. Das Schrumpfungsmuster entspricht weitgehend dem Muster, welches auch Abbildung 5 oben bereits charakterisiert. Die Zukunftsfähigkeit ländlicher Räume werde damit weiter durch demographische

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Entwicklungen bestimmt werden, auch wenn sie kleinräumig durch externe Impulse sowie endogene Kräfte beeinflusst werden könne. Systemisch betrachtet fällt auf, dass die Projektion bis 2040 wiederum die Trends der vergangenen Jahre fortschreibt und keine längeren Zyklen einbezieht. Bei der Projektion bis 2020 (siehe Tabelle 1) wurde der Suburbanisierungstrend als der in der Vorperiode vorherrschende Faktor der Bevölkerungsverteilung angesehen und fortgeschrieben – mit den fatalen Folgen einer verfehlten Wohnungspolitik in den Städten und einem großen Vertrauen auf die Aufholkräfte ländlicher Regionen. Die erwartete Suburbanisierung in den Rand der Agglomerationsräume ist nicht eingetreten, stattdessen erlebten die »Schwarmstädte«, die Metropolkerne und die Universitätsstädte, einen Boom. Dieser Boom beruhte auf dem drastischen Brain-Drain der Altersgruppe der Bildungswandernden (18- bis 25-Jährige) aus den anderen Regionen. Er hat sich seit dem Maximum 2011 abgeschwächt, wozu auch die Dezentralisierung der Hochschulen und Hochschulstandorte beigetragen hat. Nun wird für die Vorausschau bis 2040 genau dieser Trend als weiterhin zukunftsbestimmend angesehen. Ein Blick in die Vergangenheit macht zumindest vorsichtig, dass dieser bestimmende Trend möglicherweise so nicht eintreffen wird. Darüber hinaus ist anzumerken: Die Projektion des BBSR bezieht keine derartigen konterintuitiven Entwicklungen ein. Angesichts der Covid-19-Pandemie ließe sich schon jetzt fragen, welche Verschiebungen sich in den Stadt-Land-Relationen durch die Auswirkungen der Pandemie einstellen könnten. Bevor auf diese Frage im letzten Abschnitt eingegangen wird, erfolgt angesichts der vorhergesagten weiteren Schrumpfungstendenzen für die ländlichen Regionen ein Blick auf die Zukunftsfähigkeit ländlicher Räume.

Z UR Z UKUNFTSFÄHIGKEIT

LÄNDLICHER

R ÄUME

Im Blick nach vorn geht es um die Zukunftsfähigkeit ländlicher Räume. Hier werden vier verschiedene Interpretationen des Begriffs debattiert. In erster Lesart ist die Zukunftsfähigkeit von Regionen von ihrer Basisausstattung an Infrastrukturen und Einrichtungen der Daseinsvorsorge abhängig. Der demographische Wandel fordert hier die Tragfähigkeitsgrenzen bzw. die Aufrechterhaltung der Daseinsvorsorge in dünn besiedelten Regionen heraus und sucht nach Lösungen, Angebote auch bei weiter sinkenden Einwohnerzahlen aufrechtzuerhalten. Ein zweiter Ansatz versucht, die Zukunftsfähigkeit von Dörfern quantitativ zu messen und damit eine rechenbare Basis für Zukunftsentscheidungen zu liefern. Zukunftsfähigkeit III richtet sich auf Fragen der Resilienz ländlicher Räume angesichts von Krisen und potentiellen Bedrohungen. Die vierte Lesart versteht unter der Zukunftsfähigkeit die Nachhaltigkeit

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und fragt danach, was ländliche Räume (und nicht nur die dünn besiedelten) zu einer nachhaltigen Gesellschaft beitragen können. Zukunftsfähigkeit I: Basisinfrastrukturen und Daseinsvorsorge Die Ausstattung mit Basisinfrastrukturen und Grundleistungen der Daseinsvorsorge ist eine wesentliche Voraussetzung, um in einer Region die persönlichen Fähigkeiten entfalten zu können und keine Benachteiligungen durch die Wahl des Wohnortes zu erfahren. Es ließe sich auch von »Basisgütern des guten Lebens« im Sinne des Fähigkeitenansatzes von Martha Nussbaum (1999) sprechen.6 Der Ansatz, allen Bürgern einer Gesellschaft Zugang zu diesen Gütern zu schaffen, ist nicht nur ein Anliegen sozialer Gerechtigkeit, sondern weist auch eine räumliche Komponente auf. Diese wird durch die Grundrechte auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und freie Wohnsitzwahl gestärkt. Zudem ist die räumliche Gerechtigkeit in der Formel der »Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse« in Deutschland ein grundlegendes Prinzip der Raumordnung und verschiedentlich rechtlich normiert.7 Fragen der räumlichen Gerechtigkeit werden in Deutschland seit der Wiedervereinigung intensiv diskutiert, weil die räumlichen Disparitäten innerhalb Deutschlands erhebliche Dimensionen angenommen haben, die auch politische Brisanz im Stichwort der »abgehängten Regionen« (Hahne 2021) entfalten. Die Zunahme der regionalen Disparitäten und die weitere Abwanderung aus den ländlichen und peripheren Regionen Ostdeutschlands stellen die Ziele des territorialen Zusammenhalts und der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse mehr und mehr in Frage. Sinkende Nutzerzahlen gefährden Funktionsfähigkeit und Tragfähigkeit von Infrastrukturen und Versorgungssystemen. Zugleich muss über Ausstattungsstandards und die räumliche Dichte beziehungsweise angemessene Erreichbarkeit von Leistungen im Verhältnis zum Kostenaufwand entschieden werden. Neben der Gewährleistung von Sicherheit (Brandschutz, Polizei, Katastrophenschutz) und der Versorgung mit Wasser, Elektrizität, Telekommunikation, Post- und Verkehrsdienstleistungen spielen Angebote des Bildungs- und Gesundheitswesens sowie ihre jeweilige angemessene Erreichbarkeit eine wichtige Rolle. Es existiert zwar kein fixierter Ausstattungskatalog, wie ihn der Beirat für Raumordnung zuletzt 1976 (sic!) formuliert hatte, doch viele Standards der Erbringung sind in

6

Zum »guten Leben auf dem Lande« vergleiche die Beiträge in Nell/Weiland (2021).

7

Allerdings lässt sich aus dem Grundgesetz weder ein Grundrecht auf gleichwertige Lebensverhältnisse noch ein Staatsziel der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse ableiten, dennoch stellt das Ziel seit Staatsgründung ein Leitprinzip bundesdeutscher Politik dar (vgl. auch: Bundesregierung 2015: 4f.) und hat inzwischen auch Eingang in die Länderverfassungen von Baden-Württemberg, Bayern, Brandenburg, Bremen und Hessen gefunden.

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Einzelvorschriften normiert und werden bedarfsorientiert aktualisiert. Die Leistungserbringung muss die Kriterien Ausstattungsqualität, Erreichbarkeit (bzw. Flächendeckung wie bei Funknetzstandards) und tragbare Kosten (für Nutzer wie für Leistungsersteller) berücksichtigen. Immer aufs Neue zu beantworten ist dabei, welche technischen und organisatorischen Möglichkeiten zur Erbringung der Daseinsvorsorge bestehen. Dies hängt von technischen, ökonomischen, aber auch siedlungsstrukturellen und demographischen Voraussetzungen ab. Das Beispiel des Brandschutzes mag dies verdeutlichen: Ökonomisch macht es keinen Sinn, alle Ortsfeuerwehren mit jeglichem technischen Gerät auszustatten. Auf der anderen Seite müssen aber in genau definierter Entfernung besondere Löschzüge etwa mit Gefahrgutausrüstung vorgehalten werden. Angesichts des Einsatzes z.B. von neuen Baustoffen müssen jedoch auch die Normen zur Bestückung der Fahrzeuge immer wieder angepasst werden. Schließlich muss das Personal für die geeignete Brandbekämpfung geschult werden. Für die Tagesalarmbereitschaft muss genügend Personal vor Ort sein, um mögliche Brände innerhalb der normierten Hilfsfrist bekämpfen zu können. Wird die Leistung dagegen an Knotenpunkten erbracht und muss dort abgeholt werden, so stellt sich die Frage, mit welchen Beförderungsmitteln die Nutzer zu den jeweiligen Einrichtungen welcher Spezialisierung in welcher Zeit gelangen können. Beispiele hierfür sind das Bildungs- und das Gesundheitswesen. Da weitere Konzentrationen zu deutlichen Mangelsituationen führen können, werden seit längerem Ansätze zur Flexibilisierung der Grundversorgung erprobt. Variablen sind dabei (BBR 2005, BBR 2006, BMVBS 2011, ARL 2016, Kaether/Dehne/Neubauer 2016, OECD 2020b): • Kollokation: Bündelung verschiedener Funktionen • Kollaboration: Zusammenarbeit im Netzwerk (Informationsaustausch z.B. im Gesundheitsbereich) • Kooperation: vertraglich vereinbarte Zusammenarbeit verschiedener öffentlicher und privater Träger • Koproduktion: Leistungserstellung durch Einbeziehung gemeinwirtschaftlicher Organisationen und bürgerschaftlichem Engagement (z.B. ehrenamtliche Fahrdienste) • Zentralisierung / Dezentralisierung von Diensten • Flexibilisierung / Verkleinerung von Einrichtungen • Temporäre Lösungen • Verbesserung der Erreichbarkeit • Mobile Versorgung • Nutzung veränderter technischer Lösungen (Funknetz statt leitungsgebundener Infrastruktur, dezentrale Wasserentsorgung).

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Im Ergebnis für die Nutzer geht es darum, eine gute Leistung zu erhalten. Diese muss nicht von staatlichen Ebenen oder der Kommune erbracht werden, der Staat sollte aber die Erbringung gewährleisten. In vielen Bereichen erfolgt die Bereitstellung durch Koproduktion mit öffentlicher, gemeinnütziger, privater und ehrenamtlicher Mitwirkung. Die künftigen Standards der Daseinsvorsorge sollten in vielen Bereichen nicht mehr in Inputkategorien und konkreter Erbringungsformen angelegt, sondern nach dem Outcome, also der Funktionserfüllung für die Nutzer gemessen werden (Stielike 2018). Dabei sollten auch die Fähigkeiten und Möglichkeiten der Nutzergruppen einbezogen und erweitert werden (Befähigen statt Versorgen: Dehne 2019) sowie die Belange vulnerabler Gruppen besonders berücksichtigt werden (ARL 2016). Zukunftsfähigkeit II: Messung von Zukunftsfähigkeit Zu den Besonderheiten der Diskussion um die Zukunftsfähigkeit peripherer ländlicher Regionen gehört auch der Versuch der ingenieurmäßigen Berechnung von Zukunftsfähigkeit. So nennt das Berlin-Institut eine strategische Zielgröße als Maß: Demographisch zukunftsfähig seien jene Regionen, »in denen auch in 20 Jahren noch ausreichend Menschen leben, um wenigstens die bestehende Infrastruktur zu nutzen« (Kröhnert/van Olst/Klingholz 2005: 5). Über die Infrastruktur hinausgehend heißt es in einem Leitfaden der Stiftung Ettersburg: »Zukunftsfähigkeit […] wird gleichgesetzt mit der langfristigen Aufrechterhaltung des Systems ›Dorf‹ und seiner wesentlichen Elemente« (Mager/Zinecker 2014: 8). Besonders für Vorhaben der Raumplanung, zur Sicherung der Daseinsvorsorge, aber auch für private und privatwirtschaftliche Entscheidungen sei die Kenntnis über einen messbaren Zukunftswert eines Dorfes entscheidend. Zukunftsfähige Strukturen ließen sich so leichter erkennen und stärken, konkrete Anpassungsmaßnahmen ableiten und Fehlinvestitionen und Fehlplanungen vermeiden. Darüber hinaus wurde das Verfahren entwickelt, um als demografischer Bewertungsfaktor bei der Immobilienwertermittlung einzufließen. Zukunftsfähigkeit von Dörfern: Das Rechenverfahren von Mager/Zinecker Zur Berechnung werden 14 Merkmale herangezogen, welche als relevant für die dörfliche Entwicklung angesehen werden. Um die unterschiedlichen Maßeinheiten zusammenzuführen, wird eine Nutzwertanalyse eingesetzt. Für diese werden zunächst die Merkmale (X1…X14) erfasst. Diese werden anschließend in einheitliche Zielerreichungsgrade (ZEG1…ZEG14) umgerechnet. Zielerreichungsgrade nehmen Werte zwischen 0 und 1 an und erlauben so, jedes einzelne Merkmal hinsichtlich seiner Zukunftsfähigkeit zu bewerten. Folgende Merkmale gehen in die Berechnung ein:

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• ZEG 1 Arbeitsplatznähe (Arbeitsplätze im Umkreis von 20 km: Beschäf-

tigte je km² *0,2) • ZEG 2 Einwohnerentwicklung (der vergangenen 6 Jahre) • ZEG 3 Auswirkungen der aktuellen Altersstruktur (erwartete natürliche Bevölkerungsveränderung bis zum Jahr x) • ZEG 4 Landschaftliche Attraktivität (subjektive Wertung) • ZEG 5 Fahrzeit zum nächsten Zentrum • ZEG 6 Anteilige Straßendorfsituation (von Lärm betroffener Anteil der Straßen im besiedelten Bereich) • ZEG 7 Baulicher Zustand und Immobilienleerstand • ZEG 8 Breitbandversorgung  50 Mbit/s • ZEG 9 Kindergarten/Kindertagesstätte • ZEG 10 Vereinsleben (Zahl der Vereine je Einwohner) • ZEG 11 Nahversorgung (Dorfladen) • ZEG 12 Gaststätte • ZEG 13 Schule • ZEG 14 Kleinheit des Dorfes (> 20 und < 300 Einwohner) (Mager/Zinecker 2014: 12-24) Für jedes Merkmal wurde durch eine Befragung von 1.020 Dorfbewohnern die subjektive Bedeutung nach einer Likert-Skala ermittelt. Die Ergebnisse werden als Wichtungsfaktoren eingesetzt (auf insgesamt 100 normiert ergeben sich Einzelgewichte von 9,7 % für ZEG 1, 2, 3 bis zu 3,8 % für den Faktor Kleinheit ZEG 14). Anschließend gehen die Werte additiv in die abschließende Zukunftskennzahl ein. Das Verfahren der Stiftung Schloss Ettersburg stellt einen Versuch dar, die Zukunftsfähigkeit von Siedlungen errechenbar zu machen. Die Komplexität dörflicher Strukturen soll mit einer einzigen Zahl erfasst und bewertbar gemacht werden. Der Ansatz streut die Illusion der Rechenbarkeit von Zukunftsfähigkeit und entwickelt eine Formel, welche insgesamt 14 Indikatoren zu Einflussfaktoren der Zukunftsfähigkeit erhebt. Eine theorie- oder evidenzbasierte Ableitung des Indikatorensets fehlt. Die Auswahl der Indikatoren erscheint daher willkürlich, die Bewertungen sind es im Einzelnen auch. Neben den subjektiven Wertbildungen erstaunt besonders die durch eine Umfrage ermittelte Gewichtung der Einzelfaktoren. Um nur ein Beispiel für die problematische Auswahl zu nennen: Innerhalb des Sets wird dem bürgerschaftlichen Engagement Bedeutung eingeräumt, als Indikator

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dient die Zahl der Vereine und Initiativen je Einwohner.8 Doch die bloße Anzahl der Vereine und Initiativen sagt nichts über deren Bedeutung und Wirken aus. Häufig sind es einzelne Engagierte und Aktivisten vor Ort oder Pioniere von außen, welche einem Dorf zu neuem Leben helfen. Zahlreiche Belege liefert die Literatur (Haid 1989, Waldert 1992, Douthwaite/Diefenbacher 1998, Haid 2005, Grossarth 2011, Faber/Oswalt 2013, BLG 2017, Slupina/Sütterlin/Klingholz 2018). Der Schlüsselfaktor »bürgerschaftliches Engagement« geht mit einem Gewicht von nur 6,6 % ein, ihm wird weniger Gewicht für die lokale Zukunftsfähigkeit beigemessen als etwa dem Vorhandensein eines Kindergartens. Andere Faktoren gehen dagegen völlig undifferenziert, nämlich nur als Null- oder Eins-Werte in die Bewertung ein (ZEG8, 11-13). Gänzlich fehlt auch ein Aspekt wie das Angebot des öffentlichen Verkehrs. Korrelations- und Sensitivitätsanalysen zur Unabhängigkeit und Bedeutung der einzelnen Faktoren wurden nicht durchgeführt. Stattdessen werden alle Faktoren miteinander additiv verknüpft, mathematisch sind sie damit substituierbar und es gibt kein Engpasskriterium (wie bei multiplikativer Verknüpfung). Insgesamt ist das Verfahren wenig flexibel und auch zu fragwürdig, um darauf Immobilienbewertungen vorzunehmen und Investoren Zukunftschancen oder deren Fehlen aufzuzeigen. Fatal werden derartige Berechnungen, wenn sie dazu führen, dass Investitionswilligen Kredite mit Verweis auf die fehlende Zukunftsfähigkeit des Dorfes verwehrt werden. Nach der hier berechneten Zukunftsfähigkeit gar den Rückbau von Dörfern zu empfehlen (Berlin-Institut 2011: 7, 26), erscheint wissenschaftlich unseriös und verkennt die Problematik des Nichtwissens um künftige Entwicklungen und Dynamiken. Auf die Persistenz und Stabilität kleinster Siedlungen auch in peripheren Regionen wurde bereits oben verwiesen. Zukunftsfähigkeit III: Resilienz ländlicher Räume Der dritte Ansatz, die Zukunftsfähigkeit ländlicher Räume zu behandeln, befasst sich mit der Frage, wie gut ländliche Räume mit Krisen und plötzlichen Einbrüchen umgehen können. Welche Resilienzfaktoren sind gut ausgeprägt, welche Eigenschaften sollten für künftige Herausforderungen ausgebildet werden? Zur Beantwortung können Erfahrungen aus vergangenen Krisen gewonnen werden. Einen guten Ausgangspunkt bildet die Weltwirtschaftskrise 2009. Nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers im Jahr 2008 wurde schnell ersichtlich, dass die nachfolgende Weltwirtschaftskrise die regionalen Ökonomien unterschiedlich treffen würde. Das BBSR hat damals rasch reagiert und bereits Anfang 2009 eine Studie zur potentiellen Betroffenheit von Regionen in Deutschland durch die Weltwirtschaftskrise erstellt. Dabei wurden zwei Thesen verfolgt: Zum einen wurde

8

Diverse andere Möglichkeiten zur Indikatorenbildung, um ehrenamtliches Engagement zu messen, finden sich bei Kleiner (2019).

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anhand von Beschäftigtendaten die Konjunkturabhängigkeit der Regionen aus früheren Konjunkturkrisen abgeleitet.9 Zum anderen wurde die Branchenanfälligkeit definiert, indem die regionale Beschäftigungsbedeutung und damit Branchenkonzentration exportabhängiger Branchen10 berücksichtigt wurde. Die vom BBSR ermittelte hypothetische Betroffenheit deutscher Regionen durch die Weltwirtschaftskrise 2008/09 zeigt Abbildung 8. Abb. 8: Hypothetische Betroffenheit deutscher Regionen durch die Weltwirtschaftskrise 2008/09 nach Branchen- und Konjunkturabhängigkeit.

BBSR (2009: 2)

Die tatsächliche Betroffenheit der Regionen in Deutschland fiel deutlich schwächer aus als erwartet: Der starke Wirtschaftseinbruch konnte aufgrund der eingesetzten Konjunkturpakete, insbesondere der Stützung von Kurzarbeit, auf dem Arbeitsmarkt gut verkraftet werden (Schwengler/Hecht 2011).

9

Beschäftigungsabbau in den Perioden 1980-1983 (West), 1992-1998, 2001-2005.

10 Als exportabhängige Branchen wurden angesehen: Fahrzeugbau, Metallverarbeitung, Chemische Industrie, Maschinenbau und Elektrotechnik. Zusätzlich wurden die Sektoren Kreditinstitute und Versicherungen als unmittelbar von der Finanzkrise betroffene Sektoren einbezogen.

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Einen völlig anderen Ansatz stellte wenig später das Pestel-Institut vor. Es ging von der These aus, dass Fixierung auf wirtschaftliches Wachstum und internationale Wettbewerbsfähigkeit nicht unbedingt Zukunftsfähigkeit und Krisenfestigkeit bedeuten. Stattdessen wählte das Institut innerhalb der sechs Dimensionen Soziales, Wohnen, Verkehr, Flächennutzung, Energie und Wirtschaft jeweils drei Indikatoren aus, welche begründet zur regionalen Krisenfestigkeit beitragen können (Tabelle 3). Das reicht von der energetischen Basis der Region über die Fläche des ökologischen Anbaus in der Landwirtschaft, den PKW-Besatz, die kommunale Verschuldung, den Wanderungssaldo und die ärztliche Versorgung bis zum Bildungsniveau. Zwar nicht verwunderlich, aber doch für die Bedeutung ländlicher Regionalentwicklung wichtig ist das Ergebnis der Pestel-Studie (Abbildung 9): Nicht die Ballungsräume konnten mit der Krise gut umgehen, sondern es sind vor allem ländliche Regionen, welche in höherem Maße krisenfest seien. Dagegen lässt sich einwenden, dass das Indikatorenset das Ergebnis beeinflusst. Dies ist jedoch bei jeder indikatorbasierten Studie der Fall. Die Pestel-Studie hat den Anfang gemacht, das Suchraster für regionale Krisenresistenz zu konkretisieren. Tabelle 3: Indikatoren der Pestel-Studie Soziales

Verkehr

1

Schulabgänger ohne Abschluss in v.H. aller Schulabgänger

7

2

SGB II-Quote

8

3

Hausärzte je 100.000 Einwohner

9

Wohnen

Verkehrsflächen je Einwohner ÖPNV-Fahrzeug-kilometer je Einwohner PKW-Bestand je 1.000 Einwohner

Flächennutzung

4

Wanderungssaldo 2004 bis 2008

10

5

Mieterquote

11

6

Wohnfläche je Einwohner

12

Landwirtschaftsfläche (LW) je Einwohner Anteil ökologischer Landbau an LW Waldfläche je Einwohner

Energie 13 14 15

Windkraftleistung je Einwohner Biogasleistung je Einwohner Solarthermie und Photovoltaik je Einwohner

Wirtschaft 16 17 18

Anteil Beschäftigte am Wohnort, die nicht auspendeln Industriebeschäftigte je 100 Einwohner Kommunale Schulden je Einwohner

Pestel-Institut (2010: 13)

Das Bemerkenswerte an diesem Ansatz ist die veränderte Blickrichtung: Nicht die Potentiale, um auf den früheren Wachstumspfad zurückzukehren, oder die Vulnerabilität der Region durch ihre Strukturen stehen im Vordergrund der Betrachtung, sondern die Strukturen und Verhaltensweisen, welche eine stärkere Resilienz gegenüber Krisen erwarten lassen. Als stabilisierend wurden dabei unter anderem angesehen: Bildung, hausärztliche Versorgung, Hauseigentum, geringe Flächen- und Ressourceninanspruchnahme bei Wohnen und Verkehr, hohe Flächenanteile für Landwirtschaft und Wald, hoher Selbstversorgungsgrad mit erneuerbaren Energien, geringe

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Auspendlerquote, niedriger kommunaler Schuldenstand. Interessant ist das Ergebnis, denn es zeichnet eine gänzlich andere Landkarte der Resilienz bundesdeutscher Regionen als die zuvor benannte wirtschaftsgeographische Forschung. Abb. 9: Regionale Krisenfestigkeit deutscher Regionen 2010.

Pestel-Institut (2010: 12)

Dennoch: Auch der Pestel-Ansatz bleibt bei leicht ermittelbaren Indikatoren stehen. Er fokussiert zwar stabilisierende Elemente, lässt aber den Blick auf weitere systemische Eigenschaften der Region noch außerhalb des Betrachtungsrahmens. Thematisch macht die Covid-19-Pandemie deutlich, dass noch sehr viele weitere Indikatoren aus dem Bereich Gesundheit und Lebensqualität für die Definition resilienter Regionen hinzugefügt werden müssten. Denn auch diese Krise hat sich regional unterschiedlich manifestiert. Das reicht von der Übersterblichkeit, die geringe Resilienz anzeigt, über den Body-Maß-Index, die Luftqualität bis zur

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Verbesserung der öffentlichen Verwaltung, einschließlich deren Digitalisierung. Die OECD hat dazu auf Ebene großer Regionen innerhalb der Staaten (in Deutschland: Länder) einen breiten Datenkatalog vorgelegt (OECD 2020a), welcher zudem die abgebildeten 100 Indikatoren jeweils auf die siebzehn Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen bezieht. Hierzu gehören auch Indikatoren, die den Beitrag der Regionen zu Klimawandel, Biodiversität und zum Landnutzungswandel oder zu Fragen des Energiekonsums, des Recyclingaufkommens oder der bebauten Fläche pro Kopf belegen und zu Verbesserungsanstrengungen auffordern. Abstrahieren wir von den konkreten Strukturen einer Region, so können grundlegende resilienzfördernde Systemeigenschaften benannt werden (vgl. z.B. Lukesch et al. 2010, Martin 2012, Kegler 2014, Renn 2014), die sowohl die Komponente der Systemerhaltung als auch die Komponente der Selbsterneuerung enthalten: • Robustheit gegenüber externen Einflüssen • Diversität • Redundanz • Dezentralität • Modularität • Fehlerfreundlichkeit und Reaktionsfähigkeit • Selbstorganisation und Lernbereitschaft. Die Einbeziehung derartiger Eigenschaften geht über einfache technische Maßnahmen und Regulierungen hinaus und macht es unausweichlich, sich den lokalen und regionalen Institutionen, Initiativen und Akteuren zu widmen, um die endogenen Faktoren aktiver Steuerungs- und Lernfähigkeit zu verstehen, welche die Fähigkeit zur Selbsterneuerung verbessern. Zukunftsfähigkeit IV: Nachhaltigkeit Betonte der dritte Ansatz zur Zukunftsfähigkeit die Widerstands- und Anpassungsfähigkeit ländlicher Regionen bei Krisen, blickt der vierte Ansatz auf den Beitrag ländlicher Räume zu einer nachhaltigen Gesellschaft. Angesichts der sozial-ökologischen Krise mit zunehmender Übernutzung von Klima, Ressourcen und Umweltgütern und dem Überschreiten der planetaren Grenzen ist eine Zukunftsfähigkeit nur zu erreichen mittels einer ressourcensparenden, klimaschonenden und umweltgerechten Wirtschafts- und Lebensweise (BUND 1996, 2008). Diese Transformation muss einerseits durch globale Vereinbarungen11 vorangetrieben werden, andererseits muss der Wandel durch Veränderungen vor Ort Fahrt aufnehmen. Häufig wird dabei auf

11 Rio-Konferenz für Umwelt und Entwicklung 1992, Paris-Abkommen zum Klimaschutz 2015, Sustainable Development Goals 2015.

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die »transformative Kraft der Städte« (WBGU 2016) gesetzt. Doch Städte allein werden weder die Klima- noch die Ressourcenfrage für eine wachsende Weltbevölkerung bewältigen können. Sie benötigen ebenso die Innovations- und Wandlungskraft ländlicher Regionen, um die Nachhaltigkeitswende zu schaffen. Im Produktionsbereich geht es um die absolute und nicht nur relative Abkopplung vom Ressourcenverbrauch (Jackson 2011). Dazu können technische Lösungen (Digitalisierung, green technology, precision farming etc.) beitragen, sie sind aber ein nicht hinreichender Ansatz, da neben die Effizienzsteigerung auch eine absolute Reduktion des Ressourcenverbrauchs erfolgen muss (Loske 2016). Ein wichtiger Beitrag, um von der expansiven Moderne in eine reduktive und postfossile Moderne12 einzutauchen, besteht in der Reduktion des globalen Ressourcen- und Stoffstromaustausches. Die globale Verantwortung fordert von den ländlichen Räumen, über die Welternährungssicherung hinaus Kompensationsleistungen zur Stabilisierung von Klima und Ökosystemen zu erbringen beziehungsweise deren Resilienz zu erhöhen (Kohlenstoffsenken, Retentionsflächen etc.) und die eigenen Einträge in die Ökosphäre zu senken. Konkret stellen sich für ländliche Räume daraus zahlreiche Zukunftsaufgaben: • preiswerte und wettbewerbsfähige landwirtschaftliche, forstwirtschaftliche Produkte zu erstellen, • Beiträge zur Energiewende mittels erneuerbarer Energien zu leisten, • Räume für den Klimaschutz und insbesondere die CO2-Speicherung bereitzustellen, • die Folgen von Umweltbelastungen und Umweltrisiken aufzufangen bzw. abzumildern (z.B. durch Schaffung von Retentionsflächen für Hochwassergefahren, Ausgleichsflächen für Eingriffe in Natur und Klima), • die Produktionsverhältnisse geeignet anzupassen, um weiterhin Produkte und Leistungen für die Gesellschaft zu erzeugen, welche den Anforderungen an Nachhaltigkeit, Sozialgerechtigkeit und Klimaneutralität genügen, • neue Anforderungen an die Veränderung gesellschaftlicher Werte zu erfüllen (Beispiel: Tierwohldebatte), • neue Leistungen zu erbringen, welche die Engpässe der urbanen Gesellschaft verringern (Energieerzeugung, Stromtrassen für den großräumigen Energietransport, Flächenbereitstellung für zunehmenden Handel: Logistikflächen), • Beiträge zum Erhalt der Biodiversität, der Naturgüter, von Wildnislandschaften und

12 Die Bilder der expansiven und der reduktiven Moderne stammen von Sommer/Welzer (2014: 16).

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• •

Beiträge zum Erholungsgut Landschaft zu leisten sowie Tourismus- und Freizeitangebote zu erstellen, das kulturelle Erbe ländlicher Räume (Bauten, regionale Kulturen, Sprachen, Traditionen und Produkte) zu sichern.

Raumplanerisch gesehen werden ländliche Räume künftig in Flächendilemmata geraten: Denn auch sie müssen ihre Flächeninanspruchnahme für Siedlungs- und Produktionszwecke reduzieren, um Flächen für ökologische und andere Zwecke zur Verfügung zu stellen. Zugleich wird sich die funktionsräumliche Spezialisierung von Teilen ländlicher Regionen durch die Ausrichtung auf die Wohnattraktivität vergrößern. Daher werden ländliche Räume nicht nur Exportleistungen für andere erstellen, sondern auch für die eigenen Bewohner ein gutes Leben in Nachhaltigkeitsverantwortung vorantreiben. Dazu gehört es im Sinne von Resilienz und Nachhaltigkeit, die regionale Diversität zu stärken, um von überregionalen Warenflüssen unabhängiger zu werden und eigenständige Wirtschaftskreisläufe aufzubauen. Zentral für eine nachhaltigere Wirtschaftsweise ist dabei eine Veränderung des Verhältnisses zwischen Eigen- und Fremdversorgung. Diversifizierung ist eine seit langem den ländlichen Regionen empfohlene Strategie (Hahne 2000), die auch in der Debatte um eine Postwachstumsökonomie (Paech 2012, Loske 2016, Hahne 2017c) mit den Forderungen nach mehr Eigenversorgung, mehr Subsistenz und Suffizienz sowie dem Übergang zur Kreislaufwirtschaft wieder aufgegriffen wird.

C OVID -19-P ANDEMIE UND DIE V ERÄNDERUNG DER S TADT -L AND -R ELATIONEN Wie zuvor gezeigt wurde, leidet die sozialwissenschaftliche und planerische Zukunftsvorausschau darunter, nicht wirklich in die Zukunft blicken zu können. Gern werden aus Bekanntem abgeleitete Trends fortgeschrieben, es werden Szenarien erdacht, die eher bildhaft und wortreich argumentierend Zukünfte beschreiben, aber mit dem Hinweis auf die Komplexität akteursbasierter sozioökonomischer Systeme kaum durch quantitative Wahrscheinlichkeitsrechnungen oder fundierte Plausibilitätsabwägungen über den Eintritt bestimmter Ereignisse untermauert werden. So nimmt es kein Wunder, dass radikale Trendbrüche wenig Platz in Zukunftsbetrachtungen finden, weil sie schwer denkbar sind und im Normalprozess eher unwahrscheinlich erscheinen. Dabei können gerade Alternativszenarien helfen, Vorbereitungen für Stresslagen und Anpassungsstrategien zu entfalten oder auch Selbsterneuerungskräfte anzustoßen, bevor die Wünsche nach dem Rückwärts oder danach,

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das Vergangene, Versäumte zu verbessern (Bloch 1970: 31), diese Kräfte blockieren.13 Die Corona-Pandemie der Jahre 2020 folgende macht die Wirkungsweise eines säkularen Schocks deutlich: Innerhalb kürzester Zeit hat sich das Leben der Menschen massiv verändert. Nicht die erheblichen temporären Einschränkungen, die zur Bekämpfung der Pandemie eingeführt wurden, sind langfristig bedeutsam, sondern die von der Pandemie verursachten sowie beschleunigten strukturellen Veränderungen sind zukunftsrelevant. Zu betrachten sind hier die Wirkungen auf Globalisierung, Digitalisierung, Arbeitswelt, Konsum, Lebensqualität und die Stadt-Land-Relationen. Wandel von Wertschöpfungsketten Die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie haben die globalen Reise- und Warenströme unterbrochen. Neben dem Rückgang direkter Nachfrage von Konsumgütern des mittelfristigen Bedarfs (z.B. Kleidung: Castañeda-Navarrete/ Hauge/López-Gómez 2020) gerieten auf globaler Beschaffung basierende Wertschöpfungsketten in Lieferschwierigkeiten mit nachweisbaren ökonomischen Effekten auf die Exportregionen (Hayakawa/Mukonoki 2021). Dies hat zu einem Überdenken der Fragilität globaler Lieferketten geführt und verstärkt die Tendenz, Produktionen in Niedriglohnstaaten zu vermeiden und stärker in Automatisierungstechniken (im Sinne einer Industrie 4.0) zu investieren (Fortunato 2020). Die Gefährdung der weltweiten Beschaffung begünstigt Überlegungen, eigene Kapazitäten in den Heimatregionen aufzubauen. Als weitere Konsequenz aus der Verletzlichkeit durch weiträumige Beschaffungsketten und der Gefahr kurzfristiger Lieferausfälle ergibt sich die Schaffung zusätzlicher Lagerkapazitäten. Angesichts der Flächenknappheit in hochverdichteten Räumen wird diese Flächennachfrage zugunsten von Umland und weiter entfernten ländlichen Räumen ausfallen. Digitalisierung Die Covid-Pandemie ist weniger Auslöser als Beschleuniger der weiteren Digitalisierung. Dies gilt nicht nur für Unternehmen und die Arbeitswelt, sondern ebenso für das Bildungswesen und die Beziehungen zwischen Anbietern und Konsumenten. In

13 Zukunftswissenschaften befassen sich daher mit dem Kontrastszenario »Es könnte auch ganz anders kommen« (Stiens 1996: 92) oder setzen eine Zukunftsbrille mit der Frage ein: »Was könnten uns überraschen?«. Partizipative Methoden der Zukunftsforschung (Zukunftswerkstätten, Reallabore, Open Space Konferenzen) dienen besonders in der Raumplanung als Entdeckungsverfahren (Popp/Schüll 2009, Bühler et al. 2014).

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allen Bereichen wurde mit den Schließungsmaßnahmen zur Eindämmung der Pandemie die digitale Kommunikation intensiviert. Auch in ländlichen Regionen haben sich, um nur ein Beispiel zu nennen, Einzelhändler zusammengeschlossen und digitale Plattformen etabliert, um Kunden vor Ort weiter zu erreichen und nicht an große Versandplattformen zu verlieren. Der Digitalisierungsschub hat aber auch die Schwächen der Infrastrukturen verdeutlicht, insbesondere dünn besiedelte und abgelegene Regionen erlebten wegen ihrer schlechten digitalen Erreichbarkeit eine starke Benachteiligung. Der Handlungsbedarf, die digitale Kluft zwischen Agglomerationskernen und Peripherien14 zu vermindern, ist überdeutlich geworden. Gleiches gilt für die Digitalisierung öffentlicher Verwaltungen, auch hier wird das Hinterherhinken der Ausstattung durch die Pandemie offensichtlich. Die Digitalisierung wurde bislang vielfach als Push-Faktor für wissensintensive Dienstleistungen in den Metropolen gesehen (Südekum 2018). Dies greift sowohl historisch (man denke an die Entstehungsgeschichte des Silicon-Valleys und anderer suburbaner ländlicher Technologieparks der 1980er Jahre, vgl. Hahne 1985) als auch im Hinblick auf die Raumdynamik der aktuellen Digitalisierungsprozesse zu kurz. Erste digitale »Satelliten« in ländlichen Räumen auch weit entfernt von Großstädten zeigen das Dezentralisierungspotential bereits jetzt an und führen sogar zu einem positiven Wanderungssaldo in bisherigen Abwanderungsregionen (Berlin-Institut 2019b). Arbeitswelt Mit der Corona-bedingten Umstellung auf Homeoffice und digitale Kommunikation hat sich die Arbeitswelt stark verändert, indem viele Beschäftigte ihre Berufstätigkeit während der Pandemie überwiegend von zu Hause erledigten und Dienstreisen durch Videokonferenzen ersetzt wurden. Die Anpassung der Arbeitsorganisation hat viele Unternehmen sowohl im Dienstleistungsbereich als auch im Produzierenden Gewerbe dazu bewogen, ortsflexible Arbeit beizubehalten und Homeoffice-Angebote weiter auszudehnen (ZEW 2020). Zudem hat eine Debatte über die Veränderung der Arbeitszeit eingesetzt und es wurde die Einführung einer Vier-Tage-Woche vorgeschlagen (Preuß 2020). Auch dies würde die Relation zwischen Arbeitszeit und Freizeit verändern und damit mehr Flexibilität der konkreten Gestaltung ermöglichen bis hin zu vergrößerten Möglichkeiten, ein multilokales Leben zu führen.

14 Siehe dazu die räumlichen Disparitäten im kleinräumig aufgelösten Breitbandatlas der Bundesregierung: www.bmvi.de/DE/Themen/Digitales/Breitbandausbau/BreitbandatlasKarte/start.html

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Am Immobilienmarkt wird infolge der Pandemie ein deutlicher Rückgang der Nachfrage nach Büroflächen erwartet (Astheimer et al. 2020). Umgekehrt wird die Wohnsituation der Beschäftigten unter dem Gesichtspunkt der Eignung für das Arbeiten im Homeoffice infrage gestellt, da häufig die Wohnsituation nur eine behelfsmäßige Einrichtung eines Heimarbeitsplatzes erlaubt und die jeweilige Wohnpartnerschaft erheblich belastet wird. Dies wiederum steigert die Nachfrage nach geeignetem (und größerem) Wohnraum. Ist dieser zu angemessenen Mietkosten nicht in der Stadt zu bekommen, dürfte ein weiterer Nachfragedruck auf das Umland und auch weiter entfernte Standorte zukommen. Vorteile der Leere und Vorteile der Dichte Ökonomen zählen zu den wesentlichen Vorteilen von Agglomerationen die Dichte: Die Vielfalt von Menschen als Produktionsfaktoren (quantitativ wie qualitativ), die Masse als Test- und einfach zu bedienender Absatzmarkt, die Dichte der Kommunikation für Innovationsprozesse und als Beschleuniger für Spezialisierungsprozesse (Urbanisationsvorteile, vgl. Lee/Möller 2020: 144ff.). Für Stadtplaner ist Dichte ein wesentliches Merkmal der »modernen Großstadt« (Bahrdt 1969; Harth 2012) – mit allen negativen und positiven Aspekten der hohen Bebauungsdichte von beengten oder gar ungesunden Wohnverhältnissen bis zu kultureller und sozialer Vielfalt. Nun zeigt die Corona-Pandemie die Nachteile der Dichte auf: Im Lockdown werden die Enge der Wohnungen, der Flächenmangel für Homeoffice wie im Freiraum zu einer Belastung. Wie stets in Krisen, ist die Flucht aufs Land eine typische Reaktion derer, die es sich leisten können (Bätzing 2020b). Privilegierte am Rande der Stadt mit großzügigen Wohnverhältnissen, möglicherweise eigenem Garten, Bewohner von Vorstädten und -dörfern, Zweitwohnungsbesitzer mit Eigentum auf dem Lande können so der Kontaktdichte der Stadt entfliehen. Die Pandemie hat einen weiteren Anziehungspunkt der Städte abgeschwächt: Der Einzelhandel in den Innenstädten wurde in den Lockdown-Phasen geschlossen, so dass die Kunden sich dort, wo sie nicht Konsumverzicht übten, alternative Beschaffungsquellen erschlossen haben. Die Pandemie beschleunigt den Verfall der Innenstädte als Orten der Attraktion (Kirchhoff 2020) und reduziert den Anreiz, zentrumsnah zu wohnen. Andere Vorteile der Dichte werden weiterhin bei den Metropolkernen, Groß- und Universitätsstädten verbleiben, nämlich die Dichte und Qualität des Ausbildungsnetzes, die Kommunikationsdichte als wichtiger Treiber von Kreativität und Innovation, die Größe und Differenzierung des Arbeitsmarktes, die Größe des Absatzmarktes, die Möglichkeiten zur Entfaltung kreativer Talente und die Vielfalt kultureller Angebote.

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Aufwertung der Wohnattraktivität In der Folge kommt es zu einer Umwertung von Wohnattraktivität: Bislang basierte die Wohnortwahl neben der Erschwinglichkeit auf weiteren ökonomischen Kriterien wie Arbeitsplatznähe und Erreichbarkeit. Mit zunehmendem Arbeitsanteil im Homeoffice ergibt sich die Möglichkeit, weiter entfernt vom Arbeitsplatz zu wohnen (durchaus auch preiswerter) und bei Bedarf fernzupendeln. So können andere Faktoren die Wohnstandortwahl bestimmen. Vor allem die Wohnattraktivität rückt in den Vordergrund mit Faktoren wie Wohnfläche, Garten, Freiraum, Freizeitmöglichkeiten etc. Nicht mehr rein ökonomische Faktoren, sondern die gesamte Lebensqualität eines Wohnstandortes spielt bei der Auswahl eine Rolle. Dies vergrößert die Chancen ländlicher Räume, von der neuen Stadtflucht zu profitieren. Push-Faktoren sind die steigenden Wohnkosten in den Agglomerationen, unter anderem getrieben von knappem und immer weniger erschwinglichen Bauland. Pull-Faktor wäre dann die lokale Attraktivität, die durchaus auch in peripheren, dünn besiedelten Regionen gefunden werden kann. Damit kann die Corona-Pandemie dazu beitragen, die oft geäußerte Präferenz für ein Wohnen auf dem Lande beziehungsweise in einer Kleinstadt und die häufig bekundete Ablehnung der Großstadt (Petersen 2014, LBS 2020, Ochs 2020) für mehr Menschen als bislang zur Realität werden zu lassen. Veränderung der Stadt-Land-Relationen Alle genannten Faktoren deuten darauf hin, dass die Covid-19-Pandemie zu einer grundlegenden Veränderung der Stadt-Land-Relationen beitragen kann. Die Richtung deutet auf eine Aufwertung der ländlichen Räume zulasten der großen Agglomerationen. Die Entfernung zum Arbeitsplatz wird für viele Beschäftigte immer unwichtiger, auch Selbständige bekommen mehr Wahlfreiheit des Betriebsortes, wenn sie nur selten zu Kundenterminen in die Ballungszentren reisen müssen. Umgekehrt werden auch die Städte Anstrengungen unternehmen, um ihre Lebensbedingungen zu verbessern und ihre Anziehungskraft zu erhalten; sie werden ihre Energie-, Klima- und Umweltbilanzen verbessern, sie werden die Wohnumfelder lebenswerter machen, die Versorgung in der Nähe und nicht mehr nur im Zentrum oder am Stadtrand ermöglichen (Vision der 15-Minuten-Stadtquartiere). Vorschläge gibt es genug (Gehl 2015, Pålsson 2017). Je länger aber die Umsetzung dauert und je geringer die Bindungskräfte durch Jobs und Präsenz vor Ort werden, desto größer sind die Chancen ländlicher Regionen und der dort gelegenen Städte, ihre Vorteile auszuspielen. Wie weit wird dieses Dezentralisierungspotential reichen? Die Deglomerationstreiber hohe Kosten und sinkende Attraktivität benötigen als Gegenpart auch

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Zugkräfte in ländlichen Regionen. Gute Wohnbedingungen und gutes Wohnumfeld allein werden nur bei speziellen Wohnprojekten zur Ansiedlung führen, aber selbst für diese muss meist eine gute Infrastruktur als Attraktionsgrund hinzutreten. Das beinhaltet als erstes die digitale Anbindung der Region, sodann auch die verkehrliche Erreichbarkeit der Metropolen, ferner Maßnahmen der lokalen Attraktivität wie gute Kinderbetreuungseinrichtungen, gute Bildungsstätten und ein ausreichend differenziertes Gesundheitswesen. Funktionale Vielfalt ländlicher Räume Die funktionale Vielfalt ländlicher Räume nimmt durch die Krise weiter zu statt ab. Denn nicht nur klassische Faktoren wie Lagegunst (in der Nähe von Agglomerationen, Tourismusregionen, Logistikstandorte) und Produktionsvorteile (Land-, Forst-, Energiewirtschaft, Produzierendes Gewerbe) prägen heute die Vielfalt ländlicher Regionen,15 sondern auch zunehmend die Möglichkeit, sich gegenüber den Agglomerationsräumen als attraktive Arbeits-, Residenz- und Lebensräume zu profilieren. Damit erfährt der Komponente »Wohlbefinden« eine neue Bedeutung als Entwicklungsfaktor für die ländlichen Räume. Ihre Beurteilung in sozioökonomischer Betrachtung beschränkt sich nicht mehr nur auf soziodemographische und ökonomische Faktoren, sondern wird ergänzt um Faktoren des Wohlbefindens (Gesundheit, Bildung, Familien- und Altersgerechtigkeit etc.) und der Nachhaltigkeit (Klima, Biodiversität, unzerschnittene Räume etc.) (vgl. OECD 2020b). Die Politiken für ländliche Räume werden sich daher verändern: Nicht allein die Betrachtung der demographischen und ökonomischen Herausforderungen wird künftige Regionalpolitik auszeichnen, sondern eine Unterstützung ländlicher Räume zur Verbesserung der gesamten Breite der Lebensbedingungen vor Ort. Nicht als Verteidigungsstrategie gegen die Vulnerabilität, sondern als Zukunftsstrategie zur Inwertsetzung der besonderen Qualitäten ländlicher Regionen. Und dies kann auch bedeuten, dass äußerst dünn besiedelte, periphere Regionen, die hinsichtlich der Tragfähigkeit der Daseinsvorsorge gefährdet sind, besonders gefördert werden.16 Eine mögliche Strategie für diese Regionen könnte darin bestehen, sie als Räume mit besonderen Ökosystemdienstleistungen für die Schonung des Klimas (z.B. großflächige Klimasenken) und die Erhaltung der Biodiversität auszuweisen und entsprechend

15 Zur genaueren Typisierung ländlicher Räume vgl. z.B. Hahne (2021) mit weiteren Verweisen. 16 Zum Beispiel hat das Land Mecklenburg-Vorpommern derartige Regionen als »Ländliche GestaltungsRäume« (sic!) ausgewiesen und ihnen besondere Beachtung bei der Stabilisierung der Daseinsvorsorge zugesichert (Regierung Mecklenburg-Vorpommern 2016).

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wertzuschätzen. Im Sinne von Chancengleichheit und sozialer Gerechtigkeit müssten auch für die in diesen Regionen lebenden Menschen die grundlegenden Basisgüter der Daseinsvorsorge weiterhin garantiert werden (vgl. auch Kersten/Neu/Vogel 2015). Land, Stadt und die »Rurbanisierung« Mit der funktionalen Differenzierung ländlicher Räume dringen immer weitere urbane Funktionen und Lebensweisen in den ländlichen Raum vor. Umgekehrt wächst die Multifunktionalität auch in städtischen Räumen, es finden sich immer mehr Elemente, die bislang eher als ländlich konnotiert wurden, wie es die Beispiele urbaner Lebensmittelproduktion und urbanen Gärtnerns, der essbaren Städte oder neuer Allmenden zeigen – bis zum Versuch, kleingliedrigere Quartiere dorfähnlich anzulegen oder zumindest die Werbung für neue Wohnquartiere entsprechend aufzuladen. Der Schluss, von einer Angleichung der Lebensformen im Sinne einer »Rurbanisierung« zu sprechen, läge nahe (vgl. auch Bätzing 2020a). Doch vor dem Hintergrund der Debatte um räumliche Gerechtigkeit negiert der Begriff die drastischen räumlichen Disparitäten, die unterschiedlichen Vor- und Nachteile der Regionen sowie die unterschiedlichen Möglichkeiten für die jeweiligen Bewohner, ihre individuellen Fähigkeiten auszubilden. Umgekehrt scheint die Konsequenz des Raumbildes der »Rurbanität« zu sein, dass sich in den Städten alle Annehmlichkeiten konzentrieren könnten (Redepennning 2017), während die ländlichen Regionen die Lasten der Spätmoderne tragen wie großmaßstäbige Energie- und Lebensmittelproduktion, Senken für die Kohlendioxidbindung, Räume für den Artenschutz und die Biodiversität, Retentionsräume für das Aufnehmen von Hochwasser, bevor es die Städte erreicht… Das Bild des Jahrhunderts der Städte hat die Implikation geweckt, dass (R)Urbanisierung die einzige Art künftiger menschlicher Zivilisation darstellt. Doch die überraschende Corona-Pandemie hat diesen singulären Entwicklungspfad urplötzlich infrage gestellt. Rem Koolhaas, als Architekt durch große urbane Projekte bekannt, hat sich im Jahr 2020 mit einer Ausstellung im Guggenheim Museum in New York die Frage gestellt, ob die fixe Vorstellung von moderner Zivilisation als »Verstädterung« angesichts der Externalisierung der Kosten unseres Lebensstils zulasten der ländlichen Räume nicht eine große Ignoranz gegenüber dem Großteil der Landfläche der Erde und der dort lebenden Menschen bedeute. Dazu sammelte sein Team weltweit diverse Beispiele zu den Entwicklungen in ländlichen Räumen, diese reichen von den Folgen der Katastrophe in Fukushima über die Schaffung neuer Dörfer in China, vom Landbau in Regionen des Permafrostes bis zu robotischem PixelFarming in den Niederlanden (OMA/Koolhaas 2020). Er plädiert für einen neuen Diskurs über die Bedeutung ländlicher Räume, welcher die möglichen Lösungen

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dieses Raumtyps für die aktuellen Menschheitsfragen in den Blick nimmt. Die Zukunftswege für ländliche Räume unterscheiden sich daher von dem Pfad der Urbanisierung, sie werden aber nicht unabhängig von urbanen Entwicklungen denkbar und beschreitbar sein.

Z UKUNFTSVORHERSAGE

IN DER

R ISIKOGESELLSCHAFT

Wir leben, so hat es Ulrich Beck vor mehr als drei Dezennien ausgedrückt, auf einem »zivilisatorischen Vulkan«, der »Risikogesellschaft« (Beck 1986: 7). Die Dynamik der Gefahr durch rasche Änderungen der Umgebung (damals: Tschernobyl, heute: Covid-19) wie bei schleichenden, nur langsam sichtbar werdenden Prozessen (demographischer Wandel, Klimawandel) verschiebt die Perspektive der Risikogesellschaft hin zu Fragen der Zukunftsstrategien. Zukunftsvorhersagen sind notwendig, um sich gegenüber der Dynamik von Gefahren zu wappnen und die regionsspezifische Vulnerabilität zu reduzieren (Resilienz). Doch Abwehrstrategien allein reichen nicht, hinzu muss die Fähigkeit wachsen, die Anpassungsmöglichkeiten zu erkennen, sich durch Überraschungen nur kurz irritieren zu lassen und die Entwicklungschancen zu lesen. Anders als gedacht, bietet das Jahrhundert der Städte den ländlichen Räumen eigenständige Möglichkeiten einer »Geographie der Gelegenheiten« (OECD 2020b). Diese Gelegenheiten schließen den »Mut zum Weniger« in einer reduktiven Moderne ein. Um mit Ernst Bloch zu schließen: »Die Sucht nach dem Besseren bleibt, auch wenn das Bessere noch so lange verhindert wird. Tritt das Gewünschte ein, so überrascht es ohnehin« (Bloch 1970: 45).

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Das sterbende Dorf Ein mediales Narrativ und die Rolle des sozialen Systems der Religion – ein diskursanalytischer Zugang R APHAEL S INGER

D AS STÄNDIGE S TERBEN

DES

D ORFES

IN

M EDIEN

Mit dem Vernehmen des Begriffs des »sterbenden Dorfes« gehen unweigerlich Assoziationen einher. Sie lassen sich auch auf die massenmediale (Re-)Produktion des Begriffs zurückführen. Bilder von Perspektivlosigkeit, räumlichen wie sozialen Abgehängt-Seins, Verlust und Niedergang sind nur einige Gedankenverknüpfungen, die hierzu täglich in medialen Berichterstattungen angeregt und aufgerufen werden. Die medialen Diskurse reproduzieren so einerseits Bilder und Narrative von und über Räume; und lassen dabei andererseits doch häufig unbestimmt, was mit einem »sterbenden Dorf« gemeint sein könnte. Das Konnotat des Begriffs überlagert hier allzu häufig dessen Denotat. Signifikat und Signifikant werden dabei vertauscht. Eine Annäherung an eine Bestimmung des Begriffs könnte über eine einfache quantitativ-empirische, raumwissenschaftliche Perspektive erfolgen, indem Siedlungen statistisch-objekthaft erfasst werden, die innerhalb der Raumordnung eines beliebigen Territoriums, wie der Bundesraumordnung oder den Landesentwicklungsplänen in Deutschland beispielsweise, als ›ländlich‹ klassifiziert werden; wobei die Entwicklung dieser Raumeinheiten hier zeitlich zu betrachten wäre. Orte könnten dann als ›sterbend‹ gekennzeichnet werden, wenn Einwohner/innenzahlen über einen bestimmten Zeitraum stetig und stark abgenommen haben. Eine andere Möglichkeit könnte sein, das Sterben als Antipode zum Leben zu betrachten, woraus grundsätzlich die paradoxe Frage resultiert, was an einem Dorf als Entität – ob als ein Imaginationsort, eine Siedlungsform oder als Sonstiges aufgefasst – überhaupt sterblich ist? Diese Überlegung entfernt sich schlussendlich von der eingangs erwähnten engmaschigen Quantifizierung und Statistifizierung sozial-

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struktureller Kennziffern und führt stattdessen zu der Frage, welches Leben hierbei adressiert wird. Anders gefragt: Handelt es sich um ein Leben im gesellschaftlichen oder im natürlichen Sinn? Hierzu hebt Giorgio Agamben im Rahmen seines HOMO SACER Projekts mit Blick auf den Begriff des Lebens gleich zu Beginn hervor, dass im Altgriechischem bíos, im Gegensatz zu zōē, »die Form oder Art und Weise des Lebens [bezeichnet], die einem einzelnen oder einer Gruppe eigen ist« (Agamben 2015: 11) – was dann eben kein natürliches Leben als solches mehr adressiert, welches in allen Lebewesen vorzufinden ist, sondern dasjenige der Gesellschaft. Ein gesellschaftliches Leben umfasst dann mehr als nur die binären Feststellungen, ob etwas tot oder lebendig sei. Es beinhaltet ebenso sprachlich artikulierte Gedanken, die über die Vorstellungen des Sterbens Auskunft geben und eine kommunikativ-diskursive Ebene mitumfassen. Analytisch zugänglich werden diese gesellschaftlichen Deutungsmuster etwa über die Beobachtung der Narrative in Zeitungsartikeln, die den Begriff des »sterbenden Dorfes« verwenden. Denn diese offenbaren zugleich auch mannigfaltige Bezugspunkte fernab objektiv-statistischer Betrachtungen. So berichtet ein Zeitungsartikel in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG vom 15. August 2000, in welchem das ›Sterben‹ des Ortes Horno in der Niederlausitz durch die Erweiterung des Braunkohletagebaus Jänschwalde thematisiert wird, in der Überschrift des Artikels, dass es sich dabei um eine »›Lebensbedrohliche Lästerung der Schöpfung‹« handele, welche die Existenz des Ortes bedrohe (Pergande 2000: 5). Es wird dort auf eine »Kommodifikation der Landschaft« verwiesen, die sich infolge einer schöpferischen Zerstörung im Schumpeter’schen Sinn einstelle (vgl. dazu Smith 2006: 21). Auf den ersten Blick ist leicht ersichtlich, dass an dieser Stelle durch politische, juristische und ökonomische Aspekte eine Form des ›Sterbens‹ einzuleiten versucht wird. Dem ›Sterben‹ liegen somit verschiedene Bezüge und Dimensionen zu Grunde, die auf unterschiedlichen Logiken fußen und sich im Prozess des ›Sterbens‹ vermengen. Durch eine differenzierte Betrachtung dieses Gemenges lassen sich noch weitere Bezüge aufspüren. Mit der Verwendung des Begriffs der Schöpfung wird ein ursprünglich religiöser Bezug hergestellt. Genauer gesagt handelt es sich um einen Bezug auf das Programm der Heiligen Schrift, wie etwa die in der christlichen Bibel im ersten Buch Moses (Genesis, Vers 1-2a und Vers 2b-25), die wiederum auf die ältere Schrift der jüdischen Tora (als erster Teil der Tanach) aufbaut. Anhand dieses Beispiels zeigt sich, dass innerhalb der Narrative um den Begriff des »sterbenden Dorfes« auch religiöse Bezüge hergestellt und vielleicht eher unbewusst innerhalb eines Diskurses mitkommuniziert werden. Das Sprechen über Religion ist in diesem Kontext – anders als etwa das Sprechen über Wirtschaft, Politik oder Kultur – vielleicht weniger erwartbar und kann gerade dadurch von starkem Forschungsinteresse sein. Genau an dieser Stelle möchte der Beitrag ansetzen

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STERBENDE

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und nach der Rolle der Religion bzw. des Religiösen in Diskursen um den Begriff des »sterbenden Dorfes« fragen. Dies geschieht anhand einer kulturgeographischen Fallstudie, die die Positionierungen und Funktionalisierungen des Religiösen als Ausdruck eines kommunizierten sozialen Systems betrachtet und von dieser Perspektive aus die Religion im Diskurs analysiert. Dabei zeigt sich, dass die Religion nicht etwa für etwas Althergebrachtes steht, für die in vermeintlich säkularen, (post-)modernen Gesellschaften kein Platz mehr ist; denn auch dort lassen sich Glaubenssätze wiederfinden. Habermas spricht in diesem Zusammenhang von einer »postsäkularen Gesellschaft«, innerhalb welcher es nach wie vor Versatzstücke des Glaubens und der Religion gibt (Habermas 2001). Ein besonderes Augenmerk ist darauf gerichtet, dass religiöse Bezugnahmen im Diskurs fast gleichgültig gegenüber den Herausforderungen ländlicher Räume in Erscheinung treten. Dabei sind die Ausgangslagen verschiedener räumlicher und sozialer Problemstellungen, die in den Narrativen als ›Sterben‹ thematisiert werden, fast schon egal – Religiöses erscheint jedoch in Folge dieser und stellt damit eine Art von Reaktion auf die Problemlagen dar, die dazu führen, dass ein Dorf ›sterben‹ soll. Da religiöse Bezugnahmen an höchst unterschiedlichen Orten im Diskurs erscheinen und auf diesen, wenn mitunter auch nur partiell, einzuwirken suchen, so bekräftigen sie dennoch die Wirkmächtigkeit von religiösen Narrativen. Eine religiös konnotierte Bildersprache erzeugt und vermittelt dabei spezifische Deutungsmuster, die die Vorstellungen, die sich Rezipienten vom »sterbenden Dorf« machen, beeinflussen und prägen; und zwar u.a. dadurch, dass diese Bildersprache immer auch – implizit wie explizit – Narrative aufruft, die z.B. teleologische Verläufe anzeigen und/oder normative Wertungen vornehmen. Damit erstellt sie nicht nur spezifische Bilder einer Zukunft auf dem Land, sondern nimmt zugleich auch deren Deutung vor. Der Beitrag gibt zunächst theoretische und methodische Einblicke in das Forschungsdesign der Fallstudie, um dann drei Diskursstränge zum Zusammenspiel des Begriffs vom »sterbenden Dorf« und dem sozialen System der Religion zu rekonstruieren. Abschließend werden die empirisch dargelegten Beobachtungen in den Kontext aktueller Problemlagen gesetzt und diskutiert.

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F ORSCHUNGSDESIGN , T HEORIE

UND

M ETHODIK

Das Zusammenspiel zwischen dem sozialen System der Religion und Diskursen zum »sterbenden Dorf« ist methodisch in eine kulturgeographische Studie eingebettet. Dabei ist die Vielfalt von Dörfern im Speziellen und ländlichen Räumen im Allgemeinen zu beachten; werden diese doch oftmals kommunikativ als Singulariatantum – der Ländliche Raum, das Land, das Dorf oder die Provinz – deklariert und somit als vermeintlich homogene Einheiten dargestellt. Demgegenüber werden diese im Rahmen der Forschungsarbeit metaphorisch als eine Art »Wimmelbild« angesehen, da es sehr viele unterschiedliche, teilweise gegensätzliche Facetten sind, welche sich über den Begriff des »sterbenden Dorfes« ausformieren. Es handelt sich hierbei um einen Versuch, räumliche und soziale Homogenität, die in diesen Diskursen zumeist vorherrscht, aufzubrechen und zugleich deren Wirkmächtigkeit zu problematisieren. Oftmals steht das Dorf als Gegensatz zur Stadt, welches zu separierten Narrativen à la ›Stadt blüht, Dorf stirbt‹ führt (vgl. Lefebvre 2016: 106). Aber auch in den öffentlichen und medialen Diskursen über Dörfer wird häufig binär zwischen »›sterbende[n]‹ und ›lebendige[n]‹ Dörfer[n]« unterschieden (Nell/Weiland 2014: 13). Theoretisch setzt die Analyse an der Schnittstelle von Systemtheorie und Kritischer Theorie, in Form der Diskurstheorie (vgl. Opitz 2013; Siri/Robnik 2016; Stäheli 2000), an.1 Dabei steht im Vordergrund, »wie das Verhältnis von Gegenstand/ Empirie und Kritik gefasst werden kann und welche Voraussetzungen hierfür in einer modernen Theoriearbeit gegeben sein müssen« (Möller/Siri 2016: 10). Beide gesellschaftstheoretischen Strömungen haben, so Fischer-Lescano (2013: 15), neben einer grundsätzlichen »Skepsis gegenüber Universalvernunft und Universalmoral« weitere Gemeinsamkeiten vorzuweisen. Sie bestehen u.a. in der Frage, wie das »Denken in gesellschaftssystemischen, institutionellen Zusammenhängen, die in ihrer Komplexität über einfache Reziprozitätsverhältnisse hinausgehen« (ebd.), betrachtet werden kann. Sie gehen dabei gleichfalls von der Annahme aus, »dass Gesellschaft auf fundamentalen Paradoxien, Antagonismen, Antinomien aufgebaut ist« (ebd.), und verbinden ihre Analysen mit einer Forderung nach »gesellschaftlicher (und nicht nur politischer) Emanzipation« (ebd.). Für den zu untersuchenden Gegenstand des »sterbenden Dorfes« hat die Grundlage systemtheoretischen Denkens nach Luhmann zur Folge, dass sie so etwas wie den Tod eines sozialen Systems gar nicht kennt und es beim »sterbenden Dorf«

1

Zur Orientierung eines solchen Unterfangens sei auf die beiden Sammelbände KRITISCHE SYSTEMTHEORIE von Marc Amstutz und Andreas Fischer-Lescano (2013) und SYSTEMTHEORIE UND GESELLSCHAFTSKRITIK von Kolja Möller und Jasmin Siri (2016) verwiesen, die sich diesem Projekt multiperspektivisch und interdisziplinär widmen und ein breites Spektrum von Kritik und Systemtheorie ausloten.

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zudem überhaupt erst fraglich ist, was an einem Dorf ›sterben‹ kann. Als Äquivalent wäre hierzu zu fragen, ob das Ende eines Interaktionssystems nicht auch mit einem ›Sterben‹ bspw. durch Metaphorik und/oder Analogiebildung gleichgesetzt werden kann und sich aufgrund dessen als forschende Grundperspektive eignet.2 Denn aus systemtheoretischen Grundhaltung ist anzunehmen, dass sich soziale Systeme durch die sogenannte »Autopoiesis« selbst erhalten und in diesem permanenten Prozess des Selbsterhalts auf die ständige Wandlung von Gesellschaft, über die dann schlicht kommuniziert wird oder eben nicht, verweisen und reagieren. Die Systeme befinden sich dadurch gleichermaßen in einem Zustand der Öffnung und Schließung, so dass sie sich ständig gegenseitig beobachtend adaptieren und re-konfigurieren. Gerade mit Blick auf mediale Darstellungen ländlicher und dörflicher Räume lässt sich gegenwärtig gegenteilig beobachten, dass es zu einer Wiederkehr und Konjunktur kommunikativer Vorstellungen über ländliche Lebensverhältnisse und deren Figuren kommt, so dass diese als »imaginäre Dörfer« innerhalb der Kommunikation angesehen werden können (vgl. Nell/Weiland 2014). Von einem ›Sterben‹ in systemischer Hinsicht kann deshalb sicherlich nicht gesprochen werden. Dadurch werden dann innerhalb der Kommunikation auch einige Kontinuitätslinien und Brüche ersichtlich. Foucault hält zu solchen fest, dass sich »an denselben Orten zwei oder drei Jahrhunderte später die gleichen Formeln des Ausschlusses in verblüffender Ähnlichkeit wiederfinden« lassen (Foucault 2013: 23). Im schlimmsten Fall werden dann allerdings ständig die gleichen Attribute der Differenzsetzung unhinterfragt re-artikuliert und mittransportiert. Ein prominentes und wirkmächtiges Beispiel dafür ist sicherlich Ferdinand Tönnies’ trennende Unterscheidung von Gesellschaft in der Stadt und Gemeinschaft auf dem Dorf, die die wissenschaftlichen wie alltagsweltlichen Bezugnahmen auf und Diskurse um ländliche Räume im 20. Jahrhundert nahezu durchgängig beeinflusste und auch gegenwärtig noch weitergeführt wird. Darüber hinaus kam und kommt es immer wieder auch zu rein willkürlichen Selektionen von einzelnen Elementen (z.B.: des Idyllischen), die dann als Tropus stellvertretend und übergeneralisierend, pars pro toto, für ›das Ganze‹ standen und/oder stehen. Demgegenüber ist jedoch vielmehr zu ergründen, von welchen Positionen welche Bedeutungen zugeschrieben werden. Konsequent weitergedacht heißt dies, dass innerhalb von diskursiven Formationen nicht zu schnell der Blick verschlossen sein sollte.3

2

Hier zeigt sich auch der Unterschied zur Wüstungsforschung, da mit dem ›Sterben‹ auf eine unabgeschlossene Prozesshaftigkeit rekurriert wird und nicht auf ein Produkt, welches bereits ein Ende erfahren hat, wie es (teilweise) bei Untersuchungen von Wüstungen der Fall ist. Zu Wüstungserscheinungen und lost villages vgl. Schneider (2018: 53).

3

Mit Luhmann gesprochen wäre ein solches Vorgehen eine »self-fulfilling prophecy, die die Bedingungen ihrer Verwirklichung selbst erzeugt« (Luhmann 2004: 198).

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Eine systemische Analyse des Diskurses kann hier gegensteuern, indem sie nicht mehr nur ein ›Sterben‹ beobachtet, sondern die Vielzahl an Sinnzuschreibungen verschiedener Systeme, bzw. auch das Fehlen von Sinn (Stäheli 2000: 64), als Referenzpunkt des ›Sterbens‹ eruiert. Auf diese Weise können auch »Paradoxien« (ebd.: 46ff.) und »blinde Flecken« (ebd.: 77ff.) innerhalb des Diskurses angesprochen werden. Da Luhmann von acht sozialen Systemen (Politik, Wirtschaft, Erziehung, Massenmedien, Religion, Recht, Wissenschaft, Kunst) in einer funktional-differenzierten Gesellschaft ausgeht, dienen diese im Rahmen der Analyse als stützende Grundperspektiven, von welchen aus der Diskurs systematisch durchleuchtet wird. In einem solchen Beziehungsgeflecht werden dann je nach Systemperspektive andere Beobachtungen eines Systems wechselseitig ins Zentrum einer Problematisierung gerückt. Die Kenntnis über verschiedene Sinnzuschreibungen zu einem Diskurs kann dann wiederum je nach systemischer Perspektive und funktionaler Differenzierung anders ausfallen (vgl. Nassehi 2011). Der hier vorgeschlagene Zugang ist das Referenzieren des Systems der Massenmedien und stellt somit schon eine reduzierte Beobachtungsposition dar. Speziell auf einen Diskurs bezogen heißt das, dass mit Beobachtungen im Diskurs bereits von einer allumfassenden Beobachtungsposition abgerückt wird – das System der Religion sieht für eine solche Beobachterposition die Figur des Gottes vor. Das System der Massenmedien wurde als Zugang gewählt, da diese im Diskurs als Ort der Berichterstattung dienen und dabei die (vermeintlich) schizophrene Position eines »unbeteiligten-beteiligten Zuschauers« (Luhmann 2018: 1100) einnehmen. Sie sind mit der Form des Diskurses verwoben. Das hat auch eine inhaltliche und rezeptive Dimension: »Denn das Verschwinden wird häufig erst dann zur Kenntnis genommen, wenn es medial vermittelt wird« (Weiland 2018: 39). Die daraus entwickelte Frageform fragt dann nicht mehr: ›Was ist ein »sterbendes Dorf«?‹, sondern: ›Wie verortet das soziale System der Massenmedien das »sterbende Dorf« in acht unterschiedlichen Systemen?‹4 Empirisch wurden über einen Zeitraum von 1955 bis 2018 insgesamt 187 deutschsprachige Zeitungsartikel aus überregionalen Zeitungen (BILD, FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG, DER SPIEGEL, SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, DIE WELT, DIE

4

Wobei es sich dann auch um die sich darin befindlichen Unterscheidungsprozesse der Selbst- und Fremdreferenz eines Systems handelt (Luhmann 2018: 754). Mittels dieses Vorgehens wird der Diskurs in ein möglichst facettenreiches Bild aufgefächert. Dies berücksichtigt neben den Bezügen zu sozialen Systemen auch die in die Kommunikation eingeschriebenen Zeitlichkeiten und Räumlichkeiten.

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ZEIT) analysiert, welche die Begriffe des »sterbenden Dorfes« bzw. »sterbende Dörfer« beinhalten (siehe Abb. 1).5 Abb. 1: Mediale Bezugnahmen auf »sterbende Dörfer«.

Eigene Darstellung

Im hier verfolgten methodischen Zugriff werden die Begriffe in einer ersten Annäherung als »Leere Signifikanten« (Laclau/Mouffe 1985) angesehen, welchen zunächst keine Bedeutungszuschreibung zukommt und welche sich somit in systemischer Hinsicht in einem Zustand eines »unmarked state« bzw. »space« (Stäheli 2000:

5

Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die Archive der jeweiligen Zeitungen nicht über den gesamten Zeitraum verfügbar sind, weshalb lediglich von 1998 bis 2018 alle ausgewählten Medien zur Analyse zur Verfügung stehen, was allerdings aufgrund einer vornehmlich qualitativen Betrachtung zu vernachlässigen ist. Zudem ist die Archivierungssystematik der Verlage verschieden, so dass teilweise Kopien der Printausgaben, wie auch Transkriptionen dieser, dort vorzufinden sind. Teilweise ist den Artikeln deshalb nicht eindeutig entnehmbar, welcher Zeitungsseite sie entstammen. Zudem listen die Archive bei manchen Artikeln nicht die Autor/innen auf. Artikel, bei denen dies der Fall ist, werden dennoch zur Analyse herangezogen und mit dem Verweis »Ohne Autorin« und »Ohne Seite« versehen.

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82) befinden. Dies ermöglicht, die spezifischen Zuschreibungen, die innerhalb des medialen Diskurses vorgenommen und vermittelt werden, zu ergründen. Im Folgenden analysiert der Beitrag aus der Perspektive des sozialen Systems der Religion, welche religiösen Narrative im Diskurs über das »sterbenden Dorf« verwendet werden. Nach Luhmann (1982) hat das soziale System der Religion die Funktion der Kontingenzausschaltung und Diakonie inne und verwendet als Medium den Glauben entlang des binären Codes Immanenz/Transzendenz. Es nutzt dafür die Programme der Offenbarung, der heiligen Schrift und Dogmatik, welche von Organisationen wie z.B. Kirchen oder Klosterorden genutzt werden. In welcher Form diese systemischen Bezüge der Religion in Diskursen des »sterbenden Dorfes« vorzufinden sind, zeigt die folgende empirische Analyse.

E MPIRISCHE E RGEBNISSE : »S TERBENDES DAS SOZIALE S YSTEM DER R ELIGION

D ORF «

UND

Den quantitativ höchsten kommunizierten Anteil am Diskurs über »sterbende Dörfer« haben die Systeme der Politik und der Wirtschaft.6 Über sie wird zu jeweils ca. einem Drittel aller Absätze der Zeitungsartikel kommuniziert; sie treten dadurch quantitativ als dominante Systeme im Diskurs in Erscheinung. Abb. 2: Quantitative Verteilung der sozialen Systeme im Diskurs des »sterbenden Dorfs« (n = 6.484 Codiereinheiten).

Eigene Darstellung

6

Zur quantitativen Erfassung wurden die Artikel in eine Codier-Software eingespeist und absatzweise mit Codierungen zu Systembezügen versehen. Der gesamte Textkorpus konnte so mit 6.484 Codierungen zu sozialen Systemen durchparkettiert werden.

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Das System der Religion wird mit ca. sechs Prozent eher gering kommuniziert; dennoch ist es aus qualitativer Sicht nicht zu unterschätzen, wie im Folgenden gezeigt wird. Dabei ist es diesem medialen Diskurs zu eigen, dass sich in den Texten mit religiösen Bezugnahmen – im Unterschied etwa zu wirtschaftlichen oder politischen – vornehmlich keine Ausführungen zu den Gründen des ›Sterbens‹ finden lassen. Vielmehr erscheint die Religion hier als Resultat von Krisensituationen; und zwar unabhängig davon, um welche Formen und Dimensionen des ›Sterbens‹ es sich handelt. Das kann am Beispiel von drei Diskurssträngen beobachtet werden. Diese thematisieren höchst unterschiedliche soziale und räumliche Bruchstellen und Fluchtpunkte, die im Zusammenhang mit der Religion stehen. Sie umfassen dabei (1.) eine Art Verräumlichung der Seele und der Reinheit eines Ortes. Sie adressieren (2.) die Funktion des Pastors, die Funktionalisierung der Pastorale und gehen einem Re-entry von Religion nach. Ferner beinhaltet dies (3.) religiöse Stätten als Orte des Widerstands, die gleichzeitig auch davon zeugen, was vom Verschwundenen übrigbleibt. Verräumlichung der Seele und Reinheit des Ortes Der räumliche Bezug zur Seele findet sich an einer Vielzahl von Stellen innerhalb des Diskurses. Während der Eigenname eines genannten Dorfes meist nur über einen der ausgewählten Artikel Benennung findet – was bei städtischen Eigennamen nicht der Fall ist –, so finden sich die Orte immer wieder mit einem ähnlichen Dachbegriff versehen, der die Seele mitumfasst und sich über eine Vielzahl von Artikeln ausformiert. Es handelt sich dabei um ein »Seelen-Dorf«, eine »Seelen-Gemeinde« oder einen »Seelen-Ort«, die jeweils unabhängig von ihrer konkreten geographischen Vorortung – sei es nun in Grönland, Japan oder sonst irgendwo – lokalisiert werden (vgl. Andres 2002: 71, Bauer/Okahara 2016: 11, Fasel 2011: 8). Die Imaginationen zu diesen Orten formieren sich nicht isoliert, sondern sind in das Raumbild eines malerischen Landschaftsensembles eingezeichnet. Die Landschaften werden dabei einer Stilisierung unterzogen und »verdichten sich zum Bild einer idyllischen Landschaft« (Albers 2011: 60). Sie werden, etwas zugespitzt formuliert, mystifiziert und im äußersten Maße sakralisiert.7 Es kommt hierbei zu einem »Sakraltransfer«, einer Übertragung des Absoluten und des Gottgegebenen auf weltliche Gebilde, um sie für die Menschen unhinterfragbar und verfügbar zu machen

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So sucht etwa ein im Jahr 2003 erschienener Artikel in der ZEIT ganz konkret nach der »russischen Seele«. Trotz der Tatsache, dass der Text auch auf die symbolische Konstruktion dieser Vorstellung verweist, indem er etwa anführt, dass »die ›russische Seele‹ [...] ein Relikt des romantischen 19. Jahrhunderts, eine diffuse Vermutung« (Schüle 2003: 15) und der Begriff der Seele »mittlerweile sogar ein Klischee, und bestimmt ein sehr deutsches« (ebd.) sei – er findet diese Seele letztlich doch in den (»sterbenden«) russischen Dörfern.

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(Minta 2019: 35). Dies zeigt sich etwa darin, dass kulturlandschaftliche Elemente naturalisiert werden und die vermeintlich sich darin befindende Natur die Funktion einer »Ersatzreligion« (Möller 2013: 20) einnimmt.8 Darauf verweist ebenso ein Artikel in der WELT, der die biblische Geschichte von Kain und Abel als Repräsentanten von städtischer und ländlicher Lebensweise entlang der Produktionsweisen des Ackerbauers (durch die Urbarmachung des Bodens) und des Schäfers (durch die Ausübung in der Natur) gegenüberstellt und daraus schließt, dass Letzterer ›Gottes Gnaden‹ unterstellt sei. Als Folgerung erscheint der ›moderne‹ Kain als Wanderer und naturverbundenes Subjekt, welcher unter der heutigen Gunst Gottes stehen soll: »Den Städtebauer aber, der die Natur zerstört, den mag er [Gott, R.S.] nicht. So kam eine weitere Ursünde in die Welt: Die Zivilisierten ruinieren die Welt und zerstören die Heimat der Naturburschen [...]. Die Zivilisierten, so die politisch korrekte Ansicht, verschwenden die Ressourcen, die ihnen die guten Wilden hinterlassen haben. Um Buße zu tun, laufen wir in den Biomarkt, engagieren uns für die letzten Brutgebiete der Großtrappen und halten infrastrukturelle Großprojekte für Teufelswerk« (Seewald 2012: 2).

Es wird dabei dem ›Sterben‹ das Leben gegenübergestellt. Besonders das »gute Leben auf dem Land«, welches sich an den Narrativen einer »idyllischen Ländlichkeit« (vgl. Baumann 2018, Redepenning 2013) orientiert, ist darin unverkennbar vorzufinden (vgl. Wiedemann 1988: 168). In den Artikeln zeigt sich dies besonders in der dramaturgischen Hinführung, die das ›Sterben‹ als etwas Konterkartierendes und Bedrohliches zu diesen in Erscheinung treten lässt. Mit den Bildern einer ›harmonischen Welt‹ oder Aussagen à la ›alles könnte an diesem Ort so schön sein‹, gar »das Paradies« (Fitzthum 1999: 5), ›wäre da nicht irgendetwas, was dieses Idyll trübt‹, wird ein eschatologisches »sterbendes Idyll« (Brill 2006: 8) konstruiert, welches linear auf sein Ende zuläuft: »Michelsberg ist eine heile Welt, eine Idylle wie aus Opas Lesebuch – zumindest äußerlich: rostbraun, gelb und blau gestrichene Bauernhäuser mit Krüppelwalm und Weinlaub an den Giebeln, umgeben von Obstbäumen und wogenden Sonnenblumenwäldern, dazwischen Kopfsteinpflaster, auf denen aufgeregte Gänsebataillone paradieren. [...] Michelsberg ist ein sterbendes Dorf« (Wiedemann 1988: 168).

Die Idee der Reinheit ist darin unverkennbar; und die Kirche wie auch der Kirchturm stellen dabei kontinuierlich wiederkehrende Bestandteile des schönen – aber eben

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Dies treffe, so Lenzen (2013) in einer Rezension zu Andreas Möllers Buch DAS GRÜNE GEWISSEN (2013), insbesondere auch für die »›Generation Landlust‹, [mit] ihren Illusionen und den Inkonsistenzen ihrer Naturbegeisterung« (Lenzen 2013: 28) zu.

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»sterbenden« – Landschaftsbilds dar (vgl. Hoffmann 1998: 1, Kuhn 2002: 6, Rübesamen 1992: 5).9 Das damit erzeugte Landschaftsbild wird dann wiederum auch mit einer stellvertretenden Funktion belegt: »Gerade die Deutschen haben ein spezielles Verhältnis zum Land. Kleine Orte mit Fachwerkhäuschen und Kirchen, umgeben von Wiesen, prägen seit jeher das Selbstbild der Nation« (Hampel/Ratzesberger 2016: 32). Diese Bezugnahmen imaginieren auf diese Weise einen Sehnsuchtsraum mit, welcher sich erst als Gegensatz zur Stadt ausformieren kann und dessen verbindende Trennung so mitschwebt, ohne die das Idyll gar nicht erst entstehen kann: »Für die Moskauer ist das Dorf ein Ort der Reinheit und der Stille [...] [u]nd da ist Tanja, die das halbe Jahr mit den Dörflern lebt, Relikt eines gescheiterten Traums vom reinen Dorfleben« (Hoffmann 1998: 1). Das Dorf fungiert im Diskurs als ein Gegen-Begriff zur Stadt, was anhand der Verwendungsweisen des räumlichen Begriffes der »Gegend« beobachtet werden kann.10 Mit diesem wird allerdings nicht nur eine Idylle vermittelt, sondern auch die Figur eines »profillosen und verschwindenden Ländlichen« (Redepenning 2013: 413) konstruiert, dem wiederum etwas Trostloses, Zurückgebliebenes und Vergängliches (vgl. Hampel/Ratzesberger 2016: 32) anhaftet. Entsprechend wird ein (»sterbendes«) Dorf irgendwo im Nirgendwo zwischen städtischen und nationalstaatlichen Siedlungssystemen verortet und als bedeutungs- und funktionslos angesehen. Die Artikel fokussieren hierbei »eine gottverlassene Gegend« (Hoffmann 1998: 1), »Geistergegenden« (Seibel 2012: 8); die Dörfer liegen »in einer beinahe vergessenen Gegend, einer Gegend, aus der viele wegziehen« (Timtschenko 2016: 14) oder schlicht in »[e]ine[r] einsame[n] Gegend« (Andres 2002: 71): »Selbst auf detaillierten Deutschlandkarten dürfte Licherode kaum zu finden sein. [...] Obwohl Licherode für sich beanspruchen kann, einer der geographisch zentralsten Orte Deutschlands zu sein, kommt hier das Gefühl auf, das Ende der Welt erreicht zu haben. Zugegeben, das Weltende von Licherode ist schön. Der Weg dorthin schlängelt sich durch ein anmutiges Tal

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Um nur ein Beispiel für solche Bezugnahmen anzuführen: »Die sterbenden Dörfer haben in ihrer Mitte eine Kirche und mit dieser Rituale und einen Lebensrhythmus« (Kerschbaumer 2011: 30).

10 Dabei ist der Begriff aus etymologischer Sicht besonders spannend, da dort eine Fülle an Verbindungen zu Sprachverwandtschaften angezeigt wird und er ein Verschwimmen von Landschaft und Ländlichem beinhaltet: »Gegend f. ›Landschaft, Gebiet‹, mhd. gegende, gegent ist (wie anders gebildetes ahd. geginōti, Hs. 13. Jh., mhd. gegenōte, mnd. gegenōde) eine Ableitung von der Präposition ahd. gagan, gegin (s. gegen). Vorbild ist wahrscheinlich afrz. contree, frz. contrée, aus vlat. *(regio) contrāta ›gegenüberliegendes Land‹ (zur Präposition lat. contrā ›gegen‹); vgl. auch ital. contrada ›Gegend‹« (Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache: https://www.dwds.de/wb/Gegend).

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inmitten einer hügeligen Mittelgebirgslandschaft, auf deren Weiden Kühe, Ziegen und Schafe grasen« (Müller 1999: 14).

Starre Grenzen zwischen Dorf und Ländlichem können innerhalb dieser Figurationen nicht mehr identifiziert werden – sofern dies jemals möglich war und ist. Sie vereinigen und vermengen sich vielmehr zu einem Konglomerat der Landschaft, wobei es in einer doch so trüben Art und Weise zum Verschwimmen eines ganzen Spektrums an normativen Ortszuschreibungen kommt; Imaginationen von Schönheit über Trostlosigkeit bis hin zur Gottverlassenheit und der Annahme, dass hier etwas zum Sterben verurteilt sei, lassen sich innerhalb dieser Darstellungen vorfinden. Diese Trübheit beinhaltet ferner eine Unschärfe-Relation bei der Verortung eines Dorfes, über das gesprochen wird, wodurch die Städte mit der Nennung ihres Namens die klaren Koordinaten eines Zentrums zur Orientierung darstellen und das in der Peripherie liegende Dorf als dessen unmarkierte Seite dazwischen erscheint. Allerdings erzeugt erst diese semantische Nebulösität im Unterschied und in Abgrenzung zur Stadt auch den Nährboden für die (Glaubens-)Vorstellungen, die in die landschaftlichen Bildvorräte hineinprojiziert werden und die sich somit überhaupt erst ausformieren lassen. Der äußerste Ausdruck dieses Glaubens gipfelt schließlich in einer diskursiven Verreinlichung des (»sterbenden«) Dorfes. Es wird dabei als derjenige Ort imaginiert, an dem sich eben jene Seele befindet und an den sie auch gebunden sein soll. Was nicht zuletzt aufgrund der damit vorgenommenen normativen Grundierung auch eine spezifische Wirkung des Raumausschnitts zeitigt, die sowohl emotionalisiert als auch kritisiert; schließlich ist die metaphorisch erzeugte sterbende Seele, die hier in Form des »sterbenden Dorfes« erscheint, als grundsätzlich erhaltenswert zu betrachten. Pastor(ale) und Re-entry der Religion Ein zweiter Bezugspunkt des Systems der Religion im Diskurs betrifft den Geistlichen, denn oftmals werden die Geistlichen als Experten für das Leben und Sterben vor Ort befragt. Mitunter sind sie es, die den Begriff des »sterbenden Dorfes« überhaupt erst verwenden: »›Hopfmannsfeld ist ein aussterbendes Dorf‹, sagt Pfarrer Dieter Borschel« (Staib 2013: 6), »›[e]in Kranker wird nicht gern an seine Zukunft erinnert‹. Störmthal sei ein sterbendes Dorf« (Ulfkotte 1987: 3), »[e]s werde viel gestorben in Faraoani und wenig Leben geboren, der Pfarrer hätte es auch schon beklagt. Dann sagt er einen Satz, kurz und hart: ›Faraoani ist ein sterbendes Dorf‹« (Klein 2014: 3). Der Geistliche wird befragt; und zwar unabhängig vom thematischen Gegenstand des Artikels, mit welchem das Dorf und das ›Sterben‹ zusammengeführt werden. Es spielt dabei allerdings keine besondere Rolle, über welchen Themenstrang der

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Geistliche befragt wird – ob über demographische Schrumpfung und sozio-ökonomischen Strukturwandel in Hessen oder Bayern, über die Abbaggerungen von Dörfern infolge des Ausbreitens des Braunkohletagebaus im Leipziger Umland oder in der Niederlausitz vor und nach der Wende, über rheinländische Kohlereviere oder über die Unterdrückungen von deutschsprachigen Minderheiten im Banat während des Kommunismus in Rumänien (vgl. Kurtz 2007: 6, Pergande 2000: 5, Ulfkotte 1987: 3, Wiedemann 1988: 168, Winandy 1976: 2). Dem Geistlichen kommt dadurch im Diskurs eine besondere Position zugute, seine Funktion scheint sein Sprechen und seine Aussagen universell zu legitimieren. Als geistliche Autorität vor Ort vermittelt er Informationen und deutet diese zugleich auch. Eine Adaption des Sprechens des Geistlichen findet sich auch innerhalb einer politischen Funktion eingeschrieben, der Pastorale. Foucault nennt im Rahmen seiner Vorlesungen zur GESCHICHTE DER GOUVERNEMENTALITÄT eine spezifische Form der Macht »Pastoralmacht« und verwendet hierfür die Figur des Hirten, der stellvertretend auch als Figur eines Kümmerers erscheint, mittels derer sich das Pastorat der Seelen auch in die politische Regierung einschreibt (Foucault 2015: 331) bzw. das Pastorat den Prototyp der Regierung bildet.11 Auf das Fehlen dieser Pastorale wird im Diskurs wiederkehrend verwiesen. Dabei wird angeführt, dass die Organisationssysteme der Religion (hier: Kirchen) und Politik (hier: Staaten) sich seit den 1960er und 1970er Jahren in der BRD und (West-)Europa – nach dem Fall des Eisernen Vorhangs auch in der DDR und anderen ehemaligen Sowjetstaaten – immer weiter flächenmäßig zurückgezogen haben. In den Bezugnahmen hat dies zur Folge, dass sich »der Pastor [...] fünfteln« muss (von Petersdorff 2012: 37); oder dass es vor Ort »›nur [noch] einen halben Pastor‹« gibt (Friedrichsen 1978: 5).12 Infolge dieses Rückzuges kommt es zu einer Sehnsucht nach einer gewissen Kümmerfunktion, die ihren Ausdruck sowohl in einer geistlichen als auch einer weltlichen Führung findet: »Kümmert sich die Politik zu wenig um das Land? Bund und Länder haben gravierende Fehler gemacht. Mit den zentralistischen Gebietsreformen in den 1960er- und 1970er-Jahren im Westen und nach der Wiedervereinigung auch im Osten wurden größere Verwaltungseinheiten

11 Siehe hierzu ausführlich das Kapitel zur »Vorsehungsmaschine« in Agambens HERRSCHAFT UND

HERRLICHKEIT: »Foucault verortet den Ursprung der Regierungstechniken

im christlichen Pastorat, jener ›Führung der Seelen‹ (regimen animarum), die als ›Technik der Techniken‹ die Tätigkeit der Kirche bis ins 18. Jahrhundert bestimmte, als es zum ›Modell‹, zur ›Matrix‹ der politischen Regierung wurde« (Agamben 2014: 136). 12 Dieser halbe Pastor wird im Artikel folgendermaßen erklärt: »Er kommt aus dem Nachbarort, wenn einer stirbt oder wenn eine Taufe ansteht; selten genug ist es« (Friedrichsen 1978: 5).

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geschaffen und über Jahrhunderte gewachsene Strukturen der lokalen Selbstverantwortung zerstört. [...] Das hat vielfach zu Resignation und Politikverdrossenheit geführt. Die Menschen haben das Gefühl, dass sich der Staat für sie nicht interessiert – auch die Kirchen nicht« (Ehrenstein 2016: 8).

Als Kompensation dieses Rückzugs wird in den Artikeln ab dem Ende der Jahrtausendwende vermehrt auf ehrenamtliche Strukturen verwiesen, die infolgedessen Strukturen gegenüber dem ›Sterben‹ implementieren sollen; wobei auch immer wieder die Kirchengemeinden als wichtige Akteure vor Ort konnotiert werden. Zur Bestätigung berufen sich die Artikel auf wissenschaftliche Studien, die ebenfalls auf die als relevant erachtete Funktion des Kümmerns abzielen (vgl. Ehrenstein 2016: 8, von Petersdorff 2012: 37). Im Kontext von Krisensituationen ist die Rückbesinnung auf den Glauben an die gelebte Gemeinschaftlichkeit vor Ort oftmals einer der Aspekte, denen zugeschrieben wird, einen Niedergang oder ein ›Sterben‹ umkehren zu können: »Wenn sich Menschen in einer Gemeinde engagieren und der Bürgermeister mitzieht, dann läuft es« (Elger et al. 2017: 64). Dabei gilt dann die Vereinsdichte, zu deren Bestandteil auch die örtlichen Kirchengemeinden zählen, als ein wichtiger Indikator, da gerade dort auch das Kümmern in Erscheinung tritt: »Entscheidend sei das Engagement einzelner Menschen; diese ›Kümmerer‹ stecken dann oft alle anderen mit ihrem Schwung an. Die Erfahrung, sowohl in Rumbach als auch in Klingholz’ Studien, zeigt dabei: Die Technik spielt bei diesem Prozess eine eher untergeordnete Rolle. Wichtig ist zunächst die lebendige Dorfkultur – dann folgen auch die (informations)technischen Möglichkeiten« (Asendorpf 2015: 43).

Es sind dann nicht nur Fragen einer infrastrukturellen und materiell bezogenen Daseinsvorsorge, die zur zukünftigen Gestaltung von Orten im Diskurs Bedeutung erlangen, sondern auch Fragen nach dem Wunsch einer Daseinsfürsorge, die sich darin mitartikulieren. Denn: »›Inzwischen ziehen sogar die Alten weg‹, sagt Müller [der Bürgermeister von Bayerisch Eisenstein, R.S.]. Es ist ja keiner mehr da, der sich um sie kümmern könnte« (Frank 2008: 47). In Orten des ehemaligen Realkommunismus zeigt sich diese Sehnsucht besonders. Durch das identitäre Vakuum, welches der Fall der Sowjetunion nach sich zog, wird dort die Sinnstiftung wieder in der kollektiv-institutionalisierten Religion gesucht, die während dieser Zeit unterdrückt wurde und nun wieder öffentlich ausgelebt werden kann. Es lassen sich zudem zahlreiche Erwähnungen zur Restauration von Klöstern und Kirchen in ländlichen Räumen und Dörfern – meist politisch subventioniert und nicht nur in Russland – finden, die ein Anbandeln der Systeme Religion und Politik erahnen lassen; und somit auch der damit verbundenen Steuerungstechnologien des Regierens (vgl. Andres 2002: 71, Hoffmann 1998: 1, Müller 2000: 9, Rübesamen 1992: 5, Schüle 2003: 15, Ulfkotte 1987: 3). Dadurch wird dann die

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Anpassungsfähigkeit des Systems der Religion mitakzentuiert. Dies markiert auch dessen Fähigkeit, sich autopoietisch über Raum und Zeit stetig zu erneuern und mit anderen Systemen in Verbindung zu treten. Es vollzieht sich dabei eine Wiederkehr, ein Re-entry der Religion in das gesellschaftliche Leben der Dörfer. Sehr greifbar findet sich dies innerhalb der Berichterstattung über das Kloster Volkenroda. Die Berichte über dieses Kloster stellen eine Rarität im Diskurs dar, da in diesem seltenen Falle ein Dorf mehrmals im Zentrum verschiedener Artikel steht. Der kleine Ort in Thüringen beherbergt ein 1131 gegründetes Zisterzienserkloster, welches von 1968 an bis zum Ende der DDR-Zeit leer stand. Im Zuge der Wende wurde das Kloster im Jahr 1994 von Gnadenthaler Ordensbrüdern »aus dem Westen« übernommen, die eine Umkehrung des Verfalls des Gebäudes einleiteten. Von diesem Gebäudekomplex ausgehend wurde die Zuführung von Sinn auf den ganzen Ort ausgedehnt, so dass gar von einem »Wunder« gesprochen wird (Müller 2000: 9; Andres 2002: 71): »Was bislang wiedererstanden ist, kann sich sehen lassen. Aus den steinernen Ruinen des Klosters ragt eine Glas-Stahl-Konstruktion auf, die als Jugendbildungsstätte dient. Es wurden Übernachtungsmöglichkeiten geschaffen, Wege angelegt und Gebäude saniert. Der Kirche ist ihre einstige Baufälligkeit nicht mehr anzusehen. Dächer sind frisch gedeckt. In Volkenroda sind die ersten neuen Häuser entstanden« (Müller 2000: 9).

Hierbei kann beobachtet werden, wie das traditionelle Mönchtum als Organisation der Religion sich nicht nur mit dem System der Politik strukturell koppelt, sondern ebenso, wie es sich in Form von Arbeitsmaßnahmen und partieller Umnutzungen des Gebäudekomplexes mit dem System der Wirtschaft verbindet, um neue Impulse vor Ort freisetzen zu können. Dergestalt, dass neue Impulse über das Wiederentdecken alter Organisationsformen implementiert werden, lässt sich ein solches Vorgehen als »soziale Innovation« bezeichnen (Howaldt/Schwarz 2010). Damit ist die »absichtliche Neukonfiguration von Sozialpraktiken« gemeint, die unter anderem darin besteht, »deren soziale Zuordnung und Beurteilung durch verschiedene Gruppen in einen verborgen anmutenden Zusammenhang zu setzen« (ebd.: 10). Der verborgene Zusammenhang stellt hier die politische und ökonomische Organisation der Arbeit dar, welche tief im Orden- und Mönchstum verwurzelt ist und sich erst später von Klöstern aus flächendeckend in die (kapitalistische) Moderne einschreibt.13

13 Am offensichtlichsten findet sich das sicherlich beim Motto »Ora et labora« (»bete und arbeite«) des Ordens der Benediktiner. Zu einer genealogischen Entwicklung des Ordenund Mönchstums sowie dessen Einfließens in das Leben der Gesellschaft siehe Agambens HÖCHSTE ARMUT. ORDENSREGELN UND LEBENSFORM. Das Kloster ist dort die »Werkstatt« als »officina divinae artis« (Agamben 2016: 53) und verweist dabei auf die

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Der Inwertsetzung des Klosters wird im Diskurs zugeschrieben, dass sie im Ort Hoffnung auf eine Zukunft erzeugt habe. »Aus Gnadenthal brachte sie die Erfahrung mit, wie ein sterbendes Dorf wieder in einen Ort der Hoffnung zu wandeln war« (Müller 2000: 9). Dabei wird auch darauf hingewiesen, dass es sich nicht um eine einzige Maßnahme handelt, die wunderhaft alles zum Guten wendet. So heißt es etwa: »Die Bruderschaft war nicht das alleinige Allheilmittel für die marode Gegend; aber sie war die treibende Kraft für den Aufbruch, darin sind sich auch die anfänglichen Skeptiker aus Volkenroda einig« (Andres 2002: 71). Zudem hat die Weltausstellung Expo 2000 den Ort in die Reihe ihrer Projekte aufgenommen: »Volkenroda vereint zwei Projekte in einem: Den Wiederaufbau des Klosters und das Dorf 2000 als Beispiel für eine nachhaltige Landentwicklung. Beispiele wie das zweitgenannte gibt es mehrere in Deutschland, und die Dörfer lernen voneinander« (Müller 2000: 9). Das Beispiel des Klosters zeigt in den Bezugnahmen, wie wichtig die Glaubenskraft der Religion für die zukünftige Gestaltung eines Ortes sein kann, denn erst der Glauben lässt hierbei, so die Berichte, Hoffnung (auf eine Zukunft) in einem Ort aufkeimen. Der kollektivgetragene Glauben an eine Zukunft findet sich ebenfalls auch an weiteren Stellen des Diskurses; und zwar an ganz unterschiedlichen Orten mit jeweils verschiedenen Problemlagen, die als Ausdruck des Sterbens angesehen werden, sei es in Italien, der Schweiz, Österreich, in deutschen Regionen oder in Griechenland: »Das Ganze ist natürlich ein Wagnis, aber es gibt in Griechenland inzwischen schon mehrere Beispiele, in denen die Wiederbelebung verwaister Dörfer gelungen ist« (Schlötzer 2005: 3). Damit geht ebenso eine Überzeugungsarbeit einher, denn »[z]u Beginn hat keiner an dieses Projekt geglaubt« (Ritter 2016: 54) und bekräftigt die Stellung des Glaubens und der Religion zur zukünftigen Gestaltung und Entwicklung von Dörfern. Klöster können dabei als Orte der Findung fungieren und zum kollektiven »brainstorming« dienen. An und mit ihnen wird diskutiert, »›wie sich aus Altem schönes Neues machen lässt‹« (Schuster 2017: 29). Gerade vor dem Hintergrund des Rückzugs formalorganisierter staatlicher und kirchlicher Großstrukturen seit Ende des 20. Jahrhunderts werden sie auch als Inkubatoren von »sozialen Innovationen« angesehen und als Helferstrukturen vor Ort erneut relevant. Damit wird auf- und angezeigt, wie im Diskurs über »sterbende Dörfer« die Religion einen Re-entry in das gesellschaftliche Leben vollzieht. Es ist darin ersichtlich, dass die Glaubensstätten nach wie vor Orte der Wissensproduktion sein können und deren Rolle zur Anleitung

chronometrische Gliederung menschlicher Zeit in Arbeitszeit und Nicht-Arbeitszeit, welche konsekutiv für die Organisation von Arbeit in der Moderne steht und deren Spuren sich sowohl in Max Webers als auch Michel Foucaults Ausführungen hierzu finden lassen (ebd.: 35).

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von Selbstorganisation und -bestimmung der Zukunft deshalb für die Gestaltung von Räumen nicht zu unterschätzen ist. Besonders ist dies im Kontext realer wie auch gefühlter Rückzugsprozesse der Daseinsvorsorge zu beobachten, in denen sich als Kompensation der Wunsch nach einer Daseinsfürsorge und eines Kümmerns mitartikuliert. Dieser wiederum ist ursprünglich in der religiösen Pastorale verortet und offenbart hierbei auch Verbindungen des Systems der Religion zu den Systemen der Politik, Ökonomie sowie der Wissenschaft. Orte des Widerstands und was vom Verschwinden bleibt Gotteshäuser, andere Glaubensstätten und als geheiligt angesehene Orte sind semantisch-bildhaft hervorstechende Objekte in Form von Landmarken im Siedlungs- und Landschaftsgefüge. Sie sind darüber hinaus auch in unbesiedelten Lagen in Form von Wehrklöstern, vor allem im östlichen Europa, vorzufinden und hatten bei ihrer Errichtung weniger eine geistliche als eine weltliche Schutzfunktion inne, ähnlich der Schutzburgen: »Oben am Berg thront die Michaeliskirche, die älteste Kirchenburg von Siebenbürgen, von deren Zinnen die frühen Michelsberger in Krisenzeiten heißes Pech auf Türken und Tataren schütteten« (Wiedemann 1988: 168).14 Die einstige Schutzfunktion wird im medialen Diskurs angesichts der zeitgenössischen Bedrohung neu adaptiert und reaktiviert. Die Glaubensstätten werden zu Rückzugsorten und Orten der Zusammenkunft, in die vergemeinschaftend und zur Abgrenzung eingekehrt wird, wenn Unheil zu drohen scheint: »Die Kirchgemeinde feierte ihre erste Mahnandacht für ihr Dorf. Alle zwei Wochen soll es solche Andachten künftig geben. Am ersten Sonntag war die Kirche bis auf den letzten Platz gefüllt von Hornoern und ›Hornobewegten‹. Die Hornoer finden Unterstützung [...] bei anderen, die den Kampf Hornos als ›Bewahrung der Schöpfung‹ gegen die ›Steigerung der Rendite der Aktionäre‹ sehen. ›Wenn wir zusammenstehen, werden wir zusammenbleiben‹, lautete die Botschaft aus der Kirche« (Pergande 2000: 5).

Die konkreten Ursachen, welche zum ›Sterben‹ führen, sind abermals nicht von zentraler Relevanz und werden nicht weiter fokussiert: Sei es durch wirtschaftliche Interessen im Rahmen des Braunkohleabbaus, durch infrastrukturelle Ausbauten wie

14 Manuel DeLanda spricht bei Inszenierungen von Glasmalereien im europäischen Mittelalter von sogenannten »sacred territorial markers«, die zweifellos von einer Koexistenz von räumlichen Expressionen und religiösen Repräsentationen zeugen (DeLanda 2019: 96). Die räumliche Sichtbarkeit von Gotteshäusern und deren strategische Positionierung im Raum können auf dieselbe Weise als solche geheiligten, territorialen Markierungen erachtet werden.

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(Flug-)Hafenerweiterungen und Hochwasserschutz oder auch großräumige politische Systemideologeme. An diesen Orten bilden sich Versammlungen und Bewegungen aus, die gemeinsam der erdachten Bedrohung zu widerstehen versuchen, auch wenn ein solcher Widerstand ursprünglich nicht erdacht war: »Opposition im eigentlichen Sinne sollte die Kirche in der DDR nie sein, es sei denn, daß der Staat die Menschenrechte angreift. Die Kirche in der DDR begleitet den Staat vielmehr als ein kritischer Partner« (Ulfkotte 1987: 3). Gerade weil Kirchen oder auch Klöster, Tempel und Synagogen oftmals eine längere materielle Kontinuität vorzuweisen haben als beispielsweise materielle Ausdrücke jüngerer politischer Herrschaftssysteme, können sie als materieller Ausdruck eines »kollektiven Gedächtnisses«15 angesehen werden: »Eine Kirche stand schon im 14. Jahrhundert auf der – gewachsenen – Höhe. Ein Ort mit großer Tradition, die sich auf Karl den Großen stützt« (Winandy 1976: 2), heißt es in einem Artikel. Und in einem anderen: »›Wir haben die Verantwortung für ein einzigartiges kulturelles Erbe.‹ Nirgendwo sonst in Europa sind so viele Kirchen aus dem Mittelalter und aus der Reformationszeit erhalten« (Wiedemann 1988: 168). Die Erinnerungen werden bei Veränderungen im Raum als etwas Kontinuierliches und Überdauerndes dargelegt, welchen eine stabilisierende Präsenz zugeschrieben wird. Die kulturhistorische Relevanz dieser Orte und deren schützenswerter Erhalt lässt sich in Form der juristischen Ausweisung von Glaubensstätten als Denkmale ablesen. Da die religiösen Stätten oft die einzigen Gebäude eines Dorfes sind, die den rechtlichen Status eines Denkmals innehaben, wird mit der Berufung auf diesen Status generalisierend versucht, einen ganzen Ort vor einem Ende zu bewahren. Dabei verbinden sich rechtliche Ausweisungen mit den kollektiven Sinnzuschreibungen der religiösen Stätten und können so als Indiz dafür angesehen werden, warum Luhmann die Ausschaltung von Kontingenz sowohl im System der Religion als auch in dem System des Rechts verortet. Diese Strategie der strukturellen Koppelung von Recht und Religion zum Erhalt des Dorfes zeigt sich vor allem infolge einer besonderen Form des ›Sterbens‹, nämlich dann, wenn großflächige Infrastrukturerrichtungen im Allgemeinen und Abbaggerungen zur Energiegewinnung im Speziellen anstehen, bei welchen die Orte in Gänze oder ganze Ortsteile sprichwörtlich dem Erdboden gleichgemacht werden.

15 Der Begriff des »kollektiven Gedächtnisses« geht auf Maurice Halbwachs zurück. Um die Wirkmächtigkeit der Erinnerungen von religiösen Gruppen zu bekräftigen, hat er ihnen ein ganzes Kapitel gewidmet. Er hebt dabei, wie bereits oben gesehen, die Spuren von ehemaligen Überzeugungen innerhalb neuerer Religionen hervor und stützt damit auch die These, dass sich die Politiken säkularer Gesellschaften ebenfalls aus religiösen Kollektivvorstellungen speisen (vgl. Halbwachs 1985: 243).

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Interessanterweise ist diese widerständige Praktik während der deutschen Teilung sowohl in Ost- wie auch in Westdeutschland zu beobachten: »Die Einwohner des Dorfes Eckweiler bei Bad Kreuznach, das vermutlich im nächsten Jahr nach der Umsiedlung der Bewohner abgerissen werden wird, haben sich mit einer Unterschriftensammlung für die Erhaltung ihrer Kirche eingesetzt. Das Gotteshaus, etwa um das Jahr 1500 errichtet, steht unter Denkmalschutz« (Evangelischer Pressedienst 1980: 8).

Wenn dennoch aller Widerstand erfolglos geblieben ist und das Dorf dann doch abgebaggert wird und die Bewohner/innen umgesiedelt werden, so erscheint dies im Diskurs doch nicht immer als ein gänzliches Verschwinden; denn oftmals wird die Kirche (oder werden zumindest Teile der Kirche) mit umgesiedelt: »Die Garzweiler waren stolz auf ihr Gotteshaus, so erzählt der Pfarrer. [...] Auch in Neu-Garzweiler steht die Kirche mitten im Dorf. Das Mobiliar und die Orgel hat der Pfarrer 1988 dorthin mitgenommen« (Schwenn 1992: 3). Oder sie ist am alten Standort das Einzige, was erhalten bleibt und von der früheren materiellen Existenz des Ortes noch zeugt: »Der Weiler Isarmünd [...] wird wegen des Hochwasserschutzes dem Erdboden gleichgemacht. [...] Lediglich die Kapelle wird stehen bleiben. Sie ist dem Heiligen Nepomuk, dem Schutzpatron gegen Wassergefahren, geweiht« (Wittl 2013: 34). Den Gebäuden, bzw. den mitgeführten Reliquien und Devotionalien, kommt dadurch eine Ankerfunktion des Erinnerns zu. Sie fungieren als Erinnerungsorte (Degen 2011: 70, Nora 1990), innerhalb derer sich Vergangenheit und Zukunft, Altes und Neues miteinander verbinden. Durch diese eingeschriebenen Sinnzuschreibungen ist eine Berücksichtigung dieser Orte von Seiten (raum-)politischer Planung nötig, die wiederum Auswirkungen auf Programme der Raumplanung zur zukünftigen Gestaltung hat. Es kommt klar zum Ausdruck, dass eine Missachtung zur Folge haben kann, dass sich von diesen Orten ausgehend Proteste artikulieren, welche Abänderungen der ursprünglichen Programme und Vorhaben zu erzwingen versuchen. Gerade planerische Großprojekte werden meist gar nicht exklusiv in den Verwaltungsapparaten eines Dorfes organisiert und verhandelt, sondern sind vielmehr in Städten zu verorten, obwohl der Überschuss der Stadt erst durch die ermöglichenden Infrastrukturen, welche sich meist in ländlichen Räumen befinden, realisierbar ist. Im Diskurs finden sich hierzu zwei diametrale Narrative der infrastrukturellen Verbindung zwischen Stadt und Land. Das erste Narrativ adressiert das Fehlen von Infrastrukturen und verhandelt dies im Zuge von Abkopplungsprozessen, der »Peripherisierung und Demographisierung« (vgl. Barlösius/Neu 2008). Die Artikel insistieren dabei, dass diese Prozesse dazu führen, dass der Glaube an die Dörfer schwindet oder fragen, ob es sich beim Konzept Dorf um ein Auslaufmodell handele, für welches in einer urbanisierten Gesellschaft kein Platz mehr sei und welches auch deshalb zum ›Sterben‹ verurteilt

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sei, weil eine politische Förderung sich aus ökonomischen Systemperspektive nicht mehr »lohnt«. Sie flankieren darin die bereits oben angesprochene Daseinvorsorge mittels der juristischen Formel der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse und zeigen wiederum auf, wie Recht und Religion Hand in Hand gehen (vgl. Asendorpf 2015: 43, Pergande 2004: 3, Seibel 2012. 8): »Wissenschaftler wie Reiner Klingholz [sagen], man könne nun einmal nicht an jedem Kaff hängen. Er ist einer der Forscher, der Dörfer ausbluten lassen will, wenn Bäcker und Supermarkt ohnehin dicht gemacht haben. Der Forscher vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung fordert, Menschen anzubieten, in die nächste Stadt umzusiedeln« (Hampel/ Ratzesberger 2016: 32).

Dieser Position der willentlichen Entleerung wird von anderen im Diskurs befragten Wissenschaftler/innen versucht entgegenzutreten. Das Dorf wird innerhalb dieser Argumentationen nicht etwa als eine fehlgeschlagene räumliche Organisationsform angesehen: »›Das Dorf ist ein Erfolgsmodell der Europäischen Geschichte‹, proklamiert Geograph Henkel: ›Es hat Zukunft‹« (von Petersdorff 2012: 37). Die angeführte diskursive Autorität der verschiedenen wissenschaftlichen Expertisen verdeutlicht, dass innerhalb des Systems der Wissenschaften keinesfalls von einem eindeutigen Befund hinsichtlich der Zukunft des Dorfes gesprochen werden kann. Das zweite Narrativ ist wiederum nicht von der Abwesenheit eines Zentrums gekennzeichnet. Hier wird vielmehr die räumliche Nähe zu wuchernden Infrastrukturen und Erfordernissen des Zentrums zum Problem, das letztlich, so die Artikel, zum ›Sterben‹ führen solle. Die »[d]örflichen Strukturen sterben ab« (Bierl 2013: 8), weil es zu einer »stärkeren Verdichtung« »auf der grünen Wiese« (Schneider 2017: 8) kommt; und auch »Geschossflächen-Vorgaben dürften in den Gemeinden kein ›Heiligtum‹ sein« (ebd.). Diese Bestrebungen des Zentrums zeigen sich im Diskurs ganz konkret und stellvertretend an den Wachstumsbestrebungen des Hafens in Hamburg: »Unbeschadet inmitten der Spülfelder vorerst noch: die Kirche und der Friedhof. Wäre es den Hafenbauern nach Plan gegangen, so gäbe es statt der Überreste von Altenwerder dort schon neue Hafenbecken und Kaianlagen, Lagerhallen und Verkehrswege [...]. Christ- und Sozialdemokraten haben schon versprochen, daß die Kirche und einige Häuser Stein für Stein abgetragen und an anderem Ort wieder aufgestellt werden sollen« (Ohne Autorin 1982: 48).

Die profane Perspektive, dass es keine ›Heiligtümer‹ mehr geben dürfe, macht aus einer dezidiert planerischen Sicht deswegen Sinn, weil es im Diskurs die Orte sind, die als heilig angesehen werden, an welchen sich gegen die Bestrebungen des Zentrums zur Wehr gesetzt wird. Hier soll die Planung zum Einlenken gezwungen werden; hier bilden sich Orte des Widerstands heraus. Als diskursiv miterzeugte Erinnerungsorte stehen sie dabei für etwas Kontinuierliches in einer vergänglichen

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und wandelbaren Welt, an das sich geklammert wird, wenn es – bspw. im Zuge von Modernisierungsmaßnahmen – zu Schwund- und Verlusterscheinungen kommt. Ob es sich beim Dorf und Landleben nur um Relikte einer Vergangenheit handelt, für die es in der Gegenwart und der Zukunft keinen Platz mehr gibt: darüber sind sich die im Diskurs befragten Wissenschaften uneinig. Das verdeutlicht zum einen, dass innerhalb des Systems der Wissenschaft keine einheitliche Position bei einer Infragestellung der Zukunft des Dorfes vorzufinden ist; und zum anderen, dass daraus resultierend die jeweiligen wissenschaftlichen Positionen selbst schon fast religiöse Glaubenszüge und Dogmatiken innerhalb ihrer Positionen, v.a. innerhalb der argumentativen Prämissen, annehmen.

W EITERFÜHRENDE G EDANKEN Das soziale System der Religion ist im Kontext des Diskurses über »sterbende Dörfer« als quantitativ eher marginalisiertes System anzusehen. Dennoch ist es aus einer qualitativen Perspektive keineswegs als ein zu vernachlässigendes System aufzufassen. Es ist eine auf den ersten Blick leicht verwirrende Beobachtung, dass das oftmals selbst als ›sterbend‹ betrachtete System der Religion hier für die Garantie von und für Leben steht. Dabei zeigt sich die Kontinuität religiöser Metaphern und Deutungsmuster in sozialen Diskursen. Im besonderen Maße zeichnet sich die diskursive Verwendung religiöser Narrative dadurch aus, dass im Rekurs auf das soziale System der Religion die Gründe und Ursachen, welche sowohl aus sozialer als auch räumlicher Hinsicht zum ›Sterben‹ führen sollen, unbeachtet bleiben. Die Religion tritt unabhängig davon als Reaktion auf Krisen und bedrohlichen Situationen, die mit einem Sinnverlust einhergehen, in Erscheinung. Sie wird demnach nicht als ein antiquiertes Relikt der Vergangenheit angesehen, da mittels der Richtungsweisungen des Glaubens durchaus Sinnzuschreibungen für die Zukunft(-sgestaltung) von »sterbenden Dörfern« im Diskurs auszumachen sind. Das zeigt sich in allen drei analysierten Diskurssträngen. So wird im ersten Diskursstrang die Seele verräumlicht und als Seelendorf an das Dorf gebunden, wobei diese verreinlichende Glaubensvorstellung erst aufgrund einer Unschärfe zur Stadt entstehen kann und in verschiedene Raumbilder des Ländlichen landschaftlich eingebettet ist. Zudem wird sich im zweiten Diskursstrang auf die Funktion der Pastorale und des Kümmerns berufen, die sich nicht nur innerhalb religiöser Führung wiederfinden, sondern auch in die politische Regierung der Menschen eingeschrieben sind. Gerade aufgrund von formalstrukturellen Rückzugsprozessen kommt es zu einer Sehnsucht nach dieser Funktion. Das zeigt sich darin, dass es im Diskurs weniger um Fragen nach einer angemessenen Daseinsvorsorge als um Imaginationen einer Daseinsfürsorge geht, die darin akzentuiert wird und auch die

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juristische Formel von der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse flankiert. Dieser Fürsorge wird auch von den am Diskurs beteiligten Wissenschaften eine hohe Bedeutung beigemessen, die gar dazu führen soll, dass erst aus dem Glauben heraus – in Übertragung einiger seiner als strukturell angesehenen Eigenschaften – eine Zukunft entstehen kann. Sie zeugen damit von einem Re-entry der Religion in die Gesellschaft und belegen so den Stellenwert der Religion (in Verbindung mit dem Recht) zur Kontingenzausschaltung. Dies zeigt sich ferner darin, dass es im dritten Diskursstrang oftmals die religiösen Orte sind, von welchen aus widerständige Praktiken zur Abkehr des ›Sterbens‹ getätigt werden. Die Religion ist im Diskurs allgegenwärtig, auch wenn sie nur bruchstückhaft in Erscheinung tritt. Die hier dargelegten Beobachtungen stellen lediglich den Diskurs aus der Perspektive des sozialen Systems der Religion dar. Daraus ergibt sich auch die Frage, wie sich im Diskurs die anderen sozialen Systeme beobachten lassen und vor allem: Was mit diesen Beobachtungen getätigt werden kann. Zunächst einmal lässt sich wohl sagen, dass es sich bei ›dem‹ »sterbenden Dorf« keinesfalls um einen Todgeweihten handelt. Man könnte Foucaults Credo, wonach dort, ›wo Macht ist, auch Widerstand ist‹, ummünzen und sagen, dass dort, wo ›Sterben ist, auch Leben ist‹. Gerade Krisen, die etwas vermeintlich ›sterben‹ lassen, können mitunter doch auch ein neues ›Leben‹ ermöglichen und anschieben. Dergestalt eröffnen und entfalten sich Möglichkeitsräume oftmals eben erst durch ein ›Sterben‹. Infolgedessen kann dies dann zu durchaus kreativen und sozial innovativen Anpassungs- und Transformationsstrategien führen. Dadurch kann sich so etwas wie ein ›Coping durch das Sterben‹ ergeben. Dabei ist die Unterscheidung von Sterben und Leben insofern nützlich, da von ihrer Einfachheit ausgehend auch Komplexität aufgebaut werden kann. Aus einer systemischen Perspektive heißt dies dann, dass nach differenzierter Anschlussfähigkeit der Kommunikation zu blicken ist, die es vermag, Sinn in ein »sterbendes Dorf« zu überführen. Dies beinhaltet, dass keine one-size-fits-for-all Lösung gegeben werden kann, sondern vielmehr, dass darauf geblickt wird, wie sich gelungene Strategien unter dem Aspekt der Einzigartigkeit eines jeden Dorfes adaptieren oder aber entwickeln lassen. Es ist dabei wichtig, dass diese Strategien geteilt werden, so dass es nicht zu einer klösterlichen Verinselung des Wissens kommt. Dabei sind stetig neue Anpassungen vorzunehmen. Aus einer geographischen Perspektive zielt ein solches Unterfangen nicht nur auf eine Form der politischen Partizipation ab, sondern geht darüber hinaus hin zu einer Suche nach räumlicher Emanzipation, welche die Zukunft des Lebens auf dem Land selbstbestimmt, auch unabhängig von der Stadt, gestaltbar macht.

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Vom Schäferspiel zur Gartenschau Ländlichkeit als Bildervorrat der (Post-)Moderne zwischen Macht und Unterhaltung W ERNER N ELL

In Ernst Jüngers 1957 erschienenem, fortschrittsskeptischem und leicht dystopisch gefärbtem Roman GLÄSERNE BIENEN ist es der ehemalige »Rittmeister Richard«1, der – denn es gibt gerade keine passende Aufgabe für ihn, da die Kriege des Jahrhunderts wieder einmal abgeebbt sind – sich nach einer anderen Anstellung umsehen muss. Über das selbstverständlich noch immer vorhandene Beziehungsnetz »alter Kameraden« (63) auf Arbeitssuche, hat er während eines Vorstellungsgesprächs beim Erfinder, Industriellen, Multimillionär und Medienmogul Zapparoni, einem Macher der »neuen Zeit«, die Gelegenheit, sich dessen Haus und Park, darüber hinaus aber auch die kunstvoll »natürlich« gestaltete Landschaft, die eben jene umgibt, anzusehen: »Der Blick fiel auf den Park wie auf ein altes Bild. Die Bäume strahlten im frischen Laubkranz; das Auge fühlte, wie sie ihre Wurzeln im Grunde feuchteten. Sie säumten die Ufer eines Baches, der träge dahinfloß und sich zuweilen zu Flächen erweiterte, auf denen ein grünes Mieder von Wassermoosen schimmerte. Das waren die Fischteiche der Mönche gewesen; die Zisterzienser hatten wie die Biber in den Sümpfen gebaut.« (54)

I. Was hier historisch gewachsen und organisch verwoben erscheint, ist doch zugleich darauf angelegt, den Bild- und also auch Künstlichkeitscharakter dessen, was

1

Jünger (1957: 82); im Folgenden fortlaufend mit Seitenzahl im Text zitiert.

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zunächst so deutlich als Ländlichkeit in ›natürlichen‹ Konturen erscheint, hervorzuheben. In ihrer Mehrdeutigkeit macht die mitgeteilte Beobachtung allerdings auch vor der Kompetenz und Zuverlässigkeit des Erzählers nicht Halt: Überzogenes steht neben fein Beobachtetem. Gleichsam synästhetisch »fühlt« das Auge, wie die Bäume ihre Wurzeln »feuchten«, während die Frage, ob die Mönche den Bibern Vergleichbares nur tun oder ob sie ihnen – funktional oder gar substantiell – naturgeschichtlich gleich zu setzen sind, für den Paleo-Mythographen Jünger2 sicherlich offenbleibt. Die damit bereits erkennbare Zweideutigkeit bzw. Fragwürdigkeit der wahrgenommenen und vor allem ästhetisch geschätzten Ländlichkeit, die offensichtliche Ungreifbarkeit ihrer Substanz, ihrer historischen Fundierung, aber auch ihres bildhaften Charakters, bleiben freilich auch im Weiteren bestehen: Zunächst deutlich erkennbare Figuren, Konturen und Gestaltungsformen ländlichen Lebens werden in eine historische Vorzeitigkeit und zugleich in eine artifiziellen Beliebigkeit gerückt, während die Konfrontation bzw. Vermischung des Ländlichen mit spezifisch der Moderne zugehörigen Produktions-, Markt- und Verwertungsbedingungen die Bilder des Ländlichen nicht nur in ihrem Substanzbezug in Frage stellt, sondern sie geradezu auf ihren Ausdrucks- bzw. Schein-Charakter reduziert: »Es war ein Glücksfall, daß die Mauer noch erhalten war. Meist, und vor allem in der Nähe von Städten, sind diese Ringe abgetragen; sie haben als Steinbrüche gedient. Hier aber sah man hin und wieder durch das Laub der Bäume den grauen Stein. Die Mauer schien sogar Ackerflächen einzuschließen, denn ich sah in der Ferne einen Bauern, der hinter dem Pfluge ging. Die Luft war klar; die Sonne blinkte auf dem Fell der Pferde und auf der Scholle, die sich im Schnitte wendete.« (54f.)

Wenn sich hier aus den Resten der Vergangenheit noch ein Bild ländlich gestalteter Natur zusammensetzen und an einen Betrachter bzw. eine Lesende weitergeben lässt, so ist es eine von kulturell geschaffenen bzw. historisch weitergegebenen Vorstellungen überblendete Wirklichkeit, die ihren holistischen Eindruck einem »Überschuss an Signifikanten« (Barthes 1980: 13) unterschiedlichen Herkommens verdankt, der zum einen die mehr oder weniger kontingent ins Auge fallenden Bruchstücke für jeweilige Betrachter zusammenzuführen vermag und zum anderen sich für deren ideologische Aufladung, aus welchen Programmen auch immer, offen zeigt.3

2

Für die Einbettung der Geschichte in Natur-, ja Kosmosgeschichte und die damit verbundenen Relativierungen und ideologisch orientierten Spekulationen bei Jünger vgl. Kasper (2021: 313-360, Kap. 7).

3

Werden diese Aspekte der Beliebigkeit der Auswahl und der Künstlichkeit der Zeichen in den Vordergrund gerückt, so lässt sich für Jüngers Textmodell ebenso wie für seinen Umgang mit Geschichtsbezügen eine Nähe zu jener Infragestellung eines realitäts- und

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ZUR

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Jünger scheint es hier durchaus auch auf eine Parodie der Blut-und-BodenMalerei und -Literatur der Jahre vor 1945 anzulegen.4 Allerdings ist der unwirkliche, ja auf Täuschung hin ausgerichtete Charakter dieser Bilder des Ländlichen innerhalb des Medien- und Markt-Imperiums Zapperonis nicht nur dem autodiegetischen Erzähler bewusst, sondern führt auf eine – durchaus auch aktuell anzutreffende – Haltung, die darin besteht, ökonomisch und technisch von einer durchindustrialisierten Natur profitieren, diese Instrumentalisierung der Natur aber hinter bzw. unter idyllisch gestalteter ›sentimentalisch‹ aufgeladener Naturdarstellung und Wahrnehmung kaschieren zu wollen: »Das Bild war heiter, wenngleich befremdend im Anwesen eines Mannes, der unter anderem auch mit Traktoren für Gärtner handelte, die wie Maulwürfe die Beete lockerten und ihre Erde zerkrümelten. … Vermutlich wollte er keine Maschinen sehen, wenn er auf der Terrasse seine Bäume und Weiher betrachtete.« (55) Diese Beobachtungen, einschließlich eines sich seiner Selbst und seiner Stellung in der Welt im Zuge vor allem technisch-wissenschaftlicher Modernisierung gar nicht mehr sicheren Erzählers, bilden die Grundlage einer Fortschrittsund Moderne-Kritik, die im weiteren Verlauf des Romans teils ironisch, teils melancholisch und sarkastisch ausgearbeitet und gegen das Selbstverständnis der Industriemoderne als technisch-wissenschaftliche Zivilisation in Stellung gebracht wird.5 Im Mittelpunkt steht dabei – aus der Sicht eines Moderne-skeptischen Beobachters – der Inszenierungs- und damit Uneigentlichkeits-Charakter des Zeitalters der Moderne selbst.6

fortschrittsbezogenen Selbstverständnisses der Moderne in Anspruch nehmen, das seit den 1980er Jahren als Postmoderne diskutiert wird (vgl. Kamper 1994); für die damit ebenfalls verbundenen Möglichkeiten einer modernen antimodern ausgerichteten Besetzung der Bilder und Bezüge mit neuen (alten?) ideologischen Ausrichtungen vgl. Kröll (1997); für die Zeitbezüge auf die kulturkritischen Debatten in der Bundesrepublik der 1950er Jahre vgl. Honold (2012). 4

Zur Anlage und zum Stellenwert des Romans in Jüngers Werk vgl. Gann (2014).

5

Vgl. hierzu noch immer grundlegend Whitehead (1949).

6

1955 war das dazu wichtige und einschlägige Buch Hans Freyers erschienen, in dem die Flüchtigkeit, der Modellcharakter und nicht zuletzt ihre Bestimmtheit als und durch »sekundäre Systeme« herausgestellt werden. Dem gegenüber dient – archaisch imaginiert – ›der Bauer‹ als Fluchtpunkt und Orientierungsgröße: »Der Bauer stellt keine Sache her, und seine Arbeit ist kein machen. Seine Verrichtungen vom Morgen bis zum Abend […] bilden keine Zweckreihe, an deren Anfang ein Rohstoff, in deren Mitte ein Halbfabrikat und an deren Ende ein fertiges Ding steht. Sie fügen sich, zuwartend und dann rechtzeitig, in den Tages- und Jahreslauf ein, und der Wachstumsprozess der Pflanzen setzt jedem von ihnen ihre Stunde.« (Freyer 1955: 15)

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Die teilweise satirisch ausgelegte Kritik zielt auf deren Markt- und Machtversessenheit ebenso wie auf die mit der ›Entzauberung‹ und Rationalisierung der Welt7 unter den Bedingungen der Moderne einhergehenden Wert- und Orientierungsverluste, für deren Erscheinungen und Kompensation der Rittmeister auf seine Militärerfahrungen aus den »letzten Kriegen« zurückgreifen muss, die in dieser Hinsicht dann auch als das eigentliche »Handwerk« der Moderne8 bestimmt werden können: »der Mann aus Manchester hatte uns gewiesen, was eine Harke ist. Wir mußten die Pferde abschaffen. Nun kamen wir mit Panzern, um ihn auszuräuchern, worauf er wiederum mit einer neuen Überraschung aufwartete. Im Grunde zogen wir beide am gleichen Strick. Ich muß zugeben, daß in dieser Aufeinanderfolge von immer neuen und immer schneller veraltenden Modellen, in diesem raffinierten Frage- und Antwortspiel von überzüchteten Gehirnen ein Reiz lag, der mich eine Zeitlang fesselte …. Der Machtkampf war in ein neues Stadium getreten; er wurde mit Formeln der Wissenschaft geführt.« (70)

Vor diesem Hintergrund einer fortgeschrittenen, also durch Maschinen, Wissenschaft und strategisches Handeln bestimmten Industriemoderne9 kann Ländlichkeit, wenn sie nicht wie bspw. bei Freyer als untergegangene Gegenwelt imaginiert wird, offensichtlich nur noch als Kulisse, Ware oder Täuschungsanlage gesehen werden. Sie vermag allerdings ihre Funktion und Attraktivität auch nur dann und in dem Maße zu gewinnen, wenn ältere, mit der ›Naturgeschichte‹ des Menschen und seinen Wahrnehmungs-, Erinnerungs- und Imaginationsvermögen verbundene Sinn- und GestaltBedürfnisse noch vorhanden sind, ja mitunter erst auf künstliche Weise zustande kommen bzw. geweckt werden können. Historischer Zufall, planvolle Anlage im Sinne eines Wissens, das Macht verspricht, bewusst inszenierte Kompensationsmöglichkeiten, also Unterhaltung und Freizeit, Kunst und Vergnügen sowie marktorientierter Nutzen stellen damit rückblickend auf die Moderne sowie im Modus der Moderne die Komponenten der hier geschilderten Ländlichkeit dar, deren Natur in ihrer Künstlichkeit, in ihrem Hergestelltsein, ihrer Funktionalität und in ihrem auf Scheinerzeugung hin angelegten Wirkungscharakter zugleich das zentrale Thema des Romans vorstellt. Freilich könn(t)en diese Aspekte auch herangezogen werden, um den prekären, attraktiven und zugleich fragwürdigen Charakter von Bildern des Ländlichen unter den Be-

7

Vgl. Weber ([1919] 1992: 317).

8

Vgl. hierzu die Auseinandersetzung mit Jünger bei Nitschke (1964: 72-76).

9

Dass hier noch einmal »deutsche« agrarische Bodenhaftung gegen die englische »manchester-kapitalistische« Maschinenfixiertheit und somit Seelenlosigkeit in Stellung gebracht wird, findet sich ebenso auch bei Freyer; vgl. das Kapitel »Die Organisierbarkeit der Arbeit« (Freyer 1955: 31-45).

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dingungen der Moderne – als einer genuin auf die (Gestaltung der) Zukunft hin ausgerichteten Zeit – und im Blick auf eine Postmoderne zu erörtern, die dann als eine Selbstreflexion und -kommentierung der Moderne zu verstehen ist.

II. Im Roman geht es um die künstliche Produktion von Lebensformen, um gläserne Roboter in der Gestalt von Bienen, in deren Horizont sich aber auch schon die Herstellung künstlicher Menschen sowie deren Einsatz und Verbrauch zugunsten von Markt und Medienmacht in einem durchaus totalitären Sinn, aber ebenso aus der Sicht einer die Entwicklung zur Moderne begleitenden Kulturkritik10 abzeichnet. Erkennbar wird so zum einen der im Fortschritt der Moderne sich vollziehende Übergang von einer Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft,11 wie dies auch auf dem Plakat der Münchner Kammerspiele zur Inszenierung der GLÄSERNEN BIENEN in der Spielzeit 2019 sowie in einigen Fotografien der Aufführung eindrucksvoll ins Bild gesetzt wird. Auge und Ohr gehen eine neue hybride Verbindung ein; die synästhetisch wahrgenommene Bildlichkeit des Ländlichen dient dabei ebenso der Anregung der Sinne wie ihrer Verwirrung. Zum anderen gibt in Jüngers Roman aber auch eine der Kulturkritik zugehörige Trauer bzw. Klage um den Verlust von Werten, Individualität und Freiheit den Ton an. Zudem geht es um einen Mangel an Aufrichtigkeit – oder besser gesagt beides: Der Verlust an Werten wie auch der Mangel an individueller Selbstschätzung konturieren einen die Moderne-Kritik tragenden Wertungshorizont, der sich freilich nicht nur als Sprachkritik zeigt, sondern auch gängiges Ressentiment transportiert: »Auch hier gilt der Satz, daß sich die Worte verändert haben, denn Brot ist nicht mehr Brot, und Wein ist nicht mehr Wein. Es sind verdächtige Chemikalien. Man muß schon ungewöhnlich reich sein, wenn man heute Vergiftungen vermeiden will. Dieser Zapparoni war ohne Zweifel ein Schlaufuchs, der … zu leben wußte, und zwar auf Kosten der Dummköpfe …, während er selbst sich und die Seinen nach der Väter Sitte gesund erhielt.« (55)

10 Zu Jüngers Stellung innerhalb dieser Diskurse vgl. Bollenbeck (2007: 225-230); dort auch die Anschlussstellen an andere Entwürfe der Moderne- als Technikkritik bspw. bei Friedrich Georg Jünger und Günther Anders (vgl. ebd.: 233, 244-251). 11 Also von der Kontrolle durch äußere Macht zur Selbstkontrolle durch eigenständige, auch bewusste Orientierung an vorgegebenen oder selbstbestimmten Normen und Indizes; vgl. Deleuze (1993a und 1993b), Bröckling (2004).

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Abb. 1: GLÄSERNE BIENEN, nach dem Roman von Ernst Jünger, bearbeitet von Jacqueline Reddington und Lüder Wilcke, Kammerspiele München, 2019.

Foto: Gerald von Foris, graphische Bearbeitung: Ji Hyung Nam (links), Fotos rechts oben und unten: Federico Pedrotti

Funktionalisierung der Bilder, namentlich der Natur und der seit der Romantik inszenierten Ländlichkeitsvorstellungen, die angenommene Verschlagenheit der Akteure und nicht zuletzt die selbstläufige Funktionalität technisch-wissenschaftlicher Entwicklungen fügen sich hier zu einem Bild der Moderne zusammen, das zum einen den Niedergang der Werte sowie die Machtgier und Unaufrichtigkeit ihrer ›Führer‹ und ›Hintermänner‹ anspricht, und zum anderen eine System-Welt anbietet, die das Individuum allenfalls noch duldet, wenn sie nicht gar auf seinen Verbrauch und letztlich auf seine Eliminierung zielt. Dabei ergibt sich dieses Bild einer dystopisch in die Zukunft weisenden gesellschaftlichen Formation nicht zuletzt aus einer ›Hochrechnung‹ von Entwicklungen und Tendenzen, die in der unmittelbaren Gegenwart wahrgenommen werden. Aus dieser Sicht werden dann auch die Funktionen der Bilder des Ländlichen in diesem Kontext erkennbar: Als kunstvoll-künstlich gemachte (wie die Bienen)12 und entsprechend automatisiert inszenierte Gegenwelt dient das Ländliche zum Ersten dazu, den Stoff und das Bild-Material zur ›wohnlichen‹ Ausgestaltung der Zentren fortgeschrittener medien- und technologiegestützter Macht zu bieten.13 Es ist Staffage

12 Vgl. dazu die Ausführungen bei Bluhm (2014). 13 Dass Jüngers Roman vor dem Hintergrund der seit der Jahrtausendwende verstärkt in Erscheinung tretenden Zweifel an der Zukunftsfähigkeit und Verlässlichkeit weitergehender technologisch-industriegesellschaftlicher Entwicklung neue Aufmerksamkeit gewinnt,

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der Macht und bietet zugleich einen Unterhaltungswert, der diese wenn nicht stabilisieren, so doch zumindest kaschieren kann. Zum Zweiten lässt sich Ländlichkeit aber auch nutzen, um eine Differenzmarkierung zur Vormoderne kenntlich zu machen. Historisch bieten die Bilder der ländlich-agrarischen Landschaft dazu einen Vorlauf und einen Maßstab, ja sie verweisen auf einen Ursprung bzw. eine Rücklagerung der Moderne in einer Welt vor jener »Great Transformation« durch eine um sich und übergreifende Vermarktlichung sozialer und ökonomischer Beziehungen, wie sie Karl Polanyi 1944 beschrieben hat (vgl. Polanyi 1976). Ästhetisch, aber auch ideologisch fungieren die Bilder des Ländlichen schließlich mitunter als Gegen- und Wunschwelten, wenn es um die (vergebliche) Suche nach einer Ausbruchsmöglichkeit aus jener Moderne geht, die Max Weber als »stahlhartes Gehäuse« (Weber [1920] 1975: 188) bezeichnet hat. Jüngers Darstellung zufolge ist dies aber nur den wenigen »Schlauen« und Reichen noch möglich, die sich in »alter Weise« gesund erhalten, auf Kosten der anderen.14 Sozialkritik trifft hier auf Kulturkritik oder verschwindet in ihr. Der Rittmeister schafft es zwar nicht, wie angestrebt, zum Produktionsleiter zu werden; hierfür ist er nicht entschlossen, gehorsam und abgeklärt genug. »Ein abgedankter Reiter spielte eine traurige Figur inmitten dieser Städte, in denen kein Pferd mehr wieherte.« (56) Seine noch aus älteren (kriegerischen) Zeiten her vorhandenen Tugenden (Ritterlichkeit, Erkenntnisstreben, Kampfgeist und Aufmerksamkeit) bringen ihm aber dann doch auch noch eine Anstellung ein, nämlich wenigsten als Vermittler/Beobachter bei Streitigkeiten im Labor dienen zu können. Sein Auskommen ist gesichert, freilich um den Preis, Schiedsrichter auf einer Spiel-Ebene zu sein, in der Kommunikation und Anschein den Ton angeben, handwerkliches Können oder gar Zuständigkeit bzw. Verantwortlichkeit freilich nicht mehr gefragt sind. Macht, Wissen und Kapital werden wie der Weltentwurf selbst unter den Bedingungen der hier entworfenen, fortgeschritten und umfassend »organisierten Moderne« (Wagner 1995: 141-161)15 allerdings anderswo erzeugt und umgesetzt. Zum Dritten stellen die Bilder des Ländlichen hier aber auch – und im Fortschritt der Moderne umso dringlicher – einen Projektions- und Imaginationsraum bereit, der

lässt sich auch aus der Forschung belegen; vgl. Segeberg (2000), Werber (2011), Bluhm (2014) und Crew (2020). 14 Hier treffen dann Kapitalismus-, Moderne- und Kulturkritik zusammen; Ressentiment mischt sich attraktiv mit Analyse. Zur Kritik dieses Gebräus vgl. Walzer (1991: 13-46). 15 Anders als bei aktuellen Theorien und kritischen Reflexionen, die die »organsierte Unverantwortlichkeit«, also die strukturell erzeugten autoritativen Muster und Rahmensetzungen in den Vordergrund stellen (vgl. Honnegger/Neckel/Magnin 2010), hebt Jünger noch immer auf die personale Verantwortung, also auch auf das zynische, interessegeleitete und oder machtbewusste Handeln einzelner Akteure und Akteursgruppen ab.

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unter den Bedingungen eines auf die Erschöpfung von Ressourcen und Individuen hin angelegten Fortschrittsprogramms gegenüber den industriegesellschaftlich und technologisch bestimmten Bereichen der Produktion und des Konsums zwar ebenso eine Scheinwelt bietet, zugleich aber – dies geht über Jüngers Befunde und Stellung in diesem Roman freilich hinaus – ein Vorstellungsinventar umfasst, mit dessen Hilfe sich Individualität und Gruppenbewusstsein stabilisieren und in einem zur Verwertung und Umsetzung von Macht unter Moderne-Bedingungen gegenläufigen Sinn lenken bzw. begründen lassen. Dies geht allerdings mit der Gefahr einher, dass der so erzeugte utopische Schein16, mit dem die Bilder des Ländlichen in eine (geläuterte) Zukunft weisen, unter Umständen nur um so effektiver vermarktet bzw. zur ideologischen Mobilisierung nutzbar gemacht werden kann. Utopische Besetzung, so legt es Jüngers Text nahe, lässt sich unter diesen Bedingungen nur noch auf die Weise des Kitsches entwerfen, resoniert aber dann doch immer auch noch mit unserer Alltagserfahrung und bietet, wenn man so sagen will, unseren Wünschen einen Wurm an der Angel: »Wahrhaftig«, so berichtet Rittmeister Richard, »es war friedlich an diesem Ort. Das Brausen der Werke, der Parkplätze und Anfahrtsstraßen drang nur als feines Summen durch die Laubgipfel. Dafür hörte man die Melodien der Stare und Finken, und an den morschen Stämmen hämmerte der Specht. Die Drosseln hüpften und weilten auf den Rasenplätzen, und zuweilen ertönte im Teichgrund das Klatschen eines Karpfens, der aufschnellt. Auf den Rabatten und Medaillons vor der Terrasse, wo sich die Blumen drängten, kreuzten die Bienen und teilten sich mit den Faltern den süßen Raub. Es war ein Maitag in seiner vollen Pracht.« (55f.) Jedoch: Alles Lebendige, so das Geschehen des Romans in seinem weiteren Fortgang, wird sich als im Labor erzeugtes, künstliches Leben erweisen, geschaffen und wiederum zerstörbar, um Macht auszuüben. Es geht hier nicht zuletzt auch darum, eine Art von Wissensmacht zu akkumulieren und zu dokumentieren, der es gelingen mag, Natur und Mensch in ihren herkömmlichen Formen und Sinnansprüchen obsolet werden zu lassen. Ob und inwieweit dieser Entwurf von Ländlichkeit bei Jünger noch der Moderne und einer ihr verbundenen Kulturkritik oder einer sich bereits in den 1950er Jahren abzeichnenden postmodernen Spiegelung dieser Prozesse zugunsten der Unterhaltung oder auch neu einsetzender kritischer Reflexion zuzurechnen ist, soll weiter unten noch einmal kurz aufgenommen werden.

16 Ich folge hier einem realitätsbezogenen, auf soziales Handeln und einen machbaren und ggf. gelingenden Umbau der Gesellschaft bezogenen Utopieverständnis, wie es zuletzt im Anschluss an die britische Soziologin Ruth Levitas (Levitas 2005: 14) die Juristin Davina Cooper vorgestellt hat (Cooper 2014).

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III. Zuvor aber geht es noch einmal einige Schritte zurück, um einen Ausgangspunkt für die angesprochene Differenzmarkierung von Ländlichkeit zwischen Moderne und Postmoderne zu gewinnen: Ländlichkeit in der Literatur, das scheint zunächst tautologisch, ist so alt wie die Literatur selbst, insoweit als literarische Texte Sinn-Bilder, im Sinne von Ernst Robert Curtius’ »Topoi«, transportieren. Es sind dies rhetorische Figuren, aber eben nicht nur Wörter, sondern Bilder, die auch »Sachen« und ggf. Erfahrungen ansprechen, nutzen und auf diese Weise nicht zuletzt lebendig halten. Zudem setzt die Orientierung an Landerfahrungen, ländlichen Raumvorstellungen und Ländlichkeit als Bildervorrat die mit der Kulturgeschichte der Menschen verbundene Differenzsetzung von Natur/Kultur ebenso voraus wie die sozial- und siedlungsgeschichtliche Ausdifferenzierung von Städten, Dörfern und Siedlungen im Übergang der Entwicklungsstufen und im Dazwischen. »Zwischen Prosa und Poesie«, so Curtius in seinen Erläuterungen zu historischer Topik, »findet seit dem Altertum ein beständiger Austausch statt. Der poetischen Topik gehört die Naturschönheit im weitesten Sinne an – also die Ideallandschaft mit ihrer typischen Ausstattung …. Aber auch Wunschträume und Wunschzeiten: das Elysium (mit ewigem Frühling ohne meteorologische Störungen), das irdische Paradies, das goldene Zeitalter. Aber auch Lebensmächte: Liebe, Freundschaft, Vergänglichkeit. Alle diese Themen betreffen Urverhältnisse des Daseins und sind darum zeitlos; die einen mehr, die anderen weniger.« (Curtius 1948 101984: 92) Stadt und Land gehören hier sicherlich, ihrem profan-realistischen und historisch bestimmbaren Bezugsort geschuldet, zunächst zu den eher weniger »zeitlosen« Themen, zugleich aber weist die universale Attraktivität der oben angesprochenen Bilder, Vorstellungen und Erwartungen doch auch auf den topischen, also in bestimmtem Sinn entweder dauerhaften oder aber immer wieder ansprechenden und aufnehmbaren Charakter dieser Bildbereiche und der mit ihnen verbundenen Attraktionen hin. Dies lenkt allerdings den Blick dann auf die Funktionen der Literatur und auf jene, die sie produzieren, sowie auf diejenigen, die sie rezipieren. Im historischen Zentrum stehen in dieser Hinsicht zunächst nur jene kleinen Gruppen, freigestellte Individuen und Bildungseliten, die über Schrift und Zugang zu Texten verfügten und die, wie etwa der römische Landadel17, sich die Beschäftigung mit diesen entweder leisten konnten oder entsprechende Funktionen auszuüben hatten: Eine am Weltwissen interessierte »leisure class«, beauftragte Schriftsteller und Reisende, später auch Kleriker und andere Beamte; aktuell liefern Journalisten und in der Regel

17 Zum Rückbezug der neueren Ländlichkeitsliteratur und entsprechender Vorstellungen auf die römische Landlebensliteratur vgl. Twellmann (2019: 88-93).

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zeitbegrenzte Aussteiger entsprechende Vorlagen und Bilder ›neuer Ländlichkeit‹ (Bätzing 2020: 12-15). Ländlichkeit und die darauf bezogenen Bilder lassen sich deshalb schon immer – und so auch aktuell – an einer Schnittstelle von Macht und Wissen, von Geographie, Geschichte und sozialer Organisation festmachen; und sie beziehen sich damit auf zwei Grundbegehren, deren Entwicklungslinien so alt wie die kultureller Überlieferung der Menschen sind.18 Über deren sozial selektive und historisch lokalisierbaren Erwartungen und über die hinter diesen ggf. erkennbaren Erfahrungen und auch Macht- und Imaginationsbegehren lassen sich dann auch die Bilder, die Funktionen und nicht zuletzt die Geschichte der Ländlichkeitsvorstellungen bestimmen, wie sie auf dem Weg zur Moderne und innerhalb ihrer Rahmen- und Entwicklungsbedingungen im Bereich der Literatur und anderer Künste in Erscheinung treten. Dass es dabei eine bereits in der mediterranen Antike einsetzende Literatur mit entsprechenden Bildbereichen (und Abbildungen) des Ländlichen gibt, die zwischen dem Lob des Landlebens (bei Hesiod, Vergil oder Cicero), dem Lob der Stadt (bei Platon, Ovid oder Horaz) und mehr oder weniger realistischen bis satirischen Alltagsentwürfen des Lebens auf dem Land (und/oder in der Stadt), bspw. bei Aristophanes und Apuleius, oszilliert, kann hier ebenso wenig weiter verfolgt werden wie die entsprechenden – zumeist im vierfachen Schriftsinn – aufgeladenen Städteschilderungen eines himmlischen Jerusalems oder die gegenläufige »Dörper-« oder Bauernliteratur des abendländischen Mittelalters. Auch muss die Frage offenbleiben, in welchem Maße Nutzen und Vergnügen, Unterhaltung und Unterweisung, Selbstkonstitution und Weltentwurf jeweils am Zustandekommen und an der Wirkung bzw. Rezeption literarischer Texte und der Inszenierung entsprechender Bilder und Landschaften beteiligt waren und sind.

IV. Für den Übergang zu einer Welt der ›europäischen‹ Moderne scheinen der Schäferroman des 17. Jahrhundert und die damit verbundenen ›Schäferspiele‹ in diesem Zusammenhang ein bemerkenswerter Ausgangspunkt, im Sinne Hans Blumenbergs eine »Umbesetzungsstelle«, zu sein. Im Zuge einer mit der frühmodernen Zentralbzw. Territorialstaatsbildung einhergehenden Umgruppierung sozialer Stände und Verhältnisse, die eine volatile, also immer wieder bewegliche und Befestigung suchende Entwicklung der europäischen Gesellschaften mit sich brachte, verlor die zuvor angenommene Stabilität der Zuordnungen, wurde sie nun als gott- oder

18 Vgl. Oelkers (1997), Canetti (1960). Für die neuzeitliche Verschlingung von Macht und Wissen vgl. van Dülmen/Rauschenbach (2004), für globale Verhältnisse Casanova (2004).

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naturgegebene verstanden bzw. diesen Mächten zugeschrieben, sowohl an Realität als auch an Gültigkeit und Evidenz bzw. Legitimität. Dies bot und erforderte zugleich die Möglichkeit, innerweltlich ›eigene‹ Räume zu schaffen bzw. zeichenhaft zu erschließen (Blumenberg 1981), sei es zur Machtgewinnung und/oder Wissenserweiterung, sei es zur Unterhaltung, sei es zur Selbstkonstitution oder – wie es Freud für alle Dichtung/Poesie annehmen wollte – als Sphären und Bildbereiche imaginativer bzw. imaginärer Wunscherfüllung (vgl. Freud [1908] 1978). Norbert Elias beschreibt diesen zur Welt der Moderne führenden Weg einer zunehmenden Integration unterschiedlicher sozialer Schichten und Erfahrungsräume in staatlich-gesellschaftliche ›Verkettungen‹ aus der Sicht zweier unterschiedlicher Gesellschaftsschichten mit ein und demselben Ergebnis: einer Romantisierung des Landlebens an der Schwelle zur Moderne im 17. Jahrhundert und einer damit verbundenen Aufladung des Ländlichen zu einem Imaginations-, Projektions- und Wunschraum gesellschaftlicher Eliten, dann der Gesellschaften im Ganzen: »Die Söhne von Bauern und Landarbeitern wanderten in die Städte ab. Und in der Erinnerung verschönen sich für manche Schichten eine Zeitlang Handwerk und Bauerntum als Symbole einer besseren Vergangenheit oder eines freien, natürlichen Lebens und als Gegenbilder zu den Zwängen der Städte und der Industrieverflechtungen.« (Elias 1969: 320)

Für städtische Mittel- und Unterschichten wird das Land dadurch zu einem Imaginationsraum eines wie immer auch gearteten besseren Lebens, das sich als Leitvorstellung von der Sozialromantik zu Anfang des 19. Jahrhunderts über die bürgerliche Ausrichtung des Lesebuchs, für England in den Vorstellungen des »little Englanders«, in Frankreich als »douce France«, wiederfindet und das in den deutschsprachigen Ländern intensiv mit »Heimat«-Konzeptionen verbunden ist, die sich wiederum deutlich auf Vorstellungen und Bilder ländlicher Räume stützen.19 Auch aktuell finden sich diese Bezüge noch in der öffentlichen Wahrnehmung und Präsentation der »Gilets jaunes« und anderer populistischer Strömungen der Gegenwart, die sich immer auch als Vertreter peripherer, ländlicher Lebenswelten erkennen lassen (vgl. Manow 2018). Von anderer Seite her, nämlich aus der Perspektive adlig-gebildeter Kreise im Frankreich des 17. und 18. Jahrhunderts und damit auch näher zu einer eben entsprechend schichten- und milieuspezifisch beschränkten ›hohen‹ Literatur der Zeit hin, entwickelt sich eine ähnlich gelagerte, in ihren Bildern freilich ins KünstlerischImaginäre oder Eskapistisch-Erotische verschobene Besetzung des Ländlichen und

19 Zum ländlichen Inventar deutscher, aber auch in anderen Gesellschaften anzutreffender Heimat-Vorstellungen vgl. jetzt Scharnowski (2019: 25-55, bes. 52f.); zum Leben damit Schmid (2021: 79-141).

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bildet so die Grundlage einer schichtenspezifisch gebundenen, dann als Bildungsgut ebenso wie als Gestaltungsreservoir weitergegebenen Vorstellung von Ländlichkeit, wie sie sich in den Schäferspielen abgebildet findet: »Im Zeitalter des Übergangs mußten sich Adlige, die noch auf den Gütern ihrer Väter aufgewachsen waren, an das verfeinertere, vielfältigere, beziehungsreichere, aber darum auch weit größere Selbstkontrolle verlangende Hofleben gewöhnen. Schon in diesen Generationen wurde das Landleben, die Landschaft der eigenen Jugend, für die Männer und Frauen des Hofes vielfach zum Gegenstand wehmütiger Romantik.« (Elias 1969: 321) Der nunmehr en vogue kommende »Schäferroman«,20 und die in diesem Milieu angesiedelten Schäferspiele (sei es als Singspiel oder Ballett, Landparty oder erotische Phantasie und Inszenierung) boten aber nicht nur Eskapismus in ferne Zeiten und imaginär ausgestaltete Sozialverhältnisse, wozu die antike Bukolik ebenso eine Vorlage darstellte wie der hellenistische Liebesroman, sondern entwarfen auch eine Art Gegenmodell zu der am Hof erfahrenen Regulierung von Habitus und Trieben, zudem einen Rahmen für erotische Phantasie und freizügigere Lebensmodelle: »Die Vergangenheit nahm den Charakter eines Traumbildes an. Das Landleben wurde zum Symbol der verlorenen Unschuld, der ungebundenen Einfachheit und Natürlichkeit; es wurde zum Gegenbild des höfisch-städtischen Lebens mir seiner größeren Gebundenheit, seinen komplizierteren hierarchischen Zwängen und seinen stärkeren Anforderungen an die Selbstkontrolle des einzelnen Menschen.« (ebd.: 322) Abb. 2: Beständigkeit der Schäferspiele: ERMINIA BEI DEN HIRTEN (1622-1625) von Domenichino und THE COURSE OF EMPIRE: THE ARCADIAN OR PASTORAL STATE (1834) von Thomas Cole.

Wikimedia Commons

An anderer Stelle spricht Elias von einem »Wirbelstrom dieser großen Veränderungen« (ebd.: 320), der sukzessive auf dem Weg zur Moderne mehr und mehr Menschen, Schichten, Lebensverhältnisse und Milieus, nicht zuletzt Landschaften im

20 Elias analysiert vor allem den Prototyp auch der später in andere Länder übergreifenden Entwicklung: Honoré d’Urfés (1567-1625) 1612 erschienenen Roman L’ASTRÉE.

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älteren politischen wie im neueren geographisch-ästhetischen Sinn, in die Prozesse einer mit der Moderne gleichermaßen verbundenen zunehmenden Freisetzung zum einen, Sozialdisziplinierung zum anderen einbezieht (Wagner 1995: 46-67). In diesem Zusammenhang wirkt das Entstehen einer zumal durch literarische Kommunikation getragenen »bürgerlichen Kultur« (Tenbruck 1986) im 18. Jahrhundert nach beiden Seiten hin als eine Art von Integrationsgenerator und Gestaltungswie auch Vorstellungsreservoir, das auf dem Weg zur Moderne seinerseits Ländlichkeit in unterschiedlichen Facetten sowohl hervorbringen kann als auch zu formen und zu nutzen sucht. Während der Adel und die neu entstehenden Funktionseliten sich über die an die Antike anknüpfenden Vorstellungen des Neoaristotelismus (Hauswirtschaft) und des Neostoizismus (Lebensführung) konstituieren und – wie dies Otto Brunner exemplarisch am Beispiel Wolf Helmhards von Hohberg (1612-1688) gezeigt hat (Brunner 1949) – darauf ausgehen, Landwirtschaft, Haushalt und Lebensführung innerhalb einer ländlich orientierten, landwirtschaftlich fundierten Vormoderne gleichermaßen effektiv wie normativ und wertgebunden zusammenzuführen, werden städtische Unterschichten und von Lande Kommende erst einmal von den Realitäten des Landlebens weggeführt, um dieses dann auf die Weise der Erinnerung, zumal aber auch der Erzählung, der Kolportage und dann auch der aufkommenden Massenmedien wieder in ihren Vorstellungsbereich zurückzubringen. Besitzlosen, und so auch vielen Landbewohnern, bietet das Land global noch bis in die Gegenwart hinein vor allem Hunger, Armut, Bedrückung und Verachtung. In diese Lücke zwischen Vorstellungen gesellschaftlicher, auch kosmischer Ordnung und Erfahrungen von deren Unzulänglichkeiten bzw. Willkür und Unsicherheit (Hazard 1939), stößt das im 18. Jahrhundert sich formierende Projekt bürgerlicher Kultur und populärer Aufklärung (Hettling 2015: 124f.). Das damit verbundene Handlungsprogramm einer ›Hebung‹ der Landbevölkerung bietet dann auch eine Brücke zu deren Verstädterung bzw. Verbürgerlichung und deren Anschluss an die Industriemoderne. Die Bilder des Ländlichen (Lesebuch, Kolportageliteratur, Dorfgeschichten)21 werden in diesem Rahmen dazu genutzt, um eine Überformung der Landbewohner im Sinne einer bürgerlichen Gesellschaft, später auch einer ›Arbeiter- und Bauerngesellschaft‹ in einem sozialistischen Sinn, durch entsprechende Narrative und Bildbesetzungen zu ermöglichen bzw. zu fördern. Dass daneben dann auch bereits unter diesen Vorgaben Unterhaltungsfunktionen und die Funktionalisierung von Unterhaltung im Sinne einer ästhetischen und politischen Nutzung und Ausrichtung zu beobachten sind, lässt sich vom »Zeitalter der höfischen Feste« (Alewyn/Sälzle 1959) bis in die Eventkultur der Gegenwart mit ihrer Vielzahl ländlicher Settings und Präsentationsformen (vgl. Zeller 2021) verfolgen.

21 Vgl. dazu Bauer (1978); Spies (2009); Donovan (2010), Twellmann (2019).

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V. Entstehen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf der einen Seite erste empirisch ausgerichtete Studien und Erhebungen zu Lebensverhältnissen in ländlichen Räumen (vgl. Bausinger 1971: 17-30), so finden sich in jener Zeit, namentlich bspw. in Jean-Jacques Rousseaus JULIE, OU LA NOUVELLE HÉLOISE (1761), auch erste Versuche einer ästhetischen und ideologischen Besetzung und Überformung der ländlichen Lebensverhältnisse in mehr oder weniger konkret entworfenen geographischen Räumen. Dazwischen finden sich poetisch gestaltete Beschreibungen der Lebensverhältnisse und Naturerfahrungen im ländlichen Raum sowie tendenziell empirisch und historisch ausgelegte Landeskunden unterschiedlicher Landschaften und Regionen (vgl. Korff 1978: 65-73). Kulturförderung tritt neben Wirtschaftsförderung, mitunter auch in Konkurrenz oder als Korrelat und Kompensationsbereich. Im Zuge einer sich ausbreitenden Literalität sind es um 1800 erste Bauern-Schriftsteller,22 in deren Nachfolge dann bis zum 20. Jahrhundert weitere Vertreter ländlicher Unterschichten – im bürgerlichen Medium – zu Wort kommen. »Schäferspiele« und »Schäferromane« stellen vor diesen Hintergrund so etwas wie eine erste Drehscheibe für die Gestaltung von Ländlichkeit zwischen Machtentfaltung und Individuen bezogener Selbstbestimmung dar. Auf dem Weg zur Moderne werden in den Spiegeln bzw. auf der Drehscheibe der Ländlichkeit Fragen der Selbstmodellierung, des Kontrollzwangs und der Sehnsucht nach einem ›anderen Leben‹ – und somit zugleich die Frage nach Möglichkeiten einer zukunftsgerichteten Gestaltung des Lebens – zumindest in imaginativen Bildern vorgestellt und verhandelt. Das vermag nicht nur zu Unterhaltung und Geselligkeit beizutragen, sondern damit auch zur eigentlichen Konstitution der Gesellschaft als eigenständigem Handlungsrahmen und Handlungsfeld durch mediale Selbstdarstellung (Luhmann 21996). Vor dem Hintergrund der Weltausstellungen (London 1851, Paris 1867), die sich als Schaufenster des Industriezeitalters und städtisch geprägter (zukünftiger) Gesellschaften zeigten und verstehen ließen, stellen die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sich entwickelnden Regionalschauen in mehrfacher Hinsicht aber ebenso eine zweite Drehscheibe bereit, auf der sich zum einen das Selbstverständnis der Moderne als industriell fundierte Produktions- und Konsumgesellschaften inszenieren konnte,

22 Beispiele dazu bieten etwa die Lebensläufe und Werke Ulrich Bräkers (1735-1798) und Franz Michael Felders (1839-1869), während sich Berthold Auerbach (1812-1882) und der von ihm verehrte Johann Peter Hebel (1760-1826) als Publizisten und Schriftsteller gerade der ›Hebung‹ der Landbevölkerung zuwenden; zu Auerbach und Hebel siehe Twellmann (2014), zu Felder Nell (2022).

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zum anderen eben auch landschaftlich-ländliche Bezüge ausgestellt, wenn nicht sogar hergestellt wurden.23 Natürlich ging es auch dabei um die Produktion und den Vertrieb von landwirtschaftlichen Gütern auf der einen sowie industriell gefertigten Waren, wie z.B. Arbeitsmaschinen, auf der anderen Seite. Zugleich aber lassen sich im Anachronismus zwischen der Präsentation traditioneller, in vielen Fällen erst einmal aufs Neue geschaffener bzw. aus Projektionen in die Vergangenheit erfundener24 Trachten (vgl. Wischenbart 1993) und Produkte, die sich als ›authentische‹ Repräsentationen des Ländlichen darzustellen suchen, erste Fluchtlinien bereits zur Situation der Postmoderne ziehen. Waren »Schäfereien« der Literatur und Malerei künstlich geschaffene Welten, jenseits aller realen Verhältnisse und doch als Imaginationsräume auf diese bezogen, so setzen die ebenfalls erstmals in den 1860er Jahren in Erscheinung tretenden Gartenschauen (1865 Erfurt, 1866 London, 1869 Hamburg) bereits die Ausdifferenzierung von Landwirtschaft, Gartenbau und Industrie- bzw. Stadtlandschaft voraus und wenden sich zugleich der Gestaltung eben dieser Verhältnisse unter den Bedingungen der Industrie- und Produktionsmoderne zu. Auch sie verbinden Vergnügen und Unterweisung, Leistungsschau und politische Repräsentation miteinander. Dabei bringen sie in der Trägerschaft und in der Ansprache des Publikums sukzessive die mittleren und z.T. die unteren gesellschaftlichen Schichten mit ihren Unterhaltungsbedürfnissen und Wissensansprüchen in den Blick. Schulbildung und Nivellierung der Stände tun ein Übriges, um die integrative Funktion dieser Schauen nach beiden Seiten hin auszuweiten: Der Kreis des Gesellschaftlichen erweitert sich, die Partizipationsmöglichkeiten an bürgerlicher Kultur wachsen und machen zugleich andere Lebenslagen, Menschen und Sozialverhältnis sichtbar.

23 Zur Geschichte und Funktion von Landes-, Regional- und auch Landwirtschaftsausstellungen vgl. Wendlandt (2009). 24 Grundlegend noch immer Hobsbawm/Ranger (1983).

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Abb. 3: Ländlichkeiten in Bildern der Weltausstellungen: London 1851 (oben links), Paris 1867 (oben rechts); sowie Bilder ländlichen Treibens in der Stadt: eine »Ansicht der Internationalen Gartenbau-Ausstellung in Hamburg« aus dem Jahr 1869 (unten).

Wikimedia Commons (oben links und rechts), HAMBURG UND UMGEBUNGEN. ILLUSTRIERTER WEGWEISER FÜR FREMDE UND EINHEIMISCHE

(1869)

Anders als dies bei Jünger in moderne- bzw. kulturpessimistischer Tönung vorgestellt wird, erscheinen Gartenschauen so nicht lediglich als Fake-Inszenierungen, die darauf zielen, im Sinne von ›Hintermännern‹ Menschen und Verhältnisse zu manipulieren. Vielmehr stellen sie als Repräsentationen, als Erfahrungs- und Gestaltungsorte eines zu den Bedingungen der Moderne sich entwickelnden Ländlichen25 – das

25 Dass ländliche Räume auch aktuell (und zukünftig) als Lebensorte, Gestaltungs- und Entwicklungsräume zur Debatte stehen und eigener Repräsentation, auch Forschung und

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nicht zuletzt als ein zentraler Impulsgeber moderner Entwicklungen zu verstehen ist (vgl. Oswalt 2018) – zugleich auch Orte der Aushandlung und der Unterhaltung für eine sich als egalitär und pluralistisch verstehende Gesellschaft dar. Sie dienen der Vermittlung von Wissen und Erfahrungen wie auch von Ästhetik und Bildung; und lassen sich damit als Verhandlungsorte über Zukunft und Zukünftiges unter den Bedingungen einer Moderne ansprechen, die in den Spiegelungen der Postmoderne ihre eigenen Grundlagen, Optionen und Setzungen reflektiert. Freilich sprechen sie auch auf jene Sehnsucht nach Natürlichkeit, Authentizität und »wiedergefundener Zeit« (Marcel Proust) an, deren Warencharakter hinsichtlich des modernen Tourismus Valentin Groebner in seinem Buch RETROLAND (Groebner 2018) herausgestellt hat. In dieser Hinsicht dienen sie auch der wirtschaftlichen und soziostrukturellen Stabilisierung der aktuellen politischen, wirtschaftlicher und sozialer Ordnung. Dass sich dies auch – zumal in postmoderner Gestaltung – überbieten bzw. ins Nihilistische (oder auch Kritikfähige) wenden lässt, zeigen dagegen die Bilder des Ländlichen in Michel Houellebecqs 2010 erschienenem Roman LA CARTE ET LE TERRITOIRE: Wer (erfolg-)reich genug ist, hat dort seinen eigenen Natur-Park; für andere Wohlhabende gibt es, wie bei Jünger beschrieben, ländliche Siedlungen und Felder wie aus dem Bilderbuch. Die weniger Betuchten können wenigstens als Zuschauer im Vorbeifahren von der Straße aus Anteil nehmen, wenn sie nicht – wie die als Bauern aus der Vendée ausstaffierten Mini-Jobber oder Studenten26 – ihre Existenzfristung dadurch gewährleisten können, dass sie als Statisten und Personal entweder das Land bevölkern oder zumindest die Parties der Wohlhabenden unterhalten oder ggf. auch bewachen. Die Inszenierung bzw. Nutzung eines ländlichen Settings sowohl zur Bebilderung der Handlung als auch zur Inszenierung eines ideologisch besetzten Gegenraums zu dem im Roman geschilderten Geschehen findet sich auch in Houellebecqs vieldiskutiertem nächsten Roman »Soumission« (2015) wieder. Den Tag einer mit Unbehagen und Bürgerkriegsängsten erwarteten Präsidentschaftswahl, die in einem durch »extreme Anfälligkeit« (Houellebecq 2015: 118) geprägten demokratischen Verfahren dann tatsächlich den Sieg einer islamistischen Partei und in der Folge die Umgestaltung der Französischen Republik zu einem islamisch geführten Emirat zur Folge hat, nutzt der Erzähler zu einer Fahrt aufs Land: »sollte es in Frankreich zu einem Bürgerkrieg kommen, würde er den Südwesten nicht so schnell erreichen. Außer dass man dort Enten-Confit aß, wusste ich so gut wie nichts über diese Gegend. Und Enten-Confit und Bürgerkrieg, das passte nicht zusammen. Aber vielleicht

Förderung bedürfen, entspricht wohl dem aktuellen Diskussions- und Forschungsstand. Vgl. Krajewski/Wiegandt (2020); Maschke/Mießner/Naumann (2021). 26 »Mit Heugabeln bewaffnete Bauern aus der Vendée hielten zu beiden Seiten des Eingangs zu dem herrschaftlichen Haus Wache, das Jean-Pierre Pernaut bewohnte.« (Houellebecq 2011: 229)

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täuschte ich mich auch.« (108) Sicherheitserwartungen und kulinarische Versprechen des Ländlichen gehen hier eine kuriose, im Sinne des Autors wohl sarkastisch gemeinte Verbindung ein, die sich auch darin wiederfindet, dass der Erzähler kaum über eigene Erfahrungen verfügt: »Nie hatte ich dieses Land bereist […]. Ich hatte es allerdings schon einmal vorgehabt« (Ebd.). Dem entspricht, dass auch im Weiteren Beobachtungen der Landschaft ebenso wie der dörflichen Gebäude jeweils mit Beschreibungen aus Reiseführern, von Werbetafeln oder aus anderen Medien überblendet werden: »In der Mitte der Place de Consuls stand ein offensichtlich sehr altes Kornlager […]. Ich hatte Gebäude dieser Art im Fernsehen gesehen […], und diese hier waren genauso schön, sogar schöner.« (114); und auch die historischen Bezüge auf ein altes wehrhaftes Frankreich, die gerade angesichts der offensichtlich stattfindenden Unterwerfung Frankreichs unter ein islamistisches Regime eine gewisse Signifikanz haben sollten, erhalten diese aus zweiter Hand: »Es handelte sich um eine Wehrkirche, errichtet um den Angriffen der Ungläubigen standzuhalten, von denen es in dieser Region viele gab, wie ich aus einer Broschüre erfuhr.« (Ebd.) Weitere kulinarische Köstlichkeiten mit ländlichem Bezug: »Törtchen mit Entenhals und Schalotten« (130) bilden etwas später den Einstieg zum Abendessen mit einem ehemaligen Geheimdienstmitarbeiter, der ohne Weiteres bereit ist, sich auf die »neue Zeit « einzustellen: »Es stimmt, dass Christen und Muslime sich viel bekriegt haben. […] Jetzt ist es an der Zeit für eine gütliche Einigung mit dem Islam, Zeit für eine Allianz, wie ich meine.« (128) So wie im anschließenden Gespräch ausgewählte historische Versatzstücke: de Gaulle (137) oder Kaiser Augustus (139) als wohlfeile Bezüge für den sich im Gang befindenden Verrat an den republikanischen Ideen und die Preisgabe der Macht an einen diesmal religiösen, sicherlich totalitären Führer aufgeboten werden, so dienen in diesem Roman Schilderungen des Dörflich-Ländlichen vor allem als Ausstattungsmittel, die nicht nur den kulinarischen Gebrauch, also auch Verbrauch, historischer und anderer ideeller Werte begleiten. Vielmehr tragen sie, wie im Übrigen auch pornographische Szenen (88-93), durchaus dazu bei, den Unterhaltungswert und damit auch Verkaufserfolg des Buches zu steigern. Ländlichkeit wird hier zu einem Effekt medialer Inszenierung, was sich so auch schon bei Jünger findet. Wollte man eine Differenz von Moderne und Postmoderne setzen, so ließe sich vielleicht sagen, dass es bei Jünger die in der Biographie des Rittmeisters noch eingewachsenen Ressentiments sind, die gegenüber einer postmodernen Spiegelwelt eine Rückkopplung nicht nur an die Moderne ausmachen, sondern darauf zielen, Gesellschaftsbeobachtung und kulturkritische Reflexion in einem mytho-historisch zu nennenden Sinn noch einmal »tieferzulegen«,27 also Geschichte

27 Norman Kasper spricht im Blick auf Jüngers kosmologisch ausgerichtete Spekulationen über Paläontologie und Naturgeschichte von einem Versuch zu einer »tiefergelegten« Gesellschaftsgeschichte (Kasper 2021: 392).

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in Mythologie (als Erkenntnisfeld) zurückzuführen. Dem gegenüber gibt es in Houellebecqs Inszenierungen keine Differenz mehr zwischen einer ebenso gut beschriebenen wie sinnlich erfahrbaren Zeichenwelt und einer ggf. dahinter noch zu unterstellenden Wirklichkeit. Ländlichkeit erscheint dann lediglich noch als Spiegel anderer Spiegel und als Show, während sich der in seinem Habitus erschütterte und zugleich doch noch über eine, wenn auch rückwärtsgewandte ›Haltung‹ verfügende Beobachter bei Jünger als ›Mann von gestern‹ erweist. Ein anachronistischer Haltepunkt im Ländlichen soll so angesichts der Unübersichtlichkeit und Unerträglichkeit der Moderne noch einen Referenzpunkt darstellen können, während die Postmoderne Houellebecqs ein Spiel und Spiegelungen mit pluralen Referenzangeboten bietet, deren wie immer auch gebrochene bzw. begrenzte Ausrichtung dann doch zugleich von der Unhintergehbarkeit des einzelnen Menschen nicht lassen kann – zumindest solange noch etwas von ihm zu erzählen28 ist.

28 Wie der bei Houellebecq als Spielmaterial und medienkritische Referenz benutzte, damit auch verbrauchte kulinarische Bezug auf Ländlichkeit dann aktuell wieder als Quelle für ein narratologisches Spiel anderer Art genutzt werden kann, zeigt der 2020 erschienene, viel beachtete Roman DAS JAHRESBANKETT DER TOTENGRÄBER des französischen Prix Goncourt-Preisträgers Mathias Enard, der die Parodie bekannter ethnologischer Feldtagebücher, diesmal im Rahmen eines Feldaufenthalts zur Erforschung zeitgenössisch bäuerlich-dörflichen Lebens in Westfrankreich, mit einer Hommage an Rabelais’ GARGANTUA UND

PANTAGRUEL (1532-1564) sowie mit aufgearbeiteten kulturgeschichtlichen Doku-

menten und diversen esoterischen Spekulationen verbindet. Der Protagonist verliert auf dem Land zwar sein wissenschaftliches Projekt aus den Augen, findet dafür aber – etwas naiv und damit zugleich parodistisch vorgetragen – seine Bestimmung in der ökologisch grundierten Liebe zu einer Gemüsegärtnerin. Befreite Sexualität, wie sie offensichtlich nur auf dem Land (noch) zu haben ist (417), und erwartbare Beiträge zur Klimarettung (461) gehen Hand in Hand, und auch die Vermarktung des Ländlichen im zeitgenössischen Ökogeschäft und damit das Format der Landschauen kommen nicht zu kurz: „Wir haben übrigens verabredet, dass wir im kommenden Februar zur Landwirtschaftsmesse fahren, zum ersten Mal werde ich Lucie mit nach Paris nehmen, ich fürchte mich ein wenig davor. Ob ich wohl Ruhe bewahren werde, wenn sie wie die Japaner nicht genau weiß, wie sie ihre U-Bahn-Karte in den Entwerter stecken soll.“ (Enard 2021: 423) Der Standpunkt, auch im Blick auf die neu zu denkende Zukunft des Ländlichen, wird also offensichtlich auch hier noch immer modern sein: gefestigt, ein bisschen borniert und damit deutlich begrenzt.

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V OM S CHÄFERSPIEL

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Rurbane Zukunftsentwürfe Mögliche Zukünfte in Raumbildern erzählen und verhandeln S IGRUN L ANGNER

E INLEITUNG Auffällig viele mediale, kulturelle und politische Diskurse widmen sich in jüngster Zeit der Erkundung von Zukunftsentwürfen in und von ländlichen Räumen. Entwürfe sind dabei immer eng mit Bildern und Vorstellungswelten verbunden, die zunächst im Kopf entstehen, geformt durch kulturelle Vorprägung und Vor-Bilder, durch angeeignetes Wissen, durch erlebte Alltagserfahrungen. Bilder bleiben allerdings nicht allein im Imaginativen verhaftet, sondern können handlungsleitend zu planerischen und gestalterischen Raumaussagen führen, die sich letztlich auch im physischen Raum manifestieren. Solche Bilder sind wirkmächtig, verbreiten und verfestigen sich und übernehmen bestimmte Funktionen. Sie gehen bewusst oder unbewusst in die planerische Argumentation über anzustrebende bzw. zu vermeidenden räumliche Entwicklungen ein. Wenn wir erkunden, wie die Zukunft auf dem Land aussehen könnte und sollte, müssen wir zunächst fragen, welche Bilder existieren vom ›Ländlichen‹ in unseren Köpfen? Was wird durch diese Bilder transportiert und repräsentiert? Welche erscheinen wünschenswert, für wen und warum – und welche möglicherweise eher abschreckend? Wie und wodurch beginnen sie wirkmächtig und handlungsleitend zu werden? Es ist nahezu unmöglich bestimmen zu wollen, welche Bilder ›das‹ Ländliche repräsentieren. Es gibt nicht ›das‹ Land, genauso wenig wie es ›die‹ Stadt geben kann. Mit dem Land sind vielmehr vielschichtige und widersprüchliche Bilder und Vorstellungswelten verbunden; Bilder und Vorstellungswelten, die in unterschiedlichen medialen, planerischen, alltagspraktischen Zusammenhängen aufgerufen und verbreitet werden. Allerdings gibt es bestimmte Narrative, auf die häufig zurückgegriffen wird und die in Beziehung bzw. in Abgrenzung zum Urbanen gebraucht

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werden. So lässt sich das Narrativ des ›abgehängten Ländlichen‹ im Kontext von Zentrum-Peripherie-Beziehungen erzählen oder das Bild des ›idyllischen Ländlichen‹ im Kontrast zu den vielmals überfordernden und herausfordernden, beschleunigten Urbanisierungsprozessen imaginieren. Die genauere Betrachtung dieser Narrative und die Frage, in welchem Kontext durch wen und warum bestimmte ›Bilder des Ländlichen‹ aufgerufen werden und wie diese weitergetragen werden, kann uns etwas über deren soziale Funktion und Wirkmacht in spezifischen Kontexten verraten (Nell/Weiland 2021). Auf diese vielschichtigen ›Bilder des Ländlichen‹ und wie deren kritische Reflektion uns bei der gesellschaftlichen Selbstverortung, aber auch bei der Kommunikation und Aushandlung über mögliche Entwicklungspfade zu wünschenswerten Zukünften unterstützen können, möchte ich in diesem Beitrag eingehen. Dabei nehme ich eine landschaftsentwerfende Perspektive ein und frage, wie mit ›Bildern des Ländlichen‹ in landschafts- und stadtplanerischen Entwurfskonzepten sowie mit regionalen Raumbildern mögliche Zukünfte erzählt und verhandelt werden. Unter Raumbildern verstehe ich dabei keine normativ leitenden und statischen Zielbilder, wie sie oftmals in planerischen Idealkonzeptionen oder Masterplänen eingesetzt werden, sondern vielmehr aktivierende Werkzeuge innerhalb partizipativer und kollaborativer Planungsprozesse. Sie »verrichten« in dynamischen Aushandlungsprozessen »Arbeit« (Woods 2010: 1), indem sie als Argumente in regionalen, ko-kreativen Planungs- und Entwicklungsprozessen Wirkung entfalten (vgl. Schultz 2018). Vor allem für das ko-kreative Arbeiten innerhalb großmaßstäbiger, regionaler und langfristiger Planungsprozesse zu zukunftsfähigen Stadt-Land-Beziehungsgefügen bedarf es des Arbeitens mit Bildern, um Zukünfte vorstellbar und diskutierbar werden zu lassen. Das können sowohl kartografische als auch sprachliche Raumbilder sein. Eine Reihe solcher Raumbildarbeiten insbesondere auf regionaler Ebene der letzten Jahre zeigt, dass v.a. Karten wirkungsvolle Instrumente für die Interpretation und Aushandlung räumlicher Beziehungsgefüge und deren Entwicklungsperspektiven sein können.1 Bei der Arbeit mit kartografischen Raumbildern geht es vor allem darum, ungesehene räumliche Beziehungsgefüge aufzudecken und zu thematisieren. Werden

1

Siehe dazu u.a. folgende Arbeiten: SCHWEIZ – EIN STÄDTEBAULICHES PORTRÄT (Diener et al. 2005), RAUMVISION SÜDREGION LUXEMBURG (Stein und Schultz, Studio Urbane Landschaften im Auftrag von Ministerium für Inneres und Landesplanung, Großherzogtum Luxemburg 2007), METROBILD ZÜRICH (Metropolitanraum Zürich 2011), RAUMBILD RHEINLIEBE (rabe Landschaften + Station C23 i.A. von IBA Basel 2020, 2012), RAUMBILD MITTE THÜRINGEN (Stein + Schultz, Station C23, Rabe Landschaften i.A. IBA Thüringen 2016), RAUMBILD LAUSITZ 2050 (kooperatives Planungslabor i.A. Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung Dresden, 2021).

R URBANE Z UKUNFTSENTWÜRFE | 165

diese Beziehungen sicht- und lesbar, dann lassen sich leichter damit verbundenen Konflikte – aber auch Handlungsoptionen – für die produktive Weiterentwicklung dieser Beziehungsgefüge ausmachen. In Raumbildern verbinden sich Bestandsbeschreibungen mit Entwicklungsvorstellungen. Es sind keine objektivierbaren Abbildungen einer physischen Realität, sondern Rauminterpretationen, die durch bewusstes Hervorheben und Betonen bisher Unterbelichtetes oder Übersehenes aufdecken und nach zukunftsfähigen Entwicklungsansätzen in bestehenden Beziehungsgefügen fahnden. Die Arbeit mit Raumbildern kann als eine Praktik des Entwerfens verstanden werden, die an Bestehendes anknüpft, dieses (re)interpretiert und schließlich (re)konfiguriert. Dabei sind Rauminterpretationen mittels Raumbildern auch immer beeinflusst durch Vorprägungen und Vor-Bilder bzw. greifen bestimmte Narrative auf, tragen und erzählen sie weiter und (re)interpretieren sie in neuen Kontexten. Dieser Rückgriff auf Vor-Bilder darf nicht unreflektiert und affektiv geschehen, sondern erfordert ein bewusstes Positionieren zu diesen Bildern.

B ILDER DES L ÄNDLICHEN UND DIE RURBANER L ANDSCHAFTEN

K ONSTITUIERUNG

Es ist anzunehmen, dass die Wirkmacht medial verbreiteter Vor-Bilder die Vorstellung über prototypische Raumsituationen prägt und an der Konstituierung von räumlichen und planerischen Bildern mitwirkt (Hauser 2007: 687). Die Frage, in welchen Kontexten bestimmter Bilder des Ländlichen auftauchen und welche Funktion sie dabei erfüllen, ist also eine wesentliche – nicht nur für die gesellschaftliche, sondern im Speziellen auch für die planerische Selbstreflektion und -verortung (Nell/Weiland 2014: 42ff.). Wenn wir an das Land denken, tauchen je nach Perspektive verschiedene ambivalente und widerstreitende Bilder auf. Um nur beispielhaft einige davon herauszugreifen: Das Ländliche ist verbunden sowohl mit arkadischen Sehnsuchtsbildern traditioneller Kulturlandschaften als auch mit Fortschrittsbildern einer hocheffizienten und digitalisierter Agrar- und Bioenergieindustrie, es wird imaginiert sowohl mit dystopischen Bildern strukturschwacher und sich entleerender Regionen als auch mit utopischen Bildern naturnaher und gemeinschaftlicher Lebensweisen. Diese Bilder werden in gesellschaftlichen Verständigungsprozessen immer wieder aufgerufen; und zwar gerade auch, wie bereits kurz angesprochen, in Bezug oder in Abgrenzung zum Urbanen. Allerdings wird dabei häufig eine urbane Perspektive bei der Beschreibung des Ländlichen eingenommen. Aus dieser urbanen Perspektive heraus wird das Land einerseits idealisiert als Sehnsuchtsort (verbunden mit Werten wie Naturnähe, Harmonie, Entschleunigung, Gemeinschaftssinn) und andererseits

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problematisiert als abgehängter, perspektivloser Raum. Das Land dient hier als Aushandlungsfeld urbaner Konflikte, indem entweder jeweils die positiven oder die negativen Zuschreibungen als Kontrastfolie zum Städtischen bemüht werden. Diese (häufig auch: ausschließliche) urbane Perspektive weist viele blinde Flecken auf und produziert stereotypen Bilder, die das Gegensatzpaar Stadt-Land betonen, indem Zuschreibungen mit bestimmten räumlichen Siedlungsstrukturen verknüpft werden. ›Bilder des Ländlichen‹ und die damit verbundenen Zuschreibungen und Funktionalisierungen sind allerdings nicht allein an Orte außerhalb der Metropolräume gebunden. Das Rurale als Handlungs- und Imaginationsraum ist ebenso fester Bestandteil urbaner Realität. Sei es in der Form, dass als ›ländlich‹ geltende Praktiken und Lebensweisen in der Stadt gelebt werden oder dass Bilder, die mit dem Ländlichen verbunden sind, in den Städten auftauchen. So werden durch Baugruppenprojekte und Nachbarschaftsgärten kleine vernetzte Struktureinheiten gepflegt und die soziale Nähe des Dorfes in die Stadt transportiert (vgl. Rosol/Vogelpohl 2019). Mit Projekten zum »urban gardening« werden Fragen der Selbstversorgung diskutiert und erprobt. Die »Rückkehr der Gärten in die Stadt« (Müller 2007) kann als Korrektivvorstellungen einer urbanen Gesellschaft – verbunden mit einem veränderten Verständnis gegenüber dem Wert gemeinschaftlicher und solidarischer Arbeits- und Lebensweisen – diskutiert werden (vgl. Redepenning 2021). Schließlich wird die Stadt zur Arche Noah für Tier- und Pflanzenarten, die ehemals eng an landwirtschaftliche Kulturlandschaften gebunden waren und deren Lebensräume durch eine intensive landwirtschaftliche Nutzung verschwinden (Sieverts 2018: 36). Nicht die ausgeräumten landwirtschaftlichen Nutzflächen auf dem Land, sondern die nischen- und strukturreiche Stadt wird zum Hotspot der Biodiversität (Kowarik 1992: 35, Reichholf 2007). Genau so wenig wie sich ›Bilder des Ländlichen‹ allein im sogenannten ländlichen Raum verorten lassen, lassen sich Urbanisierungsprozesse und damit verbundene Bilder und Zuschreibungen räumlich begrenzen. Lefvebre hat bereits Anfang der 1970er Jahre den Begriff des »urbanen Gewebes« geprägt, das sich mal mehr, mal weniger dicht über das Land spinnt. Damit sind weit mehr als die räumlichmateriellen Veränderungen des Landes gemeint, sondern auch die Veränderungen der gesellschaftlichen Raumverhältnisse. Die gesamte Gesellschaft ist urbanisiert und eine urbane Lebensweise mittlerweile nahezu überall zu finden (Siebel 2009: 89). Die (imaginäre) räumliche Trennung – hier Stadt, dort Land –, die immer auch verbunden ist mit weiteren trennenden Zuschreibungen wie z.B. innen/außen, naturfern/naturnah, anonym/nachbarschaftlich, produzierend/verbrauchend, verliert vor diesem Hintergrund ihre Eindeutigkeit. Raumelemente, die mit urbanen bzw. ruralen Bildern assoziiert werden, bilden neue und wechselnde Raumkonfigurationen. Solche Raumbilder jenseits der festen Kategorisierung von Stadt und Land können als »rurbane Landschaften« beschrieben werden (Langner 2016). Dieser relationale Begriff stellt die Beziehungen zwischen

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den Dingen, Praktiken und Räumen in den Fokus (Löw 2001) und knüpft an einem Verständnis von Raum als »Raumgeschehen« an, das als »nicht-hierachisches, performatives Feld räumlicher Interaktion« verstanden werden kann (Seggern 2019: 12). Diese Sichtweise ermöglicht, die uns umgebenden Landschaften als (Re)Kombination von urbanen und ruralen Praktiken, Strukturen und Sinnkontexten neu zu lesen und zu verstehen, ohne jedoch die Zuschreibungen und Vorstellungswelten, die Bilder und Narrative, die mit dem jeweils Städtischen oder Ländlichen verbunden sind, zu negieren (Langner/Frölich-Kulik 2018: 15). Das Ländliche und Städtische lösen sich in dieser relationalen Perspektive nicht etwa, wie vielfach gedacht und angenommen, durch Hybridisierung auf und werden zu einer unterschiedslosen Gemengelage. Vielmehr wird die Betrachtung der Qualitäten und Eigenschaften, der vielmals konfliktreichen, aber eben auch produktiven Wechselbeziehungen wichtig. Die Perspektivierung der Bilder und Narrative des Ländlichen hilft dabei – und zwar auch in Verbindung und/oder Abgrenzung zum Städtischen –, Orientierungsmarken in sich dynamisch veränderten Raumzusammenhängen zu setzen (Redepenning 2011). Wohlwissend, dass die Beschreibung dieser Beziehungsgefüge oftmals in den planerischen Disziplinen in einer urbanen Perspektive verhaftet bleibt (Angelo 2017: 158). Eine gleichzeitige und gleichwertige Betrachtung urbaner und ruraler Praktiken, Raumstrukturen und Vorstellungswelten verlangt also danach, auch in einer sich zunehmenden urbanisierenden Welt die rurale Perspektive einzunehmen und nach ›Bildern des Ländlichen‹ in ihren spezifischen gesellschaftlichen Zusammenhängen zu fahnden, insbesondere nach ihrer Bedeutung und Funktion innerhalb von gesellschaftlichen, medialen, literarischen oder planerischen Zukunftsentwürfen. Schließlich sind sie es, die in sozialen Aushandlungsprozessen allgemein geteilt und diskutiert (mitunter auch: umkämpft) werden – und letztlich auch räumliche Imaginationen in reales Raumgeschehen übersetzen.

R URBANE B ILDER

IN DER

S TADT

Aus einer raumentwerfenden Perspektive interessiert, welche Bedeutung dem Ruralen in Entwurfskonzeptionen zukommt. Welche kulturellen Zuschreibungen, Wertschätzungen und Abgrenzungen sind damit verbunden? Es lassen sich eine Vielzahl an städtebauliche Entwürfe bzw. Zukunftsvisionen für urbane Räume finden, in denen Bilder des Ländlichen aufgenommen werden. Vielmals kommt dem Ländlichen dabei eine Korrektivfunktion von als problematisch wahrgenommene Auswirkungen von Urbanisierungsprozessen zu. Idealvorstellungen und Raumbilder werden entworfen, die eine produktive Verbindung zwischen Stadt und Land zeigen und die

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jeweils positiv konnotierten Seiten von Stadt und Land verbinden. Ein Rückblick in die Planungsgeschichte verdeutlicht diese korrektiven Funktionen des Ländlichen. Beispielswiese wurden den sichtbar werdenden negativen Seiten eines zunehmenden Urbanisierungsprozesses für die Arbeiterquartierte der industrialisierten Stadt im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert rurbane Idealvorstellungen entgegengehalten. Sie zielten auf die Möglichkeiten einer Reorganisation der wirtschaftlichen, sozialen und räumlichen Beziehungen von Stadt und Land ab (Becker 2010: 309), wie sie etwa in Ebenezer Howards GARTENSTADTMODELL (1898) zum Ausdruck kommt. In Leberecht Migges GRÜNEM MANIFEST (1919) wird das produktive Land in den urbanen Raum eingegliedert, um die lohnabhängigen städtischen Industriearbeiter durch die Praktik der Subsistenzwirtschaft zu emanzipieren; es kann ebenfalls als ein kritischer Kommentar auf die sozialen Verwerfungen der Industrialisierung gelesen werden. Projektionen hybrider Stadt-Land-Strukturen sind jedoch nicht nur im Kontext einer sich beschleunigenden urbanen Industriemoderne zu finden. Sie entstanden beispielsweise auch im Umgang mit »schrumpfenden Städten« im Osten Deutschlands zu Beginn der 2000er Jahre. Hierbei wurde vor allem die Frage diskutiert, was es für die dichte europäische Stadt bedeutet, wenn sie großflächig durch Brachen und landschaftlich sowie landwirtschaftlich anmutende Räume durchzogen wird. Verlieren die Städte durch eine ›Ruralisierung‹ an Urbanität oder können sie durch die entstehenden Freiräume sowie neue Nutzungs- und Aneignungsmöglichkeiten eine neue Form an Urbanität gewinnen (Lauinger 2005)? In der ›schrumpfenden‹ Stadt verändern rurale Bilder in Form von weiten Wiesenflächen (z.B. LANDSCHAFTSZUG DESSAU) oder aufgeforsteten Brachflächen (z.B. URBANER WALD LEIPZIG) vormals kompakte Stadtbilder. An den Rändern der schrumpfenden Städte wurden stadtbauliche Strukturen vielmals vor dem Hintergrund des Leitbildes »Rückbau von außen nach innen« zurückgebaut. Hier wurde mit landwirtschaftlichen oder forstwirtschaftlichen Bildern versucht, neue Ränder zu definieren und die freiwerdenden Flächen in einen neuen landschaftlich-produktiven Sinnzusammenhang zu stellen (z.B. WALDSTADT HALLE-SILBERHÖHE). Die Frage nach der Ausbildung der Ränder zwischen Stadt und Land war nicht allein in der schrumpfenden Stadt ein Thema, sondern stand und steht auch in wachsenden Agglomerationsräumen im Vordergrund. Wie kann sich hier die wachsende Stadt mit der umgebenden Agrarlandschaft verbinden (z.B. Ideenkonkurrenz EIN BILD DER REGION BERN, 2005)? Wie wird mit offenen landwirtschaftlichen Flächen die Siedlungsentwicklung strukturiert? Wie können charakteristische Übergänge zwischen Siedlungen und Agrarlandschaft gestaltet werden und wie gleichzeitig mit Flächenressourcen sparsam umgegangen werden (z.B. REGIONALPARK BARNIMER FELDMARK, FELDFLURPARK NORDPARK PULHEIM)? Und schließlich hält das Rurale auch Einzug in neue städtebauliche Quartiere, die die Innenentwicklung der Städte zum Ziel haben. Bilder, die gemeinhin mit dem

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Ruralen verbunden werden, wie etwa gemeinschaftliche und generationenübergreifende Wohnformen und Möglichkeiten der gärtnerischen Produktion, werden zunehmend in städtebaulichen Quartiersentwürfen aufgerufen (z.B. STADTQUARTIER OBERBILLWERDER IN HAMBURG). In der Berliner Senatsverwaltung wird beispielsweise auf Howards Gartenstadtkonzept rekurriert und dieses neu gedeutet, um Leitlinien für die Entwicklung ergänzender Stadtquartierte vorzugeben (GARTENSTADT DES 21. JAHRHUNDERTS). Die gute Ausstattung mit qualitativ hochwertigen Freiräumen, die sowohl nachbarschaftlich verbindend wirken als auch ökosystemar leistungsfähig sind, ist ein wesentliches Qualitätsmerkmal dieser neuinterpretierten Gartenstadt. In den oben aufgeführten Beispielen wird allerdings weiterhin eine urbane Perspektive auf das Ländliche eingenommen. Die positiven Zuschreibungen, die mit dem Ländlichen verbunden sind, werden durch planerische Bilder dem Städtischen ›einverleibt‹. »Was passiert mit dem Land, wenn Städte ländlicher werden?« fragt daher auch der Geograph Marc Redepenning (2018: 93). Welche Zukunftserzählung bleibt dann noch für das Land, wenn all die positiven Zuschreibungen des Ländlichen auch im urbanen Raum zu haben sind? In einem pessimistischen Szenario beschreibt Redepenning eine ländliche Zukunft, die, je stärker die Städte die attraktiven Seiten des Ländlichen in sich aufnehmen, umso stärker mit abgekoppelten und zu vermeidendenden Räumen verbunden werden wird (ebd.: 96). Natürlich bedeuten diese Überlegungen nicht, dass auf das Zurückgreifen positiv konnotierten Bilder im städtischen Raum zur Erhöhung der Attraktivität der Städte und ihrer Lebensqualität zu verzichten wäre, aber sie machen deutlich, dass eben auch die damit verbundenen Auswirkungen und Herausforderungen für den ländlichen Raum nicht aus den Augen verloren werden dürfen (ebd.: 98).

R AUMBILDER

FÜR SICH WANDELNDE LÄNDLICHE

R ÄUME

Rurbane Bilder, die die jeweils positiven Seiten des Ruralen und Urbanen miteinander verbinden, lassen sich in planerischen Zukunftserzählungen für urbane Räume finden, müssen jedoch für den ländlichen Raum noch stärker gesucht werden. Bilder, die eine produktive Verbindung zwischen Stadt und Land und deren positiven Auswirkungen für den ländlichen Raum thematisieren, sind erst im Entstehen. Die IBA Thüringen entwickelt derzeit mit ihrem Thema STADTLAND eine solche rurale Perspektive innerhalb der produktiven Stadt-Land-Beziehungsgefüge. Ausgehend von dem durch Klein- und Mittelstädte und Dörfer kleinteilig strukturierten Raumgefüge Thüringens wird hier nach den Auswirkungen eines »neuen gesellschaftlichen Stoffwechsel« zwischen Stadt und Land eben für jene eher als ›ländlich‹ zu charakterisierenden Raumkonfigurationen gefragt (Doehler-Behzadi 2017: 16).

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Um diese rurbanen Beziehungsgefüge zu verstehen und ihre Auswirkungen auf die ländlichen Räume in den Blick zu nehmen, müssen sich sowohl planerische als auch gesellschaftspolitische Diskurse mit den ablaufenden raumbildenden Prozessen intensiv auseinandersetzen und die bisher unterbelichteten Stadt-Land-Beziehungen mitsamt ihren Auswirkungen auf ländliche Räume in den Blick nehmen. Ähnlich wie in der Zwischenstadtdiskussion (Sieverts 1997), die vor etwa 25 Jahren einen Perspektivwechsel in der Planung einleitete und die bis dahin eher ausgeblendeten Raumkonfigurationen der urbanisierten Landschaften in umfassender Weise, d.h. auch von ihrer ästhetischen und phänomenologischen Seite her (Hauser/Kamleithner 2006), thematisierte, ist es nun notwendig, die rurbanen Landschaften jenseits der Agglomerationsräume aus ihrer spezifischen Unsichtbarkeit bzw. einseitigen Zuschreibungen heraus zu holen. Der Architekt Rem Koolhaas spricht in diesem Kontext auch vom Land als einem »ignored realm« (AMO/Koohlhaas 2020: 2). Wie ließe sich das bewerkstelligen? Susanne Hauser bemerkt, dass im Prozess des Sichtbar- und Lesbarmachens zunächst häufig Bestandsanalysen in Form von innovativen Darstellungsformen erstellt werden, die etwa Karten, Diagramme und auch Metaphern nutzen, um globale wirksame Prozesse hinsichtlich ihrer konkreten lokalen Auswirkung zu argumentieren und zu verstehen (Hauser 2007: 693). Sie sollen auch, so wäre zu sagen, die unterschiedlichen Perspektivierungen auf sowie die Mehrdeutigkeit des jeweiligen ruralen bzw. rurbanen Raums hervorheben und ins Bewusstsein bringen. Denn auf die komplexen und vielschichtigen Transformationsprozesse des Landes lässt sich nicht mit scheinbar eindeutigen Planungsleitbildern antworten. Vielmehr geht es darum, die spezifisch lokalen Bedingungen unter global wirksamen Urbanisierungsprozessen aufzudecken und zu verstehen. Dabei können kartografische Raumbilder helfen. Sie erzeugen zunächst einen interpretierenden Zugang zu einem konkreten Raum mitsamt seiner Veränderungsdynamik und fragen danach, was diese dynamischen Prozesse für den Ort, die Region und ihre möglichen rurbanen Zukünfte bedeuten könnten. Dafür soll im Folgenden nun mit dem RAUMBILD MITTE THÜRINGEN ein konkretes Beispiel angesprochen werden.

R AUMBILD M ITTE T HÜRINGEN Digitalisierung und Energiewende, Klimakrise und Corona-Pandemie, globalisierte Produktions- und Distributionswege sowie urbane Lebensweisen, Industrialisierung und Zentralisierung der Landwirtschaft, aber auch die individuelle Suche nach dem »guten Leben« bilden treibende Kräfte der Transformation des Landes. Die global wirksamen Transformationsprozesse zeichnen sich dabei auf dem Land vielfach rapider und radikaler ab.

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Dynamische Veränderungen zeigen sich hierbei vor allem in der Bewirtschaftung und Nutzung der Landschaft. Das Land ist vielerorts zu einer hocheffizienten Produktionszone der Agrar- und Bioenergieindustrie geworden. Diese räumlichen Entwicklungen einer »global countryside« (Woods 2007) stehen oftmals im Kontrast zu vielfach geteilten Imaginationen des Landes als arkadische Idylle bzw. als naturnaher Landschaftsraum. An diesem widersprüchlichen Bild des Ländlichen zwischen agrarindustriellem Produktionsraum und idyllischem Sehnsuchtsraum greift u.a. die Studie RAUMBILD MITTE THÜRINGEN (Stein + Schultz, Station C23, rabe landschaften) an. Die Studie entstand im Auftrag der IBA Thüringen und sollte bei der Diskussion der Frage unterstützen, wodurch die Landschaft der Mitte Thüringen charakterisiert ist und wie Zukunftsbilder produktiver Stadt-Land-Beziehungen hier aussehen könnten. In der Studie werden je verschiedene, auch miteinander konkurrierende und einander widersprechende Perspektiven auf die Landschaft zwischen Erfurt und Jena eingenommen. Ein vielfach geteiltes Bild der Landschaft »Mitte Thüringens« ist das einer strukturreichen Kulturlandschaft, geprägt durch die Flusstäler von Ilm und Saale, durch orchideenreiche Kalkhänge, durch sanfte und bewaldete Hügelketten, Burgen und Schlösser – attraktiv für Touristen, vielfach medial gespiegelt. Dieses Raumbild wurde als SehnsuchtsLAND angesprochen und kartographisch erfasst. Abb. 1: Karte SehnsuchtsLAND.

RAUMBILD MITTE THÜRINGEN (Stein + Schultz, Station C23, rabe landschaften)

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Dieser touristische Imaginations- und Sehnsuchtsraum einer arkadischen Landschaft lässt leicht vergessen, dass die Landschaft Mitte Thüringens eine hocheffiziente und intensiv genutzte Landschaft ist. Über 80 Prozent der Flächen von Mitte Thüringen sind intensiv land- und forstwirtschaftlich bewirtschaftete und hochproduktive Landschaften. Dieses Raumbild wurde als ErnteLAND gefasst. Abb. 2: Karte ErnteLAND.

RAUMBILD MITTE THÜRINGEN (Stein + Schultz, Station C23, rabe landschaften)

Diese intensiv bewirtschafteten Flächen stehen wiederum vielmals in Konflikt mit dem so bezeichneten SchutzLAND, das die denkmal- und naturschutzrechtlich gesicherten Gebiete hervorhebt. Die Mitte Thüringen besitzt einen hohen Flächenanteil an natur- und kulturgeschützten Flächen. Das Artensterben schreitet trotzdem voran. Klimawandel, Wassermangel und Nitrateinträge in die Fließgewässer machen auch nicht vor Schutzgebietsgrenzen halt. Der Leerstand einer Vielzahl an ortsbildprägenden Bauten in den Ortskernen oder auch die Unternutzung der vielen kleinen Dorfkirchen gefährdet den Erhalt des baukulturellen Erbes trotz des Schutzstatus. Eine zunehmende Aufspaltung in spezialisierte Schutz- und Nutzlandschaften ist dabei zu verzeichnen.

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Abb. 3: Karte SchutzLAND.

RAUMBILD MITTE THÜRINGEN (Stein + Schultz, Station C23, rabe landschaften)

Zu den spezialisierten Nutzlandschaften gehört auch das InfraLAND, über das die Transport- und Logistiklandschaften beschrieben werden. Die Infrastrukturlinien und die »schnellen Durchläufer« Autobahn und ICE-Strecke folgen logistischen Konzepten, sind in ein überregionales, globales Netz eingebunden und interagieren kaum mit ihrem unmittelbaren Umfeld. Zu diesen globalisierten und standardisierten Infrastrukturen gehören auch die »verschlossenen Kisten« – das sind Gewerbeeinheiten und -strukturen, die sich vor allem entlang der Autobahn und ihrer Zubringer organisieren.

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Abb. 4: Karte InfraLAND.

RAUMBILD MITTE THÜRINGEN (Stein + Schultz, Station C23, rabe landschaften)

Im WohnLAND zeigt sich wiederum, wie das Alltagsleben sich sowohl aus dem Bezug zu eher als ›ländlich‹ zu bezeichnenden Räumen als auch aus dem Bezug zu eher als ›städtisch‹ charakterisierbaren Orten zusammenpuzzelt. Das Pendelmodell zwischen den Wohn-, Arbeits- und Freizeitorten ist auf Mobilität angewiesen und von guten Erreichbarkeiten und Anbindungen abhängig. Im WohnLAND konkurrieren ländliche Kommunen um junge, gut ausgebildete und gut verdienende Menschen. Die landschaftlichen Qualitäten des SehnsuchtsLANDes spielen hierbei eine nicht zu unterschätzende Rolle. Diese Entwicklungen sind ambivalent, basieren sie doch zu einem großen Teil auf einem nicht zukunftsfähigen Wohn- und Mobilitätsmodell, das auf den motorisierten Individualverkehr setzt und durch die Ausweisung neuer Wohngebiete an den Ortsrändern die landschaftlichen Qualitäten des SehnsuchtsLANDes sowie die ökologischen Qualitäten des SchutzLANDes, nach denen die neuen bzw. potenziellen Bewohner/innen ja suchen, im selben Moment verschwinden lässt. Die Bestandsstrukturen in den Dorfkernen und Kleinstädten haben hingegen oftmals mit Leerstand zu kämpfen. Auch kultur- und ortshistorisch wertvolle und identitätsstiftende Bausubstanzen sind davon betroffen, wie etwa Kirchen, leerstehende Guts- und Bauernhöfe oder Bahnhofsgebäude. In diesem Dilemma zwischen den aktuellen wie auch antizipierten Situationen des WohnLANDes und denjenigen des SehnsuchtsLANDes und des SchutzLANDes zeigen sich exemplarisch und beispielhaft die einander widersprechenden Perspektiven auf das Land.

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Abb. 5: Karte WohnLAND.

RAUMBILD MITTE THÜRINGEN (Stein + Schultz, Station C23, rabe landschaften) Der Ansatz, der durch die Studie verfolgt wurde, war der, zunächst die Landschaft aus den einzelnen Nutzungs- und Vorstellungsperspektiven heraus zu beschreiben, um dann zu verdeutlichen, welche Abhängigkeitsverhältnisse und Zusammenhänge zwischen diesen Perspektiven bestehen. Durch die Betrachtung der Landschaft aus den jeweiligen Nutzungsperspektiven heraus wird deutlich, dass viele dieser Landschaftsnutzungen als in sich geschlossene und optimierte Systeme organisiert sind, die in ihren eigenlogischen Strukturen funktionieren. So bewirken sie die Entstehung fragmentierter Landschaften (Sieverts 2008). Deutungs- und Nutzungskonflikte nehmen in diesen monofunktionalen und spezialisierten Landschaften zu. Es ist allerdings zu fragen: Wie könnte eine Gegenerzählung zur fragmentierten und funktionsgetrennten Landschaft aussehen? Das Zukunftsbild, das in der Studie skizziert wurde, ist das eines MultiLANDes, in dem es vielfältige produktive Beziehungen zwischen den einzelnen Nutzungsperspektiven gibt; und in dem multiperspektivische Zugänge sowie multifunktionale Nutzungen der Landschaft befördert werden. Eine wesentliche Rolle dabei spielen Ansätze, die auf eine Erhöhung der Durchlässigkeit räumlicher Strukturen sowie das Öffnen und Vernetzten geschlossener Systeme abzielen. Wie verbinden sich aber räumliche Einzelelemente und -interessen zu einem produktiven und zukunftsfähigen Neuen, das Wechselbeziehungen und Interaktionen

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hervorhebt und befördert? Anhand konkreter Raumsituationen wurden beispielhaft Entwicklungsmöglichkeiten des MultiLANDes skizziert.

Abb. 6: Karte MultiLAND.

RAUMBILD MITTE THÜRINGEN (Stein + Schultz, Station C23, rabe landschaften)

Hierbei können Beispielsweise durch den notwendigen Infrastrukturumbau im ländlichen Raum dezentrale Reinigungslandschaften für Abwasser entstehen, die gleichzeitig als ökologisch wertvolle, strukturreiche und nutzbare Dorfränder innerhalb der ausgeräumten Agrarlandschaft entwickelt werden können. Akteur/innen des Ernte-, Schutz-, Infra- und WohnLANDes müssen hierfür neue Allianzen eingehen (siehe

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Abb. 7: Rohrbach Rand Land). Die riesigen Dach- und Zwischenflächen der Gewerbekisten im InfraLAND bieten Raum für Biodiversität und beliefern durch ein nachhaltiges Regenwassermanagement das SchutzLAND oder ErnteLAND mit Wasser (siehe Abb. 8: Bosco Zalando). Oder leerstehende bzw. historisch wertvolle, aber untergenutzte Strukturen der dörflichen Ortskerne bieten Raum für kulturelles Leben mit Landschaftsbezug bei gleichzeitiger räumlicher Nachbarschaft zu den städtischen Räumen der Thüringer Städtekette (siehe Abb. 9: Land Symphonien Thalbürgel). Abb. 7: Rohrbach Rand Land.

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Abb. 8: Bosco Zalando.

RAUMBILD MITTE THÜRINGEN (Stein + Schultz, Station C23, rabe landschaften)

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Abb. 9: Land Symphonien Thalbürgel.

RAUMBILD MITTE THÜRINGEN (Stein + Schultz, Station C23, rabe landschaften)

Mit Hilfe der Studie werden Potenziale einer solchen multidimensionalen Betrachtung der Landschaft thematisiert. Für die weitere Diskussion um die Zukunft der Landschaft, die im Rahmen der IBA Thüringen und darüber hinaus geführt wird, würden sich hieraus die unter anderem die folgenden Fragen stellen: Wie können die unterschiedlichen Einzelinteressen und -akteure der Landschaft miteinander vernetzt werden und sich finden? Welche Projekte können beispielgebend für eine multifunktionalen und kooperativen Formen der Landschaftsproduktion stehen? Wie entstehen letztlich ko-produktive Landschaften, die nicht die zunehmende Fragmentierung des Raumes fortschreiben, sondern die Entwicklung mehrdimensionaler, vernetzter und durchlässiger Räume befördern?

M IT R AUMBILDERN RURBANE UND VERHANDELN

L ANDSCHAFTEN

ERZÄHLEN

In der Studie RAUMBILD MITTE THÜRINGEN wurde sowohl mit kartografischen, sprachlichen und raumsituativen Bildern gearbeitet. Der Einsatz dieser Bilder zielt darauf ab, ein narratives Raumporträt zu erzeugen. Dieses Porträt zeigt eine Landschaft, die vielfältige Ressource ist und durch viele »Landschaftsunternehmer« genutzt wird. Die von ihnen vollzogenen »Landschaftsunternehmungen« funktionieren vielfach innerhalb ihrer jeweils eigenen Logiken und gehorchen ihren jeweils eigenen

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Zwängen. Sie bilden in sich geschlossene Systeme. Die Gefahr besteht, dass gleichermaßen räumliche Fragmentierungen sowie Nutzungskonflikte zwischen Einzelinteressen zunehmen. Von dieser Interpretation der Landschaft ausgehend, skizziert das Raumbild Wege, wie die Landschaft als eine gesamtgesellschaftliche »Unternehmung« kooperativ und multifunktional gedacht werden kann. Durch die produktive Qualifizierung von Verknüpfungen, Schnittstellen und Perspektiven kann ein vielseitiges, multidimensionales und nachhaltiges MultiLAND erzeugt werden. Dabei ist allerdings auch zu fragen: Was leisten Raumbilder in einem solchen Prozess gemeinsamer Raumverständigung? Zum einen unterstützen sie die Orientierung innerhalb komplexer Raumzusammenhänge. Insbesondere durch kartografische Raumbilder können komplexe Topologien – d.h.: räumliche Beziehungsgefüge, Akteurskonstellationen und räumliche Transformationsprozesse – beschreibbar und lesbar werden. Sie fungieren hierbei gewissermaßen als ein Mittel der Erzeugung von Wissen und Erkenntnis über bestimmte Räume. Zum anderen werden über Raumbilder nicht einfach nur die Beziehungsgefüge der Landschaften beschrieben, sondern ebenso interpretiert; etwa durch die Art und Weise, wie diese Zusammenhänge abgebildet werden oder was hervorgehoben und betont wird. Dies erzeugt zugleich auch neue Sichten auf Landschaft (Langner 2019a), die selbst wiederum in kommunikative Aushandlungsprozesse und gesellschaftliche Diskurse über jeweils aktuelle Problemlagen und zukünftige Entwicklungsmöglichkeiten eingespeist werden können (vgl. auch Langner 2019b). In diesen anhand von Raumbildern erzeugten Landschaftserzählungen werden mit Hilfe von Karten Dinge überhöht, ausgelassen, gefärbt, miteinander in Beziehung gebracht. Häufig werden dabei Metaphern eingesetzt, um neue Perspektiven auf die Landschaft einzunehmen und bislang Unbekanntes oder Ungesehenes zu verdeutlichen. Spezifische Beziehungsgefüge von Landschaften werden durch Raumbilder hervorgehoben, interpretiert und re(konfiguriert). Verschiedene Perspektiven und Projektionen auf Landschaften können so sichtbar und neue Entwicklungsmöglichkeiten vorstellbar werden. Durch diese Beschreibung von Möglichkeitsräumen können wiederum konkrete Handlungsperspektiven entstehen. Sie fungieren hierbei gewissermaßen als ein Werkzeug, mit dem räumliche Zukünfte ausgehandelt und gestaltet werden. Raumbilder sind einerseits Interpretationen bestehender räumlicher Beziehungsgefüge. Andererseits eröffnen sie Perspektiven auf mögliche tragfähige und wünschenswerte Zukünfte und Wege dorthin. Durch Raumbilder können unterschiedliche, meist auch konfliktreiche Raum- und Entwicklungsvorstellungen sichtbar und diskutierbar gemacht, aber auch Perspektiven auf einen gemeinsamen Verantwortungsraum verdeutlicht werden. Sie fungieren hierbei gewissermaßen auch als Reflexionsmedium, das über die bloße räumliche Planung hinausgeht. Im Fall des RAUMBILDES MITTE THÜRINGEN wurden u.a. Fragen diskutierte wie: Was bedeuten unterschiedliche Nutzungsinteressen für die begrenzte Ressource Land? Welche Konflikte, aber auch welche vielleicht noch nicht sichtbaren und noch nicht entwickelten Synergien bestehen zwischen einzelnen

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Landschaftsnutzungen und -akteuren? Wie können diese Konflikte verhandelt und wie können diese Synergien umgesetzt werden? Dadurch, dass Raumbilder sowohl konkrete Konflikte als auch mögliche Synergien thematisieren und sichtbar machen, sind sie als Teil kommunikativer (sozialer, medialer, politischer, planerischer etc.) Aushandlungsprozesse über die Entwicklung rurbaner Landschaften zu verstehen. Eingebunden in ko-kreative Gestaltungsprozesse können Raumbilder zu wichtigen Aushandlungs- und Kommunikationswerkzeugen werden, mit deren Hilfe eine gemeinsame Sprache zwischen Beteiligten aus Planung, Verwaltung und Bürgerschaft gefunden werden kann (Schultz 2018). Sie sind notwendig, um Prozesse anzustoßen und die Handlungsbereitschaft der beteiligten Akteur/innen auf der Grundlage gemeinsamer Verständigungsprozesse zu erhöhen. Raumbilder dürfen in diesen Kommunikationsprozessen nicht als abgeschlossene Bilder oder fixe Masterplanungen missverstanden werden. Sie sollten vielmehr eine offene Plattform bieten, über die eine ko-kreative Ideen- und Wissensproduktion ermöglicht wird. Raumbilder können somit letztlich zu einem tragfähigen Argument innerhalb eines Verständigungsprozesses über mögliche und wünschenswerte Zukünfte von rurbanen Landschaften werden.

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Kulturen des Unterwegsseins in rurbanen Landschaften Wo und wie verortet sich die multilokale Gesellschaft? H ENRIK S CHULTZ Denn das TERRESTRISCHE hängt zwar an Erde und Boden, ist aber auch welthaft in dem Sinne, dass es sich mit keiner Grenze deckt und über alle Identitäten hinausweist. LATOUR 2018: 66

E INLEITUNG Was bedeutet die Tatsache, dass wir immer mehr Zeit auf dem Weg und an unterschiedlichen Orten verbringen, für Funktionen und Gestaltungen gegenwärtiger Lebenswelten? Was bedeutet es für Individuen und Gesellschaften, sich selbst in multilokalen räumlichen Beziehungsgeflechten zu verorten? Gibt es neue Kulturen des Unterwegsseins und wie lassen sich diese erforschen, verstehen und entwerfen? Diesen Fragen nähert sich der folgende Text, indem er Erkenntnisse aus unterschiedlichen Disziplinen mit Praxiserfahrungen aus dem Bereich des großräumigen Landschaftsentwerfens zusammenbringt. Er verfolgt und diskutiert sie aus der Perspektive des Konzepts rurbaner Landschaften (vgl. Langner/Frölich-Kulik 2018) – also von räumlichen Beziehungsgefügen, die auf verschiedenen Ebenen sowohl urbane als auch rurale Elemente aufweisen und miteinander verbinden.

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W IR

SIND MULTILOKAL UND UNTERWEGS

Multilokalität ist eine Alltagspraxis von Menschen, die zwei oder mehrere Orte haben, zwischen denen Sie regelmäßig unterwegs sind (Wood et al. 2015). Diese Orte sind jedoch häufig nicht bloß monofunktional; sie werden also etwa nicht nur als reine Wohnstätten genutzt. Vielmehr kommt es an ihnen zu neuen Mischungen aus Wohnen, Arbeiten und unterschiedlichen Formen von Freizeitgestaltung oder ehrenamtlicher Tätigkeit. Das deutsche Zukunftsinstitut spricht in diesem Kontext von »Third place living« (Zukunftsinstitut 2013). Third Place Living beschreibt Orte der Arbeit, der Erholung und Kommunikation, an denen Wohnfunktionen substituiert werden, die nicht in den eigenen vier Wänden Platz finden. Je nachdem, welche Umgebung wir in der jeweiligen Situation brauchen, um Menschen zu treffen, Familie zu leben und gesellschaftlich teilzuhaben, kombinieren wir die Ruhe im Grünen mit der Stadtwohnung, in der der Partner wohnt, mit dem Co-WorkingSpace, der uns die nötige Infrastruktur bereitstellt und beruflicher Netzwerkknoten ist. Die harten Grenzen zwischen Wohn-, Arbeits- und Entfaltungsorten verschwimmen (Urry 2007, Castells 2004). Durch die Nutzung dieser Orte in alternierenden Rhythmen kommt dem Unterwegssein zwischen diesen vielen verschiedenen Orten neue Bedeutung zu. Wir sind seit der Sesshaftwerdung noch nie so mobil gewesen wie aktuell. Ein Extrembeispiel stellen hier die aktuell rund 220 Mio. Arbeitsnomaden in China dar (Yu Zhu 2014: 8). Überhaupt sind die Formen des Unterwegsseins außerhalb von Europa deutlich ausgeprägter und drastischer. Zentral ist jedoch die Erkenntnis, dass Multilokalität in den meisten Fällen beides ist: Notwendigkeit und freie Entscheidung. Eva Dick spricht auch vom »intermeshing of structural ›necessity‹, action capacity and living strategy«, also einer Verknüpfung struktureller Notwendigkeiten, Möglichkeiten und Lebensstil-Entscheidungen (Dick 2014). Das gilt für Europa und laut Dick selbst für den globalen Süden.

Unterwegssein ist also ein komplexes Verknüpfen unterschiedlicher Bedürfnisse, Lebensstilentscheidungen und Raumpraktiken.

U NTERWEGSSEIN

IM

S TADT -L AND -G EFÜGE

Was bedeutet Multilokalität und Mobilität für das Leben im Stadt-Land-Gefüge? Hier erscheint eine Unterscheidung zwischen Deutschland und der globalen Entwicklung notwendig. Weltweit ist ein Drittel der Bevölkerung gerade auf dem Weg vom Land in die Stadt, wie Doug Saunders in seinem Buch ARRIVAL CITY eindrucksvoll beschreibt (Saunders 2010: 21). Die Wucht dieses Urbanisierungsschubs betrifft vor

K ULTUREN

DES

U NTERWEGSSEINS

IN RURBANEN

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allem Schwellen- und Entwicklungsländer in Asien und Afrika: Knapp 90 Prozent des Wachstums der urbanen Bevölkerung bis 2050 werden laut Vereinten Nationen in diesen beiden Kontinenten erwartet (UN DESA 2014). Saunders zeigt, dass weltweit die Migration vom Land in die Stadt für die meisten Menschen eine Verbesserung bedeutet. Land-Romantik, wie wir sie in Deutschland kennen und wie sie auch gegenwärtig unter anderem in Landmagazinen wieder medial neu inszeniert wird (Baumann 2018), ist fehl am Platz. Landleben steht – weltweit betrachtet – für Unterernährung und niedrige Lebenserwartung (Saunders 2010: 23). Wir beobachten also weltweit eine Wanderung vom Land in die Stadt – allerdings vor allem in einer Generation. Die Großelterngeneration und für die ersten Jahre auch die Kinder der migrierenden Generation bleiben auf dem Land, und die Eltern schicken Geld und reisen zwischendurch zurück aufs Land. Hier deuten sich bereits Ausprägungen komplexer (neuer) Stadt-Land-Beziehungen – häufig sogar länderübergreifend – an (Saunders 2010). In Deutschland und anderen Teilen Westeuropas hingegen ist die gesellschaftliche Debatte durch die Sehnsucht nach dem Land als Zufluchtsort des Einfachen, Schönen und Alten geprägt. Gerade das ›gute Leben‹ wird hier immer wieder verortet (vgl. Rössel 2014); das gesellschaftlich wie wissenschaftlich viel diskutierte Phänomen der Neuen Ländlichkeit (Neu 2016) besteht dabei vor allem auch in der Aneignung von Bildern und Praktiken des Ruralen im (groß)städtischen Kontext. Die nackten Zahlen jedoch zeigen auch in Deutschland den klaren Trend der Abwanderung vom Land in die Ballungsräume. Der direkt (land-)wirtschaftliche Bezug zum Land, die klassische Verortung über den Nutzungsbezug zum Land geht auch in Deutschland schon lange verloren (Regionale 2016, 2010). Selbst im wirtschaftlich und demografisch gut dastehenden westlichen Münsterland, um nur ein Beispiel stellvertretend anzuführen, ist trotz kleinteiliger Landwirtschaft eine deutliche Entkoppelung von Wohnen auf dem Land und Landbewirtschaftung festzustellen (siehe Abb. 1). Mit der Studie RAUMPERSPEKTIVEN ZUKUNFTSLAND (Regionale 2016) wurden die Elemente des Wohnens in der offenen Landschaft, angedockt an die alten Hofstellen (siehe Abb. 2 und 3), in ihrer Abhängigkeit vom Unterwegssein zu Arbeitsplätzen in der Region und im benachbarten Ruhrgebiet analysiert. Die »Hofknöpfe« sind Teil eines Quilts aus landschaftlichen Neuverknüpfungen in der Region (Schultz/Stein 2012).

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Abb. 1: Einfamilienhausknöpfe im ZukunftsLAND.

Regionale 2016 / Stein+Schultz

Abb. 2: Hofknöpfe.

Regionale 2016 / Stein+Schultz

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Abb. 3: Hofknöpfe.

Regionale 2016 / Stein+Schultz

Die folgende Abbildung zeigt die Alltagspraktiken einer prototypischen Familie im westlichen Münsterland, die unterschiedliche Orte des Arbeitens, Lernens, Wohnens und zur Freizeitgestaltung im Stadt-Land-Geflecht miteinander verknüpfen. Abb. 4: Regionale Geschichte Einfamilienhaussaum.

Regionale 2016 / Stein+Schultz

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In den aktuellen Diskussionen zur Zukunft des ländlichen Raums wird oft auf die Chancen der Digitalisierung verwiesen. Gerade die im Kontext der Pandemie notgedrungen erlernten Formen des mobilen Arbeitens rücken den ländlichen Raum wieder in den Fokus von Wohnort-Entscheidungen. In der Tat ist die Frage berechtigt, ob uns die Digitalisierung und Flexibilisierung von Formen es Zusammenarbeitens unabhängiger von den Ballungsräumen mit ihren Bürostandorten und Infrastrukturen macht (Schultz 2018) und somit auch entscheidend unser Unterwegssein und unsere Verortungsentscheidungen beeinflusst. Die Verantwortlichen für die Regionale in Südwestfalen haben deshalb die Chancen und Ausprägungen der Digitalisierung ins Zentrum ihrer Aktionen gestellt. Grundtenor ist auch hier: Wenn wir eh zwei bis drei Tage pro Woche aus dem Mobile Office arbeiten, dann kann dieses – gute Breitbandversorgung vorausgesetzt – ja auch auf dem Land liegen. Daraus ergeben sich dann auch neue Arbeitsformen und Arbeitsräume – Stichwort: Co-Working-Space – in ländlichen Räumen. Wenn wir von korrespondierenden Standorten in der großen Stadt und auf dem Land ausgehen, braucht es jedoch erst recht deren Verbindung. Menschen werden zwischen den unterschiedlichen ruhigen Orten und den Hubs des Austausches unterwegs sein. Die Bewegung zwischen Stadt und Land schafft dann ein Kontinuum, eine neue Form von Verbindung; und mindert damit weiter zunehmend die Dichotomie zwischen Stadt und Land, die als klassisches Deutungsmuster (Redepenning 2019) menschlicher Lebenswelten nach wie vor herangezogen wird und dabei in öffentlichen Debatten, medialen Berichterstattungen und politischen Analysen auch komplexitätsreduzierende Funktionen ausübt.

Das Kontinuum zwischen Stadt und Land entsteht also durch die Bewegungsformen multilokaler Menschen.

U NTERWEGSSEIN

ALS

K ULTUR

UND

L ERNFORM

Wenn es um neue gelebte Verknüpfungen zwischen Stadt und Land geht, stellt sich die Frage: Gibt es Kulturen des Unterwegsseins und wie sehen sie aus? Der Philosoph Nicolas Bourriaud sagt, dass Künstler die Vorboten einer neuen Kultur des Unterwegsseins seien. Sie sind nicht mehr an einem statischen Ort zuhause, sondern unterwegs. Und sie konstruieren eine Identität in der Bewegung. Laut Bourriaud ist es möglich, unterwegs zu wohnen, an Flughäfen, in Autos, Bahnhöfen. Das bedeutet auch die gedankliche Abkehr von einem Verständnis der Transiträume als Nicht-Orte im Sinne Marc Augés (2012). Diese Orte sind zu neuen Metaphern des Hauses geworden (Bourriaud 2009: 57). Ihm zufolge sind der Geflüchtete, die Touristin und

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der urbane Mobile als dominante sowie paradigmatische Figuren einer zeitgemäßen Kultur zu verstehen (ebd.: 51). Bourriaud hat für diese Menschen die Bezeichnung »radicant« geprägt. Radicants sind gefangen zwischen der Notwendigkeit, sich mit der Umwelt zu verbinden, und den Kräften der permanenten Entwurzelung. Sie agieren global und singulär, zwischen Identität und Öffnung für das Andere (ebd.). Verortung in der multilokalen Gesellschaft bedeutet demnach, temporär Anker zu werfen, Radicant sein, also seine Wurzeln in Bewegung zu setzen, ihnen die Kraft abzusprechen, die eigene Identität vollständig zu definieren. Es geht vielmehr um übersetzen und transcodieren (ebd.: 22). Bruno Latour führt in das Spannungsfeld aus Globalem und Lokalem, das durch radikales Entwurzeln und Verwurzeln bestimmt ist, den Begriff des Terrestrischen ein (Latour 2018). Das Terrestrische, so Latour, vereint die gegensätzlichen Figuren von Boden und Welt. Dem Lokalen als Kontrast zum Globalen »haftet nichts Heimeliges, nichts Bodenständiges oder Ursprüngliches an« (Latour 2018: 36). Latour fordert, statt sich auf das Lokale zurückzuziehen, eine Stärkung des Terrestrischen, das ohne ethnische Homogenität, Musealisierung, Historizismus, Nostalgie und falsche Authentizität auskommt (ebd.: 65). Eine zentrale Frage ist es demnach, zu diskutieren, »wie und wo wieder Bodenhaftung erzielt werden könnte.« (Ebd.) Bodenhaftung meint nicht zwangsweise Verwurzelung. Ganz im Sinne von Bourriauds Radicant geht es um Kontakt zum Boden, der laut Latour »das genaue Gegenteil eines Bodenuntergrunds, der durch ein Entwicklungs- und Immobilienprojekt in Besitz genommen werden kann« (ebd.: 107) ist. Latour führt dazu weiter aus: »Der so verstandene Boden lässt sich nicht aneignen. Man gehört ihm, er gehört niemandem« (ebd.). Verortung bedeutet dann weniger Besitz als Zugehörigkeit – und die ist unabhängig von den Wurzeln. Das Leben eines Radicants zu führen, bedeutet also keineswegs, sich für global und gegen lokal zu entscheiden. Beide stellen kein einander ausschließendes Gegensatzpaar dar. Vielmehr geht es um Ausprägungen des Terrestrischen. Das Spannungsfeld lokal-global kreativ zu entwerfen, ist eine der zentralen Forderungen des Raumplaners und Autors Thom Held, der in seinem Buch BERÜHRT VOM ORT DIE WELT EROBERN! Portraits von Akteuren zeigt, die enge Bezüge zu einer Gegend unterhalten und sich gleichzeitig von einem intensiven Austausch mit dem Globalen inspirieren lassen. Held bezeichnet dies als das Terroir-Prinzip: »Das Terroir-Prinzip ist somit kein durch Abschottung der Grenzen verstandener Heimatschutz. Es ist nicht Ausdruck eines dumpfen Regionalismus oder Nationalismus, von ›Blut und Boden‹ gar nicht zu sprechen. Das ›Terroir-Prinzip‹ zielt auf eine ›Glokalisierung‹, in der sich Ort und Welt so verbinden, dass das Charakteristische und Einzigartige des Lokalen sich auch bei offenen Grenzen behaupten kann« (Held 2006: 31).

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Das im ständigen Verorten und wieder Lösen generierte Wissen wie auch die in der ständigen Transformation gewonnen Ideen sind im besten Fall auch wichtige Beiträge zur Verständigung zwischen Menschen auf dem Land und in der Stadt. Dann wird Unterwegssein zur Lernform.

Diese Verständigung, das Kontaktaufnehmen zu den Orten, an denen wir temporär Anker werfen, ist zentraler Gegenstand einer Kultur des Unterwegsseins.

I ST

DAS

L AND S PHÄRE

DER

V ERORTUNG ?

Das Land kann, wie alle anderen Orte auch, temporär Ort des Ankerwerfens sein. Wenn man Verortung als Radicant denkt, nicht als ein Sich-Einschreiben, sondern als ein Sich-Übersetzen, ein Auch-mal-flüchtig-Andocken, wird das Land Teil einer permanenten Stadt-Land-Verknüpfung – und Gegenstand einer Kultur des Unterwegsseins. Die Verortung passiert dann weder ausschließlich auf dem Land, quasi gebunden an die ›Scholle‹, noch ausschließlich in der global vernetzten Stadt. Sie manifestiert sich im Hier und Da und eben auch unterwegs, im Dazwischen. Peter Sloterdijk beschreibt in seiner Reihe SPHÄREN die hypervernetzte Welt mit der Metapher des Schaums. Wenn wir uns bewegen, bringen wir unsere Blase in diverse andere Blasen-Arrangements (Sloterdijk 2004). Trennung und erneute Verbindung gehören dazu. Wenn das Land im Sinne von Sloterdijk zur Sphäre wird, dann ist das permanente Spiel aus Trennung und Verbindung zentraler Prozess, den es zu verstehen und zu entwerfen gilt. Das Land wird dabei zur kontinuierlich wandelbaren und sich wandelnden Sphäre, nicht ganz greifbar, aufgeladen mit Erwartungen und Projektionen. Und doch ist es nur für sehr wenige Menschen ein abgeschlossener, statischer Raum; vielleicht noch einerseits für diejenigen, die immer schon da sind, und andererseits für die Aussteiger. Für die meisten, vor allem für die modernen Nomaden ist es aber nur ein Ort unter vielen, eine Station im Unterwegssein. Denn diese Menschen sind in ihrem Leben und Arbeiten angewiesen auf Vernetzung, auf Input und Absatz für ihre Beiträge zur vernetzten, mobilen Welt. Dass das Fragen danach aufwirft, wie Gemeinschaft in so einer mobilen Gesellschaft funktioniert, liegt auf der Hand. Der kreative Umgang mit Radicants spielt kaum eine Rolle in Politik und Planung, es sei denn als Problem des Umgangs mit sogenannten »Flüchtlingswellen« oder in überstützten Stabilisierungsversuchen des Status Quo eines »abgehängten Landes«. Der Wunsch, dass wir alle wieder sesshaft werden – und das am besten noch auf dem Land – und somit das Lokale wieder

K ULTUREN

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überhand gewinnt, wie es Latour sagen würde, bleibt ein Wunsch derjenigen, die sich der Aufgabe der Gestaltung einer Kultur des Unterwegsseins nicht stellen wollen.

Vielmehr geht es darum, neue Ideen für das durch Bewegung geschaffene StadtLand-Kontinuum in Form rurbaner Landschaften zu finden.

U NTERWEGSSEIN

ERFORSCHEN , VERSTEHEN , ENTWERFEN

Unterwegssein gilt es mittels einer Wissenschaft aus der Bewegung zu verstehen, wie Otmar Ette sie bezogen auf Alexander von Humboldt ausführlich erforscht. Ette legt dar, dass Humboldt sein Wissen in der Anschauung der Phänomene, im Unterwegssein entwickeln konnte (Ette 2009). Es gilt also, sich als Forschende auf den Weg zu machen und gemeinsam mit den multilokalen Menschen unterwegs Wissen zu generieren. Dies erfordert nicht zuletzt neue und alternative Herangehensweisen. Für die Disziplin der Landschaftsarchitektur stellt sich die Aufgabe, rurbane Landschaften als sich verändernde Bewegungsräume zu denken und zu entwerfen. Ein inspirierendes Beispiel für das Zusammendenken von landschaftlicher Transformation und Kulturen des Unterwegsseins ist das Konzept für die Kleinstadt Apolda, vorgeschlagen von Studio Vulkan im Rahmen der IBA Thüringen. Apolda, eine Kleinstadt zwischen Weimar und Jena, ist sehr gut mit der Bahn an das international bekannte und prosperierende Weimar angebunden. In knapp zehn Minuten kommt man vom Weimarer Hauptbahnhof nach Apolda. Zentrale Grundstücke in Apolda liegen brach, auch die Kleingärten, immerhin ein prägender Teil des Ländlichen, am Rand von Apolda stehen zu 40 Prozent leer. Die Landwirtschaft nutzt die angrenzenden Gebiete sehr intensiv. Das Konzept von Studio Vulkan nimmt die Kleingärten in den Blick und hängt daran eine Strategie für die Stadtentwicklung auf. Ein Drittel der Kleingärten soll zukünftig für unterschiedlichen Anbau genutzt werden, klassisch wie bislang, aber auch erweitert um Algenzucht usw. Ein Drittel soll für Arbeiten, Kunst und Forschung zur Verfügung stehen; ein weiteres Drittel schließlich für Biodiversität. Angebunden werden die Flächen an den noch lehrstehenden Hub am Bahnhof, wo alles Produzierte und Erforschte gezeigt und ggf. zum Verkauf angeboten werden kann. Dort gibt es Schaufenster, Werkstatt, Labor und Markt. Menschen aus der ganzen Region und darüber hinaus können die Kleingärten zum temporären Verorten und zum Ankerwerfen nutzen; zusätzlich sollen Artist in Residence-Programme angeboten werden. Die Zugstrecke und der Bahnhof sind elementarer Teil des Konzepts, das Apolda als Bewegungslandschaft denkt, die vom Unterwegssein der Akteure profitiert.

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Abb. 5: Konzept Datschland für Apolda.

IBA Thüringen / Studio Vulkan

Darüber hinaus geht es in der landschaftsarchitektonischen Forschung und Praxis darum, das Unterwegssein als lebendiges Raumgeschehen zu entwerfen, wie Hille von Seggern es nennt (Seggern 2015). Zusammen mit einem Team des Studio Urbane Landschaften hat sie das u.a. im Forschungsprojekt UNTERWEGS IN DEUTSCHEN BILDUNGSLANDSCHAFTEN erprobt. Dabei wurden die Bildungslandschaften von Schülerinnen und Schülern untersucht und dargestellt. Mobilität, Zugang zu Mobilitätsmitteln und zu wichtigen Orten sind dabei zentrale Themen. Entstanden sind individuelle Mobilitätskarten und dazu passende Geschichten, die das sich ständig wandelnde Raumgeschehen verständlich machen (Wüstenrot Stiftung 2015).

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Abb. 6: Unterwegs-Karte.

Wüstenrot Stiftung / Studio Urbane Landschaften Bildung

Es geht bei der Erforschung von Multilokalität und Unterwegssein in rurbanen Landschaften also nicht nur darum, Entwicklungen und neue Mobilitätspraktiken nachzuvollziehen, sondern Räume als ›Landschaften En Route‹ zu entwerfen – und zwar inklusive der Linien, Punkte, gesamten Räume sowie der Rhythmen der Bewegung und speziellen Formen der temporären Aneignung und des Ankerns.

So kann das Wissen der Menschen über ihr Unterwegssein und über die Landschaften als Geschichten, die sie erleben, mitschreiben und der Landschaft einschreiben, sichtbar gemacht werden.

F AZIT Ein möglicher Schlüssel zu ›gutem Leben auf dem Land‹ liegt in einem neuen, gelingenden Kontinuum zwischen Stadt und Land. Es kann durch das Unterwegssein multilokaler Menschen entstehen, verstanden als komplexes Verknüpfen unterschiedlicher Bedürfnisse, Lebensstilentscheidungen und Raumpraktiken. Zentraler Gegenstand einer Kultur des Unterwegsseins ist die Verständigung, das Kontaktaufnehmen zu den Orten, an denen wir temporär Anker werfen und von denen wir uns ebenso temporär auch wieder loslösen. Außerdem gilt es, das Wissen

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über die Landschaften, das im Unterwegssein entsteht, in Form von Geschichten nachvollziehbar zu machen. Sie können einerseits als Gegenstand der Untersuchung subjektive Wahrnehmungsweisen im Leben zwischen Stadt und Land analytisch zugänglich machen und dabei auch auf problematische Entwicklungen hinweisen, andererseits können sie aber auch als Best-Practice-Beispiele fungieren und somit Anschauungen gelingender Verbindungen vermitteln. Analyse der Gegenwart und Gestaltung der Zukunft gehen dabei Hand in Hand. Ein solcher Blick auf Kulturen des Unterwegsseins in rurbanen Landschaften ist letztlich ein wesentlich transdisziplinäres Projekt. All diejenigen Disziplinen, die sich mit Raumplanung im weitesten Sinne beschäftigen, sollten gemeinsam mit den Menschen unterwegs daran mitwirken, die Bewegungen und Verortungen einer multilokalen Gesellschaft zwischen Orten des Landes und der Stadt als ein Spiel aus Trennung und Verbindung zu verstehen und zu entwerfen.

L ITERATUR Augé, Marc (2012): Nicht-Orte. Aus dem Französischen von Michael Bischoff, München: Beck. Baumann, Christoph (2018): Idyllische Ländlichkeit: Eine Kulturgeographie der Landlust, Bielefeld: transcript. Bourriaud, Nicolas (2009): The Radicant, New York: Lukas + Sternberg. Castells, Manuel (2004): Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft, Opladen: Leske & Budrich. Deffner, Veronika/Pfaffenbach, Carmella (2013): »Urban Spatial Practice of a Heterogeneous Immigration Society in Muscat, Oman«, in: Trialog. A Journal for Planning and Building in a Global Context 114 (3/2013), S. 9-15. Dick, Eva (2014): »Multilocality and its implications for spatial development and planning in the South«. Presentation at: TRIALOG Conference: Multi-locality in the Global South and North – Factors, Features and Policy implications, 18./19.09.2014. Ette, Ottmar (2009): Alexander von Humboldt und die Globalisierung. Das Mobile des Wissens, Frankfurt a.M.: Insel. Held, Thom (2006): Berührt vom Ort die Welt erobern, Zürich: Helden. Langner, Sigrun/ Frölich-Kulik, Maria (Hg.): Rurbane Landschaften. Perspektiven des Ruralen in einer urbanisierten Welt, Bielefeld: transcript. Latour, Bruno (2018): Das terrestrische Manifest, Berlin: Suhrkamp. Neu, Claudia (2016): »Neue Ländlichkeit. Eine kritische Betrachtung«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 46/47: Land und Ländlichkeit, S. 4-9. Saunders, Doug (2010): Arrival City. How the largest migration in history is reshaping our world, London: Windmill.

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Schultz, Henrik (2018): »Landluft macht frei? Informell verhandeln mit Raumbildern«, in: Sigrun Langner/Maria Frölich-Kulik (Hg.), Rurbane Landschaften. Perspektiven des Ruralen in einer urbanisierten Welt, Bielefeld: transcript, S. 321-340. Schultz, Henrik/Stein, Ursula (2012): »Raum zum Sprechen bringen. Metaphern in kommunikativen Entwurfsprozessen«, in: DISP 188, S. 59-67. Seggern, Hille von (2015): »Understanding is essential for designing«, in: Dies./Julia Werner/Lucia Grosse-Bächle (Hg.), Creating Knowledge: Innovationsstrategien im Entwerfen urbaner Landschaften, Berlin: Jovis, S. 164-187. Sloterdijk, Peter (2004): Sphären, Bd. 3: Schäume, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Redepennig, Marc (2019): »Stadt und Land«, in: Werner Nell/Marc Weiland (Hg.), Dorf. Ein interdisziplinäres Handbuch Stuttgart: Metzler, S. 315-325. Regionale 2016 (2010): Raumperspektiven ZukunftsLAND. Grundlagenstudie zur Verständigung über Raum im ZukunftsLAND, bearbeitet durch Stein+Schultz Rössel, Julia (2014): Unterwegs zum guten Leben? Raumproduktionen durch Zugezogene in der Uckermark. Bielefeld: transcript. UN DESA – United Nations Department of Economic and Social Affairs (2014): World Urbanization Prospects. The 2014 Revision. Highlights (ST/ESA/ SER.A/352), New York: UN DESA. Urry, John (2007): Mobilities, Cambridge: Polity. Yu Zhu (2014) »Multi-locational status of China’s floating population and their social protection – Challanges and policy implication«, Presentation at: TRIALOG Conference: Multi-locality in the Global South an North – Factors, Features and Policy implications, 18./19.09.2014. Wood, Gerald/Hilti, Nicola/Kramer, Caroline/Schier, Michaela (2015): »Editorial«, in: Dies. (Hg.), Multi-locality Studies – a Residential Perspective. Special Issue. Tijdschrift voor Economische en Sociale Geografie 106 (4), S. 363-377. Wüstenrot Stiftung (2015): Unterwegs in deutschen Bildungslandschaften, Ludwigsburg: Wüstenrot Stiftung. Zukunftsinstitut (2013): Third Place Living. Die Stadt als Wohnlandschaft. Online unter: www.zukunftsinstitut.de/artikel/third-place-living-die-stadt-als-wohnland schaft/ (29.10.2019).

Was hat Regionalentwicklung mit Framing zu tun? Neue Geschichten braucht das Land! M ARTIN H EINTEL

S PRACHE , D ISKURS UND

REGIONALE

E NTWICKLUNG

Dem Zusammenhang von Sprache, Alltagssprache oder dem bewussten wie unbewussten Einsatz von Sprache im Kontext von Fragestellungen regionaler Entwicklung ist bislang weder in der Wissenschaft noch in der Handlungspraxis große Aufmerksamkeit gewidmet worden. Gleichwohl der Linguistic Turn auch in der Geographie und den Raumwissenschaften insgesamt bereits seit Ende der 1960er Jahre erfolgreich Einzug gehalten hat, sind die Reflexionen und Analysen möglicher Auswirkungen des Sprachgebrauchs auf die regionale Handlungsebene erst jüngeren Datums. Das betrifft sowohl den Umgang mit Sprache auf kommunaler Ebene aus anthropologischer Sicht als auch die machtvolle Wirksamkeit von Sprache auf regionale Entwicklung insgesamt. Ebenso ist die proaktive Setzung von Sprache im Kontext regionaler Steuerung bislang ein wenig untersuchtes Feld. Dynamisiert durch die EU-Strukturfondspolitik hat Sprache jedoch v.a. seit den 1990er Jahren an Bedeutung gewonnen und ansatzweise mit v.a. negativer Konnotation Einzug in Fragestellungen regionaler Entwicklung gehalten. Die Diskussion um die Ausweisung von Förderregionen im Zusammenhang der Europäischen Strukturfondspolitik kann dafür als ein Beispiel genannt werden. Eine Region ist demnach tendenziell »froh«, Förderregion zu sein, da dies bedeutet, Anspruch auf monetäre Zuwendungen stellen zu können. Überspitzt gesagt: Es ist generell eher das Ziel, förderfähig zu sein als aus eigener Kraft heraus besser zu werden – und damit als Konsequenz zukünftig womöglich ohne Förderungen dazustehen. Regionen wurden (und werden) daher nach außen mit Hilfe der Sprache gerne als »unterbemittelt« dargestellt, um diesen Anspruch erheben zu können. Unter dem europäischen

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Durchschnitt zu liegen gilt in dieser Logik als Prämisse. Was möglicherweise aus monetärer Sicht mitunter Wirkung zeigt (z.B. auch in weiterer Folge im Rahmen der Finanzausgleichsverhandlungen oder im Rahmen spezifischer Sonderförderungsprogramme für Regionen auf Landesebene), festigt umgekehrt und nachhaltig ein zu hinterfragendes Bild in den Köpfen innerhalb wie außerhalb der Region. Denn die sprachliche Bezugnahme auf sowie Herstellung und Tradierung von regionaler Identität wirkt sich nicht zuletzt auf das individuelle wie kollektive Selbstbild und damit auch das konkrete Handeln der Menschen vor Ort aus. Abb. 1: Wir sind »unterbemittelt« und brauchen Geld!

Karikatur: Salzburger Nachrichten / T. Wizany

Worum geht es nun bei sprachwissenschaftlichen Reflexionen generell? Im Sinne eines neuen Wissenschaftsparadigmas geht es um die Absage an die Aufstellung allgemeingültiger Wahrheiten im Sinne einer sogenannten Objektivität der Wissenschaft. Einfach gesagt kann jedes Wort auch etwas anderes bedeuten, je nachdem mit welchen Inhalten, Assoziationen, Emotionen, Zuschreibungen und Geschichten es aufgeladen wird. Im Sinne der Dekonstruktion gibt es somit, frei nach Nietzsche, keine Wahrheit, sondern nur Interpretationen der Fakten. Es kann somit nicht davon ausgegangen werden, dass jeder Mensch dasselbe gegenständliche Verständnis aufbringt. Sprache und Wirklichkeit unterliegen hiermit sehr ausdifferenzierter Sichtweisen. Das hat auch Auswirkungen auf Regionalentwicklung. Sie steht in engem Wechselbezug zur Regionalpolitik. Sowohl Akteure der Regionalentwicklung als auch der Regionalpolitik erheben – wenngleich mitunter aus unterschiedlichen Motivlagen – den Anspruch auf Steuerung – und eines ihrer wesentlichen Werkzeuge ist eben die sprachliche Kommunikation. Die systematische Reflexion hinsichtlich der Auswirkungen von Sprache auf regionale Entwicklung ist bislang jedoch nur in Ansätzen vorliegend. Die Konsequenzen der Nutzung von Sprache auf die regionale Entwicklung sind bislang so gut wie nicht erforscht. Landflucht, Schrumpfung, Brain-Drain, Leerstand oder (Über)Alterung – all das sind Begriffe, die gerne und oft, jedoch in der Regel undifferenziert und vielfach

W AS

HAT

R EGIONALENTWICKLUNG

MIT

F RAMING

ZU TUN ?

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pauschal, ländlich-peripheren Regionen zugeordnet werden. Diese Zuschreibungen erfolgen einerseits medial von außen, sie erfolgen aber andererseits auch von innen, indem u.a. (und nur als stellvertretendes Beispiel herausgegriffen) Bürgermeister – wie dargestellt – diese Vokabeln gerne benützen, um ein Mehr an monetärer wie auch emotionaler Zuwendung von EU, Bund, Ländern, Landeshauptstädten und auch der Öffentlichkeit insgesamt einzufordern. Von innen wie außen festigt sich hingegen dann das Bild einer Region; und diese negativen Zuschreibungen werden ungeprüft rezipiert. Doppelt überhöht formuliert: Die Provinz wird auf diese Art zur Provinz gemacht. Darauf verweisen Hiess/Rosinak (2018) am Beispiel österreichischer Gemeinden: »Mit dem Merkmal ›schrumpfende Region‹ werden Menschen in 30% der politischen Bezirke und in 40% der österreichischen Gemeinden abgewertet. Sie werden als Verlierer hingestellt, die den wachsenden Leistungsanforderungen nicht gerecht werden. Viele fühlen sich allein und zurückgelassen, empfinden sich als unbedeutend, schwach und machtlos. Das Gefühl der Kränkung kann dann umschlagen in Ärger auf die, die weggehen.« (Hiess/Rosinak 2018: 18)

Halten diese Zuschreibungen der Stigmatisierung aber überhaupt einem differenzierten Blick auf Regionen stand? Auch wenn mancherorts ein »Wenigerwerden« prognostisch stattfinden wird, gilt es dennoch in diesem Zusammenhang die gängigen Diskurse zu hinterfragen; und zwar vor allem in einem Land wie Österreich mit durchschnittlich gesichertem sozialen Wohlstand und relativ geringen Distanzen zwischen Zentren und Peripherien im internationalen Vergleich. Dabei kristallisieren sich in der jüngeren und jüngsten Vergangenheit in diesem Kontext und auch disziplinenübergreifend neue Fragestellungen heraus. So zum Beispiel: Wie wirken sich Bilder der Benachteiligung auf die – sei es individuelle, sei es soziale – Gestaltung und Planung der Gegenwart und Zukunft aus? Was bedeutet dies für ein zukünftiges Vereinsleben, zivilgesellschaftliches Engagement vor Ort oder die örtliche Infrastruktur in ihren Teilbereichen? Gemeinden oder Regionen im Wandel sind dabei besonders betroffen. Welche historischen, ökonomischen und soziokulturellen Kontexte sind für Imaginationen und Narrative der Regionalentwicklung von Bedeutung und in welchen Traditionslinien stehen sie? Wie kann eine Gemeinde mit Bergbautradition zu einer serviceorientierten Tourismusgemeinde hin entwickelt werden? Wie können Gemeinden aus traditionellen Außenabhängigkeiten, z.B. durch große Infrastrukturen, stärker in die Selbstbestimmung geführt werden? Wie können Gemeinden, die bislang traditionell nach dem St. Florian-Prinzip gelebt haben, stärker selbstbefähigt werden, ohne ständig dem Delegationsprinzip zu verfallen? Fragen wie diese werden neuerdings im Rahmen von diversen Veranstaltungen, Prozessbegleitungen oder Leitbilderstellungen verstärkt diskutiert, nicht zuletzt im

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Zusammenhang, wie Regionalentwicklung in Zukunft proaktiv gestaltet und entwicklungshemmende Faktoren stärker kritisch hinterfragt werden können, auch um die eigenen Potenziale ländlicher Regionen besser einordnen und abrufen zu können.

A NSATZ

UND

F RAGESTELLUNG

Entlang der Leitfragestellungen zu Narrativen ländlicher Entwicklung wird in diesem Beitrag ganz spezifisch der Frage nachgegangen, inwieweit sich durch Geschichte(n), Sprache oder Images gefestigte Bilder einer Region entwickelt haben und wie diese dann in weiterer Folge nach innen wie nach außen entwicklungshemmend oder -fördernd wirken. Der thematische Rahmen wird dabei abgedeckt durch Fragestellungen der Regionalentwicklung wie Daseinsvorsorge und (Un-)Gleichwertigkeit von Lebensverhältnissen, demographischem Wandel, Abwanderung sowie infrastrukturellen Voraussetzungen. Den Erfahrungshintergrund dieser Ausführungen bilden vorrangig Fallstudien aus österreichischen LEADER-Regionen, die in der aktuellen Strukturfondsperiode begleitet wurden. Auftragsgegenstand war hier vielfach die »gefühlte Benachteiligung« (vgl. Heintel et al. 2017) peripherer ländlicher Regionen, die jedoch dann in weiterer Folge im Rahmen einer Reflexion zu Framing kontextualisiert wurden. Im Zusammenhang einer (antizipativen) Regionalentwicklung stellt sich zukünftig somit die Frage, inwieweit sogenannte ›Deep Frames‹ (z.B.: »Uns geht es schlecht!«) doppelt kontraproduktiv sind, sowohl bezogen auf die Entwicklungsfähigkeit einer Region selbst als auch als Verhandlungstool gegenüber außenstehenden Partnern (z.B. Finanzausgleichsverhandlungen mit Bund und Ländern), die die häufig subjektiven Innendarstellungen zunehmend kritisch hinterfragen.

E INE NEUE S PRACHE ZUM E NTKOMMEN DER N EGATIVSPIRALE

AUS

Die Österreichische Raumordnungskonferenz (ÖROK)1 widmet sich im Rahmen einer aktuellen ÖREK-Partnerschaft zur Umsetzung des Österreichischen Raumentwicklungskonzeptes (ÖREK) ebenso der Problemstellung, wie (sprachlich gesteuerte bzw. beeinflusste) Regionalentwicklung kritisch reflektiert und proaktiv gestaltet werden kann. Sie kommt in einem Impulspapier dem Schluss, dass

1

Vgl. https://www.oerok.gv.at (04.07.2018).

W AS

HAT

R EGIONALENTWICKLUNG

MIT

F RAMING

ZU TUN ?

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»die Sprache über Regionen mit Bevölkerungsrückgang und die damit verbundenen Phänomene überwiegend negativ geprägt sind. Die so konstruierte öffentliche Wahrnehmung dieser Region begünstigt eine Negativspirale, denn Sprache stellt Wirklichkeit her. […] Für einen konstruktiven Umgang mit den Themen demografischer Wandel, Abwanderung und Bevölkerungsrückgang braucht die Regionalpolitik und -planung geeignete methodische Zugänge, die außerhalb ihres klassischen Repertoires liegen. Kommunikationswissenschaft und Psychologie können eine wesentliche Bereicherung darstellen.« (Dax et al. 2016: 80)

In aktuellen Projekten der Regionalentwicklung wird daher zunehmend ein sprachlicher Zugang reflektiert sowie auf das sogenannte ›Wording‹ geachtet. Dabei wird Regionalentwicklung im Kontext von Framing diskutiert. Die Frage, die sich somit stellt, ist, in welche Zusammenhänge die Entwicklung einer Region eingebettet – sprich: sprachlich ›geframt‹ – wird. Dabei bezeichnet das Konzept des Framings, das auf den Soziologen Erving Goffman zurückgeht und aus linguistischer Perspektive unter anderem auch im Kontext kognitiver Semantik diskutiert wird, die – bewusste wie unbewusste – sprachliche und mentale Einbettung eines bestimmten Themas in ein mehr oder minder konkretes Bedeutungsumfeld, das auf eben jenes Thema zurückwirkt und es gewissermaßen konturiert. Dadurch leitet bzw. beeinflusst das Framing zugleich auch die subjektive Wahrnehmung des Themas, indem es etwa bestimmte Kontexte herstellt, Informationen strukturiert, Emotionalisierungen vornimmt oder bestimmte Phänomene einblendet und andere ausblendet. Was bedeuten nun – einfach gesagt – Begriffe wie Schrumpfung, Rückzug, Rückbau, Verlust oder Problemregion im Kontext der Regionalentwicklung? Wiederholungen dieser Art erzeugen ›Deep Frames‹, Bilder bzw. Metaphern, die Werturteile (ver)stärken; und zwar z.T. unabhängig von ihrer empirischen Evidenz. Die Konsequenzen daraus sind jedenfalls fatal. Diese »Todesmetaphern« – ganz explizit zeigt sich dies auch in den medial verbreiteten Diskursen um »sterbende Dörfer« – führen dazu, dass eine Region sowohl von innen wie auch von außen damit unmittelbar assoziiert wird. Ist eine Region eine Abwanderungsregion, wird sie beispielsweise gerne als »sterbende Region« bezeichnet, womit gleichzeitig eine Blickrichtung vorgegeben wird. Völlig außer Acht wird dabei gelassen, dass viele, die wegziehen, dies deshalb tun, um eine höhere Ausbildung zu genießen. Diese Wahrnehmung fehlt gesellschaftlich jedoch vielfach, und die Teilhabe an neuen Lebenschancen wird durch die dargestellte Sichtweise verstellt und regional zu wenig wertgeschätzt. Ja, mehr noch: Es wird eine auch moralisch codierte Opposition zwischen Wegziehenden und Dagebliebenen aufgestellt, die mit zumindest impliziten Schuldnarrativen arbeitet und dabei eigene Lebensgestaltung und (vermeintlich) regionales Überleben gegeneinander ausspielt. Frames wirken sich somit, so u.a. auch Wehling (2016: 32f.), nicht nur auf den Prozess der Sprachverarbeitung aus, sondern auch auf unsere Wahrnehmung – und damit zugleich auch auf unsere

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konkrete lebensweltliche Orientierung. Denn wer will schon in einer sterbenden Region leben und diese palliativ begleiten?2 Abb. 2: Sterbende Region.

Karikatur: Salzburger Nachrichten / T. Wizany

A BWANDERUNGSREGION ? NEUEN F RAMING

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S UCHE

NACH EINEM

Wird die »Landflucht« zum Landfluch? Einer Abwanderungsregion wird beispielsweise generell eher zugeschrieben, dass es keine Arbeitsplätze gibt; und zwar auch, wenn dies im Widerspruch zu einem akuten Fachkräftemangel in eben dieser Region stehen sollte. Dies impliziert dann zweierlei: zum einen die Flucht aus der eigenen Region und zum anderen deren mangelnde Attraktivität für potenzielle Zuzügler. Das Narrativ hat also eine doppelte Signalwirkung, die sowohl nach innen als auch nach außen gerichtet ist. In zahlreichen österreichischen Regionen zeigt sich, dass die lokale Arbeitskraft bei den Betriebseignern die gefragteste Arbeitskraft ist. Regionsverbundenheit und damit vielfach verbundene Loyalität zum Arbeitgeber sind ein relevantes Asset für kleine und mittlere Betriebe. Vielfach fehlen die Arbeitskräfte aber, weil sie in die städtischen Großräume gezogen sind oder der Übergang von lokaler Ausbildung zum lokalen Arbeitsmarkt mangelhaft begleitet wurde.

2

Dass gerade diese palliativ-medizinische Behandlung mitunter gar explizit in Studien empfohlen wird, zeigt Heinz (2018: 334).

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Umgekehrt ist es schwer, Personen von außen zu gewinnen, wenn ein negatives Image mit einer Region assoziiert wird und dieses die konkreten Angebote überlagert. Regionen mit Bevölkerungsrückgang sind auch nicht automatisch arme Regionen mit einer schlechten wirtschaftlichen Performance. Zum Teil gibt es in Österreich in peripheren ländlichen Regionen (z.B. Obersteiermark, Waldviertel, Unterkärnten) höhere absolute wie relative Zuwächse beim BIP/EW als in städtischen Spitzenregionen. Auch das Einkommensniveau im Vergleich der Regionen bedarf einer differenzierten Betrachtung. Als Ableitung von dieser Erkenntnis wird daher – neben einer jeweils nach Region und Situation zu differenzierenden strategischen Herangehensweise – empfohlen: »Das Selbstverständnis nach Innen und die Außendarstellung nach Außen sollte in Regionen mit einer positiven wirtschaftlichen Performance nicht dominant mit der Bevölkerungsentwicklung verknüpft werden« (Hiess et al. 2017: 5). Abb. 3: Abwanderungsregion.

Karikatur: Salzburger Nachrichten / T. Wizany

Wenn von regionaler Identität die Rede ist, kommt daher der Zuschreibung, die Menschen oder Medien einer Region geben, verstärkte Bedeutung zu (vgl. Baumfeld 2011: 4). Aus der Sicht der Regionalentwicklung lässt sich die Frage ableiten, welche Geschichte, welches Narrativ, eine Region nun in Zukunft erzählen soll.

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Einfach gefragt: Welche Story sollen die bspw. Schulkinder der Region XY lernen, behalten und weitergeben? Diese Fragestellung ist letztendlich auch für die eigene Biographie nicht unerheblich. Ist es eine Geschichte des Niedergangs, oder bedarf es vielleicht einer differenzierten Geschichte zur eigenen Herkunft mit vielen naturräumlichen Ressourcen und spezialisierten erfolgreichen Gewerken, oder einer zu regionalen Pionieren, um nur wenige Beispiele zu nennen, die sich für lokale Geschichten bestens eignen würden. Hierbei geht es nicht darum, etwas zu erfinden, was nicht ist, sondern zusätzliche Fakten vor den Vorhang zu holen. Es geht um Narrative, um Storys aus anthropologischer Perspektive,3 die Erlebtes einzuordnen helfen, jenseits einer tendenziösen Darstellungskraft. Inhalte, Frames oder Subtexte lassen sich damit differenzierter transportieren, sie lassen die Türe zur Rückkehr offen und sprechen auch potenzielle Zuzügler selektiv an. Abb. 4: Landflucht wird zum Landfluch…

Karikatur: Salzburger Nachrichten / T. Wizany

3

Einen theoretisch-methodologischen Rahmen dafür bieten etwa jüngere Ansätze und Forschungen Allgemeiner Erzähltheorie (z.B. Koschorke 2012, Neumann 2013). Aus anthropologischer Perspektive verstehen sie das Erzählen als eines der zentralen Mittel zur mentalen Verarbeitung von Informationen und Wahrnehmungen. Als ein solches fungiert es schließlich auch als eines der wichtigsten Verfahren, »mit denen der Mensch seine Welt ordnet.« (Neumann 2013: 186).

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G ROSSGLOCKNER

Werden Geschichten und Erzählungen im Rahmen der Historischen Anthropologie als historische Praxis begriffen, können diese auch im Kontext der Regionalentwicklung aufgearbeitet werden und dabei sowohl Alltagswirklichkeiten und regionale Lebenswelten als auch individuelle und stellvertretend stehende Beispielgeschichten fokussieren.4 Um hier einen näheren Einblick zu geben, wird an die schon aufgeworfene Fragestellung angeknüpft, wie beispielsweise eine Gemeinde mit traditionellen Außenabhängigkeiten durch große Infrastrukturen bzw. externe Einflüsse zu einer höheren Selbstbestimmungsbefähigung geführt werden kann. Ausgangslage und Forschungsgegenstand aus historisch anthropologischer Sicht ist dabei die historische Handlungspraxis von Gemeindeseite mit externen Akteuren über längere Zeiträume. Heiligenblut am Großglockner ist so eine periphere Gemeinde, die in vielerlei Hinsicht von strukturellen Veränderungen betroffen ist und in der letzten Zeit eine zunehmend schlechte Presse hinnehmen musste. Zitate wie die folgenden bestimmen dabei die Schlagzeilen und damit auch die Kommunikation nach innen und außen: »Ortszentren brauchen neues Leben. Was tun mit den leer stehenden Häusern? Wie Leute in das Ortszentrum holen? Die Politik sucht nach Lösungen.«5 »Irgendwann ist es auch mit der Postkartenidylle vorbei: 1.105 Einwohner zählt Heiligenblut, ›doch im Ortskern selbst wohnen dauerhaft nur zwölf Leute, alle anderen an der Peripherie. Nach Geschäftsschluss und wenn die Gäste weg sind, gibt’s im Ort kein Leben.‹ Bei einer

4

Als Basis dessen dient ein möglichst breiter Begriff der Erzählung, der im transhistorischen Zugriff sowohl künstlerische als auch alltägliche Formen des Erzählens umfasst. Darauf verweist Roland Barthes in einem mittlerweile fast schon berühmt gewordenen Zitat: »Die Menge der Erzählungen ist unüberschaubar. Da ist zunächst eine erstaunliche Vielfalt von Gattungen, die wieder auf verschiedene Substanzen verteilt sind, als ob dem Menschen jedes Material geeignet erschiene, ihm seine Erzählungen anzuvertrauen: Träger der Erzählung kann die gegliederte, mündliche oder geschriebene Sprache sein, das stehende oder bewegte Bild, die Geste oder das geordnete Zusammenspiel all dieser Substanzen; man findet sie im Mythos, in der Legende, der Fabel, dem Märchen, der Novelle, dem Epos, der Geschichte, der Tragödie, dem Drama, der Komödie, der Pantomime, dem gemalten Bild (man denke an die Heilige Ursula von Carpaccio), der Glasmalerei, dem Film, den Comics, im Lokalteil der Zeitungen und im Gespräch.« (Barthes 1988: 102, Hervorh. im Original)

5

Vgl. KLEINE ZEITUNG ONLINE vom 2. Juni 2014 von Andrea Bergmann.

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Fachveranstaltung des Landes über die Zukunft der Ortszentren zeigte Bürgermeister Josef Schachner zuletzt die Problematik auf.«6

Die Ausgangslage von Heiligenblut am Großglockner ist so schlecht jedoch nicht – sollte jedenfalls angenommen werden. Die Gemeinde liegt am Rande des Nationalparks Hohe Tauern, am Fuße des höchsten Berges von Österreich, ist Wallfahrtsort, Skigebiet und Ausgangspunkt an der Großglockner-Hochalpenstraße. Sie ist somit Dreh- und Angelpunkt für vielfältige Aktivitäten von Personen unterschiedlicher Zielgruppen. Wird die gegenwärtige Situation der Gemeinde aus sozialanthropologischer Sicht analysiert, zeigt sich jedoch, dass historische Ereignisse der Fremdbestimmung, die repräsentative Außenwirkung (z.B. durch Namen und politisch gesteuerte Ereignisse) sowie die mediale Berichterstattung nicht zuletzt mit der Befähigung der gegenwärtigen Selbstbestimmung in Beziehung zu sehen sind. Das lässt sich in verschiedenen Etappen nachvollziehen, die letztlich zur Ausbildung eines ›Deep Frames‹ beigetragen haben. Die erste große Welle der Fremdbestimmung erfolgte im Zuge der Erschließung der Alpen durch den Adel, der aus den Städten kam und lokale Bergbauern mit ihren Ortskenntnissen für Träger- und Führungstätigkeiten nutzte. Als Namensgeber für berühmte Routen verewigten sich dann in der Regel die Adeligen. Die Strahlkraft bestimmter Routen, wie beispielsweise die der Pallavicinirinne am Großglockner, ist in Alpinistenkreisen trotz Klimawandel und der Veränderung der Eisverhältnisse weiter aufrecht, sie gilt als berühmtberüchtigte Eis/Fels-Kombinationstour auf der Nordostseite des Berges. Im Licht bis heute stehen die adeligen Erschließer und nicht die lokale Bauernschaft. Auch die Salmhütte, sie gilt als erste Schutzhütte in den Ostalpen und wurde im Zuge der Bemühungen um die Erstbesteigung des Großglockners erbaut, ist namhafte adelige Zeugin dieser Geschichte. Die Errichtung der Großglockner-Hochalpenstraße im Zuge der nationalsozialistischen Motorisierungspolitik zur Arbeitsplatzbeschaffung der 1930er Jahre war wohl jenes Ereignis, das Heiligenblut nachhaltig am meisten veränderte. Nicht nur, dass etwa 3.200 Beschäftigte vor Ort mit der Errichtung befasst waren, auch die Anbindung mit Salzburg und die sprunghafte Erhöhung touristischer und motorsportlicher Aktivitäten veränderte schlagartig das bislang bestehende »bergbäuerliche Idyll« am Ende eines Seitentales in den Ostalpen. Die Instrumentalisierung durch die NS-Inszenierung trug zusätzlich zur Fremdbestimmung bei.

6

Vgl. http://www.kleinezeitung.at/kaernten/oberkaernten/4159793/Kaernten_Ortszentrenbrauchen-neues-Leben (24.09.2018).

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Der Bau der Margaritzensperre im Jahr 1953 unterhalb der Pasterze, dem größten Gletscher der Ostalpen, stellt ebenso eine große Infrastruktur mit externer Arbeiterschaft dar.7 Seit den 1970er Jahren erstickt Heiligenblut – zumindest im Sommer bei Schönwetter – tagsüber im Ausflugstourismus. Auch diese Massen sind vor Ort schwer zu verwalten und stellen z.T. eine massive Beeinträchtigung dar, wenngleich darin natürlich auch Geschäft und Einkommen (für Einige) gesehen wird. Eine gewisse Ambivalenz bleibt hier jedoch bestehen, zumal in den Morgen- und Abendstunden der Ort wiederum sehr vereinsamt wirkt. Der Verkauf des Skigebiets Großglockner-Heiligenblut an die SchröcksnadelGruppe8 war der zurzeit letzte Schritt in Richtung weiterer wirtschaftlicher Außenabhängigkeit. Durch den Verkauf konnte das Skigebiet bislang »am Leben erhalten werden«, Rettung von »außen« also. Mit Covid-19 und der Pandemie ist Heiligenblut in der Gegenwart angekommen. Ein weiterer Meilenstein der wahrgenommenen Fremdbestimmung erfolgte dadurch, dass Heiligenblut die einzige Kärntner Gemeinde war, die im ersten Lockdown 2020 komplett von der Außenwelt abgeriegelt und unter Quarantäne gestellt wurde (vgl. Ayaz 2020). Die Fragen, die sich aus solchen regionalen Geschichten für die Regionalentwicklung ableiten lassen, sind vielfältig. Sie bieten einerseits Erklärungen für Handlungszusammenhänge und Wahrnehmungsweisen, sie bieten aber auch Chancen, proaktiv zukünftige Gestaltungsansprüche zu stellen.

7

Darüber gibt der WIKIPEDIA-Artikel prägnant Aufschluss: Denn mit Hilfe der Talsperre wird »das Wasser durch den 11,6 km langen Möllüberleitungsstollen in den Speicher Mooserboden im Kapruner Tal [Anm.: von Kärnten nach Salzburg!], abhängig von dessen Wasserspiegel, geleitet oder gepumpt. Er durchtunnelt damit die Wasserscheide des Alpenhauptkamms zwischen Drau (bei Osijek/Kroatien in die Donau) und Salzach/Inn (bei Passau in die Donau). Dadurch können Niederschläge beiderseits der Hauptwasser- und Wetterscheide der Alpen erfasst werden.« Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Stausee_ Margaritze (25.09.2018). Überspitzt formuliert lässt sich wohl sagen, dass Heiligenblut hier sprichwörtlich das »Wasser abgegraben« und auf die andere Seite der Alpen transferiert wird.

8

Anm.: »Die Sitour Management und Vereinigte Bergbahnen halten etliche Skigebiete und Tourismusunternehmen. Einige davon: 80 % an der Großglockner Bergbahnen Touristik GmbH, 50 % an der Großglockner Hotel und Infrastruktur GmbH (GBT Ski-Holding GmbH

in

Heiligenblut).«

B6cksnadel (25.09.2018)

Quelle:

https://de.wikipedia.org/wiki/Peter_Schr%C3%

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N EUE G ESCHICHTEN

BRAUCHT DAS

L AND

Geschichten zu erzählen bedeutet somit zum einen eine reflexive Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, gleichzeitig jedoch zum anderen das Aufbereiten zukünftiger Entwicklungsoptionen. Geschichten eignen sich deshalb so gut, da sie im Optimalfall ein Bindeglied zwischen Emotionen, Informationen, Unterhaltung und Spannung darstellen. Sie fungieren dabei als Informationsträger, da sie vielfach unbewusst wirken und in bekannten/gelernten Mustern ablaufen. Sie wecken Gefühle, erzeugen Empathie und bilden ein ›Kino im Kopf‹. Nicht umsonst sind Geschichten übers Land mit unterschiedlichen Konnotationen auf aktuellen Bestsellerlisten zu finden, wie etwa Alina Herbings Roman NIEMAND IST BEI DEN KÄLBERN oder Vea Kaisers BLASMUSIKPOP ebenso aufzeigen wie die großen Bestseller EIN GANZES LEBEN von Robert Seethaler, ALTES LAND von Dörte Hansen und UNTERLEUTEN von Juli Zeh. Sie alle prägen einen multiperspektivischen Blick auf aktuelle und historische Transformationen des Ländlichen. Geht man in der Literatur weiter zurück, so haben bereits Peter Rosegger oder Berthold Auerbach den zunehmenden Wandel des Landes im 19. Jahrhundert beschrieben; spezifisch in Österreich bezieht sich bspw. die regionale Identität des Bundeslandes Vorarlberg auch auf den schreibenden Bauern und Sozialreformer Franz Michael Felder. Vielleicht müssen manche ländlichen Regionen auch ein wenig urbaner werden, um die kommunikative Anschlussfähigkeit an Zentralräume zu sichern und um dem Trend zunehmender Urbanisierung von Lebensstilen auch in ländlichen Regionen Rechnung zu tragen. Aus der Sicht der Regionalentwicklung sind diese Geschichten sehr wertvoll, da sie Diskussionsstoff liefern und zum (oft auch kontroversen) Dialog einladen. Sie bieten Anknüpfungspunkte, sie lassen sich fortsetzen und sie lassen sich auch verändern. Genau darin liegt noch viel ungenutztes Potenzial. Regionalentwicklung ist eine Querschnittsmaterie, die auf unterschiedlichen Handlungsebenen von öffentlicher Verwaltung bis zu Bottom-up-Prozessen zur Anwendung kommt. Die Wirkung zielt dabei auf sämtliche Maßstabsebenen von einer EU-Zielgebietskulisse bis hin zu lokalen Projekten. Die Qualität und Dauer der Prozesse ist sehr unterschiedlich und wird in der Regel von Governance Arrangements gesteuert (vgl. Heintel 2018). Genau diese Governance Arrangements, dieses Zusammenwirken unterschiedlicher Steuerungsebenen, bei denen regionale Akteure eine große Rolle spielen, sind Kommunikatoren dieser Geschichten. Im Rahmen des Netzwerks ZUKUNFTSRAUM LAND (LE 2014-2020) wird hier beispielsweise der Diskurs mit den regionalen Unternehmern und deren Rolle als Multiplikatoren in der Kommunikation gesucht. Dies ist geprägt von folgenden Ausgangsüberlegung zum Framing:

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»Framing des Diskurses über die Region: Dabei geht es darum, im Diskurs über die Region neue Bilder zu kommunizieren und neue, positive Begriffe zu verwenden. Gemeinsam können Regionalentwicklung

und

Wirtschaft

oft

verfestigten

Bildern

wie

›Krisenregion‹,

›Abwanderungsregion‹, ›Rückständigkeit‹ mit neuen Perspektiven, die Chancen in den Mittelpunkt stellen, begegnen.«9

Gerade die kleinen und mittleren Unternehmen sind es, die eine wesentliche kommunikative Schnittstelle zwischen Ausbildung, Arbeitsmarkt und regionaler Entwicklung sicherstellen. Wie kann nun ein Selbstbild oder Image, eine Selbst- oder Fremdwahrnehmung verändert werden? Wie kann das »regionale Gejammer« aufhören? Wichtig ist in jedem Fall eine Reflexion historischer Kontexte. Wie lässt sich Entwicklung in meiner Region darstellen? Welche Akteure haben hier eine Rolle gespielt? Warum fühle ich mich benachteiligt? Warum kommuniziere ich was und wie? Diese immer wieder neu zu diskutierenden Fragen zielen ab auf ein Überdenken der ›Deep Frames‹ und ein bewusstes Verwenden von Sprache. Dabei kommt dem Bewusstsein über die Alltagsverwendung von Sprache besondere Bedeutung zu. Auch das Kontextualisieren einer Innensicht und ihr Abgleich mit empirischer Evidenz kann hilfreich sein, um Geschichten näher an die Fakten zu bringen. Gelingt dies, können neue Geschichten mit einer Vielfalt an positiven Konnotationen erzählt werden; wobei es sich hierbei nicht notwendigerweise nur um Erfolgsgeschichten handeln muss. Ob das Gefäß nun halb voll (= Chance) oder halb leer (= Benachteiligung) ist, ist mitunter eine sehr subjektive Interpretation der jeweiligen Lage. Beim Einsatz der Sprache, nicht zuletzt in Fragestellungen gewünschter regionaler Entwicklungen, ist ein differenzierter und (selbst)bewusster Zugang zu regionalen Voraussetzungen jedoch hilfreich, wenn es darum geht, Zukunft bewusst gestalten zu wollen. Ein Bürgermeisterzitat aus dem Südburgenland – »Wenn einer in meinem Ort die Matura macht, kann ich die schwarze Fahne hissen!« – verstellt hingegen die Sicht auf die reale Lebenssituation und Perspektiven Jugendlicher wie auch die auf eine proaktiven Gemeindeentwicklung, v.a. auch im Zusammenhang notwendiger Bindungsangebote an jene, die – von der Intention vielleicht auch nur temporär – weggehen. Regionen sind somit selbst immer wieder neu gefordert, ihre eigenen Geschichten zu reflektieren, zu entwickeln, neue zu schreiben und diese an die kommenden Generationen weiterzugeben.

9

Vgl. das Paper LESSONS LEARNT der Arbeitsgruppe Unternehmen und Regionalentwicklung unter: https://www.zukunftsraumland.at/download/1479 (17.09.2018).

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L ITERATUR Ayaz, Emina (2020): »Quarantäne in Heiligenblut: ›Das war ein Schock!‹«, in: Kommunal vom 17.03.2020. Online: https://kommunal.at/quarantaene-heiligenblut-das-war-ein-schock (25.11.2021), Barthes, Roland (1988): »Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen«, in: Ders., Das semiologische Abenteuer, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 102-143. Baumfeld, L. (2011): Regionale Identität gestalten. Manuskript. Online: http://www. baumfeld.at/files/identi-01-regionale-identitaet.pdf (02.07.2018). Dax, Thomas/Fidlschuster, Luis/Fischer, Michael/Hiess, Helmut/Oedl-Wieser, Theresia/Pfefferkorn, Wolfgang (2016): Regionen mit Bevölkerungsrückgang. Experten-Impulspapier zu regional- und raumordnerischen Entwicklungs- und Anpassungsstrategien. Analyse und strategische Orientierung. Endbericht im Auftrag des Bundeskanzleramts Österreich, Wien: BKA. Heintel, Martin/Speringer, Markus/Schnelzer, Judith/Bauer, Ramon (2017): »Multipler Benachteiligungsindex: Fallbeispiel Oberpinzgau«, in: Mitteilungen der Österreichischen Geographischen Gesellschaft, 159. Jg., S. 173-198. Heintel, M. (2018): »Regionalentwicklung«, in: Akademie für Raumforschung und Landesplanung (Hg.), Handwörterbuch der Stadt‐ und Raumentwicklung, Hannover, S. 2007-2016. Online: https://humangeo.univie.ac.at/fileadmin/user_ upload/p_humangeographie/Heintel/ARL_Regionalentwicklung_PDF.pdf Heinz, Marcus (2018): »Lokale Agenten des Ruralen in der späten Moderne. Überlegungen zur sozialen Konstruktion ländlicher Räume«, in: Magdalena Marszalek/Werner Nell/Marc Weiland (Hg.), Über Land. Aktuelle literatur- und kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Dorf und Ländlichkeit, Bielefeld: transcript, S. 331-356. Hiess Helmut/Dax, Thomas/Fidlschuster, Luis/Fischer, Michael/Oedl-Wieser Theresia (2017): Strategien für Regionen mit Bevölkerungsrückgang in Österreich. Zentrale Ergebnisse der ExpertInnenarbeit – Kurzfassung, Wien, 13.10.2017. Online: https://www.oerok.gv.at/fileadmin/user_upload/Bilder/2.Reiter-Raum_ u._Region/1.OEREK/OEREK_2011/PS_Bevoelkerung/1_Zentrale_Ergebnisse_der_Experten_Kurzfassung_Text_final_20171013.pdf (12.03.2020). Hiess, Helmut/Rosinak & Partner ZT GmbH (2018): »Regionen mit abnehmender Bevölkerungszahl: Den Blickwinkel um 180 Grad wenden«, in: Raumdialog. Magazin für Raumplanung und Regionalpolitik in Niederösterreich, S. 18-19. St. Pölten: Amt der Niederösterreichischen Landesregierung. Koschorke, Albrecht (2012): Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer allgemeinen Erzähltheorie, Frankfurt a.M.: Fischer. Neumann, Michael (2013): Die fünf Ströme des Erzählens. Eine Anthropologie der Narration, Berlin: de Gruyter. Wehling, Elisabeth (2016): Politisches Framing. Wie eine Nation sich ihr Denken einredet – und daraus Politik macht, Köln: Halem.

Ländliche Zukünfte II: Imaginationen und Projektionen

»Unbedingte Tätigkeit« Land und Arbeitsgesellschaft in Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre M ARCEL K RINGS

I. Was waren das für Zeiten, als die Natur noch schön war und sich Träumer wie der Taugenichts absichtslos durch die nicht zuletzt romantisch ästhetisierte Welt treiben lassen konnten. Der Müßiggang war noch nicht ›aller Laster Anfang‹, sondern zweckfreie individuelle Selbstbestimmtheit, und das Land topische Idylle und Rückzugsort aus Urbanem zugleich. Die Verhältnisse ändern sich freilich in der vielberufenen »Sattelzeit« (Koselleck 1972: 14) zwischen 1750 und 1850. Deren politische, aber auch sozio-ökonomische Dynamik wirkt sich nicht nur entscheidend auf das Verständnis von Arbeit aus, sondern auch auf Wahrnehmung und Gestaltung des Ruralen. Wie kaum ein anderer hat der vielfach als weltfremder Divan-Dichter gescholtene Goethe den Transformationsprozess Deutschlands, Europas und der Welt literarisch gestaltet. Schon die LEHRJAHRE von 1795 berichten in vielerlei Hinsicht davon, wie der alte Feudalismus vom Frühkapitalismus der Turmgesellschaft abgelöst wird (vgl. dazu Krings 2016, Lottmann 2011). Deren ökonomische und soziale Neuordnungen – etwa Landreformen oder Abschaffung des Lehnswesens – öffnen Privatbesitz und Bodenspekulation Tür und Tor, und per Handelskooperation mit Amerika und Russland will man sich zusätzlichen Gewinns versichern. Gerade der ländliche Raum erscheint dabei – und zwar ganz im Gegensatz zu den klassischen Topoi idyllischer Bezugnahmen – als Motor des Fortschritts, der angesichts allumfassender Transformationen nicht nur neue Wirtschafts-, Arbeits- und Sozialformen hervorbringen soll, sondern auch neue Menschen (Krings 2021). Überwiegen hier allerdings noch die materiellen Chancen der Reformen und werden sie in ihren Konsequenzen für Land und Arbeit noch nicht ausgeführt, lässt sich Goethes Spätwerk

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als bittere Bilanz der inzwischen eingetretenen Veränderungen lesen. Fausts bekanntes Wort: »Er stehe fest und sehe sich hier um / Dem Tüchtigen ist diese Welt nicht stumm« (V. 11445) stimmt auf das Gebot unermüdlicher Tätigkeit im Hiesigen ein; und der fünfte Akt berichtet nicht nur von globalem Handel und unerbittlichem Arbeitszwang, sondern auch von der Vernichtung des schönen Landes durch die Interessen des Kapitals: Im Flammentod, den Philemon und Baucis in ihrem Häuschen sterben, geht die selbstgenügsame Subsistenzwirtschaft ebenso zugrunde wie überhaupt das letzte nicht marktkonforme Fleckchen Erde. Auch die WANDERJAHRE von 1829 sind eine radikale Abrechnung mit den ökonomischen Tendenzen des Zeitalters, deren schon für sich schwer verdauliche Trostlosigkeit noch dazu in Goethes berüchtigten Altersstil gekleidet ist, den man zu Unrecht der ästhetischen Defizienz verdächtigte. In Polyperspektivik, ohne präzise Chronologie und unter manch seltsamen Volten des Redaktors wird im Roman von der totalen Ökonomisierung der Welt berichtet, deren Grundsätze von Turmgesellschaft und Band schließlich in Form einer idealen Koloniegründung nach Amerika exportiert werden.1 Der um sich greifende Kapitalismus unterwirft sich dabei das Wollen und Tun der Personen und richtet sie unbarmherzig im Sinne wirtschaftlicher Brauchbarkeit ab. Dass Heere von verelendeten Wanderarbeitern hilflose Mobilität beweisen müssen und in den entvölkerten Gebieten nur noch »Totenruhe« (454)2 herrscht, ist nur konsequent. Denn bereits zu Anfang erzählt das erbarmungslose Köhlergleichnis, dass »jetzo die Zeit der Einseitigkeiten« (37) sei. Jedermann habe sich auf eine nützliche Tätigkeit zu spezialisieren: »Allem Leben, allem Tun, aller Kunst muß das Handwerk vorausgehen, welches nur in der Beschränkung erworben wird. Eines recht wissen und ausüben gibt höhere Bildung als Halbheit im Hundertfältigen« (148). Allerdings werde er, der Einzelne, dabei wie die Holzscheite eines Kohlenmeilers solange ›verheizt‹, bis er nicht weiter verwendbar sei (vgl. 39f.). Sofern der Wohnort die Ausübung der Tätigkeit nicht erlaubt, muss man dahin gehen, wo sie gerade benötigt wird. Die moderne Forderung nach Mobilität und Flexibilität wird hier eingeführt, die Wilhelm Meister mit dem über ihn verhängten Wandergebot bereits auf den ersten Seiten des Romans zugemutet wurde.3 Ihm ist es aufgetragen,

1

Die Forschungsliteratur ist inzwischen unüberschaubar. Das ökonomische Thema bemerkten kritisch insbesondere die folgenden Arbeiten: Schlechta (1953), Degering (1982) sowie (vor allem kulturgeschichtlich lesend) Schößler (2002).

2

Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre, hg. v. Erich Trunz, München 11

1982 (= Hamburger Ausgabe Bd. 8, zuerst Hamburg 1950). Nach dieser Ausgabe werden

die WANDERJAHRE im Folgenden mit in Klammern gesetzter Seitenangabe im Text zitiert. Die Ausgabe wird darüber hinaus als HA mit Bandangabe zitiert. 3

Bereits seit dem 16. Jahrhundert unterschieden Ökonomen zwischen den beiden Produktionsfaktoren Boden und Arbeit, deren ersterer als endlich und deren zweiter als potentiell

»U NBEDINGTE T ÄTIGKEIT « | 215

»in jeder Ecke zu grünen, wo man ihn hinstellt, nirgends aber Wurzel zu fassen« (40). Mobiles Kollektiv und nüchterne arbeitsteilige Gesellschaft – daher die Vervielfältigung der Romanperspektive und überhaupt der Verzicht auf ›schönes‹ Erzählen4 – schaffen im Folgenden das autonome Ich und die alte überschaubare Hausfrömmigkeit (vgl. 351) des Produzierens ab. Und als sei damit nicht genug erreicht, zeigt die Pädagogische Provinz, wie man Jugendliche zu willigen Arbeitskräften und Handwerkern heranzieht: Die neue Zeit produziert ihre neuen – marktkonformen – Menschen. Die eingeschobenen Novellen erzählen, dass sich der Aufstieg von Ökonomie und Arbeit innerhalb von drei Generationen vollzog und eine harte Diätetik des Gefühls mit sich brachte. DIE PILGERNDE TÖRIN, die noch im Feudalismus des 18. Jahrhunderts spielt, problematisiert bereits die Vereinbarkeit von Liebe und Welt, bewahrt aber noch die Hoffnung auf Ausgleich. In WER IST DER VERRÄTER? mit seinem bürgerlichen Sujet der Eingliederung in die Arbeitsgesellschaft des Jahrhundertendes haben sich die Gewichte bereits verschoben: Das Zusammenstimmen von Pflicht und Neigung ist angesichts des Primats des Ökonomischen nur noch zufällig möglich. Und schließlich berichtet der zeitgenössische MANN VON FÜNFZIG JAHREN davon, dass im Interesse der Ökonomie grundsätzlich die Gefühle zurückgestellt werden müssen. Wer wird noch so dumm sein, wegen einer Passion die notwendigen Arbeiten auf dem Gutshof zu vernachlässigen? Entsagung lautet also das Gebot der Stunde, und dementsprechend findet sich weder Liebe noch eine vollständige oder glückliche Familie im Text – mit Ausnahme von Joseph dem Zweiten am Romanbeginn, der das historisch Überholte markiert. Familiäre Bande werden den Anforderungen der Arbeitswelt geopfert und zerrissen, Erfüllung gibt es nur noch in nützlicher Arbeit. Das ›Band‹ unter der Führung Lenardos ersetzt biologische Verwandtschaft und lokale Verbundenheit durch einen ökonomischen Weltbund mit gemeinsamen materiellen Zielen. »Etwas muß getan sein in jedem Moment« (405), lautet die Devise, und die »Pflicht des Tages« (426) ist zu erledigen. Dabei gilt, dass »[d]ie Natur […] durch Emsigkeit, der Mensch durch Gewalt oder Überredung zu nötigen« (408) sei: Durch Fleiß wirkt man auf die Umwelt ein, und renitente oder arbeitsscheue Personen muss man erziehen, überreden oder notfalls durch Straf- und

unendlich angesehen wurde. Die Ablösung der Arbeit vom Boden und ihre Erhebung zur Ware auf dem ökonomischen Markt kann als Reaktion auf das Problem der produktiven Beschäftigung mit der Gefahr des Pauperismus angesehen werden (vgl. dazu Pribram 1992: 156ff.). 4

Mit einigem Recht ließe sich auf die WANDERJAHRE das auf Joyces ULYSSES gemünzte Wort Hermann Brochs vom Roman der »Wirklichkeitstotalität« (Broch 1955: 184) anwenden, bei dem sich ein »Zwiespalt zwischen Gestaltungswille und Gestaltungsvernichtung« (ebd.: 188) beobachten lasse.

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Aussonderungsmaßnahmen zur Tätigkeit zwingen. Durch ein Polizei- und Informationssystem – Akten, Briefe, Lichttelegraphen – ist garantiert, dass das Band über Identität und Aufenthaltsort seiner Beschäftigten genauestens unterrichtet ist. Lenardos große Rede an die Auswanderer erhebt das Ethos des Nützlichseins – »Wo ich nütze, ist mein Vaterland!« (386) – und das totale Wandern zur Vision einer mobilen, arbeitsteiligen Gesellschaft. Zwar artikulieren sich in den Arbeitsliedern Vorbehalte gegen Entwurzelung, Trennung und die Fährnisse absoluter Tätigkeit: »Denn die Bande sind zerrissen, Das Vertrauen ist verletzt; Kann ich sagen, kann ich wissen, Welchem Zufall ausgesetzt Ich nun scheiden, ich nun wandern, Wie die Witwe trauervoll, Statt dem einen mit dem andern Fort und fort mich wenden soll!« (317)

Doch geschickt weiß Lenardo solche Bedenken im selben Metrum in die schließlich mitreißende Ideologie globaler Ökonomie umzudeuten: »Bleibe nicht am Boden heften, Frisch gewagt und frisch hinaus! Kopf und Arm mit heitern Kräften, Überall sind sie zu Haus; Wo wir uns der Sonne freuen, Sind wir jede Sorge los. Daß wir uns in ihr zerstreuen, Darum ist die Welt so groß.« (392)

Nun wird die Welt in ökonomischer »Einheit« (390) neu geordnet, die man wegen ihrer Mischung aus Kontrolle und wirtschaftlicher Freiheit am ehesten als kameralistisch grundierten Kapitalismus bezeichnen könnte.5 International wird der Weltbund durch Lenardos amerikanisches Auswanderunternehmen, regional versprechen

5

Der Kameralismus, die deutsche Variante des Merkantilismus, beruht auf einem planerisch-leitenden Eingreifen des Staates, dessen Funktion in den WANDERJAHREN freilich vom Band übernommen wird. Kapitalistische Elemente sind die freie, aber hochspezialisierte Tätigkeit sowie das Streben nach Besitz und nach Privateigentum an Produktionsmitteln, wie es sich etwa bei der Textilindustrie und bei der Möbelfabrik zeigt, die der Amtmann am Ende gründet.

»U NBEDINGTE T ÄTIGKEIT « | 217

Odoardos europäische Binnenkolonie und lokal die Möbelfabrik des Amtmanns beste Profite. Ergänzt wird die rein männliche Arbeitsgesellschaft durch eine haushälterische Erziehung der Mädchen bei Makarie (vgl. 123). Bedenkenlos opfert man dafür das Tradierte: Glück, Genuss, Familie, Subjektivität, das Schöne und die alte Bildung gehen zugrunde.6 Man braucht sie nicht zum Tätigsein.

II. Dabei fällt unmittelbar ins Auge, dass der Roman die Moderne ausschließlich in ruralen Kontexten schildert. Weder eine Großstadt noch überhaupt urbane Zusammenhänge finden sich im Text, sondern Dörfer, Landschlösschen, abgelegene Gutshöfe und Ländlichkeit. Mehrere Gründe lassen sich dafür angeben: Erstens bot das Land noch jene freien Möglichkeiten, die in den überregulierten Städten nicht existierten. Zweitens ließ sich die ökonomische Ausrichtung der Welt literarisch dort umso deutlicher zeigen, wo die Moderne zuvor noch keinen Einzug gehalten hatte. Drittens konnte der Verdacht der Rückständigkeit des Landes ausgeräumt werden, indem es zum Motor des Fortschritts erklärt und in seiner Produktivität markiert wurde, die insbesondere auf lokaler Ebene zu einer Urbanisierung ruraler Zusammenhänge führt. Und viertens konnte das Prinzip rationaler Naturbeherrschung vorgeführt werden, welches das Angesicht der Welt grundlegend verändert. Das erste Buch der WANDERJAHRE ruft mit dem Hof Josephs des Zweiten denn auch sogleich das auf, was sich verlieren wird. Das kleine Gut scheint eine aus der Zeit gefallene Gebirgstalidylle mit »sanfte[n] Wiesenpfade[n]« und »lebhafte[m] Bach« (16), in der »Stille« (ebd.) herrscht und deren Bewohner – wie erwähnt: die einzige intakte Familie des Romans – in »Harmonie mit ihrer Umgebung« (ebd.) leben. Die Eintracht freilich ist prekär. In die Abgeschiedenheit bricht die geschäftige Unruhe der Zeit zunehmend ein. Schon werden Obst, Gemüse, Salz und Gewürze (vgl. 67) aus dem Betrieb des Oheims zu Wucherpreisen (vgl. 14) an Joseph und die Gebirgsbewohner verkauft, immer mehr droht die Bevölkerung zu verelenden (vgl. 41), und die Pädagogische Provinz wird mit ihrer Spezialisierungslehre jene Universalität der Fähigkeiten abschaffen, die Joseph – er ist Zimmermann, Maurer, Verwalter, Bote und Lastträger in einem – noch auszeichnet. Jarno-Montan hingegen, der im nahen Gebirge geologische Untersuchungen betreibt und alle Steine zu bestimmen weiß, ist besonders an »Blei und Silber« (263) interessiert und nimmt das entsprechende Bergwerkswesen vorweg, das zusammen mit der entstehenden

6

In der arbeitenden Gesellschaft existieren weder Bücher noch »Lesebibliotheken« (408). Niemand interessiert sich für eine Tätigkeit, die doch offenbar keinen praktischen Nutzen besitzt.

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»Möbelfabrik« (454) und Holzindustrie die beginnende Ausbeutung der Natur in großem Stil andeutet. Der Bedarf einer zunehmend mobilen Gesellschaft an Luxus und leicht zu errichtenden, nur dem nackten Nutzen dienenden Wohnhäusern muss gedeckt werden, nachdem die geeigneten Handwerker bereits ihre Tätigkeit aufgenommen haben (vgl. 312). Goethes Roman schildert die hereinbrechende Moderne damit als Prozess unbarmherziger Unterwerfung der Welt unter instrumentelle Vernunft und ökonomische Planung. Die alte Harmonie von Mensch und Natur wird zersetzt, wo das Band mit dem Gebot »Macht euch die Erde untertan« Ernst macht. Infolgedessen verschwindet die unberührte Natur und wird in nutzbares Land verwandelt. Der bereits erwähnte Oheim ist dabei Vorreiter. Trotz seiner vermeintlichen Philanthropie sind seine ausgedehnten Besitzungen keineswegs allgemeine Versorgungsanstalten, sondern dienen ganz dem ökonomischen Eigeninteresse. In Amerika hat der Oheim auf den Gütern seines Vaters effiziente Verwaltung, »unbedingte Tätigkeit« (286), also die Unterordnung aller Lebensbereiche unter ökonomische Nutzbarkeit, und den Grundsatz ›time is money‹ kennen gelernt. Zurück in Europa, erwirbt er ein »Schloß« (vgl. 49), vergrößert die Ländereien bedeutend und verändert sie effizient gemäß physiokratischer Prinzipien:7 Aus Landsitz, »ältere[m] Lustgarten« barocker Provenienz oder »moderne[m] Park« (49) werden Plantagen. Wilhelm bemerkt mit Verwunderung »gradlinig gepflanzte Fruchtbäume, Gemüsfelder, große Strecken mit Heilkräutern« (ebd.) und dem, »was nur irgend konnte gebraucht werden« (ebd.). Daneben sind »unendliche Baumschulen« (48) angelegt, die des Oheims Gespür für die Holzindustrie zeigen, und schon greifen die Pflanzungen aus der Ebene auf die Berghänge – in Richtung Josephs des Zweiten – aus. Beim Abstieg aus dem Gebirge eröffnet sich Wilhelm und seinen Begleitern die folgende Aussicht: »Ein großer Garten, nur der Fruchtbarkeit, wie es schien, gewidmet, lag, obgleich mit Obstbäumen reichlich ausgestattet, offen vor ihren Augen, indem er regelmäßig, in mancherlei Abteilungen, einen zwar im ganzen abhängigen, doch aber mannigfaltig bald erhöhten, bald vertieften Boden bedeckte. […] Über den Garten hinaus erblickten sie eine unabsehbare Landschaft, reichlich bebaut und bepflanzt.« (45)

Die Natur hat der Oheim in eine reine Nutz- und Kulturlandschaft umgemodelt. Bodenerzeugnisse und autokratische Verwaltung, die Grundpfeiler der Physiokratie, lassen ihn alsbald zum Monopolisten werden, der die Versorgung mit Nahrungsmitteln garantiert, Arbeitszeit streng überwacht und Preise und Produktion nach Lust und Laune diktieren kann. Was die arme Landbevölkerung in ihrer Subsistenz bedroht und sie zu Schmuggel und Elend verurteilt, macht den Oheim reich.

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Zu Goethes detaillierten Kenntnissen im Bereich der Wirtschaftstheorie vgl. Mahl (1982).

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Gegen Diebstahl oder Mundraub weiß er sich dabei abzusichern. Sein Privateigentum hat er durch Wachen, hohe Mauern und ein ausgeklügeltes Fallensystem mit Warnschuss (vgl. 46) schützen lassen. Im weiteren Verlauf der WANDERJAHRE lässt sich nachvollziehen, dass die Unterwerfung der Natur Schule macht. Zu Beginn des dritten Buchs, als Wilhelm in Berührung mit dem Auswandererbund kommt, existieren nur noch Agrarflächen. Der ahnungslose Wilhelm hält für »ganz allerliebste Gegenden« (310), was in Wirklichkeit Zeugnis totaler Nutzbarkeit ist: »[D]ie sanften Abhänge haushälterisch benutzt, alle Flächen grün, nirgends etwas Steiles, Unfruchtbares und Ungepflügtes zu sehen. Nun gelangte er [Wilhelm, M.K.] zum Haupttale, worein die Seitenwasser sich ergossen; auch dieses war sorgfältig bebaut, anmutig übersehbar, schlanke Bäume bezeichneten die Krümmung des durchziehenden Flusses und einströmender Bäche, und als er die Karte, seinen Wegweiser, vornahm, sah er zu seiner Verwunderung, daß die gezogene Linie dieses Tal gerade durchschnitt […].« (Ebd.)

Die Eingriffe in die Natur sind unübersehbar. Wie bereits beim Oheim sind durch Erdbewegungen ebene Nutzflächen angelegt worden, und zur Bewässerung hat man wohl auch ein Kanalsystem gebaut. Mit solcher Ingenieursleistung leitet der Roman vollends in den Bereich der modernen Technik ein. Weltbewältigung ist rationale, planbare Fertigkeit, und zunehmend wird sie durch Maschinen ausgeführt. Eine der eingeschobenen Novellen, WER IST DER VERRÄTER?, berichtet vom »Maschinenwerk« (95), das Ende des 18. Jahrhunderts auf ländlichen Jahrmärkten Einzug hält: »[M]an […] sah, schon in einer gewissen Ferne, allerlei Maschinenwerk verworren aufgetürmt. Näher betrachtet, war ein großer Lust- und Spielplatz, nicht ohne Verstand, mit einem gewissen Volkssinn eingerichtet. Und so standen hier, in gehörigen Entfernungen zusammengeordnet, das große Schaukelrad, wo die Auf- und Absteigenden immer gleich horizontal ruhig sitzen bleiben, andere Schaukeleien, Schwungseile, Lusthebel, Kegel- und Zellenbahnen […].« (95)

Im dörflich-natürlichen Kontext ergibt das ein »seltsames Schauspiel« (113), das bereits die Zerstörung des Naturschönen andeutet und durch seinen instrumentellkollektiven Charakter sowie durch Beschleunigung auf die Gesellschaft der Zukunft vorausweist. Denn dieselbe Entwertung des Individuums und dieselbe »veloziferisch[e]« (289) Tempoerhöhung lässt sich am Ende des Romans im »überhandnehmende[n] Maschinenwesen« (429) finden, das mit der modernen Textilindustrie ins Land kommt. Nachodine, die vertriebene Pächterstochter, die sich im Gebirge eine neue Existenz als Baumwollfabrikantin aufgebaut hat und ein Idealbild wohlgeordneter Hauswirtschaft vermittelt, ist sich der Gefahr völlig bewusst. Die althergebrachte Textilproduktion, die Lenardos Tagebuch als individuelle Meisterschaft und in all ihrer Langsamkeit als »Häusliches, Friedliches« (349) schildert, wird der neuen

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schnellen Technik und ihrer Massenproduktion, bei der die Maschine den Meister und Arbeiter ersetzt, nichts entgegenzusetzen haben. Entfremdung wird an die Stelle bewusster, überblickbarer Arbeit treten. Das Maschinenwesen, prophezeit Nachodine, »wälzt sich heran wie ein Gewitter, langsam, langsam; aber es hat seine Richtung genommen, es wird kommen und treffen« (429). Das »hübsche frohe Leben« (430) in der Gebirgsregion werde demzufolge »nach und nach zusammensinken, absterben, die Öde, durch Jahrhunderte belebt und bevölkert, wieder in ihre uralte Einsamkeit zurückfallen« (ebd.). Es blieben dabei lediglich zwei Möglichkeiten: »entweder selbst das Neue zu ergreifen und das Verderben zu beschleunigen« (ebd.) oder aber »aufzubrechen« (ebd.) und dabei »die Besten und Würdigsten mit sich fort zu ziehen« (ebd.) – ein frühes Beispiel des heute so genannten brain drain, der Abwanderung gut ausgebildeter Arbeitskräfte aus ländlichen Gebieten. Technologischer Wandel kann also, wie in diesem Fall, auch zur Verödung von Regionen führen. Der Mensch verändert Welt und Land, wie es ihm passt. Viel gravierender sind freilich die sozialen Folgen. Nachodine sieht durch den sicheren Verlust der Arbeit die Pauperisierung des ganzen Landstrichs voraus, auf die für die Bewohner elende Wanderschaft folgen wird: »[A]rm und hilflos […] wandern müssen sie [diese guten Menschen, M.K.] früh oder spät. Sie ahnen, sie wissen, sie sagen es, und niemand entschließt sich zu irgendeinem heilsamen Schritte« (ebd.). Am Ende hat Nachodine Glück, dass sie durch die alte Verbindung zu Lenardo einen Platz bei Makarie erhält, der ökonomischen Nöte enthoben wird und versorgt ist. Den anderen bleibt nichts übrig, als sich in das Band einzugliedern, umherzuziehen oder wie die Auswanderer »ein günstigeres Schicksal jenseits der Meere zu suchen« (ebd.). Entwurzelung, Proletarisierung und Entfremdung sind der Preis, der in der neuen Arbeitswelt zu zahlen ist. Darauf sollen die jungen Männer in der Pädagogischen Provinz freilich vorbereitet werden.8 Ein strenges System von Hierarchie und Grußzwang, das, angelehnt an religiösen Respekt vor allerhöchsten Ratschlüssen, den widerspruchslosen Gehorsam auch in weltlichen Zusammenhängen einübt, erzieht die angehenden Arbeiter zu willenlosen Befehlsempfängern. Wie Jesus und die Juden, denen im Heiligtum der Provinz ein alttestamentlicher, die Religion freilich ökonomisch instrumentalisierender Bilderzyklus gewidmet ist, sollen sie lernen, ein hartes, entbehrungsreiches Los auf sich zu nehmen. Um bei solcher Pädagogik ungestört zu sein, ist die Provinz im abgelegenen ländlichen Raum angesiedelt. Radikal wird er freilich auch hier

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Im Hintergrund dieser pädagogischen Utopie steht Philipp Emanuel von Fellenbergs Erziehungsinstitut in Hofwil bei Bern, das Goethe genau kannte (vgl. dazu die Anmerkungen von Erich Trunz in HA 8: 613f.). Die dortige menschenfreundliche Pädagogik transformierte er freilich im Roman in seinem Sinne.

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transformiert. Was den Anschein einer anmutigen ruralen Idylle besitzt,9 interessiert nicht als Naturschönheit, sondern als Grundlage für Landwirtschaft und Viehzucht. In der ebenen und »fruchtbarsten Gegend« (149) werden, wie Wilhelm bei einer Führung bemerkt, im großen Stil Feldbau, Schaf-, Schweine- und Pferdezucht und ein internationaler Handel betrieben (vgl. ebd. und 245).10 Das Band hat neben einer Einnahmequelle offenbar die Notwendigkeit erkannt, die Versorgung der Arbeiter mit Nahrung und schnellen Verkehrsmitteln (Pferde) zu gewährleisten, und einem Teil der zukünftigen Arbeitskräfte vertraut man bewusst entsprechende Aufgaben an. Ein anderer wird an handwerklich-technische Herausforderungen der neuen Zeit herangeführt. In den sich an die Ebene anschließenden Regionen mit »freundlich[en] und zierlich[en] Täler[n], kleine[n] schlanke[n] Wälder[n]« und »sanfte[n] Bäche[n]« (247) sind diverse Künste angesiedelt. Auch hier spielt die Natur um ihrer selbst willen keine Rolle. Die Ausläufer des großen »Gebirg[es]« (259), die zur Landwirtschaft bereits nicht mehr taugen, wurden vielmehr dazu genutzt, verschiedene, durch Täler säuberlich getrennte Regionen diverser Ausbildungszweige einzurichten. Hier wie in der gesamten Provinz sind Isolation und Absonderung Grundlage der Spezialisierung, die eine arbeitsteilige Gesellschaft einfordert. Was jedoch »Sprachübung und Sprachbildung« (246), »Instrumentalmusik« (247) oder »bildende Kunst« (249) genannt wird, hat mit klassischer Bildung nichts zu tun. Die alte Begrifflichkeit kaschiert allein die Tatsache, dass die überlieferten artes liberales im Sinne moderner Ökonomie umfunktionalisiert werden. Die Sprachregion etwa erschließt nicht das antike trivium von Grammatik, Rhetorik und Dialektik, sondern dient nur dazu, im Kontext des internationalen Güteraustauschs die Kommunikation zwischen den Handelspartnern zu gewährleisten. Auch im folgenden Musikbezirk geht es nicht um Tonkunst als Selbstzweck oder gar um solistische Förderung. Das »Orchester«, das eine »mächtige Symphonie aller Instrumente« (248) aufführt, ist vielmehr als Gleichnis der arbeitsteiligen Gesellschaft zu lesen. So wie ein Musiker mit seinem Instrument einen notwendigen Beitrag zum Orchesterklang leistet, sollen auch die diversen Gewerke ihren Platz im sozio-ökonomischen Gefüge einnehmen und ihre Aufgaben erfüllen. Dazu bedarf es der Erziehung, also der Ausbildung. Der Einzelne sichert

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Das zeigt sich in der topographischen Beschreibung der Provinz: Der Besucher dieser »kommt über Auen und Wiesen, umgeht auf trocknem Anger manchen kleinen See, erblickt mehr bebuschte als waldige Hügel, überall freie Umsicht über einen wenig bewegten Boden« (244).

10 Berichtet wird etwa von »weitläufigen Gehöften« und einem »große[n] Marktfest« mit »unglaubliche[m] Getümmel«, bei dem »[a]us allen Landen […] Kauflustige zusammentreffen, um Geschöpfe edler Abkunft, sorgfältiger Zucht sich anzueignen.« (Ebd.) Die Pädagogische Provinz ist hierbei nicht etwa lokal oder regional, sondern global ausgerichtet und multilingual gestimmt: »Alle Sprachen der Welt glaubt man zu hören« (245).

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sich nur dann Rang und Ansehen im Kollektiv, wenn er in der Lage ist, eine nützliche Funktion zu übernehmen. Andere, die noch nicht so weit sind, müssen derweil beiseitestehen: »Dem geräumig erbauten Orchester gegenüber stand ein kleineres, welches zu besonderer Betrachtung Anlaß gab; auf demselben befanden sich jüngere und ältere Schüler, jeder hielt sein Instrument bereit, ohne zu spielen; es waren diejenigen, die noch nicht vermochten oder nicht wagten, mit ins Ganze zu greifen.« (Ebd.)

Der gleichnishaften Bedeutung von Musik und Orchester stellt die Pädagogische Provinz freilich auch eine ganz praktische Indienstnahme an die Seite. Indem der Instrumentalmusik »Gesang« und lyrische »Dichtkunst« (ebd.) zugeordnet werden, haben die Schüler erstens zu lernen, subjektiven Ausdruck, der allzu schnell den Gleichklang gefährden kann, durch die »Taktbewegung« (ebd.) zu bezwingen. Solche »Herrschaft der Musik über die Poesie« (ebd.) bereitet die Einsicht vor, dass für den Eintritt ins Kollektiv der Preis der emotionalen Disziplinierung oder gar der Unterdrückung von Leidenschaften zu zahlen ist. Die Unwägbarkeiten etwa des eros sollen die Arbeitskraft keinesfalls mindern. So dienen Gesang und Lyrik zweitens dazu, dem Band Arbeitslieder der Machart zur Verfügung zu stellen, wie sie weiter oben in Lenardos Rede bereits angeklungen ist. Sie fassen die Einzelnen im gemeinsamen Singen zum Kollektiv zusammen und artikulieren ein Glaubensbekenntnis von Arbeit und Askese, das individuelle Wünsche dem Interesse des Ganzen unterordnet. Der Untertitel des Romans, »die Entsagenden« (7), stimmte auf solchen Verzicht aus rationalem Effizienzdenken bereits ein. Wie die Natur und die alten Künste wird auch der Mensch unbarmherzig den Anforderungen totalen Nutzens unterworfen, und wenig verwunderlich ist, dass sich dies auch im letzten Bereich der Provinz zeigt, der die »bildende Kunst und die ihr verwandten Handwerke« (249) umfasst. Was zunächst an Bildhauerei und Malkunst denken lässt, entpuppt sich schnell als Architektur und Baugewerbe, die beide ganz im Dienst modernen Städtebaus stehen. Dem arbeitenden Kollektiv müssen geeignete Behausungen zur Verfügung gestellt werden, die man im Rahmen der Provinz entwirft und prototypisch ausführt. Der Roman weist sie bereits deutlich als (zukünftige) urbane Großzentren aus: »Nicht mehr zerstreut waren die Häuser, nicht mehr hüttenartig [wie im Musikbezirk, M.K.]; sie zeigten sich vielmehr regelmäßig zusammengestellt […], man ward hier einer unbeengten, wohlgebauten, der Gegend angemessenen Stadt gewahr« (249). Wilhelm stellt verwundert fest, »daß die Stadt sich immer zu erweitern, Straße aus Straße sich zu entwickeln schien, mannigfaltige Ansichten gewährend. Das Äußere der Gebäude sprach ihre Bestimmung unzweideutig aus, sie waren würdig und stattlich, weniger prächtig als schön. Den edlern und ernsteren in

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Mitte der Stadt schlossen sich die heitern gefällig an, bis zuletzt zierliche Vorstädte anmutigen Stils gegen das Feld sich hinzogen und endlich als Gartenwohnungen zerstreuten.« (250f.)

Das Band lässt moderne Städte planen und errichten, die ebenso rational konzipiert sind wie die Arbeitswelt. Zweckbauten – von den zentralen Verwaltungsgebäuden bis hin zu Wohnhäusern und Datschen am Stadtrand – sind sie allesamt, und sie legen wie etwa die geometrisch angelegten Städte Karlsruhe und Mannheim Zeugnis davon ab, dass der planende Geist der Zeit nunmehr an die Stelle historisch-organischen Wachstums getreten ist. Keine Experimente will man – »Mag man doch immer Fehler begehen, bauen darf man keine« (252) –, und so handelt es sich bei den Bauwerken um normierte Reißbrettentwürfe, die je nach Bedarf schnell und tausendfach reproduziert werden können: Die »Gebäude aller Art« sind »nach hundertmal besprochenen und durchdachten Rissen« (ebd.) entstanden. Nur in diesem Rahmen findet nun auch die Malkunst Verwendung. Als Anstreicher und Fassadenmaler (vgl. ebd. und 253) dürfen die entsprechenden Zöglinge der Region sich betätigen, um der Stadt eine gewisse Farbe zu verleihen. Zuletzt bemerkt Wilhelm eine Gruppe von Bildhauern, die zusammen eine »kolossale Gruppe« (253) anfertigen. Erneut wird das Ideal einer arbeitsteiligen Gemeinschaft berufen, die »das hohe Werk« ausführt, welches zwar »nur von e i n e m unternommen« wurde, aber nach der gemeinsamen Ausführung »doch allen anzugehören scheinen« (ebd.) werde. Eigentlich geht es aber um das Dargestellte selbst. Das Kunstwerk zeigt »[m]ännliche und weibliche Kraftgestalten in gewaltsamen Stellungen«, die an »jenes herrliche Gefecht zwischen Heldenjünglingen und Amazonen« erinnern, »wo Haß und Feindseligkeit zuletzt sich in wechselseitig-traulichen Beistand auflöst« (ebd.). Offenkundig ist die didaktischideologische Funktion: Das Kraftgeschlecht der neuen Männer und Frauen möge sich zusammentun, um in der Wirtschaftsgemeinschaft der bürgerlichen Ehe zum Gedeihen der ökonomischen Zeit beizutragen. Dabei wird Zweierlei verschwiegen. Erstens sind die neuen Menschen keineswegs Heldengestalten, sondern verarmte und von den Folgen harter Arbeit gezeichnete Proletarier. Und zweitens finden sich im Roman wohl bürgerliche, aber, wie erwähnt, keine glücklichen Ehen. Auch im Privaten muss die emotionale Erfüllung hinter Arbeitspflicht und Lebenserhalt zurückstehen.

III. In welche Richtung sich die fortschreitende Ökonomisierung entwickeln wird, zeigt der Roman schließlich anhand dreier Projekte des Bandes. Mit der Möbelfabrik des Amtmanns, Odoardos Plan zur Binnenkolonisation und dem amerikanischen Auswanderunternehmen sind der lokale, überregionale und internationale Maßstab bezeichnet, in dem Handel, Handwerk und Technik zukünftig zu begreifen sein

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werden. Nichts Natürliches, schon gar nicht rurale Bereiche, wird vor den Folgen verschont bleiben. Die Gründung der Möbelfabrik ist dabei zunächst auf die Verirrungen des eros zurückzuführen. Zahlreiche Arbeitskräfte des Bandes haben sich während des von Lenardo geleiteten Abschiedstreffens auf dem Schloss mit den »hübschen Kindern des Dorfs und der Gegend mehr oder weniger befreundet« (453), kurz: sie haben die jungen Frauen geschwängert. Zwar ziehen es die meisten angesichts dieses »bürgerlichen Unfall[s]« (454) vor, mit Lenardo nach Übersee auszuwandern. Einige aber wollen bleiben, und so weiß der unternehmerische Amtmann des Schlosses aus der Lage Profit zu schlagen. Er bindet die Männer an den Ort, indem er den Eltern der Schwangeren die Einwilligung zur Eheschließung abnötigt und mit der Gründung einer Möbelfabrik ein gutes Auskommen verspricht. Für das »Material« – Holz – ist dabei der Amtmann verantwortlich, der damit zugleich den künftigen Bedarf an Möbeln und Baumaterial für die neuen Städte erkennt, »Frauen, Raum und Verlag [Kostenübernahme, M.K.] gaben die Bewohner, und Geschicklichkeit brachten die Einwanderer mit« (ebd.). Der Amtmann kann sich »als ein wahrer Egoist« (ebd.) ins Fäustchen lachen. So günstig gründete kaum jemand eine Fabrik wie er, der die Notlage der Frauen, Liebhaber und Eltern ausnutzt, den eros rationalisiert und auf dem noch feudalistisch geprägten Land das Zeitalter der Ökonomie einführt. Einen Schritt weiter geht Odoardo mit seinem Projekt der Erschließung ganzer Landstriche. In geradezu kolonialistischer Manier will er ein Gebiet, das er bereits im Auftrag eines Fürsten als Vorsteher verwaltet (vgl. 409), in die neue Zeit führen. Denn die Region ist eine Enklave und rückständig, weil ihr der Kontakt zum übrigen Staatsgebiet und damit ein entsprechender leichter Handelsaustausch fehlt. Nun trifft es sich, dass Odoardo, wie aus der im dritten Buch eingeschobenen Novelle NICHT ZU WEIT hervorgeht, im Privaten frustriert ist. Seine Ehe ist unglücklich, und also fühlt er sich aus dem Häuslichen vertrieben und hat Zeit, ökonomisch zu werden. Weil ihm »das Jahrhundert […] zu Hülfe« (409) komme und neue Ideen sich verbreiteten, verbindet er sich mit zwei weiteren Beamten und beabsichtigt, große Landesteile ganz im Interesse der Fürsten zu profitablen Wirtschaftszentren zu machen. Dafür will er zunächst die Infrastruktur verbessern, in großem Maßstab die Besiedlung einleiten und jedem Einwanderer ein Stück Land zur Bewirtschaftung zuteilen. Auf der Basis von bereits durchgeführten Vermessungen sollen zu diesem Zweck Straßen gebaut, am Reißbrett geplante Gasthöfe und Dörfer errichtet werden. Odoardo setzt also jene Praktiken um, zu denen die Pädagogische Provinz anleitete, und dazu passt ebenfalls, dass er sämtliche »Handwerke sogleich für Künste« (411) erklären lassen will. Auch hier stehen keine freien Künste in Rede, sondern sogenannte »strenge« (ebd.), also nützliche, und aus Odoardos Aufzählung – Steinmetze, Maurer, Zimmerleute, Dachdecker, Tischler, Glaser, Schlosser – geht deutlich hervor, dass es ihm in erster Linie um den Häuserbau geht. Indem er den Handwerkern also »ein hinreichendes Tagewerk auf mehrere Jahre« (392) anbietet, schafft er zugleich die

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Voraussetzungen für künftige Prosperität: Ganz zurecht kann er wohl hoffen, dass sich in solch geordneten Landstrichen »eine vereinte Tätigkeit nach allen Seiten von nun an entwickeln« (411) wird. Wo sonst ließe sich leicht ein Musterland finden, in dem Frieden, nachbarschaftliches Vertrauen, Tätigkeit und Wohlstand herrschen werden (vgl. 413)? Dabei macht Odoardo keinen Hehl daraus, dass strengste Pflichterfüllung gefordert wird. Neben solider und fehlerfreier Handwerkskunst wird erwartet, dass sich die Arbeiter ihrer Tätigkeit »fürs Leben widmen« (412). Wer die Erwartungen nicht erfüllt, wird auf seine Fehler »aufmerksam« gemacht und notfalls »verbannt« (ebd.): »Die Natur ist durch Emsigkeit, der Mensch durch Gewalt oder Überredung zu nötigen« (408). Der ökonomische Fortschritt wird durch permanenten Arbeits- und Nützlichkeitszwang, Kontrolle und Sanktionsmaßnahmen erkauft. Man darf bezweifeln, dass die »neue[n] Schenke[n]« (413) ausreichen werden, solches Maß an Nüchternheit aufzuwiegen. Den Gipfel der brave new world von totaler Arbeit stellt indessen das amerikanische Auswanderungsunternehmen dar, das nahezu sämtliche ökonomischen Praktiken des Romans zusammenfasst. Möglich wird es, weil der Oheim seinem Neffen Lenardo und dem Auswandererbund großzügig – und sicher nicht ohne ökonomische Hintergedanken – ausgedehnten Familienbesitz in Pennsylvania überlässt (vgl. 439). Dorthin war im frühen 18. Jahrhundert bereits sein Großvater emigriert, und sein Vater wurde in Philadelphia geboren (vgl. 81). Nun hat Lenardo mit den Seinigen die Möglichkeit, »dort Besitz zu nehmen, mitten in der vollkommensten bürgerlichen Einrichtung, von da sie [die Gesellschaft, M.K.] als einflußreiches Staatsglied ihren Vorteil ersehen und sich in die noch unangebaute Wüste fern verbreiten kann« (439). Die frontier wird weiter ausgedehnt werden, und die Gesellschaft soll die Chancen des westward movement nutzen: Landnahme, Bewirtschaftung und Besiedlung stellen auch in Amerika die Grundlage des ökonomischen Profits dar. Goethe hatte das ab 1826 in den verfügbaren LEDERSTRUMPF-Romanen James Fenimore Coopers gelesen, und ihn hatte fasziniert, dort auf dasselbe Phänomen zu stoßen, das er in seinen WANDERJAHREN behandelte: das Vordringen von Technik und Kultur und das damit verbundene Verschwinden alles Natürlichen. Im Roman werden die Auswanderer von Tante Makarie mit »bedeutenden Summen« (445) versehen, so dass sie über hinreichend Kapital für Reise und Investitionen verfügen. Was ihnen vorschwebt, legt Lenardo in seiner Rede beim Auswanderertreffen im Schloss ausführlich dar. In Amerika soll im großen Maßstab der Prototyp einer arbeitenden Kolonie aufgebaut werden. Der pursuit of happiness wird zum Gebot unermüdlicher Tätigkeit umgedeutet, und vor dem Hintergrund des Franklinschen time is money wird jedermann »[d]er größte Respekt […] eingeprägt für die Zeit« (405) als Messlatte produktiven Arbeitspensums: »Die Uhren sind bei uns vervielfältigt und deuten sämtlich mit Zeiger und Schlag die Viertelstunden an« (ebd.). »Etwas muß getan sein in jedem Moment« (ebd.), lautet die Devise, und was das Band im Folgenden darunter versteht, sind Techniken der Verwaltung, Sicherung und ökonomischen Betätigung.

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Der Abbé übernimmt den Unterricht im Lesen, Schreiben und Rechnen (vgl. 406), um, man denke auch an die Nützlichkeitsmaxime der Pädagogischen Provinz, Handelskommunikation und Buchhaltung zu lehren. Lydie verantwortet die haushälterische Erziehung der Mädchen und sieht ihre Schülerinnen sich schon »ins Hundertfache vermehren und ein ganzes Volk von Hausfrauen« abgeben, die »Genauigkeit und Zierlichkeit« (442) mitbringen und also eine strenge Aufseherin im Hauswesen und ihrem Mann eine angenehme Ehefrau sein können.11 Lothario obliegt der militärische Schutz der neuen Kolonie, aber wohl auch die Aufgabe gewaltsamer Neueroberungen (vgl. 406). Philine, ihre »Schere« (439) zeigt es bereits an, hat sich um die Textilindustrie zu kümmern. Denn durch die Handelsverbindung mit der Gebirgsregion des Maschinenwesens – man denke an die Nachodine-Handlung – will man die »neuen Kolonien mit Kleidungsstücken versorgen« und gedenkt ganz kapitalistisch »sich das Monopol vorzubehalten« (442). Dass die Schere »gefräßig« (439) ist, ungeduldig »zuckt[…]« (442) und Philine im Umgang mit ihr »weder Maß noch Ziel« (440) zu kennen scheint, weist bereits auf die unbarmherzige Konsequenz voraus, mit der man den neuen Produktionszweig durchsetzen wird.12 Montan schließlich zeichnet für das Engagement im Bereich der Rohstoffe für Schwerindustrie und Energie verantwortlich. Seine geologischen Kenntnisse soll er anwenden, um die amerikanische »Bergfülle an Blei, Kupfer, Eisen und Steinkohlen« (ebd.) zu erschließen und profitabel auszubeuten. Die riesige Nachfrage an Stahl und Kohle für die Großprojekte der Zeit – Eisenbahn, Bau des Eriekanals (1817-25) und diverser Brücken und Häfen – dürfte für Goethe hier entscheidend gewesen sein. Zusammengehalten wird die Kolonie dabei durch ein System von Kontrolle und Strafe. Die Obrigkeit zieht beständig von Ort zu Ort (vgl. 407) und verfügt über ein genaues Wissen über die Verhältnisse.13 Eine gut aufgestellte und ständig erreichbare Polizei garantiert, dass »niemand dem andern unbequem« (406) ist und Arbeitspflicht oder Besitz gefährdet. Und »wer sich unbequem erweist, wird beseitigt, bis er begreift, wie man sich anstellt, um geduldet zu werden« (ebd.), bis er also bürgerlich und nützlich wird. Damit ist wohl entweder die Entfernung aus der Kolonie oder aber gar eine

11 Es steht also zu vermuten, dass der Unterricht des Abbé den Knaben und jungen Männern vorbehalten ist. Damit wird die aus Europa bekannte geschlechterspezifische Aufgabenteilung beibehalten. 12 Überdies lässt sich an Philine ablesen, dass die ökonomische Moderne sich ihre eigenen Menschen schafft. Die ehemalige Schauspielerin, in den LEHRJAHREN noch Paradigma von Koketterie und leichtem Sinn, ist zu einem vollends nützlichen Mitglied des Auswandererbundes geworden. 13 Wahrscheinlich muss man in dieser mobilen Staatslenkung Goethes Reaktion auf die Defizienzen des Kameralismus erblicken, dessen planende Verwaltung am mangelnden Detailwissen scheiterte.

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Art von Beugehaft gemeint, die den Übeltäter zur staatsbürgerlichen Raison bringen soll. Gesetzesverstöße jedenfalls werden strikt mit Gefängnis oder Geldstrafen geahndet (vgl. 407). Die WANDERJAHRE skizzieren also eine kapitalistische bürgerliche Rechtsgesellschaft, die auf totale Tätigkeit ausgerichtet ist. »Branntweinschenken« (408), die Odoardo als Ausgleich zum Arbeitsalltag noch zuließ, werden hier »nicht geduldet« (ebd.). Nur nüchtern kann man die Menschen brauchen. Selbst »Lesebibliotheken« (vgl. ebd.) und Bücher sind verboten. Auch die Nüchternheit des Geistes darf keinesfalls durch Phantasie und Einbildungskraft aufs Spiel gesetzt werden.

IV. Bemerkenswert ist abschließend, dass sich der Transformationsprozess im Allgemeinen widerspruchslos vollzieht. Zwar mögen einige klagen und die Trennung von Heimat und Frau beweinen, zwar drohen viele unter dem Übermaß an Arbeit zugrundezugehen. Doch weder an der totalen Tätigkeit noch am fatalen Wandel der Lebensbedingungen oder der Umgestaltung der Umwelt entzündet sich nennenswerte Kritik. Offenbar hat man die Lektion der Entsagung gelernt und fügt sich dem ökonomischen Geist des Zeitalters, den man als den ›faustischen‹ bezeichnen könnte,14 und für die revolutionären Theorien eines Karl Marx hätte Goethe sich kaum erwärmen können. So hat er sich darauf beschränkt, Abweichungen nur anzudeuten. Felix etwa wird als ungeeignet aus der Pädagogischen Provinz hinausgeworfen, kann seine Leidenschaften nicht zügeln und begeht am Ende des Romans um ein Haar Selbstmord aus Liebesschmerz. Solche Emotionalität wurde den anderen Personen bereits ausgetrieben, und so markiert Felix noch in seinem stummen Protest das, was der Moderne abhandenkam. Hersilie, des Oheims intelligente Nichte, erkennt hingegen die emotionale Verarmung und ökonomische Einseitigkeit der neuen Zeit genau. »Ein sauberes Leben« (84), meint sie, habe man eingerichtet. Also zieht sie es vor, unverheiratet zu bleiben, und wird nicht in die Gemeinschaft der Auswanderer aufgenommen. Kritisch denkende Frauen entsprechen nicht dem Ideal des Bandes. Zustimmung solch kritischem Denken kommt aber zuletzt aus den BETRACHTUNGEN IM SINNE DER WANDERER, jenen Aphorismen, die so gar nicht im

14 Vgl. die lesenswerte FAUST-Analyse von Marshall Berman (1988: bes. 37-86), die man auf die WANDERJAHRE übertragen könnte. Fausts grenzenlos fortstrebendes Schaffen führt dazu, dass das soeben Geschaffene bereits wieder negiert und entwertet wird. Die Ambivalenz einer hochtechnisierten Moderne, die sich gerade durch ihre fortschreitende Technisierung ihrer eigenen Lebensgrundlagen beraubt, ist auch von Stefan Breuer (1992) eingehend analysiert worden.

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Sinne der Wanderer sind. Dort heißt es in einer Wendung gegen den »Tagesgeist« (289): »So wenig nun die Dampfmaschinen zu dämpfen sind, so wenig ist dies auch im Sittlichen möglich; die Lebhaftigkeit des Handels, das Durchrauschen des Papiergelds, das Anschwellen der Schulden, um Schulden zu bezahlen, das alles sind die ungeheuren Elemente, auf die gegenwärtig ein junger Mann gesetzt ist. Wohl ihm, wenn er von der Natur mit mäßigem, ruhigem Sinn begabt ist, um weder unverhältnismäßige Forderungen an die Welt zu machen noch auch sich von ihr bestimmen zu lassen.« (Ebd.)

Im Roman ist solche Autonomie bereits undenkbar. So bleibt es dabei: »Unbedingte Tätigkeit, von welcher Art sie auch sei, macht zuletzt bankerott« (286). Was Norbert Elias für die Bedingung einer zivilisierten Gesellschaft hielt, dass nämlich »ein dauerhafteres Gleichgewicht oder gar der Einklang zwischen seinen [des Menschen, M.K.] gesellschaftlichen Aufgaben, zwischen den gesamten Anforderungen seiner sozialen Existenz auf der einen Seite und seinen persönlichen Neigungen und Bedürfnissen auf der anderen« (Elias 1979: 454) herrschen müsse, diese Bedingung spielt in den WANDERJAHREN keine Rolle. Goethes Bilanz der Moderne könnte pessimistischer kaum sein.

L ITERATUR Berman, Marshall (1988): All that is solid melts into Air. The Experience of Modernity [1982], London: Penguin. Breuer, Stefan (1992): Die Gesellschaft des Verschwindens. Von der Selbstzerstörung der technischen Zivilisation, Hamburg: Junius. Broch, Hermann (1955): »James Joyce und die Gegenwart«, in: Ders., Dichten und Erkennen. Essays, Band I, herausgegeben und eingeleitet von Hannah Arendt, Zürich: Rhein, S. 183-210. Degering, Thomas (1982): Das Elend der Entsagung: Goethes ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹, Bonn: Bouvier. Elias, Norbert (61979): Über den Prozeß der Zivilisation, Band 2: Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Goethe, Johann Wolfgang (111982): Wilhelm Meisters Wanderjahre, hg. v. Erich Trunz, München: dtv (= Hamburger Ausgabe Band 8, zuerst Hamburg 1950). Koselleck, Reinhard (1972): »Über die Theoriebedürftigkeit der Geschichtswissenschaft«, in: Werner Conze (Hg.), Theorie der Geschichtswissenschaft und Praxis des Geschichtsunterrichts, Stuttgart: Klett: S.10-28.

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Städtisches Dorf, dörfliche Stadt Die Gartenstadt-Idee und vier russische Utopien von 1920/21 E LIANE F ITZÉ »Verschwunden waren die steinernen Monumentalbauten, die einst den Horizont überzogen, ganze Gebäudekomplexe waren nicht mehr vorhanden [...] Statt dessen [sic.] versank die ganze Umgebung in Gärten... Die gesamte Fläche bis dicht an den Kreml füllten weit ausladende Baumgruppen, in denen einsame Inseln architektonischer Einheiten zurückblieben. Alleen kreuzten das grüne, sich bereits gelb färbende Meer. [...] All dies atmete den Hauch klarer Frische, zuversichtlicher Lebensfreude. Zweifellos, dies war Moskau, aber ein neues Moskau, ein verwandeltes, lichteres.« ALEXANDER TSCHAJANOW: REISE MEINES BRUDERS ALEXEJ INS LAND DER BÄUERLICHEN UTOPIE

Moskau im Jahr 1984:1 Riesige Gärten beherrschen das Stadtbild (Landschaftsbild?), historische Gebäude ragen nur noch vereinzelt zwischen landwirtschaftlich bebauten

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Ob eine genauere Verbindung zwischen der Jahreszahl bei Orwell und Čajanov besteht, bleibt ungeklärt; vermutlich geht die identische Jahreszahl aber darauf zurück, dass beide Autoren Jack Londons THE IRON HEEL (1908) gelesen hatten, das auch in russischer Übersetzung existierte (Smith 1976: 9f.).

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Feldern hervor. So imaginiert Aleksandr Čajanov (Tschajanow 1981: 25f.)2 die Zukunft in seiner 1920 erschienen Erzählung PUTEŠESTVIE MOEGO BRATA ALEKSEJA V STRANU KREST’JANSKOJ UTOPII (dt.: REISE MEINES BRUDERS ALEXEJ INS LAND DER BÄUERLICHEN UTOPIE). In dieser Zukunft gibt es keine Städte mehr. Aber auch keine Dörfer, wie man sie bisher kannte: Stattdessen gibt es nur noch einen Siedlungstyp, in dem ein- und dieselbe bäuerliche Bevölkerung lebt und der sich lediglich in seiner jeweiligen Bevölkerungsdichte unterscheidet (ebd.: 38). Eine ähnliche Durchlässigkeit zwischen Stadt und Land prägt auch Vladimir Kirillovs utopische Erzählung PERVOMAJSKIJ SON (dt.: ERSTER MAI-TRAUM), die ein Jahr nach Čajanovs REISE erscheint und als Antwort auf diese gelesen werden muss:3 Während hier im Moskau des Jahres 1999 zwar nebst dem Kreml und einigen alten Kirchen insbesondere riesige, gläserne Wolkenkratzer ins Auge fallen, gibt es auch in dieser Zukunftsvision landwirtschaftlich bebaute Felder mitten in der Stadt. Diese erscheinen »als grüne Quadrate zwischen sich kreuzenden goldenen Autobahnen«, und es atmet sich leicht in den »luxuriösen Gärten und Dörfern« (Kirillov 1992: 617). Im selben Jahr4 erscheint Apollon Karelins anarchistische Utopie ROSSIJA V 1930 GODU (dt.: RUSSLAND IM JAHR 1930): Hier gibt es zwar nach wie vor Städte und Dörfer, doch schließen sich die Dörfer freiwillig der Stadt an und der direkte Austausch landwirtschaftlicher und städtisch-industrieller Güter kommt sowohl dem Dorf als auch der Stadt zugute. Und wiederum ein Jahr zuvor, 1920, erschien Konstantin Ciolkovskijs Erzählung VNE ZEMLI: NAUČNO-FANTASTIČESKAJA POVEST’ (dt.: AUßERHALB DER ERDE: EINE WISSENSCHAFTLICH-PHANTASTISCHE ERZÄHLUNG, 19205), wo die Themen Stadt und

2

Für die Wiedergabe von Eigennamen verwende ich die wissenschaftliche Transliteration ins lateinische Alphabet. Ausnahmen bilden die bibliographischen Angaben von Übersetzungen, wo die dort jeweils gewählte Schreibweise der Autorennamen verwendet wird.

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Zu diesem Schluss gelangt Niqueux (1992). Dafür sprechen zahlreiche Parallelen zwischen den beiden Erzählungen sowie die Tatsache, dass Čajanovs REISE im staatlichen Verlag in einer Auflage von 20.000 publiziert worden war und daher Kirillov unmöglich entgangen sein kann.

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Der führende Karelin-Forscher Vladimir Sapon gibt 1918 als ursprüngliches Publikationsjahr an (Sapon 2009: 44; 2015: 89). Dazu habe ich jedoch keinerlei weitere Angaben gefunden. Die einzige Version, die heute noch zugänglich ist, erschien 1921 im Verlagshaus »Vserossijskaja Federacija Anarchistov« in einer verhältnismässig hohen Auflage von 5.000 Exemplaren.

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Ciolkovskij schrieb einige Kapitel seiner Erzählung bereits 1896, nahm die Arbeit aber erst während des Ersten Weltkriegs wieder auf. 1918 begann das Wissenschaftsmagazin PRIRODA I LJUDI seine Erzählung in Serienfolge zu publizieren, stellte aber vor der vollständigen Publikation den Betrieb ein. Vollständig veröffentlicht wurde die Erzählung 1920, in einer mickrigen Auflage von 300 Exemplaren. Laut James Andrews, der sich auf

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Land, Zentrum und Peripherie auf ganz eigene Art verarbeitet werden: Hier kolonisiert die Menschheit im Jahr 20176 das Weltall mit riesigen gläsernen Bauten, die gleichzeitig Wohn-stätte und Gewächshäuser sind und eine völlig neue Siedlungsform jenseits von städtisch oder ländlich verkörpern. In allen vier Werken von 1920/21 wird eine utopische Zukunft entworfen, in der keine binäre Opposition zwischen Stadt und Dorf mehr besteht, sondern in der sich städtische und ländliche Siedlungsstrukturen gegenseitig durchdringen und dadurch neue Formen von Sozietät entstehen. Im vorliegenden Artikel werde ich ausführen, wie diese vier Werke Bezug nehmen auf die von Ebenezer Howard ausgehende Gartenstadt-Idee, die in Russland in den Jahren nach der Oktoberrevolution stark rezipiert wurde, bzw. auf die mit der Gartenstadt verbundene sozialutopische Tradition. Dabei gilt ein besonderes Interesse der Frage, ob und inwiefern die imaginierten Gemeinschaftsmodelle sich als »spezifisch russisch« darstellen und dadurch die Gartenstadt-Idee in einen russischen Kontext einschreiben und verschränken. Wie werden ländliche und städtische Siedlungsmodelle miteinander verwoben und was bedeutet dies für die Gesellschaft der Utopie? Wie schreiben sich diese Entwürfe in die Debatte um die Gartenstadt wie auch in die russische sozialutopische Tradition ein? Und gibt es Hinweise auf spezifisch »russische« Eigenheiten der entworfenen Gemeinschaftsmodelle? Die Literarizität der Texte steht hier zwar weniger im Vordergrund, doch sind es gerade die narrativen Verfahren der Utopie und die Referenzen auf die literarische Utopie-Tradition, die den Texten ihren Sinn stiften. Hinter den raumplanerischen Diskussionen in den Jahren nach der Oktoberrevolution lassen sich zwei Problemfelder ausmachen, die die junge Sowjetunion beschäftigten: die Sorge um die Versorgungssicherheit und die Suche nach neuen Modellen des gemeinschaftlichen Lebens, die dem Aufbau des Sozialismus förderlich sein sollten. Diese beiden Problemfelder sind eng miteinander verwandt. Zur Zeit des Bürgerkriegs flohen die Menschen aufgrund der Versorgungsengpässe in Scharen aus der Stadt aufs Land.7 Gleichzeitig stellte sich die Frage, wie sich durch

biographische Notizen aus dem ARAN stützt, wurde VNE ZEMLI 1923 in großer Auflage durch zentrale Verlage veröffentlicht (Andrews 2009a: 72); andere Erwähnungen der Editionsgeschichte, z.B. bei Michael Hagemeister, geben aber als erste Großauflage erst die Version von 1958 an (Hagemeister 1989: 257). 6

Das hundertjährige Jubiläum der Oktoberrevolution als Handlungszeitpunkt wählte Ciolkovskij nach 1917; als er im späten 19. Jahrhundert mit dem Schreiben der Erzählung begann, habe er die Erzählung im Jahr 2000 angesiedelt (Arlazorov 1963: 213).

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Moskau schrumpfte um 50%, Petrograd sogar um 75%; auf dem Land hingegen war die Hungersnot weniger spürbar (Figes 1996: 609). Viele Raumplaner gingen damals davon aus, dass dies eine nachhaltige Entwicklung sei und die Stadtbewohnerinnen insbesondere nach der Hungersnot 1920 verstärkt nach Wohnraum suchen werden, der ihnen zur

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raumplanerische Maßnahmen der Übergang von einer bäuerlich-dörflichen zu einer proletarisch-städtischen Gesellschaft positiv beeinflussen ließe. Über die ökonomische Frage der Versorgungssicherheit hinaus wurde dadurch der Zusammenhang zwischen unterschiedlichen Wirtschafts- und Lebensformen und der politischen Ordnung besprochen. Der Fokus auf das Dorf und den Bauern ergibt sich auf der einen Seite durch deren sozialgeschichtliche Verknüpfung mit der Versorgungsthematik, auf der anderen Seite durch das spezifische wirtschaftliche und gesellschaftliche Modell der bäuerlichen Subsistenzwirtschaft. In Russland ist dabei nicht nur die Spannung zwischen Stadt und Land, zwischen Peripherie und Zentrum besonders stark ausgeprägt, sondern auch die Spannung zwischen städtischer Intelligenz und ländlich-bäuerlicher Bevölkerung. Und in der dörflichen Lebensweise letzterer versuchten unterschiedliche Denktraditionen – nationalistische, anarchistische bis sozialistische – seit dem 19. Jahrhundert »russische Spezifika« zu verorten.8 Der Idee der Gartenstadt liegt das Vorhaben zugrunde, durch die Vereinbarung ländlicher und städtischer Lebensweisen die Gesellschaft auf ihrem Weg zu sozialen Reformen zu unterstützen. Die von Ebenezer Howard in GARDEN CITIES OF TO-MORROW (1898/1902)9 entworfene Gartenstadt ist eine genossenschaftlich aufgebaute Kleinstadt, die nach demokratischem Prinzip geleitet wird (Meerovič 2018: 23). Als sozialutopisches Projekt steht die Gartenstadt-Idee in der Tradition des 19. Jahrhunderts10 und beeinflusste im frühen 20. Jahrhundert nicht nur raumpolitische Diskussionen, sondern inspirierte europa- wie auch weltweit vielerlei konkrete

wirtschaftlichen Absicherung kleine Garten oder die Kleinviehhaltung erlauben würde (Chan-Magomedow 1983: 274). 8

Die obščina/mir, die slavische Dorfgemeinde, interessierte die konservativen Slavophile und August von Haxthausen als »protosozialistische« Institution, die demnach eine sozialistische Revolution in Russland überflüssig mache (vgl. Malia 1961: 285-288, 310f., 395f.; Hildermeier 2013: 855f). Verschiedene anarchistische Denker idealisierten mit der obščina eine ursprüngliche staaten- und zarenlose Gesellschaft (Avrich 1967: 251). Und Alexander Herzen entwirft auf der Basis der Dorfgemeinde seine Ideen eines spezifisch russischen Sozialismus, der einerseits auf einer gewissen ›unverdorbenen Kraft‹ des russischen Bauern und andererseits auf einer historisch geringen Einflussnahme des Staates auf das Bauerntum beruhe (Gercen 1955a: 199–200).

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Veröffentlicht 1898 zunächst als TO-MORROW: A PEACEFUL PATH TO REAL REFORM und danach 1902 unter dem heute bekannten Titel GARDEN CITIES OF TO-MORROW (Osborn 1951: 9).

10 Howard kannte die Sozialutopien Charles Fouriers, vor allem aber Robert Owens, wie auch andere Modelle der Stadtreform seiner Zeit (Will 2012: 26f.).

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Realisierungen.11 Überlegungen zur Versorgungsthematik sind bei Howard fester Teil der Raumplanung: Die Gartenstadt hat lediglich 30.000 Einwohnerinnen12 und ist von allen Seiten von landwirtschaftlich genutztem Gebiet umgeben, so dass einerseits innerhalb der Stadt kostengünstige Nahrungsmittel erhältlich sind, andererseits die Bauern durch den stetigen und nahen Markt an Stadtbewohnerinnen von einer bisher nicht vorhandenen Abnahmesicherheit profitieren können (Howard 1902: 31f.).13 In Russland stieß die Gartenstadt-Idee mit der Übersetzung von Howards Buch ins Russische 191114 und der Gründung der »Russischen Gesellschaft für Gartenstädte« zwei Jahre danach bereits vor 1917 auf großes Interesse (Meerovič 2018: 29). Nach der Oktoberrevolution wurde das Gartenstadt-Modell für einige Jahre sogar zum leitenden Prinzip der staatlichen Siedlungspolitik (ebd.: 18):15 Die Gartenstadt versprach nebst einer höheren Versorgungssicherheit auch eine Lösung für das Problem der ›kapitalistischen‹ Großstadt mit ihrem Wohnelend, den schlechten Lebensbedingungen und dem fehlenden Erholungsraum (Möbius 2015: 516). Ende der 1920er Jahre wurde das Modell der Gartenstadt mit kleinen Wohnhäusern von dem der Arbeitersiedlung mit Mehrfamilienbauten verdrängt. Letztere Wohnform ermöglichte eine stärkere Kontrolle des Individuums durch das Kollektiv und

11 Howard selbst erbaute zwei Gartenstädte: Letchworth und Welwyn. Darüber hinaus entstanden Gartenstädte – und bestehen teilweise noch heute – u.a. an verschiedenen Orten in Deutschland, Polen, Schweden, Tschechien und der Slowakei, und sogar in Buenos Aires, den USA und Australien; vgl. dazu den Sammelband von Thomas Will und Ralph Lindner zum Hundert-Jahr-Jubiläum der Gartenstadt Hellerau (Will/Lindner 2012; Jaeger/Wölfle 2012). Allerdings ist kein einziger Artikel im Sammelband einer russischen/sowjetischen Gartenstadt gewidmet. 12 Aus Gründen der Lesbarkeit verwende ich jeweils nur die männliche oder die weibliche Variante, womit bei allgemeinen Formulierungen stets beide Geschlechter gemeint sind. 13 Durch die wegfallenden Transportwege werden so Kosten eingespart. Gleichzeitig beschreibt Howard, wie die Abfälle aus der Stadt als billige Düngemittel verwendet werden können (Howard 1902: 31f.). 14 Unter dem Titel GORODA BUDUŠČAGO: S PREDISLOVIJAMI AVTORA I PEREVODČIKA K RUSSKOMU IZDANIJU I 5-JU DIAGRAMMAMI

(Gouard 1911).

15 Mark Meerovič beschreibt, wie die sowjetische Regierung zunächst von Howards Ideen begeistert war, sich gegen Ende der 1920er jedoch so stark davon distanzierte, dass sie in den 1930-1970er Jahren kaum mehr erwähnt wurde, und wenn doch, so nur äußerst negativ, indem das angeblich »bourgeoise« Element der Einfamilienhäuser der Howardschen Gartenstadt betont wurde; Meerovič spricht daher von einem faktischen »Verbot« der Gartenstadt-Idee (Meerovič 2007: 119f.; Meerovič 2018: 18-21).

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vermochte so die in den neuen urbanen Siedlungen wegfallende Kontrolle durch die Dorfgemeinschaft teilweise zu ersetzen (Meerovič 2007: 147f.). Als die vier Werke Čajanovs, Kirillovs, Karelins und Ciolkovskijs 1920/21 erschienen, waren die beschriebenen Debatten um neue Formen von sozialem Zusammenleben höchst aktuell. In diesem Kontext lassen sich die vier Erzählungen als aktive Beiträge zu diesen Diskussionen lesen – typisch für den russischen Kontext, wo sich Schriftsteller dazu berufen fühlen, sich zu sozialen und politischen Fragen zu äußern, und sich Wissenschaftlerinnen und Publizisten gerne auch literarischer Genres bedienen. Dem Utopischen kommt in dieser Hinsicht ein besonderer Stellenwert zu: Die Utopie erlaubt es, Modelle alternativer Gemeinschaft konkret und detailliert zu formulieren und diese in einer der Leserschaft zugänglichen Form zu präsentieren.16 In ihrer weltanschaulichen Ausrichtung unterscheiden sich die vier Utopien denkbar stark voneinander, was hinsichtlich der verschiedenartigen Hintergründe der Autoren wenig überrascht: Der Agrarökonom Čajanov stand der neopopulistischen Intelligenz nahe und vertrat als »Agrarist« eine intellektuelle Strömung, die die Landwirtschaft als zentrales Element der wirtschaftlichen Wertschöpfung betrachtete, ländliche gegenüber städtischen Lebensformen als höher- oder zumindest gleichwertig erachtete und mit der bäuerlichen Familienwirtschaft sympathisierte (Bruisch 2014: 17). Kirillov hingegen war proletkul’t-Dichter, interessierte sich also für das Schaffen einer Kultur, die die Arbeiterklasse ins Zentrum stellt.17 Karelin war Jurist, in jungen Jahren Sozialrevolutionär, später Anarchist, und politisierte nach der Oktoberrevolution als Deputat im VCIK, der höchsten Behörde der Staatsmacht, um innerhalb des bolschewistischen Systems für anarchistische Reformen zu agitieren (Avrich 1967: 201f.; Sapon 2015: 91-116). Ciolkovskij – in der Sowjetunion als »Großvater der sowjetischen Raumfahrt« (Andrews 2009a) gefeiert – beschäftigte sich als Physiker-Autodidakt bereits im späten 19. Jahrhundert mit der Möglichkeit, das Weltall zu besiedeln, und verknüpfte mit diesen Ideen Theorien zur biologischen Steigerung des Menschen (Hagemeister 1989: 259). Hinsichtlich dieser Unterschiede ist es umso bemerkenswerter, dass alle vier Autoren in ihren Utopien neue Modelle sozialer Gemeinschaft imaginieren, die das bisherige Stadt-Land-Gefälle zugunsten neuer Siedlungs- und Lebensformen aufheben.

16 Zur russischen Utopieforschung allgemein vgl. bspw. Heller/Niqueux (1995); Šestakov (2013); Möbius (2015). 17 Allerdings kehrte Kirillov nach seiner »revolutionären« Periode wieder zu einer der bäuerlich-romantischen Tradition verpflichteten intimen Lyrik zurück (Niqueux 1992: 605f.).

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Č AJANOVS A UFLÖSUNG DER S TADT -L AND -D ICHOTOMIE K IRILLOVS P SEUDO -»V ERDÖRFLICHUNG « DER S TADT

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Das zu Beginn angeführte Zitat aus Aleksandr Čajanovs REISE MEINES BRUDERS ALEXEJ INS LAND DER BÄUERLICHEN UTOPIE beschreibt den ersten Eindruck des Protagonisten Aleksej Kremnëv, der sich plötzlich im Jahr 1984 wiederfindet. Vor seiner Zeitreise wird skizzenhaft ein dystopisches Moskau im Jahr 1921 gezeigt, kurz nach der Weltrevolution:18 Die Leute tragen Nummern statt Namen und mit einem neuen Dekret soll der »heimische Herd« – die Familie – abgeschafft werden (Tschajanow 1981: 19f.). Nach Kremnëvs Sprung in die Zukunft erkennt man Moskau kaum wieder. Streifte er zuvor durch eine düstere, neblige Stadt, überblickt Krenmëv nun eine herbstlich-bunte Landschaft, in der nur noch einzelne Gebäude daran erinnern, dass es sich nach wie vor um Moskau handelt – oder was davon übrigblieb. Wie Kremnëvs Gastgeber (man hält ihn für einen Besucher aus Amerika und führt ihn herum) später erklärt, wurde 1934 per Dekret die Zerstörung aller Städte mit über 20.000 Einwohnerinnen angeordnet. In der Folge schrumpft die Einwohnerzahl Moskaus nach 1934 auf 30.000 und die entsprechende Umstrukturierung erfolgte nach den Plänen eines gewissen Ivan Žoltovskij (ebd.: 35). Auch wenn die Gartenstadt nicht explizit erwähnt wird, ist die Bezugnahme offensichtlich:19 Erstens hat auch die Howardsche Gartenstadt 30.000 Einwohner und zweitens war Žoltovskij ein führender Architekt, der 1918-19 einen Plan erarbeitete, der Moskau in eine Gartenstadt mit »Gartenvorstädten« umzuwandeln gedachte (Chan-Magomedow 1983: 274f.). Eine naheliegende Verbindung zwischen Howard und Čajanov liegt auch im gemeinsamen Interesse am Genossenschaftswesen. Doch ist Čajanovs Utopie nicht eine affirmative Übernahme des Howardschen Gartenstadt-Modells, sondern vielmehr eine Abgrenzung davon. Einerseits hat Moskau als Kleinstadt keineswegs seinen endgültigen Zustand erreicht, sondern wächst bald darauf wieder an und hat 1984 ungefähr 100.000 feste Einwohner. Vor allem aber ist die ehemalige Stadt ein Knotenpunkt für Tagesgäste, so dass sich tagsüber jeweils bis zu über fünf Millionen Menschen auf

18 Dafür dient die Versetzung der Handlung um ein Jahr in die Zukunft: Weit genug, um die Weltrevolution als vollendet zu betrachten und die Folgen der bolschewistischen Politik aufzuzeigen (Möbius 2015: 319), aber doch nahe genug an den Ereignissen im Jahr des Verfassens der Erzählung, 1920. 19 Die Verbindung zwischen Čajanov und der Gartenstadt-Idee wurde dementsprechend auch schon früher festgestellt: Thomas Möbius spricht bei Čajanov von Moskau als »bäuerliche Gartenstadt« (Möbius 2015: 338–40) und verweist ebenfalls auf die russische Rezeption der Howardschen Idee vor und nach der Revolution (Möbius 2015: 516), Marina Zavarkina und Aleksandr Nikulin verwenden den Begriff der Gartenstadt in Bezug auf Čajanov, ohne aber weiter darauf einzugehen (Zavarkina 2013; Nikulin 2017: 14: 25).

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dem Stadtgebiet befinden (Tschajanow 1981: 31). Dies widerspricht der ursprünglichen Gartenstadt-Idee, denn Howards Stadtmodell sieht kein regelmäßiges Pendeln vor, sondern vereint Arbeit, Wohnen und Freizeit innerhalb einer einzigen Siedlung.20 Howards statischem und zentralisiertem Modell stellt Čajanov das genaue Gegenteil entgegen: Mobilität und Dezentralisierung sind die leitenden Prinzipien in der Siedlungs- und dadurch der Gesellschaftsstruktur der bäuerlichen Sowjetunion. So beschreibt Kremnëvs Gastgeber: »eigentlich ist es jetzt an der Zeit, die altmodische Einteilung in Stadt und Dorf aufzugeben, weil wir heute nur einen Siedlungstyp ein- und derselben Agrarbevölkerung haben, der sich lediglich in der Bevölkerungsdichte unterscheiden kann« (ebd.: 38). Die Gegensätze Stadt vs. Dorf, Zentrum vs. Peripherie haben sich gänzlich aufgelöst. Für die neue Gesellschaft bedeutet dies das Vordringen der Landwirtschaft in städtische Wohngegenden und, in entgegengesetzter Richtung, der Transfer des Städtischen ins Dörfliche. Letzteres scheint sich allerdings größtenteils auf eine Dezentralisierung von Kunst und Kultur zu beziehen: Kunstwerke hängen nicht mehr in städtischen Museen, sondern werden von Jahrmarkt zu Jahrmarkt quer durchs Land getragen. Ersteres hingegen, das Vordringen des Ländlichen in die Stadt, ist von größerer Bedeutung. Ein gewisses »Gesetz der sich verringernden Bodenfruchtbarkeit« (ebd.: 9) verlangt in der Čajanovschen Zukunft wieder vermehrt manuelle Arbeit auf dem Feld, da »nahezu jede einzelne Ähre individuell gepflegt« werden muss (ebd.: 41). Dies wird von der utopischen Gesellschaft jedoch nicht bemängelt, sondern begrüßt, denn der wirtschaftlichen Struktur der Bauernutopie liegt die bäuerliche Familienwirtschaft zugrunde. Diese wird als »vollendetste Form wirtschaftlicher Tätigkeit« (ebd.: 50) bezeichnet: »Hier tritt der Mensch der Natur entgegen, hier kommt die Arbeit in schöpferische Berührung mit allen Kräften des Kosmos und lässt neue Lebensformen entstehen. Jeder Arbeiter wird zu einem Schöpfer, jede Äußerung seiner Individualität ein Kunstwerk der Arbeit« (ebd.: 50). Durch diese Idealisierung der bäuerlichen Arbeit als schöpferische Tätigkeit ist die »Verdörflichung« der Stadt in der Bauernutopie weit mehr als ein möglicher Lösungsvorschlag für kommende Versorgungsengpässe: Hier wird eine sozialistische Gesellschaft imaginiert, die in agrarromantischer Tradition das Zusammenleben in bäuerlicher Gemeinschaft und die enge Verbindung des Menschen mit der Natur verherrlicht. Die Bedeutung der individuellen bäuerlichen Familienwirtschaft in der Čajanovschen Utopie muss im Zusammenhang mit der Erwähnung Alexander

20 Howards Modell unterteilt die Stadt in verschiedene Bereiche, doch befinden sich Wohngegenden, der für Freizeitbeschäftigungen konzipierte Zentralpark, wie auch Fabriken, Werkstätte und Märkte allesamt innerhalb der Stadt (vgl. die Illustrationen in GARDEN CITIES OF TO-MORROW; Howard 1902: 22f.).

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Herzens zu Beginn der Erzählung verstanden werden. Kremnëv nimmt an jenem Abend im Jahr 1921, an dem er seine »Reise« antreten wird, Herzens S TOGO BEREGA (dt.: VOM ANDEREN UFER, 1848) aus dem Bücherregal und beginnt zu lesen, bis das Buch plötzlich von selbst zuklappt und Kremnëv in der Bauernutopie der Zukunft landet. In VOM ANDEREN UFER rechnet Herzen mit der Revolution von 1848 ab und Kremnëv zitiert die Stelle, an welcher Herzen auf eine neue Revolution hofft, die tatsächlich den Sozialismus bringen werde (Tschajanow 1981: 7). Bereits in den Jahren vor VOM ANDEREN UFER interessierte sich Herzen für die Einrichtung der obščina, der slavischen Dorfgemeinde und in den Jahren nach 1848 entwirft er auf deren Basis seine Idee eines spezifisch russischen Sozialismus:21 Der Sozialismus entspreche gewissermaßen dem Naturzustand der Slaven, wie die Existenz der obščina zeigt, während der Staat als Institution den Slaven eigentlich fremd sei (Gercen 1955b: 147). Der explizite Bezug auf Herzen verdeutlicht den ideengeschichtlichen Hintergrund der Čajanovschen Bauernutopie: In dieser werden Herzens Ideen weitergedacht und es wird eine postrevolutionäre Gesellschaft imaginiert, die die traditionellen bäuerlichen Wirtschaftsformen als Grundlage eines spezifisch russischen Modells gemeinschaftlichen Lebens aufstellt.22 In Vladimir Kirillovs ein Jahr später veröffentlichter Utopie ERSTER-MAI-TRAUM ist der Bezug zu Čajanov offensichtlich. Hier reist ein Ich-Erzähler ins Jahr 1999 und findet Moskau als blendend weiße Stadt vor, mit riesigen Wolkenkratzern aus Stein und Glas und großen Fabriken, die keinen schädlichen Rauch mehr produzieren (Kirillov 1992: 615). Dieses proletarisch-urbane Ideal rekurriert ebenso auf die Gartenstadt-Idee: Zwischen den goldenen Autobahnen liegen mitten in der Stadt landwirtschaftlich bebaute Äcker und es dominiert die Farbe Grün, von Parks und künstlichen Teichen ausgehend, die »in der smaragdenen frühlingshaften Grüne« versinken (ebd.: 617). Die Bewohner der Kirillovschen proletkul’t-Utopie sind natürlich keine Bäuerinnen, sondern Arbeiter. Wie bei Čajanov wohnen sie allerdings nicht mehr in der Stadt, denn auch in Kirillovs Moskau gibt es kaum mehr eine eigentliche Stadtbevölkerung (ebd.: 615). Der Grund dafür liegt aber nicht in einer Dezentralisierung der Lebensformen. Im Gegenteil: Die Arbeiterinnen leben außerhalb der Stadt und fahren tagtäglich zur Arbeit ins Zentrum (ebd.), so dass Wohnen und Arbeit örtlich getrennt und zwischen Peripherie und Zentrum aufgeteilt werden.

21 Vgl. dazu v.a. seinen Aufsatz LA RUSSIE, der 1849 in Paris erschien (Gercen 1955a). 22 Herzen verortet Russlands Stärke hinsichtlich einer sozialistischen Revolution in dessen kultureller ›Unberührtheit‹ im Gegensatz zum Westen (s. auch Anm. 6). Hierzu passt, dass die Reise auch in ihrer kulturellen Orientierung auf die vorpetrinische Geschichte und daher auf die Zeit vor der »Verwestlichung« Russlands rekurriert: In den Bereichen Architektur (Tschajanow 1981: 42), Kleidung (ebd.: 75), Sport (ebd.: 32) und teilweise Kunst (ebd.: 30); vgl. dazu auch Fitzé (2019).

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Die Durchmischung städtischer und ländlicher Siedlungseigenschaften beschränkt sich daher in Kirillovs Utopie auf eine Ergänzung der Stadt durch »ländliche« Vorzüge: Moskau wird grüner, lichter, die Landwirtschaft hält Einzug in das Stadtgebiet und die Begleiterin des Erzählers schwärmt »von luxuriösen Gärten und Siedlungen, wo es sich leicht atmen lässt, wo es Licht und duftende Blumen gibt« (ebd.: 617). Das mehrfache Betonen der positiven Einflussnahme der Natur auf den Menschen lässt erahnen, dass auch das Verlegen der Arbeiterwohnungen auf Orte außerhalb des Stadtgebiets in erster Linie auf eine Steigerung der Lebensqualität abzielt. Doch das ländliche Leben wird nicht beschrieben.

K ARELINS B AUERNUTOPIE : EINE ( VERMEINTLICHE ?) A UTONOMIE DES P ERIPHEREN Ein viel stärkerer Fokus auf das Bäuerliche zeigt Apollon Karelins RUSSLAND IM JAHR 1930. Der anarchistische Publizist und Politiker Karelin interessiert sich in seiner Erzählung für die traditionelle russische Bauerngemeinde, die in seiner Erzählung zur Grundlage der dörflichen Selbstorganisation in einem staatenlosen Russland wird. In RUSSLAND IM JAHR 1930 liest ein Freund des Ich-Erzählers in einem tranceartigen Zustand aus einer Zeitung der Zukunft vor. Dort sind die ins Russische übersetzten Briefe zweier Engländer abgedruckt, die im Jahr 1930 das anarchistische Russland bereisen und ihren Landsleuten von ihren Erlebnissen berichten. In diesem künftigen Russland gibt es zwar nach wie vor Dörfer und Städte, doch hat sich der Fokus verschoben: Das Dorf interessiert die ausländischen Gäste am meisten, denn die Dorfgemeinde scheint in diesem staatenlosen Land das wichtigste organisatorisch-strukturelle Prinzip zu sein. Im ersten Dorf, das die beiden Engländer besuchen, beobachten sie die gemeinschaftliche Lebensweise der Bauern: »Sie haben alle Ackerstreifen zu einem gemeinsamen Feld verbunden und bearbeiten sie gemeinsam. Gemeinsam fahren sie den Dünger aus, säubern das Getreide, säen, pflügen, eggen, sammeln gemeinsam das Getreide, dreschen es, blasen es aus, fahren es ein« (Karelin 1921: 16, Hervorhebung E.F.). Auch über Boden, Vieh, Werkzeug und Ernte verfügt und entscheidet allein die Bauerngemeinde, der mir (ebd.: 21f.). Die Vorteile dieser gemeinschaftlichen Arbeit werden ausführlich beschrieben und beziehen sich allesamt auf eine bessere Gewährleistung der Versorgung. Erstens bewirkt das Zusammenlegen der Felder einen Schutz vor Missernten, da Unwetter oder Insektenplagen häufig einzelne Äcker stärker betreffen als andere. Zweitens fällt die unterschiedliche Bodenqualität nicht mehr ins Gewicht, wenn der Boden nicht mehr zwischen Einzelpersonen oder -haushalten aufgeteilt ist. Und drittens könne man die mühsame manuelle Feldarbeit – hier könnte Karelin kaum stärker von Čajanov abweichen – viel einfacher durch moderne Maschinerie ersetzen, wenn große Felder

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bewirtschaftet werden, die nicht durch Zäune untertrennt sind (ebd.: 18f.). Die Versorgungssicherheit wird in Karelins Utopie zudem durch ein neuartiges Düngemittel verbessert. Doch liegt es vor allem an der veränderten Gesellschaftsstruktur, dass im anarchistischen Russland niemand mehr Hunger leiden muss: Seit es keine Kulaken und Gutsbesitzer mehr gibt, fallen die Ernten viel reichlicher aus, da niemand mehr von Gutsbesitzern für andere Tätigkeiten eingespannt wird und somit alle Dorfbewohner auf dem Feld arbeiten können (ebd.: 24). In der Karelinschen Utopie wird zwar der Unterschied zwischen Dorf und Stadt nicht aufgehoben, doch stehen die beiden Siedlungstypen nicht mehr in einem gegensätzlichen Verhältnis. Stattdessen schließen sich die Dörfer der ihnen nächstgelegenen Stadt an, so dass ein direkter Austausch landwirtschaftlicher Güter und in der Stadt industriell hergestellter Produkte stattfindet und dadurch beiderseits eine bessere Versorgungssicherheit gewährleistet ist. Zudem nähert sich das Dorf der Stadt strukturell und größenmäßig an: Das Dorf »Krasnye sotni«, das den beiden Engländern als »sehr typisch« vorgestellt wird, hat rund 5.000-6.000 Einwohnerinnen.23 Entsprechend veränderte sich auch die Infrastruktur des Dorfes und mit mehreren Gasthäusern, Klubs, einem Theater, einer Bibliothek, einer Zeitung und einem Museum (ebd.: 47) wirkt diese eher kleinstädtisch als dörflich. Doch trotz dieser Annäherung zwischen Dorf und Stadt bleibt in Karelins Utopie eine gewisse Spannung zwischen Zentrum und Peripherie bestehen. Die Hauptstädte werden zwar nicht thematisiert, aber die beiden Engländer reisen über Moskau ein, bevor sie in die Provinz fahren (ebd.: 5). Das Gefälle zeigt sich weiter darin, dass der Anschluss der Dörfer an die Stadt zwar freiwillig ist,24 aber durch finanzielle Anreize ermutigt wird, die vom Zentrum ausgehen (ebd.: 28).25 Dasselbe gilt zudem für die Eingliederung der Einzelbauern in die Dorfgemeinschaft: Auch diese ist zwar freiwillig, aber die immensen Vorteile für die Mitglieder der Kommune sind so überwältigend, dass der definitive Beitritt aller Bauern nur als eine Frage der Zeit dargestellt wird. Zudem werden die Einzelbäuerinnen zwar nicht aktiv von der Gemeinschaft ausgeschlossen, doch von den Mitgliedern der Dorfgemeinde herablassend als

23 Dieses Dorf besteht aus 20 »Hundertschaften«, die aus jeweils ungefähr 100 Männern, 100 Frauen, einigen Dutzend Halbwüchsiger und einigen Arbeitsunfähigen bestehen (Karelin 1921: 42). 24 Das gewaltfreie Element betonen Heller und Niqueux als stärksten Punkt der Karelinschen Utopie, die sich dadurch von anderen revolutionären Utopien abhebe (Heller/Niqueux 1995: 221). 25 Die Dörfer, die nicht zur Stadt gehören, erhalten für ihre der Stadt abgelieferten landwirtschaftlichen Produkte eine Art Geld, das sie allerdings nur in der entsprechenden Stadt ausgeben können. Von diesem Geld bekommen sie stets ein bisschen weniger als ihnen in Naturalien zustehen würde.

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»missgünstig, oder einfach nicht klug« (ebd.: 18) bezeichnet. Dasselbe paternalistische Verhältnis besteht zwischen der Stadt und dem Dorf. Der Lehrer, der die beiden Engländer durch Russland führt, erklärt: »Die Stadt gewöhnt uns an den Kommunismus, es ist schon längst Zeit, dass wir Kommunisten werden« (ebd.: 15). Auch wenn die anarchistische Selbstorganisation gewissermaßen aus der Dorfgemeinde herauszuwachsen scheint, bleibt die ideologische Belehrung Aufgabe der Stadt. Auch in Karelins Erzählung wird mehrfach auf bestimmte russische Spezifika des utopischen Gesellschaftsmodells hingewiesen. Dies zeigt sich in der lokalen Selbstorganisation: Nicht nur basiert das Dorf auf dem mir – derselben Institution wie die obščina –, sondern auch das Gewerbe beruht auf der vorrevolutionären Struktur der artel’.26 Für beide Institutionen interessierten sich sozialistische, anarchistische und nationale Denktraditionen bereits im 19. Jahrhundert.27 Auch in kultureller Hinsicht wird das Russische mehrfach hervorgehoben: man trägt traditionelle russische Kleidung (ebd.: 6), isst russische Gerichte (ebd.: 45), sammelt und produziert altrussische folkloristische Kunst (ebd.: 14). Ein besonderer Blick auf das Geschehen ergibt sich aus der spezifischen Erzählsituation, dass es sich beim niedergeschriebenen Text um einen Bericht zweier Außenstehender handelt, die zwar Russisch sprechen, aber selber nicht zur ›Gemeinschaft‹ der Russen gehören. Im resultierenden Vergleich mit Europa scheint sich die Stärke Russlands in einem kulturellen Archaismus zu zeigen, der Russland prädestiniert, zum ersten anarchistischen Land der Welt zu werden und dem ›entfremdeten Europa‹ als Vorbild zu dienen: Die Engländer merken an, dass sich die Kinder in Russland vergnügen, »wie das im früheren, glücklichen England wohl gewesen war« (ebd.: 38) und weisen auch anderweitig auf historische Parallelen, aber unterschiedliche Entwicklungsstufen der beiden Länder hin.28 Die utopische Gemeinschaft beruft sich zudem in mehrfacher Hinsicht auf englische Denker: An den Wänden hängen Portraits von Robert Owen und anderen Engländern (ebd.: 13, 35). Diese Referenzen weisen darauf hin, dass die sozialutopisch-anarchistischen

26 Die artel’ war eine in Russland vom 17. bis ins 19. Jahrhundert verbreitete freiwillige Zusammenschließung mehrere Personen zur gemeinsamen wirtschaftlichen Tätigkeit. 27 Kropotkin z.B. sah in der obščina und der artel’ eine vergangene, vom Kapitalismus und Staat noch verschonte Welt (Avrich 1967: 32), die Slavophilen betrachteten die artel’ als weitere Institution, die einen ›ur-russischen‹ Kollektivismus verkörpert (Hildermeier 2013: 1192). Auch Čajanov interessierte sich für die artel’, wenn auch weniger als für die Bauerngenossenschaft (Hahn 1994: 202-205). 28 Eine weitere kulturelle Parallele zwischen Russland und Europa zeigt sich in der Musik: die Engländer merken an, dass die altrussischen Chorlieder »trotz einer starken russischen Färbung einen allgemeineuropäischen Charakter tragen« (Karelin 1921: 37). Eine gewisse Rückständigkeit Russlands wird auch darin gezeigt, dass die Engländer in technischer Hinsicht weiterentwickelt sind, z.B. beim Maschinenbau (ebd.: 10).

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Ideen selbst zwar nicht russischen Ursprungs sind, sondern auf eine internationale Denktradition zurückgehen. Russland findet jedoch als erstes Land einen Weg, diese Theorien zu verwirklichen, dank seiner im Dorf verwurzelten spezifischen Modelle gemeinschaftlichen Zusammenlebens.

C IOLKOVSKIJ

UND DIE

G ARTENSTADT

IM

W ELTALL

Ebenezer Howard thematisiert zwar die Möglichkeit, bestehende Städte (namentlich London) in Gartenstädte umzubauen. Viel einfacher sei es aber, die Gartenstadt auf »virgin soil« zu erbauen, in einer von städtischer Kultur noch unbeschriebenen Umgebung (Howard 1902: 148f.), womit sich seine ideale Gartenstadt in die Tradition der sozialutopischen Stadtprojekte des 19. Jahrhunderts einreiht (Will 2012: 31, 34). Čajanovs und Kirillovs Gartenstadt-Visionen entscheiden sich für erstere, schwierigere Variante: Sie renovieren Moskau, bauen aber keine grundlegend neue Stadt. Auch in Karelins Utopie entstehen keine neuen Siedlungen. AUßERHALB DER ERDE hingegen knüpft hier an das kolonialistische Moment an, das der Howardschen Gartenstadt innewohnt. Ciolkovskijs neue Siedlungen entstehen am von städtischer Kultur denkbar unberührtesten Ort – im Weltall. Ciolkovskijs Erzählung spielt im Jahr 2017. Die Menschheit ist in der Zwischenzeit friedlich auf dem Weg des Fortschritts vorangekommen, die Weltbevölkerung hat sich in den letzten hundert Jahren verdreifacht und das dringendste Problem stellt die Versorgung dieser gestiegenen Anzahl Menschen dar (Ciolkovskij 1977: 100f.). Die Lösung dafür liegt in der Besiedlung des Weltalls. In seinen detaillierten Schilderungen dieses Unterfangens widmet der Erzähler auffallend viel Aufmerksamkeit der Beschreibung der Nahrungsproduktion. Er erzählt in minutiösen Details, wie die ersten Weltraumpioniere eine »Orangerie« außerhalb der Rakete bauen, beschreibt die biologischen Bedingungen zum Pflanzenanbau und erdenkt ein System, wie die menschlichen Stoffwechselprodukte in das Gewächshaus, der von den Pflanzen synthetisierte Sauerstoff wiederum zurück in die Rakete gelangen können (ebd.: 91-99). Auf der Basis dieser Pionierarbeit entstehen schließlich die eigentlichen Kolonien: riesige Bauten, die der künftigen Weltbevölkerung gleichzeitig als Wohn- und Arbeitsgenossenschaften und als Gewächshäuser dienen. Die Wände der gläsernen Bauten sind inwendig mit Pflanzen bewachsen, was nicht nur als ästhetische Bereicherung wahrgenommen wird (ebd.: 123), sondern wodurch die Bewohnerinnen in erster Linie mit Nahrung und Sauerstoff versorgt werden können. Das Interesse der Erzählung für die Versorgungssicherheit geht über Ciolkovskijs pädagogisches Ziel der Popularisierung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse hinaus: Hier wird eine Form des künftigen Zusammenlebens vorgeschlagen, die in derselben

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sozialutopischen Tradition steht, die auch Howards Gartenstadtkonzept beeinflusst hat.29 Wie der Erzähler beschreibt, haben die Weltraumkolonisten in der völlig menschenfernen Einöde eine gemeinschaftliche Daseinsform gefunden, die zu sozialer Gerechtigkeit führt, in der alles demokratisch entschieden wird und durch völlige Gleichheit zwischen den Angehörigen der Gemeinschaft Übel, Elend und Verbrechen fernbleiben (ebd.: 156f.). Sowohl in der Sprache wie auch im Inhalt verweist die Schilderung der Weltraumkolonie auf die Sozialutopien des 19. Jahrhunderts. Für Ciolkovskijs Utopie ist eine Auflösung des binären Verhältnisses zwischen Zentrum und Peripherie in zweifacher Hinsicht von Bedeutung. Erstens sind in den Kolonien Wohn- und Arbeitsplatz vereint mit dem Ort der Nahrungsproduktion; dadurch ist Landwirtschaft bei Ciolkovskij nicht mehr Sache der ländlichen Peripherie, also des Dorfes und der Bauern. Vielmehr kommen trotz der seitenlangen Beschreibungen von Pflanzenanbau, inklusive Details wie Sonneneinstrahlung und Nährstoffversorgung, in der ganzen Erzählung überhaupt keine Bauern vor. Dies ist beim starken Interesse der damaligen russischen Literatur an der Figur des Bauern und bei dessen sozialgeschichtlicher Verbindung mit dem Thema der Nahrungsproduktion erstaunlich. Doch spielen auch Arbeiterinnen keine herausragende Rolle in Ciolkovskijs Sozialutopie. Vielmehr scheint die Auflösung der althergebrachten ländlichen und städtischen Siedlungsstrukturen zu einer gänzlichen Auflösung der Klassen zu führen. Und zweitens spiegelt sich das Streben nach Dezentralisierung im Verlangen der Weltraumkolonien, sich in naher Zukunft von der Erde zu emanzipieren und irgendwann durch Subsistenzwirtschaft gänzlich unabhängig zu sein. Gemessen in irdischen Maßstäben suggeriert Ciolkovskijs Sozialutopie die vollkommene Dezentralisierung der Siedlungs- und respektive der Gesellschaftsstruktur als Lösung der Probleme der Gegenwart – von Versorgungskrisen über die Bauernfrage bis hin zur Auflösung der Klassengesellschaft.

D ER K RISTALLPALAST ALS RURAL - KOLONIALISTISCHES I DEAL ? Ciolkovskijs Weltraumkolonien lassen sich als wiederkehrendes Element frühsozialistischer Ideen erkennen: Sie sind der ins Weltall projizierte Kristallpalast. Das zentrale Gebäude der ersten Weltausstellung 1851 in London knüpfte seinerseits bereits an raumplanerische sozialutopische Projekte an und findet sich fortan als Symbol einer lichten, glücklichen Zukunft in sozialistisch motivierten Utopien unterschiedlicher Art wieder – auch in Howards Gartenstadt. Dort steht der »Crystal

29 Ein direkter Einfluss Howards auf Ciolkovskij – wie auch auf Karelin – scheint aber eher unwahrscheinlich.

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Palace« im Zentralpark und dient gleichzeitig als Kaufhaus, Ausstellungsgebäude, öffentlicher Park und großer Wintergarten (Howard 1902: 23). Er erfüllt daher die Rolle eines sozialen Treffpunkts, bietet Platz für kulturelle Angebote und bringt durch den Wintergarten auch Grün in die kalten Jahreszeiten.30 Der Prototext, auf den sich alle russischen Kristallpalast-Utopien beziehen, ist Nikolaj Černyševskijs Roman ČTO DELAT’? (dt.: WAS TUN?, 1863). Ein Exkurs zu diesem Roman ist hier nötig, um zwei weniger offensichtliche Aspekte des Kristallpalast-Symbols zu beleuchten, die einen neuen Blickwinkel auf Ciolkovskijs Weltraumkolonien eröffnen: sein dezidiert rurales Setting und sein kolonialistisches Moment. In WAS TUN? sieht die Protagonistin Vera im Traum ein künftiges Russland, in dem Gleichheit zwischen allen Menschen herrscht. Als Sinnbild dieser idealen Gemeinschaft erblickt sie ein riesiges Gebäude, das es in ihrer Zeit noch nicht gäbe, doch »es gibt schon einen Hinweis darauf, den Palast auf dem Hügel von Sydenham: Eisen und Glas – weiter nichts« (Tschernyschewski 1980: 450). Das Gebäude befindet sich nicht in einer Stadt, sondern in einer ländlichen Umgebung, »inmitten von Feld und Wiese, Garten und Wald« (ebd.). Auf diesen Feldern wachsen nicht nur »unsere bekannten Getreidearten, aber viel dichter und ertragreicher« (ebd.), sondern selbst exotische Früchte, die vor dem winterlichen Frost durch spezielle Vorrichtungen geschützt werden (ebd.). Vera sieht Männer und Frauen, die auf dem Feld arbeiten, doch wird ein großer Teil der Landwirtschaft maschinell verrichtet (ebd.: 451f.) und die Arbeit ist nicht mehr mühselig, sondern bringt den Menschen Erfüllung (ebd.: 457f.). Nach einem Zeitsprung in den Herbst gelangt Vera nach Süden, wo die meisten Bewohner der Utopie die kalte Jahreszeit verbringen. Sie hält die Gegend zunächst für die südlichen Regionen des russischen Imperiums – die Regionen Cherson und Odessa. Die geheimnisvolle Frauenfigur, die Vera durch ihre Träume führt, korrigiert sie: dies sei »Neu-Russland«. Hier dehne sich Russland aus, indem es die Wüste fruchtbar macht und immer mehr Land erschließt; mit jedem Jahr schieben die »Russen die Grenze des bebauten Landes weiter nach Süden vor« (ebd.: 454). Bei der beschriebenen Gegend handelt es sich um die südlichen Staaten der USA, wie Aleksandr Ėtkind herleitete (Ėtkind 2001: 55-57); es sind aber Russinnen, nicht Amerikaner, die die Gegend erschließen, wie sie früher Odessa oder Cherson erschlossen haben. Und inmitten dieser idyllischen südlichen Gegend stehen, so Veras Traumführerin, »gleich den Figuren auf einem Schachbrett solche riesigen Gebäude […], wie ich dir im Norden eins gezeigt habe« (Tschernyschewski 1980: 454f.) – unzählige Kristallpaläste. Černyševskij lässt hier den amerikanischen Bürgerkrieg, auf dem seine Projekte zur »Befreiung Russlands« beruhten, durch die Eroberung der sklavenhaltenden

30 Auf eine Nutzung des Wintergartens als Gewächshaus wird nicht hingewiesen, doch wäre eine solche natürlich denkbar.

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Südstaaten durch »freie russische Menschen« enden (Ėtkind 2001: 57). Die russische Sozialutopie kolonisiert den ›neuen Kontinent‹.31 Die neugewonnene Region ist explizit nicht Teil einer internationalen sozialutopischen Bewegung, sondern es ist »ein eigenes Gebiet im Süden, wohin die große Mehrzahl deiner [Veras, E.F.] Landsleute zieht« (ebd.: 454) – eine explizit »russische« Utopie. Als sie dies alles betrachtet hat, fragt Vera, ob es denn in Zukunft auch Städte gäbe. Tatsächlich ist deren Zahl gesunken und die übriggebliebenen Städte dienen hauptsächlich als Drehscheibe für den Warenverkehr. Sie sind zwar »viel größer und schöner als die einstigen«, aber man besucht sie nur zum Vergnügen oder um Geschäfte zu besorgen, höchstens für einige Tage (ebd.: 455). Fast niemand lebt mehr dort, da die meisten Menschen das Leben, das Vera hier gezeigt wird, »behaglicher und angenehmer« finden (ebd.). Dem ruralen Raum kommt daher größere Bedeutung zu als den Städten. Einerseits birgt das pastoral-idyllische ländliche Dasein die besseren Lebens- und Arbeitsbedingungen. Vor allem aber ist es ist die Peripherie, nicht die Stadt, die sich ausweitet: Sie erschließt neue Gegenden und vergrößert ihr Einzugsgebiet nicht nur auf dem alten Kontinent – wie dies in Veras Zeit mit den südlichen Gegenden am Schwarzen Meer der Fall war –, sondern breitet sich bis nach Übersee aus. Diese Ausbreitung der Peripherie versinnbildlicht der Kristallpalast, verteilt auf dem kolonialisierten Gebiet wie Schachbrettfiguren, die an die Anwesenheit der utopischen Kolonistinnen erinnern. Die Parallelen zwischen Ciolkovskijs Weltraumkolonien und Černyševskijs Kristallpalast zeigen sich in ihrer äußeren Erscheinung – beide bestehen aus Glas und Metall – wie auch in der Beschreibung der Lebensformen und deren klarer Bezug zur sozialutopischen Tradition. In Ciolkovskijs Kolonien leben die Bewohnerinnen in einer demokratischen Gemeinschaft, in der jede Gruppe – Frauen, Männer, Kinder, Alte – ihre eigenen Vertreterinnen hat (Ciolkovskij 1977: 156f.). Es herrscht Gleichberechtigung zwischen allen Mitgliedern, weswegen es auch keinen Grund für Streit gibt (ebd.: 157). Die Arbeit in der Kolonie wird entsprechend den Fähigkeiten, den Wünschen und der Kraft der einzelnen Mitglieder zugeteilt (ebd.: 158), wie auch bei Černyševskij (Tschernyschewski 1980: 451f.). Die spannendste Parallele liegt jedoch im kolonialistischen Moment beider Utopien. Černyševskijs Russland erschließt neue Gegenden auf einem neuen Kontinent – der zwar zuvor nicht unbewohnt war,

31 Ėtkind verknüpft die Idee »Neu-Russlands« mit der Beobachtung, dass sozialistische und kommunistische Projekte europäischer Utopisten in Amerika häufig zum ersten – und gleichzeitig meist zum letzten – Mal realisiert wurden. Er zählt als Beispiele die utopischen Kommunen, die sich den Ideen Robert Owens (der gleich seine eigene Kommune gründete), Charles Fouriers, Étienne Cabets oder Wilhelm Weitlings verschrieben hatten und die zwischen 1825 und den 1850er Jahren in Amerika gegründet wurden, und wieder zerfielen (Ėtkind 2001: 58f.).

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aber größtenteils unfruchtbar –, indem es sie in nutzbares Ackerland verwandelt und Kristallpaläste errichtet. Dasselbe geschieht in Ciolkovskijs Utopie mit dem Weltall, das durch die kristallpalastartigen Weltraumkolonien besiedelt und für landwirtschaftliche Nutzung erschlossen wird. Selbst wenn in Ciolkovskijs Erzählung kein direkter Bezug zu russisch-imperialistischen Bestrebungen fassbar ist, so gibt es doch mehrere Hinweise darauf, dass sich die Weltraumutopie als ein eigentlich »russisches« Projekt verstehen lässt. Denn die Russen sind die treibende Kraft der Weltraumkolonisierung: Innerhalb der Erzählung ist es der Russe Ivanov, der alle zündenden Ideen hat und die nötige Durchsetzungskraft besitzt, um die internationalen Wissenschaftler von seinem Vorhaben zu begeistern. Darüber hinaus wird in der Erzählung darauf hingewiesen, dass sich »bereits 1903 [...] ein russischer Denker« mit der Idee der Weltraumbesiedlung befasst habe (Ciolkovskij 1977: 101): eine offensichtliche Referenz des Autors auf seine eigene Person, die er hier in die Diegese miteinbezieht. Vor allem aber rekurrieren die Weltraumkolonien für ein russisches Lesepublikum unmittelbar auf Černyševskijs Kristallpalast, durch ihre Ähnlichkeit in Aussehen, Material, Funktion und Symbolik. Dadurch überträgt sich die kolonial-imperiale russische Komponente, die in Černyševskijs Prototext dem Kristallpalast innewohnt, auch auf Ciolkovskijs Weltraumkolonien.32

32 Dass in späterer Lesart diese Aspekte stärker hervorgehoben wurden und in den 1930ern ein »nationalistischer Nexus« zwischen den Heldentaten der sowjetischer Luft- und später Raumfahrt und der ideologischen Konkurrenz mit dem Westen entstand (Andrews 2009b: 77) ist zwar nicht direkt auf Ciolkovskijs Schreiben zurückzuführen. Dennoch deutet diese spätere Interpretation auf bestimmte potentielle Anknüpfungspunkte hin, die bei Ciolkovskij gefunden werden können.

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K IRILLOVS PROLETARISCHER K RISTALLPALAST UND Č AJANOVS » RUSSIFIZIERTER « T URM ZU B ABEL Die Betrachtung der Kristallpalast-Thematik bei Kirillov und Čajanov schließt nun den Kreis. In Kirillovs Utopie ist der Bezug zum Kristallpalast offensichtlich. Neben dem Kreml, wo sich früher der Stadtteil Kitaj-gorod befand, steht jetzt ein riesiges Gebäude, das »Pantheon der Revolution«: »Weder Säulen, noch Statuen, noch marmorne Umkleidung. Glas, Granit und Stahl. Das, wovon in unseren Tagen nicht wenige träumten, war hier in Perfektion verwirklicht« (Kirillov 1992: 615). Dieses Bauwerk ist auch hier Sinnbild dessen, dass die utopischen Ziele erreicht wurden – es steht nicht nur da, sondern es »sang und schrie vom Sieg des Proletariats« (ebd.). Bemerkenswert ist hier weniger das Vorhandensein eines Kristallpalasts als die Tatsache, dass Kirillov auch hier auf Čajanov antwortet. Denn in dessen Utopie findet sich zwar kein Kristallpalast, aber es findet sich dessen umgekehrte Realisierung: der Turm zu Babel. Dostoevskij kritisierte Černyševskijs deterministische Sozialutopie als unmögliches Unterfangen: Der Mensch sei kein rationales Wesen und sein Streben nach der auf Aufklärung und Wissenschaftsglaube basierenden Utopie sei zum Scheitern verurteilt. Anstelle des Kristallpalasts werde der Mensch deswegen immer nur den Turm zu Babel erbauen.33 Seither steht der Turm zu Babel in der russischen Literatur für die Umkehrung des Kristallpalasts und für die Warnung vor menschlicher Hybris. Bei Čajanov finden wir zwar kein konkretes Gebäude, das den Turm zu Babel darstellt. Doch bezeichnet Kremnëv gleich zu Beginn seiner Zukunftsreise Moskau als »stark russifiziertes Babylon« (Tschajanow 1981: 26). Und als er sich im Zimmer umsieht, erblickt er ein Gemälde, das er zunächst für den »Turmbau zu Babel« von Pieter Breughel dem Älteren hält, das sich aber bei näherem Hinsehen als ein zeitgenössisches Kunstwerk entpuppt, das etwas Ähnliches wie den Abflug eines Luftschiffes abbildet (ebd.: 27; Michalenko 2016: 429). Dadurch erklingt in der Erzählung eine mögliche Kritik an der utopischen Gesellschaft der Zukunft: Ist dies nicht ein neues Babylon, in dem sich der Mensch über seine Natur erhebt – und daher

33 Dostoevskijs ZAPISKI IZ PODPOL’JA (dt.: AUFZEICHNUNGEN AUS DEM KELLERLOCH, 1864) führt in direkter Reaktion auf Černyševskij die Zerstörung des Kristallpalasts durch die menschliche Irrationalität an (Dostojewskij 1984: 27); in BRAT’JA KARAMAZOVY (dt.: DIE BRÜDER KARAMAZOV, 1880) stellt Dostoevskij dem Kristallpalast den Turm zu Babel entgegen (Dostojewskij 2013: 407). Vgl. zur Kristallpalast-Babel-Debatte zwischen Dostoevskij und Černyševskij Barstow (1978).

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irgendwann von Gott zu Fall gebracht werden wird?34 Diesem »russifizierten Babylon« stellt Kirillov das »Pantheon der Revolution« gegenüber, das den Sieg des Proletariats verkündet. Doch suchen wir auch hier, in diesem proletarisch-urbanen Setting, nicht vergeblich nach der »ländlichen« Komponente des Kristallpalasts: Es ist die höchste Plattform des Pantheons, von wo aus der Erzähler erst die ganze Stadt erblicken und dadurch deren frühlingshafte Grüne, die Parks, Teiche und die bestellten Äcker erfassen kann.

D IE G ARTENSTADT

ALS

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Das Interesse der vier Werke an Siedlungsformen, die keine binäre Opposition zwischen Stadt und Land mehr kennen, konzentriert sich auffallend stark auf das Ländliche, das Dörfliche, das Periphere: Hier liegt der Schlüssel zur Entwicklung der Gesellschaft im Sinne der sozialistischen Idee. Dabei beziehen sich die vier Utopien auf die Gartenstadt Ebenezer Howards bzw. auf die sozialutopischen Ideen, in deren Tradition diese steht. Doch werden diese Ideen westlichen Ursprungs einer »Russifizierung« unterzogen, indem sie mit Gemeinschaftsmodellen vereinbart werden, die dem traditionellen russischen Dorf entspringen. Hier besteht eine historische Parallele: Die Idee, dass die Slaven aufgrund der ›ur-slavischen‹ Institutionen der obščina/des mir bereits eine protosozialistische Lebensform besäßen, stammt ursprünglich ebenfalls nicht aus Russland, sondern vom Preußen August von Haxthausen (Malia 1961: 310). In Čajanovs und Karelins Utopien zeigt sich dieses Verhältnis zwischen Europa und Russland besonders deutlich. Hier nimmt Russland eine Vorreiterrolle ein und kann sozialistische oder anarchistische Ideale – die an sich nicht ›russischen Ursprungs‹ sind – früher realisieren als Europa. Dies aufgrund der spezifischen Institutionen, die im russischen Dorf bereits vorhanden sind: der bäuerlichen Familienwirtschaft bei Čajanov und der sozialen Institutionen des mir und der artel’ bei Karelin. Diesbezüglich kommen auch den bäuerlichen Wirtschaftsformen bzw. der Nähe des Bauern zur Natur eine besondere Bedeutung zu: Die Umstrukturierung der Gesellschaft nach sozialistischen oder anarchistischen Prinzipien bringt die Lösung eines ihrer ehemals größten Probleme – die Versorgungssicherheit – gleich mit, indem sich die Gesellschaft auf das Dörfliche verlegt und damit die landwirtschaftliche Versorgung gesichert wird.

34 Dafür steht u.a. auch sinnbildlich die Hymne der Bauern-Sowjetunion, Skrjabins Prometheus; vgl. die ausführliche Analyse Natal’ja Michalenkos zur Babel-Symbolik in der REISE (Michalenko 2016).

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Eine spezielle Rolle nimmt hinsichtlich der Stadt-Land-Thematik der Kristallpalast ein – auch er ein Element der Howardschen Gartenstadt. Selbst Kirillovs proletarische Utopie, die die Stadt ins Zentrum stellt, kommt nicht darum herum, das Dorf miteinzubeziehen: Kirillov stellt Čajanovs »russifiziertem Babylon« einen auf den ersten Blick proletarisch-urbanen Kristallpalast entgegen, doch eröffnet gerade dieser den Blick auf eine utopische Zukunft, in der das Ländliche in die Stadt vordringt. Bei Ciolkovskij bringt die Kristallpalast-Symbolik eine weitere Bedeutungsdimension mit sich. In seinen Weltraumsiedlungen entsteht ein neues Modell von Gemeinschaft, in dem jenseits von Zentrum/Peripherie und Stadt/Land gemeinsam gelebt, gearbeitet und Nahrung produziert wird. Durch die Verbindung entlang der KristallpalastAchse erhalten diese Siedlungen Züge einer rural-russischen Kolonie, da sich die Kolonisierung der amerikanischen Südstaaten durch die russische ländliche Peripherie bei Černyševskij auf das Weltall bei Ciolkovskij überträgt. Das Ländliche tritt insgesamt in verschiedenen Rollen auf: als Ort der protosozialistischen gerechten Gemeinschaft, der souverän-anarchistischen Selbstorganisation, der umfassenden subsistenzwirtschaftlichen Versorgung, ja sogar als sich ausbreitender, kolonisierender Raum – und nicht zuletzt als Sitz des »wahrhaft Russischen«, auch, oder gerade, durch die Brille westlicher sozialutopischer Ideen.

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Das Ende der Städte Szenarien eines neuen Landlebens nach der atomaren Apokalypse in Science-Fiction-Romanen des Kalten Krieges. Komparatistische Perspektiven A NNE D. P EITER

I. Die Drohgeste, die im Kalte Krieg die militärische Doktrin der beiden »Supermächte« bestimmte, war durch räumliche Omnipräsenz gekennzeichnet.1 Zwar mochten im Zentrum der Planungen für eventuelle Bombardements die Ballungszentren mit besonders großer Bevölkerungsdichte stehen, doch potentiell sah sich die Zivilbevölkerung der beiden Blöcke einer Situation gegenüber, die der Philosoph und Atomenergiegegner Günther Anders (1972) als neue Form von »Nachbarschaft« beschrieben hat: Da durch den fall-out »eigentlich« betroffene Gebiete von nicht betroffenen Gebieten nicht länger klar zu trennen sein würden, mussten Drohungen gegen den Gegner immer schon als Prognose einer Katastrophe erscheinen, die einen selbst – den Drohenden – mit betreffen konnte. Ein »Weltegoismus« sei, so Anders, aus dieser Konstellation abzuleiten: Wenn man als Schadenverursacher immer auch schon sich selbst zu schaden drohte, verschwanden gleichsam auch die Rollen von Angreifer und Angegriffenen und mussten sich alle, vereint durch das Interesse, als Menschheit zu überleben, für eine Abrüstungslogik einsetzen. Aus dieser Analyse folgt, dass auch Stadt und Land nicht mehr strikt voneinander geschieden werden konnten. Denkbar war, dass bei einem atomaren Schlagabtausch nicht nur die Räume betroffen sein würden, in denen unmittelbar – im Wortsinn: auf

1

Vgl. zum allgemeinen Kontext: John Lewis Gaddis’ DER KALTE KRIEG. EINE NEUE GESCHICHTE (2007).

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einen Schlag – sehr viele Menschen auf einmal getötet werden konnten. Vielmehr konnte die Militärstrategie auch eine ›indirekte‹ Form der Tötung wählen, nämlich durch die Verseuchung der Anbaugebiete, auf der die Lebensmittelversorgung beruhte. Damit aber wäre der ländliche Raum in den Krieg voll einbezogen gewesen. In den gesellschaftlichen Debatten zum Zivilschutz, wie sie in der Bundesrepublik und in den USA nach Hiroshima und Nagasaki entbrannten, pflegte dieser letztere Aspekt jedoch regelmäßig in den Hintergrund zu treten. Die Vergangenheit, die als »allerjüngste« noch in aller Erinnerung war und nicht zuletzt in Deutschland wesentlich mit dem Luftkrieg in Verbindung gebracht wurde (vgl. Sebald 2002), ließ zwar alle Spielarten von Gefahr vorstellbar werden, die den Städten drohten, sehr viel weniger jedoch die Aussicht, dass in Zukunft auch das Land keinen Zufluchtsort mehr darstellen könnte und die Nahrung, die von dort kam, nicht mehr genießbar sein würde (vgl. dazu Peiter 2017a). Bestimmend für die Wahrnehmung der Gefahr eines »Dritten Weltkriegs« war in der BRD die Überzeugung, man werde im Kriegsfall dem Beispiel der 1940er Jahre folgen und zu massiven Evakuierungsmaßnahmen in Richtung Dörfer schreiten. Auch in den USA existierten solche Vorstellungen, und zwar ausgehend von den Erfahrungen, die man der englischen Bevölkerung abgeschaut hatte. Wenn im Lehrfilm NEW FAMILY IN TOWN (1956), der der Verbreitung von Zivilschutzmaßnahmen diente, ausgerechnet ein Engländer mit dem Bau eines Privatbunkers im eigenen Gärtchen beginnt und so zum Vorbild für seine unerfahrenen, amerikanischen Nachbarn avanciert, wird erkennbar, dass die Folie, vor der ein möglicher Atomkrieg gedeutet wurde, auch hier der Zweite Weltkrieg war.2 Zugleich deutet sich durch besagten Film jedoch auch die Kritik an, die an den Evakuierungsplänen und der Formel »Landleben = Sicherheit« geübt wurde. Evakuierungspläne, das war nur eine von zwei Möglichkeiten. Die zweite Option bezog sich auf ein Verbleiben der Zivilbevölkerung in den Städten selbst. Bunkerbauprogramme wurden diskutiert und damit das Argument für plausibel erklärt, dass es im Falle eines Angriffs gar nicht genug Zeit geben würde, um Menschen massenhaft von den Städten aufs Land zu transportieren. Staus würden entstehen, argumentierte zum Beispiel der Film THE DAY AFTER (1983) von Nicholas Meyer. In langen Sequenzen dieser Produktion werden Autoschlangen gezeigt, die mitsamt ihren zur Bewegungslosigkeit verurteilten Insassen unter dem neuen, strahlenden »Blitz« in surrealen Farben verglühen. Bunker sind, da eine Weiterentwicklung der vor allen Dingen auf die Privatkeller beschränkten Zufluchtsorte des Zweiten Weltkriegs

2

Einschlägig gleichfalls: die Lehrfilme HOW TO BUILD A FALLOUT SHELTER AT HOME (1960), produziert von der Raid H. Ray Industries Production, und FALLOUT. WHEN, AND HOW TO PROTECT YOU

(1960), produziert von der Creative arts studios Inc., unter Be-

teiligung des Office of civil and defense mobilization.

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darstellend, zu einer wesentlichen Ingredienz nicht nur der politischen Debatten, sondern auch der science-fiktionalen Atomkriegsphantasien geworden. Es ist dieses Textgenre, das im Folgenden im Zentrum stehen soll.

II. Ich gehe aus von einer Beobachtung, die in einem ersten Schritt von der Frage nach den ruralen Räumen wegzuführen scheint: Wenn man ein großes, repräsentatives Korpus von internationalen Mainstream-Texten einer genauen Analyse unterzieht, zeichnet sich ab, dass Bunker gemeinhin als gangbare Lösung dargestellt werden und die Hoffnung auf ein Überleben der Menschheit an diesen neuen Unterwelten festgemacht zu werden pflegt. Eine neue Idee von städtischer Häuslichkeit entstand zumindest in den Schichten, die wenigstens ein kleines Grundstück ihr Eigen nennen konnten, auf dem ein Bau, der ein »Untertauchen« unter der Erde möglich machen würde, errichtet werden konnte. Dass die Bewohner von Hochhäusern sich hingegen nur würden retten lassen, wenn staatlich finanzierte Gemeinschaftsbunker gebaut werden würden, stellte einen heiklen Punkt dar, standen solche Bunker doch gerade in den USA im Kontrast zur Idee der »Privatinitiative«, die selbst in Kriegsbelangen von jedem Einzelnen zu erwarten sei (vgl. Rose 2002).3 Außerdem pflegte der Einwand angeführt zu werden, dass Gemeinschaftsbunker durch ihre Promiskuität traditionelle Familienbilder stören, zu sexueller Freizügigkeit verleiten oder, schlimmer noch, zu einer Brutstätte kommunistischer Umtriebe verkommen könnten. Zu bevorzugen sei der Zusammenhalt der Kleinfamilie, die sich für einen Zeitraum von zwei Wochen in ihrem Privatbunker mit genügend Nahrung, Wasser, Taschenlampen und batteriebetriebenen Radios ausstatten solle. Es sind Empfehlungen wie diese, die erklären, dass dem Landleben in solchen Debatten zunächst einmal kein zentraler Stellenwert beigemessen wurde. Dennoch spielen auch »periphere« ländliche Räume ohne hohe Konzentration von Menschen in science-fiktionalen Imaginationen zu den Folgen der »absoluten Waffe«4 eine gewisse Rolle. Dabei ist die Beschreibung von Landleben, wenn es in literarischen Bunkerphantasien auftaucht, zunächst einmal keine Selbstverständlichkeit, denn für das Verkriechen in der Erde ist – egal, wo sie erfolgt – eine dramatische

3

Bei ONE NATION UNTERGROUND handelt sich um ein wirklich kenntnis- und materialreiches Buch, ohne das die Debatten zum Zivilschutz in der US-amerikanischen Gesellschaft schwerlich zu verstehen wären.

4

Die Formulierung stammt von: Bernard Brodie: THE ABSOLUTE WEAPON. ATOMIC POWER AND WORLD ORDER

(1946).

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Beschränkung von Wahrnehmungsmöglichkeiten charakteristisch. Zur einzigen, scheinbar verlässlichen Verbindung zur Außenwelt avanciert regelmäßig der Rundfunkapparat, der denn in der Tat in kaum einer Atomkriegsphantasie fehlt. Er ist als wirklicher, literarischer Topos zu bezeichnen (vgl. Peiter 2020). Die Möglichkeit, mit allen Sinnen zu erfahren, was draußen, in den Dörfern, Wäldern und Feldern, also über die Städte hinaus, geschieht, bleibt gebunden an die Bedingung, dass der Aufenthalt im Erdinneren nicht eine Vorform von kollektiven Beerdigungen ist, sondern ein Wiederaufstieg ans Tageslicht irgendwann durch die verantwortlichen Zivilschutzbehörden autorisiert werden wird. Solange die Figuren jedoch in den Bunkern verharren, sind sie Wesen ohne Augen, beschränkt auf das einzige, vielleicht doch noch nützliche und im Wortsinn ›sinn-volle‹ Sinnesorgan, nämlich auf das Ohr, das dem Radio lauscht. Doch in kritischen, dem Mainstream entgegenarbeitenden Texten ist selbst auf dessen ›Aus-Strahlung‹ kein Verlass mehr: Wenn verschwiegen werden soll, was auf dem Land wie in den Städten geschehen ist, dann wird schlicht Musik gesendet – als kollektive Beruhigungspille, die die Botschaft in sich enthält, Panik sei ganz und gar unnötig.5 Eine Gegenposition zum beschwichtigenden Gestus bezieht die amerikanische Autorin Helene Clarkson in THE LAST DAY (1959).6 Sie lässt das Radio nur Nichtssagendes berichten und den Kontakt zu den Realitäten draußen vollkommen abbrechen.7 Musik wird zum Gegenteil der Beruhigung. Eine Familie, die sich bei Clarkson nach einem überaus kurzen, Europa mit einbeziehenden Atomkrieg in einer ländlichen Gegend in ihren kellerlosen Privathäusern zusammenfindet, bangt um Familienmitglieder, die sich zum Zeitpunkt des Kriegsausbruchs in anderen Ländern aufhielten. Zu ihnen ist jede Verbindung abgebrochen. Und dieses Detail charakterisiert den Gestus der gesamten Geschichte: Zwischen Land und Stadt wird ebenso wenig unterschieden wie zwischen den Nationen. Alle Menschen der Erde sind potentielle Opfer des Krieges, wenn nicht im Jetzt und Hier, dann zumindest im allernächsten Morgen.

5

Zu den Diskussionen um die psychologischen Aspekte der Kriegsführung siehe z.B. Cooney (1949).

6

Sie schreibt sich durch ihre Behandlung des Themas Musik in eine Tradition des 20. Jahrhunderts ein, in dem, bedingt durch die beiden Weltkriege, das mittelalterlich-frühneuzeitliche Motiv des Totentanzes zu neuen, aktuellen Ehren gelangt. Zum Ersten Weltkrieg vgl. Peiter (2003).

7

Wie so häufig in Atomkriegsphantasien wird auch hier eher vage von unbestimmten Gründen gesprochen, die den Krieg bewirkt hätten. Vgl. zu dem Sonderfall, wo es wirklich ein technisches Versagen ist, das die Katastrophe auslöst: Blair (1993).

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III. Inszeniert wird zugleich die Schwierigkeit, überhaupt etwas vom Krieg zu erfahren, was über die sich überall verbreitende, radioaktive Strahlung hinausgeht. Der Atomkrieg, das ist das, was unsichtbar, ja mehr noch: mit keinem der menschlichen Sinne wahrnehmbar ist. Er wird erst erkennbar durch die Strahlenkrankheit, dann also, wenn es bereits zu spät ist. Insofern steht Clarksons Erzählung für eine Raumkonzeption, die sich mit dem benjaminschen Diktum von der »Erfahrungsarmut« beschreiben ließe, die schon das Erleben der Soldaten des Ersten Weltkriegs gekennzeichnet habe. Eigentlich war auch damals über das Kriegsgeschehen nichts mehr auszusagen gewesen. Während aber im Ersten Weltkrieg der Verlust von Erfahrung durch die Überforderung der Sinne in den Materialschlachten sowie durch das Eingegraben-Sein in den Verschalungen und Erdlöchern der Schützengräben zu erklären war, tritt zur Erfahrungsarmut in den fiktiven Atomkriegen eine neue Dimension hinzu: Städtische wie rurale Räume konnten selbst dann in ihren wesentlichen Aspekten nicht mehr wahrund erfahrbar mehr sein, wenn sie, äußerlich betrachtet, nicht die geringsten Schäden aufwiesen. Der fall-out als wesentlicher, keineswegs »sekundärer« Bestandteil von atomaren Waffen bedeutete ja, dass man die von ihm ausgehenden Gefahren nur unter der Voraussetzung wahrnehmen konnte, dass Apparate zur Verfügung standen, mit deren Hilfe seine (des fall-outs) schiere »Sinn-Losigkeit« (dieses Wort verstanden als fehlende Zugangsmöglichkeit von lebenden Organismen, Radioaktivität sinnlich wahrzunehmen) »übersetzbar« gemacht werden konnte. Noch einmal anders formuliert: Geräte wie der Geigerzähler waren Prothesen, mit denen die neuen, strahlenden »Qualitäten« von Räumen für den Menschen wahrnehmbar gemacht werden sollten. Das bedeutete aber auch, dass der Gang durch Städte oder Dörfer, über Felder oder durch Wälder nur dann gewagt werden konnte, wenn es irgendeine Möglichkeit gab, den jeweiligen Grad ihrer Verseuchung zu überprüfen.

IV. Nach dem Vorgesagten ist also damit zu rechnen, dass literarische Atomkriegsphantasien, die sich für rurale Räume interessieren, mit einem Darstellungsproblem konfrontiert sind. Denn wenn Bomben vor allen Dingen über Städten abgeworfen werden – darin erneut dem einzigen, im engeren Sinne militärischen »Modellfall« folgend, den es in der Geschichte der militärischen Nutzung von Atombomben

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gegeben hat: Hiroshima und Nagasaki8 –, dann zieht die Zerstörung in Form der »Wolke« übers Land9, ohne unbedingt sichtbare Schäden anzurichten. Der Schaden ist ein latenter, durch die Radioaktivität verursachter. Es stellt sich nur die Frage, wie Texte, die vor einem möglichen »Dritten Weltkrieg« warnen wollen, dann überhaupt noch die Gefahr plausibel machen können. Ein früher Text, der sich mit Blick auf das Landleben um die Lösung dieses Problems bemüht, ist der Roman GREENER THAN YOU THINK (1947) von Ward Moore. Er imaginiert eine Geschichte, in der in einem Privatgarten ein neuer Dünger ausprobiert worden ist, der jedoch leider das behandelte Gras zu krebsartigen Wucherungen anstachelt. Peu à peu beginnt sich das Gras über den gesamten Planeten auszubreiten und Städte wie Dörfer in sich hineinzuziehen: ein regelrechter Schlund, der alles auffrisst, was lebt und atmet, kreucht und fleucht. In Bezug auf die Frage, wie man die unsichtbare Gefährdung durch die Verstrahlung ländlicher Gebiete der Leserschaft anschaulich machen könne, hat Moore also für das Auge optiert. Sein Gras entspricht einer Übersetzung des Unsichtbaren in Sichtbares, nämlich in Halme der Farbe Grün. Deren Omnipräsenz und die Unaufhaltsamkeit ihrer Ausbreitung treten in unheimliche Parallele zu dem, was auch für die Radioaktivität charakteristisch ist. Eine weitere Übereinstimmung besteht darin, dass der fall-out zwar eine Waffe ist, es gegen diese Waffe jedoch keine Gegenwaffe gibt. Wenn der fall-out einmal da ist, kann man ihn praktisch nicht bekämpfen. Er ist schlicht anwesend, bildet eine neue, unsichtbare Realität; und die einzige Möglichkeit, ihm zu entkommen, besteht darin, nicht in Kontakt mit ihm zu treten. Wenn aber wie bei Moore die gesamten Erdmassen und schließlich auch, entgegen der anfänglichen Hoffnung der Erdbewohner, die Ozeane vom Gras überzogen sind, dann entstehen Landschaften, in denen der Unterschied zwischen Stadt und Land nicht mehr die geringste Rolle spielt. Dann wirkt das Land schlicht wie eine undurchdringliche Fläche von Halmen, und was

8

Dass, wie Günther Anders, argumentiert hat, auch die Atombombentest »eigentlich« militärische Aktionen sind, soll dabei nicht unbeachtet gelassen werden. Die Tests waren natürlich Teil der Drohgeste, ja vielleicht sogar ihr Kern. Insofern ist es nur konsequent, wenn Anders das Wort »Test« niemals ohne Anführungszeichen benutzt, um darauf hinzuweisen, dass der bloße »Versuch«, das »Ausprobieren« von Atombomben schon Teil der psychologischen Kriegsführung war – und damit dann letztlich doch ein militärischer Akt. Hinzu kommt, dass nicht nur der militärische Einsatz dieser Waffe, sondern auch der »testende« Radioaktivität freisetzt, so dass belanglos wird, um welches Zwecks Willen eine Explosion in Gang gesetzt wird. Die Wirkung – nämlich radioaktive Verseuchung – ist dieselbe.

9

Die Idee der »Wolke« wird von Gudrun Pausewang (1983) in ihrem gleichnamigen Jugendroman für ein Nachdenken über das zivile Zerstörungspotential genutzt, das, neben und vergleichbar mit der militärischen, die Menschheit bedrohe.

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darunter gewesen sein mag, ist für niemanden mehr erkennbar. Dasselbe gilt für Wasser und Land. Auch hier verschmilzt alles zu einem einzigen, riesigen Kontinent. Spannend an der Grundidee Moores ist, dass ein medienkritischer Ansatz die Geschichte des planetarischen Sterbens begleitet. Es sind ausgerechnet Los Angeles und Hollywood, die zu den ersten Opfern des Grases gehören, das erst dann in die Weite der USA weiterwächst. Es ist, als würde mit der Wahl dieser beiden hochsymbolischen Orte auch das Problem thematisiert, dass die Kulturindustrie (und besonders das Kino) dem Unsichtbaren der Radioaktivität keine überzeugenden Darstellungen mehr abzugewinnen vermögen. Und gilt das nicht auch für die Literatur selbst?

V. Während es bei Moore die Monotonie des Grüns ist, das jede Aussicht verschüttet, die Farbe der Hoffnung möge grün bleiben, versuchen sich andere Romane mit anderen Techniken, um die Leserschaft auf eine atomare »Fahrt ins Grüne« mitzunehmen. Da ist zum Beispiel der 1957 erschienene Bestseller-Roman ON THE BEACH von Nevil Shute, der, anders als Moore, in die Ozeane ein erstaunlich naives Vertrauen setzt. Während Moore mit der Idee, es bestünden seit der künstlichen Herstellung von Radioaktivität keine Grenzen zwischen verschiedenen Räumen mehr, wirklich ernst macht, muss Shutes Text als wesentlich verharmlosend gelten. Zwar gehört er zu den seltenen Ausnahmetexten, die wirklich die gesamte Menschheit sterben lassen – in seinem Fall wird die Geschichte aus der Perspektive der letzten, verbleibenden Menschen im Südosten Australiens erzählt –, doch gleichzeitig steht bei ihm die Besatzung eines U-Bootes im Zentrum, das das Wasser als Strahlenschild wahrnimmt und im Bauche dieses fahrbaren Bunkers einmal quer über den Globus reist, um zu sehen, ob nicht irgendwo doch noch Überlebende zu finden sein könnten.10 Die Perspektive auf das Land entspricht der Perspektive vom Wasser her. Nur ein einziges Mal wagt sich ein Matrose wirklich an Land, und auch das nur kurz. Landwie Stadtleben sind bei Shute gebunden an eine Wahrnehmung, die sich die unheimlichen Details der Strahlenkrankheit bewusst vom Leibe hält. Um sich der Realität anderer, schon den Strahlentod gestorbener Kontinente zu nähern, wird allein das ans U-Boot montierte Periskop ausgefahren, doch dieses wirkt eher wie ein phallisches Symbol, das bedeuten will »Trotz allem: Wir haben alles im Griff!« In Wirklichkeit wird aber durch dieses Rohr praktisch nur erkennbar, dass der Krieg sich der Erkennbarkeit entzieht. So heißt es etwa in Bezug auf die U-Boot-Besatzung, also eine Gruppe von ausschließlich männlichen Militärs:

10 Vgl. dazu einen Aufsatz, den ich zur spezifischen Bedeutung von U-Booten in der Atomkriegsliteratur geschrieben habe: Peiter (2017b).

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»To stimulate their minds and give them something to talk about he [der Kommandant, A.P.] gave free access to the periscope to anyone who cared to use it, though there was little to look at. This rocky and somewhat uninteresting coast was their home country, and the sight of a café with a Buick parked outside it was enough to set them talking and revive starved minds.« (Shute 1957: 157)

Was hier zum Vorschein kommt, ist nicht nur die Langeweile, die den Alltag im Bauch des Schiffes kennzeichnet, sondern auch die Langeweile, das heißt: die fehlende Wahrnehmbarkeit dessen, was sich an den Küsten der USA wie in deren Innerem zugetragen hat. Diese Feststellung wäre an sich noch kein Problem, denn sie entspricht ja in der Tat den epistemologischen Schwierigkeiten, die sich mit der radioaktiven Strahlung verbinden und dann auch für die Erfindung von Geschichten eine gewisse, erzählerische Hürde implizieren (vgl. Peiter 2018a). Was die Feststellung, zu sehen sei, dass sich trotz der Hekatomben eigentlich nichts geändert habe, irritierend macht, ist vielmehr der Umstand, dass der Roman bemüht ist, traditionelle Familienbilder und »männlich-soldatischen Heroismus« zu verteidigen, und dies entgegen der offensichtlichen Tatsache, dass die Besatzung des U-Bootes alles daran setzt, Gefahren zu vermeiden, statt sich in diesen zu bewähren. Wenn Heldisches nur dann glaubhaft gemacht werden kann, solange es Situationen gibt, in denen es sich entfalten kann, sind die männlichen Protagonisten in ON THE BEACH sozusagen verhinderte, amputierte, ja schlimmer noch: kastrierte Helden. Sie sind verhindert, weil sie sich selbst behindern, und in dem Maße, in dem die Sinnlosigkeit ihres Tuns zum Vorschein zu kommen droht, begierig nach Bildern, die Neues, Aufregendes versprechen. Aber zu sehen sind eben nur die gewohnten Häuser und die parkenden Autos, wie es sie auch im Vor-Krieg gegeben hat. Auf ihr altes Rollenverständnis verzichtet jedoch keine Figur, und auch der Autor gewinnt keine Distanz zu ihnen. Aus heutiger Sicht ist das, was Shute seiner Leserschaft präsentiert, von Hiroshima und Nagasaki vollkommen unbeeinflusst. Gestorben wird sanft und unsichtbar, die Räume, um deren Beobachtung sich die Matrosen bemühen, sind wesentlich leer, und die einzigen Toten, auf die man bei einem Landgang dann doch einmal trifft, haben sich in pompeji-hafter Unverletztheit, museal geradezu, erhalten. Auch hier ist Beunruhigung nicht zu erwarten. Auch hier wird das erzählerische Potential, das in der Identität von Alltäglichkeit und Massentod hätte enthalten sein können, zugunsten eines letztlich versöhnlichen Kriegsbildes aufgegeben.11

11 Vgl. im Kontrast dazu das z.T. sehr detaillierte Wissen, dass Ärzte und Militärs in THE EFFECTS OF ATOMIC WEAPONS

(1950) zusammengetragen hatten. Es handelt sich dabei

keineswegs um eine Publikation mit kritischer Stoßrichtung. Vielmehr sollte durch die Untersuchung der Zerstörung und durch die Dokumentation zur Strahlenkrankheit die

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VI. Diese Beobachtung gilt auch für George R. Stewarts Roman EARTH ABIDES, der im gleichen Jahr wie Ward Moores Text erschienen ist, nämlich 1949, vier Jahre nach der Katastrophe, die der zur Ikone gewordene »Pilz« über die beiden japanischen Städten verbreitet hatte. Stewart optiert in gewisser Weise für die gleiche Perspektive auf den Atomkrieg wie Shute. Er stellt die Alltäglichkeit und das Fortwirken von Kontinuitäten zu dem »Davor« in den Vordergrund, entwirft ländliche Räume, die als unbefleckt, unverseucht, unverändert erscheinen. Im Unterschied zu Shute lässt er seinen Protagonisten – einen Mann namens Ish – jedoch nicht nur an den Rändern und Küsten der USA verharren, sondern vielmehr schickt er ihn einmal quer durch das gesamte Land. Der Plot ist der folgende: Ish ist für einen Zeitraum von zwei Wochen allein und in totaler Abgeschiedenheit in die Berge aufgebrochen, entdeckt erst bei seiner Rückkehr, dass während seiner Abwesenheit eine unheimliche Krankheit fast die gesamte Bewohnerschaft der USA (und wahrscheinlich auch der Welt) dahingerafft hat. Anklänge an die Strahlenkrankheit werden erkennbar, auch wenn der Text im Übrigen von einer Art »Virus« spricht, der sich in den Körpern von Menschen und Menschenaffen festgesetzt habe. Das Verwunderliche ist nun, dass dieser Roman, entgegen aller Wahrscheinlichkeit, auf Beschreibungen setzt, in denen Stadt wie Land als quasi menschenleer erscheinen. Es ist nicht recht einzusehen, wie in der Panik, die das rasche Dahinsterben von Millionen von Menschen begleitet haben muss, die Totenbestattung hat bewerkstelligt werden können, und auch die weitgehende Intaktheit von Infrastruktur, Privathäusern, Feldern und allem, was Produkt menschlicher Arbeit ist, wird nur unzureichend motiviert.12 Im Laufe der Geschichte wird jedoch deutlich, worin Stewarts

Planung und »Verbesserung« der neuen, künftigen Bombentypen erleichtert werden. Dennoch ist dieses Buch, wenn es denn gegen den Strich gelesen wird, eine Quelle von unschätzbarem Wert, um das Ausmaß der Katastrophe in Hiroshima und Nagasaki vorstellbar zu halten. In meiner Habilitationsschrift TRÄUME DER GEWALT habe ich einige Fotos aus dieser Publikation einer genauen Analyse unterzogen (vgl. Peiter 2019). 12 Zu den Erklärungsansätzen, warum der Protagonist so erstaunlich wenige Tote finde, gehört die folgende Passage: »In order to avoid intolerable conditions which might lead to a total breakdown of morale, the authorities were enforcing strict regulations for immediate mass burials.« (Stewart 2006: 15) Diese Stelle erinnert stark an Shute, der versichert, es sei in Australien trotz der sich nähernden Radioaktivität praktisch zu keinen Fluchtbewegungen in Richtung der unverseuchten Gebiete gekommen. Beide Autoren legen größten Wert auf die Betonung, man verstehe es, anarchisches Chaos zu vermeiden. Bei Stewart ist zu beobachten, dass er dann gleich auch noch einen zweiten Grund zu erfinden versucht, der

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eigentliches Interesse besteht: Er wünscht, seinen einsamen, männlich-heroischen Überlebenden ein Road-Movie erleben zu lassen, das jenseits aller kapitalistischen Strukturen stattfindet. Da niemand mehr da ist, um Geschäfte und Privateigentum zu schützen, bedient sich Ish, wo immer er will, und durchquert, auf diese Weise mit Nahrung, Benzin, Kleidung und Waffen versorgt, das gesamte Land, um vielleicht doch noch Menschen zu finden, die, wie er selbst, aus irgendeinem Grund gegen die Krankheit immun gewesen sind. Der Roman spannt einen weiten, chronologischen Rahmen, setzt sich das Ziel, den Neubeginn der Menschheitsgeschichte am Beispiel einer kleinen, sich schrittweise zusammenfindenden Gruppe von Überlebenden zu exemplifizieren. Stewart interessiert sich für die Frage, wie die Gründung einer neuen Gesellschaft funktioniere, wie Fragen der Sexualität geregelt würden, um eine Wiederbevölkerung der Leere zu bewerkstelligen, welche Mechanismen greifen würden, um Konflikte zu schlichten, und auf welche Weise Geschlechterrollen verteilt werden würden. Die Antwort fällt ähnlich traditionalistisch aus wie bei Shute. Die Gebärfreudigkeit der Frauen sieht sich stimuliert, die Polygamie wird wegen eines Überschusses von Frauen zu einer neuen, allgemein anerkannten Norm und auch die Führerschaft durch Männer steht außer jeder Frage.13

die Menschen- und Totenleere erklären könnte. Doch merkwürdigerweise steht dieser zweite Grund im Kontrast zur These von den Massenbegräbnissen, weil die Toten jetzt eigentlich noch in den Häusern oder Krankenstationen anzutreffen sein müssten: »Here and there he saw bodies, but in general he found only emptiness. Apparently the onset of the disease had been slow enough so that people were not usually struck down in the streets.« (Ebd.: 21) 13 Zum Hintergrund allgemein vgl. Boyer (1985).

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VII. In Bezug auf Land und Landschaften ist festzustellen, dass alles getan wird, um die Leserschaft vor einer tiefergehenden Beunruhigung zu bewahren. Das PompejiMotiv tritt – darin topisch wie das omnipräsente Radio, von dem schon die Rede war – erneut in Erscheinung, Verwesung und unbestattete Leichen bilden eine seltene Ausnahme, und sogar in Riesenstädten wie New York, das vom Protagonisten mitsamt seinem Anspruch, »on the road« zu sein, nur kurz gestreift wird, überwiegt der Eindruck von Kontinuität und nicht von Chaos. Zwar herrscht auch in dieser symbolisch wichtigen Metropole, wie auf dem Land, absolute Menschenleere14, doch fast gewinnt man als Leser/in den Eindruck, dass sich hier vor allem ein antistädtisches und antimodernistisches Ressentiment Bahn bricht, das auf der Hypothese fußt, mit den Menschen verhalte es sich wie mit Tieren, die beginnen, sich übermäßig fortzupflanzen: Sie erlebten einen demographischen Abstieg und ein Verschwinden ihrer Konzentration an bestimmten, strategischen Orten (im Fall der Menschheit: in den Städten). Es heißt hierzu im Roman ganz explizit: »The catasrophe had been nearly universal, and in overcrowded Manhattan the disease had probably raged even more severely than elsewhere.« (Stewart 2006: 68) Schon zuvor hatte Stewart seine Theorie ausgebreitet, Populationen strebten auf eine gewisse »Klimax« zu, auf die dann notwendig ein plötzlicher Niedergang folge, der aber seinerseits zur Kernzelle neuen, sich langsam wieder verbreitenden Lebens zu werden vermöge: »During most of the nineteenth century the African buffalo was a common creature on the veldt. It was a powerful beast with few natural enemies, and if its census could have been taken by decades, it would have proved to be increasing steadily. Then toward the century’s end it reached its climax, and was suddenly struck by a plague of rinderpest. Afterward the buffalo was almost a curiosity, extinct in many parts of its range. In the last fifty years it has again slowly built up its numbers. As for man, there is little reason to think that he can in the long run escape the fate of other creatures, and if there is a biological law of flux ad reflux, his situation is now a highly perilous one.« (Ebd.: 8, Hervorh. im Original)

Eine »Naturalisierung« der Katastrophe tritt hervor, die auch schon im PompejiMotiv angeklungen war. EARTH ABIDES ist zwar einerseits eine Reflexion über die weltweiten Auswirkungen eines Atomkriegs15, doch indem die Strahlenkrankheit

14 Zur Rolle von Leere und Fülle in Atomkriegsphantasien insgesamt vgl. Peiter (2018b). 15 Für die Aufrechterhaltung der These, es handle sich dennoch um eine Atomkriegs-Phantasie, spricht z.B. der Satz »The disease was assumed to be airborne, possibly upon particles

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vorsichtig in eine doch irgendwie »normale«, »natürliche«, zyklischen Weltbildern folgende Gefahr umgebogen wird, wird eigentlich impliziert, dass man sich um die tatsächlichen Toten, die im Moment des Niedergangs zu beklagen waren, nicht zu viele Gedanken machen solle. Die Zukunft wird schon kommen. Daher auch die langen Passagen, in denen der Protagonist, wie in der Landschaftsmalerei seit dem 18. Jahrhundert üblich, von einer erhöhten Position aus über das Land blickt und sich als einziger Mensch imaginiert.16 »San Lupo Drive was high enough on the slope of the hills to be proud of its view. As he sat there looking out, everything seemed just about the same. Apparently the processes behind the production of electricity must be almost completely automatic. In the hydroelectric plants the low of water was still keeping the generators in motion. Moreover, when things had started to go to pieces, someone must have ordered that the streetlights be left turned on. Now he saw beneath him all the intricate pattern of the lights in the East Bay cities, and beyond that the yellow chains of lights on the Bay Bridge, and still farther through the faint evening mist, the glow of the San Francisco lights and the fainter chains on the Golden Gate Bridge. Even the traffic lights were still working, changing from green to red.« (Ebd.: 24)

Der Aspekt der Ordnung ist auch hier mit Händen zu greifen. Die Städte werden in deutliche Distanz gerückt, nach einem Überblick über sie wird gestrebt, doch nicht nach einem Eindringen. Städte, das sind Lichter, nicht mehr, nichts wirklich Greifbares. Sie müssen erst in der Zukunft wieder werden, was sie einst waren, doch vielleicht in reduzierten Maßen, kleiner, den Dörfern ähnlicher. Was den Protagonisten eigentlich interessiert, ist das, was zwischen den Orten der Konzentration und ihren Lichtern liegt: die Straßen, die durch das Land hindurchführen: »He followed Highway 99 south through the San Joaquin Valley. Although he drove slowly, he made excellent mileage. He did not have to slow down behind a truck, or to stop for traffic lights (though most of them were still functioning), or to reduce speed for towns. In fact, in spite of his apprehensions, he had to admit that driving Highway 99 under these conditions was much safer than driving it through thick and madly speeding traffic.« (Ebd.: 44)

of dust. A curious feature was that the isolation of the individual seemed to be of no avail.« (Ebd.: 14) 16 Vgl. das folgende Zitat: »But as he lay there, he was not greatly perturbed even at the thought that he might be the only person left in the world. Possibly that was because he had not seen many people for some time, so that the shock of the new realization could not come to him as strongly as to one who had seen his fellow creatures dying on all sides.« (Ebd.: 17)

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Wenn es Vorteile des Weltuntergangs gibt, dann sind sie hier zu greifen: Die Ampeln funktionieren weiter, doch auf die Ordnung wäre auch ohne sie Verlass. Endlich sind die Großstädte zu ebenso menschenleeren, befahrbaren, staulosen Räumen geworden wie kleine Dörfer und verstreute Ansiedlungen. Die atomare Katastrophe erweist sich als Auslöser eines Prozesses, den man als »Verdörflichung« der großen Städte verstehen könnte. »This is the desert, the wilderness.« (Ebd.: 49) Das Auto braust durch sie hindurch. Zugleich kehrt die Geschichte der Menschheit zu den ersten Schöpfungstagen zurück. Mit dem Auto zwar, doch mitunter kehrt Stille ein. »There had been many definitions of Man, he would make another: ›The noise-producing animal.‹« (Ebd. 53)17 Aber zum Krach gehört nicht das Auto. Krach ist nur von den Städtern zu erwarten, die in gar zu großer Zahl neben- und übereinander wohnen.

VIII. Dennoch ist, so muss zugegeben werden, eine gewisse Erleichterung spürbar, als der Protagonist dann doch, darin vergleichbar mit Pat Franks 1946 erschienenem Roman MR. ADAM (in dem von dem einzigen verbliebenen Mann eine sexuelle Aktivität im Übermaß gefordert und erst nach Überwindung einer geradezu pathologischen Schüchternheit die Produktion von Kindern zur Realität wird), auf überlebende Frauen stößt, die sodann zum Kern einer neuen Familie – oder gar »Sippschaft« – werden. Aber zuvor folgt die Leserschaft den Schritten und Fahrten einer Art »Wanderer über dem Nebelmeer«, der sich mitunter in einer Art von Alleinherrschaft über das Land gefällt. Dieser eher unterschwellige Machtgedanke gewinnt Kontur in dem Moment, in dem Ish nach einigen enttäuschenden Begegnungen die ersten »echten« Überlebenden trifft. Es sind Überlebende, die sich wie er fern der großen Städte aufhalten, doch im Unterschied zu ihm selbst handelt es sich um Überlebende – Übriggebliebene –, die die »falsche Hautfarbe« aufweisen. Und die Frage nach der »Farbe« ist es auch, die das Problem aufwirft, wie künftig mit Machverhältnissen umzugehen sei: »There were Negroes – a man, a middle-aged woman, a young boy. By the obvious look of the woman, there would soon be a fourth member. They were timid. The boy kept in the background, curious but frightened, scratching at his head in a way that suggested lice. The woman

17 Zum Gegenteil – nämlich dem Krach und seinem Auftreten in Katastrophen- oder angstmachenden Situationen vgl. Schafer (1988) sowie Flückiger (2001). Die Analysen Flückigers sind häufig auch übertragbar auf Hörspiele, was sie besonders für die Untersuchung von Atomkriegsphantasien, die durch das Radio inszeniert wurden, interessant macht.

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stood, stolidly silent except to direct question. The man took off his straw hat and stood fingering its broken rim nervously; beads of sweat, from nervousness or the heat of the morning sun, rand down his shiny black forehead. Ish could hardly understand the thick dialect, rendered more unintelligible by embarrassment. He made out, however, that they knew of no one else in the neighborhood, and in fact knew very little of anything, not having been beyond walking distance from the spot since the disaster. The were not a family group, but merely a chance association of survivors – three, against the law of chance, having survived in one small town.« (Ebd.: 58)

Der Roman tut alles, um von Anfang an eine klare Grenze zwischen dem blauäugigen Weißen und den Schwarzen (als extrem ephemeren Nebenfiguren) zu ziehen. Eine Art Inspektion geht vor sich, die der Prüfung der Frage gilt, ob mit diesen drei (oder fast vier) Menschen ein künftiges Zusammenleben denkbar wäre. Der Umstand, dass es dem fremden Mann gelungen ist, die Frau sofort zu schwängern, verweist latent auf das negrophobe Stereotyp, die Sexualtriebe seien bei Afrikanern und Afroamerikanern besonders ausgeprägt. Der Aspekt der Schwierigkeit, zu einer sprachlichen Verständigung zu finden – der Schwarze spricht, obwohl Amerikaner, ein Englisch, das als fast »unverständlich« markiert wird –, verstärkt das physische »othering«, das die gesamte Passage durchzieht. Es wird deutlich, dass von Seiten der Gruppe keinerlei Auflehnung oder gar Gewalt zu erwarten steht. Die Schwarzen sind vielmehr ein Musterbeispiel für soziale Unterordnung und eine Haltung, die die Bewahrung herkömmlicher Hierarchien garantiert. Zu den Stereotypen gehört auch, dass der Gruppe jede Fähigkeit zur effizienten Neuorganisation – zu der auch die Sauberkeit gehören würde – abgesprochen wird. »In spite of their obvious reluctance, Ish looked around their place. Although all the houses of the town must have been open to them, they still lived in the crude cabin where the woman had lived before the disaster. Ish did not got in, but through the open door he saw the rickety bed and chairs and the sheet-iron stove, and the oilcloth-draped table with the flies buzzing about the uncovered food.« (Ebd.: 58f.)

Immerhin wird dem Mann und seiner neuen Frau eine gewisse, offenbar »naturgegebene« Verbindung zur Erde zugeschrieben, und genau diese ist es, die erklärt, warum wir in dieser Szene eigentlich ein Beispiel für ein post-atomares Landleben vor uns haben. »The outside looked better. They had a luxuriant garden and a good corn patch, and were actually tending a small field of cotton, although what in the world they expected to do with the cotton was more than Ish could figure out. Apparently they had merely carried on, doing the things that people in their world were supposed to do, and thus gaining a sense of security. They had chickens in a pen, and some pigs. Their painfully naive embarrassment when Ish saw

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the pigs was only too plain advertisement that they had appropriated them from some farmer's pen and now felt that the white man would hold them accountable.« (Ebd.: 59)

Die Sklavereigeschichte ist nicht überwunden. Die Schwarzen bauen Baumwolle an, egal ob dies ökonomisch Sinn macht oder nicht. Fast ist es, als liege es ihnen »im Blut«, als fehlten ihnen die Intelligenz und das Vorstellungsvermögen, die ihnen hätten sagen können, dass durch den Fortfall hierarchischer Strukturen ihr gesamtes Leben von Grund auf neu organisiert werden könnte. Immerhin steht Kleidung im Überfluss zur Verfügung und macht so den Anbau weiterer Baumwolle völlig unnötig. Diebstahl ist ein Begriff, der der Vergangenheit angehört. So aber argumentiert der Roman letztlich für die Naturgegebenheit der räumlichen Enge, der intellektuellen Beschränktheit und der Konzentration auf körperliche Arbeit, die sich die Schwarzen frei gewählt hätten. Die Schlussfolgerung für den Weißen steht fest: Dieses neue Landleben kann seine Welt nicht sein. Dies sind nicht die Kumpanen, die er sich bei dem »Ausgang der Menschheit« zu neuer »Mündigkeit« wählen würde. Und so geht denn der Roman auch als Text »on the road« weiter, Ish lässt die keineswegs idyllische Beengtheit mit den gestohlenen Schweinen hinter sich, überzeugt davon, dass letztlich auch die Behausung der Schwarzen einem Schweinestall gleichkam.18 Der restliche Roman beschreibt den Zusammenschluss mit anderen, fähigeren Menschen sowie die Rückeroberung städtischer Räume durch eine wuchernde, durch niemanden mehr kontrollierte Natur. Land und Stadt werden eins, und nur zaghaft und unter Hinnahme vieler Rückschläge (vor allen Dingen durch Krankheit und Tod) beginnt das kleine Häuflein, sich von steinzeitlicher Unwissenheit wieder zu einer gewissen, wenn auch noch bescheidenen zivilisatorischen Höhe emporzuarbeiten.19 Dafür aber muss man weiß sein und Sinn haben für das ökonomisch Zweckmäßige. Weißsein ist Garantie für ein Überleben auf höherem Niveau.

18 Das Gefühl am Tag des Aufbruchs bestätigt sich nicht. Da hatte es noch geheißen: »He had started out in the morning with a Robinson-Crusoe feeling that he would welcome any human companionship.« (Ebd.: 57) Aber letztlich plädiert Stewart dafür, dass man sich seine Mitmenschen mit einer gewissen Strenge auszuwählen habe. Sonst würde man nämlich in der Promiskuität eines von »Negern« entwickelten Lebensrahmens landen. 19 In diesem Kontext interessant: Hölscher (2016).

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IX. Ganz anders als bei Moore, Shute und Stewart wird das Landleben in René Barjavels atomarem Science-Fiction-Roman mit dem sprechenden Titel RAVAGE (1943) interpretiert. Hier stehen chaotischste Flüchtlingsströme im Vordergrund, die – der Roman spielt im Jahr 2052 – aus brennenden Städten durch zerstörte Landschaften irren und durch eine Anarchie, in der jeder gegen jeden kämpft, bedroht sind. Vorangegangen ist jedoch – und das verstärkt die Kontrastwirkung – eine Gesellschaft auf höchstem technischem Niveau. Eine Raffinesse ist erreicht, die jede andere Welt als undenkbar erscheinen lässt. Der Sturz ist umso brutaler. »La chute des villes« (»Der Sturz der Städte«20) heißt denn auch das Kapitel, in dem die allgemeine Katastrophe ihren Anfang nimmt: Die Energieversorgung bricht in sich zusammen21, und darauf folgt ein Chaos, das durch die Drohungen eines »Empereur Noir« (»schwarzen Herrschers«) (Barjavel 1996: 85) aus Brasilien noch verstärkt wird. Negrophobe Tendenzen sind bei Barjavel ebenso festzustellen wie bei Stewart: »– Les avions tombent ! – On nous bombarde ! – C'est les torpilles des nègres ! – C'est un tremblement de terre !«22 (Ebd.: 91)

In gewisser Weise wird – um einmal anachronistisch zu argumentieren – vorweggenommen, was zwei Jahre nach Erscheinen des Romans, unabhängig von den fiktiven »Schwarzen« (also Menschen), zur Realität werden würde: Schwarzer Regen würde fallen, wie dies der japanische Romancier Masuji Ibuse in seinem Roman SCHWARZER REGEN (1965) mit Blick auf die Erfahrungen vom 6. und 9. August 1945 formuliert hat. Und doch verrät die Insistenz, mit der Barjavel immer wieder zu dieser Figur des schwarzen Königs zurückkehrt, etwas von dem Obsessiven, das seinem Roman anhaftet. Atomkriegsphantasien sind nicht unbedingt der Ort, in dem eine Menschheit sich auf ihre gemeinsamen Ursprünge und die bäuerlichen Traditionen einer jeden Kultur zurückbesinnt. Vielmehr entwirft Barjavel Szenen des Schreckens, um auf diese Weise besser die Werte vortragen zu können, die er, in Anlehnung an Vichy, für bedroht hält.

20 Sämtliche Übersetzungen aus dem Französischen von A.P. 21 »L'obscurité noyait la ville. Et tout le bruit était mort.« – »Die Dunkelheit ertränkte die Stadt. Jedes Geräusch war tot.« (Barjavel 1996: 87). 22 »- Die Flugzeuge fallen! / - Man bombardiert uns! / - Das sind die Torpedos der Neger! / Das ist ein Erdbeben!«

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Das Bild, das Barjavel von der Stadt Paris entwirft, enthält Szenen, die an Brutalität und Schrecken Ihresgleichen suchen. Eine Flucht Richtung Land – ein Massenexodus wie wenige Jahre zuvor, nach dem Angriff der Deutschen auf Frankreich, der den sogenannten »Sitzkrieg« beendete – scheint die einzige Lösung darzustellen: »Une multitude fuyait dans les rues, hurlait, fuyait vers le nord, fuyait devant l'enfer. Il n'y avait plus de respect, plus d'amour, plus de famille. Chacun fuyait pour sa peau. Les boutiquiers avaient laissé l'argent dans les tiroirs, les mères abandonnaient les bébés dans les berceaux. Tous ceux qui pouvaient courir couraient sous le vent qui apportait des fumées et des odeurs de rôti.«23 (Ebd.: 163)

Eine wirkliche Endzeit, nein ein Zeitenende24 zeichnet sich ab. Obwohl der Roman vor Hiroshima und Nagaski entstand, beschreibt er »a dark time«, in jeder Hinsicht.25 Dass Brand- und Verwesungsgerüche die Flucht begleiten, ist literaturgeschichtlich etwas Seltenes.26 Der Zweite Weltkrieg steht deutlich Pate, doch die krude Behandlung des Themas Gewalt ist bemerkenswert. Und doch darf die Illusionslosigkeit, die dem Text eigen zu sein scheint, den ideologischen Hintergrund nicht verdecken, vor dem sich langsam, aus dem Chaos heraus, die Gestalt eines regelrechten (natürlich »weißen«) »Führers« erhebt. Es kehrt, entgegen aller Wahrscheinlichkeit, doch wieder Ordnung ein. Familie und väterliche Autorität als ideologische Grundfesten eines faschistischen Weltbildes behaupten ihr Recht, bilden ein Gegenbild zu der Zerstörung, die bei Barjavel ganz Frankreich – also auch die kleinsten Dörfer – ergreift. »Une course effrayante commença. Le vent s'était arrêté, comme épuisé, mais l'ardeur du soleil augmentait chaque jour. Toute la végétation crevait. Les arbres perdaient leurs feuilles racornies. Des flammes naissaient partout [...]. Les nuits n'étaient plus noires, mais rouges. Des incendies dévoraient le ciel aux quatre coins de l'horizon. François ne prononçait plus un mot qui ne fût pas un ordre précis. Il montait le plus nerveux des cinq chevaux. Les autres tiraient

23 »Eine riesige Menge floh durch die Straßen, schreiend, floh Richtung Norden, floh vor der Hölle. Es gab keinen Respekt mehr, keine Liebe, keine Familie. Jeder floh, um seine eigene Haut zu retten. Die Ladenbesitzer ließen das Geld in den Kassen zurück, die Mütter verließen ihre Babys in den Wiegen. All diejenigen, die laufen konnten, liefen unter dem Wind, der Rauchschwaden und Verbrennungsgerüche mit sich trug.« 24 Ich beziehe mich mit dieser Formulierung auf Günther Anders’ wichtiges Buch ENDZEIT UND ZEITENENDE. GEDANKEN ÜBER DIE ATOMARE SITUATION

(1972).

25 Vgl. den Titel Dewey (1990): IN A DARK TIME. THE APOCALYPTIC TEMPER IN THE AMERICAN NOVEL OF THE NUCLEAR AGE.

26 Vgl. zu diesem Aspekt einer Geschichte der Sinne Peiter (2017b).

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les remorques et portaient les femmes. Le jeune chef passait ses nuits en galops successifs, pour chercher des passages libres, pour trouver, dans ces murs de flammes, la fissure, la lézarde sombre vers laquelle diriger ses compagnons.«27 (Ebd.: 236f.)

Hier sieht sich die »wahrhaft männliche«, die »wahrhaft heldische« Kraft verwirklicht. Anders als bei Shute wird nicht nur theoretisch von Gefahr gesprochen und, mit Hilfe von Geigerzählern, jedes Risiko vom eigenen Körper ferngehalten. Vielmehr zeigen sich die weißen Männer als Gegenspieler des fernen Schwarzen, der so etwas wie eine Weltherrschaft zu erlangen versucht. Die neuen, sich als Führer erlebenden Einzelnen, ja »Berufenen«, gehen mitten in die Gefahr, mitten ins Feuer hinein, und bringen so, fern der Städte, im überschaubaren Rahmen kleiner, hierarchisch gegliederter Gemeinschaften, die Substanz für eine künftige Gesellschaft nach rassistischfaschistischem Muster hervor. Dass der Befehl zu regieren hat und die nicht demokratische Diskussion, dass Rettung nur durch Gehorsam und eine Art »GefolgschaftsPrinzip« funktionieren könne und der Befehl über allem stehe, macht der Roman mit hineinreichender Deutlichkeit klar. Das Landleben wird vor dem Hintergrund dieser politischen Wahl zu einer rein männlichen Domäne, in der die Frauen nicht mehr sind als die Gebärerinnen neuer, künftiger Soldaten. So stellt es denn auch keinen Zufall dar, dass sie schon während der Flucht des Gehens nicht mächtig sind. Frauen gelten als schwach und müssen folglich getragen werden. Erst nach ihrer Ankunft in neuen, ländlichen Gefilden können sie zu ihrer ureigentlichen Aufgabe, nämlich zu Mutterschaft und Haushaltsführung, zurückfinden.

27 »Eine furchtbare Flucht begann. Der Wind hatte sich gelegt, als sei er erschöpft, doch die Hitze brannte von Tag zu Tag stärker. Die gesamte Vegetation starb. Die Bäume verloren ihre verkrümmten Blätter. Flammen entstanden überall […]. Die Nächte waren nicht mehr schwarz, sondern rot. Brände verschlangen den Himmel an allen Enden des Horizonts. François sagte kein einziges Wort mehr, das nicht ein präziser Befehl gewesen wäre. Er ritt auf dem feinnervigsten der fünf Pferde. Die anderen zogen die Wagen und trugen die Frauen. Der junge Führer verbrachte seine Nächte mit immer neuen Ritten im Galopp, um freie Durchgänge zu finden, um in diesen Feuerwänden den Einschnitt, den dunklen Riss zu finden, durch die er seine Gefolgschaft leiten konnte.«

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X. Ich möchte mit Hinweisen auf zwei letzte Texte schließen. Zu den seltenen, wirklich pessimistischen, da mit den planetarischen Dimensionen eines »Dritten Weltkriegs« rechnenden Fiktionen gehören das Hörspiel TRÄUME (gesendet 1951, gedruckt 1953) von Günter Eich sowie die Bunkerphantasie von Mordechai Roshwald, die den Titel LEVEL 7 trägt und 1959 veröffentlicht wurde. Beide Texte sind für die Frage nach dem Landleben insofern bedeutsam, als sie die Idee von Fluchtmöglichkeiten strikt von sich weisen. Eich lässt seine Protagonisten in einer New Yorker Wohnung verharren, die weit oben, mit Blick über den Fluss, gelegen ist. Bei ihm ist es die Fresstätigkeit unsichtbarer Termiten, die als personifizierter fall-out die gesamte Welt von Innen her zersetzen und eine Müdigkeit verbreiten, die nur mit dem Tod enden kann. Die Mutter des jungen Paares, die im »fünften Traum« erstmals zu Besuch gekommen ist, bietet, als sie endlich verstanden hat, woher das permanente Nagegeräusch stammt, einen Zufluchtsort an. Ihre Stadt heißt »Albanville« und ist offenbar ebenso weiß und überschaubar, wie die Stadt New York riesig und von irritierender Vielfalt ist. Doch die jungen Leute lassen sich auf solche Hoffnungen nicht ein. Die Tochter der älteren Dame argumentiert, gegen die Idee der Flucht aufs Land gerichtet: »Wenn du es erst einmal gehört hast, hörst du es überall, in den Wohnungen und in der Untergrundbahn, in den Bäumen und im Getreide. Ich glaube, sie nagen auch in der Erde. Der Boden, auf dem wir stehen, ist noch eine dünne Haut, alles hat nur noch eine dünne Haut und ist innen hohl.« (Eich 1991: 380)

Wenn man den Hinweis auf »Bäume« und »Getreide« als Chiffren des Ländlichen interpretiert, wird hier jeder Aussicht eine Absage erteilt, die noch zwischen Stadt und Land, Zentrum und Peripherie von Atomkriegen zu unterscheiden hofft. Die Gefahr sei überall – also selbst in den Dörfern und, mehr noch: sogar in den unteren Erdschichten, da, wo sich die Menschen in Bunkern einzugraben versuchen.28 Roshwalds Roman LEVEL 7 macht mit eben diesem Gedanken ernst. Bei ihm hat sich die politische und militärische Elite in der tiefsten Bunkeretage verkriechen können – was ein Privileg ersten Ranges darstellt. Doch dann beginnt der Atomreaktor, der die Energieversorgung für die Bewohner des Inneren der Erde sicherstellt, zu

28 Zur Geschichte der Atomschutzbunker siehe auch Gerstell (1950). Hier geht es u.a. um eine »Minimalausführung« von Schutzschichten. Vgl. außerdem Karl Jaspers’ DIE ATOMBOMBE UND DIE ZUKUNFT DES MENSCHEN (1962). Er thematisiert das Dilemma, dass man

zwischen »lieber rot statt tot« bzw. »lieber tot als rot« zu wählen habe. Siehe ebenso Jungk (1953) und Lapp (1949).

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strahlen, gleichsam den Krieg imitierend, der oben bereits alles Leben ausgelöscht hat. Folglich sterben dann auch die Männer, die sich in Sicherheit glaubten. Das kleine, weiße »Albanville«, von dem noch die Mutter im eichschen Hörspiel zu träumen wagte, existiert nicht. Die atomare Welt ist so dunkel wie die tote Bunkerwelt. Nur ein einziger Übriggebliebener erzählt, was ihm geschieht. Doch auch seine Stimme verlischt, und damit endet die Geschichte, deren Botschaft unmissverständlich ist: Zwischen militärischer und ziviler Nutzung der Kernenergie kann und darf man nicht unterscheiden – und ebenso wenig zwischen Stadt und Land.29 Dr. Strangelove ist überall.

L ITERATUR Primärliteratur Barjavel, René (1996): Ravage, Paris. Clarkson, Helene (1959): The Last Day, New York. Eich, Günter (1991): Gesammelte Werke, 4 Bde., Frankfurt a.M. Frank, Pat (1946): Mr. Adam, Philadelphia. Ibuse, Masuji (1977): Schwarzer Regen, Weimar. Moore, Ward (2008): Greener than you think, Charleston. Pausewang, Gudrun (1983): Die Wolke, Ravensburg. Roshwald, Mordehai (2004): Level 7, London. Shute, Nevil (1957): On the beach, London. Stewart, George R. (2006): Earth abides, New York. Sekundärliteratur Anders, Günther (1972): Endzeit und Zeitenende. Gedanken über die atomare Situation, München. Blair, Bruce G. (1993): The logic of accidental nuclear war, Washington D.C. Boyer, Paul (1985): By the bomb's early light. American thought and culture at the dawn of the atomic age, Chapel Hill. Brians, Paul (1987): Nuclear holocaust. Atomic war in fiction 1895-1984, Kent (Ohio)/London. Brodie, Bernard (1946): The absolute weapon. Atomic power and world order, New York.

29 Der sicher kenntnisreichste Überblick über die verschiedenen Facetten von Atomkriegsphantasien stammt von Brians (1987).

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»Du weißt doch, wie die Leute hier sind.« Zur Zukunftsfähigkeit von ›Heimat‹ in Dorfromanen der Gegenwart F RIEDERIKE S CHRUHL

Im Jahr 2050 werden laut Erhebungen und Berechnungen des Department of Economic and Social Affairs der Vereinten Nationen 66,4 Prozent der Weltbevölkerung in Städten leben.1 Bereits 2014 waren in Deutschland, so der Bericht, 77 Prozent der Menschen in Ballungsgebieten und lediglich 15 Prozent in Dörfern mit weniger als 5.000 Einwohnern gemeldet.2 Ländliche Regionen kämpfen zunehmend mit dem Abbau von Arbeitsplätzen und sehen sich mit sukzessiven Abwanderungs- und Überalterungsprozessen konfrontiert. Das Dorfsterben scheint aus demografischer Perspektive kaum mehr aufzuhalten zu sein. Parallel zu diesem Phänomen der Landflucht beweist das imaginäre Dorf im neuen Jahrtausend eine beeindruckende Vitalität. Zogen um die letzte Jahrhundertwende die Protagonisten der Erzählliteratur in die Großstädte, um von dort aus über ihre Vergangenheit auf dem Land und ihr ›neues‹ Leben in der Stadt zu erzählen, zieht es die Figuren gegenwärtiger Romane in die Provinzen, um ihre Zukunft zu suchen. Im Zentrum stehen hier nicht urbane Wahlheimaten wie etwa Berlin oder Hamburg, sondern rurale Orte wie Brinkebüll,

1

Diese Zahlen basieren auf einer Studie aus dem Jahr 2014 (vgl. United Nations 2014). Eine Zusammenfassung findet sich unter: https://www.bpb.de/nachschlagen/zahlen-und-fakten/globalisierung/52705/verstaedterung (13.05.2020).

2

Ähnliche Zählwerte gibt auch die Bundeszentrale für politische Bildung an (vgl. Seibring 2016: 3). Die Entwicklung einzelner Städte und Gemeinden (im Zeitraum 2012 bis 2017 im bundesweiten Vergleich) lässt sich differenziert über die Website des Bundesamts für Bauwesen und Raumordnung nachverfolgen: https://gis.uba.de/maps/resources/apps/ bbsr/index.html?lang=de (13.05.2020).

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Unterleuten und Schattin.3 In der Realität stirbt das Dorf; in der Fiktion hat es Konjunktur.4 Die Historizität der Diskurse um das ›Verschwinden des Dorfes‹ sowie der nur vermeintliche Anachronismus der literarischen Konzentration auf das Ländliche, die Provinz oder das Dorf bei gleichzeitigen faktischen Auflösungsprozessen des Ruralen wurde in der Forschung wiederholt unterstrichen (vgl. bspw. Nell 2018). Dorfgeschichten5 der Gegenwart würden oftmals mit Blick auf die »fortschreitende[] Modernisierung und Urbanisierung« in unzutreffender Weise als »überholtes und antiquiertes Genre« abqualifiziert und gar als »unzeitgemäßes Phänomen« missverstanden (Weiland 2018: 81). Dagegen sei es aber die »dialektische[] Bewegung« (Nell/Weiland 2019a: 55) des Destruierens und Generierens spezifischer Dörflichkeiten, welche »vor dem Hintergrund der Beschleunigungs- und Entfremdungsprozesse der Globalisierung und der Spätmoderne einen besonderen Resonanzraum« (Scharnowski 2016: 18) ermögliche und das imaginative Potential der Dorfgeschichte aufzeige. Der Zerfall des Dorfes in der Peripherie diffundiere in der Provinzialisierung des Urbanen (vgl. Marszałek 2019: 351f.) und die Verflechtung des Dörflichen mit überdörflichen Strukturen demaskiere zu rigide Innen/Außen-Dichotomien (vgl. Moretti 2009: 63ff.; Neumann/Twellmann 2014a: 41ff.). Ebenso sei die historische Stabilität der Dorfgeschichte bei gleichzeitiger erzählerischer Diversität bemerkenswert (vgl. Wild 2019: 287). Nicht zuletzt avancierten Dorfimaginationen vor diesem Hintergrund zu einem »Experimentierfeld[] eines modernen und postmodernen Schreibens« (Weiland 2018: 116) par excellence. In diesem Beitrag werde ich auf die vielfältigen Verschiebungen antagonistischer Grenzen wie etwa Stadt/Dorf, Peripherie/Zentrum, Fortschritt/Stillstand und insbesondere ihre narrativen Implementierungen eingehen, die divergenten symbolischen Repräsentationen der dörflichen ›Heimat‹ nachzeichnen und die damit verbundenen Auseinandersetzungen der Zukunft in Juli Zehs UNTERLEUTEN (2016), Alina Herbings NIEMAND IST BEI DEN KÄLBERN (2017) und Dörte Hansens MITTAGSTUNDE (2018) skizzieren.

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Jene Dörfer sind die Handlungsorte in Juli Zehs UNTERLEUTEN (2016), Alina Herbings NIEMAND IST BEI DEN KÄLBERN (2017) und Dörte Hansens MITTAGSSTUNDE (2018), auf die ich im Folgenden eingehen werde.

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Davon zeugen nicht nur jüngst angekündigte Projekte (Hißnauer/Stockinger 2022), sondern auch die vielfältigen Forschungsbeiträge der letzten Jahre. Vgl. bspw. Marszałek/ Nell/Weiland (2018), Gerstner/Riedel (2018), Twellmann (2019), Nell/Weiland (2019), das Themenheft der Zeitschrift für Germanistik 2/2020 (»Provinz erzählen«) sowie Nell/Weiland (2021).

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Luzide Hinweise auf das definitorische Spektrum der ›Dorfgeschichte‹ finden sich bspw. in: Nell/Weiland (2019a: 55ff.); Lehmann (2011: 121f.); Baur (2007: 391).

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N ARRATIVE

Mit dem Boom der Dorfliteratur in der Gegenwart ist auch eine verstärkte Auseinandersetzung mit Heimat bzw. Heimaten zu beobachten. Dieser Konnex ist zumindest aus etymologischer Perspektive durchaus naheliegend: Das neuhochdeutsche Wort Heimat lässt sich auf das gotische haims (Dorf) zurückführen (Scharnowski 2019: 19). Heimuot(e), heimôt(e), heimôde, heimüete (mhd.); heimôti, heimuoti, heimodi (ahd.) und he(i)mode, heinmôt (mndd.) bedeuteten »ungefähr Stammsitz« (Kluge 1989: 301), wobei vor der weltlichen Semantisierung zunächst eine »theologische Bedeutung mit der Sehnsucht nach dem Himmelreich dominierte« (Hülz/Kühne/ Weber 2019: 6; vgl. zudem Gebhard/Geisler/Schröter 2007: 11).6 Allerdings bezog sich die Säkularisierung des Heimatbegriffs ab dem 12. Jahrhundert eher auf »Heim, Einöde« (Bertels 1997: 65). Im Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm wird 1877 ›Heimat‹ sowohl als »das land oder auch nur der landstrich, in dem man geboren ist oder bleibenden aufenthalt hat«, verstanden, als auch mit dem »elterliche[n] haus und besitzthum« in Verbindung gebracht (Grimm/Grimm 1877: Sp. 866). Diese »enge und konkrete Vorstellung vom Heimat« und der »an den unmittelbar vorhandenen Besitz von Haus und Hof gebundene Begriff« lässt sich historisch auch anhand juristischer Instituierungen belegen (Bausinger 1990: 77). Bis ins 19. Jahrhundert sicherte das sogenannte ›Heimatrecht‹ das Recht auf Aufenthalt und soziale Versorgungsleistungen. Als »rechtliche[r] Zuständigkeitsraum« (Bastian 1995: 98) war Heimat ein Privileg, das man unter bestimmten Umständen auch verlieren konnte: »Wer die mit […] gemeindlichen Rechten verbundenen Verpflichtungen nicht erfüllen konnte oder wen die Zeitläufte in die Fremde verschlugen, der büßte damit auch leicht seine Ansprüche ein« (Bausinger 1990: 78).

Die bis dato starke territoriale respektive juridische Fixierung des Heimatverständnisses erhielt im Lauf des 19. Jahrhunderts eine »ungeahnte pathetische und mitunter pathologische Aufladung und Erweiterung« (Costadura/Ries 2016: 9). Der emotionalen Anbindung und Verbundenheit mit einem Ort, einer Gegend oder einer Region, der Verknüpfung mit der Natur und der unberührten Landschaft sowie der Engführung mit

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Für mediävistische Hinweise danke ich herzlich Nadine Hufnagel und Silvan Wagner.

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»Bildern von Fernweh, Abschied, Wanderschaft, Heimweh und Heimkehr [lag, F.S.] […] ein zunächst relativ abstraktes Ursprungsmodell zugrunde, in das unterschiedlichste Ideen eingetragen werden können: ein göttlicher Ursprung, die Musik, der Mythos, das Goldene Zeitalter, die Kindheit, die Philosophie und auch die Poesie selbst« (Oesterhelt 2016: 204).

Als Folge von Industrialisierungs- und Urbanisierungsprozessen bzw. des steigenden Flexibilitäts- und Mobilitätsdrucks entwickelte sich der Begriff zunehmend im Kontext der Heimatbewegung um 1900 als sentimental-verklärender »Gegenentwurf zur städtischen Modernisierung« und verband sich »fest mit dem Ideal des traditionellen ländlichen Lebens« (Marszałek 2019: 350). Im 20. Jahrhundert erfuhr das Heimatverständnis eine ideologische Radikalisierung und politische Instrumentalisierung. Wurde während des Ersten Weltkriegs insbesondere der Schutz bzw. die Fragilität der Heimat inszeniert und im weiteren Verlauf auf Konzepte wie ›Nation‹ und ›Vaterland‹ zurückgegriffen, vereinnahmte der Nationalsozialismus den Begriff in spezifischer Weise: »Die starken dörflichen und ländlichen wie auch regressiven und konservativen Konnotationen des Heimatlichen wirken in den deutschnationalen Ideologien weiter und kulminieren in der völkischen Überhöhung der Bauernschaft in der Blut-und-Boden-Ideologie des Nationalsozialismus« (ebd.).

Eine oberflächliche Entpolitisierung erfuhr das Heimatverständnis in der Nachkriegszeit durch Heimatfilme, Heimatromane, Heimatgedichte und Heimatlieder, die das konservativ-bewahrende und idyllische Landleben aufriefen und bodenständige, rechtschaffene und moralisch integre Figuren im Einklang mit der Natur zu installieren versuchten. Der Umgang mit (Heimat-)Vertriebenen, Umgesiedelten und Flüchtenden und die Pluralisierung von Heimatkonstruktionen (re-)politisierte den Diskurs in den sich darauffolgenden Jahrzehnten. In der unmittelbaren Gegenwart lassen sich »verbale Definitionsschlachten« (Gansel 2014: 205) um den Heimatbegriff beobachten, deren Brisanz, Multidimensionalität und Komplexität mit der skizzierten Ambivalenz und Ambiguität der Semantisierungsgeschichte verbunden sind. Heimat kann heute nicht nur ein spezifischer (städtischer, dörflicher, imaginativer etc.) Ort sein, sondern auch als Raum, Landschaft, Gefühl, (reale) Erinnerung (bspw. an die Kindheit) u.v.a.m. imaginiert werden. Dabei wird Heimat vehement gefordert, abgelehnt oder verteidigt: In Bayern wird ein Heimatministerium institutionalisiert; im Feuilleton wird über die Belastungskapazität des Heimatbegriffs diskutiert, ›linke‹ Politisierungen von Heimat(en) beworben bzw. angegriffen, rechtspopulistische Vereinnahmungsversuche kommentiert bzw. kritisiert; Heimatmagazine verzeichnen beeindruckend hohe Auflagen; der Heimat- und Naturschutz erfährt durch die derzeitigen Umweltbewegungen erhöhten Zuspruch etc.

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Als »polyvalentes Konstrukt« (Hülz/Kühne/Weber 2019) und flexibles Amalgam heterogener Konzepte kann ›Heimat‹ – so ließen sich die derzeitigen Begriffsverwendungen pointieren – vielfältige Dimensionen in sich aufnehmen sowie diverse Diskurse und Begriffskonnotationen verwalten. Auch aufgrund dieser Vieldeutigkeit avanciert der Heimatbegriff in der Gegenwart zu einem prädestinierten Gegenstand der Literatur. Ländliche Idylle oder Endstation Provinz? »Die Welt geiht ünner« (Hansen 2018: 7): Dörte Hansens Roman MITTAGSSTUNDE hebt mit Prophezeiungen über eine drohende Zukunft an. »Die toten Fische, Bäume, Kinder, Rehe, der Sommer ohne Störche und die Felder ohne Hasen, sie waren Vorzeichen der großen Katastrophe« (ebd.: 9). Im fiktiven Dorf Brinkebüll liest die Figur Marret Feddersen die Vorboten einer nahenden Zeitenwende. Bäume verlieren ihre Blätter, ein Kind wird überfahren, die Jäger finden keinen Hasen mehr, ein Mähdrescher tötet ein Rehkitz. Mit dem Tod eines Rehs beginnt auch der Roman NIEMAND IST BEI DEN KÄLBERN von Alina Herbing, der von der Lebenswelt der jungen, unglücklichen Protagonistin auf einem Milchbauernhof im mecklenburgischen Dorf Schattin erzählt. Die IchErzählerin Christin sitzt neben ihrem Freund Jan auf dem Traktor, blickt auf die »abgemähten Halme«, die eigentlich »so weich [aussehen]«, dass sie sich am liebsten »einfach reinfallen« lassen würde (Herbing 2018: 7). »Aber das kann man nicht. Dadrunter ist der Lehmboden und der ist hart wie Stein« (ebd.). Christin träumt von einem anderen Leben und stellt sich »Strände und Cafés mit Tulpen auf den Tischen« (ebd.) vor, während plötzlich ein Reh unter die Räder des Mähwerks gerät. »Scheiße« (ebd.). In dem fiktiven brandenburgischen Dorf Unterleuten in Juli Zehs gleichnamigen Roman stinkt es. Die Figuren Jule und Gerhard wollen in Unterleuten zusammen mit ihrer Tochter Sophie eine neue Heimat finden, um sich nach langen Jahren in Berlin den Traum eines ruhigen Landlebens zu erfüllen. Doch seit auf ihrem Nachbargrundstück eine Autowerkstatt eröffnet hat und Abfälle verbrennt, ist ihr ersehntes Refugium in Gefahr: »Ihr kleines Paradies hatte sich mit giftigen Dämpfen vollgesogen« (Zeh 2017: 12). Diese drei Romane aus den Jahren 2016 bis 2018 stellen schon in ihren Anfangssequenzen klar, dass ihre jeweiligen Dorfgeschichten keineswegs als verklärende oder romantisierende Heimatidyllen missverstanden werden können. Es ist nicht das Röhren der Hirsche, das Panorama der Alpen oder die funktionierende Dorfgemeinschaft und das friedliche Zusammenleben, das in diesen Erzählanfängen prominent geschildert wird. Die Texte heben mit der Darstellung der »[r]aue[n] Wirklichkeit« (Jens 1985: 15) auf dem Dorf an: Artensterben, das durch eine

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technisierte Landwirtschaft versehentlich getötete Tier, der erbitterte Streit mit den Nachbarn. Heimkehr und Abschied Der Roman MITTAGSSTUNDE von Dörte Hansen porträtiert ein fiktives Geestdorf in Nordfriesland von den 1960er Jahren bis in die unmittelbare Gegenwart, von der Landvermessung für die Flurneuordnung bis zu dem endgültigen Untergang der alten Agrarstrukturen. Es sind diese Auflösungsprozesse, welche Marret Feddersens Weltuntergangsdiagnose zu Beginn der Erzählung bezeichnet. Im Zentrum des Romans steht ihr Sohn Ingwer Feddersen, ein Dozent für Archäologie an der Universität Kiel, der sich eine einjährige Auszeit nimmt und in sein altes Heimatdorf zurückkehrt, um sich um seine gebrechlichen Großeltern zu kümmern. Auch er nimmt die Zeichen der Zeit wahr: »Die zerrupften Krähen, die in den Furchen eines nassen Stoppelfeldes wateten, die Silagehügel unter weißen Plastikhäuten, beschwert mit alten Reifen, verpackte Ballen Heu auf den verwaisten Feldern, die großen Tanks der Biogasanlagen, ihre grünen Kuppeln wie die Wahrzeichen des Maiszeitalters. […] Die Felder, auf denen außer Mais nur noch Solaranlagen und Windturbinen wuchsen. Die Wartehäuschen an den Haltestellen, Fahrpläne hinter Plexiglas für Busse, die dann doch nie kamen.« (Hansen 2018: 17f.)

Von solchen – zumeist durch die »technologischen Rationalisierungsschübe und die Veränderung von Arbeit und Organisation« (Beck 1986: 25) ausgelösten – Verfallsprozessen und Krisenerfahrungen berichten eine Vielzahl gegenwärtiger Dorf- und Heimatromane, die damit an literaturhistorisch bekannte Topoi anschließen. Sie sind insgesamt als »Geschichten individueller und kollektiver Umbruchssituationen und Bewältigungsversuche vor dem Hintergrund sozialer, ökonomischer, technischer, kultureller und politischer Transformationen« (Weiland 2018: 95) zu begreifen: Vom Dorf wird aktuell dann privilegiert erzählt, wenn das Dorf (1.) akut bedroht ist, (2.) einem kontinuierlichen Transformationsdruck ausgesetzt ist oder (3.) sich in stabiler Krisennormalität bewährt hat (vgl. ebd.: 95-100). Dieser typologischen Ordnung ließe sich die Relevanz der Zukunft (temporale Dimension) und die Bedeutung von Heimat (symbolische Dimension) hinzufügen. Die temporale Dimension zielt darauf, die situativen Gefährdung, die anhaltenden Modernisierungserfordernisse und die bewährte Resilienz des Dorfes unter futurologischer Perspektive zu pointieren. Denn es ist oftmals nicht die Vergangenheit des Dorfes, die den Erzählanlass stiftet. Wenn es um das Dorf geht, so könnte man diese Überlegung reformulieren, dann geht es um die Zukunftsfähigkeit des Dorfes, die entweder bedroht ist, unter Druck gerät oder aufrechterhalten wird. Die symbolische

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Dimension betrifft die Semantisierungsintensität des Dorfes. Das Dorf ist in den aktuellen Romanen nicht nur ein ›bloßer‹ Handlungsort. Als »leerer Signifikant« (Laclau 2007: 65ff.) repräsentiert es mehr als nur einen partikularen Inhalt (geringe Einwohnerzahl, stärkere soziale Kontrolle, niedrige Zentralität etc.). Wenn es in der gegenwärtigen Literatur um das Dorf geht, so könnte man diese zweite Überlegung zuspitzen, dann avanciert es vom ›schlichten‹ Ort zu einer überdeterminierten Heimat, die bspw. als defizitär, bedroht, depraviert oder ersehnt identifiziert wird. Erst in dieser symbolischen Aufladung zur Heimat entfaltet das Dorf sein narratives Potential. Mit der Narrativierung von ›Heimatgefühlen‹, welche enormen Anteil an der symbolischen Dimension des Dorfes besitzen, hat sich Thomas Anz auseinandergesetzt (vgl. Anz 2017). Er weist darauf hin, dass Heimatgeschichten sehr häufig – mit je »unterschiedlichen Ausformungen, Akzentsetzungen und Emotionalisierungspotentialen« – an ein Schema gekoppelt sind, das »im Wesentlichen aus drei Teilszenarien [besteht]: (1) Aufbruch aus der Heimat, (2) Unterwegssein (oder Aufenthalt) in einem Raum fern der Heimat, (3) Heimkehr« (ebd.: 22). In Hansens MITTAGSSTUNDE ist es die Heimkehr Ingwer Feddersens in sein altes Dorf, welche die Handlung bestimmt. Mit der Figur des temporären Heimkehrers, der nur für eine bestimmte Zeit seines Sabbaticals zurückkommen möchte, und zuvor auch nicht permanent abwesend war, da er seit seinem ›(Bildungs-)Aufbruch aus der Heimat‹ am Wochenende zwischen Brinkebüll und Kiel pendelte, installiert Hansen mit Ingwer Feddersen kontinuierliche Verbindungslinien zwischen Stadt und Land. Das Land ist hier nicht die abgeschlossene Totalität, die der Stadt diametral gegenübersteht. Zwar bestehen Distanzen; Stadt und Land sind jedoch durch spezifische Figuren miteinander verbunden. Jene »Vermittlerfiguren«, die »im Spannungsverhältnis von Provinz und Metropole bzw. Peripherie und Zentrum stehen«, oszillieren »zwischen lokalen und translokalen, alten und neuen Ordnungen und Entwicklungen« (Nell/Weiland 2019a: 57). Sie gehören zum festen Inventar der Dorfgeschichte, wie Michael Neumann und Marcus Twellmann betonen: »Auch die entlegensten Bauerndörfer sind immer schon eingebunden in translokale Netzwerke, die den Verkehr von Menschen, Dingen und Zeichen ermöglichen« (Neumann/Twellmann 2014b: 479). Mit dem Ende dieses ›Verkehrs‹ zwischen Stadt und Land, in den Ingwer Feddersen mehrfach eingeschrieben ist, schließt der Roman. Ingwer Feddersen kümmert sich um die letzten Angelegenheiten, die ihn betreffen. Er organisiert die Betreuungssituation seiner Großmutter, sein Großvater ist mittlerweile verstorben, und verlässt Brinkebüll endgültig. In seiner Heimat gibt es keine Zukunft für ihn. »Man blies das Feuer aus, man brach die Zelte ab und ließ die letzten Sesshaften zurück. […] Homo ruralis. Fast ausgestorben« (Hansen 2018: 318). Ingwer Feddersen kehrt zurück in die Stadt.

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Damit imaginiert Hansen Heimat als den Ort, an dem man geboren ist und Verwandte hat, aber an den einen – außer soziale Beziehungen und familiäre Verpflichtungen – nichts halten kann. Sie investiert damit vorrangig in den Vergangenheitsindex von Heimat. Zukunftsfähig ist die Brinkebüller Heimat für die Figur Ingwer Feddersen nicht. Dörfliche Deformierung Mit der Flucht vom Dorf endet auch der Roman NIEMAND IST BEI DEN KÄLBERN von Alina Herbing. Im Zentrum dieses Textes steht die junge Protagonistin Christin, die auf einem Milchviehbetrieb im mecklenburgischen Schattin die Ödnis und Perspektivlosigkeit des Dorfes sowie die Verkommenheit, Brutalität und Kriminalität der Dorfbewohner erlebt. Eigentlich wollte sie »spätestens mit achtzehn […] Tag und Nacht in High Heels stecken« und »lachend über den Berliner Asphalt stöckeln« (Herbing 2018: 11). Doch nach der Insolvenz ihres Ausbildungsbetriebs, durch den sie ihre Friseurausbildung aufgeben musste, zog sie notgedrungen zu ihrem Freund Jan und seiner Familie, um dort auf dem Betrieb mitzuhelfen. Ein wiederkehrender Handlungsort des Romans ist die defektanfällige Windkraftanlage in der Nähe des Hofes. Sie figuriert als Signum der gescheiterten Modernisierung des Landes und symbolisiert den Bruch zwischen den progressiven Ideen der Green Economy und der erzählten Wirklichkeit in der Provinz. Diese topografischen Gegebenheiten und ihre Deutungen verlagern sich auch in das Innenleben der Protagonistin: »Manchmal glaub ich, jedes Flugzeug, das ich sehe, existiert überhaupt nur, um mich daran zu erinnern, dass ich einer der unbedeutendsten Menschen der Welt bin. Wieso sollte ich sonst in diesem Moment auf einem halb abgemähten Feld stehen? Nicht mal in einer Nazi-Hochburg, nicht mal an der Ostsee oder auf der Seenplatte, nicht mal auf dem Todesstreifen, sondern kurz davor, daneben, irgendwo zwischen alldem. Genau da, wo es eigentlich nichts gibt außer Gras und Lehmboden und ein paar Plätze, die gut genug sind, um da Windräder hinzustellen.« (Ebd.)

Herbing verdichtet diese Elemente zu einem prototypischen Anti-Heimatroman, der insbesondere durch das durchgängig verwendete Präsens Unmittelbarkeit erzeugt: Die realistische und detailgenaue Erzählung des abgelegenen Dorfs, das fast unerreichbar weit weg ist von der Stadt; die Schilderung der drögen, immer gleichen Abläufe und Routinen des landwirtschaftlichen Alltags; die Darstellung der schicksalshaft-akzeptierten Superiorität der Arbeit bei gleichzeitigem wirtschaftlichen Bedeutungsverlust; die Thematisierung sozialer Isolation und wiederholter Fluchtbemühungen etc. Die Protagonistin imaginiert und realisiert unterschiedliche Ausbruchsphantasien, die von Alkoholeskapaden und Konsumsehnsüchten bis hin zu Affären

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reichen und in der – zunächst imaginierten, schlussendlich jedoch auch realisierten – Flucht per Auto kulminieren. »Am liebsten würde ich […] die Sachen in meinen Ford packen und wegfahren, nach Dänemark oder Süddeutschland, sogar Polen wäre besser als das hier. Und als wollten sie mich aufhalten, kommen die Hühner angelaufen. Sie scharren über den Boden und durch die Pfützen mit ihren Krallen, picken nach den Halmen und Samen.« (Ebd.: 66)

Das Dorf, so wie es Herbing skizziert, kann nicht die erwünschte oder ersehnte Heimat sein. Heimat ist hier nur das, aus dem man sich befreien muss, bevor man von dem destruktiven, bösen und amoralischen ›Dorf‹ infiziert wird. Diese ›Virusgeschichte‹, die von der drohenden Ansteckung bis zur vollständigen Kontamination reicht, meint die zunehmende Radikalisierung der Protagonistin in ihrer Gewaltbereitschaft und ihrer emotionalen Abstumpfung. Neben Sabotageakten (das Kappen einer Stromleitung am Traktor) und selbstverletzendem Verhalten (das Ausdrücken von Zigaretten auf der Haut), erstickt sie ein Kalb und vergiftet zum Schluss den Hofhund. Die Verrohung und »Bösartigkeit der Protagonistin« wird ausgelöst und antwortet auf die »kollektiv gestützte[] Bösartigkeit der Heimat, die grundsätzlich eine männlich dominierte ist und als multidimensionales Zwangssystem erscheint« (Weiland 2020: 342). Die Situation eskaliert, als ihr Freund sie brutal zusammenschlägt und sie mit Kuhmist im Gesicht im Stall liegen bleibt. Das Verlassen der Heimat erscheint so als eine alternativlose Flucht von einem unterdrückerischen Ort und als einzige Option, dem Kreislauf aus Gewalt und Gegengewalt zu entgehen; ja, überhaupt eine Zukunft zu haben. Raumkonflikte In Juli Zehs Roman UNTERLEUTEN geht es um ein Dorf in Brandenburg, das durch die Vorhaben einer Investmentfirma unter massiven Druck gerät. Die Intervention von außen lässt tiefliegende Konflikte innerhalb der Dorfgemeinschaft hervortreten und treibt die Handlung maßgeblich voran. Der Roman adaptiert dabei auf mehreren Ebenen klassische Elemente des Dorfromans, wie sie Natalie Moser unter Rückgriff auf Rölcke (2013) beschrieben hat: Es gibt das Dorf »mitsamt dorfspezifischer Institutionen (wie bspw. das Wirtshaus als Versammlungsort) und dorfspezifische[] Figuren (wie bspw. der Bürgermeister)«, es existiert eine feste »Ordnung des Dorfes, insbesondere die Aufteilung in Freunde und Feinde«, welche selbst »durch einzelne Vorfälle wie beispielsweise das Verschwinden eines Kindes, Nachbarschaftsfehden und Racheaktionen oder Werbeveranstaltungen eines Windenergie-Vertreters nicht gestört, sondern vielmehr bestätigt [wird]« (Moser 2018: 130). Auch den für die Dorfgeschichte konstitutiven Bestandteil der Darstellung von Stadt/Land-

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Dichotomien integriert Juli Zeh in ihrem Roman. Allerdings, darauf hat Moser bereits hingewiesen (vgl. ebd.: 136ff.), konzipiert sie das Urbane nicht als schlichten Gegensatz zum Ruralen. Vielmehr geht es darum, die Funktionalität ruraler Imaginationen für Stadt-Narrative als auch urbane Imaginationen für Dorf-Narrative zu unterstreichen. Zudem entspricht das Figurenarsenal in UNTERLEUTEN dem Klischee des Dorfromans: Es gibt die alteingesessenen Dorfbewohner; es gibt die aus der Stadt Zugezogenen und es gibt den unerwünschten Zugriff von außen. Der Satz, »Du weißt doch, wie die Leute hier sind« (Zeh 2017: 12), den die Figur Gerhard gleich zu Beginn der Handlung gegenüber seiner Frau Jule formuliert, manifestiert geradezu modellhaft die strukturellen Differenzen zwischen den ›alten‹ und ›neuen‹ Dorfbewohnern. Konfliktbearbeitungsweisen und Koalitionsbildungsprozesse innerhalb des Dorfes strukturieren die Handlung maßgeblich. Je nach Interessenlage und Betroffenheitsgrad wird der von der Unternehmen Vento Direct beabsichtigte Bau eines Windparks boykottiert oder unterstützt. Dabei treffen Bedenken von Naturschützern auf die Pläne von Modernisierungs- und Technisierungsbefürwortern; alte Machtkämpfe und unterdrückte Konflikte zwischen den Alteingesessenen brechen wieder auf; »Wahrnehmungs- und Verhaltensdifferenz[en] zwischen allochthonen und autochthonen Dörflern« (Delabar 2017: 232, Anm. 18) treten intensiviert hervor; es geht um Profitmaximierung und Verteilungskämpfe und nicht zuletzt um die Bewahrung der Dorfidylle respektive die Überlebenssicherung des Dorfes durch die Beteiligung am vermeintlichen Fortschritt. Im neuralgischen Zentrum des Romans steht die Verhandlung der dörflichen Zukunft und die Ausgestaltung der jeweiligen Heimatvorstellungen. Der Roman ist in sechs Teile gegliedert, die zusammengenommen 61 Kapitel beinhalten, auf die ein abschließender Epilog folgt. Jedes Kapitel ist einer Romanfigur zugeteilt, aus dessen Perspektive die jeweilige Erzählung lanciert wird. Die »Perspektivengebundenheit des Erzählens über das Rurale« (Moser 2018: 137) und die mediale Einhegung von Narrativen erschließt sich allerdings erst im letzten Kapitel, wenn die Figur Lucy Finkbeiner den Roman als journalistisches Rechercheprojekt rahmt. Mit diesem Programm einer dezidierten Multiperspektivität gelingt es Juli Zeh, die Heterogenität der Dorf- und Heimatkonzeptionen auszustellen. Verteidigen die einen ihre Dorfnormalität und die damit verbundenen Heimatassoziationen nach außen, fordern die Großstadtflüchtlinge ihr Recht auf das Heimisch-Werden auf dem Land ein. Wiederum andere grundieren ihren Heimat- als Naturschutz und machen ökologische Argumente gegen die Veränderung im Dorf geltend, wohingegen ihre Gegner beschwichtigen, dass nur durch technischen Fortschritt und Innovation Heimat am Leben erhalten werden könnte. Mit dieser Vielfalt von Heimatvorstellungen wird die Konfliktualität des Begriffs demonstriert. Denn erst wenn Heimat »einen Raum öffnet, in dem Streit unverborgen ausgetragen werden kann, hat [sie] eine Zukunft« (Hüppauf 2007: 138). Der Streit

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um die unterschiedliche Zukunft der Heimat in Unterleuten – wer welche Heimat für sich beanspruchen kann, welche Argumente gegeneinander abgewogen werden, was Heimat für (ökonomische, soziale, ökologische etc.) Zukunftsfähigkeit in Kauf nehmen muss, vor was Heimat bewahrt werden sollte – symbolisiert die antagonistische Pluralität. UNTERLEUTEN ist damit als radikal zeitdiagnostisches Projekt einer Literarisierung der Diskursivität von Heimat zu verstehen. Schlussbemerkungen Schon ein kursorischer Blick auf die Vielzahl gegenwärtiger Dorfbestseller zeigt, wie Dorf und Heimat miteinander in Bezug gesetzt werden. Man könnte sich fragen, warum eigentlich diese Aufmerksamkeit geschenkt wird: Warum werden im 21. Jahrhundert auffallend viele Erzählungen in Dorf- und Heimatkontexten verortet? Und warum reagiert die Forschung mit ebensolchem Interesse an diesen Themenkomplexen? Claudia Stockinger hat sich jüngst im Vorwort zum Themenheft PROVINZ ERZÄHLEN der Zeitschrift für Germanistik dieser Frage angenommen und auf vier Aspekte in diesem Zusammenhang aus germanistischer Perspektive aufmerksam gemacht: (1) die grundsätzliche Reaktionsbereitschaft der literaturwissenschaftlichen Forschung auf »Effekte fundamentaler ökonomischer Veränderungen« (Stockinger 2020: 296); (2) das Interesse an begrifflicher Differenzierung vor dem Hintergrund sich aktuell verändernder Kategorien und Zuschreibungen, wie etwa »der ›Rurbanisierung‹ oder der ›Glokalisierung‹« (ebd.); (3) die literaturwissenschaftliche Tradition, »sich regelmäßig mit den Ausformungen der bis in die Antike zurückreichenden Landlebendichtung und deren laus ruris-Elementen« zu befassen (ebd.: 297) sowie (4) die generelle Beschäftigung mit Gegenwartsliteratur, insbesondere mit dem aktuellen Trend der Dorf-Erzählung (ebd.: 298). Ergänzen ließen sich hier angesichts der gegenwärtigen Verzahnungen von Dorfund Heimatkomplexen sowie ihrer intrinsischen Zukunftsbezüge folgende tentativen Überlegungen. Wenn das Dorf als Mikrokosmos und »Reduktionsmodell« (Schönert 2002: 339) den »Topos der Überschaubarkeit« (Weiland 2018: 83) bedient und ›größere‹ Strukturen im ›Kleineren‹ sichtbar machen kann, dann stellt sich die Frage, ob es sich hierbei vielleicht um die literarische Ästhetisierung der postmodernen, technologisiserten Gegenwart handelt. Rückte der teleskopische Blick im 18./19. Jahrhundert weit entfernte Gegenstände und Konstellationen näher, könnten die aktuellen Dorfimaginationen als Imitation des digitaltechnologischen Blicks gelesen werden. Denn dieser ist oftmals mit der Suggestion verbunden, subkutane Muster zu erkennen und somit auf die komplexen Zusammenhänge eines vermeintlich ›Ganzen‹ (›die Gesellschaft‹) im ›Kleinen‹ (›das Dorf‹) schließen zu können (vgl. bspw. die Studien von Moretti). Insofern scheinen die Dorferzählungen der Gegenwart nicht nur

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aufgrund der Konjunktur des Heimatbegriffs und seiner Ambivalenz, sondern auch angesichts ihrer Simulation digitaltechnologischer Versprechen als Texte zur Verhandlung von Zukünften rekonzipierbar zu sein.

L ITERATUR Anz, Thomas (2017): »Heimatgefühle. Literarische Techniken der Emotionalisierung in der Repräsentation prototypischer Räume und Szenarien«, in: Garbiñe Iztueta u.a. (Hg.), Raum – Gefühl – Heimat. Literarische Repräsentationen nach 1945, Marburg: LiteraturWissenschaft.de, S. 17-36. Bastian, Andrea (1995): Der Heimat-Begriff. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung in verschiedenen Funktionsbereichen der deutschen Sprache, Tübingen: Niemeyer. Baur, Uwe (2007): »Dorfgeschichte«, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte gemeinsam mit Harald Fricke, Klaus Grubmüller und Jan-Dirk Müller, hg. von Klaus Weimar, Bd. 1, Berlin: De Gruyter, S. 390-392. Bausinger, Hermann (1990): »Heimat in einer offenen Gesellschaft. Begriffsgeschichte als Problemgeschichte«, in: Bundeszentrale für Politische Bildung (Hg.), Heimat. Analysen, Themen, Perspektive, Bonn, S. 76-90. Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bertels, Lothar (1997): Die dreiteilige Großstadt als Heimat. Ein Szenarium, Wiesbaden: Springer VS. Costadura, Eduardo/Ries, Klaus (2016): »Heimat – in Problemaufriss«, in: Dies. (Hg.), Heimat gestern und heute. Interdisziplinäre Perspektiven, Bielefeld: transcript, S. 7-24. Delabar, Walter (2017): »Wahr, irgendwie wahr oder sollte wahr sein. Juli Zehs Simulationsversuche im Umfeld des Romans UNTERLEUTEN«, in: Christiane Caemmerer/Walter Delabar/Helga Meise (Hg.), Fräuleinwunder. Zum Literarischen Nachleben eines Labels, Frankfurt a.M.: Peter Lang Verlag, S. 223-244. Gansel, Carsten (2014): »Von romantischen Landschaften, sozialistischen Dörfern und neuen Dorfromanen. Zur Inszenierung des Dörflichen in der deutschsprachigen Literatur zwischen Vormoderne und Spätmoderne«, in: Werner Nell/Marc Weiland (Hg.), Imaginäre Dörfer. Zur Wiederkehr des Dörflichen in Literatur, Film und Lebenswelt, Bielefeld: transcript, S. 197-225. Gebhard, Gunther/Geisler, Oliver/Schröter, Steffen (2007): »Heimatdenken: Konjunkturen und Konturen. Statt einer Einleitung«, in: Dies. (Hg.): Heimat. Konturen und Konjunkturen eines umstrittenen Konzepts, Bielefeld: transcript, S. 9-56.

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WEISST DOCH , WIE DIE

L EUTE

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Geographien der Einsamkeit Die seelische Kartierung bäuerlicher Welten in der Gegenwartsliteratur T HOMAS S TREIFENEDER , B ARBARA P IATTI

Ein Hof kommt unter den Hammer. Eine ländliche Zwangsversteigerung. Sie wird zum Kulminationspunkt der Geschichten. Über das Verlassenwerden. Über das Alleine-nicht-klar-kommen. Über öffentliche Entblößung und Erniedrigung vor den Nachbarn. Über die Existenz als Bauer, in und mit der Natur. Der Bauer Jean sinniert über sein Leben, während es zerpflückt wird und sich vor seinen Augen auflöst. Ein bäuerliches Schicksal und Psychogramm, das der Schweizer Schriftsteller JeanPierre Rochat – Aussteiger, Bauer und Pferdezüchter im Berner Jura – in NEBELSTREIF (2020) schildert. Ein tragisches Einzelschicksal auf dem Land!? Das würde man meinen. Doch leider nein. Es ist nur ein Beispiel für die prekäre Situation und mentale Verfasstheit einer ökonomisch gefährdeten und psychisch angeschlagenen Gruppe, die Rochats Roman auf eindrückliche Weise erfahrbar macht. Und damit von einer Realität erzählt, über die kaum gesprochen bzw. geschrieben wird – und die deshalb auch nur selten wahrgenommen wird. Aber genau das ist eben die Stärke der Literatur: Erzählen vom Ausgeblendeten, »Unsagbaren« oder schwer zu Fassenden. Und darum geht es in diesem Beitrag: Um Orte bäuerlicher und dörflicher Gemeinschaft, die sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und bis heute in Orte der Einsamkeit verwandelt haben. Mit Hilfe literarischer Texte wollen wir das Phänomen der Einsamkeit im ländlichen Raum besser verstehen. Wir wollen auf lesenswerte Werke über das Land aufmerksam machen; und zwar im Sinne dessen, was Peter Handke (1972: 19) meint, wenn er schreibt: »Ich erwarte von einem literarischen Werk eine Neuigkeit für mich, etwas, das mich, wenn auch geringfügig, ändert, etwas, das mir eine noch nicht gedachte, noch nicht bewusste Möglichkeit der Wirklichkeit bewusst macht, eine neue Möglichkeit zu sehen, zu sprechen, zu denken, zu existieren«.

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Die ganze emotionale, persönliche und familiäre Tragweite dessen, was sich auf den isolierten, ›abgehängten‹ und marginalisierten Bauernhöfen in Europa hinsichtlich der verschiedenen Formen der Einsamkeit ereignet, markiert zentrale Aspekte einer beispiellosen Umwälzung der gesellschaftlichen und familiären Strukturen im ländlichen Raum – eine Umwälzung, die gegenwärtig noch längst nicht abgeschlossen ist und auch noch in Zukunft die sozialräumlichen Ordnungen ruraler Lebenswelten mitbestimmen wird. Bauernhöfe sterben heute in vielen Fällen aus Einsamkeit, denn die Jungen, die Hofnachfolger, sind weg bzw. fehlen und irgendwann können die Alten nicht mehr. Dabei ist das Themenspektrum der Einsamkeiten auf dem Land von gesamtgesellschaftlicher Relevanz. Denn sind die Landwirte und Landwirtinnen, sind die kleinen, familiären Strukturen verschwunden, wird es menschlich leer und landschaftlich monoton auf dem Land. Das Land, die Umwelt und der größte Landnutzer, die Landwirtschaft, befinden sich in einer sehr kritischen Phase. Rufe nach einer dringend notwendigen Agrarwende mehren sich.1 Dabei sind sich viele Experten darüber einig, dass sich die Zukunft der Menschheit auf dem Land entscheidet. Hier werden u.a. die Lebensmittel produziert, hier sind mögliche Rückzugsorte, wenn die Küsten und Städte aufgrund von Epidemien, Hitze und steigendem Meeresspiegel unbewohnbar werden, und hier entscheidet sich, ob der Raubbau an der Natur und die Vernichtung der für den Menschen lebensnotwendigen Flora und Fauna gestoppt werden kann, auch um den Klimawandel zu begrenzen. Und nicht zuletzt: Da sehr viele Menschen aus den urbanen Ballungsräumen ihre Freizeit in ländlichen Räumen verbringen, sind intakte, naturnahe Erholungslandschaften ein wichtiger Teil der individuellen Lebensqualität. Es ist folglich von gesamtgesellschaftlichem Interesse, dass es ›dem‹ Land gut geht.

E INSAMKEITSRÄUME

IN DER

L ITERATUR

Persönliche, psychische und soziale Umstände und Schicksale machen Einsamkeiten und Einsamkeitsräume seit jeher zu herausragenden Themen der Literatur.2 Die

1

Siehe u.a. DIE BEREINIGUNG DER NATUR – DIE ZERSTÖRUNG DER LEBENSGRUNDLAGEN DURCH GLYPHOSAT UND CO von Josef Reichholf/Petersen (2021) und die Forderungen des

Naturschutzbund Deutschland (NABU) »Für eine naturverträgliche Agrarpolitik«: www.nabu.de/natur-und-landschaft/landnutzung/landwirtschaft/agrarpolitik/index.html. 2

Siehe etwa allein schon die Vielzahl an weltliterarischen Texten sowie Bestsellern, die Einsamkeit als Begriff im Titel tragen: EINSAME MENSCHEN (Hauptmann), HUNDERT JAHRE EINSAMKEIT (Garcia Marquez), DAS LABYRINTH DER EINSAMKEIT (Octavio Paz), DIE ERFINDUNG DER EINSAMKEIT (Auster), VOM ENDE DER EINSAMKEIT (Benedict Wells) etc. Die Literatur kennt viele freiwillige und unfreiwillige, selbst oder von anderen

G EOGRAPHIEN

DER

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Literatur verschiedener Epochen hält hierzu einen reichen Fundus an Werken bereit. Auch die Literaturwissenschaft hat sich mit den vielfältigen ländlichen Geographien der Einsamkeit beschäftigt.3 Der Topos »abgelegener Bauernhof, einsame Landwirte« ist, wie wir im Folgenden sehen, mit all seinen tragischen Konsequenzen in Romanen auffallend oft variiert worden. Man könnte sagen: ein thematischer Dauerbrenner. Lesenswerte Schätze sind zu heben – auf ein paar werden wir hinweisen4 –, die einen profunden Einblick in die emotionale Welt des Landlebens und speziell der Landwirte und Landwirtinnen geben. Doch während manche Dorfromane, berechtigt oder nicht, Bestseller wurden (siehe u.a. Piatti/Streifeneder 2021), verharren andere wie u.a. Jean-Pierre Rochats Erzählungen (NEBELSTREIF) in einer Nische oder warten, wie der frühe Öko-Roman STUMME NATUR (1939) von Cécile Lauber, auf Neuauflagen, die sehr zu begrüßen wären. Die Mechanismen des Buchmarkts sind komplex und schwer fassbar. Fehlt es an zeitgenössischen »Bauernschriftstellern« wie Rochat, die aus eigener Erfahrung authentisch berichten können? Oder ist es für ein überwiegend in den Städten lebendes Lesepublikum schlichtweg nicht aufregend genug, über ländliche Einsamkeitsschicksale zu lesen? Zumal es seine eigenen Probleme bereits von einem anderen Erzählmuster angesprochen sieht, das dem hier erörterten Thema gar diametral entgegengestellt ist und auch in der Gegenwartsliteratur immer wieder von Neuem Anklang findet. Dieses Erzählmuster setzt der urbanen Einsamkeit die rurale Gemeinschaftlichkeit entgegen; ihm zufolge finden gerade die in der Großstadt einsam gewordenen Protagonisten auf dem Land eine Linderung ihrer Einsamkeit.5 Davon

verfasste Robinsonaden. Wer zusammen mit Dino Buzzattis Offizier Giovanni Drogo die endlosen Stunden, Tage und schließlich Jahre der Einsamkeit auf einer abgeschiedenen Garnisonsfestung in der TATARENWÜSTE (1940) miterlebt hat, wird den atmosphärischen Sog des geschilderten Einsamkeitsraums nicht vergessen. 3

U.a. Parrinder (2017), Gösweiner (2010), Gibson (2000). Generell überrascht aber das geringe literaturwissenschaftliche Interesse an der Thematisierung von Fragen, die sich explizit mit den erzählten Räumen der Einsamkeit auseinandersetzen. Außerdem fehlt eine stärkere literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit erzählten Räumen der Provinz bzw. des Ländlichen mit Fokus auf Einsamkeiten.

4

Interessante Lektüretipps – bekannte und weniger bekannte Bücher – hat unter anderem auch Bound Alberti zusammengestellt, die selbst ein Sachbuch über Einsamkeit geschrieben hat: TOP 10 BOOKS ABOUT LONELINESS: https://www.theguardian.com/books/2019/ dec/25/top-10-books-about-loneliness.

5

Das funktioniert aber nur bedingt. Die auf der Suche nach ländlicher Gemeinschaftlichkeit aufs Land Getriebenen werden oft selbst wieder einsam (oder verharren in ihrer Einsamkeit), weil sie auf die »Wand« einer abgeschlossenen (eingeschworenen) Gesellschaft prallen, einer Gesellschaft, die scheinbar nur in ihrem Kreis der lange schon vor Ort

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berichten neben Filmen und Fernsehserien auch die Bestsellerromane der jüngeren Vergangenheit, seien es etwa Dörte Hansens ALTES LAND (2015) oder Juli Zehs ÜBER MENSCHEN (2021). Sie vermitteln damit nicht nur Identifikationsangebote, sondern gewissermaßen auch Optimismus; und zwar dahingehend, dass alle Leiden gelindert werden können – durch einen Umzug von der Stadt aufs Land. Allerdings handelt es sich dabei erneut um leichte Variationen bzw. Neuaneignungen kulturgeschichtlich bekannter Konstellationen, die mit dem Topos vom ›guten Leben auf dem Land‹ (vgl. Nell/Weiland 2021) verbunden sind. Aus der wachsenden Zahl der zeitgenössischen Dorf- und Landromane beleuchten wir Beispiele, in denen die Einsamkeit von Landwirten auf sehr unterschiedliche Weise dargestellt wird. Besonderes Augenmerk widmen wir dem räumlichen Setting als einem bedeutenden Teil der Narration, dem verschiedene Funktionen zukommen (siehe Ryan et al. 2016).6 Der Raum spielt eine entscheidende Rolle – etwa als Spiegel der seelischen Befindlichkeit und/oder als Bedingung davon:7 So entstehen die Geographien der Einsamkeit. Es werden Werke vorgestellt, die eindrückliche Einblicke ermöglichen und damit literarischen Zugang zu einem Bereich, der sehr

Ansässigen Gesellschaftlichkeit bietet. Wie in Daniel Mezgers LAND SPIELEN (2012) können sich die Neuankömmlinge nicht integrieren, werden enttäuscht und bleiben (einsam) unter sich. 6

Es geht uns hierbei nicht um eine narratologische Untersuchung des Einsamkeitsraums aus erzähltheoretischer Sicht unter verschiedenen Gesichtspunkten (siehe Bal 2017), sondern nach Victor/Pikhartova (2020) um die räumlichen Dimensionen, die sich aus der Einsamkeit als komplexes Konstrukt von drei zusammenhängenden Facetten ergeben: (a) intime Einsamkeit, (b) relationale Einsamkeit und (c) kollektive Einsamkeit (Cacioppo 2015). Diese drei Dimensionen stimmen mit den drei räumlichen Dimensionen überein, die den Aufmerksamkeitsraum umgeben: der intime Raum (der Raum, der eine Person am nächsten umgibt), der soziale Raum (der Raum, in dem sich die Menschen im Umgang mit Familie und Bekannten wohl fühlen) und der öffentliche Raum (ein eher anonymer Raum).

7

Dies zeigt sich etwa, um nur ein Beispiel zu nennen, in Cécile Laubers STUMME NATUR (1939) anhand einer interessanten Perspektivverschiebung. Hier wird die einsame Natur selbst zur Protagonistin, die sich an ihren Ausbeutern rächt und sich ihre Einsamkeit zurück erkämpft. Vor etwas mehr als 80 Jahren publiziert, ist das Werk in Anbetracht der gegenwärtigen Folgen des Anthropozäns und täglichen Naturkatastrophen eine frappierend aktuelle Parabel, eine frühe Mahnung einer aus dem Ruder gelaufenen Mensch-UmweltBeziehung. Aus dem Idyll wird hier die Hölle, denn der Mensch hat es nicht verstanden, so Lauber, der Natur »Kammern der Ruhe« (Lauber 1990: 28) zur Erholung zu lassen. »Nicht die Stille, aber die Einsamkeit hatte einen Sprung bekommen« (ebd.: 35) als die erste Hütte stand.

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DER

E INSAMKEIT

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persönlich und der Öffentlichkeit mitunter kaum zugänglich ist. Damit wollen wir einen Beitrag zu einem bisher wenig beachteten Aspekt im öffentlichen Diskurs leisten und zugleich ein literaturwissenschaftliches Forschungsthema skizzieren.8

E INSAMKEIT –

EIN

Z USTAND

SOZIALER

E NTFREMDUNG

Einsamkeit und Verlassenheit werden von vielen Wissenschaftlern als ernste mentale und körperliche Zivilisationskrankheiten angesehen.9 Wann ist ein Mensch »einsam«? Einsamkeit ist weniger als ein Zustand des Alleinseins und sozialer Isolation zu verstehen als vielmehr einer des sozialen Mangels, aber auch des Gefühls der Entfremdung von anderen.10 Sie erzeugt einen Zustand der Unzufriedenheit und Frustration aufgrund der Kluft zwischen erwarteter und real erfahrener sozialer Interaktion (Victor/Pikhartova 2020). Auch einschneidende persönliche, aber auch räumliche11 Veränderungen sind häufig Gründe, dass Einsamkeit entsteht. Konnektivität, die räumliche Verbindung und physische Nähe, also die schnelle Möglichkeit persönlicher Kontakte face-to-face und einfacher Zugang zur lokalen Gemeinschaft sind wesentliche Faktoren für Wohlbefinden, die, falls sie fehlen, Einsamkeit verursachen

8

Bei den Geographien der Einsamkeit knüpfen wir an unseren in Nell/Weiland (2021) vorgestellten und sich u.a. am Konzept des Ecocriticism orientierenden Ansatz des »Rural Criticism« an (Piatti/Streifeneder 2021), wobei wir hier die Problemstellung auf eine Untersuchung des Motivkomplexes der Einsamkeiten auf dem Land bzw. auf dem Bauernhof begrenzen.

9

Mancher sieht sie in Westeuropa gar als die häufigste Todesursache (Spitzer 2018). Die sinkende Lebenserwartung durch Einsamkeit wird mit dem Effekt des Rauchens von 15 Zigaretten am Tag verglichen (Hammerstein/Hoffman 2020).

10 Einsamkeit wird dabei definiert als »enduring condition of emotional distress that arises when a person feels estranged from, misunderstood, or rejected by others and/or lacks appropriate social partners for desired activities, particularly activities that provide a sense of social integration and opportunities for emotional intimacy« (Andersson 1998: 265, zit. nach Bound Alberti 2019: 5). Einsamkeit als ein »feeling of lack or loss of companionship« oder als »the pain of being alone« steht der »solitude«, dem Alleinsein, als »the glory of being alone« (Vincent 2020: 223) entgegen. »The most succinct definition of loneliness is failed solitude« (ebd.: 223). 11 So bezeichnet z.B. Solastalgie ein Einsamkeitsgefühl, das aufgrund des Verlustes von Räumen bzw. Landschaften entsteht, wie sie etwa durch den Klimawandel verloren gehen oder bis zur Unkenntlichkeit verändert wurden (Galway et al. 2019).

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(Smith 2015).12 Es gibt aber auch eine andere Seite, den positiven emotionalen Zustand des Allein-Seins (»lonely«) und Mit-sich-Eins-Seins (»oneliness«) (Bound Alberti 2019: 223).13 In psychologischen Studien stehen persönliche Merkmale sowie die sozialen Umstände einsamer Menschen im Zusammenhang mit sozialer Isolation und Einsamkeit häufig im Fokus.14 Emotionale und psychologische Gesichtspunkte in Verbindung mit fehlenden sozialen Interaktionen oder berauschenden Erfahrungen des Alleinseins dominieren Fragen, wo sich einsame Menschen befinden und welche

12 Mehr über die komplexen Ursachen und Bedingungen sowie rezente Entwicklungen siehe Hertz (2021): THE LONELY COUNTRY, Vincent (2020): A HISTORY OF SOLITUDE und Bound Alberti (2019): A BIOGRAPHY OF LONELINESS: THE HISTORY OF AN EMOTION. Darüber hinaus existieren zahlreiche kenntnisreiche Reportagen, Interviews, Dokumentarfilme; vgl. u.a. Deutsche Welle (2020), Kulturzeit (2020), Scobel (2019), 3SAT (2019). Eine besonders eindrückliche Auseinandersetzung mit dem Thema gelingt der Arte-Dokumentation BURNOUT AUF DEM BAUERNHOF – LANDWIRTE IN EXISTENZNOT (2020). 13 Siehe u.a. den Bericht DAS WILDE GLÜCK DES EREMITEN (Kagermeier 2020). Das Alleinsein bildet einen kultur- und mentalitätsgeschichtlich immer wieder angesprochenen und neu erzählten Topos. In nahezu eskapistischer Weise wird sie von Menschen geradezu gesucht, sei es in der Wildnis oder in der unberührten Natur, im Kloster oder in den eigenen vier Wänden; und zwar auch in der (modernen) Sehnsucht, ungestört und unabgelenkt alleine mit sich zu sein, zur Ruhe zu kommen, achtsamer im Jetzt zu leben. Schon Petrarca hat in DE VITA SOLITARIA (1346-1356) von den positiven Wirkungen der von urbanen Zerstreuungen ungestörten meditativen Zurückgezogenheit in stillen Landschaften berichtet. Das tun auch internationale Literaturen in schillernder Weise; man denke nur an ältere und jüngere Klassiker des Nature Writing und der eskapistischen Literatur wie etwa Henry David Thoreaus WALDEN (1854), John Haines THE STARS, THE SNOW, THE FIRE: TWENTYFIVE YEARS IN THE

ALASKA WILDERNESS (1977) oder Jon Krakauers INTO THE WILD

(1996). Erkenntnis des Selbst und, durch Abstand, der Welt ist hierbei immer wieder das selbsterklärte Ziel. Aber auch weitere Genres wie etwa die Autobiografie basieren mitunter auf einer positiven Einsamkeitskonzeption, die die Erkenntnis des eigenen Selbst abseits des Gesellschaftlichen überhaupt erst ermöglicht. Davon berichten ebenfalls sowohl Klassiker wie etwa Rousseaus BEKENNTNISSE (1782, geschrieben zwischen 1765 und 1770) oder seine späteren TRÄUMEREIEN EINES EINSAMEN SPAZIERGÄNGERS (1782, unvollendet, geschrieben zwischen 1776 und 1778) als auch (post)moderne Texte wie etwa Paul Austers THE INVENTION OF SOLITUDE (1982). 14 Siehe Ellard (2017), der verschiedenste Räume und Orte in Bezug auf einen Gemütszustand untersucht (Ort der Zuneigung, der Lust, der Langeweile etc.), die Interrelation zwischen Raum und Einsamkeit bzw. Alleinsein jedoch interessanterweise ausgeklammert.

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Emotionen durch den Raum hervorgerufen werden.15 Dabei beeinflusst der Ort, die Geographie, wesentlich die Erfahrung von Einsamkeit, wie Bound Alberti (2019) am Beispiel ihrer Kindheit in der ländlichen Peripherie von Wales ausführt. Zweifellos werden wir von dem uns umgebenden Raum, gerade in einem Zustand der Einsamkeit und des Alleinseins, unbewusst und bewusst berührt und beeinflusst.16 Oder besser: Kaum ein anderer Gemütszustand ist so stark mit dem Räumlichen konnotiert wie Einsamkeit:17 »Und wenn alle Räume unserer Einsamkeit hinter uns zurückgeblieben sind, bleiben doch die Räume, wo wir Einsamkeit erlitten, genossen, herbeigesehnt oder verraten haben, in uns unauslöschlich« (Bachelard 1987: 169).18

P ANDEMISCHE E INSAMKEIT ? Einsame oder allein lebende Menschen scheinen, einer emotionalen Gravur gleich, der Postmoderne eingeschrieben zu sein, den allgegenwärtigen sozialen Medien und der ununterbrochenen medialen Vernetzung zum Trotz. Unerwünschte Einsamkeit und ein Gefühl des Verlassenseins sind heute weit verbreitete Phänomene.19 Es mag

15 Ausnahmen sind u.a.: Smith (2015), Buecker et al. (2020). 16 Wie Raum bzw. Raumgestaltung auf Emotionen und Verhalten von Menschen wirkt, wie dieser/diese von ihnen perzipiert oder aufgrund von Erfahrungen bewertet wird – nicht zu sprechen von Lefebvres sozialer Konstruktion von Raum –, damit beschäftigen sich unter anderem die Disziplinen und Theorien der Wahrnehmungsgeographie, Raumsoziologie, sozialräumlichen Entwicklungsforschung sowie der dynamischen und relationalen Sozialraumforschung. Hinzuweisen ist insbesondere auch auf die Psychogeographie und die gleichnamigen Werke von Lobkowitz (2020) und dem bereits zitierten Ellard (2017). Siehe auch Sidaway (2021) über Trajektorien, Verbindungen und Affinitäten der Psychogeographie, insbesondere mit dem (New) Nature Writing. 17 In der Literatur im Rahmen des Definitionsprozesses von Orten oft als »sense of place« (Ortsverbundenheit, Topophilie) bezeichnet, worunter eine emotionale, affektive Verbindung von Menschen und bestimmten Orten aber auch der spezifische, unverwechselbare Charakter eines Ortes verstanden wird mit Verbindungen zu verwandten Konzepten wie ›spirit of place‹ oder ›genius loci‹ (Ryan et al 2016: 7). 18 In diesem Zusammenhang sei an Petrarcas CANZONIERE (1336-1374) erinnert, in dem die Landschaft der Vaucluse Spiegel der Gemütsverfassung des einsamen, unglücklich Laura-Liebenden ist. 19 Bei der Beurteilung der Dimensionen von Einsamkeit ist jedoch Vorsicht geboten (Vincent 2020: 220ff.). Einsamkeit wird nach Vincent als pandemisches Phänomen überschätzt und die Statistiken widersprechen sich; vielmehr zeigen Langzeitstudien zum Beispiel zu älteren Menschen über 65 Jahren, dass der Anteil jener, die sich einsam fühlen,

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den Anschein haben, dass sie die »condition humaine« der postmodernen Gesellschaft und des postmodernen Menschen sind.20 Die Rahmenbedingungen der Moderne und Postmoderne haben mit ihren individualisierten Lebensmodellen21 und ihrem nahezu auf Dauer gestellten sozioökonomischen Strukturwandel Einsamkeit gesät.22 Wo vorher Orte der Gemeinschaft waren, entstanden – und entstehen auch weiterhin23 – postmoderne Orte der Einsamkeit. Die Umstände und Schicksale der multiplen Einsamkeiten hinterlassen, je nach Auslegung der statistischen Daten, mal größere, mal kleinere Narben im Bewusstsein der nach Selbstoptimierung hetzenden und nach Lebensglück strebenden Gesellschaft. Einsamkeiten laufen im Hintergrund der öffentlichen Wahrnehmung unbemerkt mit. Sie sind ein – jedenfalls mit Blick auf den ländlichen Raum, um den

seit vielen Jahrzehnten stabil zwischen 5 bis 15 % liegt (ebd.: 222). Vor dem Hintergrund demographischer Entwicklungen und zunehmender Haushalte sei nach Vincent (ebd.) die Frage vielmehr, warum sich so wenige einsam fühlen. 20 Jedenfalls steigt in vielen Dienstleistungsgesellschaften wie Deutschland die sogenannte Einsamkeitsquote. Laut Bundesregierung fühlten sich im Jahr 2017 9,2 % der Menschen zwischen 45 und 84 Jahren einsam; dieser Wert stieg seit 2011 um rund 15 Prozent (Welt 2019). Das sind allein in Deutschland zwischen dreieinhalb und vier Millionen Menschen (bpb 2020). Andere Schätzungen nennen 5 bis 10 % der Erwachsenen in Deutschland, die sehr häufig einsam sind (Luhmann 2021). In Amerika fühlen sich rund 50 %, in Australien drei von zehn Menschen einsam (Baker 2012). 21 Found Alberti (2019: xi) spricht in diesem Zusammenhang das heute im Vergleich zu früheren Jahrhunderten fehlende metaphysische »narrative framework« an und sieht einen starken Zusammenhang zwischen unserem Zeitalter des Individualismus und dem pandemischen Aufkommen von Einsamkeit: »We are suspended in universes of our making in the twenty-first century, in which the certainty of the self and one´s uniqueness matters far more than any collective sense of belonging.« Monbiot (2016) sieht den Neoliberalismus gar als Einsamkeitsmacher: https://www.theguardian.com/commentisfree/2016/oct/12/ neoliberalism-creating-loneliness-wrenching-society-apart (23.09.2021). 22 Der Singlehaushalt ist zur Signatur spätkapitalistischer Gesellschaften geworden. Laut Prognosen des Statistischen Bundesamts werden in der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2040 fast die Hälfte aller Haushalte Einpersonenhaushalte sein, wodurch etwa knapp ein Viertel aller in Privathaushalten lebenden Menschen alleine wohnen wird (Destatis 2020). 23 Lebten im Jahr 1991 noch 33,6 % der Bundesbürger/innen allein (11,85 Mio.) so waren es im Jahr 2018 bereits 41,9 % (17,56 Mio.); im Jahr 2040 sollen es dann, so die Hochrechnung, 45,3 % sein (vgl. Destatis 2020, Statista 2020a). Unter Experten besteht kaum Zweifel, dass das Leben allein und entfernt von der Familie zukünftig eher noch zunehmen wird (Snell 2017).

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es hier geht – zu wenig perzipiertes chronisches Phänomen der sozialen Psyche, das nur gelegentlich in den Schlagzeilen aufflackert.24 Doch mittlerweile haben auch manche Entscheidungsträger die Brisanz des Themas verstanden und es prominent auf die politische Agenda gesetzt.25 Sie haben erkannt, dass die demographischen und sozioökonomischen Entwicklungen Einsamkeit auch in Zukunft zu dem gesellschaftlichen Thema machen. ›Dem‹ ländlichen Raum, um den es im Folgenden geht, wird kaum Aufmerksamkeit geschenkt; einem Raum, der gekennzeichnet ist vom demographischen Wandel, der die Überalterung auf dem Dorf durch die Abwanderung der Jungen brachte, wo sich gar nicht so selten entleerte und leer stehende Häuser im Dorfzentrum befinden und vielerorts Gasthäuser und Einrichtungen der Daseinsvorsorge fehlen. Das ›abgehängte‹ Land (vgl. dazu Hahne 2021) entpuppt sich also nicht von ungefähr als ein postmoderner Hotspot der Einsamkeit, wobei eine in diesem Zusammenhang wenig beachtete Randgruppe besonders betroffen bzw. gefährdet ist, nämlich die Bäuerinnen und Bauern. Vor allem in den peripheren, dünn besiedelten oder entvölkerten Gegenden, die weitab von der nächsten Gemeinde oder Gastwirtschaft liegen. Die gibt es nicht nur in den Highlands, in der Hochebene Kastiliens und in Skandinavien, sondern auch im Zentrum Europas, in den Alpen, im Massif Central, in der Poebene und in Mecklenburg-Vorpommern. Dabei ist durchaus zu überlegen, ob mit dieser räumlichen (Neu-)Verortung zugleich auch neue Dimensionen und Phänomene von Einsamkeit, die in der (Post-)Moderne vorwiegend in den Großstädten und Metropolen gesehen und erzählt wurde, verbunden sind.

24 Dann lenken mediale Berichterstattungen ihren Blick auf Zahlen oder auf ein besonders verzweifeltes oder faszinierendes Schicksal, das mitunter als stellvertretend und paradigmatisch gedeutet wird. Davon künden Schlagzeilen wie »Epidemie Einsamkeit« (Hager 2020), »Corona als Brandbeschleuniger der Einsamkeit« (Schröder 2019) oder »Endstation Einsamkeit« (Welt 2019). 25 Zu einer weltweiten medialen Aufmerksamkeit führte im Oktober 2018 die Ernennung einer britischen Einsamkeitsministerin (siehe Minister for Loneliness: https://www.gov. uk/government/collections/governments-work-on-tackling-loneliness).

Ebenfalls

seit

2018 gibt es in Neuseeland einen Loneliness New Zealand Charitable Trust, der umfangreiche Informationen rund um das Thema Einsamkeit publiziert (siehe Welcome to Loneliness NZ: https://loneliness.org.nz/). In Großbritannien werden zudem »Loneliness Maps« erstellt, die das relative Risiko der Einsamkeit gebietsweise kartieren (siehe Loneliness Maps: https://www.ageuk.org.uk/our-impact/policy-research/loneliness-researchand-resources/loneliness-maps/).

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D ER E INSAMKEITS -H OTSPOT B AUERNHOF Das öffentliche Image der vermeintlich mit Subventionen verhätschelten, pestizidesprühenden und gülleausbringenden Landwirtschaft scheint angeschlagen. Die Auseinandersetzungen über die Zukunft der Landwirtschaft wird mit immer härteren Bandagen und Methoden geführt.26 Nur wenige aber haben eine Ahnung von den wirklichen psychischen und mentalen Nöten und Schwierigkeiten eines Sektors, der seit 1975 insgesamt ca. 70 % seiner Betriebe verloren hat (Statista 2020b).27 Anstelle kleiner Familienbetriebe wird der Platz frei für immer größere Agrarunternehmen.28 Heute sitzt der Bauer allein auf seinem gefederten Sitz mit Massagefunktion, Belüftung und Heizung in seinem fast 700 PS-starken29 mit Internet und GPS ausgestatteten Traktor, wie er auch allein praktisch alles machen kann auf Höfen und Flächen, die früher von der Bevölkerung ganzer Weiler bewirtschaftet wurden.30 Generell sind die von hohen Investitionen getriebenen betriebswirtschaftlichen, zeitlichen und finanziellen Belastungen in der modernen Landwirtschaft sehr groß.31 Hinzu kommen die gesellschaftlich geforderten Anpassungen an Klimaziele und eine

26 Siehe die ausführlichen Informationen über den »Pestizidprozess« in Südtirol gegen Alexander Schiebel, den Autor des Buches DAS WUNDER VON MALS (2017), in dessen Folge auch dem oekom-Verleger Jacob Radloff ein Gerichtsverfahren drohte: https://www.oekom.de/themen/pestizidprozess-das-wunder-von-mals-vor-gericht/c-340. Hinweisen wollen wir auch auf die Drohungen und den Vandalismus im Rahmen der Schweizer Agrar- und Trinkwasserinitiativen: https://www.srf.ch/news/abstimmungen-13juni-2021/initiative-pestizidverbot/agrarinitiativen-nationalrat-kilian-baumann-sagt-wegen-drohungen-alle-auftritte-ab. 27 Wenngleich das Verschwinden von (Agrar-)Landschaften literarisch und medial vielfach erzählt wird (Ehrler/Weiland 2018). 28 In Deutschland bewirtschaften mittlerweile 3% der Landwirte 50% der Fläche (Reichholf/ Petersen 2021). 29 Diese Ausstattung haben z.B. die neuesten und stärksten John Deere oder Fendt Traktoren (»Rekordhirsche«); vgl.: https://www.agrarheute.com/traction/news/691-psdeeres-neue-serie-9-578749. 30 Wurden im Jahr 1900 noch 30,6 Arbeitskräfte benötigt, um 100 ha zu bewirtschaften, so waren es Anfang des 21. Jahrhunderts nur noch 3,5 Arbeitskräfte (vgl. Plieninger/Bens/Hüttl 2006). 31 U.a. tragen hierzu auch die agrarpolitischen Rahmenbedingungen und das Kapriolen schlagende Wetter bei: Erst Trockenheit, dann Schneestürme und nun der Brexit, der »eine ›tickende Zeitbombe‹ in der Bauernschaft Großbritanniens geschaffen hat« (Parveen 2019). Die Situation ist für viele Landwirte zermürbend, aber vor allem in marginalisierten Gebiete Europas charakteristisch.

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stärker ökologisch ausgerichtete Landwirtschaft. Oft sind die geschilderten Folgen tragischer und dramatischer als ein chronischer Burnout oder Depressionen.32 Selbstmorde sind schon längst keine Einzelfälle mehr. Burleigh (2017) spricht für Großbritannien von »quieter suicide epidemic«, auch weil im Vergleich zur Gesamtbevölkerung durchschnittlich wesentlich mehr Landwirte Selbstmord begehen (in den USA sogar doppelt so viele). Die Daten zeichnen ein erschreckendes Bild von wöchentlichen Suiziden in vielen Ländern der Welt (Becquart/Davis 2019; Michalopoulos 2018; Yusuf 2018). Einsamkeit ist fast immer eine der Hauptursachen (ebd.). Über 90 % der britischen Landwirte erklären zum Beispiel, dass Einsamkeit der Hauptgrund für psychische Probleme ist (Farmers Guardian 2020). Betroffen sind insbesondere alleinstehende ältere Landwirte. Aber auch partnerlose Jungbauern und Frauen gehören zur gefährdeten Gruppe. Informationen über einsame Frauen auf dem Land sind rar. Manche Berichte, wie auch die Schilderungen in den vorgestellten Werken, lassen jedoch aufhorchen.33 Deshalb schlagen Einsamkeitsforscher Alarm: Ländliche Einsamkeit ist überall zu finden. Durch eingeschränkte soziale Kontakte, die meist allein ausgeführten Arbeiten und die starke gesellschaftliche Konzentration auf Partner oder Familie als Idealbild, ist ein Umfeld, das von außen als ländlich-idyllisch mit stark ausgeprägtem Gemeinschaftssinn angesehen wird, für viele zu einem traumatischen mutiert. Entweder weil die Menschen schon einsam oder einander auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind. Einsamkeit und Alleinsein gehören zum ländlichen Raum und zum Leben und Arbeiten des Bauern. Wenn aber keine Geselligkeit mehr möglich ist, auch weil die Dörfer sich entleeren, die sozialen Strukturen zerfallen und auch die letzte Gaststätte zusperrt, dann wird es schwierig. Der Loneliness New Zealand Charitable Trust stellt fest: »Loneliness is a function of place. Direct face-to-face communication is an important way of building meaningful connections, which reduce loneliness. However, direct face-to-face

32 Siehe zum Thema Burn-Out und Depressionen unter Landwirten: https://www.agrarheute.com/land-leben/burn-out-depressionen-landwirten-574126. Viele Bauern werden durch ihren Beruf aber nicht nur psychisch, sondern auch körperlich krank. So wird in Frankreich die durch Pflanzenschutzmittel entstehende Parkinsonerkrankung mittels Dekret als Berufskrankheit akzeptiert (https://www.agrarheute.com/land-leben/frankreichparkinson-berufskrankheit-anerkannt-511913). 33 Das zeigen zum Beispiel Berichte aus Großbritannien (https://assets.publishing. service.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/file/809467/farmerreview-women.PDF) und Neuseeland (https://www.stuff.co.nz/business/farming/8416 3636/isolation-major-problem-for-rural-women).

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communications requires individuals to be in one place. Therefore, the ability for two individuals to be in the same place influences the ability to form meaningful connections and reduce loneliness« (Loneliness New Zealand Charitable Trust 2020).

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G EGENWARTSLITERATUR

Der physisch und psychisch herausfordernde ländliche Alltag ist in lesenswerten zeitgenössischen Werken durchaus präsent. International Furore machte THE SHEPHERD´S LIFE (2016, dt. MEIN LEBEN ALS SCHÄFER, 2017) von James Rebanks. Auch wenn dieses Buch mehr Autobiographie als Roman ist, ist dem Autor etwas Bemerkenswertes gelungen. Rebanks hat in und mit seinem Buch auf eindrückliche Weise den Schäfern und Schafzüchtern des Lake Districts – einer Welt von Einzelgängern, von einzelnen Familien –, ihrem harten Alltag, ihren Sorgen und Nöten, aber auch ihrer Tradition und ihren Kompetenzen, die in einer organischen Symbiose mit ihrer Kulturlandschaft stehen, ein literarisches Denkmal gesetzt.34 Nicht zuletzt durch seine kritische Auseinandersetzung mit den touristischen Folgen für den Lake District – hervorgerufen durch William Wordsworths romantische Literatur und einem hieraus resultierendem öffentlichen Image der Region als außergewöhnlich pittoreske (Natur-)Landschaft, das kaum etwas von der beinharten Lebensrealität in dieser rauhen Kulturlandschaft erahnen lässt –, wurde Rebanks die realitätsbildende und -prägende ›Macht der Literatur‹ bewusst. Denn »if books define places, then writing books was important, and that we needed books by us and about us« (Rebanks 2016: 9). Einsamste Einsamkeit Zunächst fällt bei den untersuchten Werken auf, dass viele Höfe und Orte selbst für einen dünn besiedelten ländlichen Raum besonders einsam erscheinen. Sie finden sich kaum mit dem GPS,35 liegen weit abgelegen hoch oben am Talschluss in den

34 Ähnliches gelingt Uta Ruge mit ihrem ebenfalls autobiographisch gehaltenen Bericht über die norddeutsch-niedersächsischen Moorbauern in BAUERN, LAND (2020) und auch Roy Jacobsen mit seinem belletristischen Epos DIE UNSICHTBAREN (2014) über eine Bauernfamilie auf den Lofoten. 35 Zentrale Handlungsorte in Michel Houellebecqs SEROTONIN (2019) sind die Burg und das bäuerliche Gut von Olonde in einer entlegenen normannischen Provinz sowie eine verlassene Feriensiedlung an der dortigen Atlantikküste.

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Bergen36 oder bilden den letzten Bergweiler des Tales.37 Diese abgeschlossenen, eng begrenzten Orte38 sind nicht nur im Nirgendwo. Vielmehr zeigen Gebäude, Menschen und Landschaft immer auch Verfall und Verbrauchtheit an, was die Atmosphäre des Verlassenseins weiter akzentuiert. Damit korrelieren sie mit den geschilderten Themen, sind häufig auch Spiegel der desolaten oder bedrängenden persönlichen und/oder wirtschaftlichen Situation der Figuren, so etwa in SEROTONIN der von der Partnerin verlassene Bauer, der kurz vor dem Ruin steht, in DIE ANNONCE die Frau und neue Partnerin des Landwirts aus dem Norden in der Auvergne, die mit ihrem Sohn einbricht in ein stark etabliertes Onkel-Nichte-Beziehungsnetz, und in ACHT BERGE Bruno, der sich aus der kommunalen Gesellschaft ins Abseits manövriert hat und nun weit oben in den Bergen mit einer Alm sein Glück als Milchbauer und Käser versucht und schließlich scheitert. Auch in Reinhard Kaiser-Mühleckers FREMDE SEELE, DUNKLER WALD (2016) verstärkt der durch irre Spekulationen des Vaters Feldstück für Feldstück schrumpfende und von großen finanziellen Sorgen gebeutelte Bauernhof die Dysfunktionalität und krasse Beziehungsunfähigkeit der Figuren. Besonders gelungen ist die Einheit von Einsamkeit und Verlassenheit, Handlung und Figuren in Del Amos TIERREICH (2019). Der Roman evoziert einen eindrücklichen Reigen von Bildern des Naturalismus und Realismus ländlicher Einsamkeitsszenen, die in ihrer Intensität etwa an künstlerische Werke von Constantin

36 In Paolo Cognettis ACHT BERGE (2017) spielt die Handlung im kleinen Weiler Grana und bei einer hoch über dem Weiler gelegenen und nur zu Fuß zu erreichenden Almhütte im Gebiet des Monte Rosa. 37 Marie-Hélène Lafons DIE ANNONCE (2020) spielt, wie schon der Klappentext verrät, mitten im Nirgendwo der Auvergne im Zentralmassiv auf tausend Metern in Friedères/Cantal. Fabio Andina entführt den Leser in TAGE MIT FELICE (2020) in ein Tessiner Bergdorf des Bleniotals. In den engen und steilen Gassen stehen wenige alte Steinhäuser, zu denen eine lange serpentinenreiche Straße führt. Der Roman NEBELSTREIF (2020) von Jean-Pierre Rochat sieht im Zentrum seines Geschehens einen Bauernhof im Jura. Auch dieser Ort erscheint ähnlich wie jener in DIE ANNONCE als ein marginaler, am Waldrand liegend, weit entfernt von anderen Bauernhöfen am Ende einer schmalen Landstraße. 38 Metaphorisch figurieren sie damit einerseits als ›Containerräume‹ klar nach außen abgegrenzter Lebensräume mit spezifischen real-lebensweltlichen Charakteristiken ländlicher Orte, die teilweise relativ eindeutig lokalisierbar sind. Andererseits korrespondieren die auch aufgrund ihrer geographischen Lage als ›typisch‹ einsam gelegenen Räume symbolisch mit den einsamen in ihnen agierenden Protagonisten und schaffen somit ein realweltliches räumliches Setting, das beim Leser entsprechende Assoziationen – Einsamkeit, Verlassenheit, Abgelegenheit etc. –, aber auch (stereo)typische soziale Aspekte ländlicher Gemeinschaften – u.a. Abgeschlossenheit und Konservatismus – evozieren.

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Meunier (DER SÄMANN, Monumentalskulptur in Bronze, 1896) und Jean Francois Millet (DAS ANGELUSLEUTEN, Ölgemälde, 1859) erinnern. Erfüllende und desolate Einsamkeiten Es gibt selbstverständlich auch die andere Seite der bäuerlichen Einsamkeit, ein Alleinsein, wo die intensive Beziehung zur Natur, zu jahreszeitlichen Veränderungen, Tieren und Landschaft erfüllend ist und glücklich macht.39 Wie bereits zu Beginn erwähnt, hat der Schweizer Schriftsteller Jean-Pierre Rochat, selbst Bergbauer und Züchter von Pferden, dieses Gefühl mit NEBELSTREIF (2020) erst kürzlich eindrucksvoll beschrieben. Stilistisch sehr gelungen, konfrontiert er das Glück des Lebens als Bauer mit einem der wohl tragischsten Erlebnisse, das einem Bauern widerfahren kann: der Zwangsversteigerung von Hof und Vieh. Es ist eine extrem desolate Situation: Als Leser ist man der Psyche und dem Schicksal eines Bauern selten näher. Es ist eine introspektive Reise, literarisch geformt als innerer Monolog eines Bauern, der – nachdem er von seiner Frau verlassen wurde – mit der vielen Arbeit und der Situation des Verlassenseins nicht mehr zurechtkommt. Gerade durch die vom Bauern Jean Grosjean wieder durchlebten Erinnerungen an frühere Zeiten – mittels mehrerer stilistisch reizvoller Erinnerungsaperçus – ist der Roman gleichzeitig auch eine Hymne an die in der Natur und mit Maschine und Tieren verbrachte einsame bäuerliche Glückseligkeit, die eine vitale Partnerschaft aber voraussetzt. Dieser Gegensatz zwischen der realen persönlichen und wirtschaftlichen Situation – der physischen Auflösung von Hab und Gut – und der psychischen Verfassung des Verlassenen mit der traurigen Aussicht des Nichtwissens bzgl. der Frage ›Wohin nun?‹, macht Rochats Roman zu einem mehrschichtigen, eindrücklichen Einsamkeitsdrama. Die große Einsamkeit bei Rochat ist also eine vielfache: eine geographische, körperliche, psychische und zeitliche. Sie ergibt sich aus der Abgeschiedenheit des Bauernhofes und dem hieraus resultierendem einsamen Leben, aus der Einsamkeit des von der Frau Verlassenen sowie aus den Erinnerungen an eine unwiederbringliche glückliche Vergangenheit. All das verstärkt als Kontrastfolie die aktuelle Situation weiter – so dass er, ohne Hof und Tiere, so einsam sein wird, dass auf Erden kein Platz für ihn ist und ihm der Selbstmord die einzige Lösung scheint. Rochat wechselt

39 Ebenso in einem der Klassiker des Genres: SEGEN DER ERDE (1917) von Knut Hamsun. Auch in Felix Timmermanns BAUERNPSALM (1935) gibt es nichts Schöneres als das sehr körperlich erfahrene, anstrengende, aber lebenspralle Bauernleben. Die Ambivalenz eines solchen Lebens kommt jedoch in Anna Wimschneiders HERBSTMILCH am Ende ihres Lebens als Bäuerin zum Ausdruck: »Wenn ich noch einmal zur Welt käme, eine Bäuerin würde ich nicht mehr werden.« (Wimschneider [1984] 2015: 202)

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geschickt von der intimen Einsamkeit (der Schilderung des Lebens auf dem Hof und mit den Tieren) zur relationalen/sozialen Einsamkeit (Partnerschaft) und bettet sie ein in die öffentliche (und auf ihn schließlich zerstörerisch wirkende) Einsamkeit (in Form einer von zahlreichen Menschen besuchten Versteigerung). Die Einsamkeit der Bergdörfer und ihrer Bauern Naturverbundenheit und Einfachheit sind die atmosphärischen Elemente der Einsamkeit40 eines Tessiner Bergdorfs und seiner bäuerlichen Bevölkerung im Bleniotal. Die intime Einsamkeit während eines eiskalten Bads in einer Gumpe oberhalb des Dorfes, bei jedem Wetter im Morgengrauen, wird von Fabio Andina in TAGE MIT FELICE (2020) als eine beglückende und demütig stimmende geschildert. Es handelt sich hierbei um eine einfache, aber in jedem alltäglichen Detail durchdachte und vernünftig gelebte Einsamkeit, die als romantischer Gegenpol zur Postmoderne gelesen werden kann – wobei sie jedoch keinesfalls als eine verklärende Gegenwelt erscheint, da sie zugleich auch mit Schilderungen eines harten und entbehrungsreichen Lebens oben in den Bergen durchzogen ist.41 Ein Leben, das auf den zufrieden stimmenden Grundwerten – Nachbarschaftshilfe, Ehrlichkeit, Direktheit, Zusammenhalt, Zusammensein – eines kleinen Bergdorfes aufbaut. Jeder geht seinen bäuerlichen, ländlichen Verpflichtungen nach, die den Tag strukturieren und eine zyklische Regelmäßigkeit erzeugen; und zwar jeder für sich, sich teilweise willentlich abschottend, auf seine intime Einsamkeit beharrend, seine Einsamkeit auch einfordernd, was von den anderen respektiert wird. Die intime Einsamkeit ist eine, die im Lot ist. Sie wird von Fabio Andina anhand der geschilderten Individualisten, der Bergdorfbewohner, einfühlsam zelebriert. Die öffentliche Einsamkeit ist im Lot, weil alle intimen Einsamkeiten im Lot sind (weil allein ›glücklich‹). Man ist einsam (alleine), aber doch Teil einer Gemeinschaft, auf die man sich stillschweigend

40 Eine andere Lesart wäre, die geschilderten Lebensweisen eher als solche des Alleinseins zu interpretieren. Zwar scheinen die Protagonisten zufrieden (oder besser: schicksalsergeben). Ob sie aber ihre Situation im Sinne der weiter oben präsentierten Definition von ›Alleinsein‹ als beglückend empfinden? Oder ist diese Zufriedenheit in ihrem Weltbild gleichbedeutend mit Glück? 41 Es sind wohl diese herausfordernden Bedingungen, die Frischluft- und Einsamkeitsfanatiker Chris McCandless in Jon Krakauers INTO THE WILD und Henry David Thoreau in WALDEN in die Einsamkeit treiben: ein einfaches, autarkes Leben in einer weitgehend unberührten, wilden Natur, (bei Thoreau scheinbar) fernab der Zivilisation. Dieses Gefühl eint Eskapisten und Bauern. Kaum ein Erlebnis ist intensiver und schafft mehr Erfüllung, so die zugrunde liegende Annahme, als sich allein mit den Widrigkeiten und Bedingungen der Natur zu arrangieren.

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verlassen kann. Geschickt unterbricht Andina regelmäßig diese Ebenen und berichtet von partnerschaftlichen Zusammenkünften von Icherzähler und Felice. TAGE MIT FELICE führt den Leser ebenfalls ganz nah an die Einsamkeit (das Alleinsein) der Protagonisten, die alleine in kargen Küchen, bei kargen Mahlzeiten und kargen Temperaturen in ihren alten Häusern sitzen, wissentlich aus der Zeit gefallen, sich aber auch wissentlich mit den Bedingungen zufrieden geben, wobei sie eine große innere Stärke aus der intimen und öffentlichen Einsamkeit (oder dem Alleinsein) ziehen.42 Die einsame Frau auf dem Bauernhof – ein zeitgemäßer Topos? COEUR ANIMAL (Noëlle Revaz, dt. VON WEGEN DEN TIEREN, 2002), NIEMAND IST BEI KÄLBERN (Alina Herbing, 2017), DIE BAGAGE (Monika Helfer, 2020), DIE ANNONCE (Marie-Hélène Lafon, 2020) – es ist in diesen Romanen sehr einsam um die Frauen auf den männerdominierten Bauernhöfen. Es sind relationale Einsamkeitsromane. Glück verheißen die ländlichen Umstände nur vordergründig. Im Hintergrund rumoren die ständige Gefahr ökonomischer Prekarität und familiäre Abgründe aus Alkohol und Verwahrlosung. Die Männer kommen nicht gut weg. Sie sind relationale ›Einsamkeitsmacher‹, sie sind stumpf, emotionale Holzblöcke, die vor lauter Hilflosigkeit und Misstrauen die privaten Nachrichten ihrer Gefährtinnen lesen – und doch betrogen werden –, abgestumpft von der schweren, nicht einträglichen Arbeit, unterjocht und seelisch angefressen von ihren immer noch auf dem Hof bestimmenden Eltern oder Onkeln. Die männliche Einsamkeit entlädt sind manchmal brutal und der Mann ist vielleicht noch einsamer als seine Frau oder Partnerin. Es sind bedrückende Atmosphären weiblicher, unbefreiter partnerschaftlicher Einsamkeiten, die ein desolates, früher wie heute noch arg patriarchalisches Bild der ländlichen Gesellschaft aufzeigen. Nahezu alle Frauen sind deplazierte Figuren. Sie sind auf dem Hof nicht zu Hause oder heimisch, sie sind neu, seit kurzem erst angekommen, mit teilweise vollkommen anderen vorherigen Lebensläufen oder familiären Hintergründen. Sie kommen allein oder mit traumatisierten oder behinderten Kindern. Sie haben andere Interessen, sind keine berufene Bäuerinnen, sehnen sich nach Anerkennung, die sie sich verzweifelt bei anderen Männern auch holen und damit, zumindest in den Plots, ihr Schicksal, ihren Untergang besiegeln. Sie müssen sich in fest eingefahrenen sozialen Strukturen zurechtfinden und beweisen. Ein Lächeln oder

DEN

42 Weitere bemerkenswerte Bücher, vergessene Romane, Klassiker und Gegenwartsliteratur, die nah an die Einsamkeit und Verlassenheit der bäuerlichen Bergwelt heranzoomen, sind: Leta Semadenis TAMANGUR (2015), Arno Camenischs HINTER DEM BAHNHOF (2010), Adolf Muschgs DER ZUSENN ODER DAS HEIMAT (1972), Corinna Billes VENUSSCHUH (1952, dt. 2007), Carl Albert Looslis DIE SCHATTMATTBAUERN (1926), in gewisser Weise auch Michael Fehrs SIMELIBERG (2015).

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ausbleibender Tadel sind kurze Momente der familiären Integration. Das funktioniert nicht, das kann nicht funktionieren; und die Kulisse wird nur mit strenger Disziplin oder Alkohol eine Weile aufrecht erhalten. In diesen Romanen, die den Frauen auf den Höfen eine Stimme geben, herrscht die zwischenmenschliche, verzweifelte Einsamkeit in der bäuerlichen, ländlichen Einöde als Ergebnis der Etablierung und des Aufeinanderprallens von inneren bzw. eigenen (persönlichen) Grenzen mit harten, unverrückbaren äußeren (natürlichen) Grenzen sowie schließlich mit den ungeschriebenen (sozialen) Gesetzen, gesetzt von jenen, die schon immer da sind. Wobei keine der jeweiligen Grenzen elastisch oder gar durchlässig ist. Grenzverschiebungen oder gar -überwindungen finden nicht statt. Es geht meist böse oder wenig hoffnungsvoll aus. Auch Jake Whyte in Evie Wylds ALL THE BIRDS, SINGING (2014) hat traumatische Erlebnisse mit einem männlichen Einsamkeitsmacher hinter sich, in Australien und einer von rohen Männern dominierten Schaf-Ranch im Nirgendwo des Outback. Jetzt, scheinbar, behauptet sich die von Verfolgungsängsten heimgesuchte junge Frau in ihrer neuen, bedrohlich wirkenden Geographie der Einsamkeit auf einer unheimlichen Insel vor der Küste Großbritanniens als eine ›toughe‹, abgehärtete und allein lebende Schafzüchterin gegen die Widrigkeiten der Umwelt.43 Sie ist das emanzipierte zeitgenössische Gegenbild zu den oben beschriebenen, den Launen der Männer ausgesetzten Frauen. Die Wetterverhältnisse gleichen ihren Beziehungen zum einzigen Bekannten und dem neuen, aus dem Nichts auftauchen Mann, rauh, abweisend, herausfordernd. Krude und illusionslos, voller Skepsis und Misstrauen geht sie mit anderen um, lehnt es ab in den Pub zu gehen und, für den Notfall hilfreiche, Freundschaften zu schließen. Es bleibt unklar, warum immer wieder eines ihrer Schafe verendet. Der abendliche Waldrand und die Schatten in der Dämmerung wirken bedrohlich, werden aufmerksam nach Auffallendem abgesucht. Deshalb liest sich der Roman auch wie ein Krimi. ALL THE BIRDS, SINGING ist ein Bericht über eine junge und alleinstehende Frau, die sich der intimen Einsamkeit mit all ihrer Brutalität und schmerzenden täglichen Katastrophen auf selbstzerstörerische Weise in einem herausfordernden Raum stellt.44 Erst wenn es wehtut, ist es gut. Es ist die befreiend wirkende Selbstkasteiung, -erniedrigung und -bestrafung für die erlittene Brutalität des Partners, die tiefe psychische Spuren hinterlassen hat. Das muss alleine in einer

43 Siehe auch unter anderen Voraussetzungen Marlen Haushofers Protagonistin in DIE WAND (1963), die sich aus einer Notsituation heraus alleine auf einer alpinen Jagdhütte durchkämpft. 44 Das erinnert ein weiteres Mal an Chris McCandless, dem Protagonisten in Jon Krakauers dokumentarischen Roman INTO THE WILD, den auch die Nicht-Akzeptanz der Eltern in die Einsamkeit trieb.

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extremen Natur und Geographie der Einsamkeit ausgetragen werden. Andere, sprich: die Zivilisation, stören nur.

D AS P OTENTIAL DER L ITERATUR : N ARRATIVE DER E INSAMKEIT Wir haben erhellende Immersionen in narrative Geographien der Einsamkeit auf dem Land vorgestellt. Diese lesenswerten Dorf- und Landromane, medial meist wenig beachtet, können über innere Monologe, Psychogramme verlorener Figuren in der Landschaft und kalte Intérieurs nuanciert, facettenreich mit allen Mitteln eines »Rural Writing« (Piatti/Streifeneder 2021) erzählen und aufzeigen, was sich warum im ländlichen Raum abspielt. Einsamkeitsprosa kann mit subtilen Mitteln wissend und vermittelnd über die Morphologie des Seelenlebens – Zwänge, Ängste, aber auch Zufriedenheit und Glück – einsamer oder alleinstehender Menschen erzählen und darstellen, wie der Raum auf die Protagonisten wirkt oder ihre Situation spiegelt und wie die Figuren mit diesen Emotionen umgehen. Denn bei literarischen Geographien der Einsamkeit geht es auch immer um die Themenspektren der Bewährung, um Strategien des Umgangs und der Anpassung, des Darüberhinwegkommens oder Scheiterns in neuen räumlichen Situationen als Ergebnis ungewohnter familiärer, gesellschaftlicher und räumlicher Verhältnisse. Die hieraus entstehende Spannung macht einen großen Teil des Plots der ländlichen Einsamkeitsliteratur aus. Sie haben eine realweltliche Grundlage. Einsamkeitsprosa im Sinne des Rural Criticism kann deshalb nicht zuletzt auch, unter anderem, Empathie erzeugen und vermitteln, eine Brücke bilden, um einer Entfremdung (oder Ignoranz) zwischen Vertretern verschiedener Lebenswelten entgegenzuwirken. Romane leisten deshalb einen bedeutenden gesellschaftlichen Beitrag, informieren und schärfen empathisches Bewusstsein eines größeren Publikums für einen weit verbreiteten Zustand wie Einsamkeit.45 Es existieren zahlreiche empirische Befunde und wissenschaftliche Untersuchungen, die sich mit dem Potential von narrativer Fiktion, das menschliche Einfühlungsvermögen zu fördern, beschäftigen und dies im Konzept der »narrative empathy« fassen.46 Eine viel beachtete Studie zeigt, dass das

45 Im Rahmen der Theory of Fiction und der Prüfung der Social-Improvement-Hypothesis kann ein positiver Zusammenhang zwischen dem Lesen fiktiver literarischer Texte und der Ausbildung sozialer Fähigkeiten wie Empathie nachgewiesen werden (Mar et al. 2008). 46 »Narrative empathy is the sharing of feeling and perspective-taking induced by reading, viewing, hearing, or imagining narratives of another’s situation and condition« (Keen 2014: 521). Siehe auch Keen (2007) sowie Mar et al. (2011). Die Intensität narrativer Empathie mit fiktionalen Figuren und Situationen hängt von vielen Faktoren ab wie u.a.

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Lesen von literarischer Fiktion scheinbar Empathie und das Verständnis für die seelische Verfassung von Menschen (»Theory of Mind«) erhöhen kann (Kidd/Castano 2013).47 Andere Analysen gehen davon aus, dass das Lesen über soziale Interaktionen und psychologische Zustände, die vor allem in fiktionalen Werken eine große Rollen spielen, unsere empathischen Fähigkeiten des ›Gedankenlesens‹ von anderen verbessert (Panero et al. 2016). Müssten Narrative der Einsamkeit somit ähnliches für das Verständnis von einsamen Menschen bewirken? Es sind die sozialen48 und nicht zuletzt auch persönlichen Funktionen, die mit Literatur verbunden sind und verbunden werden, die so wichtig sind.49 Romane

Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, generelle Empathiefähigkeit etc., aber auch von narrativen Techniken und Stilmitteln (siehe Keen 2014: 524f). Möglichst realistische Darstellungen sind aber nicht unbedingt erforderlich: »but empathy for fictional characters appears to require only minimal elements of identity, situation, and feeling, not necessarily complex or realistic characterization« (Keen 2006: 214). 47 Panero et al. (2016) konnten diese Korrelation jedoch in dieser Weise und spezifisch für die Wirkung literarischer/narrativer Fiktion nicht nachweisen. Sie kritisieren (ebd.: 53) bei Kidd/Castano (2013) die zu vage Unterscheidung zwischen literarischer und populärer Fiktion sowie die Auswahlkriterien für die Texte und zweifeln deshalb einen differenzierenden Einfluss der Textart an. Viele Wissenschaftler stimmen aber darin überein, dass langjähriges oder lebenslanges Lesen von Fiktion zur Theory of Mind beiträgt (u.a. Panero et al 2016). 48 Es ist das Grundprinzip des dem Rural Criticism und den Geographien der Einsamkeit zugrunde liegenden Ecocriticism, dass Literatur unsere soziale Wirklichkeit beeinflusst, konstruiert und damit mitorganisiert und dadurch gesellschaftspolitisch relevant ist (siehe Bühler 2016: 68). Literarische Texte sind somit ein wichtiges Instrument, die ländlichsozialen Transformationen und ihre Folgen vielfältig und kenntnisreich einem breiten Publikum zu vermitteln. Sie können wirksam hypothetische, imaginierte, spekulative (neue) Perspektiven und Möglichkeiten gesellschaftlich relevanter und wissenschaftlich untersuchter ländlicher Phänomene vermitteln und dabei auch erörtern, wie sich diese konkret auf bestimmte Gesellschaftsgruppen und Individuen auswirken bzw. wie sie mit den Entwicklungen umgehen. »Literature gets us to think anew, it knows about the ›other‹ and motivates us to contemplate different spatial and social orders, which would otherwise remain concealed or suppressed« (Saunders 2010: 440f.). 49 »Narratives serves a deep human need and affects our lives in powerful and lasting ways« (Panero et al. 2016: 53). Beispielhaft und stellvertretend auch ein Zitat von Roger Willemsen (2020): »Ich verdanke der Literatur, daß sie mich in Bereiche geführt hat, die mein eigenes Erleben niemals auch nur gestreift hätte. Ich verdanke Literatur mehr als Erleben, Erfahrung. Ich verdanke ihr Widerspruch gegen die Welt. Ich verdanke ihr die

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bewirken einen Perspektivwechsel, ändern den Blickwinkel. Fernab von geschönten, verfälschenden bäuerlichen Postkartenländlichkeiten rücken sie Leserinnen und Leser näher ran an mögliche Realitäten und Mensch-Umwelt-Beziehungen50, von denen sie, vielleicht, wahrscheinlich, wenig gehört oder gar gelesen haben. Literaturen der Einsamkeit beeinflussen unsere Wahrnehmung von Orten der Einsamkeit, dort lebenden Menschen und was es bedeutet, an einsamen Orten zu leben.51 Literatur als Kunst fungiert dabei als Schlüssel für Unzugängliches, für Psychologisches, für das Eintauchen in mentale Dimensionen, also für Bereiche, die sich aus einer Außenperspektive immer nur zum Teil erschließen lassen. Literatur kann aber noch mehr: Das Lesen narrativer Texte bzw. die Identifikation mit dem Erzählten unterstützt ein besseres Selbstverständnis des Lesers und kann dadurch zur persönlichen Weiterentwicklung (»self-improvement« im Sinne einer Bibliotherapie) beitragen (Mar et al. 2008). In anderen Worten: Literatur wirkt auf die Persönlichkeitsentwicklung; das Lesen fiktionaler Texte verändert Menschen; lesen einsame Menschen über einsame Menschen, dann ist damit zumindest potenziell die Möglichkeit verbunden, über die je eigene Situation zu reflektieren und sich selbst besser bzw. anders verstehen zu lernen (was an sich schon Erleichterung bedeuten, aber im besten Fall auch Bewältigungsstrategien in Gang setzen könnte).52 Sie ermöglichen Identifizierung im Sinne von James Baldwin (1963): »You think your pain and your heartbreak are unprecedented in the history of the world, but then

Beantwortung meiner eigenen Mangelerscheinungen. Ich verdanke ihr eine Abbildung der Welt weit über die Grenzen dessen hinaus, was ich mir hätte beibringen können«. 50 Damit schließen wir argumentativ an Major (2007) an, demzufolge die Perspektive der Landbevölkerung und ihren von intensiven Beziehungen zu Land und Boden geprägte Lebensweisen und Arbeitspraktiken – bezeichnet als »Agrarianism« – stärker in den Fokus des zu sehr auf nicht-menschliche Themen fokussierten Ecocriticism rücken müsse; nicht zuletzt, um das Umweltverständnis jener zu verstehen, die täglich in engem Kontakt mit der Natur und von ihrer Nutzung leben. Auch die Umweltkrisen lassen sich so besser erfassen. 51 Trägt Fiktion dazu bei, die Einstellung der Leser zu ändern oder gar altruistisch zu handeln für jene, für die sie narrative Empathie empfinden, dann geht es um ethische Aspekte im narrativen Diskurs (Keen 2014: 525). Die »empathy-altruism-hypothesis« kennt befürwortende Haltungen, die die positiven real-empathischen, moralischen und pro-gesellschaftlichen Entwicklungen betonen, und ablehnende Haltungen, die diese Wirkungen für überzogen halten (ebd.: 525f.). 52 In der Literatur als Anthropomorphisierung bezeichneter Prozess: »Anthropomorphisation probably supports the ability to see fictional characters as if they were real, with real human psychologies, perhaps allowing these characters to provide social comfort in ways similar to real peers« (Mar et al. 2011: 820).

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you read. It was books that taught me that the things that tormented me most were the very things that connected me with all the people who were alive, who had ever been alive« (zit. nach Popova 2017). Bei all diesen Funktionen von Fiktion kommt es stark auf die Intensität der Auseinandersetzung mit dem Text bzw. die narrative Immersion53 an (Green/Clark 2012; Keen 2014: 522), i.e. den Zustand des »Ausklinkens« aus der Realität und »Eintauchens« in die fiktionale Welt. Dass die Immersion von der Qualität der Werke, von erkenntnisreichen und stilistisch gelungenen Romanen abhängt, die Psychisches, Räumliches und Soziales sprachlich so verschmelzen können, dass es im besten Fall unter die Haut geht und lang erinnert wird, belegen Studien (u.a. Bal/Veltkamp 2013; Green/Clark 2012). Gelungene fiktionale Narration erklärt Realweltliches sehr einfühlend-effektiv, weil die transformativen Wirkungen auf die Persönlichkeit nach der Lektüre lang und tief nachwirken54 und damit gegebenenfalls mehr bewirken können als mediale Berichterstattungen und wissenschaftliche Aufsätze.55 Die existentielle Wichtigkeit, aber eben auch Gefährdung, all dessen, was das Rurale ausmacht, und all derer, die im Ruralen leben und arbeiten, bedürfen dringend einer noch breiteren gesellschaftlichen Aufmerksamkeit. Gelungenes Rural Writing – und speziell gelungene Einsamkeitsliteratur über diesen Raum und seine Menschen – vermittelt Wissen und gibt Einblick in oft komplexe Zusammenhänge und Ursachen. Sie bietet womöglich (neue) Identifikationsmöglichkeiten und kann, so unsere

53 »Narrative transportation theory suggests that individuals’ cognitive, emotional and imagery immersion in a narrative is a key mechanism of attitude, belief and behavior change« (Green/Clark 2012: 477). »The phenomenology of transportation is taken to be a fact of readers’ immersion« (Keen 2014: 522). Die Entwicklung von Empathie hängt direkt von Immersion ab (Miall 2009: 240-244). Kommt es so weit, dann, so kognitive neurowissenschaftliche Ergebnisse, werden durch die Fiktion die gleichen Areale des Gehirns aktiviert oder angesprochen wie während der Durchführung ähnlicher Aktivitäten und Wahrnehmungen (Mar/Oatley 2008). 54 Über die Nachwirkung der Leseerfahrung und ihre Einflussfaktoren siehe Mar et al. (2011). 55 Siehe Cao (2015) und auch Markku (2019: 95): »it may be concluded that purely scientific accounts cannot give us a sense of experiencing things, since they do not evoke human experientiality in the way that narratives do. Fictional narratives can obviously also ›teach‹ us values through their form, including complex characters, dialogic voices, manylayered viewpoints, and difficult human situations. All this makes novels and other narrative fictions a valuable means of communicating environmental themes deeply and persuasively to those audiences who still have time to think«. Keen (2014: 522) sieht hier allerdings noch Forschungsbedarf: »Whether non-fiction arouses greater or lesser empathy in individuals and in larger populations of readers and viewers is a question for future empirical work.«

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Auffassung, viel bewegen, kann mit aufrüttelnden Erzählungen erkenntnisreich aufklären und damit einen wichtigen gesellschaftlichen Beitrag leisten, marginale Räume und marginalisierte Menschen als Mitwelt besser zu verstehen. Denn über wen nicht geschrieben wird, der oder die existiert nicht.

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Eine Zukunft auf dem Land? Dystopische Imaginationen des Ländlichen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur A LEXANDRA L UDEWIG

E INLEITUNG Die damalige Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner widmete Anfang 2020 den sogenannten Dorfkindern eine Social-Media-Kampagne. Unter dem Hashtag #Dorfkinder fanden sich Slogans wie »Dorfkinder haben den Dreh raus« und »Dorfkinder behalten das ganze Team im Blick«. Die scheinbare Notwendigkeit dieser Aktion erklärte sich daraus, dass es im Zuge der Landflucht und zunehmenden Urbanisierung in den ersten Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts zu vermehrtem Dorfsterben kam und das Leben auf dem Land einer Imageaufwertung bedurfte. »Wir haben allen Grund stolz zu sein auf unsere ländlichen Regionen, aber es bleibt teilweise auch noch einiges zu tun«, ließ das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) verlauten (Klöckner 2020). Diese Botschaft wurde mit Fotos von Zusammenkünften der Freiwilligen Feuerwehr, sowie Fußball-Jugendmannschaften illustriert. Für die Bilder und Botschaften, die die traditionelle Oppositionsstellung von Stadt und Land aufnahmen und in ein gegenwärtiges Gewand hüllten, gab es in den Online-Kommentaren sowohl Lob als auch Häme. Das Thema polarisierte und kristallisierte extreme Positionen heraus. Denn den Einen gilt die zurückgebliebene Dorfjugend als bemitleidenswert, den Anderen als heimelig. Beide Positionen wurden und werden immer wieder in Film, Literatur und Theater dargestellt und aufgefrischt. Das vermeintlich reale »Idyll zwischen Wald, Wiese, Kirche und Fußballplatz«, wie es ein SPIEGEL-Reporter im Januar 2020 nannte, aber auch das trostlose Pflaster für Arme, Alte, Kranke und politisch Rechte bieten seit jeher viel Raum für utopische und dystopische Entwürfe. Dieses Umfeld, das lange dem Genre der Dorf- und Heimatliteratur vorbehalten war und in der jüngeren

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Vergangenheit eine mediale Konjunktur erfuhr, entdeckte unlängst auch die Science Fiction- sowie Fantasy-Literatur für sich. Das zeigt sich z.B. an drei Romanen junger Autorinnen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz: Julia von Lucadous DIE HOCHHAUSSPRINGERIN (2018), Gianna Molinaris HIER IST NOCH ALLES MÖGLICH (2018) und Raphaela Edelbauers DAS FLÜSSIGE LAND (2019). Im Folgenden soll den in diesen Texten zu Tage tretenden Inszenierungen von zukünftigen Welten (Utopien, Anti-Utopien, Dystopien) sowie deren Bezug zu gegenwärtigen Entwicklungen nachgespürt werden.

L AND

UND

G ESELLSCHAFT

Imaginationen des Ländlichen und Dörflichen wurden in ihren Spielformen bereits seit dem 17. Jahrhundert mannigfach thematisiert und erfreuten sich gerade Anfang des 21. Jahrhunderts wieder großen Zuspruches. In der deutschsprachigen Literatur finden sich sowohl im populären als auch im preisgekrönten Segment Provinzgeschichten zuhauf, z.B. der Dorfkrimi UNTERLEUTEN (Buch: Juli Zeh, 2016; TV-Dreiteiler: Matti Geschonek, 2020). Neuzugezogene wie Alteingesessene widmeten sich erfolgreich dem Land: Saša Stanišić legte mit VOR DEM FEST (2014) und HERKUNFT (2019) gleich zwei vielfach ausgezeichnete Dorfgeschichten vor, Dörte Hansens Romane ALTES LAND (2015) und MITTAGSSTUNDE (2018) waren Bestseller und bescherten der Autorin etliche Preise. Kurz vor Corona debütieren vergleichsweise viele junge Autorinnen mit Romanen über zukünftige Ländlichkeiten (und/oder Stadt/Land-Beziehungen) wie Julia von Lucadou mit DIE HOCHHAUSSPRINGERIN (2018), Gianna Molinari mit HIER IST NOCH ALLES MÖGLICH (2018) und Raphaela Edelbauer mit DAS FLÜSSIGE LAND (2019). Diese Romane reflektieren auf ihre je eigene Art das Spannungsverhältnis zwischen Metropolen und Umland, Zentrum und Peripherie, Gegenwart und Zukunft. Sie reagieren damit bewusst – oder unbewusst – auf eine gesellschaftliche Spaltung, wie sie von dem Soziologen und Träger des Leibniz-Preises Andreas Reckwitz pointiert diagnostiziert wurde. Seit den Neunzigerjahren sei laut Reckwitz der traditionelle Links-Rechts-Gegensatz in Deutschland von einer neuen Konfliktlinie überlagert: »jener zwischen den Kosmopoliten und den Kommunitariern« (Reckwitz 2020). Reckwitz versteht die zeitgenössische soziale wie politische Landschaft wie folgt: »Auf der einen Seite stehen jene, die im weitesten Sinne liberale Werte vertreten, neoliberale Selbstverantwortung und Leistungsorientierung ebenso wie linksliberale Gleichberechtigung und Ökologie, und ein positives Verständnis von Globalisierung haben. Auf der anderen Seite stehen jene, die Globalisierung und Modernisierung skeptisch sehen, die eher an Ordnung und Sicherheit orientiert sind und für nationale Regulierungen eintreten.« (Ebd.)

E INE Z UKUNFT

AUF DEM

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Diese Zweiteilung lässt sich zwar nicht eins-zu-eins als Konfliktlinie zwischen Metropole und Peripherie verstehen, erklärt aber ansatzweise die Dichotomie hinter der Trennung im geographischen wie ideologischen Sinne. »Die traditionelle Mittelklasse – das sind zum großen Teil Personen mit mittlerem Bildungsabschluss und auskömmlichem Gehalt, überdurchschnittlich in den kleinstädtisch-ländlichen Regionen lebend, mittlere Angestellte und Beamte, Facharbeiter, manche lokale Selbstständige. Sie hat an gesellschaftlichem Status verloren. [...] Ihre Bildungsabschlüsse und Berufe verlieren an Prestige, die beruflichen Aufstiegspfade werden unsicherer, Gegenden jenseits der Metropolen geraten ins Hintertreffen, der männliche Status scheint durch die Emanzipation angegriffen, die national-regionale Kultur durch die Migrationsprozesse. Gegenüber der urbanen neuen Mittelklasse sieht man sich tendenziell an den Rand gedrängt.« (Ebd.)

Mit ihren Romanen reagieren die drei Autorinnen auf ein gewisses Missbehagen über zeitgenössische Entwicklungen: Julia von Lucadou auf die digitale Überwachung und Statusverluste, Gianna Molinari auf unsere umweltzerstörende Konsumgesellschaft und Migration, sowie Raphaela Edelbauer auf die national-regionale Verdrängung der Vergangenheit und die Konsequenzen, wenn man sich seiner Geschichte nicht stellt. Ihre Romane entwerfen Welten, die in einer Zukunft spielen, die wir heute noch verhindern können, wenn wir Stadt, Land und Dorf nicht gegeneinander ausspielen, sondern uns auf das Menschsein als Teil des in der Natur-und-Weltgeschichte-Seins besinnen. Neuland beschreiten die drei Autorinnen auch in der Hinsicht, dass sie sich im weitesten Sinne Science Fiction zuwenden und damit einem Genre, das traditionell eine Männerdomäne darstellte. So beginnt eine Ausschreibung der Phantastischen Bibliothek in Wetzlar vom April 2020 noch wie folgt: »Frauen schreiben keine Science Fiction. Dass dem nicht so ist, ist eine Binsenweisheit. Trotzdem hält sich hartnäckig die Ansicht, dass Science Fiction ›eigentlich‹ Männersache sei. Geht es doch um Technik und Pioniere, die ins Unbekannte vorstoßen. Selbst Kenner des Genres können häufig nur eine Handvoll Autorinnen nennen: Natürlich Mary Shelley, der seit den 1970er Jahren die Erfindung der Science Fiction zugeschrieben wird; Ursula K. Le Guin, die nicht nur sehr geistreiche Science Fiction schrieb, sondern auch intelligent über das Genre nachdachte; Margaret Atwood, deren Dystopien von gespenstischer Aktualität sind, die sich aber mit der Zuordnung ihrer Texte zur Science Fiction schwertut. Eine Britin, eine USAmerikanerin, eine Kanadierin, danach kommt lange nichts, schon gar keine deutschsprachigen Science-Fiction-Autorinnen.« (Seibel 2020)

Insofern erweitern Julia von Lucadou, Gianna Molinari und Raphaela Edelbauer mit ihren Romanen nicht nur die Heimatliteratur mit ihren Dorf-Stadt-Land-Triptychen, sondern auch die Geschichte der Science Fiction- und Fantasy-Genres. Gerade um

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DIE HOCHHAUSSPRINGERIN wird die Sci-Fi-Literaturgeschichte nicht mehr umhinkönnen.

J ULIA

VON

L UCADOU : D IE H OCHHAUSSPRINGERIN (2018)

Die Spannung zwischen einer technologisch vollkommen kontrollierten Metropole und einer Welt jenseits der digitalen Hölle bestimmt den Debütroman DIE HOCHHAUSSPRINGERIN (2018). Oberflächlich betrachtet richtet die Heidelbergerin Julia von Lucadou ihre Kritik gegen die Perfidie der Selbstoptimierung, die nicht zuletzt zu Macht und Übermacht von Daten führt und einen Verlust von Mündigkeit nach sich zieht. Sie zeigt die Angst der Reichen und Fleißigen vor ihrem Statusverlust durch den Kontakt mit der Welt der Armen und Unterprivilegierten. In diesem Science-Fiction-Kosmos wird jedoch die Kluft zwischen Metropole und Peripherie so überspitzt, dass sie die Idee von der einen Welt mit nur einer Ecosphäre in Frage stellt. Der Roman beginnt aus der extremen Totale, vergleichbar im Film mit einer Satelliten- oder Drohnenperspektive: »Stellen Sie sich die Welt vor. Stellen Sie sich die Erdkugel vor, wie sie im Weltraum schwebt. Aus Ihrer Sicht ist die Welt rund und glatt. [...] Zoomen Sie nun ein wenig näher heran. Sie können Fehler in der Gleichmäßigkeit der Erdoberfläche erkennen. Erhebungen und Senken. Sie bilden ein weiches, wellenförmiges Relief, die Wechsel von Rot zu Blau zu Braun ergeben ein meliertes Muster.« (von Lucadou 2018: 9)1

Diese scheinbaren Fehler in der Oberfläche machen ländliche Regionen aus, denn die menschgemachten Hochhausmeere aus Stahl und Glas sind idealtypisch, so wie sie sich erheben »aus diesem erdfarbenen Muster« (9). Der Fokus im Roman liegt auf einer dieser Städte, wie auf einem »Geheimnis, das aufgedeckt werden möchte« (9). Die Erzählerin und Protagonistin Hitomi Yoshida bewohnt diese geordnete Großstadtwelt, deren Gesetze sie versteht: »Es beruhigt [...] zu sehen, dass auch die Stadt einer Gleichmäßigkeit gehorcht, ihre Gebäude folgen einem architektonischen Stil und sind geometrisch angeordnet, in Rechtecken oder sternförmigen Formationen.« (9) Ihre Wolkenkratzer ragen in der Regel um die 1.000 Meter in die Höhe und von ihnen vogelgleich zu springen, ist ein Trendsport, der medial effektiv aufbereitet wird. Die Erzählerin ist Wirtschaftspsychologin und Datenanalystin, die tagsüber bei der Firma PsySolutions arbeitet, mit der Aufgabe, die in eine Sinnkrise gefallene und

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Zitate aus den jeweiligen Romanen werden hier und im Folgenden mit Seitenzahl im Fließtext belegt.

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abtrünnig gewordene Ikone des Trendsports Highrise Diving™, Riva Karnovsky, in ihrem Apartment im 64. Stockwerk subtil zu beeinflussen und so wieder in Topform zu bringen. Der Erfolg der Leistungsträger/innen der urbanen Gesellschaft entscheidet, ob man überhaupt in der Stadt leben darf, dort dann ein Stockwerk höher ziehen kann oder aber – als Druckmittel – eine Relokalisierung in die Peripherien droht (30, 52). Noch schlimmer ist das, was dahinter liegt. Denn, obwohl die Stadt wie ein »schier unendliches Meer« erscheint, »hat sie ein Ende, einen Rand, dort hinten, wo Wolken aus Staub und Abgasen in den Himmel steigen. Muss das sein, denken Sie, dass die schöne Stadt mit dem Anblick von Dreck entstellt wird, warum muss sie überhaupt irgendwo aufhören? Aber können Sie sich das Meer ohne den Strand denken oder die Klippe oder den Pier? Nein, ohne die Peripherien, ohne ihr abstoßendes Außen wäre die Stadt, wie sie jetzt im orangen Nachmittagslicht schimmert, nur halb so schön.« (10)

Diese Stadt ist wohltuend naturarm (Natur beschränkt sich auf einen parkartigen »Roof Garden« mit schön beschnittenen Buchsbäumen für die Privilegiertesten, 28, »Echtpflanzen in den Büroräumen« sind verboten, 131) und ist nahezu tierlos (nur eine »Taube« findet sich noch in der Metropole, 83). Die titelgebende Hochhausspringerin ist ein Ersatz, vogelgleich verkörpert sie »Schwerelosigkeit« und »ein erhabenes Gefühl« (12). Die Erzählerin selbst suchte das Erhabene einst in der Natur: »Ich bin zuletzt als Kind am Meer gewesen [...] und setzte mich in eine verborgene Ecke direkt neben die Absperrung, um aufs Wasser zu schauen« (56). Doch die Faszination des Ozeans und der Weite halten nicht lange vor: »Einmal darin eingetaucht, verlor das Meer alles Erhabene, war plötzlich kalt, salzig und schmutzig und blieb noch lange an mir kleben, auch nachdem ich mir Haut und Haare ausgiebig gewaschen hatte.« (57) Umweltverschmutzung und -zerstörung haben die Lebenswelt außerhalb der Megastadt unattraktiv gemacht. Nun gilt: je zentraler man wohnt, umso besser, da man dort eben weiter entfernt ist von den schädlichen und unkontrollierbaren Einflüssen der Außenbezirke. »Hitze, kein Regen, Air Quality Index schlecht, Feinstaubbelastung hoch« (16), »Schweiß«, »Bedeutungslosigkeit« und »Dreck« bestimmen die Peripherien (66). Dort befinden sich riesige Castinghallen, für alle, die wegwollen (168). Die Stadt dagegen erscheint »sauber« (66), trotz labyrinthisch wirkender Brücken und Zubringer, geordnet, übersichtlich, ästhetisch, mit Sichtachsen, durchkomponiert (67). Die bildhafte Sprache wie auch die Struktur und Gestaltung der Schauplätze des Romans erinnern hier an literarische und cineastische Vorbilder wie THE CIRCLE (Buch von Dave Eggers, 2013; Film von James Ponsoldt, 2017) oder CORPUS DELICTI. EIN PROZESS (Buch von Juli Zeh, 2009) sowie an filmisch bereits verhandelte dystopische Narrative wie THE HANDMAID’S TALE (Buch von Margaret Atwood, 1985; Film von Volker Schlöndorff, 1990), THE MATRIX

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(Film von Lana und Lilly Wachowski, 1999) oder THE HUNGER GAMES TRILOGY (Buch-Trilogie von Suzanne Collins, 2008-2010; Film von Gary Ross, 2012). Auch andere Rezipienten sahen die Anleihen beim Film: »Etwa neunzig Jahre liegen zwischen Fritz Langs Monumentalepos Metropolis und der britischen Science-Fiction-Serie Black Mirror – und man kann ziemlich sicher sein, dass Julia von Lucadou beide genau studiert hat. Schauplatz ihres Debütromans [...] – eine unterkühlte, retrofuturistische Ästhetik, die direkt dem deutschen Expressionismus entlehnt zu sein scheint.« (Kümmel 2018)

Mit diesen Bildern verrät die Autorin zum einen viel über ihre Biographie, d.h. ihr Filmstudium und ihre Arbeit in Medienmetropolen der Welt,2 zum anderen reagiert sie so auch auf die fortschreitende (und in den verschiedenen Medien der Science Fiction immer wieder fortgesponnene) Urbanisierung, leben doch seit mehr als einem Jahrzehnt, also seit 2007 weltweit erstmals mehr Menschen in Städten als auf dem Land (vgl. Redepenning 2019: 315); ein Trend, der sich seitdem kontinuierlich fortgesetzt hat. Die Ästhetik der Metropole im Roman erinnert an Minimalismus und Luxuswelten zugleich. Die Designermöbel und von bekannten Innenarchitekten gestaltete Wohnungen in den begehrtesten Distrikten, die VIPs und Bestverdienenden vorbehalten sind, haben ihren Preis. Selbst die Ich-Erzählerin und Protagonistin, eine Analystin, hat als Privilegierte noch eine 45-minütige Heimfahrt anzutreten und benötigt einen Zweitjob (Nachtdienst bei dem Beratungsdienstleister »Call a Coach«), um sich das Stadtleben leisten zu können. Die Horrorszenarien der Peripherien schrecken ab. Wer nicht über genügend Creditscores verfügt, muss in den Randbezirken bleiben, umgeben von erfolglosen Menschen in schlechten bis heruntergekommenen Wohnsilos, in Hitze und Schmutz, in einer unübersichtlichen Masse. Da will keiner leben, im Gegenteil, da wollen alle weg, insbesondere mit Hilfe von Casting Shows, die die nächste Generation der Hochhausspringer/innen kürt. Grenzen und Kontrollen schaffen klare Demarkierungen zwischen innen und außen. »Es war nicht möglich, die Sicherheitschecks zu umgehen und ohne Passierschein oder registrierte Begleitperson über die Grenze zu gelangen.« (132) Jenseits der Grenze und jenseits des für viele Erstrebenswerten liegen Peripherie und Land, »eine andere Welt [...]. Klebrige Menschen, die schlechtes, ungesundes Essen in sich hineinstopften [...]. Eine Frau fiel mir besonders ins Auge. Ich hatte noch nie einen

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Julia von Lucadou wurde 1982 geboren, wuchs in Heidelberg-Ziegelhausen auf und lebt heute in Biel, New York und Köln. Sie ist Absolventin des Schweizer Literaturinstituts und promovierte Filmwissenschaftlerin. Zwischenzeitlich arbeitete sie als Regieassistentin, Redakteurin beim Fernsehen und als Simulationspatientin in Nordamerika und Deutschland.

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so fetten Menschen gesehen.« (101) Informationen im Internet zu dieser Gegend zeigen generische Fotographien von Straßen und Häuserzügen, »graue Häuserblocks mit den schwarzen Fenstern« (147), »typische Betonblöcke« (107). Die Erzählerin erinnert sich: »Der Geruch der Peripherien verursachte mir als Kind regelmäßig Übelkeit. [...] Während der Castings musste ich Medikamente nehmen, um mich nicht auf der Bühne zu übergeben. Die Hitze, der Smog. Meine Haut bereits nach wenigen Stunden graustichig, kränklich. [...] der Schmutz und die schlechte Luft« (115), »heruntergekommene Wohnungen« (132). Kurz: Peripherien bieten keine Heimat, man will »dort immer weg« (98), denn dort gibt es noch Stellen »off the grid«, ohne statuserhaltende Dateneinspeisung (224) und noch Menschen, die mit den Händen arbeiten (283). Während die Leistungsstarken der Wissensgesellschaft in den Städten und die Masse der Arbeiter und Außenseiter in der slumartigen Peripherie wohnen, ranken sich um das, was sich hinter der Peripherie, also auf dem Land, befindet, nur Gerüchte. Es wird gemunkelt von einer Zone, die Manchen paradiesisch, Anderen wie die Hölle vorkommt. Dort finden sich Gebiete außerhalb des Skycam-Bereiches, die nur sporadisch mit Sicherheitskameras ausgestattet sind (204). »Die Satellitenbilder der Umgebung zeigen unbebautes Gebiet, dicht bewachsen, ohne Wege«, daneben Industriegebiete (204). Bilder und Informationen über diese Parallelwelt werden vollkommen ausgespart. Doch die wenigen Hinweise auf dieses Leben auf dem Land sind vielsagend: Diejenigen, die dort wohnen, haben einen langsameren Gang, strahlen Authentizität aus (154), es scheint dort intakte Familien, mit »Bio-Eltern«, d.h. leiblichen Eltern, zu geben, ohne Optimierungswahn und totale Kontrolle. In der Stadt gibt es hingegen, zur Kompensation, Agenturen für Family Services, wo man Kinder zwischen null und achtzehn Jahren und Liebespartner anmieten kann, zur Simulation von sozialer Idylle. Dieser Nostalgietrend, »umgangssprachlich auch Nostalgie-Porn« genannt (90), gilt allgemein als Krankheitsbild (146), als »nostalgische Episode« und »vorübergehende Persönlichkeitsstörung« (153), so krankhaft wie Burnout (151). Idealtypisch ist man stark und kommt ohne diese Suggestionen aus, zu denen auch Soundfiles zählen, »die Naturgeräusche simulieren«, wie das »Geräusch des Regens«, das beim Einschlafen helfen kann (150). Das Problem bleibt, dass es immer noch Menschen gibt, »die sich das MenschSein bei aller technischen Durchdringung des Alltags nicht gänzlich abtrainieren lassen.« (Münger 2018) Einige Randfiguren, die »eine echte Biofamilie gründen [...], in ein paar Jahren echte Familienfilme« (265f.) posten wollen und sich nach »einem wahren, natürlichen Leben« (266) sehnen, stehen in den Augen der Mächtigen für eine politisch subversive, extremistische Position, als Gesicht einer Widerstandsorganisation, der »Naturals-Bewegung« (266), deren Plan es sei, eine »Nostalgisierung der Gesellschaft« anzustreben, was die Menschen »empfänglich machen sollte für einen ursprünglicheren Lebensentwurf« (266). Selbst die angepasste und idealtypische Protagonistin Hitomi Yoshida erkennt, dass sie sich, wie so manch Anderer

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»in ihrem tiefsten Innern nach einer solchen Lebensweise« sehnt (266). Der Roman zeigt die eingefleischte Großstadtbewohnerin nach einer beruflichen Krise im Prozess des Ausbruches aus der Metropole in das tabuisierte, unbekannte Naturgebiet. Es ist somit eine Welt, die die Reckwitzsche Zweiteilung in Kosmopoliten und Kommunitarier weiterspinnt und im Kern überspitzt. Die Megacity der Zukunft, wie Julia von Lucadou sie entwirft, bleibt namenlos und weder geographisch noch zeitlich lokalisierbar. Und doch wird sie, wie so viele andere dystopische Zukunftsentwürfe zuvor auch, von den Zeitgenossen als literarische Welt verstanden, die jeweils aktuelle Entwicklungen aufnimmt und verarbeitet. So beschreibe DIE HOCHHAUSSPRINGERIN bspw. eine »keineswegs komplett fiktive Welt« (Hildebrand 2018) und zeige nicht, »wohin wir in unserer digitalisierten Welt geraten könnten, sondern [...] wo wir bereits sind.« (Pabst 2018) In diesem Kosmos wird ultimativ das Leben in der Stadt als komplett überwacht und die vermeintlich lebensfeindliche und perspektivlose Region hinter der Peripherie, wo die Überwachung lückenhaft bis nicht existent ist, als potentielle lebenswerte Alternative präsentiert. Frei nach dem Credo »Das Dystopische erleben wir, das Utopische aber müssen wir uns vorstellen«, das von Lucadou in Referenz auf Margaret Atwood zitiert (vgl. Atwood 2005: 95),3 geht es in DIE HOCHHAUSSPRINGERIN darum, diese ländliche Region der Kommunitarier/innen für die Menschheit zu mythisieren und ultimativ als Alternative zu bewahren. Die Autorin erklärt dazu in KULTUR NEWS: »Ich glaube, der Roman ist meine Art, mit einem gewissen Unbehagen umzugehen. Wenn man sich vergegenwärtigt, welchen Einfluss die großen digitalen Plattformen inzwischen über unser Leben haben, kann einem das schon unheimlich werden: Wie sie unsere ganz persönlichen Beziehungen und Eigenheiten kennen, unsere Ängste und Wünsche, wie sie gesellschaftlich wirken. Inwieweit dienen uns diese Tools und inwieweit lassen wir uns von ihnen fremdbestimmen? [...] Aus diesem Zweifel und einem Gefühl des Ausgeliefertseins heraus ist mein Roman entstanden. Ich wollte verstehen, was mit mir oder mit uns als Gesellschaft passiert. [...] Ich finde Literatur gerade deshalb so spannend, weil man seine Beobachtungen pointieren kann. Ich schreibe, um mir selbst klarer zu werden. Wenn ich bestimmte Prozesse ein bisschen zuspitze, kann ich sie eindeutiger sehen, als wenn ich sie ganz naturalistisch darstelle. So ist eine Art dystopisch geschärfte Version unserer Gegenwart entstanden. Nichts oder fast nichts von dem, was ich beschreibe, ist ja technisch noch nicht möglich und vieles ist sogar schon üblich.« (von Lucadou in Schrader 2018)

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»It’s a sad commentary on our age that we find Dystopias a lot easier to believe in than Utopias: Utopias we can only imagine; Dystopias we’ve already had.« (Atwood 2005: 95)

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Mit der Andeutung einer Alternative auf dem Land bewegt sich der ansonsten fortschrittskritische Roman mit seinem zukunftspessimistischen Szenario von einer Gesellschaft, die sich zum Negativen entwickelt, in den Bereich des Träumerischen und Hoffnungsvollen – das freilich nur dadurch existieren kann, dass es in der erzählten Welt nicht konkret ausgestaltet wird und als Unkonkretes eine Projektionsfläche bietet. Das Land erscheint hier in nahezu klassisch utopischer Weise als »Negation des Negativen« (Tillich 1951: 37). Es ist den herrschenden Blickregimen und Wissensstrukturen entzogen. In ihrem Text beschwört die gebürtige Heidelbergerin somit die Existenz eines alternativen Lebensentwurfes jenseits der Stadt und eine Zukunft auf dem Land, von der man im Roman jedoch nicht wissen kann, wie sie konkret aussieht.

G IANNA M OLINARI : H IER

IST NOCH ALLES MÖGLICH

(2018)

Der Roman der Schweizerin Gianna Molinari öffnet – da, wo sonst eine Widmung oder ein Motto erwartet wird – mit einer autopoetischen Ortsbestimmung: »Der Wolf kam aus den Bergen, und mit ihm kamen andere Wölfe, kamen ins Flachland. Drangen in Gebiete vor, in denen man sie nie zuvor gesehen hatte. [...] Sie [die Wölfe] bewegen sich nachts. Auch ich bewege mich nachts [...]. Auch ich drang in Gebiete vor.« (5) Damit ist das Thema bereits abgesteckt: Migrationsströme von Mensch und Tier. Die eigentliche Erzählung beginnt mit dem Vorstellungsgespräch der Ich-Erzählerin als Nachtwächterin in einer abgelegenen Fabrik. Dies sei ein idealer Beruf für sie, da sie »oft in der Nacht wach sei« und nicht »in der Stadt«, sondern auf dem Fabrikgelände »außerhalb einer kleinen Stadt« (11) wohnen wolle. Das angestrebte Arbeits- und Wohnumfeld besteht aus Produktions- und Lagerhallen in einem Industriegebiet. »Rund um die Fabrik liegen Felder, weiter hinten ist der Flughafen. [...] Ich bin die erste Hallenbewohnerin. Wenn ich nachts im Bett liege und an die Decke blicke, meine ich manchmal im Bauch eines Wals zu sein.« (11) Die Abgeschiedenheit ist für sie attraktiv: »Vier Kilometer rund um die Fabrik erstrecken sich flache Felder: Mais, Getreide, Raps, unter anderem. [...] Da, wo die Felder aufhören, kommt Wald.« (59) Der Wald erhebt sich in eine Berglandschaft, »je weiter, je höher« (60), je menschenleerer. Die Protagonistin sucht die Einsamkeit, die Kontemplation und die Introspektion. So versucht sie sich Klarheit zu verschaffen, »das Unwichtige vom Wichtigen zu unterscheiden« (11). Deshalb hat sie ihren alten Job verlassen, Wohnung und Konten aufgelöst, sich neuen Möglichkeiten geöffnet. Sie sieht diesen Neuanfang ebenfalls unter den Vorzeichen des Entdeckens und Erforschens: »Hier ist ein neues Umfeld zu erkunden. Hier ist noch alles möglich.« (12) Der titelgebenden Hoffnung wird

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sofort die Angst gegenübergestellt: »Die Menschen auf dem Fabrikgelände fürchten sich vor dem Wolf.« (12) Wölfe wie Unbefugte, die das Drahtgitter umzäunte Gelände betreten, sind zu melden, auch wenn die Fabrik kurz vor der Schließung steht und sich dort nichts mehr von Wert befindet. Nahe dieser namenlosen Stadt, in einer tristen Fabrik, deren Niedergang sich nicht zuletzt in den Löchern im Zaun zeigt, die niemand mehr reparieren will, kartographiert die Nachtwächterin mental ihr neues Umfeld, einschließlich des Umlandes (98): »Zu den sichtbaren Grenzen gehören die Waldgrenze, die Grenze zwischen Land und Wasser, zwischen Licht und Schatten, die Wände meiner Halle und die Umzäunung der Fabrik. Diese Grenzen sind leicht zu erkennen. Andere sind es nicht.« (13) Bezüglich ihrer Motivation und Sympathie bekennt sie in ihrem schnörkellosen, stakkatoartigen Stil: »Das Wohlergehen der Fabrik ist mir egal. Ich interessiere mich für den Wolf.« (15) Auch wenn sich anfangs nur »Katzen« (14), mal eine »Maus« (25), »eine tote Ratte« (33), »eine Wespe« (55), »eine kleine Taubenschar« (120) zeigen oder eine »Eule« (16 und 59) zu hören ist, liegt das Hauptaugenmerk auf dem wilden Tier, der »Bestie« (26), der man mit Tellereisen, Fallen und einer Fallgrube (27), in Form eines riesigen Loches, den Garaus machen will. Das Loch symbolisiert hier nicht zuletzt auch die große Leerstelle im Wissen und in der Empathie der Menschen. Im Roman wie im echten Leben leidet der Wolf darunter, dem Menschen zu ähnlich zu sein: »Als biologische Opportunisten sind Wölfe anpassungsfähig. Zum Leben brauchen sie nicht zwingend unberührte Wildnis. Kulturlandschaften und Truppenübungsplätze sind genauso geeignet« (Brake 2019). Die Erzählerin referiert dagegen die gängigen Vorurteile, warum der Leumund des Wolfes so schlecht ist: »Es gibt Gründe, warum der Wolf hier schon einmal ausgerottet wurde [...]. Der Wolf ist ein aggressives Tier, ein Raubtier, oftmals von Tollwut befallen« (94). In der zeitgenössischen Gesellschaft finden sich für derart extreme Meinungen ebenfalls viele Vertreter, wie ein aktueller Beitrag im Magazin SPIEGEL beweist: »Wo immer der Wolf auftaucht, sorgt er für Aufruhr: Bürgermeister bangen um ihre Waldkindergärten, Tierhalter entzünden Mahnfeuer, Wolfshasser gründen Facebook-Gruppen und teilen darin blutige Bilder von gerissenen Schafen. Ebenso zuverlässig formiert sich ein Trupp von Wolfsromantikern, der fortan erbittert mit Schäfern und Jägern streitet. Der Wolf spaltet die Gesellschaft.« (Koch 2020)

Und auch eine weitere Parallele ist zwischen dem Roman und der Realität zu ziehen: »Rechtspopulisten haben ihren Kampf gegen Migration längst auf den vierbeinigen Einwanderer aus dem Osten ausgeweitet.« (Brake 2019) So soll die Nachtwächterin im Roman den Wolf vertreiben bzw. einfangen, den der Chef – genau wie illegale Migranten – als Bedrohung ansieht, als Spitze eines Eisbergs: »Ein Wolf kommt bekanntlich im Rudel«, woraufhin die Nachtwächterin entgegnet: »Er wird seine

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Gründe haben, [...] er wird nicht freiwillig auf das Gelände kommen« (28). Hier sieht die Erzählerin Parallelen zu ihrer eigenen Flucht aus ihrem bisherigen Alltag: »Zwar habe ich keine Meise getötet, aber auch ich habe mein Zuhause verlassen. Ich zweifle daran, dass die Sicherheit, in der ich lebe, der Realität entspricht. Ich sehne mich nach Unsicherheit, nach mehr Echtheit vielleicht, nach Wirklichkeit.« (29) In diesem Wunsch nach Authentizität steigern sich ihre Vergleiche mit dem Wolf von Faszination bis hin zu Empathie, Symbiose und Identifikation. Ebendies gilt auch für das Schicksal eines Menschen, der tot im Wald nahe der Fabrik gefunden wurde. Dieser namenlose »Mann, der vom Himmel fiel« (62) verleitet die Erzählerin zu einer ausgiebigen Recherche, die den Unbekannten langsam von einer Zahl in einer Statistik in ein Individuum mit tragischer Geschichte verwandelt. Detektivisch nähert sie sich seinem Schicksal an, angefangen bei den Indizien: »Beim Toten wurden keine Papiere gefunden. [...] Er trug eine Banknote der Zentralafrikanischen Zentralbank bei sich, zudem war auf dem T-Shirt das Logo einer Firma zu sehen, die ihren Sitz angeblich in Kamerun hat. Das alles und seine dunkle Hautfarbe ließen die Vermutung zu, dass er aus Kamerun stammen könnte.« (64)

Schlussendlich gipfelt ihr Wunsch des Nachfühlens und Nachempfindens darin, dass sie wie der vormals blinde Passagier in den Radkastenhohlraum eines Passagierflugzeuges klettert, um den Ort und die Umstände seines Todes zu erfahren. In der hier erzählten Welt werden, und dies markiert eine weitere Parallele zu zeitgenössischen sozialen Vorstellungen und Entwicklungen, illegale Migranten und Wölfe als ökonomische Bedrohung wahrgenommen, was der Roman mit der Haltung der Männer in der Fabrik andeutet. »Wölfe waren Nahrungskonkurrenten, sie jagten die gleichen Tiere wie die Menschen – oder fraßen gleich ihr Vieh.« (Brake 2019) Die Gleichsetzung von Wolf und Migrant, die die Männer in der Fabrik um- und antreibt, zeigt, wie der Mensch dem Menschen zum Wolf wird. Dieser gesellschaftskritische Roman ist nicht zufällig auch im Kontext transformierter und transformierender räumlicher Strukturen verortet. Die Schweizerin Molinari vermittelt erzählerisch, wie die Natur sich verlorenes Areal zurückerobert: »Unkraut dringt durch Ritzen im Beton [...]. Die Witterung lässt Moos an den Außenwänden wachsen«. (18) So erklärt sich auch die Existenz des Wolfes auf dem Gelände als eine Zeitenwende, denn der Roman reflektiert die zeitgenössische Entwicklung hin zu einer postindustriellen Gesellschaft, in der die Fertigungsindustrie von der Dienstleistungsgesellschaft abgelöst wird (vgl. Bell 1975; Tofler 1970; Touraine 1972). Tendenzen und Entwicklungen des 19. und 20. Jahrhunderts, wie z.B. Zersiedlung und Industrialisierung, Mechanisierung und Automatisierung haben soziale wie ökologische Veränderungen forciert. Mit dem Dorf- und Fabriksterben, der Konzentration von Menschen in Städten und Megasiedlungen, verwalden und

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verwildern Landstriche, es verrohen aber ebenfalls Umgangsformen, so auch in HIER IST NOCH ALLES MÖGLICH. Dies wird in der Metapher von der sogenannten Wolfszeit deutlich. Sie bezieht sich allgemeinsprachlich auf die Jahre nach 1945, die Interregnum-Periode bevor sich DDR und BRD etablierten. In dieser Zeit des Übergangs, als eben auch noch alles möglich schien, zeigte sich das Wölfische des Menschen nicht nur in der jüngsten Vergangenheit des Holocausts und des Krieges, sondern auch in Zeiten des Friedens durch weitverbreitetes Plündern und Mundraub, durch eine Mischung aus Eigeninitiative und lebensnotwendiger Kriminalität, durch Schwarzmarkt und Schmuggel, durch moralische und häusliche Verwahrlosung sowie sexuellen Nachholbedarf. Harald Jähner beschreibt in seiner Monografie Wolfszeit die deutsche Gesellschaft sehr kritisch: »Eine Gesellschaft konnte man die 75 Millionen Menschen, die im Sommer 1945 auf dem Deutschland verbliebenen Boden versammelt waren, kaum nennen. [...] Dass sich jeder nur um sich selbst oder sein Rudel kümmerte, prägte das Selbstbild des Landes bis tief in die Fünfziger hinein, als es längst schon wieder besser ging, aber man sich immer noch verbissen in die Familie zurückzog als selbstbezüglichen Schutzraum. Noch im berühmten ›Herrn Ohnemichel‹, jenem von der Aktion Gemeinsinn in den späten fünfziger Jahren beklagten Typus des unpolitischen Mehrheitsdeutschen, lebte – im biederen Gewand – der Wolf fort, zu dem man 1945 den einstigen Volksgenossen herabsinken gesehen hatte.« (Jähner 2020: 9f.)

Das Bild, welches im Roman von der Erzählerin entsteht, ist das einer Frau, die sich und ihre Welt neu erfindet. Sie selbst besitzt kaum noch etwas, »nur wenige Kleider, meine Kamera und mein Universal-General-Lexikon [...], das von großer Wichtigkeit ist. Ich schreibe fortlaufend neue Einträge hinein oder ergänze das Geschriebene.« (16) Dieses Lexikon dient der Selbstvergewisserung. Hier versucht sie in einer Welt, in der alles im Fluss scheint, an Verbürgtem festzuhalten. Trotz ihrer Faszination für das Mögliche und Veränderliche ist es gerade das Feststehende und Konstante, an das sie sich in ihrer Editionsarbeit klammert. Gleichzeitig besteht mit dem Rückzug aus der Stadt und dem Einzug in die Zone zwischen Natur und Industrie für sie die Möglichkeit, eine echte Alternative zu leben. Dieser Ausbruch aus dem fortschrittsgläubigem Hamsterrad ist die gelebte Utopie, ein Ort, scheinbar im Nirgendwo, wo man Wolf und Mensch/Migrant, d.h. Fremden und Fremdem human begegnen kann. Wieder ist es die Vorstellung einer Zeitenwende, die die weibliche Figur mitbestimmt. Ihrem alten Leben als Bibliothekarin, als Verwalterin, Bewahrerin und Vermittlerin von gedrucktem Wissen, hat sie den Rücken gekehrt, um neu zu beginnen. Damit reagiert sie auf den Wandel und die Verunsicherung in der Berufswelt, aber auch auf die Standarderwartung von Liebe, Partnerschaft, Fortpflanzung und einem geregelten Leben. Ihre Begründung ist deutlich formuliert:

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»Die Welt ist größer als vermutet, sie ist weit beweglicher und loser, als bisher angenommen [...]. Menschen fallen vom Himmel, Wölfe werden gejagt, Gruben stürzen ein, es besteht die Möglichkeit, dass Fabriken [...] explodieren, [...] dass Boote versinken, dass ein Gift große Gebiete unbewohnbar macht, dass ganze Dörfer umgesiedelt, Städte überschwemmen, Inseln sinken, Grenzen errichtet werden, dass Risse entstehen.« (144f.)

In dieser Endzeitstimmung, die hoffnungslos und absurd erscheint und für die sinnbildlich auch das Ende der Fabrik steht, werden die Erzählerin und ein weiterer Nachtwächter, Clemens, vom Fabrikbesitzer angehalten, eine überdimensionale Fallgrube auszuheben. Fast therapeutisch erscheint die Mission, eine Falle zu graben, für den Erhalt ihrer Beziehung zueinander. Nur im gemeinsamen Zweck finden sie zusammen. »Ich [...] stelle mir vor, dass ich und Clemens weitergraben. [....] Auch nach der Schließung der Fabrik. Dass wir unter dem Fabrikgelände ein Höhlensystem errichten, ähnlich dem Höhlensystem von Füchsen oder Dachsen, nur größer. Ich stelle mir vor, dass wir tief graben und [...] uns näher sind als jetzt.« (186f.) Deshalb hofft sie auch, dass das Loch nie fertig werde. Eigentlich will sie selbst in dieser Fallgrube bleiben, in die Erde horchen, Erde riechen und spüren, immer tiefer vordringen und den Rest der Zivilisation hinter sich lassen. Doch sie ist Teil des Systems, weiß, dass sie Fallen aufgestellt und gegraben hat, die nicht nur Tiere, sondern auch Menschen treffen werden, dass jeder Fortschrittsglaube absurd und jede Hoffnung umsonst ist. Die letzten Worte des Romans zeigen zwar, dass alles noch möglich ist, doch die Zeichen stehen auf Untergang: »Die Falle ist bereit.« (190) Der Text ist gespickt mit Konjunktiven, der Möglichkeitsform, Spekulationen und Aussagen, die verheißungsvoll erscheinen: »Ein Wolf ist möglich« (18) und: »Vielleicht verleiht der Wolf meiner Tätigkeit eine Wichtigkeit« (18). Formulierungen wie »wahrscheinlich« und »vielleicht«, »anscheinend« und »gut möglich, dass« ziehen sich wie ein Leitmotiv durch den gesamten Text. Wiederholt wird »ein guter Ort« beschrieben; und zwar als einer, an dem »noch alles möglich« ist, wie z.B. in dieser sterbenden Fabrik (20). Aber auch der Alltag lässt Raum für Interpretation und Spekulation, immer wieder vermischen sich Futur und Konjunktiv, Nacherzählung, Spekulation (große gelbe Mäuse, die 1578 in Norwegen vom Himmel gefallen sein sollen, 74) und Mythologie (z.B. »Schattenfüßler«, 23; »Ikarus«, 73) im Erzählstrom. Als die Situation die Erzählerin zwingt, sich zu entscheiden, für oder gegen den Wolf, ihn zu verraten oder seinen Aufenthaltsort für sich zu behalten, entscheidet sie sich für den Wolf. Sie will nicht, dass er gefangen oder gar getötet wird. Während ihr Verhältnis zum Wolf immer enger wird, vergleichbar der Konstellation im Film WILD von Nicolette Krebitz (2016), zerfallen die menschlichen Zweckbeziehungen zusehend. Mit der Auflösung des Arbeitsverhältnisses werden die Bande zwischen den ehemaligen Mitarbeitern lockerer. Wo vorher ein einvernehmliches Nebeneinander existierte, herrschen bald Sozialneid und Misstrauen vor, die zwischenmenschlichen Kontakte nehmen rapide ab. Um diese sich auflösende Welt festzuhalten,

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werden Fotos gemacht: »Die Bilder werden bezeugen, dass da die Fabrik war [...]. Auch meine Notizen im Universal-General-Lexikon berichten darüber. Sie sind eine mögliche Version [...], der Rest ist Erfindung, ist das Weiterführen der Wirklichkeit« (179). Diese Möglichkeit fungiert als Hoffnungsschimmer, auf eine Alternative in der Hinwendung zu Wölfen, Migranten und Walen: »Es ist nicht mehr erstaunlich, Flugzeuge zu sehen. Es liegt keine Besonderheit darin. Eine Besonderheit liegt darin, einen Wal zu sehen« (63) oder einen Wolf. Fest scheint nichts zu sein oder stehen, außerhalb des Lexikons. Selbst das »Festland ist nicht fest, das Festland bewegt sich, weil die Erdplatten sich bewegen« (182). Auch sie bewegt sich, und dabei ist nur eines sicher, sie bewegt sich weg von Städten und immer tiefer in die Welt der Wölfe, aufs Land und unter die Erdoberfläche. Nicht Kultur, sondern Natur verspricht bessere Möglichkeiten.

R APHAELA E DELBAUER : D AS FLÜSSIGE L AND (2019) Auch in DAS FLÜSSIGE LAND, dem Debütroman der Wiener Autorin Raphaela Edelbauer, scheint vieles im Fluss und Veränderungen unterworfen zu sein, die von der Stadt aufs Land führen. Die Handlung thematisiert Aspekte national-regionaler Kultur anhand der späten Annäherung einer jungen Frau an ihre oberösterreichischen oder steirischen Vorfahren. Beide Elternteile sind unlängst bei einem Autounfall gestorben, »auf einer gottverdammten Straße im Nirgendwo« von Groß-Einland (13), wobei diese Verortung bewusste Anspielungen auf U-topia, keinen Ort bzw. einen Nicht-Ort beinhaltet. Die gewünschte Beisetzung der Eltern in ihrer Heimat, ihrem Geburtsort Groß-Einland, führt die Tochter in eine ihr bis dahin unbekannte Welt. Edelbauers DAS FLÜSSIGE LAND erzählt von diesem Groß-Einland, einem quasiösterreichischen Landstrich mit dörflichen Strukturen. Der Mikrokosmos des Dorfes erscheint dabei als sozialräumliche Metapher für den Makrokosmos der Gesellschaft insgesamt: »Mein Ziel war es«, so die Autorin im Interview mit dem Österreichischen Rundfunk, »ein Land von acht Millionen Menschen in ein Dorf von in etwa 4.000 Leuten zu verdichten.« (Edelbauer in Baranyi 2019) Groß-Einlands verdrängte Vergangenheit rumort im Untergrund und bricht beständig durch. Die Ich-Erzählerin Ruth Schwarz, eine Großstädterin, trifft in dieser Region auf ihren persönlichen Gegenspieler, der Antagonist ist der Ort selbst. Sie wird in dessen heimelig anmutende Dorfstrukturen hineingezogen und findet nach vielen Widerständen so etwas wie Heimat, aber auch eine unerhörte Geschichte. Dieser Prozess führt zu einer graduellen Entfremdung der Protagonistin von sich selbst und ihrer Umwelt, die ihr alsbald wie ein expressionistisches Kunstwerk erscheint: als befände sie sich »auf einmal inmitten eines perspektivisch fehlerhaften Gemäldes« (6), weshalb der Text immer

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wieder genre-übergreifende Zuschreibungen erhält, von surreal über phantastisch bis grotesk.4 Auch dieser Roman spielt dezidiert mit dem Kontrast Stadt und Land, hier Wien und Groß-Einland. »Wie viele Menschen, die sich aus bescheidenen Verhältnissen emporgearbeitet hatten, waren meine Eltern ein Leben lang darauf bedacht gewesen, ihre ländliche Herkunft zu verbergen.« (10) Ihre Tochter hat als Städterin nicht einmal von der Existenz der elterlichen Geschichte und ihrem Landleben gewusst. Ihr Weg zurück zu den Wurzeln ist beschwerlich und ambivalent besetzt. In der Wortwahl erinnert die Annäherung an einen Geschlechtsakt: »Dass sich bei Alland ein Becken vor mir auftat, schien mir eine Fügung zu sein, und ich schraubte mich immer tiefer in die angeschwärzte Kulisse. [...] Erst als mächtig der steinerne Paravent des Semmerings vor mir auftauchte, vollzog sich ein Wechsel. Ein Abtauchen wie unter eine Decke: Nadelige Unergründlichkeit dampfte mir ätherisch ins Hirn [...]. Ich fühlte mich erhitzt, getrieben von den Landmassen, die sich gegenseitig im Schwappen verdrängten. [...] Der Wind schien den Wald zu schieben, der Wald drückte auf den Nebel« (11ff.).

Diese Vereinigung wird keineswegs einvernehmlich vollzogen, wie die Wortwahl verrät: »Bedrängnis«, »ergriffen«, »gehalten« (13), Groß-Einland verursacht Schmerzen: »Das ganze Land stieg unter mir auf; ich befuhr die Wellenzüge einer flüssigen Masse. Meine Hände zitterten [...], und die Kontraktionen meines angespannten Körpers [...]. Ich musste mich dem Zugriff des Landes entziehen« (13). Zu diesem Zweck wird ein Rastplatz angesteuert, wobei auch hier wiederum die Konnotationen des Abstoßenden und Geschlechtlichen in den Vordergrund gestellt wird: Er wird beschrieben als »öffentliche Bedürfnisanstalt für Autofahrer [...] mit benützten Taschentüchern [...] widerlich [...] (es war zu erkennen, dass halbe Knackwürste, ausgelesene Pornohefte und Tampons auf den notdurfthalber niedergetrampelten Heckenpfaden weggeworfen worden waren)« (13f.). Derart Reales muss einer Theoretikerin zuwider sein, denn die Ich-Erzählerin Ruth Schwarz ist eine Wissenschaftlerin, die als Physikerin die Gesetze der Natur

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Siehe z.B. folgende Zuschreibungen in Rezensionen: »eine surreale Parabel« (Pfister 2019); »Wir lesen das in dieses Buch hinein, was uns bekannt vorkommt, […] Kafkas Schloss, […] Musils Mann ohne Eigenschaften, […] die Schauergeschichten von Wilhelm Hauff. Man kann dieses Buch aber auch anders lesen […]: als Parabel gegen den Klimawandel, als Drogenrausch, als Groteske« (Ehlert 2019); »Jedenfalls schreibt sich Edelbauer in eine Tradition der Phantastik ein, in der man ›Das flüssige Land‹ als zeitgenössisches Pendant zu E. T. A. Hoffmanns ›Der goldne Topf‹, Alfred Kubins ›Die andere Seite‹ oder Julio Cortazars neophantastischen Kurzgeschichten wie ›Axolotl‹ lesen kann.« (Baranyi 2019).

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erforscht und von der Vorstellung von Parallelwelten fasziniert ist.5 Scheinbar exakt beginnt die Erzählung im September 2007, verschlingt dann aber unversehens mindestens sechs Jahre und scheint sich zwischen den Zeitebenen bis hin zur nahen Zukunft frei zu bewegen. So wird der Roman selbst zu einer Zeitreise, bei der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in eins fallen. Angesichts der Vorstellung der Ewigkeit einer historischen Schuld scheinen Wahrnehmungsebenen von denselben Auslösungserscheinungen ergriffen: »Wenn die Zeit irreal ist, wie wir heute wissen, dann sind Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eigentlich gleichzeitig vorhanden.« (35) So spielt die Erzählung mit der Vorstellung von Parallelwelten. Dabei vermischt sie Realismus und Fantastik. Bei ihren Nachforschungen findet Ruth Schwarz, »eine alte, österreichische Stadt« oder eher eine Gemeinde, ein Dorf, im Epizentrum »ein mittelalterlicher Markt«, die Dimension der Stadt wird als klein bis kleinst festlegt (53). Alles ist postkartenidyllisch: »pittoreske Gebäude«, »eine puppenstubenhafte Volksschule; ein rot bepinseltes Postamt mit goldenem Horn; eine Bäckerei, an deren Toren eine glänzende Brezel wippte; ein einladendes Wirtshaus, das trauliches Licht absonderte; eine Milchstube« (53), mit einem Panorama, als würde man »vor einem Schaukasten mit Modelleisenbahn sitzen« (210). Sie wird sentimental: »Weil ich seit einer Woche keine größeren menschlichen Ballungsräume mehr betreten hatte, versetzte der Anblick der Gebäude, der Pflastersteine, der wie von Hand gezündeten Laternen mich in übertriebene Fröhlichkeit. Kleine, verwinkelte Gässchen – eine Perfektion, wie ich sie in keinem Quadratmeter Wiens je kennengelernt hatte.« (53)

Der Ton und die Wortwahl wirken – der Tablettencocktails legt es nahe6– manisch bis euphorisch, berauscht bis utopisch naiv, z.B. wenn die Erzählerin die »vollkommene Ungestörtheit, herrliche Einfachheit«, Spaziergänge in den Wäldern (79) preist. »Die einfachsten Verrichtungen hatten etwas Magisches an sich. Kein Mensch verwendete das Internet« (138). Die Enttäuschung folgt, denn es ist ein Kosmos mit

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Sie studierte theoretische Physik und spezialisierte sich auf die Blockuniversums-Theorie, welche die linear ablaufende Dimension von Zeit in Frage stellt, d.h. die Gesamtheit der Zeit, also Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, als gleichermaßen gegeben und real aufgefasst. Die Zeit wird somit in Analogie zum Raum gesehen. Der Verlust ihres eigenen Biorhythmus, ihre Drogenexzesse und die Beschaffenheit ihres Aufenthaltsortes scheinen wie reale Beweise der Theorie.

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Außer einem »Psychiater« vertraut die Erzählerin der Selbstmedikation mit »Ritalin«, »Wein«, »Modafinil« (37), einem Cocktail aus »Oxycontin« (72), »Xanor [...] mit reichlich Alkohol« (128), »Codein« (171) und »Valium« (339), was eine »Unsumme« verschlingt (71).

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eigenen Gesetzen, einem an Kafkas Gesetzeshüter erinnernden »Nachtwächter« (54), der die Differenzierung zwischen Einheimischen und »nicht in Groß-Einland gemeldet[en Personen]« vornimmt (55). Die Erzählerin ist zuerst verunsichert, ist konfrontiert mit der Notwendigkeit eines Sonderausweises (56) und der spürbaren »Eingeschworenheit« der Ortsansässigen (56), der »Art, wie in Groß-Einland gesprochen wurde«, den »Idiosynkratien« und findet Vieles anfangs »unfassbar merkwürdig« (59). Der Schein und die Oberfläche lassen mehr und mehr Risse und Ungereimtheiten erkennen, insbesondere eine »schwarze Aushöhlung [...] kontinental im Asphalt« (60), eigentlich ein Loch. Wieder ist der Unterbau der mittelalterlichen Stadt sexuell konnotiert: »Das Loch war von unbekannter Tiefe, Verästelung und Feuchtigkeit. Es zog sich wie ein unterirdisches Myzel unter den Bergkuppen [...] durch, brach in Röhren und Netzen an die Oberfläche und schob kontinentaldriftartig das nervöse Erdreich zu grobkörnig atmenden Halden zusammen, unter denen der faulige, pilznetzige Verfallsprozess sich eingenistet hatte. Die Bodenkruste wurde im Laufe der Jahrzehnte weicher und weicher: schmatzende Sedimente [...] gaben sich der Verflüssigung hin [...]. Kein Niederschlag, der nicht wie eine spontane Einblutung dieses [...] Aneurysma fast zum Platzen brachte.« (61)

Der historischen Wahrheit auf der Spur entdeckt die Erzählerin ein unterirdisches Schachtsystem, das ursprünglich auf der Suche nach Bodenschätzen bei der Plünderung der Natur entstanden war, doch alsbald zweckentfremdet wurde als »ein unsichtbarer, bombensicherer Ort für die Munitionsproduktion. Eine Nebenstelle des Konzentrationslagers Mauthausen« (64). Teile dieser Geschichte wurden »aufgearbeitet, eingerahmt und zu Infotafeln zusammengefasst in den Boden gestemmt [...] – es gab eine Gedenkstätte, die dem Erinnern einen exakt bezirkelten Radius zuwies, in dessen Orbit man etwa zwei Dutzend Gladiolen pflanzen konnte. Das Loch hatte also eine klar umrissene Biographie, an die zu rühren sich niemand scheute, nur dass das gesamte poröse, wabenartige Land unter dieser Berührung zu zerfallen drohte.« (64)

Alle Versuche, das Loch aufzuschütten, sind bislang fehlgeschlagen, denn zu »bodenlos« ist »das Ding« (67), was natürlich nichts anderes umschreibt als die Historie selbst, den Holocaust, das Unfassbare, Unsagbare, Unbeschreibliche, das, was alle Vorstellungskraft übersteigt und doch real ist, und schließlich auch gesellschaftlich genutzt wird. Denn ins Loch warfen die Bewohner Groß-Einlands über Jahrzehnte »Dinge, für die man sich schuldig fühlte« (315). Als Resultat versinkt die Stadt langsam, nicht in Scham, sondern ins Erdreich: »Der ganze Markt war, von den Rändern aus, ellipsenförmig eingefallen«, der Kirchturm »in bedrohlichem Winkel nach rechts gekippt« (70). In betäubtem Zustand, betäubt mit Psychopharmaka, erschien selbst diese Welt der Erzählerin »geglättet« (S.72). Doch nüchtern betrachtet

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warf die Landschaft »tiefe Schatten, die [...] nicht mit dem Stand der Sonne zusammenzupassen schienen.« (72) Ihre Arbeit im Heimatarchiv von Groß-Einland, aber auch ihre Ausflüge in die Natur, das Umland, die Freilegung der mittlerweile verborgenen Schichten, ihre archäologischen Arbeiten in Bezug auf tiefere Bewusstseinsebenen und historische Begebenheiten legen für sie den Grundstein für ein vollkommen neues Verständnis ihres eigenen Landes und dieser Region. Sie lernt die dunkle Geschichte kennen, vom mittelalterlichen Goldrausch (94) bis zur Gegenwart, von der Ausplünderung der Natur auf der Suche nach Bodenschätzen, bis hin zu den Trümmerhaufen von 1945, als die alliierten Bomber die Gegend heimsuchten, da »im Bergwerk kriegswichtige Flugzeugteile produziert wurden« (92). Ähnlich der Krachtschen These von der Zubetonierung der Vergangenheit in Deutschland (siehe FINSTERWORLD) hat man auch im österreichischen Groß-Einland die Vergangenheit überbaut, d.h. »die gesamte Stadt, so wie sie vor der Zerbombung gewesen war, einige Meter höher und nach dem Vorbild historischer Fotos erneut errichtet. Eine maßstabsgetreue Replik. [...] Groß-Einland war verrückt.« (93) Die daraus resultierenden »subtile[n] Verschiebungen« (121) stören die Postkartenidylle der »Ländlichkeit« und des Provinziellen (97) mit Jagdschlösschen, Wappen, Hirschgeweihen und Janker (96f.), denn die unverarbeitete Vergangenheit bricht überall hervor. »Probleme [...] mit Erosionen« (ebd.: 103) und »Absenkungen« (123) treten zutage. Zuerst erwehrt sich die Protagonistin dieser Vereinnahmung durch den Ort, doch dann beginnt sie »in die Natur um die Gemeinde einzuschmelzen […], es war eine lange gesuchte Zugehörigkeit, eine Identifizierung, die mich zusehends mit der Landschaft verband. [...] Ich fand eine Heimat.« (114) Mit dem materiellen tritt sie auch das geistige Erbe an und stolpert dabei sinnbildlich wie wörtlich über »hundertfache winzige Unstimmigkeiten« (194). Sie muss sich alsbald mit dem historischen Rassismus (154), Antisemitismus (155), der Naturzerstörung (156) und dem Nationalsozialismus (188), d.h. Vertreibung (183), Massenhinrichtungen und dem Holocaust (189) auseinandersetzen. Obwohl immer wieder »unpräzise Formulierungen« auftauchen (197), »die klare Erkenntnisse verunmöglichen« (197), versteht es die Protagonistin, die Auslassungen und Zwischenräume zu füllen. Sie wird, wissentlich oder nicht, Teil eines großangelegten Projekts, das der Umdeutung und Umwertung der Vergangenheit gewidmet ist. Denn diese Heimat soll ihre Existenzberechtigung als touristische Attraktion, als größte Kunstaktion der Welt, als UNESCO-Weltkulturerbe (126f.) bekommen. Vieles wird dabei kaschiert und aufgeschüttet, zugespachtelt und zugenagelt, »Vorkommnisse« (129), »Ereignisse« (188) und »unangenehme Fälle« (190) euphemistisch umschrieben oder lieber ganz ausgespart, zum »Projekt Untergrund« (128) umdefiniert und als Gedenkstätte (129) konzipiert, die Zahlen schönt und Verbrechen bagatellisiert. »Schönung, Streckung, Auffüllung«, kurz die Produktion von Fake News, bei der »gewisse Fakten« einer sogenannten Umwertung unterzogen werden, in der »unabänderliche

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Daten durch erfundene Vorteile in ein positives Licht« gerückt werden und »gefällige Powerpointpräsentationen« angefertigt werden, wird zum Tagesgeschäft der HobbyChronistin (175), die nun ja auch ihr eigenes Haus und Familienerbe bewahren will. Hinweise auf KZs wie Mauthausen, Todesmärsche, Massentötungen, Exekutionen und Benzininjektionen ins Herz (130f.) gibt es zwar zuhauf in den Archiven, doch der Zugang zu den Akten bleibt ihr lange verwehrt. Die Machthabenden, in diesem Fall eine Gräfin und ein Maskenhändler, der den Ort besucht, entpuppen sich als Meister der Verkleidung und Verschleierung (214), einer Mimikry oder Scharade, bei der die Protagonistin letztendlich nicht mehr mitmachen will. Ihre Nachforschungen und Versuche, dem Loch, seinen Absenkungen und seinem Rumoren entgegenzuwirken, fordern jedoch einen hohen Tribut. Nun war zwar im Resultat ihre Vergangenheit aufgearbeitet, doch sie verliert Freunde und soziale Kontakte und hinterlässt symbolisch so etwas wie verbrannte Erde: »Der größte Horror war jener Fleck, der als einziger nicht von den Absenkungen betroffen war: Mein eigener Garten.« (290) Hier gedeiht nichts mehr, sie hat in die Natur eingegriffen und damit selbst Unheil angerichtet: »Es war Mord [am Ökosystem] gewesen, oder zumindest fahrlässige Tötung, die ich begangen hatte.« (280) Ihr gelingt es zwar, das weitere Absacken Groß-Einlands auf ihrem Grundstück mit einer Injektion auf Benzinbasis zu verhindern, wiederholt damit jedoch die Exekutionsmethode, mit der vormals dort die Zwangsarbeiter ermordet wurden. Sie kommt sich wie eine Nestbeschmutzerin und Verräterin vor und versteht ihre Aktion als von Selbstsucht und Übereifer getrieben: »Ich hatte die Natur vergiftet, um ein Haus zu retten, das ohnehin nicht zu retten war. [...] Verrat [...]. Hatte ich das Land wirklich jemals geliebt?« (299) Die Erzählerin stellt so ihr Lebenswerk und ihre Vergangenheitsbewältigung in Frage: »Kann die Alternative vielleicht nur sein, dass es entweder gar keine Landschaft gibt oder eine tote? Keine Heimat oder eine verrottende?« (303) Die Position der moralisch Überlegenen, die sie sich anfangs anmaßt, sieht sie zunehmend kritischer, zumal ihre letzte Vertraute, die Gräfin, sie daran erinnert, dass der Dienst an der Gesellschaft, den sie zu leisten glaubt, potenziell gar keiner ist. Die Gräfin mahnt: »Hilfe sollte man nur dort leisten, wo auch jemand danach gefragt hat« (306); und erinnert an den Preis von Wahrheit: »Vergessen wir bei dem ganzen Gerede über die Toten nicht auch oft die Lebenden?« (308) Zuletzt erkennt die Erzählerin, dass man »dort am besten Wurzeln schlagen« kann, »wo vieles im Boden verrottet« (343), und wendet sich von ihrem Aufklärungsprojekt ab. »Schweigen [...] war der höchste und weitreichendste Akt der Rebellion. Ich würde mich einfach Groß-Einland entziehen, meiner sogenannten Heimat den Rücken kehren [...]: Probleme verlangten nicht nach einer Lösung, sondern nach einer vollkommenen Verflüchtigung, einer Vernichtung.« (348) Und mit diesem Entschluss wendet sich die Erzählerin vom Land ab, von der kleinen Gemeinde, der Natur; und schließlich doch auch wieder der Stadt zu, denn »eine unbändige Lust auf die Stadt [Wien] überkam mich. Ich würde schon abends [...] am Donaukanal sitzen,

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in dieser schnurgeraden Betoneinfassung des Flusses, und Menschen aus allen Nationen würden [...] vorbeirinnen.« (350) Die multikulturelle Metropole mitsamt ihrer Flüchtigkeit wird als Heilsbringerin erfahren. Hier im Strudel der Menschen aus vielen Ländern kann man seine Regional- oder Nationalgeschichte hinter sich lassen. Die alte Heimatstadt Wien diente zuerst als wichtiger Stabilisator: »Die Vorstellung, noch vor dem Mittagessen in Wien zu sein, hatte etwas zutiefst Beruhigendes an sich – in meinem Bett zu schlafen, mit meinen Freunden [...] zu sprechen« (44), die eigene »Wohnung« und der geordnete »Alltag« hatten etwas Therapeutisches (46). Erst sukzessive wurden sie, parallel zur Annäherung an die Geschichte Groß-Einlands, zum Anathema; z.B., wenn die Protagonistin bemerkt, »dass die Vorstellung, mich in eine Stadt [wie Wien] zu bewegen, eine nicht unbeträchtliche Abscheu in mir hervorrief. [...] der Gedanke an den Lärm, das Tempo, an das Weiterlaufen der Zeit« (143) waren unerträglich geworden. Schlussendlich nimmt Wien allerdings utopische Züge an, wie auch eine Rezensentin in der SZ bemerkt: »Eine von vielen Menschen unterschiedlicher Herkunft, Traditionen und Ethnien mehr oder weniger friedlich bewohnte Großstadt ist hier die eigentliche Insel der Seligen. Viel spricht dafür, dass dieser am Ende angerufene Ort die Gegenwelt und sogar das Gegengift zu der Homogenisierungsfantasie ist, die Edelbauer mit Groß-Einland entworfen hat.« (Engelmeier 2019) Mit diesem Roman komponiert Edelbauer zum einem das Schweigen und Verschweigen, die Auslassungen in ihrer Nationalgeschichte. Zum anderen informiert der Roman über das geladene Verhältnis zu Landschaft und Region, Metropole und Peripherie. Erst als sie sich mit dem Wissen um die dunkle Geschichte des Landes wieder in die multikulturelle und globalisierte Welt begibt, hat sie – anscheinend paradox – feste Fundamente im Flüchtigen unter den Füßen.

F AZIT Alle drei Autorinnen spielen mit dem scheinbaren Stadt-Land-Dualismus in zeitgenössisch bis futuristisch anmutenden Welten und verdeutlichen ein gewisses Missbehagen angesichts aktueller Entwicklungen: Julia von Lucadou mit Blick auf sozialen Status, abgeleitet vom Wohnsitz in Stadt oder auf dem Land, Gianna Molinari mit Blick auf Konsum und Migration sowie Raphaela Edelbauer mit Blick auf die national-regionale Geschichte, mit der in der Metropole anders umgegangen wird als auf dem Land. In ihren Romanen wird das Land in Form von Peripherie, Natur und Dorf behandelt. Es werden verschiedene Formen von Stadtflucht aufgezeigt, die im Kontrast zur lange Zeit beobachteten Landflucht stehen. In klarer Abgrenzung zu Stadt und Metropole wird das Land als potentielle Rettung mystifiziert, wie in der HOCHHAUSSPRINGERIN von Lucadou, als denkbar humanisierende Natur und Naturgewalt in Form von Wald und Wolf gesehen, wie in Molinaris HIER IST NOCH ALLES

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MÖGLICH, und in der Form der Dorfgemeinschaft erst heimatfilmartig glorifiziert und

dann dekonstruiert, wie in Edelbauers DAS FLÜSSIGE LAND. Explizit knüpft Edelbauer dabei selbst an die These von Reckwitz an: »Bald entdeckt sie [die Protagonistin, A.L.] in sich – was ich übrigens immer häufiger auch bei jungen Menschen sehe – eine geradezu konservative Hinwendung zum ländlichen Zugehörigkeitsgedanken. Natürlich ist das die Sehnsucht der in Deutschland und Österreich lebenden Midtwens: Einen unschuldigen, naiven Zugang zum verlorenen Paradies der heimatlichen Landschaft.«7

Alle drei Autorinnen arbeiten zudem in einem Bereich, der dem Eco-Feminismus zugeschrieben werden kann. Auch dies können Edelbauers literarische Selbstaussagen stellvertretend verdeutlichen: »Die Landschaft und Natur – wobei das natürlich auch als irgendeine ursprüngliche Konfiguration des Kosmos bezeichnet werden kann – wurde unendlich oft vergewaltigt, missbraucht und gleichzeitig hypostasiert als idyllische Urheimat. Und wenn diese Landschaft das Grauen wieder herausbricht wie unter einem gewaltigen Ermetikum, oder einen verschlingt, dann vertraut man eben mit der gleichen Naivität, mit der man gerade noch die grünen Wiesen angebetet hat, auf die Heilsversprechen der Technik. Das ist ja ebenso kein Widerspruch in Österreich: dass man jeden Tannenzapfen verehrt und sich in seiner regionalen Verbundenheit mit Zirbenöl einschmiert und gleichzeitig in riesige Skipisten investiert, die die Natur ganzer Bergmassive auslöscht.« (Ebd.)

In ihren Romanen entwerfen alle drei Autorinnen fiktive Welten, denen ein düsteres Element eigen ist. Während die Erzählerin in HOCHHAUSSPRINGERIN ein sowohl abwertendes als auch wünschenswertes Bild des Landes kreiert, das die Gefahr und gleichermaßen den Wunsch in sich birgt, sich dem sozial kontrollierten Leben entziehen zu können und so das Glück im vermeintlichen Urzustand der Natur zu finden, wird in Molinaris postindustrieller Welt die Natur ins Urnatürliche weitergesponnen, die Eskapismus ermöglichen soll. Auch in Edelbauers Roman sucht die Erzählerin aus Wien Sicherheit und findet sie im einfachen, schönen, natürlichen Dorf Groß-Einland, das auf dem zweiten Blick jedoch nicht schön, sondern nur verschönert ist. Jeder Ort trägt seine Geschichte, doch sie scheint in der Natur auf dem Land stärker nachzuwirken. Geschichte und Dorf sind für die Ewigkeit miteinander verbunden. Diese Verbindung schließt ein oder aus, eine Verbindung, die in der geordneten, anonymisierten Unruhe der Stadt nur leichter verdrängt werden

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So Edelbauer auf dem Autorenblatt-Portal ihres Verlages Klett-Cotta, siehe online unter: https://literaturblatt.ch/raphaela-edelbauer-das-fluessige-land-klett-cotta/ (19.03.2020).

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kann. In jedem Fall – egal ob in Bezug auf Stadt, Land oder Dorf – zeigt sich jedoch, dass unsere Umwelt uns unweigerlich prägt.

L ITERATUR Atwood, Margaret (2005): »Writing Utopia«, in: Dies., Writing with Intent. Essays, Reviews, Personal Prose 1983-2005, New York: Carroll & Graf, S. 92-100. Baranvi, Florian (2020): »Ein Dorf als Österreich-Labor«, in: ORF.at vom 25. August 2019, online: https://orf.at/stories/3134551/. Bell, Daniel (1975): Die nachindustrielle Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Campus. Brake, Michael (2019): »Los, heul doch«, in: Fluter vom 25. September 2019, online: https://www.fluter.de/wolf-gefahr-debatte-deutschland. Edelbauer, Raphaela (2019): Das flüssige Land, Stuttgart: Klett-Cotta. Ehlert, Jan (2019): »Wenn Verdrängung zum Verhängnis wird. Das flüssige Land von Raphaela Edelbauer«, in: NDR Kultur vom 19. September 2019, online: https://www.ndr.de/kultur/buch/Das-fluessige-Land-Deutscher-Buchpreis-fuerRaphaela-Edelbauer,dasfluessigeland100.html. Engelmeier, Hanna (2019), »Brüchiger nie«, in: Süddeutsche Zeitung vom 14. Oktober 2019, online: https://www.sueddeutsche.de/kultur/raphaela-edelbauerdas-fluessige-land-rezension-buchrezension-1.4600131. Hildebrand, Kathleen (2018): »Meditiert, dann seid ihr besser auszubeuten«, in: Süddeutsche Zeitung vom 23. Juli 2018, online: https://www.sueddeutsche.de/ kultur/deutsche-gegenwartsliteratur-ein-leben-im-flow-1.4064723. Jähner, Harald (2020): Wolfszeit, Bonn: bpb. Klöckner, Julia (2020): n-tv Nachrichten vom 21. Januar 2020. Koch, Julia (2020): »Der Lightwolf«, in: Der Spiegel 8/2020, S. 104-105. Kümmel, Anja (2018): »Die oben wohnen im Licht. Die Hochhausspringerin«, in: Die Zeit vom 08. September 2018, online: https://www.zeit.de/kultur/literatur/ 2018-08/die-hochhausspringerin-julia-von-lucadou-dystopie-roman. Molinari, Gianna (2018): Hier ist noch alles möglich, Berlin: Aufbau. Münger, Felix (2018): »Die Hochhausspringerin von Julia von Lucadou«, in: SFR vom 7. Oktober 2018, online: https://www.srf.ch/sendungen/52-beste-buecher/ die-hochhausspringerin-von-julia-von-lucadou Pabst, Manfred (2018): »Wer gewinnt den Schweizer Buchpreis?«, in NZZ am Sonntag vom 08. November 2018, online: https://nzzas.nzz.ch/kultur/schweizer-buchpreis-die-nominierten-werke-ld.1435074?reduced=true. Pfister, Eva (2019): »Abgründe, die niemand sehen will«, in: Deutschlandfunk vom 04. Oktober 2019, online: https://www.deutschlandfunk.de/raphaela-edelbauerdas-fluessige-land-abgruende-die-niemand.700.de.html?dram:article_id=4603 19.

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Reckwitz, Andreas (2020): »Der Kampf um das Bürgerliche. Essay«, in: Der Spiegel 8/2020, online unter: https://magazin.spiegel.de/SP/2020/8/169470965/ index.html (16.07.2020) Redepenning, Marc (2019): »Stadt und Land«, in: Werner Nell/Marc Weiland (Hg.), Dorf. Ein interdisziplinäres Handbuch, Berlin: J.B. Metzler, S. 315-325. Seibel, Klaudia (2020): »Weibliche Perspektiven der Zukunft. Science Fiktion von deutschsprachigen Autorinnen«, Online: https://www.phantastik.eu/veranstal tungen/wetzlarer-tage-der-phantastik-uebersicht/wetzlarer-tage-der-phantastik2020.html (16.07.2020) Schrader, Carsten (2018): »Julia von Lucadou: Die Hochhausspringerin«, in: Kultur News vom 5. August 2018, online: https://kulturnews.de/julia-von-lucadou-diehochhausspringerin/. Tillich, Paul (1951): Politische Bedeutung der Utopie im Leben der Völker, Berlin: Gebr. Weiss. Tofler, Alvin (1970): Der Zukunftsschock, Bern: Scherz. Touraine, Alain (1972): Die postindustrielle Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. von Lucadou, Julia (2018): Die Hochhausspringerin, München: Hanser Berlin.

Die Zukunft auf dem Lande – früher und heute Verhandlungen über die Zukunftsfähigkeit des Dorfes im bundesdeutschen Fernsehdokumentarismus C HRISTIAN H ISSNAUER

Dorf- und Landleben waren schon immer auch Gegenstand des bundesdeutschen Fernsehdokumentarismus. Seit einigen Jahren gibt es regelrecht eine Welle an unterschiedlichen Dorf- und Landdokus (vgl. Hißnauer 2018, 2020). Neben Einzelstücken und Reihenbeiträgen sind es vor allem Reihen und Serien wie DEUTSCHLAND, DEINE DÖRFER (ARD 2010-2012), UNSER DORF HAT WOCHENENDE (MDR seit 2016), LANDLEBEN4.0 (SWR seit 2016) oder HOFGESCHICHTEN (NDR seit 2018), die mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen im Programm präsent sind und das Thema im Fernsehen prägen. Selbst das ›Reality TV‹ kommt an dem Landthema nicht vorbei, wie das Container-Format DIE ALM – PROMISCHWEIß UND EDELWEIß (Pro7 2004/2011)1 oder Kuppel-Shows à la LAND & LIEBE – PARTNERSUCHE AUF DEM BAUERNHOF (NDR 2005-2010) und natürlich BAUER SUCHT FRAU (RTL seit 2005),2 das offenbar unverwüstliche Fleischbeschau-und-Fremdschäm-Format, zeigen.

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Es handelt sich um eine Art PROMI BIG BROTHER (Sat1 seit 2013) mit Landthema und ›Muhproben‹ im Stil der Dschungelproben von ICH BIN EIN STAR – HOLT MICH HIER RAUS! (RTL seit 2004), dem allseits beliebten – zumindest sehr erfolgreichen – ›Dschungelcamp‹.

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Beide Produktionen, einmal von dem öffentlich-rechtlichen Norddeutschen Rundfunk, das andere Mal von dem privatwirtschaftlich organisierten Programmanbieter RTL realisiert, basieren interessanter Weise auf dem britischen Format FARMER WANTS A WIFE (ITV 2001/Channel 5 2009). Im Schweizer Fernsehen lief bereits 1983 mit BAUER SUCHT BÄUERIN eine vergleichbare Sendung (vgl. auch Braun 2012: 19).

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In den einzelnen Sendungen und Formaten spielt immer wieder auch die Zukunftsfähigkeit des Landes eine Rolle – wenn auch zum Teil eher implizit.3 Die Frage nach der Zukunft der Provinz verweist dabei auf die Vorstellung, dass »der Prozess der Modernisierung an räumliche Strukturen gekoppelt« sei (Laschewski et al. 2019: 6). Produktionen wie LANDLEBEN: LUST ODER FRUST? (2015; Tim Boehme) werfen einen eher negativen Blick auf rurale Gegenden und sind von einer Defizitperspektive geprägt, der auch ein Nachzeitig- bzw. Ungleichzeitigkeitsdenken innewohnt. Als implizite oder explizite Vergleichsgröße fungiert in diesem Kontext die Großstadt bzw. Metropole, die wiederum als Zeichengeber zukünftiger Entwicklungen dient. Allerdings wird nicht immer der Stadt, die hierbei auch als traditionsloser Modernisierungstreiber erscheinen kann, das Dorf als rückständige Gemeinschaft gegenübergestellt.4 Gerade im gegenwärtigen Fernsehdokumentarismus erscheint das Dorf oft als »Ort besonderer Gestaltungsmöglichkeiten« (Laschewski et al. 2019: 28).5 Die Provinz wird dann als Spielraum für experimentellen Selbstverwirklichung, für das »Mit-sich-Experimentieren« (Lohmann 2007: 44) inszeniert.6 Für einige

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So bspw. bereits in SONNTAG. BEOBACHTUNGEN AUF EINEM DORF (SFB 1971; Karlheinz Knuth), in dem das Thema Strukturwandel vor allem während der Gespräche der Bauern untereinander oder in ihren eigenen Aussagen zur Sprache kommt.

4

Die Vorstellung des Dorfes als Gemeinschaft (vs. städtische Gesellschaft) ist ein idealisiertes, aber bis heute wirkmächtiges, auf Ferdinand Tönnies’ (1979 [1887]) idealtypisch gedachte Unterscheidung zurückgehendes Bild. Bereits Rüssel (1928: 29) stellte allerdings die ›heile Welt‹ des dörflichen Zusammenhalts in Frage, da die dörfliche »Nachbarschaft […] mehr ein Nebeneinander und nur ein gelegentliches Miteinander« sei. Jeggle und Ilien (1978: 38) gehen sogar so weit, die »Dorfgemeinschaft als Not- und Terrorzusammenhang« zu beschreiben.

5

Andere Reihen fungieren hingegen vor allem als touristische Wegweiser und televisuelle Reiseprospekte (vgl. Hißnauer 2018), so z.B. die MDR-Produktionen UNTERWEGS IN SACHSEN, UNTERWEGS IN SACHSEN-ANHALT und UNTERWEGS IN THÜRINGEN (jeweils seit 1994) oder die SWR-Sendereihe EXPEDITION IN DIE HEIMAT (SWR seit 2011). Explizit bezeichnet sich FAHR MAL HIN (SR/SWR seit 1987) auf der Senderhomepage als »[d]er etwas andere Reiseführer durch Baden-Wüttemberg [sic!], Rheinland-Pfalz und das Saarland« (SR o.J.). – Formate wie UNSER DORF HAT WOCHENENDE (MDR seit 2016) dienen auch identitätsstiftend bzw. als Form der regionalen Selbstvergewisserung (vgl. Hißnauer 2020). Darüber hinaus finden sich auch LANDLUST (seit 2005) affine, also eher Life-Style orientierte Produktionen wie LANDFRAUENKÜCHE (BR seit 2009) oder LAND & LECKER

(WDR seit 2009), die beide auf dem Schweizer Format LANDFRAUENKÜCHE ba-

sieren (vom SRF seit 2007 im Rahmen der Reihe BI DE LÜT ausgestrahlt). 6

Siehe dazu am Beispiel BILDERBUCH: DIE UCKERMARK (RBB 2012; André Meier/Anja Baum) Hißnauer/Stockinger (2021: 152ff.).

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Reihen wie bspw. LANDLEBEN4.0 (SWR seit 2016) ist das die bestimmende Formatlogik (s.u.). Im Folgenden geht es um die Frage, wie im Fernsehdokumentarismus der vergangenen Jahrzehnte die Zukunft bzw. Zukunftsfähigkeiten des Landes bzw. Dorfes thematisiert und verhandelt wurde und wie sich der Blick des Fernsehens in und auf die ›Provinz‹ ggf. verändert hat. Er bietet sich nicht nur aufgrund der ihm zugeschriebenen Authentizität in besonderer Weise als Beobachtungsobjekt an, da er Einblicke in das ›wahre Leben‹ verspricht.7 Vor allem die föderal strukturierte ARD mit ihrem öffentlich-rechtlichen Anspruch und ihrer stark ausgeprägten regionalen Verortung greift das Thema Zukunft des Landes immer wieder auf. Gerade in der historischen Rückschau bzw. Gegenüberstellung werden dabei veränderte Wahrnehmungsweisen, Deutungsmuster und Mentalitäten erkennbar, die dokumentiert, reflektiert und überhaupt erst erzeugt werden. Auch wenn in den letzten Jahren eine rege Forschung zum ›Provinzerzählen‹ einsetzte,8 so muss man doch feststellen, dass das Fernsehen – und insbesondere seine dokumentarischen Formen – dabei selten in den Blick genommen wird. Von daher kann auch der vorliegende Beitrag nur exemplarisch vorgehen, da bislang eine auch nur halbwegs systematische Forschung zum Thema Landleben im Fernsehdokumentarismus nicht existiert.

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PRODUZIEREN

Aus medien(kultur)wissenschaftlicher Perspektive geht es analytisch nicht um die Frage, ob rurale Gebiete zukunftsfähig sind bzw. eine Zukunft haben, sondern vielmehr darum, ob (und wie) ›das Land‹ als zukunftsfähig konstruiert wird; ob also die Provinz als zukunftsfähiger Raum medial produziert wird. Gleichzeitig geht diese Frage über einen medien(kultur)wissenschaftlichen Horizont hinaus, da sie sich nicht nur auf die mediale Repräsentation des ländlichen Raums bezieht. Daher ist es nötig, zumindest ein theoretisches Konzept medialer Raumproduktion zu entwickeln, das weitere Dimensionen berücksichtigt. An anderer Stelle habe ich dafür zusammen mit Claudia Stockinger das sog. Raum-Zwischenraum-Modell vorgeschlagen (vgl. Hißnauer/Stockinger 2021 u. 2022). Es kombiniert Henri Lefebvres Theorie der sozialen Produktion des Raums (1991, 2015) mit Roger Odins semio-pragmatischen Ansatz zur medialen Sinn- und Bedeutungsproduktion (1994, 1995a/b, 2000, 2002, 2019).

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Zur Problematisierung dieses Authentizitätsversprechens siehe Hißnauer (2011). Siehe z.B. viele Bände der von Werner Nell und Marc Weiland bei transcript seit 2014 herausgegebenen Reihe RURALE TOPOGRAFIEN oder das 2020 von Claudia Stockinger herausgegebene Schwerpunkheft PROVINZ ERZÄHLEN der ZEITSCHRIFT FÜR GERMANISTIK.

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Nach Lefebvre ist Raum relational und sozio-historisch wandelbar zu denken. In einem wechselseitig dialektischen Zusammenspiel von wahrgenommenem, konzipierten und gelebten Raum bzw. von räumlicher Praxis, Raumrepräsentation und Repräsentationsraum wird er permanent (re)produziert (vgl. Lefebvre 2015: 333, 335ff.). Schmidt (2010: 210-226) beschreibt die Dimensionen der Raumproduktion daher auch als materielle, Wissens- und Bedeutungsproduktion. Zwischen diesen Dimensionen vermittelt, so unser Raum-Zwischenraum-Modell, der Text, die Aneignung des Textes und das Bedingungsgefüge des Textes (siehe Abb. 1). Abb. 1: Das Raum-Zwischenraum-Modell nach Hißnauer/Stockinger (2021: 148; vgl. auch 2022).

Eigene Darstellung

Medien haben einen (un)mittelbaren Anteil an der (Re)Produktion des Raums. Sie haben dabei nicht nur eine wirklichkeitsbestätigende Funktion. Bspw. werden medial ländliche Zukunftsvorstellungen vermittelnd popularisiert, diskursiv verhandelt und reflexiv befragt. Medien zeitigen zudem materielle Effekte, da sie in der Aneignung die Wahrnehmung von und das Handeln im Raum beeinflussen. Medien können so die Idee von der Zukunftsfähigkeit des Landes verbreiten, zukunftsweisende

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Konzepte bereitstellen und zur (zukünftigen) Umsetzung anregen.9 Damit gestalten sie die Zukunft des Landes.10

Z URÜCK IN DIE Z UKUNFT : D ER B LICK AUF DIE D ORFENTWICKLUNG IN DEN 1960 ER J AHREN Der Strukturwandel auf dem Land und im Dorf wird schon seit den 1960er Jahren immer wieder vom Fernsehen aufgegriffen; gerade auch in seinen dokumentarischen Sendungen.11 Ein frühes Beispiel dafür ist der für die damalige Zeit sehr eigenwillige Film ÖDENWALDSTETTEN. EIN DORF ÄNDERT SEIN GESICHT von Peter Nestler und Kurt Ulrich (SDR 1964).12 Eigenwillig ist der Film vor allem aufgrund des Verzichts auf einen Kommentar. Es sind nur O-Töne – teils von einem Sprecher eingesprochen – als voice over zu hören.13 Dabei bleiben die Dorfbewohner, die sich in dem Film äußern, oft anonym. So wird auch deutlich, dass Ödenwaldstetten in dieser Dokumentation pars pro toto steht für eine Entwicklung, die viele bundesdeutsche Dörfer betrifft.14

9

Ebenso ist der umgekehrte Fall denk- und beobachtbar: Wenn man überall nur vom Sterben der Dörfer liest, hört und sieht, so wird auch das die Vorstellung über die Zukunftsfähigkeit der Provinz beeinflussen.

10 Das heißt natürlich nicht, dass mediale Leitbilder ungebrochen, also eins-zu-eins, übernommen werden. Daher lässt sich der Aneignungsprozess auch nicht postulieren, sondern nur kommunikations- und sozialwissenschaftlich anhand konkreter Fälle untersuchen. 11 Natürlich fanden (und finden) sich immer auch Dokumentationen, die Momentbeschreibungen bzw.-beobachtungen der Provinz sind und einen (möglichen) Strukturwandel nicht thematisieren; seien sie affirmativ wie bspw. KLEINE WINTERREISE IN DEN HARZ. EIN FILMBERICHT ÜBER NORDDEUTSCHLANDS SKIPARADIES (NWDR 1955; Jürgen Roland), seien sie kritisch wie bspw. SCHÜTZENFEST IN BAHNHOFSNÄHE. BEOBACHTUNGEN AUF DEM DORFE

(SDR 1961; Dieter Ertel/Georg Friedel). – Produktionen wie DIE SCHULE IM

DORF – DAS ENDE DER ZWERGSCHULEN? (BR 1964; Helmut Dotterweich) fokussieren einen spezifischen Aspekt des Wandels, während andere wie bspw. ÖDENWALDSTETTEN. EIN DORF ÄNDERT SEIN GESICHT (SDR 1964; Peter Nestler/Kurt Ulrich) versuchen, ein umfassenderes Bild zu zeichnen. 12 Ödenwaldstetten gehört seit 1975 zur Gemeinde Hohenstein. 13 Der Film selbst ist – wie zu dieser Zeit durchaus noch üblich – stumm gedreht, d.h. ohne begleitenden Ton. 14 Ungewöhnlich für diese Zeit erscheint mir auch, dass ÖDENWALDSTETTEN das Thema NSVergangenheit und Judenvernichtung sowie ihre Verdrängung explizit thematisiert: »Die ganzen Sachen von früher und den Krieg, das hat man fast alles vergessen. Es ist immer

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Aufgrund des bewussten Verzichts auf einen kommentierenden Sprechertext und der assoziativen, eher essayistischen Montage, ergibt sich erst durch die Gegenüberstellung von Aussagen und Beobachtungen ein Bild der dörflichen Entwicklung. Auffällig ist dabei insbesondere, wie unterschiedlich die Landwirtschaft im Vergleich zu anderen dörflichen Wirtschaftszweigen wie der Brauerei, einer kleinen Trikotagenfabrik und der Frottierweberei dargestellt bzw. thematisiert wird: »Man sagt, dass der mehr Geld hat, der andre für sich arbeiten lässt« (Min. 14) äußert ein Dorfbewohner mit Blick auf die Inhaber dieser Produktionsfirmen und weiß zu berichten, dass in der Trikotagenfabrik »auch viele Mädchen [arbeiten], die ihre Aussteuer verdienen woll’n. Die könn‘ sich ganz schön was anschaffen von dem Geld.« (Min. 14)15 Durch den ganzen Film zieht sich die (eher) positive Darstellung dieser Betriebe (insbesondere hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen Erfolge), während die Landwirtschaft (eher) problematisiert wird.16 So beschwert sich bereits am Anfang des Films ein Bauer über die hohen Anschaffungskosten der benötigten Landmaschinen, denen stagnierende Erzeugerpreise für landwirtschaftliche Produkte »in keinem Verhältnis« (Min. 3) gegenüberstehen: »Das Geld für die Maschine‘, das muss saure verdient werde‘. Das wird manchmal vom Mund abgespart.« (Min. 3) Zwar wird bspw. in der Milchproduktion von einer deutlichen Leistungssteigerung gesprochen – trotz (oder gerade wegen?) – einer geringeren Anzahl an Milchbauern,17 doch Spezialisierung und Massentierhaltung werden nicht als Ausweg aus der Krise dargestellt, wenn »kaum die Erzeugerkosten gedeckt« (Min. 26) sind.18 In den Familienbetrieben

was Neues gekommen. Was hinter einem ist, ist gemäht.« (Min. 35) – Das Dorf, so wird hier mit der Aussage des Bauers am Ende auch suggeriert, wird genauso den aktuellen Wandel überdauern. 15 Eine der im Bild gezeigten Mitarbeiterinnen wird in diesem Zusammenhang namentlich vorgestellt. Erwähnt wird, dass die 24jährige bereits seit sechs Jahren im Betrieb arbeitet. Damit wird implizit auch auf einen (beginnenden) Wandel dörflicher Rollenbilder verwiesen. Zum einen gehen junge Frauen zunehmend einer Erwerbsarbeit nach. Zum anderen aber scheint es so, als ob sich damit auch das Heiratsalter verschiebt. 16 Dass die Lohnunterschiede zu sozialen Verwerfungen im Dorf führen können, wird lediglich angedeutet: »Heute schlafen die Bauern bis fünf, sechs Uhr. Früher ist man oft schon um drei Uhr aufs Feld, um zu heu’n. Aber ist trotzdem besser gewesen. Da haben alle gleich viel gehabt und gleichviel schaffen müssen. Die sind auch nicht glücklicher, die andauernd mehr haben woll’n.« (Min. 7) 17 Damit wird impliziert, dass in Ödenwaldstetten Höfe aufgegeben wurden. Thematisiert wird dies aber nicht näher. 18 Ein Problem, das offenbar bis heute gilt; siehe z.B. ZDF REPORTAGE: LANDFRUST – BAUERN UNTER DRUCK

(ZDF 2020; Felix Krüger).

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müssen daher alle mithelfen – selbst die Kinder. Daraufhin sei auch das ländliche Schulwesen ausgerichtet.19 Auch die jungen Arbeiterinnen bleiben ihrer Arbeit fern, wenn sie auf dem Hof gebraucht werden. Insgesamt aber stünden über dem Bauernstand »schwarze und graue Wolken« (Min. 7) und vor allem eine ungewisse Zukunft, wie ein Landwirt sich äußert. Im Zusammenhang mit dem Schützenverein erwähnt ein Vereinsmitglied, dass »die Jugend […] heute den Drang nach Auswärts« (Min. 26) habe.20 Auch werden an anderer Stelle der Produktion 55 Auspendler genannt. Dennoch scheint das Dorf mit seinen gewerblichen und verarbeitenden Betrieben noch Zukunftsperspektiven zu haben – immerhin gibt es auch 15 Einpendler in das Dorf. Zumindest problematisiert ÖDENWALDSTETTEN den Aspekt des Wegzuges nicht weiter, obwohl er in den 1960er Jahren unter dem Schlagwort Landflucht durchaus schon diskutiert wurde. So fragt Wolf Feller 1962 in seinem Feature, ob LANDFLUCHT EINE FRAGE DES LOHN’S? [sic!] (BR) sei.21 Auch in dieser Dokumentation geht es – allerdings deutlich expliziter als in ÖDENWALDSTETTEN – um die Umbrüche in und die Zukunft der Landwirtschaft in der industriellen Gesellschaft. Insbesondere thematisiert Feller den harten Konkurrenzkampf zwischen Industrie und Landwirtschaft um Arbeitskräfte im Wirtschafswunderland, den zumeist die Industrie mit ihren vergleichsweise hohen Löhnen22 (immerhin durchschnittlich 2,67 DM Stundenlohn) gewinnt:23 »Ohne Bedauern kehren also viele Söhne und Töchter24 unserer Bauern der unrentablen Scholle den Rücken.« (Min. 11) Das hat Folgen: »Ausgestorben liegen die Dörfer dar. Von ihren

19 Der Dorflehrer sieht daher in der geplanten, gemeindeübergreifenden Zentralschule »ein[en] Schritt vorwärts zum Wohle der Landbevölkerung« (Min. 13). 20 Zur Bedeutung des Schützenvereins in diesem Film siehe Hißnauer (2018: 239f.). 21 Auch in ÖDENWALDSTETTEN wird immer wieder auf die vergleichsweise hohen Löhne von Fabrikarbeiterinnen und -arbeitern verwiesen. 22 In ÖDENWALDSTETTEN beschwert sich ein Bauer, dass die Landwirte im Prinzip diese hohen Löhne durch den Kauf teurer Maschinen mitbezahlten, obwohl sie selbst nur »die Preise von vor 10 Jahren« bekämen (Min. 3). 23 Höhere Löhne und mehr Freizeit werden auch noch in den späten 1970er Jahren als Gründe für die ›Landflucht‹ genannt; so z.B. in DER BAUERNKNECHT ALOIS PÖCHMANN (BR 1978; Richard Blank). 24 Auch in diesem Film wird, wie in ÖDENWALDSTETTEN, weibliche Erwerbsarbeit thematisiert. Der höhere Verdienst wird hier allerdings nicht mit Blick auf die Aussteuer kommentiert (von einer jungen Bauerstochter, die auf dem Hof ihres Vaters arbeitet), sondern hinsichtlich des privaten Konsums (neue Schuhe, Urlaubsreisen). Als weitere Vorteile sieht die junge Frau aber auch die größere Unabhängigkeit vom Elternhaus – und den erfolgversprechenderen ›Heiratsmarkt‹: »Und in der Fabrik da find‘ ma‘ a‘ leichter ‘n Burschen zum Heiraten, denn in Bauernhof will scho‘ keiner mehr rein.« (Min. 6)

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Bewohnern um besseren Lohn verlassen.« (Min. 2)25 Doch die hohen Löhne sind es nicht allein: »Die Faszination des urbanen Lebens – auch ein Grund für die Landflucht.26 Und doch ist es keine Flucht. Flucht ist etwas anderes; ist Hast, Verzweiflung, Ausweglosigkeit, frierende Kinder, klagende Mütter.« (Min. 9)

Im Bild sind u.a. Flüchtlingstracks (vermutlich) vom Ende des Zweiten Weltkriegs zu sehen. Durch Kommentar und Bild macht Feller damit deutlich, dass ›Landflucht‹ etwas anderes ist: eine bewusste, nicht unter Zwang getroffene Entscheidung für ein anderes Leben; ein – vielleicht (noch) – dörfliches Leben, das die angenehmen Aspekte der Stadt nicht missen will. Bereits hier deutet sich Rurbanität als neuer Lebensstil an,27 denn Feller bezieht sich vor allem auf Berufspendler, die in der Stadt arbeiten, aber (noch) auf dem Dorf leben.28 ›Landflucht‹ wird vielmehr als eine mehr oder weniger logische, mithin notwendige Entwicklung dargestellt, als ein Gesundschrumpfen des primären Sektors:29 »In Zukunft werden weniger Bauern mehr Menschen versorgen – und dabei besser verdienen.« (Min. 35)30 Technisierung,

25 Das gilt zumindest tagsüber, wenn die Berufspendler unterwegs sind. 26 Es ist schon vielsagend (und garantiert nicht zufällig), dass das einzige Ortsschild, das man in dem Beitrag sieht, das von Einöd ist (Min. 3). Der Ort gehört heute zu Dietramszell. 27 Vgl. dazu Dirksmeier (2009), der Urbanität als Habitus begreift. Urbanisierung wäre demnach ein »Diffusionsprozess von habitueller Urbanität« (ebd.: 265). 28 Solche Auspendler werden nicht nur von der Industrie angeworben. Erst der Einsatz von Werksbussen ermöglicht es Anfang der 1960er Jahre vielen Arbeiterinnen, Arbeitern und Angestellten, einen bis zu 50 km (oder sogar noch weiter) entfernten Arbeitsplatz anzunehmen. 29 Dass dies nicht zwingend zu einem Aussterben der Dörfer geführt hat, zeigt bspw. LANDLEBEN4.0 – IN GOMADINGEN / SCHWÄBISCHE ALB (SWR 2018; Tanja Hamilton). Hier wird

ein Dorf porträtiert, das trotz sehr hoher Auspendlerquote von 80% ein reges Dorfleben aufweist. 30 »Immer weniger Bauern vertrauen dem Segen ihrer Felder, der im Zeichen des Welthandels anderswo billiger zu haben ist. Man mag das bedauern. Doch andererseits kann sich das Einkommen der Bauern nur dann verbessern, wenn sich die Zahl der ländlichen Arbeitskräfte verringert, sonst zehren zu viele von einem Einkommenskuchen. Gibt es einen Ausweg? Bundeswirtschaftsminister Ehrhard glaubt es. Er meint: Unsere Landwirtschaft hat eine blühende Zukunft, wenn die darin tätigen Menschen ihre Arbeit nicht nur unter dem Gesichtspunkt des Lohnes sehen.« (Min. 7) Die Aussage von Ehrhard wird im Kommentar allerdings kritisiert: Mit Recht verlange die jüngere Generation nach einem höheren Lebensstandard auch auf dem Dorf. Dies sei für viele – so legt der Film nahe –

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Rationalisierung, Spezialisierung, aber auch betriebsübergreifende Kooperationen und Partnerschaften31 werden als zukunftsweisend für die Landwirtschaft dargestellt32 – aber auch der sog. Freizeitbauer, der seinen kleinen Hof nur noch im Nebenerwerb bewirtschaftet:33 »In einem dramatischen Wechselspiel zwischen Stadt und Land ist hier ein neuer Typ des Bürgers entstanden: Abhängigkeit in der Fabrik, aber absolute Selbständigkeit daheim machen ihn krisenfest gegen soziale Spannungen. Doch wenn das Hobby, wenn diese Kleinstbauern zum Maßstab der Agrarpolitik werden, dann ist selbst dieser Damm gegen die Landflucht bedenklich.« (Min. 33)

Wenn mit Bezug auf den Feierabendlandwirt von einem Hobby gesprochen wird, dann ist es entlarvend. Bei einem Hobby stellt sich kaum die Frage nach Rentabilität und wirtschaftliche Sinnhaftigkeit. Hobbies kosten Geld. Zumindest stellt der Nebenerwerbshof eine Doppelbelastung dar. Als Generationskonflikt erzählt Ramon Gill34 vom Strukturwandel als GENERATIONSWECHSEL AUF DEM LANDE. DIE WEINBAUERN IN BURRWEILER (1970)35 stehen im Mittelpunkt seines Films. Zwar werden als Ursachen für die schlechte wirtschaftliche Situation der dörflichen Winzer das Erbrecht, das zu immer kleineren,

aber nur mit den höheren Industrielöhnen realisierbar. In einem landwirtschaftlichen Betreib, so Gisela Ellenberg 1975 in ihrem Film EINE FRAU AUF DEM LANDE (NDR), spiele bei der Anschaffung von Geschirrspüler, Waschmaschine und Trockner aber auch die Rentabilität eine Rolle: die Ehefrau als Arbeitskraft könne auf dem Hof »mehr erwirtschaften« (Min. 10) als in der Küche. 31 Z.B. in dem Sinne, dass sich mehrere Betriebe teure Maschinen teilen. 32 Dies vor allem an einem britischen Beispiel. 33 Wachsen oder Schrumpfen werden quasi als einzige Alternativen vorgestellt. 34 In LANDFLUCHT EINE FRAGE DES LOHN’S? [sic!] wird zwar auch die jüngere Generation als Treiber der Entwicklung dargestellt, doch wird dies nicht explizit als ein Konflikt zwischen den Generationen verhandelt. So äußert z.B. ein nicht mehr ganz junger Landarbeiter mit Blick auf die hohe Arbeitsbelastung und den geringen Verdienst: »Was hoast des scho‘ ›unsere Dörfer müssan sterben‹? Meinetwegen net. Meinetwegen können‘s ruhig weiterleben. Aber net auf meine Kosten.« (Min. 28) Landwirte müssten daher, wie der Film zeigt, in das Personal investieren (z.B. geräumige Dienstwohnungen bereitstellen oder einen Bauplatz), doch das können nur Betriebe einer gewissen Größe leisten. So führt der Arbeitskräftemangel nicht nur zu Technisierung und Rationalisierung, sondern auch zu einer Anpassung der Strukturen (Einmannbetriebe oder größere Höfe). 35 Produzierende Sendeanstalt unbekannt (vermutlich SWF). – Burrweiler gehört seit 1972 zur Verbandsgemeinde Edenkoben.

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unrentableren (Nebenerwerbs-)Betrieben führt,36 und die zum Teil noch nicht erfolgte Flurbereinigung, die eine kleinteilige Parzellierung ergibt, angeführt.37 Doch Gill fokussiert vor allem das Verhältnis von Jung und Alt als eigentlichen Grund für die mangelnde Zukunftsfähigkeit des Dorfes. Das Nicht-Loslassen-Können vieler alter Landwirte führe in konservativen Landgemeinden dazu, dass sie in Traditionen verhaftet bleiben, denen sich auch die Jungen – notgedrungen – anpassen müssen, so der Tenor bei Gill.38 Betriebe würden nicht modernisiert und/oder zu spät übergeben.39 Aber die Jungend »fordert mit Recht ihre Chancen« (Min. 30)40, heißt es am Ende: »Die jungen Leute und Winzer im Dorf, sie scheinen diejenigen zu sein, welche ihre derzeitigen und zukünftigen Probleme besser meistern als die ältere Generation. Sie mögen sich mit den Erfordernissen der sich ständig bewegenden Umwelt besser zurecht finden. Ihre Aktivität ist größer. Ihre Möglichkeiten wachsen – und mit ihnen vielleicht auch ihr Dorf.« (Min. 31)41

Die Bruchlinie zwischen Tradition und Modernisierung wird hier nicht (in erster Linie) zwischen Stadt und Land gesehen, sondern zwischen Jung und Alt.42 So sei

36 Von krisenfesten Kleinstbauern ist hier keine Rede mehr. 37 Daher nimmt auch der Anteil an Nebenerwerbswinzern zu, da die Betriebsgrößen nicht ausreichend sind, um allein vom Weinbau zu leben; und sie werden durch Vererbung immer kleiner. Auch eine Folge: Flächenaufgabe. Im Vergleich zum übrigen Kreisgebiet ist der Anteil der Brache dreimal so hoch. 38 So charakterisiert Gill den Ort Burrweiler mit den Worten »Treue zur Tradition« (Min. 19). – Ebenso wie Feller führt Gill aber auch den regelmäßigen Verdienst und die geregelten Arbeitszeiten in anderen Berufen sowie die ›Verheißungen‹ des Stadtlebens an, die die Landwirtschaft für vielen unattraktiv mache. 39 Obwohl Technisierung auch dem älteren Winzer nützen würde, um seinen Betrieb zur Not alleine führen zu können. Implizit wird hier durchaus eine gewisse Technikfeindlichkeit der älteren Generation suggeriert. 40 Gill führt auch einige aus seiner Sicht gelungene Beispiele von Betriebsübernahmen und -gründungen vor. 41 In der SWR-Reihe LANDLEBEN4.0 (seit 2016) wird immer wieder das gelungene Miteinander der Generationen in Familienbetrieben gezeigt, das sie erst zukunftsfähig macht. 42 Wobei der Film ›Jung‹ auch mit räumlicher und geistiger Mobilität assoziiert: »Das Arbeiten in den Städten vertieft die Kluft zwischen den Jungen und den Alten im Dorf. Die Jungen erweitern ihren Gesichtskreis, sie erkennen neue Möglichkeiten.« (Min. 10) Explizit wird daher auch eine bessere Bildung als wichtige Ressource für ein zukunftsfähiges Dorf genannt (ein Aspekt, der bereits in ÖDENWALDSTETTEN indirekt dadurch angedeutet wird, dass von den »Begabungsreserven« gesprochen wird, die erst erschlossen

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Burrweiler ein »Dorf, das viele Möglichkeiten hätte, sie aber nicht nutzt; nicht nutzen kann, weil alte Vorstellungen sie gefangen halten und weil jugendliche Initiative sich nicht oder nur schwer entfalten kann« (Min. 30). In der Beschreibung der Sozialstruktur des Dorfes wird deutlich, dass es zunehmend überaltert; die Jungen zieht es in die Städte.43 Neben den ›Verlockungen‹ des Stadtlebens und den fehlenden Perspektiven im Dorf44 macht Gill implizit dafür auch die Alten verantwortlich; die mangelnde Zukunftsfähigkeit vieler Dörfer wäre demnach – zumindest zum Teil – selbstverschuldet: Zukunft kann das Land nur haben, wenn die Alten sie zulassen.45 Dorf bzw. Dörflichkeit wird in den hier vorgestellten Beispielen vor allem (noch) mit einer ausgeprägten landwirtschaftlichen Struktur gleichgesetzt, auch wenn sich der Wandel vom bäuerlichen, agrarischen Dorf hin zum modernen (oder gar postmodernen) Dorf bereits abzeichnet (vgl. Laschewski et al. 2019) – und problematisiert wird. Insbesondere die beiden Produktionen LANDFLUCHT EINE FRAGE DES LOHN’S? und GENERATIONSWECHSEL AUF DEM LANDE. DIE WEINBAUERN IN BURRWEILER beschreiben den Strukturwandel als notwendige Anpassung, um wirtschaftlich zukunftsfähig zu bleiben. Die alten Strukturen passen nicht mehr in die Zeit. – Wie aber das ›neue Dorf‹ als soziales Gebilde aussehen könnte, wenn (es) vor allem die Jugend

werden könnten, wenn die Landwirtschaft nicht mehr auf Kinderarbeit angewiesen sei; Min. 12f.). – Deutlich macht der Film, dass die jüngere Generation einen anderen Lebensstil sucht, andere Ansprüche an das Leben hat. Hier wird schon stärker als noch in LANDFLUCHT EINE FRAGE DES LOHN’S?

Rurbanität als Entwicklungstrend vorweggenommen.

43 Während in den Dokumentationen der 1960er Jahren immer wieder das Verlassen des Dorfes angesprochen wird, gibt es mit zunehmendem Individualverkehr und der Ausweisung von Bauland in späteren Jahrzehnten eine gegenteilige Entwicklung, die in den hier dargestellten Beispielen noch nicht vorausgeahnt wurde: der Zuzug von außen in das Dorf mit all seiner sozialen Dynamik (vgl. Laschewski et al. 2019: 9). 44 Dies wird als zeitgemäßes Verhalten dargestellt und gezeigt, aber nicht kritisiert. Im Gegenteil: Es kommen vor allem jüngere Dorfbewohner zu Wort, die sich unwidersprochen zum Teil sehr kritisch über die Elterngeneration äußern können. Der Film ist ein Plädoyer für die Jugend. – Auffällig ist, dass in diesem Film soziale Kontrolle mit den Eltern assoziiert wird, die sich einmischten und sich die Jungen nicht frei entfalten ließen. In ÖDENWALDSTETTEN (Min. 8) wird soziale Kontrolle noch als dörfliche Eigenheit (gegenüber der Stadt) dargestellt. 45 Symptomatisch steht in der Rhetorik des Films das am Ende gezeigte Beispiel von Schlossermeister Braun, der einen modernen Traubentransporter entwickelt hat, den er nun bundesweit vertreibt: »Mehr als 300 hat er in den letzten zehn Jahren gebaut; in ganz Deutschland verkauft – nur keinen in Burrweiler selbst«. (Min. 17) Die alteingesessenen Winzer des Dorfes verweigern sich der Modernisierung.

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aus dem Dorfe drängt, wie Dörfer ihre Zukunft sichern könnten, das sind Fragen, die kaum gestellt werden. So scheint es, als ob das Dorf kaum eine Perspektive habe.

D IE 1970 ER UND 1980 ER J AHRE. D ORF MUSS WIEDER D ORF WERDEN : R ÜCKBAU ALS F ORTSCHRITT – ODER : EIN D ORF NACH G EFÜHL Dieter Wieland hat sich wie kein anderer in seinen Filmen für den Bayerischen Rundfunk immer wieder mit der Zukunft des Landes als Kulturlandschaft auseinandergesetzt;46 vor allem in seiner langlaufenden Reihe TOPOGRAPHIE (1972-2004).47 Insbesondere galt sein Interesse auch der Zukunft des Dorfes als Dorf; als gewachsenes Dorf in seiner traditionellen Struktur: UNSER DORF SOLL HEIMAT BLEIBEN (1987).48 Programmatisch ist in diesem Zusammenhang auch der Titel einer Dokumentation aus dem Jahr 1975, in der er u.a. gegen Fehlplanungen der Dorferneuerungs- und -verschönerungsprogramme polemisiert: UNSER DORF SOLL HÄSSLICH WERDEN. EIN BEITRAG ZUM EUROPÄISCHEN DENKMALSCHUTZJAHR. Zu seinem 80. Geburtstag schrieb die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG: »In den Siebziger- und Achtzigerjahren waren Wielands Beiträge Kult.49 Die Bauern verließen vorzeitig den Stall, die Ausflügler eilten nach Hause, um am Abend nur ja nicht diese

46 Siehe z.B. TOPOGRAPHIE: FLURBEREINIGUNG – DIE MASCHINENGERECHTE LANDSCHAFT (1974) oder TOPOGRAPHIE: ALTMÜHLTAL UND DER KANAL (1978). 47 Die Beiträge aus TOPOGRAPHIE wurden – warum auch immer – vom Bayerischen Rundfunk quasi als eine Art ›Imprint‹ im Rahmen der Reihe UNTER UNSEREM HIMMEL (seit 1969) ausgestrahlt. Anders als heute war es im frühen Fernsehen nicht ungewöhnlich, dass eine Reihe von einem einzelnen Fernsehjournalisten/-dokumentaristen verantwortet wurde wie bspw. Peter von Zahn (BILDER AUS DER NEUEN WELT, 1955-1960), Georg Stefan Troller (PARISER JOURNAL, 1962-1971; PERSONENBESCHREIBUNG, 1972-1993) oder Horst Stern (STERNS STUNDE, 1970-1979). 48 TOPOGRAPHIE: ASCHOLDING ODER UNSER DORF SOLL HEIMAT BLEIBEN (1987). Gegen die dörfliche Verkitschung durch einen klischeehaften Landhaus- bzw. »Heimatstil aus der Retorte« – »urig, rustikal, bodenständig« – wendet Wieland sich in TOPOGRAPHIE: BAUEN UND BEWAHREN – DER JODLERSTIL (1984;

Min. 4-5).

49 Diese Einschätzung muss man wohl etwas relativieren. Über die Grenzen Bayerns hinaus waren seine Filme weitaus weniger bekannt, da sie hauptsächlich im Dritten Programm des BR gezeigt wurden – und aufgrund der terrestrischen Ausstrahlung nicht bundesweit empfangbar waren (erst in den späten 1980er und 1990er Jahren wurde das Kabelnetz flächendeckend ausgebaut und die eigentlich regionalen Dritten Programme auch in die Netze

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unerhörten Sendungen zu verpassen, die ›Grün kaputt‹50 hießen oder ›Unser Dorf soll hässlich werden‹. Es hatte sich herumgesprochen, dass hier einer wortmächtig klagte über den Kahlschlag, der durchs Land ging, über schlechtes Bauen, über das Kaputtsanieren der Städte. Viele Zuschauer ahnten plötzlich, dass etwas nicht stimmte in ihrem Land, das seinen rasanten Fortschritt mit dem schleichenden Verlust von vertrauter Heimat bezahlte. Mit der rhetorischen Wucht eines alttestamentarischen Propheten rüttelte Wieland damals am Selbstverständnis der Wirtschaftswunder-Deutschen, die noch keinen Umweltschutz kannten, an die Allmacht des Wachstums glaubten und weniger daran, dass die hiesigen Landschaften die ›Basis unserer Kultur‹ seien.« (Kratzer 2017)

Unverkennbar zählt Wieland zu einer längst ausgestorbenen Generation von (zeit)kritischen Fernsehdokumentaristen, die eine dezidierte Haltung ihren Gegenständen gegenüber einnehmen – und diese freimütig, teils mit harschen Worten, kundtun (siehe z.B. Dieter Ertel, Roman Brodmann oder den Tierfilmer Horst Stern). Entsprechend prägend ist die eigene Stimme,51 denn Wieland spricht seine dominanten Kommentartexte mit mehr oder weniger starkem bayerischem Zungenschlag selbst.52 So werden seine Filme unverwechselbar; man hört, von wem sie sind; man hört, wer hier seine Meinung vertritt. Visuell setzen die Filme oft auf lange, unbewegte Einstellungen und in einigen Fällen auch auf ausgedehnte Flugaufnahmen aus dem Hubschrauber, wenn die Topographie einer Stadt, eines Dorfes oder einer Landschaft besonders betont werden

andere ›Sendegebiete‹ eingespeist). (Einzelne) Produktionen wurden jedoch von anderen Sendeanstalten der ARD übernommen. 50 TOPOGRAPHIE: GRÜN KAPUTT – LANDSCHAFT UND GÄRTEN DER DEUTSCHEN (1983). 51 Dies gilt beispielsweise auch für die recht eigenwilligen Filmportraits von Georg Stefan Troller. 52 Zur Bedeutung des selbstgesprochenen voice over im Fernsehdokumentarismus siehe Hißnauer (2019). Die Veränderung im Fernsehdokumentarismus lässt sich auch innerhalb der Reihe UNTER UNSEREM HIMMEL zeigen: Anders als Wielands Beitrag TOPOGRAPHIE: LANDSHUT – ODER HAT DIE SCHÖNHEIT NOCH EINE CHANCE? (1973) ist Gabriele Moosers Film LANDSHUT – DIE KRUX MIT DER SCHÖNHEIT (2016) deutlich vom falsch verstandenen Ausgewogenheitspostulat öffentlich-rechtlicher Sendeanstalten geprägt. Unnötig zu erwähnen, dass Mooser ihren Kommentar nicht selbst einspricht (Sprecher: Peter Weiss). Kritik wird lediglich in einzelnen Interviews geäußert (u.a. von Dieter Wieland), wobei Befürworter und Gegner von Stadterneuerungsmaßnahmen gleichermaßen zu Wort kommen. Mooser stellt in ihrem Film die unterschiedlichen Positionen vor, enthält sich aber in ihrem Kommentar weitestgehend einer eigenen Bewertung.

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soll.53 Der Kamerablick richtet sich oft auf die Architektur, Menschen sind wenige zu sehen – und eher im Hintergrund präsent. Interviews werden spärlich (in vielen Filmen überhaupt nicht) eingesetzt und sind eher thematisch zentriert. HAT DIE SCHÖNHEIT NOCH EINE CHANCE?54 ist (implizit) die immer wiederkehrende Frage von Wielands Filmen, in denen es oftmals ums BAUEN UND BEWAHREN – Obertitel einiger seiner Produktionen55 – geht. Wieland kritisiert vor allem den Verlust des Alten. Das klingt schnell fortschrittskritisch oder gar -feindlich: Das Neue, so scheint es immer wieder durch, soll sich dem Alten anpassen; unterordnen. Perspektiven für das Dorf entwickelt er über das Bewahrende hinaus aber nicht.56 Besonders deutlich wird dies in dem 1987 ausgestrahlten Beitrag TOPOGRAPHIE: DIE DORFSTRAßE IN BAYERSOIEN. Es geht darin um den Rückbau einer ehemaligen Bundesstraße nach Fertigstellung einer Umgehungstraße. Was Wieland von der alten Straße hält, wird schnell deutlich:

53 So z.B. in TOPOGRAPHIE: DINKELSBÜHL – STADTBAUKUNST DES MITTELALTERS. Luftaufnahmen gehören dank der Entwicklung von Drohnen und kleinen, leichten Digitalkameras heute zum Standardrepertoire vieler Dokumentationen (siehe z.B. die MDR-Reihe UNSER DORF HAT WOCHENENDE, seit 2016; oder die SWR-Produktion LANDLEBEN4.0, seit 2016). Früher waren sie ungleich aufwendiger und teurer, da eigens ein Hubschrauber (oder ein Flugzeug) gechartert werden musste. 54 TOPOGRAPHIE: LANDSHUT – ODER HAT DIE SCHÖNHEIT NOCH EINE CHANCE? (1973). 55 Z.B. TOPOGRAPHIE: BAUEN UND BEWAHREN – DAS FENSTER (1979), TOPOGRAPHIE: BAUEN UND BEWAHREN – DER JODLERSTIL (1984) oder TOPOGRAPHIE: BAUEN UND BEWAHREN – DORFERNEUERUNG (1990). 56 Natürlich muss man hier in Rechnung stellen, dass Wieland schon zu einer Zeit für Umwelt-, Landschafts- und Denkmalschutz eingetreten ist, in der das noch ›Orchideenthemen‹ waren. Der Erhalt der Umwelt sowie der alten Bausubstanz und -struktur in Dörfern und Städten wurde erst langsam gesellschaftlich als wichtige Aufgabe erkannt. Von daher ist die Vehemenz, mit der er für diesen Erhalt eintrat, zeithistorisch nachvollziehbar, auch wenn aus heutiger Sicht vielleicht eine zukunftsgewandte Perspektive fehlt. Wie stellt er sich eine (nachhaltige) Dorf- und Stadtentwicklung vor? Welche sinnvollen Modernisierungsmöglichkeiten böten sich an? Darauf gibt er kaum Antwort. Seine Kritik wirkt daher insgesamt eher wertkonservativ; auch weil er immer wieder dafür plädiert, dass sich das Neue harmonisch in das Bestehende einfügen soll: »Die andere Alternative ist Gleichgültigkeit: Gleichgültigkeit gegenüber dem Vergangenen, gegenüber dem Gewachsenen, auch gegenüber der Gemeinschaft. Auch solche Dörfer stehen bereits in unserer Landschaft: Chaotische Zeugnisse von Egoismus, von falsch verstandener übertriebener Individualität.« (UNSER DORF SOLL HÄSSLICH WERDEN, 1975; Min. 27)

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»Noch vor vier Jahren sah die Dorfstraße von Bayersoien genauso aus wie überall sonst auch. Da hatten sie auch hier die Fahrspur durchgeklotzt, rücksichtslos wie einen Kanal, und den Straßenrändern hohe Gehsteige verpasst, die deutlich zum Ausdruck brachten, wer hier die Verfahrt hatte: ganz klar das Auto. Die Fußgänger konnten sich auf verkümmerten Schrumpfformen von Gehsteigen, oft nur auf Handtuchbreite zurechtgeschnipselt, an den Hauswänden entlangdrücken. An den Dorfeingängen von Bayersoien ist die Straße bis jetzt nicht korrigiert. Dort liegt sie noch, die alte Bundesstraße aus den 50er Jahren, wie sie das Straßenbauamt damals haben wollte: Teer und Beton; gerahmt von starren Hochborden, normbreit, normhoch, normtot. Der Autofahrer dankt diese klaren Machtverhältnisse mit überhöhter Geschwindigkeit und donnert mit 60, 70, 80 ins Dorf herein.« (Min. 4-5)57

Für Wieland soll sich eine Dorfstraße an der gewachsenen, historischen Topographie des Dorfes ausrichten, Platz nicht nur für Autos schaffen, sondern auch für das dörfliche Leben – Rückbesinnung als (konservative) Zukunftsperspektive.58 Die Bundesstraße hingegen steht bei ihm sinnbildlich für die ›Kolonialisierung‹ der Provinz durch eine zentrale, hegemoniale Macht ohne Rücksicht auf regionale Gegebenheiten und Geschichte59 – wobei so die immer wieder aufgerufene Bruchlinie zwischen (für Wieland falsch verstandener) Modernität und Tradition verläuft.60 Es entsteht ein

57 Auch die neue Umgehungsstraße kommt bei Wieland nicht besser weg. 58 »Das Leben hatte damals vor vier Jahren keinen Platz mehr auf der Straß‘ von Bayersoien – nur das Fahren.« (Min. 7) – »Man wollte wieder zurück zu dieser Intimität, zu dieser menschlichen Nähe der alten Mitte des Dorfes. Nichts ist schwerer als der Weg zurück, wenn so viel an Substanz schon verloren ist.« (Min. 8) 59 In TOPOGRAPHIE: FLURBEREINIGUNG – DIE MASCHINENGERECHTE LANDSCHAFT (1974; Min. 25) kritisiert Wieland z.B. explizit, dass die damaligen Maßnahmen der Flurbereinigung zu einer »Landschaft nach Großstädterart zubereitet« führen: »Landschaft nach Plan; Landschaft nach Vorschrift; Ordnung im ländlichen Raum«. 60 Ich orientiere mich hier an der Lesart der Dorfgeschichte/Regionalliteratur aus postkoloniale Perspektive bei Josephine Donovan (2010: 1f.): »in the construction of modern nation-states, regions within states were culturally colonized; that is, held up as inferior to externally imposed cultural standards of modernity, to which regional natives were urged instead to conform. […] Local-color literature is thus poised on the boundary line between these two titanic forces – Imperial modernity and colonized premodernity – and intimately reflects the struggle between them, negotiating between them.« Dieser Aspekt scheint mir insbesondere für die Dorf- und Landdokus der regionalen Dritten Programme (und damit für faktuale Formen und Formate) ein wichtiger Gedanke zu sein, wie sich auch unten noch zeigen wird, denn das Verhältnis von Modernität und Tradition wird immer wieder in ihnen verhandelt.

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hybrider Raum der zunehmenden Überlagerungen.61 So wurde der ›Rückbau‹ (eigentlich eher eine Art remake) bspw. nur möglich, da eine Straßensanierung notwendig (und von übergeordneter Stelle angeordnet) wurde und das ganze Vorhaben als Modellprojekt mit zusätzlichen Landesmitteln und einem Münchener Planer zur Verkehrsberuhigung realisiert werden konnte.62 Dorferneuerung sei vielfach aber nur noch »Maskerade« (TOPOGRAPHIE: BAUEN UND BEWAHREN – DORFERNEUERUNG (1990; Min. 33); der beliebte Landhausstil vieler dörflicher Neubauten – gerade auch von Einheimischen – vermische traditionslos verschiedene regionale Bauweisen zu einer »Heimatabenddekoration«63 (TOPOGRAPHIE: BAUEN UND BEWAHREN – DER JODLERSTIL, 1984; Min. 32). Dennoch vermitteln Wielands Filme die Imagination der Bewahrbarkeit und (R)Einheit regionaler, dörflicher – vermeintlich ›naturwüchsiger‹ – Eigenheiten, indem er ihren (drohenden) Verlust anprangert.64 Den Strukturwandel auf dem Land macht Wieland vor allem an (aus seiner Sicht fehlgeleiteter) Flurbereinigung und Dorferneuerung fest – also an topographischen und baulichen Veränderungen. Fragen nach den Veränderungen wirtschaftlicher und sozialer Bedingungen, und den daraus resultierenden Herausforderungen für die Provinz, scheinen bei ihm selten auf. So wird in TOPOGRAPHIE: ASCHOLDING ODER UNSER DORF SOLL HEIMAT BLEIBEN (1987), in dem es um den Blick junger Bäuerinnen und Bauern auf das Dorf als ›Heimat‹ geht, auf »Milchquotenregelung«, »Flächenstilllegung« und »Bauernsterben« nur schlagwortartig verwiesen (Min. 1). Auch in diesem Film arbeitet sich Wieland vor allem an konkreten baulichen Maßnahmen ab, so als ob sich ›Heimat‹ vor allem als dörflicher Raum darstellt; als dörflich gestalteter

61 Aus Sicht der postcolonial studies ist diese Hybridität eher der Normalfall von Kultur (vgl. bspw. Bhabha 2011, 2016). 62 Damit werden auch gewisse Machtverhältnisse angedeutet, die bei der Dorferneuerung eine Rolle spielen: Es ist nie (nur) die Dorfgemeinschaft, die entscheidet. In TOPOGRAPHIE: ASCHOLDING ODER UNSER DORF SOLL HEIMAT BLEIBEN (1987; Min. 19) spricht Wieland entsprechenden von denjenigen, »die über uns entscheiden«. 63 In seiner Kritik an diesem zitathaften Landhausstil nimmt Wieland implizit vorweg, dass Ländlichkeit sich zunehmend von seinen räumlichen Begebenheiten entkoppelt und zu einem Lebensstil nach dem Muster des LANDLUST-Magazins (seit 2005) wird: »›Ländlichkeit‹ wird daher nicht als Raumkategorie oder -eigenschaft aufgefasst, sondern als etwas soziokulturell Hergestelltes (etwa in Anlehnung an das doing gender ein doing rural).« (Neu 2016: 5) In diesem Sinne »dient [Ländlichkeit] vor allem als Diskurs- und Handlungsraum zur postmodernen Selbstverortung« (Neu 2018: 15). Ebenso inszeniert der Landhausstil – folgt man Wieland – Ländlichkeit als funktionslose und ornamentale Oberfläche. 64 In diesem Sinne erscheint das Dorf bei Wieland als ein historischer, aber im Idealfall gerade nicht hybrider Raum.

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Raum.65 Diesem seien die jungen Landwirtinnen und -wirte in einer »Kritik in Liebe« (Min. 19) zugeneigt. Was das Dorf aber als ›besten‹ Ort für sie auszeichnet und welche Gründe es für sie gibt, im Dorf zu bleiben, das lässt der Film offen – und auch auf ihre Probleme geht er nicht ein. Vor allem aber blendet er aus, dass die junge Dorfgeneration nicht nur aus Bäuerinnen und Bauern besteht, die auf und von dem Land leben. Wie sähen z.B. junge Angestellte das Leben in der Provinz? Was treibt Menschen aus dem Dorf? Dorf scheint für Wieland vor allem das bäuerliche, agrarische Dorf zu sein, das jedoch mit Beginn der Industrialisierung zunehmend an Bedeutung verlor (vgl. Laschewski et al. 2019: 8ff.). Der blinde Fleck bei Wieland bleibt daher die Frage nach der Zukunftsfähigkeit des Sozialraums Dorf, des Lebens im Dorf, des Dorflebens – und nach dessen Weiterentwicklung.66 Wie also kann man produktiv mit dem Strukturwandel umgehen? Welche Chancen eröffnet er ggf.? Wieland imaginiert eine Zukunft durch das Bewahren des Alten und Bewährten; des Vergangenen; der Substanz; der landwirtschaftlichen Dorfstruktur. Antworten auf die Fragen nach dem Strukturwandel auf dem Land und wie Dörfer als soziale Gebilde überleben können, kann er so nicht liefern; er stellt sie nicht einmal.

»T OTGESAGTE LEBEN EBEN LÄNGER «: 67 L ANDLEBEN 4.0 – D AS ( POSTMODERNE ) D ORF

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Die SWR-Reihe LANDLEBEN4.0 erzählt seit 2016 bewusst »Geschichten von zufriedenen Menschen im ländlichen Raum, die ihre Zukunft selbst in die Hand nehmen«, wie es auf der Sendungshomepage heißt.68 Damit ist der Grundtenor vorgegeben: Die Reihe versammelt Beiträge, die ein sehr positives – vielleicht sogar schöngefärbtes – Bild der Provinz zeichnen.69 Und deutlich wird hier bereits auch, dass bspw. im

65 In den meisten Produktionen wird der (dörfliche) Raum zwar als menschengemacht, aber merkwürdig menschenleer inszeniert (s.o.) – obwohl er nach Wieland ein Raum für den Menschen sein sollte. 66 Wie verändert sich ein Dorf, wenn es nicht mehr in erster Linie landwirtschaftlich geprägt ist, sondern zu einem Wohn- bzw. Schlafdorf geworden ist? 67 So ein Zitat aus LANDLEBEN4.0 – IN SPESSART / EIFEL (SWR 2017; Andreas Schnögl; Min. 3). 68 Siehe: https://www.ardmediathek.de/ard/sendung/landleben4-0/Y3JpZDovL3N3ci5kZS8 xNzE5MDg5Mg/ (15.10.2020). 69 Auffällig ›kritisch‹ – und deutlich – erscheint da schon der Sprechertext von LANDLEBEN4.0:

DAS DORNRÖSCHEN-SYNDROM IN ROSENBERG (SWR 2020; Heidrun Wieser/

Margit Kehry), der mit entsprechenden Bildern unterlegt ist: »Man muss auch wollen. Aber

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Unterschied zu Dieter Wielands Reihe TOPOGRAPHIE (s.o.) der Mensch und sein Handeln im Mittelpunkt steht. Zukunft erscheint hier als eine Frage des (Selbst-) Machens,70 denn: »Auf dem Land ist genauso viel Potential für Innovation wie in der Stadt – man muss sich nur trauen.« (LANDLEBEN4.0 – IN GOMADINGEN / SCHWÄBISCHE ALB, SWR 2018; Tanja Hamilton; Min. 27) LANDLEBEN4.0 ist ein gutes Beispiel für den aktuellen Trend der medialen Aufwertung des Ruralen (vgl. Hißnauer 2018, 2020)71, den man seit einigen Jahren beobachten kann und für den u.a. das LANDLUST-Magazin (seit 2005) symptomatisch steht. Der Blick auf die Provinz und das ländliche Leben ist eher positiv; affirmativ. Reihenhaft gilt das insbesondere für den Fernsehdokumentarismus. Es finden sich nur vereinzelt Stücke, die das Landlustidyll hinterfragen. In der Regel lautet das Motto aber auch bei ihnen LANDLUST STATT LANDFRUST (ZDF 2017; Birgit Tanner).72 Ein impliziter Appellcharakter wird in einigen Titel überdeutlich: LUST AUFS LAND (ZDF/Arte 2017; Birgit Tanner/Cordula Stadter), LUST AUF DORF (NDR 2017; Christian Pietscher), DORF MACHT GLÜCKLICH (2016, Regie: Christian Pietscher).73 Nur selten wird die Situation so unverblümt und kritisch beschrieben wie in der Dokumentation LANDLEBEN: LUST ODER FRUST? (NDR 2015) von Tim Boehme. Bereits am Anfang macht der Film deutlich, um was es u.a. geht: »Überall auf den Dörfern ist die Grundversorgung in Gefahr. – Hat das Leben auf dem Land noch Zukunft?« (Min. 1) Während andere Produktionen Probleme des ländlichen Raums

allein mit gutem Willen ist Rosenberg nicht geholfen. Die Bürger müssten ihren Dornröschenschlaf endlich ganz hinter sich lassen, Ideen entwickeln, um den ziemlich schmucklosen Ort aufzuhübschen. Ein Sonntag in Rosenberg. Die Probleme sind sichtbar: Aus den vielen leerstehenden Häusern ließe sich doch was machen! Bisher gähnende Tristess. Und ihre Gaststätten haben allesamt geschlossen.« (Min. 30f.) – Schöne Dorfansichten sehen anders aus, deshalb sieht man solche Aufnahmen in LANDLEBEN4.0 auch sehr selten. 70 Auch die MDR-Reihe UNSER DORF HAT WOCHENENDE hebt immer wieder die gelungene dörfliche Eigeninitiative hervor. 71 Das bezieht sich sowohl räumlich auf die Provinz als auch auf Ländlichkeit als (Lebens-) Stil, wie er z.B. in der LANDLUST oder den verschiedenen LANDFRAUENKÜCHE-Formaten propagiert wird. 72 Der komplette Titel lautet LANDLUST STATT LANDFRUST – WIE SICH DÖRFER NEU ERFINDEN.

Damit wird bereits darauf verwiesen, dass sich der Film mit der Innovations-

kraft von Dörfern befasst. 73 Solche Produktionen werden oft in Reihen bzw. unter Dachmarken wie ZDF.REPORTAGE (seit 1984), DIE STORY IM ERSTEN (ARD seit 2000), DIE NORDREPORTAGE (NDR seit 2002), 45 MIN (NDR seit 2010) oder DIE NORDSTORY (NDR seit 2011) ausgestrahlt. Mehrfachverwertung kommen dabei öfter vor, so dass einzelnen Beiträge unter verschiedenen Reihentitel gezeigt werden können.

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lediglich kurz benennen, um dann zu zeigen, wie es auch anders, besser gehen kann, so thematisiert LANDLEBEN: LUST ODER FRUST? sie ausführlich. Betont wird sozusagen der Landfrust. Deutlich macht das der Film vor allem (aber nicht nur) an den Einkaufsangeboten und der Gastronomie. Die Angebote vermindern sich – »und das trifft selbst Dörfer mit stabiler Bevölkerung«, die »grade noch im Speckgürtel« größerer Städte liegen (Min. 11). Der zunehmende Individualverkehr seit den 1970er Jahren und die »Asphaltwüste[n]« (Min. 8) großer Supermärkte und Discounter, die auf der grünen Wiese entstanden sind, werden als Ursachen für den Strukturwandel genannt; aber auch die Überalterung ruraler Regionen bzw. der demographische Wandel allgemein.74 Gerade für die dünnbesiedelten, stadtfernen Regionen stelle sich die Frage, ob die Daseinsvorsorge und Infrastruktur aufrechterhalten werden könne:75 »Hier werden die Menschen knapp.« (Min. 15) In der Folge stehen Häuser leer und verfallen zusehends; was am Beispiel Westharz reichlich bebildert wird.76 »Wachstum war gestern. Beginnt nun der Rückbau bis hin zur Dorfschließung?«, fragt der Kommentar (Min. 17). Erzählt wird in LANDLEBEN: LUST ODER FRUST? eigentlich nur vom Niedergang – selbst die Polizei zieht sich aus der Provinz zurück; aus Kostengründen und weil zu wenig statistikrelevante Delikte anfallen (nur viel Arbeit). Wirkliche Zukunftsperspektiven sieht der Film für die Provinz nicht; insbesondere nicht für dörfliche Regionen außerhalb städtischer Einzugsgebiete.77 Auch Ulrich Harteisen – Professor für Regionalmanagement an der Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst Göttingen – betont etwas hilflos im Interview, dass »viel Geld […] nicht unbedingt viel bewegen« wird (Min. 18): »Sondern man muss Menschen gewinn’n, etwas zu bewegen. Also zum einen die Menschen, die im Dorf noch leben; die muss man möglicherweise gewinnen, den Prozess der

74 So heißt es bspw. in LANDLEBEN4.0: DAS DORNRÖSCHEN-SYNDROM IN ROSENBERG (SWR 2020; Heidrun Wieser/Margit Kehry): »Dörfer sterben, wenn die Frauen gehen.« (Min. 21) 75 In einem Beispiel befürchtet der Bürgermeister einer ca. 1.400 Einwohner großen Gemeinde, dass die drohende Schließung der Schule zu einer Abwärtsspirale führen könne; eine »existentielle Bedrohung für das Dorfleben« (Min. 19). 76 Hier könne man erahnen, wie die Zukunft aussehen werde, heißt es im Sprechertext (Min. 16). 77 So betont im umgekehrten Falle der Kommentartext von LANDLEBEN4.0 – IN WUTÖSCHINGEN / HOCHRHEIN (SWR 2018; Jochen Loebbert): »Bombenlage – denn wer abgeschieden

ist, verliert.« (Min. 6) – Dennoch werden auch in diesem Fall Standortnachteile wie eine fehlende Autobahn genannt. »[E]in Bisschen ab vom Schuss« liegt die Gemeinde dann wohl doch (Min. 12; die Zeitangaben beziehen sich auf die halbstündige Kurzversion des Beitrags).

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Dorfentwicklung selbst in die Hand zu nehm‘. Und vielleicht kann es gelingen, wieder ganz neue Menschen für dörfliches Leben zu begeistern.« (Min. 18)

Wie dies aber gelingen soll, dazu fällt ihm offenbar auch nichts ein.78 Allerdings ist interessant, dass LANDLEBEN: LUST ODER FRUST? damit einen Aspekt adressiert, der in vielen aktuellen Dokumentationen als Lösungsstrategie für die Strukturprobleme des Dorfes demonstriert wird: Eigeninitiative.79 »Mit guten Ideen und findigen Machern«, so heißt es bspw. im Voice-Over-Kommentar von LANDLUST STATT LANDFRUST, können einige Dörfer »dem Tod auf Raten von der Schippe« springen (Min. 1). Reihen wie LANDLEBEN4.0, aber auch UNSER DORF HAT WOCHENENDE zeigen dabei in ihrer Repräsentationspolitik den Anspruch, die Vorstellung neoliberaler Eigenverantwortlichkeit der Dorfgemeinschaft zu popularisieren und Best-PracticeBeispiele zu vermitteln, »denn die Orte werden sterben, wenn sie sich nicht verändern« (LANDLEBEN4.0: HEIMAT HEUTE IM HUNSRÜCK, SWR 2019; Margit Kehry; Min.

78 Wenn das »Ausbildungssystem [...] als eine Struktur zur Förderung der Abwanderung« (Laschewski et al. 2019: 11) wirkt, dann stellt sich die Frage, wie man junge Leute wieder zurück in das Dorf holen kann, wenn schlicht und ergreifend die Arbeitsplätze in der Region fehlen. Aber wirtschaftliche Aspekte werden in diesem Beitrag überhaupt nicht angesprochen. Anders ist das bspw. in dem Beitrag LANDLEBEN4.0: BETZENWEILER – SCHAFFE, SCHAFFE, PARTY MACHE

(SWR 2020; Aljoscha Hofmann). Porträtiert wird ein im Alters-

durchschnitt sehr junges Dorf, in das viele Bewohnerinnen und Bewohner nach Ausbildung oder Studium – selbst aus München oder New York – gerne zurückkommen. Betont wird die Verbundenheit mit der Dorfgemeinschaft aufgrund des sehr regen Vereinsleben (so auch LANDLEBEN4.0 – IN WUTÖSCHINGEN / HOCHRHEIN: »Vereine sind immer noch das Rückgrat für ein funktionierendes Landleben«; Min. 26). Aber das Dorf bietet auch gut(bezahlt)e Arbeitsplätze durch ortsansässige, aber weltweit agierende Betriebe, die auch für ein sehr hohes Gewerbesteueraufkommen sorgen (das gilt ebenso für Wutöschingen). Das Gemeinschaftsgefühl wird es also nicht alleine sein, dass die Jungen im Dorf hält oder sie wieder zurückführt. Aber nur selten wird es so explizit formuliert wie in LANDLEBEN4.0: DAS DORNRÖSCHEN-SYNDROM IN ROSENBERG (SWR 2020; Heidrun Wieser/Margit Kehry): »Obendrein noch etwas, was für eine gelungene Zukunft unabdingbar ist: Arbeitsplätze in einem mittelständischen Unternehmen.« (Min. 15) 79 Auch der in LANDLEBEN: LUST ODER FRUST? gezeigte Dorfladen kann (zumindest zunächst) durch tatkräftige Unterstützung freiwilliger Helfer offengehalten werden. Ob der Markt Treff indes wirklich eine Zukunft hat, wird sich erst noch erweisen. UNSER DORF HAT

WOCHENENDE thematisiert immer wieder die Funktion des Dorfs als Gemeinschaft

(vgl. Hißnauer 2020).

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3).80 Insbesondere LANDLEBEN4.0 betont den Vorbildcharakter immer wieder explizit. So sei bspw. Spessart »ein Dorf, das Vorbild sein kann für andere« (LANDLEBEN4.0 – IN SPESSART / EIFEL, SWR 2017; Andreas Schnögl; Min. 1); »ein Modell, das andere kleine Dörfer glatt kopieren könnten« (Min. 30). Immer wieder finden sich Aussagen, das Dorf »profitiert schon lange vom Engagement und Zusammenhalt seiner […] Einwohner« (LANDLEBEN4.0: DAS DORNRÖSCHEN-SYNDROM IN ROSENBERG, SWR 2020; Heidrun Wieser/Margit Kehry; Min. 4) oder »Die Menschen haben gemeinsam entschieden, wie es weitergeht, gestalten gerade selbst ihre Zukunft« (Min. 41). In diesem Sinne haben diese Beispiele – zumindest implizit – ein doppelte Appellstruktur: Zum einen sollen sie Auswärtigen das Landleben ›schmackhaft‹ machen, indem die Chancen, die in der Provinz ›schlummern‹, herausgestellt werden (und nicht zuletzt auch auf persönliche Selbstentfaltung bzw. -verwirklichung abzielen);81 zum anderen wollen sie die Selbstverantwortung der Dörfer stärken, richten sich also auch an diejenigen, die (noch) auf dem Land leben:82 »Solange die Wutöchinger solche Macher haben, können sie zuversichtlich an ihrer Zukunft weiterbauen.« (LANDLEBEN4.0 – IN WUTÖSCHINGEN / HOCHRHEIN, SWR 2018; Jochen Loebbert; Min. 30) Adressiert werden damit also – wenn auch in unterschiedlichem Maße – genau die Gruppen, die von Ulrich Harteisen in LANDLEBEN: LUST ODER FRUST? als (mögliche) Treiber der Dorfentwicklung genannt werden: a) Individuelle Macher, die sich selbst verwirklichen wollen und in der Provinz Gestaltungsspiel- und Entfaltungsräume83 suchen (Stichwort Raumpioniere)84 b) Kollektive Dorfgemeinschaften, die zusammen etwas (für das übergeordnete Wohl) bewegen (wollen).85

80 Dabei werden gesamtgesellschaftliche Hintergründe und Ursachen bzw. staatliches Entscheidungshandeln und Regulierungen, die den Strukturwandel und die Landflucht gegebenenfalls bedingen, kaum bis gar nicht thematisiert. Die Situation kleiner Gemeinden erscheint somit in den Produktionen oft gerade nicht als politische Frage. 81 Die Betonung des Möglichkeitsraum sieht man bspw. besonders explizit in BILDERBUCH: DIE UCKERMARK (siehe dazu Hißnauer/Stockinger 2021). 82 Dies ist besonders stark in der Reihe UNSER DORF HAT WOCHENENDE ausgeprägt, in der ›individuelle Macher‹ eine eher untergeordnete Rolle spielen. 83 »Auf dem Land gibt es eben Räume, in denen sich Träume verwirklichen lassen«, wie es in LANDLEBEN4.0: DIE DOCS VON MÜHLHEIM A. D. DONAU (SWR 2020; Anja Unger) heißt (Min. 41). 84 Zu den sog. Raumpionieren vgl. Faber/Oswalt (2013). 85 In beiden Fällen stehen anders als in den Filmen von Dieter Wieland (s.o.) Menschen im Mittelpunkt, die durch ihre Initiative Dörfer retten könn(t)en. Gestalterische bzw.

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In ihrer Rhetorik entlassen die Dokureihen den Staat dabei aus seiner Verantwortung; die Politik wird in der Regel nicht direkt adressiert, obwohl es in seltenen Fällen auch mal heißt: »Die große Politik müsste liefern – tut sie aber nicht.« (LANDLEBEN4.0: DIE DOCS VON MÜHLHEIM A. D. DONAU, SWR 2020; Anja Unger; Min. 14) Wenn überhaupt, wird ›die Politik‹ als Verhinderer innovativer Ideen benannt; gelegentlich auch als Fördermittelgeber – aber nie als Impulsgeber.86 Die ›Landlust-Reihen‹ akzeptieren das weitestgehend als Status Quo und formulieren daher auch keine (politischen) Handlungsaufforderungen; denn über die Zukunftsfähigkeit ländlicher Gebiete wird, so legen sie nahe, vor Ort entschieden. Im Kleinen wie im Großen stellt LANDLEBEN4.0 bei aller gezeigten Verbundenheit und Tradition immer wieder die innovative Kraft ruraler Regionen und ›provinzieller‹ Dörfer aus, die so gar nicht Provinzielles mehr zu haben scheinen; »die Menschen […] sind ganz und gar nicht verschlossen und rückständig« (LANDLEBEN4.0: HEIMAT HEUTE IM HUNSRÜCK; Min. 7). Eine gewisse Urbanität als Lebensstil wird immer wieder präsentiert, wobei Modernität nicht als etwas dargestellt wird, das dem Dorf von außen ›aufgezwungen‹ wird. Vor allem aber fokussiert die Reihe, wenn immer dies möglich erscheint, sog. hidden champions, auf dem Weltmarkt erfolgreiche Mittelständer, die für modernste – und sichere87 – Arbeitsplätze stehen. Selbst die Landwirtschaft, die allerdings nur vergleichsweise selten eine Rolle spielt, wird trotz ihres ›Naturbezugs‹ oft als High-Tech-Unternehmung vorgestellt (vgl. bspw. LANDLEBEN4.0 – IN WUTÖSCHINGEN / HOCHRHEIN oder LANDLEBEN4.0 – IN SPESSART / EIFEL).88 Das Dorf wird so – im Unterschied zu UNSER DORF HAT

baulich-strukturelle Fragen (Stichwort: Dorferneuerung/-verschönerung) sind demgegenüber sekundär – oder werden überhaupt nicht angesprochen (es ist schon eine große Ausnahme, wenn in LANDLEBEN4.0: BETZENWEILER – SCHAFFE, SCHAFFE, PARTY MACHE, SWR 2020; Aljoscha Hofmann, der Kommentar davon spricht, dass man »das eine oder andere renovierungsbedürftige Häuschen im Dorf herrichten [könne], statt ständig neu zu bauen«, Min 10). Das Dorf als soziales Gebilde spielt vor allem dann eine Rolle in den Produktionen, wenn die Gemeinschaft als treibende Kraft dargestellt wird (bspw. UNSER DORF HAT WOCHENENDE, aber auch in den neueren Folgen von LANDLEBEN4.0 wird der Gemeinschaftsaspekt m.E. viel deutlicher hervorgehoben als in den ersten Folgen). 86 Damit ist in der Regel die Landes- oder Bundespolitik gemeint. Insbesondere Bürgermeister vor Ort werden gerne als pragmatisch zupackende Macher inszeniert, weniger als ›Politiker‹. 87 So wird zumindest suggeriert. 88 Oder als ökologisch, regional und nachhaltig (siehe z.B. LANDLEBEN4.0: HEIMAT HEUTE IM HUNSRÜCK).

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WOCHENENDE – (so gut wie) immer auch wirtschaftlich als zukunftsfähig inszeniert:89 »Es lohnt sich zu bleiben, weil es Perspektiven gibt.« (LANDLEBEN4.0: HEIMAT HEUTE IM HUNSRÜCK; Min. 37).90 Ein Aspekt wird in diesem Zusammenhang immer wieder hervorgehoben: »Besonders auffällig […] ist der Gemeinschaftssinn, der sorgt auch dafür, dass das Dorf in vielen Punkte zukunftsfähig ist« (LANDLEBEN4.0 – IN SPESSART / EIFEL; Min. 3). Zum einen, weil der Zusammenhalt und damit auch das Ehrenamt eine wichtige dörfliche Ressource darstellt (zumindest wird dies so immer wieder inszeniert). Aber zum anderen auch noch aus einem anderen Grund: »Wer gut vernetzt ist, hat einen guten Grund zu bleiben.« (LANDLEBEN4.0 – IN GOMADINGEN / SCHWÄBISCHE ALB; Min. 14) Gerade die engen familiären und privaten Bindungen sind offenbar für viele ein Argument, im Dorf zu bleiben – oder nach der Ausbildung wieder zurückzukehren. Der Begriff ›Verwurzelung‹ wird entsprechend in der Reihe oft bemüht.91 Daran wird auch deutlich, dass das Dorf in solchen Reihen (ganz anders als bei Wieland) in der Regel in Form von Dörflichkeit inszeniert wird. Dabei kann »Dörflichkeit als eine eigene Form von Sozialität aufgefasst werden« (Barlösius 2018: 60):92

89 In UNSER DORF HAT WOCHENENDE wird der wirtschaftliche Aspekt oft eher ausgeblendet. Das liegt sicherlich zum einen an der höheren Episodenzahl (über 160 vs. 24 bei LANDLEBEN4.0

bis Ende 2020). Zum anderen mag auch vor allem der Ost-West-Unterschied hier

eine Rolle spielen. Gleichwohl ist es eine bewusste Inszenierungsstrategie, dass in UNSER DORF HAT WOCHENENDE das soziale Dorfleben, das für sich eine Zukunft hat (und an sich lebenswert ist), im Mittelpunkt steht, während LANDLEBEN4.0 die Zukunftsfähigkeit des Dorfes hervorhebt. 90 Wenn Claudia Neu (2016: 6) schreibt, dass »die Stadt der Raum zum Überleben im Alltag [bleibt], während das Land der Raum der Imagination eines besseren Lebens ist«, so spiegelt sich dieser Befund gerade nicht in LANDLEBEN4.0. Die Reihe will vielmehr zeigen, dass die Provinz längst Raum des guten Lebens ist; zumindest die Provinz im wirtschaftlich erfolgreichen Südwesten Deutschlands… 91 In vielen Folgen wird in diesem Zusammenhang das rege Vereinsleben genannt, das Kindern und Jugendlichen Gemeinschaftssinn nahebringen würde. – Auch wenn so die gewachsene Gemeinschaft betont wird, zeigt LANDLEBEN4.0 (anders als bspw. UNSER DORF HAT

WOCHENENDE) immer auch das integrative Dorf, das Diversität lebt (und vielleicht

sogar braucht). 92 »[…] worunter zunächst nichts anderes verstanden wird, als dass sich Menschen in sozialen Wechselbeziehungen befinden, also soziale Beziehungen eingehen und sich daraus so etwas wie soziale Reziprozität entwickelt, die einen institutionellen Gehalt besitzt.« (Barlösius 2018: 60)

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»Dies impliziert, den Begriff so zu konzipieren, dass er sich ganz überwiegend − womöglich einzig − auf soziale Phänomene bezieht, jedenfalls nicht auf Materielles, um daraus die soziale Eigenart zu begründen. […] Dörflichkeit […] wird vielmehr sozial geschaffen, ebenso wie ihr Fehlen oder Abhandenkommen ein soziales Phänomen darstellt.« (Ebd.: 61; Herv. CH)93

Reihen wie LANDLEBEN4.0 und UNSER DORF HAT WOCHENENDE führen nicht nur regelmäßig vor, wie Dörflichkeit als Sozialität erzeugt wird. Sondern – und gerade –, wie das Dorf so auch als Raum seine Zukunftsfähigkeit (re)produziert.

W ECK , W ORSCHT

UN W OI – UND EIN BISSCHEN R EGIONALKRIMI LANDLEBEN4.0 fokussiert ein modernes Leben in der Provinz, das zuweilen nur noch wenig ›Ländliches‹ bzw. Traditionelles an sich hat (obwohl immer wieder auch auf die Tradition verwiesen wird). Explizit wird die Innovationskraft ländlicher Gegenden herausgestellt, ihre Modernität und Produktivität. (Etwas) Anders ist das in dokumentarischen Serien und Reihen wie DIE BÜFFELRANCH (ZDFinfo/ZDF 2012-2016), HOFGESCHICHTEN (NDR seit 2018) oder LUST AUFS LAND – BAYERISCHE HOFGESCHICHTEN (BR 2020), in denen das (eher traditionell konnotierte) Leben auf dem Bauernhof im Mittelpunkt steht. Hierzu kann man auch die vom SWR seit 2013 produzierte Reihe LAND – LIEBE – LUFT. DIE SWR BAUERNHOFSERIE zählen, in der es um »den Traum vom ländlichen Leben und die Herausforderungen moderner Landwirtschaft«94 geht. In dieser Sendung spielt die Zukunft(sfähigkeit) ländlicher Regionen, wenn auch eher implizit, eine große Rolle. Auffällig ist, dass solche Sendungen vor allem kleinere Familienbetriebe fokussieren – die Monokulturen und Massentierhaltung der industriellen landwirtschaftlichen Produktion werden gerne ausgeblendet. Angeknüpft wird vor allem an eher tradierte Vorstellungen des bäuerlichen Lebens und der Hofgemeinschaft, die einen ›zeitgemäßen‹ Anstrich erfahren;95 denn »um de‘ Familienbetrieb zu erhalte‘, müsse‘ wir uns immer wieder neu erfinde‘«, wie es der junge Milchbauer Andreas Deyer in COMING-OUT MIT EISCREME (SWR 2020; Sigrid Abel) sagt. So wird immer wieder vorgeführt, dass die Provinz zukunftsfähig ist, wenn sie sich dem Wandel und dem

93 Vgl. bereits von Wiese (1928). 94 So der Ankündigungstext unter: https://www.ardmediathek.de/swr/sendung/land-liebeluft/Y3JpZDovL3N3ci5kZS8yMDE1MjkwNg/ (15.10.2020). 95 Die Modernität der Landwirtschaft wird auch in LANDLEBEN4.0 immer wieder hervorgehoben.

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Generationswechsel nicht verschließt, Neues zulässt – und dabei Traditionen pflegt (aber nicht traditionalistisch ist). Ein gutes Beispiel dafür ist auch die Folge WENN DREI EIN GANZES SIND – DIE LEUTE VOM WEINGUT WAGNER (2015; Christoph Schuch) über eine Weinbauernfamilie im rheinhessischen Essenheim. Anders als noch in Ramon Gills GENERATIONSWECHSEL AUF DEM LANDE. DIE WEINBAUERN IN BURRWEILER (1970) wird hier die rechtzeitige Hofübergabe, aber vor allem das gelingende Miteinander der Generationen thematisiert.96 Dies korrespondiert mit einer aktuellen gesellschaftlichen Perspektivierung, denn »[i]nsbesondere werden mit dem Dorfleben heute idealtypische Vorstellungen vom familiären Zusammenleben verbunden« (Laschewski et al. 2019: 13). Und so kommentiert auch dieser Beitrag mit Blick auf die Wagners: »Etwas steht immer über allem: der Zusammenhalt der Familie.« (Min. 29) Obwohl der Beitrag nicht mit idyllischen Landschafts- und Dorfaufnahmen geizt, steht doch das Hof- und Familienleben im Mittelpunkt. So drückt sich Dörflichkeit hier im engen, generationenübergreifenden Miteinander der Familienmitglieder aus. Essenheim als Dorf bleibt dem gegenüber – darin der Formatlogik folgend – merkwürdig ausgespart; das Dorf als Raum und Netzwerk ist nicht präsent.97 Stattdessen erscheint die (funktionierende) Familie als Garant für die Zukunft.98 Während in den Dokumentationen der 1960er und 1970er Jahre Landwirtschaft vor allem als beschwerliche (und dreckige) Arbeit gezeigt wird (siehe z.B. auch Klaus Wildenhahns zweiteiligen Film DIE LIEBE ZUM LAND, NDR 1975), erscheint das Weingut hier als ein Ort der Selbstverwirklichung: Jeder der drei Brüder aus der mittleren Generation, die das Gut schon vor einigen Jahren übernommen haben, bringt sich mit seinen Stärken und Interessen ein. Sie alle haben sich zuvor ausprobiert, das elterliche Anwesen zur Ausbildung und zum Studium verlassen, sind durch die Welt gezogen – bis hinein in die Arktis. Es hieß schon, dass ›der Wagner‹ keinen Nachfolger haben werde… Doch die Söhne kamen zurück, brachten ihre Frauen und neue Ideen mit; und wenn man zu dritt und der ganzen Großfamilie einen Hof ›beackert‹, dann kommt auch die Lebensqualität nicht zu kurz (vgl. Min. 18).99 Jeder kann sich auf das konzentrieren, das er am besten kann – und zu dritt ergänzen sie sich dann

96 Siehe auch DIE NORDSTORY: ACKERN ALS FAMILIE – HOFERBEN IN MECKLENBURG-VORPOMMERN

(NDR 2021; David Pilgrim).

97 Allerdings wird das Umland des Dorfes regelrecht als Freiheitsraum inszeniert, wenn drei glückliche Kinder gezeigt werden, die mit ihren Fahrrädern in den Weinbergen unterwegs sind: »Wer wissen will, wie Freiheit schmeckt, sollte wie die drei einfach mal wieder ziellos durch die Felder stromern und selbstgeklaute Nüsse knacken.« (Min. 28) 98 Wirtschaftliche und/oder politische Aspekte spielen keine Rolle. 99 Dies erscheint in der Rhetorik des Films als ein – von äußeren Bedingungen unabhängiges – Sich-Freiwillig-Entscheiden für ein (gutes) Leben auf dem Land.

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kongenial: WENN DREI EIN GANZES SIND. Dabei erzeugt das gemeinsame Wirtschaften Freiräume zur individuellen Selbstverwirklichung.100 Die Zukunftsfähigkeit des Landes macht sich hier am Hof fest, an der Hofgemeinschaft; am Weingut. Individualität und Gemeinschaftssinn gehören in dieser Reihe dabei genauso zusammen wie Tradition und Modernität; das eine gibt es nicht ohne das andere.

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»In strukturschwachen Regionen der Republik braut sich was zusammen«, heißt es am Anfang der Dokumentation VÖLKISCHE SIEDLER – SCHATTENWELTEN AUF DEM LAND (ZDFinfo 2017/19; Detlev Konnerth/Marijke Engel; Min. 1). Gerade in den stadtfernen und dünnbesiedelten, ländlichen Gebieten lassen sich leerstehende Höfe oder Gastwirtschaften nur noch schwer verkaufen. Hier setzt die neurechte bzw. völkische Strategie an, »durch Landnahme im vorpolitischen Raum eine kulturelle Hegemonie zu gewinnen« (Röpke/Speit 2019: 7).101 Die Gefahr der »völkische[n] Landnahme« (Röpke/Speit 2019) durch rechtsextreme Siedlungsprojekte oder schleichenden ›Dorfübernahmen‹ wird bisher aber nur selten in aller Deutlichkeit im Fernsehdokumentarismus thematisiert, obwohl auch dies eine ›Zukunfts‹-Perspektive für rurale Gegenden ist (wenn auch keine, die man sich wünscht; siehe z.B. KONTRASTE – DIE REPORTAGE: BIO, BRAUN UND BARFUSS. RECHTE SIEDLER IN BRANDENBURG, RBB 2019; Silvio Duwe/Lisa Wandt).102 Das heißt nicht, dass das Erstarken der rechten Szene in der Provinz bisher nicht thematisiert wurde. Dies zeigt z.B. die Produktion DA IST MAN LIEBER STILL – AM

100 Dies wird besonders deutlich am ältesten Sohn Andreas Wagner, promovierter Historiker und »Deutschlands einziger Winzer, der mit zunehmenden Erfolg Weinkrimis schreibt« (Min. 6). Seit 2007 erscheint (fast) jedes Jahr ein neuer Regionalkrimi (meine Weinempfehlung dazu: der Spätburgunder vom sandigen Löß). GALGENBUSCH 1945 (2015) ist hingegen eine Erzählung, die von den letzten Kriegstagen in der rheinhessischen Provinz erzählt. 101 Dabei kann es sich auch um religiöse Gruppen oder sog. Reichsbürger handeln. 102 So ist es bezeichnend, dass es im Rahmen der Dorf-Doku-Reihe UNSER DORF HAT WOCHENENDE bei über 160 Episoden (Stand: Ende 2020) die absolute Ausnahme ist, wenn in der Folge RAUENSTEIN (MDR 2019; Heike Opitz/Mathias Schaefer) zumindest ganz am Rande auf die Problematik verwiesen wird (vgl. Hißnauer 2020: 408). Massentauglich ›verarbeitet‹ wurde das Thema 2018 gleich in zwei TATORT-Folgen (ARD seit 1970): der SWR-Produktion SONNENWENDE (Umut Dağ) und dem BR-Beitrag FREIES LAND (Andreas Kleinert). Der POLIZEIRUF 110 (DFF/Fernsehen der DDR/ARD seit 1971) befasst sich 2019 in HEIMATLIEBE (RBB; Christian Bach) mit dem Thema Reichsbürger.

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RAND DER REPUBLIK (NDR 2007) von Eilika Meinert. In den ländlichen Gebieten Mecklenburg-Vorpommerns103 zeigt sie ein desillusionierendes Bild vom Aufbau Ost: »Eine Gesellschaft, die nicht für die Zukunft taugt. Von den demokratischen Parteien aufgegeben; von den Rechten ernstgenommen. Das beschreibt das Gefühl, was viele hier haben.« (Min. 27) Von daher wird hier weniger eine von außen kommende Landnahme und Unterwanderung der Provinz beschrieben (obwohl dieser Aspekt in der Dokumentation auch bereits eine Rolle spielt), sondern eine Entwicklung (auch) von innen heraus; eine Verschiebung des Spektrums nach rechts. Strukturwandel sowie Staats- und Politikversagen werden u.a. als Ursachen angeführt. Die Rechten würden dabei in die (Frei-)Räume vorstoßen, die sich durch den Rückzug des Staates aus der Fläche ergeben; die ihnen so überlassen werden: RECHTEN

»Die Rechten prägen […] inzwischen die Alltagskultur. Sie veranstalten Kinderfeste und Wehrsporttage, laden ideologische geschulte Referenten und rechte Liedermacher zum Heimatabend. ›Lass sie doch machen – solange sie keinem was tun.‹ Die vorherrschende Meinung der Leute hier.« (Min. 37)

Der Film zeigt eine Dorfkultur der Verdrängung und Verharmlosung – aber ebenso »Vorbildfiguren in Vermittlerfunktion«, die für das »bessere Dorf« (Stockinger 2018: 58) stehen und mit zivilgesellschaftlichem Engagement und Eigeninitiative versuchen, den Rechten etwas entgegen zu setzen. Sie wollen sich mit der Normalisierung rechten Gedankengutes in der Provinz nicht abfinden. Gerade das in den Dokumentationsreihen hervorgehobene ›gute‹ Vereinswesen vieler Dörfer bekommt hier eine politische Bedeutung zugeschrieben. So heißt es über das neue Footballteam: »Das Team: zusammengewürfelt aus Leuten aller sozialer Schichten und politischer Ansichten. Hier steht jeder für jeden.« (Min. 42)104 Explizit betont daher der Sprechertext: »Engagement für die Region bringt Hoffnung.« (Min. 43) Aber Vorbilder brauchen Gefolgschaft und Unterstützung: »[G]enau die brauchen sie, die couragierten Einzelkämpfer am rechten Rand der Republik: Helfer; in der Bevölkerung; in der Politik. Alleingelassen kämpften sie auf verlorenem Posten.« (Min. 43f.)

103 »[E]in schönes Land, in dem die Rechten fußfassen konnten.« (Min. 4) 104 Dies bleibt an dieser Stelle aber lediglich Behauptung, weil sich die Produktion nur auf Selbstaussagen der Vereinsgründer Thomas und Mirko bezieht. Wenn sie sich dahingehend äußern, dass Sport keine politischen Einstellungen kennen würde (und dies immer auch Grundgedanke eines Vereins sei; Min. 42), so klingt das dann aber doch etwas naiv.

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Gegen die rechte Vereinnahmung des ländlichen Raums wird hier – etwas hilflos – an die Eigeninitiative und die Dorfgemeinschaft appelliert; aber eben auch an die Politik. Allerdings: Was die Politik tun könnte, dafür hat der Film auch kein Rezept parat. »Es schleicht sich etwas Bedrückendes in das Idyll« (Min. 2), heißt es so auch weiter zu Beginn der Dokumentation. Gezeigt werden aggressive Jugendliche; ausländerfeindliche und antisemitische Äußerungen älterer Dorfbewohner sind zu hören. Der Film beschreibt das rurale Mecklenburg-Vorpommern schonungslos als »Gegend, wo die junge Demokratie für Enttäuschung steht und alte, tiefverwurzelte Ängste vor dem Unbekannten Nährboden bieten für rassistische, antisemitische, völkische Ideologien« (Min. 5). Eine bedrohliche Kulisse, die hier aufgebaut wird: Ohne Zukunft fallen Dörfer ins ewig Gestrige zurück.

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Der aktuelle Fernsehdokumentarismus macht in erster Linie Lust aufs Land. Ein besseres Leben als in der Provinz gibt es nicht – glaubt man zumindest Reihen wie LANDLEBEN4.0 oder UNSER DORF HAT WOCHENENDE. Gerade dieses gute Leben auf dem Dorf impliziert auch die Zukunftsfähigkeit ruraler Gebiete. Dabei ist es kein Zufall, dass solche aufmerksamkeitsstarken Reihen vornehmlich in den Dritten Programmen ausgestrahlt werden, für die Regionalität ein wichtiger Programmaspekt ist. Während in den 1960er Jahren der Tenor vieler Produktionen eher das sterbende Dorf war, das sich heute nur noch in Einzelstücken findet, steht hier das Dorfleben im Mittelpunkt, das lebenswerte Dorf. Wirtschaftliche Aspekte werden dabei oftmals – gerade mit Blick auf Dörfer in strukturschwachen Regionen – systematisch ausgeblendet, um das Dorf als lebenswert inszenieren zu können (siehe UNSER DORF HAT WOCHENENDE). Die Regionen des Sendegebiets sollen aufgewertet werden (vgl. Hißnauer 2020). Dabei geht es den Produktionen nicht darum, das Alte zu bewahren, wie dies in vielen Filmen der 1970er und 1980er Jahre von Dieter Wieland der Fall ist. Die aktuellen Landlustreihen suchen vielmehr nach dem Modernen in der Tradition – oder der Tradition im Modernen. Sie erzeugen Vorbilder, die Dörfer zukunftsfähig machen sollen. Die mediale Raumproduktion zielt also darauf ab, den ruralen Raum als zukunftsfähigen Raum zu erzeugen. Ganz im Sinne neoliberaler Ideologie soll der Strukturwandel als Chance begriffen werden, die durch Eigenverantwortlichkeit, Eigeninitiative und Selbstvertrauen genutzt werden kann. Das impliziert dann aber auch, dass das Sterben von Dörfern selbstverschuldet sei. Nur gelegentlich findet sich eine umfassendere Problematisierung der Zukunftsmöglichkeiten ruraler Gebiete wie in LANDLEBEN: LUST ODER FRUST? Auch die Gefahr einer rechten Unterwanderung ländlicher Gegenden wird nur selten so

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explizit als strukturelles Problem des provinziellen Raums dargestellt wie in DA IST MAN LIEBER STILL – AM RECHTEN RAND DER REPUBLIK. Von daher verhandelt der Fernsehdokumentarismus derzeit insgesamt Strukturwandel nicht mehr als Verlust, sondern als Gewinn; insbesondere als Gewinn von Zukunftsperspektiven.

L ITERATUR Barlösius, Eva (2018): »Dörflichkeit? Theoretische und empirische Reflexionen über einen heterodoxen Begriff«, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 66 (2018) 2, S. 55-68. Bhabha, Homi K (2011): Die Verortung der Kultur. Unveränderter Nachdruck der 1. Aufl. 2000, Tübingen: Stauffenburg. Bhabha, Homi K. (2016): Über kulturelle Hybridität. Tradition und Übersetzung, Wien/Berlin: Turia + Kant. Braun, Annegret (2012): »Lust aufs Land? Die mediale Inszenierung des Landlebens«, in: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 2012, S. 13-27. Dirksmeier, Peter (2009): Urbanität als Habitus. Zur Sozialgeographie städtischen Lebens auf dem Land, Bielefeld: transcript. Donovan, Josephine (2010): European Local-Color Literature. National Tales, Dorfgeschichten, Roman Champetres, New York: Continuum. Faber, Kerstin/Oswalt, Philipp (2013) (Hg.): Raumpioniere in ländlichen Regionen. Neue Wege der Daseinsvorsorge, Leipzig: Spector Books. Hißnauer, Christian (2011): Fernsehdokumentarismus. Theoretische Näherungen, pragmatische Abgrenzungen, begriffliche Klärungen, Konstanz: UVK. Hißnauer, Christian (2018): »Das Idyll als Wiedergutmachung? Kritik und Verklärung der Provinz im bundesdeutschen Fernsehdokumentarismus der 1960er bis 1970er Jahre und die rurbane Landlust aktueller Produktionen«, in: Clemens Zimmermann/Gunter Mahlerwein/Aline Maldener (Hg.), Landmedien. Kulturhistorische Perspektiven auf das Verhältnis von Medialität und Ruralität im 20. Jahrhundert. Jahrbuch für Geschichte des ländlichen Raumes / Rural History Yearbook, Band 15/2018, Innsbruck/Wien/Bozen: StudienVerlag, S. 231-254. Hißnauer, Christian (2019): »Zwischen Zeitkritik und Ausgewogenheitsdiktat: Fernsehdokumentarismus und politischer Diskurs von der Stuttgarter Schule bis heute als Geschichte eines hörbaren Verlustes«, in: Carsten Heinze/Arthur Schlegelmilch (Hg.), Der dokumentarische Film und die Wissenschaften: Interdisziplinäre Betrachtungen und Ansätze, Wiesbaden: Springer VS, S. 109-129. Hißnauer, Christian (2020): »›Unser Dorf hat Wochenende.‹ Die mediale Aufwertung der Provinz und des Dörflichen im Fernsehdokumentarismus der Dritten Programme«, in: Zeitschrift für Germanistik. Neue Folgen, 30 (2020), Heft 2, S. 399-416.

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Hißnauer, Christian/Stockinger, Claudia (2021): »Gutes Leben in der Uckermark – intermedial. Gegenwärtige Narrative des Provinzerzählens und ein allgemeines Modell medialer Raumproduktion«, in: Werner Nell/Marc Weiland (Hg.), Gutes Leben auf dem Land? Imaginationen und Projektionen vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bielefeld: transcript, S. 141-165. Hißnauer, Christian/Stockinger, Claudia (2022): Provinz erzählen: Wie die Uckermark zu einem Raum des guten Lebens wird, Bielefeld: transcript. [Im Erscheinen] Jeggle, Urz/Ilien, Albert (1978): »Die Dorfgemeinschaft als Not- und Terrorzusammenhang. Ein Beitrag zur Sozialgeschichte des Dorfes und zur Sozialpsychologie seiner Bewohner«, in: Hans-Georg Wehling (Hg.), Dorfpolitik. Fachwissenschaftliche Analysen und didaktische Hilfen, Opladen: Leske + Budrich, S. 3853. Kratzer, Hans (2017): »›Dass sie mich dort nicht erschlagen haben, wundert mich noch heute.‹ Der Journalist Dieter Wieland schärft seit Jahrzehnten den Blick für die Verschandelung von Natur, Heimat und Häusern – und wich dabei keinem Konflikt aus«, in: Süddeutsche Zeitung vom 17. März 2017, Online: https://www.sueddeutsche.de/bayern/dieter-wieland-dass-sie-mich-dort-nichterschlagen-haben-wundert-mich-noch-heute-1.3420349-0 (09.04.2021). Laschewski, Lutz et al. (2019): »Das Dorf als Gegenstand sozialwissenschaftlicher Forschung und Theoriebildung. Zur Einführung«, in: Annett Steinführer et al. (Hg.), Das Dorf. Soziale Prozesse und räumliche Arrangements, Berlin: Lit, S. 356. Lefebvre, Henri (1991): The Production of Space, Malden/Oxford/Carlton: Blackwell. Lefebvre, Henri (2015): »Die Produktion des Raums«, in: Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, 8. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 330-342. Lohmann, Georg (2007): »Philosophische Konzeptionen eines guten Lebens – mit Blick auf Örtlichkeiten«, in: Hans-Peter Ecker (Hg.), Orte des guten Lebens. Entwürfe humaner Lebensräume, Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 33-50. Neu, Claudia (2016): »Neue Ländlichkeit. Eine kritische Betrachtung«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 66 (2016) 46-47, S. 4-9. Neu, Claudia (2018): »Akteure der Neuen Dörflichkeit«, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie, 66 (2018) 2, S. 11-22. Odin, Roger (1994): »Sémio-pragmatique du cinéma et de l’audiovisuel. Modes et institutions«, in: Jürgen E. Müller (Hg.), Towards a Pragmatics of the Audiovisual. Theory and History, Volume 1, Münster: Nodus, S. 33-46. Odin, Roger (1995a): »A Semio-Pragmatic Approach to the Documentary Film«, in: Warren Buckland (Hg.), The Film Spectator. From sign to mind, Amsterdam: Amsterdam University Press, S. 227-235.

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There’s quite a Future in England’s Dreaming Das Rurale als Ort der Entscheidung am Beispiel der britischen Fernsehserie Doctor Who J ANWILLEM D UBIL »This is one corner… of one country, in one continent, on one planet that’s a corner of a galaxy, that’s a corner of a universe, that is forever growing and shrinking and creating and destroying and never remaining the same for a single millisecond. And there is so much, so much to see.« DOCTOR WHO: THE POWER OF THREE

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Aus filmwissenschaftlicher Perspektive scheinen sich der Begriff der Zukunft und das Motiv des Ländlichen geradezu kategorisch auszuschließen: Genrehistorisch bedeutende und auch gegenwärtig noch wirkmächtige Exempel der Science-Fiction wie BLADE RUNNER (1982) und AKIRA (1988), LE CINQUIÈME ÉLÈMENT (1997) und WATCHMEN (2009) fokussieren dystopische Metropolen, in denen »Hochhaustempel« in rötliche »Smoghimmel« ragen, Fabriktürme Flammen spucken und saurer Regen auf »neonerleuchtete Häuserschluchten« fällt, bis sich die Impressionen zu einem »futuristisch-archaischen Stadtmonster« vereinen (Kirste 2005: 108). Ökologisch grundierte Ausnahmen wie AVATAR (2009) scheinen die Regel auf den ersten Blick zu bestätigen (vgl. Banholzer 2013: 423), romantisieren das Rurale letztlich aber lediglich als rückständigen Raum, der eben nicht zukunftsfähig, sondern im Gegenteil, einer tradierten kolonialen Dynamik folgend, von der territorialen Expansion moderner Zivilisationen bedroht ist (vgl. James/Ue 2011: 188).

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Hätte DOCTOR WHO (GB 1963-89/2005-20) diesen Nimbus nicht längst inne – das Format wurde 2007 als langlebigste und 2009 als arrivierteste Science-Fiction-Reihe mit je einem Eintrag im GUINNESS BOOK OF WORLD RECORDS bedacht (vgl. Leitch 2013: 1) – man müsste die Serie folglich für ihre genre-atypische Integration des Ruralen in den Rang eines Solitärs erheben: Das Narrativ des zeitreisenden Protagonisten, der, analog zum seriellen Paradigma der Reihe, die Menschheit repetitiv vor kosmischen Invasoren beschützt und vergangene wie zukünftige Phasen der Erdhistorie erforscht (vgl. Arnold 2019: 28), lokalisiert sich nicht nur extensiv in der Peripherie kleiner Ortschaften, abgelegener Landsitze oder isolierter Forschungsstationen, es konstruiert auch eine Raumsemantik, die sich diametral zu den Konnotationen des Genres positioniert. Statt die Auswirkungen der Konflikte, die sich hier entfalten, auf Randgebiete zu beschränken, schreibt DOCTOR WHO ihnen das Potenzial globaler Krisen ein, die grenzüberschreitend auch die Bewohner der Metropolen erfassen würden.

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Da die inhaltliche Ausgestaltung des filmischen Narratives in Wechselwirkungen mit produktions- und rezeptionsspezifischen Faktoren steht (vgl. Wende 2011: 17), ist die serielle Repräsentation des Ruralen zunächst in der Historie des Formats, in dem sie realisiert wird, zu kontextualisieren: DOCTOR WHO wurde 1963 erstmals ins Programm des britischen Fernsehsenders BBC aufgenommen, der bis 1989 26 Staffeln mit einem Volumen von 695 Episoden produzierte (vgl. Scott/Wright 2013: 17). Nach der vorübergehenden televisionären Einstellung der Serie wurde sie in Romanen, Comic-Heften und Hörspielen crossmedial kontinuiert (vgl. Brown 2013: 248), wodurch sich ihr Kosmos zu einem filmo- respektive bibliographisch kaum mehr aufschlüsselbaren Korpus summierte. Bereits 1996 entstand im Schulterschluss mit der amerikanischen Sendeanstalt Fox Network der als transatlantischer Neustart konzipierte Pilot DOCTOR WHO: THE MOVIE, der mangels Resonanz aber ein Fragment blieb (vgl. Scott/Wright 2013: 19). Neun Jahre später führte das anhaltende populärkulturelle Interesse dennoch zu einer Neuauflage der Serie, deren zweite Edition zwar Abstand von der originären Nummerierung nahm und erneut mit einer ersten Staffel debütierte, sich aber explizit in der Kontinuität ihres Vorgängers verortete (vgl. Williams 2015: 182). In diesem Zuge entstanden bisher1 dreizehn weitere Episodensätze mit insgesamt 193 Folgen. Eine produktionshistorische Extension dieses Ausmaßes hat obligat ein Changieren des Hauptdarstellers zur Folge, das sich DOCTOR WHO sukzessive

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Stand: Januar 2022.

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gleichsam als konstituierenden Zug eingeschrieben hat: Der Protagonist, der sich selbst »the Doctor« nennt, ist als »außerirdischer Zeitreisender in menschlicher Gestalt« (Arnold 2019: 28) figuriert, der von dem fiktiven Planeten »Gallifrey« stammt, welcher sich durch eine Synthese von Historismus und Technisierung (Abb. 1) ebenso auszeichnet wie durch Bewohner, die in der Lage sind, am Ende ihres Lebens in einen neuen Körper zu regenerieren, der frühere Erinnerung zwar konserviert, hinsichtlich Physiognomie und Temperament aber stets von seinem Vorgänger abweicht (vgl Booth/Burnham 2014: 203ff.). Abb. 1: Die Heimat des Doctors als Ort gewordener Antagonismus: Auf Gallifrey koexistieren nicht nur anachronistische und futuristische Siedlungen, auch Technound Ökologie greifen ineinander (Abadzis/Casco 2017: 4) – ein Gefährt wie die Tardis wirkt gleichermaßen konstruiert wie gewachsen und verfügt nicht selten über einen eigenen Willen.

Abadzis/Casco (2017: 4)

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Dieser inzwischen zwölfmal praktizierte Kunstgriff der Körpertransformation ist einerseits das maßgebliche Instrument, DOCTOR WHO kontinuierlich an veränderte Produktions- und Rezeptionsbedingungen anzupassen, determiniert gleichsam aber auch unterschiedliche Phasen der Serie mit divergierenden Schwerpunkten, unter denen sich auch die Pointierung des Ruralen subsumieren lässt. Dieses Phänomen wird dabei vornehmlich in der Zeit des elften Doctors evident, die sich von der fünften bis zur siebten Staffel respektive die Jahre 2010 bis 2013 erstreckt (vgl. Kistler 2013: IX).

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Die von Schauspieler Matt Smith (*1982) verkörperte, auch als »the Raggedy Doctor« (vgl. Holdier 2015: 260) oder »the young Doctor« bekannte Inkarnation (vgl. Williams 2015: 68), ist wie ihre Vorgänger zunächst von den unveränderlichen Grundzüge der Figur gekennzeichnet: Er reist in einem unter dem Namen »Tardis« (ein Akronym, das für »Time and Relative Dimension(s) in Space« steht) bekannten Gefährt durch Zeit und Raum (vgl. Capettini 2012: 148), hat eine Affinität zur Erde entwickelt und sich deren Schutz verschrieben. Auf seinen Reisen in vergangene oder zukünftige Zeiten sowie auf fremde Planeten assistieren ihm ein oder mehrere Begleiter (vgl. Arnold 2019: 28), bei denen es sich zumeist um junge Frauen handelt, zu denen er aber in einer rein platonischen Beziehung steht. Wie bereits die zehnte Inkarnation zeichnet sich auch das Handeln ihres Nachfolgers dadurch aus, dass er dieses nach einem fluides Verständnis von Zeit und Geschichte ausrichtet (vgl. Hills 2010: 98): Vergangenheit und Zukunft werden in DOCTOR WHO nicht als invariables Konstrukt interpretiert, sondern, von singulären Fixpunkten abgesehen (vgl. Cooper/Mahoney 2011: 128), als flexibel charakterisiert. Gleichsam werden sowohl der Doctor als auch seine Tardis von historischen Krisensituationen, in denen sich die Geschichte eines Planeten, eines Landes oder eines Menschen signifikant zum Guten wie zum Schlechten wenden könnte, nahezu angezogen, ohne folglich wissen zu können, welchen Ausgang Konflikte nehmen beziehungsweise welche Folgen sein Eingreifen für die Zukunft haben wird. Gemäß seines philanthropischen Wesens handelt der Doctor altruistisch und versucht auch sein Gegenüber stets zu entsprechenden Entscheidungen in Bezug auf den Umgang mit technischen Entwicklungen, extraterrestrischem Leben oder der Besiedelung neuer Lebensräume zu bewegen. Was den elften Doctor in der Galerie der Inkarnationen aber besonders exponiert, ist der evidente Dualismus zwischen seiner jugendlichen Physiognomie (Abb. 2) und seiner Lebenserfahrung.

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Abb. 2: Die Dialektik des elften Doctors: Obwohl Matt Smith der jüngste Darsteller ist, der die Figur je verkörperte, verweisen Tweed-Jackett und Fliege (abwertende Kommentare zu dieser quittiert er stets mit der catchphrase »Bow ties are cool.«), die später punktuell um ein Fes oder einen Stetson als Kopfbedeckung ergänzt werden, auf das seinen Vorgängern gegenüber fortgeschrittene Alter.

DOCTOR WHO: THE TIME OF ANGELS

Während sein Verhalten häufig in nahezu kindlicher Weise impulsiv wirkt, hat sich bis zur fünften Staffel ein Komplex traumatischer Erfahrungen aufaddiert, die die vermeintliche Zerstörung des Heimatplaneten und den Verlust zweier Begleiter als Klimax beinhalten. Die Episoden dieser Phase variieren den Motivkanon der Serie als Resultat dieser Entwicklung derart, dass sie diesen Antagonismus durch eine Kontrastierung von Vergangenheit und Zukunft, Natur und Technologie sowie eben Abgeschiedenheit und Zivilisation widerspiegeln.

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Evident wird besonders der letztgenannte Aspekt vornehmlich in der zweiteiligen Episode THE HUNGRY EARTH/COLD BLOOD (GB 2010, R.: Ashley Way), die als achte respektive neunte Folge der fünften Staffel produziert wurde. Deren Handlung ist im Jahr 2020 in dem walisischen Dorf Cwmtaff verortet, das einen Status als abgehängter Raum, der die Vergangenheit konserviert, evoziert. Dieser wird gleichsam durch eine tendenziell futuristische Konstruktion in Form einer riesigen, wissenschaftlichen Bohranlage (vgl. Cooper/Mahoney 2011: 113) kontrastiert (Abb. 3), die

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vor der Ortsgrenze errichtet wurde, nachdem man dort Mineralien entdeckte, deren Vorkommen seit Millionen von Jahren als erschöpft galt. Abb. 3: Die dezent eingesetzten futuristischen Elemente lassen sich in THE HUNGRY EARTH vornehmlich anhand ihrer Farbe erkennen: Die als britische »police box« im Stil der 1960er getarnte Tardis bricht in blau den beinahe monochromen Vordergrund des Bildes auf, im Hintergrund kontrastiert die industriell gelbe Bohranlage das Immergrün der Wälder.

DOCTOR WHO: THE HUNGRY EARTH

Die Inbetriebnahme der Bohranlage initiiert anschließend aber eine Sequenz von Bodeneruptionen, die keines terrestrischen Ursprungs scheinen und in einem Verlust des Bohrkopfs resultieren. Der Doctor, seine Begleiterin Amy und deren Verlobter Rory stranden nolens volens in Cwmtaff, da die Tardis den einprogrammierten Zielort Rio de Janeiro autonom modifizierte. Bereits dieses Changieren von exotischer Metropole zu lokaler Abgeschiedenheit reflektiert paradigmatisch die Ausnahmestellung der Serie in ihrem Genre. Als die enigmatischen Eruptionen die Aufmerksamkeit des Doctors finden, beginnt er gemeinsam mit der Geologin Nasreen, die der Anlage vorsteht, deren Ursache zu investigieren. Unter der Erdoberfläche stoßen sie auf eine komplett autarke, subterrane Stadt, deren urbane wie futuristische Impression durch ihre Isolation synchron gleichsam wieder unterminiert wird. Die Siedlung erweist sich als Heimat der »Silurians«, intelligenter Reptilien, die den Planeten vor Äonen dominierten (vgl. ebd.: 125), sich aufgrund der globalen Abkühlung aber in das Innere der Erde absentieren mussten. Da die Bohrungen als kriegerischer Akt interpretiert wurden, forciert das Militär der Reptilien eine Invasion Cwmtaffs, dessen Bewohner sich parallel bewaffnen, um die Aggressionen aus der Erde ihrerseits gewaltsam zu quittieren. Einem Muster der

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Serie folgend, ist einzig dem Doctor daran gelegen, Frieden zwischen den sich unbekannten Kontrahenten zu stiften (vgl. ebd.: 118): Es gelingt ihm, diplomatische Verhandlungen mit dem Anführer der Reptilien zu initiieren, bei denen Nasreen sowie Begleiterin Amy stellvertretend für die Menschen ein beiderseitig akzeptables Abkommen auszuhandeln versuchen. Obgleich es den beiden Parteien nicht gelingt, eine entsprechende Einigung zu erzielen, kann die Invasion des Dorfes final angewendet werden. Während die Silurians sich für einen ausgedehnten Kälteschlaf tiefer unter die Erde zurückziehen (vgl. ebd.: 128), bekundet der Doctor seine Hoffnung, dass sich die Menschen in der Folge auf den nächsten Kontakt mit den Reptilien vorbereiten, der angesichts einer sich ständig erwärmenden Erde in den kommenden Jahrhunderten zwangsweise eintreten wird. Am Ende steht hier der Glaube an eine bessere Zukunft, in der eine friedliche Koexistenz beider Lebensformen möglich ist (vgl. McKee 2013: 30).

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Der Zweiteiler THE REBEL FLESH/THE ALMOST PEOPLE (GB 2011, R.: Julian Simpson), der als fünfte und sechste Episode der siebten Staffel ausgestrahlt wurde, figuriert sich als Komplement zu THE HUNGRY EARTH/COLD BLOOD, indem er eine analoge Motivik aufgreift (vgl. Cooper/Mahoney 2012: 61), die diesbezüglichen Fragestellungen aber aus einer divergenten Perspektive betrachtet. Initial ist hier ein kosmisches Unwetter, das die Tardis zwingt, auf einer nicht näher definierten, europäischen Insel des 22. Jahrhunderts notzulanden. In dem mittelalterlichen Kloster, das sich nahezu in summa über die Oberfläche des Eilands erstreckt (Abb. 4), entdecken der Doctor und seine Begleiter eine hochmoderne Anlage, die dazu dient, wertvolle Säure aus dem Grund zu extrahieren. Da der Kontakt mit der ätzenden Flüssigkeit in höchstem Maße lebensgefährlich ist, instrumentalisieren die Fabrikarbeiter für den Abbau äußerlich mit ihnen identische, lebensechte Avatare, die aus einer programmierbaren, organischen Materie geformt (vgl. Cooper/ Mahoney 2012: 63) und mittels einer Lenkvorrichtung kontrolliert werden.

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Abb. 4: Das Rurale als Superlativ der Isolation: Der Ort des Geschehens ist in THE REBEL FLESH und THE ALMOST PEOPLE hinter seiner anachronistischen Fassade zwar hochtechnisiert, verfügt aber weder visuell noch handlungslogisch über eine irgend geartete Verbindung zu urbanen Räumen.

DOCTOR WHO: THE REBEL FLESH

Als im Zuge des Unwetters ein Blitz in die Anlage einschlägt, dessen elektrische Ladung in die Konstruktion weitergeleitet wird, erwachen die Doppelgänger – in erkennbarer Reminiszenz an die Motivik von Mary Shelleys stilbildenden GenreKlassiker FRANKENSTEIN OR THE MODERN PROMETHEUS (1818) – zum Leben. Ohne die Kopplung an ihre menschlichen Korrelate, gleichsam aber deren Erinnerungen teilend, sind sie überzeugt, die genuine Inkarnation ihrer Persönlichkeit zu sein. Die akzidentelle Evolution der Avatare initiiert einen Konflikt mit ihren Äquivalenten, da beide Parteien sich von der jeweils anderen bedroht sehen. Während seine zwei Begleiter mit kontrahierenden Lagern zu sympathisieren beginnen, versucht der Doctor zu intervenieren, um eine gewaltsame Eskalation des Disputs zu verhindern. Ungleich deutlicher als THE HUNGRY EARTH/COLD BLOOD abstrahiert THE REBEL FLESH/THE ALMOST PEOPLE von der Genreerzählung und instrumentalisiert die Science-Fiction als Folie eines philosophischen Diskurses (vgl. Cooper/ Mahoney 2012: 64). Dem eingangs erwähnten Klassiker BLADE RUNNER ähnlich, wird auch hier hinterfragt, »was den Menschen angesichts von empfindsamen Replikanten noch von seinem künstlich geschaffenen Ebenbild unterscheidet« (Rauscher 2011: 638). Konträr zum Genreprimus der 1980er Jahre sind die Avatare in DOCTOR WHO jedoch nicht gänzlich synthetisch, sondern partiell organisch und im Impuls archaisch, da ihre Autarkie auf die Naturgewalt des Blitzschlags zurückzuführen ist. Inszenierte BLADE RUNNER sein Gedankenspiel noch »vor imposanten Kulissen einer Megalopolis« (ebd.), findet THE REBEL FLESH/THE ALMOST PEOPLE

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in einem von Wind und Wetter zerklüfteten Kloster inmitten infinit scheinender Meeresmassen eine adäquate Bildmetapher, seine rural grundierte Interpretation des künstlichen Menschen zu paraphrasieren.

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THE HUNGRY EARTH/COLD BLOOD und THE REBEL FLESH/THE ALMOST PEOPLE lassen sich abschließend auch als Kompilation jener vier Charakteristika interpretieren, die die Relation von Futurismus und Ländlichkeit in DOCTOR WHO konstituieren: 1. Der rurale Raum ist Teil eines narrativen Paradigmas, der es legitimiert, komplexe, gesamtgesellschaftlich relevante Problemstellungen durch die Perspektive eines begrenzten, von der Außenwelt abgeschnittenen, Figurenensembles (vgl. Cooper/Mahoney 2011: 113) zu filtern. Erst dieser Ansatz erlaubt die immersive Rezeption der futuristischen Konstellationen, die in Inkongruenz zur Lebenswelt des adressierten Publikums stehen. 2. In der Folge sind es Individuen, deren Entscheidungen für global signifikante Entwicklungen epochal werden. Dabei ist gemeinhin die Grundfrage leitend, wie sich – insbesondere technologischer – Fortschritt und humanistische Moral (vgl. Layton 2012: 24ff.) im jeweiligen Exempel miteinander vereinbaren lassen. 3. Es besteht keine Notwendigkeit, genreimmanente Szenarien in extenso zu visualisieren (vgl. Muir 2008: 66). Singuläre, mit filmischer Science-Fiction konnotierte Faktoren wie die futuristische Förderanlage konstituieren im Kontrast zu den ländlich-realistischen Gegenwartsbildern erst ihre spezifische Wirkung. 4. In Doctor Who manifestieren sich synchron die ökonomischen Restriktionen, die eine serielle Fernsehproduktion sanktionieren: Aufgrund des zeitlichen wie finanziellen Aufwands ist die Ausgestaltung einer kompletten futuristischen Diegese nicht in jeder Episode möglich (vgl. Cooper/Mahoney 2011: 126). Rurale Räume sind durch ihre visuelle Konstanz prädestiniert, Vergangenheit wie Zukunft gleichermaßen abzubilden, sie bedürfen dazu einzig des Supplements eines anachronistischen respektive progressiven Motivs. Folglich wird in Doctor Who auch eine Korrespondenz zwischen dem Medium Fernsehen und der Repräsentation der Zukunft auf dem Land evident. Diese Charakteristika sind freilich nicht den hier analysierten Fragmenten exklusiv. Vielmehr kennzeichnen sie multiple Episoden der Serie, als deren Stellvertreter hier die Folgen DALEK (GB 2005, R.: Joe Ahearne), PLANET OF THE OOD (GB 2008, R.: Graeme Harper), KILL THE MOON (GB 2014, R.: Paul Wilmshurst) und DEMONS OF PUNJAB (GB 2018, R.: Jamie Childs) exemplarisch für die Phasen des neunten, respektive zehnten, zwölften und dreizehnten Doctors zu exponieren sind.

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Sequenziell rezipiert, ergeben die entsprechenden Beiträge der neuen Serie folglich ein regelrechtes Musterbuch real grundierter wie imaginierter, aber stets im Ruralen verorteter Entscheidungen über den bisherigen wie zukünftigen Verlauf der Menschheitsgeschichte. Durch die, anonymische Himmelskörper inkludierende, Lokalisierung in den Tiefen des Weltalls konstruiert DOCTOR WHO gleichsam fiktive Bilder eines Ländlichen, das in der realen Gegenwart noch gänzlich unbekannt ist – in dem aber gerade deshalb die substanzielle Zukunft des Menschen liegen könnte.

L ITERATUR Abadzis, Nick/Casco, Leandro (2017): Doctor Who – The Eleventh Doctor. Year Three#10, London: Titan Comics. Arnold, Frank (2019): »Der Doktor ist jetzt eine Frau«, in: epd film 8, S. 28. Banholzer, Bernd (2013): »Willkommen auf Pandora«, in: Parfen Laszig (Hg.), Blade Runner, Matrix und Avatare. Psychoanalytische Betrachtungen virtueller Wesen und Welten im Film, Berlin/Heidelberg: Springer, S. 407-424. Booth, Paul/Burnham, Jeff (2014): »Who are We? Re-Envisioning the Doctor in the 21st Century«, in: Carlen Lavigne (Hg.), Remake Television. Reboot, Re-use, Recycle, Plymouth: Lexington Books, S. 203-220. Brown, Noel (2013): »›Something Woolly and Fuzzy‹: The Representation of Religion in the Big Finish Doctor Who Audio Adventures«, in: Andrew Crome/James F. McGrath (Hg.), Religion and Doctor Who. Time and relative Dimensions in Faith, Eugene: Cascade Books, S. 248-266. Capettini, Emily (2012): »A Boy and his Box, off to see the Universe. Madness, Power & Sex in The Doctor’s Wife«, in: Tara Precott/Aaron Drucker (Hg.), Feminism in the Worlds of Neil Gaiman. Essays on the Comics, Poetry & Prose, Jefferson/London: McFarland & Company, S. 148-160. Cooper, Steven/Mahoney, Kevin (2011): Steven Moffat’s Doctor Who 2010. The Critical Fan’s Guide to Matt Smith’s First Series, London: Punked Books. Cooper, Steven/Mahoney, Kevin (2012): Steven Moffat’s Doctor Who 2011. The Critical Fan’s Guide to Matt Smith’s Second Series, London: Punked Books. Hills, Matt (2010): Triumph of a Time Lord. Regenerating Doctor Who in the Twenty-First Century, London/New York: I.B. Tauris. Holdier, A.G. (2015): »The Mnemotechnics of Amy Pond«, in: Courtland Lewis/ Paul Smithka (Hg.), More Doctor Who and Philosophy. Regeneration Time, Chicago: Open Court, S. 259-268. James, John/Ue, Tom (2011): »I see you. Colonial Narratives and the Act of Seeing in Avatar«, in: Matthew Wilhelm Kapell/Steven McVeigh (Hg.), The Films of James Cameron. Critical Essays, Jefferson/London: McFarland & Company, S. 186-199.

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Kirste, Katja (2005): »Der Blade Runner«, in: Jürgen Müller (Hg.), Die besten Filme der 80er, Köln: Taschen, S. 108-115. Kistler, Alan (2013): Doctor Who: A History, Guilford: Lyons Press. Layton, David (2012): The Humanism of Doctor Who. A Critical Study in Science Fiction and Philosophy, Jefferson/London: McFarland & Company. Leitch, Gillian I. (2013): »Introduction«, in: Dies. (Hg.), Doctor Who in Time and Space. Essays on Themes, Characters, History and Fandom, 1963-2012, Jefferson/London: McFarland & Company, S. 1-5. McKee, Gabriel (2013): »Pushing the Protest Button: Doctor Who’s Anti-Authoritarian Ethic«, in: Andrew Crome/James F. McGrath (Hg.), Religion and Doctor Who. Time and relative Dimensions in Faith, Eugene: Cascade Books, S. 6-31. Muir, John Kenneth (2008): A Critical History of Doctor Who on Television, Jefferson/London: McFarland & Company. Rauscher, Andreas (2011): »Science-Fiction-Film«, in: Thomas Koebner (Hg.), Sachlexikon des Films, Stuttgart: Reclam, S. 634-640. Scott, Cavan/Wright, Mark (2013): Who-Ology. Doctor Who – The Official Miscellany, London: BBC Books. Wende, Waltraud (2011): Wenn Filme Geschichte(n) erzählen. Filmanalyse als Medienkulturanalyse, Würzburg: Königshausen & Neumann. Williams, Rebecca (2015): Post-Object Fandom Television, Identity and Self-Narrative, London/New York: Bloomsbury.

F ILME Akira (J 1988, R.: Katsuhiro Otomo) Avatar (USA 2009, R.: James Cameron) Blade Runner (USA/HK 1982, R.: Ridley Scott) Doctor Who: The Movie (USA/GB 1996, R.: Geoffrey Sax) Le cinquièma Elèment (F 1997, R.: Luc Besson) Watchmen (USA 2009, R.: Zack Synder)

S ERIEN Doctor Who (GB 1963-1989) Doctor Who (GB 2005-2020)

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E PISODEN Dalek (GB 2005, R.: Joe Ahearne) Demons of Punjab (GB 2018, R.: Jamie Childs) Hungry Earth, The/Cold Blood (GB 2010, R.: Ashley Way) Kill the Moon (GB 2014, R.: Paul Wilmshurst) Planet of the Ood (GB 2008, R.: Graeme Harper) Power of Three (GB 2012, R.: Douglas Mackinnon) Rebel Flesh, The/Almost People, The (GB 2011, R.: Julian Simpson) Time of Angels, The (GB 2010, Adam Smith)

Rurale Teilzeitutopie Entwürfe ländlicher Kulissen vom Hameau de la Reine bis Westworld J ONAS N ESSELHAUF

L ANDLUST

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U TOPIE

In Deutschland ist bereits seit mehreren Jahren ein interessanter Trend zu beobachten: Den infrastrukturellen Bequemlichkeiten des (Groß-)Stadtlebens steht eine regelrechte Sehnsucht nach der ländlichen Idylle gegenüber. So scheint der »Landhausstil« innenarchitektonisch zu einem der gefragtesten Einrichtungsmodelle geworden zu sein (vgl. Brune/Lange 2017: 56f.); erfolgreiche Sendungen des (öffentlich-rechtlichen!) Reality-TV heißen LECKER AUFS LAND oder LANDFRAUENKÜCHE;1 und Dorfromane liegen als Bestseller in Buchhandlungen zwischen Flensburg und München aus: »Ohne die Provinz, den Phantasieraum ›Land‹, das einsame Haus am See und die menschlichen Konstellationen, die all diese abgelegenen Räume ermöglichen, hat die deutsche Literatur im Moment scheinbar wenig zu erzählen.« (Ebbinghaus 2019: 11)

Diese regelrechte »Landlust« – darüber hinaus ja inzwischen auch der Name einer erfolgreichen Zeitschrift am Kiosk um die Ecke – scheint trotz Ärztemangel und der Verödung dörflicher Strukturen ungebrochen, auch wenn zu bezweifeln bleibt, dass

1

Neben LECKER AUFS LAND des Südwestrundfunks, in der ›Landfrauen‹ ihr Hofgut vorstellen und kompetitiv Gerichte kochen, gibt es inzwischen auch andere Formate mit ähnlichem Konzept – so ist die Sendung LAND & LECKER (Westdeutscher Rundfunk) bspw. seit dem Jahr 2009 zu sehen, und die LANDFRAUENKÜCHE (Bayerischer Rundfunk) läuft inzwischen sogar in der 13. Staffel.

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dieser »Wandel der gesellschaftlichen Bewertung idyllischer Ländlichkeit« (Baumann 2018: 108) ebenso auch zu einem demographischen Wandel durch Zuzug nach Brandenburg, in die Lüneburger Heide oder in den Schwarzwald führen dürfte.2 Dementsprechend lässt sich vermuten, dass in der Sehnsucht nach ›Weizenfeldern und Kirchturmspitzen‹ (vgl. März 2017: 42) vor allem ein utopisches Potential liegen könnte, der Wunsch nach kurzzeitiger Entschleunigung und die Verklärung ruraler Lebensräume. Diese Tendenz ist jedoch kein Phänomen des frühen 21. Jahrhunderts und in ähnlicher Weise sowohl (über Deutschland hinaus) synchron für andere Industrienationen – etwa wenn auch in den USA zahlreiche Fernsehserien gerade nicht in den Metropolen an Ost- und Westküste spielen3 – wie auch in diachroner Perspektive bereits für frühere Epochen festzustellen. Dies bedeutet allerdings ebenso, dass die unterschiedlichen ruralen (Sehnsuchtsund Schreckens-)Räume eng mit der jeweiligen Kultur verbunden sein dürften, und zwangsläufig unterschiedlichen Vorstellungen und Traditionen unterliegen – wie ein Vergleich von zwei utopischen Projekten andeutet, die auf den ersten Blick kaum weiter voneinander entfernt sein könnten: dem HAMEAU DE LA REINE im Schlosspark von Versailles und der filmisch-seriellen Phantasiewelt von WESTWORLD.

2

So lässt eine Projektion des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) vermuten, dass in den kommenden Jahren nicht nur die Kluft zwischen Stadt und Land weiter auseinander geht, sondern dass besonders ländliche Regionen in Ostdeutschland von dieser Entwicklung betroffen sein dürften (vgl. Oberst/Kempermann/Schröder 2019: 102). Offen bleibt ebenso, inwieweit die rezente »Corona«-Pandemie eine tatsächliche und dauerhafte »Stadtflucht« – ein Begriff, der sich im Frühjahr 2021 in unzähligen Zeitungsberichten und Feuilletonartikeln wiederfindet – befördern könnte.

3

In der Serie HART OF DIXIE (CW, 2011-2015) zieht eine junge Ärztin von Manhattan ins ländliche Alabama; in BANSHEE (Cinemax, 2013-2016) wird ein Krimineller (auf der Flucht vor der ukrainischen Mafia) zum Sheriff einer Kleinstadt in Pennsylvania; und die Miniserie GILMORE GIRLS: A YEAR IN THE LIFE (Netflix, 2016) bringt die (fiktive) Kleinstadt Stars Hollow in Connecticut zurück auf die Mattscheibe. Darüber hinaus ließe sich die Aufzählung problemlos um einige äußerst populäre und global rezipierte Formate ergänzen, die gerade auch vom Potenzial eines Umschlagens von der vermeintlichen Idylle in den Schrecken leben: OZARK (Netflix, seit 2017) spielt im ländlichen Missouri, FARGO (FX, seit 2014) dreht sich zunächst um North Dakota und Minnesota, und BREAKING BAD (AMC, 2008-2013) ist im hybriden Grenzgebiet von New Mexico angesiedelt.

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»L E

LIEU LE PLUS SAUVAGE , LE PLUS SOLITAIRE DE LA NATURE «

Der Traum vom dörflichen Landleben, die Utopie des Ruralen, wird in der Literatur und Kunst des 18. Jahrhunderts immer wieder auf die Sehnsucht nach Arkadien als ›paradise lost‹4 zurückgeführt – stellt in dieser Form aber natürlich eine romantisierende Verklärung dar.5 Denn das tatsächliche bäuerliche Landleben besteht aus harter körperlicher Arbeit, ist von existenzbedrohenden Missernten geprägt und über lange Zeit hinweg den ungleichen Bedingungen der Feudalherrschaft unterworfen. Doch die verklärende Phantasie des ›paradiesischen‹ Gartens (und Gärtnerns) scheint über die Alltagsrealität hinaus bis in die Aristokratie des französischen Königshauses zu reichen. So fasst die Königin Marie Antoinette (1755-1793)6 in den frühen 1780er Jahren den Plan, in Versailles ein fiktives Staffagedorf, eine ferme ornée, errichten zu lassen.7 Ihr »Hameau de Trianon« stellt die scheinbar perfekte Illusion des ›einfachen‹ Landlebens dar, ein zwangloser ›Urlaub auf dem Bauernhof‹,8 ohne Komfort und adlige Privilegien aufgeben zu müssen – denn eine Rückkehr in die beheizten Räume des nur wenige Reitminuten entfernten Schlosses ist zu jeder Zeit möglich. Für die Königin stellt ihr ganz persönlicher Weiler – nach dem PETIT TRIANON9 – ein weiteres Refugium dar, das mal als exemplarisches Symbol für ihre Dekadenz

4

Vgl. bspw. die Landschaftsbilder des französischen Malers Claude Lorrain (1600-1682).

5

So gibt etwa Johann Wolfgang Goethe seinem Bericht zur ITALIENISCHEN REISE (1813/17) den Untertitel »Auch ich in Arkadien!« und beschreibt darin immer wieder auch landwirtschaftliche und gärtnerische Tätigkeiten der Menschen in Italien.

6

Marie-Antoinette, als Maria Antonia 1755 als Tochter von Franz I. und Maria Theresia in Wien geboren, kam im Mai 1770 zur arrangierten Eheschließung nach Frankreich und wurde mit der Krönung von Ludwig XVI. (1754-1793) im Jahre 1774 zur Königin von Frankreich und Navarra.

7

Vorläufer einer solchen cottage ornée / ornamental farm finden sich in den 1770er Jahren bspw. mit dem HAMEAU DE CHANTILLY des Fürsten von Condé oder der QUEEN CHARLOTTE’S COTTAGE auf dem heutigen Gelände von Kew Gardens bei London.

8 9

Vgl. zu diesem »agrotourisme« auch Kmec (2014: 187). Das einst von Ludwig XV. (1710-1774) für die ›Favoritin‹ Madame de Pompadour (17211764) erbaute Lustschloss geht unter Ludwig XVI. an dessen Ehefrau Marie Antoinette über (vgl. Pératé 1905: 145). Relativ ungewöhnlich für das sonst ›offengelegte‹ Hofleben am Versailler Schloss ist die Abschottung des PETIT TRIANON, zu dem selbst der König keinen selbstverständlichen Zutritt hat, sondern sich bei Marie Antoinette anmelden muss.

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und Ignoranz,10 mal als ein ›natürlicher‹ Zufluchtsort abseits des höfischen Zeremoniells gedeutet wurde; und das auch so ganz anders angelegt ist als die französischen (Barock-)Gärten von Versailles: Denn im Unterschied zu den geometrischen Formen und der symmetrischen Gestaltung folgt das HAMEAU DE LA REINE dem Prinzip des englischen Landschaftsgartens. Hier wird die Natur nicht (absolutistisch) der anthropozentrischen Ordnung unterworfen, die gezielt gewählten Pflanzen nicht durch strengen Schnitt gebändigt; vielmehr werden unregelmäßige Wege und geschwungene Bachläufe angelegt, künstliche Erhebungen und weitläufige Grasflächen geschaffen, idyllische Felsengrotten oder einsam-schlichte Staffagegebäude errichtet, danach jedoch Wachstum und Blüte freien Lauf gelassen.11 Damit ist die Rolle des Menschen bei Planung und Bau, bei Pflege und Einkehr eine radikal andere, und gerade keine Fortschreibung der streng symmetrischen Schlossarchitektur in den Park hinein: Der (englische) Landschaftsgarten ist Ausdruck einer »gestaltete[n] Sehnsucht« (Gerndt 1981: 7) nach der ›ursprünglichen‹ Natur, wie sie im 18. Jahrhundert bspw. von Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) beschrieben wird. In seinem Roman Julie, ou: la Nouvelle Héloïse (1761) lässt er, dargestellt im elften Brief (»à milord Edouard«) des vierten Teils, das erlebende (und danach briefschreibende) Ich erstmals einen Landschaftsgarten betreten: »[J]e fus frappé d’une agréable sensation de fraîcheur que d’obscurs ombrages, une verdure animée et vive, des fleurs éparses de tous côtés, un gazouillement d’eau courante, et le chant de mille oiseaux, portèrent à mon imagination du moins autant qu’à mes sens; mais en même temps je crus voir le lieu le plus sauvage, le plus solitaire de la nature […].« (Rousseau 1967: 353)

Diese Überwältigung, am ›wildesten und einsamsten Ort der Natur‹ zu sein (sprachlich in den nahezu atemlosen Aufzählungen gespiegelt), und die sinnliche Wahrnehmung der Gerüche und Farben, des fließenden Bächleins und der singenden Vögel, wirken offenbar phantasieanregend und versetzen das Ich bald schon in eine »rêverie« (ebd.: 356). Doch trotz einer solchen ›Reizung‹ der Einbildungskraft (vgl. etwa von Trotha 2011: 9) sind die französischen Landschaftsgärten englischer Beeinflussung – gemeinsam mit der programmatischen Abkehr von der absolutistischen Strenge des Barockgartens – aber keineswegs automatisch ›aufklärerisch‹ zu verstehen, sondern eher als eine unterhaltende Ergänzung dazu: Gleich einem

10 Vgl. etwa Stefan Zweigs MARIE ANTOINETTE. BILDNIS EINES MITTLEREN CHARAKTERS (Zweig 2011: 129). 11 Der englische Landschaftsgarten ist in der Regel auf eine andere Art und Weise regelhaft und ›beengt‹, indem dieser »liberale[] Freiheitsraum« (Bredekamp 2012: 113) nach außen hin durch Mauern oder Zäune klar eingegrenzt ist.

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›begehbaren‹ Landschaftsgemälde lustwandelt das (aristokratische, später bürgerliche) Individuum durch die paradiesische Reinheit einer vermeintlich ursprünglichen Naturkulisse (vgl. Hansmann/Walter 2006: 254). Dass allerdings diese stets eine anthropozentrische Projektionsfläche für die ›Rückkehr‹ zur Natur darstellt,12 zeigt sich auch bereits in Rousseaus Briefroman durch die intentional komponierte Idealisierung zur »Wunschnatur […] eines sentimentalisch gewordenen Arkadien« (Bloch 1974: 452) – und gar die ›Wirtschaftlichkeit‹ der Anlage (vgl. etwa Rousseau 1967: 354) –, und dürfte auch Marie Antoinette im Jahre 1783 geleitet haben. So entwickelt sie gemeinsam mit dem Hofarchitekten Richard Mique (1728-1794) und dem Maler Hubert Robert (17331808) ein ausgeklügeltes Landschaftskonzept für ihr rustikales HAMEAU: Etwa drei Kilometer vom Schloss und einen halben Kilometer vom PETIT TRIANON entfernt werden um die Nordostseite eines künstlichen Sees herum gut ein Dutzend Gebäude, dazu Felder und Gärten halbkreisförmig angelegt. Das luxuriöse Hauptgebäude, die »Maison de la Reine«, verfügt über Speise- und Spielzimmer und Salons, gar über eine Bibliothek und einen Billardraum (vgl. Verlet 1961: 751); ihm gegenüber auf der anderen Seeseite schließt mit dem vierstöckigen »Tour de Marlborough« ausgerechnet ein (Aussichts-)Turm die Szenerie ab. Abb. 1 u. 2: Detailaufnahme Haupthaus »Maison de la Reine« sowie »Tour de Marlborough«.

Abdruck der Bilder mit freundlicher Genehmigung des Fotographen Jesse Olaf Haunns

Ohnehin spielt der Blick und das Sehen in diesem anthropozentrisch angelegten Ensemble eine zentrale Rolle – mit dem Lustwandeln durch die künstliche Idylle entstehen immer wieder gezielte Sichtachsen, die (zusammen mit der Kulissenhaftigkeit der Gebäude) das HAMEAU DE LA REINE mit »un décor de théâtre« (Gady 2014: 180)

12 Im englischen SPECTATOR schreibt der legendäre Herausgeber Joseph Addison (16721719) sogar – und die Aktualisierung des biblischen ›dominium terrae‹ (Genesis 1,28) ist dabei kaum zu überlesen – über einen solchen Landschaftsgarten: »a man might make a pretty landscape of his own possessions« (Addison 1712: o.S.).

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in Verbindung bringen. Diese Theaterhaftigkeit des Weilers reicht dabei von der Anlage der Häuser und Gärten bis zum ›authentischen‹ Misthaufen, denn während in dieser Zeit13 »die wirklichen Bauernhäuser verfallen und die Scheunen leer stehen« (Zweig 2011: 107), wird der Verfall hier künstlich nachgeahmt: »Mit dem Hammer werden Sprünge in die Mauer geschlagen, man lä[ss]t den Kalk romantisch abbröckeln, reißt ein paar Schindeln wieder ab; Hubert Robert tüncht künstliche Risse in das Holz, damit alles morsch und uralt anmute, die Schornsteine werden schwarz angeraucht.« (Ebd.: 128)

Um diese Inszenierung zu vervollständigen, wird die Kulisse mit Tieren und schließlich sogar mit einer Bauernfamilie aus der Touraine, mit Kuhhirten und Mägden besetzt, um so die Farmhäuser, die Mühle und die Molkerei tatsächlich betreiben zu können – und auch die Königin beteiligt sich an diesem ›Rollenspiel‹, wenn sie sich in bescheidener bäuerlicher Kleidung wie eine Gutsherrin in dieses tableau vivant einfügt (vgl. Lablaude 2005: 176). Abb. 3-6: Bauernhäuser im HAMEAU DE LA REINE.

Jesse Olaf Haunns

13 Nach einer ökonomischen Rezession in den späten 1770er Jahren ist die zweite Hälfte der 1780er Jahre in Frankreich durch mehrere Naturkatastrophen und schließlich die Folgen einer ›Kleinen Eiszeit‹ geprägt (vgl. Behringer 2012: 214ff.).

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Und tatsächlich vermischen sich die Sphären der ›natürlichen‹ Umwelt, des bäuerlichen Idylls und der adligen Privilegien,14 etwa mit der Zubereitung frischer Produkte aus der Molkerei (Milch, Butter und Eiscreme): »The queen’s pleasure dairy was a hybrid pastoral structure that combined natural, rustic simplicity with artful, neoclassical elegance and a hint of rococo élan. The building’s function was similarly manifold, allowing Marie-Antoinette to demonstrate her affection for rural life in an aesthetically innovative and appropriate regal manner.« (Martin 2011: 162)

Wird das HAMEAU DE LA REINE daher in der einschlägigen Forschungsliteratur als »une fabrique à lui seul, village campagnard faisant pendant au château« (Lablaude 2005: 173), verstanden, handelt es sich dabei doch weniger um ein Theater, das sich dezidiert an Zuschauende richtet, sondern das vielmehr ein gemeinsames (Mit-) Spielen nach klar definierten Regeln voraussetzt: Die (räumliche) Nachahmung ›natürlicher‹ Wildnis und ›freier‹ Natur geht einher mit der Nachahmung bäuerlichen Lebens.

»T HE

BEST AMUSEMENT PARK IN THE WORLD !«

Mit einer solch klaren Verteilung der (Macht-)Rollen auf dieser (Garten-)Bühne – wer spielt und mit wem wird gespielt, sowohl hinsichtlich der Kulissen (Natur, Staffagedorf) als auch der Figuren (Königin, Bedienstete) – unterscheidet sich das HAMEAU DE LA REINE als feudaler Vergnügungspark von anderen sozialutopischen Projekten, etwa der Dorfanlage des okzitanischen Saint-Rome,15 dem von William Morris (1834-1896) und Philip Webb (1831-1915) entworfenen STANDEN HOUSE im südenglischen East Grinstead oder mit der von Robert Owen (1771-1858) initiierten protosozialistischen Siedlung NEW HARMONY im US-Bundesstaat Indiana (hierzu etwa Claeys 2011: 133f.). Zwar gelten auch dort gewisse normative Regeln des (alternativen) Zusammenlebens, jedoch ist die (idealistische) Intention und damit letztlich die ›Spielsituation‹ eine deutlich andere als beim von vornherein als Staffage und zum ›Freizeitvergnügen‹ geplanten Weiler in Versailles. Vielmehr lassen sich, vom HAMEAU DE LA REINE ausgehend, bereits fünf spezifische Prinzipien ruraler Sehnsuchtsorte annehmen, die solche Kulissendörfer als eskapistische ›Spielwiese‹ privilegierter Besucher/innen auszeichnen:

14 Vgl. zu einer solchen Vermischung ›natürlicher‹ und ›symbolischer‹ Ebenen auch Ernst Cassirers AN ESSAY ON MAN (Cassirer 1992: besonders S. 23-26). 15 Vgl. hierzu den Aufsatz von Thébault (1989: 438) sowie die Bildergalerie unter: https://meinfrankreich.com/saint-rome (letzter Zugriff: 31.01.2021).

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(a) Die Anlage stellt eine utopische und gleichzeitig anachronistische Kontrastfolie zum gegenwärtigen Stand von Industrialisierung (und Digitalisierung) dar, wobei neuere technologische Errungenschaften zum Wohl und Luxus der Besuchenden mit einfließen; (b) durch die vermeintliche Authentizität wird eine (räumlich und zeitlich begrenzte) Spielsituation mit klarem Regelwerk erzeugt (vgl. etwa Caillois 1958: 23f.), die mit einem ›Fiktionspakt‹16 und so mit der (Spiele-)Erfahrung eines »flow« (vgl. Csikszentmihalyi 1988: 29) einhergeht; (c) der Zugang zu dieser Alternativwelt als finanziell und logistisch aufwändiger Spielwiese ist beschränkt, und es wird deutlich unterschieden zwischen Besuchenden und (zur Aufrechterhaltung des Status Quo) dort Arbeitenden; (d) als kontrollierte Erfahrung, d.h. als körperlich gefahrloses Erlebnis, ist der Besuch frei von existentiellem Risiko, und eine konsequenzlose Rückkehr in die ›reale‹ Welt ist quasi jederzeit möglich; (e) auch wenn die Anlage möglichst ›authentisch‹ wirken soll, ist der Aufenthalt auf die synästhetische Erfahrung ausgelegt, und alle Elemente sind entsprechend klischee- und schablonenhaft vereinfacht bzw. verklären und idealisieren die eigentliche (Alltags-)Realität. All dies trifft auch auf den ›besten Vergnügungspark der Welt‹ – so ein Ausruf der Hauptfigur John17 – im Film WESTWORLD (1973) zu: Das Regiedebüt von Michael Crichton (1942-2008), dem Autor zahlreicher Bestseller wie THE ANDROMEDA STRAIN (1969) oder JURASSIC PARK (1990), spielt in einer nicht allzu fernen Zukunft, wo zahlungskräftige Gäste für 1.000 Dollar pro Tag in eine von drei künstlichen Welten reisen können: »Roman World«, »Medieval World« und »Westworld«.18 Die ›Themenparks‹ sind dabei von der Firma Delos angelegt und dem antiken Pompeji, einer mittelalterlichen Burg sowie einer Westernstadt der 1880er Jahre nachempfunden. Nach der Anreise mit einem Schwebefahrzeug entscheiden sich die Freunde Peter und John, gespielt von Richard Benjamin und James Brolin, für »Westworld« und kommen dort in der einfach eingerichteten Herberge unter. Bevölkert ist das Kulissendorf von Androiden, die (authentisch gekleidet) verschiedene Rollen übernehmen: Vor dem Bordell bieten sich Prostituierte an, im Saloon provoziert ein Revolverheld die Gäste und wird sogleich von Peter erschossen, und nach einer Verhaftung durch den Sheriff kann spektakulär aus dem Gefängnis ausgebrochen werden.

16 Mit einer solchen »willing suspension of disbelief« (Coleridge 2008: 314) und der Interaktion mit anderen Spielenden entsteht ein besonders hoher Grad an Immersion. 17 WESTWORLD (1973) 00:14:21 min. 18 Inflationsbereinigt würde dieser Betrag heute etwa 6.000 US-Dollar entsprechen.

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Wurden im Versailler HAMEAU noch tatsächliche Bedienstete ›gehalten‹, sind es nun Androiden, die sich in Sprache und Gang kaum von den Besuchenden unterscheiden; lediglich ihre Hände sind aufgrund der komplexen Mechanik noch nicht perfekt gestaltet und damit das Erkennungs- und Distinktionsmerkmal zwischen den (besuchenden und dort arbeitenden) Menschen und den Androiden. Darüber hinaus unterscheiden die Androiden durch spezielle Sensoren zwischen anderen Robotern und der menschlichen Körperwärme. Dabei können durch die Programmierung keine Menschen verletzt werden, was den Aufenthalt in »Westworld« zu einem scheinbar authentischen, aber völlig ungefährlichen Abenteuer macht (vgl. 00:12:02 min.). Vielmehr haben die Gäste die Möglichkeit, selbst Rollen zu übernehmen und dabei beliebig viel Sachschaden anzurichten – in der Nacht werden die ›verwundeten‹ oder ›getöteten‹ Androiden eingesammelt und zentral in einer unterirdischen Werkstatt wieder instand gesetzt. Die Wartungscrew im blauen Chevrolet Stepvan baut dabei einen fahrbaren Scheinwerfer auf, dessen elektrisches Licht (ohnehin anachronistisch wirkend) die Westernstadt wie ein Filmset erscheinen lässt (vgl. 00:26:30 min.). Zu den täglich neu wiederkehrenden Figuren zählt auch ein namenloser Revolverheld (»Gunslinger«) – gespielt von Yul Brynner, hier in einer Parodierolle seiner Paraderolle19 –, der Besuchende zum (für diese gefahrlosen) Duell provoziert. Die Erwartungen – und umgekehrt die Handlungsoptionen – der Besuchenden bleiben innerhalb der idealisierten Westernstadt also zwangsläufig auf typische Skripte und Narrative begrenzt, animieren durch die bekannten Konventionen aber umsomehr zur aktiven Teilnahme. Denn war bereits das HAMEAU DE LA REINE eine gezielt errichtete Kulissenlandschaft des bäuerlichen Idylls, vor der nachahmende Handlungen stattfinden, ist auch der US-amerikanische Weste(r)n durch literarische und filmische Traditionslinien zu einer regelrechten Projektionsfläche geworden, die nun in »Westworld« (als Park) und von WESTWORLD (als Film) abgerufen wird. So sind die schier unendlichen Weiten der Prärie durch zahlreiche Romane, populäre Comics und ikonische Filme längst zu einem ambivalenten Raum geworden, in dem Konzepte von Freiheit und Männlichkeit verhandelt, und dabei häufig Geschichten um Gerechtigkeit und Rache (mit den typischen Figuren Cowboy und Bandit, aber auch den ethischen Konflikten um First Nations oder Native Americans) erzählt werden.20 Diese mediale und gerade auch visuell-filmische Vorprägung des US-amerikanischen Weste(r)n wurde daher auch für Crichton zur Herausforderung; in der zur

19 In THE MAGNIFICENT SEVEN (1960) von Regisseur John Sturges spielt Brynner mit der Figur des Chris einen der ›glorreichen Sieben‹. 20 Vgl. dazu etwa Grob/Kiefer (2014: bes. S. 22-28). – Interessanterweise wird Crichtons WESTWORLD allerdings nicht im Band zum Filmgenre »Western«, sondern zur »Science Fiction« besprochen; vgl. Wittich (2018).

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Erscheinung des Films gedrehten Featurette ON LOCATION WITH »WESTWORLD« (1973) reflektiert er, dass der Stoff überhaupt nur visuell als Film möglich war und wohl nicht als Roman funktionierte (vgl. 03:03 min.): »So, in some strange way it doesn’t work on paper at all, it only works as images.« (03:27 min.) Doch die – ohnehin zweckmäßig fragwürdige21 – Spielwiese wird plötzlich bedroht, als sich eine Fehlfunktion über alle drei Delos-Parks hinweg ausbreitet. So geht ein schwarzer Ritter in »Medieval World« auf die Gäste los (00:58:53 min.), und auch in »Westworld« wird John zunächst von einer mechanischen Klapperschlange gebissen (00:45:50 min.) und schließlich von »Gunslinger« gar erschossen (01:00:19 min.). Aus dem kontrollierten Spiel ist blutiger Ernst geworden, und selbst in »Roman World« enden die dekadenten Ausschweifungen im Blutbad. Zwar kann Peter der Rebellion der Androiden zunächst entkommen, doch wird er vom mysteriösen Revolverhelden – ähnlich Harry Limes Flucht durch die Wiener Kanalisation in Carol Reeds THE THIRD MAN (1949) – durch das unterirdische Labyrinth von Delos gejagt (01:12:50 min.). Bis er am Ende als offenbar einziger Überlebender dem Vergnügungspark entkommt, hat sich die Spielsituation also radikal gewandelt: Aus dem eskapistischen Vergnügen ist ein existentialistischer Überlebenskampf geworden, aus den harmlosen, androiden Mitspielenden eine tatsächliche Bedrohung.

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WITHOUT

L IMITS «

Auch das »Westworld« der seit 2016 laufenden gleichnamigen HBO-Serie bietet mit dem Slogan eines ›Lebens ohne Limits‹ den zahlenden Besuchenden/Spielenden ein vermeintlich authentisches und vor allem gefahrloses Abenteuerland: Nach der Ankunft in einer hypermodernen Basisstation geht es (mit dem passgenauen WesternOutfit) im Dampfzug weiter nach Sweetwater, dem Ausgangspunkt für die Besuchenden wie auch für die meisten Handlungsstränge. In dieses mitten in einer Wüstenlandschaft gelegene Städtchen mit dem (ache)typischen Inventar einer Wild-WestSiedlung – um eine Durchgangsstraße herum sind mehrere Holzhäuser angeordnet, die unter anderem den Mariposa Saloon und das Coronado Restaurant sowie eine Bank, die Post und den Sheriff beherbergen – kommen zu Beginn der Serie auch drei zentrale Figuren mit dem Zug an: Logan, William und Teddy.

21 Während die drei künstlichen Welten im Film lediglich als exzentrischer Vergnügungspark vorgestellt werden, beginnt die einige Jahre später erschienene TV-Miniserie BEYOND WESTWORLD (CBS, 1980) mit einer ›mad scientist‹-Erklärung: So habe der Wissenschaftler Simon Quaid den Park zur systematischen Entwicklung und Perfektionierung von Androiden zur Erlangung der Weltherrschaft genutzt.

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Abb. 7: Aufräumarbeiten im Western-Set: Die ›Kulissenhaftigkeit‹ von Sweetwater zeigt sich vor allem nachts, wenn die imaginäre Vormoderne von hellen Scheinwerfern erleuchtet wird.

S1.E1: 00:38:30 min.

Abb. 8: Die ›Labore‹ und ›Werkstätten‹ der ›zeitgenössischen‹ Zukunft hinter bzw. unter den Kulissen zeichnen sich durch eine nüchterne Glasarchitektur aus und setzen so die panoptische Beobachtungs- und Kontrollperspektive der Serie fort.

S1.E7: 00:04:41 min.

An diesen drei Figuren zeigen sich bereits bald (und exemplarisch) die Besonderheiten von »Westworld« deutlich, denn während Logan von den schier grenzenlosen Möglichkeiten eines Aufenthalts in dieser künstlichen Welt (und hierbei besonders

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der ›Konsequenzlosigkeit‹ von Gewalt gegen und Sex mit den Androiden) begeistert ist,22 bleibt sein Urlaubsbegleiter William deutlich reservierter. Dieser individuelle Grad von Immersion dürfte – beginnend mit der neugierigen Frage, ob seine Hostess denn ein Mensch oder ein Android sei (vgl. S1.E2: 00:04:53 min.) – vor allem darauf zurückzuführen sein, dass William zunächst nicht zwischen den unterschiedlichen ›Statusgruppen‹ zu trennen vermag und den Androiden so den gleichen (ontologischen, moralischen) Stellenwert zumisst.23 Mit dem in der Folge gleich mehrfach aus dem Zug steigenden Teddy eröffnet sich nun die umgekehrte Perspektive: Bei ihm handelt es sich um einen Androiden, dessen Handlungen entsprechend der entworfenen Hintergrundgeschichte24 auf einen festgelegten Rahmen beschränkt sind.25 So trifft Teddy ›zufällig‹ auf der Hauptstraße von Sweetwater auf eine junge Frau mit dem vieldeutigen Namen Dolores, und reitet mit ihr zur außerhalb gelegenen Ranch ihres Vaters, Peter Abernathy, die gerade überfallen wird.26

22 Noch im Zug nach Sweetwater warnt Logan seinen zukünftigen Schwager: »This place seduces everybody eventually« (S1.E1: 00:10:49 min.), schließlich gebe »Westworld« durch das Verhalten des Einzelnen in diesem Park voller Möglichkeiten die Antwort auf die Frage, »who you really are« (S1.E1: 00:11:01 min.). Interessanterweise wird diese These am Ende der Episode vom Gründer Robert Ford relativiert: Die Besuchenden wären vielmehr hier »because they want a glimpse of who they could be« (S1.E1: 00:54:15 min.). 23 Dies gilt auch noch für sein erstes Wild-West-Abenteuer, bevor sich dann im Verlauf der ersten Staffel durch die Auflösung der verschachtelten Erzählsituation zeigt, dass diese Szenen bereits mehrere Jahrzehnte zurückliegen und William seitdem als ganz in schwarz gekleideter Mann der wohl regelmäßigste (und geradezu fanatischste) Besucher von »Westworld« ist. 24 Die individuelle Figur und ihre (teils dramatische) Biographie stellt dabei einen Erzählstrang innerhalb größerer Narrative dar, was einen Entwickler mit dem ›telling name‹ Lee Sizemore stolz verkünden lässt: »We sell complete immersion in 100 interconnected narratives. A relentless fucking experience.« (S1.E1: 00:27:29 min.) Offen bleibt dabei, ob diese Immersion gerade deswegen funktioniere, weil die »hosts« so authentisch konstruiert und als Androiden kaum von Menschen unterscheidbar sind, oder umgekehrt gerade, weil die Besuchenden freier handeln können, wenn sie wissen, dass es sich bei den »hosts« lediglich um ›ersetzbare‹ Androiden handle (vgl. S1.E1: 00:33:15 min.). 25 So wird zwar Teddys Ankunft am Bahnhof von Sweetwater bspw. in den ersten Episoden iterativ erzählt, jedoch handelt es sich dabei keineswegs um eine identische Wiederholung der immergleichen Handlungsabläufe, sondern vielmehr um Variationen – damit metareflexiv das Prinzip der Serialität spiegelnd (vgl. Köller 2019: 166). 26 Damit befindet sich auch Dolores in einem infiniten Regress, der mit dem mehrfach gezeigten Aufwachen und dem kurzen Dialog mit ihrem Vater auf der Veranda beginnt (vgl.

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Dabei handelt es sich freilich um ein programmiertes Narrativ, das so als ›loop‹ immer wieder passiert – das allerdings durch Veränderungen der Abläufe aber auch variiert werden kann: Kleinste Abweichungen anderer (teilüberlappender) Handlungsstränge oder gar Eingriffe der »guests« erzeugen alternative Geschichten, bis der ›loop‹ (in der Regel am Ende des Tages) neu gestartet und so der Status Quo wiederhergestellt wird.27 Damit eröffnet sich für die Besuchenden/Spielenden des hyperrealen »Westworld« ein gleich doppelter ›Raum‹ – einerseits in der Interaktion mit den Androiden auf der Grundlage der vorentwickelten Narrative,28 aus denen sich (durch die Zufälligkeit der Begegnungen und Eingriffe) ein Spielraum mit quasi unendlichen Möglichkeiten ergibt.29 Auf ähnliche Weise wird auch, zweitens, der Handlungsraum selbst, die gigantische Wüstenlandschaft, palimpsestartig durch die ›loops‹ wie auch die sich zufällig ergebenden »stories« überschrieben: Denn die vermeintlich leere Landschaft (mit einer Mischung aus Wald und Steppe, Ödland und Felsenwüste, Feldern und Canyons) ist nur auf den ersten Blick ›unbeschrieben‹ und greift vielmehr den vor allem filmisch geprägten Western-Topos auf (vgl. etwa Georgi-Findlay 2018).30

etwa S1E1 00:02:20 min.; 00:14:02 min.; 00:22:10 min; 00:44:10 min.; 01:02:47 min.). Dies scheint eine weitere philosophische Grundfrage – »Macht ein umfallender Baum im Wald ein Geräusch, auch wenn niemand da ist, um es zu hören?« – zu beantworten, denn offensichtlich läuft der ›loop‹ (Handlungsstrang und Interaktion) weiter, auch wenn die »hosts« untereinander sind. 27 Und auch die »hosts« selbst können teils beliebig in den unterschiedlichen Handlungssträngen – je nach ›loop‹ bspw. mal als Bardame oder Bösewicht – eingesetzt werden. 28 Gerade die erste Staffel basiert dabei auf der interessanten Gleichsetzung eines solchen Anlegens von Spielsituationen mit dem Schaffen von Geschichten: So sieht sich etwa Ford selbst weniger als Programmierer denn als einen Erzähler – »I simply wanted to tell my stories« (S1.E7: 00:50:20 min.) –, was letztlich sowohl die Androiden wie auch die Besuchenden zu ›handelnden Figuren‹ in einer Erzählung werden und die Frage nach SubjektObjekt- respektive Akteur-Aktant-Beziehungen in einem neuen Licht erscheinen lässt. 29 Dies zeigt sich auf der rezentesten Zeitebene der ersten Staffel exemplarisch am Beispiel des ganz in schwarz gekleideten Mannes und dessen Erschießung von Maeve (vgl. S1.E8: 00:47:35 min.) respektive dessen Übergriff auf Dolores (vgl. S1.E1: 00:13:40 min.), die jeweils eine fatale Kette von Ereignissen auslösen, als die beiden Androiden danach nicht in ihren ›Status Quo‹ zurückfinden, sondern eine (traumatische) Erinnerung daran entwickeln. 30 Auch die Drehorte der Serie (in Utah und Kalifornien) wurden schnell touristisch erschlossen – und fungieren daher in gewisser Weise auch im ›realen‹ Leben (und ähnlich wie das

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Abb. 9: Dolores als (Ab-)Malerin der Idylle…

S1.E1: 00:29:50 min.

Abb. 10: …oder ist auch die Landschaft bereits voreinprogrammiert? Dolores mit Perspektivwechsel.

S1.E7: 00:35:20 min.

Doch dieser – im Vergleich zum HAMEAU DE LA REINE – nordamerikanische Sehnsuchtsraum bleibt für die Zuschauenden der Serie allerdings undurchsichtig und scheint damit die ursprüngliche Frontier-Erfahrung zu spiegeln:31 Zu keiner Zeit gibt

inzwischen begehbare »Hameau« innerhalb der Versailler Parkanlage) als regelrechte Freizeitparks. 31 Vgl. hierzu etwa eine teils ›unausgewogen‹ wirkende Verteilung der Handlungsstränge und Spannungsbögen über die einzelnen Episoden hinweg oder eine sich immer wieder überraschend zuspitzende ontologische Mensch-Androide-Verunsicherung. Ebenso bleibt

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die erste Staffel einen stringenten Überblick über die räumliche Ausdehnung der Anlage oder deren regionale Verortung innerhalb des rezenten Nordamerika; das mal in einen Felsen gebaute, mal unterirdisch verlaufende Kontroll- und Wartungszentrum (mit Fabrik und Werkstatt) wie auch die alten Kulissen früherer Handlungsstränge wirken geheimnisvoll und erinnern an eine ›gothic‹-Architektur; die räumliche Undurchschaubarkeit erzeugt zusammen mit der narrativen Wissensvermittlung der Serienhandlung eine tiefgreifende Verunsicherung.32 Gleichzeitig scheint dieses postmoderne Pastiche – bestehend aus unterschiedlichen (Western-)Skripten, einem bunten Zitatkosmos, dem musikalischen Sampling usw. – über eine gewisse Oberflächlichkeit kaum hinauszukommen und dadurch den eingeschränkten (Erkenntnis-)Status der Serien-Rezipierenden klar festzulegen: Die Zuschauenden vor dem Bildschirm sind letztlich ebenso in einer Geschichte gefangen wie auch die Figuren der Diegese, wobei sich die Rezeptionserfahrung eher an den ontologischen Status der Androiden denn die Besuchenden anlehnt.33 Und so wie die Welt außerhalb des ›zeitlos‹ in der Zukunft angelegten »Westworld« lediglich über intertextuelle Rückbezüge – etwa Verweise auf William Shakespeare (paradigmatisch für die erste Staffel steht dabei das mehrfach verwendete Zitat »these violent delights have violent ends«),34 auf John Donne, Arthur Conan Doyle oder Gertrude Stein (vgl. Wilkins 2019: 30) – existiert, so erschließt sich auch der ambivalente Raum nur durch paratextuelle Ergänzungen: Der bereits in der ersten Staffel immer wieder gezeigte Kontrolltisch mit interaktiver Karte bietet keine wirkliche Orientierung, und erst auf den eigens eingerichteten Websites35 findet sich schließlich eine Übersichtskarte.36

unklar, wie viele Besuchende sich eigentlich gleichzeitig im Park aufhalten, oder wie genau sich dieser eigentlich finanziert. 32 Diese Landschaftserfahrung spiegelt sich exemplarisch an Dolores’ Irritation in der siebenten Episode der ersten Staffel, die bereits mit ihrem Titel »Trompe-l’œil« auf die visuelle Verunsicherung anspielt: Auf ihrer Flucht mit William kommt sie an einem Canyon vorbei, den sie bereits gemalt hat – ohne jedoch zuvor dort gewesen zu sein (Abb. 8). 33 Wenn Ford an späterer Stelle hervorhebt, dass die androiden »hosts« ja gerade durch die programmierten Geschichten von den Problemen des menschlichen Daseins (wie »anxiety, self-loathing, guilt«) verschont blieben, bedeute dies auch: »The hosts are the ones who are free. Free here under my control.« (S1.E7: 00:49:34 min.) 34 Das Zitat stammt aus dem zweiten Akt (II.6.9) von ROMEO AND JULIET (1597) und wird dort von Friar Laurence gesprochen (vgl. Shakespeare 2012: 230). 35 http://delosincorporated.com und https://discoverwestworld.com. 36 Vgl. die Website: https://discoverwestworld.com/images/explore/S2_explore_210_bg.png (31.03.2021). – Entsprechend der Serienhandlung finden sich auf den Websites, mittels derer (filmisch dargestellte wie auch nicht-dargestellte) Elemente der Diegese wie etwa

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V OM C HRONOTOPOS

DER I DYLLE

So unterschiedlich die Bedingungen und Hintergründe der beiden filmischen »Westworlds« und des aristokratischen HAMEAU DE LA REINE als fiktive oder tatsächliche Sehnsuchtsorte auch sind – beide raumzeitlichen Utopien erzeugen Spielsituationen und damit Narrative und schließlich Handlungen.37 Diese sind auf Authentizität und Mimesis ausgelegt, und benötigen ebenso den künstlich geschaffenen Raum wie dieser rurale Schauplatz umgekehrt nur bestimmte Topoi und Figuren zulässt. Mit Michail Bachtins Modell des »Chronotopos«38 lassen sich nun abschließend und über die zuvor vermuteten fünf Grundfaktoren von künstlich angelegten Idyllen – die luxuriöse Utopie kreiert scheinbar authentische Spielsituationen zur synästhetischen Erfahrung der Besuchenden/Teilnehmenden, etabliert dabei klare Machtverhältnisse und verspricht eine prinzipielle Konsequenzlosigkeit – hinaus nun auch die Funktionen der ruralen Landschaft als funktional, stereotyp und begrenzt beschreiben. So stellt die rurale Landschaft sowohl im Falle des HAMEAU wie auch der fiktiven »Westworlds« eine funktionale Hintergrundfolie dar: Beide sind als dezidierte (Theater-)Kulisse angelegt, vor der Handlungen stattfinden. Damit ist sowohl ein gewisser lokal-räumlicher Rahmen vorgegeben wie auch eine klare Rollenverteilung definiert, schließlich lässt das grobe Narrativ (durchaus an ein Improvisationstheater wie die frühneuzeitliche Commedia dell’arte erinnernd) nur bestimmte Motive zu. Diese Beschränkung auf »einige wenige grundlegende Realitäten des Lebens« (Bachtin 2008: 161) wird dabei zusätzlich stereotyp vereinfacht: Die bäuerliche Idylle kennt nur den gedeckten Tisch, nicht aber Missernten und Hungerwinter; im Western gibt es lediglich den Hedonismus des Bordells oder der Kopfgeldjagd, ohne Krankheiten oder existentielle Gefahren.

technische Produkte und wirtschaftliche Institutionen fingiert und vermittelt werden, inzwischen zahlreiche Fehlermeldungen und Störungen, und sogar das aktualisierte »Corporate Guidebook« weist Blutspritzer und handschriftliche Botschaften auf (vgl.: http://delosdestinations.com/intranet/assets/guidebook-012218.pdf). Mit den Mitteln eines transmedialen Erzählens werden so Details der fiktiven Welt in die reale Welt der Rezipierenden ›überführt‹ – womit schließlich auch der Versuch verbunden ist, sowohl ein möglichst ›realistisches‹ und ›authentisches‹ Szenario zu erzeugen als auch verschiedene Wege, auf denen die eskapistische ›Spielwiese‹ betreten werden kann, zu ermöglichen. 37 Der zentrale Unterschied dieser Beispiele – das HAMEAU ist auf aktive Partizipation eines erlauchten Kreises ausgelegt, die »Westworlds« hingegen lediglich auf Rezeption – scheint vergleichbarer, wird bspw. das Filmdrama MARIE ANTOINETTE (2006) von Sofia Coppola hinzugezogen; vgl. dazu etwa Kmec (2014: 186f.). 38 Vgl. zur Mikrowelt der Idylle etwa Bachtin (2008: 160-179).

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Der Naturraum stellt damit eine idealisierte Ländlichkeit dar, deren Flora und Fauna durchgehend kontrolliert und für die Handelnden kontrollierbar sind, und sowohl beim HAMEAU wie auch den beiden »Westworlds« handelt es sich nicht zufällig um einen jeweils abgeschiedenen locus amoenus mit klaren Grenz(ziehung)en zur äußeren Realität, wobei die Schwellen- und Übergangsräume zur ruralen Heterotopie durchaus unterschiedlich gestaltet werden. Andererseits steht dieser in sich geschlossenen Einheit des (idyllischen) Ortes eine sich wiederholende zeitliche Struktur gegenüber, die zwangsläufig – zur quasi infiniten Aufrechterhaltung der Idylle – in zyklischen ›loops‹ organisiert ist (vgl. ebd.: 165): Die ›bäuerlichen‹ Handlungen im HAMEAU wie auch die Narrative in WESTWORLD beginnen immer wieder von vorne, und erlauben den Besuchenden so einen nahezu beliebigen Einstieg in die Spielsituation. Umgekehrt laufen alle Handlungen auch dann weiter, wenn keine ›externen‹ Mitspielenden (Marie Antoinette und ihre Gäste in Versailles respektive die zahlungskräftigen Gäste in den Delos-Parks) anwesend sind: Als autopoietisches System muss sich die utopische Gegenwelt stets selbst aufrechterhalten. Und so mag es wenig überraschen, dass diese Experimente menschlicher Hybris ausgerechnet durch Revolutionen beendet wurden – so unterschiedlich die Gründe dafür im Falle des historischen HAMEAU (im Sommer 1789) wie auch der filmischen »Westworlds« (durch Aufstände der Androiden in Folge von technischen Fehlproduktionen) auch sind. Doch so wenig sich diese instabilen ›Kulturlandschaften‹ als tatsächliche Zukunftsszenarien eignen, so eindrücklich mahnen sie zu einem verantwortungsvollen Umgang mit natürlichen Ressourcen und zu sozialer Gerechtigkeit.

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F ILM / S ERIE Beyond Westworld (USA 1980), Showrunners: Michael Crichton und Lou Shaw, CBS, fünf Episoden in einer Staffel. On Location with »Westworld« (USA 1973), 9 min. The Magnificent Seven (USA 1960), Regie: John Sturges, United Artists, 128 min. The Third Man (GB 1949), Regie: Carol Reed, London Films, 108 min. Westworld (USA 1973), Regie: Michael Crichton, MGM, 89 min. Westworld (USA 2016), Showrunner: Jonathan Nolan und Lisa Joy, HBO, 10 Episoden in der ersten Staffel.

Ländliche Zukünfte III: Planungen und Gestaltungen

Vom Dorfplan zum Leitbild Anmerkungen zu Dorfkonzepten der 1950er bis 1970er Jahre in der Bundesrepublik K ARL H. S CHNEIDER

Z WEI Z ITATE »In den deutschen Dörfern finden heute soziale und ökonomische Umwälzungen statt, deren Bedeutung mit der ›Arbeiterfrage‹ in den Städten um die Jahrhundertwende verglichen werden kann. In der Mitte des 20. Jahrhunderts sind die schwersten sozialen Probleme auf dem Lande zu lösen; hier fällt auch die Entscheidung über das zukünftige Gesellschaftssystem. In dieser Situation bedarf das Landvolk des Verständnisses und der Unterstützung des ganzen Volkes und des Interesses von Politik, Verwaltung und Wirtschaft, um neue Formen des Zusammenlebens in Dörfern und landwirtschaftlichen Betrieben zu entwickeln, die die Behauptung eigenständiger ländlicher Lebensweise ermöglicht.« (Schilke/Riemann/Hengstenberg 1959: Vorwort)

Diese Sätze finden sich im Vorwort eines kleinen Heftchens, das 1959 von der in Göttingen angesiedelten Agrarsozialen Gesellschaft aus Anlass ihres 12-jährigen Bestehens herausgegeben worden war. Die Agrarsoziale Gesellschaft hatte es sich zur Aufgabe gemacht, systematisch ländliche Lebensverhältnisse zu erforschen und zugleich den Dialog mit Wissenschaft und Verwaltung zu führen. Es folgen dann auf der nächsten Seite ein paar Daten, die die Ausmaße und damit auch die Relevanz dieser Aufgabe vor Augen führen: »In der Bundesrepublik wohnen in über 23.000 Landgemeinden mehr als 40 Prozent der Gesamtbevölkerung. 775.000 Bauern bewirtschaften Betriebe mit mehr als 5 ha. 500.000 Landarbeiter bearbeiten fast die Hälfte der Nutzfläche Westdeutschlands, 900.000 Nebenerwerbslandwirte und 2,5 Millionen Familien auf ländlichen Heimstätten wohnen auf dem Lande und

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arbeiten in der gewerblichen Wirtschaft. Fast die Hälfte aller Industriearbeiter wohnt in ländlichen Gemeinden.« (Ebd. 1959: 1)1

Dieser Kurzbericht widmet sich einer Phase ländlicher Gemeinden, die schon sehr lange zurückzuliegen scheint; einer historischen Phase, in der es noch nicht darum ging, schöne Bilder vom Dorf zu konstruieren, sondern in der sehr konkrete Probleme gelöst werden mussten: wie etwa die Unterbringung der zahlreichen Flüchtlinge oder die allgemeine Verbesserung der Lebensverhältnisse. Angesichts der Komplexität des Themas und der Vielfalt der Studien kann er nur skizzenhaft sein. 1972 drehte in Baden-Württemberg der Dokumentarfilmer Peter Nestler einen Film über das Dorf Ödenwaldstetten. In der ZEIT wurde dieser Film jüngst angesichts einer Retrospektive zu diesem heute weitestgehend unbekannten und dennoch für den deutschen Dokumentarfilm in der Nachkriegs- und Wirtschaftswunderzeit enorm wichtigen Filmemacher wie folgt kommentiert: »Zum Beispiel Ödenwaldstetten, ein 1972 gedrehtes Porträt des gleichnamigen schwäbischen Dorfes, entstanden im Auftrag des Süddeutschen Rundfunks. Statt mit Wochenschau-Stimme die Vorzüge des Landlebens zu preisen, nimmt uns Nestler mit in die schwäbische Dritte Welt und lässt die Dorfbewohner selbst zu Wort kommen. ›Unsereiner ist zum Schaffen da‹, grummeln die Bauern mit schwerer Zunge. Der Aussiedler, der als Existenzgründer deutsche Äcker umpflügt; gebeugte Gestalten, die mit Bollerwagen Milchkannen durch schmutzige Gassen ziehen, Viehhalter, die beklagen, dass mit dem Mord an den Juden auch die jüdischen Viehhändler verschwunden sind: Ödenwaldstetten ist ein Albtraum für jeden Landlust-Leser. Als der Film abgenommen werden sollte, verlangte der Intendant, Nestler solle einen einordnenden Kommentar über die Bilder legen, man könne die Leute nicht einfach so reden lassen. Der Filmemacher blieb stur.« (Twickel 2017)

Die hier geschilderte Situation verweist bereits auf einen zunehmenden und sich mitunter auch zuspitzenden Konflikt zwischen den konkreten Gegebenheiten, in denen sich Dörfer befanden, und ihren medialen Darstellungen, die aus bestimmten Perspektiven und mit bestimmten Erwartungen auf sie Bezug nehmen und spezifische Dorfbilder entwerfen und vermitteln. Daraus lassen sich drei Thesen entwickeln, die auch den gegenwärtigen Zustand der Dörfer betreffen:

1

Ein kleiner Nachtrag: Von den 770.000 Betrieben verfügten 40.000 Betriebe über 5-10 ha, im Jahr 1990 waren es noch insgesamt knapp 440.000 Betriebe, davon 100.000 mit 5-10 ha.

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Dörfer sind 1. komplexe Einheiten, auch wenn es auf den ersten Blick anders aussehen könnte; 2. Teil allgemeiner gesellschaftlicher Entwicklungen; und zwar auch dann, wenn sie für manche das Gegenteil zu sein scheinen, nämlich 3. Projektionsflächen gesellschaftlicher Wunschvorstellungen, wodurch sie, die Dörfer, zugleich auch als Fluchtpunkte vor gesellschaftlichen Entwicklungen fungieren. Diese Feststellungen sind für die Planung und Gestaltung von ländlichen Räumen von besonderer Relevanz. Zum ersten Punkt: Jeder, der sich intensiver mit dem Thema Dorf beschäftigt, wird schnell feststellen, dass das, was wir mit »Dorf« verbinden, sich einer eindeutigen Definition entzieht. Zum einen verbirgt sich hinter dem Phänomen Dorf eine Fülle unterschiedlicher Siedlungsstrukturen und -verhältnisse, zum anderen sehr unterschiedliche ökonomische, soziale und politische Verhältnisse.2 Dennoch gibt es bei aller Verschiedenheit Gemeinsamkeiten, die es immer wieder ermöglichen, den Unterschied zum großen Konkurrenten Stadt zu definieren. Darauf wird noch zurückzukommen sein. Zum zweiten Punkt: Auch wenn es mancher anders sehen will (siehe 3.), so sind Dörfer immer Teil gesellschaftlicher Entwicklungen gewesen. Das gilt etwa für hochmittelalterliche Entwicklungen, als Dörfer im heutigen Sinn entstehen, wobei diese Entwicklung nur im Kontext der Neugründung von Städten zu verstehen ist; das gilt für die frühe Neuzeit mit der Ausbildung von Gutsherrschaft oder dem Entstehen von protoindustriellen Regionen; das gilt für das 19. Jahrhundert und die Industrialisierung; und das gilt auch für die Nachkriegszeit. Dabei sind Dörfer allerdings nicht nur Teil gesellschaftlicher Entwicklungen, sondern zugleich auch Indikatoren für solche. Gleichzeitig, und damit bin ich beim dritten Punkt, können Dörfer auch Fluchtpunkte für diejenigen sein, die an gesellschaftlichen Entwicklungen leiden. Die lange Geschichte literarischer, filmischer und medialer Imaginationen eines vermeintlich nur im Ländlichen zu findenden ›guten‹ – gemeinschaftlichen, naturnahen, idyllischen etc. – Lebens verweist darauf. Auch sie sind in ihren jeweiligen sozialhistorischen Rahmen, d.h. den jeweiligen gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Produktion und Distribution, zu verstehen.

2

Vgl. spezifisch und beispielhaft für Niedersachsen Schneider (2000), vgl. allgemein zu dörflichen Entwicklungen u.a. Henkel (2004 und 2011) sowie Troßbach/Zimmermann (2006), jetzt auch Bätzing (2020).

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D IE S ITUATION

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Die Situation in westdeutschen Dörfern nach dem Krieg war komplex. Da gab es den offenkundigen Mangel an Nahrungsmitteln und an Arbeitskräften (letzteres wird häufig übersehen und war vor allem die Folge des geringen Mechanisierungsgrades der deutschen Landwirtschaft), dann gab es die große Zahl an Neubürgern, die schon während des Krieges und vor allem nach 1945 ankamen, und zwar meist unfreiwillig und unwillig aufgenommen. Es fehlte also an Nahrung, Arbeitskräften und Wohnraum.3 Dann passierte aber noch etwas anderes: Schon den Zeitgenossen wurde sehr schnell deutlich, dass sich weitreichende Veränderungen anbahnten. Der bis vor wenigen Jahrzehnten vermeintlich abgeschottete »Sozialraum Dorf« (Buchenauer 1988) hatte sich schon während des Krieges geöffnet; und damit waren auch neue Einstellungen und Werthaltungen in das Dorf eingedrungen. Dörfer standen unter einem starken Veränderungsdruck – wie darauf reagiert wurde, war allerdings lokal sehr unterschiedlich. Vergegenwärtigt man sich, dass bis Anfang der 1950er Jahre die ökonomischen Verhältnisse in der jungen Bundesrepublik keineswegs gefestigt waren, so überrascht eine grundlegende politische Entscheidung ganz besonders. Denn in Art. 72 des Grundgesetzes wurde schon 1949 die »Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse« postuliert. Bezogen auf die Dörfer hieß das: die drastische Hebung der allgemeinen Lebensverhältnisse auf dem Lande. Gerade der massive und erzwungene Zuzug von städtischen »Neubürgern« hatte die Distanz zwischen den städtischen und ländlichen Lebensverhältnissen aufgezeigt, die sich etwa in einer unzureichenden Infrastruktur (Wasserversorgung und -entsorgung, unbefestigte Dorfstraßen, veraltete und zu kleine Schulen) ebenso zeigte wie sie sich auch in fragwürdigen Geschlechterbeziehungen niederschlugen. Die Erfassung und Analyse dieser Verhältnisse setzten schon kurz nach Gründung der BRD ein, als ein groß angelegtes Projekt zu den Lebensverhältnissen in 10 »kleinbäuerlichen Dörfern« durchgeführt wurde (Dietze 1953). Diese Studie ermittelte gravierende Defizite in den untersuchten Dörfern, wobei es deutliche Unterschiede zwischen den einzelnen Dörfern gab. Was den Beobachtern besonders aufgefallen war: unrationelles Wirtschaften, sehr einfache Ausstattungen der Wohnungen und sehr ungleichgewichtige Arbeitsverteilungen zwischen Männern und Frauen, wobei die Hauptlast der Arbeit bei den Frauen und nicht den Männern lag. Die Untersuchung differenzierte die Dörfer grundsätzlich in zwei Typen: Bauerndörfer und Arbeiter-Bauern-Dörfer mit einem hohen Anteil an Pendlern, wobei als Grund für die Unterschiede vor allem die räumliche Lage genannt wurde.

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Vgl. beispielsweise für Bayern etwa Erker (1990), für Niedersachsen Schneider (1998)

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Zudem wurde in rückständige und fortschrittliche Dörfer unterschieden, wobei als Unterscheidungsmerkmal die Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau gesehen wurde. Immer wieder wird die Arbeitsverfassung mit Bezug auf diese Arbeitsteilung als Kriterium für rückständig und fortschrittlich bewertet. Gerade auch im Alltag formulierte die Studie massive Unterschiede zu städtischen Arbeiterhaushalten: Die Bauernfamilie, so wird konstatiert, »hat oft auch größere körperliche Anstrengungen, und diejenigen Ausgaben, welche nach außen am meisten in Erscheinung treten und meist auch besonders verlockend sind (für Genussmittel, Bekleidung, Möbel und Hausrat, Körper- und Gesundheitspflege, Bildung und Unterhaltung) scheint die städtische Arbeiterfamilie im allgemeinen sich erheblich mehr leisten zu können als die kleinbäuerliche Familie.« (Dietze 1953: 153) Großen Wert hatte man auf die innerhäusliche Arbeitsorganisation gelegt und dabei in einigen Untersuchungsdörfern sehr patriarchalische Verhältnisse festgestellt. Dabei ist festzuhalten: Hinter Untersuchungen wie diesen stand nicht die Entwicklung einer dörflichen Utopie, sondern eine neue Haltung gegenüber dem Dorf, das nun als wissenschaftliches Untersuchungsziel entdeckt und mit empirischen Methoden untersucht wurde.4 Zum Teil war dies Einflüssen aus den Vereinigten Staaten zu verdanken, die etwa von dem Soziologen Herbert Kötter ausgingen, der sich während seiner Kriegsgefangenschaft in den USA mit der dortigen Dorfsoziologie auseinandergesetzt hatte.5 Andererseits war das Dorf aber bereits während der Zeit des Nationalsozialismus zum Gegenstand wissenschaftlicher und planungsbezogener Forschung geworden, wobei etwa Akteure wie Konrad Meyer nach dem Krieg eine zweite Karriere aufbauen konnten (vgl. Waldhoff/Fürst/Böcker 1994: 25-33). Die planungsbezogene Dorfentwicklung kann dabei geradezu als ein zentrales Kennzeichen dörflicher Politik gesehen werden. Einerseits ergab sich durch die Folgen des Krieges ein erhöhter Planungsaufwand, andererseits suchten hier Akteure nach neuen Beschäftigungsmöglichkeiten. Der »Raum« – und das war das Credo dieser Zeit – durfte sich gleichsam nicht selbst überlassen werden, sondern bedurfte einer »Ordnung«. Das wiederum setzte nicht nur Ordnungskriterien voraus, wie etwa das die Raumplanung der Bundesrepublik insbesondere seit den 1960er Jahren weitestgehend bestimmende und auch heute immer wieder noch in Anschlag gebrachte Zentrale-

4

Die Studie wurde 1972, 1993/95 und 2012 fortgeführt; in den 1990 Jahren unter Berücksichtigung ostdeutscher Dörfer. Vgl. Becker (1997), Becker/Tuitjer (2016 und 2019) sowie BMEL (2015).

5

Seine wichtigste Studie trägt den Titel LANDBEVÖLKERUNG IM SOZIALEN WANDEL: EIN BEITRAG ZUR LÄNDLICHEN SOZIOLOGIE (Kötter 1958). Vgl. zu den amerikanischen Einflüssen auf die deutsche Forschung Hahn (2001: 64).

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Orte-Konzept von Walter Christaller, sondern auch eine entsprechende Analyse (Kegler 2015). Auch daran hat sich bis heute nichts geändert.6 Dieser Prozess setzte aber schon sehr früh ein und prägte die frühen Jahre der Bundesrepublik. Er ging einher mit weiteren Entwicklungen. 1947 wurde die Agrarsoziale Gesellschaft in Göttingen gegründet, zu einem Zeitpunkt also, an dem wichtige und grundlegende Entscheidungen über die Organisationsform der Landwirtschaft noch nicht endgültig gefallen waren. Diese Offenheit währte aber – wenn es sie überhaupt gab – nur einen kurzen Augenblick. Dann allerdings war schon die Entscheidung für eine »bäuerliche« Landwirtschaft gefallen. Damit war auch klar, dass bis zu einem gewissen Grad Dorfentwicklung und ökonomische Entwicklung auseinanderfielen. Auf der einen Seite galt es, die Entwicklung der Landwirtschaft zu modernisieren. Seit den 1930er Jahren gab es einen deutlichen Investitionsstau in der deutschen Landwirtschaft, der durch den Krieg und die erste Nachkriegszeit verstärkt worden war. Schnell war deutlich geworden, dass das Arbeitskräfteproblem ein entscheidendes Hindernis war – Flüchtlinge als Arbeitskräfte waren kein wirklicher Ersatz – und deshalb die Mechanisierung eine entscheidende Herausforderung und damit auch eine antizipierte Wegmarke bildete. Eine Antwort auf diese Problematik war die Mechanisierung, eine andere, zumindest zeitweise, die Gewinnung von Gastarbeitern wie bspw. in der Lüneburger Heide – ein Versuch, der letztlich scheitern sollte (Machini-Warnecke 2019). Zudem wurde, z.B. durch die Agrarsoziale Gesellschaft in Göttingen, auch zunehmend Werbung für den Landarbeiterberuf gemacht, indem etwa verbesserte Arbeits- und Wohnbedingungen angeboten wurden – beides Bereiche, in denen bislang krasse Probleme bestanden hatten. Doch alle Versuche, die auf eine Lösung des Arbeitskräfteproblem abzielten, scheiterten letztlich. Zur gleichen Zeit, darauf verweist schon die zitierte Studie aus dem Jahr 1953, zielte die Agrarpolitik darauf ab, die kleinen Nebenerwerbsbetriebe zu stützen, indem dort neben Schulungen auch die Einführung von Maschinen wie etwa von Kleintraktoren gefördert wurde. Auch dieser Weg orientierte sich nicht allein an der gesellschaftlichen Wirklichkeit in den Dörfern (in denen tatsächlich die Masse der landwirtschaftlichen Betriebe Kleinbetriebe waren), sondern er folgte auch dem Konzept des kleinbäuerlichen Selbstversorgerprinzips. Diese Agrarpolitik, die den bäuerlichen Familienbetrieb als Leitbild – und damit eben als Zukunftsentwurf – formulierte, wäre vermutlich ohne die Entwicklungen in der DDR mit der dortigen Kollektivierung nicht so verfolgt und umgesetzt worden, wie es dann tatsächlich geschehen ist. Sie barg aber schon früh viele Herausforderungen in sich, denn die Förderung besonders der vielen kleinen Betriebe durch

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Neuere Studien dazu: Mecking (2012), Becher (2020).

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Mechanisierung bedeutete einen nicht unerheblichen Kapitalaufwand; und es war die Frage, wie lange sich die kleinen Betriebe angesichts der sinkenden Preise für agrarische Produkte würden halten können. Modernisierung war zwar einerseits das Stichwort dieser Politik, aber sie fand statt in einem Bezugsrahmen, der sich an Strukturen und Vorbildern orientierte, die eher der Vorkriegszeit entstammten. Oder mit anderen Worten: Der Zukunftsentwurf, das Leitbild für die Entwicklung der ländlichen Räume kam aus einer eigentlich schon überholten Vergangenheit.

D AS D ORF ? Die im Krieg einsetzende und sich nach 1945 fortsetzende Migration in die Dörfer hatte Folgen für die Wahrnehmung der Dörfer. Die »Rückständigkeit« war aus Sicht der zuziehenden Neubürger aus den Städten unübersehbar. Unbefestigte Dorfstraßen, fehlende Kanalisation und Wasserleitung, unzureichende Schulen, einfache bis sehr einfache Wohneinrichtungen, fehlende Badezimmer: all das prägte Anfang der 1950er Jahre den Alltag vieler Menschen im Dorf und auf dem Lande. Plötzlich wurde sichtbar, wie groß der Abstand zwischen Stadt und Land war. Die Folge war ein massiver Modernisierungsbedarf, der zunächst beim öffentlichen Raum begann und sich erst zeitlich verzögert im privaten Rahmen fortsetzte. Dieser Modernisierungsprozess zielte offen auf die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse, d.h. Bau von Kanalisation, Wasserleitungen und Straßen, Neubau der zu alten und viel zu kleinen Dorfschulen. Den Menschen auf dem Lande sollten, so der Anspruch, ähnliche zivilisatorische Möglichkeiten wie der Stadtbevölkerung gegeben werden (Deenen 1975). Ihren ganz besonderen Ausdruck fanden diese Modernisierungsmaßnahmen in den beiden großen norddeutschen Regionalplanungen mit jeweils weit über einer Mrd. Investitionsvolumen, dem Emslandplan und dem Küstenplan, wobei der Emslandplan hierbei besonders erfolgreich abschnitt und nachhaltige Wirkung hatte (Haverkamp 1991). Der Emslandplan beinhaltete mehrere Schritte: • Die Urbarmachung neuen Landes, um Siedlerstellen anlegen zu können, wobei hier sowohl Flüchtlingsbauern als auch einheimischen Bauern, bzw. deren Kinder, neue Erwerbsmöglichkeiten gegeben werden sollten; • Trockenlegung der Moore und des Landes, u.a. durch Anlage von Vorflutern; • Ausbau des völlig unterentwickelten Straßensystems, und zwar sowohl der überörtlichen Verbindungsstraßen als auch der örtlichen Straßen und der Feldwege; • Bau von Wasserleitungen und Kanalisation.

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Über diese strukturellen Arbeiten hinaus wurden systematisch neue Bauernstellen und gewerbliche Betriebe angelegt. Durch diesen Plan sollten in vorbildlicher Weise die Bedingungen für die Landwirtschaft, für das Gewerbe und für die Bewohner des Emslandes verändert werden. Das Zukunftsbild des Dorfes wurde in den 1950er Jahren zunehmend darin gesehen, die als rückständig angesehenen Verhältnisse zu verbessern und sie städtischen Standards anzupassen. Diese Strategie hatte allerdings eine Janusköpfigkeit, denn aus der Forderung nach städtischen Verhältnissen ergab sich bald, dass die einzelnen Dörfer damit überfordert sein konnten. Schon allein die zahlreichen Infrastrukturmaßnahmen hatten einen erheblichen Planungs- und Finanzaufwand zur Folge, der mit den vorhandenen personellen Ressourcen nicht oder nur mit größter Mühe zu bewältigen war. Die 1952 begonnene Studie über die ländlichen Lebensverhältnisse stellte dann auch in einer Folgestudie von 1972 fest, dass die untersuchten Dörfer erhebliche Fortschritte gemacht hatten, zugleich aber auch mit einer erheblichen Verschuldung verbunden waren (Deenen 1975: 110-119). Die Folge dieser Überforderung vieler Gemeinden war die Suche nach Zentralisierung – das alte Zentrale-Orte Konzept erlebte somit in den 1960er Jahren eine Renaissance. Als erstes fielen die Dorfschulen diesem Konzept zum Opfer: Auch wenn kurz zuvor in vielen Dörfern die Schulen modernisiert oder sogar neu gebaut worden waren, so setzte in den 1960er Jahren ein Trend zu überörtlichen Schulen ein. Das hatte offenkundig zur Folge, dass Dorfkinder eine verbesserte Schulbildung erhalten konnten, führte aber zum langsamen Verschwinden der Dorfschulen. Der nächste Schritt war die Gebiets- und Verwaltungsreform, die ebenfalls seit den 1960er Jahren vorbereitet und dann in den 1970er Jahren durchgeführt wurde und die hier nur kurz skizziert werden soll. Diese Gebietsreform in der alten Bundesrepublik war mit der Erwartung verbunden, eine stärkere Professionalisierung der Verwaltung herbeizuführen und durch größere Verwaltungseinheiten Synergieeffekte zu erhalten. Dies sollte dadurch erreicht werden, dass kleine Dörfer in größere Verwaltungseinheiten wie größere Einheitsgemeinden oder Samtgemeinden aufgingen. Dadurch reduzierte sich die Zahl der selbständigen Gemeinden zwischen 1968 und 1978 von 24.278 auf 8.514, wobei die Unterschiede zwischen den Ländern teilweise extrem waren; im Saarland, in Hessen und in Nordrhein-Westfalen verschwanden auf diese Weise über 85 % der Gemeinden, in Niedersachsen waren es 75 %, in Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein dagegen nur 20 bzw. 18 %. (Mecking 2020: 58). Die hohen Erwartungen dürften sich aber empirisch nicht oder in nur geringem Maße nachweisen lassen.7 Besonders beklagt wird der Verlust der Selbstverwaltung

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Dazu besonders: Blesse/Rösel (2017), grundlegender: Henkel (2014 und 2018), Bätzing (2020).

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in den Dörfern, die den Dorfbewohnern weitgehend ihre Entscheidungsmöglichkeiten genommen haben.

Z USAMMENFASSUNG Die bundesdeutsche Nachkriegssoziologie, -planung und -politik entdeckte das Dorf und die Landwirtschaft. Zentrale Zukunftsvorstellungen waren auf agrarischer Seite das Ziel der Sicherung der Nahrungsmittelversorgung nach dem Verlust der Ostgebiete, später die Eingliederung in den europäischen Agrarmarkt. Organisationsform sollte der mittlere Familienbetrieb sein unter Schonung der vielen Kleinbetriebe, denen noch in den 1950er Jahre eine Zukunft vorhergesagt wurde, obwohl schon damals Prognosen auch das Gegenteil aussagten. Dörfer (wie auch die landwirtschaftlichen Betriebe) sollten modernisiert werden, d.h. auch: die Arbeits- und Lebensverhältnisse auf dem Lande sollten denen in der Stadt gleichgestellt werden. Das führte zu einer systematischen Modernisierung der Infrastruktur, die viele Gemeinden an den Rand ihrer Leistungsfähigkeit brachte. Die vermeintlich logische Konsequenz war deshalb die überörtliche Konzentration von Leistungen, und zwar zunächst im Bereich der schulischen Bildung, später in der Verwaltung. Die Folgen dieser Maßnahmen zeigen sich vor allem in den 1970er Jahren, in einer Zeit, in der die Wahrnehmung der Dörfer sich erneut wandelte – und damit dann wiederum auch die Anforderungen an die Entwicklungen der Dörfer. Der sich in den 1950er und frühen 1960er Jahren nur andeutende Strukturwandel hatte nun die Dörfer erreicht: Die Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe war drastisch gesunken (und sank weiter), die dörfliche Infrastruktur verarmte, die Individualmotorisierung hatte die Dorfbewohner erreicht (vgl. Südbeck 1992). Zugleich entstanden in den Städten neue Erwartungen; und insbesondere ab den 1980er Jahren setzte ein Trend »zurück aufs Land« ein. Die Selbstwahrnehmung des Landes, von der gesellschaftlichen Entwicklung abgehängt zu sein, verschwand dadurch aber nicht. Sie fand gewissermaßen gar auch ihren Ausdruck in dem seit 1961 durchgeführten Wettbewerb UNSER DORF SOLL SCHÖNER WERDEN; schließlich ging es hier um eine Leistungsschau und Bewertung, die zunächst einmal nur vor dem Hintergrund einer Mangelerfahrung und -wahrnehmung operierte bzw. diese Rückständigkeit als nahezu unhinterfragte Voraussetzung setzte, zumeist allerdings – über bloße ›Verschönerungsmaßnahmen‹ hinaus – keine oder nur sehr geringe strukturelle Verbesserungen mit sich brachte. 1985 gab es dann das europäische Jahr des ländlichen Raumes, die Dorferneuerung wurde flächendeckend eingeführt, und jetzt wurden auch in Massen die schönen Bilder des Dorflebens konstruiert, die zumindest im Westen immer noch viele Vorstellungen prägen.

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utopie.raum.dorf (Architektonische) Visionen von Ländlichkeit im Sozialismus U TA B RETSCHNEIDER »Die Genossenschaft wird reich sein und sauber. Keine Fliegen mehr im Stall und auch keine in der Stube. Und die Menschen alle wie Ärzte und Ingenieure. Und abends will ich ins Theater gehen, oder ins Kino oder ins Konzert.« DEFA-FILM »SCHLÖSSER UND KATEN«, TEIL II: »ANNEGRETS HEIMKEHR« VON 1957

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Dörfer gelten allzu häufig als Räume des Nicht-Mehr und des Noch-Nicht. Aus den Perspektiven fortschreitender Modernisierung erscheinen sie in unterschiedlichen historischen Kontexten immer wieder als Lebenswelten, denen – insbesondere angesichts der häufig auch normativ herangezogenen Vergleichsgröße ›Stadt‹ – etwas zu fehlen scheint. Sie bilden damit auf einer zeitlichen Achse Räume des Dazwischen. Und doch sind sie damit immer auch Möglichkeitsräume. Ihre Gestaltung ist im Sinne der Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse in Stadt und Land heute qua Gesetz festgeschrieben.1 Aber Gebiete abseits der Städte rücken nicht erst in der Gegenwart in den Blick. Insbesondere im selbsternannten »Arbeiter-undBauern-Staat« DDR spielte die Planung, Gestaltung und, damit verbunden, auch die ideologische Codierung ländlicher Räume eine zentrale Rolle. Sie zielte vor allem auf eine Angleichung des Lands an das Idealbild der sozialistischen Stadt ab. Zwischen 1952 und 1960 erfassten überaus verwerfungsreiche Prozesse die Dörfer der DDR, an deren Ende die »Vollgenossenschaftlichkeit« stand. Alle Bäuerinnen

1

Raumordnungsgesetz §2, Absatz 1, Inkrafttreten am 1.1.1998, Neufassung 2008.

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und Bauern waren nun Mitglieder Landwirtschaftlicher Produktionsgenossenschaften (kurz: LPG). Die zum Teil unter massivem Druck realisierten Umbrüche führten zu vielfältigen – und eben auch konfliktträchtigen – Wandlungen der ländlichen Lebenswelten. Jenen Entwicklungen, die den Genossenschaftsbauern gleichfalls zum Leitbild und Kern einer neuen ›Menschengemeinschaft‹ erhoben (vgl. Bauerkämper 2019: 113), galt es auch architektonisch zu entsprechen. Die Einheit von Wohnen und Arbeiten auf dem Hof löste sich durch den Schritt »vom Ich zum Wir« allmählich auf. Das Vieh kam in zentrale Stallanlagen, die Feldschläge wurden durch Zusammenlegungen immer größer, und nicht zuletzt beeinflussten die LPG die dörfliche Infrastruktur: Unter ihrer Regie entstanden Kindergärten, Kinos, Kulturhäuser etc. Im Folgenden sind einerseits zeitgenössische Publikationen auf DDR-spezifische Ideen zum Bauen im ländlichen Raum hin zu befragen. Andererseits soll die Entwicklung Mestlins zum »sozialistischen Musterdorf« skizziert und die Bedeutung des Ortes im Kontext der Herrschaftslegitimation aufgezeigt werden. Es wird also um etwas nur vermeintlich Paradoxes gehen: Um Zukunftsutopien der Vergangenheit.

D IE G LEICHZEITIGKEIT DES U NGLEICHZEITIGEN : A LTE B AUTEN IM NEUEN D ORF ALTE BAUTEN IM NEUEN DORF – unter diesem Titel (der zugleich auch Programm war) führten Kulturbund und Akademie der Wissenschaften von 1962 bis 1970 eine Erhebung zur ländlichen Architektur durch. Diese sollte neue Nutzungsmöglichkeiten für historische Gebäude aufzeigen, die Luftbildinventarisation des gesamten ländlichen Raums der DDR ermöglichen, eine detaillierte Inventarisation einzelner Gebäude durch interessierte Laien anregen sowie die Hausforschung intensivieren (Heimerdinger 2002: 304f.). Grundlage bildeten zwei Fragebögen: einer, der sich auf das Dorf bezog, und einer zum konkreten Gebäude.2 Im 1962 veröffentlichten Aufruf zum Vorhaben hieß es: »Im Zuge der sozialistischen Umgestaltung auf dem Lande wird sich in den nächsten Jahren und Jahrzehnten auch das bauliche Bild unserer Dörfer tiefgreifend wandeln.«3 Ein Satz, der in der zeitgenössischen Literatur immer und immer wieder zu finden ist und der in Anbetracht der eingangs kurz geschilderten Umbruchsprozesse nach 1952 wenig prophetisch daher kam.

2

Fragebogen zur Erfassung historischer Siedlungen und Bauten auf dem Lande. I. Ortskarteiblatt (Deutscher Kulturbund 1963: 92-95); Fragebogen zur Erfassung historischer Siedlungen und Bauten auf dem Lande. II. Haus und Hof, Einzelbauwerke, Gebäudeteile (ebd.: 96-99).

3

Aufruf zur Erfassung historischer Siedlungen und Bauten auf dem Lande (ebd.: 89).

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Die Aktion ALTE BAUTEN IM NEUEN DORF verlief schleppend, der Rücklauf war übersichtlich: 87 Dorf-Fragebögen und 123 Gebäudefragebögen wurden DDR-weit ausgefüllt, die ambitionierten Ziele bei weitem nicht erreicht. Und es fand keine systematische Auswertung des Materials statt. Dennoch sensibilisierte die Präsenz des Themas (verstärkt durch eine Wanderausstellung sowie mehrere Broschüren) sicher den einen oder die andere für den Denkmalschutz (Heimerdinger 2002: 307, 320f.).4 Ein Bewusstsein dafür, dass zum Dorf der Zukunft auch Architekturen der Vergangenheit gehören mussten, entwickelte sich bei den politischen Entscheidungsträgern dadurch wohl nur bedingt. Unterdessen, gewissermaßen unbeeindruckt von derlei Erhaltungsbestrebungen, veränderten sich die Dörfer peu à peu.

A NGLEICHUNG

VON

S TADT

UND

L AND : I DEEN

ZUM

D ORF

Aber von vorn: In großer Zahl zogen die Menschen in den Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in die Städte der Sowjetischen Besatzungszone. Mit den wiederentstehenden und neu begründeten Industrien funktionierten sie wie Migrationsmagnete. Diese Bewegung sollte sich in gesteigerter Form fortsetzen, als komfortables Wohnen in den Städten Wirklichkeit wurde und die Kollektivierung den Nachkommen von Bauern plötzlich nichtlandwirtschaftliche Berufswege ermöglichte. Ein Nebeneffekt, der die Kollektivwirtschaften Zeit ihres Bestehens behinderte und von staatlichen Unterstützungsmaßnahmen abhängig machte, war der Nachwuchsmangel. Verstärkt wurde der Mangel durch die Zwangskollektivierung ab Ende der 1950er-Jahre, die zu einer vermehrten Republik- und Landflucht führte.5 Es galt also, in den Dörfern Anreize zum Bleiben zu schaffen. Der politisch gewählte Weg war die Propagierung der Angleichung der Arbeits- und Lebensbedingungen von Stadt und Land. Im Buch STADT UND LAND IN DER DDR heißt es dazu: »Die Änderung der politischen Machtverhältnisse und die Beseitigung der Ausbeuterklasse, die Übernahme der politischen Herrschaft durch die Arbeiterklasse im Bündnis mit den werktätigen Bauern und die Aufhebung des auf ökonomische Ausbeutung gerichteten und

4

Die eingereichten Fragebögen werden heute im Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde in Dresden aufbewahrt (Heimerdinger 2002: 306-309).

5

Die Landflucht sollte Zeit des Bestehens der DDR ein Problem darstellen. »So nahm die Gesamtbevölkerung z.B. von 1970 bis 1980 um 314.000 Einwohner ab (1,8 %), aber die Stadtbevölkerung wuchs um 164.000 Einwohner (1,3 %), die ländlichen Gemeinden (unter 2000 Einwohner) hatten jedoch einen Verlust von 11 % der Bevölkerung zu ertragen.« (Weiß 2003: 134).

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begründeten Privateigentums sind die Grundlagen für die Überwindung des Gegensatzes zwischen Stadt und Land.« (Akademie für Gesellschaftswissenschaften 1984: 32)

Bereiche, in denen die dörflichen Lebenswelten an diejenigen in urbanen Zentren angeglichen werden sollten, waren: das Wohnen, Schule und Bildung (kleine Schulräume wurden durch zentrale Schulbauten für mehrere Ortschaften ersetzt), die medizinische Versorgung (Stichwort: Landambulatorien) und die Kultur. Kulturhäuser waren hier Rahmen und Chiffre, das prominenteste Beispiel in Thüringen ist wohl das Kulturhaus des VEB Maxhütte in Unterwellenborn bei Saalfeld. Abb. 1: Kulturhaus des VEB Maxhütte: Postkarte aus dem Jahr 1965 und Zustand im Jahr 2019.

Links: VEB Bild und Heimat Reichenbach/Vogtland, rechts: Uta Bretschneider, 2019

Ferner gehörten konkrete Freizeitangebote (z.B. Kinoprogramm, Bibliotheken) und die dörfliche Infrastruktur (Straßen, Wasser- und Stromversorgung) zu den zentralen ›Baustellen‹ der Land-Stadt-Angleichung. Und auch die Einführung industriemäßiger Produktionsmethoden in der Landwirtschaft ab den 1960er-Jahren ist in diesem Kontext zu sehen. Die fabrikmäßige Landwirtschaft brachte bzw. sollte geregelte Arbeitszeiten, Urlaub und damit bis dato in diesem Wirtschaftszweig nicht vorhandene Freizeit mit sich bringen. All dem galt es auch architektonisch einen Rahmen zu bereiten. Blickt man auf die 1950 von der DDR-Regierung – in Analogie zur Charta von Athen – verabschiedeten 16 GRUNDSÄTZE DES STÄDTEBAUS, die eine neue Architekturpolitik einläuten sollten, so fällt folgender Abschnitt als übertragbar auf den ländlichen Raum auf: »Das Zentrum bildet den bestimmenden Kern der Stadt. Das Zentrum der Stadt ist der politische Mittelpunkt für das Leben seiner Bevölkerung. Im Zentrum der Stadt liegen die wichtigsten politischen, administrativen und kulturellen Stätten. Auf den Plätzen im Stadtzentrum finden die politischen Demonstrationen, die Aufmärsche und die Volksfeiern an Festtagen statt. Das Zentrum der Stadt wird mit den wichtigsten und monumentalsten Gebäuden bebaut,

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beherrscht die architektonische Komposition des Stadtplanes und bestimmt die architektonische Silhouette der Stadt.«6

In diesem Abschnitt ließe sich das Wort »Stadt« jeweils durch das Wort »Dorf« ersetzen und wir erhielten die Leitlinie für einen – wie es hieß – »sozialistischen Landort mit städtischem Charakter« (Grünberg 1964: 8). Abb. 2: Visionen: »sozialistischer Landort städtischen Charakters«.

Oben: BÄUERINNEN-HANDBUCH (Autorenkollektiv 1961: 677), unten: DIE SOZIALISTISCHE LANDWIRTSCHAFT DER DDR (Vontra 1977: Blatt 17, Blatt 25)

6

http://www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/wiederaufbau-der-staedte/64346/die16-grundsaetze-des-staedtebaus (24.07.2019).

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Der Plan diktierte in Stadt und Land den Rahmen für das Baugeschehen. »Typenbauten« und »Musterdörfer« lauteten die zentralen Schlagworte. Da jedoch der in der DDR omnipräsente Mangel immer wieder für unvorhergesehene Planänderungen sorgte, war auch im Feld des Bauwesens beständig das Improvisationstalent der Akteurinnen und Akteure gefordert. Ein staatlich initiiertes Improvisationsprogramm, wenn man so will, stellte das Nationale Aufbauwerk dar. Zunächst für den Wiederaufbau der Hauptstadt der DDR geplant, erfasste die Bewegung bald auch den ländlichen Raum. Bürgerinnen und Bürger verrichteten unbezahlte Arbeitsstunden und errichteten unter anderem Sportplätze, Turnhallen, Kulturhäuser und Wirtschaftsgebäude für die Landwirtschaft (vgl. Palmowski 2016: 169ff.). Offiziell freilich wurde nie der kompensatorische Charakter benannt, vielmehr stellte man die Aktivitäten als Engagement für den Sozialismus dar (ebd.: 32). Bei allen Bemühungen, neue Bauten ins alte Dorf zu bringen, zeigte das ›Dazwischen‹ Dorf auch Beharrungskräfte, wollte nicht ohne weiteres »Landort« werden. So war in einem Beitrag aus dem Jahr 1964 zu lesen: »Die neuentwickelten zweckmäßigen Bauformen für die genossenschaftliche Produktion und die neuen Wohnhäuser werden mit dem wachsenden Bewußtsein erst allmählich neue Auffassungen und Vorstellungen vom zukünftigen sozialistischen Landort mit städtischem Charakter heranreifen lassen.« (Grünberg 1964: 8)

»Zweckmäßige Bauformen« klingen nicht – oder nur bedingt – nach einer kreativen Spielwiese für Architektinnen und Architekten. Und so wandelte sich das Berufsbild in jener Zeit: freischaffende Architekten wurden reglementiert, stattdessen waren sie vielmehr »kollektiv eingebundene Planungsteilnehmer« (Wieler 2011: 24, 90). Dennoch – und im Widerspruch zu diesen Entwicklungen – formulierte Hans Grünberg vom Ministerium für Aufbau 1964: »Unsere ländlichen Siedlungen werden […] ein ziemlich verändertes Aussehen bekommen. Es wird eine verlockende Aufgabe für die Architekten sein, sie zu planen und zu gestalten. Im Norden wie im Süden der DDR werden bei Beachtung der jeweils überlieferten Formen und Vorstellungen neue, schönere und mit allen Einrichtungen der kulturellen und materiellen Versorgung und der Hygiene ausgerüstete Landorte entstehen, in denen der arbeitende Mensch gern lebt.« (Grünberg 1964: 10)

Die Dörfer der DDR sollten »Landorte« werden. Mit der LPG wandelten sich somit nicht nur ländliche Wohn- und Wirtschaftsarchitekturen, auch die dörfliche Infrastruktur wurde von den Kollektiven maßgeblich beeinflusst. Ziel war dabei beständig die genannte Angleichung der Lebensbedingungen in Stadt und Land. Im DEFAFilm SCHLÖSSER UND KATEN kommt die Vision vom LPG-Dorf mit städtischer Prägung 1957 pointiert zum Ausdruck: »Die Genossenschaft wird reich sein und sauber.

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Keine Fliegen mehr im Stall und auch keine in der Stube. Und die Menschen alle wie Ärzte und Ingenieure. Und abends will ich ins Theater gehen, oder ins Kino oder ins Konzert.«7 Die Konzeption von Musterdörfern und der Umbau von bestehenden Dörfern nach deren Vorbild war der politisch vorgegebene und architektonisch gewählte Weg, der diese Visionen realisierbar machen sollte.

G EBAUTE V ISION : M ESTLIN

ALS

M USTERDORF

Die funktionale Gliederung dieser Musterdörfer sah einen zentralen Platz vor, um den alle dörfliche Infrastruktur gruppiert sein sollte. Ferner sollte eine Trennung des Dorfes in Wohnen und Wirtschaften erfolgen (Ogrissek 1961: 101). Hier wird wieder die Analogie zu den 16 GRUNDSÄTZEN DES STÄDTEBAUS deutlich, die auf die Bildung und Etablierung von Zentren abzielten. Umgesetzt wurde dieses Ideal im 40 Kilometer östlich von Schwerin gelegenen Ort Mestlin. Ursprünglich war vom Ministerium für Aufbau die Errichtung hunderter Muster- oder Zentraldörfer geplant gewesen. 1951 zeichnete sich jedoch ab, dass Mestlin, zeitgenössisch als »Stalin-Allee der Dörfer« benannt (die Grundsteinlegung in Berlin erfolgte nur wenige Monate vor der in Mestlin), eine Ausnahme bleiben sollte. Im Dezember 1951 wurde das Projekt auf dem III. Deutschen Bauerntag präsentiert. Und bereits im Frühjahr 1952 erfolgte die Grundsteinlegung in Anwesenheit des Präsidenten Wilhelm Pieck. Wenig später kam es in Mestlin zur Gründung der LPG mit dem programmatischen Namen »Neues Leben« (Dix 2001: 109). Sie war die erste LPG Mecklenburgs. Ebenfalls mustergültig. Es lief also alles ›nach Plan‹, zumindest äußerlich. Denn tatsächlich blieb die Mestliner LPG bis in die 1960er-Jahre ein Subventionsempfänger – und erfüllte Anbaupläne nicht einmal annähernd (Schreiter 2017: 107). Der 1312 erstmals urkundlich erwähnte Ort Mestlin, das spätere Gutsdorf mit seinen Tagelöhnerkaten, sollte also Prototyp eines »sozialistischen Landorts« werden. Zum Gut Mestlin gehörten im Jahr 1917 1.000 Hektar Land. 40 Jahre später wurde auch hier die Bodenreform durchgeführt und das Land des Gutes an 100 Landnehmerinnen und -nehmer verteilt (ebd.: 10f., 40). Mit der Entscheidung des Jahres 1951 begann erneut eine aufregende Zeit für Mestlin. Über 60 Handwerker des Kreisbaubetriebs Parchim und weitere 50 vom Bau Schwerin waren im Einsatz. Kalk wurde aus Merseburg herangefahren, Rohre aus Rostock und Karl-Marx-Stadt gebracht und Schotter aus Dresden geliefert (Peters/Matischewski 2005: 104).

7

Zukunftsvision von der LPG im DEFA-Film SCHLÖSSER UND KATEN, Teil II: ANNEGRETS HEIMKEHR von 1957 (Romanvorlage: Kurt Barthel; Regie: Kurt Maetzig).

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Am Marx-Engels-Platz entstanden bis 1959 mehrere Gebäude. Den zentralen Platz dominierte das in neoklassizistischem Stil errichtete Kulturhaus. Es ersetzte als »Arbeiter- und Bauerntempel« die Kirche des alten Dorfes und sollte signalisieren, dass die Kultur allen zugänglich sei – ganz wie im Film-Zitat. 1957 wurde das Gebäude feierlich eingeweiht, da war es gerade halbfertig (Schreiter 2017: 94). Zwei Jahre später vollendete die Einrichtung eines Fernsehraums den Bau. Neben der großen Bühne beherbergte er unter anderem Garderoben, die Bibliothek, Klubräume, Vortragsräume, eine Gaststätte, die Heimatstube und das Standesamt Mestlins (Schreiter 2017: 94-100). Weiterhin gab es nun um den zentralen Platz Ladenlokale, Kindergarten und -krippe, eine Schule, ein Landambulatorium, ein Post- und Sparkassengebäude sowie eine Gaststätte.8 Deutlich getrennt vom Musterdorfzentrum wurden die Funktionsbauten der LPG und ein Friedhof errichtet. Abb. 3: Umbau Mestlins zum »Musterdorf«.

Peters/Matischewski (2005: 101), Archiv der Gemeinde Mestlin

Mestlin war ein Projekt vieler Architekten. Dazu gehörten unter anderem Heinrich Handorf, er errichtete die Kinderkrippe, Franz Steinwachs baute das Landambulatorium, Franz Schiemer war für Gemeindehaus, Konsum und Gaststätte verantwortlich, Karl-Friedrich Gillhoff für die Stallanlage und Erich Bentrup konzipierte das Kulturhaus (Schreiter 2017: 69, 71, 74, 80, 89). Man setzte bei den Wohn- und

8

Zu den einzelnen Gebäuden siehe Schreiter (2017: 66-80).

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Geschäftshäusern auf Typenentwürfe. Das sparte Material und Geld. Diese Form der Rationierung war ein Gebot der Mangelwirtschaft. Hermann Henselmann, der an der Berliner Stalinallee maßgeblich mitwirkte und dem die Bezeichnung Mestlins als »Stalinallee der Dörfer« offenbar missfiel, spottete, man fände in Mestlin eine »Architektur der Unbegabten« vor (ebd.: 66). Und doch, an wohl keinem Ort wurde die Idee vom »sozialistischen Landort« so konkret wie hier, obwohl viele Bauwerke des ursprünglichen Plans nicht umgesetzt wurden: Tennisanlage, Berufsschule, Lehrlingswohnheim, Internat etc. (Peters/Matischewski 2005: 102). Mit dem Ende der DDR hörte Mestlin auf, mustergültig zu sein. Es wirkte nunmehr wie die seltsame Versuchsanordnung eines längst vergangenen Experiments. Das Kulturhaus beherbergte nun Messen, eine Spielothek und die Wahl zur Miss Mecklenburg 1990. Ab Ende des Jahres diente es als Großraumdisco für bis zu 3.000 Gäste. Der Bürgermeister wollte aus den LPG-Stallungen ein Gewerbegebiet machen. In den fiebrigen »Wendeträumen« durften auch ein Wellnessbad, ein Hotel sowie 100 Eigenheime nicht fehlen. Diese Utopie vom idealen Nach-»Wende«-Dorf sollte in Mestlin allerdings nicht zur Umsetzung kommen (Schreiter 2017: 116-119). Abb. 4: Kulturhaus im »Musterdorf« Mestlin.

Uta Bretschneider, 2014

Das seit 1977 unter Denkmalschutz stehende Musterdorf-Ensemble wurde in den letzten Jahren teilweise saniert. Insbesondere in den Erhalt des Kulturhauses flossen

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Millionen.9 Heute pflegt es der seit 2008 bestehende Denkmal Kultur Mestlin e.V.10 Er organisiert Konzerte, Theateraufführungen und Marktformate, die ein wenig zum Erhalt des Gebäudes beitragen. So verwandelt sich das übergroße Kulturhaus seit 2012 jährlich im November in einen »Hinterland-Marktplatz« für Kunst, Mode, Handwerk und Design.11 Hierbei verschmelzen dann Elemente des Städtischen und des Ländlichen. Fast 200 Musterdörfer sollten allein in Mecklenburg entstehen, doch Mestlin blieb das einzig realisierte. Bis heute spiegelt es neben den zeitgenössischen sozialistischen Idealen eines Dorfes (oder besser: »Landortes«) auch seine Instrumentalisierung zur Herrschaftslegitimation des SED-Staates wider. Denn der Ort sollte als Musterdorf die »Überlegenheit des Sozialismus« architektonisch manifestieren. Und zugleich sollte hier das Ideal der gebildeten und kulturell interessierten Arbeiterinnen und Arbeiter sowie Bäuerinnen und Bauern (im Sinne »sozialistischer Persönlichkeiten«) in die Realität umgesetzt werden. Hierfür steht insbesondere das Kulturhaus. Das »sozialistische Dorfensemble« gilt heute mit all seinen ideologischen Implikationen als eher »unbequeme[s] Denkmal« (Rossner 2013). Die mit dem Ende des »Arbeiter-und-Bauern-Staates« verbundenen Umdeutungsprozesse wirken bis in die Gegenwart Mestlins nach. Das Ensemble lässt sich nicht uneingeschränkt gernhaben. Und es wird für Gäste und Nachgeborene in absehbarer Zeit schwer lesbar sein, bedarf der Kontextualisierung.

W ENDE , W UT

UND

W UNDER : Z URÜCK

IN DIE

R EALITÄT

Die Utopie vom sozialistischen »Landort« mit kulturaffinen und gebildeten Bewohnerinnen und Bewohnern wurde in den 40 Jahren des Bestehens der DDR nur partiell in die Realität umgesetzt. Davon zeugt unter anderem das spezifische Architekturensemble Mestlins. Dort leiden die Gemeindefinanzen bis heute unter dem mustergültigen und völlig überdimensionierten Kulturhaus samt Umgebungsbebauung. Der Ort verfügt mit seinen nicht einmal 800 Einwohnerinnen und Einwohnern über die drittgrößte Bühne Mecklenburgs (Intelmann 2019: 35). Von real existierender städtischer Infrastruktur war und ist man dennoch weit entfernt. Mestlin kann somit heute vielleicht als eine Art Mahnmal für die Unerreichbarkeit von Visionen von Ländlichkeit in der Mangelwirtschaft der DDR gedeutet werden. Und doch kann ein Blick auf das Beispiel Mestlin vielleicht auch helfen,

9

https://www.svz.de/regionales/mecklenburg-vorpommern/ddr-erbe-ruiniert-mestlin-id 13058836.html (05.09.2019).

10 http://www.denkmal-kultur-mestlin.de/ (05.09.2019). 11 http://hinterland-marktplatz.de/ (05.09.2019).

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aktuelle gesellschaftliche Fragen – etwa: »Wie soll das ›Dazwischen‹ Dorf gestaltet sein?«, »In welchem Dorf wollen wir leben?« – zu stellen und zu beantworten. Denn nicht nur prägen die planerischen und baulichen Überreste sozialistischer Visionen die Gegenwart postsozialistischer Landstriche – auch die Idee, die Lebensbedingungen in Stadt und Land einander anzugleichen, ist bis heute aktuell. Oder ließe sich sagen: Sie ist aktueller denn je? Auch die IBA Thüringen konstatiert und fördert im Rahmen ihres STADTLAND-Projekts ein Verschmelzen des Urbanen und des Ruralen; und zwar, anders als in der DDR gefordert, als wechselseitiger Prozess und nicht als Vorgang einseitiger Adaption. »Kreativität gibt es auch in der Kleinstadt, Fortschritt findet auf dem Dorf statt, Kultur ist überall. Die Grenzen zwischen Stadt und Land verschwimmen.«12 Eine solche Aufweichung der klassischen Dichotomie von Stadt und Land kann auch für die als vermeintlich abgehängt geltenden Regionen ›an den Rändern‹ neue Perspektiven eröffnen. Und darüber hinaus? Die DDR ist verschwunden, aber ihre Architekturen sind geblieben. Die architektonische Qualität ländlicher Bauwerke aus der Zeit vor 1989 wurde lange in Frage gestellt. Industrialisierung und Mangelwirtschaft galten als Faktoren des Missfallens. Doch mittlerweile findet hier ein Umdenken statt. Das Musterensemble Mestlins hat im Jahr 2011 die Anerkennung des Bundes als Denkmal von nationaler Bedeutung erhalten (Stauß 2017: 139). Der Denkmalwert der eher leisen und oft spröden DDR-Architekturen auf dem Land – abseits von Mestlin – scheint ein Thema zu sein, über das sich nun, auch aus der zeitlichen Distanz heraus, zu diskutieren lohnt.

L ITERATUR Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED (1984) (Hg.): Stadt und Land in der DDR. Entwicklung – Bilanz – Perspektiven, Berlin: Dietz Verlag. Autorenkollektiv (1961) (Hg.): Bäuerinnen-Handbuch, Berlin: VEB Deutscher Landwirtschaftsverlag. Bauerkämper, Arnd (2019): »Ideologische Besetzungen des Dorfes«, in: Werner Nell/Marc Weiland (Hg.), Dorf. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart: Metzler, S. 108-116. Deutscher Kulturbund/Zentrale Kommission Natur und Heimat des Präsidialrates/Zentrales Aktiv »Bauten im Dorf« (1963) (Hg.): Alte Bauten im neuen Dorf, Teil 1, Berlin.

12 STADTLAND-THESEN der IBA Thüringen, Ausstellung im Eiermannbau, Apolda 2019; siehe dazu auch: https://neulandgewinner.de/ sowie https://neuland21.de/ (05.09.2019).

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Deutscher Kulturbund/Zentrale Kommission Natur und Heimat des Präsidialrates/Zentrales Aktiv »Bauten im Dorf« (1964) (Hg.): Alte Bauten im neuen Dorf, Teil 2, Berlin. Dix, Andreas (2001): »Ländliche Siedlungsplanung in der SBZ und frühen DDR von 1945 bis 1955«, in: Holger Barth (Hg.), Grammatik sozialistischer Architekturen. Lesarten historischer Städtebauforschung zur DDR, Berlin: Reimer, S. 99-114. Grünberg, Hans (1964): »Ländliche Bauten in Vergangenheit und Zukunft«, in: Deutscher Kulturbund/Zentrale Kommission Natur und Heimat des Präsidialrates/Zentrales Aktiv »Bauten im Dorf« (Hg.), Alte Bauten im neuen Dorf, Teil 2, Berlin, S. 7-11. Heimerdinger, Timo (2002): »Alte Bauten im neuen Dorf«. Verlauf und Ertrag einer denkmalpflegerischen Erfassungsaktion 1962–1970, in: Michael Simon/ Monika Kania-Schütz/Sönke Löden (Hg.), Zur Geschichte der Volkskunde. Personen – Programme – Positionen (= Volkskunde in Sachsen, Band 13/14), Dresden: Thelem, S. 301-323. Intelmann, Peter (2019): »Staatstheater auf dem Dorf – Vom DDR-Musterdorf Mestlin ist das gewaltige Kulturhaus geblieben – und soll gerettet werden«, in: Lübecker Nachrichten vom 10./11. März 2019, S. 35. Ogrissek, Rudi (1961): Dorf und Flur in der Deutschen Demokratischen Republik. Kleine historische Siedlungskunde, Leipzig: VEB Verlag Enzyklopädie. Palmowski, Jan (2016): Die Erfindung der sozialistischen Nation: Heimat und Politik im DDR-Alltag, Berlin: Ch. Links. Peters, Günther/Matischewski, Andrea (2005): Mestlin. Chronik eines mecklenburgischen Dorfes. Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, Mestlin. Rossner, Christiane (2013): »Brigadefest und Bäuerinnen-Konferenz. Das Kulturhaus im sozialistischen Musterdorf Mestlin«, in: Monumente – Magazin für Denkmalkultur in Deutschland, https://www.monumente-online.de/de/ausgaben /2013/4/brigadefest-und-baeuerinnen-konferenz.php (05.09.2019). Schreiter, Friedemann (2017): Musterdorf Mestlin. Vom Klostergut zur »Stalinallee der Dörfer«, Berlin: Ch. Links. Stauß, Claudia (2017): »Das Wunder von Mestlin«, in: Siri Frech/Babette Scurrell/ Andreas Willisch (Hg.), Neuland gewinnen. Die Zukunft in Ostdeutschland gestalten, Berlin: Ch. Links, S. 138-142. Vontra, Gerhard (1977): Die sozialistische Landwirtschaft der DDR, Berlin: Zentralvorstand der Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe. Weiß, Wolfgang (2003): »Regional-Demographie der DDR – ein bevölkerungsgeographischer Nachruf«, in: Leibniz-Sozietät/Sitzungsberichte 62/6, S. 113-146. Wieler, Ulrich (2011): Bauen aus der Not. Architektur und Städtebau in Thüringen 1945-1949, Köln u.a.: Böhlau.

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F ILM Schlösser und Katen, Teil II: Annegrets Heimkehr (1957) (DDR, R: Kurt Maetzig).

I NTERNET http://www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/wiederaufbau-der-staedte/64346/die-16-grundsaetze-des-staedtebaus (24.07.2019). https://www.svz.de/regionales/mecklenburg-vorpommern/ddr-erbe-ruiniert-mestlinid13058836.html (05.09.2019). https://www.monumente-online.de/de/ausgaben/2013/4/brigadefest-und-baeuerinnen-konferenz.php#.XXEM9UfgqM8 (05.09.2019). http://www.denkmal-kultur-mestlin.de/ (05.09.2019). http://hinterland-marktplatz.de/ (05.09.2019). https://neulandgewinner.de/ (05.09.2019). https://neuland21.de/ (05.09.2019).

Raumkulturen kleiner Städte und großer Dörfer in peripheren Lagen Zukunftsvisionen aus der raumplanerischen Perspektive T HOMAS G RÄBEL , S ABINE R ABE , H ILLE VON S EGGERN

R URALE G ESCHICHTEN

DES

G ELINGENS

Das Leben in einer kleinen Stadt und in einem großen Dorf, so die verbreitete Meinung, sei unaufgeregt und selten berichtenswert. Das Bunte und die Zukunft spielen woanders. Das stimmt – natürlich – so nicht. In ländlichen Räumen finden sich vielmehr bemerkenswerte Beispiele des Umgangs mit räumlichen und sozialen Veränderungen, welche Perspektiven für zukünftige Entwicklungen aufzeigen und auch beispielhaft für andere Gemeinden sein können. Das Team der Forscherinnen und Forscher vom studio urbane landschaften-b hat sich im Rahmen eines Forschungsprojekts zusammen mit der Wüstenrot Stiftung auf die Suche nach den Geschichten des Gelingens gemacht und diese auch gefunden: variantenreiche Lebensstile, allerlei Begegnungen, multiwirtschaftende Menschen und vielfältige Landschaften. In Deutschland gibt es 3.166 Gemeinden mit einer Einwohnerzahl von 2.000 bis 8.000 Menschen.1 Sie machen fast ein Drittel aller Kommunen aus. Ihre Entwicklungsperspektiven werden, insbesondere wenn sie fernab der Metropolregionen liegen, als gering eingestuft. Gemeinden dieser Größenordnung waren in den vergangenen Jahren selten Gegenstand der Forschung. Gleichwohl lässt sich beobachten, dass sie im Zuge der Diskussion um die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse vermehrt in den Fokus rücken. Es ist die Grundannahme des Projekts, dass sich in ganz normalen Gemeinden Anhaltspunkte für Potentiale und Zukunftsthemen finden lassen. Untersucht werden

1

Vgl. Bundesamt für Kartographie und Geodäsie: http//www.geodatenzentrum.de/ geodaten/gdz (15.08.2021).

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keine Leuchtturmprojekte oder Gemeinden, welche bereits Teil besonderer Förderprogramme sind, sondern solche, die bislang kaum in Erscheinung getreten sind. Es geht um die alltäglichen Praktiken und die Initiativen der Akteur/innen vor Ort. Die Forschung macht es sich dabei zur Aufgabe, Erkenntnisse zu erarbeiten, die vergleichbaren Gemeinden als Anregung dienen können. Exemplarisch werden vier Gemeinden als Fallbeispiele aus verschiedenen Bundesländern untersucht. Dabei wird gemeinsam mit den Menschen vor Ort geforscht. Folgende Fragestellungen leiten die Erkundungen: Wie lebt es sich in diesen kleinen Orten jenseits der Metropolregionen? Wie gestalten die Menschen ihren Alltag? Was macht die Lebensqualität aus? Welchen Zusammenhang gibt es zwischen dem, wie und was die Menschen tun – wie sie wirtschaften, wohnen und einander begegnen – und der räumlichen Beschaffenheit ihrer Lebenswelt? Dieses Zusammenspiel beschreiben wir als »Raumkultur«.2 Kleine Städte und große Dörfer in peripheren Lagen verfügen über besondere Voraussetzungen. Hier lebt man gemeinschaftlich in einem ländlichen Umfeld, gleichzeitig ist die alltägliche Versorgung gegeben, im besten Fall direkt vor der Tür. Um also die besonderen Qualitäten des Lebens der Menschen vor Ort kennenzulernen und in der Folge auch beschreiben zu können, musste das Forscher/innenteam, bestehend aus Stadtplaner/innen, Landschaftsarchitekt/innen, Soziolog/innen und Architekt/innen, in besonderer Weise in den Alltag der Menschen vor Ort eintauchen.

F ORSCHUNG

ALS

E NTWURF

Das Forschungsdesign ist ein Entwurf, der im Laufe des Projekts immer wieder überarbeitet und an die neuen Erkenntnisse und Bedingungen angepasst wird. Zeichnerische Darstellungen und räumliche Entwürfe werden gezielt für die Generierung von Erkenntnissen eingesetzt. Entwerfen bietet die Möglichkeit, komplexe Zusammenhänge integrierend zu erforschen und im Hinblick auf die zunehmende Komplexität entscheidungs- und erkenntnisfähig zu bleiben (Prominski/von Seggern 2019). Ungeachtet aller Unschärfen, ermöglicht es das Entwerfen, einen holistischen Blick zu entwickeln und, bestenfalls, ein großes Ganzes zu erkennen. Dabei wird der Fokus auch darauf gelegt, die komplexen Inhalte der Untersuchung, die Wechselbeziehungen zwischen Menschen und Räumen anschaulich zu vermitteln. Zusätzlich zu Text, Zeichnung und Bild wird das Medium Film gewählt. Der Film ermöglicht es, das Agieren von Menschen in den jeweiligen räumlichen Situationen mitsamt seiner Atmosphäre abzubilden (Gräbel/Schmidt 2015). Bewegung im Raum wird vermittelt.

2

Der Begriff fußt maßgeblich auf der von Hille von Seggern entwickelten dynamischen Anschauung von Raum, dem Raumgeschehen. Siehe dazu: von Seggern (2013).

R AUMKULTUREN

KLEINER

S TÄDTE

UND GROSSER

D ÖRFER

IN PERIPHEREN

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Sowohl sinnliche als auch faktische Aspekte können abgebildet werden. Das ist insofern von Bedeutung, als sich Raumkultur nicht nur an objektiven bzw. objektivierenden Daten bemisst. Sie speist sich vor allem aus der Wahrnehmung der jeweiligen Umgebung und dem Umgang mit dieser – sei er bewahrend, verändernd oder resignierend. Die Zusammenarbeit mit der Dokumentarfilmerin Lilli Thalgott hat das Team um einen fachfremden Blick bereichert und den Fokus auf die zu erzählenden – und vor Ort erzählten – Geschichten erweitert. Die Schritte im Einzelnen: Die Suche nach den vier Untersuchungsorten geschieht in einem iterativen Prozess. Grundlage dieser Suche nach den in Frage kommenden Regionen ist eine Geoinformationsanalyse (GIS-Analyse). Der Analyse liegen spezifische Kriterien zugrunde: etwa ein 45-minütiger Abstand zum nächsten Oberzentrum und eine wachsende oder gleichbleibende Bevölkerungszahl. Daneben werden wirtschaftliche Indikatoren wie die Entwicklung der Gewerbesteuer und die Arbeitslosenquote einbezogen. Es gibt Alteingesessene und Menschen, welche erst kürzlich zugezogen sind. Die landschaftsräumlichen Bedingungen der vier Orte sind unterschiedlich und auf ihre jeweilige Art reizvoll. Gleichwohl sind es keine Beispiele einer besonderen Ortsentwicklung oder touristische Hotspots. Was sie vielmehr auszeichnet ist ihre Normalität. Die Orte sollten über ganz Deutschland verteilt sein. In einer Desktoprecherche werden dazu weitere Informationen ermittelt. Wie stellt sich die Lage und landschaftliche Einbindung dar? Ist eine Rumpfinfrastruktur vorhanden? In internen Werkstätten wird die Anzahl und die Zusammensetzung der Untersuchungsorte immer weiter eingegrenzt. Besuche dienen der Überprüfung. Am Ende fällt die Entscheidung auf Meldorf in Schleswig-Holstein, Amt Neuhaus in Niedersachsen, Schlotheim in Thüringen und Gerabronn in Baden-Württemberg. Für jeden Ort wird ein Portrait mit geographischen, bildhaften, atmosphärischen und statistischen Informationen erstellt, das auch als Grundlage der Erkundungen vor Ort dient. Jeder Ort erhält einen vorläufigen charakteristischen Titel. In einer Werkstatt in Bad Salzschlirf wird das Forschungsvorgehen mit ausgesuchten Expert/innen (Literatur, Stadtplanung, Akteur/innen) für ›ländliche‹ Räume diskutiert. Der Ort selbst wird zum Gegenstand einer beispielhaften Untersuchung durch die teilnehmenden Expert/innen und das Team, an dem die Charakteristiken und Besonderheiten einer »glücklichen Kleinstadt« diskutiert werden. Es stellt sich die praxisorientierte Frage: Kann es so etwas geben – glückliche kleine Städte?

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E XPLORATIVE E RKUNDUNGEN Dem Prinzip des »nosing arounds« des Soziologen R.E. Parks folgend (vgl. Lindner 2004), finden jeweils zwei mehrtägige explorative Erkundungen der Orte statt. Die Forscherinnen und Forscher sind zu Fuß und auf dem Rad unterwegs. Die Gespräche mit den Einwohner/innen kreisen um die Frage: Wie lebt es sich vor Ort? Was spielt alles eine Rolle? Was macht die Lebensqualität aus? Welche Geschichten gibt es? Welche Menschen? Es geht um fragen, zuhören, neugierig sein. Eindrücke und Erkenntnisse werden skizziert, notiert und allabendlich auf Postkarten dokumentiert. Spannende Menschen und deren Geschichten werden festgehalten. Auf diese Weise kristallisieren sich erste Interpretationen in Form von Raumkulturgeschichten heraus. Diese Geschichten zeigen eindrücklich, wie die Menschen mit den örtlichen Begebenheiten umgehen und welche Antworten sie auf die jeweils spezifischen Herausforderungen finden. Zugleich wird deutlich, welche Protagonist/innen in den Filmen auftreten könnten. Parallel zu der Erkundung findet in Meldorf ein erster Film-PreTest statt. Dabei werden unterschiedliche Aufnahmeformen und Möglichkeiten der methodischen Erzählung und Darstellung getestet. Abb. 1 und 2: Befragung vor dem Supermarkt in Amt Neuhaus. Das Filmteam bei der Arbeit.

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Vor dem zweiten fünftägigen Besuch der Orte wird ein vorläufiges Drehbuch erstellt. Drehtermine und Fragen zu den Inhalten und zur Darstellung werden erarbeitet. Vor Ort wird ein temporäres Projektbüro eröffnet. Mit Hilfe einer großen Karte werden zufällige Besucherinnen und Besucher u.a. vor einem örtlichen Supermarkt dazu befragt, wie sie hier leben. Was macht aus ihrer Sicht die Lebensqualität aus? Skizzen zu Raumbildern entstehen. Parallel zu den Dreharbeiten des Filmteams finden weitere Erkundungen durch das Forscher/innenteam statt. Die Arbeit der beiden Teams geht fließend ineinander über. Die Filmarbeiten führen zu weiteren Einblicken und Erkenntnissen. Umgekehrt ist das Filmteam immer wieder gefordert, neue Aspekte

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der Forschung einzufangen und zu präzisieren. Nach den Besuchen werden in einer mehrtägigen Werkstatt aus den gesammelten Geschichten und Eindrücken vier Themenknäule herausgearbeitet. Die Themen sind in allen vier Orten in unterschiedlicher Ausprägung vorhanden. Als Raumkulturgeschichten stellen sie Zukunftsperspektiven dar, welche auch für andere Orte vergleichbarer Größe und Lage von Relevanz sind. Jede der vier Perspektiven einer lebendigen Raumkultur wird anhand der Gelingensgeschichten der Protagonist/innen aus den Orten erzählt. Über diese inhaltliche Zusammenführung hinaus werden von den Forscher/innen Vorschläge und Ideen entwickelt, wie auf den erarbeiteten Herausforderungen und Potentialen in Zukunft aufgebaut werden kann. Auf der Grundlage dieses inhaltlichen Gerüsts werden die Drehbücher für vier Kurzfilme erarbeitet. Jeder der Filme thematisiert eine Perspektive lebendiger Raumkultur. Es zeigt sich, dass räumliche Zusammenhänge über das Medium Film nur unzureichend verständlich gemacht werden können. Zur Darstellung des ›räumlichen Blicks‹ entstehen zusätzliche Handskizzen. Sie stellen räumliche Situationen in vereinfachten Vogelperspektiven dar und machen den räumlichen Zusammenhang der filmischen Sequenzen verständlicher. In einer öffentlichen Vorführung werden die fertiggestellten Filme einem interessierten Publikum in allen Untersuchungsorten präsentiert. Die Filmvorführungen sind als Intervention gedacht und markieren den vorläufigen Abschluss der Untersuchung. Gleichzeitig sind die Vorführungen ein Test, der zeigen soll, ob die in den Filmen erarbeiteten Themen verständlich sind. Abb. 3: Setting der Filmvorführung mit dem Arbeiten an der Karte und Podiumsgespräch.

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Zwischen den Filmdarbietungen finden kurze Interviews mit ausgesuchten Protagonisten statt. Am Ende sind die Besucher/innen aufgefordert, ihre Anregungen und Ideen in das ortsspezifische Raumbild einzufügen. Die Raumbilder sind großformatige bildhafte Landkarten der Potentiale und räumlichen sowie landschaftlichen Besonderheiten der Orte. Sie visualisieren die vier Perspektiven lebendiger Raumkultur in der jeweils ortstypischen Ausprägung und sind ein wesentliches Ergebnis der Forschung.

V IER P ERSPEKTIVEN

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Die Perspektiven lebendiger Raumkultur sind auf viele Gemeinden übertragbar. Sie sollen dabei helfen, den Blick für die Themen, Räume und handelnden Menschen der eigenen Gemeinde zu schärfen und Ideen für zukünftige Entwicklungen aufzuzeigen. Mit den erarbeiteten Empfehlungen werden Handlungsoptionen gegeben, welche die Menschen dazu animieren sollen, selbst tätig zu werden. Die hier folgende Aufzählung der Perspektiven gibt einen kurzen inhaltlichen Überblick der entwickelten Themen. Aufgrund der größeren informativen und atmosphärischen Dichte und Eindringlichkeit des Mediums Film kann die Darstellung der Perspektiven an dieser Stelle nur unvollständig bleiben. Variantenreiche Lebensmodelle Das Forschungsprojekt zeigt, dass in den Untersuchungsorten die unterschiedlichsten Lebensmodelle verwirklicht werden. Diese reichen vom konventionellen Leben im Einfamilienhaus mit Pendeln und reger Beteiligung am Vereinsleben vor Ort über das Leben in der Kommune auf dem alten Hof bis hin zur allein lebenden Pensionärin, welche sich mit dem neuen Wohnstandort in der fußläufigen Stadt einen Traum erfüllt hat. Oft gibt es einen Zusammenhang zwischen den günstig anzumietenden oder zu kaufenden Flächen und Immobilien sowie der Nutzung. Das Beispiel Schlotheim in Thüringen zeigt, wie die Not der Stadt, bestimmte Immobilien zu bespielen, dazu geführt hat, neue Nutzungskonzepte wie ein Fußballinternat oder eine therapeutische Einrichtung im ungenutzten Schloss zu ersinnen. Der Umstand, Menschen mit unterschiedlichen Lebenskonzepten, Wohn-, Arbeits- und Freizeitvorstellungen eine Heimat bieten zu können, stellt für kleine Städte und große Dörfer eine gewichtige Zukunftsoption dar. Je mehr Menschen unterschiedlichen Alters, unterschiedlicher Lebenssituation und unterschiedlichen Einkommensmöglichkeiten in einem Ort leben, desto flexibler ist dieser im Umgang mit Wandel. Die Vielzahl an Lebensweisen, Ideen, Aktivitäten und Haltungen, welche ein Ort bereithält, ist die Basis einer

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lebendigen Zukunft. Mit ihren unterschiedlichsten Personenkonstellationen stellen einige Lebensformen die Erprobung eines neuen Lebensverständnisses dar. Abb. 4: Wohnkonstellation der Familie Frank auf ihrem Bauernhof bei Gerabronn.

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Kleine Städte und große Dörfer bieten dazu gute Voraussetzungen. Es gibt Gebäude und Freiräume in unterschiedlichen Größen für verschiedene Wohn- und Lebenskonstellationen. Es gibt eine hinreichende Infrastruktur für Freizeit- und Alltagsbedürfnisse. Dazu ist eine Einwohnerzahl zwischen 2.000 und 8.000 Menschen eine Größenordnung, die Vertrautheit und gleichzeitig noch etwas Anonymität zulässt. Im Verhältnis zu den Metropolregionen sind die Mieten und Kaufpreise in den Untersuchungsorten niedrig. Hier können Menschen mit Mut und Ideen ihre Lebenskonzepte ausprobieren und verwirklichen. Zur Förderung variantenreicher Lebensmodelle werden vom Studioteam die folgenden Ideen entwickelt: Mithilfe einer interaktiven Karte könnten die räumlichen Potentiale dargestellt werden. Einer Modenschau gleich zeigt sie Lebensmodelle und Raumnutzungen. Interessierte können hier Anknüpfungspunkte finden. Eine große Hilfe wäre darüber hinaus eine erschwingliche Beratung durch Fachleute im Hinblick auf den Umbau, die Sanierung, Finanzierungs- und Nutzungsmöglichkeiten von Immobilien. Ein Angebot für ein Probewohnen auf Zeit, das mit einer einladenden Ortserfahrung verbunden würde, wäre sicher ein gutes Lockmittel.

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Allerlei Begegnungen Diese Perspektive thematisiert das Gemeinschaftsleben in den kleinen Städten und großen Dörfern. Wie und wo begegnet man sich? Welche räumlichen und sozialen Parameter begünstigen ein Zusammenkommen? Dazu werden verschiedene, jeweils in den Orten vorgefundene räumliche Situationen dargestellt und beschrieben. Alltags-Attraktionen sind Orte, an denen sich die Menschen sowohl beiläufig als auch geplant treffen. Dazu zählen das Einkaufen im Supermarkt oder die allmorgendliche Begegnung vor dem Kindergarten. Für das Zusammenleben sind diese Orte von großer Bedeutung. Beispiele aus den Untersuchungsorten zeigen, wie die räumliche Nähe mehrerer dieser Alltagsorte im Zusammenschluss mit einem guten Freiraum die Qualität dieser Orte – verstanden als Orte der Begegnung – weiter erhöht. Abb. 5: Das Ortszentrum von Amt Neuhaus.

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Raumentwürfe und Umsetzungen sind von den kleinen Orten meist schwer zu bewerkstelligen. Zum einen fehlt das fachliche Know-how, zum anderen sind die dazu nötigen Finanzierungen schwer zu beschaffen. Dessen ungeachtet gibt es Menschen, welche mit ihrem persönlichen Engagement Orte und Einrichtungen bespielen, die für den gesamten Ort und die Region von Bedeutung sind. So etwa in Meldorf, wo ein Zusammenschluss von Freunden dazu geführt hat, die örtliche Kneipe am Leben zu erhalten. Das selbst organisierte Kulturprogramm sorgt zusätzlich für Belebung. Beispiele in Schlotheim und Meldorf zeigen, wie es Initiativen vor Ort gelingt, die örtlichen Schwimmbäder zu erhalten. Mit ihrem persönlichen Engagement schaffen Menschen Attraktionen für den Ort und die Region. Sich zu begegnen hängt, vor allem in großen Flächengemeinden, maßgeblich mit dem Umstand zusammen, mobil sein zu können. Hier sind auch neue Mobilitätsformen gefragt. Die Gemeinden sollten sich der Bedeutung und Lage ihrer Begegnungsorte bewusst sein, sie behutsam entwickeln und deren Erreichbarkeit im Auge behalten. Multiwirtschaften Unterwegs in den Untersuchungsgemeinden stieß das Team aus Forscherinnen und Forschern auf Menschen, die ungewöhnliche Orte und überraschende Angebot schaffen. Dazu gehören bspw. der Vintagemöbelladen mit Barbierbetrieb in der Innenstadt von Meldorf, die Jagsttalranch, eine Straußenzucht mit angegliedertem Café im Jagsttal bei Gerabronn, oder Henne, Gans & Co in Amt Neuhaus, ein alter Hof mit Tieren, Filzwerkstatt und Übernachtungsmöglichkeit im Bauwagen. Als Multiwirtschaftende kombinieren die hinter diesen Konzepten stehenden Menschen verschiedene Tätigkeiten und Einnahmequellen. Oft gibt es mit dem ›Standbein‹ eine berufliche Tätigkeit, die eine gewisses Grundeinkommen sichert. Das ›Spielbein‹ ermöglicht es, den Traum eines selbstbestimmten Lebens zu führen und neue Tätigkeiten zu erproben. Für die Entwicklung kleiner Städte und großer Dörfer sind diese Multiwirtschaftenden von besonderer Bedeutung. Als erfinderische Lücken- und Nischennutende besetzten sie vorhandene Leerstellen und tragen mit ihren Angeboten zur Belebung der Orte bei. Nicht selten sind diese auch eine Anlaufstelle und ein Ort der Begegnung mit Menschen, die von außerhalb kommen. Um die Multiwirtschaftenden zu unterstützen, brauchen sie eine besondere Wertschätzung vor Ort und mehr Gehör in der Politik. Die Multiwirtschaftenden selbst sollten verstärkt miteinander kooperieren und sich zu Netzwerken zusammenschließen. So werden gemeinschaftliche Materialbeschaffungen oder das gemeinsame Nutzen von Dienstleistungen oder Maschinen möglich.

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Abb. 6: Café Plan b in Stiepelse (Gemeinde Amt Neuhaus).

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Ein Beispiel für einen solchen Zusammenschluss stellt das Archezentrum in Amt Neuhaus dar. Es ist sowohl eine Anlaufstelle für die Tierhalter der Umgebung wie für interessierte Besucher/innen. In dem integrierten Laden werden die Produkte der Archeregion beworben und verkauft. Die Plattform der Arche dient der Vernetzung bestehender Betriebe und steht Neugründerinnen und Neugründern mit Rat zur Seite. Vielfältige Landschaften Vielfältige, prägnante und zugängliche Landschaften tragen zur Lebensqualität der Menschen vor Ort bei. Die Fähigkeit, unterschiedliche Interessen miteinander zu verbinden und eine nachhaltige Balance zwischen Agrarwirtschaft, Ökologie, Sport-, Erholungs- und Erlebnislandschaft herzustellen, wird die Zukunft der kleinen Städte und großen Dörfer maßgeblich mitbestimmen. In den vier Untersuchungsorten wurden zahlreiche Beispiele gefunden, die zeigen, wie dies gelingen kann. Der Speicherkoog, ein Rückhaltebecken im Deichvorland von Meldorf veranschaulicht, wie es die Gemeinde in einem langen Aushandlungsprozess bewerkstelligt hat, ein funktionierendes Miteinander von Tourismus, Freizeitnutzung, Natur- und Hochwasserschutz zu realisieren. In Amt Neuhaus betrifft dieser Aushandlungsprozess die Gemeinde als Ganzes. Als Teil des Biosphärenreservats Niedersächsische Elbaue ist die Gemeinde Modellregion für integrierte Nachhaltigkeit. Neben intensiver Landwirtschaft werden Flächen für extensive Kulturformen zurückgehalten. Initiativen, Projekte und Betriebe, die zur nachhaltigen Entwicklung beitragen, werden durch Beratungsangebote, Zertifizierung, Vermarktungsangebote und eine gemeinsame Internetpräsenz unterstützt. Konflikte zwischen den Interessen der Bewohnerinnen und Bewohnern, dem Naturschutz, der Wasser- und Landwirtschaft gehören auch hier zum Alltag. Die Region lebt in einem fortlaufenden Aushandlungsprozess.

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Für die Lebensqualität der Menschen vor Ort ist es wichtig, dass sie die Landschaft erleben können. Es bedarf guter Wege und Möglichkeiten, sie zu erobern. »Oha-Orte« spielen als kleine Orte und Ziele in der Landschaft eine besondere Rolle. Dies kann die Bank mit besonderer Aussicht sein, die Wiese am See mit dem Steg zum Baden, der Fähranleger oder ein spezielles Ausflugslokal. Widerspenstige Strukturen wie kleine Waldstücke, grün besäumte Bachläufe, Schrebergärten und feuchte oder sandige Böden, welche sich nicht zur Bewirtschaftung eignen, bis hin zu extensiv bewirtschafteten Wiesenlandschaften widersetzen sich der monotonen großflächigen Agrarlandschaft und bieten andere Nutzungs- und Aneignungsmöglichkeiten. Ihnen gebührt eine besondere Aufmerksamkeit und Pflege. Abb. 7: Die unterschiedlichen Wahrnehmungen von Landschaft.

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Kleine Städte und Gemeinden sollten sich einen Überblick über ihre widerspenstigen Strukturen, die besonderen Orte und Wege in der Landschaft verschaffen. Dies geschieht am einfachsten mithilfe einer Karte. Sie bildet die Grundlage für Entwicklungen der Ortschaft. Wie binden sich zukünftige Vorhaben ein und wie können diese gestaltet werden, um die Landschaft vielfältiger zu machen? Um die unterschiedlichen Interessen der Akteur/innen vor Ort zu verstehen, werden neue Austauschformate vorgeschlagen. Ein erster Schritt könnte es sein, die Menschen einzuladen, sich einmal vorzustellen, was sie schon immer mal in der Landschaft machen wollten. Ein solches Vorgehen erzeugt zumindest eine kognitive Operation, die für jegliche Aneignung und Umgestaltung grundlegend ist: sich andere Möglichkeiten des Gegebenen zu imaginieren. Die erdachten Ereignisse und Nutzungen könnten in der Folge in Form von kleinen Experimenten gemeinsam erprobt werden.

I M E RGEBNIS Das Forschungsprojekt hat gezeigt, dass die Untersuchungsorte trotz ihrer kleinen Einwohnerzahl hoch komplex sind; und zwar jeder Ort auf seine Weise. Das Zusammenspiel aus Landschaften, Gebäuden und den Menschen, die darin handeln und diese gestalten, ist alles andere als übersichtlich. Diese Komplexität muss in Augenschein genommen werden, um die Lebensqualitäten zu erkennen und die Entfaltungsmöglichkeiten herauszuarbeiten. Es reicht nicht aus, sich auf einen Teilaspekt zu konzentrieren: Sowohl das Ganze als auch die vielen kleinen Teile, welche das Ganze erst entstehen lassen, sollten in Bezug auf eine denkbare Entwicklung betrachtet werden. Das ist komplex. Abb. 8: Raumbild der Gemeinde Meldorf.

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Eine genaue Betrachtung der Raumkultur, dem Zusammenhang zwischen dem, wie und was die Menschen tun – wie sie wirtschaften, wohnen und einander begegnen – und der räumlichen Beschaffenheit ihrer Lebenswelt, bietet dazu gute Voraussetzungen. Die vier Perspektiven lebendiger Raumkultur eröffnen einen neuen Blick auf die Gemeinden. Sie beinhalten sowohl das Alltägliche und Gewohnte als auch das Neue. Die Filmabende mit ihrer nachfolgenden Arbeitsrunde haben gezeigt, dass die Menschen vor Ort den vier Perspektiven gut folgen konnten. In der Arbeit mit den Raumkulturportraits wurden eine ganze Reihe weiterführender Ideen entwickelt. Das Projekt ist somit ein Beispiel einer transformativen Forschung (Delfia/Di Giulio 2019: 3ff.). Um gesellschaftlich transformativ zu wirken, müssten die Gemeinden daran gehen, Empfehlungen und Projektideen in die Realität umzusetzen – und dabei vor allem den jeweiligen Akteur/innen vor Ort unkompliziert zur Seite stehen. Denn eine lebendige und tätige Raumkultur, in der sich Menschen im Wechselspiel mit ihren Räumen selbst erleben und erfahren können, ist eine nachhaltige Raumkultur.

L ITERATUR Delfia, Rico/Di Giulio, Antoinetta (2019) (Hg.): Transdisziplinär und transformativ forschen. Band 2. Eine Methodensammlung, Wiesbaden: Springer VS. Gräbel, Thomas/Schmidt, Anke (2015): »Unterwegs in deutschen Bildungslandschaften – Dokumentarisches Filmen«, in: Planerin Heft 1/15, S. 25-28. Lindner (2004): Walks on the wild side, Frankfurt: Campus. Prominski, Martin/ von Seggern, Hille (2019) (Hg.): Design Research for urban landscapes. Theories and methods, New York: Routledge. von Seggern, Hille (2013): »Urbane Landschaften – ein Raumgeschehen«, in: Hubertus Fischer (Hg.), Zukunft aus Landschaft gestalten. Stichworte zur Landschaftsarchitektur, München: avm edition, S. 235-246. Wüstenrot Stiftung et al. (2019) (Hg.): Neues aus kleinen Städten und großen Dörfern, Ludwigsburg: Wüstenrot Stiftung.

Die Zukunft von Bauernhäusern Über den divergenten Umgang mit historischen Gebäuden in ländlichen Räumen I NES L ÜDER

E INLEITUNG Wie gehen Eigentümer mit historischen Gebäuden in ländlichen Räumen um? Welche Vorstellungen, Aneignungs- und Gestaltungsprozesse wirken sich wie auf die Entwicklung der Gebäude aus? Und welche Rolle spielen diese selbst dabei mit ihrer räumlichen und materiellen Substanz, ihrer Atmosphäre und Geschichte? Zwei Fälle aus der Forschungsarbeit der Autorin1 geben einen Einblick in aktuelle Praktiken des Gebrauchs von historischer Bausubstanz. »Sowas kann man nur machen, wenn man entweder Geld hat oder verrückt ist.« Diese Aussage der Eigentümerin eines alten Bauernhauses in der Wilstermarsch wirft die Frage auf, ob das Leben in historischer Bausubstanz auf dem Land ein Luxus ist, den sich nur wohlhabende Menschen leisten können und sollen. Ist es tatsächlich als »verrückt« zu bezeichnen, wenn Normalverdiener räumlich-materielle Qualitäten hochschätzen und sich diese durch Erfahrung, Planung und Eigenleistung ermöglichen? Diese Fragestellungen werden im Kapitel ›Fallstudie Zwei‹ diskutiert. Kontrastierend vorangestellt ist das Kapitel ›Fallstudie Eins‹: Bei der Betrachtung einer Hofstelle in der Krempermarsch stellt sich die Frage, ob das Leben in historischer Bausubstanz nicht mit zu vielen Einschränkungen behaftet und – wie die Eigentümer es ausdrücken – »finanzieller Schwachsinn« ist.

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Darin werden unter dem Titel WIDERSTÄNDIGE RESSOURCE die divergenten Entwicklungsprozesse und Zustände von Barg- und Fachhallenhäusern sowie die Einflussfaktoren, Potenziale und Hemmnisse der Weiternutzung und des Weiterbaus untersucht (siehe Lüder 2022).

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H INTERGRUND Die Wilstermarsch und die Krempermarsch im Kreis Steinburg in SchleswigHolstein bilden die Untersuchungsregion. Das Gebiet liegt an der Elbe auf der Höhe des Meeresspiegels, teilweise auch darunter. Es ist ein vollständig kultiviertes und gestaltetes Territorium, dessen natürlich stattfindende Überschwemmung seit Jahrhunderten technisch durch die Eindeichung und Entwässerung verhindert wird – nur so sind Bewohnen und Bewirtschaftung möglich. Die historische Genese des Territoriums ist heute noch ablesbar. Gleichzeitig wird die Kulturlandschaft durch zahlreiche Veränderungen geprägt, die in der Region stattfanden und -finden. Die Hofstellen waren einst die Orte der Arbeit und Produktion. Mittlerweile sind wesentlich weniger Personen in der Landwirtschaft beschäftigt und die Anzahl der Höfe ist deutlich zurückgegangen. Die verbliebenen Betriebe bewirtschaften jeweils umfangreichere Flächen und haben sich in ihrer Ausrichtung zunehmend spezialisiert. Sowohl die Viehbestände als auch die Maschinen sind größer geworden. Landwirtschaftliche Gebäude unterliegen stark gewandelten Anforderungen. Aufgrund dieses gravierenden Strukturwandels ist die ursprüngliche landwirtschaftliche Nutzung von historischen Bauernhäusern und Scheunen oft nicht mehr gegeben. Des Weiteren ist die Kulturlandschaft durch den Ausbau der Verkehrs- und vor allem der Energieinfrastrukturen geprägt, die neue Maßstäbe und Strukturen mit sich bringen. In der Region sind dies Autobahn und Bundesstraßen, zwei Kernkraftwerke, Stromtrassen, Windkraftanlagen sowie das Umspannwerk bei Wilster, wo sich die Nord- und SüdLink-Trassen treffen. Durch die Transformation wesentlicher Grundlagen der Kulturlandschaft – ihrer räumlichen, funktionalen und symbolischen Zusammenhänge – wandeln sich die regionale Charakteristik und die Wahrnehmung. Mit den Themen Demographie und Daseinsvorsorge, Klimawandel und Nachhaltigkeit sowie mit der geographischen Lage zwischen dem stark wachsenden suburbanen Verflechtungsraum Hamburgs und der touristischen Nordseeküste ist zusätzlich eine unklare Entwicklungsperspektive für die Region verbunden. Das Marschhufendorf Neuenbrook (Abb. 1), in dem die Hofstellen entlang der Straße aufgereiht sind, zeigt beispielhaft die aktuelle Charakteristik der Untersuchungsregion. Auf einer Fläche von ca. 3 x 7 km ist bis heute die über Jahrhunderte gewachsene Einheit aus landwirtschaftlicher Nutzung, Entwässerung sowie Siedlungs- und Gebäudestrukturen sichtbar. Zudem ist mit der (Über-)Prägung durch Bauten der Industrie und Agrarindustrie, der Energieproduktion und -verteilung sowie der Verkehrsinfrastruktur die Wandlung der Kulturlandschaft deutlich erkennbar.

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Abb. 1: Marschhufendorf Neuenbrook. Kartenausschnitt der Preußischen Landesaufnahme (ca. 1880) mit der Überlagerung durch heutige bauliche Anlagen von Autobahn, Stromtrassen, Windkraftanlagen, Industrie.

Ines Lüder, 2015; © Archäologisches Landesamt Schleswig-Holstein, 2015, GeobasisDE/LVermGeo SH 2015 ALKIS, ATKIS Basis DLM

Im Übrigen verändert sich die Siedlungsstruktur mit ihrem Gebäudebestand und ihren landschaftlichen Bezügen. Der Leerstand von historischer Bausubstanz wird nur teilweise durch neue Nutzer aufgehoben. Da in den Marschen die meisten Hofstellen im Außenbereich nach § 35 BauGB liegen, bedeuten die Aufgabe von landwirtschaftlichen Betrieben und der Abbruch von Gebäuden zugleich den Wegfall von Wohn- und Arbeitsorten und somit die allmähliche Auflösung der Siedlungsstruktur. Dies kann man als dem Lauf der Zeit geschuldet hinnehmen, allerdings gehen damit bestehende materielle und kulturelle Ressourcen verloren. Seitens des Landkreises

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wird die Frage nach Entwicklungsmöglichkeiten gestellt,2 denn durch den Denkmalschutz werden in der Region nicht immer Gebäude erhalten und Wertschätzung erhöht – er hat auch Widerstand und Zerstörung zur Folge. Der Forschungsarbeit liegt das Verständnis zugrunde, dass historische Bausubstanz nicht allein konservierungswürdiges Zeugnis ist – sie ist darüber hinaus auch Ressource für eine Aneignung in Verbindung mit neuen Nutzungen und entsprechender baulicher Adaption und somit für die nachhaltige und charakteristische regionale Weiterentwicklung. Begründet durch den maßstabsübergreifenden (von Material und Architektur bis hin zu Siedlung und Kulturlandschaft) und kontextbezogenen Ansatz werden neben den architektonischen und städtebaulichen Analysen auch Interviews mit Eigentümern geführt, um deren Einstellungen und Umgangsweisen mit dem Bestand zu erforschen. Die Untersuchungen haben gezeigt, dass der historische Baubestand so verschiedenartig genutzt und weitergebaut wird, dass sich Gebäude gleichen Typs divergent entwickeln. Die folgenden Fallstudien zeigen zwei dieser Prozesse auf.

F ALLSTUDIE E INS Bei dem ersten Fall handelt es sich um eine immer noch landwirtschaftlich genutzte Hofstelle. Der Betrieb wurde durch den Eigentümer im Jahr 1989 vom Vater übernommen. Er und seine Frau, beide Landwirte, halten 160 bis 180 Milchkühe und bewirtschaften 110 ha Land, das zum größten Teil die Hofstelle umgibt. Diese ist für die Eigentümer ein Arbeitsort. Sie schätzen besonders die Alleinlage sowie den Platz und den Freiraum, viele Dinge tun zu können. Sie wissen indes nicht, ob sie im Alter noch dort wohnen werden. Beide sind auf die Gegenwart konzentriert – weder die Geschichte noch die Zukunft spielen eine große Rolle. Der Fall steht für die Obsoletwerdung und den Verlust von historischer Bausubstanz durch die Weiterentwicklung der Landwirtschaft und eine damit verbundene pragmatische Haltung. Den Anforderungen des Betriebs wird nicht nur das Leben, sondern werden auch die Gebäude untergeordnet. Einen kulturellen Wert für die Allgemeinheit messen die Eigentümer den historischen Bauten nicht bei. Baukulturelle Aspekte haben für sie kaum eine Bedeutung – relevant sind betriebswirtschaftliche Überlegungen, der finanzielle Vorteil und die Praktikabilität.

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Siehe dazu BMBF-Forschungsprojekt ›Regiobranding – Branding von Stadt-Land-Regionen durch Kulturlandschaftscharakteristika‹ (http://www.regiobranding.de/)

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Abb. 2: Luftbild Hofstelle, ca. 1970/80er Jahre. V. l. n. r.: Fachhallenhaus, Schweinestall, historischer Stall, historische Bargscheune.

Bild im Besitz der Eigentümer; Scan: Ines Lüder, 2018

Das Luftbild (Abb. 2) zeigt den Zustand des Hofes vor etwa 40 bis 50 Jahren. Links befindet sich ein reetgedecktes Fachhallenhaus mit einer Grundfläche von etwa 700 qm. Der Wirtschaftsteil ist 300 bis 350 Jahre alt, der Wohnteil wurde vor circa 150 Jahren als Kreuzbau angefügt. Auf dem Bild rechts daneben liegen ein neuerer Schweinestall, ein historischer, reetgedeckter Stall und eine um 1860 erbaute, ebenfalls reetgedeckte Bargscheune. Der Vergleich zwischen früherem und heutigem Zustand (Abb. 3) macht die wesentlichen baulichen Veränderungen sichtbar: den Rückbau von historischen und alten, nicht mehr funktional erscheinenden Bauten (Scheune, Ställe) und von ebensolchen historischen Elementen, seien sie baulich (Reetdach, gemauerter Giebel des Wirtschaftsteils, hölzerne Einbaustube, Graben) oder pflanzlich (Hauslinden, Baumbestand an der Grundstücksgrenze, Gemüsegarten). Dieser Rückbau wird ausgeführt zugunsten einer erhöhten Funktionalität für die gewandelte landwirtschaftliche Nutzung sowie der damit verbundenen Baumaßnahmen (moderner Kuhstall, großer Güllebehälter); und nicht zuletzt auch aufgrund finanzieller Erwägungen. Die Modernisierung geht mit dem Verlust von historischer Bausubstanz einher.

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Abb. 3: Monometrische Axonometrien der Hofstelle. Links: ca. 1970/80er Jahre. Rechts: 2018; v. l. n. r.: Güllebehälter, Kuhstall (2 Bauabschnitte), Fachhallenhaus, Einfamilienhaus/Altenteil.

Ines Lüder, 2018; © Geobasis-DE/LVermGeo SH 2015 ALKIS, ATKIS Basis DLM

Der feldseitige historische Stall wurde Anfang der 1990er Jahre abgetragen, um einen neuen Stall bauen zu können. Die straßenseitige Bargscheune wurde im Jahr 2002 abgebrochen, um Platz für die Stallerweiterung zu schaffen. Beide Gebäude standen nicht unter Denkmalschutz – eine mögliche Unterschutzstellung haben die Eigentümer durch den Abriss vermieden. Der neue Stall dient der Unterbringung der Milchkühe. Auf dem Dach befinden sich Photovoltaikelemente zur Stromerzeugung (Abb. 4). Abb. 4: Links: Fachhallenhaus. Rechts: Kuhstall und Fachhallenhaus.

Ines Lüder, 2018

Anders als die beiden historischen Gebäude Stall und Scheune ist das Fachhallenhaus, heute mit Eternitdach, noch erhalten. Bei der Übernahme des Betriebs war es in keinem guten Zustand, beispielsweise gab es keine Zentralheizung. Die

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Eigentümer haben sich zunächst mit dem niedrigen Standard arrangiert und erst nach und nach saniert. Der vorhandene Platz und die großen Räume im Haus werden als Luxus beschrieben. Die Eigentümer sind beeindruckt von der Konstruktion des Gebäudes und erkennen seine Beständigkeit an. Dennoch messen sie einem Neubau einen höheren Wert bei. Bei solchem sind ihrer Meinung nach – im Gegensatz zu einem Altbau – Kosten besser abschätzbar und moderne Standards (Energieeffizienz, Komfort) realisierbar. Zudem gebe es keine funktionalen Einschränkungen. Sie sagen aus, dass es hinsichtlich des finanziellen Aufwandes günstiger gewesen wäre, bei der Übernahme des Betriebs das Fachhallenhaus abzubrechen und stattdessen ein Einfamilienhaus zu bauen. Angesichts der Investitionen in den neuen Stall war ihnen der hierfür notwendige Kapitalaufwand jedoch zu hoch. Der zwangsläufige Erhalt und die nachfolgende Sanierung des alten Gebäudes wird von ihnen als »finanzieller Schwachsinn« bezeichnet und somit abwertend beurteilt. Die Eigentümer erklären, dass sie sich letztlich für die Kosten der Gebäudesanierung ein neues Haus hätten bauen können. Allerdings äußern sie sich widersprüchlich im Zusammenhang mit ihrer Bemerkung, dass ein Neubau ewig halten würde: Zum einen bescheinigen sie gleichfalls dem historischen Gebäude eine längere Lebensdauer als einem Neubau. Zum anderen sind ihnen statische Probleme von Neubauten in der Marsch bekannt: das im Jahr 1989 gebaute Altenteil, in dem die Mutter lebt, steht beispielsweise bereits schief. Generell bezeichnen die beiden Landwirte den Erhalt und die Sanierung solch eines alten Gebäudes als für Normalverdiener nicht leistbar, als »Fass ohne Boden«. Sie haben Verständnis für diejenigen Eigentümer, die ein altes Gebäude abbrechen oder verfallen lassen, sofern es unter Denkmalschutz steht und daher nicht abgerissen werden darf. Ein derartiges Verhalten wird von ihnen als wirtschaftlich und funktional sinnvoll, als »normal« bewertet.

F ALLSTUDIE Z WEI Die Ausgangslage des zweiten Falls ist eine ganz andere. Die Eigentümer, ein Ehepaar, suchten gezielt einen Ort in Alleinlage und mit Geschichte als neues Bau- und Lebensprojekt nach dem Auszug ihrer Kinder. Sie sind keine Zuzügler aus der Großstadt, die ein Leben auf dem Land verwirklichen wollen, sondern seit langem in der Region beheimatet. Da sie die historische Bausubstanz wertschätzen, war das Objekt in ihren Augen genau das Richtige. Der bewusst ausgewählte und im Jahr 2012 erworbene Resthof (Abb. 5), zu dem kein Land mehr gehört, dient nun der Wohnnutzung, da beide andernorts arbeiten. Er ermöglicht zudem eine Hobby- oder BonsaiLandwirtschaft, wie der Eigentümer es nennt: acht Schafe, acht Hühner und drei Hunde.

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Abb. 5: Resthof von Süden von der Straße aus. V. l. n. r.: Barghaus, abgebrochene Scheune, Wagenschauer, ehemaliges Backhaus.

Ines Lüder, 2018

Die Eigentümer dieses zweiten Falls realisieren im Grunde das, was die Eigentümer des ersten Falls als für Normalverdiener nicht leistbar erklären. Sie sind überdies zufrieden damit, da sie die Qualitäten des Ortes sehr schätzen. Voraussetzung für solch ein Vorhaben sind eine gute und passende Bausubstanz, ein ausreichendes bauliches Wissen und Können, sowie eine realistische und gründliche Planung. Auf dem Luftbild aus den 1950er Jahren (Abb. 6) ist links das etwa 270 Jahre alte, reetgedeckte Barghaus zu sehen. Es hat eine Grundfläche von ca. 550 qm. Dahinter liegen zwei historische Ställe, ein neuerer Schweinestall und neben dem Barghaus ein historisches Backhaus. Das Barghaus hat heute noch fast die gleiche äußere Form wie Mitte des 20. Jahrhunderts. Im Inneren und an den Fassaden gab es indes grundlegende Veränderungen (Abb. 7, 8). Im Grundriss von 1940 ist die, heute so nicht mehr bestehende, räumliche und funktionale Verzahnung und Durchlässigkeit zwischen Wohn- und Wirtschaftsteil deutlich zu erkennen. Der von der Schauseite des Gebäudes mittig erschlossene Raum der Fördeel (Vordiele) war der zentrale Verteilerraum. Ein Raum solcher Größe, circa 62 qm, ist heute nicht mehr vorhanden. Auch die Küche war früher ein zentraler und vernetzter Raum mit Zugängen zur Fördeel, zur Diele des Wirtschaftsteils und zur Döns (beheizte Stube) sowie einem Ausgang nach draußen.

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Abb. 6: Luftbild der Hofstelle, ca. 1950er Jahre. V. l. n. r.: Barghaus, ehemaliges Backhaus, Scheune, Schweinestall, Melkstall.

Bild im Besitz der Eigentümer. Foto: Ines Lüder, 2018

Im Jahr 1957 führten die früheren Eigentümer, Landwirte, einen Umbau des Erdgeschosses des Wohnteils durch. Seitdem bestehen die symmetrische Ausgewogenheit und Einheitlichkeit der Fassaden, die in den Zeichnungen von 1940 noch ersichtlich sind, nicht mehr. Die Fenster sitzen jetzt asymmetrisch in den Wänden, in denen die zugemauerten früheren Öffnungen noch zu erkennen sind. Die Eigentümer verlegten den Hauseingang an die nordwestliche Giebelseite. Über einen mittig und parallel zur Straßenfassade verlaufenden Flur werden nun mehrere Räume erschlossen. Die Küche liegt in der Mitte ohne Zugang nach draußen. Der Kellerabgang wurde verlegt, ein Badezimmer eingebaut, die Alkoven ausgebaut. Die hölzerne Stube verkauften die Eigentümer, um mit dem Erlös eine Waschmaschine zu erwerben. Links neben dem neuen Eingang richteten sie eine Milchkammer mit separatem Zugang ein.

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Abb. 7: Grundriss Erdgeschoss Barghaus. Links: 1940. Rechts: 2018.

Wolf (1979): Tafel 47 (l.), Ines Lüder, 2018 (r.)

Im Jahr 1976 wurde der Kornboden im Obergeschoss als Altenteil mit drei Zimmern und einem Bad ausgebaut. Die Gaube im Reetdach und das Panoramafenster in der nordöstlichen Giebelwand dienen der Belichtung dieser Räume. Ähnlich wie beim ersten Fall sind im Zuge der Modernisierungsarbeiten historische Bauteile und Teile der Außenanlagen (Hauslinden, Gräben) verschwunden. Abb. 8: Ansicht Südwest Barghaus. Links: 1940. Rechts: 2018.

Wolf (1979): Tafel 46 (l.), Ines Lüder, 2018 (r.)

Die bei den Umbauten 1957 und 1976 entstandenen Grundrisse und Fassaden sind bis heute nicht verändert. Die aktuellen Eigentümer haben lediglich Oberflächen überarbeitet. Auch die Einbauküche stammt noch aus den 1950er Jahren. Der Eingang zur früheren Milchkammer ist jetzt Hauptzugang. Dieser wenig repräsentative Raum, der als Waschküche und Hauswirtschaftsraum genutzt wird, hat eine Verteilerfunktion als Eingangsbereich zum Wohnteil und Zugang zum Wirtschaftsteil. In dem Wirtschaftsbereich des Barghauses ist die funktionale und räumliche Verzahnung zwischen Diele und Barg, wie sie der Grundriss von 1940 abbildet, aktuell kaum noch existent. Bei der Hälfte des Bargraums wurde eine Decke über dem Erdgeschoss eingebaut. Um zusätzliche Kühe unterzustellen, wurden einige Holzständer und

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-träger durch Stahlstützen und -träger ersetzt. Die derzeitigen Eigentümer haben auch im Wirtschaftsteil keine baulichen Änderungen vorgenommen. Da die landwirtschaftliche Nutzung des Gebäudes aufgegeben wurde, sind Raumvolumen und Flächen dieses Gebäudeteils untergenutzt – gelagert werden hier Baumaterialien, Geräte, Möbel und Wohnwagen. Abb. 9: Links: Lieblingsort des Eigentümers: Bank vor dem Barghaus. Rechts: Ungenutztes, verfallenes ehemaliges Backhaus.

Ines Lüder, 2018

Die Eigentümer haben ein Gebäude mit guter Substanz und passendem Grundriss ausgesucht, bei dem die notwendigen Bauarbeiten überschaubar sind. Das Ehepaar kann auf Erfahrungen beim (Um-)Bau ihrer beiden vorherigen Häuser zurückgreifen. Beide führen viele handwerkliche Tätigkeiten selbst durch, wobei die Qualität nicht immer einwandfrei ist. Alle anstehenden Aufgaben und Kosten werden von ihnen in 5-Jahres-Plänen organisiert. Sie finden sich damit ab, dass einige ihrer Vorstellungen nicht realisierbar sind und dass ihr Projekt nie fertiggestellt sein wird: Der erwünschte Neubau des Badezimmers könnte ihrer Aussage nach gegebenenfalls erst in 30 Jahren umgesetzt werden. Auch ob sie das frühere Backhaus (Abb. 9) instandgesetzt bekommen, bevor es in sich zusammenfällt, ist fraglich. Wurden im ersten Fall die historische Scheune und der historische Stall aufgrund der Investitionen in den modernen Kuhstall und aus Sorge vor einer Unterschutzstellung abgebrochen, so ist in diesem zweiten Fall der Abriss der Scheune den fehlenden finanziellen Mitteln geschuldet. Eine Sanierung war für das Paar nicht leistbar. Der Abbruch wurde schweren Herzens vorgenommen – Teile der Scheune sind als Ruine immer noch vorhanden (Abb. 10). Die Hofstelle ist für die Eigentümer ein Rückzugsort vom Alltag. Hier können sie für sich sein und abschalten. Sie wertschätzen den Platz und die Freiheiten – der Eigentümer lässt beispielsweise gern seinen alten Trecker einen halben Tag lang tuckern. Er erklärt, dass es für ihn keine bessere Mittagspause gebe als auf der Bank vor dem Haus (Abb. 9). Der Resthof ist für die Eigentümer ein Ort täglicher Entdeckungen: die Geschichte und die Geschichten sind überaus präsent und ihre ständigen

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Begleiter. Bemerkenswert ist dabei, dass sie alle Zeitschichten würdigen und akzeptieren. Sie wollen an diesem Ort bis an ihr Lebensende wohnen bleiben und haben ihre Zukunft im Alter sorgfältig durchdacht. Den Blick in die weite Marsch ziehen sie der Nähe zu einem Arzt in der Stadt vor. Trotz finanzieller, zeitlicher und körperlicher Grenzen haben sie sich ein Refugium, einen Ort des guten Lebens ermöglicht, dessen Qualitäten sie als unbezahlbar beschreiben. Abb. 10: Mauer- und Fundamentreste der historischen Scheune.

Ines Lüder, 2018

Die Eigentümer bewerten das, was sie tun, als »Unsinn« unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Sie bezeichnen ihr Vorhaben und sich selbst als »verrückt«. Trotz beschränkter finanzieller Mittel haben sie sich getraut, einen Resthof zu kaufen. Sie verwirklichen ihr Projekt mit hoher Motivation und aus tiefer Überzeugung. Die teilweise bestehende Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit akzeptieren sie angesichts der sonstigen Lebensqualität. In Anbetracht ihres Vorwissens, ihrer gründlichen Planung und ihrer Eigenleistung erscheinen sie nur vermeintlich als »verrückt« im Sinne von ›krankhaft‹ oder ›dumm‹. Da sie qualitätsorientiert, überlegt und selbstbewusst handeln, meint »verrückt« in ihrem Fall vielmehr ›unkonventionell‹ oder ›ungewöhnlich‹.

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F AZIT Die Gegenüberstellung der zwei Fallstudien beleuchtet die heterogenen Haltungen von Nutzern im Zusammenhang mit ihren Gebäuden sowie unterschiedliche Praktiken der Aneignung und des Gebrauchs von historischer Substanz. Um historische Gebäude zu nutzen und entsprechend aktueller Standards (z.B. bezüglich Bautechnik, Wohnvorstellungen, Energieeffizienz) weiter zu bauen, sind hohe Investitionen nötig. Eine langfristige Beständigkeit ist nur bei einigen Gebäudeteilen gegeben, insbesondere bei der Holzkonstruktion. Viele Bauteile haben kürzere Lebenszyklen und erfordern kontinuierliche Erneuerung. Heutige Ausbauund energetische Standards sind gewissermaßen nur mit einem Neubau im Altbau zu erreichen. Vergleichsweise hohe Sanierungskosten ergeben sich durch die ausgedehnten Gebäudevolumen und durch überdurchschnittlich große Wohn- und Nutzflächen pro Person. Ob ein gutes Leben auf dem Land in historischer Bausubstanz zu realisieren ist, hängt jedoch nicht allein von den finanziellen Mitteln, sondern auch von den Bewertungskriterien der Nutzer sowie von den materiellen Qualitäten der Substanz ab. Die ursprüngliche Idee und der ursprüngliche Zweck der Gebäude sind überholt. Diese stehen nicht mehr so deutlich im Dienst der Nutzer. Die Gebäude halten nicht nur Qualitäten, sondern auch Zwänge bereit. Zum Teil verhalten sie sich gegenüber Nutzern widerständig und fordern bei diesen ungewöhnliche Strategien und Verhaltensweisen heraus. Die Landwirte aus der Fallstudie Eins bewerten den notgedrungenen Erhalt und die zwangsläufige Sanierung ihres ererbten Fachhallenhauses negativ als »finanziellen Schwachsinn«. Sie definieren einen klaren Gegensatz zwischen alt und neu und bevorzugen den Neubau. Eine Wertschätzung des Neuen im Alten ist kaum vorhanden – lediglich bei der Nennung des modernisierten Badezimmers als Lieblingsort ist diese erkennbar. Das Gebäude bleibt für die Eigentümer alt und hat dadurch weniger Wert. Dies kann auch durch die Sanierung nicht aufgehoben werden. Als sinnvolles, nachvollziehbares und »normales« Verhalten sehen sie den Abbruch an. Die Fallstudie Zwei zeigt demgegenüber eine andere Perspektive auf das Leben auf dem Land in einem historischen Gebäude. Dieses kann unkonventionelles Luxusund Alltagsgut sein, auch wenn nicht allzu viel Geld zur Verfügung steht. Die Eigentümer investieren Wissen, Erfahrung, Zeit und Arbeit in die Gestaltung. Den finanziellen Risiken treten sie mit der Auswahl guter und passender Bausubstanz, dem Zutrauen in ihre Bauerfahrung, einer reflektierten Planung, mit Selbstbau und Reduktion entgegen. Den Risiken einer unzureichenden Versorgung im Alter begegnen sie mit einer Zukunftsplanung, in der die technische Entwicklung (z.B. selbstfahrende Autos, Telemedizin) ganz selbstverständlich berücksichtigt wird. Die Qualitäten des Ortes werden höher geschätzt als eine Wirtschaftlichkeit, Sicherheit und

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Einfachheit, die eventuell mit einem Einfamilienhaus oder einer Stadtwohnung zu erreichen wären. Die Eigentümer profitieren von den qualitativ hochwertigen Sanierungen der vorherigen Besitzer. Vor diesem Hintergrund kann ihr Vorhaben als finale Abnutzung des Gebäudes verstanden werden, bevor dieses mangels substanzieller Ertüchtigung endgültig verschwindet – wie schon mit der Scheune geschehen. Positiv betrachtet könnte man allerdings auch sagen: Es handelt es sich hierbei um ein neues vernakuläres Bauen, bei dem funktionslos gewordene Bausubstanz nicht mehr als risikoreiche finanzielle Belastung, sondern als eine außergewöhnliche Ressource erkannt und belebt wird, die ein qualitätsvolles gutes Leben auf dem Land in Gegenwart und Zukunft ermöglicht.

L ITERATUR Lüder, Ines (2022): Widerständige Ressource. Typologie und Gebrauch historischer Bauernhäuser, Bielefeld: transcript. Wolf, Gustav (1979): Haus und Hof deutscher Bauern – Schleswig-Holstein, 2. veränderte Auflage der Ausgabe Berlin, 1940; Hildesheim: Gerstenberg.

Zukunftsressource Landbahnhof Bauprinzipien nachhaltiger Gebäudetransformation1 M ARIA F RÖLICH -K ULIK

Was können Landbahnhöfe? Sie bieten einen Zugang zur Verbindung zwischen Stadt und Land. Seit der politischen Wende 1989/90 haben viele Landbahnhöfe ihre Funktion als infrastrukturelle Schnittstellen und Knotenpunkte verloren. Sie wurden abgekoppelt und losgelöst von ihrem Schienennetz verkauft. Einige von ihnen sind mittlerweile Investruinen, andere wurden zu Tanzlokalen, Arztpraxen oder gemeinschaftlichen Bauprojekten umgenutzt. Unabhängig vom Zustand der Gebäude sind die Schienen (häufig) noch vorhanden. Geplante Abrisse oder zunehmender Verfall der Gebäude führen vielerorts zu Unmut in der Bevölkerung, verbunden mit dem Wunsch, die bestehende Bausubstanz zu erhalten und wiederzubeleben. Der gegenwärtige Transformationstrend von Landbahnhöfen geht also entweder in Richtung Individualisierung oder Zerfall. In beiden Fällen geht das sozial-räumliche Potential der Gebäude als Knotenpunkte zwischen Stadt und Land und Teile eines zusammenhängenden Systems leider verloren. Die Gebäude als Teil des Schienensystems waren wesentliche Stellschrauben in Urbanisierungsprozessen, denn mit ihnen wurden grundlegende Verbindungen zwischen dem ländlichen und dem städtischen Raum hergestellt. Sie standen damit zeichenhaft für den »Anschluss an Welt und Moderne« (Hengartner 2010: 66) und wurden zum Symbol »des ersehnten oder verteufelten Fortschritts« (ebd.). Sie waren aber nicht nur derartig ideell aufgeladen, sondern dienten vor allem ganz konkret als infrastrukturelle Knotenpunkte und soziale Schnittstellen. Betrachtet man den Landbahnhof gleichermaßen als Tor zur Welt und Eingang zum Dorf, als Ort des Ankommens und Abfahrens und auch als Raum der Imagination möglicher Entwicklungen,

1

Dieser Beitrag basiert auf Kapitel 4 der Dissertation LANDBAHNHÖFE. RESSOURCEN NACHHALTIGER LANDSCHAFTSENTWICKLUNG

(Frölich-Kulik 2021).

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dann wird die einstige Bedeutung der Bahnhöfe auf dem Land offensichtlich: Die Gebäude waren zentrale Anker- und Knotenpunkte im Raumgeschehen (vgl. zum Begriff von Seggern 2018). Vor diesem Hintergrund werden sie im Folgenden als relevante materielle, soziale und imaginäre Zukunftsressourcen für den ländlichen Raum vorgestellt.

L ANDBAHNHÖFE

ALS

S CHNITTSTELLEN

Die wesentliche Funktion von Landbahnhöfen war es zu verbinden: mit dem Bau der Landbahnhöfe wurden die Uhren der Dörfer in Einklang gebracht (Biemann/ Land 2006), landwirtschaftliche Produktionsweisen wurden an den sich geänderten Markt angepasst und Lebens- und Arbeitsweisen zwischen Stadt und Land konnten einfacher ausgetauscht werden. Diese zentrale Rolle der Landbahnhöfe im Raumgeschehen führt dazu, dass sie nach wie vor als identitätsstiftende Gebäude wahrgenommen werden. Über Gebäudeumnutzungen können neue Sinnzusammenhänge hergestellt werden, die nicht zuletzt neue Raumstrukturen und -beziehungen anstoßen können (vgl. Frölich-Kulik 2021). Das bezieht sich selbstverständlich nicht nur auf Landbahnhöfe – auch die Umnutzungen bzw. Neuaneignungen leerstehender Kirchen oder Bauernhäuser sind u.a. hervorragende Beispiele für Veränderungen von Raumstrukturen durch die Transformation von Gebäuden. In jedem Falle führen Raumverfügbarkeiten, Raumqualitäten, kulturell verankerte Geschichten und Sinnzuschreibungen von leerstehenden Gebäuden dazu, dass sie auf dreifache Weise als Zukunftsressourcen für den ländlichen Raum interpretiert werden können: Sie bilden materielle, soziokulturelle und imaginäre Ressourcen für den architektonischen Entwurf (vgl. Warda 2016). Als materielle Ressourcen sind leerstehende Landbahnhöfe im doppelten Sinne relevant: Auf der einen Seite sind es die konkret wiederverwertbaren Baumaterialien, die bei einem Abbruch freigesetzt und in neuem Kontext wieder verbaut werden können. Auf der anderen Seite, und das soll hier im Fokus der Betrachtung stehen, stellt die materialisierte Struktur der entfunktionalisierten Gebäude als solche eine Ressource dar. Die Gebäudestruktur kann auf verschiedenste Weise nach heutigen Ansprüchen nutzbar gemacht werden. Diese materielle Ressource leerstehender Gebäude auf dem Land wird zunehmend als Möglichkeitsraum für die individuelle Entfaltung und Gestaltung der eigenen Lebensvorstellungen genutzt. Der Leerstand wird zur Projektionsfläche für romantische Vorstellungen vom Land als idealisiertem, arkadischem Ort. Damit können die leerstehenden Gebäude als soziale Ressource, sprich als eine Quelle für gesellschaftliche Aushandlungsprozesse ganz unterschiedlicher individueller Interessen, wie auch als ein möglicher Rahmen damit verbundener gemeinschaftlicher Tätigkeiten aufgefasst werden. Durch beispielhafte

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Umnutzungen können leerstehende Landbahnhöfe zu prototypischen sozialen Orten entwickelt werden.2 Und nicht zuletzt sind leerstehende Gebäude eine Ressource für den kreativen Umgang mit Landschaft als alltägliches soziales Handlungsumfeld (Burckhardt 2006).

L ANDBAHNHÖFE ALS R ESSOURCEN SOZIALER R AUMPRODUKTION Landbahnhöfe sind entlang des Schienennetzes in Reihe geschaltete gebaute Infrastrukturen. Als einzelne, von den Schienen abgekoppelte Gebäude ohne Netzanschluss tritt ihre Funktion als Bahnhof in den Hintergrund. Beispielhafte Projekte z.B. in Hitzacker, Erlau oder Klasdorf3 zeigen, dass die Gebäude selber für die verschiedensten Bedürfnisse und Zwecke nutzbar gemacht werden können und dass diese Transformationen der jeweiligen Baukultur durchaus gerecht werden können. Dennoch, das eigentliche Potential dieses Gebäudetypus liegt in seiner ortsübergreifenden Vernetzung. Der Vorschlag ist daher, die ursprüngliche Funktion und Bedeutung der Landbahnhöfe als Teile eines verbindenden Systems wieder stärker zu betonen. Landbahnhöfe haben das Potential, Personen und Institutionen infrastrukturell miteinander zu vernetzen und in einen sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Austausch zu stellen. Dies kann zugleich im Kontext einer Förderung zivilgesellschaftlichen Engagements verstanden werden. Denn dann »muss nicht mehr alles überall vorgehalten werden, sondern nur garantiert sein, dass jeder einen adäquaten Zugang zu den benötigten Diensten hat« (Oswalt 2013: 14). Die bereits in den abgekoppelten Bahnhöfen eingerichteten Versorgungseinrichtungen, Freizeiträume oder Gemeinschaftsorte könnten als Teil eines Netzwerkes zu Knotenpunkten und Impulsgebern eines neuen Raumgefüges avancieren und so den ländlichen Raum nachhaltig beeinflussen. Der Soziologe Henri Lefebvre zielt mit seinem bekannten Ausspruch »(Social) space is a (social) product« (Schmid 2010: 26) darauf ab, Räume als Produkte gesellschaftlicher Prozesse zu verstehen – was zugleich auch die Grundlage dafür bildet, diese Räume im Prozess des sozialen Austauschs weiter entwickeln zu

2

Vgl. zum Konzept der Sozialen Orte, die angesichts demografischer Veränderungen und Problemen der Daseinsfürsorge in ländlichen Räumen eine Alternative zum wirkmächtigen Zentrale-Orte-Prinzip darstellen Kersten/Neu/Vogel (2017) und Arndt et al. (2020).

3

In Hitzacker, Erlau und Klasdorf wurden die Bahnhofsgebäude für unterschiedliche Zwecke revitalisiert. Der Bahnhof in Hitzacker wird als interkultureller Treffpunkt genutzt, das Gebäude in Erlau ist als Generationenbahnhof revitalisiert und der Klasdorfer Bahnhof dient als Veranstaltungsort mit Übernachtungsmöglichkeiten.

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können. In seiner Theorie zur PRODUCTION OF SPACE (Lefebvre 1991) hat er die These formuliert, dass jede Gesellschaft ihren eigenen Raum produziert und Raum demnach »eine von Menschenhand geschaffene ›zweite Natur‹« sei (Schmid 2010: 30). Für die Transformation von leerstehenden Landbahnhöfe ist Lefebvres theoretisches Verständnis von Raum sehr hilfreich, denn sie erlaubt die differenzierte Betrachtung einzelner raumbildender und -prägender Aspekte und macht im gleichen Atemzug deutlich, dass diese Aspekte in ihrem gleichwertigen Zusammenspiel sozialen Raum produzieren können. Die hier wesentlichen Betrachtungsfelder seiner Theorie sind die Momente der Raumproduktion und die Ebenen der gesellschaftlichen Wirklichkeit: Nach Lefebvre sind Räume auf semiotischer Ebene nur als Einheit, als Triade von physisch wahrnehmbaren (materiell), sozial gelebten (sozio-kulturell) und mental konstruierten (imaginär) Momenten der Raumproduktion zu lesen, zu verstehen und entsprechend nutzbar zu machen (siehe Abb. 1). Abb. 1: Momente der Raumproduktion

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Um die Produktion von Raum in den gesellschaftlichen Kontext stellen zu können, ergänzt Lefebvre diese Triade der Momente der Raumproduktion um die Ebenen der gesellschaftlichen Wirklichkeit – mit der privaten, vermittelnden und globalen

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Ebene. Die private Ebene beschreibt die Sicht- und Nachbarschaftsbeziehungen, mit der vermittelnden Ebene verbindet Lefebvre Versorgungs- und Dienstleistungsbeziehungen der urbanen Gesellschaft und auf der globalen Ebene befinden sich die religiösen und politischen Auffassungen und Regelungen (siehe genauer für das Beispiel des Landbahnhofs auch Frölich-Kulik 2018: 61). Auf diesen Grundzügen der Theorie Lefebvres können Pfade einer zukunftsorientierten, nachhaltigen und gesellschaftlich produzierten Nutzung der Landbahnhöfe im Verbund als Ressourcensystem aufgezeigt und entwickelt werden: Nach Lefebvre müssen dafür die administrative, infrastrukturelle und private Ebene der gesellschaftlichen Wirklichkeit ineinander greifen; und zwar mit dem Ziel, Raum im Sinne eines »›Werk[s]‹ [...] zu erschaffen, das allen Teilen der Bevölkerung offensteht« (Schmid 2010: 289). Dabei geht es auch darum, eine Situation zu schaffen, in welcher der wahrgenommene, der konzipierte und der gelebte Raum wieder im Einklang zu- und miteinander stehen – Alltag, Beruf und Freizeit sowie lokale und regionale Interventionen sind aufeinander zu beziehen (ebd.). Gegenwärtige rigide Festschreibungen der Regionalplanung, aber auch der Gebäudekonzeptionen stehen dieser Forderung zum Teil im Weg. Dabei sind die Momente der Raumproduktion Lefebvres und insbesondere die Ebene der Repräsentation von Raum – also auch die Arbeit von Architekt/innen4 – kritisch zu betrachten. Nach Lefebvre widmen sich Architekten nur Ausschnitten eines Ganzen, die sie nach persönlichem Geschmack, technischem Geschick, Ideen und Vorlieben gestalten; es sind kleine, abstrahierte Ausschnitte aus einem komplexen, dynamischen und sozial produzierten Raumgeschehen. Der Planende sei dabei lediglich mit verobjektivierenden Informationen ausgestattet und kann deshalb noch lange nicht ›vertraut‹ sein mit dem Raum als Gegenstand seiner Arbeit.5 Dadurch, dass der Raum auf geometrische Formen reduziert und darin ausgedrückt wird, würden in dieser »world of image[s]« (Lefebvre 1991: 361) die Imagination, Phantasie und der Einfallsreichtum zum Erliegen kommen. Der immer auch subjektive Zugang des Menschen zum Raum komme dadurch zu kurz.6 In diesem Sinne sei die »tendency to make reductions« auch eine »tendency that degrades space« (ebd.). Die Komplexität von Raum, der von Materialität, Wissen und Bedeutung produziert und re-produziert wird, kann demnach nicht vollständig mit den Mitteln der

4

»perhaps by ›developers‹, perhaps by government agencies« (Lefebvre 1991: 360).

5

»His ›subjective‹ space is freighted with all-too-objective meanings« (ebd.: 361).

6

Dem gegenüber finden sich in der neueren Landschaftsforschung und auch -praxis Ansätze einer Gegenbewegung, die methodisch geleitet die subjektive Erfahrung von Raum in den Planungsprozess mit einbeziehen (Prominski/von Seggern 2019). Sie zielen darauf ab, Landschaften mit ihren gestaltprägenden Elementen in alternativen und auch den Planungsprozess inspirierenden Weisen lesbar, verstehbar und erzählbar zu machen.

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Architektur und Raumplanung erfasst und bearbeitet werden. Es ist stattdessen immer ein Ausschnitt, der nach festgesetzten Richtlinien und individuellen Vorstellungen der Planer/innen gestaltet wird. Dabei verwundert nicht, dass die Repräsentation eines Raumes der Planenden mitunter stark von dem der Bewohner/innen abweichen kann. »Thus as exact a picture as possible of this space would differ considerably from the one embodied in the representational space which its inhabitants have in their mind, and which for all its inaccuracy plays an integral role in social practice.« (Ebd.: 93)

Der Soziologe Lucius Burckhardt stellt sich explizit mit seinen Landschafts- und Raumbeobachtungen in die Tradition Lefebvres (Burckhardt 2014a [1967]).7 Für Burckhardt sind Räume wie bspw. Landschaften oder Gebäude historisch geprägt und reflektieren und produzieren eine Abfolge verschiedener sozialer Ordnungen. In Anlehnung an die von Lefebvre eingeführte Triade der Raumproduktion stellte Burckhardt ein Interaktionsmodell auf, das ebenfalls aus »drei Analysekriterien, drei Konzeptionen von Raum, die sich gegenseitig durchdringen« (Fezer 2014: 12), besteht (vgl. Abb. 2). Daraus »entwickelt [er] eine Kritik der statischen Planungslogik sauberer Problemlösungen« (ebd.: 11). Burckhard bezeichnet die zusammenwirkenden Momente seines Interaktionsmodells als Politik, Umwelt und Mensch, mit denen er sich konkret auf die Momente der Raumproduktion Lefebvres bezieht. Abb. 2: Momente der Raumproduktion als Interaktionsmodell nach Burckhardt (2014b: 45)

Eigene Darstellung

7

So schreibt Burckhardt explizit auch »von Altvater Lefebvre« (Burckhardt 1985: 304).

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Burckhardt untersucht die einzelnen Beziehungen der drei Aspekte Politik, Umwelt, Mensch und macht deutlich, dass »das Bauen [...] wieder Teil des gesamten Prozesses der Veränderung und der Gestaltung der Umwelt werden [muss]« (Burckhardt 2014a: 45). Die Entschlüsselung der Beziehungen dieser drei Aspekte zueinander zeigt, dass sie weder hierarchisch festgelegt noch losgelöst voneinander betrachtet werden können. Das Verhältnis von Politik und Mensch beispielsweise sei häufig geprägt von der Vorstellung, die Politik löse die Probleme der Menschen (ebd.: 32). Dabei würden einzelne, konkrete Lösungen erarbeitet und umgesetzt. Diese konkreten Lösungen, die auf der Grundlage klar definierter Problemlagen basierten (die Lösung für bspw. das Problem des Alterns etwa sei das Altersheim (ebd.)), seien jedoch keine »tatsächliche Bearbeitung [...] des Problems« (ebd.: 33). Stattdessen handele es sich um Einzellösungen, welche die Komplexität des Problems reduzierten. Um mit der Vielschichtigkeit eines Problemfalls umgehen zu können, sind nach Burckhardt keine »direkten Problemlösungen« (ebd.) gefragt, sondern »Strategien, d.h. das Ergreifen von mehreren Maßnahmen, die auf verschiedenen Wegen das Ziel, das gewünschte, herbeiführen« (ebd.). Die politische Ebene hat nach Burckhardt einen »Ableger […] und das ist der Fachmann, der Gestalter, der Architekt, der Planer, der konsultiert wird« (ebd.). Damit der Architekt eine möglichst klare ›Lösung‹ liefern kann, »muss er ein exaktes Programm haben, dann wird seine Arbeit schon gut sein« (ebd.: 34). Ein solches Raumprogramm, das die Grundlage für den Entwurf darstellt, ist sozusagen die in Zahlen und Mengen ausgedrückte Beschreibung des Menschen. Angesprochen hiermit ist die implizite oder explizite Anthropologie der Planung. Der Mensch »wird einmal festgelegt, damit man das ›U‹ [die Umwelt] danach gestalten kann« (ebd.: 35). Das sei jedoch ein großer Fehler, denn »die Gestaltung des U hat einen eminenten Einfluss auf das M [den Menschen]« (ebd.). Nicht ein einmal festgelegtes Menschenbild hat demnach die Planung zu bestimmen; vielmehr ist danach zu fragen, in welche Richtung menschliches Leben und Zusammenleben durch die Einrichtung einer lebenswerten Umwelt gestaltet werden kann.8 Solche determinierenden Programme bilden aber regelmäßig die Grundlage für architektonische Entwürfe. Damit haben sie die Tendenz, »zu eindeutigen Nutzungen zu führen, d.h. ein Gebäude gilt als umso richtiger und besser, als es nur einem einzigen und keinem anderen Zwecke dienen kann« (ebd.: 39). Das scheint jedoch in Anbetracht der Tatsache, dass sich die Nutzungen von Gebäuden im Laufe der Zeit ändern, ein wenig nachhaltiger Ansatz zu sein (ebd.: 40). Aus diesem Grund bestimmt nach Burckhardt die Qualität eines Gebäudes nicht dessen determinierte Nutzung, sondern vielmehr eine (potenzielle) Mehrfachnutzung, »eine gewisse

8

Dies zeigt sich im Großen (etwa der Planung von Idealstädten) wie im Kleinen (etwa der Einrichtung des eigenen Badezimmers).

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Polyvalenz der Räume« (ebd.), die in der Landschaftsarchitektur bereits Raumverständnisse prägt und einen entsprechenden Umgang mit sich bringt.9 Die mögliche Überlagerung von Nutzungen, die Polyvalenz, macht dasjenige aus, was Stadt, aber eben auch Landschaften und Gebäude sind bzw. sein können: Sozial produzierte Orte, die entsprechend jeweils gegenwärtiger Vorstellungen und Bedürfnisse veränderbar, gestaltbar und anpassbar sind. Gerade die Polyvalenz eines Gebäudes und/oder einer Landschaft sorgt für ihre Nachhaltigkeit – im Sinne (anderer) zukünftiger Nutzungsmöglichkeiten.

B AUPRINZIPIEN FÜR L ANDBAHNHÖFE RURBANE A LLMENDEN

ALS

Die Differenzierung in urbane und rurale Räume ist aus planerischer Perspektive bezogen auf die Lebensweisen beinahe nicht mehr möglich. Lefebvre spricht von einem urban tissue (Lefebvre 1970), das sich über den gesamten Globus ausbreitet. Zur Beschreibung dieser vielschichtigen Landschaftszusammenhänge wird aus verschiedenen Perspektiven zunehmend der Begriff ›rurban‹, als Zusammensetzung von urban und rural verwendet (u.a. Balk 1945; Bauer/Roux 1976; Vöckler 2006; Pretterhofer/Spath/Vöckler 2010; Arch+ 2017; Langner/Frölich-Kulik 2018). Verschiedene Praktiken, die ursprünglich als typisch ›urban‹ oder ›rural‹ verstanden und beschrieben wurden, werden mittlerweile unabhängig von ihrer räumlichen Bindung und Zuschreibung praktiziert – auch wenn die Kategorien von Stadt und Land nach wie vor Gültigkeit tragen (vgl. Kersting/Zimmermann 2015; Wüstenrot Stiftung 2015). Es zeigt sich, dass aus dieser Perspektive auch die ländlichen Gegenden der Logik urbanen Lebens folgen: Arbeitsweisen, Alltagsabläufe, politische Verwaltungen entsprechen denen der Ballungsgebiete. Gleichzeitig finden Praktiken, die üblicherweise dem ländlichen Leben zugeschriebenen wurden, in den Ballungszentren zunehmend Aufmerksamkeit. Die Allmende, als ursprünglich bäuerliches, Subsistenz sicherndes Organisationsmodell, wird dabei zunehmend als Strategie zur Nutzung von Stadträumen vorgeschlagen (Harvey 2013; Dellenbaugh et al. 2015; Stavrides 2016; Pelger/Kaspar/ Stollmann 2016; Arch+ 2018). Allmenden sind »das im Besitz einer Gemeinschaft befindliche Land innerhalb einer Gemarkung« (Thiem 2019:201); sie bezeichnen also den »gemeinschaftlichen Besitzanteil an einer Ressource« (Pelger/Kaspar/

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So beschreibt der Geograph und Soziologe Olaf Kühne polyvalente Landschaften wie folgt: »Polyvalente Landschaften umfassen polyfunktionale Nutzungen, eine Fläche unterliegt mehreren gesellschaftlichen Nutzungen, polyvalente angeeignete physische Landschaften sind somit charakteristischerweise simultane Räume.« (Kühne 2012: 149)

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Stollmann 2016: 2). Städtische Brachen werden in diesem Rahmen neu interpretiert und durch eine alternative, nicht von institutioneller Ebene geplante Organisationsstruktur re-konfiguriert. Im Ergebnis entstehen räumliche Strukturen, die den Bedürfnissen und Veränderungen der Nutzer angepasst werden. So finden sich bspw. in städtischen Brachflächen Strukturen des Urban Gardenings als selbstverwaltete Gemeinschaftsgärten. Die Nutzerinnen und Nutzer sind zugleich die Produzentinnen und Produzenten des Raumes und verwalten ihn entsprechend ihrer Vorstellungen und Wünsche. Das Organisations- und Bewirtschaftungsmodell der Allmende bildet gerade im Kontext moderner Lebenswelten und Problemstellungen eine neue Möglichkeit. Die heutige urbane Gesellschaft ist geprägt von »Ressourcenverknappung, Kapitalisierung vieler Lebensbereiche, Segregation und kultureller Diversifizierung« (ebd.: 28). Einerseits geht es um die natürlichen Ressourcen wie Rohstoffe, Wasser- und Luftqualität. Auf der anderen Seite fehlt es vielerorts an sozialen Ressourcen wie Kindergartenplätzen, Schulen oder Arztpraxen – unabhängig von Stadt und Land. Für die Bewältigung dieser Herausforderungen kann die Funktionsweise von Allmenden ein »hochrelevantes Modell« (ebd.) darstellen, denn sie »sind eine Beziehung zwischen Menschen und den von ihnen kollektiv als essentiell für ihre Existenz beschriebenen Bedingungen.« (Stavrides 2017: 15) Das heißt auch, das sie zugleich eine Beziehung ausdrücken und definieren (ebd.). Wie bereits erwähnt, wird das Prinzip der Allmenden gegenwärtig zunehmend auf städtische (Frei)Räume übertragen. Diese Bewegungen hin zu städtischen Allmenden gehen zurück auf David Harvey, der von der »Erschaffung der urbanen Allmende« (Harvey 2013: 127) spricht. Sie zielt darauf ab, »Produktion, Verteilung, Austausch und Konsum so zu organisieren, dass sie menschlichen Wünschen und Bedürfnissen auf antikapitalistischer Basis gerecht werden« (ebd.: 160). Damit bezieht er sich einerseits auf die Untersuchungen zu Allmenden von Elinor Ostrom (1999) und andererseits auf das von Lefebvre geforderte »Recht auf Stadt« (Lefebvre 2016 [1968]), aus dem seine Theorie zur sozialen Produktion von Raum, erstmals erschienen 1974, entstanden ist. Leerstehende Gebäude können mit ihren materiellen, sozialen und imaginären Potentialen als ›Allmenderessourcen‹ nach Ostrom (1999) interpretiert werden. Sie sind Möglichkeitsräume, die vielfältige Nutzungen zulassen, wenn die Ressource nach bestimmten »Bauprinzipien« (Ostrom 1999: 117) organisiert ist. Nach Ostrom gibt es davon acht: (1) Allmenderessourcen brauchen »klar definierte Grenzen«. Das betrifft sowohl den physisch-baulichen Rahmen als auch die quantitative Begrenzung der Nutzer/innen. (2) Lokale Bedingungen und die Aneignungs- und Bereitstellungsregeln müssen aufeinander abgestimmt sein.

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(3) Diejenigen, die Teil der Allmenderessource sind, »können über Änderungen der operativen Regeln mitbestimmen«. (4) Der Zustand der Allmenderessource wird überwacht. (5) Es gibt »abgestufte Sanktionen« im Falle von Verletzungen der operativen Regeln. (6) Im Falle von Konflikten können neutrale Dritte kostengünstig und rasch zur Schlichtung hinzugezogen werden. (7) Das Organisationsrecht der Allmenderessource »wird von keiner externen staatlichen Behörde in Frage gestellt«. (8) Wenn die Allmenderessource in »mehrere Ebenen eingebettet« ist, dann sind »Aneignung, Bereitstellung, Überwachung, Durchsetzung, Konfliktlösung und Verwaltungsaktivitäten […] in Unternehmen […] organisiert« (ebd.: 117f.). Damit ist das Prinzip der Allmende eine Herausforderung auf der politischen, sozialen und planerischen bzw. entwerferischen Ebene (Pelger/Kaspar/Stollmann 2016: 29). Nach Lefebvre stehen in einer solchen raumstrukturellen Organisationsform die Ebenen gesellschaftlicher Wirklichkeit in einem Gleichgewicht – soziale Aushandlungsprozesse führen zu räumlich-materiellen Veränderungen, die gleichzeitig auch durch bestimmte Raumvorstellungen repräsentiert und von diesen beeinflusst werden. Die Beschaffenheit des physischen Raumes – sei es ein Freiraum oder ein Gebäude – ermöglicht und beeinflusst ein bestimmtes soziales Miteinander (vgl. dazu Steets 2015). Die zentralen Voraussetzungen für ein ›come-back‹ des traditionellen sozial-räumlichen Prinzips der Allmende sind die Bereitstellung und Gewährleistung der Räume von politischer Seite und die Bereitschaft der Beteiligten zur Mitgestaltung durch lokale und regionale Initiativen. Damit ist die »[Allmende] sowohl als intuitives handlungsbasiertes, das Zusammenleben der Menschen organisierendes Prinzip zu verstehen, genauso ist sie aber auch strategischer Raumplan unter sich verschlechternden politischen und Umweltbedingungen« (Pelger/Kaspar/Stollmann 2016: 29).

Vor diesem Hintergrund stellen leerstehende Landbahnhöfe Ressourcen dar, die einerseits Netzzusammenhänge auf infrastrukturelle Weise herstellen können, die aber andererseits Räume sozialer Mitbestimmung und -gestaltung bieten. Als Brachen im Raumgeschehen können sie im Sinne Burckhardts auf sehr verschiedene Weisen interpretiert und re-konfiguriert werden. Leerstehende Landbahnhöfe haben das Potential, als vernetzte Allmenderäume die Entwicklung in ländlichen Regionen erheblich mit zu beeinflussen: Mit dem gegebenen Schienensystem liegen bereits die physischen Voraussetzungen vor, um über die bloße infrastrukturelle Verbindung hinaus funktionale und sozial-räumliche Zusammenhänge herstellen zu können. Vor diesem Hintergrund

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können Landbahnhöfe als rurbane Allmenden10 verstanden und nutzbar gemacht zu werden, denn sie sind Teil einer Stadt und Land verbindenden Infrastruktur, deren Gebäudestruktur gemeinschaftliche Tätigkeiten ermöglicht. Und sie sind identitätsstiftende Orte im Raumgeschehen, deren Bedeutung als gesellschaftliche Zentren revitalisiert werden können, da die Gebäude als Erinnerungsfiguren präsent sind. Als Knotenpunkte eines Allmende-Ressourcensystems können sie ein Netzwerk beleben und neu etablieren, das sich von den Knotenpunkten ausgehend entwickeln und verteilen kann. Vor diesem Hintergrund und in Anlehnung an die traditionelle Allmendeorganisation sowie die von Ostrom aufgestellten Bauprinzipien bedarf es auf der politischen und administrativen Ebene eines neuen Verständnisses von und des Umgangs mit Landbahnhöfen mitsamt deren Verbindungen. Als Alternative zum Leistungsstaat schlägt Oswalt den Gewährleistungsstaat vor, der »nicht mehr alle Dienstleistungen selbst [erbringt], sondern […] Voraussetzungen [schafft], die es den Bürgern ermöglichen, sich produktiv für das je örtliche Gemeinwesen zu engagieren« (Oswalt 2013: 13). Damit müsse der Staat nicht alles vorhalten, aber stattdessen gewährleisten und garantieren, »dass jeder einen adäquaten Zugang zu den benötigten Diensten hat« (ebd.: 14). Ein solches Konzept ist aber auch der Kritik ausgesetzt. So weist bspw. die Soziologin Claudia Neu darauf hin, dass »der Wert der gleichen Lebensverhältnisse ein zentrales, normatives und strukturelles Prinzip des sozialen Rechtsstaates der demokratischen Wohlfahrtsgesellschaft und des sozialen Zusammenhaltes repräsentiert« (Neu 2016: 8). Beim Öffnen von bestehenden Prinzipien gelte es darauf zu achten, dass die »›reale‹ Ländlichkeit« nicht von »im schlechtesten Fall ›Bullerbü in Braun‹, Homogenitätsfantasien und einfache[n] Antworten auf komplexe Fragen« überholt werde (ebd.: 9). Vor dem Hintergrund der von Oswalt aufgezeigten benötigten Möglichkeitsräume zur produktiven Mitgestaltung im Raumgeschehen, aber auch der damit verbundenen Risiken, wie Neu sie benennt, können für die Wiederbelebung der in einem Zusammenhang stehenden Landbahnhöfe in Anlehnung an die Bauprinzipien Ostroms (s.o.) Mindestanforderungen formuliert werden, um sie als Allmenderessourcen nachhaltig zugänglich zu machen:

10 Silke Helfrich hat den Begriff der rurbanen Allmende – der »rurban commons« – in ihrem Vortrag IMAGINING THE (R)URBAN COMMONS IN 2040 im Rahmen der Konferenz IASC THEMATIC CONFERENCE ON URBAN COMMONS in Bologna am 7.11.2015 verwendet. Grund für die Erweiterung des Begriffes von ›urbanen Allmenden‹ (Harvey 2013: 127) zu ›rurbanen Allmenden‹ ist aus ihrer Sicht die notwendige Verbindung des Urbanen mit dem Ruralen. Dabei geht es sowohl um das Zusammenfügen von Praktiken als auch um das infrastrukturelle Verbinden von Stadt und Land. Siehe dazu Helfrich (2015).

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(1) Innerhalb der gegebenen baulichen Grenzen der Gebäude und ihrer feststehenden Lage am Schienensystem können die sich in bestimmten Interessengemeinschaften (in rechtlichen Formen wie z.B. Vereinen, Genossenschaften o.ä.) zusammengeschlossenen Nutzer/innen als ›Ressourcenbewirtschafter/innen‹ eigenverantwortlich regeln, welchen festzulegenden konkreten Funktionen die Gebäude dienen, wie der Kreis der Nutzungsberechtigten gefasst wird und welche spezifischen Zugänge dafür zu schaffen sind. (2) Landbahnhöfe stellen ›in Reihe geschaltete‹ Möglichkeitsräume dar. Damit das Potential dieser Räume auch im Verbundsystem genutzt werden kann, müssen die konkreten lokalen Bedingungen für die Aneignung der einzelnen Bahnhöfe (also Funktionsbestimmung, Kreis der Nutzer/innen, Besonderheiten der jeweiligen ›Bahnhofsortschaften‹ etc.) bei der Festlegung der Aneignungs- und Bereitstellungsregelungen berücksichtigt und miteinander abgestimmt werden. Solche Festlegungen kommen insbesondere in Betracht, wenn sich die Bedingungen entlang eines Streckensystems so unterscheiden, dass die Zugangsvoraussetzungen für die Nutzung der Gebäude tatsächlich differenzierte Regelungen erfordern. Zweifellos unterscheiden sich in dieser Hinsicht zum Beispiel bereits schon nach ihren Funktionen und damit den erforderlichen Zugängen Betreuungseinrichtungen oder medizinische Zentren einerseits und touristische Einrichtungen oder ›Kulturanker‹ andererseits. Diese lokalen Festlegungen sind nicht nur wesentliche Grundlage für die tatsächlich mögliche Qualität der Nutzung des vorhandenen Systems Bahnhof-Schiene, sondern werden zugleich auch Ergebnis einer in der Alltagspraxis gebotenen Neujustierung des unter Punkt 1 bezeichneten Bauprinzips ›Grenzen‹ sein müssen. (3) Der gegebene Verbund der Bahnhöfe ermöglicht grundsätzlich eine über das einzelne Bahnhofsgebäude hinausgehende operative Managementstruktur. Entscheidend ist, dass sowohl die Festlegung dieser Struktur als auch der dazugehörigen Regelungen – und ihre Änderungen – durch diejenigen erfolgt, die selbst als Teil der Allmenderessource anzusehen sind, also die Nutzer/innen der Gebäude. Das schließt ein, die in Abhängigkeit von der gewählten Rechtsform der Organisation maßgeblichen rechtlichen Rahmen und Entscheidungsregularien einzuhalten bzw. anzuwenden. (4) Eine solche übergeordnete Managementstruktur ermöglicht zugleich die effektive Organisation der Überwachung des Zustandes sowohl der Gebäude und ihrer funktionsabhängigen Ausstattung als auch des Schienensystems. Wirtschaftliche Beauftragungen von entsprechenden Fachunternehmen gehen so einher mit abgestimmter Schwerpunktsetzung hinsichtlich des ökonomischen Einsatzes. Zugleich kann damit auf Nachjustierungen hinsichtlich der Funktionen und davon abhängigen Reichweiten der einzelnen Bahnhofsnutzungen reagiert werden. (5) Abhängig von der jeweils gewählten Rechtsform der organisierten Interessengemeinschaften/Nutzergruppen sind nicht nur die danach vorgesehenen Mechanismen der Willensbildung innerhalb der organisierten Gemeinschaft, sondern auch die

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rechtsstaatlich vorgesehenen Konfliktlösungsregularien und -mechanismen anzuwenden. Insoweit geht es auch um die Anwendung bestehender rechtlicher Vorgaben und Möglichkeiten. Die Ausfüllung der jeweiligen vom Gesetzgeber bzw. der Rechtsprechung eingeräumten Gestaltungsspielräume (z.B. Satzungsbestimmungen des rechtsfähigen Vereins § 25 BGB, Statut einer Genossenschaft §§ 6 bis 8 GenG, Vertrag über die Bildung einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts §§ 705, 709 BGB) gehört zu den originären, am Organisationszweck orientierten Aufgaben der Vertretungsorgane der jeweiligen Rechtsform. (6) Das Vorstehende konkretisiert sich nicht zuletzt darin, dass diejenigen, die sich den Raum aneignen, »raschen Zugang zu kostengünstigen lokalen Arenen« (Ostrom 1999: 118) haben, um Konflikte zu lösen bzw. zu schlichten: Die Gebäude und Schienensysteme sind an verschiedene verwaltungs- und ortsspezifische Strukturen angeschlossen bzw. Verwaltungseinheiten zugeordnet; Fachämter lokaler Gebietskörperschaften (z.B. Bauämter) sind zugänglich und vorgesehene Ansprechpartner. (7) Die Bindung der kommunalrechtlich vorgesehenen ›lokalen Arenen‹ an das Gesetz sichert zugleich wesentlich, dass die beschriebene Nutzung der Landbahnhöfe von staatlicher Seite nicht in Frage gestellt wird, solange deren konkrete Ausgestaltung rechtmäßig ist. (8) Grundvoraussetzung für die angesprochenen Szenarien ist eine grundlegende politische Weichenstellung, mit der überhaupt ermöglicht wird, die Landbahnhöfe als ›in Reihe geschaltete‹ Möglichkeitsräume im Sinne einer Allmenderessource wahrzunehmen. Als solche sollten sie in eine Gemeinschaftsstruktur (z.B. Vereine, Genossenschaften...) eingebettet sein, die in verschiedene Zuständigkeitsbereiche strukturiert und nach kollektiv anerkannten Regularien organisiert ist. Die Übertragung der Bauprinzipien Ostroms ließe zu, eine gemeinschaftliche Organisationsform wie die der Allmende auf die leerstehenden, ehemals identitätsstiftenden Gebäude und deren gegebene Schienenverbindung zu übertragen und nutzbar zu machen. Die Voraussetzung dafür ist, dass auf der einen Seite die Gebäude und die Strecken erhalten und instandgesetzt werden und auf der anderen Seite Nutzungsalternativen eingeräumt werden, die über »Standardöffnungsklauseln […] flexible, lokal spezifische Lösungen ermöglich[en]« (Oswalt 2013: 13). Das bedeutete für den Bahnverkehr entlang wenig genutzter Strecken, dass neben der Personenbeförderung auch der Gütertransport in ein und demselben Fahrzeug ermöglicht würde und auch alternative Schienenfahrzeuge auf den Strecken erlaubt wären. Für die Gebäude hieße das, dass nicht mehr »rigide Mindestgrößen die Nutzung […] für neue Aufgaben […] verhindern« (ebd.) und die Gebäude für vielfältige Bedarfe ertüchtigt werden dürfen. Dafür bedarf es einer staatlichen Verantwortung, das gegebene Netz zu erhalten, bereitzustellen und gemeinschaftliche Entwicklungen zu unterstützen. Dazu gehört auch eine vorausschauende und strategische Immobilien- und Flächenpolitik – das

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können z.B. kommunale und überkommunale Flächenzuweisungen oder ein kommunales Vorkaufsrecht mit Konzeptvergaben an lokale Initiativen sein. Die Anerkennung von Landbahnhöfen als Allmenderessourcen für lokale Initiativen durch Kommunen, Zweckverbände oder Gemeinden würde den unzähligen und beklagten Abrissen der scheinbar nutzlos gewordenen Gebäude entgegen wirken und gleichzeitig starke Impulse im ländlichen Raum geben. Für eine gemeinsame Nutzung und damit für die Ausschöpfung der Ressource als Allmende bedarf es daher einer Planung als Gemeingut über die konkreten rechtlichen Besitz- und Eigentumsverhältnisse hinaus, was über interkommunale Regelungen (z.B. Vorkaufsrecht, vorsorgende Flächenpolitik o.ä.) erfolgen kann. Das Verständnis eines zusammenhängenden, im wahrsten Sinne des Wortes an einem Strang ziehenden Bündnisses von Allmenderäumen würde den Austausch, die gegenseitige Unterstützung und die Nutzung von gemeinsamen Ressourcen erlauben.

Z UKUNFTSRESSOURCE L ANDBAHNHOF Nach Burckhardt (2014) haben Planende die Aufgabe, Strategien zu finden. Um die Gebäude so zu ertüchtigen, dass sie in dem vorhandenen System vielfältige Nutzungen ermöglichen, müssen Politik, Planung und Nutzer so aufeinander bezogen handeln, dass den jeweils anderen genug Spielraum eingeräumt wird, selbst Entscheidungen zu treffen: Die Voraussetzung für die Entwicklung solcher Allmenderessourcen im Sinne einer nachhaltigen, sozialen Zukunftsressource ist der Erhalt und die Bereitstellung des gesamten Netzsystems von politischer Seite. Gerade in Regionen, in denen Bereiche der Daseinsvorsorge zunehmend Schwierigkeiten begegnen, können Themen wie Mobilität, Gesundheit oder Bildung nicht ausschließlich marktwirtschaftlich orientiert sein, sondern es müssen Spielräume für die Nutzer/innen ermöglicht werden, die sich als Teil des Netzsystems für genau dieses und seine Entwicklung engagieren wollen, können und sollen. Für die Entwicklung dieses Netzsystems als nachhaltige Allmenderessource sind planerische Strategien erforderlich, die die Potentiale des Netzzusammenhangs erkennbar machen, indem strategischplanerische Ideen als Voraussetzung für vorsorgende Flächen formuliert werden. Erst im Zusammenspiel der drei Ebenen Politik, Planung und Nutzung kann eine rurbane Allmenderessource entstehen. Da nicht nur vereinzelte Gebäude von Leerstand betroffen sind, sondern entlang von Bahnstrecken im ländlichen Raum die Landbahnhöfe wie aufgereiht leer stehen, wird deren Potential als sozio-kulturelles und strukturbildendes Element verstärkt. Indem die Gebäude zu einem Ressourcensystem zusammengefasst werden, sind unter dessen Schirm vielfältige Belebungen in Anlehnung an bereits stattfindende

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Um-Nutzungen und damit Einflussmöglichkeiten von Landbahnhöfen denkbar.11 Als Allmenderessourcen anerkannt und genutzt, wird sowohl von der lokalen Bevölkerung als auch von globaler, staatlicher Ebene ein Aushandeln und Verändern bestehender Strukturen und deren Organisation verlangt.12 Landbahnhöfe sind eine Zukunftsressource für den ländlichen Raum. Das entworfene Verständnis von Landbahnhöfen als rurbane Allmenderessourcen kann eine Antwort auf die vielen Fragen zum Umgang mit leerstehenden, ehemals repräsentativen Gebäuden im ländlichen Raum sein. Nicht der individualisierte Entwurf steht im Mittelpunkt, sondern das Zusammenspiel von Politik, Umwelt und Mensch. Erst dann kann ein nachhaltiger sozialer Raum produziert und reproduziert werden. Die Interpretation von Landbahnhöfen als Teil eines gemeinschaffenden13 Ressourcensystems erlaubt soziale Raumproduktion, die auch neue Formen des sozialen und gesellschaftlichen Miteinanders zulässt. Es ist »ein Feld für Erfindungsreichtum, für Formen des Schaffens, die alle möglichen Bereiche menschlicher Tätigkeit umfassen – Lebensmittel, Gesundheit, Bildung, Kultur, Güterproduktion, Stadtbau usw.« (Stavrides 2017: 58).

11 Siehe für einige beispielhafte und prototypische Nutzungsszenarien, die den Landbahnhof entlang eines Versorgungsnetzes (das die Bereitstellung von medizinischer Versorgung und generationsübergreifenden Grundversorgungseinrichtungen bereitstellt), einer Erholungsstrecke (die verschiedene Erholungsdienstleister zur Stärkung des regionalen Tourismus bündelt) oder eines Nachbarschaftsbandes (bei dem die generationsübergreifend bewohnbaren Bahnhöfe entlang der Strecke ein Siedlungsband bilden) konzipieren, Frölich-Kulik (2021: 148-172). 12 Damit wäre im Verständnis nach Burckhardt allerdings auch ein problematischeres Unterfangen begründet. Denn im Gegensatz zu den »›reinen‹ Projekten« (Burckhardt 2014a: 51) – die sich auf die Monofunktionalität des Raumes beziehen – ist diese hier angestrebte Polyfunktionalität risikoreicher. »Komplizierte Konglomerate aus vielfach verflochtenen Nutzungen […] [sind] niemals unangreifbar und deshalb auch nicht, nach heutiger Auffassung, im Rate präsentierbar« (ebd.). 13 Der Begriff ›Gemeinschaffen‹ beschreibt einen »Prozess der Aushandlung von Unterschieden und Konflikten zwischen Individuum, Gemeinschaft und Gesellschaft. Ein Prozess der räumlichen Organisation der Beziehungen zwischen Produktion und Reproduktion, Eigentum und Zugang zu Ressourcen. Ein Prozess, in dem Solidaritätsnetzwerke geknüpft und die individuellen und kollektiven Rechte neu definiert werden.« (Arch+ 2018: 1).

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In neuer Frische Die Sommerfrische Schwarzatal als regional selbstbestimmte Form des historischen Phänomens Sommerfrische R ICHARD P ANTZIER

Im 21. Jahrhundert wird auf ›das Ländliche‹ in Form verschiedener ortsunabhängiger Praktiken positiv Bezug genommen: Die gärtnerische (Gruppen-)Betätigung oder der Konsum von Lifestyle-Magazinen, die die Darstellung von – und Anleitung zu – als ›ländlich‹ konnotierten Tätigkeiten zum Inhalt haben (vgl. Baumann 2018: 233; Dünckmann 2019: 30), sind dabei an keine siedlungsstrukturelle Raumkategorie gebunden. Mit der Aufwertung des Ländlichen wird im diskurstheoretischen Sinne jedoch auch das Wohnen in der Großstadt als idealer Lebensentwurf hinterfragt (vgl. Baumann 2018: 62). Dies hat zum einen ökonomische Gründe: Die große Mehrzahl deutscher Großstädte wächst seit einigen Jahren kontinuierlich, was einen Grund für den dortigen hohen Entwicklungsdruck sowie steigende Boden- und Mietpreise darstellt (Eltges/Maretzke 2020: 3). Darüber hinaus spielen zum anderen aber auch gesundheitliche Aspekte eine zunehmende Rolle, wie etwa anhand von globalen Entwicklungen wie dem fortschreitenden Klimawandel, der in den Breitengraden Mitteleuropas zu besonders heißen und trockenen Sommern führt, sowie der Covid-19Pandemie deutlich wird.1 Dem Ländlichen scheinen dabei auch als konkretem Raum wieder Potenziale zugeschrieben zu werden, die im Kontrast zur Erzählung ländlicher Räume als »Verlierer« (Kühnel 2014: 173) spätmoderner Entwicklungen stehen – und sie als potenzielle zukünftige Lebensorte auszeichnen. In diesem Zusammenhang ist es nicht verwunderlich, dass ein alter und bereits »in Vergessenheit« (Mai 2004: 7) geratener Begriff wieder in Gebrauch kommt, der

1

Eine kritische Haltung im Hinblick auf die Sehnsucht nach dem Ländlichen im Zuge der Ausbreitung der Pandemie bezog etwa der Sozialwissenschaftler Samuel Salzborn (vgl. Trebing 2020).

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als Gegenpart zur dichten, aufgeheizten und zuweilen krankmachenden (Groß-) Stadt assoziiert wird: Die Sommerfrische war ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine in Mitteleuropa verbreitete, sich vom Großbürgertum in städtischbürgerliche Kreise ausweitende Praxis eines Ortswechsels von der Stadt in ländliche Gegenden während der Sommerzeit. Die Hochphase dieses Phänomens kann um 1900 herum ausgemacht werden (vgl. Schmidt-Lauber 2014: 16), wobei der Begriff spätestens ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stark an Bedeutung verlor2 und durch andere Bezeichnungen, etwa Ferien und Urlaub, ersetzt wurde (vgl. Haas 1994: 74; Mai 2003: 9; Schmidt-Lauber 2014: 16).3 Allerdings scheint die Bezeichnung Sommerfrische nun gerade in den letzten Jahren ein Revival zu feiern, indem wieder vermehrt mit ihr geworben wird, etwa für Ausflugslokale oder Pensionen.4 Die wiedergewonnene Aktualität der Sommerfrische wird nicht zuletzt durch ein Projekt im Rahmen der Internationalen Bauausstellung (IBA) Thüringen aufgezeigt: Die Sommerfrische Schwarzatal greift die Geschichte des Schwarzatals als historische Sommerfrischeregion am Rand des Thüringer Waldes auf und nimmt sie als Ausgangspunkt für eine Neuinterpretation dieses Phänomens im 21. Jahrhundert. Das Projekt wird dabei wesentlich durch das Wirken des lokalen Vereins Zukunftswerkstatt Schwarzatal e. V. getragen, der sich seit 2011 als zunächst trägerlose Initiative für neue Impulse in der Region engagiert und seit 2014 mit der IBA Thüringen zusammenarbeitet. Wie der heutige Vereinsvorsitzende Burkhardt Kolbmüller feststellt, habe das Schwarzatal nach der politischen Wende 1989 einen gleich mehrfachen Niedergang erlebt: Die demographische Entwicklung sei negativ gewesen, da junge Leute vermehrt in die Städte abgewandert und darüber hinaus Viele auf der Suche nach Arbeitsplätzen in die alten Bundesländer gegangen seien (vgl. Kolbmüller 2020a: 01:49-02:485).6 Parallel dazu blieben auch die meisten

2

So kommt der österreichische Historiker Hanns Haas (1994: 67) zu dem Schluss: »Nur noch vergilbte Photos und Briefe erinnern an die verlorene Kulturform Sommerfrische.«

3

Dabei scheint diese nahezu in Vergessenheit geratene Bezeichnung jedoch während dieser Jahrzehnte im österreichischen Raum als einem Nachfolgestaat der Habsburgermonarchie noch gebräuchlicher gewesen zu sein als etwa in der Bundesrepublik (vgl. Schmidt-Lauber 2014: 12; Payer 2018b: 77), was sich in verstärkten Forschungsaktivitäten zur Sommerfrische, einer breiten Verwendung im touristischen Marketing sowie einer generell positiven Konnotation des Begriffs widerspiegelt (vgl. Gebhart 2018).

4

Dies offenbart bereits eine kurze Internetrecherche zum Begriff, ggf. ergänzt durch einen frei wählbaren Orts- bzw. Regionalbezug.

5

Die Zeitcodes in den Kurzverweisen dieses Textes beziehen sich auf eine im Zuge des Interviews mit Burkhardt Kolbmüller erstellte Audiodatei.

6

Das Gebiet des heutigen Landkreises Saalfeld-Rudolstadt, in dem das Schwarzatal hauptsächlich verortet ist, hatte zwischen 1990 und 2012 mit 20,94 % nach dem Landkreis

IN

NEUER

F RISCHE

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Tourist/innen nach 1989 der Region fern, die in der Zeit der DDR ein sehr nachgefragtes Reiseziel im zentralstaatlich gelenkten und subventionierten Fremdenverkehr darstellte (vgl. ebd.: 32:14-32:54). Diese Entwicklungen hatten Kolbmüller zufolge zu einer negativen Selbstwahrnehmung sowie internen Streitigkeiten innerhalb des Schwarzatals geführt, denen die Zukunftswerkstatt durch eigens initiiertes Handeln etwas entgegensetzen wollte (vgl. ebd.: 14:21-14:40). Bevor jedoch im Näheren auf die Sommerfrische Schwarzatal als gegenwärtige Form der Sommerfrische mitsamt ihren Akteur/innen, Repräsentationen und Zukunftskonzepten eingegangen werden soll, wird an dieser Stelle eine kurze Abhandlung über die historische Sommerfrische gegeben; als solche wird die Sommerfrische des 19. und 20. Jahrhunderts im Folgenden bezeichnet werden.

D IE

HISTORISCHE

S OMMERFRISCHE

Die Ethnologin Brigitta Schmidt-Lauber beschreibt mit Sommerfrische einen »längere[n], stationäre[n] Aufenthalt eines vertrauten, zumeist familiär verbundenen Personenkreises während der Sommermonate an einem in der Regel wiederholt aufgesuchten Ort« (2014: 21, Hervorhebung im Original).7 Die hervorgehobenen Begriffe zeigen die Wichtigkeit der Zeit in Form ihrer andauernden und zyklisch auftretenden Dimension auf. Ebenfalls als Sommerfrischen bezeichnete man schließlich die bevorzugt aufgesuchten und zum Zweck dieses Aufenthaltes umgestalteten Orte, deren zuständige Instanzen dies auch als Eigenbezeichnung zur Steigerung der äußeren Wahrnehmungs- und Anziehungskraft ihrer Gemeinden übernahmen. Diese beiden zentralen Aspekte des mehrdeutigen Begriffs der Sommerfrische – sowohl das individuelle und soziale Verhalten im Sinne einer kulturellen Praxis wie auch die Materialisierung im Sinne einer physisch-funktionalen Anpassung der Orte – sollen im Folgenden beleuchtet werden. Bei erstgenannter Bedeutung stehen dabei die teilnehmenden Gesellschaftsschichten im Vordergrund der Betrachtung, die der Kulturwissenschaftler und Historiker Andreas Mai als konsumierende Gruppe innerhalb der Sommerfrische bezeichnet (vgl. Mai 2004: 39). Für die Darstellung der materialisierten Orte ist dagegen insbesondere das Wirken lokaler Akteur/innen in den jeweiligen Zielorten von Interesse, die nach Mai den wesentlichen Teil zur Produktion der Sommerfrische beitragen (vgl. ebd.).

Altenburger Land den zweithöchsten Bevölkerungsrückgang unter den thüringischen Landkreisen zu verzeichnen (TMBLV 2014: 16). 7

Der zeitliche Rahmen des Aufenthalts war dabei flexibel und dehnbar. So hält SchmidtLauber etwa fest, dass die Sommerfrische »sich für manche sogar von Pfingsten bis September [erstreckte]« (Schmidt-Lauber 2014: 17; vgl. auch Haas 1994: 67).

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Die Kulturpraxis der historischen Sommerfrische Die Möglichkeit, über einen längeren Zeitraum einen Zweitwohnsitz finanzieren und zumindest teilweise von der Erwerbsarbeit fernbleiben zu können, war gerade in den Anfängen der Sommerfrische ab Mitte des 19. Jahrhunderts einem exklusiven Publikum vorbehalten. Eine sorgenfreie finanzielle Situation mit der Möglichkeit zur Ansammlung von Rücklagen sowie eine gewisse arbeitsweltliche Flexibilität bildeten gleichermaßen Voraussetzungen zur Teilhabe an der Sommerfrische. »Auch wenn sich […] die bürgerlichen Arbeitsbiographien heterogener zeigten als sie heute oftmals dargestellt werden, handelte es sich doch vorwiegend um sogenannte freie Berufe oder leitende Angestellte. Auch KünstlerInnen, die über ein entsprechendes familiäres und finanzielles Netzwerk verfügten, müssen hier als potentielle SommerfrischlerInnen genannt werden.« (Stöttinger 2014: 285)

Obwohl die Sommerfrischen häufig in der relativen Umgebung der Wohnorte der Sommergäste zu finden waren, gestaltete sich der sommerliche Ortswechsel zunächst als sehr aufwändig; war er doch nur mit Hilfe von Kutschen zu bewerkstelligen, in denen mehr oder weniger der gesamte bürgerliche Haushalt – gegebenenfalls mitsamt dem Hauspersonal – transportiert werden musste (vgl. Haas 1992: 369; SchmidtLauber 2014: 17). Die bürgerliche Ehefrau bildete dabei das »fraglose[] Zentrum der Sommerpraxis« (Schmidt-Lauber 2014: 17), da sie zusammen mit den Kindern permanent in der Sommerfrische weilte, während der Ehemann in vielen Fällen nur am Wochenende dazukam und ansonsten – wenn nötig – der Erwerbsarbeit nachging (vgl. ebd.; Haas 1994: 67). Die Durchsetzung der Eisenbahn ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts brachte schließlich eine einschneidende Erleichterung in der Reiseplanung mit sich. Mit ihrem festen Fahrplan führte sie zu einer Rationalisierung der Sommerfrische: »Erst mit dieser technischen Revolution wird das Reisen mit engem Zeit- und Finanzbudget planbar und für breite Schichten überhaupt denkbar und erschwinglich […]. Die Eisenbahnverbindung stellt sicher, dass die Familienväter pünktlich am Montagmorgen in ihre Dienststellen zurückkehren können, während die Frauen und Kinder im ländlichen Idyll zurückbleiben.« (Lippmann 2016: 63)8

8

Mit der Eröffnung der Schwarzatalbahn im Jahr 1900 konnte schließlich auch die gleichnamige, bis dahin verkehrlich kaum erschlossene Region von einer größeren Zahl an Sommerfrischler/innen erreicht werden.

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Indem sich ihr Publikum verbreitern konnte, wurde die Sommerfrische zu einer weithin anerkannten Reiseform. »Wer immer konnte, entfloh der sommerlichen heißen Stadt«, stellte der Historiker Hanns Haas (1994: 67) für die Wiener Stadtgesellschaft fest. Brigitta Schmidt-Lauber verwendet für diese gesellschaftliche »Diffusion« (Kühn 1994: 50) des Phänomens den Begriff der »Demokratisierung« (SchmidtLauber 2014: 15f.) des sommerlichen Reiseverhaltens. Diese kann jedoch im historischen Kontext nicht als abgeschlossen gelten, da sie selbst in der Hochzeit der Sommerfrische zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht die breite Arbeiter/innenschicht erreichte. Die Gründe dafür sind vor allem in deren Benachteiligung in den arbeitsweltlichen Bedingungen zu suchen, die in den allermeisten Fällen gerade – wenn überhaupt – ein (Über-)Leben sicherten. Die Ethnologin Silke Göttsch macht jedoch auch darauf aufmerksam, dass der proletarischen Bevölkerung schlicht keine gesellschaftliche Legitimation für eine Erholung zugestanden wurde, wobei den aufkommenden Massenmedien eine meinungsbildende Rolle zuteilwurde: »In den Anstandsbüchern, ebenso wie in frühen Reiseführern, in den Familienzeitschriften oder der geschmackbildenden Literatur wurden die Bedingungen der bürgerlichen Arbeitswelt in drastischen Farben ausgemalt, um die Notwendigkeit der Erholung herauszustellen; die Arbeitsbedingungen in den Fabriken hatten in solchen Überlegungen allerdings keinen Platz.« (Göttsch 2002: 10)

Da es sich eben nicht jede/r leisten konnte, demonstrierten die Sommergäste bereits mit der bloßen Fahrt in die Sommerfrische ihre Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Gruppe, die sich damit gleichermaßen gegenüber den weniger privilegierten Gesellschaftsschichten abgrenzte. Ein in der Sommerfrische an den Tag gelegter »demonstrative[r] Müßiggang« (ebd.: 9) diente der Distinktion gegenüber den in der Regel körperlich schwer arbeitenden Unterschichten, sowohl dem städtischen Proletariat wie auch dem überwiegenden Teil der Landbevölkerung. Einzig Kultur- und Kunstschaffende nahmen die Auszeit verstärkt als Phase kreativen Schaffens wahr (vgl. Payer 2018b: 97). Ansonsten wurde die Zeit mit leichten Tätigkeiten wie dem Spazierengehen gefüllt; der Tagesrhythmus wurde in erster Linie durch das Einnehmen der Mahlzeiten sowie das Kaffeetrinken bestimmt (vgl. Haas 1992: 369). Das angemessene und anständige Verhalten wurde dabei wiederum durch die aufkommenden Massenmedien wie illustrierte Zeitschriften oder Reiseführer vermittelt. Indem sie sich an eine bürgerliche Leser/innenschaft richteten, halfen sie dabei, »den Raum zu strukturieren und rationale […] Regeln für die ›bürgerliche‹ Lebensführung zu verbreiten« (Mai 2004: 13). Stilprägend war etwa die mit »illustriertes Familienblatt« unterschriebene Zeitschrift DIE GARTENLAUBE, die als eines der ersten deutschsprachigen Massenmedien gilt.

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Nicht zuletzt wurde die eigene gesellschaftliche Zugehörigkeit durch die Ausprägung und Zurschaustellung eines ästhetischen Geschmacks demonstriert, der die gesamte Ausgestaltung des sommerlichen Aufenthaltes von der landschaftlichen Einbettung und Ausstattung der Unterkunft bis zum Kleidungsstil, der Frisur und zu tragenden Accessoires umfasste und dem »expressiven Ausdruck des sozialen Selbst« (Lippmann 2016: 94) diente. Abb. 1: Sommergäste in familiärer Konstellation, Schwarzatal.

Foto zur Verfügung gestellt von der Zukunftswerkstatt Schwarzatal e.V.

Sommerfrische als »schillernder Begriff« (Mai 2003: 7) war von Beginn an in der Lage, bestimmte Vorstellungen zu transportieren, die sich mit den aufgesuchten Orten, und dadurch mit dem eigenen sommerlichen Landaufenthalt, verbanden. Diese Bedeutungen änderten, vervielfältigten und überlagerten sich im Laufe der Zeit. Zunächst wurde vor allem von Vertreter/innen einer medizinischen Klimatologie die heilende Wirkung bestimmter Orte aufgrund ihrer Lage oder klimatischen Eigenschaften ausgemacht und postuliert (vgl. ebd.: 104; Lippmann 2016: 193; Payer 2018b: 89). Mit der Entdeckung des Tuberkulose-Erregers 1882 (vgl. Mai 2004: 10) konnte sich zwar die Überzeugung, dass sich Krankheiten über Miasmen, also schlechte Luft, übertragen und entsprechend mit einem bloßen Ortswechsel geheilt werden können, in medizinischer Hinsicht nicht halten. Dennoch hatten die von den Klimatologen medial verbreiteten Raumbilder bereits die gesellschaftliche Vorstellung über diese Räume geprägt, sodass der sommerliche Ortswechsel aufs Land zwar nicht mehr mit der Behandlung akuter Krankheiten, jedoch zumindest mit der Vorbeugung von potenziell auftretenden Beschwerden, sowie als Abhilfe einer allgemeinen Nervosität, Trägheit oder Melancholie, verbunden wurde (vgl. ebd.: 11; Lippmann 2016: 202). Damit avancierte ein Bedürfnis nach Erholung zum allgemein

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gültigen Zweck der Sommerfrische und das anfänglich medizinische Leitbild »[reduzierte] sich letztlich auf eine allgemeine Wertschätzung von ›Landluft‹« (Mai 2004: 13). Somit diente der jährlich wiederholte Landaufenthalt zu nicht weniger als der Aufrechterhaltung der Arbeitsfähigkeit in den bürgerlichen Berufen. Mit dem Aufenthalt in der Sommerfrische wurden jedoch auch weitergehende Bedeutungen verbunden. Die auf dem Land im Vergleich zu den Großstädten anderen Sinnesreize – aber auch eine veränderte Aufnahme dieser Eindrücke – führten zu einer Intensivierung der sinnlichen Wahrnehmung. So wurde etwa die Schärfung bzw. Entlastung des Geruchs- bzw. Gehörsinns betont (vgl. Payer 2018a); Ruhe war eine häufig hervorgebrachte Zuschreibung in der Selbstdarstellung von Sommerfrischeorten (vgl. Haas 1994: 68). Wie der Historiker Peter Payer betont, suchten die Sommergäste nicht das »Exotisch-Andere«, sondern die Rückgewinnung von Eigentlichkeit (vgl. Payer 2018b: 97), wobei durch die veränderte Sinneswahrnehmung der sommerliche Landaufenthalt mit einem authentischen Leben assoziiert wurde und mit Vorstellungen von Natürlichkeit einherging: »Als ›natürlich‹ und ›ursprünglich‹ vermutete Orte avancierten zu Sehnsuchtsorten […]. Der Urlaubsort wird zum psychosozialen Freiraum für eine verloren geglaubte Natürlichkeit.« (Schmidt-Lauber 2014: 20) Die zumindest nach außen repräsentierte intakte Kleinfamilie schien dieser vorgestellten Natürlichkeit zu entsprechen, woran auch weitere Assoziationen von Harmonie und Idylle in der Sommerfrische anknüpften (vgl. Mai 2004: 13). Diese manifestierten sich wiederum in den Vorstellungen über eine schöne umgebende Landschaft in der Sommerfrische. Gesundheit, Natürlichkeit und Harmonie bildeten somit ein Amalgam aus Bedeutungen, das weit über ein medizinisches Leitbild hinausging und sich in erster Linie als außerhalb der (Groß-)Städte konstituieren ließ. Mit der Konstruktion dieses Bedeutungsgehalts wurde die Stadt gleichermaßen als das genaue Gegenteil mitkonstruiert (vgl. Lippmann 2016: 204). Da in der Sommerfrische jedoch »völlig unterschiedliche soziale Schichten« (Payer 2018b: 82) aufeinandertrafen, deren lebensweltliche Gegensätzlichkeit kaum größer hätte sein können, wurde das idealisierte Bild des Sommers mitunter durch die Konfrontation mit den tatsächlichen Erlebnissen getrübt. Die im Vorhinein durch die mediale Verbreitung von Raumbildern geschürte hohe Erwartungshaltung etwa an die Ruhe in der Sommerfrische führte dazu, dass sich eine übermäßige Sensibilität und gleichermaßen eine hohe Störanfälligkeit gegenüber akustischen Reizen herausbildete (Payer 2018a: 220). Zudem hatte selbstredender Weise auch das Land seine eigenen Sinnesreize aufzuweisen, an die die Sommergäste nicht gewöhnt waren. Insbesondere die aktiv betriebene Land- und Forstwirtschaft verdeutlichte darüber hinaus in eindrücklicher Weise, dass die agrarisch und anderweitig geprägte Kulturlandschaft keineswegs eine unberührte Natur darstellte, sondern erst langfristig durch menschliche Arbeit entstehen konnte (vgl. Küster 2016: 17); und dass ein Großteil der ländlichen Bevölkerung von diesen Erträgen wirtschaftlich abhängig war. Nicht zuletzt führten die auf Privatheit und

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Innerlichkeit ausgerichteten Motive der Sommerfrische dazu, dass die Sommergäste die eigenen Einflüsse ihres Reiseverhaltens unterschätzten oder gar nicht berücksichtigten. Denn mit der steigenden Anzahl an Sommerfrischler/innen in einem Ort verstärkten sich auch die urbanen Reize etwa des Verkehrs, wodurch das Bild des Landes als diametraler Kontrast zur Stadt zunehmend verschwimmen konnte (vgl. Payer 2018a: 220; Payer 2018b: 91). Trotz dieser Widersprüche zeigten viele Sommergäste durch ihre Rückkehr im darauffolgenden Jahr die Notwendigkeit des bürgerlichen Rituals Sommerfrische auf; in erster Linie demonstrierten sie damit die Zugehörigkeit zu einer privilegierten Gesellschaftsschicht. Die Materialisierung der historischen Sommerfrische Nach den Darstellungen der Kulturpraxis wird sich der folgende Abschnitt den Vorgängen der physisch-materiellen Einrichtung von Gemeinden als Zielorte des sommerlichen Ortswechsels widmen. Um als Reiseziel infrage zu kommen, hatten ländliche Orte zunächst einige Grundvoraussetzungen zu erfüllen. Dazu zählten eine als attraktiv wahrgenommene und medial vermittelte Landschaft mit einer gewissen Höhenlage, wobei insbesondere die waldreichen Mittelgebirge um 1900 zum Inbegriff der Sommerfrischelandschaft avancierten (vgl. Lippmann 2016: 199). Weiterhin mussten die Gegenden auch für breite Schichten von den (Groß-)Städten aus erreichbar sein. Hierfür spielte der Ausbau der Eisenbahnverbindungen ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine zentrale Rolle, wodurch viele zuvor kaum erschlossene Regionen wie das Schwarzatal in genereller Hinsicht neue wirtschaftliche Perspektiven erhielten.9 Im Falle der Erfüllung dieser allgemeinen Bedingungen zur Herausbildung einer Sommerfrische waren es lokale Akteur/innen und Einzelpersonen, die sich verschiedenen Aufgaben in der Ausrichtung ihrer Orte als Sommerfrische verschrieben. Als wesentliche Triebfeder für solch ein lokales Engagement kann ein diffuses ökonomisch-motiviertes Motiv ausgemacht werden: Die eigene wirtschaftliche Lage des Ortes wurde als problematisch bewertet oder man fürchtete, zukünftig von vergleichbaren Gemeinden in der Entwicklung abgehängt zu werden (vgl. Mai 2004: 14). Dadurch entstand eine Konkurrenzsituation unter den potenziellen Ferienorten, welche durch die weitestgehende Zurückhaltung staatlicher Organe in der Regulierung des Fremdenverkehrs begünstigt wurde (vgl. ebd.: 17). Der Bewerbung des eigenen Ortes als Sommerfrische waren in der Konsequenz kaum Grenzen gesetzt (vgl. ebd.: 18).

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Die einzelnen Gemeinden hatten gleichwohl auf den Eisenbahnbau nur bedingt Einfluss, da zumindest im Deutschen Kaiserreich um 1900 die teils stark zersplitterten Kleinstaaten und Fürstentümer für den Bau verantwortlich waren, die nicht selten wiederum auf finanzielle Unterstützungen von größeren Staaten angewiesen waren.

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Zur baulich-funktionalen Profilierung als Sommerfrische musste zunächst eine umfassende touristische Infrastruktur errichtet werden, wobei dies in bisher nicht touristisch genutzten Orten eine tiefgreifende Umwidmung der öffentlichen Funktionen erforderlich machte (vgl. ebd.: 14). Die benötigten Infrastrukturen waren technischer und verkehrlicher Art, schlossen aber auch Freizeiteinrichtungen sowie ein ausreichendes Netz an Übernachtungsmöglichkeiten und Dienstleistungen mit ein (vgl. Haas 1992: 368). Mit der Verbreiterung des Sommerfrische-Publikums wurde die Einmietung in privat geführte Unterkünfte und Pensionen bei den Gästen sehr beliebt und bildete den zentralen Berührungspunkt zu den Einheimischen. Daher mag es verwundern, dass der Wahrnehmung und Beschreibung der lokalen Bevölkerung in den historischen Zeitdokumenten kaum Beachtung geschenkt wurde (vgl. Mai 2004: 13). Hans-Christian Lippmann hat herausgearbeitet, wie in den persönlichen Berichten der Sommergäste die Einheimischen in das harmonische Bild der Umgebung mit einbezogen wurden. In dieser Lesart als »gute« und »dienstfertige Seele[n]« (Lippmann 2016: 183) werden sie »zur räumlichen Staffage in der Ornamentik der Landschaft« (ebd.: 181). Abb. 2: Kurpark in Schwarzburg, Schwarzatal.

Foto zur Verfügung gestellt von der Zukunftswerkstatt Schwarzatal e.V.

Die Wichtigkeit der Aufrechterhaltung dieser Rollenzuschreibungen führte in der Konsequenz dazu, dass ein persönlicher Austausch auf Augenhöhe zwischen Gästen und Einheimischen trotz der Vertrautheit und Kontinuität der Reisepraxis

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Sommerfrische nicht erwünscht war und sich höchstens auf Ausnahmen beschränkte (vgl. Haas 1994: 68; Lippmann 2016: 183).10 Eine weitere Form der baulichen Infrastruktur, die für jede Sommerfrische geradezu notwendig wurde, war ein System aus Wegen, Blickbeziehungen und Rastmöglichkeiten zur selbstständigen Erschließung und Aneignung der Orte und Landschaften. Für derlei Umgestaltungen waren lokale Verschönerungsvereine zuständig, die das Erscheinungsbild ihrer Gemeinden und deren Umgebung den ästhetischen und funktionalen Bedürfnissen der Sommergäste anzupassen versuchten: Sie »sorgten für Alleen, Promenaden, Spazierwege, Rastplätze, Lusthäuser, Pavillons, Parkbänke und Beleuchtung« (Haas 1994: 68). Die von den Vereinen geschaffene Landschaft der Sommerfrische, die die verschiedenen Raumelemente zu einer ästhetisch wahrnehmbaren Ganzheit verbanden, konnte anschließend in der medialen Selbstdarstellung der Gemeinden beschrieben und ihr angemessener Gebrauch angeleitet werden. So empfiehlt etwa ein Reiseführer für den Ort Schwarzburg im Schwarzatal: »Von verschiedenen Punkten des Wildparks aus gewähren Lichtungen reizvolle Durchblicke auf Schloß und Dorf Schwarzburg. An solchen Stellen sind in der Regel Sitzgelegenheiten angebracht, um die lieblichen Bilder in Ruhe beschauen zu können. Der auserlesenste Standort für einen Blick auf Schwarzburg ist der Trippstein, da man hier sämtliche Reize in ein allerliebstes, durch die den Talkessel umgebenden Berge abgeschlossenes Bild gefaßt, mit einem Male überschaut. Ihm gilt darum in der Regel der erste und auch der letzte Besuch.« (Ortsverein Schwarzburg o.J.: 8)

Die Verschönerungsvereine setzten sich aus der lokalen Bevölkerung zusammen, wobei ihre Mitglieder in der Regel einflussreiche Positionen innerhalb der Dorfgemeinschaften bekleideten und ein gewisses Eigeninteresse an der touristischen Inwertsetzung mitbrachten (vgl. Haas 1994: 72; Lippmann 2016: 53). Für städtische Akteur/innen und Reiseratgeber bildeten die ländlichen Eliten begrüßenswerte Anknüpfungspunkte (vgl. Michelis 1876, zitiert nach Lippmann 2016: 181). Da die Etablierung der Gemeinden als Sommerfrischen in der Tat einem »Fortkommen« (Mai 2004: 19) in der Entwicklung entsprach, deckten sich die Interessen der ländlichen Eliten mit denen der städtisch-bürgerlichen Schichten. Lokale Widerstände und Unstimmigkeiten konnten sich vermutlich aufgrund dieser Dominanz in den meisten Fällen gar nicht erst entwickeln; zumindest gibt es in der Sekundärliteratur über die Sommerfrische wenige Hinweise darauf. Nur sehr vereinzelt werden von Haas (1994: 71) und Göttsch (2002: 12) Situationen geschildert, in denen überkommene

10 Ein weiteres Indiz dafür bildet der Umstand, dass für die Vermittlung von Sommergästen an Privatvermietende in der Regel eigens damit befasste Fremdenverkehrsvereine zuständig waren (vgl. Mai 2004: 18f.).

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Funktionen und Nutzungsmuster mit den neuen Anforderungen an den touristischen Gebrauch der Sommerfrische in Konflikt geraten. Besonders sichtbar wurden die Veränderungen in der Flächennutzung anhand der regen Neubautätigkeiten in den beliebten Sommerfrischen. Der Schriftsteller Karl Emil Franzos beschrieb das Dorf Schwarzburg bei einer Reise im Jahr 1901 mit folgenden Worten: »Das Dorf Schwarzburg gleicht hundert anderen in Thüringen, höchstens dass es der vielen neuen, für die Sommergäste in städtischem Stil aufgeführten Häuser wegen noch etwas unhistorischer, man möchte sagen künstlicher aussieht als viele seinesgleichen.« (Franzos [1901] 2008: 19f.)

Indem die Architektur dieser neuen Wohnhäuser, Pensionen und Hotels sich an den Bedürfnissen der Sommerfrischler/innen orientierte, stellte sie einen Kontrast zur dörflichen Architektur vorangegangener Zeiten dar, die häufig noch landwirtschaftliche Funktionen beherbergten (vgl. Haas 1994: 67). Der Zweck eines sich gern als Villa präsentierenden Sommerfrische-Hauses dagegen war die möglichst exklusive Wahrnehmung der umgebenden Landschaft. Aus diesem Grund war die im eklektischen Stil des Historismus gehaltene sowie »phantasiereiche Varianten« (ebd.: 69) des Fachwerks zitierende Architektur in der Regel mit umfangreichen Loggien, Wintergärten, Balkonen und Veranden ausgestattet, die, wie es der Historiker Wolfgang Kos formulierte, den für die Sommerfrische bezeichnenden mentalen »Gleitzustand zwischen Drinnen und Draußen« (Kos 1995: 17) schufen. Abb. 3: Hotel Trippstein, Schwarzburg.

Foto zur Verfügung gestellt von der Zukunftswerkstatt Schwarzatal e.V.

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Neben der kulturellen Neubewertung der Landschaft waren die in manchen Orten regen Neubautätigkeiten auch Ausdruck einer Kommerzialisierung derselben und des Bodens im Allgemeinen. Dabei wussten bestimmte Teile der lokalen Bevölkerung die dynamischen Entwicklungen für ihre Zwecke zu nutzen: »[N]eue villenartige Gebäude von Einwohnern, die vom beginnenden Fremdenverkehr profitierten, [zeugten] vom plötzlichen Wohlstand örtlicher Eliten.« (Mai 2004: 18) Selbst die Möblierung der Landschaft mit Bänken und Tischen zeigte mitunter den neuen Stellenwert privaten und damit exklusiven Besitzes an (vgl. Göttsch 2002: 12). Die Einrichtung der Sommerfrische konnte somit für die betreffenden Gemeinden eine ideelle und materielle Umformung mit sich bringen, bei der sich lokale wie städtische Akteur/ innen an den massenmedial verbreiteten Raumbildern eines idealen Erholungsortes orientierten. Durch neue, städtisch-bürgerlich geprägte Werte sowie das von außen eingebrachte Kapital konnten sich die materiellen Produktionsbedingungen grundlegend verändern, wobei dies auch die sozioökonomische Zusammensetzung innerhalb der Sommerfrischeorte umfasste (vgl. Mai 2004: 19). Ein hoher Bekanntheitsgrad als Sommerfrische brachte dabei zwar grundlegend neue wirtschaftliche Perspektiven für die ländlichen Gemeinden mit sich. Damit richteten sich diese jedoch mitunter sehr einseitig auf die Beherbergung der Gäste aus und schnitten ihre Funktionen darauf zurecht. Dies wurde ihnen dann zum Verhängnis, wenn die Gäste aufgrund überregionaler Ereignisse ausblieben (vgl. Hübner 1994; StAR Nr. 1283). Obwohl der im Zuge der Etablierung einer Sommerfrische erfolgte Kulturtransfer einseitig von den Städten auf die betreffenden ländlichen Gegenden überging, nahm die ländliche Bevölkerung keine durchweg passive Rolle in diesem Prozess ein. Wie gezeigt werden konnte, war die Einrichtung von Sommerfrischen vielmehr vom Engagement lokaler Eliten abhängig, deren Handeln nach Andreas Mai »veranschaulicht, wie stark materielle Interessen in kulturelle Tätigkeiten eingebracht wurden« (Mai 2004: 18). Die Produktion der historischen Sommerfrische wurde somit von städtisch-bürgerlichen Akteur/innen und ländlichen Eliten gemeinsam vorangetrieben, die ihren übereinstimmenden Interessen entsprechend agierten. Wenngleich sich die touristisch angeeigneten Zielorte wie auch die Reisepraktiken der historischen Sommerfrische stets heterogen darstellten, war in ihren erfolgreichsten Beispielorten eine Kommerzialisierung, Modernisierung und nicht zuletzt auch eine Urbanisierung11 zu konstatieren. Dies offenbart die Dominanz städtischer Produktions- und Kulturmuster sowie einen Status der Fremdbestimmung durch die Abhängigkeit ländlicher Orte vom Reiseverhalten städtischer Ober- und Mittelschichten. Dass die Einrichtung der Gemeinden als Sommerfrischen nur unter freiwilliger Mithilfe

11 Der Geograph Gerhard Henkel bezeichnet mit Urbanisierung einen »Sozialisationsvorgang, der beinhaltet, daß sich städtische Lebensformen, Verhaltensweisen, Bauformen, Kulturgüter und Ideen im ländlichen Raum ausbreiten.« (Henkel 1999: 36-37)

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lokaler Akteur/innen vonstattengehen konnte, stellt keinen Widerspruch zu dieser eindeutigen Tendenz der Ungleichheit dar, sondern zeigt vielmehr die Wirkmächtigkeit der städtischen Dominanz auf.

D IE S OMMERFRISCHE S CHWARZATAL Mit dem Wiederaufgreifen des Begriffs der Sommerfrische stellt das Projekt Sommerfrische Schwarzatal der Internationalen Bauausstellung (IBA) Thüringen gegenwärtig einen Bezug zur Zeit der historischen Sommerfrische und der mit ihr eng verbundenen Geschichte des Schwarzatals her. Dabei ist jedoch vor allem die DDR-Zeit den älteren Bewohner/innen sehr lebhaft in Erinnerung: »Die das Leben in den Dörfern heute prägende Generation der über 50-Jährigen verbindet mit Sommerfrische-Architektur Erinnerungen an die Jugendzeit in Orten, die in der Urlaubszeit mehr Gäste als Einwohner*innen hatten.« (Kinsky 2018: 35)

Nicht die Exklusivität der Sommerfrische, sondern ein zentralstaatlich gesteuerter und subventionierter Tourismus für die in staatlichen Betrieben arbeitende Bevölkerung war prägend für diese Zeit. Dabei wurde die überkommene Architektur der Jahrhundertwende häufig nachgenutzt, etwa in Form von FDGB-Erholungs- und Betriebsferienheimen, in denen die Verpflegung mit inbegriffen und der hohen Zahl an Urlauber/innen wegen in der Regel in mehreren Durchgängen organisiert wurde (vgl. Lanzendorf 1995: 13). Bereits in den 1980er Jahren nahm die Anzahl der Gäste im Schwarzatal ab (ebd.: 14); nach 1989 kam der Fremdenverkehr in der Region aufgrund der nicht fortgeführten staatlichen Organisation sowie der über Nacht um ein Vielfaches größeren Auswahl an Reisezielen für die Bevölkerung der ehemaligen DDR nahezu vollständig zum Erliegen. Ein allgegenwärtiges Gefühl, dass »hier nichts mehr los ist« (Kolbmüller 2020a: 32:46-32:50), stellte sich in der Region ein, wobei viele ehemalige Hotels und Pensionen überflüssig wurden und in der Folge leer standen (ebd.: 03:02-03:12). Repräsentationen der Sommerfrische Schwarzatal Der hohe Leerstand auch von repräsentativen und ortsbildprägenden Gebäuden aus der Zeit um 1900 war schließlich Anstoß für die IBA Thüringen, die lokale Initiative Zukunftswerkstatt Schwarzatal 2015 zur Teilnahme am Forschungsfeld Baukultur konkret des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) einzuladen. In der Arbeitsgemeinschaft mit Planer/innen und Gestalter/innen wurde der Aktionstag Sommerfrische konzipiert und durchgeführt, aus dem heraus sich der inzwischen

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jährlich stattfindende Tag der Sommerfrische etablieren konnte. Ziel der Veranstaltung ist eine – auch nach außen getragene – Auseinandersetzung mit dem architektonischen Erbe im Schwarzatal, wofür einige meist leerstehende Gebäude der Öffentlichkeit zur Besichtigung zugänglich gemacht werden. Nachdem die Zukunftswerkstatt den Tag anfänglich selbstständig organisierte, wird sie dabei seit 2017 von der IBA unterstützt. Der lokale Verein ist jedoch nach wie vor für die interne Organisation des Sommerfrische-Tages zuständig, indem er die aktive Einladung und Koordination der Mitwirkenden, die sich aus den verschiedenen Dörfern des Schwarzatals zusammensetzen, übernimmt. »Das Ziel ist, dass wir alle Orte auch mit einbeziehen, was in den letzten zwei Jahren [2018 und 2019] so halbwegs geklappt hat.« (Ebd.: 11:54-12:16) Dabei kann stets auf dem Kreis der Beteiligten des vorangegangenen Jahres aufgebaut werden, wodurch ein wachsendes regionsinternes Netzwerk von am Tag der Sommerfrische Mitwirkenden entsteht. Entsprechend sei laut dem Vereinsvorsitzenden Burkhardt Kolbmüller die Beteiligung aus der Bevölkerung rege und umfasse inzwischen bis zu 200 Personen (ebd.: 07:22-07:40). Abb. 4: Erzähl-Café im leerstehenden Hotel »Zur Linde« in Sitzendorf zum Tag der Sommerfrische 2017.

Foto: Dörthe Hagenguth. Zur Verfügung gestellt von der Zukunftswerkstatt Schwarzatal e.V.

Die Mitwirkenden steuern verschiedene Formate von Veranstaltungen bei, die sich insbesondere mit der Geschichte des Fremdenverkehrs im Schwarzatal sowie der dortigen Landschaft und traditionellen Handwerken auseinandersetzen. Dies geschieht etwa in Form von (Foto-)Ausstellungen in geöffneten Häusern, Führungen, geführten

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Wanderungen sowie Erzähl-Cafés, die nach persönlichen Erfahrungen fragen und somit insbesondere die DDR-Zeit beleuchten. Die Veranstaltungsprogramme der letzten Jahre offenbaren eine große Dynamik. So fanden mit den Jahren in immer mehr Dörfern Veranstaltungen statt, wobei auch die Bedeutung eines künstlerischen und gastronomischen Rahmenprogramms zunimmt.12 Prägend für das kulinarische Angebot ist der seit 2018 an verschiedenen Orten stattfindende Lange Tisch der regionalen Produkte, an dem Erzeugnisse aus der Region präsentiert und verkostet werden können. Um das Format auch abseits des Tages der Sommerfrische zu etablieren, wurde von der Zukunftswerkstatt in Zusammenarbeit mit der IBA, der Thüringer Tourismus GmbH sowie der Betreiberin eines Ladengeschäfts in Bad Blankenburg eine Anleitung zur Organisation eines solchen Langen Tisches der regionalen Produkte in Form einer Broschüre erarbeitet (vgl. Zukunftswerkstatt/Thüringer Tourismus GmbH o.J.). Abb. 5: Langer Tisch der regionalen Produkte beim Tag der Sommerfrische 2019 im Innenhof des Schlosses Schwarzburg.

Foto zur Verfügung gestellt von der Zukunftswerkstatt Schwarzatal e.V.

Ein kurzer Einblick darin offenbart, dass die ästhetischen Anforderungen zum Ambiente der Veranstaltung gegenüber den sonstigen Fragen der Organisation wie der Einladung regionaler Produzent/innen einen beachtlichen Stellenwert einnehmen.

12 Lediglich im Jahr 2020 wurde diese Steigerung nicht aufrechterhalten, woran die COVID19-Pandemie vermutlich einen ausschlaggebenden Anteil hat.

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Die »Checklisten« gehen bis hin zu den infrage kommenden Mustern der Tischdecken und »schöne[n] […] Mülleimer[n]« (ebd.: 5) sowie zur Empfehlung der Buchung von Musiker/innen zur »Hintergrundmusik« (ebd.: 3). Die idyllische Inszenierung des einheitlichen Erscheinungsbildes der angebotenen Lebensmittel und ihrer Präsentation dient schließlich der Erzeugung von nach außen getragenen Bildern der Region, wie der Hinweis auf die Pressearbeit als entscheidendes Kriterium für einen Langen Tisch der regionalen Produkte verrät (vgl. ebd.: 4). In der Tat nimmt der Tag der Sommerfrische in der Berichterstattung über das Schwarzatal, die seit der Zusammenarbeit der Zukunftswerkstatt mit der IBA Thüringen auch in überregionalen Zeitungen präsent ist, einen zentralen Stellenwert ein (vgl. Zessnik 2019; Süddeutsche Zeitung 2019; Westfälische Rundschau 2019). Kolbmüller konstatiert, dass es mit Hilfe der IBA bereits gelungen sei, den Bekanntheitsgrad der Region wesentlich zu steigern (vgl. Kolbmüller 2020a: 53:2453:51). Gleichzeitig sei ihm und der Zukunftswerkstatt jedoch genauso wichtig, wie es um die interne Atmosphäre im Schwarzatal bestimmt ist. Deshalb gehe es darum, »die Leute, die da sind, und neue Leute, die jetzt auch dazugekommen sind, mit einem positiven Leitbild oder Sommerfrische als Rahmen zusammenzubringen. Und der Tag der Sommerfrische ist dann der Punkt […], an dem sich das in Aktivitäten äußert« (ebd.: 53:5954:48).

Die Sommerfrische als »wesentliches Identifikationselement und Gemeinschaftsprojekt des Schwarzatals« (Rothe 2019: 17) erfährt mit dem Tag der Sommerfrische somit eine Verdichtung auf mehrfacher Ebene: Durch die dezentrale, aber dennoch gemeinsame Veranstaltung wird zum einen die interne Zusammengehörigkeit der einzelnen Dörfer und ihrer Einwohner/innen zum Schwarzatal unterstrichen. Gleichzeitig werden durch eine forcierte Öffentlichkeits- und Pressearbeit Bilder der Region als Einheit geschaffen, die in der Folge die Außensicht auf die Region prägen. Ebenfalls eine Form der Repräsentation des Projekts Sommerfrische Schwarzatal und somit der Darstellung der Region nach außen bildet der Internetauftritt »sommerfrische-schwarzatal.de«. Dort wechseln sich kurze und informative Textfelder bspw. über die historische Sommerfrische mit großformatigen Fotos ab, wobei Letztere die Webseite dominieren: Sie zeigen Details der Natur im Schwarzatal in Form von Wald und Wasser sowie von teils beschädigten, offensichtlich leerstehenden und im Stil der Sommerfrische-Architektur gehaltenen Gebäuden. Jedes Foto besitzt eine zentral positionierte Bildbeschriftung mittels einer Wortgruppe, die aus je einem Adjektiv und Substantiv besteht. Die Wortpaare muten in ihrer Verbindung poetisch an, wobei Bezüge auf die Vergangenheit – »fürstlich«, »vergessen«, »Erbe« – zusammen mit Andeutungen eines Gefühls der Intimität – »verwunschen«, »versteckt«, »geheim«, »verträumt« (Zukunftswerkstatt o.J.) – ein romantisches Raumbild zeichnen.

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Abb. 6: Screenshot der Internetseite.

Screenshot: Zukunftswerkstatt o.J.

Passend zu dieser Grundstimmung heißt es, dass viele Häuser darauf warteten, »wiederentdeckt und erobert zu werden« (ebd.). Text und Abbildungen des Internetauftritts der Sommerfrische Schwarzatal bilden so einen starken Kontrast zwischen informativer Zurückhaltung und sinnlich-assoziationserweckenden Akzenten. Die dominierenden Fotos regen dabei zur Imagination des Schwarzatals an, indem sie die Benutzenden auf einer subtilen, emotionalen Ebene ansprechen, wohingegen die direkte Ansprache im Text fehlt. Damit ermöglicht die Internetseite insbesondere Menschen, denen das Schwarzatal bisher unbekannt ist, einen unvermittelten Zugang zur Region, der sich weniger aus der regionalen Geschichte und mehr aus der gegenwärtigen Form der Ästhetisierung ergibt. Leerstand und die Nutzung der Möglichkeiten Ein Blick auf die demografische Prognose sowie den allgemein feststellbaren Leerstand lässt zumindest vermuten, dass eine als positiv wahrgenommene Entwicklung im Schwarzatal auch vom Interesse und Engagement von bisher Außenstehenden und möglicherweise in die Region Zuziehenden abhängig sein wird. Eine Rückkehr des herkömmlichen Tourismus in größerem Maßstab erscheint hierbei jedoch als eine wenig realistische, geschweige denn wünschenswerte Strategie für den Erhalt der Bausubstanz. »Die Lösung des Problems ist wahrscheinlich nicht die Nachnutzung durch das klassische Hotel. Neue, alternative Nutzungen und Betreiberkonzepte – auch neben dem Tourismus – sind für die leerstehenden Häuser gesucht«, konstatiert

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die Mitarbeiterin der LEADER-Regionalgruppe Saalfeld-Rudolstadt13 Ines Kinsky (2018: 36). Potenziale für das Schwarzatal liegen Burkhardt Kolbmüller zufolge vor allem in einer langfristigeren Bindung von jüngeren Menschen aus den Städten an die Region, wie es durch die jährliche Wiederkehr auch in der historischen Sommerfrische praktiziert worden sei (vgl. Kolbmüller 2020a: 38:55-38:59). Junge Menschen würden sowohl der Überalterung der Region entgegenwirken als auch neue Erfahrungen, Tätigkeiten und Lebensentwürfe einbringen (vgl. ebd.: 47:30-48:17). Mit dem Haus Bräutigam e.V., dem Haus Döschnitz e.V. sowie der Gemeinschaft Gänsewiese (Genossenschaft i. G.) gibt es bereits einzelne Hausgruppen, die sich der Nachnutzung einzelner Gebäude verschrieben haben. Für die von außerhalb kommenden Gruppen spielt der lokale Verein Zukunftswerkstatt Schwarzatal eine zentrale Rolle als Ansprechpartnerin. Den vorher mit der Region meist wenig vertrauten (potenziellen) Zuziehenden könne man einen Rahmen bieten sowie das Signal senden, dass ihr Interesse trotz aller vorhandenen Hindernisse auf lokale Unterstützung und Wohlwollen stoße (vgl. ebd.: 1:12:32-1:12:41). Der Vereinsvorsitzende Burkhardt Kolbmüller zeigt sich optimistisch, dass das Interesse an einem wiederkehrenden Aufenthalt in ländlichen Regionen wie dem Schwarzatal gerade in den (Groß-)Städten zunehmen wird (vgl. ebd.: 1:20:531:21:09). Der alte Begriff Sommerfrische scheint dabei auch im 21. Jahrhundert eine Überlagerung verschiedener Bedeutungen zu implizieren, die »in den Menschen ohne viel Erklärung Bilder und Emotionen [auslösen]« (Kinsky 2018: 35). Als Hauptmotivationen für einen dauerhaften oder temporären Landaufenthalt kristallisieren sich für Kolbmüller – aus persönlichen Erfahrungen sowie im Zuge des Kontakts mit potenziellen Neunutzer/innen – ein als angenehm wahrgenommenes Klima auch im Sommer sowie die Kinderfreundlichkeit, Naturnähe und bessere Bezahlbarkeit nutzbarer Räumlichkeiten heraus; interessanterweise erhalten diese Eigenschaften ihre Plausibilität in erster Linie durch die Gegenüberstellung zur (Groß-)Stadt, wie die Darstellung Kolbmüllers vor Augen führt:

13 Das LEADER-Programm (Abkürzung für frz.: Liaison entre actions de développement de l’économie rurale) der Europäischen Union hat die niedrigschwellige Förderung von Tätigkeiten in ländlichen Räumen zum Ziel, die sich langfristig in positiver Weise auf die wirtschaftliche Entwicklung dieser Räume auswirken. Die Förderung wird dezentral innerhalb von LEADER-Regionen organisiert, wobei in jeder dieser Regionen eine regionale Aktionsgruppe (RAG) für die Bewilligung und Koordinierung der Förderanträge zuständig ist. Da in Thüringen die Einteilung der LEADER-Regionen weitestgehend den Grenzen der Landkreise entspricht, dient als Ansprechpartnerin für Förderaktivitäten innerhalb des Schwarzatals die RAG Saalfeld-Rudolstadt.

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»Mein […] Enkelkind ist jetzt zwei und wohnt in Leipzig […]. Sie kann nie allein aus dem Haus, da muss immer jemand mit ihr irgendwo hingehen […]. Das ist hier auf dem Dorf oder in diesen ländlichen Gegenden eine andere Sache. Da musst du auch aufpassen, da fahren auch Autos, aber die [Kinder] sind draußen. […] Dann kommt natürlich ein wachsendes Bedürfnis nach wieder Naturnähe [dazu]. In der Stadt gibt es zwar auch dies und das, aber das ist was anderes, als hier durch den Wald zu laufen. […] Und ein ganz anderes Thema ist, wenn du irgendein Business gründen willst, suchst du in Leipzig oder Berlin Räume […]. Und hier gibt es Immobilien für 10.000 Euro, die man sofort nutzen kann; [da] muss man was dran machen, aber wo das Dach dicht ist.« (2020a: 44:01-46:06)

Die Betonung des Stadt-Land-Gegensatzes, der als kulturelles Deutungsmuster nach wie vor aktuell und wirksam erscheint (vgl. Redepenning 2019), sowie auch einzelne Bedeutungsinhalte, insbesondere Familienfreundlichkeit, Naturnähe und die im Zuge des Klimawandels zeitgenössische Modifizierung der frischen Luft, weisen hierbei Parallelen zur historischen Sommerfrische auf. Im Rahmen einer Befragung mit Hilfe eines standardisierten Fragebogens konnten die bereits genannten drei Gruppen – der Haus Bräutigam e.V., der Haus Döschnitz e.V. sowie die Gemeinschaft Gänsewiese –, die derzeitig schon Gebäude im Schwarzatal umnutzen, nach ihrer internen Mitgliederstruktur sowie ihren zukünftigen Nutzungsvorstellungen befragt werden. Abb. 7: Haus Bräutigam mit freigelegtem Fachwerk, Schwarzburg.

Foto: Thomas Müller. Zur Verfügung gestellt von der Zukunftswerkstatt Schwarzatal e.V.

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Dabei zeigte sich, dass die Mitglieder aller drei Gruppen mehrheitlich aus Städten, in zwei der Fälle sogar aus einer Millionenstadt ins Schwarzatal kommen. Alle Gruppen wirken wesentlich selbst an der Instandsetzung ihrer Gebäude mit, wobei jedoch auch der Zugang zu Fördermitteln von Bedeutung ist. Die Befragten befürworteten zudem einen weiteren Zuzug von Menschen von außerhalb ins Schwarzatal, der sogar in den jeweiligen Nutzungsvorstellungen von Relevanz ist: So betrachten der Haus Bräutigam e.V. und der Haus Döschnitz e.V. ihre Gebäude als Orte temporären Wohnens und gemeinsamen Arbeitens, die sich auch durch Workshops oder Forschungsaktivitäten nach außen öffnen und als Anknüpfungspunkte zwischen Menschen aus der Stadt und dem ländlichen Raum dienen sollen. Alle Gruppen wollen andererseits auch die lokale Bevölkerung in ihre Nutzungen mit einbeziehen, sei es, indem sie lokalen Akteur/innen ihre Räumlichkeiten zur Verfügung stellen oder selbst öffentliche Angebote schaffen, die sich an die Dorfbewohner/innen und Nachbarschaften richten. Angedacht sind etwa ein Lebensmittelladen oder Café, ein Museum und die Veranstaltung öffentlicher Vorträge zu regionalen Themen wie Kulinarik und Handwerk (vgl. Haus Bräutigam 2020; Haus Döschnitz 2020; Gemeinschaft Gänsewiese 2020). Vor dem Hintergrund einer vorstellbaren Steigerung der Attraktivität des Schwarzatals für Zuziehende ergibt sich jedoch langfristig die Frage nach einem Konzept für den Umgang mit dem vorhandenen Leerstand. So begrüßenswert der Zuzug für Burkhardt Kolbmüller ist, so wichtig sei es auch, die derzeitigen »unterschiedliche[n] Möglichkeitsräume offen zu halten« (Kolbmüller 2020a: 1:23:061:23:24). Besondere Herausforderungen stellten zudem die bisher fehlende Datengrundlage über Leerstände, deren baulichen Zustand und Eigentumssituation sowie die bereits seit längerem in der Region präsente Spekulation mit Boden dar. »Wir haben mehrfach – und auch gerade wieder – Beispiele, dass irgendjemand […] Häuser kauft hier […], der aber hier nie gesehen wurde, oder höchstens einmal. Und dann entweder das schnell wiederverkauft oder im schlimmsten Fall eben gar nichts tut; dass die Häuser zusammenfallen. Da kommt man nicht heran.« (Ebd.: 1:07:58-1:08:26)

Aus der Notwendigkeit einer gezielteren Steuerung der Umnutzung von Leerstand entwickelte sich zwischen der IBA Thüringen und der Zukunftswerkstatt die Idee einer Zusammenarbeit mit der Stiftung trias. Die gemeinnützige Stiftung mit Sitz im nordrhein-westfälischen Hattingen verschreibt sich seit 2002 den Themen Boden, Ökologie und gemeinschaftlichem Wohnen und kauft bundesweit Grundstücke, um die auf ihnen befindlichen Gebäude an Nutzer/innengruppen im Erbbaurecht zu vergeben (vgl. BBSR 2019: 46). Während diese durch den Erbbaurechtvertrag die Pacht über eine Dauer von häufig 99 Jahren zugesprochen bekommen, verbleibt der Grundstücksboden im Besitz der Stiftung, wodurch er den Prinzipien des freien Immobilienmarktes entzogen und Spekulation weitgehend ausgeschlossen wird. Die

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Nutzer/innen wiederum zahlen einen vertraglich festgesetzten jährlichen Erbbauzins an die Stiftung, die damit Kapital aufbauen und in neue Grundstücke investieren kann (vgl. ebd.: 46). Dieses Modell wurde von den beteiligten Akteur/innen auf den lokalen Kontext des Schwarzatals übertragen und mit dem Sondervermögen StadtLand Thüringen ein Bodenfonds eingerichtet, wobei die erzielten Erbbauzinsen ausschließlich im Schwarzatal reinvestiert werden. Zudem wird ein Beirat über die Gebäudevergabe an Interessierte entscheiden, in dem auch die Zukunftswerkstatt vertreten ist (vgl. Kolbmüller 2020b). Die Vergabe der Gebäude ist an einige Nutzungsbedingungen geknüpft, die die Hausgruppen zu einer gemeinwohlorientierten, ökologischen und demokratisch organisierten Eigenbewirtschaftung ihrer Gebäude veranlassen (vgl. ebd.). Der Bodenfonds bildet somit ein langfristiges und auf Wachstum ausgerichtetes Instrument zur Steuerung der baulichen Entwicklung durch die gezielte Nachnutzung von Leerstand. Die Möglichkeitsräume in Form verfügbarer Gebäude werden temporär ausgefüllt, können aber mitsamt der historischen Bausubstanz langfristig gesichert und durch die vergleichsweise geringen monetären Nutzungsbeschränkungen potenziell vielen und unterschiedlichen Personengruppen zugänglich gemacht werden. Abb. 8: Funktionsweise des auf Wachstum ausgerichteten Fonds-Modells des Sondervermögens StadtLand Thüringen, auch bezeichnet als Sommerfrische Allmende.

Eigene Darstellung

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Die selbstbestimmte Sommerfrische Die Ausführungen zur Sommerfrische Schwarzatal haben aufgezeigt, dass sich die Durchführung und Ausgestaltung des Projekts erst aus der Zusammenarbeit von lokalen und überregionalen Akteur/innen ergibt. Dabei haben die Zukunftswerkstatt Schwarzatal und die IBA Thüringen jeweils unterschiedliche Aufgabenbereiche inne: Die IBA, deren Interesse vorrangig der Präsentation guter und erfolgreicher Projekte im Rahmen der Bauausstellung gilt, zeigt sich vor allem für die überregionale Kommunikation zuständig. Dagegen ist die Zukunftswerkstatt in erster Linie für die regionsinterne Organisation und Durchsetzung des Projekts verantwortlich, was sich auch daraus erklären lässt, dass es ihr um eine gesamtheitlich nach innen und außen als positiv wahrgenommene Entwicklung der Region geht. Indem die Zukunftswerkstatt einerseits als Koordinatorin etwa des Programms des Tages der Sommerfrische oder Unterstützerin neuer Hausgruppen auftritt, andererseits aber in regem Austausch etwa zur LEADER-RAG Saalfeld-Rudolstadt, zur IBA und der Stiftung trias steht, kann sie als entscheidende Schnittstelle eines regionsinternen und eines regionsübergreifenden Netzwerkes ausgemacht werden. Die Zusammenarbeit zwischen lokalen und externen bzw. überregionalen Akteur/innen stellt dabei zunächst eine Gemeinsamkeit zur historischen Sommerfrische dar. Auch andere Aspekte weisen eine Ähnlichkeit zwischen beiden Zeitebenen auf: So dient die materielle Umgestaltung (in der historischen Sommerfrische) bzw. die temporäre Inanspruchnahme (in der Sommerfrische Schwarzatal) des öffentlichen Raumes unter anderem dazu, die lokale Bevölkerung mit Hilfe von Inszenierungen für eine Außenperspektive auf ihre eigene Region zu sensibilisieren. Nicht zuletzt lassen sich beide Formen der Sommerfrische in einen jeweils spezifischen Trend von Ländlichkeit einbetten, dessen mediale Repräsentationen »das Land« mitunter als diametralen Kontrast zur Stadt imaginieren und Bedeutungen von Natur, Ursprünglichkeit und Authentizität vermitteln – und zwar aus der Perspektive einer urbanen Normalität (vgl. Dünckmann 2019: 30f.). Die These einer selbstbestimmten Sommerfrische mag vor diesem Hintergrund verwundern: Einerseits ist die Sommerfrische Schwarzatal als gegenwärtiges Projekt gesellschaftlich nicht kommunizierbar, ohne sich der stark vereinfachten gesellschaftlich vorherrschenden Vorstellungen über das Ländliche zu bedienen, auf welche die beteiligten Akteur/innen wenig Einfluss haben. Zum anderen wird das Projekt wohl nur dann als erfolgreich gelten können, wenn sich genügend Personen von außerhalb finden werden, die an einer Umnutzung leerstehender Gebäude interessiert sind; hierin kann wiederum eine Abhängigkeit gesehen werden. Nichtsdestotrotz kann aus den vorangegangenen Darstellungen die Schlussfolgerung gezogen werden, dass es sich – in erster Linie in Gegenüberstellung zum historischen Phänomen – bei der Sommerfrische Schwarzatal um eine selbstbestimmte Form der Sommerfrische handelt. Während in der historischen Ausprägung die

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ideelle und materielle Umgestaltung in erster Linie der Befriedigung städtischbürgerlicher Bedürfnisse galt und die lokale Bevölkerung nicht vorrangig adressiert wurde, sind die Einheimischen heutzutage beim Tag der Sommerfrische gleichermaßen Mitwirkende und Konsument/innen. Die Veranstaltung dient nicht zuletzt der Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte und dem Austausch biographischer Erfahrungen, die in der historischen Sommerfrische keine Bezugspunkte für die Einrichtung der Ferienorte bildeten. Das veränderte Verhältnis zwischen urbanen »Gästen« und Einheimischen birgt das Potenzial einer Begegnung auf Augenhöhe, bei der es, im Gegensatz zur historischen Sommerfrische, zur Austragung von Konflikten wie auch einem tatsächlich persönlichen Austausch kommen könnte. Die Befragung der Neunutzer/innengruppen konnte wiederum andeuten, dass die Sommerfrische des 21. Jahrhunderts von den Teilnehmenden nicht mehr allein mit Erholung und Idylle verbunden wird, sondern auch mit Eigenengagement und öffentlichem Austausch, worin wiederum die Ambition deutlich wird, in die Dörfer und Nachbarschaften hineinzuwirken und selbst neue Angebote zu schaffen. Vor allem kann mit dem Bodenfonds der des Sondervermögens StadtLand Thüringen eine Dekommodifizierung von Grundstücken erreicht werden, die zu einer Abschwächung ökonomischer Zugangsbeschränkungen für interessierte Nutzer/innengruppen führt. Zusätzlich können medial immer noch präsente Bilder des Ländlichen als Ort des Rückzugs, der romantischen Privatheit und des Besitzes aufgebrochen werden, da durch das Erbbaumodell realer (Grundstücks-)Besitz unwesentlich wird.14 Gleichzeitig kann die bauliche Entwicklung auch unter Mitwirkung der Zukunftswerkstatt zu einem gewissen Grad gesteuert werden. In der Sommerfrische Schwarzatal steht dabei der Erhalt der Bausubstanz im Vordergrund, während ländliche Ortsbilder in der historischen Sommerfrische nach marktökonomischen Prinzipien funktional und materiell überformt wurden.

14 Christoph Baumann betont die stark auf Eigentum bedachte Orientierung eines gegenwärtig zu beobachtenden, ländlich artikulierten Lebensstils, den er als »alltägliche Idyllisierung« (Baumann 2018: 156) fasst: »Das Land wird gerade auch dadurch zum Land, dass es ›mein Land ist‹, dass es ein erdender Ort des direkten Bezugs, der Kontrolle und der Übersicht ist.« (Ebd.: 202) Dies steht nicht zuletzt in einer langen Traditionslinie kulturgeschichtlich verfestigter Topoi und Imaginationen eines ›guten Lebens auf dem Land‹ (vgl. Nell/Weiland 2021).

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L ITERATUR Baumann, Christoph (2018): Idyllische Ländlichkeit, Bielefeld: transcript. BBSR – Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (2019) (Hg.): Gemeinwohlorientierte Wohnungspolitik. Stiftungen und weitere gemeinwohlorientierte Akteure: Handlungsfelder, Potenziale und gute Beispiele, Bonn: Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung. Dünckmann, Florian (2019): »Politik der Idylle: Repräsentationen des Landes zwischen Sehnsucht, Entschleierung und Instrumentalisierung«, in: Michael Mießner/Matthias Naumann (Hg.), Kritische Geographien ländlicher Entwicklung. Globale Transformation und lokale Herausforderungen, Münster: Westfälisches Dampfboot, S. 28-41. Eltges, Dr. Markus/Maretzke, Dr. Steffen (2020): »Vorwort«, in: BBSR (Hg.), Das neue Wachstum der Städte. Ist Schrumpfung jetzt abgesagt? Dezembertagung des DGD-Arbeitskreises »Städte und Regionen« in Kooperation mit dem BBSR Bonn am 6. und 7. Dezember 2018 in Berlin, Bonn. Franzos, Karl Emil (2008): »Im Schwarzatal« [1901], in: Andreas M. Cramer/RolfPeter Hermann Ose (Hg.), Im Schwarzatal. Ein Reisebericht aus dem Jahre 1901, 1. Auflage, Erfurt: Sutton, S. 9-94. Gebhart, Martin (2018): »Die Rückkehr der ›Sommerfrische‹«, in: Kurier vom 08.11.2018, Online: https://kurier.at/chronik/oesterreich/die-rueckkehr-der-sommerfrische/400317615 (01.09.2020). Gemeinschaft Gänsewiese (2020): Beantwortung des Fragebogens auf schriftlichelektronischem Weg vom 01.04.2020. Göttsch, Silke (2002): »›Sommerfrische‹: Zur Etablierung einer Gegenwelt am Ende des 19. Jahrhunderts«, in: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 98, S. 915. Haas, Hanns (1992): »Die Sommerfrische. Ort der Bürgerlichkeit«, in: Hannes Stekl/Peter Urbanitsch/Ernst Bruckmüller/Hans Heiss (Hg.), »Durch Arbeit, Besitz, Wissen und Gerechtigkeit«, Wien/Köln/Weimar: Böhlau, S. 364-377. — (1994): »Die Sommerfrische – eine verlorene touristische Kulturform«, in: Hanns Haas/Robert Hoffmann/Kurt Luger (Hg.), Weltbühne und Naturkulisse. Zwei Jahrhunderte Salzburg-Tourismus, Salzburg: Anton Pustet, S. 67-75. Haus Bräutigam e.V. (2020): Beantwortung des Fragebogens auf schriftlich-elektronischem Weg vom 16.03.2020. Haus Döschnitz e.V. (2020): Beantwortung des Fragebogens auf schriftlich-elektronischem Weg vom 29.03.2020. Henkel, Gerhard (1999): Der Ländliche Raum, 3. Auflage, Stuttgart/Leipzig: B. G. Teubner. Hübner, Helmut (1994): »Das Verbot des Fremdenverkehrs in SchwarzburgRudolstadt«, in: Rudolstädter Heimathefte 40, S. 7-11.

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Kinsky, Ines (2018): »LEADER stärkt einer Region den Rücken: Sommerfrische Schwarzatal - mehr als ein Urlaubsgefühl«, in: Ländlicher Raum 69, S. 34-37. Kolbmüller, Burkhardt (2020a): Interview vom 05.03.2020, Bechstedt [Dauer Audiodatei: 1:24:52]. — (2020b): Schriftlich-elektronische Antwort auf persönliche Nachfrage im Zuge der Nachbereitung des Interviews vom 04.05.2020. Kos, Wolfgang (1995): »Riten der Geborgenheit. Wenn Landschaft zum ›schönen Zimmer‹ wird«, in: Eva Pusch/Mario Schwarz (Hg.), Architektur der Sommerfrische, St. Pölten/Wien: Verlag Niederösterreichisches Pressehaus, S. 7-68. Kühn, Manfred (1994): Fremdenverkehr und regionale Entwicklung. Perspektiven der Regionalisierung ländlicher Kultur durch »sanften« Tourismus, Kassel: Gesamthochschule Kassel. Kühnel, Felix (2014): »Von Verlusten, Peak Oil und Raumpionieren. Lokale Anpassungs- und Widerstandsstrategien in ländlichen Räumen«, in: Ulf Hahne (Hg.), Transformation der Gesellschaft für eine resiliente Stadt- und Regionalentwicklung. Ansatzpunkte und Handlungsperspektiven für die regionale Arena, Detmold: Dorothea Rohn, S. 173-188. Küster, Hansjörg (2016): »Landschaft: abhängig von Natur, eingebunden in wirtschaftliche, politische und soziokulturelle Zusammenhänge«, in: Karsten Berr/ Hans Friesen (Hg.), Stadt und Land. Zwischen Status quo und utopischem Ideal, Münster: mentis, S. 9-18. Lanzendorf, Frank (1995): »Entwicklung des Fremdenverkehrs im mittleren Schwarzatal«, in: Frank Lanzendorf (Hg.), Sitzendorf im Schwarzatal. Herausgegeben zur 625-Jahrfeier, Kronach: Witwe Marie Link-Druck, S. 12-14. Lippmann, Hans-Christian (2016): Sommerfrische als Symbol- und Erlebnisraum bürgerlichen Lebensstils. Unveröffentlichte Dissertation, Berlin. Mai, Andreas (2003): Die Erfindung und Einrichtung der Sommerfrische. Zur Konstituierung touristischer Räume in Deutschland im 19. Jahrhundert. Unveröffentlichte Dissertation, Leipzig. — (2004): »Touristische Räume im 19. Jahrhundert. Zur Entstehung und Ausbreitung von Sommerfrischen«, in: Werkstatt Geschichte 36, S. 7-23. Nell, Werner/Weiland, Marc (2021): »Der Topos vom guten Leben auf dem Land. Geschichte und Gegenwart«, in: Dies. (Hg.), Gutes Leben auf dem Land? Imaginationen und Projektionen vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bielefeld: transcript, S. 9-73. Ortsverein für Schwarzburg und Umgebung (o.J.) (Hg.): Führer durch Schwarzburg in Thüringen und das Schwarzatal, Berlin: Graphischer Kunstverlag C.H. Oscar Lange. Payer, Peter (2018a): Der Klang der Großstadt. Eine Geschichte des Hörens: Wien 1850-1914, Wien/Köln/Weimar: Böhlau. — (2018b): »Sommerfrische. Ein bürgerliches Ritual als Sehnsucht nach anti-urbanen Sinnesreizen«, in: Ferdinand Opll/Martin Scheutz (Hg.), Fernweh und Stadt.

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Neue Attraktivität ländlicher Räume durch Digitalisierung? Sozial-innovative Nutzungen digitaler Technik im Ländlichen A RIANE S EPT , C HRISTIAN R EICHEL

Unter dem Stichwort Telematik gingen Raumforscher in den 1980er/90er-Jahren davon aus, dass dem suburbanen und gar ländlichen Raum ein Siegeszug bevorsteht, Unternehmen aufgrund von Kostenvorteilen ihren Sitz verstärkt aus den Städten heraus verlagern und Arbeitnehmer/innen zunehmend Telearbeit betreiben (vgl. Floeting/Grabow 1998). Die damals mitschwingende Angst vor dem Verlust des Städtischen hat sich zunächst nicht bewahrheitet. Stattdessen erleben wir auch in Europa gerade seit den 1990er-Jahren einen scheinbar nicht enden wollenden Zuzug in die (Groß)Städte und Agglomerationsräume bei gleichzeitigem Bevölkerungs- und Bedeutungsverlust der ländlichen Räume. Die daraus resultierenden Schwierigkeiten und Debatten um Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse, Infrastrukturdefizite und Daseinsvorsorge in peripheren Regionen sind inzwischen allgemein bekannt (vgl. z.B. Brenner 2019; BBSR 2018; ZDF 2019). Gleichzeitig scheint es, dass ›Ländlichkeit‹ wieder neu gedacht und erfunden wird, lässt sich doch eine »aktuelle Lust am Ländlichen« (Baumann 2018: 17) beobachten. Dabei spielen die Möglichkeiten, durch digitale Techniken und Kommunikationsmöglichkeiten vermeintliche Nachteile des Landlebens auszugleichen, eine besondere Rolle. So geht beispielsweise Marc Redepenning in seinem Szenario eines handwerklich-ruhigen und ermöglichenden Landlebens davon aus, dass durch die Umdefinition von ländlicher Abgeschiedenheit zu positiv konnotierter Entschleunigung, »vor allem mit Vorhandensein von Breitbandinfrastrukturen, eine neue Attraktivität und auch neuer Gemeinschaftssinn bezogen [wird]« (Redepenning 2018: 95). Aktuelle Politik- und Förderansätze verfolgen eine ähnliche Argumentation, wenn sie – wie beispielweise im Rahmen des Modellvorhabens »Smarte

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Landregionen« (vgl. BMEL 2020) – digitale Technologien fördern, um auszuloten wie ländliche Räume dadurch gestärkt werden können. Diese Gedanken nimmt der vorliegende Beitrag auf und fragt, inwiefern Digitalisierung zu einer neuen Attraktivität ländlicher Räume beitragen kann. Im Projekt »Smart Villagers. Soziale Innovationen und Digitalisierungen in ländlichen Räumen« am Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung nehmen wir dazu Dörfer in den Blick, in denen digital unterstützte sozial-innovative Initiativen vorangetrieben werden (vgl. Sept 2020; Zerrer/Sept 2020). Damit meinen wir Initiativen, die mit Hilfe von digitalen Techniken und Tools aktiv Probleme des Dorflebens angehen und neue Lösungsmodelle entwickeln. Unsere ersten Ergebnisse legen nahe, dass Breitbandanschlüsse zwar eine wichtige Voraussetzung sind, es aber zudem kreative Ideen braucht, digitale Technik und Medien zu nutzen, um den Herausforderungen ländlicher Räume zu begegnen. Typisch für die von uns betrachteten Initiativen ist es, dass sie zugleich die Art der Kommunikation, des gemeinschaftlichen Handelns sowie der Begegnung vor Ort – auch im physischen Sinne – verändern. Im Folgenden stellen wir anhand von Einzelfallstudien in zwei brandenburgischen Dörfern zwei konkrete Akteursgruppen vor, für die vor dem Hintergrund digitaler Techniken das Leben auf dem Land attraktiv wird und die gleichzeitig durch eigene Aktivitäten dafür sorgen, dass auch das Land wieder für das Leben attraktiv wird. Dies sind zum einen junge Kreative, auch als digitale Pioniere bezeichnet (vgl. Dähner et al. 2019: 6), und zum anderen ältere Menschen, die nach ihrem aktiven Berufsleben ihren Lebensmittelpunkt in den ländlichen Raum verlagern. Für beide Gruppen sind der verfügbare Platz und damit einhergehende Freiräume sowie typische Merkmale des Ländlichen wie Ruhe, Natur und landschaftliche Schönheit bedeutsam. Während Kreative und Digitalarbeiter/innen »ihre Arbeit einfach mit raus aufs Land nehmen« (ebd.) und oft ihre eigene Community mitbringen, argumentieren die älteren neuen Dorfbewohner/innen, dass sie über digitale Kommunikationsmedien mit Freunden und Verwandten problemlos in Kontakt bleiben und auch im Ruhestand weiterhin (ehrenamtlich) tätig sein können oder setzen optimistisch auf neue Möglichkeiten wie Carsharing im Dorf oder autonomes Fahren.

D IGITAL

ARBEITEN UND LÄNDLICH LEBEN

Wenn über die wesentlichen Merkmale von Dörfern in strukturschwachen ländlichen Räumen berichtet wird, so ist häufig von Bildungsmigration, Überalterung und Bevölkerungsschwund die Rede (vgl. WiWo 2019; MAZ 2017). Insbesondere junge, gut ausgebildete Menschen zieht es in die Städte (vgl. Bauer/Rulff/Tamminga 2019). Gleichzeitig lässt sich jedoch – insbesondere im näheren und weiteren Umfeld

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Berlins – beobachten, dass auch digital affine und urban-kreative Milieus aufs Land ziehen und dort neue Impulse setzen. Im Land Brandenburg steht oftmals ein in der Hauptstadt sehr knappes und teures Gut zur Verfügung: trotz steigender Preise gibt es immer noch relativ günstige und gut erhaltene historische Immobilien und damit Kreativraum, in dem neue Ideen entwickelt und umgesetzt werden können. Diese ländlichen Kreativräume sind offenbar zunehmend auch für junge Menschen aus diesen urban-kreativen Milieus interessant, die sich, motiviert durch die Vorstellung eines guten Landlebens fernab der hektischen Großstadt und getrieben von den steigenden Immobilienpreisen der Stadt, mit einer Gruppe von Gleichgesinnten neue Wohn- und Arbeitsorte aufbauen wollen. Dem liegt mitunter ein Bild des Ländlichen zugrunde, das gerade in der jüngsten Vergangenheit auch vielfach medial auf die Uckermark projiziert wird (vgl. Hißnauer/Stockinger 2021) und nicht zuletzt kulturgeschichtlich zu den bekannten Deutungsmustern des Ruralen gehört. Ein Beispiel ist das Sozialunternehmen Coconat: Community and Concentrated Work in Nature, das sich 2017 in einem Gutshaus im Dorf Hagelberg, Ortsteil Klein Glien der Gemeinde Bad Belzig im westlichen Brandenburg angesiedelt hat. Das Dorf mit 145 Einwohner/innen liegt mitten im Naturpark Hoher Fläming, einem 827 Quadratkilometer großen Schutzgebiet im Landkreis Potsdam-Mittelmark. Das Dorf selbst wirkt ausgestorben und nur wenige Menschen arbeiten vor Ort. Die Nahversorgung ermöglichen die jeweils ca. 6 km entfernten Orte Bad Belzig und Wiesenburg. Gegründet wurde Coconat von vier Personen zwischen 30 und 40 Jahren, die mit ihrer Projektidee, Workation1, Coworking2 und Coliving3 an einem Ort zu ermöglichen, andernorts zunächst einige Rückschläge einstecken mussten. In Klein Glien stimmten jedoch die Bedingungen, vor allem war eine schnelle Internetverbindung vorhanden. Nach einem relativ günstigen Kauf des etwa 2 Hektar großen Geländes, auf dem sich ein 1822 erbautes Gutshaus mit drei Nebengebäuden, einem See und einem kleinen Wald befindet, konnte sich das Projekt schnell entwickeln und wirtschaftlich selbst tragen. Hilfreich waren dabei die abgestimmte Organisationsstruktur und das große Geschick der Gründer/innen, ihre Geschäftsidee so zu vermarkten, dass sich der Wunsch, in einer ländlichen Idylle frei und kreativ arbeiten zu können, erfüllte. Das prägt auch die Aufmachung und den Stil der vom Projekt vermittelten Bilder und Vorstellungen, welche gezielt die vermeintliche Dichotomie zwischen Natur und Technik aufheben.

1 2

Die Kombination von digital basierter Arbeit (work) und Urlaub (vacation). Lang- oder kurzfristiges Teilen von Arbeitsräumen mit der Möglichkeit, gemeinsam oder individuell Projekte zu bearbeiten.

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(Temporäre) Wohngemeinschaft.

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Abb. 1: Arbeit am Laptop im Garten des Coconat.

Coconat

Durch die digitale Ansprache der Zielgruppen über sämtliche soziale Medien kommen die zahlenden Gäste aus der ganzen Welt und sind Schriftsteller/innen, Grafikdesigner/innen, Architekt/innen und andere ortsunabhängig Arbeitende. Die Räume werden auch von NGOs und Firmen gemietet oder dienen als Seminarräume. Dank einer 50 MBit VDSL Internet-Anbindung kann auf dem ganzen Gelände draußen und drinnen gearbeitet werden. Man kann in einem Zelt oder komfortablem Hotelzimmer übernachten, was auch zur Diversität der Gäste beitragen soll, indem sich Menschen mit unterschiedlichen finanziellen Möglichkeiten begegnen. Da es sich um eines der ersten ländlichen »Workation Retreats« überhaupt handelte und die Gründer/innen unermüdlich auf Veranstaltungen ihr Konzept vorstellten, wuchs die mediale Aufmerksamkeit rasant. Im November 2019 gewann das Projekt den deutschen Tourismuspreis, was wiederum dabei half, für weitere Projektideen zu werben und staatliche Fördergelder zu beantragen. Trotz flacher Hierarchien gibt es in der Organisation des Tagesablaufs eine klare Struktur und Aufteilung der Arbeitsaufgaben. Alle wesentlichen Entscheidungen werden von einem Kernteam getroffen. Darunter in der Arbeitsstruktur sind die sogenannten Galaxy Manager für die Organisation und das Anleiten der alltäglichen Aufgaben zuständig, wie zum Beispiel die Koordination des Putz- und Küchenteams. Viele Aufgaben bewältigen jedoch »Coliver«, meist junge Personen ohne familiäre Verpflichtungen, die gegen Kost und Logis im Projekt mithelfen. Oft sind dies weltreisende digitale Nomaden, die nur eine schnelle Internetverbindung brauchen, um weltweit zu arbeiten und von einem Coworking Space zum nächsten umziehen. So ist mitten in Brandenburg ein sehr kreativer internationaler Ort entstanden, an dem Menschen aus urban-kreativen Milieus kurz- oder langfristig zusammenwohnen.

N EUE A TTRAKTIVITÄT

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Zweifelsohne besteht das Risiko, dass rund um ländlich-urbane Coworking- und Coliving-Projekte homogene Communitys entstehen, die unter sich bleiben. Allerdings fällt auf, wie sehr den Betreiber/innen des Coconat diese Problematik bewusst ist, denn es wurde wiederholt in Interviews betont, im metaphorischen Sinne kein UFO sein zu wollen, das als Fremdkörper im ländlichen Raum landet. Vielmehr wird das Ziel verfolgt, positiv auf die Region einzuwirken. »Das Ziel [ist], eine positive Wirkung auf das Umfeld zu haben. Irgendwie so eine positive Aufbruchsstimmung im ländlichen Raum zu erzeugen, um Tendenzen, die […] aus einer Frustration oder aus einer negativen Grundeinstellung [entstehen] zu vermeiden. Also dass Menschen Rechtspopulisten wählen, dass Menschen sich irgendwie abgehängt fühlen, dass Menschen wegziehen, dass Infrastruktur wegbricht. Ich will gar nicht sagen, den Trend umzudrehen, aber [...], dass Menschen positiv der Zukunft zugewandt sind, irgendwie zu stärken, zu fördern.« (D2_I01_20191001)

In der Tat ist im Fall des Coconat sowohl die Beziehung zur lokalen Verwaltung als auch zu den meisten alteingesessenen Bewohner/innen sehr gut. So finden das alljährliche Dorffest, aber auch Wahlen, auf dem Coconat-Gelände statt. Darüber hinaus siedelten sich in unmittelbarer Nähe lokale Gewerbetreibende wie eine Mosterei, ein Massagesalon und ein Kunsthandwerksladen an. Zudem half die Aufmerksamkeit, die um Coconat herum entstanden ist, der Stadt Bad Belzig, sich für Fördergelder des Landes Brandenburg zu bewerben, um Informationen und Vernetzung im ländlichen Raum zu verbessern und eine Bad Belzig-App zu entwickeln. Die App ist Kommunikationsplattform, informiert die Nutzer/innen über Veranstaltungen und bietet einen digitalen Bürgerservice. Auffällig sind die sich gegenseitig anstoßenden Innovationsimpulse, die vom Coconat ausgehen und zu verstärkten Digitalisierungsbemühungen in unterschiedlichen Bereichen führen. »Die Ansiedlung von Coconat ist die Wurzel aller Dinge hier, die sich um die Digitalisierung abspielen […]. Also diese kleine Verwaltung [wäre nicht den] Weg der Digitalisierung in Verwaltungsprozessen [gegangen]. Also e-government. Das papierlose Büro oder so. […] Seit der Zeit entwickelt sich unglaublich viel. Wir werden überall hofiert, wo wir hinkommen zu dem Thema […] wenn wir da irgendwo anklopfen, ist die Tür offen.« (D2_I02.1_20190917)

Das von Hagelberg 6 km entfernte Wiesenburg versucht ebenfalls, für digital- und Kreativarbeiter/innen attraktiver zu werden und wurde 2018 gemeinsam mit Bad Belzig von der Medienanstalt Berlin und Brandenburg zum »Smart Village« gekürt (Medienanstalt Berlin-Brandenburg 2020). Hier wurde 2019 das Ko-Dorf Wiesenburg gegründet, wo neben Tiny Häusern auch Gemeinschaftsküchen, ein Kino, eine Bar, Restaurants und ein Gemeinschaftsgarten entstehen sollen. So begünstigt ein Projekt das andere, wobei Coconat den ersten Impuls gegeben hat. Auffällig

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ist, dass es nicht Einzelpersonen sind, die auf sich allein gestellt aufs Land ziehen und sich mit der konkreten, für manch einen auch neuen, Lebenswelt auseinandersetzen müssen, sondern gleichgesinnte soziale Gruppen ein kleines Ko-Dorf gründen. »In Wiesenburg, da gibt es einen sehr umtriebigen Bürgermeister. Da werden sich jetzt auch neue Initiativen […] ansiedeln, es gibt so eine, die nennt sich das Ko-Dorf, die wollen diese Tiny House Bewegung […] zusammen mit Gemeinschaftsflächen, wo Coworking-Spaces entstehen sollen, […] [verbinden]. Und darüber hinaus gibt es auch andere Ideen, jetzt brachliegende Gebäude, die früher von der Industrie genutzt wurden, […] auch für die Kultur- und Kreativwirtschaft zu öffnen. So und das dann zusammen mit dem Coconat und noch mit anderen Initiativen in der Region ergibt dann langsam so ein, sag ich mal, so ein Cluster.« (D2_I04_2019114)

Ein wesentlicher Pull-Faktor für ein urban-kreatives Milieu, sich im ländlichen Raum niederzulassen, ist eine als ästhetisch schön wahrgenommene, historisch geprägte Kulturlandschaft, die Sehnsüchte »vom guten Leben auf dem Lande« bedient. »Die Großstadt ist mir doch auch zu groß, zu laut, zu stressig, zu eng […] durch Coconat ist etwas entstanden, wo Menschen (eine ähnliche) Sehnsucht (haben). Also die Natur muss da schon auch als Projektion herhalten und in Teilen hab ich das Gefühl vom Landleben […] gefunden.« (D2_I05_20190930).

Diese Außensicht auf das Landleben als eine heilere und bessere Lebenswelt, wo ein naturverbundenes, entschleunigtes und authentisches Leben möglich ist und das einen Gegenpol zum stressenden, schnellen Großstadtleben darstellt, ist nichts Neues, sondern existiert seit Aufkommen romantischer Naturvorstellungen Ende des 18. Jahrhunderts (vgl. Neu 2016; Frömming 2008). Neu ist jedoch, dass ein urbankreatives Milieu sich diese Bilder (wieder)aneignet und sie mit ihrer eigenen urban geprägten Ästhetik zu neuen Bildern kombiniert. Dies zeigt sich beispielsweise am Lageplan des Coconat, der wie ein Wimmelbild zu zahlreichen Entdeckungen vor Ort, aber auch schon innerhalb des Bildes einlädt.

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Abb. 2: Workation im Garten – Lageplan.

Coconat

Die fortschreitende Digitalisierung des ländlichen Raums bietet die Möglichkeiten, zumindest zeitweise neue ›Ländlichkeit‹ auszuprobieren. Allerdings befinden sich viele der neuen Landbewohner/innen in einem Dilemma: Eigentlich wollen sie dem hektischen Stadtleben entfliehen, andererseits macht ihnen gerade die Digitalisierung eine Flexibilisierung des Arbeitsortes und damit das Leben auf dem Land möglich. Dementsprechend stellt sich immer wieder die Frage, wie man das Beste aus zwei Welten miteinander verbinden kann. »Ich glaube, […] das hat mit Medienkompetenz zu tun. […] Dieses Ganzheitliche, also digitales Arbeiten, aber dann halt auch Yoga machen und im Wald spazieren gehen. Man braucht ja immer eine Balance. […] Also das ist irgendwie eine Frage […] von digitaler Reife.« (D2_I01_20191001)

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Ob die neuen Zuzügler/innen dazu beitragen können, langfristig ländliche Räume zu revitalisieren, hängt – neben kreativen Problemlösungsstrategien – auch von einer handfesten öffentlichen Infrastruktur ab. Dazu gehört z.B. eine gute öffentliche Verkehrsanbindung, die es ermöglicht, auch ohne (eigenes) Auto mobil zu sein. Dies ist gerade für in der Stadt sozialisierte jüngere Menschen der kreativen Milieus von großer Bedeutung. Dazu gehören aber auch eine funktionierende Gesundheitsversorgung, Bildungseinrichtungen und Kindertagesstätten, die man ohne lange Fahrtzeit erreichen kann. Es sind also auch altbewährte Infrastrukturen, die trotz der neuen Möglichkeiten durch Digitalisierung auf dem Land nicht vernachlässigt werden dürfen, wenn es darum geht, zukünftig die ländlichen Räume auch für vermeintlich urbane kreative Milieus attraktiv zu gestalten.

(U N- )R UHESTAND

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L AND

Das Dorf Barsikow liegt abseits der Hauptverkehrsachsen im Landkreis OstprignitzRuppin. Besorgungen erledigen die 183 Einwohner/innen in den etwa 8 km entfernten Orten Wusterhausen/Dosse oder Neustadt/Dosse. Als Barbara und Werner4 im Jahr 2006 hier ein Haus als Zweitwohnsitz kauften, wollten sie dort vor allem die Wochenenden mit ihren Familien und Freunden verbringen. Die abgeschottete Lage zwischen Berlin und Hamburg schien günstig, dörfliche Stille und Natur waren attraktive Ruhepunkte in ihrem ausgefüllten Leben. Zehn Jahre später waren sie nicht nur zu Ruhestandsmigrant/innen geworden und hatten ihren Hauptwohnsitz hierher verlegt, sondern auch das Dorf aus seinem Dornröschenschlaf geweckt. Sie war Vorsitzende des Dorfvereins geworden, er der neue Ortsvorsteher. Einen ehemaligen Laden hatten sie zum Treffpunkt mit öffentlichem WLAN umgestaltet, das Dorf gewann Preise für seine Aktivitäten, ein gemeinschaftliches Dorfauto kann seit 2020 über eine App gemietet und verwaltet werden. Ruhestandsmigration wird medial meist mit Blick auf Auswanderung in andere (insbesondere südliche) Länder betrachtet (vgl. z.B. Garic 2019; Klingelhöfer 2020; Meister 2020). Wissenschaftliche Studien zeigen jedoch, »dass die Vorstellung, es seien vor allem Fernumzüge, und die Vorstellung, das Phänomen werde quantitativ immer bedeutsamer, falsch sind« (Engfer 2018: 36). Gleichwohl gilt »die Verbesserung der persönlichen Lebensbedingungen […] als Hauptmotiv für einen Umzug im Alter« (Gruber 2017: 205). Wesentliche Motivationsfaktoren sind eine subjektive Verbesserung der Wohnimmobilie und/oder des Grundstückes, naturräumliche Gegebenheiten oder Veränderungen am vorherigen Wohnort (vgl. ebd.: 206). Quantitative Forschungen zur Binnenmigration belegen bisher zwar keine signifikante

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Die Namen aller Personen sind Pseudonyme.

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Bedeutung dieser Migrationsform (vgl. Engfer 2018: 47), oft sind jedoch ältere Rückgekehrte oder im Ruhestand neu hinzugezogene Personen vor Ort besonders engagiert. Häufig treiben genau diese Menschen in ländlichen Regionen neue Ideen voran und leisten einen wesentlichen Beitrag zur ländlichen Entwicklung (vgl. Noack 2017: 119). Dazu kommt insgesamt eine signifikante Zunahme des ehrenamtlichen Engagements in der Gruppe der 65- bis 74-Jährigen, sowie bei den über 75-Jährigen (vgl. Kausmann et al. 2019: 69). Eine höhere Neigung zur Ruhestandsmigration haben Menschen »mit hohe[m] Bildungsabschluss sowie beruflichen Status, aus welchem ein hohes Einkommen resultiert, zum anderen Personen ohne Schulabschluss oder Arbeitssuchende, welche über ein geringes Einkommen verfügen. Auch ein jugendlicher Lebensstil und Reiseerfahrungen sind mit erhöhter Neigung zu Ruhestandsmigration verbunden« (Kappler 2013: 311). Mobile Wohnbiographien und der Besitz einer Ferienimmobilie erhöhen ebenfalls die Neigung zu einem Umzug im Alter. Und schließlich geschieht ein Umzug häufig gemeinsam mit dem oder der Partnerin im frühen Ruhestand (vgl. ebd.). Barbara und Werner sind damit ein typisches Beispiel für Ruhestandsmigrant/ innen. Ihr Umzug erfolgte gemeinsam als Paar und zu Beginn des Ruhestands in ihre vormals zu Ferienzwecken genutzte Immobilie. Beide verfügen über akademische Bildungsabschlüsse, sind in ihrem Leben mehrfach und in verschiedenen Ländern umgezogen. Ihre Lebens- und Reiseerfahrungen, gepaart mit Optimismus und Technikaffinität brachten sie mit nach Barsikow. Entscheidend für den Umzug aber war das Vorhandensein einer schnellen Internetverbindung. Für Werner kam das Dorf überhaupt erst dadurch als Wohnsitz infrage: »Ich weiß nicht mehr genau, wann diese DSL-Verbindungen gekommen sind, ich glaube 2012 oder 2011. Da ist dann die Möglichkeit entstanden, dass man hier überhaupt wohnen kann und aktiv bleiben kann.« (D1_I02_20190705)

Mit Blick auf die Tätigkeiten von Werner, auch im Ruhestand, erzählt Barbara: »Wir könnten nicht hier sein. Weil, er arbeitet ja noch international, und ohne vernünftigen Telefon- und Emailverkehr und ein schnelles Internet wäre das nicht möglich.« (D1_I01_20190705)

Da das Mobilfunknetz im Dorf lückenhaft ist, haben sie im neu aufgebauten Treffpunkt ein öffentliches WLAN eingerichtet, das auch außerhalb des Gebäudes genutzt werden kann. Für die knapp 80-jährige Hilde, die im Dorf einen Zweitwohnsitz hat und ebenfalls noch aktiv arbeitet, war das »ein großer Qualitätssprung, weil da ein WLAN-Anschluss eingerichtet wurde. Und dann habe ich im Sommer […] da meine ganzen Abwicklungen über WLAN und Internet gemacht.« (D1_I13_20200325) Die

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gleichaltrige Clara, die schon länger im Ort lebt, wünscht sich sogar »in der Kirche noch ein WLAN, ein offenes« (D1_I03_20190807). Die Verfügbarkeit von schnellem Internet ist demnach schon heute auch für ältere Dorfbewohner/innen von Bedeutung. Geht man davon aus, dass zukünftig Menschen in den Ruhestand übertreten, die – zumindest statistisch – in noch größerer Zahl über höhere Bildungsabschlüsse, mobilere Wohnbiografien und umfangreiche Reiseerfahrungen verfügen, könnten die ländlichen Räume weiter an Attraktivität gewinnen. Bei den Potenzialen von Digitalisierung für Dörfer geht es jedoch um mehr als nur die Verfügbarkeit von Breitbandverbindungen, es geht auch um intelligente Nutzungen der Technik. Für den technikaffinen Werner ist vor allem die Mobilität zentral für die Entwicklung der Dörfer und… »…die Digitalisierung im weitesten Sinne eigentlich die Lösung. […] ich weiß nicht, ob es in fünf oder in zehn Jahren ist. Aber auf jeden Fall in zehn Jahren nehme ich meine App und bestell ein Auto. Das fährt hier vor, ich steige ein, ich hab programmiert, dass ich nach Neustadt zum Bahnhof fahren will, und das Ding fährt dahin und ist danach wieder für andere zur Verfügung. […] Und das ist, glaub ich, der große Knaller für die Dörfer. Dann gibt es nichts mehr zu wünschen.« (D1_I02_20190705)

Anfang des Jahres 2020 hat der Barsikower Dorfverein mit finanzieller Unterstützung des Landkreises zunächst ein gemeinschaftliches Elektroauto angeschafft. Damit hat das kleine Barsikow als erstes Dorf im Land Brandenburg ein CarsharingAngebot. Um einen reibungslosen Betrieb einschließlich Rechnungsstellungen und versicherungsrechtlicher Aspekte zu gewährleisten, suchten die ehrenamtlichen Akteure eine technische Lösung, die ihnen möglichst wenig Aufwand verursacht. Mit einer App für Smartphone oder Tablet kann das Dorfmobil reserviert, geöffnet und abgerechnet werden. Sechs Monate nach der offiziellen Einweihung des Elektroautos hatten sich 28 Nutzer/innen registrieren lassen, von denen sieben Personen zwischen 60 und 70 Jahre alt waren und weitere vier Nutzer/innen über 70 Jahre (vgl. Dorfverein Barsikow 2020). Die digitale Registrierung, Buchung und Öffnung des Dorfmobils stellt offenbar auch für Ältere keine unüberwindbare Hürde für die Nutzung dar, denn »offensichtlich ist die Gruppe über 60 bereit damit zu experimentieren und hat wahrscheinlich auch Zeit dazu« (Dorfverein Barsikow 2020: 2).

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Abb. 3: Ausprobieren der App zum Öffnen des Dorfmobils.

Foto: Ariane Sept, 2020

Das gemeinschaftliche Dorfauto und der Treffpunkt im ehemaligen Laden waren zwar die sichtbarsten Maßnahmen der beiden aktiven Ruheständler, ihr Hauptverdienst besteht aber darin, zahlreiche Personen im Dorf zu mobilisieren und zum Mitmachen anzuregen. Die langjährige Dorfbewohnerin Daniela beschreibt dies folgendermaßen: »Wir haben Mut gefasst, dass so ein kleiner Ort wie Barsikow ja wirklich mitreden kann. War ja früher... ich glaube, wenn [Barbara] und [Werner] nicht gekommen wären, wäre nie jemand auf die Idee gekommen.« (D1_I06_20191011)

Dies bestätigt auch ein Mitarbeiter der Kreisverwaltung: »Und da ist Barsikow in einer glücklichen Lage, dass der Ortsvorsteher und auch seine Frau, dass die sehr aktiv sind. Und es eben auch schaffen, durch ihre Art ihre Einwohner mitzunehmen und zu motivieren und eben wirklich Aktivitäten auf die Beine zu bringen.« (D1_I05_20190829)

Für jüngere Bewohner/innen können Barbara und Werner gleichzeitig als Vorbild dienen, dass sich Engagement auch im Ruhestand lohnt.

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»Da bleibt auch da wenig Zeit, im Dorf jetzt aktiv zu werden. Aber wir freuen uns unglaublich, wenn wir im Rentenalter sind, ja ohne Quatsch […]. Also wie gesagt, ich würde viel lieber mehr machen, aber mir fehlt die Zeit.« (D1_I06_20191011)

Mit der in Barsikow zu beobachtenden Mischung aus Engagement und Nutzung digitaler Techniken kann es gelingen, Dörfer auch zukünftig attraktiv für Jung und Alt zu halten. Dabei ist es besonders bedeutsam, dass vor Ort Menschen leben, die sich aktiv und ideenreich in die Dorfentwicklung einbringen.

A USBLICK : P ERSPEKTIVEN LÄNDLICHEN R ÄUMEN

DES DIGITALEN

W ANDELS

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Digitalisierung als Voraussetzung für ortsunabhängiges Arbeiten ist zum einen für jüngere arbeitende Menschen bedeutsam, zum anderen aber auch – und zukünftig vermutlich noch stärker – für ältere Menschen im Ruhestand. Viele ältere Menschen wollen nicht nur mit dem Familien- und Bekanntenkreis in Kontakt bleiben, sondern gehen auch im Ruhestand noch ehrenamtlichen, nebenberuflichen oder beruflichen Tätigkeiten nach, für die digitale Tools unerlässlich sind. Für jüngere Zuziehende aus urban-kreativen Milieus ist digitale Technik ein wichtiger Baustein, um innovative Wohn- und Arbeitsformen auf dem Land leben zu können. Beide von uns betrachteten Gruppen zeigen außerdem das Potenzial, sich aktiv in die Gestaltung ländlicher Räume einzubringen und dabei die Möglichkeiten digitaler Tools nicht nur für das eigene Wohlbefinden, sondern für eine gemeinschaftliche Dorf- und Regionalentwicklung zu nutzen und damit ein »ermöglichendes Landleben« voranzutreiben. Von politischer Seite wird die Digitalisierung als Chance und Perspektive einer neuen und »effektiveren« Entwicklung des ländlichen Raums proklamiert. Wie nachhaltig dies ist, wird auch davon abhängen, inwiefern unterschiedliche regionalspezifische Herausforderungen adressiert werden. Ob Digitalisierung zur einer effektiven Regionalentwicklung und damit neuen Attraktivität der ländlichen Räume beitragen kann, steht und fällt zudem mit den Akteuren auf Dorfebene und ihrer Fähigkeit, Chancen zu nutzen und Problemen etwas entgegenzusetzen. Trotz aller Hoffnungen dürfen sowohl die Herausforderungen der ländlichen Räume als auch jene der Digitalisierung nicht aus dem Blick geraten. Es wäre fahrlässig, wenn öffentliche Infrastrukturen und Einrichtungen der Daseinsvorsorge aufgrund neuer digitaler Möglichkeiten wegrationalisiert werden. Auch fällt auf, dass die in Smart-City-Ansätzen diskutierten Risiken von Digitalisierung – wie etwa die Kontrollmacht globaler IT-Unternehmen (vgl. Bauriedl/Strüver 2018; Tretter/ Reichel/Gaugler 2020) – in den betrachteten Fällen wie auch generell in ländlichen Räumen bisher kaum zur Sprache kommen. Die relative Nähe beider Fallbeispiele zu

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Berlin birgt zudem die Ungewissheit, dass die beschriebenen Entwicklungen regional beschränkt sind und vielmehr mit einer Art »Überfüllung« der Stadt zu tun haben als mit einer wirklichen neuen Attraktivität ländlicher Räume. Nichtsdestotrotz zeigt sich aber das Potenzial einer hohen Lebensqualität in ländlichen Räumen, wenn Alltagsbedürfnisse adäquat erfüllt werden, und dazu können digitale Techniken durchaus einen Beitrag leisten.

L ITERATUR Bauer, Thomas K./Rulff, Christian/Tamminga, Michael M. (2019): Berlin calling – internal migration in Germany, Bochum: Ruhr-Universität Bochum (RUB). Baumann, Christoph (2018): Idyllische Ländlichkeit. Eine Kulturgeographie der Landlust, Bielefeld: transcript. Bauriedl, Sybille/Strüver, Anke (2018) (Hg.): Smart City – Kritische Perspektiven auf die Digitalisierung in Städten, Bielefeld: transcript. BBSR (2018): Raumordnungsbericht 2017. Daseinsvorsorge sichern, Bonn. BMEL (2020): Smarte Landregionen – Modellvorhaben. Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL), Bonn, https://www.bmel.de/DE/ themen/laendliche-regionen/digitales/smarte-landregionen/mud-smarte-landregionen.html [04.06.2020]. Brenner, János (2019): »Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse. Staatsziel im Grundgesetz und eigenständiges Förderprogramm für die Raumentwicklung«, in: Planerin 5/2019, S. 64-66. Dähner, Susanne/Reibstein, Lena/Slupina, Manuel/Klingholz, Reiner/Hennig, Silvia/Gruchmann, Gabriele (2019): Urbane Dörfer. Wie digitales Arbeiten Städter aufs Land bringen kann, Berlin: Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung. Dorfverein Barsikow (2020): Statusbericht 20.08.2020 - Sechs Monate Betrieb des Dorfmobils, Barsikow, http://dorfmobil.barsikow.de/wp-content/uploads/2020/ 08/StatusberichtDorfmobil20200820-1.pdf [30.11.2020] Engfer, Uwe (2018): »Ruhestandsmigration und Reurbanisierung«, in: Raumforschung und Raumordnung 76, S. 35-49. Floeting, Holger/Grabow, Busso (1998): »Auf dem Weg zur virtuellen Stadt? Auswirkungen der Telematik auf die Stadtentwicklung«, in: Informationen zur Raumentwicklung 1/1998, S. 17-30. Frömming, Urte Undine (2008): »Klimawandel und kulturhistorische Prädispositionen. Über den Wandel der ästhetischen und affektiven Wahrnehmung von Umwelt und Naturgefahren in der okzidentalen Moderne«, in: Bernd Hermann (Hg.), Beiträge zum Göttinger Umwelthistorischen Kolloquium 2007 – 2008, Göttingen: Universitätsverlag.

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Garic, Jennifer (2019): »So gelingt der Ruhestand im Ausland«, in: Capital vom 25.06.2019, online: https://www.capital.de/geld-versicherungen/so-gelingt-derruhestand-im-ausland [28.05.2020]. Gruber, Elisabeth (2017): Im Ruhestand aufs Land? Ruhestandsmigration und deren Bedeutung für ländliche Räume in Österreich, Wien/Münster: LIT. Hißnauer, Christian/Stockinger, Claudia (2021): »Gutes Leben in der Uckermark – intermedial. Gegenwärtige Narrative des Provinzerzählens und ein allgemeines Modell medialer Raumproduktion«, in: Werner Nell/Marc Weiland (Hg.), Gutes Leben auf dem Land? Imaginationen und Projektionen vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bielefeld: transcript, S. 141-165. Kappler, Melanie F. (2013): Ruhestandsmigration der deutschen Nachkriegskohorte. Dissertation, Karlsruhe. Kausmann, Corinna/Burkhardt, Luise/Rump, Boris/Kelle, Nadiya/Simonson, Julia/ Tesch-Römer, Clemens (2019): »Zivilgesellschaftliches Engagement«, in: Holger Krimmer (Hg.), Datenreport Zivilgesellschaft, Wiesbaden: Springer, S. 55-92. Klingelhöfer, Tobias (2020): »Ruhestand im Ausland? So erhalten Sie Ihre Rente, wo immer Sie wollen«, in: Focus Online vom 02.03.2020, https://www.focus.de/finanzen/experten/tobias_klingelhoefer/versicherungzahlt-weltweit-ruhestand-im-ausland-so-kassieren-sie-ihre-rente-wo-immer-siewollen_id_11614447.html [28.05.2020]. MAZ (2017): »Kaum einer will aufs Land Brandenburg«, in: Märkische Allgemeine vom 22.06.2017, https://www.maz-online.de/Brandenburg/Kaum-einer-willaufs-Land-in-Brandenburg [21.07.2020]. Medienanstalt Berlin-Brandenburg (2020): Smart Village – Die digitale Zukunft ländlichen Raums, https://www.mabb.de/smart-village.html [20.07.2020]. Meister, Gabriele (2020): »So planen Sie Ihren Ruhestand im Ausland«, in: Der Spiegel vom 28.05.2020, https://www.spiegel.de/familie/rente-so-planen-sie-ihrenruhestand-im-ausland-a-67e5cf3f-5a0f-4244-861a-d876a7c32dde [28.05.2020]. Neu, Claudia (2016): »Neue Ländlichkeit. Eine Kritische Betrachtung«, in: Anne Seibring (Hg.), Aus Politik und Zeitgeschichte, Land und Ländlichkeit. Zeitschrift der Bundeszentrale für Politische Bildung, 66, Bonn, S. 46-47. Noack, Anika (2017): »Elderly People in Rural Regions as Promoters of Social Innovations and Changing Knowledge«, in: Kristina Svels (Hg.), Proceedings of the XXVII European Society for Rural Sociology Congress: Institute of Sociology, Jagiellonian University, S. 118-119. Redepenning, Marc (2018): »Versteckte Geografien des Ländlichen. Was passiert mit dem Land, wenn die Städte ländlicher werden?«, in: Sigrun Langner/Maria Frölich-Kulik (Hg.), Rurbane Landschaften. Perspektiven des Ruralen in einer urbanisierten Welt. Wir leben in einer urbanisierten Welt, Bielefeld: transcript, S. 85-100.

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Sept, Ariane (2020): »Thinking together digitalization and social innovation in rural areas: An exploration of rural digitalization projects in Germany«, in: European Countryside 12, S. 193-208. Tretter, Felix/Reichel, Christian/Tobias, Gaugler (2020): »Digitalisierung und Nachhaltigkeit: humanökologische Aspekte«, in: GAIA 2, S. 132-133. WIWO (2019): »Kein einziger Cent mehr an Subventionen«, in: Wirtschaftswoche vom 01.08.2019, online: https://www.wiwo.de/my/politik/deutschland/30-jahremauerfall-kein-einziger-cent-mehr-an-subventionen-/24858892.html [21.07.2020]. ZDF (2019): Ost-Dörfer »aufgeben«? Kritik an neuer Studie, https://www.zdf.de/ nachrichten/heute/ost-studie-erregt-widerspruch-100.html [20.07.2020]. Zerrer, Nicole/Sept, Ariane (2020): »Smart Villagers as Actors of Digital Social Innovation in Rural Areas: Analysis of Two Case Studies«, in: Urban Planning 5 (4), S. 78-88.

Daten, Design und Zukunftswissen in der Mensch-Tier-Technik-Beziehung Zur Gestaltung von Architekturen und technischen Umgebungen beim Smart Farming I NA B OLINSKI »Das artenübergreifende Band beruht auf dem Bewusstsein der bevorstehenden Katastrophe: die ökologische Krise und die drohende Erderwärmung, von der Militarisierung des Weltraums gar nicht zu reden, reduziert alle Arten auf ihre gemeinsame Vulnerabilität.« ROSI BRAIDOTTI/POSTHUMANISMUS

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Im Sommer 2020 und unter den aktuellen Einflüssen der Corona-Krise veröffentlicht das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (BMU) eine Broschüre mit dem Titel WIR SCHAFFT WUNDER. FORTSCHRITT SOZIAL UND ÖKOLOGISCH GESTALTEN (BMU 2020). Reagieren möchte es mit dem »Impulspapier« vorrangig auf eine andere Krise – die Klima-Krise – und deren Brisanz in Bezug auf die globale Erderwärmung, die Zerstörung der Natur und alle in der Folge damit zusammenhängenden Veränderungen, die sich bereits heute abzeichnen. Das BMU entwirft neun »sehr konkrete Zukunftsbilder«, die beschreiben sollen, »wie unser Leben, unsere Wirtschaft, unsere Arbeit und unser Konsum im Jahr 2050 aussehen könnten, wenn wir das Klima konsequent schützen und die biologische Vielfalt erhalten« (ebd.: 4). Mit dem titelgebenden »Wunder« ist der Umbau sowohl in sozialer als auch in ökologischer Hinsicht in einer demokratischen Gesellschaft gemeint, die laut BMU nicht alleine auf die Macht und Wirkung der Marktwirtschaft

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setzen solle, sondern politische Interventionen zur Zielerreichung benötige. Auch der Landwirtschaft ist eine Zukunftsvision gewidmet, die, obwohl sie einen Zustand für das Jahr 2050 beschreibt, bereits heute im Präsens formuliert ist: »Die Landwirtschaft in Deutschland ist im Jahr 2050 vielfältig: Es gibt kleinere und größere Betriebe im Haupt- und Nebenerwerb, Viehhaltung, Obst- und Weinanbau und Ackerbau. Es gibt Ökolandwirtschaft mit höchsten Standards, aber auch alle anderen Betriebe wirtschaften nachhaltig. Dadurch ist der noch vor 20 Jahren polarisierende Gegensatz von konventioneller und ökologischer Landwirtschaft nahezu aufgelöst.« (Ebd.: 38)

Für die nun folgenden Ausführungen würde man erwarten, dass auch konkret die in dreißig Jahren relevanten Akteure Beachtung finden, wenn heute schon der zukünftige Zustand der Landwirtschaft mit ihren vielfältigen Beteiligten und Verflechtungen als so gegeben formuliert wird. In Bezug auf den Technikeinsatz bleibt der Broschürentext allerdings äußerst vage und beschränkt sich darauf zu prognostizieren, dass heutige Systeme in der bereits vorliegenden Form lediglich im veränderten Maßstab eingesetzt werden.1 »Außerdem kommen methodische, technologische und digitale Innovationen zum Einsatz. Dünge- und Pflanzenschutzmittel werden schon seit Langem nicht mehr ›mit der Gießkanne‹, sondern je nach Wind und Wetter, kleinteilig und am tatsächlichen Bedarf orientiert ausgebracht. Mithilfe künstlicher Intelligenz werden öffentliche Daten zu Böden, Klima, Wetter und der Lage zu schonender Lebensräume für eine naturverträgliche Bewirtschaftung der Ackerflächen genutzt. Landwirtinnen und Landwirte bringen zum Beispiel ihre Daten zu Schädlingen in offene Daten-Clouds ein, sodass andere Landwirtinnen und Landwirte sowie die Umwelt davon profitieren können. Hochauflösende Satellitenbilder haben dabei geholfen, Umweltauflagen unbürokratisch zu kontrollieren. Schwere bodenverdichtende Maschinen konnten immer öfter durch kleinere Geräte ersetzt werden, die autark mit der Natur kommunizieren.« (Ebd.: 39)

Das gezeichnete Zukunftsszenario wird schon heute international mit Konzepten, die unter Begriffen wie Smart Farming, Ubiquitous Farming, Intelligent Farming oder auch Precision Farming subsumiert werden, verhandelt, praktisch ausprobiert und bereits vielfach angewendet. Diese Begriffe werden bislang nicht einheitlich verwendet und erlauben zusätzliche Unterteilungen wie in Precision Crop Farming oder Precision Livestock Farming. Im deutschsprachigen Raum ist bei der von Technik

1

Vgl. die mit einem Bild in der Broschüre ausgelöste Diskussion zu einem schon heute nicht zeitgemäßen Rollenbild von Landwirtinnen und Landwirten, das später ersatzlos entfernt wurde: Leopold (2020a u. 2020b).

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durchdrungenen Landwirtschaft in Analogie zur Industrie 4.0 auch die Rede von Landwirtschaft 4.0. Auch wenn die mit diesen Begriffen verbundenen Konzepte unterschiedliche thematische Schwerpunkte haben und verschiedene technische Systeme beinhalten können, vereinen sie ein übergreifendes, smartes und ubiquitäres System innerhalb der Landwirtschaft, das auf den Einsatz von digitalen Techniken rekurriert und von medientechnischen Einsatzpunkten ausgehend operiert. Kombiniert werden können sowohl Komponenten aus dem Bereich des Agrarwesens als auch aus der Nutztierhaltung. Gegenwärtig ergänzen digitale Systeme die analogen Betriebe und verschiedene Prozesse werden fortlaufend automatisiert. Ziel ist es, nicht mehr pauschal große Bereiche zu bewirtschaften, sondern sie als kleine und kleinste Einheiten individuell in den Blick zu nehmen. Versprochen wird einerseits eine steigende Produktivität und somit eine ökonomische Maximierung, die damit nicht zuletzt auf die Herausforderungen, die steigende Weltbevölkerung zu ernähren, reagiert (vgl. Coghlan et al. 2002). Andererseits soll durch das Freisetzen von neuen Produktivkräften und die individuelle Aufmerksamkeit für die zu bewirtschaftenden Einheiten auch ein Beitrag zu einer ökologisch nachhaltigen und ressourcenschonenden Landwirtschaft geleistet werden. Sie besteht beispielsweise in der präzisen und technikgestützten Bewirtschaftungsweise von Agrarflächen, die den Einsatz von Saatgut optimiert und, bei gleichzeitiger Optimierung von Wasser oder Maschineneinsatz, nötige Düngemittel reduziert. Pestizide werden aufgrund entsprechender Datenlagen nicht mehr pauschal auf die gesamte Fläche aufgebracht, sondern punktuell eingesetzt. Und auch der Zeitpunkt der Ernte kann entsprechend des Reifungsgrades der Pflanzen gewählt werden und muss nicht mehr für eine gesamte Fläche zur selben Zeit erfolgen. Das Ziel ist es also, die ökonomischen Faktoren Zeit, Kosten und materielle Ressourcen nachhaltiger und effizienter zu nutzen. Für die Automatisierung der Prozesse und die Steigerung der Produktivität sind verschiedene technische Systeme im Einsatz, dazu tragen Verfahren zur automatischen Identifizierung, unterschiedliche Sensor-Technik, Drohnen, Netzwerk-Technologien sowie technische Standardisierung von Plattformen zur Erhebung, Aufbereitung, Verteilung und Nutzung der Daten bei (Suprem/Mahalik/Kim 2013).2 Diese Fülle an Einsatzmöglichkeiten und die Integration von vielfältigen technischen Systemen verdeutlicht, dass neue Akteure auf den Plan treten. Die Landwirtschaft ist nicht mehr alleine von Menschen, Tieren, Pflanzen und Maschinen bestimmt, sondern mit der Digitalisierung werden schon jetzt zunehmend medientechnische Akteure relevant. Gefragt wird im vorliegenden Beitrag daher, wie sich durch dieses Zusammenspiel die jeweiligen Akteure in verschiedene Designentwürfe

2

Vgl. stellvertretend zu Luftaufnahmen mit Drohnen für Smart Farming Systeme: Tripicchio et al. (2015).

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und architektonische Gestaltungen für die Landwirtschaft der Zukunft einschreiben. Es gilt dabei, die Akteure nicht nebeneinander zu betrachten, sondern sie in einem hierarchiefreien Verhältnis innerhalb von Netzwerkstrukturen zu beschreiben. Mit der Fokussierung auf die Beziehungen von Mensch, Tier und Technik innerhalb der smarten Landwirtschaft wird zugleich ein Beitrag für die medienwissenschaftliche Tierforschung als auch für die tierliche Medienforschung geleistet (vgl. dazu ausführlich Bolinski 2020a).

N ATURE , C ULTURE , A GENCY Das Spektrum der Mensch-Tier-Beziehungen unterliegt individuellen Ausprägungen. Das Forschungsfeld der Human-Animal Studies fragt deshalb explizit nach den Bestimmungen von dem, was einzelne Tiere sind, wie sie als Individuen in den Diskursen Bedeutung erlangen und sich individuell in diese einschreiben – und das jenseits von einer Subsummierung unter dem Kollektivsingular »Tier«. Die angestrebte Interdisziplinarität auch über die Fächergrenzen der Natur- und Geisteswissenschaften hinaus macht deutlich, dass wissenschaftliche Forschung, politischer Aktivismus und gesellschaftliche Relevanz in einem engen und sich wechselseitig beeinflussenden Verhältnis stehen.3 Mit der Aktualität und Notwendigkeit der Beschäftigung mit Tieren ist auch eine Kritik am vorherrschenden Anthropozentrismus verbunden: Fast allen Mensch-Tier-Beziehungen, auch wenn sie viele verschiedene Ausprägungen annehmen können, ist eine anthropozentrische Weltanschauung eigen. Der Mensch konzeptualisiert das Tier als entsprechend minderwertiger, indem er sich in einer hierarchischen Ordnung über es erhebt. Festgeschrieben werden damit neben Abgrenzungen auch entsprechende Machtverhältnisse, die oftmals unreflektiert bleiben. Große Vorbehalte gibt es innerhalb der Human-Animal Studies, auf entsprechende Kategorisierungen zurückzugreifen und die bestehenden Machtverhältnisse dadurch fortzuschreiben. Im Anschluss an die entsprechenden Anliegen und praktischen Umgestaltungen zeigt sich, dass die Etablierung von Standards im Umgang mit Tieren zu den großen gesellschaftlichen Herausforderungen zählt. Ein Paradigmenwechsel, der die Tiere nicht mehr nur als passive Objekte, sondern als individuelle und eigenständige Akteure erachtet, ist die Grundlage für die neue (wissenschaftliche) Beschäftigung mit Tieren.

3

Vgl. bspw. zur Forschungsrichtung der Human-Animal Studies stellvertretend: Chimaira – Arbeitskreis für Human-Animal Studies (2011); DeMello (2012); Münch (1998); Spannring/Schachinger/Kompatscher/Boucabeille (2015); Otterstedt/Rosenberger (2009); Petrus (2015).

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Insbesondere für Nutztiere heißt das, dass sie eine neue Form der Sichtbarmachung benötigen. Denn im historischen Verlauf ist das Nutztier, beginnend mit seiner Domestizierung und dann vor allem im Zuge von professionalisierter Massentierhaltung, zunehmend aus dem gesellschaftlichen Blickfeld verschwunden (vgl. Settele 2017). Im physischen Verschwinden, hervorgerufen durch eine reine Stallhaltung, die die Weidehaltung ersetzt hat, sowie der damit einhergehenden Einführung von künstlichen und architektonischen Umgebungen, erkennt der Schriftsteller John Berger zugleich auch das Verschwinden der Tiere an sich (vgl. Berger 1980). Nutztiere geraten nur noch äußerst selten in das Blickfeld der Menschen; und direkte Mensch-Tier-Begegnungen finden auf diese Weise nicht mehr statt. Gleichzeitig zeigt sich eine große Ambivalenz im Umgang mit den Tieren, der sich über Nähe und Distanz organisiert. Damit unterscheiden sich auch die Möglichkeiten der unmittelbaren Wahrnehmung und des Inkontakttretens, wenn man bspw. an sogenannte »Haustiere«, »Wildtiere«, »Zootiere« oder eben »Nutztiere« denkt – trotz aller Problematik der Kategorisierungen (vgl. bspw. Herzog 2012; Joy 2010).4 Mit den Formen der Kategorisierung gehen Bestimmungsversuche, was der Mensch und was das Tier überhaupt sei, einher. Diese sind gerahmt von einer weiteren Opposition, die die Arten zwischen Natur und Kultur zu verorten suchen. Unterläuft man die Logik, das Tier als »natürlich« gegeben oder »kulturell« hergestellt zu betrachten, lässt sich mit der Agency eine weitere Sichtweise einführen, die es zulässt, Tiere als eigenständige und handelnde Akteure zu beschreiben. Der Soziologe Bruno Latour hat mit der Akteur-Netzwerk-Theorie ausgearbeitet, wie nichtmenschliche Entitäten an den kulturellen Tätigkeiten der Menschen beteiligt sind und wie diese in einem Netzwerk ihre Wirk- und Handlungsmacht entfalten können – ohne den Status von sich selbst bewussten Subjekten haben zu müssen (vgl. Latour 2007). Für eine Analyse von Handlungszusammenhängen und Relationen in Netzwerken, an denen verschiedene Agenten wirkmächtig werden, wird keine Symmetrie der beteiligten Akteure benötigt. Damit bietet die Akteur-Netzwerk-Theorie – neben der vor allem ethisch grundierten Kritik an aktuellen Zuständen der Massentierhaltung – eine grundlegende Möglichkeit des Perspektivwechsels. Mit der Fokussierung auf die Tiere als Akteure, aber ebenso auch auf die eingesetzten Techniken in der digitalen Landwirtschaft und beim Smart Farming, lässt sich das Mensch-TierTechnik-Verhältnis neu verorten, indem die unterschiedlichen Prozesse, die zeitlichen Abläufe, aber auch die räumlichen Anordnungslogiken eine Form von hierarchie- und somit möglichst wertfreier Gleichberechtigung in der Analyse erlauben.

4

Diese Kategorien unterliegen einer doppelten Zuschreibungsproblematik, da sie nicht nur einzelne Tierarten, sondern auch die Individualität des einzelnen Lebewesens außer Acht lassen.

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Für eine medienwissenschaftliche Tierforschung im Zuge des Animal Turn (vgl. stellvertretend Murken 2015; Ritvo 2007; Peters/Stucki/Boscardin 2014) bedeutet das, Tiere nicht mehr als bloße Gegenstände in Medien, als Symbole, Embleme oder Metaphern zu betrachten, sondern nach ihrem Umgang mit Medien zu fragen. Mit Blick auf die entsprechenden Praxeologien können lebendige und nichtlebendige Seinsarten auf neue Weise aneinander angenähert und der Biologisierung des Medienbegriffs Vorschub geleistet werden (vgl. Thacker 2003). Dabei hat das Digitale das Potential, das Biologische zu transformieren und für die Medien- und Kulturwissenschaft anschlussfähig zu machen. Medien sind dabei einerseits selbst als Akteure zu betrachten, die eine Form von Agency entfalten, andererseits konstruieren auch diese medialen Umgebungen die Umwelten aller Seinsarten (vgl. Parikka 2010). Die Bedeutung des Tieres verändert sich grundlegend durch die Biologisierung der Medien. Die in dem Tier verankerte Unterscheidung zum Menschen, aber auch zum Artefakt, befindet sich zunehmend in Auflösung. Somit sind Tiere, ebenso wie die anderen Agenten, Teile von gemeinsamen Umwelten und können gestaltend und konstituierend auf diese einwirken – so wie es neben Menschen auch reale und virtuelle Dinge tun können (vgl. Hörl 2011). Deshalb ist es lohnend, nicht nur allein nach der Handlungsträgerschaft der Tiere zu fragen, sondern ebenso die technischen Anordnungen im Bereich der Nutztierhaltung zu betrachten. Eine Grundvoraussetzung dafür ist, dass jedes Tier individuell gekennzeichnet und somit adressierbar ist. Seit Mitte der 1980er Jahre kommen dafür zunehmend Systeme zur elektronischen Tierkennzeichnung zum Einsatz, die auf der Basistechnologie Radio Frequency Identification (RFID) aufbauen.5 Dafür wird ein Transponder am Tier (bspw. verbaut in Ohrmarken, Hals- oder Fesselbändern) oder im Tier (injiziert in Form kleiner Mikrochips) angebracht. Mit einem Lesegerät kann der Transponder aktiviert und die in ihm gespeicherte Identifikationsnummer ausgelesen werden. Es sind zunehmende Herdengrößen, weitreichendere Managementaufgaben und immer weniger in der Landwirtschaft beschäftigtes Personal, die die Akzeptanz und den immer flächendeckenderen Einsatz technischer Systeme dieser Art im Bereich der elektronischen Tierkennzeichnung und des datengestützten Herdenmanagements befördern. Technisch korrespondieren mit der elektronischen Tierkennzeichnung Systeme zur automatischen Fütterung, Melkroboter, die autonom arbeiten, oder Wiege-, Verlade- und Sortiereinrichtungen. Diese Abläufe lassen sich ohne menschliche Arbeitsleistung steuern. Mit Hilfe von Sensoren und anderen Messsystemen können noch zusätzliche Funktionen genutzt werden, um Werte wie die Körpertemperatur, den Herzschlag und die Herzfrequenz, verschiedene pH-Werte und Hormonprofile zu ermitteln und einem Tier automatisch durch die elektronische

5

Vgl. zu technischen Spezifikationen: Finkenzeller (2015); sowie zur medien- und kulturwissenschaftlichen Perspektive auf RFID: Rosol (2008); Hayles (2009).

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Tierkennzeichnung zuzuordnen. Zusammen mit Aktivitätsmustern über Standortanalysen oder ermitteltem Stresslevel geben diese Daten Aufschluss über den Zustand des Tieres und erleichtern das Gesundheitsmonitoring. Daraus ergeben sich verschiedene mediale Anordnungen, die unterschiedliche Komplexitäten, Grade der Technisierung und Implementierungen der Komponenten aufweisen. In einem weiteren Schritt lässt sich durch die verschiedenen Parameter der aktuelle Zustand und das Verhalten der Tiere nicht nur beschreiben, sondern auch vorhersagen, indem die gewonnenen Daten in verschiedene Berechnungsmodelle überführt und in Simulationsszenarien eingesetzt werden (vgl. stellvertretend Martin et al. 2011; Cveticanin 2005). Mit Blick auf die Tiere lässt sich außerdem beim modernen Herdenmanagement feststellen, dass sie sich auch aktiv der Technik bedienen – im Gegensatz zum für das Tier überwiegend passiv stattfindenden Gesundheitsmonitoring. Die Tiere interagieren mit der Technik, indem sie in ihren von Technik durchdrungenen Stallumwelten in eine kommunikative Verbindung treten, sei es beim Gang in die Melkroboter oder durch das Aufsuchen von Fütterungsautomaten, die die Tiere registrieren und entsprechend der hinterlegten Daten mit ihnen Aktionen ausführen.

L ANDWIRTSCHAFTLICHE A RCHITEKTUREN UND Z UKUNFT

DER

G EGENWART

Das Tier erhält in diesem Gefüge einen neuen Status. Eine medienwissenschaftliche Beschäftigung mit Nutztieren trägt dazu bei, über das Verhältnis von Menschen und Tieren in ihrer Konfrontation mit Technik und in technischen Umgebungen in veränderter Weise nachzudenken. Das betrifft die technologischen Systeme, mit denen Tiere interagieren oder die an verschiedenen Stellen unmerklich Daten erheben, ebenso wie die architektonischen Gefüge, die die Gestaltung von tierlichen Lebensräumen bestimmen. Denn heute sind Tiere nicht nur Teil technischer Anordnungen, sondern vielmehr selbst auf die medialen Umgebungen und Raumkonzepte einwirkende Entitäten. Das aus den verschiedenen medialen Systemen generierte Wissen über die Tiere, die tierlichen Beziehungen untereinander, die Physiognomien und Bewegungsmuster, gehen wiederum in die Ausgestaltung der Nutztieranlagen ein. Sowohl die körperlichen Parameter als auch die Tierbewegungen müssen bei der Gestaltung von Architekturen berücksichtigt werden. In dem Standardwerk BAUENTWURFSLEHRE von Ernst Neufert wird mit normierten Werten ein durchschnittlich großes Nutztier angegeben, an dem sich die Stallarchitekturen ausrichten sollen (vgl. Neufert 2018). In entsprechenden Fachpublikationen etwa zum RINDERSTALLBAU wird der Tierkörper differenzierter betrachtet; und auch der entsprechende Platzbedarf wird nicht allein in seinem statischen Zustand, sondern für unterschiedliche

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Bewegungen wie beim Abliegen oder Aufstehen ermittelt (vgl. Bartussek et al. 2008). Die Architekturen der landwirtschaftlichen Betriebe berücksichtigen neben den entsprechenden Tierbewegungen die verschiedenen funktionell ausgewiesenen Bereiche sowie die zunehmende Technikintegration. So sehen beispielsweise die Anlagen, die den sogenannten »Cow Traffic« organisieren, beim gelenkten Kuhverkehr vor, dass ein Tier erst Zugang zu dem Gang mit dem Futterplatz erhält, wenn es vorher die Melkvorrichtung passiert hat – andernfalls steht ihm kein Futter zur Verfügung. Beim freien Kuhverkehr ist das Tier hingegen mit mehr Wahlfreiheit ausgestattet und diese Lenkung findet nicht statt (siehe Abb. 1). Damit geht das Versprechen nach mehr Autonomie für das Tier einher, die allerdings immer nur innerhalb bestimmter und genau definierter Parameter möglich ist – geschaffen wird damit ein »angemessenes freiwilliges Verhalten« der Tiere (vgl. Holloway 2007: 1050f.). Abb. 1: Cow Traffic.

Jago/Bright/Dela Rue (2009: 171)

Mit der Digitalisierung der Landwirtschaft und der Nutzung verschiedener technischer Systeme, die in die Betriebe Eingang finden, aber ebenso mit der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit, die Tiere jenseits der Naturwissenschaften erfahren, verändern sich auch die Architekturen und Umwelten der Nutztiere. Tiere spielen eine

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Rolle innerhalb von Designprozessen, die neben technischen und ästhetischen Aspekten auch materielle und visuelle Kulturtechniken enthalten. Tiere sind allerdings keine Neuentdeckung in der Architektur, da sich das Zusammenleben mit ihnen schon immer über gemeinsame Nutzungen von Räumen, Gestaltungen innerhalb von architektonischen Anlagen und räumlichen Anordnungslogiken organisiert hat (vgl. Dodington 2015). Der Architekt Edward M. Dodington vertritt die Meinung, dass posthumanistische Architekturen den Tieren eine neue Bedeutung zukommen lassen müssen, indem aktiv die verschiedenen Perspektiven aller Organismen in die Planungen mit einbezogen werden. Damit findet eine Verschiebung statt, die den Fokus von den menschlichen Bedürfnissen auf artenübergreifende kollaborative Netzwerke legt und sich in einem gemeinsamen »Wachsen« und »Schaffen« niederschlägt. An den Architekturen und Designs werden ökologisches Miteinander und komplexe Wechselbeziehungen sichtbar. Damit besteht auch die Chance, einzelne Spezies aus dem Mittelpunkt der Designgestaltungen zu rücken und gleichzeitig in der architektonischen Materialität das neue Miteinander zu manifestieren (vgl. Dodington 2009). Projekte, die alternative Formen des Zusammenlebens entwerfen und erproben, fügen sich in eine posthumanistische Denkweise ein, indem sie die Rolle des Menschen und sein Verhältnis zu anderen Spezies in Frage stellen. Neben Aspekten der Ästhetik, der Funktionalität und der materiellen Gestaltung geht es auch um die Integration von nichtmenschlichen Akteuren in die Designprozesse. Und mit diesem Ansatz wird die Unterscheidung von »Design für Tiere« und »Design von Tieren« unscharf. Der Landschaftsarchitekt Thomas E. Hauck und Wolfgang Weiser, der im Bereich terrestrische Ökologie tätig ist, zeigen beispielsweise mit dem Konzept des Animal-Aided Design, wie mit dem konsequenten Einbeziehen von Tieren in die Städteplanung die Voraussetzungen für deren Ansiedlung geschaffen werden. Tiere mitsamt ihren unterschiedlichen Ansprüchen an den je konkreten Lebensraum sind Teil des Gestaltungsentwurfs. Mit diesem Vorgehen werden sie zu anerkannten Akteuren, wodurch schließlich auch die Etablierung bestimmter Tierarten in einzelnen städtischen Bereichen nicht länger ein unkalkulierbares Risiko sein soll (vgl. Hauck/Weisser 2017). Anordnungen, Architekturen und Räume werden zu Orten des neuen Miteinanders bezüglich ihrer Gestaltung und Nutzung. Und auch Kulturräume und Naturräume mitsamt den in sie eingelassenen Menschen und Tieren werden bei diesen Planungsprozessen einander neu angenähert und miteinander verbunden. Die weitere Vernetzung der Akteure und das zirkulierende Wissen trägt zu einem neuen, kommunikativen Miteinander bei, das zugleich wieder die Landwirtschaft betrifft. Aus dem Einsatz von Techniken beim Smart Farming und aus der Integration von Tieren in die Designprozesse gehen visionäre Ideen hervor, die sich Fragen der Nachhaltigkeit, der effizienten Bewirtschaftung und der lokalen Lebensmittel-

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produktion stellen. Dabei dient die sich in einem krisenhaften Zustand befindliche Welt als holistisches Narrativ, mit dem sich die Notwendigkeit von praktischen Ausgestaltungen begründen lässt. Sie regt dazu an, die entsprechenden Architekturen als zentralisierte Regelkreisläufe zu organisieren. Es sind verschiedene Mechanismen der Reduktion und Stabilisierung zusammen mit einer starken Fokussierung auf kleine Einheiten, die sie zukunftsfähig machen sollen. Beispielhaft dafür können die jüngst vermehrt diskutierten und mitunter auch schon zur Anwendung gebrachten Konzeptentwürfe der Aquaponik gelten. Beim sogenannten »Tomatenfisch« werden die Haltung und Zucht von Tomaten und einem Buntbarsch miteinander in einer gemeinsamen Anlage zusammengeführt. In einem geschlossenen Stoffkreislauf mit geringem Energie- und Wasserverbrauch sollen beide Spezies in einer nahezu emissionsfreien Anordnung voneinander profitieren, indem die Tomatenpflanzen das Kohlendioxid der Fische aufnehmen und es in Sauerstoff beim Wachstumsprozess umwandeln, den wiederum die Fische benötigen (siehe Abb. 2).6 Abb. 2: Kreislauf im geschlossenen Gewächshaus zur Herstellung von Erträgen aus Fisch- und Gemüsezucht.

Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei IGB (o.J.).

Das Projekt soll sich beliebig skalieren lassen, so dass es sich für die Umsetzung in industriellen Großanlagen ebenso eignet wie für Varianten im Kleinstformat für den Eigenbedarf. Mit der Möglichkeit, das Konzept auch im kleinen Maßstab anzuwenden, ist dieses Projekt neben anderen Vorhaben ähnlicher Art Ergebnis und Teil einer

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Vgl. dazu die TOMATENFISCH-BROSCHÜRE des Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei IGB (o.J.) sowie weiterführend Bernstein (2011).

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Bewegung, die sich unter dem Begriff Urban Farming firmiert und den Anspruch hat, den städtischen Lebensraum zunehmend auch für den Anbau von Obst und Gemüse oder die Haltung von Nutztieren zu erschließen. Damit wird der Trend, landwirtschaftliche Produktionsprozesse im ländlichen Raum und weit entfernt von Ballungszentren anzusiedeln, nachgerade umgekehrt. Neben in kleinen Kreisläufen organisierten Formen gibt es auch Ideen für tiny architecture, also winzige Architekturen, wie bei THE WINDOW UNIT, um Fische, Bienen oder Hühner für den eigenen Bedarf in modularen und genormten Elementen, die an die Außenseiten von Fenstern im städtischen Raum angebracht werden, zu halten.7 Das Ziel dabei ist es, einen neuen Raum zu erschaffen, der die Grenzen von innen und außen, von natürlicher und hochgradig technischer Bewirtschaftung, von Stadt und Land, von selbst gewähltem Lebensraum von Menschen und zugewiesenen Anlagen für Nutztiere auflöst.8 Oder es wird mit verschiedenen Varianten aus dem Bereich vertical farming eine Lösung für das Problem des geringen Platzangebots in Städten gefunden, indem der Anbau bzw. die Tierhaltung aus der horizontalen Anordnungslogik auf dem Land in die vertikale urbane transformiert wird (vgl. Despommier 2010). Dafür kommt ein ganzes Arsenal technischer Systeme zum Einsatz, um die Überwachung von Bewässerung und Nährstoffzufuhr, die Regelmäßigkeit der in Kreisläufen organisierten Prozesse, die Berücksichtigung klimatischer Bedingungen, den effizienten Einsatz von Energieressourcen, die Steuerung von In- und Output sowie die Stabilität der Umgebungsparameter zu gewährleisten. Neben der Kultivierung von Pflanzen in vertikalen Beeten (vgl. Kozai 2018) oder Schweinen in sogenannten »Schweinehochhäusern« (Driessen/Korthals 2012), ist auch die »Kultivierung des Alarmszenarios« ein wesentlicher Bestandteil der Diskurse um zukünftig ausgerichtete Bewirtschaftungsformen zur Herstellung von Lebensmitteln (Idies 2012: 295). Damit reagieren unterschiedliche Designentwürfe, die bereits heute umgesetzt werden, auf die verschiedenen erkenn- und erwartbaren Auswirkungen der aktuellen Klimakrise. So wird der Kuhstall bei der FLOATING FARM DAIRY in Rotterdam in Erwartung auf den in Zukunft noch weiter ansteigenden Meeresspiegel, zunehmende Überschwemmungen und immer weniger verfügbare Landmasse bereits jetzt auf das Wasser verlagert. Im Frühjahr 2019 haben über dreißig Milchkühe diese schwimmende Plattform im Hafen bezogen (siehe Abb. 3).

7 8

Vgl. »The Window Unit«, http://crookedworks.com/projects/windowunit (15.09.2020). So heißt es etwa auf der Website zur WINDOW UNIT: »This synergistic relationship couples habitat for animals with edible products for humans, creating a scalable model for increasing urban self-sufficiency.«

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Abb. 3: FLOATING FARM DAIRY.

https://goldsmith.company/wp-content/uploads/2019/04/W_M-RubenDarioKleimeer-GoldsmithArchitects-FloatingFarm_2400x1714pix.jpg (02.09.2020)

Ziel ist es, einen möglichst autark arbeitenden Betrieb zu generieren, der sich selbst über Sonnenkollektoren und Windräder mit Energie versorgt und in Recycling-Prozesse der Stadt eingebunden ist, indem beispielsweise die Tiere Grasabfälle oder Nebenprodukte von anderen Lebensmittelproduktionen aus Rotterdam erhalten. Gleichzeitig sollen die Bewohner auf Milchprodukte, die direkt in der Stadt auf der FLOATING FARM DAIRY in deren unteren Geschossen erzeugt wurden, zurückgreifen können.9 »The design is, in essence, an agricultural building based on nautical principles. Organisation, structural principles and use of materials are used to enhance the buoyancy and stability. The result is a stacked organisation that places all heavy structural- and technical components in the submerged part of the building. All significant and transparent functions are situated on in a lightweight structure on top. The result is a 3-layered façade ranging from concrete to translucent polycarbonate to entirely open. Three connected concrete pontoons house the production of fruits (ingredients for yogurt), rain- and wastewater recycling and additional installations. On the upper factory floor combines milk and yogurt processing, feeding system, manure

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Vgl. Floating Farm, online unter: https://floatingfarm.nl (22.08.2020).

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handling and retail. The covered cow garden is supported by a manure cleaning robot and a milking robot along with various elements regarding animal welfare. The two galleries around the cow garden – vertically connected via two steel bridges – string together various evocative spaces to make an educational route. Along this route visitors gain insight on all activities in the Farm without disturbing the business process.«10

Nicht nur die üblicherweise bestehenden Grenzen von Land und Wasser werden durch solche Systeme aufgebrochen, auch die bekannte und vorherrschende Trennung von städtischer und ländlicher Lebensform der Menschen und der Tiere erfahren Verflechtungen. Ebenso werden verschiedene Stationen der Prozessketten in der Herstellung von Lebensmitteln wieder an einem Ort zentralisiert und wirken den räumlich weit verteilten Herstellungsprozessen und den damit verbundenen komplexen Logistikabfolgen entgegen (siehe Abb. 4). Abb. 4: FLOATING FARM DAIRY.

https://goldsmith.company/wp-content/uploads/2019/04/054_FLOATINGFARM_STACKED-LANDSCAPE_190611_2200x1584pix.jpg (02.09.2020).

10 Goldsmith: https://goldsmith.company/floating-farm-dairy/ (04.09.2020).

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Darin besteht auch nicht zuletzt ein pädagogischer und aufklärerischer Anspruch: Die FLOATING FARM DAIRY empfängt Besucher, so dass die Nutztiere durch die offene Bauweise und die exponierte Lage im Hafen in das Sichtfeld der Menschen geraten. Außerdem sollen der interessierten Öffentlichkeit die Bedingungen der Tierhaltung und die Produktionsprozesse nähergebracht werden. Neben Formen von neuer Sichtbarkeit geht es vor allem auch um ein neues Miteinander, das durch das immer begrenztere Platzangebot auf der Erde und die knapper werdenden Ressourcen notwendiger denn je scheint. Das Ziel, einen Weg aufzuzeigen, wie eine Koexistenz von Menschen mit der sie umgebenden Natur aussehen könnte, sieht auch der Architekturentwurf THE MONUMENT OF GIANT aus Südkorea vor. Bei diesem wird in den Stamm eines Mammutbaums ein Turm für die menschliche Nutzung als Gebäude integriert (siehe Abb. 5). Abb. 5: Architekturentwurf THE MONUMENT OF GIANT.

Jinhyeuk/Changwon/Kyuhyung/Sunwoong (2017)

In der Kurzbeschreibung heißt es mit Blick auf den die Natur ausbeutenden Menschen und seiner diagnostizierten Unfähigkeit zur Koexistenz mit der Natur: »Deforestation is one of the worse crimes on nature and also one of the main causes of natural disasters. Now it is the time to change, to stop exploiting nature and find equilibrium. […] This project attempts to show a new architectural approach to human coexistence with nature, in harmony with the nature’s temporality.« (Jinhyeuk/Changwon/Kyuhyung/Sunwoong 2017)

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Damit reagiert der Entwurf einerseits ganz konkret auf den desaströsen Zustand einiger dieser Mammutbäume in den USA und zeigt andererseits abstrakt auf, wie ein Leben in Einklang mit der Natur in einem ästhetischen, aber auch in einem ökologischen Zusammenspiel gestaltet werden könnte (siehe Abb. 6). Abb. 6: Architekturentwurf THE MONUMENT OF GIANT (Ausschnitt).

Jinhyeuk/Changwon/Kyuhyung/Sunwoong (2017)

Diese Beispiele führen vor Augen, welche Auswirkungen menschliche Handlungen auf die Umwelt und die natürlichen Ordnungen haben und wie diese in eine positive Richtung über die aktive und ästhetische Gestaltung gewendet werden soll. In der Wahrnehmung erlangt die Natur in Bezug auf den Raum einen Zustand der Formbarkeit sowie in Bezug auf die Zeit einen Status der Prozesshaftigkeit. Der Mensch steht vermehrt in einer Wechselbeziehung zu anderen Wesen und zur Natur, die somit selbst eine geosoziale und eine politische Dimension in dem postulierten Zeitalter des Anthropozäns bekommt. Latour führt dafür, und um den oppositionellen Logiken vom Globalen und vom Lokalen zu entgehen (die er als Teil des Problems sieht), das Konzept des »Terrestrischen« ein:

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»Shifting from a local to a global viewpoint ought to mean multiplying viewpoints, registering a greater number of varieties, taking into account a larger number of beings, cultures phenomena, organisms and people« (Latour 2018: 12f., Hervorh. im Original).

Die Natur selbst bekommt eine Handlungsmacht, indem jede Handlung der Menschen in Bezug auf die Auswirkungen auf die Natur betrachtet wird. Vor diesem Hintergrund erscheinen auch entsprechende Designentwürfe wie THE MONUMENT OF GIANT oder FLOATING FARM DAIRY, die sich – trotz oder gerade durch die künstlerische Gestaltung und hochgradig technische Aufrüstung – zur Natur in Beziehung setzen, nicht mehr als skurrile oder visionäre Ideen einzelner Architekten. »Either one speaks of ›nature‹, but then one is far away; or else one is close by, but one expresses only feelings. Such is the result of the confusion between the planetary vision and the Terrestrial. It is about the planetary vision that one can say, considering things ›from above‹, that it has always varied and that it will outlast humans, making it possible to take the New Climatic Regime as an unimportant oscillation. The Terrestrial, for its part, does not allow this kind of detachment.« (Ebd.: 72)

Die Natur wird von einem universellen Akteur zu einem politischen Akteur, aber auch zu einem sozialen Akteur, der in prozedurale Strukturen eingebunden ist. Es ist deshalb vielmehr der Versuch eine Umgestaltung der bedrohten Welt aller verschiedenen Seinsarten oder Mannigfaltigkeiten vorzunehmen, um ein neues Klimaregime, wie Latour es nennt, zu etablieren (vgl. ebd.: 72). Gemeinsam sorgen alle Akteure für eine Konstanz, auch wenn sich die Bedingungen verändern. Mit diesem Narrativ vom neuen Klimaregime ist ein Appell verbunden, der allen Akteuren konstituierende Fähigkeiten zuspricht, die relevant für die Stabilisierung der Gesellschaft durch die Gestaltung der Umgebungen und Lebensräume sind (vgl. Latour 2017).

D IE V ULNERABILITÄT

DER

A LLIANZEN

Die Vermischung der menschlichen, tierlichen und technischen Akteure macht eine ontologische Unterscheidung in biologische und technische, in belebte und unbelebte, in natürliche und künstliche, in gewachsene und artifizielle, in soziale und kalkulierende Akteure schwierig. Das hat auch Folgen für die zukünftige Gestaltung der Lebenswelt und das neue Miteinander. Gerade im Bereich der Landwirtschaft zeigt sich das mit der zunehmenden Vermischung von Architektur für Tiere und Architektur von Tieren, von Tierhaltung im ländlichen und Tierhaltung im städtischen Raum, von horizontaler und vertikaler Architektur, von konventioneller und

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ökologischer Bewirtschaftung, von materiellen Nutztieranlagen und immateriellen Daten sowie von heutigem und zukünftigem Wissen, das über verschiedene Datenbestände hergestellt wird. Im Vorwort der Broschüre des BMU heißt es deshalb, dass »eine breite gesellschaftliche Allianz für den sozialen und ökologischen Umbau« notwendig sein werde (BMU 2020: 5). Das BMU meint an dieser Stelle sicherlich keine Allianzen, die Tiere und Techniken miteinschließt – auch wenn die Formulierungen schon den Gedanken beinhalten, dass ein Umbau in der Landwirtschaft nur in kollaborativen Prozessen und im gemeinsamen Miteinander gelingen kann. Es ist deshalb auch eine politische Aufgabe, »Bilder von der Zukunft [zu] zeichnen, die Mut machen, und Allianzen für ihre Verwirklichung schaffen« (ebd.: 4). Die Verwirklichung entsprechender Umgestaltungen für die Zukunft ist nicht auf einzelne Akteure ausgerichtet, sondern sollte die in den Netzwerken stattfindenden Transformationen selbst zum Gegenstand haben. Denn die alleinige Fokussierung auf den Menschen und der damit verbundene Anthropozentrismus ist Teil des Problems der sich in der Krise befindlichen Welt. So schlägt die Wissenschaftshistorikerin Donna Haraway vor, bei der Analyse von Verhältnissen nicht die hierarchischen Strukturen von Subjekten und Objekten zu betrachten, sondern sich auf die verschiedenen Beziehungen, die relation bzw. relationships, zu konzentrieren (vgl. Haraway 2003). Wenn keine Vorrangigkeit eines Akteurs gegenüber einem anderen besteht, kann dem eigentlichen Erkenntnisinteresse an dem gemeinsamen Miteinander nachgespürt werden. Deshalb vertritt Haraway die Position, dass eine systematische Erweiterung der beteiligten Akteure stattfinden muss: »I think in ecologies [that] are always at least tri-part: humans, critters other than humans, and technologies« (zit. nach Williams 2014: 93). Schon zu Beginn der 1990er Jahre hat sie im Rahmen des CYBORG MANIFESTO darauf hingewiesen, dass die technischen Entwicklungen die Grenzen zwischen Mensch und Maschine, aber auch die Grenzen zwischen Tier und Maschine brüchig werden lassen. In der Folge entstehen neue Relationalitäten. Das »becoming with«, wie sie es nennt, beinhaltet sowohl einen sozialen als auch einen materiellen Anteil (vgl. Haraway 1991). In UNRUHIG BLEIBEN. DIE VERWANDTSCHAFT DER ARTEN IM CHTHULUZÄN knüpft Haraway an diese früheren Überlegungen an und schlägt den Sammelbegriff critter vor: »In diesem Text verwende ich critter großzügig: für Mikroben, Pflanzen, Tiere, Menschen, Nicht-Menschen und manchmal auch für Maschinen« (Haraway 2018: 231, Hervorh. im Original). Da sie auch auf das Artifizielle verweist, bietet diese Betrachtung die Möglichkeit, das Technische eben nicht dem Natürlichen gegenüber zu stellen, sondern es systematisch mit in die Überlegungen für die Bildung von Allianzen einzubeziehen. Mit diesen crittern gilt es sich verwandt zu machen – und das unabhängig von biologischen, semiotischen oder genealogischen Verwandtschaftsverhältnissen, sondern als Voraussetzung für neue symbiotische

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Formen, Kollaborationen oder Allianzen, die nicht erst Bedeutung für die Zukunft, sondern bereits jetzt für die Gegenwart erlangen. Vor dem Hintergrund des aktuellen krisenhaften Zustands der Erde spricht auch die Philosophin Rosi Braidotti von einer Form von Allianz, die in Zeiten des Posthumanismus verdeutlicht, dass alle – und zwar alle miteinander vereint – von den globalen Veränderungen betroffen sind: »Tiere, Insekten, Pflanzen und die Umwelt, der Planet und der gesamte Kosmos kommen als Akteure ins Spiel« (Braidotti 2014: 71). Alle Seinsarten sind in der posthumanen Denkfigur nicht nur durch den geteilten Lebensraum miteinander verbunden, sondern durch ihre Verwundbarkeit, durch das »artenübergreifende Band« und die »gemeinsame Vulnerabilität« (ebd.: 90). Für die damit einhergehende Verantwortung für andere Seinsarten und das notwendige gemeinsame Miteinander zeichnet sich ab, dass die Gestaltung von Schnittstellen eine hohe Relevanz für artenübergreifende Kollaborationsprozesse hat. Denn an diesen Schnittstellen zeigt sich das Zusammentreffen von Materialität (wie bei den Architekturen) sowie Immaterialität (wie bei der Wissensgenerierung über Daten beim Smart Farming). Neben der technischen Komponente beinhalten sie auch immer eine soziale. Die Ausgestaltung solcher Schnittstellen im Bereich der Landwirtschaft treibt den Wandel von einer analogen zu einer digitalen bis hin zu einer virtuellen Landwirtschaft voran (vgl. Bolinski 2020b). Erweitert man die Bedeutung der Schnittstelle im Sinne des Natural User Interface (NUI) im Rahmen der HumanComputer-Interaction (HCI) für die Animal-Computer-Interaction (ACI) bis hin zu einer Human Computer Biosphere Interaction (HCBI) und macht sie für die Nutzung durch weitere, nichtmenschliche Akteure anschlussfähig, beziehen sich diese Schnittstellen nicht nur auf den natürlichen, das heißt intuitiven Gebrauch.11 Sie versetzen vielmehr auch andere Spezies in die Lage durch die naturnahen (natural im Sinne von close to nature) technischen Bedienmöglichkeiten Teil von neuen artenübergreifenden Kommunikationen und speziesübergreifenden Lebenswelten zu werden (vgl. Rinaldo 2016; Jørgensen/Hammeleff/Wirman 2016; Jevbratt 2012). Daran schließt sich für die Zukunft die Frage an, wie es durch den Einsatz von technischen Medien und den dezidierten Gebrauch von naturalisierten Schnittstellen gelingen kann, das gemeinsame Band der Vulnerabilität produktiv zu machen für die Gestaltung der Zukunft im Hinblick auf den aktuellen krisenhaften Zustand der Welt. Die Fokussierung auf die Gestaltung von Lebenswelten von und für Tiere gelangt bei den Architekturen der Nutztierhaltung nicht an ihr Ende. Im Gegenteil bilden sie einen Anfangspunkt unter Hinzuziehung der tierlichen Akteure als Nutzer und Gestalter von medialen Umwelten – auch zur Erschließung von gemeinschaftlich genutzten Lebensräumen, wie es im städtischen Umfeld vorangetrieben wird. Und damit verbunden sind Fragen, wie genau natürliche Schnittstellen gestaltet sind und

11 Vgl. stellvertretend für die ACI: Mancini (2011); sowie für die HCBI: Kobayashi (2015).

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sein müssen, wenn sie nicht nur für den Menschen intuitiv bedienbar, sondern in ihrer tatsächlichen Wortbedeutung auch als möglichst natürliche Schnittstellen anderen Spezies und vielfältigen Akteuren zur Verfügung stehen sollen. Denn in der gemeinsamen Vulnerabilität und dem artenübergreifenden Miteinander liegt neben der verbindenden Verwundbarkeit aller Arten auch die Chance für die Gestaltung der Zukunft – auch und gerade für die Landwirtschaft.

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IN DER

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»und es kam, wies kommen musste, ich hatte die Hälfte meiner Klasse um mich herum« Über das Bleiben in ländlichen Räumen M ELANIE R ÜHMLING Meine ganze Generation Jeder hier kennt die Frage schon In Dauerschleife diese Zeilen Gehen oder Bleiben! FEINE SAHNE FISCHFILET/FÜR DIESE EINE NACHT

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Die Frage nach dem Gehen oder Bleiben gehört in den ländlichen Räumen Mecklenburg-Vorpommerns zur alltäglichen Praxis. Mehr noch: Das Verlassen der Region entspricht hier – wie auch in vielen anderen ländlichen Räumen – einer gesellschaftlichen Erwartungshaltung. Ein Fortzug ist akzeptierter Bestandteil einer Normalbiographie (vgl. Merkel 2004, Speck/Schubarth/Pilarczyk 2009, Leibert/ Wiest 2014). Eben auch, wie es die Band Feine Sahne Fischfilet besingt. Die Absicht, den Wohnort zu verlassen, wird in der Regel unhinterfragt hingenommen. Dabei spüren insbesondere Frauen, die ohne konkrete Abwanderungsabsichten verbleiben, einen Rechtfertigungsdruck. Der Entschluss, zu bleiben, verlangt daher eine starke Reflektion sowie gute Argumentation (vgl. Leibert/Wiest 2014: 35). Wanderungen1 sind weder ein modernes noch ungewöhnliches Phänomen (vgl. Bonß/Kesselring 2001). Vielmehr sind sie ein integraler Bestandteil des Lebenslaufs.

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Bezugspunkt dieser Arbeit sind Binnenwanderungen, die über die Gemeindegrenze hinausgehen und in der Regel eine Auflösung der lokalen sozialen Beziehungen vor Ort zur Folge haben (vgl. Kley 2016: 485).

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Dieser und dessen Motive sind eng mit bestimmten Lebensphasen und den sich daraus ergebenden Anforderungen an dem Wohnort verbunden (vgl. Kalter 1997; Huinink/Kley 2008). Zwar gibt das Alter nur einen indirekten Rückschluss über tatsächliche Motive, dennoch lassen sich mit bestimmten Altersgruppen häufig vorkommende Motive verbinden. So wandern am häufigsten junge Erwachsene, die aufgrund einer Ausbildung oder für die erste Anstellung ihren Heimatort verlassen (vgl. Kley 2010: 181ff., Slupina et al. 2016: 20). Die Erwägung, zu wandern, wird dann relevant, wenn eine Vorstellung darüber besteht, dass in der Zielregion die Bedürfnisstrukturen viel eher befriedigt werden können; und zwar auch unabhängig von einem möglichen Erwerbsstatus. Die sozialwissenschaftliche Forschung hat diesbezüglich schon lange die regionale Mobilität im Fokus. Doch bisherige Analysen betrachten vornehmlich das Wanderungsverhalten Jugendlicher bzw. junger Erwachsener, insbesondere aus den neuen Bundesländern (vgl. Steiner 2004, Dienel 2005, Schubarth/Speck 2009, Scheiner/Holz-Rau 2015, Weber 2016). Dabei spielt der Zusammenhang räumliche Mobilität und Berufswahlentscheidungen eine tragende Rolle (vgl. Speck/Schubarth/ Pilarczyk 2009, Wochnik 2014, Schametat/Schenk/Engel 2017). Nur vereinzelt sind Bleibeorientierung und Strategien für den Verbleib in (ländlichen) Räumen relevant (vgl. Dienel 2015, Kröhnert/Klingholz 2007, Wochnik 2014, Schametat/Schenk/ Engel 2017). Die Gruppe derjenigen, die im Ort verbleiben, stehen vornehmlich in der öffentlich medialen Aufarbeitung im Fokus. Beispielhaft dafür kann ein Artikel aus der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG angeführt werden. In diesem heißt es: »Dem Dorf Glaubitz in Sachsen laufen die Frauen davon. Die Männer mögen Zoten und Pegida. Aber nach ein paar Biere erzählen sie, warum sie immer noch da sind« (Niemann 2017: 19). Dem Artikel sind drei Bilder beigefügt, die die dagebliebenen Männer portraitieren. Die Bilder unterstreichen in Bezug auf diese Gruppe auch metaphorisch ein – mitunter auch pejorativ verwendetes – Deutungsmuster, das sich sowohl im Alltag als auch in der Forschung immer wieder findet und zur Anwendung gebracht wird: dasjenige der Dagebliebenen bzw. Übriggebliebenen. Speck/Schubarth/ Pilarczyk (2009) charakterisieren diese Gruppe als »Hierbleiber«: »Sie gelten gemeinhin als ›Modernisierungsverlierer‹, denen mangelnde Handlungskompetenz zugeschrieben wird.« (Ebd.: 154) Neben den biographischen Faktoren kommt hinzu, dass eben auch die demographischen Bedingungen am Wohnort über ein Gehen oder Bleiben entscheiden (vgl. Leibert/Wiest 2014, Kley 2008). So sind mögliche Faktoren wie eine altersspezifische Infrastruktur, Erwerbsmöglichkeiten, besonders flexible Kinderbetreuungsmöglichkeiten, passendes Wohnangebot, das Angebot an Freizeitmöglichkeiten, aber auch Zusammenhalt, Familienfreundlichkeit und die öffentliche Mitwirkung in der Gemeinde, hinsichtlich einer Wanderungsentscheidung ausschlaggebend (vgl. Gförer 1991, Neu/Nikolic 2013, Weber 2010).

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Dass Mecklenburg-Vorpommern und gemeinhin die neuen Bundesländer im Fokus demographischer Analysen liegen, ist nicht neu. Einfluss auf die demographische Entwicklung haben Fertilität, Alterung, Mortalität und die Fort- und Zuwanderungen. Neben einer direkten Abnahme der Bevölkerungszahl in Mecklenburg-Vorpommern wirkt auch eine indirekte Abnahme durch die regionalen Fertilitätsmuster. So haben die starken Geburtenrückgänge ab 1990 sowie die Abwanderung von Frauen entscheidenden Einfluss auf die Bevölkerungszusammensetzung und -entwicklung (vgl. Swiaczny/Graze/Schlömer 2008: 188). Das durchschnittliche Alter der Mutter, in dem das erste Kind geboren wird, beträgt in Mecklenburg-Vorpommern 28,2 Jahre (vgl. Statistisches Bundesamt 2018). Frauen in diesem Alter fallen eben auch in die Kohorte, die den Hauptteil der Fortzüge aus Mecklenburg-Vorpommern ausmachen (vgl. Statistisches Amt 2018: 43). Hinzukommt, dass aufgrund der altersstrukturellen Veränderung sich die Sterberate seit 1991 kontinuierlich erhöht. Wobei die Lebenserwartungen von Männern und Frauen kontinuierlich gestiegen sind (vgl. Statistisches Amt Mecklenburg-Vorpommern 2016: 22). Neben einer andauernden Abnahme stieg einmalig 2015 in MecklenburgVorpommern die Bevölkerungszahl (vgl. Statistisches Amt 2017: 26). So gab es einen leichten Zuwachs an Lebendgeborene, doch stand diesem ein sehr hoher Anteil Sterbefälle gegenüber. Der Positivsaldo resultiert ausschließlich aus den Wanderungsgewinnen (vgl. ebd.: 24). Doch eben diese Wanderungsgewinne, die in der Außendarstellung der Kommunen als Indikator für Attraktivität und Zukunftsfähigkeit gelten, werden stark überdeckt von Zuwanderungen aus dem Ausland (vgl. Busch 2016: 82). Insgesamt sind seit 1990 mehr Menschen aus Mecklenburg-Vorpommern fortgezogen als zugezogen. Davon betroffen sind insbesondere Gemeinden, in denen die Einwohnerzahl unter 1.000 liegt (vgl. Statistisches Amt 2017: 48). Dabei sind diese Regionen insbesondere von der Abwanderung jener Altersgruppe betroffen, denen die vermeintlich meisten Motive für eine Wanderung zugrunde gelegt werden: Jugendliche sowie Personen im frühen Erwachsenenleben. Neben dieser altersselektiven verzeichnet die Statistik der letzten Jahre auch eine deutliche geschlechtsselektive Wanderung. Junge Frauen haben gegenüber jungen Männern eine um 1,5 höhere Chance, den Entschluss zum Wegzug zu fällen bzw. zu planen (vgl. Kley 2007: 14). Nun ist allein der Entschluss, aus dem Wohnort wegzuziehen, nicht gleichzusetzen mit der tatsächlichen Realisierung dieser Absicht. Dennoch ist dieser ein Prädiktor für eine tatsächliche Umsetzung. Und seit 1990 sind es besonders Frauen zwischen 18 und 30 Jahren, die Mecklenburg-Vorpommern verlassen. Die aktuelle demographische Lage in Mecklenburg-Vorpommern wird beschrieben durch eine älter werdende Bevölkerung, einen Sterbefallüberschuss gegenüber den Neugeborenen sowie einem Wanderungssaldo, der in den letzten Jahren schwach an der Nullgrenze oszilliert (vgl. Statistisches Amt 2017: 42). Es sind eben diese demographischen Voraussetzungen, die im Weiteren ökonomische, soziale und

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kulturelle Möglichkeiten im ländlichen Raum Mecklenburg-Vorpommerns beeinflussen. Grundsätzlich wird davon ausgegangen, dass ländliche Räume genügend Raum und Ressourcen bieten, um individuelle Lebensentwürfe zu rahmen und zu realisieren. Es wird eine Perspektive eingenommen, die davon ausgeht, dass die Entscheidung über das Gehen oder Bleiben eine Komplexität von Erfahrungen und Motiven beinhaltet, die aber stets auch Alternativen einschließt. Diejenigen, die sich für ein Bleiben entschieden haben, fußen dies auf ein Konglomerat an Faktoren. Schließlich sind Motive zum Wandern nicht monokausal erklärbar, auch wenn ein Grund als ausschlaggebend benannt wird (vgl. Beetz 2010: 62). Eine Bleibeorientierung kann nicht allein durch objektive Kriterien (wie bspw. Ausbildungs- und Arbeitsmarkt) beeinflusst werden, vielmehr ist es eine stark biographisch geprägte und bewusst gewählte Lebensoption. Entscheidend dabei ist das Verorten in einem Spannungsfeld zwischen einem sich Arrangieren und einer autonomen Lebensführung (vgl. Speck/Schubarth/ Pilarczyk 2009: 166).

F ORSCHUNGSRAHMEN Wie verhält es sich nun mit genau jenen Personen, die eben die demographische, ökonomische und soziale Situation in ländlichen Räumen Mecklenburg-Vorpommerns wahrnehmen und darüber hinaus vermeintlich günstige Lebensphasen und -bedingungen nicht als Anlass nehmen, den ländlichen Raum zu verlassen, sondern verbleiben? Vor diesem Hintergrund orientiert sich das vorzustellende Fallportrait an folgende Fragen: • Wie kommt es zur individuellen Entscheidung des Verbleibens im Ort? • Welche Handlungsmöglichkeiten und -chancen gibt es? • In welcher lebensgeschichtlichen Situation und, damit einhergehend, vor dem Hintergrund welches individuellen und gesellschaftlichen Zustands kam es zu der Entscheidung? Um diesen Fragen nachzugehen, werden Frauen interviewt, die für die Migrationsforschung relevanten Lebensphasen, die häufig mit Wanderungsentscheidungen einhergehen, bereits erlebt haben. Mögliche Wanderungsvorhaben sind zwar prognostisch jederzeit zu unterstellen, doch zum Zeitpunkt des geführten Interviews haben die befragten Frauen den sozialen sowie ökonomischen Verselbständigungsprozess (Junge 1995: 26ff.) weitestgehend abgeschlossen. Die Frauen befinden sich in der Etablierungsphase. In der Regel haben sie bereits Eigentum, d.h. ein Eigenheim, und mindestens ein Kind. Es sind Frauen, die bereits ihr gesamtes Leben in ländlichen Räumen Mecklenburg-Vorpommerns verbracht haben. Hinzu kommt, dass die Analyse sich auf die Personen konzentriert, die zu der Kohorte Frauen

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gehört, die in den Jahren ab 1995, in denen geschlechtsselektive Wanderungen in Mecklenburg-Vorpommern immens anstiegen, zwischen 18 und 30 Jahre alt waren. Eben die Altersspanne, in denen die häufigsten Fortzüge aus Mecklenburg-Vorpommern stattfanden und heute noch -finden. Hintergrund für die Entscheidung zu bestimmten Orten, in denen die Frauen leben, ist das typisierte Modell von ländlichen Räumen nach Patrick Küpper: »Die Ländlichkeit ist tendenziell umso ausgeprägter, je geringer die Siedlungsdichte, je höher der Anteil land- und forstwirtschaftlicher Fläche, je höher der Anteil der Ein- und Zweifamilienhäuser, je geringer das Bevölkerungspotenzial und je schlechter die Erreichbarkeit großer Zentren ist.« (Küpper 2016: i, auch 5).

Hinzukommt eine weitere Dimension, die sozioökonomische Lage. Folgende Indikatoren sind dafür maßgebend: Arbeitslosenquote, Bruttolöhne und -gehälter, Medianeinkommen, kommunale Steuerkraft, Wanderungssaldo, Wohnungsleerstand, Lebenserwartung der Frauen und Männer, Schulabbrecherquote (ebd.: 13ff.). Vor dem Hintergrund dieser Operationalisierung wird deutlich, dass hier sowohl statische als auch relationale Konzepte und Kategorien benutzt werden, die sich zur Beschreibung von soziologischen Analysen ländlicher Räume nutzen lassen und zum anderen eben auch jene demographischen, ökonomischen und sozialen Faktoren widerspiegeln, welche Wanderungsentscheidungen beeinflussen. Angesichts des schrittweisen Entscheidungsprozesses über Wanderungen sowie vor dem Hintergrund, dass »[a]llein wegen struktureller Vorteile alternative Wohnregionen und ohne dass damit ein erwünschter (oder erzwungener) Wechsel des biografischen Status eines Akteurs verbunden ist, […] wahrscheinlich nur selten gewandert [wird]« (Huinink/Kley 2008: 171), wird für eine detaillierte Analyse die gesamte Biographie in den Blick genommen. So ist es möglich, die Verschränkung des Individualisierten in einem gesellschaftlichen Rahmen zu erfassen und den Zusammenhang von Wanderungsintention, Handlung(-salternativ)en und Lebensbedingungen in einer bestimmten Lebensphase in den Fokus zu rücken.

D AS F ALLPORTRAIT Ulrike ist 1983 in Mecklenburg-Vorpommern geboren. Sie wohnt in einem Ort, der auf dem Index zur Ländlichkeit (vgl. Küpper 2016) als äußerst ländlich kategorisiert wird. Grundlegende Einrichtungen sind vorhanden: zum Zeitpunkt des Interviews gibt es eine Grundschule, Einkaufsmöglichkeiten, Ärzte und einen Bahnhof. Der Ort wird von einem Gewerbegebiet umschlossen. Die nächste Autobahn ist 30 km entfernt. Der Ort ist geprägt durch die mecklenburgische Kulturgeschichte; entsprech-

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end wird ihm auch ein gewisser touristischer Wert zugesprochen. Darüber hinaus sind verschiedene Kultur- und Sportvereine ansässig. Bei einer Begehung des Ortes zeigt sich ein sehr gepflegtes, aber auch leeres Stadtbild. Ein Junge, der mir freundlich den Weg zum Interviewort zeigt, fährt freihändig Fahrrad auf der Straße und am Discounter treffen sich die Jugendlichen. Die Wohnbiographie Ulrike hat bisher nur in einem Haus gewohnt. Eben in jenem, in dem sie aufgewachsen ist, wohnt sie noch heute. Das Haus befindet sich seit mehreren Generationen im Eigentum der Familie. Ulrike bewohnt hier mietfrei im zweiten Stock eine ca. 60qm große Wohnung. Über ihr, in einem ausgebauten Dachgeschoss, lebt ihre Mutter. Unter ihr lebt ihre Großmutter. Beide sind pflegebedürftig. Ulrikes Schwester wohnt im Nachbarhaus, in einer sehr kleinen Wohnung, die auch im Familienbesitz ist. Zum Anwesen gehören 1.200qm Grundstücksfläche. Das dreigeschossige Mehrfamilienhaus war lange auch Arbeitsstelle einzelner Familienmitglieder. In dem um 1900 gebautem Haus befand sich die familieneigene Bäckerei, die bis in die 1980er Jahren geführt wurde. Seit der Schließung veränderte und verändert sich dieses Haus sowohl innen als auch außen stetig: nach und nach werden kleinere ehemalige Gesellenwohnungen zusammengelegt, Treppen angebaut, um einzelne Etagen unabhängig voneinander zu machen, Dachgauben zugunsten von Wohnraum geschaffen, Gemeinschaftszimmer errichtet. An diesen Umbauten war und ist Ulrike im Wesentlichen beteiligt. Sie sagt: »Ich kann mich hier handwerklich äh austoben […], ne hier, was weiß ich, Hochbeete bauen, Fußböden verlegen, tapezieren (Lachen) Wände einreißen, ne, das sind so kleine Ausgleichssachen. Könnt ich in der Großstadt nicht. Da würden die Vermieter wahrscheinlich sehr böse (lachend) sein, wenn ich da so viel veränder«. Das Wohnen in Verbindung mit dem Renovieren, Heimwerken und Einrichten, sprich: der tätige Umgang mit dem Haus, wird hier zu einer elementar sinnstiftenden Praxis. Zum einen als Symbol der Vergemeinschaftung, insbesondere vor dem Hintergrund, dass eben dieses Haues im Familienbesitz ist und die Familienbeziehung in diesem Fall eine besondere Rolle spielt. Zum anderen aber auch als sichtbares Zeichen von familiärer Gruppenidentität. Insbesondere zu ihrem Vater, der unerwartet gestorben ist, hatte Ulrike ein besonders enges Verhältnis. Die gemeinsamen Umbauten am Haus pflegten und intensivierten die Beziehung. Darüber hinaus verstärkt das Grundstück und das Haus als Rückzugs- und Regenerierungsmöglichkeit das Gefühl der Gebundenheit. Die Arbeiten an dem Eigenheim sind hier eine Möglichkeit, sich einen persönlichen Ort zu schaffen. Letztendlich geht mit diesem Haus Ulrikes Entwurf von Zukunft einher. Schließlich »[kann man] keine Familie gründen, wenn man kein Haus hat. Man muss ja sein

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eigenes Reich haben, man kann ja nicht mit seinen Kindern (.) in der Mietwohnung leben«. Dabei hat sie auch schon die weitere zukünftige Nutzung, die nach ihr stattfinden wird, im Blick und versteht das Haus gewissermaßen als ein weiterzugebendes Erbe: »Ich schaff mir ja auch dieses Reich oder versuch dieses… Diese Häuser am Leben zu erhalten (tiefes ausatmen) weil ich möchte, dass das auch noch Generationen nach mir genießen könn«. Schließlich wird die damit verbundene persönliche Bedeutung des Hauses – sowohl als physische Konstruktion als auch Symbol für Familie und Zukunft – darin deutlich, wie es von Ulrike beschrieben wird. Hier ist die Rede von »dieses Reich«, »mein Nest« oder »ruhiges Palästchen«. Die Familie Ulrike wächst mit ihren Eltern, ihrer jüngeren Schwester, einem Großvater, einer Großmutter sowie einer Großtante und einem Großonkel gemeinsam auf. Den Großvater erlebt sie nur geprägt durch seine Alzheimererkrankung. Anfang der 1990er Jahre, Ulrike geht in die Grundschule, verstirbt dieser. Wenig später bekommt die Großmutter einen Schlaganfall und wird von nun an pflegebedürftig. Ulrikes Mutter hilft zeitweise in der familieneigenen Bäckerei aus, schließlich hat aber »mein Opa […] zu meiner Mutter gesagt: ›Frauen werden keine Meister, keine Bäckermeister.‹ Deswegen musste sie was Anderes lern und durfte nicht Bäckergeselle werden und Meister machen.« Daher macht Ulrikes Mutter eine Ausbildung zur Schuhfachverkäuferin. Sie schult nach der Wende um und arbeitet, bis sie in Folge einer AugenOP Grauen Star bekommt, in der Produktion vor Ort. Aufgrund der Krankheit und der damit einhergehenden Erwerbslosigkeit verfällt die Mutter in schwere Depressionen, was die Familie schwer belastet. Sie ist von nun an pflegebedürftig. Es folgt die Erwerbsunfähigkeitsrente. Ulrikes Großtante verstirbt zum Zeitpunkt der AugenOP der Mutter. Was mit ihrem Großonkel passiert, wird aus dem Gespräch mit ihr nicht deutlich. Er wohnt aber zum Zeitpunkt des Todes der Großtante schon nicht mehr im gemeinsamen Haus. Ulrike hat eine jüngere Schwester. Zu ihr pflegt sie bis heute eine sehr enge Beziehung. Auch sie arbeitet – wie damals die Mutter – in der Produktion vor Ort. Ulrikes Vater ist gelernter Zimmermann. Nachdem die Firma, in der er jahrelang gearbeitet hat, Insolvenz angemeldet hat und er infolge dessen zeitweise arbeitslos war, ist er verschiedene handwerkliche Aushilfsarbeiten nachgegangen. Auch wenn der Vater berufsbedingt nur selten zu Hause ist, pflegt Ulrike zu ihm eine besonders enge Beziehung, welche durch das gemeinsame Handwerken am Haus fortlaufend verfestigt wurde. Er ist ihr »Liebling«, »ihr Lieblingspart«, »die Bezugsperson im Leben« und ihr »Anker«. Als Ulrike 32 Jahre alt ist, verstirbt er unerwartet. Diese Zeit geht einher mit dem Gefühl der Desorientierung. Ulrike wird sich selbst fremd, ist kaum aktiv handlungsfähig. Schließlich stellt sie ihre bisherige Lebens- und Alltagsgestaltung, ihre aktuelle Lebenssituation existenziell in Frage.

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Das zuvor weniger relevante und schlummernde Verlaufskurvenpotenzial (vgl. Schütze 1983) offenbart sich und wird eben durch diesen biographischen Einschnitt konkret: »War das richtig? Warum bist du hiergeblieben? Ne, warum hast du nicht woanders (Räuspern) all deine Freunde haben sich verteilt, die arbeiten überall in Deutschland, nur du bist hiergeblieben. […] Aba da hab ich mich damals gefragt, warum ich nicht einfach irgendwo anders hingefahren bin. […] Warum hab ich das nicht gemacht?« Es zeigt sich die immense Bedeutung der Frage über das Gehen oder Bleiben. Die ad hoc auftauchende Krise, der Tod des Vaters, hat die bis dahin schlummernden wesentlichen Fragen aufgeworfen. Sie selbst findet eine Antwort, mit der sie sich arrangiert und mit der die Bearbeitung abgeschlossen wird. Sie sagt: »und dann hab ich mir gedacht: Das kann nur daran liegen, ich bin so ein kleiner Heimscheißer. Ich kann hier nicht weg. Wenn ich in Urlaub fahre […] ich freue mich, wenn ich wieder nach Hause fahren darf. Es ist schön, wenn ich da bin, aber ich freu mich genauso, wenn ich wieder nach Hause fahren darf. Ne, wenn ich wieder in meinen eigenen Wänden bin«. Nach dem Tod ihres Vaters intensiviert sich der Familienzusammenhalt. Von den einstmalig acht Personen wohnen nun noch drei in diesem Haus: Ulrike zusammen mit ihrer pflegebedürftigen Mutter und ihrer pflegebedürftigen Großmutter. Ihre Schwester wohnt im Nachbarhaus. Intergenerationale Solidarität wird nunmehr als Norm beschrieben. Zunächst besteht eine hohe, teilweise einseitige, Funktionalität: Ulrike gibt instrumentelle Unterstützung, wendet enorm viel Zeit für die Bedürfnisse der Familie auf und unterstützt monetär. Es ist bspw. für Ulrike unhinterfragbar, dass nunmehr alle möglichen Mahlzeiten gemeinsam eingenommen werden, d.h. in der Woche das Abendbrot und am Wochenende zu jeder Tageszeit. Im Weiteren entwickelt sich eine affektive Solidarität, die eben in dieser Intensität, im Laufe Ulrikes bisheriger Familiengeschichte, nicht wahrgenommen wurde. Es entsteht eine emotionale Nähe, ein »Schutzgefühl«; für Ulrike ist ihre Familie ein »Cocon«. Dafür stellt sie eigene Bedürfnisse wie Partnerschaft und Karriereentwicklung in den Hintergrund, denn »im Endeffekt musste die Familie drunter leiden«. Diese Übermotivation, für die Familie in allen Belangen da zu sein, führt in der Konsequenz zu eigenen Schuldzuweisungen, wenn es einmal um eigene Bedürfnisbefriedigungen geht. Durch die Zunahme der Ereignisse im Kontext der Familiengeschichte in Verbindung mit dem hohen, normativ empfundenen Gefühl der intergenerationalen Solidarität und der damit einhergehenden Übermotivation, für die Familie da zu sein, wird der Frage über ein Gehen oder Bleiben kaum Raum gelassen. Vielmehr wird ersichtlich, dass sich die Bleibeorientierung sukzessive verstärkt. Einzig der Bruch, der Tod des Vaters, und damit die Zerrüttung des aktuellen Lebensarrangements wirft diese Frage auf. Welche sich allerdings nicht als relevant für die Gegenwart zeigt, sondern vielmehr die Vergangenheit in Frage stellt.

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Die Bildungs- und Erwerbsbiographie Ulrike führt ihre biographische Erzählung mithilfe eines institutionellen Kontextes, mit dem Besuch der Krippe, ein. Sowohl die Krippe als auch der Kindergarten sind vor Ort. Ihrem institutionellen Lebenslauf folgt die Grundschule, die auch im Ort ist. Schon zu diesem Zeitpunkt entwickelt sie, so betrachtet sie es im Nachhinein, eine starke Bleibeorientierung: »Und für mich war recht früh schon in, in der Grundschule klar, ich werd hier nicht weggehn. Wenn ich nicht muss, bleib ich hier.« Ulrike hat sehr früh den Weg von der Schule nach Hause alleine bewältigt und »so ist [das] bei berufstätigen Eltern (.) dann ist es wichtig, dass wenn die Kinder nach Hause kommen auch immer noch einer da ist«. Und so war es, die familieneigene Bäckerei war im Haus. Sie lebte zusammen mit ihren Eltern, Großeltern, der Großtante, dem Großonkel sowie ihrer jüngeren Schwester. Nach dem Besuch der Orientierungsstufe, von der fünften bis zur siebten Klasse, folgt das Gymnasium. Sie macht im Alter von 19 Jahren Abitur. Es beginnt eine Phase der (Neu-)Orientierung und des Abgleichs möglicher Berufspräferenzen und tatsächlichen Wahlmöglichkeiten. Der Übergang vom Schul- ins Ausbildungs- und Beschäftigungssystem vollzieht sich mit dem Beginn einer neuen Lebenslaufphase (vgl. Sackmann 2007). Der Verlauf ihres Berufswahlprozesses löst sukzessive Stagnation aus und endet nicht mit dem zunächst präferierten Ausbildungsberuf im Gesundheitsbereich. Von ihren Lehrerinnen und Lehrern bekommt Ulrike die Empfehlung, Mathematik, Latein und Theologie zu studieren. Zwar beharrt sie stetig auf ihre intensive Bleibeorientierung, zieht aber zum Zeitpunkt des Übergangs von Schule zur Ausbildung doch in Betracht, den Wohnort zu verlassen. Dabei spielt weder der städtische noch der ländliche Raum eine Rolle, sondern vornehmlich eigene Berufsinteressen. Für diese Interessen ist räumliche Flexibilität gefragt. Sie informiert sich zwar ausführlich über das Angebot der Fachhochschule Neubrandenburg, bewirbt sich dann jedoch als Kinderkrankenschwester an möglichen Krankenhäusern in Mecklenburg-Vorpommern, aber: »hatte kein Glück gehabt. Vorstellungsgespräche ohne Ende, aber keine Zusagen.« Handlungsalternativen sieht Ulrike in der Möglichkeit, »etwas Artverwandtes« zu machen. Sie bewirbt sich als Physiotherapeutin, hat Vorstellungsgespräche, Eignungstests und Probetrainingstage, bekommt aber auch hier keine Zusage. Nachdem Ulrike »alle möglichen Wege rausgesucht und gemacht und getan, alles versucht« hat, zieht sie als letzte Möglichkeit ein freiwilliges ökologisches oder soziales Jahr in Betracht. Bewirbt sich auch hier, findet allerdings auch im Rahmen dessen keine Anstellung. Schließlich entdeckt Ulrike eher zufällig, dass eine deutschlandweit agierende Bank mit mehreren Filialen in Mecklenburg-Vorpommern noch einen Ausbildungsplatz zur Verfügung hat. Ulrike bewirbt sich; »und es kam wies kommen musste, ich hatte die Hälfte meiner Klasse um mich herum.« Sie bekommt diesen Ausbildungsplatz, sieht allerdings zu diesem Zeitpunkt keine langfristige Perspektive in dem Beruf:

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»machst das mal drei Jahre (schweres Ausatmen), lernst den Job, guckst mal obs dir Spaß macht«. Nach der Ausbildung wird sie direkt als stellvertretende Filialleiterin übernommen. Ulrike bleibt bis zum Zeitpunkt des Interviews in unterschiedlichen Filialen und unterschiedlichen Positionen in diesem Unternehmen tätig. Währenddessen macht sie Weiterbildungen zur Fach- sowie Betriebswirtin. Die Frage über das Gehen oder Bleiben spielt an diesem Punkt ihrer Biographie das erste Mal aktiv und bewusst eine relevante Rolle. Handlungsmöglichkeiten im Rahmen eines idealisierten Lebensentwurfs können nur in Betracht gezogen werden, wenn eben die Heimatregion verlassen wird. Die regionale Arbeitsmarktsituation ist hier ein entscheidender Faktor für den Entscheidungsprozess. Auch die Realisierbarkeit des sekundär präferierten Berufswunsches beinhaltet die Bereitschaft, den Ort zu verlassen. Diese Bereitschaft hat allerdings ihre Grenzen, so bewirbt sich Ulrike nur innerhalb des Bundeslandes. Dieses Vorgehen spiegelt sich auch in dem Resümee ihrer erzählten Lebensgeschichte wider: »wer die Heimat verlässt, der geht nur, weil er Geld haben will. (..) Leute, die aus MeckPomm weggezogen sind, sind alle nur weggezogen um (schweres Ausatmen) den Job zu […] machen, wo sie viel Geld verdien.« Ihre präferierte Ausbildungswahl hat sie schließlich zugunsten der Möglichkeit, der Arbeitslosigkeit aus dem Weg zu gehen, revidiert. Soziale Beziehungen, Partnerschaft, Engagement Zu Ulrikes ersten Ereignissen, die sie in ihrer biographischen Erzählung einführt, gehört das Kennenlernen ihrer besten Freundin in der Krippe. Diese Freundschaft besteht bis heute, auch die Freundin hat ihren Wohnort nicht gewechselt. Anschließend lernt Ulrike im Kindergarten ein Mädchen kennen, das regelmäßig zur Kirche geht. Ab diesem Zeitpunkt interessiert auch sie sich für christliche Rituale und Praktiken. Sie nimmt an mehrtägigen Bibelkursen und christlichen Freizeitbeschäftigungen teil. Im Rahmen von wiederkehrenden Rüstzeiten entwickelt sich ihre Leidenschaft für die USA. Durch regelmäßigen Austausch zwischen Partnerstädten bekommt sie in Deutschland Kontakt zu Amerikanern und Amerikanerinnen und fährt dann auch selbst nach Amerika, um in verschiedenen Sozialeinrichtungen zu arbeiten. Ulrikes »Lebensziel« ist es, »bis zum Rentenbeginn jeden einzelnen Staat besucht [zu] haben«. Bis heute spielt die christliche Religion eine große Rolle in ihrem Leben. Sie arbeitet ehrenamtlich im Förderverein für Kirchenmusik. Im Laufe der Zeit ist sie in verschiedenen Vereinen vor Ort tätig. Sie ist dann nicht nur aktives Mitglied, sondern übernimmt darüber hinaus häufig noch andere Funktionen und Ämter. Ulrike pflegt mit ihrer Schwester ein gemeinsames Hobby: das Reiten. Zusammen besitzen sie ein Pferd. Im Verein übernimmt sie ehrenamtlich gelegentlich den Reitunterricht für jüngere Kinder und seit Jahren die Finanzbuchhaltung. Hier

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lernt sie auch den Großteil ihres Freundeskreises kennen, der vor allem aus Männern besteht. Darüber hinaus gibt es unter ihren Freunden viele »Rückkehrer«. Es sind Paare, die vormals in Großstädten gewohnt haben, allerdings zugunsten von Familienplanung, Kindererziehung und »Entschleunigung« wieder in ihren Heimatort zurückkehren. Ulrike hat zwei Patenkinder, um die sie sich gemeinsam mit ihrer Schwester kümmert. Ulrike hatte bisher nur kurzweilige Beziehungen. Partner hat sie nicht in der Region kennengelernt, sondern vornehmlich über die Arbeit, während der Weiterbildungen oder im Urlaub. Über die Weiterbildung zur Betriebswirtin entwickelte sich eine feste, für sie sehr ernstzunehmende, Fernbeziehung, die allerdings aufgrund des enormen Zeitverbrauchs für ihre Familie, Vollzeitstelle sowie Hobbies nicht länger Stand halten konnte. Hinsichtlich der Suche nach einer neuen festen Partnerschaft resümiert sie: »man merkt, man ist jetzt in dem Alter, wo jeder so seine Wurzeln hat und dann ist das schwer einen Nenner zu finden […] ne das, das ist schwer. Das ist sehr schwer […] einen Mann zu finden, der damit leben kann, dass man so an seiner Familie klettet.« Wobei Ulrike gleichzeitig einen großen Kinderwunsch pflegt. Die Rahmenbedingungen sind aus ihrer Sicht vorhanden: das eigene Haus mit dem großen Grundstück und das Leben abseits der Stadt. Bestätigt wird diese Einstellung durch die Rückkehr einzelner Freunde, »die erkennen auch, dass sie woanders in einer (.) großen Metropolen keine Kinder ewig großziehen könn, kein Familienleben haben«. Eben dieser Kinderwunsch und die damit einhergehende Vorstellung von einem eigenen Familienleben stärkt eine Bindung zum Wohn- und Lebensraum. Die Schnittmenge zwischen sozialem Netzwerk, ehrenamtlichem Engagement und Hobby ist sehr groß. So sind es die Beziehungen und Aktivitäten, die auf der einen Seite ein Zugehörigkeitsgefühl auslösen, auf der anderen Seite auch das altruistisch motivierte Verhalten widerspiegeln, das sich in Form von intergenerationaler Solidarität innerhalb der Familie abzeichnet. Es handelt sich in diesem Fall um einflussreiche Faktoren, die das Bleiben verstärken. Die räumliche Bindung Die Beziehung zwischen Ulrike und der konkreten Nachbarschaft ist divers. Sie spricht davon, dass sie am Abend wenig im Garten ist, weil »der Nachbar schon kritisch [guckt]« und es Personen gibt, die »na sagen wir mal bockbeiniger unterwegs [sind].« Zur weiteren Erläuterung führt sie an: »Naja der, der einfach mit sein Nachbarn nichts zu tun haben will. Der nicht nach rechts und nicht nach links guckt. Ne, der sacht ich hab nur meins.« Eben diese Personen vergleicht sie mit jenen, die in einem Plattenbau wohnen. An dieser Stelle zeigt sich etwas sehr Typisches für diesen Fall: Ulrikes Ortsbindung bezieht sich nicht direkt auf den Ort, in dem sie wohnt und lebt, sondern vielmehr auf das Gebäude, das familiäre Eigenheim und dessen direkte

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Umgebung, das dazugehörige Grundstück. Der beschriebene und vor allem auch bedeutungstragende Raum, hier das Haus und das zugehörige Grundstück, ist in Ulrikes Erzählungen wie eine Blase zu verstehen – das Drumherum, das Außerhalb, ist wenig relevant. Zu vermuten ist, dass eben diese Blase räumlich auch in einem anderen ruralen Raum bestehen kann. Dieser Raum wird durchweg sehr positiv emotional beschrieben. Ihren Wohnort, der aus einer raumordnungspolitischen Perspektive als kleine Kleinstadt deklariert wird, beschreibt sie hingegen durchweg sachlich. Sie führt auf, welche Vereine vor Ort tätig sind, wie sich Bildungseinrichtungen organisieren und welche infrastrukturellen Möglichkeiten die Anwohnerinnen und Anwohner haben. Ihre Ortsbindung konstruiert sich über diesen persönlich-emotionalen Bezug hinaus im Wesentlichen aus einem weiteren Faktor: So sieht Ulrike ihren Lebensund Wohnraum stets als Kontrast zu einer vermeintlich urbanen, (groß-)städtischen Lebensweise. An dieser Stelle wird jeweils in größtmöglichen – deutschlandweiten – Dimensionen gedacht. Als Referenz gelten hier stets Orte wie Berlin oder Hamburg. Städte in Mecklenburg-Vorpommern, wie etwa Rostock, Stralsund oder Schwerin, werden hinsichtlich eines kontrastiven Vergleichs nicht herangezogen. Dabei wird der fokussierte städtische Raum eher affektiv und doch in den Mustern klassischer Stadt-Land-Dualismen beschrieben. Sie sagt: »da ist ein, eine Hektik der Menschen, eine Ungeduld, ein, ein Ärgernis auf den Straßen gefühlt für mich, ne, wo ich sag: Das kanns doch nicht sein, […] Ne, also (..) keine Ahnung das ist so ne, so ne Unruhe in, in Großstädten. Warum sollte mich das anlocken da hinzuziehen?« Ulrike verbindet mit der Stadt Einstellungen, die ihrem individuellen Lebensstil nicht entsprechen – und ihn gerade dadurch, dass diese Einstellungen als negativ gewertet werden, auch bestätigen. Der Raum stellt hier ein bindendes Element dar, wenn es um das Bleiben geht, und er ist unabhängig von der tatsächlichen Umgebung zu betrachten. Hier spielt das Eigenheim eine Rolle, welches wiederum eng mit der Wohnbiographie und der Familiengeschichte zusammenhängt.

R ESÜMEE Die Frage ›Gehen oder Bleiben?‹ ist in diesem Fallbeispiel nicht permanenter Bestandteil hinsichtlich einer Realisierung des präferierten Lebensentwurfs. Einzig die Phase des Übergangs vom Schul- ins Ausbildungssystem betrifft eine verbindliche Planung, zu Gehen. Eine tatsächliche Realisierung dessen wird allerdings aufgrund äußerer Umstände nicht erreicht. Diese ist schließlich abhängig von der regionalen Arbeitsmarktsituation. Die Entscheidung, zu Bleiben, ist der Entscheidung für einen bestimmten Ausbildungs- und Arbeitsplatz nachgeordnet. Andere

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biographische Gelegenheiten, bspw. Partnerschaft oder der Einstieg ins Berufsleben nach der Ausbildung, spielen im Weiteren keine Rolle. Es ist vielmehr eine starke normative Solidarität der Familie gegenüber, die dazu führt, dass die Möglichkeit, woanders zu wohnen, zu leben, zu arbeiten, nicht wahrgenommen wird. Hinzukommt die räumliche Bindung, welche hier durch vorhandenes Eigentum, das Haus, beschrieben wird. Dieses Haus ist zunächst materielles, selbst geschaffenes bzw. gestaltetes Objekt, aber eben auch ein Symbol der familiären Vergemeinschaftung. Vor dem Hintergrund der sich wandelnden Familienkonstellation, der zunehmenden familiäreren Bindung sowie der damit verbundenen immensen Bedeutung des Wohnhauses verfestigt sich das Bleiben sukzessive. Zumal dies eben jene Lebenskonstellation darstellt, die einen präferierten Lebensentwurf konstituiert. Die Entscheidung, an diesem Ort zu bleiben, wird dabei nicht rational begründet. Dies ist ein typisches Muster, welches die Gesamtgestaltung thematisierter Erlebnisse in der Biographie von Ulrike formt. Insbesondere in der Stehgreiferzählung ist auffällig, dass Ulrikes Entscheidungen vielmehr aufgrund eines diffusen Gefühls beschrieben werden. In ihren Formulierungen steckt Unsicherheit, die auf der einen Seite ihre tatsächliche Handlungskompetenz in Frage stellt, auf der anderen Seite möglicherweise als Coping-Strategien zu verstehen ist. Die Ortsbindung konstituiert sich in diesem Fall im kontrastiven Vergleich zum vermeintlich städtischen Raum. Erklärungen von Ulrike, die versuchen ›Ländlichkeit‹ zu beschreiben, beinhalten stets eine Relation zwischen ihrem Lebens- und Wohnraum sowie der Kategorie Stadt. Sie greift dabei auf klassische Stadt-LandDualismen zurück (vgl. Redepenning 2019), eignet sich diese an und erzählt sie fort. Dabei werden der Stadt bestimmte Merkmale zugeschrieben: »Hektik«, »Unruhe«, »Ärgernis«, »Ungeduld auf den Straßen«. Demgegenüber beschreibt Ulrike den Raum, in dem sie lebt, immens positiv affektiv. Das Haus ist ihr «Reich«, ihr »Nest«. Dieses Haus mit diesem Grundstück in Verbindung mit der bisherigen Familiengeschichte sowie der aktuellen Lebenssituation stellt einen eigenen Raum dar, der in dieser Biographie relevant ist. Der Ort, wie er raumordnungspolitisch beschrieben wird, ist hier keine abhängige Konstante. Darüber hinaus spiegelt dieses Fallportrait dasjenige wider, was in der demographisch beschriebenen Hinführung über ländliche Räume in Mecklenburg-Vorpommern bereits aufgegriffen wurde. So fällt auf, dass eben die Familiengeschichte betroffen ist von Sterbefällen und Krankheitsverläufen. Ulrike ist mit 34 Jahren, zum Zeitpunkt, an dem das Gespräch geführt wurde, bereits über dem Durchschnittsalter von Frauen, die in Mecklenburg-Vorpommern ihr erstes Kind erwarten. Vor dem Hintergrund, dass in dem Haus stets mehrere Generationen gemeinsam gelebt haben, ist zum aktuellen Zeitpunkt eben dieses Konzept fraglich. Hinzukommt, dass in der Phase des Übergangs von der Schule in die Ausbildung Bedürfnisstrukturen in anderen Regionen viel eher die Realisierung des präferierten Berufes befriedigen. Dennoch, für Ulrike bietet dieser Raum – aktuell – die Möglichkeit, ihrem individuellen

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Lebensentwurf zu folgen. Einen Rechtfertigungsdruck, warum sie geblieben ist, verspürt sie nur gegenüber sich selbst, arrangiert sich allerdings mit dieser bewusst gewählten Lebensoption.

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Dorf Neu Denken Ein räumliches Konzept für die Weiterentwicklung von Dörfern J EFF M IRKES

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AKTUELLE S ITUATION DES IM LÄNDLICHEN R AUM

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In den letzten fünfzig Jahren hat sich die Situation in den Dörfern im Zuge eines umfassenden Strukturwandels stark verändert. Mit dem Trend zur Metropolisierung wirkt der ländliche Raum für viele unattraktiv. Immer wiederkehrende Sätze wie »Die Zukunft liegt in der Stadt« (Fischbach 2010: 297) bestätigen dies. Auch beim Betrachten der Statistiken wird ein klarer Trend hin zur Stadt sichtbar. Seit 2008 leben erstmals mehr als 50 Prozent der Weltbevölkerung in Städten (UNFPA 2007). Buchtitel wie RETTET DAS DORF (Henkel 2016) oder Überschriften wie »Achtung, das Dorf verschwindet. Was tun?« (DGGL 2018) begegnen einem auf den unterschiedlichsten Kanälen in der Medienwelt. Das Dorf scheint somit im Gegensatz zur Stadt aus planerischer Sicht vernachlässigt und unattraktiv, mit wenig optimistischen Aussichten für die Zukunft. Lange Zeit blieb daher auch das Dorf aus dem Fokus der Architekten und Stadtplaner ausgespart; es konnte erst in den letzten Jahren wieder Aufmerksamkeit gewinnen (Schröder/Weigert 2010: 6). Aus historischer Sicht sind Stadt und Land eng miteinander verwurzelt und bedingten sich seit jeher gegenseitig. Diese Entwicklung zeigt sich nicht zuletzt in einem nahezu durchgehend urbanisierten Lebensstil. »Die ganze Gesellschaft ist urbanisiert. Stadt und Land sind keine gesellschaftlichen Gegensätze, sondern ein Mehr oder Weniger vom Gleichen. [...] Daher muss heute jeder Versuch, den Unterschied von Stadt und Land auf Basis gesellschaftsstruktureller Gegensätze zu bestimmen, scheitern.« (Siebel 2016: 17)

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In den wachsenden Metropolregionen sind die umliegenden Dörfer einem enormen Druck ausgesetzt, der einen starken Einfluss auf die räumliche und landschaftliche Entwicklung hat. Aber auch Dörfer in schrumpfenden Regionen haben mit starken Herausforderungen zu kämpfen. Ironischerweise besteht in schrumpfenden sowie in wachsenden Dörfern der Bedarf zur ständigen Ausweisung von neuem Bauland für weiterer Neubaugebiete (vgl. Nagel 2017: 38). Fakt ist, dass Neubauten immer noch bevorzugt werden gegenüber der Sanierung von bestehenden Häusern, unabhängig von der Situation vor Ort. Die Dorfentwicklung besteht hauptsächlich aus Neubaugebieten, wobei das Einfamilienhaus nach wie vor die beliebteste Bauform ist (vgl. ebd.). Neben den ökonomischen Faktoren (wie z.B. die Erschaffung und Instandhaltung der Infrastruktur durch die Gemeinde), den ökologischen und den energetischen Nachteilen des Einfamilienhauses, hat diese Tendenz der Dorfentwicklung auch negative räumliche Auswirkung auf die Umgebung. Die daraus entstehenden Häuseragglomerationen, die sich an die Dörfer andocken und sich in die Landschaft ausbreiten, bedingen eine Zersiedlung, die die vorhandenen dörflichen Strukturen auflöst. Neubaugebiete erzeugen zumeist eine stumpfe Aneinanderreihung von Einfamilienhäusern, die keinen lebendigen, qualitativ-hochwertigen sozialen Raum bilden und sich dementsprechende auf ihre Umgebung auswirken. Damit ist nicht gemeint, dass die Bewohner mit ihrem Haus und Grundstück unzufrieden wären, sondern der Effekt, dass durch diese Zersiedlung die Aufenthaltsqualität im öffentlich-sozialen Raum wie auch die Lebendigkeit des Dorfes abnimmt. Jeder lebt für sich, es entsteht eine Addition von Häuser, mit einem Zwischenraum der ausschließlich der Erschließung dient und keine weiteren Qualitäten mit sich bringt. Gerade dem sozialen Raum kommt jedoch eine zentrale Rolle zu, die nach Bourdieu »die erste und letzte Realität [ist], denn noch die Vorstellungen, die die sozialen Akteure von ihm haben können, werden von ihm bestimmt.« (Bourdieu 2006: 354). Diese hier vorhandenen Gebiete sind allerdings reine Wohnorte, die sich von ihrer Umgebung abkapseln und die Dörfer in Schlaforte verwandeln. Die einzelnen Parzellen sind kleine grüne Oasen für die jeweiligen Bewohner, die sich ausschließlich auf sich selbst beziehen und den Kontakt zur umgebenden Landschaft vermeiden und den Bezug zum Dorfkern völlig verlieren. Damit der gewünschte urbane Lebensstil überhaupt im ländlichen Raum möglich ist, braucht es ein gut ausgebautes und dichtes Infrastrukturnetzwerk. In der ruralen Landschaft zeichnet sich dieses durch Straßen, Brücken, Energie- und Kommunikationsnetzwerke aus. Im Dorf selbst und um es herum findet dies seinen räumlichen Ausdruck in Form von Gewerbegebieten und Einkaufsinseln. Diese sind wichtige wirtschaftliche Standbeine für die Gemeinden. Auch andere nicht-kommerzielle Infrastrukturen, wie z.B. Schul- und Sportgelände, tragen zur Attraktivität der Dörfer bei. Dieses verstrickte Netzwerk generiert eine komplexe suburbane Landschaft, die gerne als »rurban« (rural + urban) bezeichnet wird (vgl. Pretterhofer/Spath/Vöckler 2010; Langner/Frölich-Kulik 2018). Die räumliche Konfrontation ist, neben einer

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zumeist ortlosen und monotonen Architektursprache, der radikale Maßstabssprung zwischen Gewerbehallen und Einfamilienhäusern, der die ländlichen Gemeinden stark herausfordert. Diese Bereiche haben, wie auch die Einfamilienhausgebiete, keine Beziehung zu ihrer lokalen Umgebung und setzen sich selten mit der vorhandenen Landschaft und der lokalen Baukultur auseinander. Abb. 1: Situation Einfamilienhäuser.

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Abb. 2 und 3: Leerstand an städtebaulich prägnanten Stellen (links) sowie alte Strukturen im historischen Dorfkern (rechts).

Jeff Mirkes, 2017

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Somit entsteht eine moderne, komplexe und urbane Landschaft des Gleichen, die wie ein Patchwork-Teppich zusammengesetzt ist und aus unterschiedlichen und sich doch immer wiederholenden Typologien und Strukturen besteht. Dieses Patchwork ist rein aus funktionalen und wirtschaftlichen Gründen entstanden und hat die Entwicklung sozial-qualitativer und ästhetisch ansprechender Räume vernachlässigt. Hierbei handelt es sich um sogenannte positive Räume, die Funktionen der Gesellschaft aufrechterhalten (indem der Fluss von Kapital, Informationen und Kommunikation so glatt wie möglich läuft) und diese immer schneller weiterbringen soll; es handelt sich um Entwicklungen, wie sie von Byung-Chul Han mit dem Begriff der Positivgesellschaft beschrieben werden (vgl. Han 2015: 5).

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NACH IMAGINÄRER

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Die reale Situation im Dorf sowie das aktuelle Leben auf dem Land sind grundsätzlich verschieden von den Bildern, die jeder und jede Einzelne dazu in seinem und ihrem Kopf trägt. Die idyllischen Bilder, die man kennt, werden uns durch die aktuellen Kommunikationswege auf den unterschiedlichsten Medienkanälen als imaginäre Produkte eingeprägt; sie lösen sozusagen die frühere Landschaftsmalerei ab (vgl. Pretterhofer/Spath/Vöckler 2010: 23). In und mit ihnen stellen wir uns die Dörfer gerne verwurzelt in einer intakten romantischen Landschaft vor; sie bilden dabei den Inbegriff für schöne und gute Orte (siehe dazu Nell/Weiland 2021). Wie die Realität zeigt, haben jedoch viele dieser Ortschaften weder eine »Relation«, noch lassen sie sich als historisch oder gar identitätsstiftend bezeichnen; sie werden somit laut Marc Augé zu sogenannten »Nicht-Orten« (vgl. Augé 1994: 83). Im Zuge ständiger Modernisierung sind viele Dörfer, und zwar oft mit Hilfe von Dorferneuerungsprogrammen, ›optimiert‹ worden. Diese Entwicklungen waren für die damaligen Umstände zeitgemäß und haben die Weiterentwicklung des urbanen Lebensstils und des ›guten‹ Lebens auf dem Land ermöglicht. Dabei wurden Straßen begradigt und klar abgegrenzt, Fassaden glatt verputzt, das Dorf wurde aufgeräumt, indem es »geglättet und eingeebnet« wurde und sich somit in eine Gesellschaft einfügen konnte, in der, um noch einmal Han (2015: 5) anzuführen, widerstandslos die Ströme des Kapitals, der Kommunikation und Information fließen. Dies widerspricht natürlich dem idyllischen Dorfbild und setzt diesem ein steriles und lebloses Bild gegenüber. Ansätze, das Dorf zu verschönern, enden schnell im Kitsch, da sie zumeist keinen ›authentischen‹ Ursprung haben. Sie riskieren dadurch, zu potemkinschen Dörfern zu werden. Die vielen gut gemeinten Aktionen zur Verschönerung und zur Revitalisierung des Dorfes können ihre Versprechen nicht halten. Die Problematik wird nur oberflächig behandelt. Eine räumlich-strukturelle Vision ist nicht vorhanden, die die Problematik gesamtheitlich betrachtet, indem sie einen authentischen Bezug der

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aktuellen Ansprüche in Relation zur lokalen Umgebung herstellt. Das Bild einer Sehnsucht nach dem idyllischen Zuhause, eingebettet in eine romantische Kulturlandschaft, kollidiert mit der Realität des Alltags. Für dieses komplexe Problem gibt es kein Patentrezept. Es benötigt vielmehr eine Art Werkzeugkasten, der mit der Spannung, der Komplexität und Dynamik dieser Herausforderungen umgehen kann (vgl. Schönwandt/Voermanek/Utz/Grunau/Hemberger 2013). Die Erkenntnis der Zusammenhänge dieser komplexen Probleme ist nicht neu, wie z.B. die Protagonisten der Gartenstadt oder Konzepte wie BROADACRE CITY zeigen. »Diese Ideen galten lange als zu theoretisch und nicht mit der Realität vereinbar. Sie bieten aber zumindest eine Basis für die Entwicklung einer wirklichen Alternative gegenüber der einseitigen Fokussierung auf die metropolitanen Räume.« (Neppl 2018: 79) Somit haben wir es hier nicht nur mit imaginären Bildern und nicht erreichbaren Sehnsüchten zu tun, sondern vor allem mit einer anspruchsvollen Aufgabe, nämlich eine klare Richtung im Umgang mit den vorhin genannten Spannungsfeldern zu geben. Die Bilder einer solchen Vision bedürfen unrealistischer Imaginationen, die Sehnsüchte formulieren, denen man aber nur gerecht werden kann, wenn man sich ernsthaft mit ihnen auseinandersetzt. Diese Bilder zeigen keine zukünftige Projektion der Realität, sondern räumliche Potenziale, ohne dabei die genaue Form des Endprodukts kennen zu müssen. Im besten Fall entwickelt sich eine solch utopische Vision zu einem Leitbild, das einer Weiterentwicklung dient.

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ZU DENKEN

Grundlage der hier vorgestellten Ansätze, wie sich ein Dorf neu denken ließe, ist die Forschungsarbeit DORF NEU DENKEN (Mirkes 2017). Diese basiert auf sechs Handlungsempfehlungen, die als eine Art Werkzeug bei der räumlichen Entwicklung von Dörfern dienen sollen. Diese Richtlinien sind keine Anleitung, die einfach ›richtig‹ angewendet wie ein Patentrezept wirken, sondern sie weisen auf den Umgang mit den vielschichtigen und komplexen Problemen hin. Ziel ist es, die räumlich-strukturellen Potenziale aufzuzeigen, die die meisten Dörfer hätten und auch haben. Dabei wird auf verschiedene Spannungsfelder eingegangen, um eine mögliche Vorstellung von einem zukünftigen Dorf zu bekommen. Das Konzept DORF NEU DENKEN produziert keinen Masterplan für Dörfer, da das, wie bereits erwähnt, der Komplexität der Problematik nicht gerecht werden würde. Eine solche Top-down-Planung ist unter den aktuellen Herausforderungen, Prozessen und Dynamiken nicht mehr umsetzbar. Gerade durch die Initiative der Bürger/innen im Dorf, mit der Konfrontation der Gemeindeverwaltung und der Politik, müssen sich solche Projekte zu flexiblen und lernenden Prozessen entwickeln.

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Die dabei entwickelten Handlungsempfehlungen sollen helfen, mögliche Bereiche der Entwicklung zu definieren, um ein Dorf auf der räumlich-strukturellen Ebene neu denken zu können. Dafür braucht es natürlich erstmal eine zusammenhängende Struktur, die sich mit den bebauten und freien Flächen des Dorfes sowie deren Umgebung befasst. Aber über die Gestaltung des öffentlichen Raumes hinaus sind auch einzelne Projekte, vor allem im architektonischen Maßstab, relevant, da sie diesen öffentlichen Raum schlussendlich durch ihre Form mitbilden. Das Denken im Maßstab zwischen Architektur und Stadtplanung ist deswegen ein Schlüsselkriterium, da sie sich gegenseitig bedingen. Um ein authentisch-zeitgenössisches Dorfbild herzustellen, das eine Identität hat und gleichzeitig als ein schöner und lebenswerter Raum erlebt wird, braucht es dieses zusammenhängende Verständnis vom architektonischen bis hin zum raumplanerischen Maßstab. Denn ohne den Kontext bleiben auch baukulturelle Leuchtturmprojekte im Nichts verhaftet und können keine Verbindung zum Lokalen herstellen. Das vertraute Bild von einem authentischen Dorf, mit dem die Bewohner/innen sich identifizieren können und das doch zugleich auch nicht dem Lebensstil einer urbanisierten Gesellschaft widerspricht, benötigt eine Verschränkung mit seiner Umgebung. Abb. 4: Luftbild von Consdorf, Wiesen und Freiflächen innerhalb des Dorfes.

Jeff Mirkes, 2018

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Im Folgenden wird auf sechs Richtlinien eingegangen, auf denen das KonzeptModell DORF NEU DENKEN basiert: • eine klare Begrenzung des Dorfes • verschiedene Dichten • das Dorf und die Landwirtschaft • Energieversorgung • räumliche Strukturierung durch Allmendeflächen • öffentliche Nutzungen im Dorfkern Diese sechs Handlungsempfehlungen sind anhand einer Analyse von Dörfern in Luxemburg entstanden. Abb. 5: Modell des Konzeptes DORF NEU DENKEN.

Jeff Mirkes, 2017

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Klare Begrenzung des Dorfes Dörfer brauchen eine klare Grenze zu ihrer Umgebung, um nicht willkürlich in die Landschaft wachsen. Diese soll eine maximale Ausdehnung für das Dorf festlegen. Die Linie, die daraus zwangsläufig entsteht, ist kein glatter Schnitt, die das Dorf von der umliegenden Kulturlandschaft abschneidet. Die Grenze hat die Aufgabe, klar zu definieren wie weit gebaut werden darf und in welche Verbindung das Gebaute mit der Kulturlandschaft tritt. Durch das Definieren und das Festlegen der maximalen Ausdehnungsgrenze bekommt das Dorf wieder Charakter, vor allem auch an den Randbereichen.1 Genau diese Markierung, die auf die lokale Topografie und Kulturlandschaft eingeht und eine bewusste Beziehung zur Umgebung darstellt, wird den Charakter des Ortes bekräftigen. Durch den maximalen Radius des Dorfes bleibt der Bezug zum Dorfkern auch in Zukunft erhalten; ja, er sorgt vielmehr angesichts des Problems eines zunehmenden Leerstands für dessen Aufwertung. Die Distanz der Wohnhäuser zum Dorfkern sollte im Idealfall fußläufig resp. mit dem Fahrrad erreichbar bleiben. Das Festlegen der äußeren Kontur eines Ortes hat nicht nur Vorteile für das innerörtliche Leben, sondern ebenso für die außen liegende Umgebung. In Anbetracht des Klimawandels muss die umliegende Kulturlandschaft geschützt werden, um eine Biodiversität auch in Zukunft zu garantieren. Neben dem Umweltschutz dient der Wert der Kulturlandschaft als wichtiger Identitätsträger eines Dorfes und einer Region (Henkel 2012: 243). Darüber hinaus garantiert dies in näherer Zukunft genügend bebauungsfreie und regenerative Fläche, die die Lebens- und Aufenthaltsqualität verbessert. Gerade wenn der Wunsch der Bewohner das »Haus auf der grünen Wiese« ist, wird es umso wichtiger, die umgebende Landschaft in den Lebensalltag mit zu integrieren. Schlussendlich soll die Begrenzung auf eine maximale Ausdehnung dafür sorgen, den ländlichen Charakter des Dorfes hinsichtlich zukünftiger Entwicklungen und Erweiterungen beizubehalten.

1

Etwas Charakterloses hingegen wäre laut Carl Schmitt z.B. das Meer, das keine Markierungen zulässt: »In das Meer lassen sich [...] keine festen Linien eingraben. Die Schiffe, die das Meer durchfahren, hinterlassen keine Spur. [...] Das Meer hat keinen Charakter in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes Charakter, das von dem griechischen Wort charassein, eingraben, einritzen, einprägen kommt.« (Schmitt 1950: 13f.)

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Verschiedene Dichten Der Umgang mit der Dichte der Bauweise und deren differenzierte Verteilung über das Dorf wirken sich in wesentlicher Weise auf die dort entstehenden Raumqualitäten aus. Baudichten haben eher einen negativen Beigeschmack, schnell kommt einem der Begriff Nachverdichtung in den Sinn, der darauf abzielt, mehr Wohnungen unterzubringen, ohne dabei neues Bauland ausweisen zu müssen; und der doch mit der Angst einer Verschlechterung der vorherigen räumlichen Qualität einhergeht. Hier geht es nicht um eine solche Form der Nachverdichtung, sondern darum, welche Dichte in welchen Bereichen des Dorfes angemessen sind. Denn durch die Variation der baulichen Dichte kann die räumliche Qualität bewusst gesteuert werden. Einerseits werden dadurch nicht alle Neubaubereiche monoton, so wie man es etwa von Einfamilienhaussiedlungen kennt. Andererseits ermöglicht Dichte an manchen Stellen neue Entwicklungen von Gebäudetypen und wertet nicht nur im Dorfkern den öffentlichen Raum auf. Die daraus entstehenden Räume erzeugen eine gewisse Spannung, die den Bewohnern beim Laufen durch das Dorf Orientierung und Abwechslung geben. Der meist historische Dorfkern mit der Kirche im Zentrum ist in der Regel dicht bebaut und hat oft eine städtische Bauweise. Dieser wird von einer lockereren Bebauung, hauptsächlich aus Einfamilienhäusern bestehend, umgeben. Das Phänomen von Einfamilienhäusern, die entlang der Straßen eins neben dem anderen entstanden sind, oder in Form von Neubaugebieten flächendeckend das Dorf erweitert haben, hat ein Selbstverständnis von Dichte für Dörfer etabliert, das sich aber des Mangels an räumlichen Qualitäten nicht bewusst ist. Gebaut wird, soweit das Baurecht zulässt und was sich auf dem Immobilienmarkt gut verkauft. Diese Siedlungen und ihre Straßen haben weder einen definierten Anfang noch ein Ende und liegen irgendwie in der Landschaft. Neben der fehlenden Auseinandersetzung mit dem Rand des Dorfes nimmt die bauliche Dichte üblicherweise keinen Bezug auf dessen baulichen Charakter. Dichte bedeutet, sich auch mit den freibleibenden Flächen zu befassen, die für den Erhalt des dörflichen Charakters von großer Bedeutung sind. Planungen sollten die Freiflächen, die Wiesen, die Felder und die Obstgärten (Grünflächen) bewusst mit in den Planungsprozess integrieren. Das Ziel ist es, die unterschiedlichen Dichtebereiche im Dorfkern, am Dorfrand, im Wohngebiet usw. zu steuern und dabei auch bewusst die Freiräume mit einzubeziehen, die sich mitunter bis in den Dorfkern ziehen. Der Bereich der maximalen Grenze des Dorfes soll nämlich nicht einfach mit Häusern aufgefüllt werden, vielmehr sollen durch unterschiedliche Dichten im Dorf verschiedene Bereiche mit unterschiedlichen Qualitäten entstehen. Dadurch wird eine Heterogenität von Gebäudetypen ermöglicht, die auch neue Nutzungsformen zulassen, wie z.B. Genossenschaftliches Wohnen, Co-Working-Spaces sowie Hybridformen, die Wohnen und Homeoffice kombinieren, und somit auch den öffentlichen Raum stärken und beleben.

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Das Dorf und die Landwirtschaft Der aktive Bezug des Dorfes zur Kulturlandschaft durch die Landwirtschaft besteht heute kaum noch. Die Landwirtschaft ist ebenfalls vom Strukturwandel betroffen und hat sich weitestgehend industrialisiert und digitalisiert. Das Betreiben der Landwirtschaft im industriellen Stil hat deren Maßstab verändert und sich somit vom Dorf gelöst. Durch diese Art von Landwirtschaft entsteht auch keine Kulturlandschaft mehr, wie wir sie kennen und als erhaltens- und schützenswert deklarieren. Somit befinden sich die landwirtschaftlichen Betriebe außerhalb des Dorfes, mitten in der Agrarlandschaft, umgeben von Feldern mit Monokulturen, die mehrere Hektar groß sind. Diese industriellen landwirtschaftlichen Bauten haben eine eigene architektonische Formensprache entwickelt, die vergleichbar mit der von Gewerbebauten ist und selten etwas mit Baukultur zu tun hat. Sie ist gleich, unabhängig von Ort und Land, effizient, rational und funktional auf wirtschaftliche Interessen ausgerichtet und an vorgeschriebene Normen angepasst. Somit wird die Landwirtschaft in der zukünftigen Entwicklung von Dörfern auch keinen Anker mehr zur Baukultur und Kulturlandschaft sein, eher im Gegenteil. Als Pendant dazu gibt es natürlich auch die Tendenz zu einer bewusst kleinteiligeren und vor allem nachhaltig ausgerichteten Landwirtschaft. Diese kann teilweise genossenschaftlich organisiert sein, wobei es meistens Bewohner/innen sind, die sich bewusst für einen gesünderen und nachhaltigen Lebensstil entscheiden. Ebenfalls gibt es auch Firmen, die sich bewusst in ländlichen Raum ansiedeln und die wieder lokale Landwirtschaft fördern, etwa auch für die hauseigene Kantine. Zurzeit sind das eher Pilotprojekte, aber mit einer immer größeren Nachfrage. Gerade durch die Slowfood-Bewegung im Gastronomiebereich besteht auch wieder mehr Bedarf nach lokaler, kleinteiliger und fairer Landwirtschaft. Durch diese Tendenzen wird die Landwirtschaft zumindest wieder teilweise mit dem Dorf und der umliegenden Kulturlandschaft verknüpft. Im landwirtschaftlichen Bereich wird das Spannungsfeld zwischen industriell betriebener Agrarwirtschaft und kleinteiliger lokaler Landwirtschaft sehr deutlich; dabei zeigt sich, wie extrem die Auswirkungen auf unsere Umgebung sind und wie schnell ein Strukturwandel stattfindet. Gerade hier liegt aber auch die Chance, diese Bereiche neu zu denken und den aktuellen Bedürfnissen wieder anzupassen.

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Energieversorgung Wenn man sich mit der Zukunft von Dörfern befasst, spielt das Thema Energieversorgung eine wichtige Rolle. Hier wird nicht auf technische Innovationen eingegangen, sondern kurz angerissen, welchen räumlichen Ausdruck dafür angemessen ist und wie diese mit ihrer Umgebung entwickelt werden können. Gerade Dörfer, die im Vergleich zu Städten meist über viel unbebaute Flächen verfügen, ermöglichen das Einrichten von Flächen zur Energieversorgung. Diese können auch mit Aussiedlerhöfen kombiniert werden, z.B. bei Biogasanlagen. Diese Flächen sind nicht zwangsläufig auf Energie reduziert, sondern können natürlich für das lokale Herstellen von Trinkwasser sowie für die Reinigung von Abwasser durch Kläranlagen genutzt werden. Dank ihrer überschaubaren Größe können Dörfer neue Innovationen ausprobieren und sich, zumindest teilweise, von globalen Netzwerken unabhängig machen. Zusätzlich können sie eine Vorreiterfunktion im Bereich Ressourcenverbrauch und Umweltfreundlichkeit einnehmen. Für die Menschen, die bewusst aufs Land ziehen, mit der Sehnsucht nach einem umweltfreundlicheren und besseren Lebensstil z.B. als partielle Selbstversorger, wäre das doppelt interessant. Das Dorf dient dann als Prototyp für umweltbewusstere Lebensweisen. Das Thema Energie und Ressourcenverbrauch ist in der räumlichen Planung aufgrund des meist starken Eingriffs in die Landschaft nicht einfach zu entwickeln. Laut eines Beitrags der Zeitschrift KOMMUNAL vom 27. September 2019 ist das Thema Windkrafträder besonders schwierig; deutschlandweit gibt es mehr als 1.000 Verbänden und Initiativen gegen das Errichten von Windrädern, weshalb sich auf kommunaler Ebene damit auseinandergesetzt werden muss (vgl. Piron 2019). Die damit verbundenen Herausforderungen müssen mitgedacht werden. Dafür ist auf die Notwendigkeit eines interdisziplinären Entwerfens hinzuweisen und die Potenziale, die daraus entstehen können. Dadurch werden wiederum die Bewohner für ihre Umgebung sensibilisiert und mit in den Prozess eingebunden. Die Zukunft von Dörfern hängt nicht allein an der Geschwindigkeit der Internetleitung ab, sondern vielmehr von den Qualitäten, die im Dorf entstehen, gerade wenn es solche sind, die in der Stadt nicht möglich sind. Räumliche Strukturierung durch Allmendeflächen Das Dorf entwickelt sich nicht mehr ausschließlich linear entlang von Straßen, sondern wird in seiner gesamten Fläche innerhalb der Gemarkungsgrenze gedacht. Wie schon beim Thema der verschiedenen Dichten angedeutet, wird das gesamte Dorf mit allen Freiflächen, die innerhalb der maximalen Außengrenze liegen, betrachtet. Die vorhandenen grüne Freiflächen wie z.B. Obstwiesen, Weiden, Gärten

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etc., die langjährige historische Wurzeln haben und bis Mitte des 20. Jahrhunderts für Dörfer überlebenswichtig waren, werden aktiv mit in die Planung einbezogen. Diese Bereiche sind keine nutzlosen Flächen, die als potenzielles Bauland dienen, sondern qualitativ hochwertige Bereiche für das Dorf. Wenn diese verschwinden, geht der dörfliche Charakter verloren und das Dorf mutiert zu einer identitätslosen Wohnsiedlung. Der ländliche Charakter des Dorfes wird durch diese grünen Freiflächen beibehalten und für die Bewohner/innen in Form von Allmendeflächen erlebbar gemacht. Die Allmendeflächen sind Bereiche gemeinschaftlichen Eigentums (es gibt verschiedene Formen im Umgang, die möglich sind, z.B. durch Erbpacht der Gemeinde), die kooperativ öffentlich-rechtlich geregelt sind durch die Gemeindeverwaltung, Vereine oder genossenschaftliche Betriebe. Die Allmendeflächen tragen die bestehenden Flurnamen, die einerseits identitätsstiftend sind und andererseits eine Verbindung zu den historischen Wurzeln herstellen. Die Wohnhäuser richten sich an den Grünflächen aus, die den Anwohnern viel Platz bieten, den sie nach dem SharingPrinzip nutzen. Diese Bereiche können für Hobbys genutzt werden, wie etwa für den Anbau von Obst und Gemüse, zum Imkern oder als Reitplatz etc. Dies kann genossenschaftlich innerhalb der Nachbarschaft organisiert werden oder aber auch durch kleine Gärtnerbetriebe, bei denen man als Mitglied, das frisches Obst und Gemüse genießen kann, ohne dafür tagtäglich selber Hand anlegen zu müssen, wie z.B. durch SOLAWI, dem Netzwerk für eine solidarische Landwirtschaft. Diese grünen Flächen bieten den Bewohnern zusätzlich einen Ort für Gemeinschaft und eine aktivere Nachbarschaft. Als Bewohner kann man sich mit seiner Umgebung identifizieren und hat einen realen Ort, der Teil der eigenen Persönlichen Lebensgeschichte wird. Laut Abels ist Identität »das Bewusstsein, ein unverwechselbares Individuum mit einer eigenen Lebensgeschichte zu sein, in seinem Handeln eine gewisse Konsequenz zu zeigen und in der Auseinandersetzung mit Anderen eine Balance zwischen individuellen Ansprüchen und sozialen Erwartungen gefunden zu haben« (Abels 2017: 231). Die Allmendeflächen werden durch verschiedene Stufen von öffentlichen Wegen, Wiesen und Bereichen bis hin zu privaten Terrassen und Gärten an den Häusern gegliedert. Durch die aktive Mitgestaltung der gemeinschaftlichen Bereiche sind die Bewohner aktive Teilnehmer bei der Dorfentwicklung. Die räumliche Verzahnung der Allmendeflächen mit der Umgebung, bestehend aus Feldern und Wäldern, stellt eine Verknüpfung zur Kulturlandschaft her. Darüber hinaus werden die Bewohner für ihre Umwelt sensibilisiert. Des Weiteren ermöglichen die Allmendeflächen im gesamten Dorf ein grünes Netzwerk, das von Radfahrern und Fußgängern nutzbar ist. Der vorhandene Straßenraum in Dörfern kann nämlich oft diesen Ansprüchen nicht gerecht werden, wie es Lola Randl in ihrem Roman DER GROßE GARTEN beschreibt: »Die Straße geht so nah am Haus vorbei [...], dass an der schmalsten Stelle der Bürgersteig nur einen Fuß

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breit ist.« (Randl 2019: 12) Durch dieses grüne Netzwerk soll das Dorfzentrum ohne Automobil innerhalb von 10 Minuten erreichbar sein. Abb. 6: Perspektive, wie eine mögliche Allmendefläche aussehen kann.

Jeff Mirkes, 2017

Öffentliche Nutzungen für einen lebendigen Dorfkern Dem Dorfkern kommen durch seine zentrale Lage und dichtere Bauweise vor allem öffentliche Nutzungen zu. Er hat eine höhere Durchmischung der Nutzungen und einen anderen Bezug zur Landschaft als die Randbereiche mit den Allmendeflächen. Vor allem kommt dem Dorfkern die Funktion zu, das öffentliche Leben zu rahmen und zu ermöglichen. Öffentliche Bereiche, Plätze und Gebäude befinden sich deshalb im Zentrum, um einen lebendigen Kern zu haben. Das sind auch solche Orte, an denen man sich zufällig begegnen kann. Diese Eigenschaften sind nicht mit denen öffentlicher Plätze einer Stadt vergleichbar, aber werden im Dorf allein wegen der Größe einen intensiveren sozialen Austausch ermöglichen. Es geht darum, die öffentlichen Räume im Dorf zu beleben, die zurzeit dem motorisierten Verkehr untergeordnet sind und von diesem eingeschränkt werden. Die öffentlichen Bereiche sollen wieder mehr Aufenthaltsqualitäten bekommen und keine messerscharfe Schneise, hergestellt durch die ausgeprägten breiten Straßen, im Dorf bilden. Das bedingt einerseits, dass die Freiflächen und Plätze im Dorf in verschiedenen Teilen als zusammenhängende Bereiche verstanden werden und nicht mehr durch Straßen und Bordsteine getrennt werden. Ähnlich wie bei den Allmendeflächen sollen hier die öffentlichen Räume wieder erkennbar werden und keine Restflächen bilden. Da der Straßenraum flächig organisiert wird, überschneiden sich Plätze mit vorhanden Straßen und Verkehrswegen, das durch eine Art »Shared-Space« organisiert wird.

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Ziel ist es, dass gerade der Dorfkern für Veranstaltungen wie z.B. für ein Dorffest ausgestattet ist, wo eine größere zusammenhängende Fläche, mit der Dorfkulisse im Hintergrund, zur Verfügung steht. Dies betont die Einzigartigkeit eines jeden Dorfes, die für die Identität eine wichtige Rolle spielt. In diesen Bereichen befinden sich unterschiedliche öffentliche Gebäude wie z.B. das Rathaus, die Kirche, ein Vereinshaus, das Bürgerhaus oder eine Schule, eine Kita oder aber auch Cafés/Restaurants sowie einige Läden und Werkstätten mit Co-Working-Spaces, die den Ort auch unter der Woche beleben. Gerade auch die Räumlichkeiten, wie sie Kirchengebäude anbieten, sind als Raum zu konzipieren, der allen Zugang bietet und als eine Art Raum des Dialogs funktioniert, z.B. zum Verwalten der Allmendeflächen. Ebenfalls können diese Räume auch den Anlass für neue kulturelle Aktivitäten sein. Der Dorfkern hat die Funktion, den Ansprüchen der heutigen und zukünftigen Bewohner des Dorfes nachzukommen und dem auch räumlichen Ausdruck zu verleihen.

D ARAUS ENTSTEHENDE S PANNUNGSFELDER (D UALITÄTEN ) Die gerade vorgestellten Richtlinien bringen so manche Gegenpole mit sich, die einige Spannungsfelder kreieren. Gerade die letzten beiden Punkte weisen diese Gegensätze auf, wo einerseits das Wohnen in der Landschaft gewünscht wird, andererseits aber auch ein lebhafter Dorfkern. Ein weiteres Spannungsfeld ergibt sich in der Beziehung des Dorfes zu seiner umliegenden Kulturlandschaft. Einerseits soll diese von der Bebauung geschützt werden, andererseits funktioniert sie nur, wenn auch das Dorf sich aktiv an ihr beteiligt und sie nutzt. Hier geht es um eine Grenze, die keine Begrenzung in all ihren Facetten ist. Für die Bebauung gibt es zwar eine klare Grenze, aber das Beleben der Kulturlandschaft durch die Allmendeflächen bedeutet gleichzeitig eine Entgrenzung, indem die Kulturlandschaft mit in den Lebensalltag integriert wird. Hier wird die Komplexität des Problems spürbar, das auch räumlich durch Bebauung nicht einfach lösbar ist, sondern sich ständig gegenseitig herausfordert. Gerade dieses Spannungsfeld macht das Ländliche so attraktiv; und es gilt, sich damit auseinander zu setzen. Diese Spannungsfelder existieren genauso in Bezug auf historische und neue Strukturen. Die Dynamik, die aus diesen Spannungsfeldern entsteht, muss bei der Weiterentwicklung des Dorfes als Potenzial für mehr räumliche Qualität genutzt werden, anstatt zu versuchen, sie durch Homogenisierung der Bautypen (häufig Einfamilienhausgebiete) und scharfe Trennung zur Umgebung zu minimieren. Durch diese Spannungsfelder wird das Dorf auch in Zukunft einen wichtigen gesellschaftlichen Beitrag leisten, der den ländlichen Raum zu einem attraktiven und lebenswerten Ort entwickelt.

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Abb. 7: Illustration DORF NEU DENKEN.

Jeff Mirkes, 2017

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Die verschiedenen Bereiche, die die Richtlinien von DORF NEU DENKEN beleuchten, sollen dem Dorf in Zukunft helfen, ein Bild mit abwechslungsreichen heterogenen Strukturen und Formen zu entwickeln. Das geht von der Architektur des einzelnen Gebäudes bis hin zu den räumlichen Gestaltungen in einem städtebaulichen Maßstab. Das Dorf ist abhängig von seiner Topografie, die begriffen als Landschaft den Charakter eines jeden Ortes prägt. Dörfer sind, neben anderem, auch davon abhängig, wie sie ihre jeweilige Identität erzeugen und was sie als ihre spezifische Identität setzen und ansehen. Durch die enge Verbindung mit der Umgebung entsteht automatisch ein in sich geschlossenes und vielleicht auch identitätsstiftendes Bild, das einzigartig für den jeweiligen Ort ist. Das Dorf wächst nach innen durch eine authentische und organische Entwicklung, die Raum lässt für neue Innovationen und dadurch auch die Möglichkeit bietet, dass neue Ausdrucksweisen entstehen, die baukulturell relevant sind und eine Bereicherung darstellen können. Die Frage nach dem Dorfbild ist somit, welchen Umgang wir mit dem aktuellen Dorf haben und ob die dabei entstehenden Bilder bei einem Rückblick in fünfzig Jahren zusammenpassen oder Sehnsucht und Realität weiter auseinandergedriftet sind.

L ITERATUR Abels, Heinz (2017): Identität, 3. Aufl., Wiesbaden: Springer VS. Augé, Marc (1994): Nicht-Orte, 4. Aufl., München: C.H. Beck. Bourdieu, Pierre (2006): »Sozialer Raum, symbolischer Raum (1989)«, in Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 354-369. DGGL (2018): »Achtung, das Dorf verschwindet. Was tun?«, in Deutsche Gesellschaft Für Gartenkunst und Landschaftskultur e.V. vom September, Titelseite. Fischbach, Rainer (2010): »Die Zukunft ist die Stadt – doch was ist die Stadt der Zukunft?«, in: Horst Müller (Hg.), Von der Systemkritik zur gesellschaftlichen Transformation, Norderstedt: BoD-Verlag, S. 297-334. Han, Byung-Chul (2015): Transparenzgesellschaft, 4. Aufl., Berlin: Mattes & Seitz Berlin. Henkel, Gerhard (2012): Das Dorf. Landleben in Deutschland – gestern und heute, Stuttgart: Theiss. Henkel, Gerhard (2016): Rettet das Dorf!, München: dtv. Langner, Sigrun/Frölich-Kulik, Maria (2018) (Hg.): Rurbane Landschaften. Perspektiven des Ruralen in einer urbanisierten Welt, Bielefeld: transcript. Mirkes, Jeff (2017): Dorf neu denken, Karlsruhe: IESL/STQP. Nagel, Reiner (2017): Baukulturbericht Stadt und Land 2016/17, Potsdam.

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Nell, Werner/Weiland, Marc (2021) (Hg.): Gutes Leben auf dem Land? Imaginationen und Projektionen vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bielefeld: transcript. Neppl, Markus (2018): »Jenseits der Stadt«, in: Bundesstiftung Baukultur (Hg.), Reden über Baukultur mit… – Dreiunddreißig Ausblicke auf die Zukunft unserer Lebensräume, Potsdam: Bundestiftung Baukultur, S. 78-79. Piron, Rebecca (2019): »Windenergie. Eine gute Idee für ihre Kommune?« in: KOMMUNAL vom 27.09.2019, online: https://kommunal.de/windenergie-definition (04.03.2021). Pretterhofer, Heidi/Spath, Dieter/Vöckler, Kai (2010): Land: Rurbanismus oder Leben im postruralen Raum, Graz: Haus der Architektur. Randl, Lola (2019): Der große Garten, 2. Aufl., Berlin: Matthes & Seitz. Schmitt, Carl (1950): Nomos der Erde, Berlin: Duncker & Humblot. Schönwandt, Walter/Voermark, Katrin/Utz, Jürgen/Grunau, Jens/Hemberger, Christoph (2013): Komplexe Probleme lösen. Ein Handbuch, Berlin: Jovis. Schröder, Jörg/Weigert, Kerstin (2010): Landraum. Entwerfen auf dem Land, Berlin: Jovis. Siebel, Walter (2016): Die Kultur der Stadt, 2. Aufl., Berlin: Suhrkamp UNFPA – United Nations Population Fund (2007): The State of the World Population 2007. Unleashing the Potential of Urban Growth, New York, online: https://www.unfpa.org/publications/state-world-population-2007 (04.03.2021)

Dörfer im Agrarmeer Entwurfsperspektiven für eine klimagerechte und lebenswerte Zukunft des Landes A TIDH J ONAS L ANGBEIN , S IGRUN L ANGNER , P IA M ÜLLER

»Land in Sicht!« könnte man wohl von Studierenden vernehmen, während sie durch die Weiten des ländlichen Raums Nordthüringens navigieren. Die Weite der Agrarräume, die Entkopplung dieser von den darin liegenden Ortschaften und ihre fehlende »Überbrückbarkeit« (Schröder/Weigert/Leidorf 2010: 249) waren für die Studierenden des Entwurfsprojektes KLIMALAND1 eine der markantesten Eigenschaften des Helmetals, einer landwirtschaftlich geprägten Region am Fuße des Südharzes. Ausgangspunkt des Projektes war die Tatsache, dass die zentrale gesellschaftliche Zukunftsaufgabe – der Umgang mit den zunehmend spürbaren Auswirkungen der Klimakrise –, nicht ohne die Betrachtung der ländlichen Räume gelingen kann und hier zu tiefgreifenden Transformationsprozessen führen wird. Energiewende und Klimaschutz sind ohne ländliche Regionen nicht denkbar. Allerdings wird ›das‹ Land allzu oft aus einer urbanen Perspektive gesehen; es dient hierbei lediglich als Flächenressource für die Energie- und Nahrungsmittelproduktion bzw. als Bereitsteller von Ökosystemdienstleistungen für Erholung und Naturschutz.

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Das städtebaulich-landschaftsplanerische Entwurfsprojekt wurde im Wintersemester 2021/22 an der Professur Landschaftsarchitektur und -planung der Bauhaus-Universität Weimar in Kooperation mit der IBA Thüringen durchgeführt. Es ist eingebettet in eine Reihe an ›Landstudios‹, die sich mit drängenden gesellschaftlichen Herausforderungen wie der Klimakrise, zunehmenden räumlichen Polarisierungsprozessen und deren Auswirkungen auf ländliche Regionen beschäftigt. Aus einer raumplanerischen und landschaftsarchitektonischen Position wird über entwurfsorientierte Ansätze nach Zukunftspfaden einer sozial-ökologischen Transformation auf dem Land gesucht.

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Ländliche Räume und deren Landschaften werden dabei vielmals ausschließlich aus einer funktionalistischen Logik heraus betrachtet und raumordnerisch entwickelt, um den zunehmenden Nutzungsdruck auf die begrenzte Ressource Fläche zu steuern (Schöbel 2011: 53). Es zeichnen sich ganz deutlich weiter verschärfende Nutzungskonflikte durch die dringlich umzusetzende Energiewende und die anstehenden verstärkten Umstellungen auf erneuerbare Energien ab (vgl. Schmidt et al. 2018). Die damit verbundenen rasanten raumwirksamen Veränderungen der Landschaft, der Landwirtschaft, aber auch der Mobilität und der Energiebereitstellung sind eng mit Fragen der Lebensqualität, Daseinsvorsorge und zukunftsfähigen räumlichen Entwicklung in ländlichen Regionen verbunden (Noack/Witting 2022). Sie sind auch verbunden mit Fragen von der Ausgestaltung gerechter Stadt-Land-Verhältnisse (Maschke et al. 2020). Das Land ist dabei mehr als ein Produzent und Lieferant von Nahrungsmitteln, Rohstoffen und Energien. Es ist immer auch ein bewohnter Alltagsraum, dessen nachhaltige und gerechte Planung und Gestaltung mehr Aufmerksamkeit und Wertschätzung bedarf, um lebenswerte ländliche Räume zu erhalten und zu entwickeln. Die Entwicklung neuer Raumbilder für sich wandelnde ländliche Räume kann hierbei mögliche Zukünfte des Landes als ein bewohnter und lebenswerter Alltagsraum vorstellbar – und bestenfalls auch realisierbar – werden lassen. Im Entwurfsprojekt KLIMALAND WERTHER an der Bauhaus-Universität Weimar wurde eine räumlich-gestalterische Perspektive auf die anstehende Energie- und Mobilitätswende in ruralen Räumen geworfen. Wir fragten, wie sich die notwendigen Anpassungsmaßnahmen an den Klimawandel sowie die Umsetzung der Klimaschutzziele mit ländlicher Baukultur, mit dem Erhalt lebenswerter Ortschaften verbinden lassen und wie zukünftige Klimakulturlandschaften aussehen werden. Die Studierenden suchten nach neuen Wegen einer nachhaltigen Orts- und Landschaftsentwicklung im Helmetal, die Möglichkeiten zur Förderung nachhaltiger Lebens- und Arbeitsmodelle auf dem Land aufzeigen, mögliche Zukunftsbilder mehrdimensionaler Energie- und Produktionslandschaften zeichnen und dabei, auf den landschaftlichen Qualitäten der Region aufbauend neue, räumliche und sinnstiftende Zusammenhänge zwischen den Dörfern der Dorfregion und der sie umgebenden Produktionslandschaften entwickeln. Die Beziehungen zwischen den Orten und der dazwischenliegenden Landschaft sollten von Grund auf neu gedacht werden. Neu im Sinne vernetzter, gemeinwohlorientierter und ressourcenschonender Infrastrukturen, aber auch im Sinne eines neuen Verhältnisses zwischen den Orten und ihren umgebenden Produktionslandschaften. Wie entsteht eine mehrdimensional erfahrbare, nutzbare und vor allem bewohnbare Klimakulturlandschaft und wie kann diese vorstellbar werden?

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V ERBUNDENE D ÖRFER Abb.1: Ein Archipel schaffen.

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»Die Dörfer im Helmetal liegen in einem großflächig ausgeräumten Agrarmeer wie Inseln. Zwischen den Dörfern bestehen lediglich Straßenverbindungen, die die umliegende Landschaft ›überbrücken‹.« Mit dieser Erkenntnis stachen Paula Gotthard und Mascha Leykauf, metaphorisch gesprochen, in See – in das »Agrarmeer« der Region um die Gemeinde Werther. Die Idee ihrer Arbeit DIE DORFREGION ALS ARCHIPEL ist, aus den vielen kleinen isolierten Ortschaften, die wie Inseln in dem riesigen Agrarmeer liegen, einen vernetzten Archipel zu erschaffen, eine zusammenhängende Inselgruppe entstehen zu lassen, die Siedlungen zu stärken und die Landschaft als wichtige verbindende Bezugsgröße zu entwickeln. Auf einer imaginären Schatzsuche wurden besondere Orte in der Landschaft gefunden, die zu neuen Bezugspunkten für die Bewohner/innen der Ortschaften in der Agrarlandschaft werden können. So fügt sich dem bestehenden Meer aus kleinen Siedlungsinseln eine Vielfalt neuer Inseln und Wegeverbindungen hinzu, die die Weite greifbarer und durchquerbar machen. Abb. 2: Anlaufstellen im Agrarmeer.

P. Gotthard, M. Leykauf

Vier Typologien ergänzen das Agrarmeer und bereichern es mit neuen Nutzungen und Funktionen. Die wilde Insel, die aktive Insel, der produktive Steg und der Hafen sind die neuen Schnittstellen und Vermittler zwischen Agrarlandschaft und Dorf. Damit einher geht ein Transformationsprozess und Landschaftsumbau hin zu einer klimaangepassten, nachhaltigen landwirtschaftlichen Bewirtschaftungsstruktur.

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Abb. 3: Ankommen in Haferungen.

P. Gotthard, M. Leykauf

Durchgespielt wurde die Typologie des Hafens mit produktivem Steg konkret in der Gemeinde Haferungen. An der Schnittstelle zwischen Dorf und Produktionslandschaft entsteht ein Gebäudeensemble, das sich an den ortstypischen Hofstrukturen und Bauweisen orientiert; mit genug Platz für einen neuen Genossenschaftssitz, eine Verkaufsstelle für regional angebaute Produkte, ein Gemeinschaftshaus für die Dorfbewohner/innen mit Veranstaltungsraum für Events und Seminare zu nachhaltiger Landwirtschaft, ein Café, ein Permakulturgarten und eine Lagerhalle für Anbauprodukte und Maschinen. Der produktive Steg führt in die umgebende Agrarlandschaft. Entlang dieses Landschafts- und Bewirtschaftungsweges finden sich Impulsfelder, die mit (neuen) Formen einer nachhaltigen Landwirtschaft experimentieren und ein Fenster in die Zukunft der Landwirtschaft aufstoßen. Die Verbindung der Dörfer untereinander erzeugt somit auch Entwicklungschancen, die Isolation der Ortschaften voneinander aufzubrechen und gleichzeitig die ausgeräumte Agrarlandschaft strukturell, ökologisch und mit innovativen, nachhaltigen Produktionsmethoden anzureichern (Moser et al. 2003: 42).

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D ER Ü BERGANG

ZUR

A GRARLANDSCHAFT

Abb. 4: Die Dörfer und ihre Schwellenräume.

M. John, S. Koenig, J.-M. Rahm

Grenzen begegnen uns immer wieder, auch in ruralen Landschaften. Mit dem Überbrücken von Grenzen und dem Schaffen von Schwellenräumen im Übergangsbereich zwischen Dorfrand und intensiv genutzter Agrarlandschaft haben sich Maximiliane John, Sophie Koenig und Johanna-Maria Rahm in ihrem Entwurf DIE SCHWELLE ZUR LAND(WIRT)SCHAFT beschäftigt. Für jedes Dorf wurde ein spezifischer Schwellenraum herausgearbeitet, der die jeweilige Besonderheit des Ortes aufgreift und stärkt.

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Abb. 5: Schwelle der ökologischen Landwirtschaft.

M. John, S. Koenig, J.-M. Rahm

Mit Fokus auf einen Schwellenraum für den Ort Haferungen wurde die Vision einer ökologischen Landwirtschaft entwickelt. Der Schwellenraum bildet einen Übergang in die angrenzende intensiv agrarisch genutzte Landschaft und schafft gleichzeitig Angebote und Räume für die Dorfgemeinschaft. Bei den Anbaufeldern wird eine gestaffelte Größenanordnung vom Dorfrand zur Agrarlandschaft vorgeschlagen. Je weiter man sich von der Ortschaft entfernt, desto größer werden die genutzten Parzellen. So formt sich ein Übergangsbereich, der von kleineren Anbaufeldern des Obst- und Gemüseanbaus über größere agrargenossenschaftlich genutzte Anbaufelder bis hin zu den großen Schlägen der industriellen Energie- und Nahrungsmittelproduktion reicht.

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Abb. 6: Blick in den Schwellenraum Haferungen

M. John, S. Koenig, J.-M. Rahm

Das Konzept geht davon aus, dass es auch zukünftig notwendig ist, große, zusammenhänge Flächeneinheiten zu bewirtschaften, um Energie- und Nahrungssicherheit zu gewährleisten. Die Frage ist allerdings, wie die trennende Wirkung dieser intensiv bewirtschafteten Flächen für die Dörfer entschärft werden kann. Der Gedanke, die von den Dörfern stark entkoppelten agrarischen Räume durch das Einfügen eines produktiven, aber mit dem Dorf eng verwobenen Übergangsbereiches zu verbinden,

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führt zu Überlegungen, welche Produktionsformen hierfür geeignet wären. Die Arbeit zeigt anhand des Produktes der Haselnuss, wie hier lokale Kreisläufe der Erzeugung, Verarbeitung und Vermarktung entstehen können, die gleichzeitig eine neue räumliche Qualität erzeugen und eine identitätsstiftende Wirkung für den Ort entfalten und Funktionen der Daseinsvorsorge übernehmen können (vgl. dazu Koch 2012). Der Schwellenraum lässt somit Möglichkeiten für Aneignung und lokale Wertschöpfung entstehen und versteht die verschiedenen landwirtschaftlichen Produktionsformen als wesentlich prägende Faktoren für den Charakter einer identitätsstiftenden Kulturlandschaft (Schröder/Weigert/Leidorf 2010: 304ff.).

M ULTICODIERTE A LLTAGSRÄUME Abb. 7: Alltag stärken.

F. Mittmann, K. Stöhr

Wie sieht der Alltag auf dem Land aus? Freya Mittmann und Katharina Stöhr haben sich mit ihrer Idee »Alltag+ Die Kirche im Dorf lassen« intensiv vor Ort mit den Menschen, die dort leben, auseinandergesetzt und sind auf mehr Zufriedenheit gestoßen als sie zuvor annahmen. Der Grundgedanke, alltägliche Dinge zu erkennen, zu stärken und zu erweitern, war gesät: Es geht vor allem um die Sicherung grundlegender Bedürfnisse, wie Mobilität, Gesundheitsvorsorge, aber auch um die Stärkung und Förderung des Vereinslebens und des Zusammenkommens. Mit kleinen behutsamen Eingriffen und logisch durchdachten Interventionen wird das alltägliche Leben auf dem Land erleichtert und bereichert. Diese stellen Mikroimpulse dar, die durch eine breite Masse und Streuung in der Region eine große Wirkung erzielen können. Ein großer Teil dieser Impulse wird durch die so genannten ›Add-Ons‹ etabliert. Diese können neue bauliche Strukturen sein, oder bereits existierende Bauten durch weitere

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Funktionen ergänzen. Sie sind verbindende Elemente für alltägliche regionale Routinen und Praktiken. Sie stärken und ergänzen bereits Vorhandenes und können dieses sogar noch erweitern und überregional verorten. Abb. 8: Gemeinsame Mitte.

F. Mittmann, K. Stöhr

Neben diesen Mikroimpulsen wurden Schwerpunkte auf Themen der Mobilität sowie Daseinsvorsorge gelegt. Ein Mobilitätskonzept vernetzt bestehende Alltagswege und erweitert sie über einen Mobilitätsknotenpunkt mit mehr Reichweite. Der gemeinsam

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mit Expert/innen und Anwohner/innen durchgeführte Bau eines Dorfgemeinschaftshauses schafft eine für alle zugängliche Mitte und stärkt die Dorfregion mittels eines geteilten Raumangebots für Grundversorgung; und dadurch auch das soziale Miteinander. Statt einzelner funktional zugeschriebener Räume bietet die Multicodierung des Gemeindezentrums die Hülle für mobile und flexible soziale Infrastrukturen. Durch diese Dynamisierung kommt die Daseinsvorsorge direkt zu den Bewohner/innen und sorgt zusätzlich für kulturelle und soziale Aktivitäten der Dörfer. Statt eines großen Wurfs, setzen die Studentinnen auf die kleinen, alltäglichen Dinge, die leicht aus dem Blick geraten oder übersehen werden. Statt neue Dinge hinzuzufügen, werden die bestehenden in ihren Strukturen, Funktionen und Qualitäten ergänzt und erweitert. Mit ihrem Ansatz wollen die Verfasserinnen ein Bild für eine dezentrale, vernetzte und arbeitsteilige Struktur der Daseinsvorsorge entwickeln (vgl. Oswalt 2013: 14) und über multicodierte Alltagsräume Impulse für die Herausbildung sozialer Orte in der Dorfregion setzen (vgl. Kersten/Neu/Vogel 2022).

V ERNETZTE L AND ( WIRT ) SCHAFT Abb. 9: Land(wirt)schaftsbilder.

J. Felder, Maren Sauer

Der Strukturwandel in der Landwirtschaft und die damit verbundenen räumlichen Bilder stehen in der Arbeit GROßNETZUNGEN von Jonas Felder und Maren Sauer im Fokus. Es gibt immer weniger, aber dafür immer größere Betriebe und Anbauflächen; und zugleich auch immer weniger Menschen, die in der Landwirtschaft beschäftigt sind. Neue Technologien und Digitalisierung verstärken diesen Trend. Ausgeräumte Hochleistungsanbauflächen, die wenige standardisierte Produkte für einen globalisierten Markt anbauen, stehen im Widerspruch zum Bild des Ländlichen als dörfliche Idylle mit reizvollem Landschaftsbezug. Die Agrarindustrie funktioniert losgelöst und entkoppelt vom Leben auf dem Land (vgl. Oswalt 2017). Hinzu kommt der

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Klimawandel, der die Bewirtschaftungsformen vor neue Herausforderungen stellt. Wie sehen zukünftige Landwirtschaftsflächen der Energie- und Nahrungsmittelproduktion aus? Und in welchem Bezug stehen die Menschen zu der ihnen im Alltag immer weniger präsenten Land(wirt)schaft? Abb. 10: Kuppe-Hang-Aue/Natur, Kultur, Energie, Mensch.

J. Felder, Maren Sauer

Es werden vier maßgebliche Dimensionen der Landschaft betrachtet: Landwirtschaft, Naturraum, der Mensch und seine Infrastruktur sowie klimagerechte Energiegewinnung. Für jedes dieser Themenfelder werden Handlungsszenarien skizziert, die das Bild der Landschaft neu zeichnen. Durch das Ausweisen von kurz, mittel- und langfristige Maßnahmen wird der landwirtschaftlich geprägte Raum neu gegliedert, strukturiert und programmiert. Die intensive Nutzung für die Energie- und Nahrungsmittelproduktion und der prognostizierte Wandel der Anbaumethoden wird somit vom Schreckensszenario zu einem »kulturlandschaftlichen Gestaltungselement« (Peters 2011: 26). Den Autor/innen der Arbeit geht es nicht darum, den Entwicklungstrends zu widerstehen, sondern deren Potentiale zu nutzen, um die drängenden Krisen unserer Zeit anzugehen (Bathla 2020) und in lokalen Kontexten zu verorten. Drei übergeordnete Landschaftszonen – Tal, Hang und Kuppe – helfen bei der räumlichen Spezifizierung der vorgeschlagenen Maßnahmen. Neue Möglichkeiten einer hoch technologisierten und digitalisierten Landwirtschaft mit Agri-PV, von Drohnen überwachten Feldern und robotisiertem Pixelfarming, welche durch Maßnahmen wie übergeordnete Fruchtfolgen, bepflanzte Feldkanten, Renaturierung alter Wasserläufe und Keylines bestimmt sind, die wiederum vor Bodenerosion schützen und in die Felder ergänzt und integriert werden, schaffen Voraussetzungen für eine strukturreiche, vernetzte und klimaangepasste Transformation der Landwirtschaft.

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Abb. 11: Katalog der Mikroarchitekturen.

J. Felder, Maren Sauer

Mikroarchitekturen nutzen freie Nischen und schaffen Zugang zu hochtechnisierten bewirtschafteten Räumen. Sie nutzen synergetische Potentiale der verschiedenen Landschaftsdimensionen, lassen den Landschaftsraum sinnlich erlebbarer werden oder schaffen Ergänzungen zum Angebot in den Dörfern. Der dualistische Gegensatz Siedlung vs. Landschaft wird aufgebrochen – reprogrammierte Orte der vormaligen Produktionslandschaft werden durch Markierungen, Um- und Weiterbau zu Zielpunkten und öffentlichen Räumen in der neuen Landschaft, die das Beziehungsgefüge Mensch-Natur-Kultur-Energie neu denkt.

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L EBENSWERTES K LIMA L AND Verbindender Ausgangspunkt aller Entwürfe war das eingangs beschriebene Agrarmeer. Seien es weite wogende Weizenhalme oder überkopfhohe Maisfelder, die den Blick in die Ferne verstellen – die Ortschaften der Gemeinde Werther wirken voneinander isoliert. Die landwirtschaftliche Produktion, einst prägend für die kleinen Orte, hat sich in großräumige international vernetzte und automatisierte Abläufe verabschiedet. Die Erwerbsmöglichkeiten und Daseinsvorsorge, aber auch Räume der sozialen Praktiken und Interaktionen schwinden und verlagern sich zunehmend. Das Land wird zum produzierenden Agrarmeer und zeitgleich zur abgehängten Versorgungswüste. Dieses Bild eines verödeten und abgeschotteten ländlichen Raumes wandelte sich nach den Erkundungen und Gesprächen vor Ort und machte einer anderen wertschätzende Wahrnehmung Platz: Die Studierenden hörten Erzählungen von Dorffesten, begegneten einem starken sozialen Zusammenhalt und entdeckten bau- und landschaftskulturelle Werte. Sie wurden aber auch konfrontiert mit der schwierigen Vernetzung der Dörfer untereinander, dem mangelnden ÖPNV-Angebot jenseits der Schulbuszeiten und leerstehenden Dorfgasthöfen. Während der eigene Blick aus der – auch nicht sonderlich großen – Stadt Weimar das Land zunächst nach städtischen Kriterien der Konnektivität oder der Ereignisdichte als defizitär und rückständig wahrnimmt, bot der Dialog mit Akteur/innen vor Ort eine differenziertere Wahrnehmung, welche die vorhandenen Bedingungen als einen Ausgangspunkt für spekulative Diskussionen über Klimagerechtigkeit und eine angemessene Wertschätzung des Landes als Alltags- und Produktionsraums entstehen ließen. Doch wie soll das Leben auf dem Land erstrebenswert werden, wenn Klimawandel und Nahrungsmittelversorgung keine andere Zukunft vorstellen lassen als die der immer größeren und effizient zu bewirtschaftenden Schläge? Anstatt einer sich immer stärker funktional aufspaltenden Landschaft, in der Räume für Nahrungs- und Energieproduktion von Schutzlandschaften sowie von der Alltagswelt der Bewohnenden getrennt organisiert und entwickelt werden, verfolgten die Studierenden Ansätze, wie verschiedene Ansprüche und Nutzungen eines bewohnten und bewirtschafteten Landes ineinandergreifen können, ohne die Augen vor den damit verbundenen Konflikten zu verschließen. In den Arbeiten zeigen sich Ansätze, wie durch die Ausbildung von Übergängen, dem Stärken alter und dem Entwickeln neuer Verbindungen sich zwischen den Dörfern und der intensiv bewirtschafteten Produktionslandschaft vermitteln lässt. In allen Arbeiten dreht es sich immer auch um das Teilen: das Teilen des Raumes, das Teilen der Zeit und das Teilen in der Gesellschaft. So werden Möglichkeiten aufgedeckt, um Teilhabe und Zugang zu sozialen Infrastrukturen, aber auch um einen gerechten Zugang zu Land(schaft) und ihren Ressourcen zu ermöglichen. Die studentische Perspektive auf das Land bringt hier Ideen zur Koproduktion von Räumen, zu genossenschaftlichen bzw. gemeinschaftlichen Formen

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des Wohnens und Arbeitens, zu kollektiv organisierten, geteilten und vernetzten Infrastrukturangeboten, insbesondere bei der Mobilität, sowie zur Stärkung lokaler Wertschöpfungsketten mit ein. Die vorgestellten Entwürfe bieten einen zukunftshoffenden Blick auf die Bewältigung sozial-ökologischer Transformationsprozesse auf dem Land. Ihre grundlegenden Ansätze und Konzeptionen ermöglichen Einblicke in ein nachhaltiges, ökologisches, energieeffizientes und ressourcenschonendes KlimaLand, das mehr ist als ein Produktionsraum – und das zugleich auch ›das‹ Land als lebenswerten Ort der Zukunft erdenkt und realisierbar macht. Eine lebenswerte Zukunft baut sich nicht von allein. Sie baut sich aus der Notwendigkeit der Veränderung und dem Mut zu neuen Ideen und Konzepten, welche gerade im Dialog über Raum und Raumentwicklung entstehen können.

L ITERATUR Bathla, Nitin (2020): »AMO/Rem Koolhaas (Ed.) 2020: Countryside: A Report. Cologne: Taschen«, in: International Journal of Urban and Regional Research 44 (5), S. 945-946. Kersten, Jens/Neu, Claudia/Vogel, Berthold (2022): Das soziale Orte Konzept. Bielefeld: transcript. Klauser, Wilhelm (2013): »Die Landschaft – Annäherung an ein zerrissenes Geflecht«, in: Bauwelt, 104. Jahrgang, S. 12-23. Koch, Stefanie (2012): Nachhaltige Dorfentwicklung. Zukunft – Identität – Tradition in nordhessischen Dörfern, Kassel: Kassel Univ. Press. Maschke, Lisa/Mießner, Michael/Naumann, Matthias (2020) (Hg.): Kritische Landforschung. Konzeptionelle Zugänge, empirische Problemlagen und politische Perspektiven. Bielefeld: transcript. Moser, Peter/Thiele, Kathleen/Breuste, Jürgen (2003): Kulturlandschaftliche Perspektiven der Stadtregion. UFZ-Bericht 1/2003. Noack, Anika/Witting, Antje (2022): »Energiewende und Strukturwandel. Eine Einführung«, in: Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (Hg.), Energiewende und Strukturwandel. Politische Ziele regional verankern. Bonn, S. 4-9 Oswalt, Philipp (2013): »Der ländliche Raum ist kein Baum. Von den zentralen Orten zur Cloud«, in Kerstin Faber/Philipp Oswalt (Hg.), Raumpioniere in ländlichen Regionen: neue Wege der Daseinsvorsorge, Leipzig: Spector Books. Oswalt, Philipp (2017): »Die Moderne auf dem Acker«, in: Arch+ 228, S. 92-99. Peters, Jürgen (2011): »Konsequenzen für die Landschaftsentwicklung aus dem Flächenbedarf für Erneuerbare Energien«, in: Verändern erneuerbare Energien unsere Landschaften? Bd. 53, München: Bayrische Akademie Ländlicher Raum e.V.

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Schmidt, Catrin et al. (2018): Landschaftsbild und Energiewende. Band 1: Grundlagen. Ergebnisse des gleichnamigen Forschungsvorhabens im Auftrag des Bundesamtes für Naturschutz, Bonn/Bad Godesberg. Schöbel-Rutschmann, Sören (2011): »Landschaftsbilder zwischen Bewahren und neuer Gestalt«, in: Der Bürger im Staat 1/2 (2011): Raumbilder für das Land, S. 50-56. Schröder, Jörg/Weigert, Kerstin/Leidorf, Klaus (2010) (Hg.): Landraum: Entwerfen auf dem Land. Beyond Rural Design, Berlin: Jovis.

Autorinnen und Autoren

Bolinski, Ina, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt »Artenübergreifende Kollaborationen. Zum Multispecies Turn in der Medienwissenschaft« am Institut für Medienwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören die Mediengeschichte der elektronischen Tierkennzeichnung, datengestütztes Herdenmanagement, lebendige Datenspeicher, Tiere in digitalen Medien, Tracking-Technologien, Human-Animal-Studies. Publikation: VON TIERDATEN ZU DATENTIEREN. EINE MEDIENGESCHICHTE DER ELEKTRONISCHEN TIERKENNZEICHNUNG UND DES DATENGESTÜTZTEN HERDENMANAGEMENTS. Bielefeld: transcript 2020. Bretschneider, Uta, ist Direktorin des Zeitgeschichtlichen Forums Leipzig, 2016 bis 2020 leitete sie das Hennebergische Museum Kloster Veßra, ein 1975 gegründetes Freilichtmuseum im Süden Thüringens. Zuvor war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde, Dresden. Sie promovierte zwischen 2011 und 2014 zum Thema »›Vom Ich zum Wir‹? Flüchtlinge und Vertriebene als Neubauern in der LPG«. Von 2009 bis 2011 arbeitete sie am Hennebergischen Museum Kloster Veßra. 2008 schloss sie ihr Studium der Volkskunde/Kulturgeschichte und Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena ab. Dubil, Janwillem, Studium der Neueren deutschen Literatur- und Medienwissenschaft, der Älteren deutschen Literatur- und Sprachwissenschaft und der Pädagogik an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Doktorand der Neueren deutschen Literatur- und Medienwissenschaft bei Prof. Dr. Hans-Edwin Friedrich mit dem Promotionsvorhaben »Theorie und Praxis der Comicverfilmung«. Publikation diverser Aufsätze, zuletzt: »What’s so funny about Love, Peace and the American Way? Konstitution und Wandel von Werten zwischen jüdischen Wurzeln und amerikanischem Traum am Beispiel der Comicfigur Superman«, in: Pädagogische und didaktische Schriften, Band 15.

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Fitzé, Eliane, Doktorandin der slavistischen Literaturwissenschaft an der Universität Fribourg (CH). Sie promoviert zum Bauernthema in der frühen sowjetischen Literatur und dessen Bedeutung für konservative Denktraditionen des Nationalen. Ihr Promotionsprojekt wird vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) durch ein Doc.CH-Stipendium unterstützt. Zuvor studierte Eliane Fitzé Slavistik, Osteuropastudien und Anglistik in Bern und Zagreb. Frölich-Kulik, Maria, Dr.-Ing., geb. 1985, ist Architektin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Landschaftsarchitektur und ‑planung an der BauhausUniversität Weimar. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen auf der Verflechtung urbaner und ruraler Lebensformen sowie auf den sozialen und geographischen Beziehungen zwischen Gebäuden und Landschaften. Publikationen: RURBANE LANDSCHAFTEN. PERSPEKTIVEN DES RURALEN IN EINER URBANISIERTEN WELT (hrsg. gem. mit S. Langner, 2018), LANDBAHNHÖFE. RESSOURCEN NACHHALTIGER LANDSCHAFTSENTWICKLUNG (2021). Gräbel, Thomas, Dipl.-Ing. Architektur, 2003-2009 wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Architektur- und Planungstheorie an der Fakultät für Architektur und Landschaft der Leibniz Universität Hannover; seit 2009 selbstständig mit der Arbeitsgemeinschaft STUDIO URBANE LANDSCHAFTEN – b in Hamburg tätig. Schwerpunkt der Arbeit und Forschung: Zusammenspiel von menschlichem Handeln, Bildung und Raum, städtebauliche Studien. Ausgebildeter Kinder- und Jugendmoderator. Vorstandsvorsitz Stiftung AlltagForschung Kunst, Mitglied im Netzwerk STUDIO URBANE LANDSCHAFTEN. Publikation: UNTERWEGS IN DEUTSCHEN BILDUNGSLANDSCHAFTEN (mit A. Schmidt, S. Rabe und H. v. Seggern), Ludwigsburg 2015. Hahne, Ulf, Universitätsprof. i.R., Dr. Diplom-Volkswirt. Langjährige Forschung und Beratungstätigkeit in Wirtschaftsförderung und Regionalentwicklung. 19992020 Professur für Nachhaltige Regionalentwicklung sowie Ökonomie der Stadtund Regionalentwicklung an der Universität Kassel. Heintel, Martin, Prof. Dr., Jg. 1967, ist seit 1993 am Institut für Geographie und Regionalforschung der Universität Wien tätig. Nach seiner Dissertation 1996 an der Universität Wien hat er sich 2004 mit einer Arbeit zum Thema Regionalmanagement habilitiert. Er absolvierte zahlreiche Gastprofessuren, u.a. an der Universität Salzburg, HU-Berlin, Babeş-Bolyai University Cluj-Napoca, University of New Orleans (Marshall Plan Chair), der German University of Technology in Muscat/ Oman und der Hebrew University in Jerusalem. Aktuell beschäftigt er sich im Rahmen von Projekten mit Fragestellungen zum demographischen Wandel ländlicher Regionen, Daseinsvorsorge und Disparitäten zwischen ländlichen und

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urbanen Regionen. Zahlreiche Publikationen liegen zu diesen Themen vor. Arbeitsgebiete: Stadt- und Regionalforschung, Regionalentwicklung und -politik, grenzüberschreitende Zusammenarbeit, Politische Geographie, Europäische Integration, Megacities in SO-Asien. Hißnauer, Christian, Dr. phil., seit 2017 Mitarbeiter am Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin. Studium der Soziologie, Theater- und Filmwissenschaft in Mainz. 2004-2016 wiss. Mitarbeiter an der Georg-AugustUniversität Göttingen. Forschungsschwerpunkte: Fernsehgeschichte, Theorie, Geschichte und Ästhetik dokumentarischer und hybrider Formen in Film und Fernsehen, audiovisuelle Erinnerungs-/Geschichtskulturen, Serien- und Serialitätsforschung, Dorf- und Landleben intermedial. Publikationen u.a.: FERNSEHDOKUMENTARISMUS. THEORETISCHE NÄHERUNGEN, PRAGMATISCHE ABGRENZUNGEN, BEGRIFFLICHE KLÄRUNGEN, Konstanz 2011; FÖDERALISMUS IN SERIE. DIE EINHEIT DER ARD-REIHE TATORT IM HISTORISCHEN VERLAUF (gem. mit C. Stockinger und S. Scherer), Paderborn 2014; PERSONEN BESCHREIBEN, LEBEN ERZÄHLEN. DIE FERNSEHPORTRÄTS VON GEORG STEFAN TROLLER UND HANS-DIETER GRABE, Wiesbaden 2017; PROVINZ ERZÄHLEN. WIE DIE UCKERMARK ZU EINEM RAUM DES GUTEN LEBENS WIRD (gem. mit C. Stockinger), Bielefeld 2023 [im Erscheinen]. Krings, Marcel, apl. Prof. und Akademischer Oberrat am Germanistischen Seminar der Universität Heidelberg, Studium der Germanistik und Romanistik in Heidelberg und Paris, Promotion zum Dr. phil. und zum Docteur ès Lettres. Forschungsgebiete: Weimarer Klassik, Deutscher Idealismus, deutsch-jüdische Literatur. Publikationen u.a.: SELBSTENTWÜRFE. ZUR POETIK DES ICH BEI VALÉRY, RILKE, CELAN UND BECKETT, Tübingen 2005; DER SCHÖNE SCHEIN. ZUR KRITIK DER LITERATURSPRACHE IN GOETHES ›LEHRJAHREN‹, FLAUBERTS ›EDUCATION SENTIMENTALE‹ UND KAFKAS ›VERSCHOLLENEM‹, Tübingen 2016; FRANZ KAFKA: DER LANDARZT-ZYKLUS. FREIHEIT – LITERATUR – JUDENTUM, Heidelberg 2017; FRANZ KAFKA: ›BESCHREIBUNG EINES KAMPFES‹ UND ›BETRACHTUNG‹. FRÜHWERK – FREIHEIT – LITERATUR, Heidelberg 2018. Zahlreiche Aufsätze zur deutschsprachigen Literatur des 17.-20. Jahrhunderts. Langbein, Atidh Jonas, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Lehre an der Professur für Landschaftsarchitektur und -planung der Bauhaus-Universität Weimar; arbeitet als freier Kulturschaffender an Projekten, welche die Rolle und die (Mit-)Gestaltung des öffentlichen Raums austesten und ist Mitglied des FOAM-Networks. Langner, Sigrun, Prof. Dr.-Ing., ist Professorin für Landschaftsarchitektur und -planung an der Bauhaus-Universität Weimar und stellv. Direktorin des Instituts für Europäische Urbanistik sowie Mitglied im Netzwerk Studio Urbane Landschaften;

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seit 2003 ist sie Büropartnerin in Station C23-Architekten und Landschaftsarchitekten, Leipzig. Forschungsschwerpunkte: Rurbane Landschaften als Ausdruck urbanruraler Beziehungsgefüge. Publikation: RURBANE LANDSCHAFTEN. PERSPEKTIVEN DES RURALEN IN EINER URBANISIERTEN WELT (hrsg. gem. mit M. Frölich-Kulik, 2018). Lüder, Ines, Prof. Dr.-Ing., ist Architektin und hat an der Technischen Universität Braunschweig sowie an der Universität der Künste Berlin studiert. Sie arbeitete in Architekturbüros in Berlin, nahm am Bauhaus Dessau Kolleg teil und realisierte eigene Sanierungsprojekte. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin hat sie an der Technischen Universität Berlin und an der Leibniz Universität Hannover am Institut für Entwerfen und Städtebau gearbeitet. Sie war im BMBF-Forschungsprojekt ›Regiobranding – Branding von Stadt-Land-Regionen durch Kulturlandschaftscharakteristika‹ beschäftigt. Ihre Promotion wurde durch das Programm ›Dörfer in Verantwortung – Chancengerechtigkeit in ländlichen Räumen sichern‹ gefördert. Die Arbeit trägt den Titel WIDERSTÄNDIGE RESSOURCE. 2020 wurde Ines Lüder als Professorin für Städtebau, Regionales Bauen und Entwerfen an die HAWK berufen. Ludewig, Alexandra, Professorin und Institutsleiterin der School of Humanities an der University of Western Australia. Studium der Germanistik und Anglistik in Aachen, Johannesburg, München und Brisbane. Promotionen zum PhD und zum Dr. phil. an der LMU München und der University of Queensland. Habilitation zur Geschichte des deutschen Heimatfilmes. Monographien (in Auswahl): SCREENING NOSTALGIA. 100 YEARS OF GERMAN HEIMAT FILM (2011), BORN GERMAN. RE-BORN IN WESTERN AUSTRALIA (2016), WAR TIME ON WAGJEMUP. A SOCIAL HISTORY OF THE ROTTNEST ISLAND INTERNMENT CAMP (2019) und MORE THAN GOLD AND HONEY (2021). Müller, Pia, studierte Landschaftsarchitektur und ist seit September 2020 als wiss. Mitarbeiterin der Lehre an der Professur für Landschaftsarchitektur und -planung an der Bauhaus-Universität Weimar tätig. Mirkes, Jeff, 1990 in Luxemburg geboren, studierte Architektur am Karlsruher Institut für Technologie und schloss das Studium erfolgreich mit seiner Masterarbeit DORF NEU DENKEN 2017 ab. Während seines Studiums begann er mit der Selbständigkeit als Fotograf im Bereich Architektur/Stadtplanung. Von Juli 2017 bis April 2018 arbeitet er als wissenschaftliche Hilfskraft am KIT am Fachgebiet Stadtquartiersplanung unter der Leitung von Prof. Markus Neppl. Seit April 2018 ist er dort als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Lehre und Forschung tätig, wo er unter anderem an der Forschungsarbeit DORF NEU DENKEN arbeitet und in diversen Seminaren sich zusammen mit Studierenden mit den Themenspektren ländlicher Räume

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sowie mit dem Medium der Fotografie als Analyse-Werkzeug für die von Menschen gestalteten Räume befasst. Neben seiner Tätigkeit am KIT arbeitete und arbeitet er als Mitarbeiter in diversen Architektur- und Planungsbüros. Nell, Werner, Prof. Dr. phil, geboren in St. Goar am Rhein, 1998-2019 Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; Adjunct Associate Professor an der Queen’s University in Kingston (Ontario), Kanada; Vorstand des Instituts für sozialpädagogische Forschung Mainz (ism). John-G.-Diefenbaker Award des Canada Councils of the Arts 2017; Forschungsgebiete: Literatur in transnationalen Prozessen, vergleichende Regionalitätsstudien, Literatur und Gesellschaft. Publikationen u.a.: ATLAS DER FIKTIVEN ORTE (2012); IMAGINÄRE DÖRFER (2014, hrsg. gem. mit M. Weiland); VOM KRITISCHEN DENKER ZUR MEDIENPROMINENZ? (2015, hrsg. gem. mit C. Gansel); ÜBER LAND (2017, hrsg. gem. mit M. Marszałek u. M. Weiland), DORF. EIN INTERDISZIPLINÄRES HANDBUCH (2019, hrsg. gem. mit M. Weiland). Nesselhauf, Jonas, Jun.-Prof. Dr.phil, Studium der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft sowie der Kunstgeschichte; 2016 Promotion mit einer komparatistischen Arbeit zur Figur des Kriegsheimkehrers in der Literatur des 20. und frühen 21. Jahrhunderts; danach Post-Doc an der Universität Vechta in den Fächern Kulturwissenschaften und Germanistik; seit 2019 Juniorprofessur für Europäische Medienkomparatistik an der Fachrichtung Kunst- und Kulturwissenschaften der Universität des Saarlandes. Forschungsschwerpunkte: Medien und Natur (bes. Anthropozän); Kultur und Körperlichkeit (bes. Pornographien); Pop(ulär)kultur und Serialität. Pantzier, Richard, ist Stadtforscher und studiert Landnutzungsplanung (M. Sc.) an der Hochschule Neubrandenburg. Peiter, Anne, Dr. habil., geboren 1973 in Berlin (Ost). Studium der Fächer Germanistik, Geschichte und Philosophie in Münster, Rom, Paris und Berlin. 2006 Promotion an der Humboldt-Universität mit einer Arbeit zu KOMIK UND GEWALT. ZUR LITERARISCHEN VERARBEITUNG DER BEIDEN WELTKRIEGE UND DER SHOAH (Böhlau, 2007). 2001-2007 DAAD-Lektorin an der Sorbonne IV in Paris. Seit 2007 Germanistikdozentin an der Universität von La Réunion (Frankreich). 2018 Habilitation an der Sorbonne Nouvelle zu TRÄUME DER GEWALT. STUDIEN DER UNVERHÄLTNISMÄßIGKEIT ZU TEXTEN, FILMEN UND FOTOGRAFIEN. NATIONALSOZIALISMUS – KOLONIALISMUS – KALTER KRIEG (transcript, 2019). Forschungsschwerpunkte und Veröffentlichungen: Shoah- und Exilliteratur, Kolonialismus, science-fiktionale Atomkriegsphantasien, Reiseliteratur, Kulturgeschichte der Insekten, Genozidvergleich.

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Piatti, Barbara, Dr. phil., ist Germanistin. Nach Stationen u.a. an der Stanford University, an der Karls-Universität in Prag, als Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin und als Forschungsgruppenleiterin an der ETH Zürich (»Ein literarischer Atlas Europas«) arbeitet sie seit 2014 freiberuflich als Sachbuchautorin und Kulturvermittlerin. Zu ihren Spezialgebieten gehört die Literaturgeographie. Ausgewählte Publikationen: DIE GEOGRAPHIE DER LITERATUR. SCHAUPLÄTZE, HANDLUNGSRÄUME, RAUMPHANTASIEN (2008); VON CASANOVA BIS CHURCHILL. BERÜHMTE REISENDE IHREM WEG DURCH DIE SCHWEIZ (2016); CELESTINO PIATTI. ALLES, WAS ICH MALE, HAT AUGEN (2021). www.barbara-piatti.ch. Rabe, Sabine, ist Landschaftsarchitektin, 2005 bis 2013 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Freiraumentwicklung, Universität Hannover; 2013/14 Vertretungsprofessorin am Lehrstuhl Landschafts- und Freiraumplanung, RWTH Aachen. Seit 2009 selbstständig in Hamburg mit Thomas Gräbel und Hille von Seggern tätig. Sie setzt sich seit vielen Jahren mit großräumigen Bildern sowie den Stadt-LandBeziehungen in Forschung, Lehre und Praxis auseinander. Mitglied im Netzwerk STUDIO URBANE LANDSCHAFTEN. Ausgewählte Projekte sind das Raumbild THÜRINGEN MITTE für die IBA Thüringen, das Forschungsprojekt »Neues aus kleinen Städten und großen Dörfer« der Wüstenrotstiftung wie auch das Wohngewächshaus für die Überseeinsel in Bremen. www.rabe-landschaften.de. Reichel, Christian, Dr. phil., ist seit Dezember 2021 der Landesvorsitzende des NABU Brandenburg. Zuvor arbeitete er als wiss. Mitarbeiter am Forschungszentrum für Umweltpolitik (FFU) der FU Berlin und dem Leibniz Institut für Raumbezogene Sozialwissenschaften (IRS). Er studierte Sozial- und Kulturanthropologie sowie Geographie und promovierte am Institut für Sozial- und Kulturanthropologie der FU Berlin zum Thema Klimawandeladaption und Resilienz im Schweizer Hochgebirge. Seine Arbeit konzentriert sich auf Mensch-Natur-Beziehungen, soziale Innovationen und Digitalisierungen sowie adaptive Co-Management-Ansätze im Kontext unberechenbarer Umweltveränderungen. Zusätzlich zum europäischen Raum forscht er in Ländern des Globalen Südens, insbesondere Südostasien und Ostafrika. Rühmling, Melanie, Studium der Bildungswissenschaften in Bremen und Rostock. Seit 2017 Gastwissenschaftlerin am Institut für Ländliche Räume des Johann Heinrich von Thünen-Institut in Braunschweig, Stipendiatin des THEORIA Kurt von Fritz – Wissenschaftsprogramms des Landes Mecklenburg-Vorpommern sowie Doktorandin am Institut für Soziologie und Demographie der Universität Rostock mit dem Dissertationsprojekt »Bleiben in ländlichen Räumen. Bleibenslebensweisen am Beispiel von Frauen in ländlichen Räumen in Mecklenburg-Vorpommern«.

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Schneider, Karl H., war wissenschaftlicher Mitarbeiter und ist apl. Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Leibniz Universität Hannover mit dem Schwerpunkt Angewandte Regionalgeschichte. Schwerpunkte seiner Arbeit sind die Regionalgeschichte, die Agrargeschichte und die Geschichte des ländlichen Raumes. Schruhl, Friederike, Dr. phil., akademische Rätin a.Z. an der Universität Bayreuth. Publikationen: FORMATIONEN DER PRAXIS. STUDIEN ZU DARSTELLUNGSFORMEN VON LITERATURWISSENSCHAFT UND DIGITAL HUMANITIES, Göttingen 2020 (Dissertation) sowie unterschiedliche Beiträge zu den Forschungsschwerpunkten Wissenschaftsgeschichte, Praxeologie der Literaturwissenschaft, Digital Humanities und Geschichte des Lesens. Schultz, Henrik, Prof. Dr., ist Landschaftsarchitekt und Professor für Landschaftsplanung und Regionalentwicklung an der Hochschule Osnabrück. Er forscht aktuell zu klimaresilienten Stadtstrukturen und Formen des Unterwegsseins in Urbanen Landschaften in den Projekten »Produktiv. Nachhaltig. Lebendig. Grüne Finger für eine klimaresiliente Stadt«, »Regionale Grüne Infrastrukturen in Stadtregionen« und »EN ROUTE. Unterwegs in nachhaltigen Bildungslandschaften«. Mit seinem Büro hat er zahlreiche Raumbilder und strategische Landschaftskonzepte entworfen; Autor des Buches Landschaften auf den Grund gehen. Wandern als Erkenntnismethode beim Grossräumigen Landschaftsentwerfen; Mitglied im STUDIO URBANE LANDSCHAFTEN, Fellow des deutsch-chinesischen Campus: ›Zukunftsbrücke – Sustainable Urban Development in China and Germany in the 21st Century‹ und ›World Responsible Leader‹ der BMW Foundation Herbert Quandt. Seggern, Hille von, Prof. em. Dr.-Ing. ist freiberufliche Architektin, Stadtplanerin und Landschaftsplanerin, ist in Arbeitsgemeinschaften mit dem Netzwerk STUDIO URBANE LANDSCHAFTEN – b tätig und seit 2009 Senior Advisor in rabe landschaften. 2019 gründete sie mit Timm Ohrt die Stiftung AlltagForschungKunst Timm Ohrt & Hille von Seggern, Hamburg und ist seitdem im Vorstand. Seit 1998 künstlerisch tätig: Hille von Seggern & Timm Ohrt Alltag - Forschung - Kunst/HH. Forschungsschwerpunkte sind Theorie und Anwendung von Entwerfen als Forschung über lebendiges Raumgeschehen. Publikationen: DESIGN RESEARCH FOR URBAN LANDSCAPES (hrsg. 2019 mit Martin Prominski), CREATING KNOWLEDGE CREATING KNOWLEDGE (hrsg. 2008/ 2015 mit Julia Werner und Lucia Grosse-Bächle). Von 1995 bis 2008 Professorin für Freiraumplanung, Entwerfen und urbane Entwicklung an der Leibniz Universität Hannover. 2005 Gründung des STUDIO URBANE LANDSCHAFTEN als interdisziplinäres Netzwerk und Think-Tank für Lehre, Forschung und Praxis zusammen mit Julia Werner. Mitglied in der SRL und der DASL, von 1989 bis 1993 Bundesvorsitzende der SRL, von 1982 bis 2012 Büro Ohrt-von

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Seggern-Partner: Architektur-Städtebau-Stadtforschung zusammen mit Timm Ohrt; anschließend OSP urbanelandschaften. Sept, Ariane, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung (IRS) in Erkner und lehrt an der BTU Cottbus-Senftenberg. Sie hat Stadt- und Regionalplanung studiert und promovierte am DFGGraduiertenkolleg »Innovationsgesellschaft heute« am Institut für Soziologie der TU Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind aktuelle Entwicklungen ländlicher und städtischer Räume, (soziale) Innovationen und Digitalisierungen sowie (europäische) Stadt- und Regionalpolitiken. Singer, Raphael, Studium der Mathematik, Geographie und Politikwissenschaften für das Lehramt an Realschulen und Sozial- und Bevölkerungsgeographie in Schwäbisch Gmünd und Bamberg. Seit 2018 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl Geographie I (Kulturgeographie) an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Arbeitstitel des Promotionsvorhabens: »Sterbendes Dorf und Landleben«. Forschungsschwerpunkte sind Kritische Geographien (v.a. in Bezug auf postkoloniale Studien und Ländliche Räume) sowie Geographien der Gerechtigkeit und räumliche Emanzipation. Streifeneder, Thomas, PD Dr. phil., Wirtschaftsgeograph, leitet das Institut für Regionalentwicklung an der privaten Forschungseinrichtung Eurac Research in Bozen (www.eurac.edu). Er forscht zu agrarischen und sozioökonomischen Transformationsprozessen im ländlichen Raum und den Alpen. Ihre Darstellung in literarischer Fiktion und Kunst interessiert ihn besonders. Publizierte wissenschaftliche Artikel u.a. zu den Themen Agrarstrukturwandel in den Alpen, Agrotourismus und Rural Criticism. Weiland, Marc, Dr. phil., geboren 1984 in Lutherstadt Eisleben. 2014-2019 wiss. Koordinator des Forschungsprojekts EXPERIMENTIERFELD DORF an der MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg; 2019-2020 wiss. Mitarbeiter an der BauhausUniversität Weimar; seit 2021 Lektor am Institut für germanische Studien der KarlsUniversität Prag. Forschungsschwerpunkte in den Bereichen der philosophischen und literarischen Anthropologie, der Literatur des 20. Jhs. und der Gegenwart sowie literarischer und medialer Ländlichkeiten. Publikationen u.a.: IMAGINÄRE DÖRFER (2014, gem. mit W. Nell), ÜBER LAND (2017, hrsg. gem. mit M. Marszałek u. W. Nell), TOPOGRAFISCHE LEERSTELLEN (2018, hrsg. gem. mit M. Ehrler), DORF. EIN INTERDISZIPLINÄRES HANDBUCH (2019, hrsg. gem. mit W. Nell), KLEINSTADTLITERATUR (2020, hrsg. gem. mit W. Nell).

Literaturwissenschaft Julika Griem

Szenen des Lesens Schauplätze einer gesellschaftlichen Selbstverständigung 2021, 128 S., Klappbroschur 15,00 € (DE), 978-3-8376-5879-8 E-Book: PDF: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5879-2

Klaus Benesch

Mythos Lesen Buchkultur und Geisteswissenschaften im Informationszeitalter 2021, 96 S., Klappbroschur 15,00 € (DE), 978-3-8376-5655-8 E-Book: PDF: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5655-2

Werner Sollors

Schrift in bildender Kunst Von ägyptischen Schreibern zu lesenden Madonnen 2020, 150 S., kart., 14 Farbabbildungen, 5 SW-Abbildungen 16,50 € (DE), 978-3-8376-5298-7 E-Book: PDF: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5298-1

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Literaturwissenschaft Renate Lachmann

Rhetorik und Wissenspoetik Studien zu Texten von Athanasius Kircher bis Miljenko Jergovic Februar 2022, 478 S., kart., 36 SW-Abbildungen, 5 Farbabbildungen 45,00 € (DE), 978-3-8376-6118-7 E-Book: PDF: 44,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-6118-1

Achim Geisenhanslüke

Der feste Buchstabe Studien zur Hermeneutik, Psychoanalyse und Literatur 2021, 238 S., kart. 38,00 € (DE), 978-3-8376-5506-3 E-Book: PDF: 37,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5506-7

Wilhelm Amann, Till Dembeck, Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 12. Jahrgang, 2021, Heft 2: Zeit(en) des Anderen Januar 2022, 218 S., kart. 12,80 € (DE), 978-3-8376-5396-0 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5396-4

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