147 45 21MB
German Pages 400 [408] Year 2007
Anja Heilmann
Boethius' Musiktheorie und das Quadrivium
Vandenhoeclc & Ruprecht
Digitized by the Internet Archive in 2019 with funding from Kahle/Austin Foundation
https://archive.org/details/boethiusmusiktheOOOOheil
V&R
Hypomnemata Untersuchungen zur Antike und zu ihrem Nachleben
Herausgegeben von Albrecht Dihle, Siegmar Döpp, Dorothea Frede, Hans-Joachim Gehrke, Hugh Lloyd-Jones, Günther Patzig, Christoph Riedweg, Gisela Striker
Band 171
Vandenhoeck & Ruprecht
Anja Heilmann
Boethius’ Musiktheorie und das Quadrivium Eine Einführung in den neuplatonischen Hintergrund von »De institutione musica«
Thomas J. Bata Library
TRENT UMIVERSITY PETERBOROUGH, ONTARIO
Vandenhoeck & Ruprecht
Verantwortlicher Herausgeber: Siegmar Döpp
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-525-25268-0 Hypomnemata ISSN 0085-1671
© 2007, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co.KG, Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte Vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorhe¬ rigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nut¬ zung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Druck und Bindung: ® Hubert & Co, Göttingen
Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Meinen Eltern
Vorwort
Die vorliegende Untersuchung wurde im Jahr 2005 von der Philosophi¬ schen Fakultät der Universität Rostock als Dissertation angenommen. Für den Druck wurde sie überarbeitet. Flerzlich danken möchte ich allen, die mir bei der Vorbereitung und Fer¬ tigstellung der Studie zur Seite gestanden haben. Mein besonderer Dank gilt Herrn Prof. Dr. Wolfgang Bemard, dessen engagierte Förderung und Unter¬ stützung mir während des Griechischstudiums und der Promotionsphase an der Universität Rostock zuteil wurde. Er hat mich durch seine Lehre mit der antiken Philosophie und speziell dem Neuplatonismus vertraut gemacht, mein Interesse für die neuplatonische Mathematik geweckt und die Be¬ schäftigung mit Boethius’ Musiktheorie angeregt. Herrn Prof. Dr. Wolfgang Leonhardt und Herrn Prof. Dr. Rainer Thiel sei für die Übernahme der Begutachtung und für wertvolle Hinweise zur Erstellung der Druckversion sehr herzlich gedankt. Unter meinen Universi¬ tätsdozenten möchte ich außerdem Herrn Prof. Dr. Arbogast Schmitt sowie Frau Dr. Brigitte Müller-Rettich nennen, denen ich - in unterschiedlicher Weise - eine akademische wie persönliche Prägung und Förderung verdan¬ ke. Auch der Hanns-Seidel-Stifung e. V. bin ich für die Förderung, v. a. durch ein Promotionsstipendium, zu großem Dank verpflichtet. Schließlich danke ich auch den Herausgebern der »Hypomnemata«, die die Arbeit freundlicherweise in ihre Reihe aufgenommen haben, und Frau Dr. Ulrike Blech für ihre hervorragende Betreuung. Ohne die Hilfe meiner Freunde und meiner Familie, die mir besonders durch Korrekturlesen und kritische Impulse, Diskussionen und durch ihre moralische Unterstützung einen großen Dienst erwiesen haben, hätte ich die Arbeit nicht fertigstellen können. Bedanken möchte ich mich bei Angrit Weber, Burkhard Proske, Matthias Perkams, Michael Vogt, Sabine Lütke¬ meyer und Sven Müller, ganz besonders bei Frank Schneider, Ina Maaß und Klaus Zimmermann und nicht zuletzt bei meinen Eltern, denen das Buch als unvollkommene Äußerung meiner großen Dankbarkeit gewidmet sei.
Inhalt
Einleitung.
13
1. Fragestellung und Stand der Forschung.
13
2. Methodische Überlegungen.
16
3. Aufbau der Studie.
21
Mathematik im System der theoretischen Wissenschaften.
23
I.
1. Mathematik zwischen Naturwissenschaft und Theologie (Boeth. trin. 2, 68-83).
23
2. Zu den Grundlagen der Wissenschaftssystematik.
29
2.1
Zur theoretischen Ausrichtung der Mathematik.
2.2
Zur Rolle von Wahrnehmung und Vorstellung
30
2.3
in der Mathematik. Zur Unterordung der Musik unter die Arithmetik.
35 38
2.4 2.5 2.6
»Früher für uns« und »früher der Sache nach«. Das immateriell »Seiende« als Inhalt einer Wissenschaft... Zusammenfassung: Dreiteilung der Wissenschaften.
39 45 48
2.7 2.8 2.9
Zur Unterscheidung von Form(en) und Materie. Zur abstrahierten Form als Operationsgegenstand. Zu den Erkenntnismodi der drei Wissenschaften. 2.9.1 Rationales Erkennen und Naturwissenschaft. 2.9.2 Wissenschaftliches Erkennen und Mathematik.
50 55 57 57 60
2.9.3
Intellektives Erkennen und Theologie.
62
3. Zusammenfassung.
65
II. Musiktheorie im System des Quadrivium (Proömium Boeth. arithm.).
68
1. Geistesgeschichtlicher Hintergrund.
68
1.1
Boethius im Kontext neuplatonischen Philosophierens über Mathematik. 1.1.1 Quellen von »Arithmetik« und »Musiktheorie«.
68 68
Inhalt
10
1.1.2 Überblick über die neuplatonische Mathematiktradition.
70
1.2 Vergleich der Arithmetikschriften des Nikomachos und des Boethius. 1.2.1 Zur didaktischen Aufbereitung durch Boethius. 1.2.2 Schlussfolgerungen zu Boethius’Kompetenz. 1.2.3
72 74 78
Zu potentiellen negativen Folgen von Boethius’ Modifikationen.
84
2. Die Unterteilung der Mathematik in die vier Disziplinen des Quadrivium. 2.1 Unterscheidung zwischen Größe und Vielheit. 2.2 Unterscheidung zwischen »für sich« und
88 89
»in Relation«. Zuordnung der vier quadrivialen Wissenschaften. Zur Begründung des Quadrivium in der Metaphysik. Begründung der Vorrangstellung der Arithmetik. 2.5.1 Vorrang der Arithmetik vor der Geometrie. 2.5.2 Vorrang der Arithmetik vor der Musiktheorie.
92 94 97 100 101 102
2.5.3
Vorrang der Geometrie vor der Astronomie.
103
3. Zum Ziel der Mathematik.
104
2.3 2.4 2.5
3.1 3.2 3.3 3.4
Aufstieg zum Gipfel der Philosophie. Der gestufte Aufstieg zur Weisheit. Vom sensus zum intellectus. Zur primär theoretischen Ausrichtung des Quadrivium.
104 107 109 113
3.5
Das Seiende als Erkenntisziel des Philosophen. 3.5.1 Das wahrhaft Seiende. 3.5.2 Das homonym Seiende. 3.5.3 »Sein « als »etwas Bestimmtes sein«. 3.5.4 Vielheit und Größe als Vorbilder für »so viel« und »so groß«.
115 116 118 120
3.5.5 3.5.6
Der ontologisch-gnoseologische Komparativ. Die Seienden als aktive, göttliche, und
123
intelligible Prinzipien.
125
4. Was ist Zahl?.
130
4.1 4.2
Zur rational erfassbaren, wissenschaftlichen Zahl. Zur intelligiblen Zahl. 4.2.1 4.2.2
122
132 135
Intelligible Arithmetik als Vorbild für die Schöpfung.
136
Zum Wesen der intelligiblen Zahl.
140
Inhalt
11
4.3 Boethius’ »Arithmetik« als Lehrbuch der Zahltheorie und Grundlage der »Musiktheorie«. 4.3.1 Zentrale arithmetische Erkenntnisziele. 4.3.2 Synopsis zentraler arithmetischer Prinzipien für die Musiktheorie.
144 144
III. »De institutione musica« als musiktheoretisches Lehrbuch.
152
1. Musiktheorie als Wissenschaft von Zahlenverhältnissen.
153
1.1
1.2
1.3
147
Zahlenverhältnisse in Boethius’»Arithmetik«.
153
1.1.1 1.1.2
Zum Erkenntnisziel. Zum Operationsgegenstand.
154 159
1.1.3 Fazit. Zur Abhängigkeit des Zahlenverhältnisses von der Binnenstruktur der Zahlen (mus. 2, 6). 1.2.1 Zum Stand der Forschung. 1.2.2 Deutungsversuch von Boeth. mus. 2, 6.
161
Zahlenverhältnis als Form des erklingenden Intervalls. 1.3.1 Zum Stand der Forschung.
177 177
162 164 167
1.3.2 Zahlen Verhältnisse als spezifische Charakteristika der Intervalle. Philologische Indizien.
182 186
Präzisierung: Zahlenverhältnisse als Formursachen der Intervalle. Vergleich mit Ptolemaios’»Harmonielehre«.
190 199
Zusammenfassung.
201
1.3.3 1.3.4 1.3.5 1.4
2. Zur Funktion von Boeth. mus. 1, lOf. (»Pythagoras in der Schmiede«).
203
2.1
206 206
2.2
Vom sensus via Meinung zur ratio. 2.1.1 Die Darstellung bei Boethius. 2.1.2 Vergleich mit den Versionen von Nikomachos und Macrobius. Kopfwendung vom Schein zum Sein.
2.3
Methodenwechsel, Motivation und Reverenz an 218
2.4
Pythagoras. Vernachlässigung der physikalischen Fehler als Indiz für die Funktion der Legende.
219
Zusammenfassung.
222
3. Boethius’ »Fehler« in mus. 3, 14-16.
223
4. Zur Beschränkung auf 1-2-3-4 (Tetraktys) .
230
2.5
213 216
12
Inhalt
4.1 4.2 4.3 4.4
Forschungsansätze. Erster Erklärungsansatz. Zweiter Erklärungsansatz. Fazit und abschließende Bemerkung zur
232 235 238
Untersuchungsebene.
240
5. Zum anagogischen Potential der dreigeteilten Musik.
242
5.1
Die Dreiteilung der Musik.
245
5.1.1 5.1.2
5.2
Die Unterteilung der Musik in Boeth. mus. 1, 2. 245 Platons »Timaios« als Schlüssel zu den drei Musiken. 249 5.1.3 Die Verwandtschaft von All, Seele und hörbarer Musik bei Boethius. 256 5.1.4 Ptolemaios’ »Harmonielehre« als anagogisches Lehrbuch. 259 Reflexion des Wahrnehmungsaktes als anagogische Methode. 267 5.2.1
Augustinus’ »De musica« als anagogisches Lehrbuch.
5.2.2 5.2.3
5.3
5.4
Boethius’ innere Formen der Wahrnehmung. Fazit zum Wert des Wahmehmens und der hörbaren Musik. Der wahre Philosoph und Politiker als
267 272 276
vollendeter musicus.
279
5.3.1 Gesundung des Individuums. 5.3.2 Gesundung von Staat und Individuum. 5.3.3 Zusammenfassung. Fazit zur anagogischen Anlage von Boethius’ Musiktheorie.
279 281 285 286
Zusammenfassung.
99
j
Anhang (Übersetzungen; arithmetische Fachtermini).
297
Bibliographie.
3-7-7
Index locorum.
39Q
Einleitung
1. Fragestellung und Stand der Forschung Der berühmte mittelalterliche Musiktheoretiker Guido von Arezzo (11. Jh.) stellte zu Boethius’ musiktheoretischer Schrift »De institutione musica« fest, dass sie nicht für Sänger, sondern nur für Philosophen nützlich sei.1 Diese Einschätzung hätte Boethius wohl gefreut, trifft sie doch genau seine Hauptintention. Den heutigen Leser hingegen dürfte sie befremden, da mit Musiktheorie in der Regel nicht mehr Philosophie assoziiert, sondern ein auf hörbare Musik bezogener Wissenschaftsbereich bezeichnet wird. Zwar ist grundsätzlich bekannt, dass die Musiktheorie des Boethius ganz in platonischer Tradition eine der vier kanonischen mathematischen Diszi¬ plinen (quadrivium) im Rahmen der Sieben freien Künste darstellte, dass sie als Wissenschaft von den Zahlenverhältnissen verstanden wurde und dass auch sie als Propädeutikum für das Studium der Philosophie fungieren sollte.2 Jedoch steht eine eigenständige Studie, die sich bei der Untersu¬ chung des boethianischen Musiktraktates von diesen drei Grundsätzen leiten lässt, bislang aus. Ein Grund hierfür mag darin liegen, dass Boethius’ musiktheoretische Schrift v. a. von Musikwissenschaftlern häufig unter dem Aspekt ihrer gewaltigen Wirkungsgeschichte im Mittelalter sowie in der frühen Neuzeit wahrgenommen und untersucht wurde.3 Aus der Perspektive der späteren Rezeption ergibt sich freilich ein anderes Bild von Boethius' Musiklehrbuch als aus dem Blickwinkel der diesem vorausgehenden Antike. Hierbei handelt es sich besonders um die platonisch-aristotelische und neuplatonische Philosophie, welche die sachliche Grundlage des Traktates bildet. Da Boethius sie jedoch nicht im Detail erläutert und durch das Aufkommen
1 Guido, epist. de ign. cant.
II,
50b: »Boethius .... dessen Buch nicht für Sänger sondern allein
für Philosophen nützlich ist« (Boetium ... cuius Uber non cantoribus, sed sohs phdosophis uühs
eSt\ Vgl die grundlegende Arbeit von I. Hadot: Arts liberaux et Philosophie dans la pensee anti' Paris 1984 - Im Folgenden wird i. d. R. nicht die volle Titelangabe zitiert sondern nur der Name des Autors sowie ggf. ein Stichwort, unter dem in der Bibliographie die vollständigen Angaben zu fmdenr^md-in ^ ^ Masj herausgegebenen Sammelband, worin Boethius’ mathe¬ matische Schriften in sechs von insgesamt zehn Aufsätzen behandelt werden, und zwar ausschlie߬ lich hinsichtlich ihrer Rezeptionsgeschichte (Masi, Boethius, passim).
14
Einleitung
eines neuen Verständnisses von musica als einer anwendungsbezogenen und nicht mehr rein theoretischen, mathematischen Disziplin (sogenannte scientia media) wurde im Laufe der mittelalterlichen Rezeption ursprüng¬
lich Zusammengehöriges - der philosophische Hintergrund, die propädeuti¬ sche Absicht und eine entsprechende Deutung des musiktheoretischen Stof¬ fes - allmählich nicht mehr miteinander in Verbindung gebracht. Demensprechend wurde seit der Edition des Textes durch G. Friedlein im Jahre 1867 die philosophische Komponente in der Forschungsliteratur nicht nur weitestgehend ausgeblendet, sondern bisweilen sogar als störend oder als Mangel der Schrift empfunden. Da Philosophen sich gewöhnlich nicht einem musiktheoretischen Traktat zuwenden, liegt der Schwerpunkt in der Forschung auch heute noch auf rezeptionsgeschichtlichen und im neuzeitli¬ chen Sinne musiktheoretischen Fragestellungen. Unter den neueren Forschungsbeiträgen sind die Arbeiten von C. M. Bower hervorzuheben, v. a. seine Aufsätze zu den Quellen und der Rezep¬ tion des Traktates, die Edition der mittelalterlichen Glossa maior zusam¬ men mit M. Bernhard und seine Übersetzung von Boethius’ »De institutione musica« ins Englische. Insbesondere letztere zählt zu den wichtigsten Publikationen der neueren Boethiusforschung auf dem Gebiet der Musik¬ theorie. Die vorliegende Arbeit verdankt diesen und weiteren Forschungen viel, wählt aber für ihre Fragestellung eine neue Perspektive. Indem sie den Blick auf die von Boethius rezipierte, vornehmlich in griechischen Texten fassbare Geisteswelt lenkt, will sie einen Beitrag zur Erhellung des geistes¬ geschichtlich-philosophischen Hintergrundes von Boethius' Musiktraktat leisten. Die Fragestellung lautet: Welche wissenschaftstheoretischen, ma¬ thematischen und anthropologischen Konzepte greift Boethius auf, indem er auf der Basis einer heute leider nicht mehr erhaltenen griechischen Vorlage die uns bekannte Schrift »De institutione musica« anfertigt? Dieser Frage nachzugehen und die Ergebnisse in einem zweiten Schritt für eine Interpretation des Musiktraktates fruchtbar zu machen, erscheint insofern sinnvoll und legitim, als Boethius’ Musiklehrbuch selbst nur parti¬ ell über seinen geistigen Horizont Auskunft gibt, dieser aber anhand diver¬ ser für Boethius’ Bildung und (Euvre zentraler Texte zumindest grundsätz¬ lich rekonstruierbar ist. Ein Blick auf die Entstehungsgeschichte der »Ein¬ führung in die Musiktheorie« zeigt bereits die Bedeutung des philosophischen Hintergrundes: Als Autor der uns nicht bekannten griechi¬ schen Schrift, welche Boethius wohl zu großen Teilen ins Lateinische über¬ trug, gilt der Neupythagoreer Nikomachos von Gerasa (2. Jh. n. Chr.). Auch von dessen »Einführung in die Arithmetik«, dem erhaltenen Standardlehr¬ buch der neuplatonischen Zahltheorie, hatte Boethius eine lateinische Ver¬ sion verfasst. Die musiktheoretische Schrift lehnt sich inhaltlich und stili-
1. Fragestellung und Stand der Forschung
15
stisch eng an das Arithmetiklehrbuch an. Aus beiden geht hervor, dass die ihnen zugrundeliegende Mathematikkonzeption auf Platons Entwurf eines Curriculums für angehende Philosophenkönige basiert.4 Die Rekonstruktion von Wesen und Funktion der boethianischen Musiktheorie führt daher direkt zur platonischen Philosophie und zu deren Rezeption im Neuplato¬ nismus. Dementsprechend steht >die neuplatonische Philosophiec, die trotz ihres Facettenreichtums aufgrund des Konsenses in grundlegenden Fragen hier als eine philosophische Tradition aufgefasst wird, und speziell ihre Mathematikkonzeption im Zentrum der Untersuchung. Dass die neuplatonische Mathematik als theoretisches System durch ihre philosophischen Voraussetzungen erhellt werden kann, zeigt G. Radke in ihrer 2003 erschienenen Studie zur Theorie der Zahl im Platonismus hin¬ sichtlich der zahltheoretischen Schrift »Einführung in die Arithmetik« des Nikomachos von Gerasa. Dieser Untersuchung verdankt die hier vorliegen¬ de Arbeit zahlreiche Einsichten. Doch während Radke den Versuch unter¬ nimmt, im Hinblick auf die Aporien und Debatten der philosophisch orien¬ tierten Forschung eine neuplatonische Mathematikkonzeption als Explikati¬ on der platonischen Metaphysik systematisch zu rekonstruieren und zu begründen, besteht das Ziel der vorliegenden Arbeit darin, vornehmlich philologisch und musikwissenschaftlich Interessierten das griechisch neuplatonische Fundament von Boethius’ Musiktheorie in grundlegenden Aspekten darzulegen und es dann bei der Interpretation anzuwenden. Im Folgenden wird nicht versucht, Boethius’ Fehren zu verifizieren oder zu falsifizieren, was Aufgabe einer philosophischen Sachdiskussion wäre. Vielmehr geht es darum, seine philosophischen und anthropologischen Fehren überhaupt zur Kenntnis zu nehmen und Konsequenzen für die Re¬ konstruktion der Musiktheorie als eines propädeutischen, quadiivialen Faches abzuleiten. Entsprechend werden die in der Forschung häufig unter¬ suchten, im engeren Sinne musikalischen Aspekte von Boethius’ »Musik¬ theorie« (etwa Tongeschlechter, Tetrachorde, Modi) nicht thematisiert. Insofern nach neuzeitlicher Vorstellung unter Musiktheorie eine primär praktisch anwendbare Fehre verstanden wird, befasst sich die vorliegende Studie mit griechischer Philosophie sowie Mathematik und nur am Rande mit Musiktheorie. Ferner handelt es sich nicht um eine diachrone Untersu¬ chung welche die Entwicklung platonisch-pythagoreischer Mathematik oder Philosophie hin zur bzw. in der Spätantike nachzeichnet. Entwicklun¬ gen innerhalb der mathematischen Wissenschaften und Unterschiede in den entsprechenden neuplatonischen Texten spielen hier insofern keine wesent¬ liche Rolle, als versucht wird, zunächst den Status quo bei Boethius zu bestimmen und zu verstehen.
4Plat. pol. 521cl-531e6.
16
Einleitung
2. Methodische Überlegungen Boethius war Neuplatoniker. Das geht eindeutig aus seinem heute bekann¬ testen Werk, dem »Trost der Philosophie«, sowie anderen Schriften hervor und ist in der Forschung unbestritten.5 Hieraus ergibt sich auf methodischer Ebene die Konsequenz, dem neuplatonischen Hintergrund auch bei der Erforschung der »Musiktheorie« Beachtung zu schenken. Y. Guillaumin hat auf diese Konsequenz bezüglich Boethius’ Arithmetikschrift im Vorwort zu seiner Textausgabe mit Übersetzung ins Französische nachdrücklich hin¬ gewiesen und zieht dementsprechend in den Anmerkungen neuplatonische Texte zur Erläuterung hinzu. Eigentlich liegt es nicht fern, den jeweiligen geistesgeschichtlichen Kon¬ text einer antiken Schrift bei deren Studium und Interpretation einzubezie¬ hen und als Verständnishilfe zu nutzen. Entsprechend konstatiert R. Harmon in seinem aus musikwissenschaftlicher Sicht hervorragenden Artikel zur Rezeption der griechischen Musiktheorie im römischen Reich in Bezug auf Boethius:6 »Und erst im Bewußtsein der Fülle dessen, was er dabei [sc. bei der Vermittlung des antiken Bildungsideals an seine Zeitgenossen] rezipiert bzw. gesichert hat, ist es möglich, das, was er der Nachwelt wei¬ tergegeben hat, gebührend einzuschätzen.« Dennoch wurde das Potential der neuplatonischen Texte, auf die sich Boethius bezieht, in der bisherigen Forschung zu seiner »Musiktheorie« erstaunlicherweise kaum genutzt. Dabei weisen alle Indizien klar darauf hin, dass der Neuplatonismus die wissenschaftliche Tätigkeit dieses spätantiken Philosophen prägte: Boethius ist für seine hohe literarische und philosophische Bildung bekannt und gilt als »der bedeutendste neuplatonische Philosoph des lateinischen Westens«.7 Wo er unterwiesen wurde, kann zwar nicht mit Sicherheit festgestellt wer¬ den - wohl eher in Alexandrien bei Ammonios als in Athen, vielleicht aber auch nur in Rom. Sein überliefertes (Euvre spricht jedoch schon angesichts der ausgewählten Themen für sich: Der Schwerpunkt liegt neben der Philo¬ sophie im engeren Sinne auf der Logik und Mathematik, womit es wesent¬ liche Bereiche des neuplatonischen Fächerkanons abdeckt.8 So fertigte Boethius jeweils sieben Übersetzungen und Kommentare zu diversen logi¬ schen Schriften des Aristoteles und des Porphyrius an, verfasste ferner fünf eigene logische Schriften (dazu einen Kommentar zu Ciceros »Topik«) und schuf jeweils eine lateinische Fassung der »Einführung in die Arithmetik« und mindestens der ersten vier Bücher der »Einführung in die Musiktheo5 Vgl. Baltes, Consolatio, passim, sowie Baltes, Boethius, 213 und 216-222. - Letzterer Auf¬ satz gibt einen einführenden Überblick über Leben, Wirken und Lehre von Boethius. 6 Harmon, 483. 7 Baltes, Boethius, 208. 8 O’Meara, Platonopolis, 50-68.
2. Methodische Überlegungen
17
rie« des sich auf Platon berufenden Nikomachos von Gerasa. Hinzu kom¬ men noch wenigstens vier christliche theologische Traktate und natürlich der »Trost der Philosophie«. Wie Boethius selbst sagt, hatte er »die Absicht, nicht nur alle Werke des Aristoteles zu übersetzen und zu kommentieren (In Arist. De interpret. II S. 433, 8ff.; In Porph. Isag. S. 131, 24ff.), soweit er ihrer habhaft werden konnte, sondern auch alle Dialoge Platons. Im Anschluss daran wollte er versuchen, die Übereinstimmung der Lehren Platons und des Aristoteles herauszuarbeiten und nachzuweisen, dass beide in den meisten und wichtig¬ sten Fragen einer Meinung seien (In Arist. De interpret. II S. 79, 9ff.)«.9 Ein solcher Harmonisierungsversuch der aristotelischen und platonischen Philo¬ sophie stellt bekanntlich ein wesentliches Charakteristikum neuplatonischen Philosophierens dar. Die Frage, ob und inwiefern es berechtigt ist, Platon und Aristoteles in Einklang zu bringen, und überhaupt die Problematik des Verhältnisses von Neuplatonismus und der Philosophie von Platon und Aristoteles tangiert die vorliegende Arbeit allerdings nicht. Boethius’ Auffassung, dass die in den platonischen Dialogen fassbare Philosophie mit dem Inhalt der Schriften des Aristoteles grundsätzlich vereinbar sei und dass die eigene Philosophie lediglich eine Explikation platonischen Gedankenguts sei, wird hier als Faktum zugrunde gelegt, ohne einer kritischen Untersuchung unterzogen zu werden. Das gilt insbesondere für die antike Diskussion über den ontologi¬ schen Status von Zahl: Die Neuplatoniker schließen sich grundsätzlich Platons Theorie vom Sein transzendenter Zahlen an;10 gleichzeitig wird Aristoteles’ abweichende Theorie, die besagt, dass Zahlen an wahrnehmba¬ ren Körpern vorliegen und von ihnen abstrahiert kein Sein mehr besitzen, aufgegriffen und in das Lehrgebäude integriert. Die vorliegende Untersuchung hält sich eng an Boethius Gedankengän¬ ge, die sich von den Pfaden neuzeitlichen Denkens bisweilen stark unter¬ scheiden. Boethius vertritt etwa die Ansicht, dass die Musiktheorie keine autonome Wissenschaft sei, sondern zusammen mit den anderen mathema¬ tischen Wissenschaften Arithmetik, Geometrie und Astronomie in gewissei Weise Abbilder philosophischer und theologischer Erkenntnisse enthalte, weshalb sie auch auf diese beiden Wissenschaften vorbereiten könne. Eine dieser Auffassung adäquate Untersuchung kommt also nicht umhin, über den Horizont der Musiktheorie hinausgehend zu fragen, welches Verhältnis Boethius den vier mathematischen Fächern zueinander und zu Philosophie sowie Theologie zuschreibt. Diese und weitere Fragen können freilich nicht mit dem Musiktraktat als alleiniger Textbasis behandelt werden, sondern
9 Baltes, Boethius, 213. 10 O’Meara, Objets mathematiques, passim (zu Plotin und Jamhlu.li).
18
Einleitung
erfordern die Einbeziehung diverser weiterer Schriften des Boethius, aber auch anderer Neuplatoniker sowie von Platon und Aristoteles selbst, auf die sich unser Autor stützt. Dabei soll Boethius - soweit dies möglich ist - im ersten Schritt immer zunächst aus sich selbst heraus verstanden werden. Hier stellt sich die Fra¬ ge, ob es legitim ist, andere Werke des Boethius zu konsultieren. Seine diversen Schriften berühren nämlich nicht nur unterschiedliche Themen, zumal Boethius als Christ auch christliche Texte schrieb, sondern wurden wohl auch in einigem zeitlichen Abstand voneinander verfasst. Eine Legitimation ergibt sich daraus, dass die beiden vorrangig herange¬ zogenen Schriften trotz ihrer unterschiedlichen Abfassungszeit eine enge inhaltliche Verwandtschaft aufweisen. Es handelt sich um die »Einführung in die Arithmetik« und den »Trost der Philosophie«: Die beiden mathemati¬ schen Schriften zur Arithmetik und Musiktheorie behandeln nicht nur zwei propädeutische und somit am Anfang der Ausbildung stehende Fächer, sondern gelten auch als die zuerst verfassten Werke. Boethius bezeichnet nämlich die Arithmetikschrift in seinem Widmungsschreiben als primitiae (»Erstlingsfrüchte«). An sie schließt sich die »Musiktheorie« unmittelbar an. Hingegen sprechen die autobiographischen Aussagen im »Trost der Philosophie« dafür, dass Boethius dieses Werk kurz vor seiner Hinrichtung verfasst hat. Obwohl die drei Schriften die Anfangs- und Endpunkte in Boethius’ literarischer Schaffensphase markieren, zeichnen sie sich doch alle durch einen besonders starken Bezug auf Platons Dialoge und deren neuplatonische Exegese sowie durch ihre anagogische (hochführende) Konzeption aus. Sie widersprechen sich inhaltlich nicht, sondern sind Be¬ standteile ein und desselben philosophischen Systems. Der textliche Befund spricht außerdem dafür, dass Boethius beim Abfassen der mathematischen Texte bereits eine profunde Kenntnis des Neuplatonismus besaß,11 so dass beide durchaus in Beziehung zu seinen späteren Texten gesetzt werden können. Dies gilt auch für Boethius’ christliche und logische Schriften, die für unsere Fragestellung allerdings wenig Material liefern. Letztere wenden sich ihrem Gegenstand gemäß vorrangig Aristoteles’ Organon zu.12 Die christlichen Traktate tragen abgesehen von »De fide catholica« eine unver¬ kennbar neuplatonische Prägung und zeugen in vielen wesentlichen Punk¬ ten von Boethius’ Ansicht, dass Neuplatonismus und Christentum mitein¬ ander vereinbar seien. Sie weichen aber gerade in der Auffassung der Hy-
11
s.
u. II.l.
12 Platonische Positionen werden nur kurz benannt und nicht ausführlich behandelt; vgl. Boeth. in Porph. sec. I 11 p. 167, 12-14.
2. Methodische Überlegungen
19
postasen wesentlich von neuplatonischen Lehren ab.13 Diesbezügliche Pro¬ bleme und Aporien thematisiert Boethius in seinem CEuvre nicht. Besonders in der Übertragung der Arithmetikschrift des Nikomachos fällt auf, dass er aus christlicher Sicht anstößige Formulierungen platonischer Provenienz vermeidet,14 was nahelegt, dass Boethius auch seine mathematischen Werke zwar vor einem neuplatonischen Hintergrund, aber doch als Christ verfass¬ te. Nicht nur die zahlreichen christlichen mittelalterlichen Rezipienten der beiden mathematischen Lehrbücher (»Einführung in die Arithmetik« und »Einführung in die Musiktheorie«), des »Trostes der Philosophie« sowie einiger logischer Schriften des Boethius erachteten es für angemessen, dieses Wissen trotz des heidnischen Hintergrundes zu bewahren, zu studie¬ ren und weiterzuvermitteln; in der Spätantike hielten auch andere neuplato¬ nische Christen bzw. christliche Neuplatoniker, so z. B. Johannes Philoponos, eine solche Synthese - wenn auch nicht in jeder Hinsicht, so doch in vielen essentiellen Aspekten - für möglich und legitim, weshalb im Folgen¬ den auch Boethius’ nicht-mathematische Schriften Beachtung finden. Als besonders bedeutsam und bislang in der Musiktheorieforschung zu wenig beachtet stellt sich ein Merkmal des Neuplatonismus dar, welches dem neuzeitlichen Forscher häufig den Zugang zum besseren Verständnis dieser antiken (und auch mittelalterlichen) Geistestradition erschwert: Im Neuplatonismus wird davon ausgegangen, dass es neben der sichtbaren Welt transzendentes, unkörperliches Sein gibt, das rational erschließbar ist und dessen Kenntnis eine Erklärung der sichtbaren Welt ermöglicht. Dieses unkörperliche Sein gilt den neuplatonischen Autoren als eigentliche Reali¬ tät, als Allgemeines und nicht als gedankliches Konstrukt des menschlichen Geistes. Es ist selbst nicht voraussetzungslos, sondern hat seinen Ursprung in einem höchsten, ganz einfachen, aber die Fülle allen Seins verursachen¬ den und umfassenden Prinzip, das in philosophischer Terminologie als das »Eine« und in theologischer als »Gott« bezeichnet wird. Es bzw. ihn zu erkennen ist das höchste Ziel allen Philosophierens und des menschlichen Lebens überhaupt. Der Weg zu dieser Erkenntnis wurde als Aufstieg ver¬ standen. Essentielle Stufen bildeten dabei die vier mathematischen Fächer, darunter also auch die Musiktheorie. Diese Konzeption kann man als das Fundament neuplatonischen Philo¬ sophierens bezeichnen. Bei einer Untersuchung der Musiktheorie muss sie dementsprechend eine zentrale Rolle spielen. Erst dieser Hintergrund erhellt die eigentliche Zielsetzung von Boethius’ Musiktheorietraktat im Grund¬ sätzlichen wie auch im Detail und ermöglicht außerdem eine grobe Rekon¬ struktion des fehlenden abschließenden Teiles der Schrift.
13 Vgl. Craemer-Ruegenberg, v. a. 185-197.
14 S. u. II. 1.2.
20
Einleitung
Wie etwa A. Schmitt verdeutlicht hat, findet u. a. die gerade skizzierte anagogische Konzeption von Musiktheorie und Mathematik in der For¬ schung kaum bzw. keine konsequente Beachtung, da sich neuzeitliches Philosophieren trotz seiner vielfältigen Spielarten i. d. R. durch die Distan¬ zierung von der oben beschriebenen Weitsicht bzw. durch den gänzlichen Bruch mit ihr auszeichnet und da unsere Vorbegriffe so geprägt sind, dass sie den Blick in bestimmte Bahnen lenken, die teilweise nicht dem Denken des antiken Autors entsprechen. Diese Schwierigkeit kann - wenigstens in Ansätzen - überwunden werden, wenn die eigenen, schon vorausgesetzten Denk- und Wertekategorien erkannt und reflektiert wurden und so ein rela¬ tiv vorurteilsfreier Blick auf den antiken Text möglich wird. Das gilt nicht nur für die neuzeitliche Interpretation der Philosophie Platons, sondern auch für das Verständnis von Boethius’ Musiktheorie. Denn so vielfältig die heutigen philosophischen Richtungen auch sein mögen - markante Unter¬ schiede zur neuplatonischen Theorie im Bereich des menschlichen Selbst¬ verständnisses, der Schönheitstheorie15 und Wissenschaftskonzeption, spe¬ ziell auch der Konzeption der mathematischen Wissenschaften16 sind i. d. R. auszumachen. Die Kluft zwischen gängigen neuzeitlich-materialistischen und neuplato¬ nischen Ansichten, besonders hinsichtlich der Metaphysik, des Wissen¬ schaftsverständnisses und der Anthropologie, erschwert in der Tat die Re¬ konstruktion von Boethius’ Musiktheorie. Beispielsweise sind Boethius’ Fächergrenzen anders als uns gewohnt gezogen, so dass nicht einmal Klar¬ heit darüber herrscht, wer heutzutage für die Beschäftigung mit der »Musik¬ theorie« zuständig ist. Wie im Folgenden detailliert dargelegt werden soll, müssten sich aus Boethius’ Perspektive nicht primär (praktisch orientierte) Musikwissenschaftler, sondern vornehmlich Philosophen und Theologen mit dieser Schrift befassen, wobei Boethius unser heutiges Begriffsver¬ ständnis von Philosophie, Theologie und Mathematik nicht bzw. nur partiell teilen würde. Aufgrund der sprachlichen Barrieren darf auch ein klassischer Philologe nicht fehlen, der die z. T. nicht in Übersetzung vorliegenden relevanten griechischen und lateinischen Texte im Original studieren kann. »De institutione musica« ist demnach kein leicht handhabbarer Untersuchungsge¬ genstand. Um den Einstieg in die zunächst sicherlich befremdliche Gedan¬ kenwelt zu erleichtern, soll deshalb zu Beginn versucht werden, eine knap-
15 Vgl. Schmitt, Platon, 21 und 34f.: Schönheit wird nun den wahrnehmbaren Einzeldingen selbst zugesprochen. Statt der Teilhabe am Schönen, wie es in der platonischen Tradition hieß, muss das einzelne empirische Phänomen nun ein vollständiges, wohlbestimmtes Exemplar seines Begrittes sein und uns diese vollständige Begrifflichkeit in einem Akt der Intuition oder Anschau¬ ung offenbaren, was Schmitt als »metaphysische Überlastung des Einzeldings« bezeichnet 16 Ebd. 232-238.
3. Aufbau der Studie
21
pe Einführung in dieselbe zu geben. Des Weiteren sollen Querverweise und Zusammenfassungen den Rückbezug der jeweils untersuchten Einzelthe¬ men zu ihren anfangs erläuterten philosophischen Grundlagen ermöglichen.
3. Aufbau der Studie Die Arbeit gliedert sich in drei Kapitel. Das erste behandelt Boethius’ Ein¬ ordnung der Mathematik in das Gesamtspektrum der Wissenschaften. Da es sich um eine interdisziplinäre Studie handelt, welche sich im Spannungsfeld von Klassischer Philologie, Philosophie, Musikwissenschaft, Theologie und Mathematik bewegt, führt es gleichzeitig doxographisch in die zentralen, für die weitere Untersuchung besonders relevanten Themen neuplatonischer Philosophie ein. Anschließend wendet sich das zweite Kapitel der Mathematik selbst und ihrer Einteilung in die vier Fächer des Quadrivium zu. Untersucht werden die Funktion der mathematischen Studien, die Subordination der Musik¬ theorie unter die Zahltheorie (Arithmetik) und das Wesen von Zahl. Boethi¬ us’ Verständnis von Zahl weicht wesentlich von den heute verbreiteten Auffassungen ab. Da Boethius beim Leser der »Musiktheorie« bereits die Kenntnis seiner Zahltheorie voraussetzt und die Ansicht vertritt, dass der Musiktheorie als Wissenschaft von den Zahlenverhältnissen die Arithmetik als Wissenschaft von der Zahl zugrundeliegt, spielt die Untersuchung des Zahlbegriffes eine wesentliche Rolle für den weiteren Verlauf der Studie. Aufbauend auf den Ergebnissen des zweiten Kapitels befasst sich das dritte mit Boethius’ musiktheoretischem Traktat selbst. Dabei wird zunächst der Erkenntnisgegenstand der Musiktheorie ermittelt. Es wird gefragt, in¬ wiefern sie eine Wissenschaft von den Zahlenverhältnissen ist - zumal in der Arithmetik auch Zahlenverhältnisse untersucht werden - und welche Rolle die Zahlenverhältnisse für die hörbaren Phänomene spielen. Bei der sich anschließenden Behandlung dreier in der Forschung immer wieder problematisierter Themen (Interpretation von mus. 1, lOf. zu »Phythagoras in der Schmiede«, Boethius’ Rechenfehler in mus. 3, 14-16 sowie Begrün¬ dung der Konsonanzlehre) wird ersichtlich, dass und inwiefern die zuvor erarbeiteten Grundlagen zur Klärung von konkreten Aponen bzw. Ver¬ ständnisschwierigkeiten des Textes beitragen können. Der abschließende Teil des dritten Kapitels thematisiert Boethius’ umfassenden Musikbegn . Er untersucht das anagogische Potential der Dreiteilung der Musik in musica Instrumentalis, humana und mundana und rekonstruiert die Erkenntnis¬ intention des nicht erhaltenen bzw. nicht verfassten Endes von Boethius »De institutione musica«. Die Rekonstruktion stützt sich auf den erarbeite-
22
Einleitung
ten philosophischen Hintergrund und zieht ferner Augustinus’ musiktheore¬ tische Schrift »De musica« sowie Ptolemaios’ »Harmonielehre«, die Boethius ab dem letzten Kapitel des vierten Buches rezipiert, zum Ver¬ gleich heran. Die Argumentation konzentriert sich dabei auf Boethius’ Rückbezug der menschlichen Erkenntnistätigkeit - speziell der innerseeli¬ schen Logoi - auf die platonische Weltseele und erschließt auf diese Weise die anagogische Konzeption der Musiktheorie, die den Musikstudenten zur philosophischen Beschäftigung mit der Instanz »Seele« präpariert und ge¬ radezu auffordert. Da eine Reihe von einschlägigen griechischen und lateinischen Texten nicht oder in m. E. mangelhafter Übersetzung vorliegt, ist ein Anhang mit Übersetzungen samt Anmerkungen angefügt, der u. a. erkenntnis- und wis¬ senschaftstheoretisch bedeutsamen Passagen aus Boethius’ Musiklehrbuch enthält. Arithmetische Fachbegriffe, die im Laufe der Studie mehrfach verwendet werden, sind am Ende des Anhanges zusammengestellt und erläutert. Sofern nicht anders gekennzeichnet, stammen alle Übersetzungen der vorliegenden Arbeit von der Autorin. Die Abkürzungen der griechischen und lateinischen Texte sind im Literaturverzeichnis aufgelöst. J.-Y. Guillaumins neue Edition von Boethius’ »De institutione arithmetica« wurde zwar auch herangezogen und ihre Kapiteleinteilung bei der Übersetzung des Proömium im Anhang angegeben. Da sie aber keine Zeilenangaben enthält, liegt den Stellenangaben im Folgenden immer Friedleins Edition zugrunde, deren Wortlaut i. d. R. nicht vom Text Guillaumins abweicht.
I. Mathematik im System der theoretischen Wissenschaften
1. Mathematik zwischen Naturwissenschaft und Theologie (Boeth. trin. 2, 68-83) Unter Musiktheorie verstand Boethius die mathematische Wissenschaft von den Zahlenverhältnissen. Zusammen mit Arithmetik, Geometrie und Astro¬ nomie gehört sie zu den vier mathematischen Fächern, welche als Quadrivium (»Vierweg«) vor den höheren Studien zu absolvieren waren. Bevor wir uns der Musiktheorie selbst im Detail zuwenden, stellt sich angesichts dieser vom allgemein verbreiteten neuzeitlichen Verständnis von Musik¬ theorie stark abweichenden Konzeption die Frage, worin für Boethius das Wesen der Mathematik besteht. Sie ist bezüglich der griechischsprachigen neuplatonischen Tradition, in die sich Boethius stellt, jüngst in der Studie von G. Radke zur »Theorie der Zahl im Platonismus« untersucht worden. Auch Einzelinterpretationen von Passagen aus Boethius’ (Euvre zur Verortung der Mathematik im Wissenschaftssystem, wie die Arbeiten von S. Neumann, I. Craemer-Ruegenberg1 2 und R. Mclnerny, liegen vor. In den einschlägigen Forschungsbeiträgen zu Boethius’ Musiktheorie fand seine Mathematikkonzeption allerdings bislang keine Berücksichtigung, wie die weitgehend übliche isolierte Betrachtung der Musiktheorie von der Arith¬ metik und von ihren philosophischen Grundlagen zeigt.Die Verortung der Mathematik im Wissenschaftssystem zwischen Na¬ turwissenschaft und Theologie wird den Rahmen vorgeben, in den die Mu¬ siktheorie einzuordnen ist und der für den gesamten Verlauf diesei Unter¬ suchung - speziell für die abschließende Behandlung der Frage nach dem anagogischen (hochführenden) Potential der Musiktheorie - grundlegend sein wird. An die Einordnung der Mathematik schließen sich vertiefende
1 Craemer-Ruegenberg, 53-80. , . , .. , , 2 Neben den in der Einleitung unter 1. genannten Arbeiten von C. M. Bower und M. Bernhard ist die Studie von Potiron zu erwähnen. Es handelt sich um die einzige Monographie, die Boethius als Musiktheoretiker gewidmet ist; sie beschränkt sich allerdingsauf eine zusammenfassende Wiedergabe des Inhaltes, ignoriert den wissenschaftssystematischen Rahmen gänzlich und pro¬ blematisiert lediglich die musikhistorisch interessante Frage nach der Rezeption von Boethius Modi und deren Identifikation mit den mittelalterlichen Kirchentonarten.
24
I. Mathematik im System der Wissenschaften
Vorbemerkungen zu den essentiellen neuplatonischen Konzepten und Fach¬ ausdrücken an. Für eine einführende Charakterisierung der Mathematik im Vergleich zu anderen theoretischen Wissenschaften bietet sich eine Passage aus Boethius’ Traktat »De trinitate« an. In dieser theologischen Schrift argumentiert Boethius gegen diejenigen, die den Glaubenssatz von der Einheit der Drei¬ faltigkeit bestreiten. Nach mathematischem und naturwissenschaftlichem Verständnis muss die Behauptung, dass eine Dreiheit eine Einheit ohne Vielheit ist, Verwunderung hervorrufen. Zur Vermeidung einer Konfusion dieser beiden Wissenschaftsbereiche mit dem der Theologie betont Boethi¬ us, dass ein theologisches Thema eine ihm adäquate Weise der Untersu¬ chung, also eine theologische, erfordert. Daher grenzt er zunächst die Inhal¬ te der Naturwissenschaft, der Mathematik und der Theologie sowie deren spezifische Erkenntnisweisen voneinander ab, um anschließend das genann¬ te Problem in theologischer Betrachtungsweise zu behandeln.3 In diesem Zusammenhang wird auch die Mathematik näher charakterisiert:4 Denn da es drei theoretische Teile gibt - den naturwissenschaftlichen, in Bewegung, nicht getrennt (er betrachtet nämlich die Formen der Körper mit der Materie, die von den Körpern aktual nicht getrennt werden können, wobei diese Körper in Bewegung sind — wie wenn die Erde nach unten, das Feuer nach oben bewegt wird — und die der Materie verbundene Form Bewegung hat), den mathematischen, ohne Bewegung, nicht getrennt (dieser betrachtet nämlich Formen von Körpern ohne Materie und dadurch ohne Bewegung, wobei diese Formen - da sie in der Materie sind - von ihnen [sc. den Körpern] nicht getrennt werden können), den theologischen, ohne Bewegung und getrennt (denn Gottes Substanz entbehrt sowohl der Materie als auch der Bewegung) -, wird es nötig sein, sich folglich mit naturwissenschaftlichen [sc. Sachverhalten] auf rationale Weise, mit mathematischen auf wissenschaftliche und mit göttlichen auf intellekthafte Weise zu beschäftigen und sich nicht zu Vorstellun¬ gen zerstreuen zu lassen, sondern vielmehr die Form selbst zu erfassen, die wahrhaft Form und nicht Abbild ist und die das Sein selbst ist und aus der das Sein ist. Denn alles Sein ist aus der Form.
3 Vgl. Thierry, lect. in trin. II 1-3. - Die Passage aus Boeth. trin. wurde im Mittelalter rezi¬ piert. Aufgrund ihrer Relevanz auch für mittelalterliche Musiktraktate werden im Folgenden Verweise auf diverse Kommentare (v. a. der Schule von Chartres) gegeben. 4 Boeth. trin. 2, 68-83: Nam cum tres sint speculativae partes, naturalis, in motu inabstracta, itvims^alpeto? (considerat enim corporum formas cum materia, quae a corporibus actu separari non possunt: quae corpora in motu sunt, ut cum terra deorsum ignis sursum fertur, habetque motum forma materiae coniuncta), mathematica, sine motu inabstracta (haec enim formas corporum speculatur sine materia ac per hoc sine motu: quae formae cum in materia sint, ab his separari non possunt), theologica, sine motu abstracta atque separabilis (nam Dei substantia et materia et motu caret): in naturalibus igitur rationabiliter, in mathematicis disciplinaliter, in divinis intellectualiter versari oportebit, neque diduci ad imaginationes, sed potius ipsam inspicere formam, quae vere forma neque imago est et quae esse ipsum est et ex qua esse est. Omne namque esse ex forma est.
1. Mathematik zwischen Naturwissenschaft und Theologie
25
Daraus ergibt sich folgendes Schema:
Wissenschaft
Erkenntnisweise
natürliche
Erkenntnismodus
Seins¬ weise des Erkenntnis¬ gegenstandes
Naturwissenschaft Mathematik Theologie
in Bewegung (Form mit Materie) ohne Bewegung (Form ohne Materie)
nicht getrennt von Materie getrennt von Materie
rational wissenschaftlich intellekthaft
Eine Besonderheit der Mathematik besteht darin, dass nur bei ihr eine Dif¬ ferenz zwischen der natürlichen Seinsweise der Formen an der Materie einerseits und dem Erkennen der Formen ohne Materie andererseits zu bestehen scheint: Der Theologe widmet sich materielosen Formen und betrachtet sie auch als solche ohne Materie und der Naturwissenschaftler wendet sich den Formen an der Materie zu, insofern sie tatsächlich an ihr vorliegen. Der Mathematiker ist folglich als Einziger zu einer gewissen Abstraktion genötigt, wenn er Formen an der Materie ohne Materie betrach¬ tet. Die Mathematik nimmt somit hinsichtlich ihrer Inhalte und ihrer Er¬ kenntnisweise eine mittlere Position innerhalb dieser drei theoretischen Wissenschaften ein.5 Sie vermittelt zwischen Theologie und Naturwissen¬ schaft, da sie mit ihnen jeweils eine Gemeinsamkeit hat: Während der Ma¬ thematiker sich ebenso wie der Naturwissenschaftlei auf einen wahrnehm¬ baren Körper bezieht, der von Natur aus eine Einheit aus Form (d. h. Be¬ stimmtheit) und Materie darstellt und somit die eigentlich nur am wahrnehmbaren Körper vorliegenden Formen betrachtet, teilt er mit dem Theologen die Betrachtung der materiefreien Form. Allerdings befasst er sich mit Formen, die ihrem Sein nach an wahrnehmbaren Körpern vorliegen und von sich selbst her nicht von diesen getrennt sind, während der Theolo-
5 Eine ähnliche Unterscheidung trifft Aristoteles hinsichtlich wissenschaftlicher Definitionen (an 403a29-bl6): Die Definition von Zorn oder Haus eines Naturwissenschaftlers enthalt die wahrnehmbare Materie, die eines Dialektikers gibt die Form (Logos und Eidos, d. h. die wesentli¬ che unkörperliche Bestimmtheit der Sache) an, während ein Künstler oder Handwerker sowohl Form als auch Materie beachtet. Während der Mathematiker etwas von der Materie abstrahiert, betrachtet der Metaphysiker etwas völlig von der Materie Getrenntes. - Zur Abgrenzung der drei Wissenschaften, speziell zum Unterschied zwischen Physik und Mathematik im Platonismus vgl. Radke, 304-319.
26
I. Mathematik im System der Wissenschaften
ge es mit Formen zu tun hat, die für sich selbst Bestand haben und ihrem Wesen nach nicht an wahrnehmbarer Materie vorliegen. Als Beispiele für solche an sich unkörperliche Formen nennt Boethius an anderer Stelle Gott, Geist und Seele.6 Der Mathematiker wendet sich also weder physikalischen Körpern, inso¬ fern sie eine Zusammensetzung aus Form und Materie sind, noch gänzlich unkörperlichen Substanzen zu, sondern operiert mit Formen, z. B. bestimm¬ ten Kreisen oder Dreiecken, ohne auf die Materien des Wahrnehmbaren zu achten, an denen diese vorliegen: Ob der Kreis auf Papier oder an eine Tafel gezeichnet ist, spielt für seine Tätigkeit keine Rolle, denn er achtet nur auf den Kreis als solchen unter Absehung von der Materie.7 Hinsicht¬ lich des Erkenntnisgegenstandes lässt sich demnach resümieren, dass die Mathematik sich weder auf Form und Materie noch auf eine bloße Form bezieht, sondern auf eine von der Materie des Wahrnehmbaren abstrahierte Form. Vom Verhältnis zwischen Form und Materie, d. h. davon, ob eine Form von einem Körper nur gedanklich abstrahiert werden kann oder sachlich ohne¬ hin von der wahrnehmbaren Materie getrennt ist, hängt die Bewegung des jeweiligen Wissenschaftsgegenstandes ab. Gemeint ist hierbei die physika¬ lische Bewegung bzw. Veränderung. Diese findet ausschließlich an wahr¬ nehmbaren Körpern statt, die eine bestimmte Materie als wesentlichen Bestandteil aufweisen. Die Materie wiederum gilt als notwendige Voraus¬ setzung für physikalische Veränderungen jeglicher Art, weil sie als relativ konstanter Träger der Bestimmungen (Formen) fungiert. Diese Auffassung wird von Neuplatonikem im Anschluss an Platons »Timaios«8 und an die »Physik« des Aristoteles im Wesentlichen dadurch begründet, dass bei der Beobachtung physikalischer Veränderungen immer sowohl etwas Konstantes als auch etwas sich Änderndes festgestellt werden kann. Beispielsweise entsteht bei der Erwärmung von Wasser kein völlig neues Wasser, sondern das Wasser als Substrat (Zugrundeliegendes, also die Materie) bleibt identisch, während seine Bestimmtheit (Temperatur, also die Form) verändert wird. Notwendige aber nicht hinreichende Voraus-
6 Boeth. in Porph. sec. I 10 p. 161, 2 (deus, mens, animä). 7 Vgl. Boeth. subst. bon. 77-82: Dreieck u. Ä. wird im Geist und durch Denken (animo tarnen et cogitatione bzw. mente), aber nicht in Wirklichkeit (actu) von der zugrundeliegenden Materie getrennt, so dass man das Dreieck und seine spezifischen Eigenschaften in Absehung von der Materie (praeter materiam) betrachten kann. 8 Plat. Tim. 48e2-52dl.
1. Mathematik zwischen Naturwissenschaft und Theologie
27
Setzung für diese physikalische Veränderung ist hier also das kontinuierlich als ein und dasselbe Wasser vorliegende Wasser.9 Folglich ist Bewegung bzw. Veränderung in besonderem Maße für die Naturwissenschaften relevant. Boethius nennt in der auf p. 24 zitierten Stelle zur Illustration die Ortsbewegung (der Erde nach unten und des Feu¬ ers nach oben), die eine uns recht vertraute Art der insgesamt vier physika¬ lischen Bewegungsarten darstellt.10 Die weiteren Bestimmungen eines Kör¬ pers sind ebenfalls von der jeweiligen Bewegung betroffen: So ist ein Klumpen Erde warm, hat eine bestimmte Größe, Farbe, Feuchtigkeit, che¬ mische Zusammensetzung etc. Fällt dieser Klumpen Erde zu Boden, dann sind auch alle genannten Formen von der Ortsbewegung betroffen, da sie Teile des bewegten Ganzen sind. Dasselbe ist der Fall, wenn statt der Orts¬ bewegung eine Vergrößerung oder Verkleinerung des Erdklumpens vorge¬ nommen wird. Thierry von Chartres vergleicht in seinem Kommentar zur Stelle die Form mit einem Stück Holz und die Materie mit dem Wasser, in welches das Holz geworfen wird.* 11 Zunächst sind beide für sich ohne Be¬ wegung und haben jeweils ganz bestimmte Eigenschaften, etwa die Gestalt des Holzes oder die Wärme des Wassers. Erst wenn das Holz ins Wasser geworfen wird, entstehen Wellen und sowohl das Wasser als auch das darin befindliche Holz sind zusammen in sichtbarer Bewegung, von der auch alle weiteren Bestimmungen beider Komponenten betroffen sind (die Wärme des Wassers oder die Gestalt des Holzes).1- In diesem Sinne befinden sich
9 Diese Erklärung ist eine stark vereinfachende Darstellung der Zusammenhänge, wie sie den zentralen Texten (Platons »Timaios«, Aristoteles’ »Physik« und »Über Werden und Vergehen«) entnommen werden können. Das gewählte Beispiel der Erwärmung des Wassers deutet die Unter¬ scheidung zwischen Form und Materie lediglich an, was man sich etwa an der Frage verdeutlichen kann, worin das kontinuierlich Zugrundeliegende beim Werden und Vergehen von Wasser zu finden ist Die Beantwortung der Frage würde zeigen, dass auch in diesen Fällen das Wasser nicht vollständig verschwindet bzw. aus dem Nichts entsteht, sondern in beiden Fällen bereits eine einfacher strukturierte Materie vorausgesetzt wird. Aus dieser materialen Grundlage wird Wasser hergestellt und in diese wird das Wasser wiederum aufgelöst. Eine differenzierte Darstellung des Problems erforderte eine genauere Unterscheidung von Materien und Formen, was den Rahmen dieses einführenden Kapitels sprengen würde. 10 Daneben unterscheiden Aristoteles und die ihm verpflichtete Tradition quantitative Bewe¬ gung im Sinne des Zu- und Abnehmens, qualitative sowie substantielle Veränderung, d. h. Werden und Vergehen (Aristot. phys. 200b32-201al6). Zur Unterscheidung dieser vier Arten der Bewe¬ gung im Hinblick auf die hier zitierte Passage vgl. Thierry, glos. vict. II 2-5. 11 Thierry, comm. trin. II 11. , „ , ... 12 Anhand des Vergleiches soll nur ein bestimmter Aspekt der Sache erhellt werden. Missver¬ ständlich ist er möglicherweise im Hinblick auf das Verhältnis zwischen der Form an sich, die getrennt von der Materie vorliegt (entspräche dem Holz vor dem Werfen ins Wasser) und der der Materie inhärenten Form (entspräche dem Holz im Wasser). Vom Vergleich ausgehend konnte man meinen, beides sei identisch und läge nur in zwei verschiedenen Semsweisen vor da das Holz ein und dasselbe bleibt - ob es nun für sich vorl.egt oder ms Wasser geworfen wird. In
er
i
von Boethius aufgegnffenen physikalischen Theorie wird allerdings zwischen den der Matene
28
I. Mathematik im System der Wissenschaften
die Gegenstände der Naturwissenschaft aufgrund ihrer Materiekomponente in Bewegung bzw. Veränderung, z. B. die Himmelskörper, deren Gestalt aber auch ohne Berücksichtigung der physikalischen Bewegung Gegen¬ stand einer Untersuchung sein kann. Die von der Materie des Wahrnehmbaren abstrahierten Formen des Ma¬ thematikers sowie die an sich von vornherein von dieser Materie getrennten Formen, denen sich der Theologe zuwendet, entbehren demnach der physi¬ kalischen Veränderung und sind somit »ohne Bewegung«. Aus der Differenzierung der drei Arten von Erkenntnisgegenständen resul¬ tiert laut Boethius die Unterscheidung der drei Erkenntnisweisen, die er den jeweiligen Wissenschaften zuschreibt. Die Charakterisierung der naturwis¬ senschaftlichen und theologischen Erkenntnisweise als rational und intel¬ lekthaft erinnert an die traditionelle platonische Einteilung der oberen See¬ lenvermögen in rationales Denken und intellektives Erkennen, lässt freilich gleich nach der Zuordnung der Mathematik zu einem Erkenntnisvermögen fragen.13 Denn dass ausgerechnet die Mathematik auf wissenschaftliche Weise Vorgehen soll und weshalb Boethius sie nicht als spezifisch rational vorgehende Wissenschaft bezeichnet, obwohl sie im Platonismus für die rationale Disziplin schlechthin gehalten wird,14 bedarf ebenso weiterer Er¬ läuterungen wie die gerade skizzierten Unterscheidungen überhaupt. Dieser Aufgabe widmet sich der folgende Abschnitt.
enthobenen Formen (formae immateriatae) und den der Materie immanenten Formen (formae participatae) unterschieden, wobei die erstgenannten Ursprung der letzteren sind (s. u. 1.2.7). 13 Vgl. Platons Liniengleichnis zur Unterscheidung zwischen ratio und Intellekt (pol. 509dl511e5). Erst bei einer genaueren Differenzierung zwischen rationalem Denken und Intellekter¬ kenntnis kann die mathematische Erkenntnis weise als mittlere zwischen beiden erwiesen werden. Sie gilt zwar als genuin rational. Insofern sie aber zwischen dem diskursiven, vielheitlichen Erfassen (ratio) und der extrem einheitlichen Erkenntnis (.intellectus im eigentlichen Sinn) vermit¬ telt, nimmt sie eine mittlere Position zwischen beiden Extremen ein. - Vgl. die wechselnde Termi¬ nologie bei Thierry v. Chartres: In Thierry, glos. trin. II 1-12, v. a. 6-8, wird zwischen ratio,
intelligentia sowie intellectibilitas bzw. inte lügihililas als spezifischen Erkenntnisweisen der Naturwissenschaft, der Mathematik sowie der Theologie unterschieden, in Thierry, lect. in trin. II 30 hingegen zwischen ratio, intellectus sowie intelligentia. Wie aus Thierrys Charakterisierung des mittleren Vermögens hervorgeht, vereint es in der Tat Aspekte beider benachbarten Erkennt¬ nisweisen, indem es einheitliches und diskursives Erfassen in bestimmter Weise verbindet. 14 Im Liniengleichnis bezeichnet Sokrates das Erkenntnisvermögen, welches sich den mathe¬ matischen Sachverhalten zuwendet, als rationales Denken (Dianoia; Plat. pol. 51 ld8—el). Wie im Lauf dieser Studie deutlich werden dürfte, gilt dies auch für die Musiktheorie als theoretische, mathematische Wissenschaft. Die vielbesprochene Debatte über das Verhältnis zwischen ratio und sensus (sowohl bei Boethius als auch in zahlreichen mittelalterlichen Traktaten) wird im Folgen¬ den nicht wieder aufgerollt (zum Verhältnis zwischen sensus und ratio s. u. Anhang 3). Stattdessen versucht das zweite Kapitel nachzuvollziehen, wie Boethius das System des Quadrivium rational und nicht aufgrund empirischer Erfahrungen herleitet, so dass sich der Vorrang der ratio vor der Wahrnehmung bereits aus dem Wissenschaftssystem ergibt.
2. Grundlagen der Wissenschaftssystematik
29
2. Zu den Grundlagen der Wissenschaftssystematik Die nachfolgende Behandlung einzelner Aspekte, deren Kenntnis für den Verlauf der weiteren Untersuchung essentiell ist, orientiert sich an den Ausführungen des Thomas von Aquin zur oben auf p. 24 zitierte Passage aus »De trinitate«.15 Thomas thematisiert im Vergleich zu anderen mittelal¬ terlichen Kommentatoren16 besonders strukturiert und ausführlich einige für den wissenschaftstheoretischen Kontext der Mathematik bei Boethius zen¬ trale Punkte und Fragen, weshalb er sich gleichsam als Stichwortgeber geradezu anbietet, auch wenn in der Forschung kein Konsens darüber herrscht, inwieweit er die Lehre des Boethius authentisch, modifizierend oder sogar verfälschend erläutert. Ob man so weit gehen sollte, mit R. McInemy zu behaupten, dass Thomas der beste Kommentator des Boethius gewesen sei, der dessen Aussagen in »De trinitate« bei seiner Auslegung in keiner Weise modifiziert habe, soll und kann hier nicht entschieden wer¬ den.17 Jedoch sind wesentliche Gemeinsamkeiten in den Lehren beider Denker festzustellen, was sich darauf zurückführen lässt, dass ihre Traktate auf einem weitestgehend gleichen christlichen, neuplatonisch gefärbten Aristoteles-Verständnis basieren.18
15 Expositio in trin. lect. II q. I und q. II a. 1; vgl. dazu Neumann, passim. 16 Der Kommentar von Johannes Scotus Eriugena (9. Jh.) war der bedeutendste bis ins 12. Jh., wie die über 20 Hss. der Opuscula Sacra des Boethius mit Glossen des Eriugena nahelegen. Von Bedeutung sind ferner die Kommentare des 12. Jahrhunderts von Gilbert v. Poitiers, Clarenbaldus v. Arras, Pseudo-Beda und Thierry v. Chartres, dem auch der Kommentar »Librum hunc« zuge¬ schrieben wird. In den wesentlichen Punkten vertreten die genannten Kommentatoren im Hinblick auf die Einteilung der theoretischen Wissenschaften keine voneinander abweichenden Positionen. Thomas erläutert diese besonders ausführlich, weshalb er im Folgenden zu ausgewählten Aspekten vorrangig herangezogen wird. . 17 Der minimale Anspruch von Mclnerny in seiner Monographie zum Verhältnis zwischen Thomas und Boethius (speziell hinsichtlich der Kommentare zu Boethius’ »De trinitate« und »De hebdomadibus«) besteht darin zu zeigen, dass es mit extremen sachlichen Schwierigkeiten ver¬ bunden ist zu leugnen, dass Thomas Boethius inhaltlich adäquat auslegt (XI). Seine Ausfuhrungen bestätigen diese These, so dass er im Epilog den Schluss ziehen kann: »ohne Thomas wäre Boethius stumm« (sine Thoma Boethius mutus esset) - eine Abwandlung des Ausspruches von Pico della Mirandola: »ohne Thomas wäre Aristoteles stumm« (sine Thoma Aristoteles mutus
esset). Aufgrund seiner Vergleiche mit anderen Kommentaren vertritt Mclnerny, XIV, sogar die Auffassung: »... the Thomistic commentaries on Boethius are without question the best commentaries ever written on the tractates«. 18 Eine eingehende Auseinandersetzung mit einzelnen Forschungsbeiträgen wird hier nicht vorgenommen, da das erste Kapitel lediglich in den für die weitere Studie relevanten Denkhorizont einführen soll. Probleme, die in der Forschung gesehen wurden, wie etwa die von Aertsen 311 318
aufgeworfenen Fragen, ob die quadrivialen Fächer propädeutisch sind oder laut Thomas
entsprechend der Einteilung in »De trinitate« als Teil der Philosophie gelten und worin die Unter¬ scheidung zwischen Philosophie und Theologie zu sehen ist, werden im Folgenden aber grundsätz¬ lich beantwortet.
30
I. Mathematik im System der Wissenschaften
Thomas von Aquin behandelt in seinem Traktat zu Boethius’ »De trinitate« im Hinblick auf den ersten Abschnitt der oben zitierten Stelle zunächst die Frage, ob die Einteilung der Wissenschaften in Naturwissenschaft, Mathematik und Theologie berechtigt ist, bevor er sich jeder der drei Diszi¬ plinen im Einzelnen zuwendet und erörtert, ob deren Erkenntnisgegenstand jeweils richtig bestimmt wurde (gesamte quaestio I mit vier Artikeln). Zum zweiten Abschnitt (ab »wird es nötig sein, sich folglich mit naturwissen¬ schaftlichen [sc. Sachverhalten] auf rationale Weise ...«) stellt er wiederum vier Fragen, die diesmal die Arten des Erkennens betreffen, darunter zu¬ nächst die Frage, ob die Zuordnung der Erkenntnismodi zu den einzelnen Wissenschaften zutreffend ist (quaestio II a. 1). Im Folgenden werden die von Thomas aufgeführten Aporien und Argu¬ mente weder vollständig noch in ihrer originalen Reihenfolge wiedergeben, sondern in Anlehnung an seine Ausführungen wird auf wesentliche Grund¬ pfeiler aufmerksam gemacht, auf denen das in 1.1. vorgestellte Wissen¬ schaftssystem und somit auch die Konzeption von Boethius’ Musiktheorie ruhen. Entsprechend dem einführenden Charakter dieses Kapitels sollen modernen Auffassungen besonders fernstehende Philosopheme doxographisch festgehalten und - wo erforderlich - näher erläutert werden.
2.1 Zur theoretischen Ausrichtung der Mathematik Thomas verdeutlicht die theoretische Ausrichtung der Mathematik durch deren Gegenüberstellung mit der Ethik und der Arztkunst, die beide offen¬ sichtlich auf eine praktische Tätigkeit zielen. Wie schon aus Platons »Politeia« hervorgeht, soll die Mathematik dem Aufstieg zur Erkenntnis der Idee des Guten und damit einhergehend der Abwendung vom wahrnehmbaren Irdischen dienen.19 Sie stellt einen Abschnitt des Weges dar, den ein ange¬ hender Philosoph zurücklegen muss, um als äußerlich sinnliches Wesen sein »Auge der Seele« wieder zu aktivieren, d. h. um mit dem besten Teil seiner Seele denkend eine Erkenntnis des Unkörperlichen erlangen zu kön¬ nen. In diesem Zusammenhang betont Sokrates gegenüber seinem Ge¬ sprächspartner Glaukon, dass die einzelnen mathematischen Fächer nicht um des praktischen Nutzens willen studiert werden sollen, sondern um der Erkenntnis dessen willen, was diesen Disziplinen als einendes Band sach¬ lich vorausgeht. Genau an diese Passage erinnert Nikomachos im Vorwort zur »Einführung in die Arithmetik«, was Boethius in seiner lateinischen Version verkürzt, aber unter Nennung des »Auges der Seele« wiedergibt.20
19 Plat. pol. 521cl-531e6. 20 Nikom. arithm. 1, 3 p. 8, 8 - 9, 4 und Boeth. arithm. 1, 1 p. 9, 26 - 10, 7; dazu s. u. 11.3.
2. Grundlagen der Wissenschaftssystematik
31
Eine Grundprämisse der Beschäftigung mit der neuplatonischen Mathe¬ matik und speziell mit Boethius’ Musiktheorie besteht deshalb darin, dieses Ziel der mathematischen Fächer zur Kenntnis zu nehmen und bei der Erfor¬ schung des Textes nicht aus den Augen zu verlieren. Arithmetik und Re¬ chenkunst (Logistik) dürfen also ebenso wie Musiktheorie und praktische Musiklehre nicht für identisch gehalten werden. Freilich kann die Kenntnis einer theoretischen Wissenschaft auch bei einer entsprechenden praktischen Tätigkeit hilfreich sein, etwa in der Musiktheorie die Kenntnis der Interval¬ le zum Singen. Aber die Musiktheorie als Teil des Quadrivium intendiert nicht primär, den Schüler zum guten Sänger auszubilden.21 Thierry von Chartres fasst die theoretische Ausrichtung der dreigeteilten philosophia, d. h. der Mathematik, der Naturwissenschaft und der Theologie, entspre¬ chend zusammen: Sie verheißt ausschließlich Wissen und Erkenntnis, auch wenn wir zuweilen mit ihrer Hilfe Kunst betreiben.22 In scheinbarem Widerspruch zur geforderten theoretischen Ausrichtung der Musiktheorie steht, dass im Laufe der musiktheoretischen Unterweisung Bezüge zur Praxis hergestellt werden. So behandelt Boethius in der Musik¬ schrift z. B. Notennamen, was selbst Aristoxenos, der von Boethius’ Tradi¬ tion immer wieder aufgrund seiner empirischen Vorgehensweise kritisiert und als Pseudo-Theoretiker eingeschätzt wurde, explizit ablehnt. Man muss sich daher fragen, inwiefern solche scheinbar vorrangig oder gar aus¬ schließlich für die Musizierpraxis nützlichen Ausführungen zugleich we¬ sentliche Bestandteile musikwissenschaftlicher Theorie bilden, die nicht um der Praxis willen betrieben werden soll. Die Lektüre von Boethius Musik¬ lehrbuch zeigt, dass der theoretische Duktus überwiegt: Alle fünf Bücher lassen sich verständig studieren, ohne auch nur einmal ein Instrument be¬ mühen zu müssen oder zu singen. Eine praktische Anlage weisen nui relativ wenige Kapitel auf, die darlegen, wie die untersuchten Zahlenverhältnisse anhand von Längenabmessungen am Monochord sinnlich dargestellt wer¬ den können.23 Die Behandlung von Notennamen rechtfertigt Boethius da¬ mit, dass sie als Verständnishilfe für den theoretischen Stoff dienen.-4 Inso-
21 Thierry, lect. in Irin. II 17 macht allerdings darauf aufmerksam, dass die praktisch ausge¬ richtete Kunst’durchaus einen Beitrag zur theoretischen Erkenntnis leisten kann, dies aber nicht primär intendiert. 22 Thierry, glos. trin. II 24. 23 Boeth. mus. 3, 9; 4, 5-13 und 4, 18. , .. 74 Boeth. mus. 1, 19 p. 205, 22-26: »Nachdem wir dieses so dargelegt haben, wollen wn ein wenig über die Saiten der Kithara und deren Namen sowie darüber, auf welche Weise sie zugefugt wurden, ausführen. Durch diese [sc. Ausführungen] nämlich wird es für diejenigen, die zum ers en Mal damit in Berührung kommen, leichter sein, das Folgende durch Wissen zu begreifen.« Es folgen mus. 1, 20-27, wo diese Ankündigungen umgesetzt werden. Weiterhin behandelt Boeth,us in mus 4
3f Notennamen, um die Kennzeichnung der Abmessungen auf dem Monochord zu
32
I. Mathematik im System der Wissenschaften
fern spricht der philologische Befund dafür, dass der wissenschaftliche Anspruch und die Umsetzung im Falle von Boethius’ »Musiktheorie« nicht auseinanderfallen, was freilich im Folgenden noch genauer behandelt wird. Unter der Voraussetzung, dass die Mathematik eine theoretische Wissen¬ schaft ist, muss - so Thomas in seinen Ausführungen - überlegt werden, ob die Dreiteilung in Naturwissenschaft (naturalis oder auch physica), Mathe¬ matik und Theologie (theologica oder auch prima philosophia bzw. metaphysica)25 Vollständigkeit aufweist. Er stellt die Frage, warum nicht auch die Uogik zu diesen gezählt wird. Dabei gibt er über die Unterscheidung zwischen theoretischer und praktischer Ausrichtung der Wissenschaften hinaus Aufschluss über die unterschiedliche Einbindung von Logik und Mathematik ins Wissenschaftssystem hinsichtlich ihrer Flilfsfunktion bzw. ihrer propädeutischen Rolle. Gemäß Thomas’ Einwand könnte auch die Logik als theoretisch ausge¬ richtet und damit als vierter Teil der theoretischen Wissenschaften angese¬ hen werden. Wie Boethius selbst im Kommentar zu Porphyrius’ »Eisagoge« anführt, besteht das Ziel der Logik nicht in einer bestimmten Handlung, wie es bei der Ethik oder beim handwerklichen und künstlerischen Hervor¬ bringen eines wahrnehmbaren Resultates der Fall ist, obwohl sie die Ethik beim Finden und Umsetzen dessen, was zur Glückseligkeit beiträgt, unter¬ stützt. Insofern hängt sie also mit der philosophia activa zwar zusammen, kann aber nicht als gänzlich praktisch angesehen werden, da sie auch mit der theoretischen Wissenschaft in einem wesentlichen Zusammenhang steht, indem sie Hilfsmittel (Unterscheidung von Gattung, Art etc.) zur Absicherung der Methode zur Verfügung stellt. Andererseits sind es aus¬ schließlich die theoretischen Wissenschaften, welche sich der Logik wid¬ men. Während Boethius im ersten Kommentar zu Porphyrius’ »Eisagoge« offenlässt, ob die Logik ein Teil der Philosophie oder lediglich ein Hilfsmit¬ tel ist, und sich im zweiten Kommentar für beide Optionen zugleich aus¬ spricht,26 betont Thomas die Funktion der Logik als Hilfsmittel (instrumentum, griech. öpyavov - Organon). Ein solches Hilfsmittel stellt die Mathe¬ matik hingegen nicht dar, weil sie eindeutig zu den theoretischen Wissenschaften zählt, zumal sie im Unterschied zur Logik einen eigenen Inhalt besitzt - laut Boethius die abstrahierten Formen bzw. deren Prinzipi¬ en.
erleichtern (mus. 4, 3 p. 308, 18-22); vgl. auch 4, 14 p. 341, lf. und 4, 15 p. 343, 1-5 (Übersicht über Saitennamen als Verständnishilfe). 25 Die Dreiteilung und die Differenzierung der spezifischen Erkenntnisgegenstände entspricht genau der in Aristot. metaph. 1025b 1-I026a32. 26 Vgl. Boeth. in Porph. pr. I 4 und sec. I 3.
2. Grundlagen der Wissenschaftssystematik
33
Die unterschiedliche Funktion von Logik und Mathematik kommt auch in deren Reihenfolge bei der Ausbildung zum Ausdruck. Da man ein In¬ strument erst beherrschen muss, bevor man es in einer anderen Wissen¬ schaft sachgerecht einsetzen kann, wird das Studium der Logik als Hilfs¬ wissenschaft in der platonischen Tradition zeitlich vor dem der eigentlichen Lehrinhalte angesetzt.27 Zusammen mit der Logik, die z. T. auch als Dialek¬ tik bezeichnet wird, bilden Grammatik und Rhetorik die drei Hilfswissen¬ schaften (trivium), deren Beherrschung beim Absolvieren höherer Studien vorausgesetzt wird. Diese zeitliche Vorordnung der trivialen Disziplinen im Lernprozess kehrt allerdings die sachliche Reihenfolge um: Das Trivium wurde den mathematischen Disziplinen des Quadrivium (Arithmetik, Geo¬ metrie, Musiktheorie, Astronomie) der Sache nach untergeordnet.28 Wenn die Mathematik nun keine Hilfswissenschaft nach Art der Logik ist, sondern die Erkenntnis der ihr eigenen Sachverhalte um ihrer selbst willen anstrebt, ergibt sich laut Thomas ein Problem, da die Mathematik gleichzeitig eine propädeutische Funktion erfüllen soll, nämlich als Vorbe¬ reitung auf philosophische und theologische Studien.29 Man müsste dem¬ nach davon ausgehen, dass sie in bestimmter Weise doch eine Hilfswissen27 Vgl. Aristot. eth. Nikom. 1142all-20 und 1.2.2. 28 S. u. I.2.3f.; vgl. das Gewand der »Philosophie« in Boeth. cons. 1, 1, 17-21 (Übersetzung Gigon): »An seinem untersten Rande las man eingewebt ein griechisches II, an seinem obersten aber ein 0. Und zwischen beiden Buchstaben schienen wie an einer Leiter etliche Stufen einge¬ zeichnet, die von dem unteren zum oberen Schriftzug emporstiegen.« (harum in extremo margine II Graecum, in supremo vero 0 legebatur intextum. atque in utrasque litteras in scalarum modutn gradus quidam insigniti videbantur, quibus ab inferiore ad superius elementum esset ascensus.) Diese Stufen symbolisieren wohl das Trivium und das Quadrivium, deren Absolvierung vom praktischen Leben (ßiog 7ipaKUKÖc; - Bios praktikos), für das das n steht, zum theoretischen (0) führen soll (ßio - panta homü); vgl. Thierry, glos. trin. II 6-8 (ratio im Unterschied zu intelligentia und intelligibilitas). 98 Boeth. cons. 3, 9 und 5, 4. 99 Boeth. in Porph. sec. II 3 p. 174, 17.
2. Grundlagen der Wissenschaftssystematik
59
meinter Definition »zweifüßiges rationales Lebewesen«).100 Die Rationalität begründet hierbei die Eigentümlichkeit der Art (species) im Unterschied zu Tieren, die ebenfalls der Gattung Lebewesen angehören. Im Hinblick auf die Naturwissenschaften stellt Thomas in seinem Traktat zu »De trinitate« fest, dass im Vergleich zu Mathematik und Theologie bei deren Erkenntnisweise der rationale Aspekt am stärksten ausgeprägt ist, da ihre Diskursivität am umfassendsten ausfällt. Das bedeutet, dass der Natur¬ wissenschaftler einen besonders breiten Ausschnitt aus dem Spektrum der menschlichen Erkenntnisvermögen zwischen Sinnlichkeit und Intellekt aktiviert. Am Anfang seines Erkenntnisweges stehen empirische Beobach¬ tungen. Nach vollzogener Abstraktion von der individuellen Materie eines Körpers schließt er rational auf dessen unmittelbare Prinzipien, die selbst nicht wahrnehmbar sind. Beispielsweise erforscht er aufgrund seiner Beob¬ achtungen des Wandels von Wasser zu Wasserdampf oder Eis die Prinzipi¬ en physikalischer Veränderung. Wenn er also von wahrnehmbaren Phäno¬ menen ausgeht, die selbst nicht identisch mit dem zu erkennenden Sachver¬ halt sind, bewegt er sich zwischen den Erkenntnisebenen Wahrnehmung, Vorstellung und rationales Denken. Im Bilde des platonischen Linien¬ gleichnisses gesprochen betätigt er drei seiner vier Erkenntnisvermögen. Nur der Intellekt als höchstes und viertes Vermögen kommt nicht unmittel¬ bar zum Einsatz. Auf dem Weg seiner Erkenntnis legt der Naturwissen¬ schaftler hinsichtlich seiner Erkenntnisvermögen also eine weite Strecke zurück. Da diese Erkenntnisbewegung vergleichsweise umfangreich ist, kommt ihm in besonderem Maße Diskursivität zu. Der Mathematiker hingegen ist stärker auf Vorstellung und rationales Denken beschränkt. Zwar können von wahrnehmbarer Materie abstrahierte Quantitäten seine Operationsgegenstände bilden. Aber primär ist der Ma¬ thematiker nicht wahmehmend, sondern vorstehend und rational tätig, da er seine Ergebnisse im Unterschied zum Naturwissenschaftler nicht wieder mit den jeweiligen wahrnehmbaren Phänomenen in Beziehung setzt. Au¬ ßerdem wendet er sich Quantitäten zu, die selbst nicht sichtbar, dafür aber Voraussetzung der Wahrnehmbarkeit von Körpern sind, da ein Körper zunächst dreidimensional in einer bestimmten Größe ausgedehnt sein muss, um dann Farben usw. aufnehmen zu können.101 Der Theologe denkt aus-
100 Boeth. cons. 5,4, 103-105. . , 101 Quantität an Körpern ist die Voraussetzung dafür, dass diese überhaupt wahrgenommen werden können, wie Thomas genauer im Hinblick auf die Abstraktionsleistung des Mathematikers erläutert Farbe und Gestalt können weder an einem eindimensionalen Punkt vorliegen noch an zweidimensionalen Flächen, da diesen die dritte Dimension fehlt, auf die eine Farbe aufgetragen werden könnte. Wenn der Mathematiker also Quantitäten von wahrnehmbaren Körpern abstra¬ hiert, nimmt er gedanklich die Basis der Wahrnehmbarkeit des Körpers weg, die für sich selbst genommen ebenfalls nicht wahrnehmbar ist.
60
I. Mathematik im System der Wissenschaften
schließlich rational und aktiviert beim wissenschaftlichen Erkennen laut Thomas keinesfalls seine Wahrnehmung und Vorstellung (s. u. 1.2.9.3). Die Anzahl der Erkenntnisvermögen, die in den drei Wissenschaften an¬ gewendet werden, nimmt demnach von der Naturwissenschaft über die Mathematik hin zur Theologie ab. Die Nutzung von Wahrnehmung und Vorstellung in den Naturwissenschaften schränkt deren Wissenschaftlich¬ keit gemäß Thomas’ Ausführungen nicht notwendig ein, da auch in der Naturwissenschaft nach der Abstraktion von der individuellen Materie auf rationale Weise allgemeine Erkenntnisse gewonnen werden und der Natur¬ wissenschaftler nicht bei der Betrachtung der Einzeldinge verharrt. In die¬ sem Sinne kann Boethius der Naturwissenschaft ein rationales Vorgehen bescheinigen. Ihr kommt dieser Erkenntnismodus zwar nicht als einziger Wissenschaft zu, aber doch aufgrund der relativ umfangreichen Erkenntnis¬ bewegung im Spektrum der verschiedenen Erkenntnisvermögen in besonde¬ rer Weise. 2.9.2 Wissenschaftliches Erkennen und Mathematik Wie Thomas erklärt, kommt der Mathematik die Wissen schaffende Er¬ kenntnisweise (disciplinaliter - wörtl.: »in geistig aufnehmender« bzw. »wissenschaftlicher Weise«) gegenüber Naturwissenschaft und Theologie vorrangig zu, da in ihr im eigentlichen Sinne gelernt (discere) und sichere Kenntnis erlangt wird, auf der das entsprechende Wissen (scientia) be¬ ruht.102 Genau diesen Aspekt des Lernens und Erwerbens von Wissen drückt auch das Wort »Mathematik« aus. Im Griechischen heißt »lernen« pavOavco (manthanö), »Lernfach«, »Lern- oder Erkenntnisgegenstand« und »Wissen¬ schaft« pd0r|pa (Mathema) und »Unterricht« pä9r|oiq (Mathesis). Mathema¬ tik meint demnach so etwas wie Wissenschaft vom Lernen bzw. vom Lemgegenstand. Die Mathematik umfasst laut platonischer Tradition den Lemgegenstand schlechthin.103 Er »zieht die Seele vom Gewordenen hin zum Seienden«, weshalb Platon sein Studium für unumgänglich hält, bevor richtig philosophiert werden kann.104
102 Disciplina (»Unterricht, »Wissen«, »Wissenschaft«, »Erziehung«) und discipulus (»Schü¬ ler«) sind Nomina zu discipere (»geistig aufnehmen«), nicht zu discere (»lernen«). - Clarenbaldus v. Arras (12. Jh.) führt in seinem Kommentar zu Boethius' »De trinitate« (28*, 10-25) die Erklä¬ rungen seiner Lehrer an, dass die Mathematik doctrinalis (»unterweisend«) bzw. disciplinalis (»durch Unterweisung empfangend«) genannt wird, da ihre Sachverhalte im Unterricht nicht durch Abstraktion, sondern als doctrina (»Lehre«) von den Lehrern vermittelt werden. Eine andere Ei kläi ungsmöglichkeit bestehe darin zu sagen, dass Menschen zwar mit dem rationalen Denken begabt sind und deshalb gut und schlecht, wahr und falsch etc. unterscheiden, aber ohne mathema¬ tische Unterweisung kein Wissen erwerben können. 103 S. u. II.2-4. 104 Plat. pol. 521c 1—531 e6 (Entwurf der mathematischen Studien); ebd. 521d3f.: pd0r|pa v|/uyf|L> 20:19
Differenz zwischen sechs Ganz¬ tönen und einer Oktave bzw. zwischen großem und kleinem Halbton
74:73 >K >75:74
Im Anschluss an die Eingrenzung der Größe des Kommas und des kleinen Halbtones (letzte Spalte in der Tabelle) vergleicht Boethius beide miteinan¬ der (mus. 3, 14), dann den großen Halbton mit dem Ganzton (mus. 3, 15) und schließlich den Ganzton mit dem Komma und den großen mit dem kleinen Halbton (mus. 3, 16). Diese Berechnungen werden von Boethius als kinderleicht bezeichnet.Angesichts der großen Zahlen und des enthalte¬ nen mathematischen Fehlers wirkt diese Ankündigung unpassend.
3. Boethius’ »Fehler« in mus. 3, 14-16
225
Im Folgenden soll die Vorgehensweise in mus. 3, 14 nachvollzogen wer¬ den. In cap. 15 und 16 wird von Boethius analog verfahren, so dass die nun vorgetragenen Überlegungen entsprechend auf die beiden Kapitel anwend¬ bar sind. Beim Vergleich zwischen Komma (C:D) und kleinem Halbton (F:C) benutzt Boethius für den kleinen Halbton ein erweitertes Zahlenver¬ hältnis, so dass beide Zahlenverhältnisse einen gemeinsamen Term haben (C). Sie bilden also ein zusammenhängendes Verhältnis bzw. Intervall (F:C:D), einen großen Halbton (F:D). Ferner gibt er den einzelnen Termen zur einfacheren Erkennbarkeit Buchstaben: Das Verhältnis F:C = 497'664:524'288 konstituiert einen kleinen Halbton, das Verhältnis C:D = 524'288:531'441 ein Komma. Die Differenz zwischen F und C beträgt 26'624 (= M), die zwischen C und D 7 153 (= K). M ist größer als dreimal K und kleiner als viermal K. Daraus zieht Boethius den mathematisch unberechtigten, aber sachlich richtigen Schluss, dass der kleine Halbton größer als drei und kleiner als vier Kommata ist. Unberechtigt ist dieser Schluss, da man Zahlenverhältnis¬ se nicht miteinander vergleichen kann, indem man die Differenzen ihrer Terme ins Verhältnis setzt.221 Um den Sachverhalt zu erläutern, seien zwei einfache eigene Beispiele angeführt: In der Reihe 2-3-4 ist die Differenz zwischen allen Termen eine Einheit. Dennoch wäre es falsch zu sagen, dass die Verhältnisse 2:3 und 3:4 gleich sind, weil ihre Differenzen gleich sind, denn anderthalb ist größer als eineinviertel. Ebenso bei 4-8-9, wo die Diffe¬ renzen 4 und 1 betragen, aber dennoch das Verhältnis 8:4 (Oktave) nicht viermal größer ist als 9:8 (Ganzton). Vier Ganztöne füllen keine Oktave aus, da diese aus fünf Ganztönen und zwei kleinen Halbtönen besteht. Anhand derselben Methode222 kommt Boethius in cap. 15 zu dem wie¬ derum sachlich richtigen Ergebnis, dass der große Halbton (Apotome) grö¬ ßer ist als vier Kommata und kleiner als fünf. Da Apotome und kleiner Halbton zusammen einen Ganzton ergeben, fügt er auf Grundlage der gera¬ de gewonnenen Ergebnisse hinzu, dass ein Ganzton größer ist als acht Kommata und kleiner als neun. Diese Schlussfolgerung scheint auf den ersten Blick nicht mit Notwendigkeit gezogen werden zu können. Denn wenn ein kleiner Halbton größer als drei Kommata und eine Apotome grö-
220 Den Nachweis leitet Boethius mit den Worten ein: »was man auf folgende Weise ganz leicht erkennen kann« (mus. 3, 14 p, 293, 14: quod hinc facillime possis agnoscere). 221 Barbera, Error, 31, verwendet Boethius’ Methode und führt sie ad absurdum: Eine Quinte wäre größer als zwei Ganztöne, aber kleiner als drei, obwohl sie aus drei Ganztönen und einem kleinen Halbton besteht. 222 Boeth. mus. 3, 15 p. 295, 23: eadem hac ratione.
226
III. »De institutione musica«
ßer als vier Kommata ist, könnte ein Ganzton auch größer als sieben Kom¬ mata und kleiner als acht sein, da die Addition von kleinem Halbton (klei¬ ner als vier Kommata) und Apotome (kleiner als fünf Kommata) nicht notwendig über acht Kommata hinausgeht. Eine wiederum absurde Berech¬ nung in cap. 16 begründet Boethius’ Ergebnis. Wie Barbera zu Recht kom¬ mentiert, verblüfft Boethius seinen Leser ein drittes Mal mit einem richti¬ gen Ergebnis trotz derselben falschen Methode.223 A. Barbera hält es für unwahrscheinlich, dass Boethius zufällig auf diese richtigen Ergebnisse stieß und schlägt vor, dass sie durch empirische Expe¬ rimente ermittelt wurden und Boethius anschließend versucht hat, eine rationale Erklärung zu finden. Da im vierten Buch das Monochord (und bei Ptolemaios das Polychord) als Instrument belegt ist und Boethius - bei aller Kritik an Aristoxenos - in mus. 3, 9 die gleiche Methode zur praktischen Findung kleiner Intervalle verwendet wie sein Kollege der empirischen Strömung, entwirft Barbera eine analog vorgehende Anleitung zur prakti¬ schen Demonstration des fraglichen Sachverhaltes. Diese ist dem intendier¬ ten Beweisziel entsprechend kompliziert und umfangreich.224 Die Frage nach dem Grund für die nachträglichen numerischen Beweis¬ führungen in mus. 3, 16, die Boethius im Anschluss an seine empirischen Untersuchungen durchgeführt habe, beantwortet Barbera mit der pythago¬ reischen Auffassung, dass Zahlen eine höhere Wahrheit besitzen und realer sind als ihre wahrnehmbaren Abbildungen und Instanzen. Da Zahlenver¬ hältnisse nun einmal als Gegenstand der Musik galten, musste sich Boethius im Rahmen der »Musiktheorie« den Zahlen zuwenden. So formuliert Bar¬ bera am Ende des Aufsatzes seinen Schluss:225 Although his method of representing the stacking of commas differed in no way from the Aristoxenian method of counting up quarter tones, Boethius seems to have been satisfied by the apparent numerical verfication of what he could hear.
Diese These von der nachträglichen Verifizierung empirischer Beobachtun¬ gen durch Berechnungen ist m. E. aus zwei Gründen weder zwingend noch wahrscheinlich. Erstens zeigt eine Lektüre eindeutig, dass Boethius an keiner Stelle zuvor gemachte empirische Beobachtungen mathematisch zu verifizieren sucht, sondern gemäß seinem Verständnis von Musiktheorie genau umgekehrt Zahlenverhältnisse untersucht, die für erklingende musi¬ kalische Intervalle konstitutiv sind. Denn sogar im Falle der Undezime (Intervall bestehend aus Oktave und Quarte mit dem Zahlenverhältnis 8:3) argumentiert Boethius rein rational, indem er zeigt, dass das Verhältnis 8:3
223 Barbera, Error, 33. 224 Ebd. 33-36. 225 Ebd. 41.
3. Boethius’ »Fehler« in mus. 3, 14—16
227
nicht konsonant ist, da es sich weder um ein vielfaches noch um ein epimores Verhältnis handelt, sondern um ein vielfachepimeres, was relativ stark von der Relation der Gleichheit abweicht. Ginge Boethius hier wie von Barbera vorgeschlagen vor, müsste er bemüht sein, den angenehmen Hör¬ eindruck, demzufolge die Undezime eindeutig als Konsonanz zu bewerten wäre, rational-mathematisch zu rechtfertigen. Das tut er aber nicht.226 Falls Barbera mit seiner These keine allgemeine Aussage zu Boethius’ Methode im gesamten Musiklehrbuch treffen wollte (er äußert sich nicht dazu, ob die Vorgehensweise in mus. 3, 14-16 auch für den Rest der Schrift relevant ist), gilt nur das folgende zweite Argument: Ein Leser des Lehrbu¬ ches, der vor mus. 3, 14-16 die Kapitel 3, 12f. studiert hat (wovon man wohl ausgehen sollte), kann in der Tat leicht selbständig denkend erfassen, dass ein kleiner Halbton größer als drei Kommata und kleiner als vier, dass die Apotome größer als vier Kommata und kleiner als fünf ist und auch dass der Ganzton größer als acht Kommata und kleiner als neun ist. Denn in mus. 3, 12 wurde behandelt, dass das Komma (bzw. sein Zahlenverhältnis) größer als 75:74 und kleiner als 74:73 ist. Aus mus. 3, 13 weiß der Musik¬ student, dass der kleine Halbton größer als 20:19 und kleiner als \9Vr.\%V2 ist. Soll nun bestimmt werden, wie viele Kommata einen Halbton schaffen, besteht die zu bewältigende Anforderung nur darin, diese Verhältnisse miteinander zu vergleichen. Macht man es sich ganz leicht, dann fragt man sich, wie oft die 19 die 74 auffüllt und kommt zu dem Ergebnis: mehr als dreimal, sogar mehr als dreieinhalbmal (3 • 19 = 57; 4 ■ 19 = 76; addiere ich zu 57 noch die Hälfte von 19, dann erhalte ich nur 66,5). Damit steht das Ergebnis von cap. 14 schon fest: Ein kleiner Halbton ist größer als drei Kommata und kleiner als vier. Und genauer: Ein kleiner Halbton ist größer als dreieinhalb Kommata und kleiner als vier. Dieses Ergebnis kann problemlos und ohne Experimente am Mono- oder Polychord ermittelt werden. Jetzt soll die Apotome mit dem Komma vergli¬ chen werden. Da eine Apotome ein kleiner Halbton plus ein Komma ist, muss auf Grundlage des Ergebnisses von cap. 14 die Apotome größer als viereinhalb Kommata und kleiner als fünf sein - es wird nur ein Komma addiert. Dass ferner ein Ganzton nicht größer als sieben Kommata, sondern als acht Kommata ist, ergibt sich zwangsläufig aus der groben Berechnung, dass mehr als dreieinhalb Kommata einen kleinen Halbton auffüllen: Ein kleiner Halbton (mehr als dreieinhalb Kommata) und eine Apotome (mehr als viereinhalb Kommata) sind zusammen ein Ganzton, der größer ist als acht Kommata.
226 Zum Ausschluss der Undezime aus den konsonanten Intervallen s. u. III.4.
228
III. »De institutione musica«
So betrachtet erfüllen die Kapitel 12f. im letzten Abschnitt des dritten Buches eine weitergehende Funktion als lediglich die Einordnung der bei¬ den komplizierteren Zahlenverhältnisse durch einen Vergleich mit leichter fassbaren Zahlenverhältnissen. Eingeräumt werden muss freilich, dass die eben vorgetragene einfache Lösung nicht in Boethius’ Schrift entwickelt wird. Auf alle Fälle scheint es mir nicht plausibel zu sein, dass die Ergeb¬ nisse von Boethius bzw. dem Autor seiner Quelle zuerst empirisch erzielt und nachträglich mathematisch verifiziert wurden. Dass eine praktische Demonstration dieser Erkenntnisse zum Zwecke der Anschauung in der von Barbera vorgeschlagenen Weise möglich war, ist damit nicht in Frage ge¬ stellt; mus. 3, 9 und die Behandlung der Monochordeinteilungen im vierten Buch sprechen dafür. Wie kann man das Phänomen, dass Boethius in den genannten Kapiteln seine sonst übliche und angemessene Berechnungsmethode nicht verwen¬ det, aber richtige Ergebnisse erzielt, bewerten? Grundsätzlich bestehen die beiden Möglichkeiten, dass der methodische Fehler unbewusst oder be¬ wusst gemacht wurde. Im ersten Falle ist nicht auszuschließen, dass sich die Inkonsistenz schon in Boethius’ Quelle befand oder dass er sie fehlerhaft übertragen hat.227 Andererseits fällt auf, dass Boethius mit der von ihm angewendeten Me¬ thode eine relativ einfache und zu einem richtigen Ergebnis führende ma¬ thematische Darstellung wählt. Eine mathematisch exakte Berechnung der Verhältnisse (und nicht der Differenzen) der Zahlenverhältnisse kleiner Intervalle würde zu schwer überschaubaren Verhältnissen mit riesigen Termen führen. Allein das Verhältnis von drei Kommata wäre 150 09012:144' 11012! Zwar wurden relativ differenzierte Kanoneinteilungen vorgenommen, z. B. die Teilung bei Theon von Smyrna in 10 368 Einhei¬ ten.228 Aber eine Teilung auf der Basis 17- und mehrstelliger Zahlen ist dennoch unrealistisch. So ist zumindest zu erwägen, ob nicht der methodi¬ sche Schnitzer zur Schonung der Leser bewusst in Kauf genommen wurde, zumal er der Richtigkeit des Ergebnisses keinen Abbruch tut und es sich nur um ein einführendes und kein weiterführendes Lehrbuch handelt. Ein weiteres Indiz spricht dafür, dass Boethius den Fehler bewusst mach¬ te: Seinen Formulierungen ist zu entnehmen, dass er sich des Unterschiedes zwischen Differenz und Zahlenverhältnis durchaus bewusst ist. Denn wie es mehrfach heißt, stellt 7'153 die Differenz zwischen den beiden Termen des Zahlenverhältnisses des Kommas und somit eine Zahl dar. Außerdem erin¬ nert Boethius in den fraglichen Kapiteln im Falle anderer Intervalle mehr-
227 Zu den Quellen von Boeth. mus. Bower, Sources, passim, und s. o. II. 1.1.1. 228 Theo Sm. 93, 4.
3. Boethius’ »Fehler« in mus. 3, 14-16
229
fach daran, dass er hier mit Differenzen arbeitet.229 Das Komma wird »in 7*153 Einheiten als den kleinsten [sc. Zahlen] aufgefunden«.230 Die Diffe¬ renz fungiert anscheinend als leicht verständlicher Ersatz bzw. als Zeichen tür das Zahlenverhältnis des Kommas, wie zwei Formulierungen nahelegen: »... die Summe 7 153, die vorhin das Verhältnis des Kommas einnahm« und »aber diese Zahl [sc. 7'153] zeigte vorhin das Komma an«.231 Auch vor dem in 1.2.2, 2.4 und III.2.1 erörterten erkenntnistheoretischen Hintergrund, der einen allmählichen Aufstieg zur wahren Erkenntnis vor¬ sieht und Phasen des richtigen Meinens einschließt, ist es durchaus denkbar, dass Boethius den Rechenfehler absichtlich in Kauf nahm. Mit den Kapiteln mus. 3, 14—16 beabsichtigt er nämlich nicht primär, dem Leser seiner Schrift einen korrekten Lösungsweg einer komplizierten Rechenaufgabe zu vermitteln, sondern den Empiriker Aristoxenos zu widerlegen und somit die Richtigkeit seiner eigenen rationalen Richtung der Musiktheorie unter Be¬ weis zu stellen: Er möchte demonstrieren, dass ein kleiner Halbton zwi¬ schen drei und vier Kommata enthält, der große Halbton zwischen vier und fünf, ein Ganzton zwischen acht und neun und somit ein Ganzton aus zwei kleinen Halbtönen und einem Komma besteht und deshalb nicht in zwei gleiche Hälften geteilt werden kann. Dieses Ziel erreicht er am Ende von mus. 3, 16. Leider bieten weder der Text noch die Glossen einen expliziten Anhalts¬ punkt zur Lösung des Problems. Angesichts der genannten Gründe ist aber nicht auszuschließen, dass Boethius einen bewussten Fehler beging. Ge¬ zeigt werden konnte jedenfalls, dass er nicht nachträglich ein empirisches Phänomen mathematisch absichem wollte. Geht man - anders als Barbera von einer von vornherein rationalen Erörterung aus, wird die Funktion der Kapitel mus. 3, 12f. im Argumentationsgang des dritten Buches von Boethius’ Musiktraktat begreiflich.
229 Boeth. mus. 3, 12 p. 288, 21; 3, 14 p. 293, 22f. und p. 294, 27f.; 3, 15 p. 296, 1 lf. und 3, 16 p. 299, 17f. 230 Boeth. mus. 3, 4 p. 275, 24; vgl. 3, 7 p. 278, 8f. 231 Boeth. mus. 3, 4 p. 275, 13f.: quae dudum commatis proportionem tenebat und 3, 16 p. 299, 1: sed hie numerus dudum comma monstrabat.
III. »De institutione musica«
230
4. Zur Beschränkung auf 1-2-3-4 (Tetraktys) Boethius fasste in platonisch-pythagoreischer Tradition fünf Intervalle als konsonante Intervalle auf und hielt deren fünf Zahlenverhältnisse für die herausragenden: Oktave (2:1), Duodezime (bestehend aus Oktave und Quinte, 3:1), Doppeloktave (4:1), Quinte (3:2) und Quarte (4:3). Die Unde¬ zime (bestehend aus Oktave und Quarte im Verhältnis 8:3) hielten die Pythagoreer trotz des angenehmen Höreindruckes nicht für konsonant, da ihr Zahlenverhältnis nicht wie die der konsonanten Intervalle unter die epimoren und vielfachen Verhältnisse, sondern mit 8:3 unter die vielfachepimeren fällt.232 Wie Boethius in mus. 5, 7 sagt, wurde all dieses bereits in den Lehr¬ büchern zur Arithmetik und Musik behandelt.233 Bis auf die Bewertung der Undezime als Konsonanz weicht Ptolemaios nicht von der in den ersten vier Büchern der »Musiktheorie« des Boethius vermittelten Lehre ab. Aus mus. 5, 8-10 geht hervor, dass Ptolemaios die Pythagoreer für ihre Lehre kritisierte, da sie die Phänomene nicht beachtet. Er moniert konkret, dass die Pythagoreer nur bestimmte epimore und viel¬ fache Zahlenverhältnisse den Konsonanzen zuschreiben und nicht etwa auch 5:4 oder 5:1 gelten lassen.234 Damit ist die Frage nach der Beschrän¬ kung auf die Zahlen 1 bis 4 als Terme der Zahlenverhältnisse konsonanter Intervalle aufgeworfen. Die Aufnahme der Undezime unter die Konsonanzen begründet Ptole¬ maios damit, dass die Oktave wie eine einzige Saite klingt, d. h. in unserem heutigen Sinne unison ist,235 und eine Addition eines konsonanten Intervalls wiederum ein konsonantes Intervall ergibt.236 Die unisone Oktave lasse sich mit der Zehnzahl vergleichen: Wenn zur Oktave ein konsonantes Intervall addiert wird, ändere sich ihre Beschaffenheit nicht, d. h. sie klinge nach wie vor wie ein einziger Ton, so dass der Höreindruck einer Duodezime und einer Quinte gleich sei, genauso wie wenn zur 10 eine in ihr enthaltene Zahl addiert wird, z. B. 10 und 2. Denn auch dabei bleiben beide Summanden als solche erhalten. Deshalb sei auch die Undezime trotz ihres vielfachepime¬ ren Zahlenverhältnisses konsonant.
232 Boeth. mus. 2, 27. 233 Boeth. mus. 5, 7 p. 357, 29 - 358, 10 mit Verweis auf arithm. sowie auf das zweite und das vierte Buch von mus., wo ausgeführt wurde, was das Vielfachepimere ist, und dass die Pythago¬ reer die Konsonanzen ausschließlich mit den vielfachen und epimoren Verhältnissen in Verbin¬ dung bringen; vgl. mus. 2, 18-27; 4, 2, ferner 1, 4-7; 1, 29 und 1, 32. Die Verhältnisarten und speziell das Viefachepimere werden in arithm. 1, 31 und mus. 2, 4 behandelt. 234 Ptol. harm. I 6. 235 S. o. 171 Anm. 39. 236 Boeth. mus. 5, 9; für Ptolemaios’ eigene Argumentation vgl. Ptol. harm. I 6.
4. Beschränkung auf 1-2-3-4 (Tetraktys)
231
Fraglich und entscheidend ist bei dieser Argumentation, ob die Bestand¬ teile der Undezime tatsächlich erhalten bleiben oder nicht. Auch wenn Oktave und Quinte als Teile der Undezime wiedererkannt werden können, müssen sie ihre Beschaffenheit bei der Synthese nicht notwendig bewahren. Das zeigt etwa die Zusammensetzung zweier konsonanter Quarten, die eine eindeutig nicht konsonante kleine Septime ergeben oder auch die Addition zweier extrem dissonanter Tritoni, die zum konsonantesten aller Intervalle, nämlich zur Bildung einer Oktave führt. Nicht nur Ptolemaios, sondern auch einem modernen Leser mag es be¬ gründungsbedürftig erscheinen, warum z. B. nicht auch das epimore Ver¬ hältnis 5:4 - welches uns heute als Verhältnis der großen Terz gilt, die wir für konsonant halten - zu den »schönen« Zahlenverhältnissen gezählt wur¬ de.237 Im Folgenden wird versucht, eine Begründung aus Boethius’ Perspek¬ tive zu rekonstruieren. Dabei muss nicht gezeigt werden, warum die Kon¬ sonanzen von den Pythagoreern auf die vielfachen und epimoren Verhält¬ nisse beschränkt wurden, da dies - unter Voraussetzung der Grundlagen der neuplatonischen Mathematikkonzeption - in Boeth. arithm. 1, 32 - 2, 1 bereits geleistet wurde.238 An dieser Stelle sei nur daran erinnert, dass die vielfachen und epimoren Zahlenverhältnisse die beiden einfachsten Abwei¬ chungen vom Verhältnis der Gleichheit darstellen. Bei beiden machen näm¬ lich ausgehend von der Gleichheit zum ersten Mal die beiden Grundkonstituentien von Zahl, d. h. Ganzes und Teil, den Vergleich aus: Beim Vielfa¬ chen enthält die größere Zahl die kleinere mindestens zweimal als Ganze in sich und keinen Teil von ihr, z. B. bei 4:1 oder 12:6. Beim Epimoren hinge¬ gen enthält die größere Zahl die kleinere einmal als Ganze in sich und dazu noch einen einzigen Teil von ihr; z. B. enthält bei 4:3 die 4 einmal die 3 als Ganze und dazu noch einmal ein Drittel von ihr. Beim Epimeren (und den anderen Verhältnisarten) dagegen werden diese beiden Grundmöglichkei¬ ten, dass Ganzes und Teil das Verhältnis zwischen zwei Zahlen konstituiert, nur in komplexerer und somit komplizierterer Weise weiter verwendet. Dort hat die größere Zahl die kleinere einmal als Ganze in sich und dazu noch mehr als einen Teil von ihr; z. B. hat bei 15:9 die 15 einmal die 9 in sich und dazu noch zwei Drittel von ihr. Noch komplizierter wird die Bil¬ dung eines vielfachepimeren Verhältnisses, wie das der fraglichen Undezi¬ me mit dem Zahlenverhältnis 8:3, wo die 8 die 3 zweimal als Ganze und zwei Drittel von ihr in sich hat. 237 Burkert, 362 mit Anm. 71, kritisiert die Beschränkung auf die epimoren Verhältnisse (die vielfachen erwähnt er überhaupt nicht) und meint, dass ihre Bevorzugung a priori nicht einzusehen ist und die Undezime die »Willkürlichkeit der Festsetzung« zeigt. 238 Vgl. die Darstellung dieser Kapitel bei Radke, 393-407, im Hinblick auf Nikomachos und ihre Übersicht über die Anleitung zur Synthese aller Arten und Gattungen von UngleichheitsVer¬ hältnissen aus dem Verhältnis der Gleichheit in ihrer geordneten Reihenfolge.
232
III. »De institutione musica«
Zu untersuchen ist demnach folgende Frage: Warum hält Boethius aus¬ schließlich diejenigen Zahlenverhältnisse, die durch die Terme 1, 2, 3 und 4 gebildet werden, für Zahlenverhältnisse der konsonanten Intervalle? Wie schon bei der Begründung der Vorrangstellung der Verhältnisarten Vielfa¬ che und Epimore ist eine Antwort auf die Frage im Rahmen der Arithmetik zu suchen, handelt es sich doch um eine Begründung der Zahlenhierarchie und dabei speziell um den Einschnitt nach der Vier.
4.1 Forschungsansätze Wenn in der Forschung überhaupt Erklärungen für die Beschränkung auf die vier ersten Zahlen (sog. Tetraktys) gesucht werden und sie nicht für eine unbegründete Prämisse gehalten wird, dann sammelt man i. d. R. Hinweise auf die besondere Bedeutung der Vierzahl in der pythagoreisch¬ platonischen Tradition. Exemplarisch sei ein Aufsatz von A. Barbera auf¬ gegriffen.239 Zunächst führt Barbera den berühmten Schwur der Pythagoreer an: »Bei dem, der die Tetraktys unserer Weisheit fand, welche [sc. die Tetraktys] die Quelle und Wurzel der immerfließenden Natur innehat«240 bzw. »Bei dem¬ jenigen, der unserem Geschlecht die Tetraktys übergeben hat, welche die Quelle und Wurzel der immerfließenden Natur innehat«.241 Aus der Vereh¬ rung der Tetraktys als Prinzip der wahrnehmbaren Schöpfung wird ihr hoher Rang erkennbar. Diese Prinzipienfunktion verdeutlicht auch die Analogie zwischen dem Heraustreten der Einheit bis hin zur Vierheit und der Hierarchie der menschlichen Erkenntnisvermögen, wie aus Aristoteles’ »Über die Seele« hervorgeht.242 Dort zitiert Aristoteles Platons Vortrag oder Schrift »Über die Philosophie«, wo folgende Zuordnungen vorgenommen werden: das Eine und der Intellekt, das rational erworbene Wissen und die Zwei, die Dreiheit
239 Consonant Eleventh, v. a. 197-200. Ähnlich geht Burkert, 63-65 und 170-172, vor, der freilich eine vornehmlich historische Untersuchung vornimmt; vgl. auch Moutsopoulos, 172f., und Paul, Übersetzung, 22lf. -40 Dieser Schwur findet sich u. a. bei Iambl. vita Pyth. 28, 150: oü, pd töv dpexepa^ ootpiag ebpövxa xsxpcucxüv, mv/tiv devctou (pfoccoc pi^copax’ cyououv. 241 Ebd. 29, 162: oü, pd xöv dpexspp yevea ttapadövxa xexpaicxüv, jiaydv devdou cpüoecot; ptfcbpax eyouoav; vgl. Macr. somn. I 6, 41: »Bei dem, der unserer Seele die Vierzahl übergab.« Ein weiteres Indiz dafür, dass die Tetraktys bei der Konstitution seelischen, menschlichen Lebens eine entscheidende Rolle spielt, ist das Orakel in Delphi, das Jamblich als Tetraktys - als die Harmonie, in der die Sirenen singen - bezeichnet. Laut Barbera, Consonant Eleventh, 197, sind die Sirenen aus dem Er-Mythos gemeint, die laut Platon einen bestimmten Anteil bei der Lebens¬ wahl einer Seele haben. 242 Aristot. an. 404b 18-27.
4. Beschränkung auf 1-2-3-4 (Tetraktys)
233
und die Meinung sowie die Vierheit und die Wahrnehmung. Während im zuvor genannten Schwur alle vier Zahlen unterschiedslos als wesentliche Voraussetzungen des wahrnehmbaren Kosmos verehrt werden, erfolgt hier innerhalb der Tetraktys eine Differenzierung analog der Hierarchie der Erkenntnisvermögen. Im aristotelischen Text ist allerdings nicht von der Drei und der Vier, sondern von den aus diesen hervorgehenden Flächen- und Körperzahlen die Rede, was uns - mit Barbera - zu einem weiteren Indiz für die besondere Bedeutung der Tetraktys führt. Die Entfaltung der Zahlen in der geordneten natürlichen Reihe, ausgehend von der Einheit bis hin zur Vierheit, wird in der pythagoreisch-platonischen Tradition als Voraussetzung für die Konsti¬ tution der drei Dimensionen aufgefasst: Wenn man den Sachverhalt »Ein¬ heit« in der Vorstellung abbildet, wird er als ausdehnungsloser Punkt darge¬ stellt. Ebenso ist ohne die Zwei keine Linie denkbar, wenn denn die Linie die kürzeste Verbindung zwischen zwei voneinander verschiedenen Punk¬ ten sein soll. Eine Fläche mit Länge und Breite zu denken gelingt erst, wenn ein weiterer Unterschied zu der Zwei hinzugedacht wird, wenn also in der Vorstellung die Eindimensionalität überwunden wird, so dass als einfachste Fläche das gleichseitige Dreieck entsteht. Analog ist die Vier für die Kör¬ perlichkeit konstitutiv. Jeder Körper hat mit Länge, Breite und Tiefe drei Unterschiede, die auf der Ebene der Vorstellung bzw. Wahrnehmung am einfachsten als Dreieckspyramide mit vier Ecken und vier Seitenflächen darstellbar sind.243 Da der wahrnehmbare Kosmos dreidimensional ist244 und im Platonismus davon ausgegangen wird, dass keine weiteren Dimensionen existieren245 und ohne die vier Zahlen die drei Dimensionen nicht gedacht werden können, muss in ihnen und in ihrer Anzahl ein allgemeines Grund¬ prinzip der neuplatonischen Weltkonzeption aufscheinen.246
243 Die Analogie zwischen der Ausfaltung der Zahlen ausgehend von der Einheit und der Fi¬ gurierung als Punkt, Linie, Fläche und Körper ist ein besonders klares Beispiel für das Funktionie¬ ren einer Analogie und somit der Allegoresemethode, die im neuplatonischen Umfeld des Boethius verbreitet war; vgl. Bemard, Dichtungstheorien, v. a. 170-174 (»Die Ausfaltung der Zahl in die geometrische Figur als Beispiel für das Wirken der Analogie«), Der Zusammenhang zwischen den ersten vier Zahlen und ihrer Prinzipienfunktion für die drei Dimensionen wird häufig in arithmeti¬ schen Werken, in theologisch-arithmetischen Traktaten sowie in Kommentaren zum »Timaios« thematisiert, z. B. Macr. somn. II 2. 244 Plat. Tim. 31b4-c4 und 53c5f. 245 Vgl. Macr. somn. II 2, 3. 246 Vgl. Theo Sm. 93, 16 - 99, 23 zur Tetraktys, v. a. 94, 10 - 96, 8 zur sog. Timaios-Skala, mit Hilfe derer die Konstitution der Weltseele dargestellt wird, die dem dreidimensionalen Kos¬ mos vorsteht. Diese Skala entsteht durch Vervielfachung der aus der Einheit hervorgehenden 2 und 3 zu zwei Vierergruppen 1-2-4-8 und 1-3-9-27. Dass beide aus der 1 hervorgehen, wird dargestellt, indem beide Reihen wie zwei Schenkel oder ein umgekehrtes V notiert werden. Sie bestehen aus Linienzahlen (2 und 3), Flächenzahlen (4 und 9: einfachste Quadratzahlen) und Körperzahlen (8 und 27: einfachste Kubuszahlen). Dass auch hier wieder ein natürlicher Einschnitt
234
III. »De institutione musica«
Des Weiteren weist Barbera darauf hin, dass auch die 10 als Tetraktys bezeichnet wird, weil sie die Summe von 1, 2, 3 und 4 ist. Bei der Zahlen¬ synthese stellt sie einen gewissen Einschnitt und eine bestimmte in sich abgeschlossene Einheit in der Gesamtheit der Zahlen dar, weil sich viele Phänomene in den einzelnen Zehnem wiederholen. Etwa müssen beim Addieren und der damit u. U. vollzogenen Überschreitung des Zehners unabhängig vom Zehner selbst immer dieselben Rechenschritte vollzogen werden; ob man 18 + 4 rechnet oder 38 + 4: In beiden Fällen muss der Zehner aufgefüllt und dann noch eine Zwei addiert werden, so dass beide Ergebnisse die Zwei als Einer aufweisen.247 Neben diesen Hinweisen finden in der Forschung auch die zahlreichen quaternarii (»Vierer«) Erwähnung, wie die vier Elemente, die vier mathe¬ matischen Wissenschaften, das Tetrachord und entsprechend der Viersaiter (Helikon), auf dem ein Tetrachord dargestellt werden kann, oder auch die Reihe 6-8-9-12 mit vier Termini und zwei Mitten.248 Auch aus dem christli¬ chen Bereich führt Barbera Beispiele für die besondere Rolle der Vierzahl an: Berno von Reichenau bringt die Summe des quaternarius mit dem zehnsaitigen Psalter und die Vier mit den vier Evangelisten in Verbindung eine Assoziation, die sich auch bei Marchetto findet. Man kann die Reihe und damit sei die Paraphrase von Barberas Darstellung beendet - selbstän¬ dig ergänzen: die vier Jahreszeiten, die vier größten Genera in Platons Dia¬ log »Sophistes« (Identität, Verschiedenheit, Ruhe, Bewegung), die vier Kardinaltugenden, die vier Teile des Lebewesens (rationaler, thymetischer und epithymetischer Teil sowie der Körper),249 die vier Erkenntnisvermögen (Intellekt, rationales Denken, Meinung, Wahrnehmung)250 etc. Nun enthalten die neuplatonischen und christlichen Texte eine Vielzahl von Passagen und Beispielen, die auch die herausragende Würde der Drei¬ heit thematisieren: die Trinität; die drei christliche Tugenden; die Triaden
vorliegt, verdeutlicht laut Theon das Summieren dieser Zahlen mit Ausnahme der größten (27): Sie ergeben zusammen 27, so dass die 27 alle anderen als ihre Teile in sich enthält und alle Zahlen der Skala zusammen eine gewisse Einheit bilden. 247 Zum Einschnitt (articulus) nach der 10 vgl. Aug. mus. I 12f.; zur Begründung, dass die 10 Summe aus 1, 2, 3 und 4 ist, I 12, 26, wo auch betont wird, dass die ersten vier Zahlen deshalb in ihrer Reihenfolge und ihrer Verbindung besonders in Ehren gehalten werden müssen. 248 Vgl. Macr. somn. I 6, 23-40: Die Vier ist die Voraussetzung für eine Reihe mit zwei Mit¬ ten, welche im Unterschied zu Reihen mit nur einer Mitte eine unauflösliche Bande zwischen den Elementen der Schöpfung ermöglicht. 249 Theo Sm. 98, 8-10. Theon zählt insgesamt elf Tetraktyes auf, die alle Aspekte des Seien¬ den erlassen - ausgehend von Zahl über Größe und deren Ausfaltung in die Zwei- und Dreidimen¬ sionalität, über die vier Grundarten menschlicher Gemeinschaft, die vier Unterscheidungsvermö¬ gen der Seele bis hin zu den Jahreszeiten und Lebensaltern. Er fasst sie zusammen, erläutert anschließend ihre Analogie untereinander und stellt fest, dass der Kosmos aus diesen allen besteht (98, 15 -99, 23). 250 Ebd. 97,25 -98,7.
4. Beschränkung auf 1-2-3-4 (Tetraktys)
235
bei Proklos; die Drei als erste Zahl mit Anfang, Mitte und Ende; die Seelen¬ teilung in einen rationalen, thymetischen und epithymetischen Teil bei Platon; die drei Genera in der »Musiktheorie«; die drei Arten von Musik: Instrumentalis, humana, mundana etc. Man könnte also mit Blick auf die antiken Texte analog zur Tetraktys behaupten, dass nur Zahlenverhältnisse, die aus den Termen 1, 2 oder 3 bestehen, als besonders schöne Verhältnisse angesehen werden müssen. Schließlich geben alle genannten Beispiele für Viererkonstellationen und die angeführten Indizien keinen hinreichenden Grund für die herausgehobene Stellung der Tetraktys an, sondern illustrie¬ ren nur ihre Bedeutung. Gemäß den Ergebnissen der vorliegenden Studie zur Einordnung der Musiktheorie in das Quadrivium liegt es auf der Hand, eine Lösung des Problems direkt in der Arithmetik zu suchen. Denn wenn Boethius die Musiktheorie als Wissenschaft von den Zahlenverhältnissen auffasst und Zahl an sich Gegenstand der Arithmetik ist, in der Musiktheorie schon vorausgesetzt und nicht weiter begründet wird, dann muss eine Beschrän¬ kung auf bestimmte Zahlen für konsonante Zahlenverhältnisse im Rahmen der Arithmetik untersucht werden.251 Eine Beachtung dieses Grundsatzes boethianischer und überhaupt neuplatonischer Wissenschaftskonzeption hätte der rezeptionsgeschichtlich orientierten Boethius-Forschung die Aporie hinsichtlich der Tetraktys-Frage zu beseitigen helfen können.252 Eine direkte Antwort findet sich in Boethius’ Arithmetiktraktat nicht. Dass aber mit der Vier ein gewisser Abschluss und Einschnitt erreicht ist, weshalb die ersten vier Zahlen als primär und herausgehoben gelten, kann aus dem Werk ohne Weiteres erschlossen werden.
4.2 Erster Erklärungsansatz Die erste und grundsätzlichste Unterscheidung in der Zahltheorie ist die in ungerade und gerade Zahlen. Boethius trifft sie wie Nikomachos gleich zu Beginn seines zahltheoretischen Traktates und schließt unmittelbar daran vier Definitionen von Gerade und Ungerade an.253 Diese Definitionen bilden 251 Augustinus hingegen begründet in »De musica« die Vorrangstellung der Tetraktys. Zu dessen weitem Musikbegriff s. u. III.5.2.1. 252 Es besteht also kein Grund zur Verwunderung darüber, dass in der Fülle der mittelalterli¬ chen Musiktheoretiker nur Johannes de Grocheio eine Begründung für die Beschränkung der Konsonanzen auf die von der Tetraktys gebildeten Intervalle fordert (dann aber ohne Begründung die traditionelle Lehre anwendet), da eine solche Begründung nicht Sache der Musiktheorie, sondern der Arithmetik ist; vgl. dagegen Münxelhaus, 96. 253 Boeth. arithm. 1, 3-6. Wie Radke, 767-779, gezeigt hat, handelt es sich um vorläufige, einander ergänzende Bestimmungen von Gerade und Ungerade, die dem Arithmetikstudenten erste Anhaltspunkte an die Hand geben, anhand derer er sich im Laufe der Studien einen vollständige-
236
III. »De institutione musica«
auf der arithmetischen Ebene die Grundlage der beiden im Folgenden dar¬ gelegten Erklärungsansätze für die Besonderheit der Vier. Im Anschluss an eine common-sense-Definition (defmitio vulgaris) und eine pythagoreische enthält die dritte eine indirekte Aussage zur ersten aktualen geraden Zahl:254 Gemäß einer älteren Art aber gibt es eine andere Definition der geraden Zahl. Eine gerade Zahl ist eine, die eine Teilung in zwei gleiche und in zwei ungleiche Teile auf sich nimmt, aber so, dass in keiner Teilung Gerade mit Ungerade oder Ungerade mit Gerade gemischt wird - nur mit Ausnahme des Prinzips des Geraden, der Zahl Zwei, die deshalb keine ungleiche Teilung auf sich nimmt, weil sie aus zwei Einheiten und in gewisser Weise aus der primären Geradheit der Zwei255 besteht.
Beispielsweise kann die Acht entweder in zwei jeweils gerade Zahlen (4 + 4 oder 6 + 2) oder in zwei jeweils ungerade (1+7 oder 3 + 5) geteilt werden, aber niemals in eine gerade und eine ungerade Zahl. Hingegen hat eine ungerade Zahl immer einen geraden und einen ungeraden Teil (z. B. 7=1+6 oder 2 + 5 oder 3 + 4). Die ersten aktualen Zahlen im Sinne dieser Definition sind also die Drei und die Vier, denn die Definition trifft auf die Zwei nicht zu. Auch die Einheit kann nicht als Zahl gelten, da als Kriterium für die Unterscheidung zwischen Gerade und Ungerade (wie bei den ersten beiden Definitionen) eine bestimmte Teilung benannt wird und die Einheit unteilbar ist. Hier taucht nun die Vier erstmals als diejenige Zahl auf, mit der die Grundmöglichkeiten von Zahl verwirklicht sind. Sie ist die erste aktuale gerade Zahl, da hier die Zwei als »Prinzip des Geraden«256 und noch nicht selbst als gerade verstanden wird. Das Prinzip von etwas ist nicht identisch mit dem Etwas, das aus ihm hervorgeht - eine Grundeinsicht des Platonismus (s. o. II.4.3.1 Punkte 2-4). Sinngemäß schreibt Johannes Philoponos:257 Die beiden Prinzipien von Zahlen sind die Monade und die Dyade. Keine von beiden ist aber Zahl, wie
ren Begrift erarbeiten kann. Obwohl diese Definitionen den materialen Aspekt der Teilungsmög¬ lichkeit von geraden und ungeraden Zahlen in den Vordergrund stellen, treffen sie doch indirekt Aussagen zu deren Wesen, weil das konkrete Erleiden (die Teilung) einer Zahl von ihrer Synthe¬ seweise abhängt und diese wiederum von der jeweiligen Form, welche die Bestandteile zu dieser Zahl ordnet: Wenn etwas in einer bestimmten Weise zusammengesetzt ist, dann kann es auch nur in der entsprechenden Weise geteilt werden. Deshalb besitzen diese vier einleitenden Definitionen bei aller Vorläufigkeit einen direkten Sachbezug zur arithmetischen Lehre und sachliche Relevanz auch für die folgenden Überlegungen zur Begründung der Tetraktys. 254 Boeth. arithm. 1, 5 p. 14, 19-26; vgl. Philop. in Nikom. 1 Lemma 58: Die dritte Definition geht auf eine pythagoreische Tradition zurück. 255 Boeth. arithm. 1,5 p. 14, 25f.: ex prima duorum quodammodo paritate. 256 Boeth. arithm. 1,5 p. 14, 23: princeps paritatis\ Nikom. arithm. 1, 7 p. 13, 22 - 14, 1: 7tA.ijv xf)tiefer< an, weil sie die Eins und die Zwei nicht mehr als Prinzipien von Zahl, son¬ dern als Zahlen betrachtet, so dass die Vier als Ergebnis einer Zahlsynthese entsteht und nicht mehr direkt aus den Prinzipien von Zahl hervorgeht. Die ersten vier Zahlen für ganz besondere zu halten, scheint aufgrund dieser rein arithmetischen Begründung nicht unplausibel zu sein.266 Vorausgesetzt ist bei beiden Begründungsversuchen die These, dass die Einheit die Mutter aller Zahlen ist und dass die Generierung der Zahlen von ihr ausgehend eine von Natur aus geordnete Reihe der Zahlen hervorbringt. Wer sich mit den vorgetragenen Ansätzen zur Begründung der Tetraktys nicht zufrieden gibt, wird diese Prämissen hinterfragen müssen und somit in einen philosophischen Diskurs eintreten. Dieser kann und soll an dieser Stelle nicht in Angriff genommen werden. Er würde das Gebiet der Musik¬ theorie weit verlassen und eine hochdifferenzierte und umfangreiche Dis¬ kussion erfordern.267
266 Augustinus gibt weitere Begründungen (mus. I 12, 23): Betrachtet man 1-2-3 als arithmeti¬ sche Mitte, stellt man fest, dass die 3 die 2 um ebensoviel überragt wie die 2 die 1. Hierbei wird die 2 zweimal genannt, hingegen die 1 und die 3 nur einmal, was insgesamt viermal ergibt. Die Anzahl der Nennung ist nicht willkürlich, sondern verweist auf einen Sachverhalt, der analog zur Bedeutung der Generierungsanweisungen in der Arithmetik ist; vgl. Radke, 384^116, wo gezeigt wird, dass die Generierungsregeln die allgemeinen Konstitutionsbedingungen des Seienden nach¬ vollziehend abbilden. Eine andere Begründung dafür, dass die Folge 1-2-3 ohne die 4 unvollstän¬ dig wäre, da sie die 4 schon impliziert, gibt Augustinus in mus. I 12, 24: Die Summe der Extreme (1 und 3) ergibt 4, ebenso wie die Vervielfachung der Mitte (2) mit sich selbst. Das ist nur bei der Reihe 1-2-3 der Fall, denn bei allen größeren Zahlen ergibt die Summe der Extreme immer eine Zahl, die nicht direkt in der Reihe der natürlichen Zahlen auf den größten Term folgt (bei 2-3-4 z. B. ist 2 + 4 = 6, während 5 die nächste auf 4 folgende Zahl wäre). Die Harmonie der Reihe 1-23 ist folglich ohne die 4 nicht denkbar. 267 Lohnend wäre eine solche philosophische Untersuchung allerdings, besteht doch auf die¬ sem Gebiet Nachholbedarf; vgl. etwa Hentschel, Augustinus, 192: »Und dennoch bleibt ein Rest Unbehagen, wenn man sich die Begründung der Bedeutung der Zahlhaftigkeit für den Rhythmus
4. Beschränkung auf 1-2-3-4 (Tetraktys)
241
Es sei daran erinnert, dass die rationale, in der Arithmetik betrachtete Zahl als bloß quantitatives Abbild eines denkend erfassbaren Sachverhaltes verstanden wurde.268 Wenn diese begrifflich erkennbaren Erkenntnisgegen¬ stände (Gerechtigkeit, Schönheit, Verschiedenheit etc.) selbst jeweils etwas Bestimmtes und somit Eines sind, dann können als deren Abbilder niemals Brüche oder irrationale Zahlen etc., sondern nur ganze, >natürliche< Zahlen entstehen. Dass im Platonismus keine unendliche Zahlenvielfalt ohne An¬ fang und ohne Ende als Abbild des wahrhaft Seienden angenommen wird, sondern die Einheit den unhintergehbaren Anfang bildet, beruht auf der Untersuchung der Hierarchie innerhalb dieser höheren und höchsten er¬ kennbaren Sachverhalte. Diese zu ermitteln stellt eine der Aufgaben des Philosophen dar. Die zentrale Erkenntnis des Platonismus besteht hierbei darin, dass das, was bei jedem Erkenntnisakt vorausgesetzt wird, Einheit ist. Ohne sie gäbe es weder etwas Erkanntes noch einen Erkennenden noch dessen Erkenntnisakt. Einheit ist somit als notwendige Voraussetzung für alles Sein und Erkennen das höchste Prinzip. Die arithmetische Eins muss dementsprechend ihr mathematisches Abbild sein und den absoluten An¬ fang der Zahlenreihe bilden. Eine Null oder negative Zahlen können bei einer solchen Betrachtungsweise nicht entstehen. Wenn in der Antike mit negativen Zahlen, Brüchen etc. gerechnet wurde, dann innerhalb der Logi¬ stik (Rechenkunst), die eine anwendungsbezogene Kunst war und nicht wie die Arithmetik im Rahmen des Quadrivium als propädeutische Disziplin auf dem Wege zur Philosophie studiert wurde. Die Einheit ist also aufgrund ihres transzendenten Vorbildes - bezeichnet man es mit Plotin nun als »Hen«, mit den Neuplatonikern als Platons »Idee des Guten« oder als »höchsten Gott« - die Mutter aller Zahlen. Analog dürfte die Vierzahl ein Vorbild besitzen, das - so müsste man von der Te¬ traktys her, aber auch aus der Herleitung des Quadrivium von den vier Grundunterschieden im wahrhaft Seienden (s. o. II.2.1-4) schließen - eine Einheit sehr hochstehender Prinzipien ist, welche die Grundmöglichkeiten von Synthese und somit Schöpfung in sich enthält. Diese Vermutung wird durch diverse Bemerkungen bei Proklos gestützt, wo von der Vierzahl der
vor Augen führt ... Derartige Argumentationen können allein im Kontext der Tradition gesehen werden und weisen Stringenz von unterschiedlicher Überzeugungskraft auf.« Blendet man den philosophischen Hintergrund solcher Zahlbetrachtungen, wie sie Augustinus durchführt, ein, dann wird ein besseres Verständnis (sicherlich keine Akzeptanz) dieser Lehre erreichbar sein. Denn die Ordnung und die Eigentümlichkeiten, die an Zahlen wie 1,2 und 3 erkennbar sind, spiegeln nach neuplatonischer Lehre die Konstitutionsbedingungen des Seienden überhaupt wider. Mit deren Grundlegung kann man sich anhand der entsprechenden Texte rational und kritisch befassen und auf diesem Wege zu einem möglichst systemimmanenten Verständnis gelangen, was zur Entmysti¬ fizierung solcher Zahlbetrachtungen führen wird. 268 S. o. II.4.lf.
242
III. »De institutione musica«
intelligiblen Ideen gesprochen wird, an denen sich der Schöpfergott im »Timaios« bei seiner Schöpfung orientiert.269 Abschließend bleibt festzustellen, dass die Beschränkung auf die ersten vier Zahlen als Terme der primären Zahlenverhältnisse, welche die konso¬ nanten Intervalle bestimmen, nicht im Rahmen der Musiktheorie begründet werden kann. Beachtet man das bei Boethius zugrundeliegende Wissen¬ schaftssystem, wird das aber innerhalb der Arithmetik möglich. Da die Arithmetik freilich auf Prämissen beruht, deren Begründung nicht mehr in der Arithmetik, sondern in der Philosophie geleistet werden muss, kann der Ausschluss der Undezime aus den Konsonanzen letztlich erst zufriedenstel¬ lend nachvollzogen (oder auch widerlegt) werden, nachdem die letzten Höhen der Philosophie erklommen wurden.270
5. Zum anagogischen Potential der dreigeteilten Musik In den vorangegangenen Abschnitten des dritten Kapitels wurde Boethius’ Traktat »De institutione musica« als Lehrbuch der musica instrumentalis untersucht. Die behandelten Fragestellungen bezogen sich nämlich auf die überlieferten ersten fünf Bücher, die sich mit der Musik befassen, »von der man sagt, dass sie in bestimmten Instrumenten besteht«.271 Boethius erörtert in ihnen entsprechend nur Zahlenverhältnisse mit Blick auf die von ihnen konstituierten wahrnehmbaren musikalischen Intervalle. Angesichts der Aufgabe des Quadrivium, auf die Philosophie vorzubereiten und zu ihr hinzutühren, mag Boethius’ Traktat in seiner propädeutischen und anagogi¬ schen (hochführenden) Funktion recht mager anmuten.272 Schließlich gab
269 Vgl. Prokl. in Tim. B 316, 12 — 324, 14: Zeus als Vater und Schöpfer wohnt die Dekade (Zehnzahl) bei, die der Vierzahl entspringt (die Summe der ersten vier Zahlen ist zehn), welche wiederum auf die Einheit zurückgeht. Der Schöpfergott orientiert sich somit an vier intelligiblen Ideen, die er aber aufgrund ihrer Ausfaltung zur Zehn in geringerer Einheit in sich hat. Entspre¬ chend ist die Vier der Ordnung des wahrnehmbaren Kosmos eigen, wie an den vier Elementen, den vier Jahreszeiten und eben auch der Vierzahl, von der sich die Dreidimensionalität herleitet, erkennbar ist (T 271, 1 lf.; E 193, 11-17 u. ö.). 270 Das gilt letztlich für jede Erkenntnis in den mathematischen Fächern und auch in jeder ab¬ geleiteten Wissenschaft, z. B. der Physik. Zwar strebt eine jede Wissenschaft die Erkenntnis ihrer unmittelbaren Prinzipien an, hat damit aber noch nicht ihre Letztbegründung geleistet. Erst derje¬ nige, der wiederum die Prinzipien dieser unmittelbaren Prinzipien sucht, findet und dabei bis zum letzten und höchsten Prinzip gelangt, kann die abgeleiteten Wissenschaften gänzlich zu verstehen. 271 Boeth. mus. 1,2 p. 189, 6f. 272 Pizzanis Kritik geht noch weiter: Boethius’ musica verfehle ihr Thema, weil sie über die Behandlung von multitudo ad aliquid relata hinausgehe. Überhaupt stelle sie keine systematische Ausführung der Konzeption des Quadrivium dar und liefere keinerlei philologische Hinweise darauf, dass sie als Vorbereitung auf philosophische Studien konzipiert sei (Quadrivium, v. a. 220 und 2231.). Boethius wurde den ersten Vorwurf mit einem Hinweis auf seinen weiten Zahlbegriff
5. Anagogisches Potential der dreigeteilten Musik
243
Boethius als Ziel der quadrivialen Studien den Aufstieg zu den eigentlichen, den intelligiblen Zahlen, das Erlangen zeitloser Weisheit in Bezug auf alles Sein und Erkennen und folglich auch Selbsterkenntnis an. Damit einherge¬ hend soll eine Hochwendung zur rationalen und intellektiven Erkenntnis¬ weise und eine sukzessive Abwendung von der Wahrnehmung vollzogen werden.273 Boethius wird diesen Zielstellungen wohl am auffälligsten im Hinblick auf die Rolle der Wahrnehmung gerecht, weil er sie ebenso wie die Vorstel¬ lung nur zur Veranschaulichung des zuvor theoretisch Untersuchten heran¬ zieht. Er lenkt das Denken des Lesers auf die unkörperlichen Formen wahr¬ nehmbarer Phänomene und damit auf den Unterschied zwischen immate¬ rieller Formursache und davon bestimmter Materie. Wie oben gesehen vertieft der musiktheoretische Traktat durch die Untersuchung von Zahlen¬ verhältnissen das Wissen über Zahl und führt gleichzeitig zur sachlich di¬ rekt vorgeordneten Zahltheorie (Arithmetik) zurück bzw. hoch.274 Die überlieferten fünf Bücher über die musica instrumentalis besitzen in einem weiteren Sinne ein Potential zum Erreichen einer in Boethius’ Augen höheren Untersuchungsebene: Auch Nikomachos’ bzw. Boethius’ einfüh¬ rendes Arithmetiklehrbuch leistet keine explizite und vollständige Rück¬ wendung des behandelten Stoffes auf seine metaphysischen Urbilder. Die rational erfassbare Zahl wird von ihrer Quelle, der intelligiblen Zahl, ledig¬ lich unterschieden, und die Abhängigkeit der Zahlen von den intelligiblen Prinzipien der Selbigkeit und der Verschiedenheit wird nur konstatiert.275 Es ist damit zu rechnen, dass »De institutione musica« in ähnlicher Weise auf der litteralen Ebene relativ leicht verständlich die Ursachen der erklingen¬ den Intervalle behandelt und so Abbilder höherer Sachverhalte liefert, zu deren Erkenntnis der Autor anleiten möchte. Vor diesem Hintergrund wur¬ de oben eine Interpretation von mus. 2, 6 vorgenommen, die aufzuzeigen versucht, welche allgemeineren Prinzipien anhand der konkreten mathema¬ tischen Sachverhalte im ersten Axiomenkapitel dargestellt werden.276 Dabei wurde herausgearbeitet, dass die Musiktheorie untersucht, wie aus jeder bereits komplex zusammengesetzten Ungleichheitsrelation durch eine wei-
entkräften (s. o. II.4). Ob die »Einführung in die Musiktheorie« systematisch in die Konzeption des Quadrivium passt, lässt sich erst nach einer Untersuchung des Wesens und der Intention des Quadrivium einschätzen. Die ersten beiden Kapitel dieser Arbeit sollten das leisten. Vor dem erarbeiteten Hintergrund ergibt sich ein wesentlich anderes Bild, als es Pizzani zeichnet; vgl. v. a. III.1 und Boethius’ expliziten Verweis auf die propädeutische Funktion der Musiktheorie in mus.
2, 2. 273 S. o. II.3. 274 S. o. III. 1 und 4. 275 S. o. H.4.1-3; vgl. Cus. coniect. II 2, 86: In allen Sieben freien Künsten, darunter auch in der Musik, gibt es drei Stufen - die wahrnehmbare, die rationale und die intelligible. 276 S.o. III. 1.2.
244
III. »De institutione musica«
tere eidetische Formung der schon vorliegenden Bestandteile eine umso größere Ungleichheit und Komplexität hervorgeht. Die ursprüngliche Un¬ gleichheit ist nicht voraussetzungslos, sondern stellt bereits eine mehr oder minder harmonische Zusammensetzung aus einfacher Strukturiertem dar. Diese Einsicht gilt neuplatonischer Auffassung nach nicht nur für Töne, die zwar im Verhältnis zu den aus ihnen geformten Intervallen einfach, aber für sich betrachtet nicht unzusammengesetzt und voraussetzungslos sind, son¬ dern für alles Seiende - auch für das unkörperliche. Die Musiktheorie be¬ sitzt also auch insofern ein propädeutisches Potential, als die musiktheoreti¬ schen Operationsgegenstände auf ihre ontologisch übergeordneten Vorbil¬ der und Prinzipien verweisen. Die Leistung der Musiktheorie zur »Erweckung des inneren Auges«277 ist mit den beiden genannten Punkten aber noch nicht erschöpft, wie im Fol¬ genden gezeigt wird. Der Bereich des Seienden, auf dessen Erkenntnis diese mathematische Disziplin abzielt, kann nämlich noch präziser be¬ stimmt werden: Die Musiktheorie mündet in das Studium von Seele, d. h. in die Untersuchung der untersten Hypostase, die dem irdischen Werden und Vergehen zwar grundsätzlich enthoben ist, beides aber verwaltet und be¬ stimmt. Diese Präzision wird durch eine Untersuchung von Boethius’ umfassen¬ dem Musikbegriff möglich.278 Die Musik(theorie) wird als Wissenschaft der aufeinander bezogenen diskreten Quantität definiert279 und Harmonie als etwas, das Entgegengesetztes vereint und zusammensetzt.280 Beide Defini¬ tionen deuten auf eine weiterreichende Bedeutung von musica hin, da sie keinen expliziten Bezug zur hörbaren Musik herstellen.281 In der Tat stellt die musica sonora - »klingende Musik«, wie sie auf¬ grund ihres Bezuges auf die wahrnehmbaren Intervalle in mittelalterlichen Traktaten genannt wird — nur einen von drei Teilen der Musiktheorie dar: 277 Boeth. arithm. 1, 1 p. 10, 3-7; s. o. 1.2.1 und II.3.3. 278 Dass Platon einen ähnlich weiten Musikbegriff hatte, zeigt Moutsopoulos, passim. Er un¬ terscheidet drei Grundrichtungen der Musik in Platons Dialogen: 1. die praktisch ausgeühte Musik, bei welcher der Musiker ein entsprechendes Wissen besitzen sollte, 2. Inspiration und Mystik sowie 3. Propädeutik für die Dialektik. 279 Boeth. mus. 2, 3 p. 229, 2-9. 280 Boeth. arithm. 2, 32 p. 126, 14-17. 281 Wie oben, 92, erläutert, meint Boethius’ Definition von Musik keinen Bezug von Zahl auf eine erklingende Materie, sondern von Zahlen zueinander (mus. 2, 3 p. 229, 8f.): »die Musik hingegen verspricht eine Kenntnis von der auf etwas bezogenen [sc. diskreten Quantität]« (ad aliquid vero relatae [sc. discretae quantitatis] musica probatur obtinere peritiam). - Zur sachlich gleichen Definition bei Eriugena und dessen Auffassung, dass die erklingende Musik nur Abbild höherer Harmonie ist, vgl. Niemöller, v. a. 295f.; zur Schwierigkeit, die musica instrumentalis zu ubersteigen, weil die beiden übergeordneten Musiken nicht mehr hörbar sind, den Heilsbronner Musiktraktat (Hirschmann, 256).
5. Anagogisches Potential der dreigeteilten Musik
245
Boethius führt außerdem die musica Humana (»menschliche Musik«) und die musica mundana (»kosmische Musik«, »Allmusik«) an (s. u. III.5.1.1). Bei diesen beiden Arten von Musik spielt das klangliche Ereignis erst recht keine wesentliche Rolle, da z. B. die Harmonie der Elemente, der Jahreszei¬ ten und der menschlichen Konstitution nicht hörbar ist. Leider führt Boethius die Abschnitte zur menschlichen und kosmischen Musik nicht aus bzw. sie sind nicht überliefert. Eine Rekonstruktion des Gemeinten ist aber dank seiner knappen Charakterisierung der drei Musik¬ arten, weiterer Ausführungen im »Trost der Philosophie«, durch die Beach¬ tung der neuplatonischen Psychologie und Kosmologie sowie die Konsulta¬ tion von Ptolemaios’ »Harmonielehre« möglich. Das zuletzt genannte Werk heranzuziehen bietet sich an, fungierte dieser Text doch ab dem Ende des vierten Buches als direkte oder indirekte Quelle für Boethius’ Musiklehre, gab die Reihenfolge der Behandlung der drei Musikarten vor und entsprach inhaltlich im Wesentlichen der neuplatonischen Konzeption. Das betrifft v. a. die Behandlung der Zahlenverhältnisse klingender Intervalle als unter¬ ste Stufe der musikalischen Ausbildung, wovon ausgehend die beiden wei¬ teren Arten im Sinne eines Aufstieges studiert werden sollten (s. u. III.5.1). Ferner weist Augustinus’ »De musica« auf eine Aufstiegsmethode im Rahmen der Musiktheorie hin - das sukzessive Hinterfragen der Prinzipien menschlichen Erkennens ausgehend von der Wahrnehmung. Auch Boethi¬ us’ Erkenntnistheorie bietet Potential für diese anagogische Methode (s. u. III.5.2). Ob er sich in den fehlenden Büchern der Musikschrift derselben Methode wie Augustinus bedient hätte, muss allerdings aufgrund fehlender Zeugnisse offen bleiben. Wenn Boethius die Musik nicht mit der Wissenschaft von den Zahlen¬ verhältnissen, die lediglich hörbare Intervalle konstituieren, identifiziert, sondern viel umfassender eine Disziplin der harmonischen Einung des Irdischen im weitesten Sinne meint, dann besitzt sie gerade für Philosophen und Politiker, die mit der harmonischen Einrichtung und Verwaltung des Staates betraut sind, Relevanz (s. u. III.5.3).
5.1 Die Dreiteilung der Musik 5.7.7 Die Unterteilung der Musik in Boeth. mus. 7, 2282 Die kosmische Musik Bei der Unterscheidung der drei Musiken charakterisiert Boethius zunächst die musica mundana. Sie ist diejenige Harmonie, welche den gesamten 282 Eine Übersetzung von mus. 1, 2 findet sich im Anhang 4.
246
III. »De institutione musica«
wahrnehmbaren Kosmos in beeindruckender Weise ordnet, indem sie die einzelnen Teile zu einem einzigen Ganzen zusammenhält.283 In besonders augenfälliger Weise zeugt davon die Harmonie der gleichmäßigen und formschönen Bewegungen der Himmelskörper. Als Beispiele werden ferner die vier Elemente und die vier Jahreszeiten genannt, die von der Kosmos¬ harmonie so eingerichtet sind, dass sie einmütig miteinander harmonie¬ ren.284 Diese Wohlordnung entstammt dem Vorbild im Denken des Schöp¬ fergottes.285 Wie es im »Trost der Philosophie« konkreter heißt, entsteht eine solche Harmonie bei der Entfaltung von Gottes zeitenthobener Vorse¬ hung (providentia) zum zeitlich verlaufenden Schicksal (fatum).286 Dem »Trost der Philosophie« ist außerdem zu entnehmen, dass die Be¬ trachtung der gewaltigen Ordnung der musica mundana der ethischen Auf¬ richtung des Menschen dienen kann: Die »Philosophie« weist ihren Schüler Boethius mehrmals auf die sichtbare Wohlordnung des Alls hin, richtet ihn dadurch wieder aus seiner Verzweiflung auf und führt den Dialog von der anfänglich meinungshaften Ebene zu einer rationalen Betrachtung der Providenz Gottes im fünften Buch herauf.287 Ferner fällt auf, dass gemäß Boethius’ Formulierung jemand (und nicht etwas) diese Art der Musik verwaltet und dass die Ordnung des Kosmos als Argument für die Existenz Gottes angeführt wird.28* Kosmische Musik ist synonym mit Liebe (amor) und Eintracht (concordia).289 Aus Boethius Musiktraktat geht hervor, dass die musica instrumentalis zumindest partiell die musica mundana imitiert. Beim Vergleich der An¬ ordnung der Saiten mit der der Planeten stellt Boethius fest, dass die Ord¬ nung der Planeten ein Vorbild für die der Saiten ist: Orpheus’ Instrument hatte vier Saiten »zur Imitation der Kosmosmusik, die aus vier Elementen besteht« {ad imitationem scilicet musicae mundanae, quae ex quattuor
283 Boeth. mus. 1, 2 p. 187, 23 - 188, 26. 284 Zur Wohlgeordnetheit der Elemente vgl. Boeth. cons. 3, 11, 71-76; zum Hervorgehen der wohlgeordneten Bewegungen der Himmelskörper aus dem Überzeitlichen Aug. mus. VI U, 29. 285 Boeth. arithm. 1,1p, 10, 10-15 sowie 1, 2 p. 12, 14-19 (dazu s. o. II.4). 286 Boeth. cons. 4, 6, 79-97. Jakobus v. Lüttich schätzt im »Speculum musicae« ein, dass Boethius zum »Beweger der himmlischen Umläufe selbst« (motor orbium coelestium ipse) gelangt wäre, hätte er den Urgrund der musica mundana weiter verfolgt. Wie Aertsen, v. a. 307, darstellt, meint Jakobus damit eine vierte Art der Musik, nämlich die himmlische oder göttliche Musik {musica coelestis bzw. divina). Sie existiert primär in Gott und auch in den rein geistigen Wesen, welche die Himmelsumlaute in harmonische Bewegung versetzen und somit die kosmische Musik hervorbringen, vgl. auch Chamberlain, 95; zur musica divina bei Eriugena in »De divisione naturae« Niemöller, v. a. 295-297 (Zahlhaftigkeit ist im primären Sinne qualitativ zu denken; armome bzw. Musik liegt auf jeder Ebene der Schöpfung entsprechend der Verwirklichung von Einheit vor). 287 Vgl. z. B. Boeth. cons. 1 carm. 5. 288 Boeth. cons. 1 carm. 2, 20 (quis)\ 3 carm. 9 und 3, 12. 289 Zur musica mundana vgl. cons. 2 carm. 8; 4 carm. 6 und Chamberlain, 86-90.
5. Anagogisches Potential der dreigeteilten Musik
247
constat elementis)', nach einer fünften und sechsten wurde später eine sie¬ bente Saite »gemäß der Ähnlichkeit zu den sieben Planeten« (secundum septem scilicet planetarum similitudinem) hinzugefügt. Analog nennt Boethius die Saitenkonstellation »gleichsam ein Abbild der himmlischen Ordnung und Einteilung« (quasi quoddam ordinis distinctionisque caelestis exemplar).290 Unter exemplar ist hier nicht »Vorbild«, sondern »Abbild« zu verstehen, wie aus einer weiteren Formulierung zu erschließen ist: »Die [sc. Saite] Nete nimmt sich am Kreis der Sonne ein Beispiel« (nete autem lunaris circuli tenet exemplum).19' Nikomachos äußert sich unmissverständlich zum Verhältnis zwischen beiden Musikarten: Die hörbare Musik findet in der himmlischen Musik der Planeten ihr Urbild.292 Legt man dieses Verständnis auch für Boethius’ Schrift zugrunde, verhalten sich beide Musikarten zueinander wie Abbild und Vorbild, was die Schlussfolgerung nahe legt, dass die kosmische Musik der hörbaren Musik sachlich übergeordnet ist. Boethius folgt dann auch hier seinem pädagogischen Konzept, indem er zuerst das dem menschlichen Erkennen Naheliegende behandelt (musica instrumentalis), um am Ende zum sachlich Primären zu kommen (musica mundano). Die menschliche Musik Die sich in Boethius’ Text anschließende, relativ kurze Beschreibung der menschlichen Musik nennt die Harmonie als Ursache der Verbindung zwi¬ schen dem rationalen Denken und dem Körper, zwischen dem rationalen und dem nicht-rationalen Seelenteil sowie zwischen den verschiedenen Körperteilen. Um sie erkennen zu können, muss man in sich selbst »herab¬ steigen«.293 Die so verstandene Musikart bildet folglich eine Teildisziplin, die sich mit der Natur des Menschen in einem relativ umfassenden Sinne beschäftigt.294 In Boethius’ »Consolatio« finden sich zahlreiche Stellen zur menschli¬ chen Musik.295 Man kann Chamberlain in gewissem Sinne zustimmen, wenn 290 Boeth. mus. 1, 20 p. 206, 5f. und 11; 1, 27 p. 219, 6f. 291 Ebd. 1,27 p. 219, 11. 292 Nikom. harm. 3; vgl. Theo Sm. 141, 7-10 (die siebensaitige Lyra als Abbild des Kosmos). 293 Boeth. mus. 1,2 p. 188, 26 - 189, 5. - Im Rahmen der Erörterung über die Unsterblichkeit der Seele wird im »Phaidon« überlegt, ob die Seele Harmonie ist (v. a. 85el-95d6). 294 Im Hinblick auf die Bedeutung des Begriffes musica humana und speziell hinsichtlich der Gewichtung von Seele und Körper wäre ein Studium der mittelalterlichen musiktheoretischen Schriften interessant, da hier besonders große Abweichungen von Boethius’ Verständnis auffallen; vgl. z. B. eine Handschrift (ca. 1230-1240/45, in: Haas, Studien, passim) mit prüfungsrelevanten Aussagen und folgender Definition (ebd. 355): »die menschliche Musik wird in der harmonischen Hebung und Senkung der Stimme gemäß verschiedenen Melodien vernommen« (humana percipitur in modulata elevacione et depressione vocis secundum diversas cantilenas). 295 Zur Einheit der einzelnen Körperteile zu einem Ganzen vgl. Boeth. cons. 3, 11, 27-41; zur Gesundheit des Körpers und Geistes sowie zur Rolle Gottes als Arzt der Seele 4, 6, 105-121.
248
III. »De institutione musica«
er sagt, dass das Thema des »Trostes der Philosophie« in der musica Huma¬ na besteht. Die »Philosophie« führt ihren Patienten von einem Übermaß der irrationalen Kräfte (Zorn, Traurigkeit)296 zum rationalen Begreifen der eige¬ nen Situation, indem sie mit ihm Sinn und Einordnung des menschlichen Lebens in das von Gott geschaffene und von ihm durchwaltete Weltganze erörtert. Insofern der Mensch ein rationales Wesen ist, stellt sie den gesun¬ den Normalzustand der Seele her.297 Die Hinwendung zu einem so schwie¬ rigen und hohen Thema geht übrigens mit einer zeitweiligen Abwendung von der untersten Art der Musik einher: Die carmina sollen für eine Weile nicht erklingen.298 Zur Position der musica Humana innerhalb der drei Musikarten Insofern die menschliche Seele mit Hilfe des Körpers die Wirkungen der musica instrumentalis hervorbringt, dürfte die musica Humana der musica instrumentalis übergeordnet sein. Eine Präzisierung des Zusammenhanges zwischen beiden ist insofern wünschenswert, als Boethius davon ausgeht, dass das Hören von Musik einen Einfluss auf die menschliche Seele ausübt (sog. Ethoslehre).299 Boethius befasst sich mit der lang- und kurzfristigen Wirkung von gehör¬ ter Musik auf die Seele und auf den Körper ausführlich im Proömium der »Musiktheorie«, wobei er zahlreiche Berührungspunkte mit der Ethik, Poli¬ tik, Erziehung und Medizin aufzeigt. Gleich zu Beginn des Proömium ist zu lesen:300 Das Gehör erfasst nicht nur die Töne und beurteilt deren Unter¬ schiede, sondern empfindet häufig Freude oder Unlust über angenehme oder schrille Höreindrücke. Daher kommt es, dass - da es vier Disziplinen der mathematischen Unterweisung gibt - die übrigen sich freilich bei der Suche nach der Wahrheit mühen, die Musiktheorie aber nicht nur mit der theoretischen Betrachtung, sondern auch mit der sittlichen Erziehung (moralitas) verbunden ist.
Dieser Feststellung folgen Beispiele für die Wirkung der Musik auf die menschliche Seele und die schon von Platon formulierte Forderung, poli¬ tisch gegen den Verfall der »guten« Musik einzuschreiten.301
296 Zur Auffassung einer Tugend als relativer Mitte zwischen Übermaß bzw. Mangel vgl. Boeth. arithm. 1, 32 p. 66, 3-22 (s. u. Anhang 5.3), c. Eut. 7, 655-660 und Anstot. eth. Nikorn 1106a14—1109b26. 297 Chamberlain, 93; zur musica humana 90—95. 298 Boeth. cons. 4, 6, 16-19; s. o. 211. 299 Der Begritt »Ethoslehre« wurde von H. Abert durch seine Arbeit »Die Lehre vom Ethos in der griechischen Musik«, Leipzig 1899, geprägt. 300 Boeth. mus. 1,1p. 179, 15-23. 301 Vgl. auch Aristot. pol. 1339b40-1341a9.
5. Anagogisches Potential der dreigeteilten Musik
249
In zahlreichen Forschungsbeiträgen manifestiert sich ein großes Interesse an den einzelnen Vorschriften der auf Platon zurückgehenden Ethoslehre, z. B. der Bevorzugung des Diatonischen vor anderen Genera sowie be¬ stimmter Musikinstrumente vor anderen. Aber nur wenige Arbeiten befas¬ sen sich mit einer systematischen Erklärung dieser Lehre, die folgenderma¬ ßen zu skizzieren ist: Die menschlichen Seelen sind von den gleichen (d. h. ähnlichen und nicht denselben) Zahlenverhältnissen bestimmt wie die hör¬ bare Musik und der ganze Kosmos; Zahlen bestimmen Töne und rufen dadurch eine Resonanz der von entsprechenden Zahlen bestimmten seeli¬ schen Vermögen sowie analoge körperliche Bewegungen hervor.302 Was unter den seelischen Zahlen im Unterschied zu den Zahlen der Töne zu verstehen ist, bleibt aber ungeklärt und damit auch der Kern der neuplatoni¬ schen Wahrnehmungs- und Ethoslehre.303 Wie Boethius’ Reihenfolge bei der Vorstellung der drei Musiken andeu¬ tet, ist die menschliche Musik der musica instrumentalis vor- und der kos¬ mischen Musik nachgeordnet. Wenn sich eine innere Abhängigkeit der menschlichen von der kosmischen Musik aufzeigen und die kosmische Musik genauer fassen lässt, bedeutet das nach neuplatonischem Verständnis eine Chance zum besseren Verständnis der menschlichen Musik, da das Prinzip das aus ihm Hervorgehende in ursprünglicherer Weise enthält. Das wird im folgenden Abschnitt durch den Rückbezug von Boethius’ Ausfüh¬ rungen auf eine zentrale Passage in Platons »Timaios« möglich. 5.1.2 Platons »Timaios« als Schlüssel zu den drei Musiken Für ein besseres Verständnis der Verbindung, die zwischen den drei Arten von Musik besteht, wird im Folgenden die für diesen Themenkomplex zentrale Textpassage aus Platons »Timaios« samt ihrer neuplatonischen Deutung von Proklos und Johannes Philoponos einführend vorgestellt, bevor in einem zweiten Schritt auf die entsprechende Lehre bei Boethius eingegangen wird (s. u. III.5.1.3).
302 Hinweise bieten Neubecker, Philodem, 76; Ritoök, 63-65 (in Bezug auf Dämon) und 544547 mit Anmerkungen (zu Ptolemaios’ Aussage über das Mitleiden der Seele mit dem Gehörten aufgrund der Gleichheit der Verhältnisse). 303 Wie stark die Ethoslehre, der Musikbegriff und die Wissenschaftskonzeption von der Wahmehmungstheorie abhängen, lässt sich aus Neubeckers Studie zu Philodems Musikschrift erschließen: Die Gegner der These, dass gehörte Musik einen Einfluss auf das Befinden des Menschen ausübt - u. a. der Autor der Hibehrede, Diogenes der Kyniker, Epikur, Philodem und Sextus Empirikus -, vertreten jeweils eine von der neuplatonischen Wahrnehmungstheorie wesent¬ lich verschiedene Seelenlehre, und infolgedessen nutzen sie andere wissenschaftliche Methoden und beurteilen die Rolle der mathematischen Wissenschaften anders als Boethius.
250
III. »De institutione musica«
Schaffung des Kosmos und der Weltseele: Plat. Tim. 29d7—44d2 Die Passage in Platons »Timaios« zur kosmischen und menschlichen Har¬ monie, aus der sich die wahrnehmbare herleitet, zählt zu den kardinalen Texten im Neuplatonismus, wie die ausführlichen Kommentare, z. B. von Proklos, das in jeder Hinsicht zentrale carmen 3, 9 in Boethius’ »Consolatio« sowie mehrere Bezugnahmen in Boethius’ »Arithmetik« zeigen.304 Im lateinischen Bereich wurde sie durch Chalcidius’ vielgelesene partielle Übersetzung ins Lateinische samt Kommentar bis ins ausgehende Mittelal¬ ter intensiv rezipiert. Gemäß der Darstellung im »Timaios« ist der wahrnehmbare Kosmos ein beseeltes Lebewesen, ein glückseliger Gott. Seine Seele mischt der Schöp¬ fergott (Demiurg) aus den drei Naturen des Selben, der Verschiedenheit und des Seins und teilt sie in bestimmten Verhältnissen. Diese Verhältnisse ergeben die sogenannte Timaios-Skala, in der man auch die wichtigsten musikalischen Verhältnisse und das diatonische Klanggeschlecht wieder¬ findet.305 Anschließend verbindet der Schöpfer diese Teile jeweils durch eine harmonische Mitte und versetzt alle Teile graduell verschieden in bestimmte Bewegungen. Somit hat die Weltseele Anteil an Harmonie, wie es explizit im Text heißt.306 Als Teil des Kosmos schafft der Demiurg weiterhin Sonne, Mond und fünf Planeten (genannt werden Erde, Venus und der des heiligen Merkur) zur Unterscheidung und Bewahrung der Zeit. Bis auf wenige Ausnahmen kennen die Menschen nur die Umläufe von Sonne und Mond, obwohl es möglich ist, das »vollendete Jahr« zu verstehen, in dem alle Himmelskörper trotz ihrer verschiedenartigen Umläufe wieder zur Ausgangskonstellation zurückfinden. Dieses »vollendete Jahr« ist ein Abbild der immerwährenden Natur. Die Planeten sind Lebewesen, wobei die Erde der älteste Gott inner¬ halb des Himmels ist. Auch die Fixsterne sind göttliche, ewige Lebewesen, die der Ortsbewegung entbehren. Da sie sichtbare Körper verwalten, nennt der Timaios beide »sichtbare Götter«, die geworden sind. Unter ihnen ste¬ hen in der Hierarchie ihre Sprösslinge, die sublunaren Götter (Daimones), von denen es bezeichnenderweise heißt, dass es für Menschen zu groß ist, von ihnen zu sprechen und ihr Werden zu verstehen. Um wie viel mehr
304 Boeth. arithm. 2, 2 p. 80, 4 - 7 (Finden gleichartiger zusammenhängender Intervalle, was für ein Verständnis der Psychogonie im »Timaios« nützlich ist); 2, 32 p. 125, 25 - 126, 7 (zu Platons im »Timaios« vorgestellten Grundprinzipien Identität und Verschiedenheit); 2, 40 p. 137, 6f. (Behandlung der Proportionen, um die Lektüre älterer Autoren zu ermöglichen) und 2, 46 p. 149, 20—23 (Vermittlung zweier Körper durch zwei Mitten zum besseren Verständnis der cosmo-
poeia im »Timaios«), 305 Erläuterungen zu den Verhältnissen der Weltseele finden sich bei Moutsopoulos, 352-375; Kytzler, passim, und Paul, Übersetzung, 22 lf. 306 Plat. Tim. 36e5-37a2.
5. Anagogisches Potential der dreigeteilten Musik
251
diese Einschätzung auf die übergeordneten Götter zutrifft, wird damit im¬ plizit zum Ausdruck gebracht. Die innerkosmischen Götter ermächtigt der Schöpfergott, die Körper von Mann, Frau und Tieren zu schaffen. Die Seelen dieser niederen Wesen mischt der Demiurg aber selbst aus demselben Mischkrug, in dem er die Weltseele hergestellt hatte; er mischt sie auf dieselbe Weise wie die Welt¬ seele, allerdings aus den schon gemischten »Resten«. Er selbst, der auch »Vater« genannt wird, gibt den menschlichen Seelen das »Göttliche«, wäh¬ rend es den von ihm geschaffenen niederen Göttern obliegt, die Körper zu formen und mit den Seelen zu verbinden. In den Teilen der menschlichen Seelen liegen aufgrund ihrer Herkunft also Verhältnisse vor, die denen der Weltseele gleichen: Der Demiurg verwendet wie bei der Weltseele die Ingredienzien Identität, Verschiedenheit und Sein, die allerdings schon gemischt sind und durch die nochmalige Mischung stärker gemischt werden als die der Weltseele. Diese Paraphrase mag genügen, um die oben schon festgestellte Hierarchie zwischen den drei Musiken und v. a. die Funktion der kosmischen Musik als Vorbild für die menschliche zu verdeutlichen: Die kosmische Musik auf die Psychogonie im »Timaios« bezogen - fragt nach dem Wesen des Kosmos sowohl insgesamt als auch bezüglich seiner Teile, insofern er ein Lebewesen aus Allseele und Körper ist. Der höchste Erkenntnisgegenstand im Bereich der musica mundana ist die Allseele, die der Schöpfergott zuerst gleichsam als Urseele und als primäre Mischung aus den drei Prinzipien Identität, Verschiedenheit und Sein herstellt. Somit zielt die musica munda¬ na auf die Erkenntnis von Seele ab, weshalb sie ein umfassenderes und höheres Ziel als die musica humana besitzt, die sich auf eine Untersuchung der menschlichen Seele beschränkt. Auch hier wird der Vorrang der musica mundana vor der musica humana deutlich.307 Wenn auch die Seelen die entscheidenden Instanzen sind, so betrachten beide Musiken auch jeweils die körperliche Seite. Im Falle der kosmischen Musik handelt es sich um die extrem regelmäßigen und wohlgeordneten Bewegungen der dem Menschen übergeordneten und unvergänglichen Wesenheiten (beseelte Planeten).308 Mit Ausnahme der Fixsterne unterliegen
307 Zum Kosmos als göttliches Lebewesen vgl. Theo Sm. 187, 13 - 188, 7, zur Auffassung des Menschen als Mikrokosmos, dessen harmonische Zusammenfügung der des Makrokosmos entspricht, Moutsopoulos, 342-347, v. a. 347. 308 Vgl. Philop. in Nikom. 1 Ende Lemma 3 (in seinen christlichen Schriften polemisiert Philoponos allerdings gegen die These von der Ewigkeit der Welt), Macr. somn. II 1, 7 (die Harmonie im Himmel ist extrem, da dort kein Zufall, sondern ausschließlich die göttlichen Gesetze herr¬ schen) und Prokl. in Eukl. 137, 8 - 142, 7: Die Planeten sind die schönsten wahrnehmbaren Abbilder von Figuren. Über ihnen stehen die seelischen Figuren, da sie aufgrund ihrer Unabhän-
252
III. »De institutione musica«
die Gegenstände der musica mundana nämlich lediglich der Ortsbewegung, was umso mehr auf die Einheitlichkeit, Göttlichkeit und Rationalität1119 der sie jeweils betreibenden Seele verweist.310 Bezüglich der menschlichen Musik ist der »Timaios«-Passage ferner zu entnehmen, dass der Mensch kein >unbeschriebenes Blatt< ist, weil seiner Seele bereits eine Bestimmtheit, d. h. eine bestimmte Mischung aus Identi¬ tät und Verschiedenheit und somit Einheit und Vielheit innewohnt, die Platon durch gewisse Zahlenverhältnisse veranschaulicht. (Wenn im Fol¬ genden von »zahlhafter Bestimmtheit« gesprochen wird, ist damit nicht gemeint, dass die menschliche Seele aus einzelnen Zahlen oder Zahlenver¬ hältnissen besteht.) Da die menschliche Seele analog zur Weltseele gebildet wurde und da beide den irdischen Kosmos gemäß ihrer eigenen Beschaf¬ fenheit gestalten, wird auch der Kosmos selbst mit seinen einzelnen Phä¬ nomenen eine gewisse Ähnlichkeit zu beiden aufweisen.311 Hier liegt also der Schlüssel zur Beantwortung der oben aufgeworfenen Frage, warum und wie hörbare Musik den seelischen Zustand des Menschen beeinflussen kann: Ein bestimmter Mensch und eine von einem Menschen gesungene Melodie können aufgrund ihrer jeweiligen zahlhaften Struktur aufeinander bezogen werden. Der Hörende besitzt in sich bereits ein Kriterium, mit Hilfe dessen er das Gehörte erkennen und bewerten kann und das durch die Konfrontation mit den abweichenden zahlhaften Strukturen der gehörten Musik verschiedentlich beeinflusst werden kann (s. u. III.5.2). gigkeit von der wahrnehmbaren Materie selbst Ursache ihrer eigenen Bewegung sind. Im Ver¬ gleich zu den intellektiven Figuren sind die seelischen aber noch unvollkommen; vgl. dazu Radke, 691-693. 309 Dass die Himmelskörper laut Platon beseelt und mit Rationalität ausgestattet sind, erwähnt Boethius in Porph. sec. II 5 p. 184, 19-22. 310 Boeth. cons. 3, 8, 13-19 und 2, 5, 69-87: Nur um die Vernunft zu erkennen, welche die himmlische Schönheit lenkt, soll der endliche Mensch die wahrnehmbare Schönheit bewundern. Dazu ist er laut Boethius in der Lage, weil er einen göttlichen Ursprung hat, Gott ähnlich geschaf¬ fen wurde und Selbsterkenntnis erlangen kann. — In diesem Sinne sagt Theon v. Smyrna, dass man von den Göttern eine falsche Meinung haben kann, wenn man nicht die Natur der wahrnehmbaren Götter im Rahmen der Astronomie betrachtet hat (9, 5-7), da die Himmelskörper von Einheitlich¬ keit, Gleichmäßigkeit, Stabilität, Harmonie und Schönheit zeugen. Theon zählt dementsprechend zu den Grundsätzen (Hypotheseis) der Astronomie, dass der Kosmos durch ein einziges Prinzip geordnet ist und dass Auf- und Untergänge nicht durch Auslöschen oder Anzünden der göttlichen Körper entstehen, weil sie ansonsten nicht ewig wären und die Ordnung im All nicht bewahrt werden könnte. 311 Vgl. Macr. somn. I 6, 43 (kein Weiser hat daran gezweifelt, dass die Seele auch aus musi¬ kalischen Symphonien konstituiert ist); II 2, 14 (die Weltseele ist mittels der genannten Zahlen gewebt, so dass sie Körperlichkeit schaffen und verwalten kann); II 2, 23 (die Weltseele ist »aus Zahlen, welche Musik schaffen« - ex numeris musicam creantibus); II 2, 24 (die Weltseele voll¬ zieht ihr eigentümliche Bewegungen aufgrund ihrer zahlhaften Beschaffenheit und schafft deshalb Harmonisches) und II 3, 11: Die Weltseele, in der die Ursachen der Musik sind, verwaltet das Leben für alle Lebewesen und belebt das All. Da sie ihren Ursprung aus der Musik nahm, wird alles Lebende durch Musik gefesselt.
5. Anagogisches Potential der dreigeteilten Musik
253
Johannes Philoponos und Proklos zur Psychogonie Die neuplatonischen Kommentatoren Philoponos und Proklos sind der für die Auslegung entscheidenden Ansicht, dass die mathematischen Ausfüh¬ rungen in der Psychogonie des »Timaios« symbolisch zu verstehen sind, d. h. dass die Zahlen und Zahlenverhältnisse das Gemeinte abbildhaft an¬ deuten und die Seele selbst keinesfalls eine Zahl zum Rechnen oder eine mathematische Konstruktion aus diversen (rational erfassbaren) Zahlen ist. Darüber, dass zwischen der Allseele und der menschlichen Seele eine struk¬ turelle Ählichkeit besteht, sind sich beide einig.312 Zunächst zu Philoponos: Er diskutiert die einzelnen Details der Psychogo¬ nie zunächst mit Blick auf die Allseele, um die es Platon vorrangig geht, und fragt anschließend, welche Bedeutung die Aussagen des Timaios für die menschliche Seele besitzen:313 Die Teilung der durch eine Gerade sym¬ bolisierten Allseele in die einzelnen Zahlenverhältnisse (bestehend aus der Eins und daraus hervorgehend aus 2-4-8 sowie aus 3-9-27) kann man auch auf die menschliche Seele beziehen. Im Falle der Allseele führt die harmo¬ nische Teilung dazu, dass sie harmonisch bewegt wird und das All in der¬ selben Weise bewegt. Im Falle der menschlichen Seele bezweckt die har¬ monische Teilung, dass sie ein harmonisches Wesen besitzt - »sie hat näm¬ lich eine bestimmte Harmonie hinsichtlich des Thymos und der Epithymia« - und dass sie die harmonische Bewegung und Symphonie der Himmels¬ körper sowie die mathematischen Harmonien, darunter die musikalische, erkennen kann.314 Ferner ist die menschliche Seele weder neben ihrem jeweiligen Körper positioniert, wie es beim Nebeneinander von Steinen eines Hauses der Fall ist, noch kann sie mit ihm gemischt sein, da sie unkörperlich ist. Stattdessen ist sie analog der Verknüpfung von Stricken zu einem Seil an mehreren Stellen mit ihm verbunden, so dass partiell die Möglichkeit des gemeinsa¬ men Erleidens gegeben ist.315 Ohne die »Berührung« zwischen Körper und Seele ist eine Wahrnehmung - und somit ein Einfluss der gehörten Musik auf die Seele - undenkbar, da das Wahrnehmen sowohl eine körperliche Affektion als auch seelische Unterscheidungsakte, die sich auf diese Affek¬ tion richten, voraussetzt.316 Der Demiurg stattet die menschliche Seele für die Wahrnehmung und für die Erkenntnis des Intelligiblen aus, indem er sie aus den Prinzipien allen 312 Vgl. Plot, v l, 2. 313 Philop. in an. 115, 31 - 121, 10. 314 Ebd. 118, 28-38; zur Harmonie zwischen Thymos und Epithymia vgl. Boeth. arithm. 1, 32 p. 66, 5-22 (s. u. Anhang 5.3). 315 Philop. in an. 120, 34 - 121,9. 316 Ebd. 121,30-35.
254
III. »De institutione musica«
Seins konstituiert, so dass der Mensch in der Lage ist, die aus denselben Prinzipien entstandene übrige Schöpfung und sogar in gewisser Weise die Prinzipien selbst zu begreifen. Gleiches kann somit durch Gleiches erkannt werden - der durch eine rationale Seele harmonisch geordnete Kosmos durch den ähnlich verfassten Menschen.317 Proklos deutet den besagten Passus in seinem Kommentar zum »Timaios« ausführlicher und differenzierter.318 Er betont sowohl die Einheitlichkeit der Seele, die durch die Schilderung ihrer Teilung aus dem Blick geraten könn¬ te, als auch die mittlere Position, welche die Seele zwischen dem Intelligiblen und dem Wahrnehmbar-Physischen einnimmt: Harmonie ist ihr von ihrem Wesen her eigen, während Harmonie im Wahrnehmbaren eine Art Zusatz zu den Körpern darstellt, da sie an etwas ihr Fremdem vorliegt und getrennt vom Materiellen kein Sein hat.319 Proklos unterscheidet vier Arten von (nicht quantitativ zu verstehenden) Zahlen und entsprechend von Har¬ monie:320 1. die göttliche, einshafte bei Göttern, bei der kaum mehr von Harmonie und Zahl gesprochen werden kann, weil hier aufgrund der unsagbaren Einheit überhaupt keine Einung von Verschiedenem vorliegt, 2. die seinshafte, unbewegte im Seienden (Nüs/Intellekt), die er als die primäre Harmonie bezeichnet, 3. die psychische, selbstbewegte in den Seelen, die primär etwas Zusam¬ mengefügtes ist und bei der tatsächlich eine Vielheit zu einer Einheit ver¬ bunden wird,321 und
317 Ebd. 122, 27 — 123, 12: Der mit Rationalität begabte Mensch kann im Gegensatz zu Tieren das Harmonische vom Nicht-Harmonischen unterscheiden. 318 Prokl. in Tim. T 125, 10-211, 30. 319 Ebd. T 126, 13-21. 320 Ebd. T 161, 7-32 (vgl. dazu O’Meara, Pythagoras, 186f.) und 295, 2-7; vgl. Iambl. comm. math. 52, 5-7 (Unterscheidung des »Soviel« bei Körpern vom intelligiblen Vorbild und dem mathematischen »Soviel«); zur göttlichen Zahl bei Jamblich O’Meara, Pythagoras, 79-81; zur Zahl in der Mathematik, Physik und Metaphysik bei Syrian 132-138. 321 Noch bei Cusanus (id. ment. Vif.) ist zu lesen, dass der menschliche Geist (mens), der hier mit der menschlichen Seele gleichgesetzt wird, aufgrund seiner Zusammensetzung aus den Prinzi¬ pien des Selben und des Verschiedenen eine Harmonie ist (Beginn von VII): »Philosoph: Sag bitte: Glaubst du, dass unser Geist Harmonie oder sich selbst bewegende Zahl oder Zusammenset¬ zung aus Selbigem und Verschiedenem ... ist? Denn solcher Ausdrucksweisen bedienen sich die Platoniker und Peripatetiker. - Laie: Ich glaube, dass alle, die über den Geist geredet haben, solches oder anderes haben sagen können, bewegt von dem, was sie in der Kraft des Geistes erfuhren. Über jede Harmonie nämlich fanden sie ein Urteil im Geist und fanden, dass der Geist aus sich Begriffe bildet und so sich bewegt, wie wenn eine lebendige, der Unterscheidung fähige Zahl von sich aus daran ginge, Unterscheidungen zu machen, und dass er wiederum hierin zusammentassend und einteilend vorgeht ... Dass sie wegen dieser oder verschiedener ähnlicher Erfaht ungen solches und anderes über den Geist oder die Seele gesagt haben, ist vernünftigerweise
5. Anagogisches Potential der dreigeteilten Musik
255
4. die physische, fremdbewegte, sekundäre in dem, was von anderem seine harmonische Zusammenfügung empfängt und somit nur Anteil an Har¬ monie hat. Innerhalb des Seienden ist - so Proklos - die noerische (die im Seienden unterste und dem Psychischen am nächsten stehende) Harmonie die Ursa¬ che der seelischen Harmonie, die wiederum das unmittelbare Vorbild der hörbaren Harmonie darstellt.322 Aufgrund der zahlhaften Bestimmtheiten (Logoi), die der Demiurg der Seele gegeben hat, kann sie das in der Hierarchie vor und nach ihr Seiende und folglich auch sich selbst erkennen. Denn wie schon oben im Zusam¬ menhang mit Philoponos’ Ausführungen bemerkt wurde, liegt jeder Er¬ kenntnis eine Ähnlichkeit zwischen dem Erkennenden und dem Erkannten zugrunde.323 Dabei besitzen alle Seelen alle im »Timaios« genannten Ver¬ hältnisse - freilich eine jede Seelenart in jeweils spezifischer Weise. Des¬ halb ist die Seele in der Lage, nicht nur partikulär Harmonisches, sondern die gesamte Harmonie zu erkennen und selbst schöne Logoi hervorzubrin¬ gen. Auch das Hervorbringen der mathematischen Logoi beruht auf diesem Besitz bzw. dieser Beschaffenheit der Seele.324 Dieser Einblick in die beiden »Timaios«-Auslegungen mag genügen, um zu zeigen, dass Platons Psychogonie mit den damit verbundenen Konsequen¬ zen für Harmoniebegriff und Erkenntnislehre ein zentrales Thema neupla¬ tonischen Philosophierens bildete, das eine direkte Relevanz für die Musik¬ theorie besitzt. Es wurde aufgezeigt, dass Proklos und Philoponos von ei¬ nem inneren Zusammenhang und einer hierarchischen Abfolge der drei Musiken ausgehen: Insofern die Allseele Vorbild der menschlichen Seele ist und diese wiederum abhängig von ihrer Beschaffenheit hörbare Interval¬ le hervorbringt, ist die kosmische der menschlichen und die menschliche der hörbaren Musik übergeordnet.
anzunehmen. Denn dass der Geist aus Selbigem und Verschiedenem besteht, heißt, dass er aus Einheit und Andersheit so besteht, wie die Zahl zusammengesetzt ist aus Selbigem in Hinsicht auf das Gemeinsame und Verschiedenem in Hinsicht auf das Einzelne, welches die Erkenntnisweisen des Geistes sind.« (Übersetzung von Steiger). - Vgl. auch VI 95 (der menschliche Geist ist Abbild des göttlichen, trinitarischen Geistes; aufgrund seiner Entfaltung in die Vielheit und wiederum seiner Einung ist er selbst Zahl), coniect. II 17, 174 (zur gestuften Verwirklichung von Einheit, Gleichheit und Verbindung auf allen Seinsebenen und somit zur Zahlhaftigkeit auf allen Entfal¬ tungsstufen) und I 7, 27f.: Die Seele entstammt der Einheit der ihr übergeordneten intelligentia. Deren Einheit wird in der Seele einschränkend verwirklicht (kontrahiert) und entfaltet. Insofern die intelligentia die Einheit der Seele stiftet, ist die Seele die aus der intelligentia hervorgehende Zahl. 322 Prokl. in Tim. T 207, 21-32 und 211, 10-14. 323 Ebd. T 298, 15-31. 324 Ebd. E 336, 10-337,27.
256
III. »De institutione musica«
5.1.3 Die Verwandtschaft von All, Seele und hörbarer Musik bei Boethius Die entscheidende Aussage dazu, dass die gerade behandelte Passage aus Platons »Timaios« Boethius’ »Musiktheorie« zugrundeliegt, findet sich gleich zu Beginn des Musiklehrbuches. Dort heißt es, dass der Mensch gemäß seiner eigenen seelischen Konstitution wahrnimmt. Zwischen dieser, der platonischen Weltseele und dem Gehörten besteht eine Ähnlichkeit deren harmonische Fügung. Entspricht die Zusammenfügung des Gehörten der inneren Verfassung des Menschen, empfindet er Freude und Wohlgefal¬ len:325 Von daher kann man auch unterscheidend erkennen, dass von Platon nicht umsonst gesagt wurde, dass die Weltseele durch musikalisches Zusammenkommen verbunden ist. Denn da wir durch das, was in uns verbunden und passend zusammengefügt ist, jenes vernehmen, was in Tönen angemessen und passend verbunden ist, und uns daran erfreuen, erkennen wir, dass auch wir selbst in derselben Ähnlichkeit zusam¬ mengefügt sind. Freundschaftlich ist nämlich die Ähnlichkeit, hassenswert und ent¬ gegengesetzt die Unähnlichkeit.
Bezüglich der Verwandtschaft zwischen den drei Schöpfungsebenen nimmt Boethius denselben Standpunkt ein wie Platon, Philoponos und Proklos. Er behauptet ferner, dass ein angenehmes, freudvolles Hörerlebnis auf einer Ähnlichkeit zwischen der Harmonie des Gehörten und jener im Hörenden beruht.326 Eine genaue Kenntnis der menschlichen Psyche im Allgemeinen und eines bestimmten Menschen im Besonderen müsste einem Musiker demnach eine psychagogische Macht verleihen.327 Bekannter dürfte Boethius’ Bezug auf die Psychogonie in cons. 3 carm. 9 sein, wo er die Entstehung der Weltseele und die Schöpfung des Kosmos schildert. Die Darstellung fällt zwar knapper als im »Timaios«, aber inhalt¬ lich gleich aus, weshalb dieses Gedicht als Paraphrase der gerade behandel¬ ten »Timaios«-Passage bezeichnet wird. Boethius schreibt dort, dass die Seele des Einzelnen der Weltseele gleicht. Gott entfaltet die Allseele und bringt durch die gleichen Ursachen die Seelen und kleineren Leben her¬ vor.328 Der Mensch ist folglich laut Boethius kein unbeschriebenes Blattechten< Halbton rechnen und entsprechend nicht erkennen, dass sechs Töne eine Oktave um ein Komma überragen.350 Wenn im Folgenden aus neuplatonischer Sicht positiv verwertbare Aus¬ sagen bei Ptolemaios hervorgehoben werden, sollen damit keinesfalls Pto¬ lemaios’ Verwendung v. a. stoischer Terminologie (z. B. Synkatathesis, Hegemonikon, Katalepsis)351 und diverse Abweichungen von der platoni¬ schen Lehre geleugnet werden. Ptolemaios war nicht nur kein (Neu)platoniker, sondern überhaupt kein Philosoph. Ein nicht dezidiert platonisches Werk ins eigene System zu integrieren, scheint aus neuplatoni-
347 Barker, Greek Musical Writings II, 270f., meint, dass die von Ptolemaios betonte empiri¬ sche Verifizierung des rationalen Ergebnisses einen essentiellen Unterschied zu Platons Lehre darstelle. Es besteht m. E. aber auch die Möglichkeit, dass sich Ptolemaios’ Kritik nur gegen bestimmte pythagoreische Musiktheoretiker richtet. 348 Ptol. harm. I lf. und III 3 (vgl. die Übersetzung von I lf. im Anhang 3.9f.). 349 Ebd. III 3. 350 Ebd. v. a. I 9-11: Eine Oktave besteht aus fünf Ganztönen und zwei kleinen Halbtönen. 351 Ptolemaios verwendet Termini technici diverser Strömungen (mittlere Stoa, Epikureismus, Mittelplatonismus, akademischer Skeptizismus); vgl. Long, passim.
262
III. »De institutione musica«
scher Sicht allerdings unter Umständen problemlos möglich zu sein, wie etwa die Verwendung von Epiktets »Handbüchlein« in der neuplatonischen Ausbildung zeigt.352 Der folgende Rekurs auf Ptolemaios’ Ausführungen beschränkt sich auf ausgewählte, zentrale Aspekte der menschlichen Musik, um zu zeigen, mit welchen Inhalten sich dieser Teil der Musik befassen kann, und dass Ptolemaios’ Lehre einem Neuplatoniker wie Boethius bzw. einem Neupythagoreer wie Nikomachos aufgrund ihrer inhaltlichen Verwandtschaft in wesent¬ lichen Punkten mehr als akzeptabel erscheinen musste. Auch die Kapitel zur kosmischen Harmonie bieten Anknüpfungspunkte für eine neuplatoni¬ sche Rezeption, was detaillierter zu untersuchen wäre, aber den Rahmen dieser Untersuchung sprengen würde. Im Anschluss an eine ausführliche Erörterung der Musik im engeren Sinne, d. h. der musica instrumentalis, wendet sich Ptolemaios in harm. III 4-7 der menschlichen Musik zu. Das vorangegangene Kapitel leitet von der hörbaren Musik zu dieser zweiten Art über.353 Es weist darauf hin, dass derjenige, der die Verhältnisse der Intervalle soweit betrachtet hat, nun über das harmonische Wirken nur staunen kann und aus einem göttlichen Ver¬ langen heraus eine Erkenntnis des Zusammenhanges zwischen der Harmo¬ nie und dem wahrnehmbaren Kosmos anstreben muss.354 Selbst wenn es ein Mensch kaum erfassen kann, ist sowohl der wahrnehmbare Kosmos als auch die menschliche Seele gemäß den harmonischen Verhältnissen der Töne verfasst. Wer die Verhältnisse von hörbaren Tönen kennt, ist in der Lage, die beiden anderen Arten genauer zu betrachten. Hier begegnet also wie bei Boethius - ein umfassender Harmoniebegriff, der von einer Ähn¬ lichkeit der harmonischen Verhältnisse in Kosmos, menschlicher Seele und Tönen ausgeht. Auch die Reihenfolge beim Musikstudium entspricht derje¬ nigen, die Theon von Smyrna und Boethius propagieren und in ihren Trak¬ taten einhalten.355 Ptolemaios fährt fort:356 Ein harmonisches Vermögen wohnt allem inne, das in sich selbst das Prinzip der Bewegung hat, v. a. demjenigen, das von Natur aus vollendeter und rationaler ist. Besonders die Bewegungen der göttlichen Himmelskörper und der menschlichen Seelen haben eine Ge¬ meinschaft mit dem Logos (»Rationalität«, »maßhaftes Verhältnis«). Gera¬ de diese Aussagen fallen auf, da auch ein Neuplatoniker unter dem, was das
352 Hadot, Neoplatonisme, 147-165. 353 Eine Übersetzung von Ptol. harm. III 3 ins Englische mit Anmerkungen (darin Verweise auf Parallelstellen bei Aristoteles und Platon) bietet Barker, Greek Musical Writings II, 371-373. 354 Ptol. harm. III 3 p. 92, 1-8. 355 Ebd. III 4 p. 95, 4-27; vgl. Theo Sm. 16, 24 - 18, 2 und 47, 3-5: Erst wenn man die Musik in Zahlen kennt, kann man sich der kosmischen Musik zu wenden. 356 Ptol. harm. III 4 (Übersetzung: Barker, Greek Musical Writings II, 374),
5. Anagogisches Potential der dreigeteilten Musik
263
Prinzip der Bewegung in sich selbst hat, Seele versteht. Ihr Wesen besteht darin, selbstbewegt zu sein und den von ihr verwalteten Körper entspre¬ chend ihrem eigenen Sein zu bewegen, wobei die Ursache ihrer Selbstbe¬ wegung unbewegt in bzw. noch über ihr liegt. Entsprechend heißt es auch bei Boethius in seiner Zusammenfassung der Seelenentstehung (Psychogonie) in Platons »Timaios«, dass Gott die Seele entfaltet, welche das All (bzw. alles) bewegt und in gleicher Weise die übrigen Seelen und kleineren Leben, d. h. auch die menschlichen, hervorbringt.357 Darin, dass Harmonie etwas mit Logos im Sinne von Rationalität und zahlhaft-maßvoller Struktur, mit Bewegung und Seele zu tun hat, sind sich Ptolemaios und potentielle neuplatonische Rezipienten also einig. Wie zuvor angekündigt stellt Ptolemaios in den sich anschließenden drei Kapiteln die Entsprechungen zwischen der menschlichen Seele und den musikalischen Sachverhalten dar. In harm. III 5 behandelt er die primären Seelenteile und ordnet sie aufgrund der ähnlichen Eigenschaften den wich¬ tigsten Konsonanzen zu:358
Seelenvermögen
Konsonanz
Zahlenverhältnis
Denken Wahrnehmung vegetatives Vermögen
Oktave Quinte Quarte
2:1 3:2 4:3
Die neuplatonische Psychologie kennt eine differenziertere Einteilung als die hier von Ptolemaios vorgenommene; sie findet ihre Grundunterschei¬ dungen aber in Ptolemaios’ Ausführungen wieder. Der Zuordnung liegt eine Analogie bezüglich der Verhältnisse zwischen den drei Seelenteilen und den drei Intervallen zugrunde. Denn wie die Oktave als größtes und einfachstes Verhältnis die Quinte und Quarte in sich umfasst (2:1 besteht aus 3:2 und 4:3), so gehen aus dem Denkvermögen, das die niederen Er¬ kenntnisvermögen der Seele umfasst, Wahrnehmung und vegetatives Ver¬ mögen hervor. Wie ein Lebewesen mit vegetativem Vermögen nicht immer Wahrnehmung und Denken besitzt, ein intellektbegabtes hingegen immer 357 Boeth. cons. 3 carm. 9, 13-19; zur Psychogonie im »Timaios« s. o. III.5.1.2; zur neuplato¬ nischen Deutung der dritten Hypothesis des Platondialoges »Parmenides«, welche die Seele als mittlere Instanz zwischen dem relativ passiven, vielheitlichen Wahrnehmbar-Körperlichen und dem aktiven, einheitlichen, unkörperlichen Seienden des Intellekts versteht, vgl. Radke, 651-684, ferner Aristot. an. 412al-414a28 (Definition von Seele als Form des Körpers, die ihn betreibt, die dessen Formursache und Prinzip des Lebens ist), v. a. 414a 12—14: »Die Seele ist aber das, wo¬ durch wir primär leben und wahrnehmen und rational denken, so dass sie wohl ein Logos sein dürfte und eine Form (Eidos), aber nicht Materie und das Zugrundeliegende.« 358 Übersetzung: Barker, Greek Musical Writings II, 375-377.
264
III. »De institutione musica«
die beiden unteren Vermögen hat, so kann auch die Quarte nicht mit einer Quinte oder Oktave aufwarten, während die Oktave eine Quinte und eine Quarte in sich hat.359 Da die Wahrnehmung dem rationalen Denken näher steht als das vegeta¬ tive Vermögen, entspricht sie der Quinte, die sowohl hinsichtlich ihres Zahlenverhältnisses als auch ihrer Intervallgröße der Oktave am nächsten steht. Denn 3:2 hat eine geringere Abweichung von 2:1 als 4:3, wenn man bedenkt, dass in der hier vorliegenden Theorie alle Verhältnisse vom ein¬ fachsten Verhältnis der Gleichheit, d. h. ausgehend von 1:1, generiert wer¬ den. Ferner besteht die Quinte aus drei Ganztönen und einem kleinen Halb¬ ton und ist somit um einen Ganzton größer als die Quarte, bleibt aber hinter der Oktave um eine Quarte zurück. Ptolemaios führt außerdem die platonische Einteilung der Seele in einen rationalen (Logistikon), thymetischen und epithymetischen Seelenteil an.360 Diese drei Vermögen entsprechen wiederum den drei Intervallen: das Den¬ ken der Oktave, der Thymos der Quinte und die Epithymia der Quarte. Wie die Oktave aus sieben Intervallen besteht, so ordnet Ptolemaios dem Den¬ ken sieben Tugenden, entsprechend den anderen beiden vier und drei Tu¬ genden zu.361 Im Optimalfalle herrscht in der ganzen Seele die richtige harmonische Ausgewogenheit, die Ptolemaios ganz platonisch als Gerech¬ tigkeit bezeichnet. Der Zustand eines wahren Philosophen - d. h. eines nicht nur hinsichtlich seiner theoretischen Einsicht vollendeten Menschen gleicht der Harmonie eines vollständigen harmonischen Systems, bei dem alle Teile zu einem umfassend wohlproportionierten Ganzen beitragen. In harm. III 6 erörtert Ptolemaios die Entsprechungen zwischen den mu¬ sikalischen Gattungen einerseits und den theoretischen sowie praktischen Wissenschaften andererseits:362
359 Vgl. Boeth. cons. 5, 4, 88-111: Das obere Erkenntnisvermögen schließt immer das untere in sich ein. 360 Vgl. Plat. pol. 434d2^t43b6 (Anwendung der Untersuchungsergebnisse bezüglich des Staates aul den Menschen bzw. die menschliche Seele und ihre Konstitution), Theo Sm. 98, 8-10 und zu Thymos, Epithymia und Logos Büttner, 18-130. 361 Zu den einzelnen Vermögen der Weltseele vgl. Plat. Tim. 36e5-37c5. 362 Übersetzung: Barker, Greek Musical Wntings II, 378; zu den musikalischen Gattungen vgl. Boeth. mus. 1, 21 und 4, 5-12.
5. Anagogisches Potential der dreigeteilten Musik
Gattung
Aufbau des Tetra-
Notenbeispiel
theoretische
praktische
Wissenschaft
Wissenschaft
g-f-es-d
Theologie
Politik
g-e-es-d
Mathematik
Ökonomie
g-es-»eses«-d
Physik
Ethik
chordes
diatonisch
chromatisch
enharmonisch
Ganzton, Ganzton, Halbton Ganzton und Halbton (= kleine Terz), Halb¬ ton, Halbton Ganzton und Ganzton (= große Terz), Viertel¬ ton, Viertelton
265
Auch bei dieser Zuordnung lassen sich Gründe für die Annahme von Ge¬ meinsamkeiten zwischen den musikalischen Gattungen und den Wissen¬ schaften anführen: Das diatonische Tetrachord stellt die einfachste und ursprünglichste Aufteilung einer Quarte dar. (Der Ganzton ist der natürliche Unterschied zwischen Quarte und Quinte; füllt man eine Quarte mit Ganz¬ tönen auf, dann benötigt man zwei Ganztöne, und es bleibt ein kleiner Halbton übrig.) Aus ihm gehen die beiden anderen Gattungen sukzessive hervor - zunächst das chromatische Geschlecht, das vom diatonischen in geringerem Maße abweicht als das enharmonische. Analog verhalten sich auch aus neuplatonischer Perspektive - die Wissenschaften, wobei die Einteilung grundsätzlich auf Aristoteles zurückgeht. Boethius charakteri¬ siert die Philosophie auf dieser Grundlage als Gattung mit den beiden Arten theoretische und praktische Philosophie und unterscheidet ganz analog jeweils drei Wissenschaften, wenn auch nur die Theologie und die physiologia namentlich genannt werden.363 Wie im ersten Kapitel erörtert wurde, umfasst die Theologie die Prinzi¬ pien aller anderen theoretischen Wissenschaften, weshalb sie als primär und ursprünglich gilt, wie auch das diatonische Tetrachord. Seine Teile (zwei Ganztöne und ein Halbton) weichen ferner hinsichtlich ihrer Größe am geringsten voneinander ab. Ebenso ist die Theologie hinsichtlich ihrer Er¬ kenntnisgegenstände und speziell hinsichtlich Gottes am wenigsten von allen Wissenschaften von Verschiedenheit geprägt. Insofern die theologischen Sachverhalte in der Mathematik zu quantitati¬ ven Abbildern verkürzt werden und die Mathematik Operationsgegenstände verwendet, die an physikalischen Körpern vorliegen, stellt sie eine mittlere
363 Boeth. in Porph. pr. I 3 p. 8, 1 - 9, 22; Parallelstelle: Ammon, in Porph. 11, 21 - 13, 7; vgl. O’Meara, Platonopolis, 53-55 (mit Verweis auf Aristot. metaph. 1025bl-1026a32 für die theoreti¬ schen Wissenschaften innerhalb der Wissenschaffshierarchie) und Merlan, 59-87.
266
III. »De institutione musica«
Wissenschaft dar. Deshalb gleicht sie dem chromatischen Klanggeschlecht, das durch eine erste Abweichung vom diatonischen entsteht.364 Aus der Mathematik geht wie durch eine weitere Abweichung im Sinne einer Verwirklichung bereits vorhandenen Potentials die sichtbare Ordnung der Natur und des wahrnehmbaren menschlichen Verhaltens hervor. Dem entspricht die Genese des enharmonischen Tetrachordes aus dem chromati¬ schen. Denn dieses entsteht durch einen weiteren Schritt in die Vielfalt, indem das bislang kleinste Intervall, der kleine Halbton, nochmals in zwei Vierteltöne geteilt wird. Auf diese Weise wird der Viertelton, der bereits potentiell im kleinen Halbton vorlag, gebildet, wie auch im Abstieg vom mathematisch-seelischen Bereich in den irdischen, sichtbaren Kosmos die bereits potentiell vorhandenen Bestimmtheiten konkret wahrnehmbar wer¬ den. Auch auf Seiten der praktischen Wissenschaften stellt die Ökonomie (bezüglich des Haushaltes, d. h. im mittleren Bereich zwischen Individuum und Gesamtgesellschaft) eine verbindende Mitte zwischen der Politik und der Ethik dar. Die Politik besitzt als übergeordnete Wissenschaft die ge¬ meinsamen Prinzipien der beiden untergeordneten Wissenschaften, wäh¬ rend sich die Ethik auf die Einzelfälle menschlichen Handelns bezieht. Schließlich wendet sich Ptolemaios in harm. III 7 der Ähnlichkeit zwi¬ schen der Veränderung der Harmonie und dem Umschlag von Seelenzu¬ ständen eines Menschen in bestimmten Situationen zu.365 Höhere Tonarten wirken aufmunternd und sind angespannten Seelenzuständen vergleichbar etc. Ptolemaios’ Beispiele zur Wirkung der hörbaren Harmonien auf die Seele und die Grundlagen seiner Ethoslehre entsprechen denen bei Boethius. Ptolemaios deutet sogar die Ursache für die Wirkung hörbarer Musik auf die menschliche Seelenverfassung an: Die menschlichen Seelen leiden durch die Aktivität der Melodie mit, als ob sie eine Verwandtschaft der Verhältnisse ihrer eigenen Konstitution mit denen der Melodie erkennen können; die Bewegungen der Melodie prägen die der Seele in ganz eigen¬ tümlicher Weise, so dass die Seele aus der Gleichheit ihrer Verhältnisse zu einer anderen Disposition gebracht wird und u. U. mit bestimmten Reaktio¬ nen (weinen, Freude etc.) antwortet. Auch in diesem Punkt vertreten Boethius und Ptolemaios dieselbe Auffassung, weshalb Boethius auch hier mit einem Referat von Ptolemaios’ »Harmonielehre« hätte fortfahren kön¬ nen.366
364 Boeth. mus. 1,21 p. 213, 91'.: prima mutatio - »erste Veränderung«. 365 Übersetzung: Barker, Greek Musical Writings II 378f 366 S.o. III.5.1.3.
5. Anagogisches Potential der dreigeteilten Musik
267
5.2 Reflexion des Wahrnehmungsaktes als anagogische Methode 5.2.1 Augustinus' »De musica« als anagogisches Lehrbuch Einen Aufstieg zur absolut unkörperlichen Harmonie vollzieht Augustinus in seiner über 100 Jahre vor Boethius’ Musiklehrbuch verfassten musik¬ theoretischen Schrift »De musica«.367 Der aus sechs Büchern bestehende Dialog entstand um 387 n. Chr., wobei Augustinus wohl um 409 n. Chr. das sechste Buch revidierte.368 Durch die thematische Entwicklung im sechsten Buch übertrifft er die von Boethius im Proömium von »De institutione arithmetica« dargestellte Intention der Mathematik, als Propädeutikum für die Philosophie zu fungieren. Augustinus führt den Schüler nicht nur vom wahrnehmbaren Schönen hin zu dessen unmittelbaren, rational einsehbaren Voraussetzungen in Form von Zahlenverhältnissen, sondern wendet sich abschließend noch deren höchster Ursache und letztem Prinzip - Gott selbst - zu und reizt so das anagogische Potential der Musik zur Gänze aus. Einen Hinweis auf diesen rapiden Aufstieg gibt schon eine Bemerkung zu Beginn der Schrift, wo die Musiktheorie als »fast göttliches Fach« bezeichnet wird.369 Die Schönheit der hörbaren Musik wird in einen größeren Kontext gestellt und im Hinblick auf ihren göttlichen Ursprung relativiert. Aufgrund ihres Hinweischarakters auf die himmlische bzw. göttliche Musik billigt ihr Augustinus aber eine nicht zu unterschätzende hochführende Funktion zu.370 Auf die im Folgenden in groben Zügen dargestellte Weise geht der Dia¬ log den in Platons »Symposion« geschilderten Weg vom wahrnehmbaren zum transzendenten Schönen bis hin zur höchsten Quelle der Schönheit:371 Augustinus definiert musica als scientia bene modulandi - als die »Wissen367 Zu Augustinus’ Schönheitskonzeption, den numeri und der Wahmehmungstheorie vgl. Schmitt, Augustinus; Beierwaltes, Aequalitas numerosa; Horn, Augustinus, v. a. 401M05, und Keller, passim. 368 Der nachträglichen Umarbeitung des sechsten Buches sollte nicht so viel Gewicht gegeben werden, wie es Hentschel im Vorwort seiner Edition tut. Zum einen schließt es sich nämlich sachlich eng und folgerichtig an die vorangehenden Bücher an. Zum anderen zeigt Horn, Augusti¬ nus, passim, überzeugend anhand der dafür einschlägigen Passagen in Augustinus’ Werk eine inhaltliche Kontinuität hinsichtlich der Zahlphilosophie auf. Letztere geht wohl im Wesentlichen auf Porphyrios zurück (ebd., 391). 369 Aug. mus. I 2, 3, 44: pene divina ista disciplina. 370 Das Spannungsfeld zwischen der irdisch-hörbaren und der himmlischen Musik themati¬ siert Raffael in seiner berühmten Darstellung der Heiligen Cäcilia, die ab der zweiten Hälfte des 15. Jh. als Patronin der Musik und speziell der Kirchenmusik galt. Kunsthistorische Deutungen greifen entsprechend auf mittelalterliche Musikkonzepte zurück, die noch in der Renaissance en vogue waren und die wiederum v. a. auf die Musiktraktate des Boethius und Augustinus zurück¬ gehen; vgl. Gurlitt, passim. 371 Plat. symp. 209e5-212a7; dazu Plot. I 3, 1-3: Der musicus ist für den Aufstieg besonders geeignet, weil er die nötige Sensibilität, Beweglichkeit und Aufmerksamkeit für das Schöne, Harmonische und Einheitliche besitzt. Zur Frage nach dem Wesen von Schönheit vgl. die Debatte in Hipp. mai. 286dl-303dl0; dazu Cludius, 20-26.
268
III. »De institutione musica«
Schaft vom richtigen Maßhalten«.372 Als Ausgangspunkt des Traktates wählt er die leicht verständliche Untersuchung von Maßen in Rhythmen und Versen in Form von Zahlenverhältnissen. Wie bei Boethius, dessen Zahlen¬ verhältnisse sich allerdings auf Intervalle beziehen, sollen anhand der Zah¬ lenverhältnisse zahlhafte wahrnehmbare Phänomene sowohl grundsätzlich als auch hinsichtlich ihrer unterschiedlichen Schönheit erklärt werden. Auf dieser Stufe der Erkenntnis bleibt der Lehrer in Augustinus’ Dialog aber nicht stehen, obwohl - wie er selbst konstatiert - der Weg von den fleisch¬ lichen Sinnen zum wahren Wissen schwierig ist, weil sich der Mensch vom Niedrigeren kaum lösen kann bzw. möchte. Trotzdem sei der Aufstieg stufenweise möglich, wie Augustinus im sechsten Buch selbst demonstriert. Die Zahlenverhältnisse, die den Rhythmen wahrnehmbare Schönheit ver¬ leihen, verlangen ihrerseits wieder nach einer Erklärung, und zwar sowohl auf produktions- als auch auf rezeptionsästhetischer Seite. Die Frage lautet also: Woran orientiert sich der Mensch, wenn er mittels bestimmter Zahlen¬ verhältnisse Schönes hervorbringt bzw. wahrnimmt? Den Aufstieg zum transzendenten Bereich und schließlich hin zu Gott beginnt Augustinus in »De musica« entsprechend mit der Untersuchung der unmittelbaren Vor¬ aussetzungen für das Wahrnehmen, um anschließend wiederum deren Prin¬ zipien zu ermitteln. Vorausgesetzt werden jeweils eine aktuale Bestimmt¬ heit im Wahrgenommenen und in der Seele des Wahmehmenden, nämlich im Wahrnehmungssinn, im Gedächtnis und im Denken. Alle diese Be¬ stimmtheiten (Formen) nennt Augustinus - in guter neuplatonischer Tradi¬ tion - numeri (»Zahlen«), weil es sich um maßhafte, zahlhafte, d. h. geeintvielheitliche Bestimmtheiten handelt.373 Zu Beginn des Erkenntnisprozesses wendet sich die Seele mit der ihr be¬ reits innewohnenden zahlhaften Struktur dem Wahrgenommenen aufmerk¬ sam zu. Dabei aktualisiert sie eine dem Wahrzunehmenden analoge »Zahl«; sie bildet aufgrund ihrer eigenen zahlhaften Struktur aus sich heraus gleich¬ sam eine entsprechende Bestimmtheit, wird somit selbst das von ihr Er¬ kannte und nimmt genau in diesem Moment etwas wahr. In diesem Sinne ist der numerus eine »Tätigkeit der Seele« (operatio animae).374 Analoges gilt für das Vorstellen und Erinnern sowie die Denkakte: Das jeweilige seelische Vermögen erkennt etwas, indem es aufgrund seiner eigenen zahl-
372 Aug. mus. I 2, 2, 10, wobei modulatio von modus (»Maß«) hergeleitet wird. Das Zahlen¬ verhältnis bestimmt das Maß und verknüpft die Bewegungen miteinander (I 9, 15, 7-9). 373 S. o. HI.5.1.2. Zur Gleichsetzung von Zahl und Form bei Augustinus vgl. Horn. Augusti¬ nus, 398-M00, und u. III.5.2.2; zur neuplatonischen Tradition dieser wohl auf Jamblich zurückge¬ henden Lehre vgl. O'Meara, Pythagoras, 62-64; 79-81; 131-138; 159 und 186f. (inklusive Stel¬ lenangaben v. a. bei Jamblich bzw. Psellos, Syrian und Proklos). 374 Aug. mus. VI 6, 16, 14f.
5. Anagogisches Potential der dreigeteilten Musik
269
haften Struktur angesichts eines gegebenen >Objektes< seinen Erkenntnis¬ gegenstand konstituiert. Da Augustinus von einer hierarchischen Ordnung der Erkenntnisvermö¬ gen ausgeht, bei der sich übergeordnete Vermögen dem Erkenntnisgehalt untergeordneter zuwenden, wird ihm der Übergang von der Wahrnehmung zum rationalen Denken möglich: Bei der Suche nach einer Instanz, welche die wahmehmungsimmanente Beurteilung des Wahrgenommenen wieder¬ um beurteilt (die also darüber entscheidet, warum und ob zu Recht etwas als angenehm oder unangenehm empfunden wurde), gelangt die Suche zu den numeri iudiciales (»Beurteilungszahlen«). Betont werden muss, dass im Falle der numeri iudiciales nicht »bewußte Zahlen unbewußte« einschät¬ zen,375 sondern das rationale Denken den Sinneseindruck bewertet.376 Eine Reflexion auf den Erkenntnisakt als solchen, also eine Vergewisserung im Sinne einer Bewusstmachung, scheint er (im Unterschied etwa zu Descartes) nicht für wesentlich beim Erkennen zu halten.377 Auch die »Beurteilungszahlen«, d. h. das rationale Denken und das ra¬ tional Erfasste, sind nicht voraussetzungslos. Auch ihnen sind bereits zahl¬ hafte Bestimmtheiten gegeben, an denen sie sich beim Erkennen orientie¬ ren. Ihr letzter Ursprung ist Gott selbst: »Gott Schöpfer von allem«.378 Er ist
375 So Hentschel, Edition, XXV. 376 Die gleiche Auffassung vertritt Petrus de Auvergne, der Thomas v. Aquins Kommentar zu Aristoteles’ »Politik« fortsetzte (in VIII pol. L. 2 n.1290): »Man muss aber erkennen, dass der Ton einer musikalischen Harmonie zuerst vom Gehör erfasst wird, und wenn er es [sc. das Gehör] in einem bestimmten Verhältnis bewegt und gemäß einem mittleren [d. h. nicht extremen, sondern harmonischen] Verhältnis, in dem er konstituiert ist, bringt er Gefallen, und an diesem Gefallen können alle Anteil nehmen. Aber darüber hinaus betrachtet der Intellekt in der Aufmerksamkeit auf den harmonischen Ton das Verhältnis und die Ursache der Proportion, wie etwas Intelligibles für sich selbst, worin eine gewisse Vollendung des Intellekts besteht.« (est autem intelligendum, quod sonus harmoniae musicae primo comprehenditur ab auditu, et cum proportionaliter movet ipsum, et secundum mediam rationem, in qua constitutus est, delectationem inducit, et huic delectationi possunt participare omnes. sed ulterius in intentione soni harmoniaci intellectus considerat rationem et causam proportionis, quasi aliquod intelligibile secundum seipsum, in quo est quaedam perfectio intellectus.).
377 Nowak, 199, behauptet, Augustinus sei ein Wegbereiter neuzeitlichen Denkens gewesen, insofern seine Argumentation ihn »zur Erkenntnis der konstitutiven Subjektivität« führe, was »erst in neuzeitlichem Kontext möglich zu sein scheint«. Allerdings vertritt Augustinus keine Bewusst¬ seinsphilosophie wie Descartes (auf den sich Nowak bezieht), sondern eine platonische Unter¬ scheidungsphilosophie; vgl. Schmitt, Platon, passim. Interessant sind aber Nowaks Hinweise auf den tatsächlich vorhandenen ordo-Gedanken im Mittelalter (197: im kosmischen und leibseeli¬ schen Bereich ebenso wie im Bereich der Stände und des Handels, etwa bei Otloh v. St. Emeram), auf dessen Verwirklichung in der gotischen Architektur (203 mit Anm. 28) und die analogen Äußerungen bei Remigius v. Auxerre, Eriugena und Cusanus (204f.). 378 Augustinus lässt seinen Schüler anhand des Verses Deus creator omnium aus einem ambrosianischen Hymnus ausgehend von einer metrischen Analyse zur Begründung der Schönheit dieses Verses und damit zur Beschäftigung mit dessen Aussage aufsteigen (ab mus. VI 2, 2); vgl. auch conf. V 3, 5, Cus. coniect. I 8, 36 (Aufstieg mit den Etappen Wahrnehmung, Seele, Intellekt
270
III. »De institutione musica«
die höchste Quelle jeder Harmonie.379 Der Erkenntnisweg führt aus mensch¬ licher Perspektive von außen nach innen und von dort nach oben.380 Augustinus’ Wahmehmungslehre wurde wegen ihrer Verwandtschaft mit Boethius’ diesbezüglichen Auffassungen vorgestellt. Ihr gemäß weisen sowohl das Wahrnehmbare als auch der Erkennende im Erkenntnisakt zahl¬ hafte, unkörperliche Bestimmtheiten (numeri) auf. Ein numerus ist eine geeinte Vielheit, die von einer aktiven, Einheit stiftenden und selbst umso einheitlicheren Instanz hervorgebracht und wiederum beurteilt wird. Kon¬ sequenterweise gelangt Augustinus am Ende von »De musica« zu dem Schluss, dass eine vollkommen einfache, aber potentiell unerschöpfliche Einheit, nämlich Gott, Ursprung all dieser Erkenntnisvermögen und -akte sowie des Erkennbaren ist. Augustinus’ Argumentation stützt sich auf zwei Grundthesen - die Spon¬ taneität des Wahmehmungsaktes und die von ihrem Wesen her zahlhafte Disposition der menschlichen Seele: Die jeweiligen numeri in der Seele werden beim Erkennen aktiv angewendet. Der Kirchenvater bezeichnet damit keine zahlhafte, messbare Struktur einer körperlichen Affektion von außen, sondern jeweils eine einheitliche, in sich strukturierte, geistige Be¬ stimmtheit, die entweder etwas Wahrnehmbares formt oder im Menschen das Wahrgenommene bzw. die Meinung über das Wahrgenommene beur¬ teilt. Damit teilt Augustinus den in der neuplatonischen Wahmehmungstheorie herrschenden Konsens, dass eine Wahrnehmung zwar auf ein äuße¬ res, körperliches Erleiden angewiesen ist, dass die Seele aber im Anschluss an diese Affektion in unkörperlicher, aktiver Weise nur gemäß einer Form und nicht gemäß der Materie erkennt.381
und Gott), ferner Benz, 258—282 und 291—293 (zur entscheidenden Rolle der Wahrnehmung als Einstiegsinstanz beim Aufstieg zum Einen). 379 Augustinus bezeichnet Gott auch als »höchstes Maß« (summus modus: Aug. ord. II 5, 14), was angesichts der Definition der Musik als scientia bene modulandi besagt, dass sich gutes und richtiges musikalisches Maßhalten nicht unabhängig von diesem ursprünglichen Maß aller Maße denken und hervorbringen lässt; vgl. Plot. VI 9, 1 und V 5, 4, 13f.: Das Hen (»das Eine«) ist ein Maß, das selbst nicht gemessen werden kann. 380 Beierwaltes, Aequalitas numerosa, 152 mit Anm. 59. - Die Rückkehr ins Innere beim Er¬ kennen und wahren Lernen schildert Boethius in cons. 3 carm. 11 mit Rekurs auf die platonische Anamnesislehre. Dass der Weg »nach oben« beschwerlich und kaum gangbar ist. betont er mehr¬ mals (cons. 5, 5, 48f.: si possumus und 5, 6, 3: quantum fas est). 381 Augustinus bezeichnet die rat io als eine lebendigere Zahl (mus. VI 6, 16; VI 8, 22, 74 und VI 9, 24, 55-60). Entsprechend ihres Grades an Aktivität und Vitalität werden die diversen Zahlen in unterschiedlichem Maße gewürdigt, wie man es Personen gegenüber tut; vgl. Hentschel, Einlei¬ tung zur Ausgabe und Übersetzung von Aug. mus., XVII. Vgl. ferner Boeth. mus. 1,2 p. 188, 28: »unkörperliche Lebendigkeit des Denkens« (incorpoream rationis vivacitatem) und 5, 2 p. 352, 21-26: Das Denken wird durch die Materie nicht aufgehalten. - Noch Thomas v. Aquin vertritt (in an. L. II 17) die Theorie, dass es die Seele ist, die hört und sich dabei eines bestimmten Körpertei¬ les bedient. Auch bet einer stimmlichen Äußerung nutzt die Seele Körperliches als Werkzeug, nämlich die Luft, die sie entsprechend der innerlich vorgestellten Äußerung bewegt, so dass ein
5. Anagogisches Potential der dreigeteilten Musik
271
Diese Theorie ist in der griechischen neuplatonischen Literatur beson¬ ders ausführlich bei (Ps.-)Simplikios belegt, der wohl ein Zeitgenosse des Boethius war. Im Kommentar zu Aristoteles’ »De anima« unterstreicht er mehrmals, dass eine Wahrnehmung ausgehend von einer äußeren Affektion im Wesentlichen eine von der Seele erbrachte Erkenntnisleistung ist. Von innen heraus bringt sie den Logos hervor (Probole), der dem äußerlich wahrnehmbaren Eidos entspricht und den sie also schon vor dem Akt des Wahrnehmens besaß.382 Wenn sich die Seele beim Wahmehmen einer unkörperlichen Form er¬ kennend zuwenden soll, dann liegt es in der Logik des Gedankens, dass die Seele dem >Wahmehmungseindruck< etwas Eigenes, das der jeweiligen Form entspricht, gleichsam entgegensetzt, um es erkennen zu können.383 Diese der Seele bereits innewohnende Strukturierung beschreiben diverse Neuplatoniker und bezeichnen sie als zahlhaft bzw. die einzelnen Erkennt¬ nisvermögen der Seele als Zahlen.384 Die Ähnlichkeit zwischen schöner hörbarer Musik und der menschlichen Seelenkonstitution ermöglicht es dem Menschen - so Augustinus - bestimmte Rhythmen, Melodien etc. vorzuziehen und andere abzulehnen.385 Ohne die These, dass Wahrnehmung eine primär geistige Tätigkeit ist, würde Augustinus’ musiktheoretischer Traktat nicht zu dem Ergebnis kommen, dass es eine höchste geistige, höchst aktive und allmächtige Quel¬ le jeden Seins und Erkennens gibt. Denn die Annahme einer materialisti¬ schen Erkenntnistheorie gäbe keinen Anlass, einen Urheber der immateriel¬
lem oder ein Wort entsteht (L. II 18, 477). Laut Panti (Grosseteste, 5, und Suono interiore, 240f.) erklärt Grosseteste (1235 Bischof von Lincoln) den Hörvorgang wie Augustinus mit den numerv, vgl. Aug. quant. an. 25, 48. 382 (Ps.-)Simpl. in an. 119, 3-20; 123, 34-36; 125, 18 - 126, 16; 138, 11-15; 165, 29 - 166, 34 und 189, 33 - 190, 6. Zu den inneren Zahlen bei Boethius s. u. III.5.2.2, zur geistigen Aktivität beim Erkennen und zur psychischen Immanenz des Wahrnehmungsgehaltes bei Plotin vgl. Benz, v. a. 1-52, zur Bedeutung der Spontaneität der Seele bei Aristoteles vgl. Bernard, Wahrnehmung, passim. 383 Vgl. Horn, Augustinus, 395, und Keller, 277f. 384 Zu Philoponos und Proklos s. o. III.5.1.2; vgl. O'Meara, Pythagoras, 131-134; 154 und 159 (zu Syrian und Proklos). 385 Vgl. Aug. conf. X 33 zur Parallele zwischen dem Affekt im Inneren des Menschen und den Maßen bzw. Tonarten in der gehörten Musik, die auf »einer verborgenen Verwandtschaft« (occulta familiaritate) beruht. Sachlich gleich äußert sich Thomas in an. L. I 7, 95-97: Die harmo¬ nischen Verhältnisse sind eine bestimmte Art von Verhältnissen, die Ursachen der Intervalle sind. Wenn Platon alles aus Zahlen konstituieren will, dann aber nicht aus harmonischen Verhältnissen, sondern gemäß diesen, wie die Seele. Das tat er, weil sich alles an dem erfreut, was ihm »gleich und von Natur aus verbunden« ist (simile et connaturale). »Wir sehen aber, dass die Seele sich an allem harmonisch Gefügten erfreut und an allem Anstoß nimmt, was wider die gebührende Har¬ monie ist, wie bei Tönen so auch bei Farben ...« (videmus autem quod anima delectatur in Omni¬ bus harmonizatis, et offenditur ex his quae sunt praeter debitam harmoniam, tarn in sonis quam in coloribus ...); vgl. ST I q. 5, art. 4 ad 1.
272
III. »De institutione musica«
len, geistigen Urteilsvermögen des Menschen zu suchen. Die »Zahlen der Wahrnehmung« bilden also den Ausgangspunkt für die rasante Anagogik im sechsten Buch von Augustinus’ »De musica« - »Vom ästhetischen Ur¬ teil zur metaphysischen Erkenntnis«, wie Hentschel seine Ausgabe des ersten und sechsten Buches überschreibt. 5.2.2 Boethius’ innere Formen der Wahrnehmung Boethius legt seinem Musiktraktat die platonische Seelenkonzeption des »Timaios« zugrunde (s. o. III.5.1.3), was im Folgenden im Hinblick auf die Aktivität der Seele beim Wahrnehmen und auf ihre zahlhafte Prädisposition weiter differenziert wird. Dem musiktheoretischen Lehrbuch ist zu diesem Aspekt nur wenig zu entnehmen, da es den nicht-physischen Akt des Hö¬ rens ebenso wie das eigentliche >Objekt< des Hörens nicht untersucht. Man kann lediglich in mus. 1, 3 erfahren, dass es auch beim Hörbaren eine be¬ stimmte Form sein muss, die aufgrund eines Schlages und der entsprechen¬ den Bewegung an einem wahrnehmbaren Körper, an der Luft als Medium sowie am Ohr vorliegt. Was dann mit der am Ohr vorliegenden Form im Inneren geschieht, damit eine Wahrnehmung stattfindet, erläutern mehrere Passagen im »Trost der Philosophie«. Auch nach Boethius kann eine Wahrnehmung ohne ein geistiges Prinzip nicht erklärt werden, wie das fünfte und letzte Buch der »Consolatio« be¬ legt. In cons. 5, 4, 70-116 zeigt die »Philosophie«, dass nicht das Erkannte, sondern primär die Aktivität des Erkennenden den Erkenntnisakt ermög¬ licht. Das Argument lautet, dass ein und dasselbe durch verschiedene Er¬ kenntnisvermögen erfasst werden kann. Etwa kann »Mensch« gedacht, vorgestellt oder wahrgenommen werden. Das >Objekt< diktiert also nicht den Erkenntnismodus bzw. das entsprechende Erkenntnisvermögen, das aktiviert wird. So fasst die »Philosophie« zusammen:186 Siehst du also, dass sich alles beim Erkennen mehr der eigenen Fähigkeit bedient als dessen, was erkannt wird? Und dies nicht zu Unrecht; denn da jedes Urteil als ein Akt des Urteilenden besteht, ist notwendig, dass ein jeder seine Tätigkeit nicht aus frem¬ der, sondern aus eigener Macht vollendet.
Im sich anschließenden Gedicht positioniert sich Boethius dezidiert gegen eine rein materialistische Erklärung der Wahrnehmung:387 Die stoische Typosis-Lehre ist nicht haltbar, da sie unter der Wahrnehmung eine aus¬ schließlich passive Prägung nach Art einer Wachstafel versteht und auf diese Weise alles Erkennen und Wissen aufhebt. Der menschliche Geist
386 Boeth. cons. 5, 4, 111-116. 387 Ebd. 5 carm. 4.
5. Anagogisches Potential der dreigeteilten Musik
273
gliche einem toten Spiegelglas, indem er nur aufnehmen und widerspiegeln, aber selbst nicht aktiv begreifen und geistig tätig werden kann.388 Diese Aussagen beruhen auf folgenden Überlegungen: Wenn man beim Wahrnehmen die Form eines Körpers erfasst, dann kann die im Vergleich zur jeweiligen Form relativ passive Materie des Sinnesorgans nicht die sie bestimmende Form beurteilen. Die Materie ist nicht aktiver als das sie for¬ mende Eidos, wie auch der Marmorblock nicht die Form, welche der Steinmetz ihr verleiht, selbst bilden - geschweige denn erkennen - kann. Der Steinmetz hingegen, der die Gestalt der Statue im Geiste in sich trägt, bringt nicht nur die Statue hervor, sondern beurteilt sie auch wie eine über¬ geordnete Instanz, die nicht durch eine körperliche Affektion beeinträchtigt wird (s. o. 1.2.7). Außerdem widerspräche eine materialistische Auffassung der Wahrneh¬ mung als Abdruck den Erfahrungen, die zeigen, dass nicht jeder Mensch mechanisch alles in der gleichen Weise wahmimmt (dann müssten alle automatisch lernen können) und dass das Wahmehmen wesentlich von der geistigen Konzentration des Menschen abhängt. Wer z. B. intensiv und ganz vertieft ein Buch liest, hört u. U. das Klingeln des Telefons nicht, während ein anderer, dem dieses Geräusch genauso gut zugänglich ist wie dem Lesenden, es hört.389 Boethius hält die menschliche Seele im Anschluss an Platons »Timaios« für eine Instanz, die mit einer bestimmten Mischung aus Selbigkeit und Ver¬ schiedenheit ausgestattet ist, durch deren Aktivierung Erkenntnis möglich wird und deren Sein einem höheren Ursprung - dem Schöpfergott bzw. dem von ihm bei der Schöpfung bemühten intelligiblen Vorbild - ent¬ stammt (s. o. III.5.1.3). So wird es kaum überraschen, dass er ein Pendant zu Augustinus’ inneren numeri des Menschen kennt. Der Erkennende erlei-
388 Zur Wahrnehmungstheorie bei Aristoteles vgl. Benz, 1-52 (v. a. 15-27: Darstellung der aristotelischen Wahrnehmungstheorie anhand des Hörens), und Bemard, Wahrnehmung, 49-112. 389 Außerdem ergibt sich das in stoischen Kreisen tatsächlich diskutierte Problem, wie denn mehrere Wahrnehmungen zugleich aufgenommen werden können (z. B. ein Klang und eine Gestalt oder Farbe zugleich), wenn doch die Tafel oder das Wachs schon mit einer Prägung versehen ist. Ein Versuch, diese Schwierigkeit rein materialistisch zu lösen - indem z. B. Klang und Farbe nebeneinander oder auf verschiedene Seiten der Prägemasse eingeprägt werden - führt zum Problem, wie und gemäß welchem Kriterium diese beiden Prägungen miteinander verbunden werden können, da Menschen erfahrungsgemäß sinnvolle Kombinationen vollziehen und z. B. das Grünliche und Kugelförmige aufeinander beziehen und so einen Apfel erkennen. Dieser Bezug kann aus aristotelischer und neuplatonischer Perspektive nur durch eine geistige Instanz hergestellt werden, da nur im Unkörperlichen eine echte Einheit hergestellt werden kann (Körper können maximal aneinander angrenzen, selbst wenn es sich um eine Mischung handelt) und da nur die geistige Instanz - abgesehen vom Zufall - einen sinnvollen Bezug unter den vielfältigen Eindrükken herzustellen in der Lage ist. Diese Wahrnehmungsleistung kann die materialistische TyposisLehre der Stoiker aus (neu)platonischer Sicht nicht erklären.
274
III. »De institutione musica«
det gemäß Boethius zwar zunächst passiv eine Affektion durch Farbe, Ton etc.390 Daraufhin aber ruft die geweckte Kraft des Geistes die Formen (species), die sie innen besitzt, zu gleichen Bewegungen, wendet sie auf die äußeren Zeichen an und mischt durch die innen verborgenen Formen {formis) die Abbilder.391
Die aktivierten, inneren Formen (species bzw. formae) bilden ein dem äu¬ ßeren Wahrnehmbaren entsprechendes Bild in der Seele des Erkennenden. Zusammenfassend heißt es anschließend:392 Die menschlichen Sinneswerk¬ zeuge erleiden durchaus von außen etwas von den Qualitäten der Körper. So wird die Tätigkeit des Geistes erst geweckt und die »innen ruhenden Formen« (quiescentes intrinsecus formas) werden hervorgerufen. Aber der Geist (animus) erleidet und empfängt nicht duldend einen Eindruck, son¬ dern beurteilt die vom Körper erfahrene Affektion aus eigener Kraft. Die innen ruhenden Formen, die bei einer Wahrnehmung aufgrund des äußeren Anstoßes durch die Seele aktiviert werden, entsprechen in ihrer Funktion exakt den numeri occursores bei Augustinus. Auch die Formen des äußeren wahrnehmbaren Körpers finden bei Augustinus in den numeri sensibiles ihr Pendant.393 Zahlen bzw. Formen hegen bereits in der Seele des 390 Vgl. Boeth. in Porph. sec. I 1 p. 136, 18f.: Die Sinne werden durch die Formen der wahr¬ nehmbaren Körper »geschlagen« bzw. »getroffen« (non tantum eas rerum capiunt formas quibus sensibili corpore feriuntur praesente).
391 Boeth. cons. 5 carm. 4, 35—40: Tum mentis vigor excitus, / quas intus species tenet, / ad motus similes vocans / notis applicat exteris / introrsumque reconditis / formis miscet imagines.
An dieser Stelle weicht die Übersetzung von Gigon wohl nicht nur aufgrund der metrischen Übersetzung zu stark vom Sinn des Textes ab. Er übersetzt den zentralen Terminus technicus species (griech.: Eidos) in Zeile 36 nicht (stattdessen: »Was an innerer Schau er trägt«). Die Zeilen 39f. übersetzt Gigon mit: »Und vermählt im Innern nun / der verborgenen Form das Bild«. Es stellt sich die Frage, welches Bild mit einer in der Seele latent vorhandenen Form verbunden werden soll. Da die inneren Formen (bei Boethius im Plural) selbst ein Bild des zu Erkennenden verfertigen, dürfte der Ablativ reconditis formis instrumental aufzufassen sein, d. h. durch diese Formen mischt der Geist sein inneres Bild; vgl. in Porph. sec. I 1 p. 136, 17-21. (Ps.-)Simplikios (s. o. 271 Anm. 382); ferner Benz, 44 mit Anm. 143, und Bernard, Wahrnehmung, v. a. 69—84. 392 Boeth. cons. 5, 5, 1-7. 393 Die einzigen mir bekannten Hinweise in der Forschungsliteratur auf diese sachliche Über¬ einstimmung zu den numeri des Augustinus finden sich bei Chamberlain, 91 (der allerdings unter der menschlichen Musik etwas Physisches zu verstehen scheint: 90 und 97), und Bubacz, passim (der unter Bezugnahme auf Aug. trin., Aug. mus. und Boeth. in Porph. sec. I 1 auf die aktive Etablierung eines inneren Erkenntnisobjektes hinweist). Weder der Kommentar von Gruber zur »Consolatio« noch die relativ philosophisch angelegte Arbeit von Scheible (v. a. 166-169 zu 5 carm. 4 und 173-216 zum philosophischen System der Schrift, dabei 197-205 zur Erkenntnistheo¬ rie) verweisen auf Augustinus’ numeri. Scheible erinnert hinsichtlich der Aktivität bei der Wahr¬ nehmung an Anstot. an. II 4, meint aber dennoch (168f. mit Anm. 4): »Aber die klare Unterschei¬ dung zwischen körperlicher passio und geistiger Aktivität liegt auch hier nicht vor«, weshalb sie Boethius als Mittler zwischen Plotin und der Stoa bezeichnet, da Plotin den körperlichen Aspekt der Wahrnehmung leugne (205), die Stoa dagegen den geistigen. Dass Plotin den körperlichen Aspekt der Wahrnehmung nicht negiert, ist aber schon der ersten Enneade (11,7) zu entnehmen;
5. Anagogisches Potential der dreigeteilten Musik
275
Menschen bzw. im Wahrnehmbaren vor und bestimmen den Wahrneh¬ mungsakt in der Weise, dass die äußeren Bestimmtheiten die inneren zur Aktivität rufen und infolgedessen in der Seele ein inneres Wahrnehmungs¬ objekt etabliert wird, das dem äußeren ähnelt und das in weiteren Schritten beurteilt werden kann. Bei der Beurteilung werden immer höhere Erkennt¬ nisvermögen aktiviert (Wahrnehmung - Meinung - rationales Denken). Wenn ein Erkenntnisvermögen im höheren eingeschlossen ist und durch es konstituiert wird,394 dann kehrt die anagogische Betrachtung der numeri diesen Entfaltungsprozess lediglich um und ermöglicht jeweils eine Erinne¬ rung an das unmittelbare Prinzip des Erkenntnisaktes und auch an die mit¬ telbaren Prinzipien des eigenen Erkennens und Seins.395 Augustinus bringt die Zahlen mit Formen in Verbindung:396 Himmel, Er¬ de, Meer und ihre Bewohner haben Formen, weil sie Zahlen haben. Nimm ihnen dieses: Nichts werden sie sein. Woher also sind sie, wenn nicht von [sc. dort], woher Zahl ist? Denn schließlich haben sie in dem Maße Sein, in welchem sie Zahlhaft-Sein haben.
Die zahlhafte Bestimmtheit von Körpern manifestiert sich in Raum und Zeit, die des menschlichen Geistes (animus) nur in der Zeit, und schließlich ist der numerus über dem Geist des Künstlers auch noch der Zeit enthoben (.numerus sempiternus). Seine Schau verleiht Weisheit.397 Wenn man etwas erfasst, dann handelt es sich jeweils um die »Form der Zahlen«.398
vgl. auch 11,8 (zu den Eide, welche die Seele bereits in bestimmter Weise in sich hat, und zur Mittelstellung der Seele unter dem Intellekt), ferner Benz, 283-294. Auch Ralfs, passim, bringt hinsichtlich der »inneren species« keinen sachlichen Gewinn. Der Aufsatz ist aber insofern inter¬ essant, als er Erstaunen über die Position ausdrückt, dass das Erkennen schon laut Boethius aktiv ist und dieser damit bereits neuzeitliche Erkenntnisse (Kant) vorwegnehme (v. a. 363-366). 394 Boeth. cons. 5, 4, 88-111; zu Plotin vgl. Benz, 261-282; ferner Cus. coniect., passim, z. B. I 4, 14f. (aus Gott geht die intelligentia hervor, aus dieser wiederum Seele, die wiederum das Körperliche schafft, wobei jeder Bereich weiter in sich differenziert ist). 395 Vor diesem Hintergrund ist auch die neuplatonische Rede vom Lernen als Wiedererinnem zu sehen, die sich besonders auf Platons »Menon« und »Phaidon« beruft; vgl. Boeth. cons. 3 carm. II (wer die Wahrheit sucht, muss in sich selbst zurückgehen und lernen, dass er das draußen lang Gesuchte schon in sich hat, dass es durch seine Körperlichkeit verdunkelt ist und durch Wiederer¬ innerung wieder ans Licht geführt werden kann); 4 carm. 1; Prokl. in Eukl. 12, 2 - 18, 4 (die Seele besitzt bereits die Logoi; sie werden aufgrund der Wahrnehmung nur wiedererinnert) und 141, 2 142, 2 (dazu O’Meara, Geometrie, 53). 396 Aug. lib. arb. II 164: formas habent quia numeros habent; adime Ulis haec, nihil erunt. a quo ergo sunt nisi a quo numerus? quandoquidem in tantum illis est esse in quantum numerosa esse.
397 Ebd. II 165-167: Handwerker und Künstler orientieren sich beim Schaffen ihrer Werke an Zahlen; der Herstellungsprozess dauert so lange, bis das Produkt »auf das innen befindliche Licht der Zahlen bezogen wurde, soweit das möglich ist«; mittels der Bewertung durch die Sinne gefällt das Kunstwerk einem inneren Urteil, bei dem die oberen Zahlen (supemos numeros) geschaut werden; die Körperteile des Künstlers bzw. Handwerkers bewegt auch eine Zahl. Beim Tanzen
276
III. »De institutione musica«
Der Kirchenvater bewegt sich mit der Identifizierung der Zahl mit dem Eidos (Form) auf den gewohnten Bahnen neuplatonischen Denkens, das dem Eidetischen und Intelligiblen einen zahlhaften Charakter zuspricht.399 Es scheint deshalb nicht unplausibel zu sein, Augustinus’ numeri und Boethius’ innere Formen systematisch gleichzustellen. Dabei ist festzuhal¬ ten, dass Boethius weder eine genauere Differenzierung einzelner Arten von inneren Formen vornimmt noch ihre Hierarchie anagogisch von unten nach oben durchgeht. Eine Übereinstimmung zu Augustinus’ Theorie liegt deshalb nur im Grundsätzlichen vor. Freilich genügt sie, um eine Antwort zur zentralen Frage der Ethoslehre, wie gehörte Musik die menschliche Seele beeinflussen kann, bei Boethius aufzuzeigen und um das anagogische Potential der musica instrumentalis, die Boethius in seinem Musiktraktat behandelt, in dieser zentralen Hinsicht zu belegen. 5.2.3 Fazit zum Wert des Wahrnehmens und der hörbaren Musik Trotz der starken Ausrichtung der Mathematik insgesamt auf das Transzen¬ dente muss an dieser Stelle festgehalten werden, dass die Ebene der wahr¬ nehmbaren Harmonie keinesfalls gemieden oder absolut abgelehnt wird.400 Eine absolute Negation der Wahrnehmung und somit der Körperlichkeit widerspräche Boethius’ Weltbild angesichts der Tatsache, dass die Schöp¬ fung der sichtbaren Welt sowohl im »Timaios« als auch im christlichen Verständnis, wie es etwa in der »Genesis« zum Ausdruck kommt, vom Schöpfergott selbst in Auftrag gegeben bzw. sogar persönlich vorgenom¬ men wird. Der Kosmos ist auch laut dem »Timaios« auf die schönste Weise geschaffen worden. Als solcher ist er beachtens- und schätzenswert. Auf seiner Ebene beginnt der menschliche Erkenntnisprozess, und auf seiner Ebene bewegt sich der Mensch sein irdisches Leben lang, selbst wenn er es auf die transzendente Realität und die wahre Schönheit ausrichtet. Aus diesem Grunde weisen die Platoniker der Wahrnehmung ausgerechnet dort, wo ihre Ebene überstiegen werden soll, eine Rolle als Ausgangspunkt ihrer anagogischen Methoden zu - sei es in der Mathematik, der Allegorietheorie oder dem Kultus.401 Die Unentbehrlichkeit sowohl der Wahrnehmung als auch der mittleren, mathematischen Stufe für den »Aufstieg zum Einen«, wie ihn J. Halfwassen
erfreut die Zahl, da sie die Schönheit der Bewegungen hinsichtlich Ort und Zeit bewirkt, wobei die Arithmetik selbst weder Ort noch Zeit kennt. 398 Ebd. II 171: numerorum forma. 399 S. o. II.4. lf. 400 S. o. 1.2.2; II.3.3; III.2 und u. Anhang 3. 401 Zur reinigenden Funktion von hörbarer Musik s. o. 257 Anm. 332; zur anagogischen Wir¬ kung von Hymnen: Prokl. in Tim. A 197, 3-10; zur neuplatonischen Allegorese vgl. Bemard, Dichtungstheorien, passim.
5. Anagogisches Potential der dreigeteilten Musik
277
in seiner Studie zu Platon und Plotin nennt, unterstreicht Plotin:402 Wer keine Freude an der Schönheit des Wahrnehmbaren empfinden kann, hat keine Motivation, sich noch größere Freude durch die Suche und das Fin¬ den von deren noch schönerem Vorbild zu verschaffen. Wie sollte jemand das intelligible Schöne erblicken, wenn er nicht einmal das hiesige Schöne sieht? Wer könnte nämlich ein musikalischer Mensch sein, der die Harmonie im Intelligiblen sähe und nicht bewegt würde, wenn er die in den wahrnehmbaren Tönen hört? Oder wer wäre ein Kenner der Geometrie und der Zahlen, der Symmetrisches, Analo¬ ges und Geordnetes mit seinen Augen sähe und sich darüber nicht freuen würde?
Eine schöne Nachbildung eines Menschen kann dazu führen, dass man sich des Menschen selbst erinnert und u. U. durch das Bild in Liebe zum eigent¬ lichen Menschen entbrennt. Wer wird so nachlässig in seiner Erkenntnis sein und sich zu nichts anderem bewegen lassen, dass er - obwohl er die gesamten Schönheiten im wahrnehmbaren [sc. Be¬ reich] sieht: die gesamte Symmetrie, diese große Wohlgeordnetheit und das bei den fernen Sternen aufscheinende Eidos - von daher nicht nachdenklich wird und ihn keine Ehrfurcht ergreift, wie [sc. Schönes] von wie [sc. Schönem herstammt]'?403
Boethius führt mit beiden mathematischen Lehrbüchern in die natürliche Wohlgeordnetheit der Zahlen und der Zahlenverhältnisse ein. Auch die Schönheit dieser Ebene soll bemerkt und begriffen werden. Ausdrücke des Staunens und Bewundems dieser Ordnung finden sich entsprechend v. a. im Arithmetiklehrbuch.404 Lässt man sich um des Experimentes willen ausge¬ hend von der Arithmetikschrift auf Boethius’ Grundprämissen ein, dann kann man nachvollziehen, wie er auch im Musiklehrbuch eine erstaunliche Ordnung und Schönheit im Bereich der Zahlenverhältnisse entfaltet. Denn dort entwickelt Boethius in Berechnungen ausgehend von den einfacheren Zahlenverhältnissen komplexere Tetrachorde in drei verschiedenen Genera und aus diesen wiederum Skalen. Die Systematik und Klarheit der Ordnung springt ins Auge. Gleichzeitig kann man sich als Musiker vorstellen, dass anhand dieser auf der rationalen Ebene präsentierten Inhalte eine reiche Fülle von hörbarer Musik verfertigt werden könnte. »De institutione musica« enthält nämlich - z. B. aufgrund der drei Klanggeschlechter - nicht weniger musikalische Möglichkeiten als die traditionelle, in der Neuzeit über Jahrhunderte hinweg präsente Dur-Moll-Tonalität erlaubt, die unzähli¬ ge, in ihrem Charakter äußerst verschiedene Werke hervorgebracht hat.
402 Plot. II 9, 16, 39-56. 403 Vgl. Plat. pol. 395b3^403c8 zum Zusammenhang zwischen Mimesis, Musik, Ethos und der aus der Schönheit entspringenden Liebe zum Schönen. 404 S.o. II. 1.2.
278
III. »De institutione musica«
Boethius verwirft die Wahrnehmung an keiner Stelle gänzlich, sondern versteht sie als essentielles Erkenntnisvermögen, speziell für den Beginn des Erkenntnisvorganges. Aufgrund ihrer beschränkten Kompetenz können die Sinne nicht die rationale Erklärung der empirischen Phänomene leisten. Zu diesem Zwecke ist Boethius’ Meinung nach die ratio vorzuziehen. Diese Einschätzung teilt Augustinus, wenn er die Wahrnehmung mit Silber ver¬ gleicht, das reinem Gold beigemischt wird. Der Vergleich sei hier noch angeführt, um die ambivalente Bewertung der Wahrnehmung - abhängig von der jeweiligen Hinsicht, unter der sich betrachtet wird - abschließend verständlich zu machen:405 Nicht die Zahlen also, die sich unterhalb der Vernunft befinden, aber auf ihre Art schön sind, haben die Seele befleckt, sondern die Liebe zur niedrigeren Schönheit. Wenn die Seele in dieser [sc. niederen, wahrnehmbaren] Schönheit nicht nur die Gleichheit [sc. welche ein Abbild der göttlichen Gleichheit ist] liebt ..., sondern auch deren Ordnung [d. h. deren niederen Seinsgrad], dann hat sie ihre eigene Ordnung verloren. Sie ist damit allerdings nicht aus der Ordnung der Dinge hinausgetreten, da sie sich nun einmal da befindet, wo es für ihresgleichen am geordnetsten ist, und da sie so beschaffen ist, wie es für ihresgleichen am geordnetsten ist. Denn eines ist es, eine Ordnung zu halten, etwas anderes, in einer Ordnung gehalten zu werden. Sie hält die Ordnung, indem sie durch sich selbst als ganze das liebt, was über ihr ist, d. h. Gott, die ihr zugesellten Seelen aber wie sich selbst. Durch diese Tugend der Liebe schmückt sie nämlich das Niedrige und wird dennoch nicht vom Niedrigen be¬ schmutzt. Was sie aber beschmutzt, ist nichts Übles, denn auch der Körper ist ein Geschöpf Gottes und in seiner - freilich sehr niedrigen - Art schön; nur im Vergleich zum Wert der Seele wird er verachtet. So wird ja auch der Wert des Goldes durch die Beimischung selbst reinsten Silbers beschmutzt. Welche Zahlen deshalb auch immer aus unserer der Strafe dienenden Sterblichkeit hervorgegangen sind: Wir wollen ihnen nicht absprechen, das Ergebnis göttlicher Vorsehung zu sein, denn in ihrer Art sind sie schön. Aber wir sollen sie auch nicht lieben, als würden wir gleichsam durch ihren Genuss glücklich. Weil sie zeitlich sind, werden wir sie vielmehr, so wie ein Biett im Strom, weder als Last fortwerfen noch als festen Grund umklammem, und wir werden Distanz zu ihnen wahren, indem wir sie gut nutzen.
Für die gute Nutzung im Bereich der Musik sind Musiker verantwortlich, die alle drei Arten der Musik studiert haben und somit ein Kriterium besit¬ zen, anhand dessen sie einschätzen können, welche Musik für wen, wann und unter welchen Umständen angemessen ist.406 Die Musiktheorie ist also nicht nur rein anagogisch angelegt, sondern sie zielt auch auf die richtige piaktische Nutzung der Musik und somit auf »gutes Wahrnehmen« ab.
405 Aug. mus. VI 14, 46 (Übersetzung von Hentschel; Erläuterungen in Klammern von der Autorin). 406 Vgl. Berger, 100-102 (mit Stellenangaben bei Platon).
5. Anagogisches Potential der dreigeteilten Musik
279
5.3 Der wahre Philosoph und Politiker als vollendeter musicus Durch den Aufweis einer anagogischen Konzeption in Boethius’ Musik¬ theorie mag ein wesentlicher Aspekt bislang aus dem Blickfeld geraten sein - die Relevanz der Musiktheorie für das praktische Leben. Ein Studium des Quadrivium und darunter der Musiktheorie soll nämlich nicht nur auf philo¬ sophische, gänzlich theoretische Studien vorbereiten, sondern auf eine solche Erkenntnis der Philosophie, die den weise gewordenen Menschen gleichsam aus der Philosophenstube wieder zurück in das gesellschaftliche Gefüge führt, wo er seine Kenntnisse zum Wohle der Mitbürger einsetzt. Im folgenden Abschnitt soll auf diese praktische Relevanz der Kenntnisse, darunter v. a. der musiktheoretischen, hingewiesen werden, um das im Verlauf dieser Studie gezeichnete Bild der Konzeption von Boethius’ Mu¬ siktheorie möglichst ausgewogen zu gestalten: »De institutione musica« ist zwar ein theoretisches Werk, das mach oben< zur Philosophie führen soll und das zu zeigen war ein Hauptziel der Studie. Gleichzeitig darf jedoch nicht vergessen werden, dass der Weg nach dem Erlangen der Weisheit nach platonischer Ansicht wieder mach untern führen soll und dass gerade eine Kenntnis des Wesens von Harmonie auf den drei Ebenen der Musik als Voraussetzung für erfolgreiches politisches Handeln angesehen wurde. Außerdem vertiefen die folgenden Ausführungen den weiten Begriff von »Musik« bzw. »Harmonie«, indem sie insbesondere auf die musica humana konkreter eingehen. 5.3.1 Gesundung des Individuums Boethius illustriert anhand zahlreicher Beispiele im ersten Kapitel der »Ein¬ führung in die Musiktheorie« den starken Einfluss, den gehörte Musik auf den Geist des Menschen ausüben kann. Aufgrund dieses Zusammenhanges hat Platon großen Wert auf die richtige Anwendung von Musik in Staat und Erziehung gelegt.407 Eine richtige Anwendung bedarf zunächst eines profunden Urteils über das Wesen von Harmonie und über gute Musik. Gemäß Boethius ist dazu nur der fortgeschrittene Musiktheoretiker qualifiziert.408 Sinn und Zweck seiner Tätigkeit ergeben sich aus den vorangehenden Überlegungen zur Ähnlichkeit der drei Ebenen von Musik: Wenn die menschliche Musik eine Mittelstellung zwischen den beiden anderen innehat und eine innere Ver¬ bindung zu ihnen besitzt, dann muss der musicus die hörbare Musik gemäß
407 Boeth. mus. 1, 1 p. 181, 14-23; zur Rolle der mathematischen Ausbildung der Politiker und Wächter bei Platon und zum Zusammenhang zwischen Seele, Staat, Ethik und Kosmos hinsichtlich der Harmonie vgl. Burnyeat, v. a. 53-56 und 74—81. 408 Boeth. mus. 1, 34; s. u. Anhang 3.5.
280
III. »De mstitutione musica«
seiner Einsicht in die Prinzipien des Seins und in die eigene Konstitution gut und richtig (secundum ordinem, wie Augustinus sagen würde) verwen¬ den und verwalten, um dadurch Störungen der seelischen zahlhaften Dispo¬ sition heilen zu können. (Damit, dass Menschen eine gesunde, natürliche Disposition besitzen, die nur aufrecht erhalten zu werden braucht, rechnen die antiken Autoren anscheinend nicht; sowohl aus platonischer als auch aus christlicher Sicht ist der irdische Mensch i. d. R. ein gefallenes, defizitä¬ res Wesen.) Entsprechend lesen wir im »Timaios«:409 Die Harmonie aber, welche den Umläufen der Seele in uns verwandte Bewegungen hat, ist für jemanden, der mit Intellekt die Musen zu Hilfe nimmt, nicht zur irrationa¬ len Lust, wie es derzeit zu sein scheint, nützlich, sondern ist von den Musen als Mit¬ streiterin gegen den in uns entstandenen unharmonischen Umlauf der Seele zur Durchordnung und zum Einklang [sc. der Seele] mit sich selbst gegeben worden. Auch der Rhythmus wiederum ist aufgrund des mangelnden Maßes in uns und der in den meisten [sc. Menschen] entstehenden, der Grazien [d. h. Spenderinnen der An¬ mut] bedürftigen Disposition als Helfer dagegen von denselben [sc. Göttinnen] ge¬ schenkt worden.
Weiter heißt es bei Platon, dass alles die ihm zukommende Pflege und Bewegung erhalten soll:410 Dem Göttlichen in uns verwandte Bewegungen sind die Gedanken und Umläufe des Alls. Diesen also muss ein jeder folgen; die Kreisläufe, die beim Werden in unserem Kopf gestört wurden, müssen wir wieder in Ordnung bringen, indem wir die Harmo¬ nien des Alls und die Umläufe erlernen und so dem Gedachten das Denkende anglei¬ chen gemäß seiner ursprünglichen Natur; und wenn wir es angeglichen haben, müs¬ sen wir das Ziel des Lebens erreichen, das uns von den Göttern für die Gegenwart und für die Zukunft als Bestes vorgesetzt ist.
Von einem echten Musiker, wie Boethius ihn in mus. 1, 34 charakterisiert, ist gemäß Platons Formulierung zu erwarten, dass er »mit Intellekt die Musen411 zu Hilfe nimmt«, um die richtige Harmonie der Seele sowohl des Hörers als auch des Musikers wieder herzustellen. Er kennt sich also nicht nur im Bereich der Intervallehre, der Skalen und Tonarten aus, sondern besitzt auch ein Wissen über die menschliche und kosmische Musik. Somit schaut er quasi auf intelligible Weise die nicht hörbare Harmonie, d. h. das Wesen der Einheit in der Andersheit, von der die verschiedenen sichtbaren Verwirklichungen abhängen. Mit diesem Wissen ausgestattet kann der voll ausgebildete Musiker sinnvoll praktisch tätig werden bzw. anderen die Rahmenbedingungen guter musica Instrumentalis mitteilen. 409 Plat. Tim. 47d2-e2. 410 Plat. Tim. 90c6-d7. 411 Vgl. Aug. mus. 1 1,1, 52-54: Die Musen haben »die Allmacht über das Singen« (omnipotentia canendi), woher sich auch der Name »Musik« ableite.
5. Anagogisches Potential der dreigeteilten Musik
281
Wie musikalische Kenntnis auf allen drei Ebenen optimal zur Besserung eines seelisch unausgeglichenen, letztlich kranken Menschen eingesetzt werden kann, demonstriert die »Philosophie« als Gestalterin des Dialoges im »Trost der Philosophie«. Sie führt ihren Patienten zu Beginn mittels der Wahrnehmung, u. a. der erbaulichen carmina, zu rationaler Erkenntnis und zum Wohlbefinden.412 Chamberlain gelangt zu Recht zu dem Schluss, dass die »Philosophie« der perfekte Musiker ist.413 Anders gesagt: Weisheit ermöglicht gutes und effizientes praktisches Eingreifen in seelische Mi߬ stände im Sinne einer wahrhaft ganzheitlichen, nämlich die Perspektive des Menschen übersteigenden, mit der Wahrnehmung einsetzenden und dann primär rational vollzogenen >MusiktherapieObjekt< angleicht, modifiziert beim Hören lediglich ihre eigene zahlhafte Grunddisposition und lässt sich somit von der gehörten Musik beeinflussen. Wenn sich nach neuplatonischer Auffassung auf jeder Ebene der Schöpfung in gewissem Sinne Harmonie und Zahl finden, dann spiegelt sich in jeder einzelnen Instanz von Harmonie, also auch in jedem einzelnen musikalischen Intervall, das Wesen von »Harmonie an sich« wider. Boethi¬ us kann sich demnach in den überlieferten ersten fünf Büchern von »De institutione musica« ausführlich der hörbaren und deshalb dem Menschen zunächst am leichtesten zugänglichen Art der Musik zuwenden, ohne damit den anagogischen Wert der Musiktheorie aufs Spiel zu setzen. Angesichts der Tatsache, dass Boethius’ musiktheoretischer Traktat auf der relativ niedrigen Stufe der musica instrumentalis einsetzt, stellt sich die Frage, ob Boethius ein derart metaphysisch angelegtes Ende seiner Schrift vorschwebte wie Augustinus in seinem Dialog »De musica«. Mit Blick auf
5. Anagogisches Potential der dreigeteilten Musik
289
die »Harmonielehre« des Ptolemaios als direkte oder indirekte Quelle ist dies kaum wahrscheinlich. Denn Ptolemaios’ Text bietet keinen philosophi¬ schen Diskurs, sondern bezieht nur doxographisch diverse Philosopheme auf empirisch erfassbare Sachverhalte. Ein weiteres Indiz ist die analoge Gestaltung von Boethius’ »Einführung in die Musiktheorie« und »Einfüh¬ rung in die Arithmetik«. Denn in seiner Zahltheorie führt er genau wie Nikomachos nur in die Arithmetik ein und konstatiert lediglich, dass die auf der Ebene der rational erfassbaren Zahlen behandelten Zusammenhänge auf intelligible Sachverhalte verweisen. Eine Rückführung auf diese Intelligibilia unternimmt er zwar in der arithmetischen Schrift in den Kapiteln über die Prinzipien von Zahl, behandelt diese intelligiblen Prinzipien selbst aber nicht. Analog ist davon auszugehen, dass Boethius in den fehlenden Bü¬ chern seines Musiktraktates auf der Ebene der Zahlenverhältnisse - ver¬ standen als in Relation zueinander gesetzte, rational erfassbare Zahlen, die als Formen wahrnehmbare Harmonien im Bereich der hörbaren Musik, des Menschen und des Kosmos bestimmen - verblieben wäre. Dabei wäre maximal ein Hinweis auf die Prinzipienfunktion von Zahl gegenüber den Zahlenverhältnissen sowie auf die Prinzipien Identität und Verschiedenheit zu erwarten. Eine Darstellung der eigentlichen Erkenntnisse, die anhand dieser Instanzen gewonnen werden - etwa eine Deutung der Zahlenverhält¬ nisse, welche der Allseele und analog der menschlichen Seele zugeschrie¬ ben werden - dürfte Boethius in den fehlenden Büchern und Kapiteln nicht vorgesehen haben. Ein Wissen um diese Erkenntnisse soll der mathematisch gut ausgebilde¬ te Student erst im Rahmen der Philosophie erwerben. Begreift er schließlich das Funktionieren der Wahrnehmung, die Beschaffenheit der menschlichen Seele und überhaupt das Wesen von Musik im weitesten Sinne, dann wird er in der Lage sein, in angemessener Weise zum Wohl des Staates und der einzelnen Individuen Harmonie zu stiften und zu fördern. Diese Aufgabe kommt nach Platons und Boethius’ Vorstellung dem Philosophenkönig zu. Bei der Einrichtung des optimalen Staates soll er sich an der harmonischen Proportion orientieren, die in Zahlen eine vollkommene Gerechtigkeit an¬ deutet, in der jedem das Seine zugeteilt wird. Die Ausbildung in der Musik¬ theorie, die der Philosophenkönig vor seiner Beschäftigung mit der Philo¬ sophie absolviert hat, findet demnach wieder praktische Anwendung bei der Gestaltung des menschlichen Lebens; die mathematische Theorie dient nach ihrer Transzendierung auch wieder der Lebenspraxis. Das besondere Augenmerk des Abschnittes III.5 lag allerdings auf der theoretischen Ausrichtung der musica und ihrer vorbereitenden Funktion im Hinblick auf ein sich anschließendes Philosophiestudium. Wenn man sich das zu Beginn des Arithmetiklehrbuches genannte Ziel der quadrivialen Studien - das Erkennen des Seienden, d. h. Erlangen einer ewig gültigen
290
III. »De institutione musica«
Weisheit die Durchführung von Boethius’ Arithmetik, den anagogischen Duktus des »Trostes der Philosophie«,437 dazu die schon von Platon er¬ wünschte Grundausrichtung menschlichen und speziell mathematischen Strebens über den wahrnehmbaren Horizont hinaus hin zur Idee des Gu¬ ten,438 die Anlage ähnlicher quadrivialer Schriften439 und die eindeutig neu¬ platonisch geprägte philosophische Grundhaltung des Boethius ins Ge¬ dächtnis ruft, wäre es geradezu systemfremd, nicht von einer anagogischen Intention seiner Musiktheorie auszugehen.
437 Vgl. z. B. das letzte Gedicht in der »Consolatio«, 5 carm. 5, nach dem — soweit dies mög¬ lich ist - die Beschaffenheit der göttlichen Substanz selbst (ihre Ewigkeit, Providenz und die damit zusammenhängende menschliche Willensfreiheit) untersucht wird (13-16, Übersetzung von Gigon): »Hat nicht irdischer Sinn dich verwirrt, dann mahnt dich diese Gestaltung [sc. dass einzig die Menschen im Unterschied zu den Tieren das Haupt erheben können]: Der erhobenen Hauptes zum Himmel du mit der Stirne aufschaust, trag die Seele auf zum Erhabenen (in sublime), dass nicht niedre Schwere tiefer als den aufrechten Körper dir deine Seele ziehe.« Vergleicht man das am Ende der Trostschrift erreichte Niveau mit dem anfänglichen, wo der verzweifelte Boethius von seiner Gesprächspartnerin überhaupt erst wieder in den Stand versetzt wird, einen philosophi¬ schen Diskurs zu führen, so wird die Anagogik des Dialoges deutlich. 438 Platon entwirft die mathematischen Studien als Weg zur Erkenntnis der Idee des Guten (pol. 521c 1—531e6), die »jenseits des Seienden« (509b9), ferner Quelle allen Erkennens und Seins ist (Sonnengleichnis: 506d2-509cl 1). 439 Neben Augustinus »De musica« ist an Euklids »Elemente« zu denken, die gemäß dem Kommentar des Proklos letztlich das Ziel verfolgen, die Zusammenstellung der platonischen Körper zu erkennen (Prokl. in Eukl. 68, 20-24), anhand derer Platon im »Timaios« die Komposi¬ tion der physikalischen Welt darstellt.
Zusammenfassung
Die vorliegende Studie nimmt die bekannte Tatsache ernst, dass Boethius’ musiktheoretisches Lehrbuch »De institutione musica« in die neuplatoni¬ sche Wissenschaftskonzeption eingebettet ist. Indem sie diesen geistesge¬ schichtlichen Hintergrund für die Interpretation der Schrift fruchtbar zu machen versucht, betritt sie Neuland. Neben neuen Perspektiven auf einzelne Probleme ergibt sich durch die¬ sen methodischen Ansatz als Hauptergebnis ein klareres Bild von der grundsätzlichen Intention des Traktates: Es handelt sich um ein mathemati¬ sches Lehrbuch mit einer anagogischen, d. h. zur Philosophie hinführenden Ausrichtung. Zwar besitzen die theoretischen Erörterungen einen Bezug zur wahrnehmbaren Welt und Relevanz für das praktische Musizieren. Aber der Traktat möchte weder eine Anleitung zum guten Komponieren oder Musi¬ zieren noch ein um seiner selbst willen verfasstes Lehrbuch sein. Wie aus dem Proömium von Boethius’ »De institutione arithmetica« hervorgeht, bildet die Musiktheorie vielmehr zusammen mit der Arithmetik, Geometrie und Astronomie ein viergliedriges Propädeutikum (Quadrivium), das der Schüler zunächst absolvieren muss, um anschließend im Sinne Platons wahrhaft philosophieren zu können. Wie Boethius selbst in Anlehnung an seine griechische Vorlage und in neuplatonischer Tradition darstellt, geht ein solches Verständnis von musica und Mathematik überhaupt auf Platons Entwurf einer optimalen Ausbildung des angehenden Philosophen zurück. Die vorliegenden Untersuchungen wurden deshalb unter der Prämisse angestellt, dass Boethius’ Musiktheorie¬ buch dem Anspruch genügen möchte, die Musik im Verbund mit den ande¬ ren drei quadrivialen Disziplinen als Brücke oder Leiter zur Philosophie zu präsentieren. Eine Hinführung zur Philosophie erreicht der Musiktraktat unter den im Folgenden skizzierten Gesichtspunkten, die miteinander im Zusammenhang stehen: 1. Der Traktat führt weg von der empirischen Welt und erörtert die unmit¬ telbaren Prinzipien wahrnehmbarer musikalischer Intervalle, d. h. er be¬ fasst sich mit Zahlenverhältnissen. So nimmt er seinen Ausgang beim hörbaren Phänomen und endet bei dessen wissenschaftlicher Erklärung, die nicht mehr auf der Ebene der Wahrnehmungsgegenstände, sondern
292
Zusammenfassung
auf der ontologisch höher liegenden Stufe der immateriellen Formen (Eide) erfolgt. Dass die Zahlenverhältnisse diejenigen Formen sind, die das empirische Phänomen als Formursachen prägen, konnte mittels einer philologischen Untersuchung und vor dem Hintergrund des neuplatonischen Wissen¬ schaftsbegriffes gezeigt werden. Wenn Boethius’ »Einführung in die Musiktheorie« analog zur Arithmetik und Geometrie solche immateriel¬ len Formen wahrnehmbarer Phänomene untersucht, dann kann sie die von Platon geforderte Funktion erfüllen, eine Brücke zwischen der empi¬ rischen und der intelligiblen Welt zu schlagen: Die intelligible Welt (die Ideen), der sich der Philosoph zuwendet, galt ihrerseits als Prinzip des Mathematischen, so dass die drei Bereiche Wahrnehmbares - Formen des Wahrnehmbaren - Intelligibles in einem sachlichen Zusammenhang stehen. Geht man mit den Platonikem davon aus, dass ein Mensch zu¬ nächst das Wahrnehmbare erkennt, dann stellt die Beschäftigung mit der Musiktheorie in der Tat einen Aufstieg im skizzierten Sinne, nämlich vom Wahrnehmbaren zu den immateriellen Formen des Wahrnehmba¬ ren, dar. 2. Bei der Beschäftigung mit Zahlenverhältnissen betätigt sich der Musik¬ schüler seinem Erkenntnisgegenstand entsprechend vornehmlich ratio¬ nal. Gemäß der platonischen Anthropologie bewegt er sich also weg von der Wahrnehmung allmählich hin zum rationalen Denken - seinem für genuin menschlich gehaltenen Erkenntnisvermögen, das zusammen mit dem intellektiven Denken beim Philosophieren aktiviert werden muss. Wie eine genauere Untersuchung der Kapitel zu »Pythagoras in der Schmiede« in Boethius’ Lehrbuch zeigt, ist der Aufstieg von der Wahr¬ nehmung zur ratio allerdings differenzierter zu sehen. Die in Boeth. mus. 1, lOf. geschilderte Legende führt aus, wie Pythagoras die Zahlenverhältnisse der konsonanten Intervalle fand, als er in einer Schmiede Hämmer in verschiedener Tonhöhe erklingen hörte, anschließend die Gewichte der Hämmer ermittelte und deren Gewichtsverhältnisse bei ei¬ genen Experimenten anwendete. Aus Boethius' Darstellung geht hervor, dass der Erkenntnis weg nicht direkt von der Wahrnehmung zur rationa¬ len Erkenntnis, sondern über das Stadium der Vorstellung und Meinung führt. Interessanterweise berücksichtigt Boethius diese Ebene in seinem Musiktraktat: Er vermittelt dem Schüler eigenen Aussagen gemäß durch einen groben Überblick über den Stoff im ersten Buch von »De institutione musica« vorerst eine - seiner Auffassung nach - richtige Meinung, die erst im Anschluss rational erklärt werden soll. Diese Vorgehenswei¬ se, bei der bewusst ein Stadium des (Noch)-nicht-Wissens durchlaufen wird, mag dazu geführt haben, dass Boethius entgegen seinem sonstigen Voigehen in mus. 3, 14—16 absichtlich eine falsche, aber zum richtigen
Zusammenfassung
293
Ergebnis führende Berechnungsmethode anwendet und so das Rechnen mit unüberschaubar großen Zahlenwerten vermeidet. Boethius' Darstellung der Pythagoras-Episode betont im Unterschied zu anderen antiken Versionen nicht nur die Bedeutung der Vorstellung und Meinung, sondern auch den relativ geringen Stellenwert des Experimen¬ tes für die Musiktheorie. Auffallend ist bei Boethius nämlich das Fehlen genauer Informationen, die für eine praktische Nachahmung von Pytha¬ goras’ Experimenten erforderlich wären. Hinzu kommt, dass - wie oft in der Forschung konstatiert wird - die Ereignisse in der Schmiede und ei¬ nige der angedeuteten Experimente unter physikalischen Gesichtspunk¬ ten überhaupt nicht funktionieren können. Da Boethius zu Beginn seines Lehrbuches nur eine richtige Meinung vermitteln möchte, geht es ihm anscheinend nicht um den Nachvollzug der empirischen Vorgänge selbst, sondern hauptsächlich darum, dem Leser anhand der Legende allgemein die Funktion der Zahlenverhältnisse für die erklingenden Intervalle zu vermitteln. Die Konzentration auf Vorstellung und rationales Denken in der Pytha¬ goras-Episode ist paradigmatisch für das gesamte Musiklehrbuch: Prin¬ zipiell kann es ohne musikalische Hilfsmittel am Schreibtisch studiert werden und legt an nur wenigen Stellen explizit nahe, tatsächlich ein Monochord zur Illustration des Behandelten heranzuziehen. Immer wie¬ der demonstrieren umfangreiche Berechnungen die Richtigkeit und Zu¬ verlässigkeit des rationalen Denkens gegenüber der täuschungsanfälligen Sinnlichkeit. Das betrifft z. B. den Nachweis, dass ein Ganzton nicht in zwei gleich große Halbtöne geteilt werden kann (bzw. ein epimores Zah¬ lenverhältnis nicht in zwei gleiche Hälften), oder die gegen den empirie¬ freundlichen Aristoxenos gerichtete Beweisführung, dass eine Oktave nicht aus sechs Ganztönen besteht, sondern aus fünf Ganztönen und zwei kleinen Halbtönen. Somit lässt sich konstatieren, dass Boethius im Rahmen der »Musiktheo¬ rie« einen Aufstieg von der Vorstellung/Meinung zum rationalen Denken intendiert, der gelegentlich durch die Wahrnehmung unterstützt werden kann. Die Wahrnehmung wird keinesfalls gänzlich negiert, sondern er¬ fährt nur insofern eine Relativierung, als sie keine wissenschaftlichen Begründungen für die Beurteilung des Gehörten geben kann. 3. Im Verlauf des Traktates wird deutlich, dass eine profunde Einsicht in den musiktheoretischen Stoff erst durch die Rückbindung an die Arith¬ metik ermöglicht wird. Laut Boethius’ eigenen Aussagen im Proömium zur »Einführung in die Arithmetik« hängt die Musiktheorie in ihrem We¬ sen nämlich von der Arithmetik ab, da Zahl Voraussetzung für das Sein von Zahlenverhältnis ist. Deshalb garantiert gemäß neuplatonischer Auf-
294
Zusammenfassung
fassung erst das Erfassen des Wesens von Zahl ein adäquates Begreifen von Zahlenverhältnis. Wie die Studie gezeigt hat, lässt sich das Abhängigkeitsverhältnis der Musiktheorie von der Arithmetik noch präziser fassen: Eine Zahl wird als Synthese verschiedener Untereinheiten zu einer bestimmten Einheit verstanden und besitzt deshalb zwischen ihren Teilen und im Bezug der Teile auf das Ganze bereits Relationen. Die in der Binnenstruktur der Zahl auftretenden Relationen werden in der Arithmetik erörtert und in ih¬ ren Grundmöglichkeiten systematisch dargestellt. Dabei handelt es sich aber nicht um musiktheoretische Ausführungen. Erst ausgehend von den Verhältnissen innerhalb von Zahlen untersucht die Musiktheorie Relatio¬ nen zwischen zwei voneinander verschiedenen Zahlen, wie die neueste Forschung für Nikomachos’ »Arithmetik« ermittelt hat und nun auch für Boethius gezeigt werden konnte. Gemäß der hier vorgelegten Neuinter¬ pretation von mus. 2, 6 hängt ein musikalisches Zahlenverhältnis direkt von der Binnenstruktur der beiden miteinander verglichenen Zahlen ab. Ein musikalisches Zahlenverhältnis basiert also auf Zahlen, d. h. die Mu¬ siktheorie führt in der Sache wieder auf die Arithmetik zurück. Zur exemplarischen Verdeutlichung dieses Zusammenhanges wurde das in der Forschung vieldiskutierte Gebiet der Konsonanzlehre gewählt. Aus dem musiktheoretischen Traktat allein wird nämlich nicht ersicht¬ lich, warum Boethius (und im Anschluss an ihn die meisten mittelalterli¬ chen Autoren) nur diejenigen fünf Intervalle für Konsonanzen hält, die durch Zahlenverhältnisse geformt werden, die aus den Zahlen 1, 2, 3 und 4 gebildet sind, d. h. 2:1 (Oktave), 3:1 (Duodezime = Oktave plus Quin¬ te), 4:1 (Doppeloktave), 3:2 (Quinte) und 4:3 (Quarte), ln einem system¬ immanent angelegten Lösungsversuch wurde gezeigt, dass eine Be¬ schränkung auf diese vier Zahlen nicht willkürlich vorgenommen wurde, sondern die unmittelbar der Musiktheorie übergeordnete Ebene - die Ebene der Arithmetik - bereits rationale Gründe dafür bietet. Die letzte Begründung hierfür obliegt freilich der Philosophie und Theologie. Der hierarchisch geordnete Zahlenkosmos wird in der Musiktheorie demnach bereits vorausgesetzt und die Eigenschaften von Zahlen verlie¬ ren in ihr nicht ihre Relevanz. Ein wahrer Musiktheoretiker muss folglich Arithmetik studiert haben bzw. darf den Zusammenhang mit der Arith¬ metik nicht aus dem Blick verlieren. Insofern Zahlen gegen Ende von Boethius’ arithmetischem Traktat explizit auf ihre intelligiblen Prinzipi¬ en Identität und Verschiedenheit zurückgeführt werden, ist mit dem Rückbezug der Musiktheorie auf die Arithmetik der Übergang zu einer philosophischen Betrachtung dieser beiden Prinzipien geschaffen. 4. Die Musiktheorie bewirkt aber nicht nur über die Rückwendung auf ihre »Mutter« Arithmetik eine geistige Bewegung hin zur Philosophie. Sie er-
Zusammenfassung
295
reicht dies auch auf direktem Wege durch den Bezug der behandelten Zahlenverhältnisse auf die platonische Weltseele. Der Schöpfergott er¬ schafft sie in Platons »Timaios« auf harmonische Weise, was Platon in rational erfassbaren Zahlproportionen zum Ausdruck bringt. Diese Welt¬ seele konstituiert und verwaltet ihrer eigenen Natur gemäß den gesamten sichtbaren Kosmos in schönster Weise. Wie Boethius in der »Musiktheo¬ rie« in Erinnerung ruft, werden die menschlichen Seelen nach platoni¬ scher Lehre der Weltseele ähnlich geschaffen. Diese Ähnlichkeit ermög¬ licht dem Menschen einerseits die Erkenntnis der Weltseele und des Alls - gleichsam des Körpers der Weltseele - inklusive der hörbaren Musik. Andererseits ist das Vorliegen einer zahlhaften Ähnlichkeit auf all diesen Ebenen die Grundlage dafür, dass der Mensch sich selbst und der Welt¬ seele bzw. dem Schöpfergott gemäß kreativ wird - u. a. auf musizierende Weise. Die Hinwendung oder Aufwärtswendung zur Instanz »Seele« vollzieht Boethius in seinem unvollendeten oder nicht vollständig überlieferten Traktat zur Musiktheorie nicht. Ein Vergleich mit Ptolemaios’ »Harmo¬ nielehre«, die Boethius am Ende seines Musiklehrbuches zu paraphrasieren beginnt, und mit dem ähnlich konzipierten Werk »De musica« von Augustinus ermöglicht jedoch eine Rekonstruktion der verfolgten Inten¬ tion: Der Leser von »De institutione musica« soll beim rationalen Studi¬ um der wohlgeordneten Prinzipien wahrnehmbarer Harmonie bemerken, dass auch diese nicht voraussetzungslos sind. Unter die wahrnehmbare Harmonie fällt dabei nicht nur die an Instrumenten auftretende, die Boethius behandelt. Boethius benennt daneben auch die menschliche Musik (musica humana), welche u. a. die Wahrnehmung, das Hervor¬ bringen hörbarer Musik und das rationale Erkennen von Zahlen sowie Zahlenverhältnissen umfasst, und als dritte Musikart die Harmonie im All (musica mundanä). Beim Studium einer jeden der drei Arten von Harmonie bzw. Musik soll der Musikschüler auf die Instanz »Seele« als Ursache und Urheber der jeweiligen Phänomene stoßen und ein echtes Interesse an deren genauerer Erkenntnis gewinnen. Das Prinzip der Seele wiederum ist der Intellekt, der die Ideen bzw. das wahrhafte Sein umfasst und selbst ist, aber dem menschlichen Erkennen zunächst ferner als die Seele liegt. Deshalb stellt die Seele, welche die irdische Welt mit er¬ schafft, ordnet und verwaltet, unter chronologischem Gesichtspunkt den ersten Gegenstand philosophischer Betrachtung dar, zu dem die dreige¬ teilte musica direkt hinführt. Die Musiktheorie im Rahmen des Quadrivium soll also eine Hinwendung zum Studium der Weltseele bewirken. Sie verhilft zu der aus menschlicher Perspektive zunächst überraschenden Erkenntnis, dass jedes Etwas immer
296
Zusammenfassung
auf ein einfacheres, aber inhaltlich reicheres Prinzip zurückgeht, wie z. B. die Musiktheorie auf die Arithmetik und das Zahlenverhältnis eines hörba¬ ren Intervalls auf eine zahlhafte Bestimmtheit in der Seele desjenigen Men¬ schen, der das Intervall hervorgebracht hat. Vermag die Musiktheorie sol¬ ches, dann leistet sie einen unverzichtbaren Beitrag zur Propädeutik für die Philosophie, wie es schon Platon vorgesehen hatte. Darüber, ob und wie das anagogische Ziel von »De institutione musica« insbesondere bei den mittelalterlichen Rezipienten tatsächlich verstanden, angestrebt und erreicht wurde, kann Boethius’ musiktheoretische Einfüh¬ rungsschrift selbst keine Auskunft geben. Von seiner griechischen geistes¬ geschichtlichen Einbettung her gesehen ist Boethius’ »Musiktheorie« philo¬ sophisch tiefer verankert und zielt auf Höheres ab, als es viele mittelalterli¬ che musiktheoretische Schriften nahelegen, aus deren Perspektive der Traktat für gewöhnlich betrachtet wird. Das könnte als Indiz dafür gedeutet werden, dass Boethius’ neuplatonischer Horizont entweder nicht mehr oder nur noch teilweise dem seiner Rezipienten entsprach, wobei zu beachten ist, dass auch die mittelalterlichen Traktate das Gedankengebäude, deren Teil sie sind, nicht vollständig offenlegen. Wenn gezeigt werden konnte, dass Boethius’ Musiktheorie in einen neu¬ platonischen Horizont eingebettet ist, dessen Rekonstruktion unter Heran¬ ziehung der einschlägigen griechischen Texte für ein Verständnis der Schrift unabdingbar ist, hat diese Studie ihr Ziel erreicht. »De institutione musica« ist nämlich nicht als einzelner Traktat nur mit Blick auf sich selbst konzipiert, sondern stellt einen Teil eines umfassenden Wissenschaftssy¬ stems und innerhalb dessen des anagogisch angelegten Quadrivium dar: Die Musiktheorie bildet zusammen mit den anderen drei mathematischen Diszi¬ plinen gleichsam die Eingangshalle dieses Wissenschaftsgebäudes bzw. das Präludium vor dem eigentlichen Stück.1 Entsprechend fordern die textlichen Zeugnisse zur pythagoreisch-neuplatonischen Musiktheorie den modernen Forscher auf, ihren Gegenstand in einem weiteren Horizont und insbeson¬ dere von ihrem Ziel her zu betrachten und zu verstehen.
1 Vgl. Plat. pol. 531 d5—8: Sokrates bezeichnet die mathematischen Fächer als »Ouvertüre« vor der eigentlichen Melodie, der Dialektik. Auch Augustinus fasst die notwendigen Schritte vor dem Eigentlichen als Vorspiel auf: mag. VIII 21, 19-22.
Anhang
1.
Proömien zur »Einführung in die Arithmetik«.
299
1.1
Boeth. arithm. 1, lf.
299
1.2
Nikom. arithm. 1, 1-6.
305
1.3
Philop. in Nikom. 1 Lemmata 1-51.
314
Pythagoras in der Schmiede.
342
2.1
Boeth. mus. 1, lOf.
342
2.2
Nikom. harm. 6.
345
sensus und ratio.
348
3.1
Boeth. mus. 1, 1 p. 181,
.
349
3.2
Boeth. mus. 1, 1 p. 187, 8-16 .
350
3.3
Boeth. mus. 1, 2 p. 188, 26 - 189, 3 .
350
3.4
Boeth. mus. 1, 9.
351
3.5
Boeth. mus. 1, 34.
354
3.6
Boeth. mus. 3, 10 p. 283, 5-14 .
358
3.7
Boeth. mus. 5, 2.
359
3.8
Boeth. mus. 5, 3.
362
3.9
Ptol. harm. I 1 (Beginn und Ende) .
364
3.10
Ptol. harm. I 2.
367
4.
Die drei Musikarten: Boethius, mus. 1,2 .
369
5.
Die Prinzipien Gleichheit und Ungleichheit .
372
5.1
Nikom. arithm. 1, 23 p. 64, 21 - 65, 21.
372
5.2
Philop. in Nikom. 1 Lemmata 178f.
374
5.3
Boeth. arithm. 1,32 p. 66, 3-22 .
375
Arithmetische Fachtermini.
376
2.
3.
298
Anhang
Die Übersetzungen bemühen sich um einen Mittelweg zwischen textnaher Wiedergabe, welche die Schwierigkeiten des Originaltextes nicht verschlei¬ ert, und verständlicher, modernem Ausdruck nahe kommender Formulie¬ rung. Dies mag stellenweise zu einem etwas sperrigen Deutsch führen; auf die Alternative - eine grundlegende Glättung des originalen Wortlauts wurde indes bewusst verzichtet. Bei wichtigen Termini technici wird der lateinische oder griechische Wortlaut in Klammern angegeben, um einen Rückbezug der teilweise von der gängigen Wiedergabe abweichenden Übersetzungen auf den originalen Wortlaut zu ermöglichen. Diese Abweichungen gründen vorrangig in dem Versuch, eine von der Sache her gebotene Distanz zu neuzeitlich gefärbten Interpretationen der neuplatonischen Philosophie und Mathematik herzu¬ stellen, die mit extrem konnotationsreichen Begrifflichkeiten umgehen. Beispielsweise übersetze ich intellectus mit »Intellekt« (und nicht mit »Verstand« oder »Geist«) oder esse mit »sein« (und nicht mit »existieren«). Um den bei Boethius, Nikomachos etc. vorliegenden Konzepten möglichst gerecht zu werden, orientiert sich gerade die Übersetzung der Fachbegriffe eng am originalen Wort.
Boeth. arithm. 1, lf.
299
1. Proömien zur »Einführung in die Arithmetik« 1.1 Boeth. arithm. 1, lf. Text: Ed. G. Friedlein p. 7, 20 - 13, 8. J.-Y. Guillaumins Edition von 1995 ist zwar inzwischen die modernen wissenschaftlichen Standards genügende Textausgabe. Da der Text aber in den beiden übersetzten Kapiteln nicht von dem Friedleins abweicht und v. a. da Guillaumin keine Zeilenzählung vornimmt, wird in dieser gesamten Studie die Ausgabe von Friedlein sowohl für Zitate als auch für die folgende Überset¬ zung benutzt. Durch die Angabe von Guillaumins Abschnittzählung in runden Klammem wird ein Bezug auf seine Ausgabe samt Übersetzung aber leicht möglich. Die übersetzte Passage ist das Proömium von Boethius’ Arithmetikschrift samt dem Kapitel zum Wesen der Zahl und bildet die textliche Grundlage des zweiten Kapitels der vorliegenden Studie. Boethius paraphrasiert in diesem Textabschnitt den Beginn von Nikomachos’ griechischer »Einführung in die Arithmetik«, dessen Über¬ setzung sich unter 1.2 anschließt. Dort finden sich auch Anmerkungen mit Verweisen und Erläuterungen zum gemeinsamen Inhalt beider Proömien. Die Übersetzung ins Englische von M. Masi enthält einige Irrtümer und Fehler; vgl. J. Soubiran, Revue des Etudes Anciennes 86 (1984), 386. Eine vollständige deutsche Übersetzung von »De institutione arithmetica« ist mir nicht bekannt. Das erste Kapitel wurde von T. Krischer ins Deutsche übertragen (in: F. Zaminer, Ge¬ schichte der Musiktheorie 3, Darmstadt 1990, 206-213; inklusive Abdruck des latei¬ nischen Textes nach Friedlein). Die i. d. R. recht genaue Übersetzung enthält an wenigen Stellen diskussionswürdige bzw. der Erläuterung bedürftige Übertragungen. Das betrifft v. a. die am empirischen Befund orientierte Übersetzung der Charakteri¬ sierung von Vielheit, die Boethius’ Formulierung gemäß allerdings auch die nicht¬ empirische Vielheit definieren soll (vgl. Abschnitt 3), die Wiedergabe von esse mit »existieren« bezüglich der Zahlen und Zahlenverhältnisse ab Abschnitt 4 sowie die fehlende Unterscheidung zwischen Verhältnisart und konkretem Zahlenverhältnis in Abschnitt 10.
1, 1: Proömium, darin Unterteilung der Mathematik (1) Unter allen Männern von alter Autorität, die unter Führung des Pythago¬ ras in der reineren Erkenntnisweise des Denkens stark waren, steht offen¬ kundig fest, dass überhaupt keiner in den Disziplinen der Philosophie zum Gipfel der Vollendung hinaufsteigt, wenn von ihm nicht der Adel einer solchen Klugheit auf einem bestimmten, gleichsam vierfachen Weg (quadruvium) aufgespürt wird - was dem Scharfsinn dessen, der auf richtige Weise betrachtet, nicht entgehen wird. Weisheit ist nämlich das Erfassen der Wahrheit der Sachverhalte (res), die sind und ihre eigene, unveränderli¬ che Substanz (substantia) erlösen. Man sagt aber, dass das ist, was weder
300
Anhang
durch Ausdehnung wächst, noch durch Verminderung verringert wird, noch durch Wandel verändert wird, sondern sich selbst immer in dem eigenen Vermögen, gestützt auf die Mittel seiner Natur, bewahrt. (2) Das aber sind Qualitäten, Quantitäten, Gestaltungen, Größen, Klein¬ heiten, Gleichheiten, Relationen, Akte, Dispositionen, Orte, Zeiten und was immer man auf bestimmte Weise mit Körpern vereint findet, was selbst zwar der Natur nach unkörperlich ist und seine Kraft durch die unveränder¬ liche Bestimmtheit (ratio) seiner Substanz hat, durch Teilhabe am Körper aber verändert wird und durch die Berührung mit der wandelbaren Sache in wechselhafte Unbeständigkeit übergeht. Von diesem also sagt man, weil es - wie gesagt - der Natur nach eine unveränderliche Substanz und ein un¬ veränderliches Vermögen erlöst hat, dass es wahrhaft und im eigentlichen Sinne ist. Davon also - das heißt von dem, was im eigentlichen Sinne ist und was mit dem ihm eigenen Namen als Seiendes (essentiae) bezeichnet wird - verspricht die Weisheit Wissen. (3) Das Seiende (essentiae) aber hat zwillingshafte Teile: Der eine ist kontinuierlich und mit seinen Teilen verbunden und nicht durch irgendwel¬ che Grenzen eingeteilt, wie Baum, Stein und alle Körper dieser Welt, die im eigentlichen Sinne Größen (magnitudin.es) genannt werden. Der andere hingegen ist diskret von sich her und abgegrenzt aufgrund seiner Teile und gleichsam wie ein Haufen zu einer Schar versammelt, wie Herde, Volk, Chor, Haufen und alles, dessen Teile von den eigenen Enden begrenzt wer¬ den und die von der Grenze eines anderen [sc Teiles] unterschieden sind. Diese haben die spezifische Bezeichnung Vielheit (multitudo). (4) Ferner ist im Bereich der Vielheit das eine für sich, wie 3 oder 4 oder Viereckzahl oder jede beliebige Zahl, die - um zu sein - nichts bedarf. Das andere aber besteht nicht für sich selbst, sondern bezieht sich auf etwas anderes, wie doppelt, wie Hälfte, wie anderthalb oder epitrit und was auch immer derartig ist, dass es selbst nicht sein kann, wenn es nicht auf ein anderes bezogen ist. Im Bereich der Größe aber ist das eine bleibend und entbehrt der Bewegung, das andere aber läuft immer in beweglicher Rota¬ tion um und kommt zu keinem Zeitpunkt zur Ruhe. Davon betrachtet nun die Gesamtheit der Arithmetik jene Vielheit, die tür sich ist; jene [sc. Vielheit] aber, die zu etwas [sc. in Relation] steht, erforschen die Zusammensetzungen des musikalischen Maßes1 genau; die
1 Boeth. arithm. 1, 1 p. 9, 2f.: illam vero, quae ad aliquid, musici modulaminis temperamenta pemoscunt. Krischer fasst nicht temperamenta, sondern musici als Subjekt auf und übersetzt
(207f.): »jene hingegen, die stets auf anderes bezogen ist, wird von den Musikern als Maß der Haimonien erkannt«. Es ist verständlich, dass aus moderner Sicht Personen als Akteure angesehen w'erden. Boethius spricht allerdings schon im Falle der Arithmetik davon, dass ein mathematisches Fach eine Erkenntnisleistung vollbringt. Analog verhält es sich mit der Musiktheorie, deren
Boeth. arithm. 1, lf.
301
Geometrie aber verspricht ein Wissen von der unbewegten Größe; die Kundigkeit in der Disziplin der Astronomie aber bietet ein Wissen von der bewegten [sc. Größe], (5) Wenn der Forscher nicht über diese vier Teile verfügt, kann er das Wahre nicht finden, und ohne gerade diese Schau der Wahrheit kann nie¬ mand richtig weise sein. Weisheit ist nämlich Erkenntnis und vollständiges Erfassen jener Sachverhalte, die wahrhaft sind. Deshalb verkünde ich dem¬ jenigen, der dies - das heißt diese Pfade zur Weisheit - verschmäht, dass er nicht in richtiger Weise philosophieren kann, wenn denn Philosophie Liebe zur Weisheit ist, die er durch das Verschmähen jener [sc. Pfade] im Voraus gering geachtet hat. (6) Auch ist Folgendes anzufügen, meine ich, dass das ganze Vermögen der Vielheit von einer Grenze fortschreitet und zu einer unendlichen Ver¬ größerung des Fortschreitens hin wächst. Größe aber beginnt bei einer begrenzten Quantität und erhält bei der Teilung kein Maß (modus), denn sie nimmt völlig unendliche Teilungen ihres Körpers auf. Diese Unendlichkeit der Natur und die unbegrenzte Potenz lehnt die Phi¬ losophie also von sich aus ab. Denn nichts, was unendlich ist, kann durch eine Wissenschaft vereint oder durch das Denken erfasst werden, sondern das Erkennen (ratio) selbst nahm sich von dort her das, worin es seinen Scharfsinn als Erforscher der Wahrheit üben kann. Aus der Menge der unendlichen Vielheit suchte es nämlich eine Grenze der begrenzten Quanti¬ tät und, indem es die Teilung der unbegrenzten Größe zurückwies, forderte es für sich begrenzte Bereiche für die Erkenntnis. (7) Es steht also fest, dass wer auch immer diese [sc. Pfade zur Weisheit] übergangen hat, der gesamten Lehre der Philosophie verlustig gegangen ist. Dies ist also jener Vierweg (quadruvium), den diejenigen gehen müssen, denen der besonders hervorragende Geist (animus) von den uns angebore¬ nen Sinnen weg hin zu den sichereren [sc. Erkenntnissen) des Intellekts geführt wird. Denn es gibt bestimmte Stufen und feststehende Dimensionen der Fortschritte, auf denen man aufsteigen und fortschreiten kann, damit diese Disziplinen jenes Auge des Geistes (das - wie Platon sagt - würdiger als viele körperliche Augen ist, gerettet und ausgebildet zu werden, weil durch dieses Licht allein die Wahrheit aufgespürt und geschaut werden kann), dieses versunkene und der körperlichen Sinne beraubte Auge - sage ich -, wieder erleuchten. (8) Welche von diesen [sc. Disziplinen] muss also als Erste gelernt wer¬ den, wenn nicht diejenige, welche auf bestimmte Weise die Rolle eines Prinzips und einer Mutter im Hinblick auf die anderen innehat? Das ist aber
gesamter Inhalt mit dem Fach selbst in eins fällt, weshalb »die Zusammensetzungen des musikali¬ schen Maßes« durchaus Zahlenverhältnisse erforschen können.
302
Anhang
die Arithmetik. Denn diese ist früher als alle - nicht nur, weil Gott, jener Gründer dieses Weltengebäudes, diese zuerst als Vorbild (exemplar) seiner Denkbewegung (ratiocinatio) hatte und im Hinblick auf diese alles etablier¬ te, was alles durch sein schaffendes Denken (fabricante ratione) mittels Zahlen Harmonie (concordia) von zugewiesener Ordnung gefunden hat. Sondern auch deshalb wird die Arithmetik für früher erklärt, weil mit Auf¬ heben dessen, was jeweils der Natur nach früher ist, zugleich das Spätere aufgehoben wird. Wenn daher das Spätere zugrunde geht, wird nichts am Status der früheren Substanz geändert, wie Lebewesen früher ist als Mensch. Denn wenn man Lebewesen aufhebt, würde sogleich auch die Natur des Menschen vernichtet sein; wenn man Mensch aufhebt, wird Le¬ bewesen nicht zugrunde gehen. Und umgekehrt ist das immer später, was von irgendeinem anderen mitgebracht wird; das früher, was, wenn es gesagt ist, nichts vom Späteren mit sich zieht, wie auch eben bei Mensch. Denn wenn man Mensch sagt, wird man zugleich auch Lebewesen nennen, denn Mensch ist dasselbe, was Lebewesen ist.2 Wenn man Lebewesen sagt, hat man nicht zugleich die Art Mensch mitgebracht, denn nicht dasselbe ist Lebewesen, was Mensch ist. (9) Eben dasselbe scheint bei der Geometrie und der Arithmetik zu pas¬ sieren. Wenn man nämlich die Zahlen aufhebt - woher soll es Dreieck, Viereck und was auch immer in der Geometrie geben, die alle nach den Zahlen ihre Benennung haben? Aber wenn man Viereck und Dreieck auf¬ hebt und die ganze Geometrie vernichtet ist, werden 3 und 4 und die Be¬ zeichnungen der anderen Zahlen nicht zugrunde gehen. Wenn ich wiederum irgendeine geometrische Figur nenne, ist in ihr zugleich die Bezeichnung von Zahlen implizit. Wenn ich Zahlen nenne, habe ich noch keine geome¬ trische Figur genannt. (10) Um wie viel aber das Vermögen der Zahlen früher ist als die Musik, kann von daher am besten bewiesen werden, da nicht nur jenes von Natur aus früher ist, was für sich besteht, als jenes, das sich auf etwas bezieht, sondern auch die musikalische Maßhaftigkeit (musica modulatio) selbst wird mit den Namen der Zahlen versehen und dasselbe kann bei ihr [sc. der Musik] geschehen, was zuvor bei der Geometrie gesagt wurde. Denn die Quarte, Quinte und Oktave werden nach den Namen der vorausgehenden Zahl benannt. Auch das Verhältnis der Töne selbst zueinander findet man einzig und allein in Zahlen (solis neque aliis numeris). Der Klang (sonus) nämlich, der in der Konsonanz Oktave ist, derselbe wird im Verhältnis der doppelten Zahl zusammengefügt; die Maßhaftigkeit (modulatio), die eine Quarte ist, wird durch den epitriten Vergleich zusammengesetzt; was man
2 Ebd. p. 10, 25t.: idem est enim homo quod animal. - Damit ist gemeint, dass Mensch immer auch Lebewesen ist, weil Lebewesen die Gattung der Art Mensch ist.
Boeth. arithm. 1, lf.
303
die Konsonanz Quinte nennt, wird durch eine anderthalbe Mitte (medietas) verbunden; was bei den Zahlen im sesquioktaven Verhältnis steht, dasselbe ist der Ganzton in der Musik. Und um nicht mit Einzelheiten die Arbeit fortzusetzen: Das Folgende dieses Werkes wird ohne jeden Zweifel zeigen, um wie viel die Arithmetik früher ist. (11) Der Sphärik beziehungsweise Astronomie aber geht sie um so viel voran, um wie viel die beiden übrigen Disziplinen dieser dritten von Natur aus vorausgehen. Denn in der Astronomie sind Kreise, Kugel, Mittelpunkt, konzentrische Kreise und Mittelachse, was alles der Disziplin Geometrie obliegt. Deshalb ist auch von daher das ältere Vermögen der Geometrie aufzuweisen, da jede Bewegung nach der Ruhe ist und von Natur aus im¬ mer Ruhe früher ist. Vom Beweglichen aber ist die Astronomie, vom Un¬ beweglichen die Geometrie die Lehre. Oder da die Bewegung der Him¬ melskörper selbst mit harmonischen Verhältnissen erfüllt wird. Deshalb steht fest, dass auch das Vermögen der Musik dem Lauf der Himmelskörper an Rang (antiquitas) vorangeht. Es besteht kein Zweifel, dass die Arithme¬ tik von Natur aus diese [sc. die Astronomie] unter sich hat, da sie [sc. die Arithmetik] sich im Vergleich zu denen, die früher sind als jene [sc. die Astronomie], als älter zeigt.3 Im eigentlichen Sinne ist dennoch durch die Natur der Zahlen selbst jeder Umlauf von Himmelskörpern und jedes astro¬ nomische Verhältnis konstituiert. Denn so erfassen wir Auf- und Untergän¬ ge, so überwachen wir Langsamkeit und Schnelligkeit wandernder Gestir¬ ne, so erkennen wir Mondfinsternisse und die vielfältigen Phasen des Mon¬ des. (12) Deshalb, da ja das Vermögen der Arithmetik früher ist, wie deutlich wurde, wollen wir von hier aus den Beginn der Abhandlung in Angriff nehmen.
3 Boeth. arithm. 1,1p. 12, 3-6: quare constat quoque musicae vim astrorum cursus antiquitate praecedere, quam superare natura arithmeticam dubium non est, cum prioribus, quam illa est, videatur antiquior. Von der Arithmetik hängen demnach mit gleichem Abstand die Musiktheorie und die Geometrie ab und von diesen wiederum die Astronomie; vgl. Philop. in Nikom. 1 Lemma 40. Krischer missversteht den Satz am Ende, indem er ihn auf die Musik bezieht (213): »Daher ist klar, dass auch die Kraft der Musik den Lauf der Sterne an Alter übertrifft, während die Arithmetik zweifellos der Musik von Natur vorangeht, da sie älter ist als anderes, was ihr (der Musik) voran¬ geht.«
304
Anhang
1, 2: Über die Substanz von Zahl4 (1) Alles, was auch immer von der jungen Natur der Dinge (a primaeva rerum natura) geschaffen wurde, scheint nach Art von Zahlen geformt zu sein.5 Derartig nämlich war das prinzipienhafte Vorbild im Geist (animus) des Gründers. Von dort her nämlich ist die Vielheit der vier Elemente ent¬ lehnt worden, von dort die Wechsel der Jahreszeiten, von dort die Bewe¬ gungen der Himmelskörper und der Umlauf des Himmels. (2) Da das so ist und da [sc. der Gründer oder eher die junge Natur der Dinge] den Bestand von allem durch die Zusammenbindung der Zahlen verwaltet, ist es notwendig, dass auch diese Zahl6 immer in ihrer eigenen Substanz verharrt und sich auf gleiche Weise verhält und sie nicht aus Ver¬ schiedenem zusammengesetzt ist - was7 hätte nämlich die Substanz von Zahl verbunden, da ihr eigenes Vorbild alles verbunden hatte? -, sondern sie scheint aus sich selbst zusammengesetzt zu sein.8 4 Dieses Kapitel enthält einige mehrdeutige Formulierungen. In der Konsequenz fällt es schwer, Boethius’ Position zwischen platonischer Theologie und christlicher Religion genau festzustellen. Hier besteht nämlich in der Frage, ob der Schöpfergott mit dem höchsten Gott identisch ist und welche Rolle weitere göttliche Wesen bei der Schöpfung spielen, kein Konsens. Es bleibt zu vermuten, dass Boethius absichtlich eine klare Stellungnahme vermieden hat (vgl. die beiden Optionen hinsichtlich des Subjektes der Frage im zweiten Abschnitt). 5 Mit primaeva (»jung«) kann sowohl etwas sachlich Vorgängiges, Primäres, Prinzipienhaftes bezeichnet werden (vgl. Boeth. arithm. 2, 27 p. 117, 5: primaevam ingeneratamque unitatem — »die junge, ungewordene Einheit«), als auch etwas daraus Abgeleitetes, Sekundäres, das aus einem gleichsam Älteren hervorgebracht wurde und deshalb jung ist, z. B. die »Kinder« des Schöpfergot¬ tes, die letzte Hand an die Schöpfung legen (Plat. Tim. 40d6^Ha6), oder die Art, die in Bezug auf die Gattung als jünger oder später geboren bezeichnet wird, z. B. beim Verhältnis zwischen Pferd und Lebewesen (s. u. das Anhairesis-Verfahren bei Nikom. arithm. 1, 4; vgl. auch Philop. in Nikom. 1 Lemma 38). Betrachtet man die beiden ersten Sätze von Boeth. arithm. 1, 2 im Zusam¬ menhang, dann wird wahrscheinlich, dass Boethius gemäß der zweiten Bedeutung mit der »jungen Natur« schlicht diejenige Instanz meint, die unmittelbar der irdischen Schöpfung schaffend, bewahrend und verwaltend vorsteht - die Natur, welche dem Vorbild im Geist des Schöpfergottes entspringt und ihr ähnlich ist. 6 Gemeint sein dürfte die rational erfassbare, in der Arithmetik betrachtete Zahl, da Boethius in diesem Abschnitt die Charakteristika der mathematischen Zahl festhält, wie ein Vergleich mit der Vorlage Nikom. arithm. 1, 6 bestätigt. Dort heißt es, dass die wissenschaftliche (rationale) Zahl, die am Wahrnehmbaren vorkommt, von sich selbst her harmonisch gefügt ist. 7 »Was« ist hier grammatikalisches Subjekt, »die Substanz« ist Objekt. 8 Der gesamte Abschnitt (2) bereitet inhaltliche Schwierigkeiten. Wie in 11.4.1 f. (u. a. mit Hilfe des Textes von Nikomachos) zu zeigen versucht wurde, meint Boethius hier: Die Schöpfung erweckt den Anschein, gemäß Zahlen geschaffen worden zu sein, da die einzelnen Phänomene auffallend zahlhaft und regelmäßig sind. Die hiesigen Zahlen weisen aufgrund ihrer Anteilhabe an der vorbildhaften Zahl die genannten Eigenschaften auf (verharrt immer in ihrer eigenen Substanz etc.). Beide Zahlarten werden entsprechend der ihnen gemäßen Erfassungsweise intelligible Zahl (vorbildhafte Zahl int Denken des Schöpfergottes, griech.: noetische Zahl) und rationale Zahl (von den wahrnehmbaren Phänomenen abstrahierbare, in der Arithmetik betrachtete Zahl) genannt. Boethius verwendet diese Termini hier nicht, obwohl er ansonsten ganz in platonischer Tradition zwischen ratio und intellectus unterscheidet und dem menschlichen Erkennen primär rationales Vorgehen und dem göttlichen Bereich intelligibles Erfassen zuschreibt; vgl. cons. 5, 4f.
Nikom. arithm. 1,1-6
305
(3) Ferner aber scheint nichts aus Gleichem zusammengesetzt zu werden und nicht aus dem, was durch keine Relation des Verhältnisses verbunden wird und voneinander der ganzen Substanz und Natur nach getrennt ist. Es steht also fest - da ja Zahl zusammengefügt ist - dass sie weder aus Glei¬ chem zusammengefügt ist noch aus dem, was durch kein Verhältnis der Relation aneinander hängt. Es wird also [sc. etwas] sein, was als Primäres Zahlen verbindet, hin zu ihrer Substanz freilich, was gleich bleibt und im¬ mer verharrt. Denn auch aus Nicht-Subsistierendem kann nichts hervorge¬ bracht werden. Und es ist selbst ungleich und des Zusammensetzens ver¬ mögend. (4) Folgendes aber ist das, woraus Zahl besteht: Gerade und Ungerade, was durch ein bestimmtes göttliches Vermögen, obwohl es ungleich ist und entgegengesetzt, dennoch aus einer Zeugung hervorfließt und zu einer Zusammenstellung und Harmonie verbunden wird.
1.2 Nikom. arithm. 1,1-6 Text: Ed. R. Hoche, p. 1, 1 - 13, 6. Boethius übertrug die griechische »Einführung in die Arithmetik« des Neupythagoreers Nikomachos von Gerasa (2. Jh. n. Chr.) ins Lateinische. Im Falle des Proömium paraphrasierte Boethius stark, weshalb ein Blick in die griechische Vorlage Auf¬ schluss über Passagen geben kann, die aufgrund ihrer Kompaktheit bei Boethius schwer verständlich sind. Johannes Philoponos kommentierte die Arithmetikschrift des Nikomachos. Um das Heranziehen dieses Kommentars (Übersetzung im An¬ schluss unter 1.3) zu erleichtern, werden die Ziffern der Lemmata in runden Klam¬ mem angegeben. Die Überschriften zu den einzelnen Abschnitten stammen von der Verfasserin und dienen der inhaltlichen Orientierung. T. Busch hat eine Übersetzung von Nikomachos’ »Einführung in die Arithmetik« samt Anmerkungen angefertigt, in die ich Einsicht nehmen durfte, wofür ich ihm zu großem Dank verpflichtet bin. Es bleibt zu hoffen, dass er sie in Bälde veröffentli¬ chen wird, zumal die englische Übersetzung von M. L. D’Ooge Fehler enthält, die Busch aufgrund seiner Kenntnis des (Neu)platonismus zu vermeiden weiß.
1, 1: Die in der Philosophie angestrebte Weisheit ist Wissen von Seiendem Die Alten (1) und Ersten, die unter der Führung des Pythagoras der Wissen¬ schaft methodisch nachgingen, definierten, dass Philosophie Liebe zur Weisheit ist, wie auch der Name selbst anzeigt, während alle vor Pythago¬ ras mit verworrenem9 Namen weise genannt wurden, wie Zimmermann, Schuster, Steuermann und überhaupt jeder in einer Kunst oder einem 9 Zu »konfus« s. o. 65 Anm. 123 und u. 359 Anm. 137.
306
Anhang
Handwerk Erfahrene. Aber Pythagoras (2) beschränkte den Namen von alldem auf die Wissenschaft vom Seienden und das Erfassen, und indem er die (Er)kenntnis allein (3) der Wahrheit in diesem [sc. im Seienden] im eigentlichen Sinne Weisheit nannte, bezeichnete er folgerichtig auch das Streben nach ihr und das Verfolgen als Philosophie - gleichsam als Streben nach Weisheit. Er entspricht aber der Notwendigkeit mehr als die in anderer Weise Definierenden, insofern er die Bedeutung des eigentlichen Namens und der Sache verdeutlicht. Und die Weisheit selbst aber definierte er als Wissen(schaft) (4) von der Wahrheit im Seienden. Dabei glaubte er, dass Wissen fehlerloses und unveränderliches Erfassen des [sc. dem Wissen bzw. der Wissenschaft] Zugrundeliegenden ist, dass Seiendes aber das ist, was in Relation zu demselben und in derselben Weise immer im Kosmos (5) verharrt und sich niemals vom Sein lossagt - nicht einmal für kurz. Das dürfte wohl das Immaterielle sein und das, gemäß Anteilhabe woran (6) jedes Übrige von dem, was auf homonyme Weise seiend ist und so benannt wird, als »dies Bestimmte hier« bezeichnet wird und ist.10 Denn das Körperliche und Materielle ist bekanntlich in ununter¬ brochenem Fluss und ständig in Veränderung,* 11 wobei es die Natur und die Eigenheit der von Anfang an (7) ewigen Materie und Hypostase nachahmt. Als Ganze und durch und durch nämlich war sie [sc. die Materie] wechsel¬ haft (8) und veränderlich.12 Das Unkörperliche (9) hingegen, das an ihr (10)
10 Zum Unterschied zwischen den gänzlich immateriellen Formen und den partikulären For¬ men an einer bestimmten wahrnehmbaren Materie s. o. 1.2.7. 11 Vgl. Plat. Tim. 48e2-52c8 (Umschlagen der Elemente und Beispiel des Goldschmieds zur Illustration der Aussage, dass alles Wahrnehmbare ständig »im Fluss« ist). 12 Mit diesem Wortlaut konnte sich ein Neuplatoniker, besonders nachdem Plotin seine diffe¬ renzierten Traktate über die Materie verfasst hatte (Plot. II 4 und III 6), nicht zufrieden geben. Aus Philoponos’ Kommentar geht hervor, dass Ammonios tatsächlich Nikomachos’ Formulierungen kritisiert hat (Lemmata 7f.). Philoponos bemüht sich aber, den beiden fraglichen Aussagen einen Sinn abzugewinnen: 1. Das Körperliche ahmt nicht die Materie wie ein Vorbild nach. Nikomachos meine nur, dass die Körper aufgrund ihrer Materie keine feste Basis besitzen. Die Formen sitzen auf der Materie nicht fest, sondern kommen und gehen. So entsteht der Eindruck, als wäre die Materie selbst veränderlich, und man könnte meinen, die Formen glichen sich hierin der Materie an. 2. Die Materie ist nicht »wechselhaft und veränderlich«. Schon laut Platon ist die Materie unveränderlich. Wie das Beispiel des Goldschmieds im »Timaios« zeigt, ist gerade das Gold das Konstante bei aller Veränderung. Nur insofern die Materie eidetisch geformt werden kann, ist sie potentiell unendlich veränderlich. - Die Verwendung einer einheitlichen Terminologie hätte den Aussagen Klarheit verliehen. Gemeint ist Folgendes: Sowohl immaterielle Form (ahylon Eidos) als auch ungestaltete Materie sind unveränderlich. In Veränderung befindet sich nur das composi¬ tum aus der an der Materie vorliegenden Form (enhylon Eidos) und der jeweiligen Materie des compositum. Denn das enhylon Eidos existiert nur an dieser spezifischen Materie; es entsteht und vergeht dort. Dementsprechend wird auch die einzelne Materie verändert, aber nicht insofern sie grundsätzlich Aufnehmerin der enhyla Eide ist, sondern insofern sie bereits durch solche geformt wurde und durch den Wechsel der Formen unterschiedlich gestaltet wird. Analog zu den ahyla und enhyla Eide ist also zwischen der Urmaterie (prima materia) und der schon gestalteten Materie zu unterscheiden, die wie Erz oder Knete weiteren Formungen unterliegen kann. Nikomachos’
Nikom. arithm. 1,1-6
307
oder zusammen mit ihr betrachtet wird, wie Qualitäten, Quantitäten, Gestal¬ tungen, Größen, Kleinheiten, Gleichheiten, Verhältnisse, Akte, Dispositio¬ nen, Orte, Zeiten - überhaupt alles, wodurch das an jedem Körper [sc. Vor¬ liegende] umfasst wird —, ist im Hinblick auf sich selbst unbeweglich und unveränderlich, hat aber akzidentell (11) Anteil an den Erleidungen am zugrundeliegenden Körper und teilt sie. Die Weisheit ist also vornehmlich Wissen(schaft) von Derartigem (12) [sc. von Immateriellem], akzidentell aber auch von dem, was an ihm Anteil hat, das heißt von Körpern. 1.2: Das wahrhaft Seiende ist aufgrund seiner Unveränderlichkeit erkenn¬ bar Aber jenes (13) Immaterielle verharrt von seiner Natur her als Ewiges, Endloses, immer Gleiches und Unveränderliches, da es in derselben Weise in seinem Sein verbleibt, und ein jedes von ihm wird prägnant »seiend« genannt. Das andere unterliegt offenbar in Werden (14) und Vergehen, Wachsen und Verminderung sowie in vielerlei Umschlag und Anteilhabe ununterbrochen der Veränderung und wird zwar homonym mit jenem [sc. Immateriellen] seiend genannt, insofern es daran Anteil hat, ist aber seiner eigenen Natur nach nicht wahrhaft seiend. Nicht einmal für kürzeste Zeit verharrt es nämlich bei demselben, sondern immer geht es [sc. zu etwas Anderem] über, indem es auf vielfältige Weise dem Wandel unterliegt laut Timaios bei Platon, der sagt:13 Was ist das stets Seiende, Werden aber nicht Habende, und was das zwar Werdende, aber niemals Seiende? Das eine ist ja durch Intellekt mit rationalem Denken zu um¬ greifen, da es immer in Relation zu demselben ist, das andere hingegen ist durch Meinung mit der nicht-rationalen Wahrnehmung meinbar, da es wird und zugrunde geht, aber niemals wahrhaft seiend ist.
Wohlbegründet also (15) und völlig zwingend ist es - wenn wir nach dem einem Menschen zukommenden und angemessenen Ziel streben, d. h. dem guten Leben; dieses aber [sc. das gute Leben] wird nur vermittels Philoso¬ phie, aber durch nichts anderes vollendet;14 für Philosophie gilt uns, wie gesagt. Streben nach Weisheit, für Weisheit aber das Wissen der Wahrheit im Seienden, für Seiendes aber zum einen das prägnant, zum anderen das
widersprüchliche Rede von der Materie als ewiger Hypostase und gleichzeitig ihre Charakterisie¬ rung als wechselhaft und veränderlich lässt sich also durch eine Differenzierung von Hinsichten auflösen. 13 Plat. Tim. 27d6-28a4. Nikomachos paraphrasiert größtenteils Platons Wortlaut, nimmt Ver¬ einfachungen vor und verdeutlicht die Aussage durch knappe erklärende Zusätze oder Umformu¬ lierungen; vgl. Huffman. 116f. 14 Laut Plat. pol. 519c8-520a5 sind die Philosophen deshalb verpflichtet, nach der Schau der Idee des Guten wieder >in die Höhle zurückzukehrenWeisheit< aber, weil sie wie eine Erhellung ist. Denn das Göttliche ist hell und am leuchtendsten. Denn sie handelt über Göttliches. Deshalb sagte er >Weisheit