Das Absolute in uns: Zum Verhältnis von Transzendenz und Immanenz in der neuplatonischen Tradition und bei Johann Gottlieb Fichte 9783495994924, 9783495994917


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I) Einleitung
§ 1) Thema, These, Vorgehen – Das Absolute in uns als Zentralfunktion der Metaphysik
§ 2) Die Grundsatzfrage der neuplatonischen Tradition – Vom spätantiken zum christlichen Neuplatonismus
§ 3) Die neuplatonische Tradition und Fichtes Spätphilosophie im Lichte der Forschung
II) Die neuplatonische »Henophanie«
1) Plotin und der »liebende Geist«
§ 4) Vorbemerkungen – oder: Plotins Analyse der Vernunft
§ 5) Das Grundparadoxon des Neuplatonismus und Plotins Lösungsansatz
§ 6) Von der Seele zum Geist?
§ 7) Einheit vor Vielheit
§ 8) Apophatik und Verweis – oder: Die Konstruktion des produktiven Paradoxon
§ 9) Die Entbergung der Ur-Tat in der Konvergenz von Praxis und Theorie
§ 10) Der Einheits- und Disjunktionspunkt als henologisches Hin(auf)spannen
§ 11) Die Urkraft: δύναμις πάντων
§ 12) Das Absolute in uns – Die Einheitserfahrung im Horizont des Bildes
§ 13) Die ἔκστασις und ihre Funktion im Denken Plotins
2) Proklos und das »Eine in uns«
§ 14) Von Plotin zu Proklos: Die Grundzüge der Proklischen Henophanie
§ 15) Die Entdeckung des Verwiesen-Seins
§ 16) Von der Stoicheiôsis zum Parmenideskommentar
§ 17) Zur Funktion negativer Theologie – oder: zur »Erweckung« des henologischen Strebens
§ 18) Das »Eine in uns« als henologisches Streben und transzendierendes Negieren
§ 19) Die Genese höchsten Wissens in der Erfahrung des »Einen in uns«
§ 20) Das »Eine in uns« als Fundament der Mystik
§ 21) Die »Mütter der Affirmationen« – oder: Das »Eine in uns« als Bedingung der Möglichkeit von Denken und Sein
§ 22) Vom Negieren zur pronoetischen Kraft der Henadendimension – oder: die πρόνοια als tragender Horizont
§ 23) Die Henadendimension und das Erscheinen des nicht-erscheinenden Scheinens
III) Die christliche Transformation der neuplatonischen »Henophanie«
1) Johannes Eriugena: Das Absolute als in uns wirkende Liebe
§ 24) Dionysios Pseudo-Areopagitês und die Transformation der neuplatonischen Orthodoxie
§ 25) Zu Dionysios’ versuchter Synthese absoluter und seiender Einheit
§ 26) Dionysios’ Liebesbegriff – Translation der Proklischen Henadenlehre?
§ 27) Von Dionysios zu Eriugena – oder: Das Absolute als tragender Horizont
§ 28) Transzendenz und Selbstbezug – Absolute Selbstliebe als ent-ontologisierter actus purus
§ 29) Der ›Abstieg‹ zur Immanenz – die Liebe in uns
§ 30) Die Funktionsweise des (uns) immanenten Prinzips und seine Wirkungen
§ 31) Lieben und Leben des Absoluten in uns und die sog. unio mystica
2) Nicolaus Cusanus über das wissende Nichtwissen und den tragenden Horizont
§ 32) Cusanus’ neuplatonische Metaphysik
§ 33) Von der Prinzipientheorie zur regula doctae ignorantiae
§ 34) Das Absolute als der uns tragende Horizont
§ 35) Die Spannung des Bildes
IV) Der Einheits- und Disjunktionspunkt in der Wissenslehre J. G. Fichtes
1) Fichtes Lehre vom »Sein«
§ 36) Einleitung
§ 37) Die henologische Erweiterung der Fichteschen Wissenslehre
§ 38) Die Grundlagen der Fichteschen Henologie
§ 39) Der Aufstieg zum Einen in der Wissenschaftslehre 21804
§ 40) Vom höheren Idealismus zum absoluten Realismus
§ 41) Fichtes späte Wissenslehre und die Anweisung zum seligen Leben
2) Die Liebe als transzendent-immanenter Einheits- und Disjunktionspunkt in Fichtes Anweisung
§ 42) Die Liebe als Streben und als Gottesbegriff
§ 43) Die Erweckung der höchsten Einsicht
§ 44) Die Lebendigkeit des Absoluten in uns
§ 45) Das Scheitern des Begreifens und die Genese des Selbstbewusstseins
§ 46) Lebendigkeit und Liebe als ›Begriffsschöpfer‹ vermittels der Reflexion
§ 47) Das Bild als spannungsgeladenes Paradoxon – oder: über Entzug und Präsenz des Absoluten
§ 48) Seligkeit, unio mystica und ›gesollte‹ vita activa
V) Schlussbemerkung
§ 49) Die bedingende Ur-Funktion in uns
VI) Bibliographie
1) Primärquellen mit Siglen
2) Weitere Quellen
3) Weiterführende Literatur
Nachwort
Personenregister
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Das Absolute in uns: Zum Verhältnis von Transzendenz und Immanenz in der neuplatonischen Tradition und bei Johann Gottlieb Fichte
 9783495994924, 9783495994917

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& Religio

Scientia 

| 24

Max Rohstock

Das Absolute in uns Zum Verhältnis von Transzendenz und Immanenz in der neuplatonischen Tradition und bei Johann Gottlieb Fichte

https://doi.org/10.5771/9783495994924 .

https://doi.org/10.5771/9783495994924 .

Scientia & Religio Herausgegeben von Markus Enders Bernhard Uhde Wissenschaftlicher Beirat Peter Antes Reinhold Bernhardt Hermann Deuser Burkhard Gladigow Hubert Seiwert Reiner Wimmer Band 24

https://doi.org/10.5771/9783495994924 .

Max Rohstock

Das Absolute in uns Zum Verhältnis von Transzendenz und Immanenz in der neuplatonischen Tradition und bei Johann Gottlieb Fichte

https://doi.org/10.5771/9783495994924 .

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-495-99491-7 (Print) ISBN 978-3-495-99492-4 (ePDF)

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1. Auflage 2023 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2023. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de https://doi.org/10.5771/9783495994924 .

In memoriam Prof. Dr. Dr. h. c. Jens Halfwassen (†2020) Fritz Rohstock (†2021)

https://doi.org/10.5771/9783495994924 .

https://doi.org/10.5771/9783495994924 .

Inhaltsverzeichnis

I)

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 1) Thema, These, Vorgehen – Das Absolute in uns als Zentralfunktion der Metaphysik . . . . . . . . . . § 2) Die Grundsatzfrage der neuplatonischen Tradition – Vom spätantiken zum christlichen Neuplatonismus § 3) Die neuplatonische Tradition und Fichtes Spätphilosophie im Lichte der Forschung . . . . .

11 11 22 34

II) Die neuplatonische »Henophanie« . . . . . . . . .

41

1) Plotin und der »liebende Geist« . . . . . . . . . . . . . § 4) Vorbemerkungen – oder: Plotins Analyse der Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 5) Das Grundparadoxon des Neuplatonismus und Plotins Lösungsansatz . . . . . . . . . . . . . . . § 6) Von der Seele zum Geist? . . . . . . . . . . . . . § 7) Einheit vor Vielheit . . . . . . . . . . . . . . . . § 8) Apophatik und Verweis – oder: Die Konstruktion des produktiven Paradoxon . . . . . . . . . . . . . . . § 9) Die Entbergung der Ur-Tat in der Konvergenz von Praxis und Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . § 10) Der Einheits- und Disjunktionspunkt als henologisches Hin(auf)spannen . . . . . . . . . . § 11) Die Urkraft: δύναμις πάντων . . . . . . . . . . . . § 12) Das Absolute in uns – Die Einheitserfahrung im Horizont des Bildes . . . . . . . . . . . . . . . . § 13) Die ἔκστασις und ihre Funktion im Denken Plotins

41

2) Proklos und das »Eine in uns« . . . . . . . . . . . . § 14) Von Plotin zu Proklos: Die Grundzüge der Proklischen Henophanie . . . . . . . . . . . . § 15) Die Entdeckung des Verwiesen-Seins . . . . . § 16) Von der Stoicheiôsis zum Parmenideskommentar

. .

94

. . . . . .

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41 46 52 55 59 63 72 77 83 92

7 https://doi.org/10.5771/9783495994924 .

Inhaltsverzeichnis

§ 17) Zur Funktion negativer Theologie – oder: zur »Erweckung« des henologischen Strebens . . . . . § 18) Das »Eine in uns« als henologisches Streben und transzendierendes Negieren . . . . . . . . . . . . § 19) Die Genese höchsten Wissens in der Erfahrung des »Einen in uns« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 20) Das »Eine in uns« als Fundament der Mystik . . . § 21) Die »Mütter der Affirmationen« – oder: Das »Eine in uns« als Bedingung der Möglichkeit von Denken und Sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 22) Vom Negieren zur pronoetischen Kraft der Henadendimension – oder: die πρόνοια als tragender Horizont . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 23) Die Henadendimension und das Erscheinen des nicht-erscheinenden Scheinens . . . . . . . . . . .

III) Die christliche Transformation der neuplatonischen »Henophanie« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1) Johannes Eriugena: Das Absolute als in uns wirkende Liebe § 24) Dionysios Pseudo-Areopagitês und die Transformation der neuplatonischen Orthodoxie . . § 25) Zu Dionysios’ versuchter Synthese absoluter und seiender Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 26) Dionysios’ Liebesbegriff – Translation der Proklischen Henadenlehre? . . . . . . . . . . . . § 27) Von Dionysios zu Eriugena – oder: Das Absolute als tragender Horizont . . . . . . . . . . . . . . . . . § 28) Transzendenz und Selbstbezug – Absolute Selbstliebe als ent-ontologisierter actus purus . . . § 29) Der ›Abstieg‹ zur Immanenz – die Liebe in uns . . § 30) Die Funktionsweise des (uns) immanenten Prinzips und seine Wirkungen . . . . . . . . . . . . . . . § 31) Lieben und Leben des Absoluten in uns und die sog. unio mystica . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2) Nicolaus Cusanus über das wissende Nichtwissen und den tragenden Horizont . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 32) Cusanus’ neuplatonische Metaphysik . . . . . . .

8 https://doi.org/10.5771/9783495994924 .

118 127 142 150 155 162 173 181 181 181 184 189 196 200 206 210 216 219 219

Inhaltsverzeichnis

§ 33) Von der Prinzipientheorie zur regula doctae ignorantiae . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 34) Das Absolute als der uns tragende Horizont . . . . § 35) Die Spannung des Bildes . . . . . . . . . . . . . .

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IV) Der Einheits- und Disjunktionspunkt in der Wissenslehre J. G. Fichtes . . . . . . . . . . . . . .

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1) Fichtes Lehre vom »Sein« . . . . . . . . . . . . . . . . . § 36) Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 37) Die henologische Erweiterung der Fichteschen Wissenslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 38) Die Grundlagen der Fichteschen Henologie . . . . § 39) Der Aufstieg zum Einen in der Wissenschaftslehre 21804 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 40) Vom höheren Idealismus zum absoluten Realismus § 41) Fichtes späte Wissenslehre und die Anweisung zum seligen Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2) Die Liebe als transzendent-immanenter Einheits- und Disjunktionspunkt in Fichtes Anweisung . . . . . . . . . § 42) Die Liebe als Streben und als Gottesbegriff . . . . . § 43) Die Erweckung der höchsten Einsicht . . . . . . . § 44) Die Lebendigkeit des Absoluten in uns . . . . . . . § 45) Das Scheitern des Begreifens und die Genese des Selbstbewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . . § 46) Lebendigkeit und Liebe als ›Begriffsschöpfer‹ vermittels der Reflexion . . . . . . . . . . . . . . § 47) Das Bild als spannungsgeladenes Paradoxon – oder: über Entzug und Präsenz des Absoluten . . . . . . § 48) Seligkeit, unio mystica und ›gesollte‹ vita activa . .

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V) Schlussbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . .

345

§ 49) Die bedingende Ur-Funktion in uns . . . . . . . .

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VI) Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

355

1) Primärquellen mit Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . .

355

2) Weitere Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3) Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . .

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9 https://doi.org/10.5771/9783495994924 .

Inhaltsverzeichnis

Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I) Einleitung

§ 1) Thema, These, Vorgehen – Das Absolute in uns als Zentralfunktion der Metaphysik Johann Gottlieb Fichte formuliert in der ersten Vorlesung seiner Wissenschaftslehre 21804 nicht einfach sein eigenes philosophisches Programm, sondern das »Wesen der Philosophie«1 überhaupt: »Das Wesen der Philosophie würde darin bestehen: Alles Mannigfal­ tige zurückzuführen auf absolute Einheit. Ich habe es mit wenig Worten ausgesprochen; und es kommt nur darauf an, dieses, nicht flach, sondern energisch, und als allen Ernstes gelten sollend, anzusehen. Alles Mannigfaltige – was nur zu unterscheiden ist, seinen Gegen­ satz, und Pendant hat, schlechthin ohne Ausnahme. Wo noch irgend die Möglichkeit einer Unterscheidung deutlich, oder stillschweigend, eintritt, ist die Aufgabe nicht gelöst. Wer in oder an dem, was ein phi­

1 Mit dieser Wesensdefinition hängt untrennbar ein Brief Fichtes an Jacobi zusam­ men, in dem er das »Wesen« der Philosophie noch einmal näher als wissendes Nichtwissen beschreibt, womit er wiederum eine Position reformuliert, die in der neuplatonischen Tradition insgesamt, also paganer wie christlicher Prägung, mit Verve vertreten wird; GA III/5, p. 236, lin. 14 – p. 237, lin. 4: »In Rücksicht Ihrer letzten Verhandlungen hätte ich vorläufig nur eine einzige Frage an Sie zu stellen. Köppen’s ganze Weisheit nämlich scheint mir darauf hinauszulaufen, daß dem Wissen immer etwas vom Begriffe durchaus nicht zu Durchdringendes, ihm Inkommensurables und Irrationales übrig bleibe; und Sie scheinen [...] diese Weisheit als die rechte und höchste zu billigen, und für Ihre eigene zu erklären. Hierbei möchte ich nun fragen: das, was Sie da sagen: meinen Sie es etwa nur und ist es Ihr vorläufiges Dafürhalten bis zur bessern Einsicht: (in welchem Falle Sie die Behauptung, daß dies das Höchst­ mögliche sey, schon stillschweigend zurücknähmen) oder sehen Sie es selber, als schlechthin gewiß, aus seinem absoluten Princip genetisch ein? Falls Sie im letzten Falle entweder selber sich befänden, oder wenigstens als möglich zugeben müßten, daß irgend Jemand in demselben sich befinde; wie wäre es, wenn gerade in dieser Einsicht das Wesen der Philosophie läge, und diese ganz und gar nichts Anderes wäre, als das Begreifen des Unbegreiflichen als solchen?« Die Erörterung des wissenden Nichtwissens wird in den folgenden Diskussionen zentralen Raum beanspruchen.

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I) Einleitung

losophisches System als sein Höchstes setzt, irgend eine Distinktion als möglich nachweisen kann, der hat dieses System widerlegt.«2

Seine Philosophie erscheint allein schon auf dem Hintergrund dieser wenigen, aber eindringlichen Zeilen als »Metaphysik der Einheit« und wird gerade deshalb von Jens Halfwassen wie selbstverständlich mit Plotins henologischer Metaphysik sachlich innig verbunden.3 Genauer gesagt ist es Fichtes Spätphilosophie, also sein Denken ab der Jahrhundertwende, die wegen ihrer henologischen Zuspitzung – besonders gut zu beobachten in der Wissenschaftslehre 21804 und in der Anweisung zum seligen Leben – an die Plotinische Metaphysik gemahnt, gerade weil auch in dieser, wie Halfwassen ganz unmissver­ ständlich zeigen konnte, das erwähnte Programm apostrophiert wird.4 Die genannte Feststellung Halfwassens lässt sich sogar noch erweitern: Fichtes Spätphilosophie erinnert nicht nur an Plotins Meta­ physik, sondern auch an Proklos’ negativ-theologische Transzendenz­ philosophie bzw. Henologie, sodass man sagen kann, dass sie in den Konzepten des klassischen spätantiken Neuplatonismus – oder auch: der neuplatonischen Orthodoxie – ihre sachlichen Vorläufer zu haben scheint.5 Fichtes spätes Denken erinnert aber auch an die metaphysischen Systeme Johannes Scottus Eriugenas und Nicolaus Cusanus’, also an Philosophien, die man unter dem Oberbegriff des »christlichen Neuplatonismus« zusammenfassen kann. Gerade in ihrem vornehmlich negativ-theologischen Denken lässt sich ein Absolutheitsverständnis ausmachen, das demjenigen Fichtes frappie­ GA II/8, p. 8, lin. 10–20. Jens Halfwassen. Der Aufstieg zum Einen: Untersuchungen zu Platon und Plotin. München/Leipzig: Saur, 22006, 9–12. 4 Zur Rückführung aller Vielheit auf absolute Einheit bei Plotin s. Halfwassen: Der Aufstieg zum Einen, 53–97. – Zum Fokus dieser Arbeit auf die späteren Schriften Fichtes s. Kap. IV, bes. § 36–38. 5 Der Begriff »Neuplatonismus« wurde dem Denken Plotins, Porphyrios’, Iambli­ chos’, Proklos’ (u.a.) im 18. Jh. verliehen und stellt eigentlich einen pejorativ konno­ tierten Kampfbegriff dar, durch den das Denken dieser Tradition abqualifiziert werden sollte. Gleichwohl hat er sich in der Forschung eingebürgert. Plotin und Proklos, die zwei klassischen Vertreter des spätantiken Neuplatonismus, verstanden sich selber in erster Linie als Platoniker (s. dazu Plotin: Enn V 1, 8 und Proklos: Theol. Plat. I c. 1. S. ferner Lloyd P. Gerson. »Plotinus and Platonism«. In: Harold Tarrant, Danielle A. Layne, Dirk Baltzly und François Renaud (Hg). Brill’s Companion to the Reception of Plato in Antiquity. Leiden/Boston: Brill, 2018, 316–335 und Jan Opsomer. »Proclus and the Authority of Plato«. In: Harold Tarrant, Danielle A. Layne, Dirk Baltzly und François Renaud (Hg). Brill’s Companion to the Reception of Plato in Antiquity. Brill’s Companions to Classical Reception 13. Leiden/Boston: Brill, 2018, 498–514). 2

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I) Einleitung

rend ähnlich ist: Das Absolute ist für sie die in sich aktive und lebendige Einheit, die alles Begreifen übersteigt, wobei zu bemerken ist, dass ihre Annahme eines aktiven Absoluten das System neuplatonischer Orthodoxie deutlich modifiziert. Hier liegt aber ein erster Einwand nahe: Wie kann das Denken des transzendentalkritischen Idealisten Fichte mit der Philosophie der neuplatonischen Tradition, die, so sei hier betont, den spätantiken paganen und den christlichen Neuplatonismus umfasst, parallelisiert werden, insofern diese zur Zeit Fichtes als ›Schwärmerei‹ bezeichnet wurde und auch heute noch einigen Forscher*innen als (verworrener) Mystizismus gilt?6 Sicherlich sollten die Bedenken, die sich einstellen, wenn ein modernes, transzendentalkritisches mit vorkantischem – gar vorcartesischem – Denken parallelisiert wird, nicht einfach bei­ 6 Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auf die herabwürdigenden Abhandlungen der Plotinischen Philosophie durch Dieterich Tiedemann (Geist der spekulativen Phi­ losophie. Vol. 3, Von der neueren Akademie bis auf die Araber. Marburg: Neue Akade­ mische Buchhandlung, 1793) und Wilhelm Gottlieb Tennemann (Geschichte der Phi­ losophie. 11 Vol., Leipzig: Barth, 1798–1819). Grundlage für die abwertende Haltung, die eine adäquate Auseinandersetzung mit dem spätantiken Platonismus im 18. Jh. offenbar weitgehend verhindert hat, war eine Arbeit Johann Lorenz Mosheims. Dieser übersetzte Ralph Cudworths neuplatonisch inspiriertes Werk, The True Intellectual System of the Universe, ins Lateinische (Radulphi Cudworthi systema intellectuale huius universi seu de veris naturae rerum originibus commentarii. 2 Vol., Jena: Meyer, 1733) und setzte gewissermaßen als Gegengewicht eine kritische Abhandlung mit dem Titel De turbata per recentiores Platonicos ecclesia ans Ende seiner Ausgabe. Weitere Kritik erfuhren die Neuplatoniker durch Johann Jakob Brucker (Historia critica philosophiae. 6 Vol., Leipzig: Breitkopf, 1742–1767) und Christoph Meiners (Beytrag zur Geschichte der Denkart der ersten Jahrhunderte nach Christi Geburt, in einigen Betrachtungen über die Neu-Platonische Philosophie. Leipzig: Weidmann & Reich, 1782). – Wie zu zeigen sein wird, ist »Mystik«, insbesondere dann, wenn es um die sog. unio mystica mit dem Absoluten selber geht, ein höchst problematischer Begriff (s. bes. § 12–13, § 20, § 31 und § 48). Wir können aber hier in aller Kürze Folgendes festhalten: Mystik muss nicht vorschnell mit bloßer Irrationalität gleichzusetzt werden, wenn man es mit einer philosophischen Mystik zu tun hat. Denn dann hat sie philosophische Grundlagen und ist ohne sie gar nicht vermittelbar. Jedenfalls ist sie eine Erfahrung, die aber in neu­ platonischen Philosophien stets durch kontrollierte Methodik fundiert wird, aber gleichwohl nicht zu erzwingen ist. Freilich geht es in dieser Arbeit nicht um Mystik, sondern um eine genuin philosophische Evidenzerfahrung, die von der sog. unio mys­ tica durchaus unterschieden werden muss. – Zur philosophischen Mystik sei hier auf folgende Grundlagenwerke verwiesen: Karl Albert. Philosophische Studien. Vol. 1, Philosophie der Philosophie. Sankt Augustin: Academia Verlag Richarz, 1988. Werner Beierwaltes, Hans Urs von Balthasar und Alois M. Haas. Grundfragen der Mystik. Einsiedeln: Johannes Verlag, 1974. Bernard McGinn. Die Mystik im Abendland. 7 Vol., Freiburg im Breisgau/Basel/Wien: Herder, 1994–2018.

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I) Einleitung

seite gewischt werden. Gleichwohl wird sich im Folgenden zeigen, dass Fichtes Spätphilosophie nicht bloß an das eine oder andere Theorem der neuplatonischen Tradition erinnert. Die Übereinstim­ mungen sind deutlich tiefgreifender und daher systematischer Natur. Und diese Arbeit widmet sich der Aufgabe, diese systemrelevanten Übereinstimmungen kritisch zu analysieren. Dass die Parallelen neuplatonischer und Fichtescher Spätphilo­ sophie nicht oberflächlich, sondern systemrelevant sind, kann und soll im Folgenden anhand eines einzigen Konzeptes illustriert werden, das bei Plotin, bei Proklos und – mutatis mutandis – bei Eriugena, bei Cusanus und schließlich auch bei Fichte zu finden ist: Dieses Konzept nimmt, dies ist die mit Nachdruck postulierte Grundthese dieser Arbeit, die eine, singuläre Zentralstelle oder, was dasselbe bedeutet, Zentralfunktion innerhalb aller hier verhandelten System­ komplexe ein. Dieses Konzept ist dergestalt der systemimmanente ›archimedische Punkt‹ – oder genauer: das Prinzip, die unmittelbar präsente Grundlegung schlechthin bzw. der Einheits- und Disjunkti­ onspunkt, der die Bedingung der Möglichkeit von Bestimmungen, einheitlichen Begriffsbildungen und Begriffsdifferenzierungen, von Wissen, Denken und (Selbst-)Bewusstsein, von Sein bzw. Seiendem (neuplatonische Tradition) und Dasein (Fichte) abgibt. Dieses Prinzip übernimmt darüber hinaus sogar eine psychologische bzw. soteriolo­ gische, ja existenzielle Funktion, der im Folgenden eine bedeutende Rolle zukommen wird. Selber aber bedarf diese Funktion keiner weiteren Fundierung und Begründung mehr. Platonisch ausgedrückt ist sie das ἀνυπόθετον, das selber Unbedingte, das alles bedingt.7 Sie ist also absolut oder transzendent – sie ist das Absolute bzw. die Transzendenz. Von Platon ausgehend hat das Konzept der metaphysischen Transzendenz innerhalb der abendländischen Philosophiegeschichte Karriere gemacht. Dieses Konzept ist in der vorliegenden Arbeit von kaum zu überschätzender Bedeutung, denn ohne Transzendenz sind die Systeme Plotins, Proklos’, Eriugenas und Cusanus’ schlicht nicht zu verstehen. Nun ist der Ausdruck »Transzendenz« in der Forschung sicherlich häufiger anzutreffen, allerdings bleibt ebenso häufig unklar, 7 Platon: Resp. VI 511B. Zum Platonischen ἀνυπόθετον s. Carl S. O’Brien. »Plato on the Absolute«. In: Ermylos Plevrakis und Max Rohstock (Hg). Grundlegung des Abso­ luten? Paradigmen aus der Geschichte der Metaphysik. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2019, 15–36.

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I) Einleitung

was er eigentlich bedeuten soll. Immer wieder kommt es zu gravieren­ den Missverständnissen. Und allzu oft stößt die Transzendenz auf schieres Unverständnis. Dabei ist ihre eigentliche Bedeutung bereits weitgehend geklärt. Besonders prominent wird sie in den Studien Jens Halfwassens dargelegt, wird in ihnen doch die Transzendenz zum zentralen Untersuchungsobjekt erhoben: Vereinfacht gesagt zeigt das Konzept der Transzendenz in neuplatonischen Kontexten nicht einfach Extramentalität, sondern in erster Linie Übergegensätzlich­ keit an.8 Mit Blick auf Fichte ist die schiere Erwähnung der Transzendenz freilich nicht ganz unproblematisch, insofern Fichte den Ausdruck »Transzendenz« im Kantischen Sinne als bloßes »außerhalb« des Bewusstseins versteht und daher ablehnt. Vor diesem Hintergrund wird in der Forschung eher davon ausgegangen, dass die Transzen­ denz in Fichtes Denken keinen Platz habe. Nichtsdestoweniger ist das Konzept metaphysischer Transzendenz, wie noch zu zeigen sein wird, in seiner ursprünglich neuplatonischen Bedeutung in Fichtes Denken sehr wohl vorhanden. Man darf sogar noch einen Schritt weiter gehen: Nur durch das Konzept der Transzendenz lässt sich Fichtes henologisch orientierte Metaphysik verstehen, denn es erhellt seine komplexe Prinzipientheorie. Freilich muss aber die transzendente Zentralfunktion von uns selber, als endliche Subjekte, ›grundgelegt‹ werden: Wir müssen uns als endliche Wesen diese absolute Funktion zu Bewusstsein bringen, wollen wir das innere Band erkennen, das jede Bestimmung

Jens Halfwassen. »Transzendenz/Transzendieren«. Historisches Wörterbuch der Philosophie 10 (1998), Sp. 1442–1455. »Metaphysik und Transzendenz«. Jahrbuch für Religionsphilosophie 1 (2002), 13–27. »Philosophie und Transzendenz: Plotin und der Neuplatonismus«. In: Franz Gniffke und Norbert Herold (Hg). Klassische Fragen der Philosophiegeschichte I: Antike bis Renaissance. Münster et al.: Lit, 2002, 115– 136. »Zur Entdeckung der Transzendenz in der Metaphysik«. In: Wolfram Hogrebe (Hg). Grenze und Grenzüberschreitung. Berlin: Akademie Verlag, 2004, 690–700. »Jenseits von Sein und Nichtsein: Wie kann man für Transzendenz argumentieren?«. In: Thomas Buchheim, Friedrich Hermanni, Axel Hutter und Christoph Schwöbel (Hg). Gottesbeweise als Herausforderung für die moderne Vernunft. Tübingen: Mohr Siebeck, 2013, 85–98. Einige zentrale Abhandlungen Halfwassens zur Transzendenz, auch die soeben zitierten »Metaphysik und Transzendenz« und »Jenseits von Sein und Nichtsein«, wurden in überarbeiteter Form in seiner letzten Monografie zusammenge­ fasst: Auf den Spuren des Einen: Studien zur Metaphysik und ihrer Geschichte. Tübingen: Mohr Siebeck, 2015, 11–87. 8

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I) Einleitung

in ihrem jeweiligen Inneren und die Bestimmungen untereinander zusammenhält und jeden Systemgedanken überhaupt erst bedingt. Um nun diesem einen tragenden Konzept nachzuspüren, sollen, wie bereits erwähnt, die Werke Plotins und Proklos’ einerseits und Eriugenas und Cusanus’ andererseits herangezogen werden. Plotin und Proklos sind zweifelsohne die beiden wichtigsten und wirkmäch­ tigsten Vertreter der neuplatonischen Orthodoxie, in der die negative Theologie und mit ihr die vollkommene Transzendenz des Absoluten in kompromissloser Radikalität pointiert werden. Im Hinblick auf den christlichen Neuplatonismus erhalten die Systeme Eriugenas und Cusanus’ den Vorzug vor anderen christlichen Neuplatonikern, etwa Augustinus oder Meister Eckhart.9 Denn es ist darauf zu achten, dass die zwei hier bevorzugten Denker mit ihrer negativen Theologie die Transzendenz des Absoluten derart markieren, dass sie wenigstens in ihren Formulierungen der neuplatonischen Orthodoxie in nichts 9 Augustinus’ Denken böte sich sicherlich für eine Vergleich mit demjenigen Fichtes an. Allein seine Konzeption der Immanenz Gottes, insofern dieser »innerlicher als mein Inneres« ist (Confessiones III c. 6, lin. 57–58), scheint Fichtes Konzeption der Präsenz des Absoluten, so wie er diese in seiner Anweisung zum seligen Leben konzi­ piert (s. dazu bes. Kap. IV.2), vorwegzunehmen. Für einen Vergleich scheinen auch Augustinus’ Reflexionen zum Selbstbewusstsein, zum vielschichtigen Liebesbegriff und zur Lichtmetaphorik fruchtbar gemacht werden zu können. In der vorliegenden Arbeit sollen aber dezidiert Denker zu Wort kommen, die die Transzendenz des Abso­ luten in einer durchaus radikal anmutenden Form negativer Theologie pointiert haben. Augustinus aber denkt Gott in erster Linie als Geist oder Denken, wobei er damit der Geistmetaphysik Plotins nahe steht (Johannes Brachtendorf. Die Struktur des mensch­ lichen Geistes nach Augustinus: Selbstreflexion und Erkenntnis Gottes in De Trinitate. Hamburg: Felix Meiner, 2000, bes. 15–55. Vgl. Christoph Horn. »Selbstbezüglichkeit des Geistes bei Plotin und Augustinus«. In: Johannes Brachtendorf (Hg). Gott und sein Bild: Augustinus De Trinitate im Spiegel gegenwärtiger Forschung. Paderborn et al.: Schöningh, 2000, 81–103). Das Absolute der neuplatonischen Orthodoxie und der Metaphysik Eriugenas, Cusanus’ und Fichte übersteigt aber die absolute Geistigkeit intellektueller Selbstanschauung. Auch aus diesem Grund wird Meister Eckharts Denken in der vorliegenden Arbeit nur eine untergeordnete Rolle spielen, auch wenn er sich für einen Vergleich mit dem Fichteschen Denken grundsätzlich anbietet: Eck­ hart deutet vor allem in seiner ersten Pariser Quaestio das Absolute als sich selbst denkenden Selbstbezug (LW V, p. 37–48), wohingegen Fichte an der Transzendenz des Absoluten gegenüber Denken und Wissen entschieden festhält. Außerdem ist zu beachten, dass bereits eine Reihe von Arbeiten zum Verhältnis Meister Eckharts und Johann Gottlieb Fichtes erschienen sind. Auf diese wird in § 3 näher eingegangen. – Eckharts Werke werden nach den Bänden der mittlerweile abgeschlossenen Stan­ dardausgabe, Die deutschen und lateinischen Werke. Hrsg. im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Stuttgart: Kohlhammer, 1937–2015, zitiert und DW bzw. LW abgekürzt.

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nachstehen: Sogar absolutes Denken und Wissen scheinen Eriugena und Cusanus im Hinblick auf das Absolute transzendieren zu wollen, sodass wir es nur noch in einem wissenden Nichtwissen thematisieren können. Zugleich haben sie durch ihre eigenwillige Deutung negativtheologischer Methodik und auf dem Hintergrund der Schriften des reichlich undurchsichtigen Denkers, den die Forschung als Dionysios Pseudo-Areopagitês kennt, eine Modifikation der neuplatonischen Orthodoxie erreicht. Gerade die Kombination beider Aspekte ver­ deutlicht ihre Nähe zu Fichtes Metaphysik. Die Auswahl dieser Quellen mag freilich einen Einwand begüns­ tigen: Wie kann, so lässt sich berechtigterweise fragen, Fichtes Phi­ losophie sowohl das Denken paganer als auch christlicher Neuplato­ niker fortsetzen, wenn doch die Systeme christlicher Neuplatoniker in einigen Punkten ganz erheblich von ihren spätantiken Vorläufern abweichen? Denn was die genannte Zentralfunktion zu erfüllen ver­ mag, wird von den genannten Autoren durchaus unterschiedlich beantwortet: So ist das Absolute der neuplatonischen Orthodoxie offenbar grundlegend anders konzipiert als dasjenige Eriugenas oder Cusanus’. Während nämlich das Absolute Plotins und Proklos’ jede Tätigkeit vollkommen transzendiert, wird das Absolute von Eriugena und Cusanus als in sich bewegter Ur-Akt vorgestellt. An welche Absolutheitsspekulation gemahnt nun Fichtes Spätphilosophie genau – sofern wir bei Fichte, was sich aber im Folgenden als nur scheinbares Problem erweisen wird, überhaupt von einer Lehre vom Absoluten sprechen können?10 Fichte nimmt, so sei hier thesenartig pointiert, eine Mittelposition ein, die zugleich seine Originalität unterstreicht. Nichtsdestoweniger werden wir erkennen können, dass in allen hier verhandelten Syste­ men ein Konzept vorliegt, das die genannte Grundfunktion erfüllt, wobei die Funktionsweise dieses Prinzips als Einheits- und Disjunkti­ onspunkt gerade das Gemeinsame aller genannten Systeme ausmacht – und zwar ungeachtet unterschiedlicher Vorstellungen, was denn dieses eine absolute Prinzip sein soll. Denn dieser Einheits- und Disjunktionspunkt erörtert, um es noch einmal zu betonen, Herkunft, Reichweite und Grenze von Wissen, Denken, (Selbst-)Bewusstsein und überdies allen Bestimmungen und Begriffen. Und diese Gemein­ Fichte konstatiert, dass es ihm eigentlich nie um das Absolute, sondern immer nur um dessen Bild gegangen sei. Inwiefern betreibt Fichte also Absolutheitsspekulation? S. dazu § 36.

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samkeit, der wir uns im Folgenden widmen wollen, muss sogleich um einen weiteren, kaum zu überschätzenden Punkt erweitert werden: Wie bereits angedeutet, geht es im Hinblick auf die metaphysi­ sche Zentralfunktion auch immer darum, verständlich zu machen, wie es möglich sein soll, die eine zentrale Funktion aufzuspüren, die schlicht alles bedingt und trägt. Die Frage nach der metaphysischen Zentralfunktion ist unmittelbar mit der Frage nach der Methode verknüpft, durch die uns, als endlichen Subjekten, diese Funktion als Zentralbestimmung, als absolutes Band oder Prinzip zu Bewusstsein gebracht werden soll. Entscheidend im Hinblick auf die Methode ist, dass schon die Neuplatoniker durchaus transzendentalkritisch vorgegangen sind, womit, so die These, der oft kolportierte Abgrund zwischen der vor- und nachkantischen Philosophie überbrückt wer­ den kann. Denn die Neuplatoniker fundierten ihre Absolutheitsspe­ kulationen auf ganz ähnlich Weise wie später Fichte: So ist das neuplatonische Pendant zu Fichtes Abstraktionsmethode die sog. negative Theologie. Auf dieser Grundlage seien hier zwei Thesen formuliert, die es im Anschluss zu überprüfen gilt. (i) An erster Stelle steht die Tatsache, dass die hier zu behandeln­ den Neuplatoniker nicht einfach von einem Absoluten ausgegangen sind, das sie unbegründet vorausgesetzt, behauptet oder an das sie einfach unreflektiert oder aufgrund bloßer Konventionen geglaubt hätten. Ebensowenig gewannen sie ihre Überzeugungen aus einer mystischen Einigung mit dem Absoluten, so als ob dieses ihnen die inneren Zusammenhänge der Wirklichkeit eingeflüstert hätte. Daher lässt sich auch eine Offenbarung als Argumentationsgrundlage weitgehend ausschließen. Vielmehr argumentierten sie aus einer scharfsinnigen, transzendentalkritischen Analyse dessen, was sie faktisch vorfanden, also Sein bzw. Seiendes und Denken, die, wie in der Platonischer Tradition allgemein üblich, eine Einheit bilden. Bei ihrer Analyse stellten sie, grob gesagt, fest, dass Sein und Denken in sich selber plural strukturiert sind und sich nicht aus sich selber heraus begründen, also ein absolutes Prinzip voraussetzen. In diesem Zuge spürten die hier zu behandelnden Denker dem ›genetischen Punkt‹ von Sein und Denken nach, um so die Genese von Sein, Denken und Selbstbewusstsein erklären zu können. Und genau deshalb waren sie allesamt keine Emanationstheoretiker: Die Annahme, alles fließe aus dem Ersten, spielt in der henologischen Metaphysik Plotins, Proklos’,

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Eriugenas und Cusanus’, wie wir im Folgenden noch sehen werden, keine systematische Rolle.11 (ii) Grundsätzlich haben diese Denker eine Position vertreten, die man mit Fichte als transzendentalkritische Besonnenheit beschrei­ ben kann. Das Denken avanciert bei ihnen nicht zum Prinzip und nicht zum Absoluten, sondern bescheidet sich durch eine kritische Analyse unserer Erkenntnismöglichkeiten im Angesicht der abso­ luten Bedingung, die sodann als inkommensurable Transzendenz eingesehen wird. In diesem Zusammenhang ist der Topos des bereits erwähnten wissenden Nichtwissens zentral, gerade weil er alle hier behandelten Denker – Plotin, Proklos, Eriugena, Cusanus und Fichte – in besonderer Weise verbindet. Er ist der allgemeine Grundzug des besonnenen Selbstbescheides von Wissen, Denken und Selbstbe­ Es ist an dieser Stelle und besonders vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die hier zu behandelnden Denker der Bedingung aller Bestimmungen nachgespürt haben, davor zu warnen, den Emanationsbegriff auf ihre Absolutheitsspekulation anzuwen­ den. Denn dieser Begriff droht in vielerlei Hinsicht den Kerngedanken der neuplato­ nischen Tradition zu verdecken. So ist etwa im Hinblick auf Plotin und Proklos zu beachten, dass das seiende Eine bzw. der Geist der Inbegriff der Ewigkeit ist, also keinen Anfang im eigentlichen Wortsinn hat. Auch eine irgendwie geartete Schöp­ fung, sei sie nun notwendig oder freier Entschluss der obersten Gottheit, ist – ganz entgegen der völlig irreführenden Äußerungen Lloyd P. Gersons (»Plotinus’s Meta­ physics: Emanation or Creation?«. Review of Metaphysics 46/3 (1993), 559–574) – für den Neuplatonismus Plotins und Proklos’ auszuschließen. Weiterhin ist darauf zu verweisen, dass sich der absolute Geist im neuplatonischen Denken Plotins oder Pro­ klos’ selber konstituiert – und zwar durch seine eigene henologische Wendung. Plotin suggeriert, dass der Geist – freilich in seiner Spitze – die »Mächtigkeit des Erzeugens« selber sei (Enn. VI 7, 15, 18. S. dazu Kap. II.1). Der Geist trage also in sich selber die Kraft zu seiner eigenen Genese. Also, so können wir schon jetzt postulieren, reduziert die Annahme, der Geist fließe (zu irgendeinem Zeitpunkt oder vor allen Zeiten) ein­ fach aus dem Einen, die Komplexität der neuplatonischen Argumentation derart, dass der Kerngedanke der Genese absoluten Wissens und Selbstbewusstseins völlig ver­ deckt wird. Wird dem Neuplatonismus Emanation unterstellt, drohen vor allem die weitreichenden Parallelen, die zwischen dem neuplatonischen und dem Fichteschen Denken bestehen, nicht gesehen werden zu können. Dass – davon abgesehen – die schiere Erwähnung des Emanationsbegriffs nicht gleich einen unüberbrückbaren Abgrund zwischen der neuplatonischen Tradition und der Fichteschen Philosophie aufspannen muss, hat Jens Lemanski durch seine Forschung zeigen können: Summa und System: Historie und Systematik vollendeter bottom-up- und top-down-Theorien. Münster: Mentis, 2013. – Zum Begriff der Emanation s. Heinrich Dörrie. Platonica minora. München: Fink, 1976, 70–88 und Klaus Kremer. »Emanation«. Historisches Wörterbuch der Philosophie 2 (1972), Sp. 445–448. Zur Kritik an der Emanation, frei­ lich mit dem Fokus auf Plotins Denken, s. Dörrie: Platonica minora, 84–85 und Half­ wassen: Der Aufstieg zum Einen, 114–130, bes. 125–129 mit Anm. 63. 11

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wusstsein gegenüber dem Absoluten und wird auf der Grundlage einer Selbstanalyse gewonnen.12 Das Prinzip, der Einheits- und Disjunktionspunkt, die Bedin­ gung der Möglichkeit aller Bestimmungen, die wiederum selber keines weiteren Fundamentes bedarf, steht zweifellos im Zentrum der jeweiligen Philosophien und erfüllt demnach die systemrelevante Funktion, alle Bestimmungen und ihren inneren Zusammenhang zu fundieren. Diese Zentralfunktion lässt sich präzise mit dem Begriff des Absoluten in uns beschreiben. Genau hierin lassen sich, so die These, die Gemeinsamkeiten von neuplatonischer Tradition und Fich­ tescher Philosophie aufzeigen – und diese, darauf sei hier verwiesen, sollen vor allem in den für die jeweiligen Kapitel zentralen Paragra­ phen hervorgehoben werden.13 Um diese These zu erhärten, muss aber erst einmal ein klärender Blick auf die Grundlagen und Grundprobleme der neuplatonischen Tradition geworfen werden. Hierbei muss, wie sogleich in den fol­ genden zwei Paragraphen grundgelegt werden soll, das Denken der spätantiken Neuplatoniker Plotin und Proklos einer behutsamen Umdeutung unterzogen werden, wobei sich diese aus dem Grund­ problem ihrer Systeme herleiten lässt. Erst vor diesem Hintergrund wird überhaupt verständlich, was das hier kolportierte Konzept des Absoluten in uns eigentlich sein und bezwecken soll. Es fungiert, so möchte ich gleich zu Anfang pointieren, bereits bei Plotin als das zentrale Moment der Metaphysik und wird von Proklos näher durchdacht. So erstaunlich es im Hinblick auf die bisherigen Deutungen des Neuplatonismus auch klingen mag: Plotin nennt den einen Einheits- und Disjunktionspunkt seines Systems »liebender Geist« (νοῦς ἐρῶν) und Proklos bezeichnet ihn als das »Eine in uns« (unum in nobis bzw. τὸ ἐν ἡμῖν ἕν), wobei Proklos die eher experi­ mentellen Überlegungen Plotins schärft und expliziert. Eriugena und Cusanus wiederum klären uns in ihren Schriften darüber auf, dass das Im Hintergrund steht die Idealfigur der Philosophie, der Platonische Sokrates. Dessen Weisheit ist Besonnenheit (Christopher S. King. »Wisdom, Moderation, and Elenchus in Plato’s Apology«. Metaphilosophy 39/3 (2008), 345–362): Er sieht ein, dass er nichts weiß. Sokrates etabliert so das wissende Nichtwissen und den besonnenen Selbstbescheid des Denkens als Kernmomente der Philosophie über­ haupt. Und auf diesem Hintergrund werden wissendes Nichtwissen und besonnener Selbstbescheid bei Plotin, Proklos, Eriugena, Cusanus und Fichte zum höchsten (menschenmöglichen) Wissen stilisiert. 13 Für Plotin s. § 11–12, für Proklos § 21–23, für Eriugena § 30, für Cusanus § 34 und für Fichte § 46. 12

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Absolute selbst in uns lebe. Diesen Gedanken wird Fichte vor allem in seiner Anweisung zum seligen Leben reformulieren, indem er dort das Absolute als Liebe und mithin als Kraft begreift, die in uns selber aktiv ist. Diese These vom Absoluten in uns ist besonders im Hinblick auf den spätantiken Neuplatonismus sicherlich ungewöhnlich und womöglich sogar für Kenner*innen der Materie nicht sofort einsich­ tig. Sie scheint sogar die klassische Hypostaseneinteilung (τὸ ἕν – τὸ ἓν ὄν bzw. νοῦς – ψυχή14) des spätantiken Neuplatonismus, die durch das Absolute selber, das Prinzip aller Bestimmungen sein soll, dominiert wird, zu widersprechen. Denn mit welchem Recht können der »liebender Geist« und das »Eine in uns« die eine Zentralstelle in der Metaphysik dieser Denker einnehmen, wo doch das Absolute als Prinzip aller Bestimmungen apostrophiert zu werden scheint? Die vorgelegte These zum Absoluten in uns als zentrale Funktion der neuplatonischen Metaphysik lässt sich freilich erhellen, indem das gravierende Grundproblem, das gerade durch die radikal konzipierte Transzendenz generiert wird und also untrennbar mit der henologi­ sche Metaphysik von Plotin und Proklos verknüpft ist, neu durchdacht und einer Lösung zugeführt wird, in der die absolute Transzendenz des Absoluten gerade ernst genommen wird: Jede Zuschreibung, die im Hinblick auf das Absolute vorgenommen wird, eben auch diejenige, Prinzip aller Bestimmungen zu sein, muss einer kritischen Prüfung unterzogen werden. Dieses Grundproblem ist – von Plotin und Pro­ klos einmal abgesehen – auch für den christlichen Neuplatonismus von Eriugena und Cusanus von entscheidender Bedeutung, haben sie doch die Prinzipfunktion des Absoluten auf dem Hintergrund des Transzendenzgedankens durchdacht und die sich ergebenden Fragen originell gelöst. Und nicht zuletzt findet sich das Grundproblem in Zu einer behutsamen wie erhellenden Deutung der sog. Hypostasenreihe s. Theo Kobusch. »Metaphysik als Einswerdung: Zu Plotins Begründung einer neuen Meta­ physik«. In: Ludger Honnefelder und Werner Schüßler (Hg). Transzendenz: Zu einem Grundwort der klassischen Metaphysik. Paderborn et al.: Schöningh, 1992, 93–114; bes. 98–99. Die Hypostasen sind »in uns«, sind geradezu »Existenzweisen« von uns selber und daher keine starren, festgefügten, toten Objektivationen. Als solche werden sie häufig missverstanden, sodass der innere Zusammenhang der Metaphysik, um den es Plotin und Proklos gerade zu tun ist, gar nicht in den Fokus rücken kann. Ins­ besondere das Eine verkommt als Objektivation zu einer thetischen Setzung, die der Behauptung Vorschub leistet, Plotins Denken sei im Grunde theistisch. Dass das Eine aber nach Plotin gerade nicht als Objekt des Denkens verstanden werden darf, wird sich weiter unten zeigen lassen (§ 8–9 und § 12). 14

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verwandelter Form auch im Denken Fichtes wieder, weshalb dieses Denken gerade, um es noch einmal zu betonen, an die neuplatonische Tradition erinnert. Im Folgenden soll nun das genannte Konzept in aller Kürze aus dem Grundproblem des spätantiken Neuplatonismus hergeleitet werden, wobei es freilich erst in den entsprechenden Kapi­ teln zu Plotin und Proklos einer eingehenden Prüfung unterzogen werden kann.

§ 2) Die Grundsatzfrage der neuplatonischen Tradition – Vom spätantiken zum christlichen Neuplatonismus Der spätantike Neuplatonismus verdankt seine Entstehung natür­ lich in ganz besonderer Weise der Philosophie Platons, allerdings systematisierte er diese und erstellte so ein umfassendes metaphy­ sisches System, das innerhalb der Europäischen Geistesgeschichte im Hinblick auf Komplexität und philosophiehistorische Wirkung seinesgleichen sucht. Dabei darf nicht vergessen werden, dass der Neuplatonismus auch auf Aristoteles’ Denken zurückgriff, aber frei­ lich so, dass er dessen Philosophie wieder in ihr ursprüngliches Plato­ nisches Fundament reintegrierte.15 Kernstücke dieses synthetisierten Platonismus, des Neuplatonismus also, sind einerseits die Einheits­ metaphysik, auch Henologie genannt,16 und andererseits die Geist­ 15 Zur Herkunft des Neuplatonismus s. in erster Linie die Deutungen von Konrad Gaiser. Platons ungeschriebene Lehre: Studien zur systematischen und geschichtlichen Begründung der Wissenschaften in der Platonischen Schule. Stuttgart: Klett, 1963. Hans J. Krämer. Der Ursprung der Geistmetaphysik: Untersuchungen zur Geschichte des Platonismus zwischen Platon und Plotin. Amsterdam: Schippers, 1964. Thomas A. Szlezák. Platon und Aristoteles in der Nuslehre Plotins. Basel/Stuttgart: Schwabe, 1979. Halfwassen: Der Aufstieg zum Einen und Auf den Spuren des Einen, 149–164. S. ferner Jens Halfwassen. »Der Ursprung der Geistmetaphysik: Die wiederentdeckte Einheit des antiken Platonismus«. In: Platonisches Philosophieren: Zehn Vorträge zu Ehren von Hans Joachim Krämer. Hrsg. von Thomas A. Szlezák unter Mitwirkung von Karl-Heinz Stanzel. Hildesheim/Zürich/New York: Olms, 2001, 47–65. 16 Eine Variante des Henologiebegriffs ist derjenige der Henophanie. Er ist in der Tat sogar präziser, denn durch ihn wird der Fokus auf die Erscheinung des Einen oder Absoluten gelenkt. Um die Henophanie genauer beschreiben zu können, werden wir uns vor allem mit der Lichtmetaphorik befassen: »Licht« wird in der neuplatonischen Tradition als das intelligible, alle Bestimmungen konturierende Prinzip begriffen, das das sinnlich wahrnehmbare Licht transzendiert. Dieses absolute Licht bleibt beim lichtenden Vollzug immer unkonkret – oder eher: überkonkret – und kann daher als die Transzendenz schlechthin begriffen werden, die freilich als konturierendes

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metaphysik, die auch als Noologie oder als ontologische Metaphysik bezeichnet werden kann. Daneben existiert ferner eine umfangreiche Psychologie bzw. Seelenlehre: Sie, die vom diskursiv und sukzessiv in der Zeit verfahrenden, also dianoetischen, menschlichen Denken handelt, ist wohl der zentrale Ausgangspunkt des Neuplatonismus, da wir nur über unser eigenes Denkvermögen einen methodisch kontrollierten Zugang zum absoluten Geist der Noologie und dem absoluten Einen der Henologie haben.17 Für die vorliegende Arbeit bleiben freilich Heno- und Noologie die entscheidenden Fixpunkte, denn in ihnen, so die These, nähern sich die neuplatonische Tradition einerseits und Fichtes Philosophie andererseits in entscheidender Weise an. Sicherlich nimmt aber hierbei auch das psychologische Moment eine entscheidende Rolle ein, geht es doch in allen hier zu behandelnden Systemen auch immer um Soteriologie, die übrigens nie einfach als ekstatische, mystische Weltabgewandtheit zu deuten ist, sondern praktisch, also im Sinne einer vita activa, gewendet wird.18 Worin aber besteht, so müssen wir zunächst einmal fragen, Ur-Momentum stets unmittelbar präsent ist. Diesem Gedanken von simultaner Transzendenz und Präsenz des lichtenden Vermögens, der die zentrale Stelle innerhalb der vorliegenden Untersuchung einnimmt, werden wir in den folgenden Kapiteln nachspüren. – Gerne wird, wenn der Begriff des Lichtes verhandelt wird, auf die Überlegungen Hans Blumenbergs verwiesen (»Licht als Metapher: Im Vorfeld der philosophischen Begriffsbildung«. In: Hans Blumenberg. Ästhetische und metapho­ rologische Schriften. Auswahl und Nachwort von Anselm Haverkamp. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2001, 139–171). Seine historische Rekonstruktion bes. der neuplatonischen Tradition ist aber äußert fragwürdig. Die Funktion des Lichtes stellt er ungenügend dar, verzerrt gar den Sachverhalt zuweilen bis zur Unkenntlichkeit. Zum besseren Verständnis s. die folgenden Überlegungen. 17 Einen Überblick zu zur Heno-, Noo- und Psychologie bes. Plotins bietet in prägnanter Kürze Jens Halfwassen. Plotin und der Neuplatonismus. München: C. H. Beck, 2004. 18 Dass das Denken Plotins und Proklos’ ganz grundsätzlich einen eminent prakti­ schen Anspruch hat, konnte Theo Kobusch überzeugend nachweisen (»Metaphysik als Einswerdung«, 93–114, »Metaphysik als Lebensform: Zur Idee einer praktischen Metaphysik«. In: Wouter Goris (Hg). Die Metaphysik und das Gute: Aufsätze zu ihrem Verhältnis in Antike und Mittelalter. Leuven: Peeters, 1999, 27–56 und »Negative Theologie als praktische Philosophie«. In: Marco M. Olivetti (Hg). Théologie néga­ tive. Padova: CEDAM, 2002, 185–200). Darüber hinaus lässt sich folgende Überle­ gung wagen: Wenn absolutes Denken und Wissen sich im Angesicht des Absoluten bescheiden sollen, weil sie, wie wir noch sehen werden, nicht das Absolute selber sein können, dann gilt dieses »Soll« auch für seelische Vollzüge. So kommt es etwa Proklos darauf an, zu zeigen, dass der Mensch sein Leben nur dann in seliger Weise leben und der Gemeinschaft dienen wird, wenn er sich gegenüber dem transzendenten Absolu­

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das Wesen neuplatonischer Heno- und Noologie nun genau? Im Folgenden seien die Grundlagen vor allem anhand der klassischen Deutung Plotins skizziert. Die Einheitsmetaphysik beschäftigt sich mit dem absoluten Einen (τὸ ἕν), das vor dem Hintergrund der ersten hypothesis des Platoni­ schen Parmenides und der »Idee des Guten« der Politeia entwickelt wird.19 Das absolute Eine erscheint nach Plotin als Bedingung der Möglichkeit von Sein und Denken und damit als Prinzip, auf das alle Bestimmungen zurückgeführt werden können. Das Seiende und alle denkbaren intelligiblen Bestimmungen könnten gar nicht sein, wenn sie nicht durch Einheit bestimmt bzw. in sich selbst geschlossen wären. Das Eine wiederum ist selber reine Einheit, daher nicht bestimmt, und gerade daher – so paradox diese Aussage auch im ersten Moment anmuten mag – die logische und ontologische Bedingung aller Bestimmungen. Als Prinzip aller Bestimmungen ist es vollkommen transzendent, steht jenseits aller Empirie und Intelligibilität und übersteigt sogar das Sein selbst. Für Plotin ist es im Anschluss an die »Idee des Guten« in Platons Politeia »ἐπέκεινα τῆς οὐσίας«20 oder schlicht »ἐπέκεινα πάντων«21. Daher wird das ten bescheidet. Er findet in diesem Selbstbescheid nämlich seinen ›Platz‹ im Seins­ ganzen, wird so befriedet und arbeitet gerade auf diesem Hintergrund an der Besse­ rung der Menschheit insgesamt. Verkörperung dieser vita activa durch höchste Einsicht ist Sokrates, der »göttliche Liebhaber« (s. § 22–23. Bez. Fichte s. § 48). – Damit ist, nebenbei bemerkt, auch gleich mitausgesagt, dass die Psychologie des spät­ antiken Neuplatonismus kein subjektives Empfinden meint. Sicherlich brechen wir aber zu einem höchsten Fühlen durch, das, wie wir noch sehen werden, im henologi­ schen Streben realisiert wird. Dieser Durchbruch ist aber methodisch angeleitet, inso­ fern die Abstraktionsmethode der negativen Theologie zur Anwendung kommt (s. § 9 und § 18–20). Und letztlich ist ja auch das höchste Fühlen der Liebe bei Fichte nicht irgendein beliebiges subjektives Empfinden (s. Wolfgang Janke. Fichte: Sein und Reflexion – Grundlagen der kritischen Vernunft. Berlin: Walter de Gruyter, 1970, 284), sondern seinerseits durch die absolute Abstraktion in uns freigelegt. Es avanciert zum allgemeinen Grundpunkt unseres Daseins. S. bes. Kap. IV.2. 19 Zur Deutung der Idee des Guten s. Hans J. Krämer. »επεκεινα της ουσιας: Zu Platon, Politeia 509B«. Archiv für Geschichte der Philosophie 51 (1969), 1–30. Thomas A. Szlezák. Die Idee des Guten in Platons Politea: Beobachtungen zu den mittleren Büchern. Sankt Augustin: Akademia-Verlag, 2003. S. ferner Halfwassen: Auf den Spuren des Einen, 91–107. – Zur Auslegung Platons im Sinne der »ungeschriebenen Prinzipien­ lehre« s. Giovanni Reale. Zu einer neuen Interpretation Platons: Eine Auslegung der Metaphysik der großen Dialoge im Lichte der »ungeschriebenen Lehre«. Paderborn et al.: Schöningh, 22000. 20 Platon: Resp. VI 509B. Plotin: Enn. V 4, 2, 44. 21 Etwa Enn. V 3, 13, 2.

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absolute Eine im Neuplatonismus durch Negationen beschrieben und intendiert: Es ist nicht seiend, nicht bestimmt und nicht denkbar. Das bedeutet aber nicht, dass es bloßes Nichts ist. Vielmehr soll das Eine kraft dieser Negationen als das Prinzip aller Bestimmungen jenseits von allem und über allen concreta begriffen werden. Das Denken ist demgegenüber in sich selbst vielheitlich strukturiert, besteht es doch aus drei Momenten: dem denkenden Subjekt, dem zu denkenden Objekt und dem verbindenden Denkakt.22 Das Denken ist also keine reine Einheit, sondern Vielheit. Es ist daher von einem ihm logisch und ontologisch vorausgehenden Prinzip abhängig.23 Sein Prinzip kann das Denken aber nicht denkend ›einholen‹, weil es das Eine, das ihm Einheitlichkeit und innere Geschlossenheit verleiht, stets voraussetzt. Das Eine wird als Prinzip aller Dinge vorausgesetzt, weil es schlecht­ hin übergegensätzlich und damit frei von jeder Vielheit ist. Mit Hilfe der umfangreichen Negationslogik wird die Transzendenz des Einen über jeden möglichen Gegensatz herausgestellt.24 Dadurch erscheint es als Prinzip aller Bestimmungen und eben auch von Gegensätzen. Gewissermaßen ›unterhalb‹ des absoluten Einen steht das erste Prinzipiat des Absoluten, das im Neuplatonismus auch als erste Erscheinung oder Bild des Einen gewertet wird. Hergeleitet wird das seiende Eine (τὸ ἓν ὄν) aus der zweiten hypothesis des platoni­ schen Parmenides. Systematisch erörtert wird die Beziehung zwischen Absolutem und Geist durch die Licht- und Bildtheorie: Das Absolute wird in der Forschung, besonders von Werner Beierwaltes, als das unsichtbare intelligible Licht begriffen, durch das alles Seiende kontu­ riert, ge-›bildet‹ und erkennbar wird.25 Dieses Licht, das wohl eher das Eine umgibt, als dass das Eine selber Licht ist, erhellt das seiende Eine. Dieses ist die Totalität aller intelligiblen Bestimmungen und Ort der 22 Gleichwohl ist das Denken keine bloß synthetische Einheit bzw. keine synthesis post factum (Jens Halfwassen. »Metaphysik als Denken des Ganzen und des Einen im antiken Platonismus und deutschen Idealismus«. In: Hans Gebhardt und Helmuth Kiesel (Hg). Weltbilder. Berlin et al.: Springer, 2003, 263–283; hier 269–270). 23 So Plotin in Enn. VI 9, 1–2. 24 Am Beispiel von Identität und Differenz, paradigmatisch zusammengefasst von Proklos, stellt sich die Übergegensätzlichkeit wie folgt dar; In Parm. VII p. 1177, lin. 22–24: »τὸ ἓν οὐκ ἔστιν ἑαυτοῦ ἕτερον, τὸ ἓν οὐκ ἔστι τῶν ἄλλων ἕτερον, τὸ ἓν οὐκ ἔστιν ἑαυτῷ ταὐτόν, τὸ ἓν οὐκ ἔστι τοῖς ἄλλοις ταὐτόν.« 25 Werner Beierwaltes. Proklos: Grundzüge seiner Metaphysik. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 21979, 333–337; bes. 336. Werner Beierwaltes. »Plotins Meta­ physik des Lichtes«. In: Clemens Zintzen (Hg). Die Philosophie des Neuplatonismus. Darmstadt: WBG, 1977, 75–117; bes. 92–107.

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Ideen. Das seiende Eine ist sicherlich kein bloßes Depot an Gedanken und Begriffen. Denn erstens sind die Ideen der Inbegriff des Seins und konstituieren die universale Wesenheit (οὐσία), denn sie sind ewig, unwandelbar und unabhängig von subjektiven oder endlichen Denkakten. Zweitens ist der Ideenkosmos in sich selbst lebendig, weil ihm die Tätigkeit des Denkens zugesprochen wird. Daher wird das seiende Eine als ewiger und wahrhafter Geist (νοῦς) bezeichnet. Sein und Denken, so ein Grundsatz der Philosophie Plotins, bilden in diesem Geist eine Einheit, so dass es nicht mehr zu einer Distanz oder einem Abgrund zwischen dem denkenden Subjekt und dem zu denkenden Objekt kommt. Erläutern lässt sich dieser Gedanke durch einen kurzen Blick auf die »obersten Gattungen« (μέγιστα γένη26), die (ontologischen) Grundbestimmungen der neuplatonischen Philo­ sophie. Das Sein bzw. Wesen wird von den Bestimmungen Ruhe und Bewegung, Identität und Differenz durchdrungen und so expli­ ziert: Das Sein ist in Ruhe, weil es unwandelbar ist. Es ist aber auch in Bewegung, weil ihm die Aktivität des Denkens und damit Bezogenheit zukommt.27 Ferner sind Sein, Ruhe und Bewegung von­ einander verschieden, werden also von der Bestimmung der Differenz durchdrungen und bestimmt. Schließlich sind alle Bestimmungen mit sich selbst identisch. Die obersten Gattungen bilden also trotz ihrer Verschiedenheit eine unzertrennliche Einheit. Sie durchdringen einander wechselseitig, sodass keine Bestimmung von den anderen isoliert werden kann. Darüber hinaus bildet der Ideenkosmos insge­ samt eine umfassende Einheit, die trotz der Differenz der jeweiligen Ideen ihre Einheitlichkeit und innere Geschlossenheit behält, weil sich die Ideen nicht widersprechen, sondern sich gegenseitig stützen. Da der Geist die Ideen in sich selbst enthält und diese denkt, denkt er, indem er diese durchdringt, sich selber.28 Plotin entwirft also anhand der Ideen eine metaphysische Selbstbewusstseinstheorie. In diesem Zusammenhang löst Plotin die philosophische Grundfrage nach der Möglichkeit eines zweifelsfrei gewissen Wissens: Zweifels­ freies Wissen, so Plotin, sei nur dann möglich, wenn der denkende Zur Entfaltung des Seins in den obersten fünf Gattungen, Sein, Ruhe, Bewegung, Identität und Differenz s. Enn. VI 2, 7–8. 27 Dem Sein kommt im Parmenideischen Sinne Denken zu, weil es nichts (höchstens Privationen) ausschließt. Aufgrund seiner Vollkommenheit muss ihm also Denken eignen. S. hierzu Halfwassen: Plotin und der Neuplatonismus, 68–74; bes. 69–70. 28 Enn. V 9, 3–8. 26

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Geist nicht etwas anderes außerhalb seiner selbst denke, sondern die Denkinhalte und die Kriterien zur Beurteilung dieser Denkinhalte in sich selbst vorfinde. Der Geist bezieht sich also nach Plotin denkend auf sich selbst und weiß sich so zweifelsfrei.29 Plotin hat in dieser sog. Zweifelsbetrachtung die Grundlagen der Evidenz des Selbstbewusstseins freigelegt – ein Gedanke, der oft erst Descartes zugesprochen wurde.30 Mit Blick auf den Idealismus und besonders Fichte ist darauf hinzuweisen, dass Plotin den Geist vor diesem Hintergrund als denkende Aktivität beschreibt, die sich im Akt des auf sich selbst gerichteten Denkens aktualisiert, vollendet und sich so selbst setzt. Das absolute Selbstbewusstsein ist, wie es Proklos später ausdrücken wird, ein αὐθυπόστατoν (authypostaton), also durch sich selbst bestehend, gewirkt und vollendet. Gleichwohl weiß es sich selbst in Abhängigkeit vom absoluten Prinzip und begreift sich so als Bild des Absoluten, denn das Bild ist nicht das Original, sondern abkünftig.31 Doch hier drängt sich eine erste Frage auf, die auf das oben genannte Grundproblem des spätantiken Neuplatonismus voraus­ weist: Wie kann der Geist einerseits Prinzipiat des Einen sein und zugleich doch durch sich selber, also durch seine eigene Aktivität, gesetzt sein? Geraten das absolute Prinzip und der sich selber setzende Akt des Geistes nicht in Konflikt? Doch mit dieser schwierigen metaphysischen Frage enden die Probleme der neuplatonischen Prin­ zipientheorie vom Schlage eines Plotin oder Proklos nicht. Vielmehr wird ein Problem konstruiert, das anscheinend das Systemgefüge des spätantiken Neuplatonismus instabil werden zu lassen droht. Denn es kommt bei Plotin und Proklos zu der höchst paradoxen Situation, dass die absolute Bedingung allen Bestimmungen zwar als einheitsstiftendes Prinzip vorauszusetzen ist, aber gleichwohl nicht als Prinzip gedacht werden kann. Dieses Paradoxon avanciert im spätantiken Neuplatonismus zu dem wohl gravierendsten Problem dieser Philosophie. Denn wie kann das absolute Eine, das in vollkom­ mener Transzendenz jenseits aller Bestimmungen vorgestellt wird, Enn. V 5, 1–2. Jens Halfwassen. »Plotins Zweifelsbetrachtung: Zum Ursprung einer idealisti­ schen Metaphysik des Geistes«. In: Markus Gabriel (Hg). Skeptizismus und Metaphy­ sik. Berlin: Akademie Verlag, 2012, 207–219. 31 Die Bildtheorie wird in den folgenden Kapiteln stets eine zentrale Rolle spielen, wobei sich gerade hierbei weitreichende Parallelen zwischen der neuplatonischen Tradition und Fichtes Denken ergeben werden. 29

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noch als Prinzip aller Bestimmungen angesprochen werden? Wenn es als Prinzip gedacht, ja überhaupt thematisiert wird, wird es bereits in Bezug zu seinen Prinzipiaten gedacht bzw. in einen Kontext gesetzt. Dann ist es aber nicht mehr gegenüber allen Bestimmungen – in diesem Fall der Bestimmung der Relation – erhaben. Dieses Problem ist grundlegend für den Neuplatonismus paganer Prägung insgesamt. Und auch christliche Denker haben dieses Problem als drängend empfunden: Ihre Systeme können geradezu als Antworten auf es gelesen werden. Heraufbeschworen wird dieses Problem durch die radikal verfah­ rende negative Theologie, in der die Transzendenz des Absoluten betont wird, um es als Prinzip allen Bestimmungen vorordnen zu können. Denn nur, wenn es gegenüber allem erhaben ist, kann es als Prinzip aller Bestimmungen gedacht werden.32 Doch in der negativen Theologie wird die Transzendenz derart radikal gedacht, dass das Absolute eigentlich nicht mehr als Ursprung angesprochen werden kann.33 Letztlich kann man über es nur noch schweigen.34 Obwohl ein Bewusstsein für dieses Problem zweifelsohne exis­ tiert, kommt es gleichwohl noch immer zu der pauschalen, aber irrigen, ja schlicht falschen Behauptung, aus dem Absoluten würden alle Prinzipiate emanieren.35 Wertet man aber das neuplatonische Denken als Emanationslehre, so wird der Abgrund zwischen der neuplatonischen Tradition und Fichtes Denken in der Tat unüber­ brückbar. Plotins und Proklos henologische Metaphysik ist aber nicht einfach als Emanationstheorie beschreibbar, denn sie ist weitaus komplexer. Diese Komplexität wurde in älteren Forschungen nicht Dazu Halfwassen: Auf den Spuren des Einen, 37–49. Zu dieser Problematik s. Halfwassen: Der Aufstieg zum Einen, 98–130. 34 Vgl. Proklos’ klassische Darstellung der absoluten Transzendenz des Einen (In Parm. VII p. 517, lin. 22 – p. 521, lin. 25). Eigentlich, so muss hier hinzugefügt werden, ist das Absolute auch noch jenseits des Schweigens. Zu diesem Problem und seiner Lösung s. bes. meine Ausführungen zu Proklos (Kap. II.2). – Die negative Theologie wird in der Forschung meistens eher skeptisch betrachtet. Ein prominentes Beispiel für diese Skepsis ist eine Abhandlung Walter Jaeschkes: »Negative Theologie und philosophische Theologie«. Archivio di Filosofia 70 (2002), 303-314. Auch im Speziellen, also im Hinblick auf die im Folgenden zu behandelnden Denker, wird die negative Theologie immer wieder infrage gestellt. Es lässt sich aber zeigen, dass diese Aversionen bzw. Bedenken unbegründet sind. 35 Christoph Asmuth. Interpretation – Transformation: Das Platonbild bei Fichte, Schelling, Hegel, Schleiermacher und Schopenhauer und das Legitimationsproblem der Philosophiegeschichte. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2006, 28. S. dazu § 3. 32

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hinreichend gewürdigt. Beispielhaft lässt sich dies durch einen Blick auf Werner Beierwaltes’ Habilitationsschrift, Proklos: Grundzüge sei­ ner Metaphysik, erhärten, die in großen Teilen noch immer als bestim­ mendes Werk der Proklosforschung gelten muss: Darin können wir beobachten, dass Beierwaltes Proklos’ Heno- und Noologie kaum aufeinander bezieht.36 Sicherlich existieren aber, wie bereits gesagt, Lösungsansätze für das gravierende Problem der neuplatonischen Prinzipientheorie. Sie wurden insbesondere von Jens Halfwassen und Dirk Cürsgen vorgelegt. Diese Ansätze liegen der vorliegenden Arbeit zugrunde, wobei sie hier eine Erweiterung erfahren sollen, die darin besteht, dem Konzept des Absoluten in uns die zentrale Funktion innerhalb der Metaphysik aller hier zu behandelnden Sys­ teme zuzuschreiben. Und gerade durch diese Erweiterung wird sich, wie gesagt, erkennen lassen, inwiefern Fichtes Wissens- und Bild­ lehre ihre sachlichen Vorläufer in der Philosophie von Plotin und Proklos hat. Denn auch bei Fichte lässt sich die Frage stellen, wie sich das absolute Wissen und das Absolute selber zueinander verhalten. Die Fichteforschung wiederum fokussiert vornehmlich die Bild- und Reflexionslehre, wobei sie aber das Absolute zuweilen völlig aus den Augen zu verlieren droht.37 Das Absolute in uns bezeichnet – in der sog. neuplatonischen Orthodoxie, also dem Denken Plotins und Proklos’, – die Schnittstelle zwischen dem Einen und dem Denken. Ohne es, so die These, kann der Zusammenhang von Absolutem und absolutem Geist nicht ver­ standen werden, wobei sich diese These in ihrer äußersten Zuspitzung auch wie folgt formulieren lässt: Es besteht Grund zu der Annahme, dass das Absolute Plotins – anders als in der Forschung immer wieder betont – nicht an ihm selber Prinzip aller Bestimmungen sein kann,

36 Es fehlt auch eine Auseinandersetzung mit den Henaden, die keineswegs unbe­ achtet bleiben sollten. Zu diesen s. bes. § 23. 37 Als Beispiele seien hier die Arbeiten Christoph Asmuths genannt, der die Aussagen Fichtes, es sei ihm nie um das Absolute gegangen, übernimmt, radikalisiert und so das Absolute neuerdings mit schierer Nichtbeachtung abstraft. Dass dieses aber aus dem System Fichtes nicht einfach radiert werden kann, wird die weitere Diskussion zeigen. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang schon einmal auf die umfangreichen wie erhellenden Analysen Rebecca Paimanns, in denen das Verhältnis von absolutem Wissen und Absolutem ins rechte Licht gerückt wird: Die Logik und das Absolute: Fichtes Wissenschaftslehre zwischen Wort, Begriff und Unbegreiflichkeit. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2006.

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wenn man die negative Theologie kompromisslos ernst nimmt.38 Plotin schreibt selber, wie wir sehen werden, dass das Eine nicht einmal mehr Eines sein könne. Ist es dergestalt tatsächlich noch δύναμις πάντων, also die »Mächtigkeit zu allem«?39 Sollte das Urver­ mögen nicht vielmehr, insofern man die negative Theologie Plotins in ihrer Radikalität wirklich ernst nimmt, dem »liebenden Geist« übertragen werden? Dieser Gedanke wird von Proklos aufgegriffen, aber sicherlich expliziter als von Plotin gedacht: Bei Proklos firmiert die zentrale prinzipientheoretische Funktion unter dem Namen des »Einen in uns«, womit er uns sagen will, dass das Eine, das Absolute also, in uns selber erfahren und sodann im Denken (als Unbegreifli­ ches) begriffen wird.40 Von der Forschung wird dieser Zentralfunktion weniger Beachtung geschenkt. Diese ist aber der Schlüssel, um das oben genannte Problem zu lösen. Besonders Proklos verknüpft in diesem Begriff gleich mehrere, nur scheinbar divergierende Begriffe originell und lässt sie im Konzept des »Einen in uns«, das sich uns als höchste Spitze bzw. als eigentlicher Wesenskern unseres Selbst offen­ baren wird, zusammenfallen: Zu nennen sind die Begriffe »Spur«, »Streben« bzw. »Liebe«, »Spitze«, »Blume« bzw. »Blüte«, »Zentrum«, »Negieren«, »Geburtsschmerz«, »Begeisterung« oder »Wahnsinn«, »unendliche Kraft«, »Licht«, »Vorsehung« oder »Fürsorge«, wobei zum Schluss auch die sog. Henaden angeführt werden können. Mit der Aufzählung dieser im ersten Moment sicherlich verwirrenden Vielzahl an unterschiedlichen Begriffen soll hier lediglich darauf verwiesen werden, dass diese in ihrem natürlich nicht ganz leicht zu durschauenden Verbund die (negative) Prinzipientheorie des Scho­ larchen ausmachen. Aufgrund ihrer innigen, ja intimen sachlichen Verknüpfung muss eine hermeneutische Trennung geradezu künst­ lich erscheinen, jedoch bleibt sie notwendig, denn die jeweiligen Begriffe weisen auf einzelne Aspekte der Funktion des »Einen in uns« hin und machen es so verständlich. Im Folgenden werden wir diese 38 S. dazu schon meine Kritik an Werner Beierwaltes’ Catena Aurea: Plotin, Augus­ tinus, Eriugena, Thomas, Cusanus. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 2017. Man darf davon ausgehen, dass Beierwaltes die negative Theologie Plotins nicht ernst genug genommen hat (Göttingische Gelehrte Anzeigen 272/1 (2020), 90–100). Wenn wir sie aber ernst nehmen, drängt sich freilich die unangenehme Frage auf, wie das Absolute überhaupt noch thematisiert werden kann. 39 S. Halfwassen: Der Aufstieg zum Einen, 125–126. 40 Die sachliche Verwandtschaft des »liebenden Geistes« mit dem »Einen in uns« ist der Forschung nicht entgangen (Halfwassen: Plotin und der Neuplatonismus, 55–56).

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seltsam anmutenden Verknüpfungen zu rekonstruieren versuchen, um so der zentralen Funktion des Absoluten in uns im Denken des spätantiken Neuplatonismus auf die Spur zu kommen. Denn es ist, so die These, das Fundament, der tragende Horizont oder der verborgene ›Hintergrund‹ aller Seins- und Denkakte. Es ist womöglich das, was Wolfram Hogrebe treffend als »Distinktionsdimension« bezeichnet hat.41 Diese wiederum lässt sich als »anonymes Reglement« vorstel­ len, das alle unsere »semantischen Explikationsbemühungen« trägt oder »dirigiert«.42 Funktion und Leistung dieser verborgenen Anlei­ tung werden in der vorliegenden Arbeit erhellt. Es ist fernerhin zu beachten, dass die beiden Theorien absolu­ ter und seiender Einheit – und das ihrer Verbindung inhärierende Dilemma – einen kaum zu überschätzenden Einfluss in der Philoso­ phiegeschichte entfalteten. Grundsätzlich lässt sich feststellen, dass die metaphysischen Spekulationen nicht nur antiker, sondern auch mittelalterlicher und sogar neuzeitlicher Philosophen unter dem Ein­ fluss des spätantiken Neuplatonismus stehen. Besonders eindringlich lässt sich diese Tatsache am christlichen Neuplatonismus zeigen: So stehen etwa Dionysios Ps.-Areopagitês, Augustinus, Johannes Scot­ tus Eriugena, Meister Eckhart, Nikolaus von Kues und Marsilio Ficino, um nur einige zu nennen, ganz in der Tradition neuplatonischer Philosophie.43 Auch ist ihr Bild der Philosophie Platons durchgängig vom Neuplatonismus überformt. So nennt Nikolaus von Kues zwar häufig Platon als Quelle, meint aber damit eigentlich Proklos.44 Das metaphysische Kerninteresse vor allem von Dionysios, Eriugena und Cusanus besteht in einer Synthese von absoluter Einheit einerseits und seiender Einheit andererseits. Denn ihr Absolutes soll – worin sich ihre Absolutheitsspekulationen markant von Plotins und Echo des Nichtwissens. Berlin: Akademie Verlag, 2006, 163, 317–318 und 339. Echo des Nichtwissens, 338. 43 Beispielhaft sei auf folgende Abhandlungen verwiesen, die diesen Zusammenhang umfassend dokumentieren: Werner Beierwaltes. Platonismus im Christentum. Frank­ furt am Main: Klostermann, 22001, 7–24 und 44–84. Werner Beierwaltes. Eriugena: Grundzüge seines Denkens. Frankfurt am Main: Klostermann, 1994. Burkhard Moj­ sisch. Meister Eckhart: Analogie, Univozität und Einheit. Hamburg: Meiner, 1983. Max Rohstock. Der negative Selbstbezug des Absoluten: Untersuchungen zu Nicolaus Cusanus’ Konzept des Nicht-Anderen. Berlin/Boston: Walter de Gruyter, 2014. Paul O. Kristeller. Die Philosophie des Marsilio Ficino. Frankfurt am Main: Klostermann, 1972. Thomas Leinkauf. »Platon und der Platonismus bei Marsilio Ficino«. Deutsche Zeitschrift für Philosophie 40/7 (1992), 735–756; hier 736–737. 44 S. § 32. 41

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Proklos’ Henologie unterscheiden – reinste Aktivität, ungebrochenes Leben und sogar absolutes Denken sein. Das Absolute wird als das uns fürsorglich, caritativ tragende Fundament gedacht, durch das unser Dasein, unser Denken, unsere Reflexivität ursprünglich bedingt werden. Dabei müssen diese Denker einen Weg einschlagen, der gewissermaßen zwischen Skylla und Charybdis hindurchführt: Auf der einen Seite droht, insofern sie das Absolute als Akt oder Denken begreifen wollen, eine Abschwächung der Transzendenz, die aber gleichwohl, wie wir sehen werden, nicht in ihrem Interesse liegt. Vor allem stellt sich hier die Frage, ob das Absolute wirklich vollständig dem Denken entzogen ist, wenn wir es doch offenbar als Tat begreifen können. Auf der anderen Seite droht, insofern sie die Transzendenz zu radikal pointieren, der liebevoll-caritative Akt des Absoluten in der negativen Theologie verloren zu gehen. Vor allem in der Forschung geht die Angst um, mit einer radikal verfahrenden negativen Theolo­ gie die Prinzipfunktion des Absoluten oder Gottes ad absurdum zu führen.45 Wie also lösen diese Denker dieses Problem? Dionysios kann, insofern er – freilich mit, aber doch noch vor Augustinus, – als Urvater des christlichen Neuplatonismus zu gelten hat, als Ausgangspunkt zur Beantwortung dieser Frage gesehen werden: Er inauguierte eine Tätigkeit des transzendenten Absoluten, das insbe­ sondere in den Schriften Eriugenas und Cusanus’ zum Einheits- und Disjunktionspunkt erhoben wird.46 Anders formuliert: Die Funktion 45 Stellvertretend lässt sich hier Kurt Flasch anführen, der die negative Theologie als Problem der Cusanischen Metaphysik verstanden wissen wollte (Die Metaphysik des Einen bei Nikolaus von Kues: Problemgeschichtliche Stellung und systematische Bedeu­ tung. Leiden: Brill, 1973, bes. 328). Dass er aber mit seiner Einschätzung prinzipiell falsch liegt, habe ich an anderer Stelle deutlich zu machen versucht. In aller Kürze s. dazu Max Rohstock. »De non aliud«. In: Marco Brösch, Walter A. Euler, Alexandra Geissler und Viki Ranff (Hg). Handbuch Nikolaus von Kues: Leben und Werk. Darm­ stadt: WBG, 2014, 245–249; hier 248–249. Auch ist die generelle Abscheu vor der negativen Theologie oft durch christliche Vorstellungen der jeweiligen Forscher*innen bedingt. Sie fürchten eine Korruption vor allem des Trinitätsdogmas, das in einer negativen Theologie Schaden zu nehmen droht, besonders weil der distinctio realis kein Raum mehr gegeben zu sein scheint. Auch wenn sich hier durchaus Probleme ergeben können, muss doch gesagt werden, dass Eriugena und Cusanus vor allem daran gelegen war, ihre Absolutheitsvorstellungen vernünftig zu durchdenken, wobei sie stets davon überzeugt waren, die christlichen Grundlagen nicht nur beizubehalten, sondern sogar zu bestärken (Rohstock: Der negative Selbstbezug). 46 Zu Eriugenas und Cusanus’ Umgang mit dem Problem eines absoluten Prinzips vor dem Hintergrund seiner Transzendenz s. Rohstock: Der negative Selbstbezug. Wesentlich ist, dass Eriugena und Cusanus einen Begriff vom Absoluten entworfen

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des Proklischen »Einen in uns« wird auf die liebevoll-fürsorgliche Tätigkeit des Absoluten selber übertragen, die dergestalt als tragender Horizont begriffen wird, der in uns lebt. Das Absolute verliert dabei aber nicht seine Transzendenz, obgleich sie, wie wir noch sehen wer­ den, nicht mehr in der kompromisslosen Radikalität der neuplatoni­ schen Orthodoxie vertreten wird, insofern das Absolute nun selber als Tätigkeit vorgestellt wird.47 Nichtsdestoweniger bescheiden sich Wis­ sen und Denken bei Eriugena und Cusanus gegenüber dem Absolu­ ten. Das höchste Wissen ist für sie »wissendes Nichtwissen«. Gerade dieser Gedanke ist im Hinblick auf Fichte gleich in mehrfacher Weise interessant: Erstens fassen Eriugena und Cusanus das Absolute als caritativ tragende Tat, die aber gleichwohl dem Begreifen entzogen ist. Dadurch können sie – zweitens – die für­ sorgliche Präsenz des Absoluten, aber auch seine Entzogenheit für alles Begreifen postulieren. Drittens entwickeln sie diesen Gedanken auf dem Hintergrund einer Abstraktionsmethode, die aus der nega­ tiven Theologie Plotins und Proklos’ erwächst. Alle drei Aspekte spielen auch eine entscheidende funktionale Rolle innerhalb der Metaphysik Fichtes. Inwiefern also, so wollen wir im Folgenden fragen, haben Eriugena und Cusanus Fichtes Gedanken antizipiert und worin genau besteht der Unterschied in ihren Denkungsarten? Und wenn Fichtes Denken wenigstens in einigen zentralen Aspekten an diese christlichen Neuplatoniker gemahnt, wie vertragen sich, um die vorherige Frage noch einmal zu betonen, diese Parallelen mit den Übereinstimmungen, die zwischen der Fichteschen Spätphilosophie und der Metaphysik Plotins und Proklos’ vermutet werden, wo doch der pagane Neuplatonismus durch den christlichen nicht einfach adaptiert, sondern transformiert wurde? Auf diese Fragen liefert, so möchte ich zeigen, das Konzept des Absoluten in uns eine Antwort.

haben, der eine innergöttliche Aktivität anzeigt, die zwar im Absoluten selber bleibt, aber offenbar eine caritative, tragende Fundamentalfunktion für das Seiende erfüllt. 47 Vorweggenommen sei an dieser Stelle, dass Eriugena und Cusanus – anders als Plotin und Proklos – mit ihrer negativen Theologie, also mit ihrer Abstraktionsme­ thode, Bilder vom Absoluten entwerfen können, durch die es zu einer Repräsentation des Absoluten kommen kann: Wie wir sehen werden, versuchen sie, die opaken Sub-›Strukturen‹ des Absoluten zu illustrieren.

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§ 3) Die neuplatonische Tradition und Fichtes Spätphilosophie im Lichte der Forschung Die Forschung konnte völlig überzeugend nachweisen, dass Hegel48 und Schelling49 wesentliche Anregungen und für ihr Denken ent­ scheidende Theoreme aus dem spätantiken Neuplatonismus erfah­ ren haben. Insbesondere ist der Neuplatonismus um eine Selbstbe­ wusstseinstheorie bemüht, die eine erstaunliche sachliche Nähe zu den idealistischen Entwürfen absoluter Subjektivität aufweist. Und diese Selbstbewusstseinstheorie steht den späteren idealistischen Positionen an philosophischer Intensität in nichts nach. Die neupla­ tonische Theorie des Selbstbewusstseins avanciert so sachlich und historisch zum Vorreiter moderner idealistischer Selbstbewusstseins­ theorien. Ist aber auch bei Fichte eine solche historische Bezugnahme auf diese neuplatonischen Konzepte nachweisbar? Die Annahme jedenfalls, Fichtes Denken gemahne der Sache nach an die neupla­ tonische Philosophie, ist so alt wie die Auseinandersetzung mit Fichtes Denken selbst. Schon die Zeitgenossen Fichtes waren über die Übereinstimmungen zwischen der Fichteschen und der neuplato­ nischen Philosophie überrascht, so etwa Novalis, der in einem Brief an Friedrich Schlegel bekennt, von der Nähe der Fichteschen Philosophie zum Denken Plotins richtiggehend erschrocken gewesen zu sein.50 Jens Halfwassen. Hegel und der spätantike Neuplatonismus: Untersuchungen zur Metaphysik des Einen und des Nous in Hegels spekulativer und geschichtlicher Deutung. Bonn: Bouvier, 1999. Werner Beierwaltes. Platonismus und Idealismus. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 1972, 144–153 und 154–187 und Identität und Differenz. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 1980, 241–268. 49 Dirk Cürsgen. Letztbegründung und Geschichte: Schellings Philosophie der Mytholo­ gie und Offenbarung. Berlin: Epubli, 2017. S. ferner Michael Franz. Schellings Tübinger Platon-Studien. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1996. Thomas Leinkauf. Schel­ ling als Interpret der philosophischen Tradition: Zur Rezeption und Transformation von Platon, Plotin, Aristoteles und Kant. Münster: Lit, 1998. Werner Beierwaltes. Das wahre Selbst: Studien zu Plotins Begriff des Geistes und des Einen. Frankfurt am Main: Klostermann, 2001, 182–227. 50 Novalis. Schriften: Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Hrsg. von Paul Kluckhohn und Richard Samuel. Zweite, nach den Handschriften ergänzte, erweiterte und ver­ besserte Auflage in vier Bänden und einem Begleitband. Vol. 4, Tagebücher, Brief­ wechsel, Zeitgenössische Zeugnisse. Hrsg. v. Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl und Gerhard Schulz, mit einem Anhang. Bibliographische Noti­ zen und Bücherlisten bearbeitet von Dirk Schröder. Stuttgart: Kohlhammer, 1975, p. 269 (Nr. 127 vom 10. Dez. 1798). Zum Verhältnis von Novalis und Plotin s. HansJoachim Mähl. »Novalis und Plotin: Untersuchungen zu einer neuen Edition und 48

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Auch nach Fichtes Tod wurden die Parallelen immer wieder erwähnt51 und seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts betont.52 Aus der Reihe eher rezenter Darstellungen ist besonders die Studie Hans M. Baumgartners hervorzuheben. In einer 1980 publizierten Arbeit hat er herausgestellt, dass Fichtes Wissenschaftslehre 21804 markant an Plotins Metaphysik erinnere: In erster Linie glichen sich Fichtes Konzept des Absoluten und Plotins negative Henologie.53 Auch von Karen Gloy wurde Fichtes spekulative Philosophie – völlig zu Recht – mit der negativen Theologie in Verbindung gebracht.54 Baumgartner hat darüber hinaus betont, dass Fichte auch der Geistmetaphysik Plotins nahe stehe.55 Interpretation des ›Allgemeinen Brouillon‹«. Jahrbuch des freien deutschen Hochstifts 1963, 139–259. – Erwähnenswert ist ferner, dass Fichtes Sohn, Immanuel Hermann, 1818 an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Arbeit über den Neuplatonis­ mus promoviert wurde. Immanuel Hermann Fichte wurde die Annahme seiner Dis­ sertation aber zunächst verwehrt, da dieser nach Einschätzung eines Prüfers einfach eine Arbeit seines Vaters vorgelegt hätte. S. dazu Hermann Ehret. Immanuel Hermann Fichte: Ein Denker gegen seine Zeit. Stuttgart: Freies Geistesleben, 1986, 43–48. 51 Um 1816/7 bemerkte der berühmte Historiker Leopold von Ranke die sachliche Verwandtschaft von neuplatonischem und Fichteschem Denken (Leopold von Ranke. Aus Werk und Nachlass. Vol 1., Tagebücher. Hrsg. von Peter Fuchs. München/Wien: Oldenburg, 1964, 150 (Nr. 155)). Ferner haben Johann Heinrich Loewe und Heinrich von Stein früh auf die Parallelen zwischen Neuplatonismus und Fichtes Denken im Allgemeinen und von Plotins und Fichtes Philosophie im Speziellen hingewiesen (Johann Heinrich Loewe. Die Philosophie Fichtes nach dem Gesammtergebnisse ihrer Entwicklung und in ihrem Verhältnisse zu Kant und Spinoza. Stuttgart: Nitzschke, 1862 [ND Hildesheim/New York: Olms, 1976, 48, Anm. 1 und bes. 170–171]. Heinrich von Stein. Sieben Bücher zur Geschichte des Platonismus: Untersuchungen über das System des Plato und sein Verhältnis zur späteren Theologie und Philosophie. Vol. 3, Verhältniss des Platonismus zur Philosophie der christlichen Zeiten enthaltend. Göttingen: Van­ denhoeck & Ruprecht, 1875 [ND Frankfurt am Main: Minerva, 1965, 297]). 52 Max Wundt. Plotin: Studien zur Geschichte des Neuplatonismus. Leipzig: Kröner, 1919, 66 und 71–72. Josef Nadler. Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Land­ schaften. Vol. 3, Der deutsche Geist (1740–1813). Regensburg: Habbel, 21924, 205. Julius Drechsler. Fichtes Lehre vom Bild. Stuttgart: Kohlhammer, 1955, 13–15 und 121–123. 53 Hans M. Baumgartner. »Die Bestimmung des Absoluten: Ein Strukturvergleich der Reflexionsformen bei J. G. Fichte und Plotin«. Zeitschrift für Philosophische Forschung 34 (1980), 321–342. 54 Karen Gloy. »Der Streit um den Zugang zum Absoluten: Fichtes indirekte HegelKritik«. Zeitschrift für philosophische Forschung 36 (1982), 25–48; hier 43–48. Vgl. Lore Hühn. Fichte und Schelling – oder: Über die Grenze menschlichen Wissens. Stuttgart/Weimar: Metzler, 1994, 111–112. 55 Baumgartner: »Die Bestimmung des Absoluten«, bes. 328–329.

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Dirk Cürsgen ist es zu verdanken, dass die grundlegenden sach­ lichen Übereinstimmungen der Proklischen Metaphysik und Fichtes Philosophie erschlossen sind.56 So pointiert er die Übereinstimmun­ gen von Fichtes Konzept des Absoluten und der neuplatonischen Theorie des absoluten Einen, indem er die Unbegreiflichkeit des Absoluten herausstellt: Sowohl das Absolute Fichtes wie auch das absolute Eine des Neuplatonismus sind jenseits von Bestimmbarkeit, jenseits aller Begriffe, jenseits der Relationen und Gegensätze.57 In aller Klarheit parallelisiert Cürsgen dabei auch die Negationslogik des spätantiken Neuplatonikers Proklos und Fichtes Konzept der »Vernichtung« des Begriffs und seiner absoluten Abstraktion, die er vor allem in seiner Wissenschaftslehre 21804 vornimmt. In beiden Konzeptionen wird die Vielheit durch Negation bzw. Abstraktion auf das Prinzip absoluter Einheit zurückgeführt. Daraus lässt sich zugleich die Genese der Vielheit, der Disjunktionen und des absoluten Selbstbewusstseins nachvollziehen,58 wobei genau diese Thematik im Folgenden im Zentrum der Diskussion stehen wird. Auch die gemeinsamen Strukturen von neuplatonischer Geistkonzeption und Fichteschem Wissensbegriff stellt Cürsgen in aller Kürze klar heraus: Geist und Wissen umfassen »Sein, Denken, Bild« und damit »Wis­ sen und Selbstwissen von sich als Totalität aller Bestimmungen«.59 Cürsgens Arbeit ist zweifellos die derzeit wichtigste Studie zur syste­ matischen Verwandtschaft von Fichtes Denken und demjenigen des spätantiken Neuplatonismus.60

Dirk Cürsgen. »Die Unbegreiflichkeit des Absoluten: Zur neuplatonischen Heno­ logie und ihrer Wirksamkeit im Denken Fichtes«. In: Burkhard Mojsisch und Orrin F. Summerell (Ed). Platonismus im Idealismus: Die platonische Tradition in der klassischen deutschen Philosophie. München/Leipzig: Saur, 2003 91–118. 57 Cürsgen: »Die Unbegreiflichkeit des Absoluten«, 108. 58 Cürsgen: »Die Unbegreiflichkeit des Absoluten«, 106–107. Die Negation wird wie schon im Neuplatonismus zum Prinzip des Denkens (ibid. 113). 59 Cürsgen: »Die Unbegreiflichkeit des Absoluten«, 102. 60 Vgl. ferner Emanuel Cattin. »Le néoplatonisme de Fichte«. In: Jean-Christophe Goddard und Alexander Schnell (Hg). L’être et le phénomène: La doctrine de la science de 1804 de J. G. Fichte. Paris: Vrin, 2009, 439–451. Bernward Loheide. Fichte und Novalis: Transzendentalphilosophisches Denken im romantisierenden Diskurs. Amster­ dam/Atlanta: Rodolpi, 2000, bes. 123–128. Hühn: Fichte und Schelling, wobei Hühn trotz erhellender und vollkommen zutreffender Einsichten (bes. ibid. 107–116) die neuplatonische Tradition leider zu stark in die Nähe der Mystik rückt (etwa ibid. 116–117). 56

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Auch liegen bereits Untersuchungen vor, die die sachliche Nähe des christlichen Neuplatonismus zu Fichte dokumentieren. So ordnete Ernst von Bracken Fichtes Denken nicht nur in die neuplatonische Tradition im Allgemeinen ein, sondern deckte die sachlichen Über­ einstimmungen von Fichte und Meister Eckhart im Speziellen auf,61 wobei Andrés Quero-Sánchez diese Übereinstimmungen detaillierter herausarbeiten konnte.62 Für das Verhältnis des Denkens von Diony­ sios, Eriugena und Cusanus einerseits und demjenigen Fichtes ande­ rerseits liegen hingegen keine Studien vor. Die vorliegende Arbeit will also auch einen Beitrag dazu leisten, diese Lücke zu schließen. Trotz der genannten Forschungen sind, wie bereits gesagt, die systematischen Übereinstimmungen und Differenzen zwischen der Henologie des spätantiken Neuplatonismus und der Wissenslehre Fichtes nicht umfassend geklärt. Ganz konkret kann an dieser Stelle die drängende Frage wiederholt werden, inwiefern der Geist im Neu­ platonismus und das absolute, sich selbst bewusste Wissen bei Fichte vom Absoluten abhängig sind? Oder noch einmal anders gefragt: Inwiefern ist der Geist αὐθυπόστατον, also durch sich selber gewirkt, und inwiefern setzt sich das Wissen bei Fichte selbst, wenn Geist und Wissen doch vom Absoluten abhängig gemacht werden? Freilich soll hier keinesfalls verschwiegen werden, dass es hin­ sichtlich der Vergleichbarkeit von neuplatonischer Tradition und Fich­ tescher Philosophie in der Forschung auch Vorbehalte gibt: Nach Christoph Asmuth ist ein systematischer Vergleich zwischen der neu­ platonischen Tradition im Allgemeinen und Fichtes Denken überflüs­ sig.63 Solche Aussagen sind allerdings nicht ernst zu nehmen, denn sie suggerieren nicht bloß ein merkwürdiges Wissenschaftsverständ­ nis, in dem alle Vergleiche, die subjektiv nicht sinnvoll erscheinen, als unnötig abqualifiziert werden. Vor allem zeugen sie von einer 61 Ernst von Bracken. Meister Eckhart und Fichte. Würzburg: Triltsch, 1943, 426. Vgl. Katharina Ceming. Mystik und Ethik bei Meister Eckhart und Johann Gottlieb Fichte. Frankfurt am Main et. al.: Lang, 1999. 62 Andrés Quero-Sánchez. Sein als Freiheit: Die idealistische Metaphysik Meister Eck­ harts und Johann Gottlieb Fichtes. Freiburg im Breisgau/München: Karl Alber, 2004. 63 Asmuth: Interpretation – Transformation, 27–28 und bes. 27, Anm. 11. Auch Werner Beierwaltes war skeptisch gegenüber einem solchen Vergleich (Platonismus und Idealismus, 3), wobei zu bedenken ist, dass sich Beierwaltes zwar mit vielen Den­ kern intensiv befasst hat. Diese Intensität hat er aber nicht auf das Denken des späten Fichte übertragen, der in seinem Schaffen ohnehin merkwürdig blass bleibt. Zur Kritik an einem möglichen Vergleich s. schließlich auch Günter Zöller. Fichte lesen. Stutt­ gart/Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 2013, 65–66.

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nur oberflächlichen Beschäftigung mit den Absichten, Thesen und Argumenten der neuplatonischen Tradition, was unter anderem durch ihre ungerechtfertigte Einordnung als »Emanationslehre« deutlich wird.64 Bei genauer Betrachtung können sachliche Parallelen nämlich durchaus konstatiert werden, worauf die Forschung ja bereits völlig zu Recht aufmerksam gemacht hat. Und solche Parallelen können für das Verständnis sowohl der neuplatonischen Tradition als auch der Philosophie Fichtes fruchtbar gemacht werden. Gegenüber einer historisch nachweisbaren Einflussnahme des Neuplatonismus auf Fichte erlegt sich die Forschung generell – und zweifellos zu Recht – Zurückhaltung auf. Denn ein Einfluss lässt sich nicht mit letzter Gewissheit konstatieren – wenngleich er auch nicht pauschal ausschließen ist. Von Teilen der Forschung wurde freilich eine mögliche historische Bezugnahme Fichtes auf die neuplatonische Tradition als unsinnig zurückgewiesen, womöglich deswegen, weil Fichte außer Kant kaum Quellen nennt. Die daraus abgeleitete Kon­ sequenz ist aber durchaus fragwürdig. Denn vor diesem Hintergrund wird Fichtes Denken oft isoliert und in Abgrenzung zur Philosophie­ geschichte betrachtet.65 Man sollte sich grundsätzlich davor hüten, Fichtes eigenen Angaben zur Originalität seines Denkens, an der er sicherlich äußerst hartnäckig bis an sein Lebensende festhielt, Glauben zu schenken. Dass Fichte in seinen Systementwürfen kaum Quellen nennt, hat letztlich einen einfachen Grund: Fichte denkt seine Philosophie als Aufforderung zum Selbstdenken. Die Geschichte der Philosophie bleibe demgegenüber dem »Wesen« der Philosophie äußerlich, könne aber das Verständnis für eine Theorie vertiefen.66 Fichte will zeigen, dass Philosophie nur dann wirklich ernst genom­ men werden könne, wenn sie auf sich selbst beruhe und nicht von anderen Konzepten abhänge. Nur dann sei sie als autarkes und mithin freiheitliches Denken verwirklicht. Fichte erwähnt also ältere philosophische Konzepte nicht etwa aus rein egoistischen Motiven, sondern aus systematischen Gründen nicht.67 Aus diesem Grund Asmuth: Interpretation – Transformation, 28. Kritik an dieser Isolation wurde schon völlig zu Recht von Jens Lemanski vorge­ bracht: Summa und System, 170–171. 66 Etwa GA I/9, p. 122, lin. 32–33: »Nur das metaphysische, keineswegs aber das historische, macht seelig; das letztere macht nur verständig.« 67 Darüber hinaus ist das konsequente Schweigen über Inspirationsquellen keines­ wegs ein Charakterzug Fichtes, sondern eher Grundzug des Deutschen Idealismus im Allgemeinen. Diese Zurückhaltung ist vor allem als Immunisierungsstrategie zu 64

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I) Einleitung

lässt sich wohl eher weniger schlussfolgern, ältere philosophische Konzepte hätten »keine bedeutende Rolle« für Fichtes »produktives Philosophieren« gespielt.68 Sein Denken hat durchaus Anregungen ›von außen‹, also durch die Philosophiegeschichte erhalten. Jedenfalls war er sich darüber bewusst, dass er Platon, dem Johannesevangelium und Spinoza, deren Philosophie er gar heilig sprach,69 fernerhin Jacobi70 und natürlich Kant71 viel zu verdanken hatte. Vor diesem Hintergrund erscheint mir eine nochmalige Beschäf­ tigung mit dem Verhältnis der neuplatonischen Tradition und Fichtes Denken durchaus geboten, insbesondere um philosophiehistorische Engführungen zu vermeiden und die vorkantische Philosophie nicht in Bausch und Bogen als das ›ganz Andere‹ gegenüber dem nachkan­ tischen Denken abzuurteilen und damit als irrelevant für die Beschäf­ tigung mit dem Deutschen Idealismus abzuqualifizieren. Jedenfalls lässt sich, wie im Folgenden dokumentiert wird, zeigen, dass sich neuplatonische Denker und Fichte dieselben Fragen, vornehmlich

begreifen. Denn die Idealisten wollten sich gegen den Vorwurf schützen, bloß alte Gedanken zu reproduzieren. Fichte fügt sich hier ganz in das gezeichnete Bild ein, war er doch zeitlebens von seiner Genialität und Originalität überzeugt. 68 Asmuth: Interpretation – Transformation, 25. 69 GA II/9, p. 157–158. 70 Fichte-Studien 14 (1998). 71 Zum Überblick s. Wayne M. Martin. »From Kant to Fichte«. In: David James und Günter Zöller (Hg). The Cambridge Companion to Fichte. Cambridge University Press, 2016, 7–37. S. ferner die Beiträge in den Fichte-Studien 33 (2009), die unter dem Titel »Kant und Fichte – Fichte und Kant« von Christoph Asmuth herausgegeben wurden. S. auch Marek J. Siemek. Die Idee des Transzendentalismus bei Fichte und Kant. Aus dem Polnischen übers. von Marek J. Siemek unter Mitwirkung von Jan Garewicz. Hamburg: Felix Meiner, 1984. Chernor M. Jalloh. Fichte’s Kant-Interpretation and the Doctrine of Science. Washington, D.C.: University Press of America, 1988. – Es sei aber davor gewarnt, Fichtes Denken ausschließlich im Hinblick auf Kants Philosophie zu deuten. Eindringlich lässt sich dies anhand des Transzendenzbegriffes zeigen, der von Kant anders als in der neuplatonischen Tradition verstanden wird. In Kants Fahrwasser hat Fichte den Ausdruck »Transzendenz« dann tatsächlich auch als Differenz, als ein ›Außen‹ oder als Extramentalität verwendet (vgl. Markus Enders. »Transzendenz/Transzendieren«. Historisches Wörterbuch der Philosophie 10 (1998), Sp. 1447–1455; hier Sp. 1447). Dass sich aber das neuplatonische Transzen­ denzkonzept in Fichtes Metaphysik gleichwohl findet und sogar eine entscheidende Zentralfunktion erfüllt, wird sich im Folgenden zeigen lassen. Erweitert man also bei der Analyse des Fichteschen Denkens den Blick auf die neuplatonische Tradition, kön­ nen Engführungen vermieden werden, die entstehen, wenn bloß Kants Philosophie betrachtet wird.

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I) Einleitung

nach der Herleitung von Wissen und Selbstbewusstsein, stellten und in bemerkenswert ähnlicher Weise beantworteten.

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II) Die neuplatonische »Henophanie«

1) Plotin und der »liebende Geist« § 4) Vorbemerkungen – oder: Plotins Analyse der Vernunft Plotins Philosophie ist wie schon diejenige Platons am Delphischen Leitspruch, »Erkenne Dich selbst«, orientiert.72 Es lässt sich fernerhin präzisieren, dass es Plotin im Zuge der Suche nach Selbsterkenntnis auch immer um das Fundament höchsten Wissens und vollendeten Selbstbewusstseins zu tun ist, das für ihn in der Aktualisierung des absoluten Geistes (νοῦς) besteht. Damit betreibt Plotin erkenntnis­ theoretische Grundlagenforschung, in der er nichts weniger als dem absoluten Prinzip von Wissen und Denken nachspürt. Mit anderen Worten: Plotin betreibt Metaphysik. Wie schon Platon schlägt Plotin mit seiner Henologie einen Weg ein, der einerseits weder einfach in der bloßen Ideenschau73 endet, insofern diese das Missverständnis Zum für Plotin zentralen Theorem der Selbsterkenntnis, seiner Geschichte und Ausarbeitung s. bes. Werner Beierwaltes. Selbsterkenntnis und Erfahrung der Einheit: Plotins Enneade V 3 – Text, Übersetzung, Interpretation, Erläuterungen. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 1991, 73–172. Zur existenziellen Grundhaltung bes. der Platonischen Philosophie s. Pierre Hadot. Wege zur Weisheit – oder was lehrt uns die antike Philosophie? Frankfurt am Main: Eichborn, 1999. 73 Die Tat des absoluten Geistes (νοῦς) ist das reine Denken seiner selbst (νόησις), das im simultanen, zeitfrei denkenden Umgreifen aller intelligiblen Gehalte, also der Ideen, besteht. In der Forschung wird dieser Akt als das Sich-selber-Denken der kon­ kreten Totalität und damit als absolute Selbstbewusstseinstheorie gewertet. S. dazu überblickend Halfwassen: Plotin und der Neuplatonismus, 59–97. Wir werden im Fol­ genden auf diese Thematik gleich mehrfach ausführlicher zurückkommen. Diese Tat des Geistes hängt nämlich, worauf es vor allem ankommen wird, an der henologischen Perspektive: Eine bloße Selbstbeschau des Geistes lehrt Plotin nicht. Und deshalb ist auch der oft auf das Denken des Geistes applizierte Begriff der intellektuellen Anschauung henologisch zu modifizieren. S. dazu bes. unten, § 9. Zu Fichtes an Plotin gemahnende Deutung der intellektuellen Anschauung vgl. § 40 und § 46–47. – Zur Noologie Plotins ist insgesamt eine schier unüberblickbare Anzahl an Publikationen veröffentlicht worden. Genannt seien hier zentrale Werke, in denen die henologische 72

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II) Die neuplatonische »Henophanie«

birgt, ganz ohne henologische Perspektive auszukommen. Dieser Weg kulminiert aber andererseits auch nicht einfach in dem, was man oft, aber wenig präzise, als Mystik bezeichnet. Sicherlich kann Plotins Denken als Mystagogie, als Anleitung zur unio mystica, also zur ekstatischen Einung mit dem Absoluten selber, verstanden werden.74 Gleichwohl darf es ganz grundsätzlich nicht als weltabweisender Weg hin zur mystischen Einung mit dem Einen fehlgedeutet werden. Und obwohl die unio mystica sicherlich Ziel seiner Philosophie ist, geht es Plotin auch stets darum, die Bedingung der Möglichkeit höchsten Wissens und vollendeten Selbstbewusstseins aufzudecken. Dieser Anspruch kann mit einem Begriff beschrieben werden, dessen Appli­ kation auf den spätantiken Neuplatonismus zunächst anachronistisch anmutet, aber gleichwohl berechtigt ist: Plotins henologische Meta­ physik ist in ihren Grundfesten, also in ihrer Anlage, ihrem Funda­ ment und ihrer Methodik, eine transzendentalkritische Philosophie, insofern in ihr nach den apriorischen Bedingungen von Erkenntnis

Perspektive betont wird: Beierwaltes: Selbsterkenntnis und Erfahrung der Einheit, bes. 129–141 und Das wahre Selbst, 16–83. Halfwassen: Der Aufstieg zum Einen, 98–149. 74 »Mystagogie« wird von Hans Urs von Balthasar definiert als »die theoretischpraktische Hinleitung zur Erfahrung von Mystik unter Leitung solcher, die der Erfah­ rung schon teilhaft geworden sind« (»Zur Ortsbestimmung christlicher Mystik«. In: Werner Beierwaltes, Hans Urs von Balthasar und Alois M. Haas. Grundfragen der Mystik. Einsiedeln: Johannes Verlag, 1974, 37–71; hier 50). Aber was bedeuten Mystik und die oft kolportierte mystische Einung eigentlich genau? Einen guten Einstieg für Plotin bietet Pierre Hadot. »L’union de l’âme avec l’intellect divin dans l’expérience mystique plotinienne«. In: Gilbert Boss und Gerhard Seel (Hg). Proclus et son influ­ ence. Zürich: Éditions du Grand Midi, 1987, 3–27. Vgl. Bernard McGinn. Die Mystik im Abendland. Vol. 1, Freiburg im Breisgau/Basel/Wien: Herder, 1994, 77–93. Zur Mystik und ihrer Herleitung bei Plotin s. unten, § 12–13. – In diesem Zusammenhang kann freilich auch ganz grundsätzlich festgehalten werden, dass die Erforschung der Mystik letztlich noch an ihrem Beginn steht. Denn bisher kam es oft bloß zu einer rein deskriptiven, empirisch-kulturwissenschaftlichen Beschreibung unterschiedlicher Phänomene, die zu einer bloßen Aufzählung ohnehin offensichtlicher Fakten führte, wobei die Phänomene nie eingehend auf ihre Ermöglichungen hin befragt wurden. Diese Ermöglichungen können aber philosophisch offengelegt werden. Will nämlich Mystik verstanden werden, müssen Mystiker*innen ein tragfähiges Fundament errichten, was aber ohne philosophische Mittel kaum möglich erscheint. Andernfalls könnte man bloß von einem wie auch immer gearteten subjektiven Empfinden spre­ chen, dass aber als solches schwer zu vermitteln ist und daher seinen oft kolportierten Anspruch, Menschen aus der Mühsal des irdischen Lebens zu befreien, wohl nur eher zufällig erfüllen kann.

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gefragt und diese so grundgelegt wird.75 Plotin entwirft dabei das Konzept einer genuin philosophischen Evidenzerfahrung, in der sich höchstes Wissen und vollkommenes Selbstbewusstsein generieren und durch die wir die Delphisch-Sokratische Forderung, »Erkenne dich selbst«, ausschließlich realisieren können. Spezifisch ›Sokratisch‹ ist der Delphische Leitspruch, weil sich wahre Selbsterkenntnis, wie uns Sokrates im Großen Alkibiades aufklärt, nur im Hinblick auf Gott – oder genauer: das Absolute – verwirklichen lässt.76 Genau vor diesem Hintergrund muss Plotins Verdikt, dass derjenige, der 75 Gänzlich neu ist diese These nicht, haben doch Werner Beierwaltes, Theo Kobusch und bes. Jens Halfwassen in ihren Abhandlungen Plotins Bemühungen um eine Analyse der Bedingungen (absoluten) Denkens und Erkennens hervorgehoben. S. Beierwaltes: Selbsterkenntnis und Erfahrung der Einheit. Kobusch: »Metaphysik als Einswerdung«, bes. 99–101. Kobusch macht darin deutlich, dass Plotin eine »Metaphysik des Subjekts« (ibid. 101) konstruiert habe. Jens Halfwassen wiederum hat zahlreiche Publikationen verfasst, in denen er auf die transzendentalkritische Grundstimmung der Plotinischen Philosophie und ihren Fokus auf die Genese der Subjektivität hingewiesen hat. U.a. sind an dieser Stelle zu nennen: »Philosophie und Transzendenz: Plotin und der Neuplatonismus«. In: Franz Gniffke und Norbert Herold (Hg). Klassische Fragen der Philosophiegeschichte I: Antike bis Renaissance. Münster et al.: Lit, 2002, 115–136, Plotin und der Neuplatonismus, »Plotin als Denker des Nichtpropositionalen«. In: Joachim Bromand und Guido Kreis (Hg). Was sich nicht sagen lässt: Das Nicht-Begriffliche in Wissenschaft, Kunst und Religion. Berlin: Akademie Verlag, 2010, 691–707 (jetzt auch in Auf den Spuren des Einen, 247–263 unter dem Titel »Aufwachen zu sich selbst: Plotins Begriff der Einsicht«), »Plotins Zweifelsbetrachtung«, 207–219, »Hegel und Plotin über Selbsterkenntnis und Den­ ken seiner selbst«. In: Andreas Arndt, Paul Cruysberghs und Andrzej Przylebski (Hg.) Geist? Berlin: Akademie Verlag, 2011, Vol. 2, 165–173 und schließlich Auf den Spuren des Einen, bes. 247–263. Zur These antiker Transzendenalphilosophie vgl. auch Theo Kobusch. Selbstwerdung und Personalität: Spätantike Philosophie und ihr Einfluß auf die Moderne. Tübingen: Mohr Siebeck, 2018, 61–75. 76 Platon: Alk. 133C. So geschieht alle Erkenntnis im Lichte des Guten (Resp. VI 507B-509C). Zum Sonnengleichnis und dessen Aufnahme durch Plotin s. Halfwassen: Auf den Spuren des Einen, 91–164. – Der Begriff des Absoluten ist dem Gottesbegriff vorzuziehen, wobei sie im Hinblick auf Plotin – aber auch Proklos, Eriugena, Cusanus und schließlich auch Fichte – synonym verwendet werden können. Der Begriff des Absoluten hat den Vorteil, dass er keine personale Konnotation aufweist und überdies den geltungstheoretischen Anspruch der Plotinischen Metaphysik deutlich pointiert. – Dass der Große Alkibiades von Platon stammt, ist freilich bezweifelt worden (s. dazu überblickend Michael Erler. Platon. In: Grundriss der Geschichte der Philosophie. Begründet von Friedrich Ueberweg, neu hrsg. von Helmut Holzhey. Die Philosophie der Antike. Vol. 2.2, Hrsg. von Hellmut Flashar. Basel: Schwabe, 2007, 290–293). Allerdings ist die zweifelhafte Herkunft im Hinblick auf Plotins Denken unerheblich. Denn für ihn war Platon der Autor des genannten Werkes. Proklos schließlich hat diesem Werk sogar einen eigenen Kommentar gewidmet. S. Kap. II.2.

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II) Die neuplatonische »Henophanie«

sich selbst kenne, auch um sein »Woher« wisse, verstanden wer­ den.77 Und deswegen lässt sich die Realisierung höchsten Wissens und vollkommenen Selbstbewusstseins als das eigentliche Ziel der Philosophie Plotins beschreiben. Erst wenn absolutes Wissen und Selbstbewusstsein realisiert wurden, kann nämlich das andere, letzte und höchste Ziel der Plotinischen Metaphysik anvisiert werden: die Einung mit dem absoluten Einen. Diese Einung, die vor allem mit dem Begriff der ἔκστασις78 bezeichnet wird und die Plotin laut Porphyrios wenigstens vier Mal erleben durfte,79 ist die »Vollendung« – oder noch einmal anders gewendet: der ›Fluchtpunkt‹ – der Plotinischen Philosophie, insofern sie zugleich auch immer einen soteriologischen Anspruch hat. Die Einung mit dem Einen selbst, die nur punktuell im Augenblick möglich scheint, kommt freilich einem Selbstüberstieg des Denkens gleich. Keineswegs soll damit aber ausgesagt sein, Plotins Mystik sei völlig undurchdringlich. Sie ist nämlich keine anti-philosophische Schwärmerei.80 Auch geschieht die Einung weder zufällig, noch ist sie bloßer Gnadenakt. Vielmehr wird sie durch unsere (und aktiv zu vollziehende) »Reinigung« und »Erleuchtung« ermöglicht. Denn offenbar können wir, sobald wir selber höchstes Wissen und voll­ endetes Selbstbewusstsein erlangt haben,81 den Wunsch äußern, uns mit dem Absoluten zu einen.82 Die Mystik wird also – wie wir im Folgenden noch sehen können – durch Philosophie verstehbar gemacht, ja geradezu ermöglicht. Nun lässt sich demonstrieren, dass die Einung zwar letztes Ziel Plotins ist. Für die Genese von höchstem Wissen und Selbstbe­ wusstsein aber scheint sie keine besondere Relevanz zu besitzen – oder anders formuliert: Die mystische Einung spielt innerhalb der

77 Enn. VI 9, 7, 33–34. Zu diesem Theorem s. die Ausführungen Werner Beierwaltes’ (bes. Selbsterkenntnis und Erfahrung der Einheit) und Jens Halfwassens (bes. Der Aufstieg zum Einen). 78 Etwa Enn. VI 9, 11, 23. 79 Porphyrios: Vita Plotini 23, 15–17. 80 Werner Beierwaltes. Denken des Einen: Studien zur neuplatonischen Philosophie und ihrer Wirkungsgeschichte. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 1985, 123– 147. Procliana: Spätantikes Denken und seine Spuren. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 2007, 25–60 und 61–64. Catena Aurea, 30–32. Vgl. auch Kap. II.2. 81 Erst wenn wir das Ganze des Seins und Denkens durchleuchtet haben, erfahren wir, dass das Eine allem vorauszusetzen ist. S. dazu § 8–9. 82 Etwa Enn. VI 9, 4.

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Philosophie Plotins keine tragende Rolle.83 Sicherlich ist aber die gegenteilige Meinung in der Forschung weit verbreitet und wird von prominenten Forscher*innen gestützt. So hat etwa Pierre Hadot die mystische Einung mit dem Absoluten kurzerhand zum »Zentrum« des Plotinischen Denkens erhoben.84 Diese Annahme ist sicherlich nicht nur deswegen berechtigt, weil die Einung mit dem Einen, wie bereits zugestanden wurde, als höchstes Ziel des Plotinischen Denkens verstanden werden darf. Auch ist Plotins Philosophie in besonderer Weise auf das absolute Eine hin ausgerichtet, weshalb die Metaphysik Plotins auch in erster Linie als Henologie begriffen werden muss. Während aber die Perspektive auf das transzendente Eine – oder genauer: die henologische Perspektive – tatsächlich das tragende Fundament der Plotinischen Metaphysik bildet, ist die Einung mit dem Absoluten gerade als Vollendungsform der höchste Wunsch henologisch inspirierten Denkens. Erst wenn wir uns darüber im Klaren sind und mit Plotin erkannt haben, dass allen Bestimmungen das absolute Einheitsprinzip vorausgesetzt werden muss, scheint die Einung überhaupt erst sinnvoll anvisiert und also als Wunsch geäußert werden zu können. Plotins philosophisches Kerninteresse besteht vor diesem Hin­ tergrund in der Noologie einerseits und der Henologie andererseits, und zwar mit dem erklärten Ziel, das sichere Fundament höchsten oder absoluten Wissens und vollendeten Selbstbewusstseins freizule­ gen. Beide Formen der Metaphysik behandelt er daher nicht getrennt voneinander, sondern es geht ihm um den Aufweis ihres inneren Zusammenhangs, den er in einer erotischen Anagogik (ἀναγωγή85) S. unten, § 13. Plotin ou la simplicité du regard. 2. Aufl. Paris: Études Augustiniennes, 1973, 91. 85 Etwa Enn. V 5, 4, 1–16. Zum Aufstieg und seiner Bedeutung s. Halfwassen: Der Aufstieg zum Einen, bes. 53–97. – Zum Topos einer erotischen Anagogik s. Max Roh­ stock. »Plotin: Erotische Evidenz«. In: Ermylos Plevrakis und Max Rohstock (Hg). Grundlegung des Absoluten? Paradigmen aus der Geschichte der Metaphysik. Heidel­ berg: Universitätsverlag Winter, 2019, 93–115. Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass ich mich in den folgenden Paragraphen zu Plotin, bes. § 5–6 und § 9, auf die Argumentation berufe, die ich in dem eben genannten Artikel bereits publiziert habe. Die Ergebnisse sollen hier aber einerseits in einen größeren Kontext eingebun­ den werden. Andererseits sollen sie einer kritischen Prüfung unterzogen werden. Wenngleich die Argumentation die Grundlage für das Folgende bildet, müssen die daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen nämlich präziser gefasst werden, bes. in fol­ gender Hinsicht: Bei jeder Thematisierung des Absoluten droht dieses verobjektiviert zu werden. Dieser Gefahr muss deutlicher begegnet werden. 83

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fundiert: Diese erotische Anagogik ist im Grunde nichts anderes als der Aufstieg zum Absoluten, den man mit Fichtes Worten als die »Rückführung aller Mannigfaltigkeit auf absolute Einheit« beschrei­ ben kann.86 In dieser bahnt Plotin uns einen Weg hin zum Verständnis des Absoluten. Von dieser absoluten, reinen, vollkommen vielheits­ losen Einheit sollen alle Bestimmungen abhängen. Genau genommen kulminiert die Anagogik, wie wir noch sehen werden, in einer höchs­ ten Einsicht, die zugleich sichere und unhinterfragbare Evidenz ist. Wir können sie zunächst folgendermaßen skizzieren: In der Evidenzerfahrung soll uns das Absolute als Absolutes einleuchten. In ihr gene­ riert sich vollendetes Selbstbewusstsein, auf dessen Boden der Philo­ soph mit unzweifelhafter Gewissheit seine Theorien über die Seele (ψυχή), den absoluten Geist (νοῦς), das Eine selbst (τὸ ἕν) und letztlich auch die Einung mit diesem Einen (unio mystica) präsentieren kann. Diese Evidenzerfahrung lässt Plotin in einer transzendentalkritischen Analyse des Denkens wurzeln, in der er eigens den Weg, der zum Absoluten führen soll, thematisiert.87 Daher betreibt Plotin dezidiert Methodenreflexion, vor deren Hintergrund der ›genetische‹ Zusam­ menhang der genannten Hypostasen bzw. Hierarchien, aller Ideen und von Sein, Leben und Denken durchleuchtet und verständlich gemacht wird.

§ 5) Das Grundparadoxon des Neuplatonismus und Plotins Lösungsansatz Die intime und unauflösbare Verschränkung von Noologie und Heno­ logie, von vollendetem Selbstbewusstsein und der Einheitsperspek­ tive in der erotischen Anagogik und durch diese Anagogik steht im Kontext eines grundlegenden Problems. Plotins Platonismus ist, so lautet nämlich die gängige und vollkommen zutreffende Meinung innerhalb der Forschung, von einem fundamentalen Paradoxon S. dazu insgesamt unten, Kap. IV. Plotins Metaphysik ist also mitnichten das, was Josef Koch als eine »Metaphysik von oben« bezeichnet hat: In dieser werde »von der absoluten Einheit als dem Erst­ gegebenen« einfach ausgegangen und alles weitere abgleitet (Die Ars coniecturalis des Nikolaus von Kues. Köln/Opladen: Westdeutscher Verlag, 1956, 23). Vielmehr ist sie eine Metaphysik, die vom begreifenden Denken ausgeht, dieses Begreifen untersucht und auf seine innere Konsistenz hin abtastet, wobei sich letztlich seine Abhängigkeit von absoluter Einheit aufweisen lässt. S. dazu die folgende Argumentation, bes. § 6–9. 86

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geprägt, das fraglos als Charakteristikum seiner Philosophie angese­ hen werden kann: Es bildet sich vor dem Hintergrund der vollkom­ menen Transzendenz88 des Absoluten und darf – darüber hinaus – als Grundparadoxon des spätantiken Neuplatonismus überhaupt bezeich­ net werden. Beobachten konnten wir es bereits in der Einleitung (§ 2), wobei wir es nun im Detail betrachten und einer Lösung zufüh­ ren wollen: Das absolute Eine, das im Neuplatonismus für Gewöhnlich als die absolute Bedingung aller Bestimmungen, sogar des Seins selbst, vorgestellt wird, ist aufgrund seiner vollkommenen Transzendenz im Grunde gar nicht mehr als Prinzip aller Bestimmungen anzuspre­ chen.89 Plotin hat aber zeigen wollen, dass alle Bestimmungen und alle seienden Entitäten notwendig der Einheit bedürfen.90 Diese Ein­ heit dürfe aber nicht als konkrete Bestimmung gefasst werden, son­ dern müsse aller Bestimmbarkeit vorangehen, diese also transzendie­ ren.91 Wenn diese Einheit aber alle Bestimmungen transzendiert, wie kann es dann, so müssen wir kritisch fragen, noch als Prinzip gedacht werden? Muss ein Prinzip nicht, wenn es als solches eingesehen werden soll, einen Bezug zu seinen Prinzipiaten aufweisen? Würde das Eine aber einen Bezug aufweisen, würde es durch die Kategorie der Das Absolute übersteigt nach Plotin alle Ideen, Wesenheiten, Bestimmungen und Formen: Es ist formtranszendent (etwa Enn. VI 7, 17, 39–40 und 34, 2–4). Es transzendiert die intellektuelle Anschauung, also den absoluten Geist bzw. das absolute Denken (etwa Enn. I 7, 1, 19–20. Enn. III 9, 9, 1–2 und 12–13. Enn. V 6, 2, 2 und 6, 29–30. Enn. VI 9, 6, 46). Es ist damit auch über Selbstbezug und Selbstbewusstsein und sogar über dem henologischen Streben (Enn. V 6, 5, 1–12). Transzendenz, verstanden als Abstraktion von jeder objektivierenden Form, ist der entscheidende Topos, der Plotin mit Fichte verbindet: S. Kap. IV.2. Proklos hat sie konzise wie folgt formuliert; In Parm. VII p. 1177, lin. 22–24: »τὸ ἓν οὐκ ἔστιν ἑαυτοῦ ἕτερον, τὸ ἓν οὐκ ἔστι τῶν ἄλλων ἕτερον, τὸ ἓν οὐκ ἔστιν ἑαυτῷ ταὐτόν, τὸ ἓν οὐκ ἔστι τοῖς ἄλλοις ταὐτόν.« 89 S. etwa Enn. VI 8, 8, 1–15. Zum Grundparadoxon des Plotinischen Denkens s. Halfwassen: Der Aufstieg zum Einen, 98–149. – Noch einmal sei an dieser Stelle davor gewarnt, Plotins Henologie mit dem Konzept der Emanation in Verbindung zu bringen (s. dazu schon oben, § 1), vor allem wenn man bedenkt, dass der Geist sich durch seine henologische Wendung selbst konstituiert. 90 Plotin selber hat die Schwierigkeiten herausgestellt, mit denen man sich konfron­ tiert sieht, wenn man das Prinzip aufdecken will: Es soll zwar alle Bestimmungen tragen, kann aber selber nicht mehr bestimmt werden. Ist es dann nicht nichts? Ist die Beschäftigung mit den Prinzipien von Sein und Denken also nichtig? Diese Gedanken evozieren offenbar Angst und den Wunsch, sich mit fassbareren Themen zu beschäftigen (Enn. VI 9, 3, 1–10). 91 Enn. VI 9, 1–3. 88

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Relation bestimmt, und könnte sodann nicht mehr das Prinzip aller Bestimmungen sein. Die Lösung dieses Problems besteht in der henologischen Wendung des Plotinischen Denkens, also in der bereits genannten Anagogik, die nichts anderes ist als die Rückführung aller Vielheit auf absolute Einheit.92 Unschwer lassen sich daher durch Plotins Lösungsansatz auch die entscheidenden systematischen Parallelen zwischen seinem Denken einerseits und der Spätphilosophie Johann Gottlieb Fichtes andererseits markieren. Die genannte Rückführung fußt auf der Hauptfrage des Neupla­ tonismus insgesamt: Wie ist die Faktizität der vorgefundenen Vielheit und der Differenz zu erklären?93 Vielheit und Differenz sind für den Neuplatonismus generell erklärungsbedürftige Phänomene. Die Viel­ heit kann sich nicht aus sich selbst heraus erklären, da sie als Vielheit stets die vorgängige Einheit benötigt, um als in sich geschlossene Viel­ heit, also als ein bestimmtes Ganzes, überhaupt sein und erkennbar sein zu können.94 Selbst das reine Denken des absoluten Geistes, das für Plotin eine Einheit bildet, in der die Grenzen von Kategorien inein­ ander übergehen, insofern sie sich wechselseitig durchdringen, bleibt mit Vielheit belastet. Plotins Rückführung aller Vielheit auf absolute Einheit ist also die Antwort auf die Frage nach den Bedingungen und der Genese von Denken und Selbstbewusstsein. Die Rückführung auf absolute Einheit vollzieht Plotin anhand seiner Analyse des Denkens; und zwar sowohl der dianoetisch95

92 In letzter Konsequenz endet die Rückführung der Vielheit bei der absoluten Einheit. S. etwa Enn. III 8, 10, 20–22. 93 Dies ist eine Spielart der Frage, warum überhaupt etwas ist. Friedrich Hermanni hat diese Frage völlig zu Recht zur »Grundfrage der Metaphysik« erhoben (»Warum ist überhaupt etwas? Überlegungen zum kosmologischen und ontologischen Argument«. In: Thomas Buchheim, Friedrich Hermanni, Axel Hutter und Christoph Schwöbel (Hg). Gottesbeweise als Herausforderung für die moderne Vernunft. Tübingen: Mohr Siebeck, 2013, 289–314; hier 289), wobei Plotin diese Grundfrage – nebenbei bemerkt – nicht ontologisch oder kosmologisch, sondern mit dem Verweis auf das Eine beantwortet. S. dazu Halfwassen: Auf den Spuren des Einen, 37–40. 94 Etwa Enn. VI 9, 6, wobei in dieser Passage auch zugleich die Transzendenz des Einen dargelegt ist. 95 Die διάνοια ist – verkürzt und pointiert gesagt – nichts anderes als das sukzessive Denken, das von Objekt zu Objekt eilt, den inneren Zusammenhang aller intelligiblen Objekte aber nicht in simultaner Einheit bzw. auf einen Schlag schauen kann, sondern nachkonstruieren muss.

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tätigen Seele als auch des noetisch denkenden Geistes. Mithin verläuft die Rückführung – so scheint es zunächst – in zwei Schritten.96 (i) Plotin analysiert das dianoetische Denken der Seele mit dem erklärten Ziel, dieses durch Umwendung und κάθαρσις, also »Reini­ gung«, in das reine Denken des absoluten Geistes zu integrieren. Eigentlich muss man hierbei von einer Reintegration sprechen, da Plotin meint, dass die Seele durch den Aufstieg zu ihrem eigenen Selbst zurückfinde. Denn das eigentliche Selbst der Seele sei nicht das vereinzelnde, sukzessive dianoetische Denken, sondern die reine, intuitive Ideenschau des Geistes. Also soll die Seele in ihr eigenes Selbst zurückgeführt werden, weshalb unschwer zu erkennen ist, dass es Plotin primär um eine Selbstvergewisserung zu tun ist, die freilich auf der Analyse des eigenen Denkens aufbaut. (ii) In einem zweiten Schritt kommt es zur Rückführung aller intelligiblen Bestimmungen, die im reinen Denken in der Form einer »konkreten Totalität«97 vorliegen, auf das Absolute selbst. Auch hier geht es um eine Selbstvergewisserung, insofern dem absoluten Geist in seiner Rückwendung auf das Absolute seine Genese aus dem Absoluten – freilich in unzeitlicher Weise – bewusst ›wird‹, wodurch er zum vollkommenen Selbstbewusstsein ›gelangt‹.98 Plotin beschreibt in diesen zwei Schritten eine Selbstvergewisse­ rung. Der von ihm skizzierte Weg soll im vollendeten Selbstbewusst­ sein des Geistes, der Schau des Einen und der mystischen Ekstase münden.99 Kann Plotin aber den Aufstieg der Seele zum Geist als 96 Die Forschung jedenfalls betont gerne diese Einteilung. S. dazu etwa Martin Loder. Die Existenz des Spekulativen: Untersuchungen zur neuplatonischen Seelenlehre und zu Hegels Philosophie des subjektiven Geistes. Berlin/Boston: Walter de Gruyter, 2016, 9–81. Loder will dadurch die Unterschiede Plotins gegenüber Proklos bestimmen (ibid. 82–137), scheint aber grundsätzlich von einer unüberbrückbaren Differenz beider Denker auszugehen, die so nicht vorliegt. 97 Dieser Begriff stammt bekanntlich von Hegel, wurde aber in der Forschung, vor allem von Jens Halfwassen, gerne auf den absoluten Geist des spätantiken Neuplatonismus – und insbesondere Plotins – übertragen. Diese Übertragung scheint durchaus gerechtfertigt zu sein, insofern im Geist alle konkret gegebenen Gehalte in simultaner Einheit vorliegen und sich wechselseitig durchdringen. S. dazu bes. Halfwassen: Hegel und der spätantike Neuplatonismus. 98 Das Denken des Geistes ist natürlich nicht an die Zeit gebunden, sondern ewig (etwa Enn. V 1, 6, 16–22). Daher muss der absolute Geist nicht erst zum Selbstbe­ wusstsein durchbrechen. Und deswegen können zeitliche Ausdrücke nur in einem uneigentlichen oder übertragenen Sinne im Hinblick auf den Akt des reinen Denkens verwendet werden. 99 Ähnlich auch schon Beierwaltes: Denken des Einen, 123–149.

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einen ersten Schritt denken, dem dann der Aufstieg der vergeistigten Seele zum Absoluten folgt?100 In der Forschung wird diese Zweitei­ lung zwar gerne apostrophiert,101 allerdings ist die Annahme, hierbei handele es sich um eine Stufenfolge, vor dem Hintergrund der Analyse der Strukturen und Bedingungen des Denkens kritisch zu beurteilen. Genauer gesagt kann es eine Stufenfolge nicht geben: Die Seele kann nämlich nur dann in ihr eigenes Selbst, den Geist, finden, wenn sie sich nicht einfach bloß auf den Geist bezieht, sondern die eine henologische Perspektive, die, wie wir noch sehen werden, das höchste Moment des Geistes ist, einnimmt.102 Sicherlich muss hierbei mahnend betont werden, dass wir uns nicht direkt auf das Absolute beziehen können, insofern es kein konkretes Denkobjekt sein kann, weil es alle Bestimmungen tran­ szendiert. Allerdings generieren sich Denken und Selbstbewusstsein ausschließlich im Hinblick auf das Absolute – oder genauer: im henologischen Hinaufspannen. Plotin beschreibt eine Selbstvergewis­ serung, in der uns als dianoetisch denkende Wesen zunächst zwar die Strukturen des reinen Denkens bewusst werden. Das Denken wandelt oder transformiert sich aber erst durch das – was zunächst schwer verständlich erscheinen mag – ultimative Scheitern am nichtobjekthaften Absoluten zum vollendeten Selbstbewusstsein.103 So 100 Dieser Eindruck scheint offenbar bei der Lektüre der Plotinischen Schriften entstehen zu können; Enn. I 7, 2, 1–2: Der Blick der Seele auf das Eine wird »durch den Geist« (διὰ νοῦ) geleitet. Sicherlich ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Seele sich erst mit dem Geist und seinen Strukturen beschäftigen muss, um dann die Einung mit dem Absoluten selbst vollziehen zu können. Bei der Rückführung auf absolute Einheit geht es aber um die Genese absoluten Selbstbewusstseins; und diese Rückführung ist nicht gleichbedeutend mit der Einung. 101 So etwa – stellvertretend für den Forschungskonsens zitiert – bei Loder: Die Existenz des Spekulativen, 45–49. 102 Enn. VI 7, 22 und bes. ibid. 35, 19–38. Vgl. auch Enn. III 5, 3, 36–37 und Enn. III 9, 9, 1–6. Diese Perspektive liegt auch Enn. I 7, 2, 1–2 zugrunde. Vgl. dazu auch Pro­ klos (§ 18–19), der hier ähnlich denkt wie Plotin, dabei aber dennoch eine Modifika­ tion vornimmt: Die Seele (re)integriert sich bei ihm nicht vollständig in den Geist. 103 Zentralstellen zur Genese des Geistes sind bes. Enn. VI 7, 16, 10–35, ibid. 35, 19–38 und Enn. V 3, 11, 1–16. Vgl. auch Enn. V 2, 1, 7–14. Enn. V 5, 5, 16–27. Zur Genese des Geistes durch seine aktive Hinwendung zum Einen und seinem Scheitern am Absoluten s. Halfwassen: Der Aufstieg zum Einen, 130–149 und Auf den Spuren des Einen, 161–164. Das Selbstdenken, so soll hier gleich hinzugefügt werden, ist von der Selbstkonstitution des Geistes ununterschieden, denn für die Neuplatoniker ist dieser durch sich selber aktualisiert. Wenn die Selbstkonstitution aber nur im »Hinstehen« auf das Eine (Enn. V 2, 1, 11–13) möglich ist, so ist auch die

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muss auch die Seele die ursprüngliche Tätigkeit des Geistes, die als seine strebende (Rück-)Wendung zum Absoluten – oder genauer: als sein henologisches Streben – begriffen werden muss, selbst vollziehen. Plotin hat zur Illustration dieser Ur-Tat einen eigenen Begriff, den »liebenden Geist« (νοῦς ἐρῶν), aus der Taufe gehoben.104 Und in dieser Wendung, die im henologischen Streben bzw. der henologi­ schen Perspektive realisiert wird, ist der Kerngedanke der erotischen Anagogik freigelegt. Wenn nun aber das henologische Streben ›zum Absoluten‹105 und das Scheitern des Denkens ›am Absoluten‹ die entscheidende Rolle bei der Reintegration des dianoetischen Denkens Selbstreflexion des Geistes nur durch seine henologische Perspektive realisierbar. – Es sei lediglich erwähnt, dass Eyjólfur K. Emilsson die Genese des Geistes gänzlich anders konstruiert (Plotinus on Intellect. Oxford: Clarendon Press, 2007, 69–123). Da er dabei jedoch die Transzendenz des Einen außer Acht lässt, geht seine Deutung an Plotins Metaphysik schlicht vorbei. 104 S. dazu Enn. VI 7, 35, 23–25. Vgl. auch Enn. III 8, 9, 22–24, worin Plotin die Proklische Formulierung vom »Einen in uns« (s. Kap. II.2) der Sache nach vorweg­ nimmt. – Der »liebende Geist« wurde in der Forschung kaum beachtet. Man s. aber Halfwassen: Plotin und der Neuplatonismus, 57. Man kann den »liebenden Geist« sicherlich auch im Sinne der ἐπιβολή, also der »Intuition«, fassen. S. hierzu Kobusch: »Metaphysik als Einswerdung«, 103. Pierre Hadot hat das Konzept des »liebenden Geistes« sehr wohl bemerkt, aber ins Mystische überhöht (Hadot: »L’union de l’âme avec l’intellect divin«, 27 und Plotin: Traité 38: VI, 7. Introduction, traduction, com­ mentaire et notes par Pierre Hadot. Paris: Les Éditions du Cerf, 1999, 320–345; bes. 343–344), wobei man wohl eher davon ausgehen sollte, dass der »liebende Geist« die Einung mit dem Absoluten ermöglicht (s. dazu § 13). Durch Hadots Fokus droht fer­ nerhin die systematische Bedeutung des »liebenden Geistes« für Selbsterkenntnis und intellektuelle Anschauung überdeckt zu werden. Zur exakten Funktionsweise des »liebenden Geistes« im Rahmen von Selbsterkenntnis und intellektueller Anschauung s. unten, § 8–9. Einen guten Überblick zum »liebenden Geist« gibt Agnès Pigler (Plotin – une métaphysique de l’amour: L’amour comme structure du monde intelligible. Paris: Vrin, 2002, 89–93). Allerdings bleibt in ihrer Deutung das Verhältnis der Macht des absoluten Einen einerseits und der produktiven Kraft des liebenden Geistes ande­ rerseits ungeklärt. S. dazu § 10–12. 105 Der Zusatz ›zum Absoluten‹ gibt zwar die Richtung des Strebens an. Die Aussage aber, Seiendes strebe zum Absoluten, ist nicht unproblematisch, weil durch diesen Ausdruck suggeriert wird, man könne sich auf das Absolute wie auf ein beliebiges (Denk-)Objekt beziehen. Daher ist es besser, wie wir auch im Folgenden sehen werden, von einem henologischen Streben, einer henologischen Perspektive oder einer henologischen Spannung zu reden: Die henologische Ausrichtung bedeutet, dass wir über die Grenzen von Sein und Denken – oder: über den ›Bildrahmen‹ unserer Existenz – hinaus verwiesen sind, weil sich Sein und Denken nach der Plotinischen Ansicht nicht allein aus sich selber heraus fundieren können. Wir können es auch so formulieren: Aus der Daseins-Immanenz des Bewusstseins kommen wir nicht heraus, aus ihr heraus können wir aber verweisen.

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in sein eigenes Selbst, also das vollkommene Selbstbewusstsein des absoluten Geistes, spielt, so ist dieser Selbstfindungsprozess auch im Detail zu explizieren. Insbesondere ist im Folgenden die Frage zu klä­ ren, wie wir die ursprüngliche Tätigkeit des Geistes, das liebende, henologische Streben oder die Ur-Tat schlechthin, selber vollziehen können.

§ 6) Von der Seele zum Geist? Weil sich die Seele nach Plotin von ihrem eigenen Selbst, dem Geist, durch eigenes Zutun entfremdet hat, ist die Reintegration des dianoetischen Denkens in die νόησις nötig.106 Die Seele strebt als Vermögen des sukzessiv-dianoetisch verfahrenden Denkens den Besitz der Ideen als Denkobjekte an, vereinzelt diese aber dadurch und entfremdet sie so ihrem ursprünglichen Zusammenhang. Eine vollendete Einsicht in das Wesen der Ideen als Gemeinschaft aller intelligiblen Bestimmungen ist so aber unmöglich. Um die Ideen als Ideen, also in ihrer wechselseitigen Durchdringung innerhalb der kon­ kreten Totalität, zu schauen, muss die Seele ihre διάνοια überwinden. Zwar betont Plotin, dass die sog. Seelenspitze, also das νοῦς-hafte Moment der Seele, im Geist selbst verharre und nicht mit den anderen Seelenteilen abgestiegen sei. Gleichwohl müsse die ganze Seele in den Geist reintegriert werden, um die Ideenschau vollumfänglich und bewusst realisieren zu können.107 Eine der wichtigsten Schritte hin zur Reintegration in den Geist und mithin zur Einsicht in das Absolute als Absolutes ist die Absage an die Objektivierungen eines propositionalen Wissens, insofern dieses Wissen selbstvergessen ist.108 Wenn wir bestimmte Objekte 106 Die folgenden Erörterungen habe ich bereits an anderer Stelle dargelegt (Roh­ stock: »Plotin: Erotische Evidenz«, bes. 99–102), sie müssen aber vor dem Hinter­ grund unseres Themas aufgegriffen werden. Zur Reintegration der Seele in den Geist s. Loder: Die Existenz des Spekulativen und Jens Halfwassen. Geist und Selbstbewußtsein: Studien zu Plotin und Numenios. Stuttgart: Franz Steiner, 1994, 9–33. 107 Enn. V 8, 10, 18–22. 108 Zur Selbstvergessenheit propositionalen Wissens und seiner Überwindung s. Halfwassen: Auf den Spuren des Einen, 247–263. – Freilich ist auch das untere Seelenmoment, die Natur, nicht völlig ohne Selbstbewusstsein: Dieses Bewusstsein, das Plotin anhand des Träumens illustriert (Enn. III 8, 4), ist aber defizitär (dazu Halfwassen: Plotin und der Neuplatonismus, 117).

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betrachten und über sie urteilen, bemühen wir uns dabei nicht not­ wendig auch immer um die Bedingungen dieser Urteile. Aber gerade diese Umwendung auf die Bedingungen ist von uns gefordert,109 wobei sich aber die Frage stellt, wie uns diese Umwendung des selbst­ vergessenen dianoetischen Denkens gelingen kann. Als Antwort darauf lässt sich auf ein Beispiel des Platonischen Phaidon verweisen: Die Gleichheit zweier Hölzer könnten wir nur dann beurteilen, wenn wir um das entsprechende Maß, also die Gleichheit selber, bereits verfügten und diese als Maß für unser Urteil anwendeten.110 Freilich kann uns die Gleichheit nur dann als Maß oder Prinzip unserer Urteile bewusst werden, wenn wir uns dieser speziell zuwenden. Ähnliches gilt für andere Bestimmungen, wie etwa für die Gerechtigkeit als Maß gerechten Handelns und für die Schönheit als Maß harmonischer Verhältnisse. Die Gleichheit ist eine uns a priori eingeschriebene Denkkategorie, die uns aber als solche erst zu Bewusstsein gebracht wird, wenn wir uns von externalisierenden Vorstellungen111 abwen­ den und uns den Prinzipien, also den intelligiblen Denkkategorien selbst, zuwenden. Durch unsere Wendung auf die uns immanenten Kategorien wird die Selbstvergessenheit aufgehoben. Allerdings bleibt in diesem Zusammenhang fraglich, ob wir in dieser Wendung auf die Gleichheit diese auch wirklich als Idee erkannt haben. Man hat nämlich zu beachten, dass das reine Denken Ideen nicht vereinzelt, sondern »alle zumal« (ὁμοῦ πάντα) denkt. Denn Ideen sind als solche Momente absoluten Denkens und daher keine isolierten Teile.112 Ihre Seinsweise wird in besonderer Weise durch das

Schon bei Platon wird die περιαγωγή der Seele gefordert (Platon: Resp. VII 521C). Vgl. dazu Halfwassen: Der Aufstieg zum Einen, 227. 110 Platon: Phaid. 74B–D. 111 Der Leitgedanke Plotins lautet πάντα εἴσω, also »alles ist innen« (Enn. III 8, 6, 40; vgl. Enn. VI 9, 7, 17–18). Alles ist also in der Daseinsimmanenz des Denkens bzw. des Bewusstseins, wodurch Plotin das Fundament der Philosophie Fichtes, der bekanntlich vom Bewusstsein ausgeht, vorwegnimmt. Vgl. dazu Markus Gabriel. Skeptizismus und Idealismus in der Antike. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2009, 295. Allerdings bleibt mahnend zu betonen, dass die Einkehr in den Geist nur durch henologische Perspektivität möglich wird. Die Einkehr in die Eigentlichkeit des »Innen« ist die Rea­ lisierung der Delphisch-Sokratischen Forderung nach Selbsterkenntnis, die ohne henologische Perspektivität nicht erreicht werden kann: s. dazu § 8–9. 112 Auch die Seele denkt, wenn sie Geist geworden ist, alles zumal (Enn. II 4, 11) und also nicht mehr diskursiv (Enn. VI 7, 3, 6). 109

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Konzept »alles in allem« (πάντα ἐν πᾶσιν113) erhellt: Sie durchdringen einander wechselseitig, wobei die spezifische Eigenheit einer Idee gerade in dieser Durchdringung nicht nur bewahrt, sondern sogar noch gesteigert wird.114 Das reine Denken wiederum denkt sich selbst, wenn es alle seine Momente in simultaner Einheit schaut.115 Wir aber haben in der Zuwendung zur Gleichheit offenbar nur ein intelligibles Moment isoliert betrachtet. Wir vereinzeln also noch immer, weshalb wir uns die Gleichheit noch nicht als Idee zu Bewusstsein gebracht haben. Nichtsdestoweniger droht hier kein (erneuter) Abfall in die Selbstvergessenheit. Denn in seiner sog. Zweifelsbetrachtung macht Plotin deutlich, dass die Urteilskriterien denkimmanent sind.116 Wenn wir also die Gleichheit anschauen, dann schauen wir ein Moment unseres eigenen Selbst an. Gleichwohl bleibt fraglich, ob wir dabei auch den Ideenkosmos als die sich selbst denkend durchdringende intelligible Totalität durchschauen: Haben wir also wirklich absolutes Wissen und Selbstbewusstsein erlangt? Die Einsicht in die simultane und unauflösliche Einheit der Ideenvielheit muss erst durch weitere dialektische Übungen vorbe­ reitet werden.117 Und sicherlich müssen wir uns über die Einübung in die Ideendialektik die Einsicht fundieren, dass die Ideen in ihrer wechselseitigen Durchdringung eine unzertrennliche Einheit trotz ihrer artspezifischen Unterschiede und Eigenheiten bilden. So sehen wir die Strukturen des reinen Denkens durchaus ein. Aber diese Analysen reichen nicht aus, um ganz in den Geist hinein verwandelt werden zu können. Denn wir erkennen die Ideen nicht vollständig und gerade damit nicht als sie selbst, weil unsere Sicht auf den Ideenkosmos für sich genommen die Gefahr birgt, diesen und mit ihm 113 Zu diesem Topos s. überblickend Halfwassen: Plotin und der Neuplatonismus, 74–77. 114 Enn. V 8, 4, 4–11. Dazu Jens Halfwassen. »Schönheit und Bild bei Plotin«. In: Simone Neuber und Roman Veressov (Hg). Das Bild als Denkfigur: Funktionen des Bildbegriffs in der Geschichte der Philosophie. München: Fink, 2010, 67–78 (jetzt auch in Auf den Spuren des Einen, 265–278). Jede Idee ist als Moment des Seinsganzen in einem positiven und nicht-privativen Sinne unendlich oder unbegrenzt, insofern die Ideen sich wechselseitig durchdringen, befruchten und erhellen. 115 Vor diesem Hintergrund ist zu betonen, dass Plotin den Selbstbezug des Geistes nicht als einen womöglich leeren Reflexionsakt, sondern als Anschauung – oder genauer: als Selbstanschauung – entwirft. Denn die Ideen sind die Momente des Geistes: Indem der Geist die ihm immanenten Gehalte anschaut, sieht er sich selbst an. 116 Enn. V 5, 1–2. Dazu Halfwassen: »Plotins Zweifelsbetrachtung«, 207–219. 117 Enn. I 3, 5.

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das Denken als das Absolute selbst zu deuten. Nur wenn Ideenkosmos und Denken nicht verabsolutiert werden, ist die Idee als solche erst wirklich eingesehen.

§ 7) Einheit vor Vielheit Die Einung mit dem Geist kann nur gelingen, wenn wir das Denken henologisch, also auf dem Hintergrund der Einheitsmetaphysik, ana­ lysieren. Die Reintegration der ganzen Seele in das reine Denken und ihre totale Selbstvergewisserung können also nur dann gelingen, wenn wir uns der Frage zuwenden, ob das Denken nicht selbst von einem noch fundamentaleren Prinzip getragen wird. Um diese Frage beantworten zu können, ist es nötig, die apriorischen Grundstrukturen des Denkens zu analysieren, um dieses so bis an seine Grenzen zu verfolgen. Verfolgen können wir das Denken bis an seine Grenzen aber wiederum nur dann, wenn wir die ursprüngliche Tätigkeit des Geistes aufdecken und schließlich selber vollziehen. Aber was ist diese Tat des Geistes? Diese Frage stellt sich umso mehr, als für Gewöhnlich das reine Denken als wesensgemäßer Akt des Geistes apostrophiert wird.118 Allerdings geht Plotin davon aus, dass dem Akt des Sich-Selber-Denkens ein noch fundamentalerer Akt vorangeht – und dieser Akt ist das liebende, henologische Streben.119 Es ist diese Tätigkeit, die wir vollziehen müssen, wenn wir Geist werden wollen. Die Frage ist aber, wie wir sie vollziehen können. Unumgänglich hierfür ist zunächst einmal eine grundlegende Analyse der νόησις. Wie Plotin in Enn. VI 9 zeigen kann, ist sogar das reine Denken, also das selbstbewusste Denken des absoluten Geistes, als Denken nichts anderes als Vielheit; und als Vielheit setzt es die reine Einheit als seine Bedingung voraus.120 Denken, auch die νόησις des absoluten Geistes, weist Strukturen auf, ist also durch mehrere Momente bestimmt: Es besteht aus dem denkenden Subjekt, dem zu denkenden Objekt und dem beide verbindenden Denkakt, die im Bes. Enn. V 3, 5. Enn. VI 7, 35. Plotin spricht von einer »unendlichen Liebe« (Enn. VI 7, 32, 28). Dieses Grundverlangen nach dem Einen ist den Seelen zudem eingeboren (Enn. VI 9, 9, 25–28). 120 Enn. VI 9, 2. 118

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Subjekt121 selber eine in sich differenzierte Einheit bilden. Als Vielheit muss das Denken ein Minimum an innerer Differenz aufweisen, weil sich sonst das Subjekt nicht auf sein Objekt beziehen könnte.122 Auch könnte das Denken sich nicht auf sich selbst hin denkend bewegen 121 Der Begriff des Subjektes kann sicherlich auf die neuplatonische Tradition ange­ wendet werden. Zwar wird häufig noch geglaubt, die Subjektivität sei eine genuine Entdeckung der Neuzeit (Gerhard Krüger. Freiheit und Weltverwaltung. Freiburg im Breisgau/München: Karl Alber, 1958, 11–69). Doch wie sich zeigen lässt, ist das Konzept der Subjektivität der Sache nach auch schon in Antike und Mittelalter angelegt (Kobusch: »Metaphysik als Einswerdung«, 99–101). Grundlegend für diese Einschätzung ist vor allem Plotins Geistkonzeption, deren Nähe zu modernen Kon­ zepten der Subjektivität Jens Halfwassen mehrfach und deutlich herausgearbeitet hat: S. bes. Hegel und der spätantike Neuplatonismus. S. auch Cürsgen: Letztbegründung und Geschichte. – Auch im mittelalterlichen Denken finden sich unverkennbar Prä­ figurationen der Subjektivitätsphilosophie der Neuzeit. Halfwassen zeigt dies ganz unmissverständlich anhand des Denkens Meister Eckharts: »Gibt es eine Philosophie der Subjektivität im Mittelalter? Zur Theorie des Intellekts bei Meister Eckhart und Dietrich von Freiberg«. Theologie und Philosophie 72 (1998), 337–360. S. auch Burkhard Mojsisch. »Mittelalterliche Grundlagen der neuzeitlichen Erkenntnistheo­ rie«. In: Manfred Gerwing und Godehard Ruppert (Hg). Renovatio et Reformatio: Wider das Bild vom ›finsteren‹ Mittelalter. Münster: Aschendorff, 1985, 155–169 und Wouter Goris. »Der Mensch im Kreislauf des Seins: Vom ›Neuplatonismus‹ zur Subjektivität bei Meister Eckhart«. In: Theo Kobusch, Burkhard Mojsisch und Orrin F. Summerell (Hg). Selbst – Singularität – Subjektivität: Vom Neuplatonismus zum Deutschen Idealismus. Amsterdam/Philadelphia: Grüner, 2002, 185–201. S. auch Theo Kobusch. Christliche Philosophie: Die Entdeckung der Subjektivität. Darmstadt: WBG, 2006. 122 Etwa Enn. V 3, 10, 8–46. Die Notwendigkeit minimaler Differenz für die Konsti­ tution von (selbstbewusstem) Denken ist in der Forschung ein Gemeinplatz, wenn­ gleich ein besonders wichtiger (etwa Szlezák: Platon und Aristoteles in der Nuslehre Plotins, 126–135), der im Hinblick auf einen Vergleich von (Neu-)Platonischem und Fichteschem Denken noch zusätzliche Relevanz bekommt; vgl. etwa Barbara Zehn­ pfennig. Reflexion und Metareflexion bei Platon und Fichte: Ein Strukturvergleich des Platonischen ›Charmides‹ und Fichtes ›Bestimmung des Menschen‹. Freiburg im Breis­ gau/München: Karl Alber, 1987, 199: »Distanz aber und damit Differenz braucht das Denken, um zu sich und dem anderen zu gelangen.« – Grundsätzlich koinzidieren im absoluten Geist nach Plotin Subjekt und Objekt in einer nicht-tautologischen, dyna­ mischen Identität, wobei das Selbstdenken eine gewisse Differenz braucht, um über­ haupt zu sich selber gelangen zu können. Die Konstitution der Bestimmtheit der relata ist aber letztlich nur durch den reinen henologischen Akt des Denkens zu erklären, das sich nicht primär auf sich selber bezieht, sondern in erster Linie Transzendenzbezug ist. Und darin wird der Horizont des Erscheinenkönnens überhaupt erst aufgebrochen. – Im Zusammenhang mit der Subjekt-Objekt-Einheit bei Plotin sei fernerhin ver­ merkt, dass der verbindende Denkakt, sofern er stets an die Subjekt-Objektivität geknüpft ist, die sachliche Entsprechung zu Fichtes Einbildungskraft zu sein scheint. S. dazu auch § 46.

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1) Plotin und der »liebende Geist«

und wäre so keine in sich geschlossene bzw. sich selber abschließende Einheit. Als Vielheit ist aber das Denken erklärungsbedürftig. Denn keine Vielheit kann, so lehrt uns die neuplatonische Orthodoxie, sich aus sich selbst heraus erklären. Damit die Vielheit überhaupt denkbar ist und nicht zum bloßen Scheingedanken verkommt, muss sie auf absolute Einheit zurückgeführt und so aus ihr hergeleitet werden.123 Plotin erweist mit seiner Methode, die Jens Halfwassen als »henologische Reduktion« beschrieben hat, die Einheit als denkund seinsnotwendige Bestimmung, die allen Bestimmungen, Entitä­ ten und Existenzen immanent sein muss. Diese Einheit darf aber nicht als bloßes Prädikat gedacht werden: Sie kommt nämlich einer Bestimmung weder bloß zufällig zu, noch tritt sie einfach koordiniert mit dem Seienden bzw. in der Immanenz des Seins auf. Sie muss vielmehr unabhängig von allen Strukturen und der Vielheit gedacht werden. In diesem Zuge demonstriert Plotin, dass das Eine zwar alles Viele transzendiert, das Viele aber wiederum abhängig von diesem Einen ist. Das Eine muss demnach der Vielheit in Form einer asymmetrischen Beziehung vorausgesetzt werden.124 Grundlegend für die »henologische Reduktion« ist Enn. V 6, 3. Vor dem Hintergrund der Notwendigkeit, dass alle Bestimmungen Einheitscharakter haben müssen, um überhaupt gedacht werden zu können, demonstriert Plotin dort die notwendige Annahme derjeni­ gen Einheit, die das Viele transzendiert und so dominiert: »Denn wenn jemand behaupten wollte, das Eine habe nur mit dem Anderen Bestand: dann wäre es selbst also nicht absolut einfach und dann würde auch das aus Vielem Zusammengesetzte nicht existieren. Denn was nicht einfach sein kann, das kann kein eigenes Bestehen haben und das aus Vielem Zusammengesetzte kann, wenn es kein Einfaches gibt, auch selber nicht bestehen. Denn da jedes Einzelne nicht als ein Einfaches existieren kann, wenn es kein an sich selbst absolut einfaches Eines gibt und keiner der einzelnen Bestandteile für sich selbst Bestand haben kann und sich also auch nicht für das Proklos zeigt in seiner Argumentation für die Notwendigkeit des vorgängigen Einheitsprinzips, dass eine Vielheit, die nicht am Einen selbst teilhat, schlicht undenk­ bar und bloß ein Scheingedanke ist. S. dazu § 15. 124 Halfwassen: Der Aufstieg zum Einen, 53–97, wobei Halfwassen auch auf das daraus folgende Paradoxon, nämlich dass die doch notwendig vorauszusetzende Einheit erstaunlicherweise nicht gedacht werden kann, hinweist und einer eingehen­ den Prüfung unterzieht (ibid. 98–149). Die Lösung sieht er völlig zutreffend im Transzendenzbezug des Geistes. 123

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II) Die neuplatonische »Henophanie«

Zusammensein mit dem Anderen bereithalten kann, da er ja überhaupt nicht ist, wie kann da das aus all diesem Zusammengesetzte sein, da es aus lauter Nicht-Seienden entstanden sein müßte, und zwar nicht aus solchen, die etwas Bestimmtes nicht sind, sondern aus solchen, die schlechthin nicht sind? Daraus folgt: wenn es etwas Vieles [scil. faktisch] gibt, muß es vor dem Vielen das Eine geben.«125

Proklos wird – worauf wir später im Detail zurückkommen werden (§ 15) – diesen Gedanken Plotins – sogar im vorliegenden Wortlaut – aufgreifen und in seiner Stoicheiôsis theologikê (prop. 1–5) einer eingehenden Analyse unterziehen, in der er dokumentieren kann, dass wir genötigt sind, ein ›vorgängiges‹ Einheitsprinzip anzuneh­ men.126 Jedenfalls kann das Resultat dieser »henologischen Reduk­ tion« Plotins mit folgenden Worten Jens Halfwassens zusammenge­ fasst werden: »Wenn wir nur denken können, indem wir Einheit schon voraussetzen, wobei sowohl das jeweils Gedachte als auch der es erfassende Denkakt selber Einheitscharakter besitzen müssen, dann kann das, was jeder beliebige Denkakt als einheitlicher immer schon voraussetzt, nicht selbst das Produkt des es voraussetzenden Denkaktes sein. Ein Einheit ursprünglich setzender Denkakt wäre vor seiner Einheitssetzung nicht einheitlich und damit gar nichts, also auch kein Denken.«127

Freilich bleibt hier zu konstatieren, dass mit der Argumentation Plotins das bereits oben genannte Paradoxon keineswegs beseitigt ist. Und doch können wir vorerst folgendes Zwischenergebnis festhal­ ten, mit dem, so sei betont, der neuplatonische Diskurs um das Prinzip aller Bestimmungen keineswegs endet, sondern vielmehr, so erstaunlich dies auch klingen mag, erst in Gang kommt: Die Einheit zeigt sich als fundamentale Bestimmung schlechthin, ohne die nichts sein oder gedacht werden könnte. Diese notwendig anzunehmende Enn. V 6, 3, 10–21. Übers. nach Halfwassen: Der Aufstieg zum Einen, 75–76. Zur Deutung s. Halfwassen: Der Aufstieg zum Einen, 76–81. 126 Weil Proklos die Argumentation Plotins sogar im Wortlaut aufgreift, aber das Argument ausbuchstabiert, werden wir uns dieses später ausführlicher anschauen. Ein Unterschied in der Intention beider Denker ist jedenfalls nicht festzustellen. 127 Halfwassen: Plotin und der Neuplatonismus, 35 vor allem mit Bezug auf Enn. VI 6, 13, 43–49: »εἰ τοίνυν μήτε τι νοῆσαι μήτε εἰπεῖν ἔστιν ἄνευ τοῦ ἓν ἢ τοῦ δύο ἢ τινος ἀριθμοῦ, πῶς οἷόν τε ἄνευ οὗ οὐχ οἳόν τέ τι νοῆσαι ἢ εἰπεῖν μὴ εἶναι; οὗ γὰρ μὴ ὄντος μηδ᾽ ὁτιοῦν δύναται νοῆσαι ἢ εἰπεῖν λέγειν μὴ εἶναι ἀδύνατον: ἀλλ᾽ οὗ χρεία πανταχοῦ πρὸς παντὸς νοήματος ἢ λόγου γένεσιν προυπάρχειν δεῖ καὶ λόγου καὶ νοήσεως: οὕτω γὰρ ἂν πρὸς τὴν τούτων γένεσιν παραλαμβάνοιτο.« 125

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1) Plotin und der »liebende Geist«

Einheit ist aufgrund ihrer asymmetrischen Über- oder Vorordnung allen Bestimmungen und aller Vielheit notwendig vorauszusetzen – oder mit anderen Worten gesagt: Die Einheit transzendiert als Prinzip notwendig Vielheit, Sein und Denken, weshalb Vielheit, Sein und Denken im Hinblick auf das Eine negiert werden.

§ 8) Apophatik und Verweis – oder: Die Konstruktion des produktiven Paradoxon Die Notwendigkeit, das Eine allen Bestimmungen vorauszusetzen bzw. allen Bestimmungen gegenüber zu transzendieren, wird im Neuplatonismus durch eine ausdifferenzierte Negationslogik oder Apophatik verständlich gemacht.128 Diejenige Negation, die die Ein­ heit über alle anderen Bestimmungen erhebt und diese so als Prinzip aller Bestimmungen ausweist, kann als transzendierende Negation bezeichnet werden. Die Einheit ist also – so paradox dies klingen mag – keine Bestimmung, sondern in transzendenter Weise unbestimmt. Aber inwiefern, so müssen wir kritisch fragen, kann eine Negation, auch wenn sie als transzendierende verstanden wird, uns die Prinzip­ funktion des Einen zu Bewusstsein bringen? Die Negation, also die Unbestimmtheit des einheitsstiftenden Prinzips, ist freilich keine Absage an seine Prinzipfunktion: Ganz im Gegenteil kann letztlich nur das, was sich allen Bestimmungen entzieht, Prinzip sein. Diese Negation, so ist hier einzuschärfen, darf nicht, wenn sie denn die Prinzipfunktion des Einen bewahren will, privativ verstanden werden oder durch Differenz geprägt sein. Die Negation – oder genauer: das Negieren, also der Akt des Verneinens, – dient hier als reiner Verweis. Dieses Negieren ist der Verweis über die Grenzen des Denkbaren hinaus. Wenn die Vielheit nur erklärt werden kann, wenn sie auf absolute Einheit zurückgeführt wird, so 128 Die Grundzüge der negativen Theologie sind bereits mehrfach formuliert worden. Bes. eindringlich werden sie dargestellt in Halfwassen: Auf den Spuren des Einen, 27– 36; bes. 31–35. Älteren Datums, aber immer noch instruktiv, sind die Ausführungen bei Raoul Mortley. »Negative Theology and Abstraction in Plotinus«. American Journal of Philology 96/4 (1975), 363–377. – In der Forschung ist bisher noch nicht abschließend geklärt, wie radikal Plotins negative Theologie zu deuten sei. Für eine Abschwächung hat vor allem Werner Beierwaltes plädiert (Das wahre Selbst, 123– 159). Diese Deutung der negativen Theologie habe ich bereits kritisch besprochen (»Werner Beierwaltes: Catena Aurea«, 90–100; bes. 92–93).

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II) Die neuplatonische »Henophanie«

muss diese absolute Einheit durch das Negieren allen Bestimmungen ›vorgeordnet‹ werden. Das Prinzip lässt sich überhaupt nur im Negie­ ren als solches denken, weil es nur so gegenüber allem anderen absolut ist. Die Pointe einer negativen Prinzipientheorie ist also, dass wir das Prinzip nur dann als das einzige und oberste Prinzip aller Dinge fassen können, wenn wir es absolut denken.129 Da es als Prinzip jede Bestimmung transzendieren muss, übersteigt es sogar die Kate­ gorien von Identität und Differenz und genau damit die durchgängige Relationalität und Gegensätzlichkeit der Bestimmungstotalität. Das Prinzip wird als Übergegensätzlichkeit gedacht, weil es nur so der Vielheit des Bestimmungshorizonts gegenüber vorausgesetzt werden kann. Dieser Verweis über die Grenzen des Denkens hinaus ist nach Plotin, wie gezeigt, notwendig. Jeder Viel-Einheit muss eine reine Einheit vorangehen, die sich freilich nicht thetisch voraussetzen, wohl aber im Verweis rechtfertigen lässt. Also muss das Denken notwendig über sich selbst hinausweisen und erweist so die Voraussetzung als vernünftig. Wir denken so das Absolute als das Unbestimmte und Unbegreifliche schlechthin, das gerade kraft seiner Unbestimmtheit als das allen Bestimmungen vorauszusetzende Prinzip gedacht wer­ den kann.130 Akzeptieren wir aber diese Schlussfolgerung, bricht das oben genannte Grundparadoxon erneut und mit ungeahnter Vehemenz auf. Als Konsequenz der Anagogik hat sich nämlich nun eine höchst para­ doxe Situation ergeben: Wir haben einerseits eingesehen, dass das Eine, damit es als Prinzip begriffen werden kann, allem Seienden und Denkbaren durch das Negieren enthoben werden muss. Wir haben aber andererseits auch einsehen müssen, dass das Eine aufgrund dieses Überstieges selber nicht mehr Prinzip sein kann, denn die Zuschreibung, das Eine sei Prinzip, droht, die Notwendigkeit des steten Voraussetzens zu verletzen und in eine Setzung zu verwandeln. Plotin scheint das Ergebnis, also die Entdeckung des Prinzips aller Bestimmungen in der eminenten Unbestimmtheit, sogar zu konter­ karieren, indem er dem Einen nicht nur abspricht, Prinzip zu sein, sondern auch betont, dass das Eine an ihm selber nicht einmal mehr

Etwa Enn. V 4, 1, 5–15. Halfwassen: Der Aufstieg zum Einen, bes. 60. Zum Voraussetzen s. grundsätzlich Halfwassen: Auf den Spuren des Einen, 37–49. 129

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Eines sein könne.131 Plotin ist sich aber durchaus bewusst, dass er das – zu Anfang des Kapitels bereits genannte – Paradoxon auf die Spitze treibt. Und genau darin liegt – erstaunlicherweise – die geniale Wendung des Plotinischen Denkens: Denn dieses Paradoxon führt nicht dazu, der Henologie zu entsagen und sie in einer skeptischen Wendung aufzugeben. Vielmehr wird sich uns durch das Paradoxon die eigentliche Pointe der Plotinischen Henologie offenbaren. Durch die folgenden drei Aspekte wollen wir dieser auf die Spur kommen: (1) In erster Linie inhäriert Plotins Apophatik die Mahnung, dass wir bei der Analyse des Denkens und seiner Prinzipien nicht vor­ schnell glauben dürfen, Halt gewonnen zu haben. Wir müssen stets hinterfragen, ob wir nun wirklich im höchsten Punkt angekommen sind. Dieser höchste Punkt scheint nur jenseits aller sich gegenseitig ausschließenden Gegensätze gefunden werden zu können, denn nur ›dort‹ kann es keinen Widerspruch mehr geben: Gibt es keinen Gegensatz mehr, ist der durch die apophatisch-erotische Anagogik gebahnte Weg der einzig mögliche, also der einzige, der nicht in der Aporie endet.132 (2) Die Apophatik soll zwar unsere Einheitsforderung nicht ad absurdum führen. Allerdings wird sie dadurch als Paradoxon fixiert: Aus unserem Einheitsdefizit heraus verweisen wir notwendig auf das Prinzip, durch das wir Einheit empfangen. Doch im Durchgang durch das transzendierende Negieren kommen wir allmählich zu der im ersten Moment durchaus erschreckenden Erkenntnis, dass die Einheit, die wir voraussetzen, aufgrund ihrer Reinheit nicht zu fassen ist. Das Absolute ist derart in sich Eines, dass es in sich völlig geschlossen und mithin absolut ist: Es ist ohne Relation, hat keine Beziehung in sich und keine zu uns. Beide Aspekte, die Notwendigkeit unserer Einheitsforderung einerseits und die Unbegreifbarkeit der anvisierten Einheit andererseits, müssen nun zusammengeführt und verknüpft werden: Wenn wir die Einheit immer nur voraussetzen können, so wird sie als reine Einheit apostrophiert, wodurch sich aber notwendig ihre Unsagbarkeit ergibt. Unser Einheitsbedürfnis steigert sich in diesem Zusammenhang in ein nicht enden wollendes Über- und Vorgreifen, in dem das Denken sich auf das angenommene 131 Im Grunde sagen wir über das Absolute Einheit aus: Etwa Enn. VI 9, 6, 10–16. Daher ist es auch vor der Ursächlichkeit (Enn. V 5, 9, 7). – Proklos wird die Aussage, dass das Eine selbst nicht einmal mehr Eines sei, pointieren: S. § 16. 132 Vgl. dazu Proklos’ (§ 17–19) und Fichtes (§ 40 und § 44) Überwindung der Aporie durch absolute Abstraktion.

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Prinzip hinspannt, es zu erfassen versucht, aber dieses gleichwohl nicht denkend umfassen kann. (3) Gerade weil wir das Voraussetzen nicht aufgeben können, eröffnet sich der Horizont, in dem das Absolute überhaupt erst als solches thematisiert werden kann, ohne dass es dabei objektiviert und zu einem Seienden transformiert wird. Das Reden vom Absoluten geschieht nicht direkt, sondern indirekt über das vor- und übergrei­ fende Voraussetzen, das zwar paradox anmutet, aber gleichwohl nicht aufgegeben werden darf.133 Im Grunde thematisieren wir, wenn wir vom Absoluten sprechen, nicht das Absolute selbst, sondern unser stetes Aus- und Vorgreifen auf es.134 Zwar ist also das Absolute aufgrund fehlender Relationen an ihm selber nicht thematisierbar und daher völlig unsagbar.135 Das Voraussetzen aber ist als Akt des Verweisens und als unhintergehbares Faktum des Verwiesen-Seins136 sehr wohl thematisierbar. Und in der Reflexion auf das notwendige Verwiesen-Sein, bekommen wir in gewisser Weise Zugang zum Absoluten. Dieser Zugang besitzt freilich den Charakter des Para­ doxen. Aber diese sich hier zweifellos ergebende Spannung droht nur scheinbar die innere Logik des Plotinischen Neuplatonismus zu zerreißen. Vielmehr kann demonstriert werden, dass die Energie dieser Spannung von Plotin produktiv gewendet wird.

Wir nehmen die Einheit immer schon in Anspruch: Wenn wir uns nun dieser Einheit selber zuwenden und versuchen, sie begrifflich zu fassen, setzen wir sie erneut voraus, wobei sich dieser Akt des Ausgreifens nicht beenden lässt, weshalb die heno­ logische Liebe auch, wie bereits gesagt, unendlich ist. Wir werden also immer nur zu Begriffen oder Bildern des Absoluten gelangen, gerade weil wir es in jedem Akt der Begriffsbildung schon vorausgesetzt haben. Zum Bildbegriff s. bes. § 12. 134 Darauf verweist vor allem Proklos mit Betonung; In Parm. VII p. 509, lin. 20– 26: »Quid enim aliud est le unum quod in nobis quam ὠδῖνος; huius operatio et adiec­ tio? Hanc igitur intrinsecam unius intelligentiam, provolem entem eius quod in nobis unius et velut expressionem, sic nominamus unum. Non illud igitur nomabile, sed quod in nobis unum. Per hoc autem ut convenientissimum ipsi primo circa illud dicimus et insinuamus vicinis.« S. dazu § 17–19. 135 Bes. deutlich Enn. VI 9, 3, 51–55. 136 Es lässt sich fernerhin – und gerade in diesem Zusammenhang – auch unser Abgewiesen-Sein vom Absoluten thematisieren, insofern unser Begreifen sich am Absoluten versucht. Zum Konzept des Scheiterns bei Plotin und seiner produktiven Bedeutung s. § 9. 133

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§ 9) Die Entbergung der Ur-Tat in der Konvergenz von Praxis und Theorie Das transzendierende Negieren ist also im Grunde der einzig mögli­ che Verweis auf das Absolute. Die Pointe des Negierens im Zusam­ menhang mit dem oben geforderten Vollzug der ursprünglichen Tat des absoluten Geistes ist nun, dass in diesem negativen Verweis die Ur-Tat des Geistes, also das henologische Streben, entdeckt werden kann und dadurch auch unmittelbar vollzogen wird: Das Negieren ist letztlich nichts anderes als der Vollzug des reinen Strebens und konvergiert mit dem von Platon her übernommenen ἔρως-Begriff137, den schon Platon, so lehren uns insbesondere die Gleichnisse der Politeia, agatho- bzw. henologisch erweitert hatte.138 Die Entdeckung dieses Vollzuges und die Folgen dieses Vollzuges für das Denken müssen natürlich im Folgenden einer Erklärung unterzogen werden. Im Zentrum seiner gesamten Metaphysik steht bei Plotin die »Spur« (ἴχνος) des Einen,139 die wir aber vorerst bloß erahnen und uns noch nicht zu vollem Bewusstsein gebracht haben. Man kann das Zur Liebeskonzeption bei Plotin, bes. mit Blick auf Enn. III 5, und ihrer Genese aus den Schriften Platons s. Joachim Lacross. L’amour chez Plotin: Érôs hénologique, érôs noétique, éros psychique. Brüssel: Éditions Ousia, 1994. Lacross denkt die henologische Liebe aber als Akt des Absoluten selber, also als dessen Selbstliebe (ibid. bes. 105). Es ist aber gerade fraglich, ob das Absolute wirklich liebt oder tätig sein kann. Dasselbe Problem tritt in der sonst überzeugenden Studie von Agnès Pigler auf (Plotin – une métaphysique de l’amour, 37–44). Zur Plotinischen Liebe s. ferner Dimitrios A. Vasilakis. Eros in Neoplatonism and its Reception in Christian Philosophy: Exploring Love in Plotinus, Proclus and Dionysius the Areopagite. London et al.: Bloomsbury Academic, 2021, 13–65. Allerdings entgeht Vasilakis die metaphysische Funktion des henologischen Strebens. Das hängt wohl auch damit zusammen, dass er die Forschungsarbeiten zu Plotins Heno- und Noologie nicht hinreichend konsultiert hat. Insbesondere die Arbeiten Jens Halfwassens, in denen Henologie und Noologie und deren systematischer Zusammenhang ins rechte Licht gerückt werden, hat er schlicht ignoriert. Eine etwas merkwürdige Deutung liefert Achim Wurm. Platonicus amor: Lesarten der Liebe bei Platon, Plotin und Ficino. Berlin/New York: Walter de Gruyter, 2008. Denn die Differenz zwischen Platons und Plotins Liebesbegriff werden über Gebühr betont: Überzeichnet wird etwa die Unterscheidung zwischen einem epistemologischen Interesse Platons und einem ontologischen Plotins (ibid. 142–143). Und ganz grundsätzlich verkennt Wurm die epistemologische Funktion der Liebe bei Plotin. Zu dieser Funktion der Liebe s. die folgenden Erörterungen. 138 Platon: Symp. 205C–D. Die größte Liebe für alles ist das Streben zum Guten, das laut der Transzendenzkonzeption, wie sie in der Politeia erstmals angesprochen wird, jenseits aller Wesenheiten und mithin auch jenseits des Schönen ›ist‹ (Resp. VI 509B). 139 Etwa Enn. VI 7, 17, 13–14. 137

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natürliche henologische Streben auch als eine ursprüngliche, aber uns zunächst nicht bewusste Intuition – oder besser: als vor-bewusste Ahnung – des Absoluten beschreiben. 140 Plotin denkt diese Ahnung gerade als henologisches Streben.141 Die bloße Ahnung gilt es freilich zu Bewusstsein zu bringen, um so über alle Grenzen von Denken und Sein hinaus zu blicken.142 Sicherlich, so werden wir weiter unten beobachten können, fundiert diese Ahnung, also der prä-reflexive – oder vielmehr: über-noetische – Vorgriff auf Einheit, das Sein und das Denken.143 Doch an dieser Stelle muss weiterhin der noch immer drängenden Frage nachgegan­ gen werden, wie die Reintegration der Seele in den Geist gelingen können soll. Dieser Aufstieg gelingt nach Plotin offenbar nur dann, wenn wir diese bloße Ahnung zu Bewusstsein bringen: Hierfür muss von Plotin aber zunächst einmal demonstriert werden, dass wir stets und unhintergehbar über alles Sein und Denken hinaus (›zum‹ Einen) streben: Nun ist diese Ahnung vom Absoluten bzw. dieses henologische Streben durch vielerlei Formen des Strebens überdeckt. Streben ist sicherlich Grundzug des Daseins im Allgemeinen und des Menschen im Speziellen: Menschen streben bspw. zu schönen Körpern, Indivi­ duen, Dingen, wie etwa zu Werken der bildenden Kunst, und zu schönen Handlungen und Tugenden.144 Diese Formen des Strebens verdecken uns aber das Streben ›zum‹ Absoluten, das als Quelle aller Schönheit vorgestellt wird und daher als das eigentlich »Erstre­

Das bedeutet auch, dass wir nicht von Anfang an wissen, dass in uns ein henologisches Streben wirksam ist. Die Metaphysik Plotins beginnt ferner nicht mit einem Wissen um den Fokus, das Absolute, sondern in ihr wird das Absolute erst nach mühsamer philosophischer Arbeit (vgl. Enn. VI 9, 3, 1–10) plötzlich als solches bewusst. 141 Vgl. Kobusch: »Metaphysik als Einswerdung«, 102–103. »Spur« und henologi­ sches Streben sind unmittelbar miteinander verknüpft (Enn. III 8, 11, 19–25). 142 Dazu Enn. VI 7, 22. 143 Der vor-bewusste Vorgriff ist, so lässt sich bereits jetzt vermuten, nichts anderes als die Tat des Strebens selber. Zur ›Position‹ des Strebens ›zwischen‹ dem Denken einerseits und dem undenkbaren Absoluten andererseits s. die folgende Argumenta­ tion. – Man kann es auch folgendermaßen ausdrücken: Die Intentionalität, das Stre­ ben also, ist Grundlage für das konkrete Denken (eines Objektes). Wenn wir uns aber nicht von der Schau des Objektes lösen, kann uns das uns zur Schau leitende Moment unmöglich bewusst werden. Cusanus hat in diesem Zusammenhang Aristoteles ein Konzentrationsdefizit vorgeworfen. S. dazu § 33. 144 Dazu Enn. I 6. 140

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benswerte« (ἐφετόν) zu gelten hat.145 Das basale und dem absoluten Denken zugrundeliegende Streben wird von Plotin auch als Liebe bezeichnet. Genauer spricht er vom νοῦς ἐρῶν, also vom »liebenden Geist«, den er vom »vernünftigen« bzw. »besonnenen Geist« unter­ scheidet.146 Es ist sicherlich diese henologische Liebe, die Plotin in seiner Programmschrift als das »Erste des Geistes«147 bezeichnet hat. Daher ist es wahrscheinlich, dass der Plotinische Begriff des »liebenden Geistes« sachlich dem Proklischen Konzept des unum in nobis entspricht.148 Durch diese Spitze des Geistes spannen wir uns mit dem Geist auf das Eine selbst hin. Die Liebe bzw. die Spitze ist nun vom Geist nicht positiv denk- oder umgreifbar, weil das Streben als ursprüngliche Tätigkeit dem Ideendenken vorangeht. Daher können wir das henologische Streben nur dann freilegen, wenn wir uns in die verborgenen Tiefen unseres eigenen Selbst über die Methode des 145 Bes. deutlich Enn. VI 7, 22. S. auch Enn. I 6, 7, 1–14, Enn. VI 7, 25, 16–24, ibid. 32, 24–34 und ibid. 33, 1–14. Wir streben zwar zu schönen Dingen. Wir lieben aber nicht schöne Körper, Werke oder Wesen um ihrer selbst willen, sondern wir bewundern darin die Schönheit selbst (etwa Enn. VI 7, 22, 3–5). Da die Schönheit aber wiederum durch das Absolute bedingt ist, lieben wir eigentlich das Absolute als Quelle des Schönen und Wahren. Daher erweitert Plotin den ἔρως-Begriff agathobzw. henologisch (Enn. VI 7, 22, 6–21). Zu dieser Erweiterung s. schon Halfwassen: Auf den Spuren des Einen, 274. 146 Enn. VI 7, 35, 23–25. 147 Enn. VI 9, 3, 1–37; hier 28. Das »Erste des Geistes« ist gar nichts anderes als das henologische Streben, insofern es als Einheitserfahrung allem Denken zugrundeliegt. Dieses Streben muss aber uns als erstes Moment des Denkens zu Bewusstsein gebracht werden. Plotin macht deutlich, dass der Geist sowohl auf sich als auch auf das Absolute hin ausgerichtet ist. Der Geist ist »doppelgesichtig« (Enn. III 8, 9, 29– 32). Daher bilden Denken und Streben eine Einheit, sind sie doch beide Aspekte oder Momente des einen Geistes. Das Streben kann aber Priorität beanspruchen, sodass wir letztlich das Konzept intellektueller Anschauung (νόησις) konkretisieren können: Sie ist zwar die Selbstdurchlichtung des Geistes, diese ist aber wiederum nur vor dem Hintergrund des Strebens möglich. Daher muss die henologische Perspektive in den Begriff der intellektuellen Anschauung integriert werden. Intellektuelle Anschauung ist dann nicht bloße Ideenschau, ja noch nicht einmal die Schau der obersten Gattun­ gen. Sie ist vielmehr zugleich beides: Henologisches Streben und – daraus resultierend – Denken seiner selbst. Dieser Begriff der intellektuellen Anschauung ist für alle in der vorliegenden Arbeit behandelten Transzendenzphilosophien maßgeblich: Sie besteht auch immer im Gewahren des uns ursprünglich leitenden Horizontes. Zu Proklos s. § 18–19, zu Fichte s. § 39–40 und § 46. Vgl. auch § 30 (Eriugena) und § 34 (Cusanus). 148 Dieser Zusammenhang ist von der Forschung bisher kaum beachtet worden. Vgl. aber Halfwassen: Plotin und der Neuplatonismus, 55–56. S. dazu auch § 11 und Kap. II.2.

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Negierens hinein versenken – oder anders ausgedrückt: Wir können dieses Streben in seiner reinen oder ursprünglichen (Proto-)›Form‹ nur dann vollziehen, wenn wir das affirmative, begreifende und alle intelligiblen Bestimmung um-fassende Denken negieren. Im Negieren wird stets über das Denken hinaus verwiesen, ohne dass dasjenige, worauf man verweist, auch erreicht wird. Denn wenn das Denken die Einheit, auf die es verweist, voraussetzt, kann es diese Einheit nicht denkend einholen. Das Denken kann also nur über sich hinaus auf die Einheit verweisen, sie aber nicht ergreifen, weshalb es letztlich ultimativ an der denkenden Ergreifung des Absoluten scheitert.149 Das reine Verweisen als transzendierendes Negieren bedeutet letztlich ein Nicht-Angekommen-Sein. Das henologische Streben, der ἔρως, scheint daher durch einen gewissen ›Schmerz‹150 geprägt zu sein, weil er das, was er erstrebt, immer nur erstreben und aus diesem Streben niemals ausbrechen kann. Dieser Schmerz ist aber keineswegs der Vorbote des nahenden Todes, sondern kann als produktive Spannung gedeutet werden.151 Streben und Negieren bzw. Streben und Verweisen fallen also, so können wir die Pointe formulieren, momenthaft zusammen: Es kommt zu einer gewissen Konvergenz von ursprünglicher Tat (πρᾶξις) und Schau (θεωρία), denn die Liebe, also unsere ursprüngliche, nicht 149 Wir sind im Scheitern so gewendet, dass wir geradezu ermächtigt sind, uns auf die Gehalte des Seins und die Bestimmungen zu wenden. Das Absolute, so könnte man es uneigentlich auch formulieren, fordert uns gewissermaßen dazu auf, uns der Ideentotalität zuzuwenden. Genauer gesagt wird der Geist im Abweis und durch diesen überhaupt erst ermächtigt, Ideen zu bilden. 150 In Anlehnung an den Kronos-Mythos deutet Plotin in Enn. V 8, 12, 3–7 den Geist als diejenige metaphysische Instanz, die die Ideen gebiert, aber nicht ›nach außen‹ in die Welt entlässt, sondern in sich birgt und bewahrt. Dass dieser Geburtsvorgang für den Geist ohne »Geburtsschmerz« vollzogen wird, bedeutet freilich nicht, dass es für den Geist keine ontologische Grundspannung gäbe: Denn der Geist strebt stets nach dem Einen, ja ist – freilich in seiner Spitze – das Streben selber (Enn. III 8, 11, 23–25). Und nur durch dieses produktive Hinspannen bringt der Geist überhaupt Ideen hervor. 151 Von einer »Spannung« kann schon Christian Tornau sprechen, weil er die Para­ doxie des Plotinischen ἔρως erkannt hat (»Eros versus Agape? Von Plotins Eros zu Augustins Liebesbegriff«. Philosophisches Jahrbuch 112 (2005), 271–291; hier 277– 278). Diese existiert sogar – so paradox sich diese Situation auch ausnehmen mag – im absoluten Geist, wodurch Tornau den produktiven Charakter der Liebe aufdeckt (ibid. 279). Diese glänzenden Beobachtungen können freilich noch präzisiert werden. S. dazu die folgende Argumentation. Und auf diesem Hintergrund wird es letztlich auch möglich sein, das sich schwierig gestaltende Verhältnis von Liebe und mystischer Einung noch einmal genauer zu beschreiben. S. dazu § 13.

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begrifflich fassliche Tat, und das Negieren, der theoretische Akt, sind beide nichts anderes als Verweise auf das Absolute. Die ursprüngliche Tätigkeit, die dynamisch Tat des liebenden Geistes, besteht in dem unauslöschlichen henologische Streben,152 wobei dieses Streben mit dem Akt des Negierens konvergiert, denn im Akt des transzendie­ renden Negierens wird das henologische Streben überhaupt erst aufgedeckt und vollzogen. In diesem Moment kommt es zugleich zum begrifflichen Scheitern am Absoluten, denn das Negieren aller Bestimmungen ist Ausdruck des Scheiterns des positiven Ideenden­ kens am Absoluten. Dieses Scheitern ist aber nicht privativ, sondern im Gegenteil gerade produktiv.153 Das Negieren kann vor diesem Hin­ 152 Wie bereits erwähnt bezeichnet Plotin die henologische Liebe als unendlich; Enn. VI 7, 32, 28: ἄπειρος […] ἔρως. S. dazu bes. § 10. 153 So schon Karl Jaspers über das Scheitern des Denkens am Umfassen der Trans­ zendenz nach Plotin; Die großen Philosophen. 3. Aufl. München: Pieper, 2018, bes. 695: »Diese spekulative Dialektik vollzieht im Scheitern der Aussage ein sinnvolles Scheitern. Der Sinn liegt einmal darin, den Raum zu öffnen für das, was allem Emp­ fangenwerden durch die Denkbarkeit sich entzieht, dann aber darin, die Denkbarkei­ ten selber so zu denken, daß wir zugleich von ihnen befreit werden, so daß wir die Neigung verlieren, im Gedachten ein Absolutes, ein Letztes, ein Unübersteigbares zu meinen.« Jaspers geht ferner davon aus, dass die Transzendenz »in einem Scheitern, das nicht einfach Misslingen ist, sich zeigt« (Die Chiffern der Transzendenz. Basel: Schwabe, 2011, 112). Zur Jaspers’ Transzendenzkonzept und der Produktivität des Scheiterns an der Transzendenz s. Tolga Ratzsch. »Zum Zusammenhang von Freiheit und Transzendenz in der Philosophie Karl Jaspers’«. In: Rodolphe Calin, Tobias Dangel und Roberto Vinco (Hg). Die Tradition der negativen Theologie in der deutschen und französischen Philosophie. Heidelberg: Winter, 2018, 89–111 und »Karl Jaspers’ Phi­ losophie als Begründung eines Glaubens an das Absolute«. In: Ermylos Plevrakis und Max Rohstock (Hg). Grundlegung des Absoluten? Paradigmen aus der Geschichte der Metaphysik. Heidelberg: Winter, 2019, 305–332; bes. 325–329. Ratzsch erarbeitet in seiner Dissertation, die soeben erst erschienen ist, den Zusammenhang der Plotini­ schen Henologie mit der Jaspers’schen Metaphysik von Transzendenz- und Grenzer­ fahrungen umfassend (Karl Jaspers und Plotin: Eine Untersuchung zu den Quellen von Jaspers’ Metaphysik der Transzendenz. Baden-Baden: Karl Alber, 2023). Zu seinem an die neuplatonische Tradition geradezu zwingend gemahnenden Transzendenzkonzept s. ferner Markus Enders. »Zum Ort der Einheits-Metaphysik im Denken von Karl Jaspers«. In: Jean-Marc Narbonne und Alfons Reckermann (Hg). Pensées de ›l’Un‹ dans l’histoire de la philosophie: Études en hommage au professeur Werner Beierwaltes. Paris: Vrin / St. Nicholas: Les Presses de l’Université Laval, 2004, 522–549 und Jens Halfwassen. »Karl Jaspers als Metaphysiker«. In: Christian König und Burkhard Non­ nenmacher (Hg). Gott und Denken: Zeitgenössische und klassische Positionen zu zen­ tralen Fragen ihrer Verhältnisbestimmung. Tübingen: Mohr Siebeck, 2020, 417–433. – Eine für die Metaphysik durchaus beunruhigende Alternative gegenüber dieser Deutung scheint mir von Anton F. Koch vorgelegt worden zu sein (Versuch über

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tergrund nämlich als Einheits- und Disjunktionspunkt der Plotinischen Metaphysik gefasst werden. Kommt es zur oben angesprochenen Konvergenz von Streben und Negieren, dann vollziehen wir – so paradox dies klingen mag – die protologische Ahnung, weil wir diese im Negieren herauspräpa­ riert – oder genauer: weil wir uns in diese hinein versenkt haben. In diesem Vollzug erfahren wir, gerade weil wir das Streben durch das Negieren rein vollziehen, das Scheitern am Absoluten. Durch das Scheitern wird dem Denken und uns Einheit verliehen, weil wir in der Analyse des reinen Denkens die Grenzen desselben vollständig ›ausgelotet‹ und somit erfahren haben.154 Gerade darin wird zugleich auch die Differenz zwischen dem Denken und dem Einen auf den Begriff gebracht und damit gesetzt: Der Geist unterscheidet oder disjungiert sich im Scheitern am Absoluten vom Absoluten und setzt so beides: sich selbst einerseits und das Absolute als Unerreichbares andererseits. Durch das Negieren kommt es letztlich zur höchsten zweifelsfreien Einsicht,155 in der sich – mit Nicolaus Cusanus gespro­ chen – wissendes Nichtwissen156 generiert. Im Negieren oder im Nichtwissen »erscheinen« bei genauer Betrachtung gleich mehrere Einsichten »plötzlich« (ἐξαίφνης).157 Die zwei meiner Ansicht nach wichtigsten Einsichten sind folgende: (i) Durch das Scheitern erfahren wir die Unerreichbarkeit des Absoluten. Dieses kann nur noch negativ, also im Nichtwissen, Wahrheit und Zeit. Paderborn: Mentis, 2006, bes. 283–309). Damit wäre gezeigt, dass die hier vorgelegte Deutung nicht einfach als alternativlos gelten kann. 154 Plotin antizipiert hiermit eine Grundformel aus dem Corpus Dionysiacum; De div. nom. II § 9; CD I, p. 134, lin. 1–2: »οὐ μόνον μαθὼν, ἀλλὰ καὶ παθὼν«. Das Göttliche soll nicht nur als Transzendenz gewusst, sondern auch als solche erfahren werden: Zu dieser Erfahrung, die zugleich höchstes Einsehen ist, s. § 12 und, zu Proklos, § 19. Zu Dionysios’ Transformation der Plotinisch-Proklischen Henologie s. § 24–26. – Vgl. dazu auch die Analyse von Alexander J. Mazur. Dieser geht von einem aktiven und einem passiven Moment des »liebenden Geistes« aus (The Platonizing Sethian Back­ ground of Plotinus’s Mysticism. Revised Edition by Bylan M. Burns, with Kevon Cor­ rigan, Ivan Miroshnikov, Tuomas Rasimus, and John D. Turner. Leiden/Boston: Brill, 2020, 135). Jedenfalls sollte von einer henologischen Ausrichtung gesprochen wer­ den, die zugleich höchste Erfahrung ist: Der »liebende Geist« ist die Koinzidenz von Ausrichtung und Erfahrung. 155 Diese Zweifelsfreiheit ist keine bloße Ideenschau, sondern henologische Perspek­ tivität. In dieser sind wir nicht nur von Irrtümern befreit. Wir erlangen – oder eher: leben – darin vollendetes Selbstvertrauen. 156 Vgl. Halfwassen: Der Aufstieg zum Einen, 225–226. 157 Vgl. Enn. VI 7, 34, 13 mit ibid. 25–27.

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1) Plotin und der »liebende Geist«

gedacht werden: Das Absolute zeigt sich durch das Nichtwissen bzw. durch das Negieren als Unbegreifbarkeit. Im unscheinbar wirkenden Begriff ›als‹ wird erkennbar, dass uns das Unbegreifliche im Bild, also als Unbegreifliches, mitgeteilt wird. Im ›als‹ wird dokumentiert, dass wir nicht das Absolute selbst, sondern dessen Bild, das gerade nicht das Absolute ist, erreicht haben. Das ›als‹ indiziert also unsere Entzweiung vom Absoluten.158 (ii) Die Faktizität, dass das Denken in der unüberschreitbaren Verweisstruktur verharrt, hat eine weitere entscheidende Pointe. Das angesprochene Nichtwissen ist wesentlich für die Genese des Selbstbewusstseins. Im geradezu existenziellen Akt des Scheiterns159 wird das Denken gewissermaßen auf sich selbst zurückgeworfen, und genau dadurch wird sich das Denken seiner eigenen Grenzen vollkommen bewusst.160 Es wird sich bewusst, dass es selbst nicht das Absolute ist, wodurch jede Form idealistischer Hybris, in der das Denken die Würde des Absoluten usurpiert, getilgt wird. Daher ist ein vollendetes Selbstbewusstsein, das sich selber bescheidet, nur im Scheitern des Denkens zu erreichen, das wir vor diesem Hintergrund auch als transformative Erfahrung beschreiben können. Das Absolute selbst wird also im Nichtwissen nicht erfasst und ist daher kein Objekt des Denkens. Im Negieren kommt es vielmehr zu einer ›Ersatzobjektivierung‹, also zur Begriffsbildung – oder genauer: zur Genese des Ideenwissens.161 Mithin handelt es sich beim transzendierenden Negationsakt um eine Bezugsform, in der sich der Akteur, der absolute Geist, selbst zu seinem eigenen Objekt macht, worin unschwer der genetische Punkt des Selbstbewusstseins zu sehen ist. Und erst im Vollzug dieses Scheiterns wird die Seele in den Geist verwandelt; und zwar kraft162 des Absoluten – oder genauer:

Allerdings können hierbei noch Präzisierungen vorgenommen werden. Dazu und zum komplexen Bildbegriff Plotins s. unten, § 12, zu Proklos § 18–19 und zu Fichte Kap. IV.2, bes. § 47. 159 Die Ausdeutung der existenziellen Dimension des produktiven Scheiterns geschieht insbesondere durch Karl Jaspers. Plotin hat also – wie auch später Proklos – die existenzielle Dimension der Grenzerfahrung fraglos vorgeprägt. 160 Enn. VI 7, 17, 14–16. 161 S. dazu noch einmal Enn. V 2, 1, 7–14; bes. 11–14. Vgl. Halfwassen: Plotin und der Neuplatonismus, 93–97. 162 Gemeint ist hiermit die δύναμις πάντων. S. dazu § 11. 158

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II) Die neuplatonische »Henophanie«

kraft der Einheitsperspektive: Allein diese Kraft bedingt die Einheit von Geist und Seele.163 Indem also die Seele mit dem Geist das Streben ›zum‹ und das Scheitern ›am‹ Absoluten vollzieht, ist ihre Reintegration in den Geist geglückt. Vor diesem Hintergrund lässt sich vermuten, dass die nicht abgestiegene Seelenspitze nichts anderes als das lie­ bende, henologische Streben ist, dessen wir uns aber erst bewusst werden müssen.164 Erst wenn der Seele dieses ihr selbst immanente Streben als Einheits- und Disjunktionspunkt bewusst wird, ist ihre Reintegration in den Geist erfolgt. Das Verweisen wiederum, das aus unserem Einheitsbedürfnis erwächst und das in der Tat paradoxe Konsequenzen zeitigt, ist für die Seele als Seele und die Seele als Geist unübersteigbar. Sofern wir Seele oder Geist sind, bleiben wir im Verweisen und mithin im Spannungsfeld des Voraussetzens gefan­ gen.165 Genau darin sind wir – mit Fichte formuliert – stets auf unsere unaustilgbare Grundform, also unsere Subjektivität, geworfen.166 Und in diesem Verweis generieren sich erst intellektuelle Anschauung und vollendetes Selbstbewusstsein:167 Wir kennen die Grenzen des 163 Enn. VI 7, 35, 34–38. Dasein und Leben hat der Geist auch nur durch seine Ausrichtung auf das Eine (Enn. V 3, 16, 35–39). 164 Dadurch geht uns die Seelenspitze als unser ›Letztes‹, weil sie gerade innerstes oder höchstes Moment ist, auf: Das »Erste des Geistes« ist das letzte Moment der Seele, in dem ihre Reintegration in den Geist glückt. 165 Hieran wird Proklos festhalten, auch wenn er keine Reintegration der Seele in den Geist lehrt. Nichtsdestoweniger vollziehen für ihn Seele und Geist den höchsten Akt, also das henologische Streben. Und dieses avanciert so zur Bedingung der Möglichkeit aller Differenzierungen: S. § 18–19 und § 21–23. 166 GA I/9, p. 103. Dazu bes. Kap. IV.2. 167 Die wahre νόησις, die intellektuelle Anschauung Plotins, hat in sich selber, wie noch einmal betont werden sollte, die Liebe als primäres Moment. Ohne diese wäre die νόησις nicht Denken, sodass das Denken im henologischen Lieben bzw. Fühlen grün­ det und durch das henologische Lieben bzw. Fühlen bedingt ist. Ich plädiere also dafür, νόησις und intellektuelle Anschauung an das Fühlen – oder auch: Gewahren – zu knüpfen und es als erstes Moment der νόησις auszuweisen. Das Gewahren gehört damit dem »seienden Einen« an, ist aber als dessen Spitze das Fundament, durch das der Geist ursprünglich getragen wird. Liebe und Denken bilden eine Einheit, wobei ihr Verhältnis asymmetrisch ist. Das Denken vermag aber die – um einen passenden Ausdruck aus der Habilitationsschrift Gunnar Hindrichs zu entlehnen – »Hohlstelle im Gängigen« (Das Absolute und das Subjekt: Untersuchungen zum Verhältnis von Metaphysik und Nachmetaphysik. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 2008, 13), also im Denken, aufzudecken. So kann es das absolute Fühlen entdecken. Das Fühlen wird zwar aufgedeckt, womit sich die Forderung nach Einsicht und Un-Ver­ borgenheit (a-letheia) vollendet. Aber dadurch umgreift das Denken die Liebe nicht,

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1) Plotin und der »liebende Geist«

Denkens, haben diese vollständig ausgelotet und so die DelphischSokratische Forderung, »Erkenne dich selbst«, abschließend erfüllt.168 Diese Genese vollendeter Selbsterkenntnis ist wiederum, darauf sei mit Betonung hingewiesen, nur im Transzendieren möglich. Die Seele reintegriert sich also nicht dadurch in den Geist, dass sie sich auf die­ sen bezieht, sondern indem sie die ursprüngliche Tätigkeit des Geistes zusammen mit diesem und ununterschieden von diesem vollzieht. Diese zwei Aspekte – (i) die Einsicht in die Unbegreifbarkeit des Absoluten und (ii) die Einsicht in die Genese und den Bildcha­ rakter absoluten Selbstbewusstseins – lassen sich unter dem Begriff einer genuin philosophischen Evidenzerfahrung subsumieren.169 Diese Aspekte leuchten uns unter der Bedingung der Negation aller Bestim­ mungen plötzlich ein – oder genauer: Wir sehen ein, dass unter der Bedingung des Vollzugs dieser Negationen uns letztlich plötzlich das vermutlich vom Absoluten ausströmende Licht erhellt. Dadurch sind wir vom Absoluten begeistert.170 Diese Begeisterung ist kein irrationaler Glaube, kein bloß subjektives Empfinden, sondern durch die Philosophie vorbereitet und einsichtig gemacht worden. Im Kon­ vergenzpunkt von ursprünglicher Tat und negativer Schau, also von Praxis und Theorie, von Leben und Erfahrung einerseits und von negativ-produktiver Schau andererseits, ist der eigentliche Einheitsund Disjunktionspunkt der Plotinischen Metaphysik zu Bewusstsein gebracht, wodurch sich die Seele in den Geist allein reintegriert, weil der νοῦς nur so als dasjenige Moment begreifbar gemacht werden kann, das nicht selber das Absolute ist.171 so als ob es diese dominieren könnte. Dieser letzte Aspekt lässt auch den Schluss zu, dass eine Philosophie, der das Konzept der Transzendenz fehlt, wohl auch kein Mittel zur Mäßigung besitzt. Das Denken droht nämlich, sich selber als Absolutes zu ver­ stehen. Vgl. dazu auch Proklos’ (§ 19) und Fichtes (§ 48) Ausführungen, in denen sie einer Besonnenheit das Wort reden. 168 Auch unsere höchste Freiheit realisiert sich im henologischen Streben (Enn. VI 8, 7, 1–2). Es liegt durchaus in unserer Kraft, Freiheit zu realisieren. Plotin nennt dieses Vermögen τὸ ἐφ᾽ ἡμῖν (Enn. VI 8; etwa 1, 21–22). Dieses Vermögen wird uns freilich verliehen, insofern wir ermächtigt werden, bestimmte Vollzüge zu realisieren. 169 Zum Konzept philosophischer Evidenzerfahrung s. auch die detaillierte Studie Roberto Vincos. Elemente einer Evidenzmetaphysik: Eine geschichtsphilosophische Stu­ die. Tübingen: Mohr Siebeck, 2021. 170 Enn. V 3, 14, 8–13. Der Geist ist »Trunken vom Nektar« (Enn. VI 7, 35, 25). Vgl. dazu Proklos’ Begriff begeisterter Gottbesessenheit (ἐνθουσιασμός): § 18–20. 171 Diese Deutung hat auch weitreichende Konsequenzen für die sog. unio mystica, die Einung mit dem Absoluten. S. dazu unten, § 13.

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II) Die neuplatonische »Henophanie«

§ 10) Der Einheits- und Disjunktionspunkt als henologisches Hin(auf)spannen Sollte aber, so müssen wir nun kritisch fragen, nicht das Eine selbst das Prinzip aller Bestimmungen sein? Und droht durch das Streben nicht ein ›zweites‹ Absolutes eingeführt zu werden?172 Ich möchte diesen drängenden Fragen nachgehen, indem ich zunächst einen kurzen Blick auf die Plotindeutung Markus Gabriels werfe: In seiner Habilitati­ onsschrift will Gabriel (u.a.) der Prinzipfunktion des Einen auf die Spur kommen. Im Anschluss an die Arbeiten Werner Beierwaltes’ und vor dem Hintergrund der sog. Freiheitsschrift Plotins (Enn. VI 8) deutet er das Absolute als »Vollzug ohne Sein«173, als »reine Perfor­ mativität« und so als »absolute schöpferische Tätigkeit«.174 Gabriel will offenbar dem Absoluten eine kausal wirkende Kraft in einem nicht-kategorialen Sinne zuschreiben, womit er sich natürlich auf die eine oder andere Aussage Plotins berufen kann. Solche Aussagen sind aber, wie auch die Deutung des Absoluten als δύναμις πάντων,175 alles andere als unproblematisch. So müssen wir an Gabriel – und natürlich Man kann auch fragen: Welche Funktion kann das Absolute noch erfüllen? S. dazu auch § 12. 173 Bereits Jean-Luc Marion hat – freilich im Hinblick auf Thomas von Aquin – von einem »Gott ohne Sein« gesprochen (Gott ohne Sein. Übers. von Alwin Letzkus. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Karlheinz Ruhstorfer. Paderborn et al.: Schöningh, 32014). Für ihn ist das absolute ›Sein‹ gegenüber der Ontologie zu transzendieren. Er spricht daher von einem reinen Seinsakt bzw. einem »esse ohne Sein« (ibid. 355). 174 Skeptizismus und Idealismus, 305 und 274; vgl. auch 293–295. Beierwaltes wiederum hatte versucht, dem Absoluten Plotins eine reine, ent-substanzialisierte und ent-kategorialisierte Tätigkeit zu unterstellen, obwohl er die Radikalität der negativen Theologie natürlich ebenfalls gesehen und betont hat. Indiz für Beierwaltes ist auch Proklos’ Kritik an Plotins causa-sui-Lehre, die dieser angeblich im Hinblick auf das Eine selbst vertreten haben soll (Das wahre Selbst, 123–159 und 160–181. Vgl. schon Denken des Einen, 38–72; hier bes. 44–45). Vgl. auch Jean-Marc Narbonne. La métaphysique de Plotin. Paris: Vrin, 1994, bes. 27–34, worin Narbonne eine Deutung von Enn. VI 8 vorträgt, die derjenigen von Beierwaltes äußerst nahe kommt: Er fasst das Absolute als Akt oder als »ent-substanzialisierte« (dé-substantialisée; ibid. 33) produktive Kraft. Darin folgt ihm Agnès Pigler, wenn sie die Liebe als produktive Kraft des Absoluten selber deutet (Plotin – une métaphjysique de l’amour, 45–54). Dass diese Kraft dem Absoluten selbst im eigentlichen Sinne nicht zukommen kann, wenn wir die negative Theologie Plotins ernst nehmen, wird sich im weiteren Verlauf zeigen. 175 Zu diesem wichtigen Begriff s. unten, § 11. Dieser Begriff, der eine aktive Urkraft und keine passive Möglichkeit meint, steht freilich ohnehin im Zentrum der vorlie­ genden Arbeit. 172

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1) Plotin und der »liebende Geist«

auch an Plotin – folgende Rückfragen stellen: Sollen unsere Begriffe vom Absoluten als Verweise verstanden werden, die die von uns (noch) nicht entdeckten Wesensmerkmale des Absoluten aufdecken sollen? Wenn es aber opake Wesensmerkmale des Absoluten gibt, wird dann nicht die vollkommene Transzendenz des Einen und seine reine, unaufschließbare Einheit aufgebrochen, diminuiert oder infrage gestellt? Müsste die Annahme, das Absolute sei ent-kategorialisierter und ent-ontologisierter actus purus bzw. reiner Selbstbezug, nicht das Absolute zu einem Urbild transformieren, dessen Tat uns in seinem Abbild, vorzugsweise in der Reflexivität des Geistes, illustriert wird? Droht dadurch aber nicht die Identifikation des Plotinischen Absoluten mit dem reinen Seinsakt Eckhartscher Prägung einerseits oder dem dynamisch konzipierten Absoluten bei Johannes Eriugena oder Nicolaus Cusanus andererseits? Und inwiefern kann sich der Geist, wenn das Absolute als die uns in Begriffen illustrierte absolute Kreativität verstanden werden soll, noch selber im Hinstehen auf das Eine setzen? Wird nicht gerade die Produktivität des Transzendenzbe­ zuges, die sich als wesentliches Grundmotiv nicht nur des Plotinischen Neuplatonismus aufdecken lässt, außer Acht gelassen? Schließlich stellt sich – abgesehen von diesen systematischen Problemen – die Frage, ob Gabriels sicherlich inspirierendes Spiel mit Konzepten und Begriffen aus unterschiedlichen philosophischen Kontexten nicht seine Plotindeutung zuweilen eher verwirrt als klärt: Wie nämlich lässt sich die von ihm im Sinne der »Distinktionsdimension«176 verstandene »Andersheit«,177 die eben nicht das Absolute selber sein Der Begriff stammt von Wolfram Hogrebe (Echo des Nichtwissens, 163, 317–318 und 339), an dem sich Markus Gabriel hier offenbar orientiert. Ausführlicher werden wir uns mit dem Begriff der »Distinktionsdimension« weiter unten beschäftigen (s. § 11). Dieser ›tragende Horizont‹ – um diese Dimension noch einmal anders zu benennen – wird uns im weiteren Verlauf der vorliegenden Arbeit immer wieder begegnen, denn er ist bestens geeignet, um die entscheidende Zentralfunktion zu beschreiben, die in allen hier behandelten Systemen die tragende Rolle spielt. Zu Pro­ klos s. Kap. II.2, bes. § 21–23, zu Eriugena § 30, zu Cusanus § 34 und zu Fichte Kap. IV.2, bes. § 46. – Es sei hier vermerkt, dass Plotin sich nicht immer ganz eindeutig dazu äußert, ob nun dem Streben oder doch dem Absoluten diese tragende Funktion zukommt. Dieses Problem ist freilich – wobei ich mir hier über die Gefahr im Klaren bin, meine eigene negativ-theologische These zu unterminieren – genau dann schlicht unerheblich, wenn es nur darum geht, die Grundfunktion, also das tragende Funda­ ment, der Plotinischen Metaphysik als solche aufzudecken: Im Denken Plotins existiert eine solche Funktion also fraglos, nur ist ihr metaphysischer Ort nicht ganz eindeutig. 177 Gabriel: Skeptizismus und Idealismus, 229–230. 176

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II) Die neuplatonische »Henophanie«

soll, von jener reinen »Performativität« unterscheiden, die Gabriel im Anschluss an Plotins Freiheitsschrift als Akt des Absoluten selber deutet?178 Sicherlich wäre die Deutung des Absoluten als absoluter Akt vor dem Hintergrund des hier angestrebten Vergleichs der Plotinischen Henologie mit der Fichteschen Metaphysik höchst willkommen. Denn das Absolute kann bei Fichte als Tathandlung, also im Sinne des reinen Seinsaktes, begriffen werden.179 Plotin aber ist bezüglich einer Aktivität des Absoluten eher kritisch eingestellt: Das Absolute strebt nicht180 und denkt nicht181. Zwar sind Liebe oder Streben sicherlich selber schon vor dem Geist und daher nicht mehr mit dem positiven Ideendenken zu erfassen. Gleichwohl sind sie Momente des Geistes und daher keine (vermeintlich opaken) Merkmale des Absoluten. Das Absolute selber als reines Vollziehen zu deuten, droht das Absolute als abbildbares Urbild zu fassen – und diese Gefahr lässt sich auch nicht mit dem Hinweis auf den sog. οἷον-Vorbehalt bannen.182 Vor diesem Hintergrund plädiere ich dafür, die negative Theologie Plotins ernst zu nehmen.183 Es ist daher wahrscheinlich, dass Plotin ein Konzept entwor­ fen hat, das für die weitere Entwicklung des Neuplatonismus auch über dessen spätantike Form hinaus eine tragende Rolle spielte, und Gabriel: Skeptizismus und Idealismus, 305. S. dazu Kap. IV. 180 Enn. III 8, 11, 24–25. 181 Etwa Enn. VI 9, 6, 40–58. Enn. VI 7, 37–42. Vgl. dazu den erhellenden Kommentar von Pierre Hadot (Traité 38: VI, 7, 346–367), in dem dieser darum bemüht ist, Plotins Korrektur an der Aristotelischen Metaphysik hervorzuheben: Anders als Gott bei Aristoteles denkt das Absolute Plotins gerade nicht. 182 Beierwaltes: Denken des Einen, 44–45 und bes. Das wahre Selbst, 126–128. S. dazu die weiteren Ausführungen zu Plotins Bildbegriff in § 12. Interessant ist die These von Georges Leroux: Zunächst einmal hebt er völlig zu Recht die Einzigartigkeit der in Enn. VI 8 geäußerten These, das Absolute sei an ihm selber Tätigkeit, innerhalb des Plotinischen Œuvres hervor (Traité sur la liberté et la volonté de l’Un: Ennéade VI 8 [39]. Introduction, texte grec, traduction et commentaire par Georges Leroux. Paris: Vrin, 1990, 389). Vor diesem Hintergrund versteht er die Zuschreibung, das Absolute sei Tat, im Sinne einer »fiction« (ibid. 358–361; hier 358). Denn man habe zu beden­ ken, dass die Aussage, das Absolute sei selber tätig, nicht im eigentlichen Sinne gemeint sein könne. Das οἷον wirkt also durchaus einschränkend (Hans-Rudolf Schwyzer. »›Bewusst‹ und ›Unbewusst‹ bei Plotin«. In: Les sources de Plotin. Genève: Hardt, 1960, 343–378; hier 374). 183 Was aber passiert im metaphysischen System Plotins, wenn wir die negative Theologie ernst nehmen? Dieser Frage gehen die folgenden Erörterungen nach. 178

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1) Plotin und der »liebende Geist«

von Proklos grundlegend durchdacht wurde. Die Rede ist von dem Konzept des »Einen in uns«, durch das Proklos die Genese von Sein und Denken auf eine neue Grundlage gestellt hat. Dass Plotin diesen Gedanken in seinen Grundzügen vorweggenommen hat, ist schon durch die oben explizierte Genese des Selbstbewusstseins in einer genuin philosophischen Evidenzerfahrung plausibel gemacht worden. Und deswegen konnte bereits oben die Vermutung geäußert werden, dass der »liebende Geist« sachlich gesehen dem »Einen in uns« entspricht. Die Systematik der Plotinischen Grundzüge kann im Folgenden wie folgt demonstriert werden: Zusammen entfalten die uranfängliche Ahnung, das uns natür­ lich inhärierende Streben, das sich zunehmend vereinfachende und vereinheitlichende Verweisen, das vollumfängliche Negieren als Rea­ lisierung der henologischen Perspektivität und das sich darin aus­ drückende Scheitern am Absoluten, wie gesehen, eine produktive Bedeutung. Vor diesem Hintergrund können alle diese Momente zur Einheitsperspektive kontrahiert und als Einheits- und Disjunktions­ punkt der Plotinischen Metaphysik zusammengefasst werden. Der »liebende Geist«, also der Inbegriff der genannten Momente, ist, wie bereits erwähnt, eine uns zunächst nicht bewusste Ur-Tat, die uns erst im oben genannten Konvergenzpunkt zu Bewusstsein gebracht wird: Aber auch, wenn wir uns nicht darüber bewusst sind, dass uns das henologische Streben durchwirkt, sind wir durch dieses bestimmt. Wir könnten es sicherlich unterlassen, dieser uns inhärierenden Kraft nachzuspüren und würden dennoch von dieser getragen. Denn unser dianoetisches Denken ist unmittelbar auf den Einheitsvorgriff ange­ wiesen, über den die Seele als Seele – und anders als der absolute Geist – auch im Unwissen oder im Zweifel sein kann. Anders als die Seele ist sich der Geist aufgrund seiner überzeitlichen Struktur immer über seine Verwurzelung in der henologischen Liebe bewusst. Während sich der Geist stets seiner Wurzeln bewusst ist, ist die uns und allen Seelen inhärierende Ahnung als Aufforderung zu verstehen, unseren Wurzeln nachzuspüren. Die Ahnung avanciert – ganz im Sinne Fichtes – zum Sollen. Und erst dann, wenn wir dieses Soll in Freiheit annehmen – denn wir müssen dem inneren Ruf nach Selbsterkenntnis nicht notwendigerweise nachgeben –, kann die Vereinigung der Seele

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II) Die neuplatonische »Henophanie«

mit dem Geist – über die Einnahme henologischer Perspektivität – realisiert werden.184 Dass uns das Ahnen oder Streben nicht immer bewusst ist, verweist nicht etwa allein darauf, dass wir es noch nicht als das tragende Fundament von Denken und Sein begriffen haben. Es soll uns vielmehr deutlich werden, dass dieses unhintergehbare Funda­ ment dem Bewusstsein im Grunde stets ›im Rücken‹ liegt und daher nichts anderes als der genetische Punkt von Sein, Denken und voll­ kommenem Selbstbewusstsein ist. Selbst der Geist, dem als reines Denken nichts verborgen bleibt, akzeptiert, wie bereits erwähnt, das henologische Streben als vor-geistigen Akt, als Grundstimmung aller Denkakte und als Fundament absoluten Selbstbewusstseins.185 Man darf daher die These formulieren, dass dieses vor-bewusste Streben bei Plotin als einheitsstiftende Kraft, ja als prä-reflexives, oder eher: über-reflexives, fundierendes Vor-Durchdenken des Seienden, und mithin als Prinzip verstanden werden kann.186 Unproblematisch ist diese These freilich nicht. Besonders drin­ gend ist die bereits gestellte Frage, ob mit der Einführung des Strebens als Prinzip nicht ein ›zweites‹ Absolutes gefunden ist. Trotz seiner herausragenden Bedeutung usurpiert aber das Streben nicht die Rolle des Absoluten. Denn ohne das Konzept vollkommener Transzendenz wäre das henologische Streben gar nicht sinnvoll explizierbar: Die Liebe könnte also ohne ihren Transzendenzbezug nicht das tragende Fundament von Sein und Bewusstsein sein, weil sie ohne diesen Bezug kein Akt, ja im Grunde gar nichts wäre. Unsere Annahme des Absoluten als Transzendenz, ultimatives ἐφετόν und Fluchtpunkt des Denkens ist, wie oben bereits gezeigt wurde, notwendig und hält oder fundiert daher das Streben, wodurch dieses erst seine ihm eigene einheitsstiftende und ur-dynamische Macht erhält. Vor dem 184 Die Wahlfreiheit, so hat Hans J. Krämer festgestellt, bedingt die höchste Freiheit, die er als Seinsfreiheit bezeichnet, nicht – vielmehr ist es genau umgekehrt (»Die Grundlegung des Freiheitsbegriffs in der Antike«. In: Josef Simon (Hg). Freiheit: Theoretische und praktische Aspekte des Problems. Freiburg im Breisgau/München: Alber, 1977, 239–270; hier 269–270). Die Annahme der Aufforderung »ermög­ lich[t]« (Hervorh. Roh.) aber den Durchbruch zur höchsten uns möglichen Freiheit. Diese besteht (auch für den absoluten Geist) darin, sich freiwillig dem Absoluten unterzuordnen. Dieser letzte Gedanke wurde aber erst von Proklos, freilich im Rück­ griff auf Platon, ausgedeutet. S. dazu § 18. 185 Vgl. Enn. III 8, 9, 29–32. 186 Der Einheitsrück- oder vorgriff ›ist‹ die Ur-Kraft; und durch diese – nicht durch das Eine selber – setzt sich der Geist als Geist.

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1) Plotin und der »liebende Geist«

Hintergrund der vollkommenen Transzendenz ist das Streben nichts anderes als die Urrelation oder die ursprüngliche Relationierung, die den Horizont des Erscheinenkönnens aufbricht, durch den auch der Unterschied von Geist und Einem (im Begriff) gesetzt wird. Das Stre­ ben avanciert so zum unauslöschlichen Urmomentum: Weil das Absolute reine Einheit ›ist‹, kann das Streben als Streben niemals ankommen oder aufhören. Daher spricht Plotin – wie im Übrigen auch Proklos – davon, dass die henologische Liebe unendlich und also unauslöschlich oder unaustilgbar ist.187 Ohne die (notwendige) Annahme einer im Grunde unaufschließbaren reinen Einheit wäre das Streben nicht als permanentes Überschreiten, als unauslöschliches Hinauf- oder Hinspannen über Sein und Denken hinaus etabliert. Doch gerade in diesem dauerhaften Hinspannen entwickelt sich die protologische, nicht positiv artikulierbare, nicht durch konkrete For­ men gebundene oder durch Begriffe gebannte oder überhaupt durch Begriffe zu bannende erotische Grundspannung, aus der alle Formen und Bestimmungen heraus bedingt werden. Diese Spannung ist näm­ lich reine Kraft (δύναμις), ja gewissermaßen ›Motor‹ aller ontischen und logischen Bewegungsakte. Das Streben konstruiert Plotin also auf der Grundlage der notwendigen und natürlichen Absolutheitsaus­ richtung als Konzept protologischer Ur-Kraft.

§ 11) Die Urkraft: δύναμις πάντων Diese sich als Streben zu erkennen gebende Urkraft ist im Grunde nichts anderes als die Plotinische Modifikation der sog. unbestimm­ ten Zweiheit188, die das zweite Prinzip der Platonischen Metaphysik zu sein scheint. Speusipp machte im Hinblick auf die Prinzipfunktion absoluter Einheit einerseits und der unbestimmten Zweiheit anderer­ seits folgende treffende Bemerkung:

Enn. VI 7, 32, 24–28: »καὶ μήν, ὅτου ἂν ποθεινοῦ ὄντος μήτε σχῆμα μήτε μορφὴν ἔχοις λαβεῖν, ποθεινότατον καὶ ἐρασμιώτατον ἂν εἴη, καὶ ὁ ἔρως ἂν ἄμετρος εἴη. οὐ γὰρ ὥρισται ἐνταῦθα ὁ ἔρως, ὅτι μηδὲ τὸ ἐρώμενον, ἀλλ᾽ ἄπειρος ἂν εἴη ὁ τούτου ἔρως«. 188 Zur ἀόριστος δυάς Platons s. überblickend Halfwassen: Auf den Spuren des Einen, 109–131. Zu Plotins Modifikation s. bes. Halfwassen: Auf den Spuren des Einen, 149–164. Vgl. dazu Evangelia Varessis. Die Andersheit bei Plotin. Stuttgart/Leipzig: Teubner, 1995. 187

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II) Die neuplatonische »Henophanie«

»Sie [scil. die ›Alten‹ und bes. Platon189] glauben nämlich, das Eine selbst sei über das Sein erhaben und das, von dem das Sein herkomme. So haben sie es sogar von der Verhältnisbestimmung als Ursprung befreit. Weil sie aber meinen, dass nichts von allem entstünde, wenn man (nur) das Eine selbst, allein in sich selbst betrachtet, ohne alle weiteren Bestimmungen, rein an ihm selbst zugrundgelegt, ohne ihm ein zweites Element hinzuzusetzen, darum haben Sie (auch) die unbestimmte Zweiheit als Urgrund der Seienden eingeführt.«190

Plotin spricht auffällig wenig über die unbestimmte Zweiheit. Das hängt wohl vor allem daran, dass er diese durch das henologisch Streben des »liebenden Geistes« markant umgedeutet hat: Weil die unbestimmte Zweiheit in das Konzept des henologischen Strebens transformiert wird, wird ihr Epitheton, die Unbestimmtheit, genauer gefasst. Es handelt sich nämlich nicht um eine privative Unterbe­ stimmtheit. Und ebensowenig kann dieses Streben als bloße Poten­ tialität gedeutet werden.191 Weil das Streben selber reine Einheitsper­ spektivität ist, ist es nicht einfach unbestimmt, aber freilich auch nicht konkret, sondern eher reine Luzidität oder Durchsichtigkeit. Gerade aufgrund seiner Reinheit und unablenkbaren Einheitsausrichtung vermag das Streben jeder Bestimmung, die daran partizipiert, Einheit

189 Nach Jens Halfwassen (»Proklos über die Transzendenz des Einen bei Platon«. In: Matthias Perkams und Rosa M. Piccione (Hg). Proklos: Methode, Seelenlehre, Metaphysik. Leiden/Boston: Brill, 2006, 363–383; hier 381 [jetzt auch in Auf den Spuren des Einen, 165–183]) meint Speusipp mit diesen »Alten« wohl die Pythagoreer, wobei Proklos diese Aussage offenbar auf Platon bezieht. 190 Proklos: In Parm. VII p. 501, lin. 3–9: »Le unum enim melius ente putantes et a quo le ens et ab ea que secundum principium habitudine ipsum liberaverunt. Existi­ mantes autem auod, si quis le unum ipsum seorsum et solum meditatum sine aliis secundum se ipsum ponat, nullum alterum elementum ipsi apponens, nichil utique fiet aliorum, interminabilem dualitatem entium principium induxerunt.« Übers. nach Halfwassen: Auf den Spuren des Einen, 180 mit kleineren Änderungen von mir. – Proklos wird die unbestimmte Zweiheit ebenfalls transformieren, und zwar zum Kon­ zept des »Einen in uns« bzw. zum Konzept der Henaden, die die Einheit von Grenze und überbestimmter Kraft sind: S. unten, § 19 und § 21–23. 191 Das henologische Streben ist reine Kraft, während die schiere Möglichkeit für Plo­ tin die Materie zu sein scheint. S. dazu die folgende Argumentation, inkl. Anm. 194. – Der reine Vollzug des henologischen Strebens ist nur für den absoluten Geist schlechthin wirklich. Für die vor die Wahl gestellten Seelen ist dieser Vollzug möglich, nicht aber immer auch im Vollsinne aktualisiert. Obwohl also das Streben alles Sein und Denken trägt, muss die Seele dieses Fundament erst aufdecken.

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1) Plotin und der »liebende Geist«

zu verleihen: Es ›ist‹192 das partizipierbare Eine und daher durchaus die Einheitskraft schlechthin. Damit rückt sie ganz unzweideutig in die Nähe des intelligiblen Lichtes der Politeia.193 Wir können also konstatieren, dass das Streben nichts anderes als die vollendet realisierte henologische Ausrichtung ist. Darin ist ein Irren oder Fehlgehen freilich unmöglich geworden. Weil durch die Entdeckung des Strebens und transzendierenden Negierens der einzig mögliche Weg aufgedeckt ist, werden alle anderen philosophischen Wege, etwa der Skeptizismus, der Materialismus, der Nihilismus, ja sogar ein einseitiger Idealismus, der sich selber und nicht die Transzendenz als das Absolute versteht, als unfruchtbare Aporien verabschiedet. Das absolute Streben avanciert also aufgrund seiner reinen henologischen Perspektivität, aus der es, insofern es Streben ist, nicht herausfällt, sondern darin ganz in sich ist und bleibt, zur höchsten und eigentlichen Evidenz oder Zweifelsfreiheit. Und dieses Streben wird gerade so zur einzig möglichen Einheitserfahrung im Sinne der de-finierenden Grenzerfahrung schlechthin, weil das Stre­ ben nichts anderes als produktives Scheitern ist. In dieser letzten Bedeutung ist die reine Einheitshinsicht der Einheits- und Disjunkti­ onspunkt für begriffliches Denken und Wissen – und zwar sowohl für das dianoetische Denken als auch für das reine Denken des absoluten Geistes. Und in diesem Sinne verleiht das Streben allem Wissen und Denken Einheit und innere Geschlossenheit. Diese Einheit verleihende Kraft des Strebens kennzeichnet Plotin vorzugsweise mit dem Begriff δύναμις πάντων, der »Mächtigkeit zu allem«.194 Sie ist, um es noch einmal explizit hervorzuheben, die 192 ›Ist‹ muss hier in Anführungszeichen gesetzt werden, weil das Streben selber schon vor dem Sein in einer Weise ›besteht‹, die nicht mehr positiv begriffen werden kann. Die henologische Liebe Plotins ist demnach ein negativer Begriff und steht im Zentrum seiner negativ-theologischen Methode. 193 Vgl. schon Halfwassen: Der Aufstieg zum Einen, 128, 250–251, 260 und 284. 194 Etwa Enn. V 4, 2, 38. In der Forschung wird diese Kraft oft dem Einen selber zuge­ schrieben (etwa Horst Seidl. »Möglichkeit«. Historisches Wörterbuch der Philosophie 6 (1984), Sp. 72–92; hier 81). Vgl. auch Hans Buchner. Plotins Möglichkeitslehre. Mün­ chen/Salzburg: Anton Pustet, 1970, 102–105. Leider versteht Buchner die δύναμις πάντων fälschlicherweise als »Möglichkeit« (ibid. 105). Allerdings ist sie vielmehr die Urkraft schlechthin, die alles bedingt. Eine bloße Möglichkeit muss aber als unterbestimmt vorgestellt werden – wobei für Plotin die Materie schiere Möglichkeit zu sein scheint. Außerdem gilt zu bedenken, dass das, was der Möglichkeit nach ›ist‹, bereits durch die Bedingung getragen wird. Diese Bedingung muss daher als Bedingung der Möglichkeit von Realisierungen angesehen werden. Zutreffender als

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aktive Urkraft schlechthin, die alles bedingt und daher keine passive Möglichkeit sein kann. Zwar scheint Plotin diesen Begriff für das Absolute selbst reservieren zu wollen,195 denn eine solche ursprüng­ liche Kraft ist als Kraft nicht aktualisiert oder bereits in konkrete Wesenheiten gebrochen: In ihrer formlosen Reinheit kann sie gerade Bedingung des Seins, des Denkens und aller Bestimmungen sein. Und doch muss hier, besonders wenn wir die negative Theologie Plotins konsequent ernst nehmen, eine kritische Rückfrage gestellt werden: Ist die »Mächtigkeit zu allem« nicht letztlich auch bloß ein Begriff des Absoluten? Als Begriff aber kann sie wiederum nichts anderes als ein Verweis über die Grenzen von Sein und Denken hinaus sein; und Plotin hält auch ganz unmissverständlich fest, dass das Eine jede Kraft

Buchners Analyse ist die Darstellung von Andrew Smith, der keinen Zweifel daran lässt, dass Plotin die δύναμις in erster Linie im Sinne einer »active power« verstanden wissen wollte (»Dunamis in Plotinus and Porphyry«. In: Francesco Romano und R. Loredana Cardullo (Hg). Dunamis nel Neoplatonismo. Firenze: La Nuova Italia Editrice, 1996, 63–77; hier 63–64). Und diesen Aspekt der Kraft habe Plotin, so fügt Smith völlig richtig hinzu, deutlicher als Aristoteles hervorgehoben, in dessen Analysen Kraft und Potentialität nicht immer ganz trennscharf auseinandergehalten würden (ibid. 64). Smith beobachtet auch richtig, dass die ursprüngliche Macht vom Denken des Geistes gewissermaßen »aufgebrochen« werde; ibid. 68; Hervorh. Roh.: »In other passages Plotinus tells us that Nous constitutes itself by looking not at the objects severally in the One, but by contemplating the One itself and seeing the totality of its contents in a discrete manner as many or even by ›breaking up‹ the power it receives from the One.« Daraus folgert Smith, dass die Macht des Einen alles »indirekt« bedinge. Dabei macht er zwar unmissverständlich klar, dass das Eine selber jede Tat (ἐνέργεια) transzendiere (ibid. 70–71). Und doch sieht er das Eine selber als »aktive Kraft«. Die »Mächtigkeit zu allem« ist aber, wie schon Jens Halfwassen (Der Aufstieg zum Einen, 125–126; vgl. Auf den Spuren des Einen, 164) bemerkt hat, »keine Bestimmung des Einen an sich selbst, sondern die Bestimmung der Beziehung des Seins zu ihm [scil. dem Einen]«. Zu bedenken ist auch, dass das Absolute bei Plotin, wenn es tatsächlich δύναμις πάντων wäre, im Grunde dieselbe Funktion erfüllen würde wie das Absolute bei Eriugena und Cusanus (Kap. III) und auch bei Fichte (Kap. IV). Allerdings scheint das Absolute für Plotin kein Akt, auch nicht der höchste, zu sein. 195 Neben Enn. V 4, 2, 38 s. auch Enn. V 3, 16, 1–3 oder Enn. III 8, 9–10. Bes. aber in Enn. VI 8 (etwa 8 und 15–20) wird diese These vertreten. Sicherlich kann das Absolute Plotins vor diesem Hintergrund im Sinne eines actus purissimus gedeutet werden: Es selber ermächtigt uns dazu, unsere Freiheit zu realisieren, und den Geist, intelligible Bestimmungen zu bilden. Ich möchte hier aber darauf verweisen, dass es auch möglich ist, Plotins Metaphysik konsequent negativ-theologisch zu deuten, sodass auch dieser letzte affirmativ-theologische Rest getilgt werden kann. Sicherlich ist aber Plotin in dieser Hinsicht nicht so konsequent wie Proklos, der Plotin auch dafür kritisiert hat, dass er das Absolute als sich selber durchwirkende Tätigkeit begreifen wollte.

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transzendiere.196 Insofern sie als Verweis begriffen werden muss, muss sie in unmittelbarem Zusammenhang mit dem henologische Streben gesehen werden – weshalb man konstatieren darf, dass das Streben durch seinen Transzendenzbezug zur δύναμις πάντων erhoben wird; denn es ist der reine Akt des Transzendierens und daher, wie Proklos später präzisieren wird, Prinzip aller affirmativen Bestimmungen.197 Diese Kraft ist nun wiederum als die oben genannte ursprüngli­ che Tätigkeit des Geistes zu begreifen, weshalb die δύναμις πάντων auch nicht die ἐνέργεια des Geistes ist, die im Selbstdenken bzw. dem Denken der konkreten Totalität besteht, denn die ἐνέργεια ist bei Plotin stets die ins Konkrete aktualisierte Wirklichkeit. 198 Gleichwohl kann Plotin diese primäre Kraft, gerade weil sie keine bloße Möglichkeit ist, als Akt verstehen – zumal die henologische Liebe die höchste Spitze des Geistes ist, mit der dieser sich über Sein und Denken hinausspannt. Diese ursprüngliche Tätigkeit des Geistes, durch die dieser sich selber erzeugt,199 ist, so können wir also spekulieren, das, was Wolfram Hogrebe als »Distinktionsdimension«, also als den über-logischen ›Raum‹, das intelligible Licht oder die Evidenz, verstanden hat.200 Die Liebe ist das »anonyme Reglement«, das unsere »Explikationsbemühungen« – gerade weil es ›hintergründiges‹ Streben ist – »dirigiert«.201 Dieser ›Raum‹ – oder besser: Ur-›Raum‹ – ist, wie es Markus Gabriel formuliert hat, durch eine »minimale Differenz« zu seinem »Ursprung«, dem Einen selbst also, geprägt.202 Das ursprüngliche Streben nehmen wir bei jedem einzelnen Denkakt Enn. VI 7, 32, 7: »δεῖ ὑπὲρ πάσας εἶναι δυνάμεις«. S. dazu noch einmal Halfwassen: Der Aufstieg zum Einen, 125–126 und auch Auf den Spuren des Einen, 164. 197 S. § 19 und § 21–23. 198 Enn. VI 7, 40, 10–15: »ἡ δὲ οὖσα νόησις μετ᾽ οὐσίας καὶ ὑποστήσασα τὴν οὐσίαν οὐκ ἂν δύναιτο ἐν ἐκείνῳ [scil. dem Einen selbst] εἶναι, ἀφ᾽ οὗ ἐγένετο: οὐ γάρ ἂν ἐγέννησέ τι ἐν ἐκείνῳ οὖσα. ἀλλ᾽ οὖσα δύναμις τοῦ γεννᾶν ἐφ᾽ ἑαυτῆς ἐγέννα, καὶ ἡ ἐνέργεια αὐτῆς ἐστιν οὐσία«. Während aber Plotin diesen Gedanken, soweit ich sehe, eher andeutet, wird er von Proklos durch seinen Begriff der ἀπειροδυναμία (etwa St. theol. prop. 92) und bes. der πρόνοια expliziert (s. § 21–23). Vgl. aber auch schon Enn. IV 3, 8, 36–40, worin der Seele eine unendliche Kraft zugesprochen wird. In der Tat liegt in uns selber diese unendliche Kraft, kraft der wir uns zum vollendeten Selbst­ bewusstsein erheben sollen und können, aber nicht müssen. 199 Nach Plotin ist der Geist – freilich in seiner Spitze – die »Mächtigkeit des Erzeugens« selber (Enn. VI 7, 15, 18. S. dazu Halfwassen: Der Aufstieg zum Einen, 142–143). Der Geist trägt also in sich selber die Kraft zu seiner eigenen Genese. 200 Hogrebe: Echo des Nichtwissens, 163, 317–318 und 339. 201 Hogrebe: Echo des Nichtwissens, 338. 202 Gabriel: Skeptizismus und Idealismus, 226. 196

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als zugrundeliegenden, opaken Horizont in Anspruch, vollziehen es also vor- oder überbewusst schon immer.203 Dieses Streben aber ist für kein Begreifen rein zu halten. Auch wenn wir das henologi­ sche Streben aufgedeckt, ja erweckt und damit vollzogen haben, transformiert es sich selber nicht in eine positiv wissbare Entität. Vielmehr ist und bleibt es die Bedingung aller Begriffskonstruktionen und sogar der reinen Vernunftbegriffe, also der Ideen. Durch diesen Horizont, so können wir im Rückgriff auf die phänomenologische Tradition im Allgemeinen und Martin Heidegger im Besonderen fest­ halten, ereignen sich (ideale) Begriffe. Bei genauer Analyse wird daher erkennbar, dass die ursprüngliche Tätigkeit, die selbst nur negativ beschrieben werden kann, gewissermaßen ›aufbricht‹, ohne dabei aber ihre unaustilgbare Kontinuität zu verlieren. Um diesen komple­ xen Gedanken zu konkretisieren, wird diese Brechung besonders in der christlich-neuplatonischen Tradition oft in Analogie zur Brechung des Lichtes durch das Auge, unser natureigenes Prisma, gesehen:204 Das Licht, das farblos und unsichtbar ist und seine Kontinuität nicht verliert, bricht sich in unserem Auge und an den gesehenen Objekten in die bunte Vielfalt der Farben205. Mit Proklos, der diese Grundlegungen Plotins mit seinem Kon­ zept des »Einen in uns« konkretisiert, können wir das Streben auch als »unsagbare Erfahrung«206 und mit Damaskios als »unartikulierbares Bewusstsein«207 verstehen. Sicherlich bleibt zu konzedieren, dass Plotin diese Konzeption des Strebens als Ur-Kraft durch seine experi­ mentellen Spekulationen zwar angedacht, aber keineswegs ausformu­ S. auch schon Rohstock: »Plotin: Erotische Evidenz«, 107, Anm. 38. – Zum Begriff des Horizontes und seiner Verbindung mit sachlich verwandten Konzepten s. meine Diskussion zu Proklos § 21–23, Eriugena (§ 30), Cusanus (§ 34) und Fichte (Kap. IV.2, bes. § 46). 204 Bonaventura: Itinerarium mentis in Deum c. 5, n. 4 (Itinerarium mentis in Deum – De reductione artium ad theologiam. Eingeleitet, übersetzt und erläutert von Julian Kaup. München: Kösel, 1961, p. 126–128). Fichte: GA I/9, p. 100–101. S. dazu § 46. 205 Plotin spricht von der bunten Vielfalt des Geistes (Enn. V 3, 10, 29–31). 206 Zur höchsten Erfahrung – und der damit einhergehenden Genese höchsten Wis­ sens – bei Proklos s. unten, § 18–19 und § 21–23. Im Sinne einer »unsagbaren Erfah­ rung« ließe sich freilich auch eine Passage aus dem Œuvre Plotins deuten: Enn. VI 9, 8–9. 207 S. dazu Gheorghe Paşcalău. Die ›Unartikulierbaren Begriffe‹ des Neuplatonikers Damaskios: Transzendenz und All-Einheit in den ›Aporien und Lösungen bezüglich der ersten Prinzipien‹. Berlin/Boston: Walter de Gruyter, 2018. Zum Verhältnis von Damaskios und Proklos s. auch unten, Kap. II.2. 203

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liert hat. Erst Proklos wird dieses Streben – wie weiter unten noch zu zeigen sein wird – als ὠδίς, also als »Geburtsschmerz«, ausdeuten, den er mit dem transzendierenden Negieren einerseits und den tran­ szendent-immanenten Henaden andererseits, denen eine »unendli­ che Kraft« (ἀπειροδυναμία) eignet, zu einem komplexen Gesamtkon­ zept verknüpft.208 Die Henaden, diese merkwürdigen ›Zwischenwesen‹, über deren Bedeutung sich die Forschung schon seit Jahrzehnten nicht völlig im Klaren ist, sind selber die δύναμις γεννετική.209

§ 12) Das Absolute in uns – Die Einheitserfahrung im Horizont des Bildes Trotz der herausragenden Bedeutung des Strebens wird das Absolute, wie bereits dargelegt wurde, weder ersetzt noch verabschiedet. Man kann vor diesem Hintergrund eher davon ausgehen, dass Plotin mit seinem radikalen Postulat nach vollkommener Transzendenz das Absolute immer wieder aus dem umfassenden Zugriff des Den­ kens zu befreien versucht.210 Doch unsere Annahme des Absoluten bleibt gerechtfertigt, weil wir über uns, das Denken und das Wissen hinaus notwendig verweisen. Der Verweis, worin die Annahme des Absoluten gerechtfertigt wird, ist zwar kein Beweis eines realiter über 208 S. aber auch schon Enn. V 5, 6, 23–28; Hervorh. Roh.: »ἀλλὰ ἡμεῖς ταῖς ἡμετέραις ὠδῖσιν ἀποροῦμεν ὅ τι χρὴ λέγειν, καὶ λέγομεν περὶ οὐ ῥητοῦ, καὶ ὀνομάζομεν σημαίνειν ἑαυτοῖς θέλοντες, ὡς δυνάμεθα. τάχα δὲ καὶ τὸ ›ἓν‹ ὄνομα τοῦτο ἄρσιν ἔχει πρὸς τὰ πολλά. ὅθεν καὶ Ἀπόλλωνα οἱ Πυθαγορικοὶ συμβολικῶς πρὸς ἀλλήλους ἐσήμαιον ἀποφάσει τῶν πολλῶν.« – Mit der These von der Urkraft henologischen Strebens ist der Deutung des Absoluten als Ur-Tat, wie sie von Werner Beierwaltes, Jean-Marc Narbonne oder Markus Gabriel (u.a.) vertreten wird, die Grundlage erzogen, wodurch Plotins Philosophie (wieder) als radikale negative Theologie verstanden werden darf. 209 Proklos wird die δύναμις γεννετική deutlicher als Plotin dieser ›Zwischeninstanz‹ und damit dem scheinbaren Gegensatzpaar von Grenze und Unbestimmtheit, der Vorsehung bzw. dem negativ gegebenen Horizont, durch den alles bedingt wird, aber gerade nicht dem Absoluten selber zuschreiben (§ 21–23). 210 Zur Freiheit des Absoluten bei Plotin s. Halfwassen: Auf den Spuren des Einen, 364–368. Krämer: »Die Grundlegung des Freiheitsbegriffs in der Antike«, 239–270. Dominic J. O’Meara. »The Freedom of the One«. Phronesis 37 (1992), 343–349. O’Meara macht dabei deutlich, dass Plotin in seiner Freiheitsschrift eher weniger eine »neue positive Theologie« konzipieren wollte (ibid. 348–349). Vielmehr bleibe er der negativen Theologie verpflichtet.

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dem Sein existierenden ›Etwas‹, sondern ›bloß‹ ein Verweis über das Denken hinaus. Aber darin wird gleichwohl ein ernstzunehmender ›Fluchtpunkt‹ des Denkens angezeigt. Dieser ›Fluchtpunkt‹ aber wird wiederum durch den Verweis gewissermaßen immanentisiert: Dieser Gedanke lässt sich sogar zu der kühnen These steigern, dass das Abso­ lute im Grunde nicht an ihm selber, sondern allein im Verweisen oder Streben existiert – oder noch genauer ausgedrückt: ek-sistiert.211 Das Absolute ek-sistiert im Grunde nur in uns, denn es selbst transzendiert jede Existenzprädikation: Die Existenz des Absoluten kann nur in uns erfahren und nur durch uns ausgedrückt werden. Denn der Punkt, worin der Geist und wir unsere eigene Einheit erfahren und verliehen bekommen, ist das henologische Streben: Nur im Streben erfahren wir Einheit; nur im Streben wird der ursprüngliche Einheitspunkt erlebbar. Ursprüngliche Einheit ek-sistiert also nur als Moment in uns – und diese Ek-sistenz ist das erste Moment des Geistes, also der liebende Geist und die Spitze des Denkens. Wenn also das Absolute an ihm selber nicht ist und nur im Streben erfahrbar wird und ek-sistiert, dann tritt es nur in uns – oder genauer: in unserer Wesensmitte – auf oder in Erscheinung.212 Man darf also folgende Aussage wagen: Das an ihm selber Nicht-Erscheinende erscheint als das Unerreichbare und Unbegreifbare nur durch das Streben und im Streben.213 Mit ἔκστασις wird freilich bei Plotin in erster Linie für die Einung mit dem Absoluten gebraucht, hier aber wird der Begriff gegenläufig verwendet, weil es so scheint, als käme uns das Absolute entgegen. Jedenfalls ist es nur im Streben erfahrbar. Wie auch Fichte in seiner Wissenschaftslehre 1805 deutlich macht, existiert das Absolute nur ›außerhalb‹ seiner selbst im absoluten Wissen (etwa GA II/9, p. 185–188). 212 Dadurch wird auch unterstrichen, dass es sich bei Plotins Denken um eine »Metaphysik des Subjekts« (Kobusch: »Metaphysik als Einswerdung«, 101) handelt. Denn auch die beschriebene Erfahrung des Absoluten wird internalisiert. Daher ist diese höchste Erfahrung kein salto mortale des Denkens, in der dieses aus sich herausspringt und jede Besonnenheit verabschiedet. 213 Die Unsagbarkeit wird einzig und allein im Streben erfahren und ist Ausdruck der Unauslöschlichkeit des Strebens. An ihm selber ist das Absolute, so könnte man es mit Fichte sagen, nicht unbegreiflich. Die Unbegreifbarkeit des Absoluten ergibt bei Plotin nur im Streben – und nur darin – Sinn. Durch das Streben, den genetischen Punkt, geht uns die Geschlossenheit des Absoluten auf. Hier kommt es zu einer transzen­ dentalkritischen Wende, in der das Absolute im höchsten Akt des Denkens, also dem Streben, erfahren wird. Damit sind wir, um es noch einmal zu betonen, nicht in einer Art salto mortale aus dem Denken ausgestiegen. – Zu beachten ist freilich, dass nicht bloß das Absolute nicht erscheint. Auch das Streben ist das, was nur am Anderen erscheint. Diesen letzten Gedanken erarbeitet aber erst Proklos explizit (§ 22–23), und er ist auch bei Eriugena (§ 29), Cusanus (§ 35) und Fichte (§ 46–47) zu finden. 211

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diesen Formeln haben wir ein neues Themengebiet betreten, nämlich die Bildtheorie. Der Begriff des Bildes wird in der neuplatonischen Tradition in einem speziellen Sinne verwendet, wenn er in Bezug auf das Absolute angewendet wird. Spricht Plotin von einem Bild des Absoluten, dann denkt er den Bildbegriff eher weniger im Sinne eines Abbildes, sondern im Sinne eines transzendenten Bildkonzeptes. Und anhand dieses Bildkonzeptes erörtert er die Frage, ob das Absolute überhaupt thematisiert werden könne. Die Rede von einem Bild ist allerdings heikel, impliziert sie doch die Existenz des Absoluten, so als ob es wie jedes andere Denkobjekt einen epistemischen Zugang gewähren würde. Die Frage, ob sich das Absolute thematisieren lasse, ist also nur eine Spielart der Frage, ob es das Absolute gibt. Doch diese Frage ist im Grunde falsch gestellt; denn wie soll sich die Existenz von ›etwas‹ feststellen lassen, was jede Existenzprädikation transzendiert? Daher lässt sich nur die folgende These vertreten: Was thematisiert wird, ist nicht direkt das Absolute selber, sondern – erstens – unser henologisches Streben und – zweitens – unser Abgewiesen-Sein oder unser Scheitern am begrifflichen Umfassen des Absoluten, also der Entzug214. Doch betrachten wir, bevor wir diese These akzeptieren, den Bildbegriff noch einmal anhand von Plotins eigenen Aussagen ausführlicher: Bekanntermaßen verwendet Plotin den Begriff des Bildes in verschiedenen Kontexten, aber auch im Zusammenhang mit seiner Henologie. In diesem Sinne spricht Plotin von dem Bild des Absoluten. Genauer gesagt nennt er den Geist »Bild des Einen«.215 Inwiefern aber kann Plotin davon sprechen, dass wir das Absolute in seinem Bild fassen – zumal bereits oben vor der Gefahr einer Abbildung des Abso­ Insofern sich der Entzug thematisieren lässt, treten interessanterweise Parallelen zwischen Plotin und der Phänomenologie hervor. Vgl. dazu etwa die Ausführungen Thomas Arnolds: Phänomenologie als Platonismus: Zu den Platonischen Wesensmo­ menten der Philosophie Edmund Husserls. Berlin/Boston: Walter de Gruyter, 2017, 305–317; bes. 313–317. 215 Enn. V 1, 7, 1–4: »εἰκόνα δὲ ἐκείνου εἶναι λέγομεν τὸν νοῦν δεῖ γὰρ σαφέτερον λέγειν πρῶτον μὲν ὅτι δεῖ πως εἶναι ἐκεῖνο τὸ γεννώμενον καὶ ἀποσώζειν πολλὰ αὐτοῦ καὶ εἶναι ὁμοιότητα πρὸς αὐτό, ὥσπερ καὶ τὸ φῶς τοῦ ἡλίου.« Die Bildhaftigkeit des Geistes tritt auch noch in Enn. VI 7, 17, 36–40 zutage, aber mit einer Korrektur: Der Geist wird insofern als »Idee« des Einen gedacht, als er »Spur« des Formlosen ist. Diese »Spur« ist Führerin des Formlosen, insofern sie deren Form, also deren Prinzip, ist (ibid. 33, 30). Für Proklos ist diese Spur selber formlos, da sie über allen Formen thront. Sie ist also »verborgen« (s. § 18). 214

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luten gewarnt wurde? Wenn »Bild« nichts anderes als die Präsenz eines Abwesenden bedeutet,216 dann ist – vor dem Hintergrund der bisher erreichten Ergebnisse – nichts anderes als das Streben das Bild des Absoluten. Doch der Begriff des Bildes ist tückisch. Im Hinblick auf Plotin liegt das Problem in der Verschränkung der Bildkonzeption mit der Henologie, insofern diese radikal gedacht wird. Denn das Bild scheint doch als Bild Rückschlüsse auf dasjenige zuzulassen, was abwesend ist. Dem Bildbegriff scheint stets eine verweisende, mithin aber auch eine abbildende Funktion zu inhärieren.217 Folgten wir Werner Beierwaltes’, Jean-Marc Narbonnes oder Markus Gabriels Plotindeutung, so könnten wir tatsächlich von einem mimetischen Charakter sprechen: Wenn nämlich der Geist Bild des Absoluten ist, so ließe sich auf der Grundlage der denkenden Aktivität des Geistes auf eine ›Aktivität‹ des Absoluten schließen, die dem Geist ›im Rücken‹ läge und der diese durch seinen eigenen Akt nachahmte. Möchte also Plotin dem Absoluten gewisse Wesensmerkmale zuge­ stehen, auch wenn er diese dem Absoluten, wie Gabriel richtig beobachtet, nur in einem nicht-kategorialen Sinne zuschreiben kann? Letztlich scheint Plotin mit seinem Bildbegriff, insofern es ihm um das Bild des Absoluten geht, einen ganz anderen Weg einzuschlagen: Festzuhalten bleibt zunächst, dass Plotin den Bildbegriff benö­ tigt, um das Absolute überhaupt thematisieren und zur Erscheinung bringen zu können. Erinnert sei in diesem Zuge an die am Anfang des Kapitels (§ 4) formulierte These, nach der Plotin die apriorischen Bedingungen von Erkenntnis kritisch überprüft hat. Plotin geht es in seiner Philosophie sicherlich, und dies soll hier nicht geleugnet wer­ den, um das Absolute und die Einung mit diesem. Noch viel bestimm­ ter ist er aber darum bemüht, den Rahmen abzustecken, in dem eine Diese Definition des Bildes geht natürlich auf Platon: Soph. 240B–C zurück. Zu Plotins Adaption der Platonischen Bildlehre s. Halfwassen: Aufstieg zum Einen, 137–138. – Der Platonische Hintergrund der Bildtheorie wird neuerdings durch die philologisch eindringlich abgestützte Arbeit von Christoph Poetsch erhellt (Platons Philosophie des Bildes: Systematische Untersuchungen zur platonischen Metaphysik. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 2019). 217 Vgl. Fichte: GA II/8, p. 100: »[D]enn es ist klar, daß ein Repräsentant, ohne die Repräsentation des darin Repräsentierten, ein Bild, ohne Abbildung des Abgebildeten, Nichts ist.« Fichte wird später präzisieren, dass Bild-Sein nichts anderes als Abhän­ gigkeit und Verwiesen-Sein bedeutet, also ohne Transzendenzbezug nicht auskommt. Der Bildbegriff, insofern das Bild als Bild des Absoluten gefasst wird, ist also ohne Transzendenz nicht denkbar. Und deswegen ist Fichtes Bildbegriff, wie auch der Plo­ tinische Freiheitsbegriff, ein negativer Begriff. S. dazu unten, § 47. 216

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Rede vom Absoluten möglich ist. Fichte wird diese Position später radikalisieren, wenn er betont, es sei ihm nie um das Absolute selber, sondern nur um dessen Bild gegangen.218 Wenn das Absolute nämlich vollkommen transzendent ist, dann entzieht es sich unseren Explika­ tionsbemühungen. Sobald man also davon ausgeht, einen adäquaten Begriff zur Beschreibung des Absoluten gefunden zu haben, zeigt die­ ser sich bei aufmerksamer Betrachtung als Bild und bestätigt damit die bleibende Transzendenz des Absoluten: Das Bild soll sein und es soll sich in diesem Sinne als begrenzt und eben nicht als das Absolute fassen: Der Transzendenzbezug des Geistes dient also in erster Linie seiner Selbstaufklärung. Vor diesem Hintergrund lässt sich folgende These formulieren: Plotins Denken konzentriert sich darauf, den Ur-›Raum‹ oder tragen­ den Horizont aufzubrechen, in dem es zur Erscheinung, zum Denken, zum Begreifen und zur Begriffsbildung kommen kann. Dieser Ur›Raum‹ wird allein durch das Streben bzw. das reine Verweisen auf­ gebrochen – oder anders formuliert: der Erscheinungshorizont wird durch das Streben aufgespannt: »Bild« meint demnach nichts anderes als den Akt des reinen Verweisens selbst. In diesem Sinne ist der Begriff »Bild« von der Frage, worauf verwiesen wird, zu lösen; es handelt sich um eine Relation mit nur einem Relat.219 Was uns Plotin vor Augen führt, ist nicht das Absolute selber, sondern das Hinspannen oder das Aufbrechen des Horizontes, in dem das (Nach-)Denken (über das Absolute) überhaupt erst möglich wird. Akteur dieses Aufbrechens ist niemand anderer als der liebende Geist. Nicht das Absolute öffnet uns den Horizont des Erscheinenkönnens, nicht das Absolute offenbart sich uns durch dessen eigene, ihm immanente ›Aktivität‹, sondern wir sind es, die mit unserer im Geist verbliebenen Seelenspitze und so zusammen mit dem Geist den logischen Ur-›Raum‹ öffnen und so S. etwa GA II/15 [Thatsachen des Bewussteyns 1813], p. 122. Man könnte sogar von einem reinen ›Relieren‹ sprechen, da die Liebe sogar den Geist transzendiert. Diesen Schritt aber macht Plotin nicht so explizit wie Proklos, der das henologische Streben gewissermaßen hypostasieren zu wollen scheint, insofern er es mit den sog. Henaden verknüpft, die zwar dem »seienden Einen« angehören, aber doch, wenn man es in ›ortsgebundenen‹ Begriffen überhaupt auszudrücken wagen darf, eine Mittelposition ›zwischen‹ dem Absoluten und dem Sein einnehmen. S. dazu unten, Kap. II.2, bes. § 22–23. Christliche Denker wiederum werden das Erbe Proklos’ fortsetzen und das Absolute selber als reine Tätigkeit und reines Relieren fassen (s. Kap. III). Fichte schließlich wird diesen Gedanken aufgreifen und zum Ein­ heits- und Disjunktionspunkt seiner Philosophie stilisieren (s. Kap. IV). 218

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auch das Absolute zur Erscheinung bringen.220 Nicht es ist es also, das sich zu uns bewegt, sondern wir sind es, die versuchen, sich ihm zu nähern. Kritisch müssen wir uns aber die Formeln Werner Beierwaltes’ in Erinnerung rufen, in denen dieser das Absolute als »Ur-bild«221 bezeichnet: Tatsächlich scheint Plotin in seiner sog. Freiheitsschrift dem Absoluten eine eigene selbstbezügliche Aktivität zuschreiben zu wollen, die er als Autarkie, Selbstbegründung und Selbstliebe begreift. In der Forschung ist diese Stelle kontrovers diskutiert wor­ den und bis heute scheinen sich die Positionen eher wechselseitig auszuschließen.222 Das hängt sicherlich auch mit der Ambiguität der Plotinischen Formulierungen und mit dem durchaus experimen­ tellen Charakter seiner Philosophie zusammen. Gleichwohl möchte ich dafür plädieren, die negative Theologie Plotins auch ungeachtet

Dem drohenden Vorwurf, damit das Absolute seiner Aseität beraubt und es damit nicht ernsthaft als Absolutes verstanden zu haben, kann man folgendermaßen begeg­ nen: Im Grunde kann es kein ›An-sich‹ des Absoluten geben, weil dieses ›An-sich‹ mit dem ›Für-uns‹ in eine Disjunktion gerät. Dann aber wäre Plotins Forderung, alle Vielheit auf das absolute Eine zurückzuführen, nicht eingelöst: Es wäre nur ein relatives ›An-sich‹ gewonnen. Spricht man ferner von einem ›An-sich‹ des Absoluten, drohte außerdem eine Existenzprädikation, durch die das Absolute fälschlicherweise objektiviert würde. Es kommt aber in der henologischen ἔρως-Konzeption Plotins zu einer Koinzidenz von ›An-sich‹ und ›Für-uns‹ im henologischen Streben. Darin nämlich drückt sich sein ›An-sich‹ und sein ›Für-uns‹ aus. Man muss es wohl so wenden: Im ›Für-uns‹ muss sich zugleich das ›An-sich‹ des Absoluten erfahren lassen, wollen wir es nicht zur bloßen Illusion unseres Denkens werden lassen. Dass sich im ›Für-uns‹ die Notwendigkeit seiner Annahme bestätigt, verweist aber gerade darauf, dass es nicht als Illusion gewertet werden kann. Auf die Frage, ob es das Absolute an ihm selber gebe, müsste man vor dem Hintergrund der Problematik von ›An-sich‹ und ›Für-uns‹ wohl ganz ›klar‹ antworten: Jein! In der notwendigen Konstruktion eines Fluchtpunktes des Denkens kann dieser Fluchtpunkt niemals als Illusion gewertet werden. Die Frage, ob das ›An-sich‹ oder das ›Für-uns‹ in Anschlag zu bringen ist, erübrigt sich also. 221 Beierwaltes: Denken des Einen, 73–113. 222 Beierwaltes: Das wahre Selbst, 126–128, worin auch die entsprechenden Lager genannt werden. – Sicherlich lässt sich kaum bestreiten, dass Plotin in Enn. VI 8 – vermutlich als erster überhaupt – das Absolute als actus purus entwirft: Es ist ineins Allmacht und ἐνέργεια ἄνευ οὐσίας (ibid. 20, 9–10). Es ist aber problematisch, diese Aussagen, die offenkundig noch einen letzten Rest affirmativer Theologie aufweisen, den radikalen negativ-theologischen Formeln Plotins einfachhin überzuordnen. Vor allem ergeben sich im Hinblick auf den Bildbegriff Probleme: Mit der Annahme, das Absolute sei reines Relieren, ein Vollzug ohne Sein oder actus purus, wird der mimetische Bildbegriff nicht vollends getilgt. 220

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1) Plotin und der »liebende Geist«

der Kritik eines Proklos223 nicht zu unterschätzen, sondern in ihrer Radikalität ernst zu nehmen. Denn erst durch diese wird das Bild des Absoluten von seinem abbildenden oder mimetischen Charakter befreit. Vermutlich wird genau deshalb am Ende der Freiheitsschrift die transzendente Entzogenheit des Absoluten noch einmal ganz unmiss­ verständlich betont. Alle vorhergehenden Aussagen über das Eine, die ohnehin unter dem οἷον-Vorbehalt standen, werden aufgehoben und so als Wege zum Absoluten definiert: »Nimm alles andere fort«, fordert uns Plotin auf; und er fügt hinzu: »Wenn du nun alles fortgetan und nur ihn selber belassen hast, dann suche nicht danach, was du ihm beilegen könntest, sondern danach, ob du vielleicht etwas in deinem Denken noch nicht von ihm fortgetan hast.«224 Erst wenn die abbildende, mimetische Bedeutung aus dem Bildbegriff entfernt wird, kann das Absolute wirklich von allen Zuschreibungen befreit und als absolute Freiheit begriffen werden. Damit avanciert der Plotinische Freiheitsbegriff zu einem negativ-theologischen, der insofern den letzten ›Rest‹ affirmativ-theologischer Begriffsbemühungen besei­ tigt. Kann aber, so müssen wir vor dem Hintergrund der Destruktion der abbildenden Bedeutungsdimension des Bildes fragen, überhaupt noch von einer Manifestation oder Repräsentation des Absoluten gesprochen werden? Wenn nämlich diese Möglichkeit gänzlich besei­ tigt würde, drohte dann nicht, so müssen wir fragen, die Plotini­ sche Auffassung des Absoluten zur bloßen Illusion zu verkommen? Tendiert also seine Henophanie zum Nihilismus? Von einer Reprä­ sentation oder Manifestation des Absoluten kann freilich durchaus gesprochen werden, aber nicht so, als gäbe es außerhalb des Geistes ein Absolutes, das abgebildet werden müsste. Dann nämlich würde es als (extramentale) Entität oder ›Ding-an-sich‹ gefasst: Das Absolute würde aber so zu einer bloßen Setzung verkommen und in ein stehen­ des oder, wie Fichte es später ausgedrückt hat, »totes« Objekt verwan­ delt werden.225 Von einer Manifestation muss also in einer anderen Dazu Beierwaltes: Das wahre Selbst, 160–181; hier 178–181. Enn. VI 8, 21, 25–28; Hervorh. Roh. – Auch die radikal negativ-theologische Formel, ἄφελε πάντα, bleibt unser Weg zum Absoluten: Alles abzuhalten, ist und bleibt Weg und damit Geworfen-Sein auf uns: Ist dadurch also der Grundpunkt unseres Daseins, der Weg als solcher, vollständig aufgedeckt? Der Weg bleibt immer Weg und als Menschen (Seelen) können wir wohl nicht mehr als das: auf dem Weg sein! 225 Weil das Absolute keine extramentale Entität ist – denn es ist nicht objekthaft gegeben – und wir unsere subjektive Grundstruktur niemals verlassen, verfallen wir 223

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II) Die neuplatonische »Henophanie«

Hinsicht gesprochen werden: Das henologische Streben ist insofern Manifestation des Absoluten, als sich das Streben uns als ewiges und dauerhaftes Hinspannen gezeigt hat, das seine Unendlichkeit und Unauslöschbarkeit der Transzendenz verdankt.226 Das ewige Streben, das ein Nicht-Ankommen und Scheitern am Absoluten bedeutet, ist also Konsequenz oder Resultat aus der Transzendenz und insofern ihre Manifestation: Im Streben erleben wir die Konsequenzen der Transzendenz des Absoluten, weswegen es insofern Erscheinung des Absoluten ist. Vor diesem Hintergrund erscheint uns das Absolute also nicht als Streben227, sondern im Streben wird es erfahren und durch das Streben wird es artikulierbar. Nur in der Unauslöschbarkeit des Strebens wird die Geschlossenheit des Absoluten erfahren und erlebt und so schließlich als solche (nach-)konstruiert.228 Es ›gibt‹ also diese Geschlossenheit eigentlich nur im Streben, sodass wir eher von einer Konstruktion der Geschlossenheit des Absoluten im Aufbrechen des Horizontes, in dem Begriffe und Bestimmungen gebildet werden, reden sollten.229 In welchem Verhältnis, so lässt sich abschließend fragen, steht das begriffliche Scheitern zum Einungswunsch, der gleich eingehen­ der zu betrachten sein wird?230 Das Scheitern des Begreifens am Absoluten demonstriert, dass kein Gottesbegriff das henologische auch nicht mehr der Illusion, die Beziehung von Absolutem einerseits und absolutem Denken andererseits gewissermaßen von außen zu betrachten. 226 Und nur so lässt sich überhaupt vom Absoluten als Prinzip sprechen, wobei in diesem Fall die vollkommene Transzendenz bewahrt bleibt: Ihretwegen ist die Grundspannung unauslöschlich. 227 Daher zeigt sich das Absolute nicht als (reine) Tätigkeit. 228 Auf diesem Hintergrund lässt sich also sagen: Wir berühren das Absolute nicht an ihm selber, sondern im Streben und also durch dessen »Spur« erfahren wir die Transzendenz: In diesem Sinne muss wohl Enn. III 8, 11, 19–21 gedeutet werden. Vgl. dazu auch die auf der Analyse Jens Halfwassens aufbauende Skizze der Plotinischen Henologie durch Wolfram Hogrebe (Philosophischer Surrealismus. Berlin: Akademie Verlag, 2014, 26–27), worin zum Ausdruck gebracht wird, dass das Absolute im Grunde genommen auch das Berühren transzendiert. 229 Das Absolute ist daher keine Illusion, aber doch kein ›etwas‹, das einfach vor­ ausgesetzt wird. Würde es vorausgesetzt, gingen wir von einem realen Sein aus. Wie sich aber gezeigt hat, geht Plotin in seiner Analyse anders vor: Plotin setzt also nicht einfach ein Absolutes, von diesem wird auch nicht einfach thetisch – oder auch: theistisch – ausgegangen, sondern das Denken bildet die Grundlage der Analyse. Und auf der Grundlage dieser Analyse wird über Sein und Denken hinaus verwiesen, ohne aber aus dem Denken ›auszusteigen‹. 230 S. unten, § 13.

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1) Plotin und der »liebende Geist«

Streben bannen oder den uns und dem Liebesbegriff immanenten Schmerz zum Erliegen bringen kann. Die Pointe dieses neuen Bildbe­ griffes – des transzendenten Bildbegriffes –, der nichts anderes als das Aufbrechen des Erscheinungshorizontes ist, ist nun, dass uns durch ihn zu Bewusstsein gebracht wird, dass sogar das reine Denken selber nie aus der universal gültigen Verweisstruktur ausbrechen kann. Und gerade diese (womöglich unüberwindbare) Verwurzelung im Verwei­ sen zeigt uns, dass wir das, was wir notwendig voraussetzen müssen, im Begreifen nicht einholen können: Unser Verharren in der Ver­ weisstruktur macht uns die Uneinholbarkeit des Absoluten verständ­ lich231 – und nur dadurch können wir ernsthaft verweisen: Das Ver­ weisen ist der Erfahrungshorizont der Transzendenz. Streben und stetes Vorgreifen können aber als sie selber so unmöglich zur absoluten Ruhe kommen, denn kein Begriff kann unsere Begriffsbemühungen bannen. Wir kommen also, solange wir sind, leben und denken, niemals zur Ruhe, wodurch unsere Seelen freilich – wie wir vor dem Hintergrund der Begeisterung232 sehen konnten – nicht emotional verstört werden. Ist aber dann die von Plotin verheißene absolute Ruhe, die durch die Einung gewährleistet werden soll, nicht unmöglich? Im Folgenden wollen wir dieser Frage kurz nachgehen.

231 Man kann hier auch genauso gut andersherum argumentieren: Die radikal gedachte Transzendenz des Absoluten ist Grundlage für die Spannung, wenngleich diese, so muss mit Verve betont werden, der tragende Horizont des Denkens bleibt: Aus dieser Spannung heraus gebiert das Denken Begriffe. Und daher ist diese Spannung die Bedingung für Begriffsbildungen (auch der Ideen). Fernerhin ›existiert‹ die radikale Transzendenz, wie gesehen, nur in uns, insofern wir diese nur in uns spüren und erfahren können. Es geht also primär um die Grunderfahrung des Entzuges, die sich in der Spannung äußert, ja sogar diese Spannung ist: Die Spannung ist der Erfahrungshorizont der Transzendenz und zugleich der Einheit oder Geschlossenheit vollendeten Selbstbewusstseins. Man darf also sagen, dass das Absolute durch seine Transzendenz den Geist zur Selbstbildung ermächtigt. Denn durch die Transzendenz kommt es zur Spannung und aus dieser Spannungs-Kraft gebiert der Geist Begriffe (und sich selber). 232 S. oben, § 9. Vor allem bei Proklos wird diese Begeisterung zum zentralen Moment seiner Metaphysik: S. § 18–19.

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II) Die neuplatonische »Henophanie«

§ 13) Die ἔκστασις und ihre Funktion im Denken Plotins Vor dem Hintergrund der Evidenzerfahrung und des transzendenten Bildkonzeptes muss der Einheits- und Disjunktionspunkt des Ploti­ nischen Denkens, der liebende Geist also, von der Einung mit dem Absoluten selber, der unio mystica, unterschieden werden. Denn die mystische Einung sollte trotz ihrer unbestreitbaren Nähe zur Eviden­ zerfahrung nicht einfach mit dieser gleichgesetzt werden. Vielmehr transzendiert die unio mystica diese – und zwar durch die vollkom­ mene Aufhebung aller Denkakte, eben auch des transzendierenden Negierens.233 Die Einung meint nämlich das mystische Verschwinden nicht nur des Denkens, sondern auch des ursprünglichen Strebens im Absoluten, das selbst gerade nicht strebt.234 In der Evidenz wird uns das Absolute als Absolutes vermittelt, wobei in der Vermittlung noch eine minimale Differenz zum Absoluten bewahrt bleibt, denn dieses ist selber nicht die Tat des liebenden Geistes, sondern jenseits aller Akte. So lässt sich die These formulieren, dass die Einung mit dem Absoluten selbst zwar philosophisch fundiert sein mag, aber selber kein Teil desjenigen Prozesses ist, der zum vollendeten Selbstbe­ wusstsein führt. Das bedeutet zugleich, dass die Einung für die Kon­ stitution und Grundlegung der Plotinischen Metaphysik keine tra­ gende Rolle spielt. Sie ist womöglich deren Vollendung, aber keineswegs ihr tragendes »Zentrum«.235 Der zentrale Einheits- und Disjunktionspunkt dieser Metaphysik ist daher weniger das Absolute in seiner radikalen Transzendenz – diese ist ohnehin unsagbar –, sondern eher die philosophische Evidenzerfahrung. In ihr wirkt das Negieren als Einheits- und Disjunktionspunkt. Denn erst vor dem Hintergrund des Einheits- und Disjunktionspunktes wird die Einung verständlich. Genauer gesagt wird vor dem Hintergrund des Strebens und des mit diesem Streben koinzidierenden ›Schmerzes‹, der gefühlt wird, weil wir uns nicht mit dem Absoluten in grenzüberschreitender, dauerhafter Einung befinden, der bereits oben genannte Einungs­ 233 Es lässt sich sicherlich fragen, ob die Plotinische Mystik nicht auch eine praktische Konnotation im Sinne der vita activa Eckharts oder Fichtes (§ 48) besitzt. Dass sich Theorie und Praxis bei Plotin jedenfalls nicht widersprechen, dürfte durch die voran­ gegangenen Überlegungen deutlich geworden sein. 234 Enn. III 8, 11, 24–25. – Daher ist das Absolute, um es noch einmal deutlich zu machen, letztlich nicht im Sinne des reinen Seinsaktes zu verstehen (Halfwassen: Hegel und der spätantike Neuplatonismus, 271). 235 Hadot: Plotin ou la simplicité du regard, 91.

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1) Plotin und der »liebende Geist«

wunsch Plotins (§ 4) überhaupt verständlich. Denn erst in der Einung scheint das ewige und für die Seele geradezu schmerzhafte Streben überwunden werden zu können, auch wenn die Seele (zusammen mit dem Geist) durch das Streben durchaus Erfüllung findet: Die ersehnte oder erstrebte Einung mit dem Absoluten ist aber die übervollkom­ mene Ruhe, die selber nicht das reine Streben sein kann. Transzen­ dierte das Absolute nicht Streben und den ewigen »Geburtsschmerz« (unius desiderium et indeficiens motio [ὠδίς]236), wären der Wunsch nach Vollendung und die unio mystica gar nicht sinnvoll explizierbar. Ob der durchaus nachvollziehbar explizierte ›Ausstieg‹ aus der ero­ tischen Grundspannung, der sodann als vollkommene Befreiung gewertet werden muss, durch dialektische Mittel oder durch den von Plotin formulierten »Zauberspruch« (ἐπῳδή)237, nämlich von allem abzulassen, möglich ist, kann an dieser Stelle nur im Zustand der Frage belassen werden.238 Womöglich lässt sich dieses letzte Rätsel der Menschheit im Zuge henologischer Metaphysik grundsätzlich nicht mit unumstößlicher Gewissheit klären, sodass man nur noch ἐποχή, also Urteilsenthaltung, üben kann.239 Wenn nämlich das Abso­

Proklos: In Parm. VII p. 511, lin. 27 [= Gr. Retroversion VII p. 511, lin. 25–26]. Enn. V 3, 17, 17–19 mit Bezug auf ibid. 17, 38: »ἄφελε πάντα«. 238 Sicherlich ist Plotins Metaphysik eine, wie es Karl Jaspers (Die großen Philosophen, 718–724) ausgedrückt hat, Philosophie der Ruhe. Allerdings ist sie als solche, anders als Jaspers annimmt, nicht einfach ausschließlich im Hinblick auf die Einung zu verstehen. Denn wir haben schon einen Halt im unauslöschlichen Streben gefunden. Denn wir sind in diesem Streben völlig überzeugt und ganz ohne jeden Zweifel. Diese letzte Spannung zwischen Streben und Ruhe fordert die Plotinische Henologie (heraus). Der Wunsch nach Einung ist wiederum nur vor dem Hintergrund dieser letzten, produktiv-lebendigen Spannung verstehbar. Und aus dieser Spannung heraus leben und handeln wir, sodass Plotin letztlich die Grundlage unseres Lebens und unserer Handlungen offengelegt hat. 239 Schon Christian Tornau gibt zu bedenken, dass es schwierig sei, mit letzter Sicher­ heit zu sagen, »ob der Prozess der unio mystica bis zur totalen Einswerdung« gehe (»Der Eros und das Gute bei Plotin und Proklos«. In: Matthias Perkams und Rosa M. Piccione (Hg). Proklos: Methode, Seelenlehre, Metaphysik. Leiden/Boston: Brill, 2006, 200–229; hier 213, Anm. 58). In der Tat spricht nichts dagegen, das Absolute im Akt des Strebens, das man auch als unseren Akt des Heraustretens begreifen kann, der frei­ lich im (Da-)Sein verwurzelt bleibt, zu erfahren. Für die Erfahrung des Absoluten scheint es gar nicht notwendig zu sein, vollständig in das Absolute über- und darin aufzugehen. Womöglich könnte die Ekstase Plotins auch als Erfahrung des Absoluten im Streben gewertet werden, worin zugleich festgehalten wird, dass wir unser Wesen bzw. unsere Form nicht in das wesens- und formtranszendente Absolute selber auf­ lösen. 236 237

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II) Die neuplatonische »Henophanie«

lute ἄρρητον τῄ ἀληθείᾳ240 ist, dann ist die Einung mit diesem ganz genauso unsagbar – oder genauer: überunsagbar.241 Jedenfalls kön­ nen wir konstatieren, dass das Subjekt als denkendes Subjekt in der Grundspannung des Strebens verbleibt. Und dieses Streben ist wie­ derum kein Ausdruck von Hoffnungslosigkeit, sondern berauschende Trunkenheit oder Besessenheit:242 In diesem Streben sind wir voll­ kommen ausgerichtet und in ›beseligender‹243 Schau über die Gren­ zen von Denken und Sein hinaus verwiesen.

2) Proklos und das »Eine in uns« § 14) Von Plotin zu Proklos: Die Grundzüge der Proklischen Henophanie Unbestreitbares Kernmoment der Metaphysik von Proklos (412–485 A.D.),244 des fraglos wirkmächtigsten spätantiken Scholarchen der 240 Enn. V 3, 13, 1. Vgl. Enn. VI 9, 3, 51–55. Dass Plotins Sprache, wenn es um die unio mystica geht, merkwürdig vage wird, ist bereits festgestellt worden, wobei genau diese damit einhergehende Ambiguität in Plotins Absicht zu liegen scheint (vgl. Mazur: The Platonizing Sethian Background of Plotinus’s Mysticism, 47–49). Denn schließlich wurden alle Kategorien transzendiert. 241 Denn schon das Streben ist nicht mehr positiv zu beschreiben oder auszusagen, wie oben bereits expliziert wurde. »Überunsagbar« ist das Absolute für Proklos. S. dazu § 17. 242 Zu beachten bleibt also, dass im Denken der neuplatonischen Orthodoxie der genannte Schmerz der Begeisterung keinesfalls opponiert, auch weil es auf der ›Stufe‹ des liebenden Geistes keine Widersprüche mehr geben kann: Vielmehr erleben wir Begeisterung in der Spannung henologischer Liebe. Und mit dieser Begeisterung ist keine womöglich durch Medikamente oder gar Drogen induzierte Trance gemeint. Der Philosoph ist bis zur Besessenheit durch Argumentationsketten aufgestiegen und wird dort in einen philosophisch fundierten Rausch versetzt. Dass wir aber durch die Argumentation die besagte ›Seligkeit‹ wiederum auch nicht erzwingen können, werden uns Proklos (Kap. II.2), Eriugena und Cusanus (Kap. III), und schließlich Fichte (Kap. IV) demonstrieren. 243 Christliche Denker – etwa vom Schlage eines Eriugena – werden später von Seligkeit sprechen. S. dazu die folgende Argumentation in Kap. III und IV. 244 Das Standardwerk zur Proklischen Metaphysik, die vor allem im Parmenides­ kommentar entfaltet wird, stammt von Dirk Cürsgen. Henologie und Ontologie: Die metaphysische Prinzipienlehre des spätantiken Neuplatonismus. Würzburg: Königshau­ sen & Neumann, 2007. Von unüberschätzbarem Wert für die Auseinandersetzung mit Proklos’ henologischer Metaphysik sind ferner die Werke Werner Beierwaltes’, vor allem natürlich seine Habilitationsschrift, Proklos: Grundzüge seiner Metaphysik.

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2) Proklos und das »Eine in uns«

Platonischen Akademie,245 ist die Henologie. In ihr führt er hin zum absoluten Einen und thematisiert es als vollkommene Trans­ zendenz, die alle Bestimmungen, das Denken und sogar das Sein selbst übersteigt.246 Das radikale Transzendenzpostulat ist freilich nicht ganz unproblematisch, aber doch kein Abgesang an die Meta­ physik. Vielmehr hat Proklos scharfen Auges die Probleme einer radikal formulierten Transzendenz gesehen, gar pointiert, sie aber gleichwohl produktiv zu wenden gewusst. Sicherlich werden aber vor dem Hintergrund der vollkommenen Transzendenz des Absoluten die bereits im Hinblick auf Plotin dargelegten Paradoxa wieder drängend. Wie gezeigt ist die neuplatonische Metaphysik durch mehrere Para­ Überblickend zur Proklischen Philosophie insgesamt s. auch Lucas Siorvanes. Proclus: Neo-Platonic Philosophy and Science. Edinburgh University Press, 1996. Radek Chlup. Proclus: An Introduction. Cambridge University Press, 2012. Pieter d’Hoine und Marije Martijn (Hg). All from One: A Guide to Proclus. Oxford University Press, 2017. Matthias Perkams (unter Mitwirkung von Christoph Helmig und Carlos Steel). »Proklos«. In: Grundriss der Geschichte der Philosophie. Begründet von Friedrich Ueberweg. Völlig neu bearbeitete Ausgabe hrsg. von Helmut Holzhey. Die Philosophie der Antike. Vol. 5/3, Die Philosophie der Kaiserzeit und der Spätantike. Hrsg. von Christoph Riedweg, Christoph Horn und Dietmar Wyrwa. Basel: Schwabe, 2018, 1909–1971. Ferner sei auf die subtilen Studien Jens Halfwassens hingewiesen. – Zu einer annotierten Bibliographie s. Carlos Steel et. al. »Proclus: Fifteen Years of Research«. Lustrum 44 (2002), 1–367. Eine aktuell gehaltene Bibliographie zu Proklos (seit 1990) wird vom De Wulf-Mansion Centre for Ancient, Medieval and Renaissance Philosophy online zur Verfügung gestellt: https://hiw.kuleuven.be/dwmc/research/ancientphilosophy/proclus/proclusbibli o.html (12.01.2023). 245 Aus der Fülle an Publikationen zur Proklischen Wirkungsgeschichte seien an die­ ser Stelle die folgenden Überblicksdarstellungen genannt: Stephen Gersh. Interpreting Proclus: From Antiquity to the Renaissance. Cambridge University Press, 2014. David D. Butorac und Danielle A. Layne (Hg). Proclus and his Legacy. Berlin/Boston: Walter de Gruyter, 2017, 159–414. Paul Oskar Kristeller. »Proclus as a Reader of Plato and Plotinus, and his Influence in the Middle Ages and in the Renaissance«. In: Jean Pépin und Henry D. Saffrey (Hg). Proclus: Lecteur et interprète des anciens. Paris: Éditions du CNRS, 1987, 191–211. – Bei der Erforschung der Wirkungsgeschichte von Proklos werden häufig das »Eine in uns« und die Henaden übersehen. Allerdings tauchen entscheidende Momente der Systematik des »Einen in uns« und der Henaden auch, wie wir noch sehen werden, bei christlichen Neuplatonikern auf. 246 Zur Transzendenz bei Proklos s. die bereits genannten Werke von Cürsgen (Henologie und Ontologie), Beierwaltes (Proklos) und Halfwassen (Auf den Spuren des Einen, bes. 165–183). Zu Halfwassens Deutung der Transzendenz s. die Literaturhin­ weise in § 1. Zu achten ist auch auf Jean Trouillard. La mystagogie de Proclus. Paris: Les Belles Lettres, 1982, 93–108 und 235–243. Dort gibt Trouillard auch einen Über­ blick über Begriffe, die Proklos zur Beschreibung der Transzendenz verwendet.

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II) Die neuplatonische »Henophanie«

doxa geprägt, die für diese Tradition charakteristisch sind und diese scheinbar prekär werden lassen:247 Wie können wir das Absolute, das gegenüber allem Begreifen vollkommen transzendent ist, überhaupt thematisieren? Wie können wir von einem Absoluten, das jedem Begreifen entzogen ist, wissen? Besonders bedenklich scheint das energische Plädoyer, das Absolute als Prinzip begreifen zu wollen, das aber über Sein und Denken hinausgehen muss, um diese überhaupt erst zu bedingen: Wie kann aber das Absolute, das dem Denken – sogar dem reinen Denken, der νόησις248, – völlig entrückt ist, noch als Prinzip aller Dinge gedacht werden? Denn dem Absoluten kann keine Bestimmung im eigentlichen Wortsinn zugesprochen werden. Wenn wir es aber thematisieren, dann binden wir es notgedrungen in eine Relation ein, umgreifen es also im Denken. Avancierte dergestalt nicht das Denken selber zum Absoluten, insofern es dieses umfasste? Und wenn wir die vollkommene Transzendenz andererseits ernst nehmen, scheinen wir nur noch über sie schweigen zu können, wobei auch dieses Schweigen im Grunde schon ›zu viel‹ über das Absolute

247 Zur Paradoxie des absoluten Ursprungs bei Proklos s. Beierwaltes: Proklos, 357– 360. Dabei verweist Beierwaltes völlig zu Recht darauf, dass die Paradoxie »das unendliche ›Über-Hinaus‹ des Ursprungs über endliches Sein und Denken und über die absolute Grenze selbst als ein im Wissen Nicht-Wißbares oder als ein nur im Nicht-Wissen Gewußtes einsichtig« macht (ibid. 357–358). Auch wenn die höchste Einsicht paradox erscheint, so konstruiert Proklos damit keine aporetische ›Sack­ gasse‹. Vielmehr soll das Paradoxon darauf verweisen, dass sich das Absolute dem kategorialisierenden Denken notwendig entzieht. S. dazu die folgenden Überlegun­ gen, bes. § 16–19. 248 Die νόησις ist als reines Denken nichts anderes als das, was im Deutschen Idea­ lismus als intellektuelle Anschauung begriffen wurde (s. schon § 4 und § 9). Interes­ sant ist nun, dass νόησις und intellektuelle Anschauung zwar vollständige Selbst­ transparenz, worin sich das Denken als Denken seiner selbst durchleuchtet, bedeuten. Diese aber hat das henologische Streben, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, als ihre Bedingung. Auch das auf Kants Kritiken fußende »Ich-denke«, das alle meine Vorstellungen begleiten können muss, müsste letztlich so gewendet werden, dass es von einem ihm transzendenten Prinzip abhängt. – Interessanterweise wurde das Kantsche »Ich-denke« von Proklos antizipiert und ist daher kein Konstrukt der Neu­ zeit; In Parm. IV p. 958, bes. lin. 4–10: »ἢ οὐκ ἂν ἐγιγνώσκομεν πάσας, οὐδ᾽ ἂν εἴποιμεν ὅτῳ διαφέρουσι, μὴ ἑνός τινος τοῦ γιγνώσκοντος πάσας ἀμεροῦς ὄντος ἐν ἡμῖν, ὃ δὴ καὶ πρὸ τῆς κοινῆς αἰσθήσεως καὶ πρὸ δόξης καὶ πρὸ ἐπιθυμίας καὶ πρὸ βουλήσεως ὄν, καὶ τὰς ἐκείνων οἶδε γνώσεις καὶ τὰς ὀρέξεις αὐτῶν ἀμερῶς συνῄρηκεν, ἐφ᾽ ἑκάστῳ λέγον ἐγὼ τὸ καὶ τὸ ἐνεργῶ.« – Einen allgemeinen gehaltenen Überblick zur Noologie des Scholarchen bietet Beierwaltes: Procliana, 109–126. Für weitere Literatur s. auch Roh­ stock: Der negative Selbstbezug, 119–120, Anm. 406.

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2) Proklos und das »Eine in uns«

aussagt.249 Auch der bereits thematisierte Erscheinungs- oder Bildbe­ griff250 ist hierbei kritisch zu hinterfragen: Bilden wir das Absolute, insofern wir es als solches fassen, nicht ab? Kann aber eine Abbildung des Absoluten tatsächlich gelingen? Und in diesem Zusammenhang gilt es auch, zu hinterfragen, ob das Absolute nicht eine bloße Illusion unseres Denkens ist. Zu problematisieren ist also, inwiefern wir das höchst paradox anmutende Konzept absoluter Transzendenz stabili­ sieren können. Gibt es einen unabdingbaren Garanten, der für die Stabilität der Proklischen Henologie bürgen kann? Die Antwort auf diese altbekannten, schon im Hinblick auf Plotin thematisierten Probleme besteht in einem Konzept, das Proklos im Detail durchdacht und so die eher experimentellen Überlegungen Plotins zu präzisieren versucht hat: Die Rede ist von dem »Eine in uns« (unum in nobis bzw. τὸ ἐν ἡμῖν ἕν251). Das unum in nobis Theol. Plat. II c. 11, p. 65, lin. 13. Proklos’ Philosophie ist eine Erscheinungslehre oder Phänomenologie inhärent: vgl. § 12 mit § 23. Überblickend zur Erscheinungslehre bei Proklos Trouillard: La mystagogie de Proclus, 235–248. 251 Das Konzept des »Einen in uns« wird vor allem am Ende des siebenten Buches des Parmenideskommentars erörtert: In Parm. VII p. 505–521. Der Begriff spielt aber schon zuvor eine wichtige Rolle, etwa In Parm. VI p. 1072, lin. 6 und p. 1081, lin. 4. – Das »Eine in uns« wurde in der Forschung eher stiefmütterlich behandelt. Zum »Einen in uns« s. Werner Beierwaltes. »... in Allem eine unendliche Sehnsucht nach dem Licht des Einen«. In: Werner Beierwaltes. Denken des Einen: Studien zur neuplatonischen Philosophie und ihrer Wirkungsgeschichte. Frankfurt: Vittorio Klostermann 1985, 254– 280; bes. 274–279. Beierwaltes: Proklos, 367–382. Kurz, aber bemerkenswert konzise Cürsgen: Henologie und Ontologie, 276–279 und auch Paşcalău: Die ›Unartikulierbaren Begriffe‹, 54–64; bes. 61–64. Wichtig sind ferner die Beobachtungen Theo Kobuschs: »Negative Theologie als praktische Philosophie«, 185–200. – Ich habe bereits Über­ legungen zum »Einen in uns« angestellt (Max Rohstock. »Das Eine in uns und seine Erweckung: Das Fundament der Henologie des Platonikers Proklos«. Freiburger Zeit­ schrift für Philosophie und Theologie 68/2 (2021), 377–398). Diese liegen dem vor­ liegenden Kapitel, bes. § 15 und § 17–20, zugrunde. Allerdings sollen sie hier – erstens – in einen umfassenderen Kontext eingeordnet werden. Viel wichtiger aber ist, dass ich – zweitens – meine bisherigen Ergebnisse kritisch überprüfen und präzisieren möchte. Vor allem scheinen mir die Konsequenzen der Radikalität Proklischer Tran­ szendenzmetaphysik nicht mit der nötigen Verve betont worden zu sein. Die folgen­ den Erörterungen sind daher auch als Auseinandersetzung mit den dort formulierten Ergebnissen zu verstehen. – Die Bedeutung des »Einen in uns« für die Geschichte der abendländischen Philosophie hat Johann Kreuzer erkannt; Johann Christian Friedrich Hölderlin. Theoretische Schriften. Mit einer Einleitung und Anmerkungen hrsg. v. Johann Kreuzer. Hamburg: Felix Meiner, 2020, xi, Anm. 12: »Die Rede vom ›Gott in uns‹ […] verdankt sich der christlichen Fassung des neuplatonischen ›unum in nobis‹Gedankens. Eckhart von Hochheim und Tauler haben ihn tradiert. Das ›Eine in uns‹ 249

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II) Die neuplatonische »Henophanie«

ist, daran lässt Proklos keinen Zweifel, unser »Begriff« (conceptus/ ἐννοία252) vom Absoluten, nicht aber dieses selber. Es ist schon auf den ersten Blick zu erkennen, dass es kein herkömmlicher Begriff sein kann. Während alle positiv bestimmbaren Begriffe der Dialektik von Bejahung und Verneinung im Sinne des Platonischen Sophistês unter­ liegen, sodass es für jeden Begriff ein Pendant bzw. einen Gegenbegriff gibt und alle Begriffe miteinander durch Relation verbunden sind, sich gewissermaßen wechselseitig ›bespiegeln‹, versteht Proklos das »Eine in uns« vielmehr als reinen Verweis253 auf das Absolute und dergestalt als ›negativen Begriff‹254; es ist in seinen Augen nichts anderes als das auf das Absolute hingespannte Streben. Verweis und Streben lassen sich, wie wir im Folgenden sehen werden, bei Proklos im transzen­ dierenden Negieren aller Begriffe und Bestimmungen aufdecken und als basale Grundmomente des Seins zu Bewusstsein bringen, gerade weil im simultanen Negieren der konkreten Ideentotalität255 über den Horizont intelligibler Erscheinungen hinaus auf das von allem losgelöste Eine verwiesen wird. Dergestalt erfüllt das »Eine in uns« in der Metaphysik Proklos’, so erstaunlich dies auch im ersten Moment klingen mag, die zentrale systematische Funktion. Ohne es, so die These, ist die henologi­ sche Metaphysik und Prinzipientheorie Proklos’ nicht verstehbar. Und mithin wäre ohne es seine Erkenntnistheorie, überdies seine gesamte Ontologie und schließlich seine praktische Philosophie256 ist der Grund im Bewußtsein.« Vgl. Johann Kreuzer. Gestalten mittelalterlicher Philo­ sophie: Augustinus, Eriugena, Eckhart, Tauler, Nikolaus von Kues. München: Wilhelm Fink, 2000, 119–120, Anm. 8. Vgl. ferner Enders: »Zum Ort der Einheits-Metaphysik im Denken von Karl Jaspers«, 546. 252 In Parm. VII p. 518, lin. 15–16. 253 Was die in diesem Zusammenhang erwähnte und kursiv gesetzte Reinheit bedeu­ tet, wird im Folgenden erörtert; s. bes. § 16–19. 254 Das »Eine in uns« wird bereits von Werner Beierwaltes – implizit, aber völlig zu Recht – als negativer Begriff gewertet (Proklos, bes. 367–368). 255 Zum vielschichtigen Begriff der (intelligiblen) Totalität bei Proklos s. Theo Kobusch. »Das Eine ist nicht das Ganze«. In: Alain-Philippe Segonds und Carlos Steel (Hg). Proclus et la Théologie Platonicienne. Leuven: University Press / Paris: Les Belles Lettres, 2000, 311–323. 256 Zur praktischen Seite der Proklischen Philosophie können drei Punkte angeführt werden: (i) Die Proklische Metaphysik besitzt eine eminent praktische Ausrichtung: Einerseits geht es Proklos um eine geradezu existenzphilosophische Selbstfindung. Andererseits gibt er als Ziel die Einung mit dem Absoluten an, durch die eine – gewissermaßen ›übersteigerte‹ – Seelenruhe eintreten soll (s. dazu bes. Kobusch: »Metaphysik als Lebensform«, 27–56 und »Negative Theologie als praktische Philo­

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2) Proklos und das »Eine in uns«

nicht zu greifen. Daher vermag das »Eine in uns« das Verhältnis von Noologie und Henologie zu klären.257 Dergestalt darf es also als ›Schnittstelle‹ zwischen dem Einen und dem Horizont seiner (intelligiblen) Erscheinung begriffen werden, wodurch sich sogleich erahnen lässt, dass das »Eine in uns« exakt die Systemstelle einnimmt,

sophie«, 185–200. Vgl. auch Beierwaltes: Procliana, 25–60 und 61–64). Es bleibt aber freilich zu beachten, dass die mystische Einung durch metaphysische Analysen fun­ diert wird, insofern diese Einung ohne das »Eine in uns« weder versteh- noch durch­ führbar ist (s. unten § 20). (ii) Wie wir im Folgenden noch sehen werden, besitzt die Proklische Philosophie auch eine praktische Komponente, die an Meister Eckharts Konzept der vita activa und Fichtes Anweisung zum seligen Leben gemahnt (s. dazu § 48). Kurz gesagt ist für Proklos der Platonische Sokrates der wahre Liebende – und als solcher ist er die Verkörperung einer philosophisch inspirierten und fundierten vita activa: Er ist Lehrmeister für ein gutes Leben und fördert seine Schüler, was besonders im Alkibiadeskommentar zur Geltung kommt (etwa In Alc. p. 53, lin. 8–12). Das für­ sorgliche Handeln des Meisters im Hier und Jetzt ist wiederum bedingt durch die höchste Einsicht, die sich gerade in einem besonnenen Selbstbescheid gegenüber der Transzendenz artikuliert. S. dazu unten, § 22. Dass negative Theologie keine Welt­ flucht impliziert, zeigt Hansjürgen Verweyen. »Negative Theologie: Weltflucht oder Weltdienst?« In: Marco M. Olivetti (Hg). Théologie négative. Padova: CEDAM, 2002, 201–209. Verweyen betont das ur-Platonische »Wissen um das »Gut(e)«, das er völlig zutreffend als »Evidenz der sittlich-praktischen Vernunft« versteht. (iii) Proklos ist als später Neuplatoniker – wie schon Iamblichos – mehr dem Ritual und der Theurgie zugeneigt als Plotin. Zur Theurgie bei Proklos s. Robbert M. van den Berg. »Theurgy in the Context of Proclus’ Philosophy«. In: Pieter d’Hoine und Marije Martijn (Hg). All from One: A Guide to Proclus. Oxford University Press, 2017, 223–239. Dieser Fokus auf die Ritualpraxis und nicht zuletzt die Theurgie wird in der älteren Forschung oft mit Irrationalität konnotiert. Wie sich aber im Folgenden zeigen wird, ist das Pro­ klische Denken systematischer Natur und steht auf dem Fundament besonnenen Analysierens. Zu erwähnen ist ferner, dass Proklos das Gebet geradezu existenzphi­ losophisch wendet und so in seine Metaphysik integriert (s. dazu Michael Erler. »Selbstfindung im Gebet: Integration eines Elements epikureischer Theologie in den Platonismus der Spätantike«. In: Theo Kobusch, Burkhard Mojsisch und Orrin F. Summerell (Hg). Selbst – Singularität – Subjektivität: Vom Neuplatonismus zum Deut­ schen Idealismus. Amsterdam/Philadelphia: Grüner, 2002, 23–40; bes. 39). 257 Sicherlich verbindet Plotin Noologie und Henologie – wie oben gezeigt – stärker als Proklos. Allerdings bleibt diese Komponente bestehen. Denn wenn erst im »Einen in uns« die Grenze affirmativer Theologie erfahren wird, dann wird dem Denken seine letzte Grenze und seine eigene Nicht-Absolutheit im Hinblicken auf das Absolute selber bewusst. Erst in diesem letzten Schritt, in dem alle positiven Bestimmungen negiert werden, kann das Denken des absoluten Geistes vollendetes Selbstbewusst­ sein erfahren, da es nur so seine Grenzen vollständig ›ausgelotet‹ hat. Und nur so generiert sich die νόησις, also die intellektuelle Anschauung. – Wie wir im Folgenden sehen werden, lässt sich bei Proklos auch für die Seele eine höchste Einsicht konsta­ tieren, in der sie erkennt, dass der Geist nicht das Absolute selber ist (bes. § 18–19).

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II) Die neuplatonische »Henophanie«

die bei Plotin der νοῦς ἐρῶν besetzt hat.258 So nimmt das »Eine in uns« im Rahmen des klassischen Dreischritts von »Reinigung« (κάθαρσις), »Erleuchtung« (ἔλλαμψις) und »Vollendung« (τελείωσις) die entscheidende vermittelnde Position ein. Dergestalt darf es nicht einfach mit der Einung mit dem Absoluten, der sog. ἕνωσις oder unio mystica, verwechselt werden. Ohnehin scheint bei Proklos weniger die Einung, sondern viel mehr das »Eine in uns« die Zentralstelle innerhalb seines metaphysischen Komplexes einzunehmen. Es ist zwar von der Einung kaum – oder genauer: nicht-kategorial – zu trennen; und doch ist unschwer zu erkennen, dass ohne die primäre Entzündung der Flamme innerer »Begeisterung« (ἐνθουσιασμός259), die die »Erweckung« des Absoluten in uns ausmacht, Einung wohl kaum möglich wäre.260 Parallelisieren wir das »Eine in uns« vorläufig mit dem Plotini­ schen νοῦς ἐρῶν ergibt sich folgendes Bild: Das »Eine in uns« ist der aus der Analyse261 des Denkens heraus eingesehene Einheits- und Mit dem »Einen in uns« wird nämlich, wie wir im Folgenden sehen werden, die letzte Grenze von Sein und Denken beschrieben, der zugleich die unendliche, überbestimmte Kraft (ἀπειροδυναμία) immanent ist. – Zu Proklos’ Rezeption von Speusipp s. Leonardo Tarán. »Proclus and the Old Academy«. In: Jean Pépin und Henry D. Saffrey (Hg). Proclus: Lecteur et interprète des anciens. Paris: Éditions du CNRS, 1987, 227–276; bes. 228–246. 259 Zur »Begeisterung« s. bes. In Parm. VI p. 1071, lin. 17–24. Theol. Plat. I c. 24, p. 108, lin. 7–11. De prov. § 19, lin. 13–21 und § 31, lin. 1–9; vgl. ibid. § 32, lin. 1–5. De dec. dub. § 64, lin. 10–12. In Remp. I p. 180–186. Vgl. dazu Beierwaltes: Denken des Einen, 302–303 und Catena Aurea, 93–94. Zur »Begeisterung« s. ferner auch § 18– 20. 260 Zur Erweckung des »Einen in uns« s. Kobusch: »Negative Theologie als praktische Philosophie«, 185–200. Kobusch geht völlig zu Recht davon aus, dass durch dieses »Aufwecken« eine »Bewußtseinsänderung« oder eine »Art der Metamorphose« ein­ trete (ibid. 197). Und sicherlich ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Erweckung mit der »Einswerdung« verknüpft ist. Es scheint aber so zu sein, dass das »Eine in uns« eher Fundament der mystischen Erfahrung der »Einung« (ἕνωσις) ist, nicht aber mar­ kiert es selber diese Einung (s. dazu unten, § 20). Insofern kann die Einung nicht mehr (direkt) als das funktionale Zentrum der Proklischen Metaphysik gewertet werden. Aber auch wenn die Einung nicht mehr dieses Zentrum sein sollte, so darf die Mystagogie sicherlich zu Recht als Kernelement der Proklischen Henologie ausge­ zeichnet werden. Letztes Ziel menschlich-seelischer Bemühungen ist nämlich nach Proklos die Einung mit dem Absoluten selber. Damit entspricht die Proklische ἕνωσις der Plotischen ἔκστασις (Halfwassen: Plotin und der spätantike Neuplatonismus, 161) – und, so sollte hinzugefügt werden, das »Eine in uns« dem »liebenden Geist«. 261 Dass die Proklische Philosophie systematisch angelegt ist, hat bereits Werner Beierwaltes zeigen können (»Proklos: Ein systematischer Philosoph?« In: Jean Pépin 258

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2) Proklos und das »Eine in uns«

Disjunktionspunkt der Proklischen Metaphysik. Dergestalt, so die These, ist dieser Punkt weniger das Absolute selber, sondern eher das Scheinen des Absoluten, weshalb wir vermuten können, dass Proklos mit seinem Konzept des unum in nobis eine Henophanie, also eine Lehre vom Scheinen – und Erscheinen – des Absoluten, entworfen hat. Es ist – mit anderen, phänomenologischen Worten gesprochen – der eine Horizont262, in dessen Licht alles seine Bestimmung erfährt, und es hat, wie schon Plotins »liebender Geist«, eine doppelte Bedeu­ tung, wobei diese zwei Aspekte einer genauen Analyse unterzogen werden müssen: Zum einen (i) übernimmt die im »Einen in uns« ausgedrückte Liebe zum Absoluten eine anthropologisch-soteriologi­ sche Funktion, dergestalt nämlich, dass sie ›beseligend‹ wirkt und das höchste Ziel, die ἕνωσις, präfiguriert und ermöglicht. Wir wären ohne diese Liebe nie bewusst auf das Absolute hin ausgerichtet und daher wäre ohne sie die Vollendung der Proklischen Metaphysik nicht realisierbar. Das »Eine in uns« erfüllt demnach eine essentielle anago­ gische, ja gar mystagogische Funktion.´ Zum anderen (ii) scheint es – so erstaunlich diese Aussage im Angesicht der Tatsache, dass Proklos nicht müde wird, das Eine als Prinzip aller Bestimmungen zu feiern, auch anmuten mag – Sein und Denken zu fundieren. Es erhellt also auch die Proklische Ontologie und Epistemologie und damit die gesamte Erscheinungslehre. In beiden Fällen, die freilich, worauf im Folgenden besonders zu achten ist, nicht einfach voneinander zu trennen sind und hier nur aus hermeneutischen Gründen unterschieden werden, wird diese aspektreiche Zentralstelle mit einer ganzen Reihe an weiteren Kon­ zepten verknüpft, derer wir uns im Folgenden annehmen müssen: Zu nennen sind hier – einerseits – anagogisch konzipierte Begriffe wie das bereits genannte Streben ›zum Absoluten‹263, also die henologi­ sche ὄρεξις bzw. der henologische ἔρως.264 Wilhelm von Moerbeke, und Henry D. Saffrey (Hg). Proclus: Lecteur et interprète des anciens. Paris: Éditions du CNRS, 1987, 351–368). Proklos analysiert das Denken und dessen reflexive Grund­ struktur aus diesem selbst heraus. Dezidiert betreibt er dabei Methodenreflexion. Und dadurch kann er die »Hohlstelle« im Begreifen aufdecken und so erweisen, dass sich das Denken selber bescheiden soll: Es soll in Besonnenheit einsehen, dass es selber nicht das Absolute ist. 262 S. hierzu § 21–23. 263 Wie bei Plotin ist es auch bei Proklos, wie wir noch sehen werden (§ 17), präziser, von einem henologischen Streben zu sprechen. 264 Hierzu und den weiteren anagogischen Begriffen s. § 18–19 und § 21–23.

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II) Die neuplatonische »Henophanie«

der den bis zum frühen 20. Jahrhundert verschollenen letzten Teil von Proklos’ Parmenideskommentar im 13. Jahrhundert ins Lateinische übertragen hat,265 lässt Proklos’ Begriff ὠδίς – interessanterweise – meist unübersetzt, gibt ihn aber auch mit »Streben« (etwa motio266) wieder, wobei anzumerken ist, dass dieser Begriff zugleich den nicht zu bannenden intelligiblen »Geburtsschmerz« meint und somit die produktive Seite anagogischer (Strebe-)Begriffe ganz unzweideutig hervortreten lässt.267 Auch sind in diesem Zusammenhang die tran­ szendierenden Negationen zu nennen, die freilich nicht bloß eine verweisende und mithin anagogische Funktion erfüllen, sondern nach Proklos auch eine produktive oder generierende Kraft (δύναμις) ent­ falten.268 Gerade vor dem Hintergrund dieser generierenden Kraft müs­ sen – andererseits – auch Begriffe in die Betrachtung einfließen, denen von Proklos ganz offensichtlich eine prinzipientheoretische Funktion zuerkannt wird: Zu nennen sind hier die nur schwer ver­ Zitiert wird der Parmenideskommentar – es ist nicht übertrieben, ihn als das spekulativste und mithin wichtigste Werk von Proklos anzusehen, – nach der Ausgabe Carlos Steels. 266 In Parm. VII p. 511, lin. 27. Vgl. die griechische Retroversion p. 511, lin. 27. – Damit lässt sich dieser Begriff mit der tensio, dem Hinspannen auf das Absolute, identifizieren, das aber im Zuge der Einung negiert und überstiegen werden muss (In Parm. VII p. 521, lin. 16–18). 267 In Parm. VII p. 509–511. S. dazu bes. § 18–19 und § 21. – Bei dem »Geburts­ schmerz« handelt es sich um eine Metapher, die vielleicht genauer in der negativen Theologie ausgedrückt wird: Aus der (noch zu erörternden) Indefinitheit des Negie­ rens heraus werden konkrete Begriffe und Begriffsbildungen bedingt. 268 Zur Prinzipfunktion der Negationen, ihrer ›Produktivität‹ und ›Kreativität‹ s. unten, § 19 und § 21. Dass Proklos’ Metaphysik im Kern eine negative Theologie – oder eher: Theologik – ist, ist allgemein bekannt: Cürsgen: Henologie und Ontologie, 13: »Das Ganze des Proklischen Ansatzes tritt als Entwicklung einer apophatischen Metaphysik hervor, die das Telos jeden Denkens, das Eine, diesem immer radikaler entzieht.« S. ferner ibid. 238–242. Beierwaltes: Proklos, 339–366. Halfwassen: Plotin und der Neuplatonismus, 156–161, Hegel und der spätantike Neuplatonismus, 414–431 und Auf den Spuren des Einen, 165–183. Theo Kobusch. »Abstraktion«. Historisches Wörterbuch der Philosophie 1 (1971), Sp. 44–47 und »Negative Theologie als praktische Metaphysik«, 193–194. Thomas Rentsch. »Theologie, negative«. Historisches Wör­ terbuch der Philosophie 10 (1998), Sp. 1102–1105; hier 1102. Dirk Westerkamp. Via negativa: Sprache und Methode der negativen Theologie. München: Fink, 2006, 14–23. In diesem Zusammenhang ist schließlich und mit Nachdruck darauf zu verweisen, dass Proklos mindestens drei unterschiedliche Negationsformen kennt und dezidiert unterscheidet. S. dazu unten, § 16. In erhellender Kürze dazu auch Halfwassen: Plotin und der Neuplatonismus, 158–159. 265

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2) Proklos und das »Eine in uns«

ständlichen Henaden, die selber nicht das Absolute sind, aber doch das Sein transzendieren.269 Besonderes Interesse soll dabei ihrer »Vorsehung« (πρόνοια) gelten, die ihre ganz eigene Wirk-»Kraft«

Zu den Henaden und den mit ihnen verknüpften Konzepten s. die Diskussion in § 21–23. Unmittelbar verknüpft sind sie mit dem Konzept des »Einen in uns«, das gewissermaßen ihr Inbegriff ist. – Die Forschung hat die Henaden zwar durchaus beachtet, aber doch eher stiefmütterlich behandelt. Sie wurde zuweilen auch schlicht abgelehnt: So heißt es in der Edition der Stoicheiôsis theologikê von Eric R. Dodds, die Lehre diene vor allem der – freilich vergeblichen – Restitution des Polytheismus (The Elements of Theology. A revised Text with Translation, Introduction, and Commentary by Eric R. Dodds. 2nd Edition Oxford/New York: University of Oxford Press, 1963 [ND Oxford: Clarendon Press, 1992], 259–260). Selbst in Forschungsarbeiten, in denen die Proklischen Lehren philosophisch ernsthaft und zutreffend analysiert wer­ den, stellt sich eine gewisse Skepsis gegenüber der Funktionalität dieser Lehre ein (Halfwassen: Der Aufstieg zum Einen, 117). In Werner Beierwaltes bekannter Habili­ tationsschrift zu Proklos fehlt sogar eine dezidierte Auseinandersetzung mit den Hen­ aden ganz. Nichtsdestoweniger ist das Interesse an der Henadenlehre in letzter Zeit gestiegen, sodass ihre herausragende systematische Funktion innerhalb der Prokli­ schen Metaphysik nun endlich gebührend betont wird. Grundlegend für die Hen­ adenlehre ist zunächst einmal die Abhandlung von Henry D. Saffrey und Leenhard G. Westerink (Théologie Platonicienne. Vol. 3, Texte établi et traduit par Henry D. Saffrey et Leenhard G. Westerink. Paris: Les Belles Lettres, 1978, ix–lxxvii). Neuerdings lässt sich auf die soliden Arbeiten Dirk Cürsgens (Henologie und Ontologie, 74–83, 136– 152 und 232–235) und Friedemann Drews (Teilhabe-Ontologie und interreligiöser Dia­ log im Platonismus und Christentum: ›Gott ist Richter mitten unter den Göttern‹ (Ps. 82, 1b): Monotheismus, Polytheismus und Teilhabe-Ontologie im Platonismus und Chris­ tentum, die Henaden bei Proklos und der interreligiöse Dialog bei Nikolaus von Kues. Tübingen: Mohr Siebeck, 2017, 133–184) zurückgreifen. Zentrale wie erhellende Stu­ dien stammen von Gerd van Riel. »The One, the Henads, and the Principles«. In: Pieter d’Hoine und Marije Martijn (Hg). All from One. Oxford University Press, 2017, 73– 97 und »Les hénades de Proclus: Sont-elles composes de limite et d’illimité?« Revue des scienes philosophiques et théologiques 85 (2001), 417–432. S. ferner Gerald Bechtle. »Göttliche Henaden und platonischer Parmenides: Lösung eines Mißver­ ständnisses?« Rheinisches Museum für Philologie 142 (1999), 358–391. Ilinca Tana­ seanu-Döbler. »›Alles, was am Einen teilhat, ist Eins und Nicht-Eins‹: Zur Darstellung des Göttlichen in der Elementatio theologica des Proklos«. In: Alfons Fürst, Luise Ahmed, Christian Gers-Uphaus und Stefan Klug (Hg). Monotheistische Denkfiguren in der Spätantike. Tübingen: Mohr Siebeck, 2013, 243-267. Kurz, aber instruktiv ist ferner Veronika M. Roth. Das ewige Nun: Ein Paradoxon in der Philosophie des Prok­ los. Berlin: Duncker & Humblot, 2008, 90–96. 269

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II) Die neuplatonische »Henophanie«

oder -»Macht« (δύναμις270) – oder genauer: ihre ἀπειροδυναμία271, also ihre »unerschöpfliche Kraft«, – auszumachen scheint. Fernerhin erwähnt Proklos in diesen Zusammenhängen das scheinbare Gegen­ satzpaar »Grenze« (πέρας) und »Unbegrenztheit« (ἄπειρον)272 und das »Licht« (φῶς273), also das Scheinen des Absoluten, das an ihm 270 Der Begriff der δύναμις meint – wie schon bei Plotin – eine Kraft oder Macht und keine bloße Möglichkeit (bes. Theol. Plat. III c. 8, p. 34, lin. 7–11). S. dazu Stephen Gersh. κινησις ακινητος: A Study of spiritual Motion in the Philosophy of Proclus. Leiden: Brill, 1973, 27–48 und die Abhandlungen von Saffrey: »Fonction divine de la δυναμις dans la Théologie Proclinienne«. In: Francesco Romano und R. Loredana Cardullo (Hg). Dunamis nel Neoplatonismo. Firenze: La Nuova Italia Editrice, 1996, 107–120 und Carlos Steel. »Puissance active et puissance receptive chez Proclus«. In: Francesco Romano und R. Loredana Cardullo (Hg). Dunamis nel Neoplatonismo. Firenze: La Nuova Italia Editrice, 1996, 121–137. Die »vollendete« δύναμις ist, so lautet Steels zutreffende Analyse, der höchste Akt, der alles begründet; ibid. 121: »La puissance parfaite est celle qui est capable d’apporter par elle-même l’actualité, d’abord parce qu’elle peut s’actualiser elle-même sans avoir besoin d’une aide extérieure, ensuite parce qu’elle peut conférer l’actualité à d’autres choses qui n’en sont pas capables par elles-mêmes, et les rendre ainsi parfaites. Cette puissance est souvent caractérisée par des adjectifs comme δραστήριος efficace, γόνιμος féconde, γεννητικός, génératrice, τελεσιουργός, τελειωτικός, perfectrice.« Wie bereits angedeutet wurde, spricht Proklos eine produktive, generierende Kraft unmittelbar bzw. intim sowohl seinen erotischanagogischen wie auch seinen pronoetisch-caritativen Begriffen zu. Die Kraft, etwas indirekt hervorzubringen, also zu bedingen, inhäriert nach Proklos u.a. dem transzen­ dierenden Negieren, dem henologischen Streben, den Henaden und ihrer »Vorse­ hung« und dem »Ur-Gegensatzpaar« von Grenze (πέρας) und Unbegrenztheit (ἄπειρον), die nichts anderes sind als die obersten Henaden (Theol. Plat. III c. 9, p. 36, lin. 13–15). Zur δύναμις und ihrer Verbindung mit dem transzendierenden Negieren, der »Vorsehung« und den Henaden s. § 21–23. 271 Die »unbegrenzten Kraft« ist bes. im Hinblick auf die sog. Vorsehung (πρόνοια) auszudeuten: S. § 22. 272 Werner Beierwaltes nennt sie das »Ur-Gegensatzpaar« (Beierwaltes: Denken des Einen, 208). Grenze und Unendlichkeit sind, so lässt sich durchaus konstatieren, die obersten Prinzipien der Proklischen Philosophie. Freilich sind sie nur aus hermeneu­ tischen Gründen zu trennen, eigentlich aber doch eins (Theol. Plat. III c. 8, p. 30–34). Dass Grenze und Unbegrenztheit die obersten Götter selber und mithin unmittelbar mit der Henadendimension verknüpft sind, ist der Forschung hinreichend bekannt (Henry D. Saffrey. »Fonction divine de la δυναμις, 112 und van Riel: »Les hénades de Proclus«, 417–432; bes. 427), obgleich das Verhältnis dieses Prinzipienpaares zu den Henaden nicht ganz einfach zu durchschauen ist (Tuomo Lankila. »Henadology in the two Theologies of Proclus«. Dionysius 28 (2010), 63–76). Weil sie aber offenbar oberste Prinzipien sind, werden Grenze und Unbegrenztheit im Folgenden in die Dis­ kussion der produktiven δύναμις, des transzendierenden Negierens und der »Vorse­ hung« integriert: S. § 21–23. 273 Bes. Theol. Plat. III c. 4. Zum Licht als tragenden Horizont s. § 22. – Die Licht­ metapher ist mehr als ein bloß rhetorisches oder dichterisches Moment. Vielmehr ist

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2) Proklos und das »Eine in uns«

selber nicht konkret ›ist‹, aber alle Bestimmungen konturiert. Durch dieses Konzept lässt sich zugleich erhellen, wieso die lichtenden Henaden dem Begreifen entzogen sind, aber doch unmittelbar präsent sein müssen: Denn ohne diese Präsenz scheint Denken unmöglich zu sein. Das Licht macht also die merkwürdig anmutende Simultanität von Transzendenz und Immanenz der Henaden verständlich. Diese Aspekte sind innig miteinander verknüpft und bilden den einen hintergründigen Horizont, der die Henophanie des Scholarchen ausmacht. Sie konvergieren, worauf mit Verve hingewiesen sei, im Konzept »Einen in uns«, insofern dieses gewissermaßen deren Inbe­ griff ist. Wird der innere Zusammenhalt dieser Aspekte von uns eingesehen, wird also das unum in nobis in uns erweckt,274 entzün­ det sich in uns eine göttliche »Begeisterung« oder »Besessenheit« (ἐνθουσιασμός), worin die Spitze der Zweifelsfreiheit erreicht ist und das Proklische System sein unerschütterliches Fundament findet:275 Mit diesen Konzepten avanciert also das »Eine in uns« zur Grund­ legung der henologischen Anagogik und – in letzter Konsequenz sie intrinsischer Bestandteil der Transzendenzmetaphysik. Das Licht kann auch durch­ aus im Jaspers’schen Sinne als Chiffre begriffen werden, insofern der neuplatonische Lichtbegriff die Eindimensionalität des logischen Verstandesraumes sprengt und so auf Transzendenz verweist. 274 Zur »Erweckung« s. unten, § 18–19. Wir sollen selber den inneren Zusammen­ hang einsehen. Das meint nicht nur, den inneren Zusammenhang dieser Aspekte, also die Struktur der Proklischen Henophanie, zu untersuchen, um so die Funktionalität des »Einen in uns« zu verstehen und seine herausragende Bedeutung als Garanten für die Stabilität der Proklischen Henologie einschätzen zu können. Wenn Proklos näm­ lich von einer »Erweckung« des »Einen in uns« spricht, dann meint er damit, dass wir uns der anagogischen Argumentation ganz hingeben sollen: Eine innere Haltung wird gefordert, die das distanzierte Verhältnis der Wissenschaftler*innen zu ihrem Sujet im Grunde übersteigt und sie in Philosoph*innen – genauer: in wahre Philo­ soph*innen, in Neuplatoniker*innen also, – verwandeln soll. Die Wissenschaft­ ler*innen müssen Philosophen*innen werden; und die Philosophen*innen Neupla­ toniker*innen. Diesen Anspruch trägt Proklos an uns heran. Ohne diese innere Haltung wird in uns niemals die Gottbesessenheit durchbrechen, wodurch aber das ganze Proklische System für uns fraglich und fragil bliebe. 275 Zur »entheatischen« ›Erkenntnisweise‹, der »göttlichen Inspiration« also, und ihrer Beziehung zu anderen Formen des Verstehens, etwa der Dialektik, s. Stephen Gersh. »Proclus’ theological Methods: The Programme of Theol. Plat. I 4«. In: AlainPhilippe Segonds und Carlos Steel (Hg). Proclus et la Théologie Platonicienne. Leuven University Press / Paris: Les Belles Lettres, 2000, 15–27 und Jean Pépin. »Les modes de l’enseignement théologique dans la Théologie Platonicienne«. In: Alain-Philippe Segonds und Carlos Steel (Hg). Proclus et la Théologie Platonicienne. Leuven Univer­ sity Press / Paris: Les Belles Lettres, 2000, 1–14. S. ferner unten, § 18–19.

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II) Die neuplatonische »Henophanie«

– der Mystagogie einerseits und zur Bedingung der Möglichkeit ein­ heitlichen Erfassen- und Differenzieren-Könnens andererseits. Es lässt sich so zum Einheits- und Disjunktionspunkt der Proklischen Philosophie oder zur protologischen Ur-›Kreativität‹, durch die alle Bestimmungen entfaltet werden, stilisieren, worin jede ontische oder begriffliche »Genese« (ποίησις) bedingt wird. Mit anderen Worten entfaltet das »Eine in uns« eine doppelt produktive Bedeutung, also sowohl in anagogischer (aufsteigender) als auch in kreativer (abstei­ gender) Hinsicht. Und dieser doppelten Funktion des »Einen in uns« wollen wir im Folgenden auf die Spur kommen.

§ 15) Die Entdeckung des Verwiesen-Seins Um das »Eine in uns« näher zu bestimmen und in uns zu erwecken, muss zunächst das Verwiesen-Sein aller Vielheit, worunter Bestim­ mungen genauso fallen wie das reine Denken und die Seele, auf absolute Einheit hin herausgearbeitet werden. Schließlich geht es Proklos insgesamt um die Rückführung aller Vielheit auf absolute Einheit.276 Gerade dieser Topos wird in besonderem Maße in den ersten fünf Propositionen der Stoicheiôsis theologikê277, also der Prin­ zipientheoretischen Elementarlehre, entwickelt, wenngleich sich diese Elementarlehre innerhalb des umfangreichen Œuvres des berühmten Scholarchen freilich durch einen eher propädeutischen Charakter aus­ zeichnet. Die Grundsatzfrage des spätantiken Neuplatonismus lautet: Wie ist die Faktizität der Vielheit und der Differenz, die vom Denken in sich selber vorgefunden wird, zu erklären und zu fundieren? Denn die Viel­ heit, worin die Differenz ihre Heimat hat, kann sich nicht, wie sich im Folgenden noch zeigen wird, aus sich selbst heraus fundieren. Diese Frage verlangt daher als Antwort den Rückgang auf die Bedingung der Möglichkeit von Sein, Leben und Denken überhaupt. Insbesondere der Neuplatonismus vom Schlage eines Plotin oder Proklos insistiert darauf, dass Sein, Leben und Denken nicht vollkommen selbstständig, sondern von einem noch mächtigeren Einheitsprinzip abhängig sind. 276 Vgl. Cürsgen: Henologie und Ontologie, 49 mit Verweis auf St. theol. prop. 123 in Anm. 41: Proklos argumentiere nicht vom Absoluten, sondern »von der Seite des Bedingten, Untergeordneten und schon Abgeleiteten« ausgehend. 277 Überblickend zur Stoicheiôsis s. Cürsgen: Henologie und Ontologie, 37–87.

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2) Proklos und das »Eine in uns«

So bemüht sich Proklos also um den Aufweis dieses Einheitsprinzips. Ein besonders eindringliches Argument liefert er in den ersten Propo­ sitionen seiner Stoicheiôsis theologikê.278 Jede Vielheit, so schreibt er in der ersten These des genannten Werkes, müsse »irgendwie« am Einen, also dem obersten einheitsstif­ tenden Prinzip, »teilhaben«.279 Würde eine Vielheit nicht am Einen teilhaben, wäre die Vielheit unbestimmt oder unbegrenzt und ergäbe kein in sich geschlossenes Ganzes. Das bedeutet, dass die Totalität uns erscheinender Bestimmungen eine innere Einheit aufweisen muss, weil sie ohne diese gerade nicht als das Ganze der Erscheinungen begriffen werden könnte. Auch jedes einzelne Element einer erschei­ nenden Menge wäre ohne die denknotwendige Einheit nicht in sich geschlossen, wäre also unbestimmt und mithin nicht das, was es ist. Einheit ist also die Grundvoraussetzung für begrifflich fassbare Bestimmtheit. Proklos unterstreicht diesen Gedanken, indem er den Gedanken einer privativen Nicht-Bestimmtheit, Unbegrenztheit oder Unendlichkeit, die er ἄπειρον nennt, als Scheingedanken entlarvt: Der Begriff des Ganzen umfasst bei Proklos schlechthin alles, also das Ganze des Realen und Idealen. Wenn dieses Ganze unbe­ stimmt wäre, wäre es kein Ganzes, sondern eine unbestimmte Vielheit – mit anderen Worten: ein ἄπειρον. Insofern das Ganze in sich ein­ zelne Elemente aufweist, ist unter der Bedingung der Nicht-Teilhabe am Einen sogar jedes Element des Ganzen wiederum unbestimmt und 278 St. theol. prop. 1, p. 2, lin. 1–14. Vgl. Theol. Plat. II c. 1, p. 12–14. Vgl. auch In Parm. VII p. 500, lin. 10–31. Im Parmenideskommentar erfolgt eine Wendung, in der die affirmative Theologie der Stoicheiôsis überwunden und zur negativen Theologie übergeleitet wird. Zwar wird dort noch immer eine Teilhabe am Einen proklamiert, aber mit der Wendung, dass das einfachhin Eine (unum simpliciter), das Absolute also, unpartizipierbar sei (In Parm. VII p. 500, lin. 32 – p. 502, lin. 10. Vgl. St. theol. prop. 23–24). Dementsprechend lässt sich schlussfolgern, dass am Anfang der Elementar­ lehre im Grunde gar nicht das Absolute, sondern nur unser Begriff des Einen thema­ tisiert wird. Genau aus diesem Grund kommt es, wie wir im Folgenden sehen werden, zu einer zunächst merkwürdig anmutenden ›Verschiebung‹ der Prinzipfunktion vom Absoluten zum Streben und Negieren (u.a.), wobei es sich im Grunde nicht um eine Verschiebung im eigentlichen Sinne, sondern lediglich um eine korrigierende Präzi­ sierung der Position der Elementarlehre handelt – und zwar, so muss mit Verve betont werden, unter Zuhilfenahme der im Parmenideskommentar erörterten negativen Prin­ zipientheorie: S. dazu unten, § 16–17. 279 St. theol. prop. 1, p. 2, lin. 1: »πᾶν πλῆθος μετέχει πῃ τοῦ ἑνός.« – Genau genommen meint πλῆθος »Menge« (Cürsgen: Henologie und Ontologie, 43 mit Anm. 23). Freilich kann diese philologische Nuance für die folgenden Spekulationen vernachlässigt wer­ den.

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II) Die neuplatonische »Henophanie«

insofern eine unbestimmte Vielheit, also ein ἄπειρον. Jedes Einzelne ist nach Proklos nämlich entweder Einheit oder Nicht-Einheit. Wenn es eine Nicht-Einheit ist, ist es entweder nichts oder eine Vielheit. Da es nicht nichts ist, muss es eine Vielheit sein. Wenn es eine Vielheit und diese aufgrund der ihr fehlenden Einheit ein ἄπειρον ist, ist hier eine Verdopplung der Unbestimmtheit oder Unendlichkeit280 erreicht, die freilich absurd ist. Denn privative Unendlichkeit lässt sich nicht steigern. Die Absurdität dieses Gedankens wird noch weiter dadurch unterstrichen, dass jedes Einzelne als Vielheit wiederum einzelne Elemente aufweist, die wiederum, insofern sie keine Einheit besitzen, unbestimmte Vielheiten sind, wodurch es zur infiniten Potenzierung der unbestimmten Vielheit kommt. Der Gedanke einer infiniten Potenzierung von privativer Unendlichkeit kollabiert in sich selbst und löst sich durch sich selbst in epistemische Unverantwortlichkeit, in Bedeutungslosigkeit, ja ins privative Nichts auf. Daher ist der Gedanke an eine völlig unbestimmte Vielheit ein bloßer Scheinge­ danke. Es ist epistemisch schlicht unverantwortlich, zu behaupten, dass das Ganze der Erscheinung und jedes Einzelne nicht an der Einheit teilhätten. Demgegenüber ist die Annahme einer reinen, nicht durch Vielheit und Konkretion belasteten und daher nicht-konkreten Einheit vernünftig, gerechtfertigt, ja sogar notwendig. In den folgenden Propositionen wird diese Einsicht abgesichert und um einige wichtige Aspekte erweitert. In der zweiten Proposition wird konstatiert, dass durch die Teilhabe, offenbar Ausdruck für die Fundamentalrelation aller Prinzipiate zu ihrem Prinzip, jedes Einzelne sowohl zu einer Einheit kondensiert als auch vom Einen selbst unterschieden wird. Die Teilhabe ist also der konstitutive Bezug der Prinzipiate auf das Prinzip. In diesem Bezug281 widerfährt ihnen sowohl Einheitlichkeit als auch Differenz, insofern sie nicht das Eine selber sind, sondern nur Einheit haben. Dadurch sind sie in sich selber

280 Zur Doppeldeutigkeit der Unendlichkeit bei Proklos s. St. theol. prop. 86. Unend­ lich ist Seiendes nur im Hinblick auf die ihm inhärierende Kraft. Für die folgenden Argumentation (ab § 17) wird die unendliche »Kraft« (δύναμις) des Prinzipienhori­ zontes von zentraler Bedeutung sein. Der Gegensatz zur überbestimmten, unendli­ chen Kraft ist die unterbestimmte Privation. 281 Dieser Bezug weist einerseits auf Plotins Bildbegriff zurück (§ 12) und auf die noch zu erörternde Funktion des Strebens voraus (§ 18–19. S. auch § 21–23).

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2) Proklos und das »Eine in uns«

Eines und Nicht-Eines zugleich – und zwar in derselben Hinsicht, also im Hinblick auf ihr Prinzip, das Eine selbst.282 Freilich ist der Teilhabebegriff, gerade weil durch ihn eine Verlei­ hung der fundamentalen Einheitsbestimmung, die dem Einen selber zu eignen scheint, an alle Prinzipiate des Einen suggeriert wird, im Hinblick auf das Transzendenzpostulat der Proklischen Henologie nicht unproblematisch und wird vermutlich deshalb im Parmenides­ kommentar durch eine negativ-theologische Prinzipientheorie, in deren Zentrum die sog. transzendierende Negation steht, ersetzt.283 Die transzendierende Negation avanciert, so wird sich im Folgenden zeigen lassen, zum eigentlichen vermittelnden Bindeglied innerhalb der Proklischen Metaphysik.284 Gleichwohl vermag die Fundamental­ relation, die durch die Teilhabe artikuliert wird, durchaus den Gedan­ ken des Einheits- und Disjunktionspunktes gleich in vierfacher Weise – freilich in seinen Grundzügen – zu erhellen: Erstens ist die Teilhabe der Grundbezug aller Bestimmungen zur Einheit selber. Zweitens werden durch die Teilhabe Vielheit und Einzelne eine Einheit. Vielheit und Einzelne werden aber durch diese – drittens – vom Einen selber disjungiert, also unterschieden. Viertens sind bestimmte Vielheit und Einzelne kraft ihrer spezifischen Einheit von anderen bestimmten Vielheiten und Einzelnen differenziert. 282 Die Teilhabe wird als diese eine Hinsicht vorgestellt, durch die alles eine spezifi­ sche Einheit ist. Insofern ein Einzelnes aber Einheit ›nur‹ hat, ist es die Einheit in ihrer Reinheit nicht. Die Teilhabe etabliert also auch die Differenz zwischen dem Einzelnen und dem reinen Einen selber. Jedem Einzelnen wird also Einheit verliehen, wodurch es eine Einheit ist, dadurch aber wird es zugleich vom Einen selber disjungiert. S. dazu Cürsgen: Henologie und Ontologie, 50. Hierdurch wird offenbar die Gültigkeit des Aristotelischen Gesetzes vom auszuschließenden Widerspruch aufgehoben (vgl. St. theol. prop. 2). Aufgrund dieser einen Hinsicht scheint Proklos – nebenbei bemerkt – das übliche Schema zweiwertiger Logik zu durchbrechen und eine dreiwertige Logik zu postulieren. 283 S. dazu Cürsgen: Henologie und Ontologie, 45 und 51–52. Zur Kritik an den Thesen der Stoicheiôsis und ihrer Korrektur im Parmenideskommentar s. § 16–17. Die Teilhabe wird im Parmenideskommentar vor allem für das Verhältnis der Ideen untereinander gebraucht. S. dazu Proklos’ Unterscheidung privativer und andersheitlicher Negatio­ nen (In Parm. VII p. 517, lin. 25 – p. 518, lin. 12). im Rahmen der Henologie allerdings spielt die Teilhabe keine tragende Rolle mehr. Demgegenüber erfüllen die transzen­ dierenden Negationen ihre Funktion: Sie verdeutlichen den Transzendenzbezug von Sein, Leben und Denken, worin diese Bestimmungen ihre jeweilige Einheitsbestim­ mung erfahren und vom Absoluten selber unterschieden werden. 284 Betont sei der Übersicht halber, dass das transzendierende Negieren, insofern es produktiv ist, mit der »Kraft«, dem »intelligiblen Geburtsschmerz«, der »Vorsehung« und den Henaden unmittelbar verknüpft ist: S. § 21–23.

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II) Die neuplatonische »Henophanie«

In der mit der ersten unmittelbar zusammenhängenden vierten Proposition wird das Eine als notwendig anzunehmendes Einheits­ prinzip fixiert, indem der infinite Regress als unzulässige Gegenthese abgewiesen wird,285 wobei sich die Argumentation wie folgt darlegen lässt: Setzen wir zunächst das Eine, nennen wir es der Einfachheit halber das 1Eine1, und nehmen wir dann an, dass es zugleich Eines und Nicht-Eines wäre: In diesem Fall müsste es am reinen Einen teilhaben, das wir behelfsweise als das 2Eine2 bezeichnen. Denn als innere Zweiheit ist das 1Eine1 eine Vielheit, die aber nach der ersten Proposition notwendig am Einen selbst teilhaben muss. Wäre das 2Eine2, an dem das 1Eine1 teilhaben muss, wiederum eine Vielheit, dann müsste auch das 2Eine2 teilhaben etc. Also muss ein einziges, singuläres Einheitsprinzip angenommen werden, weil ohne es keine Bestimmung gedacht werden kann: Vor dem Hintergrund der ersten und der vierten Proposition wird also der infinite Regress als Argu­ ment gegen die Annahme eines Einheitsprinzips abgewiesen. Damit avanciert das Eine vom bloßen Prädikat zum eigentlichen Prinzip der Bestimmungen, der Denkbarkeit und sogar des Seins, weil ohne es keine Vielheit bestehen, also in sich ruhen, könnte – und zwar, weil gerade die Annahme einer Vielheit ohne Einheit in einen infiniten Regress geraten würde. So wird der infinite Regress suspendiert und das Fundament für die Annahme absoluter Einheit grundgelegt.286 Dieses singulum, das Eine selber, zeigt sich nun als nicht weiter analysierbar; es ist keine Vielheit, die sich in Einzelaspekte unter­ gliedern ließe: Das Eine ist unüberspringbar und daher die Grenze 285 Eine Begründung durch eine infinite Reihe von Gründen ist, so lautet ein Grund­ satz des Pyrrhonischen Skeptizismus, epistemisch unverantwortlich. Ebenso verhält es sich mit der Begründung durch einen Zirkel (Diallele) und durch eine bloß behaup­ tete Voraussetzung (s. Dietmar H. Heidemann. Der Begriff des Skeptizismus: Seine sys­ tematischen Formen, die pyrrhonische Skepsis und Hegels Herausforderung. Berlin/New York: Walter de Gruyter, 2007, bes. 42–56). Das sog. Münchhausen-Trilemma, der infinite Re- bzw. Progress, die Diallele und die unbegründete Voraussetzung, die Robert Fogelin treffend als »dialectical modes« bezeichnet hat (Pyrrhonian Reflections on Knowledge and Justification. Oxford University Press, 1994, 114–117), scheint Proklos’ Argumentation gar nicht zu gefährden. 286 Diese Einsicht wird aber erst im Parmenideskommentar eigens als entheatisches Einsehen thematisiert, in dem uns die Unerreichbarkeit des Absoluten zu Bewusstsein gebracht wird: Wir sollen erkennen, dass wir stets genötigt sind, auf das Eine auszu­ greifen. Dieses Ausgreifen ist ein Akt stetiger Performativität, den wir, gerade weil wir genötigt sind, über alle Vielheit hinaus zu verweisen, nicht aufgeben dürfen. S. dazu die weitere Argumentation, bes. § 17.

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schlechthin. Nur durch diese ultimative Grenze wird der drohende Regress unterbrochen. Nur die reine Einheit kann als ultimative Grenze die unendliche Iteration der Unendlichkeit verhindern. Ent­ weder also wir akzeptieren die Annahme eines Einen, an dem alles teilhaben muss, als oberste Grenze oder wir taumeln erneut in den Scheingedanken des ἄπειρον hinein. Weil also alles am Einen teilha­ ben muss, muss die Rückführung aller Vielheit auf absolute Einheit ein definitives Ende haben.287 In der folgenden fünften Proposition artikuliert Proklos die A-Relationalität dieses Einen – wobei die damit implizierte Transzen­ denz nur unzureichend thematisiert wird. Proklos argumentiert für die Asymmetrie der Beziehung von Einheit und Vielheit, in der die Einheit der Vielheit übergeordnet wird, indem er drei Gegenthesen aufstellt und ihre Absurdität aufweist: (i) Die erste von Proklos gestellte Gegenfrage lautet, ob die Vielheit nicht der Einheit vorgeord­ net werden müsste. Diese These kann aber leicht mit Verweis auf die erste Proposition abgewehrt werden. (ii) Fernerhin würde eine Gleichrangigkeit von Einheit und Vielheit zu ihrer Unabhängigkeit voneinander führen: Das Einheitsdefizit der Vielheit und mithin ihre Abhängigkeit von dem besagten Einheitsprinzip wurde aber bereits in der ersten Proposition erwiesen. (iii) Die zu argumentativen Zwecken angenommene Teilhabe der Einheit an der Vielheit führt wiederum zu einer doppelten Unmöglichkeit: (a) Nähme die Einheit an der Vielheit teil, dann wäre diese Einheit selber Eines und Nicht-Eines zugleich, mithin also eine Vielheit, die aber als solche – gemäß der Argumentation aus der ersten und der vierten Proposition – am Einen teilhaben müsste. (b) Würden Einheit und Vielheit wech­ selseitig aneinander partizipieren, wären Einheit und Vielheit beide Teilhabende und hätten so etwas gemeinsam. Wenn sie aber eine Gemeinsamkeit aufwiesen, dann nähmen sie an etwas teil, das ihnen diese Gemeinsamkeit verleihen würde. Dieses Prinzip ist entweder das Eine oder ein Nicht-Eines. Wenn es das Eine sein sollte, dann wäre die Priorität der reinen Einheit vor der Vielheit erwiesen. Auch im zweiten Fall wird diese Priorität aufgezeigt, denn wenn das Prinzip ein Nicht-Eines wäre, dann müsste dieses Nicht-Eine entweder Vieles Problematisch hierbei ist aber, dass es nun so scheint, als müsse das Eine notwendig existieren. Die Existenz des Einen kann aber, wie sich im weiteren Verlauf zeigen wird, nicht einfach (thetisch) gesetzt werden, weil diese Existenzprädikation dem Transzendenzdenken zuwiderläuft. 287

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II) Die neuplatonische »Henophanie«

oder Nichts sein. Nichts kann es freilich nicht sein. Wenn es aber Vieles wäre, dann ergäbe sich die Priorität der Vielheit vor der Einheit, die aber unter Verweis auf die erste Proposition bereits abgelehnt wurde. Proklos kann also festhalten: Wenn alle Vielheit Eines und Nicht-Eines zusammen ist, dann muss all das, was zugleich Einheit hat und Nicht-Eines ist, am (reinen) Einen teilhaben.288 Proklos argumentiert hier durchgängig auf der Grundlage des Aristotelischen Gesetzes vom auszuschließenden Widerspruch, indem er wahre Thesen falschen Gegenthesen gegenüberstellt.289 Dieses Gesetz des zu vermeidenden Widerspruches betrifft die – logisch koordinierten – Thesen und Gegenthesen. Was Proklos durch die Argumentation letztlich belegen möchte, nämlich dass alles an dem Einen teilhaben müsse, das aber jenseits aller Vielheit zu ver­ orten sei, ist freilich durchaus paradox, weil dieses Eine aufgrund seiner reinen Einheit keine Beziehung in sich oder zu etwas ande­ 288 Mit dieser Argumentation versucht Proklos – nebenbei bemerkt – das sog. Argu­ ment des dritten Menschen zu entkräften, gerade weil in den ersten fünf Propositionen (i) das Einheitsdefizit bloßer Vielheit, (ii) die Notwendigkeit, bei einem obersten (Einheits-)Prinzip halt zu machen, und (iii) die Asymmetrie von Einheit und Vielheit belegt werden. 289 Wie Jens Halfwassen zeigen konnte, ist das Aristotelische Gesetz bei Proklos nur im Hinblick auf das Eine selbst suspendiert, weil Affirmationen und Negationen im Hinblick auf das Absolute beide falsch seien (Jens Halfwassen. »Sur la limitation du principe de contradiction chez Denys l’Aréopagite«. Diotima 23 (1995), 46–50 und Hegel und der spätantike Neuplatonismus, 429–431. Vgl. Carlos Steel. »›Negatio Negationis‹: Proclus on the First Lemma of the First Hypothesis of the Parmenides«. In: John J. Cleary (Hg). Traditions of Platonism. Aldershot et al.: Ashgate, 1999, 351-368; hier 358–360). Neuerdings hat Halfwassen aber auch hervorgehoben, dass sich innerhalb der ontologischen Metaphysik, also der Seins- und Geistlehre von Pro­ klos, keine Widersprüche ergeben könnten (Auf den Spuren des Einen, 313–314). Mit anderen Worten schließen sich Affirmationen und Negationen bei Proklos auf der Ebene des Intelligiblen nicht aus. Hinzuzufügen ist ferner, dass Proklos die Gültigkeit gegensätzlicher Aussagen zugelassen hat: Die Henaden etwa sind sowohl präsent als auch entzogen, immanent und transzendent. S. dazu unten, § 21–23. Ferner werden, wie schon oben erwähnt wurde, in der zweiten Proposition der Stoicheiôsis Gegensätze vereint, insofern Teilhabendes Eines und Nicht-Eines zugleich ist. – Es ist zu bemer­ ken, dass Carlos Steel bei seiner Analyse des Verhältnisses von Absolutem und Widerspruchsgesetz die Produktivität transzendierenden Negierens und damit die Pointe der negativen Prinzipientheorie ignoriert. Dadurch wird auch die Differenz der Proklischen gegenüber der Cusanischen negativen Theologie überbetont (»Beyond the Principle of Contradiction? Proclus’ ›Parmenides‹ and the Origin of Negative The­ ology«. In: Martin Pickavé (Hg). Die Logik des Transzendentalen. Berlin/New York: Walter de Gruyter, 2003, 581–599), wenngleich das Absolute von Cusanus durchaus anders konzipiert wird als von Proklos (s. § 32–34).

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rem aufweist290 und daher – was Proklos aber in der Stoicheiôsis nur ungenügend ausführt – nicht gedacht werden kann. Die These der Einheitsteilhabe muss damit und aufgrund der Anwendung des Aristotelischen Gesetzes als These unabweisbar sein. Proklos weist damit das Skeptische Theorem der Isosthenie, der Gleichwertigkeit von Argumenten, ab, weil er alle möglichen Gegenthesen, die der These von der Teilhabe widersprechen könnten, ad absurdum führt. Die These von der notwendigen Teilhabe am Einen verweist also über den Horizont der in sich differenzierten Vielheit hinaus – nämlich auf ein Prinzip, das sich der direkten logischen Überprüfbarkeit notwendig entzieht. Interessanterweise müssen wir, wenn wir die genannte Teilhabe-These akzeptieren, auch das daraus resultierende Paradoxon ertragen: Eigentlich sind wir genötigt, ein Einheitsprinzip anzusetzen, das aber als solches in keine Relation eingebunden sein kann, dadurch aber sich dem Denken und jeder Existenzprädikation entzieht. Sicherlich lässt sich beobachten, dass Proklos dieses nun offenbar vorliegende Paradoxon in der Elementarlehre nicht themati­ siert, ja geradezu ignoriert. Vor diesem Hintergrund sind Proklos’ Ausführungen in der Stoicheiôsis, wie schon bemerkt, propädeuti­ scher Natur, müssen also durch seine weiterführenden Überlegungen besonders im Parmenideskommentar konkretisiert werden. Dennoch lässt sich vor dem Hintergrund der vorgestellten Paradoxie ein Hin­ weis entdecken: Es lässt sich feststellen, dass Proklos mit seiner soeben dargelegten Argumentation nicht einfach für die Existenz des Einen plädiert, sondern die Abhängigkeit der Vielheit aufweisen möchte. Denn die Annahme, dass sich die Vielheit selber trage, ist eine Denkunmöglichkeit. Jede Vielheit verweist also notwendig über sich hinaus.291 Diese Verweis-Struktur – oder genauer: das Verweisen aller Vielheit über die Grenzen des eigenen Seins hinaus – avanciert zum 290 Die reine Einheit kann, weil jede Vielheit stets Relationalität impliziert, weder in sich selber noch zu einem Anderen eine Beziehung aufweisen, weswegen die Relation im Hinblick auf das Eine umfangreich negiert wird: S. dazu bes. In Parm. VII p. 1177, lin. 22–24: »τὸ ἓν οὐκ ἔστιν ἑαυτοῦ ἕτερον, τὸ ἓν οὐκ ἔστι τῶν ἄλλων ἕτερον, τὸ ἓν οὐκ ἔστιν ἑαυτῷ ταὐτόν, τὸ ἓν οὐκ ἔστι τοῖς ἄλλοις ταὐτόν.« Vgl. § 17. Interessant ist im Hinblick auf die zitierte Stelle, dass diese Aussage als solche das Absolute nicht defi­ niert, sondern einen negativen Begriff darstellt. Bei Cusanus ist er negative Illustration (non aliud) des an ihm selber verborgenen Absoluten. S. dazu § 35. 291 Vgl. Cürsgen: Henologie und Ontologie, 44: Die reine Einheit ist trotz ihrer Undenkbarkeit als »notwendig gegeben« anzunehmen, reine Vielheit aber kann »weder existieren noch gedacht werden«. Das Einheitsprinzip wird hier freilich ex negativo und also indirekt aufgewiesen.

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II) Die neuplatonische »Henophanie«

Kernmoment der henologischen Prinzipienlehre des Scholarchen. Dieser Gedanke kann letztlich sogar die Frage klären, wie Proklos die Absolutheit und Transzendenz des Einen betonen kann, wenn er es doch an ihm selber gar nicht direkt zu durchschauen vermag.292

§ 16) Von der Stoicheiôsis zum Parmenideskommentar Im Zusammenhang mit jener Rückführung gilt es Proklos’ Methode eingehender zu betrachten. In der Forschung ist – wie gesagt – allgemein bekannt, dass Proklos negative Theologie betreibt, um über das Absolute zu philosophieren.293 Genauer gesagt favorisiert In diesem Sinne werden sich auch weitreichende Parallelen zu Fichtes Denken ergeben: Die Frage nach der Thematisierbarkeit des Absoluten hängt vor allem daran, ob wir bei der Argumentation auch immer unser Verfahren, unsere Methode also, mit im Blick haben. 293 Proklos unterscheidet, wie bereits in § 14 gesagt, mindestens drei Arten von Negationen, die nicht dasselbe meinen: die seinsinferiore privative (i), die auf Diffe­ renz basierende, seinsimmanente andersheitliche (ii) und die seinstranszendente Negation (iii): S. dazu bes. In Parm. VI p. 1072, lin. 14 – p. 1073, lin. 9. S. auch ibid. VII p. 517, lin. 25 – p. 518, lin. 28. Vgl. Theol. Plat. II c. 10, p. 63, lin. 8 – p. 64, lin. 9. Nur die transzendierende Negation führt hinauf zur Einsicht in die Transzendenz des Absoluten (In Parm. VII p. 512, lin. 6–9). Vgl. Cürsgen: Henologie und Ontologie, 238– 242. Beierwaltes: Proklos, 341–343. Kobusch: »Negative Theologie als praktische Metaphysik«, 193–194. – Nebenbei bemerkt, lässt sich die Privation durchaus in zwei Momente aufspalten, nämlich in eine Teilprivation (s. dazu In Parm. VII p. 518, lin. 2–12) und eine Totalprivation, die aber als Denkunmöglichkeit ausgewiesen wird und daher im Grunde nicht existieren kann. Die transzendierende Negation wiederum lässt sich ebenfalls ausdifferenzieren: Zum einen sind höhere Entitäten niederen über­ geordnet, transzendieren sie also, wobei die Negation als das durchgängige und hier­ archisch koordinierende Grundmomentum der Transzendenzbezüge instanziiert wird: Die jeweils niederen Ebenen sind die jeweils höheren nicht; die höheren wiederum sind seiender als die niederen. Dieser ontologische Komparativ wird aber seinerseits durch die Henadenlehre überstiegen, da die Henaden nach Proklos alle positiven Bestimmungen im Ganzen und mithin das Sein totaliter transzendieren. Proklos kann aber freilich auch diese transzendierenden Negationen noch einmal in der ultimativradikalen Negation der Negation aufheben (In Parm. VII p. 521, lin. 24–25). Insofern erscheint das Absolute insbesondere als Negation der transzendierenden Negation, nicht aber als Negation andersheitlicher Negation, welche bereits die Henadendimen­ sion ausmacht. Interessanterweise ist die Negation andersheitlicher Negation im christlichen Neuplatonismus aber Ausdruck für das Absolute und u.a. bei Eriugena (negatio omnium bzw. oppositio oppositorum) und Nicolaus Cusanus (non aliud) zu finden, wobei auch an Meister Eckhart (indistictum) zu denken wäre. Zur Deutung der Negation der Negation bei Eriugena und Cusanus, die diese als Negation des (intel­ 292

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2) Proklos und das »Eine in uns«

er die Methode der Abstraktion, die er anhand einer Sonderform der Negation, der sog. transzendierenden Negation, expliziert, mit der er auf die absolute Einheit verweist, wobei der Begriff des Verweises von eminenter Bedeutung für die folgenden Überlegungen ist. Mit seinem Fokus auf die negative Theologie achtet Proklos auf sein – wie Fichte sagen würde – »Verfahren«,294 wodurch er seine eher affirma­ tiv-theologisch ausgerichtete Elementarlehre noch einmal geradezu ›meta-metaphysisch‹ erweitert. Anders ausgedrückt: Proklos erarbei­ tet mit philosophischen Mitteln die Grundlagen seiner Philosophie, er betreibt also Philosophie der Philosophie, die freilich das Kerngeschäft der Metaphysik ist. Wie aber kann Proklos, so müssen wir nichtsdes­ toweniger kritisch fragen, das Absolute durch Negationen, die für Gewöhnlich Differenz (ἑτερότης) oder Beraubung (στέρησις/privatio) indizieren, thematisieren? Und selbst wenn es möglich sein sollte, das Absolute durch Negationen zu thematisieren, wird dann nicht das Absolute objektiviert und seine unmissverständlich pointierte Absolutheit oder Transzendenz korrumpiert? In der Stoicheiôsis hat sich das Denken zwar durch sich selber erwiesen, dass es – weil es selber eine Vielheit ist – ein Prinzip vorauszusetzen hat. Damit zeigt sich die Proklische Philosophie inter­ essanterweise als Analyse des Denkens und seines apriorischen Ein­ heitsbedürfnisses. Aber auch wenn Proklos in seiner Elementarlehre das Verwiesen-Sein herausarbeitet, so kann er bei dieser Aussagene­ bene nicht einfach stehen bleiben. Denn es ist zu betonen, dass er dort das für seine Philosophie eminent zentrale Konzept der Transzendenz nur andeutet. Freilich ist es im Verwiesen-Sein angelegt und in der Form der A-Relationalität des Einen durchaus präsent. Gleichwohl lässt sich im Hinblick auf die Stoicheiôsis feststellen, dass das Eine, insofern es der Vielheit als Prinzip vorgeordnet ist, in einen Bezug zur Vielheit gesetzt wird. Wird es aber dadurch nicht objektiviert, also zu einem Objekt degradiert? Immerhin drohte es doch so in eine Relation eingebunden, zu einem relatum der Relationen ›Prinzip-Prinzipiat‹ und ›Einheit-Vielheit‹ erklärt und so wie ein beliebiges Denkobjekt

ligiblen, nicht sinnlichen) Differenzhorizontes verstehen, s. § 28 und § 33. Auch bei Fichte wird die Transzendenz als totale Negation auch nur minimaler Differenzierun­ gen (etwa im Selbstbewusstsein) vorgestellt. S. dazu unten, § 40 und § 42–47. 294 S. dazu § 39–40.

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II) Die neuplatonische »Henophanie«

behandelt zu werden.295 Sicherlich argumentiert Proklos stets von der Seite bzw. aus der Perspektive der Prinzipiate her, sodass er das Eine nicht einfach thetisch – oder auch: theistisch – voraussetzt und von diesem Einheitsprinzip alle Prinzipiate deduziert. Vielmehr legt er in seiner Analyse das Einheitsbedürfnis aller Vielheit frei, woraus sich schließen lässt, dass wir durchaus genötigt sind, stets die Einheit vor­ auszusetzen. Die Gefahr einer Objektivierung bleibt aber bestehen, weil Proklos in seiner Elementarlehre das Eine unumwunden als Prin­ zip setzt und dergestalt definiert. Dieser Anspruch steht aber anderen Aussagen diametral gegenüber, in denen Proklos die vollkommene Transzendenz296 des Absoluten pointiert und herausstellt, dass dieses eigentlich nicht begriffen werden könne. Explizit widerspricht Proklos im Parmenideskommentar und auch in der Theologia Platonis der Grundthese, dass das Eine Prinzip oder Grund (ἀρχή) sei: Das Eine sei noch nicht einmal mehr Eines, sodass es im Grunde auch nicht die ein­ heitsstiftende Prinzipfunktion erfüllen kann.297 In aller Deutlichkeit spricht Proklos am Ende des Parmenideskommentars dem Einen die Prinzipfunktion, also die »generierende« bzw. produzierende »Kraft« (δύναμις/uirtus bzw. potentia), ab.298 Die Elementarlehre droht also das Absolute in eine Setzung zu verwandeln, wodurch es aber zur Objektivierung des Absolu­ ten kommen muss, die freilich seiner vollkommenen Transzendenz widerspricht. Wir können es auch so formulieren: Indem das Ver­

295 Es verlöre so auch seinen ›Status‹ als Universalprinzip, weil es wie ein durch Differenz ausgezeichnetes Objekt behandelt werden würde. In diesem Sinne wäre es bloß koordiniert gegenüber allen anderen Objekten und so nicht mehr Prinzip aller andersheitlich konstruierten Bestimmungen. Cusanus hat dieses Problem besonders prominent hervorgehoben: S. dazu Rohstock: Der negative Selbstbezug, bes. 56–61. 296 Die Transzendenz in der Stoicheiôsis verbleibt also, so kann man vor diesem Hintergrund konstatieren, eine bloß relative. 297 In Parm. VII p. 498, lin. 22–35, p. 497, lin. 4 – p. 498, lin. 2 und p. 508, lin. 34–36. Theol. Plat. III c. 8, p. 31, lin. 8–18. Streng genommen ist das Absolute vor jeder Begründungsstruktur, also »vorursprünglich« (etwa Theol. Plat. II c. 9, p. 58, lin. 23–25). 298 In Parm. VII p. 520, lin. 1–12. Vgl. auch Theol. Plat. II c. 10, p. 61–64; bes. p. 63, lin. 8 – p. 64, lin. 9. Darin wird das Unsagbare mit denjenigen Negationen ›kontras­ tiert‹, die die »begründende« Funktion erfüllen. S. dazu § 21. Bereits Carlos Steel hat die Transzendenz des Einen auch gegenüber der produktiven δύναμις herausgestellt (»›Negatio negationis‹«, 360–362) und die daraus folgende Problemsituation – bes. bezüglich der Positionen von Iamblichos und Damaskios – geschildert (ibid. 363– 367).

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wiesen-Sein299 aller Vielheit auf absolute Einheit herausgearbeitet wird, erlangen wir eine bloß faktische Einsicht, also eine Einsicht in die Faktizität des Seins überhaupt. Fichte würde in diesem Zusam­ menhang darauf verweisen, dass wir hierbei nicht stehen bleiben dürften, sondern zur Einsicht in die Genese dieser Faktizität vordrin­ gen müssten. Man könnte zwar im Hinblick auf die Stoicheiôsis die Ansicht vertreten, dass das Sein der Seienden bereits durch die Einheit erklärt würde. Aber Proklos hat scharfsinnig erkannt, dass die affirmativ-theologische Methode der Stoicheiôsis diese Funktion nicht erfüllen kann, gerade weil sie das Eine in eine Setzung, in ein – wie Fichte sagen würde – »totes« Objekt zu verwandelt droht.300 Durch die Argumentation der Stoicheiôsis wird ein festgefügtes, eher statisch wirkendes hierarchisches System konzipiert, an dessen Spitze ganz unverkennbar das Eine steht, wodurch dieses fraglos in das Gesamt­ system integriert wird. Das Problem der Stoicheiôsis resultiert daraus, dass das Konzept der Transzendenz nicht ausreichend oder nicht eigens thematisiert wird, gewissermaßen nur im Hintergrund liegt, was auch daran zu erkennen ist, dass Proklos in der Elementarlehre dem henologischen Streben (ἔρως), obgleich dieses Streben schon bei Plotin die zentrale Rolle einnahm, keine Beachtung schenkt.301 In diesem Zusammenhang lässt sich auch feststellen, dass Proklos auf sein prominentestes Verfahren, auf seine ihm eigene Methode, die negative Theologie, in der Stoicheiôsis weitgehend verzichtet. Es ist aber gerade die negative Theologie, durch die, wie wir übrigens schon bei Plotin beobachten konnten, das unauslöschliche henologi­ sche Streben fokussiert wird. Proklos’ in anderen Werken vollzogene Wendung hin zum henologischen ἔρως ist daher gleichbedeutend mit seiner Hinwendung auf die Tat des Verweisens;302 und genau 299 Indem Proklos den ἔρως-Begriff thematisiert, fokussiert er, wie noch zu zeigen sein wird, die Tat des liebenden Strebens und mithin, so muss hier hinzugefügt werden, des Verweisens, nicht aber die bloße Faktizität des Verwiesen-Seins. Proklos geht es explizit um den Akt des Verweisens; und dieser Akt steht im Zentrum seiner Henologie – oder eher: Henophanie. 300 S. dazu die folgende Argumentation, bes. § 17. 301 Zu verweisen wäre immerhin noch auf St. theol. prop. 8, p. 8–9, worin aber das Streben (ἔφεσις bzw. ὄρεξις) zum Guten eher beiläufig erwähnt wird und offenbar keine weitreichende systematische Funktion erfüllt. 302 Es geht Proklos nicht um ein ergreifendes, objektivierendes Wissen, sondern um die alle Verobjektivierungen überschreitende Tat des Verweisens, wobei er diese beiden Tätigkeiten, die uns und dem Denken zu eigen sind, deutlich voneinander trennt; In Parm. VII p. 509, lin. 27–28: »Etenim duplici ente in nobis operatione, hac

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II) Die neuplatonische »Henophanie«

diese Wendung vollzieht Proklos in besonderer Weise in seinem Par­ menideskommentar. Dort präsentiert er eine umfangreiche negative Prinzipientheorie, die das typisch neuplatonische Dilemma, wie über­ haupt vom Absoluten gesprochen und inwiefern es als Prinzip begriffen werden kann, in einem energischen Zugriff angeht und einer Lösung zuführt. Darin unterscheiden sich gerade Stoicheiôsis und Parmenideskommentar, denn in der Elementarlehre wird dieser subtile Schritt nicht vollzogen; die Transzendenz wird, wie gesagt, nur ange­ deutet, der eminent wichtige ἔρως und das Konzept der transzendie­ rend-produktiven Negationen, die im Parmenideskommentar, wie wir sehen werden, eine entscheidende Funktion einnehmen, bleiben unerwähnt.

§ 17) Zur Funktion negativer Theologie – oder: zur »Erweckung« des henologischen Strebens Wenn aber nun das Eine nicht als Prinzip definiert werden kann, kollabiert dann nicht, so müssen wir kritisch fragen, die Proklische Prinzipienlehre? Gefährdet, einen typischen Topos aus der Forschung aufgreifend, die negative Theologie nicht grundlegend die (henologi­ sche) Prinzipientheorie? Freilich verweist uns Proklos darauf, dass die von ihm in Anschlag gebrachten Negationen nicht dazu dienen sollen, die Prinzipfunktion des Absoluten ad absurdum zu führen. Vielmehr geht er ganz entschieden einen anderen Weg: Schauen wir uns die Kaskaden an Negationen im Parmenideskommentar näher an, so können wir entdecken, dass dasjenige, was als Prinzip aller Bestimmungen begriffen werden soll, allen Bestimmungen vorausge­ hen muss. Die ›Vorgängigkeit‹ des Absoluten pointiert Proklos durch seine umfassende negative Dialektik: Jede Bestimmung wird dem Einen abgesprochen. Nur so kann es allen Bestimmungen vorange­ hen, wodurch Proklos die Transzendenz des einen Prinzips heraus­ arbeitet. Wenn wir notwendig über das sich als Vielheit zeigende Denken hinaus verweisen müssen, so können wir diesen Verweis nur dadurch realisieren, indem wir alle positiven Bestimmungen, die vom Denken umfasst werden, negieren. In diesem Zusammenhang quidem appetitiua, hac autem inspectiua«. Dabei ordnet er die strebende Tätigkeit, wie sich im Folgenden zeigen lässt, dem Bewusstsein oder Wissen über. Er macht das Wissen gar vom Streben abhängig.

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2) Proklos und das »Eine in uns«

kommt es nicht zur Privation von Bestimmungen und auch nicht zum Querverweis auf bloß Anderes, sondern durch die Negation aller Bestimmungen und des Denkens transzendieren wir Bestim­ mungen und das Denken totaliter. Der Parmenideskommentar ist daher Ausdruck der Aufstiegsbewegung zum Einen,303 von dem sukzessive alle Bestimmungen negiert werden: Es ist weder »in sich« noch »in einem anderen«,304 weder Ruhe noch Bewegung,305 weder Identität noch Differenz,306 weder Gleichheit noch Ungleichheit,307 weder Ähnlichkeit noch Unähnlichkeit.308 Das absolute Eine ist auch jenseits des Seins, weswegen auch eine bloße Existenzprädikation streng genommen unmöglich gemacht wird.309 Es ist schlicht πάντων ἐπέκεινα.310 Schließlich wird sogar der Begriff der Einheit überstiegen, insofern dieser in dem Begriff der Vielheit seinen Gegensatz hat und gerade durch seinen Bezug zu einer anderen Bestimmung vergleich­ bar wird.311 Proklos arbeitet also auf der Grundlage der durchgängigen Relationalität von Bestimmungen und über die Methode der Nega­ tion die Übergegensätzlichkeit des Absoluten heraus.312 Proklos hat das Denken des Einen als absolutes Prinzip also konsequent in die Form einer negativen Theologie, also einer nega­ tiven Prinzipientheorie, gekleidet. Das Prinzip lässt sich überhaupt nur durch Negationen als solches denken, weil es nur so gegenüber allem anderen erhaben ist. Positive Begriffe hingegen können dies nicht leisten. Die Pointe einer negativen Prinzipientheorie ist also, dass wir das Prinzip nur dann als das einzige und oberste Prinzip aller 303 Proklos’ Kommentar zur ersten hypothesis hat, so formuliert es Proklos, den Aufstieg zum Absoluten zum Ziel (In Parm. VI p. 1071, lin. 4–7). Gemeint ist damit offenbar nicht die Einung selber, sondern das Eingeständnis, dass die Vielheit transzendiert werden muss. 304 In Parm. VII p. 1133, lin. 1 – p. 1152, lin. 11. 305 In Parm. VII p. 1152, lin. 12 – p. 1172, lin. 20. 306 Bes. In Parm. VII p. 1177, lin. 22–24. 307 In Parm. VII p. 1201, lin. 17 – p. 1212, lin. 4. 308 In Parm. VII p. 1191, lin. 8 – p. 1201, lin. 16. 309 In Parm. VII p. 1239, lin. 18 – p. 498, lin. 2. Vgl. ibid. p. 498, lin. 35 – p. 499, lin. 3. – Genau genommen ist das »Eine in uns« der eine Negationsakt, in dem alle Bestim­ mungen simultan überstiegen werden. Vgl. Cürsgen: Henologie und Ontologie, 281. Insofern das »Eine in uns« Negationsakt ist, ist es ferner der Inbegriff der Henaden. S. dazu § 21–23. 310 Etwa Theol. Plat. II c. 12, p. 73, lin. 14. 311 In Parm. VII p. 498, lin. 27 – p. 499, lin. 3 312 S. dazu folgende Zentralstellen: In Parm. VI p. 1076, lin. 27–28, p. 1127, lin. 8–17, ibid. VII p. 516, lin. 35 – p. 517, lin. 5, p. 518, lin. 18–19 und p. 519, lin. 4–12.

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II) Die neuplatonische »Henophanie«

Bestimmungen fassen können, wenn wir es absolut denken. Ohne die Negationen, die wir vollziehen, könnten wir das Eine gar nicht als das allen Bestimmungen vorangehende Prinzip denken. Dieser Verweis über die Grenzen des Denkens hinaus ist nach Proklos, wie gesagt, notwendig. Jeder Vielheit muss die reine Einheit vorangehen, die sich freilich nicht thetisch voraussetzen, wohl aber im Verweis rechtfertigen lässt. Also muss das Denken notwendig über sich selbst hinausweisen und erweist so die Voraussetzung als vernünftig.313 Und nur über das Konzept der Übergegensätzlichkeit scheint das Postulat nach einem selber unbedingten, absoluten Prinzip realisiert werden zu können.314 Doch auch hier bleiben Zweifel bestehen. Denn droht nicht das bereits in Bezug auf Plotin genannte Paradoxon erneut mit Macht aufzubrechen? Wir haben zwar einerseits eingesehen, dass das Eine, damit es als Prinzip begriffen werden kann, allem Seienden und Denk­ baren durch die transzendierende Negation enthoben werden muss. Wir haben aber andererseits auch einsehen müssen, dass das Eine aufgrund dieses Überstieges selber nicht mehr Prinzip sein kann, denn die Zuschreibung, das Eine sei Prinzip, droht, dieses in eine stehende oder gar, wie Fichte sagen würde, »tote« Setzung zu verwandeln. Auch in der soeben beschriebenen negativen Dialektik droht das Absolute weiterhin in eine Relation eingebunden und mithin hypostasiert zu werden: Wenn es als Unbestimmtes gedacht wird, scheint es doch zwangsläufig in eine Disjunktion mit dem Bestimmten zu geraten. Gerade hier setzt Proklos an und problematisiert die Entdeckung 313 So auch schon Rohstock: »Das Eine in uns und seine Erweckung«, 383, wobei dort die hier pointierte kritische Wende zu kurz kommt. 314 Die Übergegensätzlichkeit wird bes. von Jens Halfwassen als Chiffre, ja als Inbe­ griff der Transzendenz gewertet, wodurch er sie markant von jeder Konnotation eines ›Außerhalb‹ befreit: Das Absolute hat demnach keinen bestimmbaren Ort irgendwo ›oberhalb‹ oder gar ›außerhalb‹ der angeschauten Weltwirklichkeit: Auf den Spuren des Einen, 37–49 und 265–278. Vgl. ferner Hegel und der spätantike Neuplatonismus, 414–431. Allerdings droht mit dem Begriff der Übergegensätzlichkeit, insbesondere in dieser substantivierten Form, eine gewisse Objektivierung oder Hypostasierung der Transzendenz. Genauer genommen müssen wir aber, damit wir die Bedingungen der Möglichkeit von Sein und Denken überhaupt in den Blick nehmen und damit der Frage, wieso überhaupt etwas sein kann, auf den Grund gehen können, über Sein und Denken hinaus verweisen. Es geht also um unseren Akt des Verweisens: »Übergegensätzlichkeit« sollte daher wohl in die Formel »über die Gegensätze hinaus verweisen« überführt werden, wodurch zugleich die bleibende Verwurzelung im Denken aufgewiesen wird.

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des Prinzips aller Bestimmungen in der eminenten Unbestimmtheit ebenso wie Plotin, indem er, wie gesehen, dem Einen nicht nur abspricht, Prinzip zu sein, sondern deutlich macht, dass das Eine nicht einmal mehr Eines sein könne. Proklos ist sich freilich genau wie Plotin darüber bewusst, dass er damit das Paradoxon des spätantiken Neuplatonismus auf die Spitze treibt. Er schafft damit aber gerade ein Problembewusstsein für die These, das Absolute sei Prinzip. Und in kaum überbietbarer Radikalität wird damit die Thematisierung des Absoluten scheinbar konterkariert. Die Problematik pointiert Proklos mithilfe seiner negativen Theologie im Allgemeinen und der sog. Negation der Negation, in der sogar die transzendierende Negation als sachgemäße Aussage über das Absolute verabschiedet wird, im Speziellen.315 Allerdings generiert die unmissverständliche Radikalität der Proklischen Negationslogik nun ein neues Problem, das Proklos aber in einem energischen Zugriff zu lösen versucht: Müssten wir im Angesicht der radikalen Transzendenz des Absoluten über dieses letztlich nicht schweigen?316 Proklos stellt freilich unmissverständlich klar, dass ein bloßes Schweigen keine Option darstellt. Denn auch das Schweigen kann noch als Aussage im Hinblick auf das Absolute gewertet werden. So könnte bloßes Schweigen der irrigen Annahme Vorschub leisten, Proklos’ Philosophie sei durch eine skeptische Wen­ dung geprägt: Wenn man nur noch schweigen kann, dann kann das Absolute letztlich wohl kaum thematisiert werden.317 Letztlich sagt ein Schweigen noch immer ›zu viel‹ über das Absolute aus, weshalb dieses eigentlich – gemäß seiner Übergegensätzlichkeit – noch über dem Schweigen ›anzusetzen‹ ist.318 Daher ist das Absolute im Neu­ platonismus eigentlich nicht un-sagbar, sondern »über-un-sagbar«319 oder – wie es Dionysios später ausdrücken wird – »über-un-begreif­ 315 S. dazu den Schluss des Kommentars: In Parm. VII p. 518, lin. 13 – p. 521, lin. 26. Zum Schluss des Parmenideskommentars s. Steel: »›Negatio negationis‹«, 351–368, Cürsgen: Henologie und Ontologie, 279–284 und Paşcalău: Die ›Unartikulierbaren Begriffe‹, 54–64. 316 In Parm. VII p. 520, lin. 25–26. 317 In Parm. VII p. 515, lin. 4–14. 318 Das Schweigen reicht – genau genommen – nicht an das Absolute heran (In Parm. VII p. 505, lin. 14–18. Vgl. Theol. Plat. II c. 11, p. 65, lin. 13), weil Schweigen durchaus eine ›Aussage‹ ist. – Zum Schweigen bei Proklos, freilich vor dem Hintergrund seiner Übereinstimmung und Differenz zu Damaskios, s. Paşcalău: Die ›Unartikulierbaren Begriffe‹, 108–129; bes. 127–129. 319 In Parm. VII p. 1172, lin. 27.

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lich«320. Um der Gefahr zu begegnen, etwas über das Absolute im Sinne einer eigentlichen oder definierenden Art und Weise auszu­ sagen, werden die verweisenden Negationen transzendiert.321 Der letzte Negationsschritt, der durch die vollkommene Transzendenz des Absoluten noch gegenüber den transzendierenden Negationen pointiert wird, hat bei Proklos also eine wichtige regulative Funktion: Die transzendierenden Negationen sollen uns als Wege zum Absoluten bewusst gehalten werden.322 Sie sind keine das Absolute umgreifende Definitionen, sondern bleiben unser Weg zu diesem und mithin hinter dem Absoluten zurück. Keine Negation kann an das Absolute selbst heranreichen: Die Negationen enden vielmehr im »Vorhof« des Absoluten.323 Um die vollkommene Unsagbarkeit zu pointieren, begrenzt Proklos die Reichweite der negativen Dialektik, durch die wir

Dionysios: De div. nom. I § 5; CD I, p. 115, lin. 6–18. In Parm. VII p. 519, lin. 4–12, p. 520, lin. 1–15 und p. 520, lin. 29 – p. 521, lin. 26. – Proklos nimmt mit dieser radikalen Negationsformel, das Absolute transzen­ diere Affirmation und Negation, nebenbei bemerkt, Damaskios’ kritische Absolut­ heitsphilosophie vorweg. Auch wenn Proklos’ Denken – anders als dasjenige Damas­ kios’ – auch noch durch affirmativ-theologische Komponenten, etwa die Teilhabelehre in den ersten Propositionen der Stoicheiôsis theologikê, geprägt ist, steht er doch Damaskios im Hinblick auf die Transzendenz des Absoluten in nichts nach. Zu Damaskios und seinem Verhältnis zu Proklos s. jetzt neuerdings Paşcalău: Die ›Unar­ tikulierbaren Begriffe‹, worin auch die Sekundärliteratur exzellent wie umfangreich aufgearbeitet wird. Es lässt sich aber trotz der herausragenden Verdienste Paşcalăus (s. dazu auch Christian Tornaus Rezension im Anzeiger für die Altertumswissenschaft 73/1 (2020), 26–31) auch konstatieren, dass der Hiat zwischen Proklos’ und Damas­ kios’ Metaphysik von ihm doch über Gebühr hervorgehoben wird: Paşcalău lässt Damaskios’ System in einer »endeiktischen Metaphysik« (Paşcalău: Die ›Unartikulier­ baren Begriffe‹, 282) kulminieren, die dem »›Hinweis‹ auf Höheres und Überintelli­ gibles« (ibid.) huldigt. Damaskios habe damit die Proklischen (und Syrianischen) Überlegungen konsequent ausformuliert. Der Aspekt der steten Performativität steht freilich nicht nur bei Damaskios, sondern offenbar auch bei Proklos im Zentrum seiner Metaphysik. Wie sich in diesem und den folgenden Paragraphen (§ 18–19 und auch § 21–23) noch zeigen wird, lässt sich daher auch Proklos’ Henologie dynamisieren und so als endeiktische Metaphysik beschreiben. Gerade deshalb sind auch bei Paşcalăus Einschätzung der Proklischen unio mystica Korrekturen anzumahnen (s. dazu § 20). 322 Vergleichbar damit sind Platons und Proklos’ Aussagen über den ἔρως, der als Liebender sich nicht in das Geliebte verwandelt, sondern auf dem Weg ist: Symp. 203A-204C und In Alc. p. 51, lin. 4 und p. 67, lin. 10–11. 323 In Parm. VII p. 520, lin. 31. Proklos macht in dieser Hinsicht deutlich, dass die Negationen der Sache nach nichts über das Absolute aussagten, sondern nur über es redeten (In Parm. VII p. 518, lin. 20–24. S. dazu Cürsgen: Henologie und Ontologie, 281). 320

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auf das Absolute verwiesen werden, in der Negation der Negation.324 Proklos’ System wird trotz dieser Radikalität nicht durch ihn selber infrage gestellt, sondern es kommt zu einer entscheidenden Wende. Wie schon bei Plotin ergeben sich drei Konsequenzen: (1) Mit seiner negativen Theologie will Proklos ein Problembe­ wusstsein schaffen: Die Analyse des Denkens und seiner Prinzipien darf nämlich nicht vorschnell beendet werden. Wir müssen ohne Unterlass fragen, ob wir durch unsere bisherigen Analysen schon im höchsten Punkt angekommen sind. Der höchste Punkt wiederum lässt sich offenbar nur jenseits aller Gegensätze und Differenzen finden, denn nur ›dort‹ kann es keinen Widerspruch mehr geben: Nur in und mit der negativen Theologie lässt sich über jeden Gegensatz hinaus­ gehen. Und dieser Weg ist der Einzige, der nicht aporetisch endet.325 (2) Die negative Theologie soll zwar unsere Einheitsforderung nicht ad absurdum führen, wohl aber als Paradoxon fixieren: Aus Eigentlich wissen wir nur durch die Erweckung des »Einen in uns« um den Weg und den Weg als Weg, denn es ist selber der Weg, der nicht rein gehalten werden kann: S. dazu den weiteren Argumentationsverlauf. Dennoch kann die Negation der Negation, also die Negation des Weges und des »Einen in uns«, noch als Moment der Dialektik gewertet werden, insofern diese Negation uns im Bewusstsein hält, dass Negationen immer nur das henologische Streben markieren, nicht aber dieses selber meinen. Vgl. dazu Halfwassen: Hegel und der spätantike Neuplatonismus, 428: »Der Sinn der Negation der Negation liegt also für Proklos im Begreifen der Unbegreifbarkeit des Einen und im Sagen seiner Unsagbarkeit«. Freilich gemahnt diese doppelte Negation zugleich deutlich an Plotins »Zauberformel«, ἄφελε πάντα (Enn. V 3, 17, 38). Sie markiert dergestalt die »Selbstaufhebung« (Halfwassen: Hegel und der spätantike Neuplatonismus, 428) bzw. den »Selbstüberstieg« (Halfwassen: Plotin und der Neuplatonismus, 161) des Denkens auf das Absolute hin und rückt so an den eigentlichen Vollzug mystischer Einung heran. Vgl. dazu Paşcalău: Die ›Unartikulierbaren Begriffe‹, 54–64. – Zu erwähnen ist freilich noch, dass Proklos den Ausdruck »negatio negationis« nicht dem Wortlaut, sondern nur der Sache nach verwendet, wobei seine Verwendung von der Meister Eckharts zu unterscheiden ist (Steel: »›Negatio negationis‹«, 367–368). Ergänzend kann hinzugefügt werden, dass die Proklische negatio negationis auch anders als diejenige Eckharts konstruiert ist, weil Proklos mit der ultimativen Negation die transzendierenden Negationen, die im »Vorhof« des Absoluten enden, negiert, während Eckhart die andersheitlichen Negationen transzendiert. S. etwa Predigt 21; DW I, p. 361–364. Expositio libri Exodi n. 74; LW II p. 76–78. Expositio Sancti Evangelii secundum Iohannem n. 207; LW III, p. 174–175. S. auch Expositio libri Sapientiae n. 154; LW II, p. 490, lin. 7–8: »Deus indistinctum quoddam est quod sua indistinctione distinguitur«. Dazu insgesamt Beierwaltes: Identität und Differenz, 97–104. 325 Uns bleibt also gar nichts anderes mehr übrig, als mit den transzendierenden Negationen die Totalität aller Bestimmungen zu überschreiten. 324

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II) Die neuplatonische »Henophanie«

unserem Einheitsdefizit heraus verweisen wir notwendig auf das Prinzip, durch das wir Einheit zu empfangen glauben. Doch im Durchgang durch das transzendierende Negieren kommen wir zu der Erkenntnis, dass die Einheit, die wir voraussetzen, aufgrund ihrer inneren Geschlossenheit nicht zu fassen ist: Sie hat keine Beziehung in sich und keine zu uns. Wenn wir die Notwendigkeit unsere Ein­ heitsforderung einerseits und die Unbegreifbarkeit der anzunehmen­ den Einheit andererseits verknüpfen, ergibt sich folgendes Bild: Wenn wir die Einheit immer nur voraussetzen können, so wird sie als reine Einheit apostrophiert, wodurch sich aber ihre Unsagbarkeit ergibt. Unser Einheitsbedürfnis steigert sich in diesem Zusammenhang in ein nicht endendes Über- und Vorgreifen, in dem das Denken sich auf das angenommene Prinzip hinspannt, es zu erfassen versucht, aber dieses gleichwohl nicht denkend umfassen kann. Die daraus folgende stete Performativität des transzendierenden Verweisens ist die Kern­ botschaft des Parmenideskommentars. »Übergegensätzlichkeit«, so wird zunehmend deutlich, definiert das Absolute also nicht, sondern mahnt lediglich an, den Weg zu betreten, der über die durchgängige Disjunktionalität aller Bestimmungen hinaus führt. Genau deshalb spricht Proklos von der »doppelten Tätigkeit in uns«: Er unterscheidet nämlich eine »einsehende« bzw. »ergreifende« (inspectiua) und eine »begehrende« bzw. »strebende« (appetitiua) Tätigkeit, wobei er die »begehrende« der »einsehenden« überordnet und sie als henologi­ sches Streben versteht.326 (3) Weil wir das Voraussetzen nicht aufgeben können, eröffnet sich der Horizont, in dem das Absolute überhaupt erst thematisiert werden kann, wobei wir es in diesem Zuge gerade nicht verobjek­ tivieren. Wenn wir nur denken können, wenn die Einheit schon immer als Fundament des Denkens präsent ist, dann werden wir diese Voraussetzung im Denken niemals einholen können. Selbst wenn wir uns auf das Eine hin ausrichten, es also im Denken inten­ dieren, um es zu umfassen, setzen wir es bereits voraus, sodass unser Begreifen immer in einer Objektivation des Einen endet und dieses als Objekt absetzt. Proklos findet hierfür folgende markan­ ten Worte: »Wenn es möglich sein soll, das Unsagbare zu sagen, so muss das Gesagte sich unentwegt durch sich selbst widerrufen

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und sich selbst bekämpfen«.327 Aus diesen Grenzen des Denkens kommen wir nicht heraus, weil jede Bezugnahme auf das Absolute dieses voraussetzt, wodurch erkennbar wird, dass es diesem Bezug stets uneinholbar ›im Rücken‹ liegt. Was wir in Anspruch nehmen, können wir durch das Denken nicht umgreifen, dominieren oder fixieren. Es bleibt das sich in jeder Denkintention Entziehende. Das Reden vom Absoluten geschieht daher nicht direkt, sondern indirekt über das vor- und übergreifende Voraussetzen, das zwar paradox anmutet, aber gleichwohl nicht aufgegeben werden kann.328 Mit Verve muss auf diesem Hintergrund darauf verwiesen werden, dass wir im Grunde, wenn wir vom Absoluten sprechen, nicht dieses selbst thematisieren, sondern unser Einheitsdefizit und dadurch die Notwendigkeit des steten Aus- und Vorgreifens,329 das aber als solches nicht in das Absolute übergeht, sondern sich im und als Hinspannen hält. Zwar ist also das Absolute aufgrund fehlender Relationen an ihm selber nicht thematisierbar. Das Voraussetzen aber ist als Akt des Verweisens auf dem Hintergrund unseres Einheitsbedürfnisses sehr wohl thematisierbar.330 Der Begriff der Übergegensätzlichkeit 327 Theol. Plat. II c. 10, p. 63, lin. 20 – p. 64, lin. 8; bes. p. 64, lin. 8–9: »ὥστε καὶ εἰ λόγος εἴη τοῦ ἀρρήτου, περὶ ἑαυτῷ καταβαλλόμενος οὐδὲν παύεται καὶ πρὸς ἑαυτὸν διαμάχεται«. S. dazu Halfwassen: Hegel und der spätantike Neuplatonismus, 428. 328 Im Sinne Edmund Husserls kann man davon sprechen, dass das Absolute kein Sei­ endes, sondern eine Funktion des Denkens ist, also ein nicht-objekthaftes Fundieren. S. dazu Thomas Arnold. »In the ›Realm of the Mothers‹: On the Absolute in Husserl’s Phenomenology«. In: Ermylos Plevrakis und Max Rohstock (Hg). Grundlegung des Absoluten? Paradigmen aus der Geschichte der Metaphysik. Heidelberg: Universitäts­ verlag Winter, 2019, 279–304; hier 294. 329 In Parm. VII p. 509, lin. 20–26: »Quid enim aliud est le unum quod in nobis quam ὠδῖνος; huius operatio et adiectio? Hanc igitur intrinsecam unius intelligentiam, provolem entem eius quod in nobis unius et velut expressionem, sic nominamus unum. Non illud igitur nomabile, sed quod in nobis unum. Per hoc autem ut convenientissimum ipsi primo circa illud dicimus et insinuamus vicinis.« 330 Dieser Aspekt kann, wie wir im Folgenden noch sehen werden, um einen weiteren bereichert werden: Wir thematisieren nicht nur unser stetes Verweisen auf das Abso­ lute, sondern auch, ja gerade darin, unser stetes Scheitern an diesem, also unser Abge­ wiesen-Werden. Denn der Weg bleibt Weg und transformiert sich als solcher nicht einfach zum Ziel. – Wie sich bereits an Plotins Bildbegriff gezeigt hat, thematisieren wir das Absolute durch das Streben als Transzendenz. Genauer gesagt betrachten wir eigentlich nur das Streben, in dem sich Ausrichtung bzw. absolute Intentionalität und Abgewiesen-Sein bzw. Scheitern erfahren lassen. Dadurch kommt es zur Konstruktion des Absoluten als Unbegreifbarkeit. – Thematisierbar wird der Akt des Verweisens, weil wir ihn selber immer schon (mit)vollziehen. Genau genommen können wir die­ sen Akt aber in seiner Reinheit wiederum nicht fassen, und nur anhand konkreter

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II) Die neuplatonische »Henophanie«

muss also in die folgende, präzisere Formel übertragen werden: Wir sind angehalten, den Akt zu vollziehen, in dem über die durchgängige Gegensätzlichkeit relationaler Bestimmungen und mithin über den Gesamtkontext intelligibler Totalität hinaus verwiesen wird. Und vor diesem Hintergrund wird auch verständlich, warum es nötig war, den Ausdruck »Streben zum Absoluten« durch die präzisere Formel »henologisches Streben« zu ersetzen. Ein Streben zum Absoluten kann als verobjektivierende Intention missverstanden werden.331 Pro­ klos fokussiert aber, wie gesehen, das Streben selber, also den einen Verweis und das eine Streben über die Grenzen von Sein und Denken hinaus. Gerade so wird betont, dass wir nicht einfach die Strukturen von Dasein und Denken überspringen, sondern vom Dasein und Denken ausgehend über deren Grenzen hinaus verwiesen sind.332 Dieses sich hier zeigende Hinspannen, dessen Ausdruck oder Bild das neuplatonische Grundparadoxon ist, droht fernerhin nur scheinbar die innere Logik der Proklischen Prinzipientheorie zu kor­ rumpieren: Vielmehr kann – wie in den folgenden Paragraphen zu zeigen ist – demonstriert werden, dass diese Spannung von Proklos gleich in mehrfacher Hinsicht produktiv gewendet wird, weil er sie als (Ur-)»Kraft« (δύναμις) versteht.333 transzendierender Negationen und anhand der Negation der konkreten Totalität the­ matisieren. So bleibt der Akt greifbar, entzieht sich aber als solcher zugleich unserem denkenden Umgreifen. Wir dominieren ihn also nicht, wir sind also nicht selber die Götter; und deswegen wird ein möglicher Totalitarismus (auch gegenüber Gott oder den Göttern) verabschiedet. S. dazu die Ausführungen zu Fichte (§ 48). 331 Das Verweisen ist gewissermaßen absolute Intentionalität, eine Relation mit nur einem Relat, also dem Denken, das über sich hinaus verweist. In der transzen­ dierenden Negation verbleibt also durchaus eine gewisse Intentionalität (vgl. Steel: »›Negatio negationis‹«, 359), die aber über das Konkrete oder Objekthafte schlechthin hinaus verweist. 332 Genau deswegen wäre es auch im Hinblick auf Damaskios sinnvoll, unsere objektbezogene Sprache henologisch zu korrigieren, statt einfach von »›Hinweis[en]‹ auf Höheres und Überintelligibles« (Paşcalău: Die ›Unartikulierbaren Begriffe‹, 282; Hervorh. Roh.) zu sprechen, so als ob wir auf das Absolute wie auf ein beliebiges Objekt verweisen könnten. Vor diesem Hintergrund sind auch meine eigenen Publi­ kationen, nämlich »Plotin: Erotische Evidenz« und »Das Eine in uns und seine Erweckung«, kritisch zu überprüfen: Formulierungen, in denen das Absolute als Ziel unseres Strebens ausgesagt wird, drohen, das Absolute zu verobjektivieren. 333 Zur besseren Orientierung seien hier zwei Aspekte antizipiert: Die erste produk­ tive Wendung besteht darin, dass im Hinspannen der höchste Evidenzpunkt der Pro­ klischen Metaphysik erreicht wird, durch den sich ein Wissen um die Grenzen von Denken, Sein und Wissen ereignet (§ 18–19). Die zweite Wendung besteht darin, dass

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2) Proklos und das »Eine in uns«

§ 18) Das »Eine in uns« als henologisches Streben und transzendierendes Negieren Der Parmenideskommentar dynamisiert also die Proklische Metaphy­ sik, wobei nun mit Verve darauf hingewiesen sei, dass das »Eine in uns«, das uns im Folgenden als Streben und transzendierendes Negieren begegnen wird,334 in diesem Zusammenhang die zentrale Funktion einnimmt.335 Wie angemerkt stehen die abgesetzten, in sich fixierten Seienden als solche eher weniger im Fokus des Parmen­ ideskommentars,336 sondern viel mehr ihr ›genetischer‹ – oder auch:

dieses Hinspannen sich auch als Horizont beschreiben lässt, durch den alle konkreten Denkakte bedingt und fundiert werden (§ 21–23). 334 Die Konvergenz des Strebens und der transzendierenden Negationen ist das »Eine in uns«. Negieren ist zwar noch Moment der Dialektik, genau genommen aber ihre dominierende Spitze. Rein für sich betrachtet, lässt sich das Negieren, wie im Folgen­ den zu zeigen sein wird, nicht mehr vom Streben, der henologischen tensio, unter­ scheiden. Einen etwas anderen Weg scheint hier Carlos Steel einzuschlagen (»Beyond the Principle of Contradiction?«, 598 und »›Negatio negationis‹«, 362). Zu beachten bleibt dennoch, dass das transzendierende Negieren in seiner Reinheit nichts anderes als Streben ist. S. dazu die folgende Argumentation. Zur genannten Reinheit s. bes. § 23. 335 Diese Dynamisierung hat bereits Dirk Cürsgen herausgearbeitet, indem er dem δύναμις- bzw. Negationsbegriff eine zentrale Rolle in seiner Habilitationsschrift zuge­ dacht hat (Cürsgen: Henologie und Ontologie, bes. 92–121, 136–138, 238–242 und 276–284; vgl. auch 282–283, Anm. 1195). Besonders bemerkenswert sind in die­ ser Hinsicht seine Ausführungen zum »Einen in uns«; ibid. 277: »Dieses Eine in uns ist nichts jederzeit statisch Verfügbares und faktisch Gegebenes, sondern wird in der Reduktion, im stufen- und schrittweisen Ausschalten der einzelnen seinsbezogenen Erkenntnismodi, erst geweckt, d.h., es erfordert eine aktive menschliche Leistung, der darüber hinaus eine passive Aufnahmebereitschaft für das vom Einen her entgegen­ kommende Licht korrespondieren muß.« Cürsgen pointiert damit die Funktion des »Einen in uns« völlig zutreffend; ibid.: »Das Eine in uns ist nichts anderes als der aktive Vollzug unserer ursprünglichen, apriorischen Gerichtetheit auf das Eine, und was wir dabei begreifen und ausdrücken können, nennen wir ›das Eine‹, also letztlich allein den Begriff von ihm in uns, das Eine in uns als apriorisches Urfaktum.« Diese Thesen werden sich im Folgenden noch erhärten lassen. 336 Die Seienden sind aber – nebenbei bemerkt – nicht tot oder in steriler Ruhe, sondern ihrerseits durch eine innere Bewegung charakterisiert, weil alle intelligiblen Seienden »πάντα ἐν πᾶσιν, οἰκείως δὲ ἐν ἑκάστῳ« sind (St. theol. prop. 103, p. 92, lin. 13). Darauf weist Proklos insbesondere durch seine Triadenlehre: Das Sein etwa ist nur im Zusammenhang von Leben und Denken, sodass sich Sein, Leben und Denken wechselseitig durchdringen. S. dazu Beierwaltes: Proklos, 93–106 und ferner Halfwassen: Hegel und der spätantike Neuplatonismus, 445–462.

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›geltungstheoretischer‹337 – Zusammenhang mit dem Absoluten; und diese Verknüpfung tritt als die stetige und unhintergehbare Performativität in Erscheinung, wobei diese Performativität als steter Akt des Aus- und Vorgreifens oder als selber unüberspringbares Hinspannen über alles Seiende hinaus zu verstehen ist. Hierbei ist besonders auf zwei Aspekte aufmerksam zu machen: (1) Proklos greift zur Illustration der Dynamisierung seiner Metaphysik und der unhintergehbaren Performativität des Negie­ rens bzw. Hinspannens vor allem auf das Platonische ἔρως-Konzept zurück: Er spricht von einem »unauslöschlichen« wie »natürlichen Streben«338 zum Absoluten; wobei sich für das Streben ein enor­ mer Variantenreichtum an Begriffen feststellen lässt: Proklos spricht

Zwar scheint alles aus dem Einen hervorzugehen. Da dieser Hervorgang und sein ›Warum‹ aber völlig unerklärbar sind, steht dieser gar nicht im Zentrum neuplatoni­ schen Nachdenkens. Proklos etwa geht es mehr darum, aufzuzeigen, dass alles durch das Prinzip getragen oder fundiert wird. Von einer Entstehung oder gar Schöpfung spricht Proklos im Rahmen seiner Henologie gerade nicht. Das intelligible Dasein ist also ungeworden, aber doch bedingt durch das Prinzip. Genauso argumentiert auch Fichte, bes. im Hinblick auf die Frage, wie das Begreifen den Begriff auf dem opaken Hintergrund absoluter Liebe absetzt (s. dazu § 46). Fernerhin beschreibt Fichte das Dasein als absolut (§ 44), auch wenn dieses durch das Absolute getragen wird. Bei Proklos wiederum sind Sein, Leben und Denken (Geist) ewig, durch sie selber gewirkt und doch von noch ›Höherem‹ bzw. ›Fundamentalerem‹ getragen. 338 In Parm. VII p. 1191, lin. 6–7 (ὠδίς), p. 502, lin. 37 – p. 503, lin. 4 (ὠδίς), p. 509, lin. 13 – p. 510, lin. 3 (neben ὠδίς und amor taucht in der zitierten lateinischen Version Moerbekes appetitio häufiger auf) und p. 511, lin. 3–33; bes. lin. 25–27: »Natura enim est, ut diximus, in omnibus, et non secundum iniectionem, unius desiderium et indeficiens motio [ὠδίς]«. S. auch Theol. Plat. I c. 22, p. 101, lin. 27 – p. 102, lin. 1 (ἔφεσις). 337

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2) Proklos und das »Eine in uns«

wahlweise von ἔρως339, ὄρεξις340, ἔφεσις341 und besonders ὠδίς342. Diese Begriffe sind miteinander unmittelbar sachlich und philologisch verbunden – es handelt sich offenbar bloß um Variationen des Aus­ drucks343 – und konvergieren darüber hinaus im »Einen in uns«, das sie sogar selber ausdrücken sollen: »Was ist das Eine in uns anderes als die Tätigkeit und Gerichtetheit dieses [scil. henologischen] Strebens? Es ist deshalb das innigste Verständnis des Einen, der Entwurf und der Ausdruck des Einen in uns, was wir ›das Eine‹ nennen.«344

339 Der Begriff ἔρως (bzw. amor) kommt am Ende des Parmenideskommentar kaum vor (s. aber In Parm. VII p. 509, lin. 33: »amor unius inextinguibilis«), wird aber würdig durch seine Pendants vertreten. Prominent ist der ἔρως vor allem im Alki­ biadeskommentar (passim). – Zum ἔρως bei Proklos s. Beierwaltes: Proklos, 306– 313. Eine gute Einführung bietet mittlerweile auch Vasilakis: Eros in Neoplatonism and its Reception in Christian Philosophy, 67–140. Die metaphysische Funktion der henologischen Liebe (und artverwandter Begriffe) entgeht Vasilakis aber. Gerade hierin liegt freilich die zentrale Bedeutung der Proklischen ἔρως-Konzeption. Von entscheidender Bedeutung für die Erforschung der Proklischen ἔρως-Konzeption sind die Überlegungen Christian Tornaus (»Der Eros und das Gute bei Plotin und Proklos«, 200–229). 340 Etwa In Parm. VI p. 1115, lin. 25. 341 ἔφεσις wird bei Proklos, so bestätigt Christian Tornau, synonym zur ὄρεξις ver­ wendet (»Der Eros und das Gute bei Plotin und Proklos«, 208, Anm. 36). 342 Der Begriff ὠδίς ist am Ende des Parmenideskommentar besonders prominent vertreten. Er weist neben seiner Bedeutung als Streben, wie oben bereits erwähnt, das Bedeutungsmoment »Geburtsschmerz« oder »Geburtswehe« auf und kann aufgrund ihrer dadurch implizierten produktiven Kraft in den Kontext prinzipientheoretischer Begriffe, zu denen auch die transzendierenden Negationen, die δύναμις und die Hen­ aden gehören, eingeordnet werden. S. dazu unten, § 21–23. 343 Die unterschiedlichen Ausdrücke nuancieren also höchstens bestimmte Momente: So betont die ὠδίς, insofern sie als »Geburtsschmerz« zu verstehen ist, die produktive Seite anagogischer Begriffe. 344 In Parm. VII p. 509, lin. 20–26: »Quid enim aliud est le unum quod in nobis quam ὠδῖνος; huius operatio et adiectio? Hanc igitur intrinsecam unius intelligentiam, pro­ volem entem eius quod in nobis unius et velut expressionem, sic nominamus unum. Non illud igitur nomabile, sed quod in nobis unum. Per hoc autem ut convenientis­ simum ipsi primo circa illud dicimus et insinuamus vicinis.« Übers. nach Kommentar zu Platons Parmenides 141E-142A. Eingeleitet, übersetzt und erläutert von Rainer Bar­ tholomai. 2. Aufl. Sankt Augustin: Academia, 2002. S. ferner In Parm. VII p. 511, lin. 3–10: »unius autem conceptus et apprehensio per se naturalis est et non secundum adiectionem infit et cognitionem. Illi quidem igitur ut cognitiones entes coexistunt cognitis et possunt ipsa nominare – combrehensibilia enim aliqaliter sunt ipsis –; hic autem neque cognitiuus ens neque combrehendens le unum est per se naturalis oper­ atio et desiderium unius.« Vgl. schon In Parm. VII p. 502, lin. 37 – p. 503, lin. 4, wo Proklos von einem »eingeborenen Streben« zum Einen spricht, das sogar »unaustilg­

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II) Die neuplatonische »Henophanie«

(2) Nun deckt Proklos dieses Streben, wie im vorangehenden Paragraphen gezeigt werden konnte, anhand seiner negativen Dialek­ tik als Sein und Denken ursprünglich bedingende Tat auf. Dieses Hinspannen oder Hinaufspannen, das – wie wir vor dem Hinter­ grund der Plotinischen Henophanie unschwer vermuten können – eine generativ-erotische Grundspannung bzw. ein produktives Span­ nungsfeld erzeugt bzw. sogar ist, artikuliert sich also auch – oder eher: gerade – im transzendierenden Negieren, also in dem dadurch zum Ausdruck gebrachten Akt des Verweisens. Präzisierend sollte in diesem Zusammenhang also davon gesprochen werden, dass zwar Proklos von einer ultimativen transzendierenden Negation spricht, der gerade die generierende Kraft zukommt,345 aber doch eher auf den Akt des Verweisens abzielt, sodass wir, genau genommen, von dem Akt des transzendierenden Negierens sprechen sollten. Er kann diese Tätigkeit daher gar als reinen Akt verstehen, wobei an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben sollte, dass Proklos diese Reinheit346 eigens anhand seiner Henadenlehre thematisiert.347 Decken wir dieses Hin­ spannen als Ur-Tat348 auf, wobei wir uns des Negierens bemächtigen, erwecken wir das »Eine in uns«. Und in dieser Erweckung liegt unsere Entdeckung der henologischen Liebe – oder genauer: die Erweckung des »Einen in uns« ist unser tätiges Vollziehen des Hinspannens, also bar« sei (In Parm. VII p. 509, lin. 33). Grundlage hierfür ist Proklos’ These von der »doppelten Tätigkeit in uns« (In Parm. VII p. 509, lin. 27–28). 345 Ausführlicher dazu § 21. 346 Der Begriff der Reinheit ist hierbei entscheidend, wobei dieser Aspekt erst weiter unten eingehender thematisiert werden kann (§ 21–23, bes. § 22). Es sei hier aber angemerkt, dass das henologische Streben von Proklos kompromisslos als eigenstän­ dige Tat gefasst wird, die nicht an irgendetwas gebunden sein muss. Interessanterweise wird dieses reine Streben mit der Henadendimension identifiziert, die ihrerseits nicht an irgendwelche affirmativen Bestimmungen geknüpft ist. Insofern die Henaden sel­ ber streben und nichts anderes als der manische Reigen um das Absolute sind (vgl. etwa In Remp. I p. 181, lin. 17–29 und De prov. § 34, lin. 31–32 [gr. Version]), ist diese Identifikation konsequent. Proklos etabliert so einen actus purus, der über sein Kon­ zept des »Einen in uns«, das der Inbegriff dieser reinen Tätigkeit ist, seinen Weg in das Denken des Christentums gefunden hat. 347 Zur Henadenlehre s. unten, § 21–23, bes. § 23. 348 Die Deutung des Hinspannens als Grund- oder Ur-Tat vollzieht sich vor dem Hintergrund des fundamentalen prinzipientheoretischen Anspruchs Proklos’, das ursprüngliche Prinzip von allem aufzudecken. Schon bei Plotin konnten wir erkennen, dass das Hinspannen eine Grundspannung generiert, die gewissermaßen als ›Motor‹ epistemischer und ontischer Prozesse verstanden werden kann, also vorzugsweise Prinzip des absoluten Geistes, ist.

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unser henologisches Streben, in dem »Begeisterung« (ἐνθουσιασμός) erfahren wird und in dem das höchste Wissen wurzelt. Sogar das voll­ endete Selbstbewusstsein der νόησις wird erst auf dem Hintergrund des Hinaufspannens verwirklicht.349 Das »Eine in uns«, das einer Konvergenz von theoretischem Akt (θεωρία), dem Negieren, und einer ursprünglichen und allem zugrundeliegenden Tat (πρᾶξις), dem Hinspannen oder Streben, gleich kommt, wird also dann entdeckt oder erweckt, wenn das Hin­ spannen vollzogen und so als stete und unaustilgbare Performativität freigelegt wird. Es muss betont werden, dass Proklos mit dem nun freigelegten »Einen in uns« nicht ein (stehendes) Seiendes, eine in eine Hierarchie eingeordnete Substanz, ein – wie Fichte sagen würde – »totes« oder »abgesetztes Objekt«350 oder eine Tatsache, sondern die Tathandlung, den Akt der Genese, und mithin also, wie sich im weiteren Verlauf noch zeigen wird, die generierende Tätigkeit in ihrer Reinheit meint. Während in der Stoicheiôsis die Ordnung der (Seins)Hierarchien mehr im Fokus steht, kann der Parmenideskom­ mentar als Werk für die Übergänge – oder genauer: für das Übergehen –, also für unser henologisches Streben einerseits und für die Tat der Genese (eines Denkaktes oder eines Seienden) andererseits gewertet

349 Der absolute Geist (νοῦς) ›erfährt‹ – im zeitfreien ›Prozess‹ der »Rückwendung« (dazu St. theol prop. 15–17, 40–49 und 167–171) – allein durch die henologische Per­ spektive seinen derivativen Status: Das Denken erkennt in der Hinwendung zum Absoluten, dass es selber dieses nicht ist: Die νόησις, die neuplatonische Fassung der intellektuellen Anschauung, ist also nicht einfach oder bloß Ideendenken, sondern schließt immer die henologische Perspektive mit ein. Der reine Intellekt hat freilich schon immer eingesehen, dass er nicht das Absolute ist, die Seele aber muss erst zur Erkenntnis der Abhängigkeit des reinen Denkens aufsteigen. In dieser Perspektive liegt ein produktives Moment, insofern durch sie das Selbstbewusstsein der νόησις erst vollständig aktualisiert wird: Sieht das reine Denken nicht ein, selber gerade nicht das Absolute zu sein, kann es wohl kaum als vollendetes Selbstbewusstsein gewertet werden. Das Hinblicken auf das Absolute ›produziert‹ also erst vollendetes Selbstbe­ wusstsein. Inwiefern die Seele, also das dianoetisch-sukzessiv verfahrende Denken in der Zeit, in diesen Zusammenhang einzuordnen ist, soll in der weiteren Diskussion dieses Paragraphen geklärt werden (bes. § 18, Anm. 355–356). 350 Sicherlich ist anzumerken, dass kein Seiendes in der Proklischen Hierarchie schlechthin ›tot‹ ist. Selbst Steinen inhäriert eine innere Energie, denn alles ist durchwirkt von der Macht des Einen. Gleichwohl geht es Proklos, insofern er das Absolute thematisieren möchte, nicht um die Seienden als solche, sondern um die innere Kraft, die alles zusammenhält und zu einer Einheit bindet.

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II) Die neuplatonische »Henophanie«

werden.351 Dergestalt steht also eine Tat – genauer: eine Tätigkeit – im Vordergrund, die als Grundhandlung und Gründungsakt verstanden werden kann. Die Genese ereignet sich durch das anagogisch-henolo­ gische Streben und im anagogisch-henologischen Streben – oder: im Hinblicken über die Grenzen von Sein und Denken hinaus –, worin die Produktivität des transzendierenden Negierens aufscheint.352 Wie bereits geschildert wird das »Eine in uns« mittels der abs­ traktiven Methode der negativen Dialektik aufgedeckt und erweckt. Die Pointe dieser Entdeckung ist nun offenbar, dass sich erst in ihrem Vollzug, wie bereits erwähnt, absolutes Wissen verwirklichen lässt. Wichtig ist hierbei anzumerken, dass sich diese Genese in der höchsten und durch die höchste Einsicht vollzieht, die nichts anderes als das bereits mehrfach genannte Hinspannen ist.353 Dadurch, so muss an dieser Stelle vorweggenommen werden, aktualisiert das reine Denken erst Selbstbewusstsein, weil es besonnen einsieht, dass es selber nicht das Absolute ist. Es erlangt somit Gewissheit über sich, das Absolute, den (intelligiblen) Kosmos und mithin über seine eigene ›Position‹ innerhalb der Seinshierarchie.354 In dieser Hinsicht fokussiert Proklos 351 Rein sachlich steht diese Tat der Genese mit der Liebe bei Fichte in Verbindung (s. § 46), auch wenn Fichte diese Tat als das Absolute selber versteht. 352 Die Trennung anagogischer Begriffe und solcher, die eine irgendwie »kausal« (Cürsgen: Henologie und Ontologie, 240) wirkende Kraft meinen, ist, wie bereits ein­ gangs (§ 14) erwähnt, künstlich, denn in Hinspannen liegt bereits die Dimension vor, durch die alles Seiende seine innere Energie erfährt, was sich besonders prägnant am Begriff des (intelligiblen) Geburtsschmerzes, ὠδίς, zeigt. Genau genommen ist das Hinspannen die Grundkraft (δύναμις) in unserer Wesensmitte, also von uns gar nicht mehr zu unterscheiden. Zur Frage, inwiefern wir selber das Streben ›sind‹ und dieses uns doch transzendiert, s. unten, § 21–23. 353 Das Hinspannen bzw. Hinblicken ist zugleich der Akt des Einsehens, also der Evidenzpunkt, der höchstes Wissen, also das Wissen von der Nicht-Wissbarkeit des Absoluten, generiert. Zugleich wird dadurch die Einsicht in die eigene Grenze erzeugt: Auch wir selber sehen durch sie ein, dass wir nicht das Absolute sind. Denn wir denken, das Absolute aber ist weder Geist noch Denken. – Dieses Hinblicken ist zugleich die unsagbare Erfahrung (s. auch § 19), also die höchste, die möglich ist: Wir sollen nicht nur einsehen und so wissen, sondern dieses Einsehen auch unmittelbar erfahren: Theorie und Praxis, Schauen und Fühlen, sind gar nicht mehr getrennt, sondern in die höchste Erfahrung transformiert. Und genau deshalb lässt sich auch bei Proklos von einem existenzphilosophischen Ereignis sprechen, die uns verwandelt. 354 Diese produktive Kraft des Strebens hat auch Christian Tornau pointiert; »Der Eros und das Gute«, 218: »Die Seienden erstreben das Gute unaufhörlich und können es doch nie erreichen. Daraus ergibt sich für jedes Seiende eine Balance zwischen Streben und Scheitern, die ihm seinen spezifischen Ort in der Seinshierarchie zuweist. Die Unerreichbarkeit des Guten ist somit die Hauptursache für den Bestand der

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2) Proklos und das »Eine in uns«

neben dem Denken im Allgemeinen das seelische Denken im Speziel­ len, also unser eigenes dianoetisch-sukzessiv verfahrendes Denken: Er konzipiert einen Erkenntnisprozess, der letztlich in der höchsten Einsicht und dadurch in Selbsterkenntnis und im Wissen um die eigenen und absoluten Grenzen von Sein und Denken kulminieren soll.355 Verknüpft ist diese Betrachtung gerade im Hinblick auf die neuplatonischen gestuften Seinsordnung.« Deswegen kann das Streben als »seinssta­ bilisierendes Prinzip« begriffen werden. – Dieser Kulminationspunkt der Proklischen Anagogik ist auch deswegen von zentraler Bedeutung, weil er – mutatis mutandis – auch in der nachfolgenden Tradition eine zentrale Rolle einnimmt. Sogar bei Fichte spielt die höchste Einsicht, die der Proklischen erstaunlich nahekommt, eine entscheidende Rolle für die Genese des Selbstbewusstseins, insofern diesem eine henologische Perspektive inhärent sein muss: Die intellektuelle Anschauung Fichtes ist mitnichten eine bloße Selbstbespiegelung des absoluten Wissens. Vielmehr ist diesem Wissen eine Absolutheitsperspektive immanent, durch die sich das Wissen als Bild des Absoluten – und nicht als dieses selber – begreift. S. dazu Kap. IV. 355 Die Seele ist zwar nach Proklos und im Unterschied zu Plotin ganz abgestiegen (St. theol. prop. 211. Zu diesem Topos s. Loder: Die Existenz des Spekulativen, 82–137, wobei Loder die Entwicklung dieser Lehre bis zu Proklos nachzeichnet und auch die rezente Forschungsliteratur diskutiert). Der Abstieg der Seele bedeutet nun aber nicht, dass ihr die höchste Einsicht, die Einsicht in die Begrenztheit von Sein und Denken, verwehrt wäre. Wie sonst könnte Proklos – als philosophierender Mensch – von der höchsten Einsicht sprechen? Die Seele wendet sich nämlich dem Einen zu, wobei ihr sogar die »Einung« möglich sein soll (etwa Theol. Plat. I c. 3, p. 15–16). Ganz grund­ sätzlich hat die Seele nach Proklos Selbsterkenntnis zum Ziel; In Alc. p. 194, lin. 16 – p. 195, lin. 3: »τὰ δὲ μαθήματα καὶ ἡ διαλεκτικὴ τὸν λόγον ἡμῶν ἀνακινεῖ καὶ ἀνάγει. τὸ γὰρ ›ὄμμα τῆς ψυχῆς‹ ὑπὸ πολλῶν ἐπιτηδευμάτων ἀποτυφλωθὲν καὶ κατορυχθὲν ὑπὸ τούτων ἀναζωπυρεῖται καὶ πρὸς ἑαυτὸ ἐπιστρέφει καὶ τὴν ἑαυτοῦ γνῶσιν. τούτοις δὴ οὖν τρέφεται ὁ ἐν ἡμῖν λόγος καὶ διὰ τούτων ἄνεισιν εἰς νοῦν, ὡς καὶ ὁ Σωκράτης ἐν ἐκείνοις ἐδίδαξε.« Vgl. Beierwaltes: Proklos, 277–280 und 287. Diese Selbsterkenntnis beinhaltet die noologische Perspektive auf den Geist, letztlich aber auch die henolo­ gische Perspektive (vgl. Beierwaltes: Denken des Einen, 274). Die höchste Einsicht, nämlich diejenige in die Begrenztheit aller Denkakte, eben auch der νόησις, ist also für die Seele als solche konstitutiv, wenngleich diese einen weiteren, umfassenderen Überblick über alles Seiende haben muss, um ihre Position in der Mitte aller Hierar­ chien einsehen zu können. Darin besteht für sie dann ihr Selbstbewusstsein, das frei­ lich anders strukturiert ist als die reine νόησις. Jedenfalls ist »[d]ie Erkenntnis des eigenen Wesens […] übergriffen von der Erkenntnis des voraussetzungslosen Grun­ des jedwedes Seienden«, die freilich, so vermerkt Werner Beierwaltes, durch das »Eine in uns« bedingt wird (ibid. 279). Man darf also sehr wohl von der Genese seelischen Selbstbewusstsein durch die henologische Perspektive sprechen, die Geist und Seele gleichermaßen vollziehen müssen, um die Grenzen ihres Denkens vollständig aus­ zuloten. In dieser Perspektive wird die Seele aber nicht einfachhin zum Geist; sie voll­ zieht aber die höchste Perspektive des Geistes mit diesem. Und in dieser höchsten Perspektive wird ihr bewusst, dass allem Denken das eine henologische Streben als

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II) Die neuplatonische »Henophanie«

Seele immer auch mit einer soteriologischen Komponente, die sogar den Kern dieses Prozesses der Vergewisserung ausmacht: Proklos versteht die Analysen als Reinigungsprozess, durch den das seelische Denken sich in immer intensiveren Kontemplationen seines eigenen Selbst bewusst werden soll: In ihrem Kern, ihrem Selbst also, liegt laut Proklos eben jene Ur-Tätigkeit, also das henologische Streben.356 Grundmoment inhärieren muss. Carlos Steel jedenfalls ignoriert diese henologische Perspektive (»Proklos über Selbstreflexion und Selbstbegründung«. In: Matthias Per­ kams und Rosa M. Piccione (Hg). Proklos: Methode, Seelenlehre, Metaphysik. Leiden/ Boston: Brill, 2006, 230–255). Letztlich kann man das Verhältnis von Seele, Geist und Absolutem aus der Perspektive der Seele heraus folgendermaßen auf den Punkt bringen: Es geht darum, der Seele eine eigene Position zuzugestehen. Sie hat aber dennoch eine höchste Einsicht, durch die sie (mittels der Reflexion auf die Methode) den einen genetischen Punkt aufzudecken vermag, der ursprünglich disjungiert, also das Rückgrat der Proklischen Hypostasierungen und (hierarchischen) (Seins-)Diffe­ renzierungen ist. Das Streben disjungiert und ›macht‹ daher auch alles ursprünglich zu einem bestimmten, in sich geschlossenen Seienden – oder genauer: es ist die Bedingung der Möglichkeit jeder Realisierung von Hypostasen, auch wenn es nicht direkt der Grund der Seele ist und diese über den Geist, ihren Grund, prinzipiiert wird. Die Seele vermag sogar die »Vorsehung« der Henaden-Götter zu vollziehen (De dec. dub. § 65, lin. 10–18. Zur »Vorsehung« s. § 21–23; bes. § 22), ohne diese aber sogleich zu sein. – Was Proklos also an Plotin zu kritisieren scheint, ist der Übergang der Seele in die simultane Einheit des Geistes, insofern dieser »alles zumal« (ὁμοῦ πάντα) schaut. Die Seele muss dieses simultane All-Einheits-Sehen nach Proklos gar nicht erreichen, um die höchste und eigentliche Sub-›Struktur‹ von Sein und Denken, also das heno­ logische Streben, aufzudecken. Sie hat, so müssen wir festhalten, höchste Einsicht; und in dieser liegt auch ihr Heil trotz ihrer bleibenden Zeitgebundenheit. 356 Proklos hebt die soteriologische Komponente bes. in De providentia hervor: Die Seele soll sich in »freier Knechtschaft« (ἐθελοδουλεία) dem Absoluten unterordnen (De prov. § 24, lin. 9 – 25 [gr. Version]). Dann wird sie mit den Henaden wahrhaft frei sein, mit ihnen regieren und allen Schrecknissen des Lebens in Gelassenheit trotzen, denn die drei Seelenteile, die Proklos von Platon übernimmt, sind durch die Hinwen­ dung zur Einheit wohlgestimmt. Unter dieser Bedingung wird die Seele mit den Hen­ adengöttern den (manischen) Reigen um das Absolute tanzen; De prov. § 34, lin. 31– 32 [gr. Version]: »ἔστι γὰρ καὶ ὑπὲρ τὸν κόσμον ζωὴ καὶ ἡ ζωὴ τῶν θεῶν καὶ τῶν ψυχῶν ὑπὲρ εἱμαρμένην χορευουσῶν καὶ τῇ προνοίᾳ μόνῃ συνεπομένων.« Vgl. In Alc. p. 33, lin. 15–21. Ermöglicht wird dieses selige Leben freilich durch die metaphysische Analyse, in deren Zuge die Seele immer weiter aufsteigt und so die ihr wesentliche Kraft erweckt und wiedererlangt (De prov. § 25, lin. 9 [gr. Version]). Wie soeben gezeigt kann die Seele die höchste Einsicht erreichen, die darin besteht, dass sie um die tragende Sub›Struktur‹ von Sein und Denken weiß: Sie weiß, dass alles Sein von diesem Fundament bedingt und so getragen wird. Dann aber weiß sie auch, dass sie selber von dem heno­ logischen Streben fürsorglich getragen wird. Und darin besteht ihr Heil in der Zeit: Im Streben erfährt sie ursprünglich ihr Getragen-Sein durch das Streben, wobei sie ein Wissen von dieser Erfahrung in sich bewahren kann. Zum Verhältnis von höchster

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2) Proklos und das »Eine in uns«

Wir können also feststellen, dass Grundtat, Hinspannen und Streben als ›hintergründiger‹ Horizont aller Seinsdimensionen von uns erst entdeckt und zu Bewusstsein gebracht werden müssen. Diese Entde­ ckung gilt es aber, vor allem um die Komplexität unseres erkennenden Aufstiegs und den Prozess des sich stetig intensivierenden Bewusst­ werdens veranschaulichen und begreifen zu können, noch einmal genauer zu betrachten, indem wir einen präzisierenden Blick auf die Grundlagen dieser Entdeckung werfen und sie problematisieren: Proklos spricht bekanntlich von einer »Spur« (ἴχνος) des Einen, die zwar in uns gelegt, aber doch »verborgen« ist.357 Erst wenn diese Spur aufgedeckt wird, sind wir über die Grenzen von Sein und Denken hinaus verwiesen, sodass der Weg, der über Sein und Denken hinaus führt, gebahnt bzw. von uns (wirklich358) betreten wurde. Sind wir unter der Bedingung dieser Entdeckung dergestalt über Sein und Denken hinaus verwiesen, wird das Absolute nicht mehr als Illusion, sondern als Gewissheit empfunden.359 Mit anderen Worten realisieren oder vollziehen wir, wenn die Spur entdeckt wurde, das henologische Streben selber. Dieses basale, dem absoluten Denken zugrundeliegende, ja in allen Seienden verborgen liegende Streben können wir allerdings anfänglich nur erahnen, auch wenn das henologische Streben »natürlich« ist.360 Diese Ahnung oder Intuition ist für Proklos freilich vorbewusstes – oder in diesem Fall Erfahrung und höchstem Wissen s. unten, § 19. – Mit dem bewahrten Wissen um das Getragen-Sein scheint Proklos einen Gedanken Eckharts und Fichtes vorwegzuneh­ men. Wie diesen geht es Proklos nicht einfach bloß um eine Gottesschau oder eine weltabgewandte vita contemplativa. Vielmehr dient die Kontemplation dazu, die vita activa zu fundieren: Wer die Einsicht hat, dass das eigene Dasein fürsorglich durch eine höhere Macht, also die πρόνοια (s. dazu bes. § 22), getragen wird, kann in seliger Ruhe leben und wirken. Vgl. dazu Fichtes Umdeutung des sog. Mystizismus und Eck­ harts Predigt 86 in § 48. 357 De dec. dub. § 64, lin. 9–12. 358 Im Grunde ist zwar alles immer auf dem Weg zum Absoluten. Aber erst im Aufdecken und Vollziehen des basalen Grundstrebens sind wir wirklich in absoluter Ausrichtung, also in vollendeter ›Gestalt‹ ausgerichtet, wobei diese Ausrichtung nichts anderes ist als die Über-Form des manischen Henadentanzes um das Absolute. 359 Vgl. dazu meine Ausführungen zum Plotinischen Bildbegriff (§ 12), die auch auf Proklos’ Erscheinungslehre angewendet werden können. 360 Zur Ahnung bzw. zum »Anfang des Denkens« s. schon Beierwaltes: Proklos, 369–371. Darin inauguriert Beierwaltes das »Eine in uns« in seiner hermeneutischen Funktion: Es ist »Anfang« und zugleich »durchtragende[r] Grund« (ibid. 370) des Denkens, das letztlich in die höchste Einsicht, nämlich »in das Wissen des Nichtwis­ sens« (ibid. 371), überführt.

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II) Die neuplatonische »Henophanie«

eher: überbewusstes – ›Wissen‹.361 Aber aus diesem Befund ergibt sich konsequenterweise eine drängende Frage: Wenn wir über eine Intuition des Absoluten verfügen, kennen wir es dann nicht bereits?362 Wieso müssen wir uns dann überhaupt noch auf die Suche nach dem Absoluten begeben? Nach Proklos ist diese Ahnung für uns der Beginn des philoso­ phischen Prozesses, in dessen Zuge wir zu vollem Bewusstsein erst durchbrechen und die opaken Substrukturen von Denken und Sein aufzudecken vermögen.363 Es geht ihm um eine Art Reinigungs- oder Destillationsprozess, in dem die opake Spur freigelegt werden kann. Herauspräpariert wird, was sich uns zunächst nur als Ahnung zu erkennen gibt und mithin für uns vor-bewusst vorliegt, das sich aber letztlich als über-bewusstes Streben herausstellt, insofern das gesamte Erkennen durchmessen wurde und letztlich nur noch das Streben über die Grenzen von Sein, Wissen und Denken hinaus als einzig möglicher Weg und Verweis (§ 8) übrig bleibt.364 Den Henaden unterlegt Proklos ein »verborgenes Wissen« (St. theol. prop. 121, p. 106, lin. 11). Dass diese mit dem vorliegenden Sachverhalt unmittelbar verknüpft sind, sollen die folgenden Überlegungen zeigen. S. dazu auch unten, § 22–23. 362 So auch schon Rohstock: »Das Eine in uns und seine Erweckung«, 379 und 384– 388. Man kann diesen Umstand auch so wenden: Die Frage nach dem Prinzip aller Bestimmungen scheint dieses als das alles bestimmende Moment bereits vorauszu­ setzen. Vgl. Platon: Men. 80E. Cusanus: De coni.; h III, I c. 5, n. 19. Nach Cusanus wird in jeder Frage nach dem Absoluten dieses stets vorausgesetzt, ohne dass es uns dabei immer thematisch bewusst ist. S. dazu Klaus Kremer. »Nicolaus Cusanus: ›Jede Frage nach Gott setzt das Gefragte voraus‹ (Omnis quaestio de deo praesupponit qua­ esitum)«. In: Klaus Kremer. Praegustatio naturalis sapientiae: Gott suchen mit Nikolaus von Kues. Münster: Aschendorff, 147–178 und Rohstock: Der negative Selbstbezug, 74–116. S. dazu auch § 33. 363 Ahnung und Streben sind bereits präsent, müssen aber freigelegt werden. Der­ gestalt dominieren wir Ahnung und Streben nicht, sondern diese dominieren vielmehr (unser) Wissen, Denken und Bewusstsein. Vgl. dazu unten, § 21–23. Dieser Topos lässt sich auch bei Fichte entdecken. S. bes. § 46. 364 Das Streben ist nicht Wissen, sondern höher als Wissen. Zentral hierfür ist die bereits angeführte Stelle In Parm. VII p. 509, lin. 27 – p. 510, lin. 3, worin Proklos »Verstehen« und »Streben« voneinander trennt, und das Streben dem Verstehen überordnet. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, was das »höchste Lernen« jenseits des Wissens sein soll (ibid. p. 514, lin. 30–32): Es geht Proklos – anders formuliert – um den Umschlag in die Erfahrung der Begeisterung, die Gottbesessen­ heit, in der höchste Zweifelsfreiheit erreicht ist. Diese ist nicht einfach das reflexive Wissen seiner selbst, sondern noch über diesem anzusetzen (vgl. ibid. VII p. 511, lin. 27–29). Der »Weg« zum Absoluten führe, so bemerkt Proklos, nur »über Negationen« (ibid. p. 512, lin. 6–7), sodass nur dieser Weg nicht in einer fruchtlosen Aporie endet 361

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Proklos spricht also nicht von einem bereits vorhandenen Wissen über das Absolute. Auch ist die ursprüngliche Intuition für sich genommen kein Garant für einen gelungenen Aufstieg oder die Voll­ endung der Philosophie. Vielmehr setzen Vollendung und höchste Einsicht intensive Begriffsarbeit voraus. Der Aufstieg erfolgt bei Prok­ los ›stufenweise‹365 und unter Berücksichtigung aller Erkenntniswei­ sen, weshalb dianoetische, noetische und hypernoetische ›Denk‹-For­ men durchmessen werden müssen.366 Aufgedeckt wird die in uns und in allem gelegte Spur, die uns auf das Eine verwiesen sein lässt, erst, wenn alle Wissensformen, Methoden oder Erkenntniswege durchdrungen und – in letzter Konsequenz – im Hinblick auf das Absolute negiert wurden. Diese Analyse des Denkens vermag die – wenn man so will – »Hohlstelle im Gängigen«367 oder die »Lücke«368 im Kontext des Denken aufzudecken.369 Übrig bleibt nach diesem Durchgang das eine basale, natürliche henologische Streben, denn das Absolute hat als das eigentlich »Erstrebenswerte« (ἐφετόν) zu gelten.370 Und indem die Seele so schließlich alle möglichen Wissensund Daseinsformen durchlaufen und den Weg über Sein und Denken hinaus betreten hat, vermag sie sogar das Ganze der Hierarchie und ihren eigenen ›Platz‹ in derselben einzusehen. (vgl. § 8). Proklos eignet sich in diesem Zusammenhang folgendes Sokrateszitat an; ibid. p. 512, lin. 8–9: »[…] ut in pugna oportere omnia ab ipso auferre et ab omnibus illud separare.« Henologisches Streben und transzendierendes Negieren sind diese letzten Verweise und daher sind sie nicht verschieden, sondern eins. Im Negieren ist darüber hinaus, wie bereits gesagt, auch die Differenz gefallen. Dasselbe gilt für das henologische Streben: Dieses gilt keinem Anderen, keiner auf Differenz gründenden Bestimmung. Und daher fällt jede Alternative weg. 365 In Parm. V p. 990, lin. 21 – p. 991, lin. 4 und p. 993, lin. 7–19. 366 In Parm. VI p. 1071, lin. 4 – p. 1072, lin. 14. Vgl. De prov. § 27–32. Zur Auf­ stiegsdialektik anhand des klassischen Dreischritts von »Reinigung«, »Erleuchtung« und »Vollendung« s. vor allem die grundlegende Diskussion Werner Beierwaltes’ (Proklos, 275–305). 367 Hindrichs: Das Absolute und das Subjekt, 13. 368 Hans Blumenberg. Theorie der Unbegrifflichkeit. Aus dem Nachlaß hrsg. von Anselm Haverkamp. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2007, 76. 369 Vgl. dazu Fichtes Analyse der Erscheinung als Erscheinung des Absoluten (§ 47). 370 Bes. eindringlich In Alc. p. 336, lin. 22–23: »μόνον δὴ οὖν ἐφετόν ἐστι τὸ ἀγαθὸν.« Vgl. auch ibid. p. 336, lin. 25–27 und p. 129, lin. 27–29. So ist die Liebe »angespanntes Streben« (ibid. lin. 27–28). Vgl. ferner die umfassende Passage in Theol. Plat. I c. 22, p. 101, lin. 14 – p. 102, lin. 26; bes. p. 101, lin. 27: »πάντα γὰρ ἐφίεται τοῦ ἀγαθοῦ«. Zum ἐφετόν s. vor allem die Ausführungen Christian Tornaus (»Der Eros und das Gute bei Plotin und Proklos«, 217–218).

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Besonders eindringlich beschreibt Proklos die Entbergung des in uns lebenden Strebens anhand seiner Theorie absoluter Schönheit. Das Schöne, καλόν, deutet Proklos etymologisierend von καλεῖν, also »rufen«, her.371 Die Idee der Schönheit ruft uns auf, zu ihr zu streben. Personifikation des Strebens zum Schönen ist der ἔρως.372 Er ist wesentlich durch sein unauslöschliches Streben bestimmt, der gerade als henologisches Streben tatsächlich keinen Mangel373 indi­ Theol. Plat. I c. 24, p. 108, lin. 2–11. In Alc. p. 328, lin. 11–17. Die Liebe scheint als vermittelnde Kraft selber der Aufruf zu sein, zum Schönen zu streben; In Alc. p. 31, lin. 2–5; Hervorh. Roh.: »ἡ τοίνυν ἐρωτικὴ πᾶσα σειρὰ τῆς τοῦ κάλλους αἰτίας προβεβλημένη συνάγει πάντα πρὸς αὐτὴν καὶ ἀνακαλεῖται πρὸς τὴν μέθεξιν αὐτῆς καὶ μέσην ἐποιήσατο πρόοδον τοῦ τε ἐραστοῦ καὶ τῶν δι᾽ ἔρωτος ἀναγομένων.« Insofern die Liebe bei Proklos henologisch erweitert werden muss, kann sie demnach auch als Aufruf verstanden werden, die vollendete henologische Ausrichtung zu realisieren. 373 Proklos geht es eigentlich um die Einsicht, dass der henologische ἔρως nicht unter-, sondern überbestimmt, also das Höchste im Sein, ist und erfüllend wirkt. Zunächst scheint der ἔρως zwar Mangel anzuzeigen. Es stellt sich aber heraus, dass er in seiner höchsten ›Form‹ die vollkommene Ausrichtung über die Grenzen von Sein und Denken hinaus ist: Der ἔρως wird so gereinigt oder überhöht und wird so mit der »Begeiste­ rung« in Verbindung gebracht (vgl. etwa In Alc. p. 33, lin. 15–21). Der ἔρως treibt nun zwar die Suche nach vollkommener Einsicht an (In Alc. p. 236, lin. 7–8), ist aber doch die henologische Ausrichtung schlechthin – und mithin der ›Ort‹ höchster Erfahrung: Der henologische ἔρως erreicht zwar das Eine selbst nicht, worin freilich ein gewisser ›Mangel‹ zu liegen scheint. Er ist aber keinesfalls die Erfahrung zerstörerischen, see­ lenzersetzenden Leids, sondern ganz im Gegenteil die Einheitserfahrung schlechthin, in der die erwähnte »Begeisterung« – man könnte auch »Seligkeit« sagen – mit­ schwingt. Außerdem lässt sich der ἔρως mit Proklos’ Begriff der »Vorsehung« (πρόνοια) in Verbindung bringen: Dergestalt nimmt er fürsorgliche Züge an, stellt sich als das tragende Fundament des Daseins heraus und gerät dadurch – so erstaunlich dies klingen mag – in die Nähe des hauptsächlich christlichen ἀγάπη-Begriffes. S. dazu und zu der damit implizierten Einheit von ἔρως und ἀγάπη bes. § 22. – Mit Verve sei in diesem Zusammenhang ferner darauf hingewiesen, dass der »liebende Geist« bei Plotin unzweideutig als das höchste Moment des νοῦς gefeiert wird. Für diesen sei es sogar besser, in glühender, trunkener Weise vom Einen besessen als vernünftig zu sein. Der ἔρως bildet letztlich die Spitze des Intelligiblen und ist daher nicht einfach als Mängelwesen, sondern eher als Signatur aller Wesenheiten zu begreifen. – Dass henologisches Streben Grundzug aller Prinzipiate des Absoluten ist, wird uns auch verdeutlicht, wenn wir einen kurzen Blick auf Meister Eckharts Definition der Kreatur werfen. In der originellen wie luziden Deutung Stephan Grotz’ wird die Kreatur als Relationalität schlechthin, als »durch und durch relational«, gefasst (Negationen des Absoluten: Meister Eckhart – Cusanus – Hegel. Hamburg: Felix Meiner, 2009, 87). Die Kreatur ist ganz und gar auf Gott bezogen, strebt also zu diesem; und gerade darin besteht ihr Wesen. Interessant ist nun, dass Gott die Kreatur offensichtlich durch seine Attraktivität so affiziert, dass sie zu ihm strebt. Mit anderen Worten rührt also das 371

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ziert. Der ἔρως wendet sich schrittweise immer intensiveren Formen der Schönheit zu: Zunächst strebt er zu schönen Körpern, zum sittlich Schönen, den Tugenden, und zu schönen Kenntnissen, aber erst nach Abstraktion aller derivativen Schönheit schließlich zum wesenhaft Schönen selbst. Im immer neu ansetzenden Streben wird zugleich deutlich, dass der ἔρως nicht durch die Zuwendung zu Körpern, Kunst­ werken oder Tugenden, sondern allein in einer absolut-ästhetischen Wendung hin zum Schönen seine Erfüllung erfährt.374 Uns inhäriert also natürlicherweise ein Streben zu schönen Din­ gen, Bestimmungen oder Sachverhalten, weil diese an der Schönheit selbst partizipieren. Ebenso natürlich – wie unaustilgbar – ist nach Proklos das henologische Streben. Allerdings ist es uns zunächst nicht bewusst, denn die »Spur« des Einen ist, wie gesagt, »verborgen«. So wie das Schöne sich nicht sofort als Quelle aller Schönheit entbirgt, ist auch das henologische Streben uns zunächst nicht oder nicht immer bewusst. Weil es von anderen Strebeformen überdeckt ist, müssen wir das »Eine in uns« durch philosophische Begriffsarbeit Streben aus »keinem Seinsmangel«, sondern »verdankt« sich Gott. Diese Begründung des Strebens finden wir auch bei Eriugena (§ 30) und Cusanus wieder (§ 34), die ihr Absolutes als »Punkt absoluter Gravitation« feiern (Rohstock: Der negative Selbstbe­ zug, 111, 186 und 198) – wobei die magnetische Wirkung des Absoluten auch schon bei Plotin und Proklos angedeutet wird, insofern es das eigentlich »Erstrebenswerte« ist (s. Halfwassen: Auf den Spuren des Einen, 273–274 mit Anm. 28). – Letztlich lässt sich also konstatieren, dass das henologische Streben bei Proklos, vor allem insofern es uns zu Bewusstsein gebracht wurde, Erfüllung des Seienden als solches ist. Die Liebe ist demnach keine Mangelerscheinung, sondern als henologische Spannung Kraft. Und in unserem Hin(auf)spannen erleben wir die Kraft, die uns hält und trägt und die gerade so als gravimetrische Macht erfahren wird. Zur Erfahrung im Streben s. § 19 und oben, § 12. Vgl. zur Kraft der Liebe auch die Aussage Werner Beierwaltes’, nach der die Liebe die »bewegende Macht im Denken« ist (Proklos, 373). Noch einmal sei daher auf die bereits erörterte Ahnung zu verweisen, wobei wir den Weg zur Voll­ endung im henologischen Streben folgendermaßen skizzieren können: Seiende und Bestimmungen, so stellt das Denken in seiner Analyse fest, sind keineswegs reine Einheit; sie bedürfen dieser aber. Das Denken verweist daher über alle Bestimmungen und über sich hinaus – und gerade darin erfährt es (bereits) Einheit. Das Streben entbirgt sich bei genauer Analyse als Vollendungsmoment des Denkens. Vgl. dazu ferner Dirk Cürsgens Ausführungen zur produzierenden Negation, die als solche natürlich »keinen Mangel« indizieren kann, sondern vielmehr eine »reale Kraft« dar­ stelle, die auch »durch das Bild der Blume« angedeutet werde (Henologie und Onto­ logie, 233). Wenn nun aber henologisches Streben und Negieren zusammenfallen, dann lässt sich das Streben nicht mit Mangel in Verbindung bringen. 374 Allein das Schöne selbst, so Platon, könne als Quelle alles derivativen Schönen die innerste Sehnsucht stillen (Symp. 210A-212A).

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freilegen, damit wir es als das uns immanente Urstreben auch wirklich ernst nehmen und nicht bei nicht-absoluten, derivativen (Seins-)For­ men stehen bleiben. Denn das Verlangen nach innerer Geschlossen­ heit ist wohl kaum in der sinnlich wahrnehmbaren Welt zu stillen. Das uns immanente Streben führt uns bei aufmerksamer Suche zu der Erkenntnis, dass sogar der absolute Geist noch überwunden werden muss. Denn der absolute Geist ist durch Vielheit geprägt, ist er doch der Inbegriff aller positiven, intelligiblen Bestimmungen und die tria­ disch strukturierte Einheit von denkendem Subjekt, Denkobjekt und Denkakt. Das henologische Streben, der höchste und ultimative meta­ physische Wegabschnitt, ist aber selber keine positive Bestimmung; ansonsten wäre es nicht verborgen. Insofern das Streben also die Affir­ mationen transzendiert, kann es nur negativ ausgedrückt werden. Proklos denkt daher gerade das Negieren der Affirmationen als diesen ultimativen Weg des Transzendierens. Dieser Negationsakt ist als solcher nicht positiv bestimmbar: Der Weg ist nämlich das Negieren und als Negieren dem positiven Ideendenken verborgen. Nur mit der »Spitze unserer Tätigkeit«375 bzw. des Geistes, die nichts anderes als das Vermögen des Negierens ist, lässt sich der henologische Weg betreten oder bahnen. Am Ende des Durchganges durch alle Wis­ sensformen sollen wir, wie bereits gesagt, das transzendierende Negieren vollziehen, um ultimativ über die Grenzen von Sein und Denken hinaus in höchster »Begeisterung« (ἐνθουσιασμός) henolo­ gisch ausgerichtet zu sein. Im transzendierenden Negieren vollziehen wir, genau genommen, das hypernoetische ›Wissen‹ der Henaden mit, wodurch sich für uns zugleich ein Wissen um die höchste Einsicht generiert, wie wir im Folgenden (§ 19) noch sehen werden. Zunächst gilt es aber festzuhalten, dass wir den letzten und höchsten metaphy­ sischen Weg nur dann gebahnt bzw. betreten haben, also nur dann ganz henologisch ausgerichtet sind, wenn wir mit der Spitze des Den­ kens, dem Negieren, von allen positiven Wissensformen absehen und In Alc. p. 247, lin. 14; Hervorh. Roh. Ferner sei an dieser Stelle darauf verwiesen, dass die Proklische »Spitze« im Grunde nichts anderes als das Pendant zu Plotins νοῦς ἐρῶν ist, der, wie gezeigt, das höchste Moment des Geistes darstellt. Vor diesem Hin­ tergrund eröffnet die von der Forschung als ungewöhnlich, wenn nicht gar als pro­ blematisch empfundene Lehre von den Henaden, deren Dimension in Theol. Plat. III c. 4 ebenfalls als »Spitze« ausgewiesen wird, keine gänzlich neue Thematik, ist sie doch von Plotin vorgezeichnet. Proklos hat den Aspekt des »liebenden Geistes« ledig­ lich näher fokussiert und ihn in der Henadenlehre gewissermaßen ›hypostasiert‹. S. dazu die Ausführungen in § 21–23. 375

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uns im Akt des transzendierenden Negierens ganz über Denken und Sein hinaus erheben, also von allem Anderen, Differenten, Vielheit­ lichen absehen. Dieser Weg ist aber, wie bereits gesagt, nicht einfach vorgezeich­ net. Eindringlich pointiert Proklos die Problematik der Suche nach dem Absoluten, indem er darauf hinweist, dass wir uns bei der Suche nach diesem auch verirren könnten. Denn das transzendierende Negieren kann mit dem privativen verwechselt werden.376 Die Abs­ traktion aller Bestimmungen ist aber keine Privation, da der Weg der Privation gerade nicht zur Transzendenz führt.377 Die entscheidende Pointe des uns immanenten Strebens ist letztlich, dass Proklos das henologische Streben durch das transzendierende Negieren, durch das wir über Sein und Denken hinaus verweisen, vollzieht. Und genau in dieser Konvergenz von henologischem Streben und transzendie­ rendem Negieren besteht das Wesen des »Einen in uns«: Es ist, so hat sich gezeigt, nichts anderes als Streben, was Proklos auch ganz unmissverständlich festhält.378 Insofern das »Eine in uns« Streben ist, ist es zugleich Negieren. Denn das transzendierende Negieren ist die ultimative ›Form‹ des henologischen Strebens, die Spitze des Denkens, durch die und in der wir die höchste Ausrichtung, also das Blicken über alles hinaus, realisieren. Diesem transzendierenden Negieren kann darüber hinaus eine, wie schon mehrfach angespro­ chen wurde, produktive Bedeutung beigemessen werden, die wir im Folgenden eingehender betrachten wollen.

In Parm. VI p. 1081, lin. 9 – p. 1082, lin. 12. Das privative Nichts kann im Neuplatonismus nicht Prinzip sein. Eine totale Privation ist eine bloße Illusion des Denkens (In Parm. VI p. 1082, lin. 10). Im Grunde baut eine solche Totalprivation auf Teilprivationen auf. Hierzu sei ein Beispiel ange­ führt: Wenn wir einzelne Gegenstände etwa aus einem Raum wegdenken können, so können wir diese Privationen auch radikalisieren und den Raum selbst mitsamt seiner Möblierung entfernen. Allerdings können wir den Träger dieser Denkoperation nicht aus dem Denken entfernen: Das privatisierende Denken bleibt unhintergehbare Grundlage des Privationsaktes. 378 In Parm. VII p. 509, lin. 20–26. 376

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§ 19) Die Genese höchsten Wissens in der Erfahrung des »Einen in uns« Im Negieren steckt nun nicht nur die Bedeutung vollendet-henologi­ scher Ausrichtung, sondern auch die des Scheiterns, da das Negieren nicht in ein konkretes Denkobjekt übergeht, sondern Verweis oder Streben bleibt.379 Das Streben ist daher als solches gar nicht im oder beim Absoluten angekommen, was gerade seine von Proklos pointiert hervorgehobene Unaustilgbarkeit verbürgt.380 In beiden Konzepten – also dem des Negierens und des Strebens, dem höchsten theoretischen Akt und der Ur-Tätigkeit alles Seienden, – fallen Ver­ wiesen-Sein und Scheitern ›am Absoluten‹381 zusammen. In diesem Paradoxon wird eine Spannung manifest, die gerade nichts anderes ist als das henologische Hin- oder Hinauf-Spannen, das ich im Hinblick auf Plotin auch als erotische Grundspannung bestimmt habe, wobei sich dieser Ausdruck vor dem Hintergrund der zugrundeliegenden Diskussion fraglos auch auf Proklos’ Henologie übertragen lässt. Diese Spannung avanciert als solche zum unaustilgbaren ›Motor‹, zu der einen überwesentlichen Kraft (δύναμις), durch die alles Seiende fundiert und getragen wird. Diese Spannung hält das Seiende also gewissermaßen fest.382 Da sie nun unaustilgbar ist, kann Proklos – nebenbei bemerkt – auch ihre Reinheit und Unabhängigkeit von allen positiven Bestim­ mungen, ja von Denken und Sein selber, postulieren – wobei er dieses Postulat im Hinblick auf die Henaden noch einmal einschärft. Sicher­ lich kommt das Denken immer von den Affirmationen her, sodass das transzendierende Negieren an den Affirmationen zu hängen und daher konkret zu sein scheint. Wir mussten aber feststellen, dass Zum produktiven Scheitern bei Proklos s. Cürsgen. Henologie und Ontologie, bes. 100–101, 106–107 und 240–241. 380 In Parm. VII p. 509, lin. 33. 381 Weshalb ›am Absoluten‹ in Anführungszeichen gesetzt werden sollte, erschließt sich aus der folgenden Argumentation. Vorwegnehmend sei gesagt, dass der Zusatz ›am Absoluten‹ durchaus getilgt werden kann, insofern wir nicht auf eine real oder extramental existierendes, hintergründiges Objekt stoßen und so scheitern. Die bloße Erwähnung von Streben resp. Negieren reicht völlig aus, um ein Scheitern zu markieren, das freilich keineswegs zur Verzweiflung führt, sondern gerade, um es nochmals zu betonen, produktiv wirkt. 382 Zu diesem Aspekt s. bes. unten, § 22–23. Vgl. auch die bereits zitierte Äußerung Tornaus (»Der Eros und das Gute«, 218). 379

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Proklos sich das Negieren noch einmal dominanter vorstellt: Wenn nämlich die Negationen, wie wir später sehen werden, »Mütter der Affirmationen« sein sollen, dann hängen die Negationen nicht an den Affirmationen, sondern umgekehrt die Affirmationen an den transzendierenden Negationen. Da aber im negativen ›Raum‹ kraft der Transzendierung aller Bestimmungen, vor allem von Identität und Differenz, eigentlich keine de-finierten Grenzen gegeben sein können, gibt es nur den einen in-definiten Negationshorizont. Dies gilt auch unbeschadet der Tatsache, dass wir von den Affirmationen aus offenbar einen Blick in die hypernoetische Dimension (der Henaden) werfen dürfen.383 Jedenfalls reift auf dem Hintergrund der genannten dynamischen Spannung die Einsicht, inwiefern das »Eine in uns« und seine Erwe­ ckung eine produktive Funktion zu erfüllen vermag: Festzuhalten ist zunächst, dass das Denken nur dann das henologische Streben erfahren kann, wenn es das absolute Negieren vollzieht. Das Denken wird sich durch diesen höchsten Akt letztlich bewusst, dass es in seiner Spitze bzw. in seinem Wesenskern henologisches Hinaufspannen ist und bleibt, dass ihm also die henologische Perspektive ganz natürlich inhäriert. Diese Ausrichtung erfährt es aber letztlich erst vollständig im Akt des Negierens aller Bestimmungen, denn positiv kann es das Absolute nicht erstreben oder intendieren, mithin nur indirekt erfahren, ohne dabei aber gleich in dieses überzugehen. Es bleibt, wie gesehen, nur noch das Negieren als einzig möglicher Bezug übrig, in dem das Absolute aber nicht eingeholt wird, denn das transzendierende Negieren verbleibt in dessen »Vorhof«. Inwiefern aber, so müssen wir fragen, kann dieses stete Hin­ spannen eine produktive Bedeutung entfalten; vor allem, weil es doch, wie soeben betont wurde, ein Scheitern ist? Nun ist das span­ nungsgeladene Negieren der Vollzug des Urstrebens, worin gerade das »Eine in uns« erweckt wird, was nichts anderes bedeuten kann, als dass im Vollzug eine höchste Erfahrung einsetzt oder realisiert wird, die Proklos »Begeisterung« (ἐνθουσιασμός) nennt. 384 Wir sind Auch auf diesen Gedankenkomplex kommen wir weiter unten eingehender zu sprechen (§ 22–23). 384 Zur »Begeisterung« und ihrer Entzündung s. bes. In Remp. I p. 180, lin. 24 – p. 181, lin. 2: »ἐπεὶ δὲ ὅλη μὲν ἡ ἐνέργεια τοῦ ἐλλάμποντός ἐστιν ἐν ταῖς θείαις παρουσίαις, τὸ δ’ ἐλλαμπόμενον ἑαυτὸ ταῖς ἐκεῖθεν κινήσεσιν ἐπιδίδωσιν καὶ τῶν σφετέρων ἠθῶν ἐξιστάμενον ὑπέστρωται ταῖς τοῦ θείου καὶ μονοειδοῦς ἐνεργείαις, διὰ ταῦτα οἶμαι κατοκωχήν τε καὶ μανίαν ὁμοῦ τὴν τοιαύτην προσείρηκεν ἔλλαμψιν· ὡς μὲν κρατοῦσαν 383

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also dazu angehalten, die Grundspannung nicht bloß als Grundfak­ tum aufzudecken, sondern sie auch selber aktiv zu vollziehen, denn letztlich scheint es nur so möglich zu sein, zur höchsten Erfahrung und Einsicht durchzubrechen, worin – vor allem – das soteriologi­ sche Versprechen der neuplatonischen Metaphysik erfüllt werden soll: Dieses Vollziehen des transzendierenden Negierens bzw. des reinen Strebens kann, so lautet die folgende These, als Einheits- oder Evidenzerfahrung gewertet werden.385 Proklos spricht diesbezüglich gar von einer »unsagbaren«, weil hypernoetischen, »Erfahrung«.386 Dionysios Ps.-Areopagitês wird daher später mit Verweis auf Proklos sagen können, dass wir das Absolute nicht nur wissend »erlernen«, sondern auch »erfahren« sollen: οὐ μόνον μαθὼν, ἀλλὰ καὶ παθὼν.387 τῶν ὑφ’ ἑαυτῆς κινουμένων ὅλων κατοκωχὴν αὐτὴν ὀνομάσας, ὡς δὲ ἐξιστᾶσαν τῶν οἰκείων νεργημάτων εἰς τὴν ἑαυτῆς ἰδιότητα τὰ ἐλλαμπόμενα μανίαν προσειπών.« 385 Gleichwohl sei darauf verwiesen, dass die höchste Einsicht bzw. Erfahrung nicht erzwungen werden kann. So schreibt Dieter Henrich im Hinblick auf Fichtes Eviden­ zerfahrung; Dies Ich, das viel besagt: Fichtes Einsicht nachdenken. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 2019, 34: »Dieses Licht können wir nicht anzünden. Denn wo wir sind, da brennt es schon.« Auch bei Proklos lässt sich Folgendes konstatieren: Wir dominieren das Licht nicht, sondern wir öffnen uns für es. Es ist, wie sich noch zeigen wird, der opake Horizont, durch den Denken und Wissen bedingt werden, weshalb es unseren Reflexionsbemühungen stets vorangeht und ›im Rücken‹ liegt. Deswegen können wir es im Denken nicht einhegen. Zur Nicht-Erzwingbarkeit der Evidenz s. ferner meine Ausführungen zu Fichte, bes. in Kap. IV.2. 386 In Parm. VII p. 504, lin. 19. Vgl. dazu Proklos’ Rede von einem »schweigenden Verstehen« ibid. p. 509, lin. 35 – p. 510, lin. 3. Damit antizipiert Proklos einen Gedanken von Damaskios, nämlich dessen »unsagbares Bewusstsein«, das als »stän­ dig zu vertiefende[s] Gewahren des Ent-Sagten« zu begreifen ist (Gheorghe Paşcalău. »Damaskios: Das Absolute ›jenseits des Unsagbaren‹«. In: Ermylos Plevrakis und Max Rohstock (Hg): Grundlegung des Absoluten? Paradigmen aus der Geschichte der Metaphysik. Heidelberg: Carl Winter, 2019, 117–146; hier 142). Damaskios will also betonen, dass sich das Bewusstsein stets bewusst zu halten hat, dass es das Absolute nicht zu fassen vermag, wobei diese ›Distanz‹ nur in der nie nachlassenden Spannung gewissermaßen zu ›halten‹ ist. Dieser Gedanke ist aber im Neuplatonismus nicht Damaskios vorbehalten. Schon Proklos konnte, wie wir gesehen haben, schreiben; Theol. Plat. II c. 10, p. 63, lin. 20 – p. 64, lin. 8; bes. p. 64, lin. 8–9: »ὥστε καὶ εἰ λόγος εἴη τοῦ ἀρρήτου, περὶ ἑαυτῷ καταβαλλόμενος οὐδὲν παύεται καὶ πρὸς ἑαυτὸν διαμάχεται«. – »Wenn es möglich sein soll, das Unsagbare zu sagen, so muss das Gesagte sich unentwegt durch sich selbst widerrufen und sich selbst bekämpfen.« 387 De div. nom. II § 9; CD I, p. 134, lin. 1–2. Vgl. dazu In Parm. VII p. 511, lin. 3– 10: »unius autem conceptus et apprehensio per se naturalis est et non secundum adiectionem infit et cognitionem. Illi quidem igitur ut cognitiones entes coexistunt cognitis et possunt ipsa nominare – combrehensibilia enim aliqualiter sunt ipsis –; hic autem neque cognitiuus ens neque combrehendens le unum est per se naturalis

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In dieser Erfahrung realisiert sich – erstens – die »Begeisterung«, die Besessenheit vom Absoluten, die nichts anderes als die spezifische Form der Proklischen ›Seligkeit‹ ist.388 Zweitens entzündet sich in ihr höchstes (Selbst-)Wissen ursprünglich, wodurch die produktive Bedeutung des »Einen in uns« freigelegt wäre:389 In der höchsten Erfahrung, die zugleich höchstes Hinblicken und damit Einsehen ist, sind wir vom Absoluten erfüllt (i) und es generiert sich höchstes Wissen (ii), wobei sich dieses, wie wir sogleich sehen werden, noch einmal zweifach untergliedern lässt.390 (ad i) Die Funktion des »Einen in uns« besteht in einem eminent soteriologischen Aspekt: In der Erweckung sind wir in der Spitze unseres Seins und Wesens vollständig henologisches Streben und so vom Absoluten besessen. Es ist, dies besagt der griechische Begriff des ἐνθουσιασμός, in uns eingegangen: Wir erfahren das Absolute im Streben und also in uns. Man kann vor dem Hintergrund von Plotins Bildlehre sogar konstatieren, dass das Absolute – unbeschadet seiner bleibenden Transzendenz – geradezu aus sich ›herausgetreten‹ ist (ek-stasis391), um in uns – genauer: in der Spitze unseres Selbst – erfahren zu werden. Darin fallen wir übrigens mit den Henaden zusammen, die den (manischen) Reigen um das Absolute tanzen.392 Die Annahme, das Absolute sei eine bloße Illusion, wird so abgewie­ sen und höchste Gewissheit entzündet sich: Das Absolute wird also in der Strebeform des »Einen in uns« erfahren.393 Sind wir durch operatio et desiderium unius.« Hierbei lässt sich, wie wir im Folgenden auch noch sehen werden, präzisieren, dass es durch den Erfahrungshorizont des Strebens zu einem Wissen um die Unerreichbarkeit des Absoluten kommt. Die transzendierende Erfahrung des Negierens bzw. Strebens ist der Evidenzpunkt, durch den höchstes Wissen, das Wissen um die Unerkennbarkeit des Absoluten, generiert wird. Also müssen wir, genau genommen, das henologische Streben erleben, um zu wissen. 388 Zu dieser Erfahrung des Absoluten in uns s. schon meine Ausführungen zu Plotins Bildbegriff in § 12. Auch nach Proklos erfahren wir das Absolute, wie wir sogleich sehen können, im Streben bzw. in der Liebe, also in unserer Tat, sodass man fast sagen kann: Es ist in uns eingegangen, es lebt in uns, weil uns das Absolute im Streben widerfährt. Wir erfahren es in uns, nicht an ihm selber. 389 Es lassen sich auch noch weitere Bedeutungsaspekte (etwa πρόνοια und Henaden) feststellen: S. § 22–23. 390 Vgl. hierzu die kurze, aber äußerst instruktive Analyse von Dirk Cürsgen: Heno­ logie und Ontologie, 282, Anm. 1195. 391 S. dazu § 12. 392 S. § 22. 393 Diese Erfahrung ist die einzig möglich, die wir vom Absoluten erlangen können (s. oben, § 12), und vor allem zweifelsfrei. Schon Christian Tornau hat völlig zutreffend

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alle Wissensformen durchgegangen, kann kein anderer Weg mehr betreten werden. Wir irren demnach nicht mehr, sodass die Annahme des Absoluten gerechtfertigt bleibt: Der ἐνθουσιασμός und mit diesem das »Eine in uns« kann vor diesem Hintergrund als Pendant zu Plotins νοῦς ἐρῶν ausgewiesen werden, denn dieser ist »Trunken vom Nektar« und damit die gottgenährte Überzeugungskraft.394 Dass wir dabei nicht mit dem Absoluten selber verschmolzen sind, wird aber von Proklos deutlich gemacht. Denn das henologische Streben ist nicht das Absolute selber. Der Weg bleibt also Weg, sodass wir nicht beim Absoluten angekommen sind.395 In diesem Zusammenhang spricht Proklos häufig von einem »Geburtsschmerz«, von ὠδίς, um dadurch die Spannung im Hinstreben auf das Absolute hervorzuheben. Schmerzhaft ist dieses Streben, weil es sich als Stre­ ben nicht einfach in das Absolute transformiert: Die ὠδίς geht als solche nicht in dieses über. (ad ii) In diesem Vollzug erfahren wir nicht nur unsere henolo­ gische Ausrichtung, sondern auch unser Scheitern ›am Absoluten‹. Durch dieses Scheitern wird dem Denken und uns Einheit verliehen, weil wir in der Analyse des reinen Denkens die Grenzen desselben vollständig erfahren haben. Gerade darin wird zugleich auch die Dif­ ferenz zwischen dem Denken und dem Einen auf den Begriff gebracht und damit gesetzt: Das Denken unterscheidet oder disjungiert sich im Scheitern ›am Absoluten‹ vom Absoluten und setzt so beides: sich von der »Gewissheit des Strebens« gesprochen (»Der Eros und das Gute bei Plotin und Proklos«, 225, Anm. 109). Wir erfahren die Geschlossenheit des Absoluten, sein ›Insich-Sein‹, also nicht an ihm selber, sondern im Streben. Insofern erscheint das Abso­ lute im Streben – und nur dort – als Geschlossenheit, aber es ist diese nicht an ihm selber. Insofern das Absolute, gerade weil es im Streben erfahren wird, unmöglich zur Illusion verkommen kann, können folgende Überlegungen angestellt werden: Das Absolute wird, insofern es alles transzendiert, als Quelle des Strebens konstruiert, weil die Transzendenz allein die Unaustilgbarkeit des Strebens verbürgt. Man kann es auch so wenden: Transzendierte das Absolute nicht das Streben und den ewigen Geburts­ schmerz, wären diese gar nicht sinnvoll als Grundsignatur des Seins explizierbar. So – und nur so – kann das Absolute auch als Quelle konstruiert werden. 394 De prov. § 19, lin. 17–21. Vgl. In Parm. VII p. 510, lin. 30 und p. 1047, lin. 14–19. 395 Die Erfahrung des Strebens ist daher auch immer, wie wir hier vorwegnehmen können, das Erfahren des Nicht-Angekommen-Seins und daher, also gerade weil das Streben unauslöschlich ist, des Scheiterns. Wir konstruieren durch diese Erfahrung das Absolute als In-sich-Geschlossensein und als Transzendenz, aber eigentlich sagen wir mehr über uns aus: Wir kommen über unsere Grenzen nicht hinaus, sind in uns geschlossen. Das Streben ist daher unsere Grenz-Erfahrung – und in dieser sind wir über Denken und Sein hinaus verwiesen.

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2) Proklos und das »Eine in uns«

selbst als Einheit bzw. Geschlossenheit einerseits und das Absolute als Unerreichbares andererseits.396 Durch das Negieren kommt es also – wie schon bei Plotin – zur höchsten zweifelsfreien Einsicht,397 in der sich ein wissendes Nichtwissen generiert, wobei zwei Aspekte besonders hervorgehoben werden müssen: (ii-a) Durch das Scheitern erfahren wir die Unerreichbarkeit des Absoluten. Dieses kann nur noch negativ, also im Nichtwissen, gedacht werden: Das Absolute zeigt sich durch das Nichtwissen bzw. durch das Negieren – und nur dort – als Unbegreifbarkeit.

396 Nur weil sich diese Ur-Disjunktion ereignet, kommt es überhaupt zu einer Erscheinung des Absoluten. Diese Funktion lässt sich aber noch erweitern und uni­ versalisieren: Die Ur-Disjunktion ist Bedingung für alle Differenzierungen und so für alles Konkrete. Dadurch wird sie zum bedingenden bzw. tragenden Horizont. S. dazu unten, § 21–23. 397 Proklos kann auch von einem »Glaube« (πίστις) sprechen. Nach Christian Tornau ist dieser »Glauben« nichts anderes als »Gewissheit« (»Der Eros und das Gute bei Plotin und Proklos«, 225). Daher darf dieser Glaube als philosophischer bezeichnet werden. Es sei aber darauf verwiesen, dass Tornau die Gewissheit bzw. den Glauben mit der Einung verbindet. S. ferner Cürsgen: Henologie und Ontologie, 96. – In Zusam­ menhang mit der höchsten Erfahrung ist ein weiterer Begriff zu nennen, nämlich der καίρος, der »rechte Augenblick«, in dem etwas gelingt. Dieser kann durchaus in einem absoluten Sinne verstanden werden – wobei er auch andere Momente des (theoretischen und/oder praktischen) Gelingens meint – und so den höchsten Moment, also die Entzündung der »Begeisterung«, bezeichnen. Genauer markiert er den höchsten Moment in der Zeit. Man kann annehmen, dass der Umschlag des Strebens in »Begeisterung«, wobei diese beiden Momente im Grunde untrennbar sind, den höchsten καίρος ausmacht. Wenn nämlich – wie uns Platon im Siebenten Brief unterrichtet – unsere langen Bemühungen um das Absolute endlich und »plötzlich« Früchte tragen und uns die höchste Einsicht zuteil wird, dann lässt sich dieser Moment sicherlich als καίρος bezeichnen. Im Hinblick auf das Verhältnis von ἔρως und καίρος ergibt sich folgendes Bild: Der ἔρως ist zwar auf dem Weg, ja ist gar nichts anderes als Weg, aber wenn im Weg uns die höchste Erfahrung zuteil wird, dann konvergieren ἔρως und καίρος, sie schlagen ineinander um – oder besser: sie gehen ineinander in Einheit auf, wodurch ihre Grenzen, die ihnen von der Forschung oft zu eng gesetzt werden, geradezu gesprengt werden: Der höchste ἔρως ist als höchste Erfahrung zugleich der höchste καίρος; und sie konvergieren als Spitzen von Denken und Sein im »Einen in uns«. Zum καίρος und seinem Verhältnis zur göttlichen »Vorsehung« s. In Alc. p. 120, lin. 12 – p. 124, lin. 27. Umfassend hat sich Evanghélos Moutsopoulos mit dem καίρος befasst (Structure, présence et fonctions du kairos chez Proclus. Athen: Centre de Recherche sur la Philosophie Grecque, 2003), wobei allerdings Vorsicht geboten ist: Meiner Ansicht nach legt er die Proklische Metaphysik nicht zutreffend dar. So ignoriert er die negative Theologie fast vollständig. Ferner sieht er Proklos als Emanationstheoretiker (ibid. 19–20) und das Absolute als »kreativen Grund«, wodurch er diesem sogar eine eigene Aktivität unterstellt (ibid. 22).

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(ii-b) Eigentlich aber sagt diese Erkenntnis mehr über uns als über das Absolute aus. Wir (re-)konstruieren es als Geschlossen­ heit, doch eigentlich erfahren wir unsere eigene Begrenztheit: Das angesprochene Nichtwissen ist damit entscheidend für die Genese absoluten Wissens und Selbstbewusstseins. Im Scheitern wird das Denken – wie schon bei Plotin – auf sich selbst zurückgeworfen: Erst darin wird sich das Denken seiner Grenzen vollkommen bewusst – oder anders formuliert: Es wird ersichtlich, dass das Denken nicht selber das Absolute sein kann. Es lässt sich daher konstatieren, dass die letzte, unüberspringbare Grenze von Sein und Denken – und damit höchstes Selbstbewusstsein – nur im Scheitern des Denkens ›am Absoluten‹ generiert wird. Das Absolute wird im Nichtwissen freilich nicht wie ein Objekt erfasst. Wie schon bei Plotin kommt es im Negieren also in erster Linie zu einer ›Ersatzobjektivierung‹, damit zur Bildung von Bestimmungen, Ideen und Begriffen. Mithin handelt es sich beim transzendierenden Negationsakt um eine Bezugsform, in der das Denken zu seinem eigenen Objekt wird. In diesem Zusam­ menhang generiert sich ein Wissen um unser Nicht-Wissen-Können des Absoluten, worin das höchste Wissen besteht, das sogar der höchste Aspekt der intellektuellen Anschauung (νόησις) ist.398 Im höchsten Wissen, das offenbar auch der Seele zugänglich ist, gibt es keine epistemologische Verzweiflung und keine »metaphysische Hoffnungslosigkeit«.399 Das Nichtwissen avanciert zum genetischen Punkt »vollkommener Erkenntnis«.400 Und aus diesem Grund nennt Proklos das »Eine in uns« ehrfürchtig, wobei er auf die Chaldäischen Orakel zurückgreift, die »Blüte unseres Wesens«401, die höchste »Spitze unserer Tätigkeit«402 und die »Blüte des Geistes« bzw. Den­ 398 Die intellektuelle Anschauung bei Proklos ist also nicht bloße Ideenschau bzw. Schau der konkreten Totalität aller intelligibler Bestimmungen, denn streng genom­ men ist sie zugleich und immer auch henologische Perspektivität. 399 Loder nimmt eine solche »Hoffnungslosigkeit« fälschlicherweise in seiner Dis­ sertationsschrift an und vergrößert so unnötigerweise den oft kolportierten Abgrund zwischen dem Denken Plotins und demjenigen Proklos’ (Die Existenz des Spekulati­ ven, 137). Die Seele kann also sehr wohl zur höchsten Einsicht durchbrechen: Seelen können zur »Vorsehung« der Henaden gelangen (De dec. dub. § 65, lin. 10–18). Und in dieser Einsicht erfahren sie, dass sie von einer Ursprungsdimension, der »Vorse­ hung« (πρόνοια), fürsorglich und liebevoll getragen werden (S. dazu unten § 22–23). 400 Dazu und zum Aufstieg zur höchsten Einsicht s. De prov. § 28–33. Zu dieser können auch dianoetisch denkende Wesen gelangen. 401 In Alc. p. 247, lin. 11. 402 In Alc. p. 247, lin. 14.

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kens403, denn durch es sind wir über die Grenzen unseres Denkens überhaupt produktiv-erfüllend hinaus verwiesen.404 Nicht nur dem reinen Denken des Geistes, sondern auch jeder Seele kann also durch dieses höchste Einsehen zu Bewusstsein gebracht werden, dass weder sie selber noch der Geist das Absolute sein können. Das »Eine in uns« hat demnach, so ist an dieser Stelle zusam­ menfassend zu konstatieren, eine bewusstseinstheoretische und eine geradezu soteriologische Bedeutung, die sich in zwei Momente unter­ gliedern lässt:405 In Alc. p. 248, lin. 3. Zum Topos des »Einen in uns« als Blüte der Seele bzw. des Geistes s. Beierwal­ tes: Proklos, 375–377. Christian Guérard mahnt allerdings zur Vorsicht: Die »Blüte der Seele« sei nicht die »Blüte des Geistes« und umgekehrt (»L’hyparxis de l’âme et la fleur de l’intellect dans la mystagogie de Proclus«. In: Jean Pépin und Henry D. Saffrey (Hg). Proclus: Lecteur et interprète des anciens. Paris: Éditions du CNRS, 1987, 335– 345). Dabei beruft sich Guérard vor allem auf Proklos’ Kommentar zu den Chaldäischen Orakeln, der freilich nur fragmentarisch überliefert ist. Er kann aber auch eine Reihe weiterer Stellen anführen (ibid. 338–339). Diese Unterscheidung wird verständlich, wenn wir bedenken, dass die Seele nicht der Geist ist und die Seele sich nicht in den Geist (re-)integriert, sondern in ihrer eigenen Daseinsform bleibt. Auch ist zu beden­ ken, dass die jeweiligen ›Blüten‹, insofern sie nichts anderes als Negationen sind, durchaus voneinander differieren: Die Negation der Seele ist nicht die Negation des Geistes. Nichtsdestoweniger muss die Seele, um die höchste Einsicht zu erlangen, die (u.a.) das Wissen darum generiert, dass auch das reine Denken des Geistes nicht das Absolute ist, auf diejenige Blüte ›ausgreifen‹, die die Spitze des Geistigen schlechthin ist. Diese übergeistige Spitze ist das, wodurch der Geist überhaupt erst zum Geist ›wird‹: Der Geist ist durch seine Spitze und Blüte Geist, also durch seine übergeistige Einheit, nicht aber durch sein aktuales Denken (In Parm. VI p. 1047, lin. 8–19. S. dazu Cürsgen: Henologie und Ontologie, 233). Die Annahme unterschiedlicher ›Blüten‹ ist unserer Rekonstruktion der metaphysischen Ur-Bedingung geschuldet. In ihm selber ist der alles bedingende Horizont aber ununterschieden, was sich auch, wie wir noch sehen werden, daran ablesen lässt, dass die mit ihm identischen Henaden nicht von­ einander verschieden sein können; und doch können wir auf der Grundlage seiender Hierarchien gewisse Rückschlüsse auf »Eigentümlichkeiten« in der Henadendimen­ sion wagen. Nichtsdestoweniger scheint die Differenzierung der Blüten aufgehoben werden zu können, insofern wir das negative momentum in einer jeden Einzelnegation rein bzw. an ihm selber betrachten. Das Verfahren nämlich bleibt immer dasselbe, denn es ist der transzendierende Abstraktions- oder Negationsakt. Die Negationen sind insgesamt Vermittler, darin besteht ihr Wesen. Das bedeutet, dass das ihnen Gemeinsame der Vermittlungsprozess ist. Sie sind reine Übergänge. Denken wir nur von den Erscheinungen aus, dann ergeben sich Differenzen, die die Henaden aber an ihnen selber gar nicht haben können: S. dazu § 22–23. 405 In diesem Zusammenhang lässt sich, freilich nebenbei, auch auf Karl Jaspers verweisen, der Proklos’ Pointe zum henologischen Streben erstaunlich präzise refor­ muliert hat; Philosophie. Vol. 2, Existenzerhellung. Berlin/Göttingen/Heidelberg: 403

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(i) Wie gesehen sind wir im Verweisen und Negieren ganz auf das Absolute hin ausgerichtet. Eine tiefgreifende Überzeugung hat von uns Besitz ergriffen, sodass wir durchaus mit Goethes Faust wün­ schen könnten, zu diesem Moment zu sagen, »[v]erweile doch, du bist so schön!«406 Diese »Begeisterung« kommt dem, was christliche Neuplatoniker unter dem Begriff der Seligkeit verstehen, durchaus nahe.407 (ii) Insofern es sich dabei aber ›nur‹ um eine Ausrichtung handelt, sind wir nicht im Absoluten selber angekommen, sondern abgewiesen: Negieren und Verweisen verbleiben, wie Proklos es ausdrückt, im »Vorhof« des Absoluten, wodurch die Ur-Disjunktion aufgedeckt wird: Hier kommt es zur Ur-Unterscheidung von Denken und Absolutem durch das dem Denken immanente Ur-Streben, in dem ihm stets bewusst gehalten wird, dass es seine Grenzen nicht überspringen kann und selber nicht das Absolute ist. Im Streben und durch das Streben bescheidet sich das Denken als Denken in Beson­ nenheit.

§ 20) Das »Eine in uns« als Fundament der Mystik Erst vor diesem Hintergrund wird die von Proklos geforderte mysti­ sche Einung (ἕνωσις) mit dem Absoluten – hier lediglich en passant Springer, 31956, 277: »Hier [scil. in der Liebe] ist der Ursprung für alle Gehalte, hier allein die Erfüllung allen Suchens.« S. auch ibid.: »Der Liebende ist nicht hinaus über das Sinnliche in einem Jenseitigen, sondern seine Liebe ist die fraglose Gegenwart der Transzendenz in der Immanenz, das Wunderbare hier und jetzt; er meint das Übersinnliche zu schauen. Nirgends hat Existenz die Gewißheit ihres transzendent gegründeten Seins als nur in der Liebe«. 406 Johann Wolfgang Goethe. Faust: Der Tragödie zweiter Teil. Stuttgart: Reclam, 2001, lin. 11582. Dass dieser Augenblick aber in seiner Reinheit nicht gehalten werden kann, werden wir weiter unten sehen: s. § 23. 407 S. dazu meine Ausführungen zu Eriugena, § 31. Auf diesem Hintergrund sei noch einmal betont darauf verwiesen, dass die von Proklos im Streben artikulierte Ur-Dis­ junktion zwischen uns und dem Absoluten zwar durchaus als Schmerz begriffen wird, insofern wir ja nicht vollständig zum Absoluten selber geworden sind. Dieser Schmerz ist aber kein seelenzersetzendes Leid. Der Begriff des Schmerzes wird nur deswegen verwendet, um die erotische Grundspannung, das energiegeladenen Grundmoment unseres Daseins, zum Ausdruck zu bringen. Diese Spannung wird durch die Trans­ zendenz verbürgt. Das Hin(auf)spannen wäre nicht das nie erlöschende Urmoment unseres ganzen Seins, würde es nicht seine Unendlichkeit und Unauslöschbarkeit der Transzendenz verdanken.

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und der Vollständigkeit halber erwähnt – verstehbar. Es ist sicherlich allgemein bekannt, dass Proklos das Streben und Negieren noch einmal in der Negation der Negation transzendiert, um zur genannten Einung durchzubrechen.408 Aufgrund der großen Bedeutung, die der unio mystica in der Forschung häufig zugeschrieben wird, muss sie thematisiert werden, um ihre Stellung in der Proklischen Henologie beurteilen zu können. Es besteht freilich, wie bereits angedeutet, Grund zu der Vermutung, dass dieser innerhalb der Philosophie des Scholarchen eigentlich keine weitreichende systematische Funktion zukommen kann, weil sie das Denken und jede Besonnenheit hinter sich lässt. Dadurch wird sie aber ihrerseits keineswegs zu einer Illu­ sion des Denkens. Ihre Annahme hat also innerhalb der Proklischen Metaphysik weiterhin eine gewisse Berechtigung. Die Erweckung des »Einen in uns« ist Bedingung für den Selbst­ überstieg der Proklischen Philosophie, die zugleich ihre Vollendung sein soll: Wenn das »Eine in uns« erweckt wird, sind wir durch gött­ liche »Begeisterung« oder göttlichen »Wahnsinn« (μανία409) erfüllt. Die Erweckung des »Einen in uns« wiederum ist, wie gesehen, nichts anderes als das vollständig realisierte Ergriffen-Sein vom henologi­ schen Verlangen, Sehnen und Streben, also die »Begeisterung« selbst. Die Besessenheit vom Göttlichen wiederum scheint die Ermögli­ chungsbedingung der ἕνωσις, also der unio mystica, zu sein. Durch unser Streben sind wir zu einem Wissen gelangt, das als wissendes Nichtwissen verstanden werden muss. Daher wissen wir um den Weg, der uns über Sein und Denken hinaus führt. Nur unter die­ ser der Bedingung scheint die ἕνωσις überhaupt erst realisierbar zu sein. Denn der letzte Schritt, der von uns zu vollziehende Akt der Negation auch derjenigen Negationen, durch die wir über Sein 408 Erfrischend knapp zur Einung s. Halfwassen: Plotin und der Neuplatonismus, 160–161. S. ferner Beierwaltes: Proklos, 361–366 und 377–380. Beierwaltes’ Interesse besteht darin, das »Eine in uns« mit der Einung zu verknüpfen (ibid. 372) und es als Fundament der Einung begreifbar zu machen. Dabei aber scheint Beierwaltes nicht immer ganz trennscharf zwischen dem »Einen in uns« und dem Absoluten selber zu unterscheiden, wenngleich natürlich zu konzedieren ist, dass in diesem Fall ohnehin nicht mehr von einer kategorialen Differenz gesprochen werden kann. Insofern aber das »Eine in uns« auch mit dem »Geburtsschmerz« und der »Vorsehung« verknüpft wird, darf es unter keinen Umständen mit dem Einen selber verwechselt werden. 409 De prov. § 19, lin. 19–21. – Nach Platon sind Formen des göttlichen Wahnsinns unterscheidbar, wobei der Wahn dem besonnenen Denken überlegen ist (Phaidr. 244A-245C). Wie gesehen (§ 19) betont Proklos auf diesem Hintergrund, dass die »Trunkenheit« besser sei als die »Nüchternheit« des Rationalismus.

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II) Die neuplatonische »Henophanie«

und Denken hinaus verwiesen sind, wird durch das henologische Streben fundiert. Freilich ist die ἕνωσις nur in der völligen Aufhebung des Strebens und jeder Intentionalität, Zweiheit und Relationalität möglich.410 Denn im Streben verlangen wir doch stets; wir sind also noch tätig, wohingegen dem Absoluten jede Tätigkeit – auch der reine Akt selber411 – abgesprochen werden muss.412 Durch das »Eine in uns« werden wir uns bewusst, dass dem Negieren letztlich eine entzweiende, disjungierende Wirkung inhäriert.413 Nur durch die Aufhebung des transzendierenden Negierens – und mit ihr jeder Intentionalität – scheint die Vereinigung mit dem Absoluten möglich zu sein, wobei dieser letzte Schritt nichts anderes ist als die Selbst­ aufgabe des form- und seinsgebundenen Denkens der Seele. Zwar soll diese Selbstaufgabe keine Zerstörung des eigenen Ich sein, denn durch sie kann die Differenz zwischen der Seele als solcher und dem Absoluten nicht beseitigt werden.414 Vielmehr kann die Einung nur in der radikalen Überwindung aller Formen geschehen, die – wenn überhaupt – nur punktuell gelingen kann.415 Weil die ἕνωσις fernerhin als Vollendung (τελείωσις) begriffen und das Absolute als innerste Kern unseres eigenen Wesens angenommen wird, ist die Selbstauf­ gabe auch keine Selbstentfremdung.416 Denn bei Plotin und Proklos In Parm. VII p. 521, lin. 13–18. Vgl. De prov. § 32, lin. 2–3. Die erotische Grund­ spannung kommt in der Einung zum Erliegen (Theol. Plat. I c. 25, p. 110, lin. 2). Die ultimative Negation (der Negation) steht in der Forschung häufig im Zusammenhang mit der mystischen Einung (etwa Beierwaltes: Proklos, 361–366, Halfwassen: Hegel und der spätantike Neuplatonismus, 428 und Steel: »›Negatio negationis‹«, 362). 411 Zum actus purus bei Proklos s. § 21–23. 412 Der höchste Akt, die tensio, also das Hin(auf)spannen, muss im Zuge der Einung negiert und überstiegen werden (In Parm. VII p. 521, lin. 16–18). Daher strebt das Absolute selber nicht. Das Absolute ist nicht das »Tätigste« (ἐνεργότατον), hat also gar keine eigene Tätigkeit (ἐνέργεια; In Parm. VII p. 1172, lin. 13–20). Am Ende des Parmenideskommentars wird dem Absoluten, wie wir schon gesehen haben, sogar die δύναμις abgesprochen. 413 Diese Wirkung hat aber den Vorteil, dass durch sie die durchgängige Disjunktio­ nalität aller Bestimmungen erklärt werden kann. S. dazu bes. § 21–23. 414 Schon Platon mahnt im Symposion (Symp. 203A), dass Gott und Mensch nicht einfach vermischt werden dürften. Wie gesagt folgt ihm Proklos bei dieser Einschät­ zung. 415 Vgl. Dionysios: Ep. III; CD II, p. 159. 416 Vgl. dazu Beierwaltes: Denken des Einen, 128–147; bes. 136. Theo Kobusch stellt in diesem Zusammenhang heraus, dass »die menschliche Seele in der »praktischen Metaphysik« zu »ihrem wahren Selbst« durchbreche (»Negative Theologie als prakti­ sche Philosophie«, 200). – Auch der sog. mystische Tod in der christlich-neuplatoni­ 410

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2) Proklos und das »Eine in uns«

ist das Absolute nicht in einem wörtlichen Sinne über allem. Die Einung darf wie auch das Transzendieren nicht als externalisierende Bewegung gedeutet werden. Vielmehr soll sie unsere Wendung in die Tiefen unseres eigenen Selbst vollenden.417 Als Vollendungsgestalt ist aber die Einung nicht mehr das funktionale Zentrum der Proklischen Henologie. Vielmehr übernimmt das »Eine in uns« diese Funktion, fundiert es doch das von Proklos sehnlichst erwünschte Aufgehen im Absoluten.418 Freilich bleibt zu betonen, dass der Einungswunsch verständlich ist, wird mit der Einung doch die Überwindung auch des letzten Schmerzes verheißen. Denn zum einen ist das henologische Streben durch einen letzten Rest des Schmerzes geprägt – immerhin ist das Streben als solches nicht in das Absolute übergegangen –, aus dem heraus das Denken immer wieder Bestimmungen ›gebären‹ muss. Aus diesem intelligiblen und ewigen »Geburtsschmerz« (ὠδίς) sucht Proklos einen letzten Ausgang, der freilich mystischer Natur ist, und daher nicht mehr in philosophischer Weise expliziert werden kann. Wenn nämlich das Absolute sich nicht thematisieren lässt, ja wenn wir über es, wie Proklos schreibt, noch nicht einmal mehr schweigen können – denn auch dieses Schweigen könnte bereits als Aussage über das Absolute missverstanden werden –, dann lässt sich die Einung mit diesem ebenso wenig darlegen. Ob also der durchaus nachvollziehbar explizierte ›Ausstieg‹ aus der erotischen Grundspannung durch die Aufhebung aller Dialektik – auch der negativen – möglich ist, kann aus einer philosophischen Perspektive nicht mit letzter Gewissheit beantwortet werden. Denn hier werden die Grenzen philosophischen Nachdenkens von Proklos konsequent und mit Absicht gesprengt.419 schen Tradition ist zwar durchaus eine Selbstaufgabe, aber doch wird durch ihn das eigentliche Sein erlangt: S. dazu etwa Eckhart: Predigt 8; DW I, p. 127–137. Vgl. dazu auch Fichtes Konzept der Vernichtung des Ich, Kap. IV. 417 Das Ersehnte schlechthin ist das Zentrum aller Seienden, sogar der (Hen­ aden-)Götter (Theol. Plat. I c. 22, p. 102, lin. 12–14). 418 Daher muss die These Gheorghe Paşcalăus, der von einer »Aufhebung« der »Suche« nach dem Absoluten bei Proklos ausgeht (Paşcalău: Die ›Unartikulierbaren Begriffe‹, 81), dahingehend modifiziert werden, dass das Hinspannen Grundcharakte­ ristikum des Seienden, ja sogar der überseienden Henaden, bleibt. Sicherlich sucht Proklos einen Ausweg aus dieser durchaus schmerzhaften Spannung, aber das Seiende als Seiendes und der ἔρως als ἔρως werden diese Spannung niemals verlieren. 419 Inwiefern Gebet und Theurgie als Techniken zur Einung begriffen werden dürfen, kann hier nicht erörtert werden, ist aber eine relevante Frage. S. dazu Robbert M. van den Berg. Proclus’ Hymns: Essays, Translation, Commentary. Leiden/Boston/Köln:

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II) Die neuplatonische »Henophanie«

Was wir allein thematisieren können, ist das Streben – oder, um es noch einmal anders zu wenden: das Scheinen des absoluten Einen. Jedenfalls scheint die Einung ohne das »Eine in uns« gar nicht möglich zu sein. Es bildet vielmehr das Fundament der Mystik: Wird es durch die Dialektik freigelegt, hat das Denken den Weg, der über Sein und Denken hinaus führt, betreten. Das Bahnen dieses Weges ist ein genuin philosophischer Akt – oder eher: es ist die Spitze aller Philosophie. Das »Eine in uns« markiert die ›Schwelle‹ zwischen der Absolutheit und der Relativität, der Einheit und der Vielheit, und ist als solche reines Vermitteln. Das »Eine in uns« erweist daher Proklos’ Einungstheorie als philosophische Mystik. Es plausibilisiert jedenfalls das mystische Moment der Proklischen Metaphysik ein Stück weit.420

Brill, 2001, bes. 86–11. John M. Dillon. »The Platonic Philosopher at Prayer«. In: John M. Dillon und Andrei Timotin (Hg). Platonic Theories of Prayer. Leiden/Boston: Brill, 2018, 7–25. Luc Brisson. »Prayer in Neoplatonism and the Chaldaean Oracles: Por­ phyry, Iamblichus, Proclus«. In: John M. Dillon und Andrei Timotin (Hg). Platonic Theories of Prayer. Leiden/Boston: Brill, 2018, 108–133. José M. Redondo. »The Transmission of Fire: Proclus’ Theurgical Prayers«. In: John M. Dillon und Andrei Timotin (Hg). Platonic Theories of Prayer. Leiden/Boston: Brill, 2018, 164–191. Eleni Pachoumi. »Proclus’ Theurgic Union. Θεουργικὴ Ἕνωσις, and the Concept of Fire«. In: Eleni Pachoumi (Hg). Conceptualising Divine Unions in the Greek and Near Eastern Worlds. Leiden/Boston: Brill, 2022, 251–268. – Das philosophische Gebet scheint mir jedenfalls in erster Linie einen entscheidenden Beitrag zur Einung mit den Henaden­ göttern zu leisten. Es ließe sich aber fragen, inwiefern sich Proklos’ kurze Beschreibung des Gebets im Timaioskommentar (In Tim. I p. 211–212) überhaupt von seiner Philo­ sophie unterscheidet. Denn die Pointe von Proklos’ Philosophie besteht in der Erfah­ rung der Begeisterung. Proklos fokussiert nicht einfach ein enzyklopädisches Wissen um das Ganze des Seins und Überseins, sondern fordert gerade die höchste Erfahrung. Für ihn gilt wie für Dionysios; De div. nom. II § 9; CD I, p. 134, lin. 1–2: »οὐ μόνον μαθὼν, ἀλλὰ καὶ παθὼν«. 420 Es lässt sich sogar vermuten, dass erst auf der Grundlage des »Einen in uns« ein Vergleich der Proklischen Mystik mit christlichen Vorstellungen der unio mystica durchgeführt werden kann. In diesem Sinne ist darauf zu verweisen, dass John Bus­ sanich überzeugend zeigen konnte, dass Proklos’ mystische Theologie Anreize liefert, um den notorisch unscharfen Begriff der Mystik zu schärfen: »Mystical Theology and Spiritual Experience«. In: Alain-Philippe Segonds und Carlos Steel (Hg). Proclus et la Théologie Platonicienne. Leuven University Press / Paris: Les Belles Lettres, 2000, 291–307. Genau diese Funktion kann das »Eine in uns« erfüllen: Es lässt sich ver­ muten, dass auch christliche Denker zunächst einer Grundlegung des Absoluten nachspüren, die die Funktion erfüllen soll, ihre Rede von einer Einung zu fundieren. Diese Absicht lässt sich etwa bei Eriugena erkennen (§ 30–31).

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2) Proklos und das »Eine in uns«

§ 21) Die »Mütter der Affirmationen« – oder: Das »Eine in uns« als Bedingung der Möglichkeit von Denken und Sein Das »Eine in uns« hat sich uns als Einheits- und Disjunktionspunkt gezeigt, wodurch es offenbar zum Prinzip in der Proklischen Henolo­ gie erhoben werden kann. So kommt es – zwar erstaunlicherweise, aber doch zwangsläufig, – zu einer gewissen ›Verschiebung‹ der Prinzipfunktion: Diese Funktion übernehmen Streben, Negieren und Begeisterung.421 Vor dem Hintergrund dieser Entdeckung lässt sich der genannte produktive Aspekt des Einheits- und Disjunktionspunk­ tes sogar noch einmal erheblich erweitern und durch zusätzliche Kon­ zepte bereichern. Dabei ist aber zu beachten, dass diese Konzepte die Prinzipfunktion, obwohl diese als einheitlich vorgestellt wird, nuan­ cieren bzw. gewisse Aspekte hervorheben, wodurch es zu einer gewis­ sen Komplizierung der henologischen Prinzipientheorie kommt. So ist etwa darauf hinzuweisen, dass Proklos in das komplizierte Gewebe absoluter Begründung die Konzepte von δύναμις (Kraft / Macht) und πρόνοια (Vorsehung) sowie die schwer verständliche Instanz der Henaden integriert, wobei diese Konzepte letztlich eine Einheit bilden. Wie aber lassen sich diese mit dem henologischen Streben und dem Negieren in Verbindung bringen? Dem eng gewobenen Funktionszusammenhang dieser Konzepte wollen wir im Folgenden auf die Spur kommen, machen sie doch das »Eine in uns« gerade aus. Nun ist zunächst einmal das Ergebnis festzuhalten, dass Prok­ los im Rahmen seiner negativen Theologie – oder genauer: seiner negativen Anagogik – besonders die absolute Intentionalität, also das henologische Hin(auf)spannen, im Blick hat. Er will damit aber auch die apriorischen Grundlagen des Denkens überhaupt aufdecken, wobei er in diesem Zuge – und vor dem Hintergrund der klassischen Identifikation von Denken und Sein – auch nach den höchsten Prin­ zipien der Seienden forscht. Freilich ist an dieser Stelle unmissver­ ständlich darauf aufmerksam zu machen, dass das Hinspannen als bewusstseinstheoretischer, soteriologischer Aspekt einerseits und die 421 Das Absolute wird dabei aber, wie wir schon bei Plotin gesehen haben, nicht verabschiedet. Allerdings kann die Transzendenz nicht als kreative Tat verstanden werden. Vielmehr muss die negative Theologie von Proklos ernst genommen werden: Die Funktion der Transzendenz besteht darin, die Unauslöschbarkeit henologischer Grundspannung zu garantieren. Die Transzendenz aber erfahren wir wiederum nur im henologischen Streben, sodass dieses der zentrale Einheits- und Disjunktions­ punkt bleibt.

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II) Die neuplatonische »Henophanie«

Fundierung aller (anderen) epistemischen Vollzüge, allen Seins und aller Akte andererseits nur aus hermeneutischen Gründen voneinan­ der unterschieden werden. Im Grunde handelt es sich nämlich um ein und denselben Akt. Und dieser wird bei Proklos das Fundament aller Seinsvollzüge: Es lässt sich daher die These formulieren, dass das »Eine in uns« qua Negieren und erotische Grundspannung von Prok­ los bewusst zum höchsten oder grundlegenden Prinzip aller Seienden, jeder Wesenheit (οὐσία) und aller Denkakte erhoben wird.422 Dies gilt sogar dann, wenn wir – als dianoetisch denkende Wesen – uns dieser Hintergrundspannung gar nicht bewusst sind.423 Mit anderen Worten erfüllt das »Eine in uns« die Funktion, Fundament aller Bestimmun­ gen zu sein, auch dann, wenn es unserem Bewusstsein auf verborgene Weise ›im Rücken liegt‹. Seine Funktion möchte ich an dieser Stelle wie folgt präziseren und im Anschluss darlegen: Das »Eine in uns« ermächtigt als universal wirkender Einheits- und Disjunktionspunkt uns und das Denken insgesamt erstens (i), einheitliche Bestimmun­ gen zu erkennen, ja sogar zu bilden und abzusetzen.424 In diesem Zuge setzt das Denken freilich nicht nur die Einheit der Bestimmung bzw. des Begriffes, sondern realisiert zugleich – zweitens (ii) – die durchgängige Differenz der Totalität aller Bestimmungen. Denn jede Bestimmung ist und bleibt gegenüber anderen Bestimmungen stets eine andere. Um diese zwei Aspekte zu erhellen, greift Proklos vor allem auf seine Negationslogik zurück, die im transzendierenden Negations­

Damit soll die Komplexität der Proklischen Begründungstheorie, die besonders in späteren Propositionen der Stoicheiôsis eine Erweiterung erfährt (prop. 56–65), nicht reduziert werden. Es ist aber freilich darauf hinzuweisen, dass das »Eine in uns« die grundlegende Bedingung aller (Selbst-)Begründungen ist. So sind auch die αὐθυπόστατα von dieser Bedingung getragen, denn nur durch es haben sie die Möglich­ keit, ihre Wirklichkeit selbsttätig zu realisieren. S. dazu die weiteren Ausführungen in diesem Paragraphen. 423 Das reine Denken ist sich seiner Grundlage stets bewusst, wobei es dieses Bewusstsein im steten ›Prozess‹ des Ausgreifens ›erwirbt‹. Die dianoetisch denkende Seele aber ist sich ihrer Fundierung durch das Hinspannen nicht immer bewusst und muss daher das ›Eine in ihr‹ erst erwecken. Doch auch wenn sie dieses höchste Bewusstsein noch nicht erreicht hat, wird sie fürsorglich durch diesen hintergründi­ gen, verborgenen Horizont getragen. 424 So setzt der absolute Geist, wie oben gezeigt, die Differenz zwischen sich und dem Absoluten selbst, indem er die Unaustilgbarkeit und mithin Unüberspringbarkeit des Strebens erfährt. Dergestalt entwirft das Denken – auch unser eigenes – einen Begriff vom Absoluten: Es ›ist‹ das Unbegreifliche und in sich Geschlossene. 422

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akt gipfelt, und im Parmenideskommentar prominent pointiert wird, wobei er in diesem Zusammenhang – wie gesagt – auch auf eine ganze Reihe anderer Konzepte zurückgreifen kann, die freilich mit dem genannten Negieren unmittelbar verknüpft sind. Im Parmenides­ kommentar bezeichnet Proklos die Negationen, womit er weder einen privativen noch einen seinsimmanenten andersheitlichen Negations­ akt meint, als »generierende Kraft« (uirtus generativa / δύναμις γεννετική), also als eine Macht, die das Sein überhaupt oder grundle­ gend bedingt.425 Auch im sechsten Buch des Parmenideskommentars spricht er davon, dass »die Negationen Gründe der Affirmationen«,426 ja ihre »Mütter« seien: »αἱ ἀποφάσεις, ὡς δέδεικται, μητέρες εἰσὶ τῶν καταφάσεων.« – »Die Negationen sind, wie gezeigt, Mütter der Affirmationen.«427 Schließlich betont er in der Theologia Platonis, 425 In Parm. VII p. 520, lin. 1–12: »Tertio igitur, aiunt, dicimus quod abnegations in uno assumens ut generatiuas affirmationum, sicut dictum est sepe, ut non uirtutem putans habere le unum generatiuam entium omnium et existentiam substitutiuam auferens ab ipso et essentiam lateas intermedie horum entem uirtutem uni apposita, fert et abnegationes generatiuas ab ipso. Et hoc est le non possibile ess hec circa unum, le neque potentiam generatiuam totorum ipsum habere, qualem esse abnegationem dicebamus. Etsi igitur generare dicatur, etsi substiturer, ab entibus ad ipsum trans­ feruntur honoratissima omnium nominum uirtutibus iacentium, et his niminibus imnibus ens melus, sicut et rebus que a nominibus signifiacantur.« Bes. ist hier zu achten auf In Parm. VII p. 520, lin. 3–4 [gr. Retroversion] bzw. In Parm. VII p. 520, lin. 3. – Es sei nochmals daran erinnert, dass schon Werner Beierwaltes das »Eine in uns« bzw. die Liebe oder Sehnsucht nach dem Einen als »bewegende Macht im Denken« verstanden hat (Proklos, 373). Vgl. auch Halfwassen: Hegel und der spätantike Neuplatonismus, 422–425. Besondere Beachtung schenkt Dirk Cürsgen dieser Funktion der transzendierenden Negation (Henologie und Ontologie, 240–242 und ferner 279–284). 426 In Parm. VI p. 1075, lin. 14–15. 427 In Parm. VI p. 1133, lin. 3–4. Vgl. In Parm. VI p. 1077, lin. 9–10. In Parm. VI p. 1099, lin. 24. In Parm. VII p. 1208, lin. 19–20. – Der Begriff »Mutter« ist metaphysisch zu verstehen und auf die transzendierenden Negationen und ihre generierende δύναμις, die Proklos auch selber ganz grundsätzlich als »Mutter« bezeichnen kann (In Alc. p. 84, lin. 18–19 und ibid. p. 122, lin. 9–11), und letztlich auf die Henaden zu beziehen: Die Negationen, die nichts anderes sind als die Henaden, sind die Mütter aller positiven Bestimmungen. Zu einem ganz ähnlichen Ergebnis kommt Jonathan Greig in seiner präzise formulierten Studie, wenn er eine Verbindung von Negationen und Henaden postuliert (The First Principle in Late Neoplatonism: A Study of the One’s Causality in Proclus and Damascius. Leiden: Brill, 2021, 180–181). – Die Deutung des Weiblichen bei Proklos durch Jana Schultz hingegen (»Mütterliche Ursachen in Proklos’ Metaphysik«. Philologus 163/2 (2019), 250–273) ist in metaphysischer Hinsicht eher fragwürdig, wird doch die Funktion des ›Mütterlichen‹ als Prinzip aller Affirmationen und Bestimmungen nicht genügend hervorgehoben.

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II) Die neuplatonische »Henophanie«

dass die Negationen das, was ihnen »gleichsam« entgegengesetzt sei, also die Affirmationen, hervorbringen würden.428 Vor diesem Hinter­ grund unterscheidet Proklos den produktiven Transzendierungsakt – um diesen Aspekt noch einmal gebührend hervorzuheben – vom Absoluten, dem diese Kraft am Ende des Parmenideskommentars abgesprochen wird.429 Proklos macht also klar, dass dem Negieren eine Kraft inhäriert, die Denken und Sein generiert: Letztlich sind die transzendierenden Negationen daher der Inbegriff der Proklischen Prinzipientheorie, weshalb dieser in seinem Parmenideskommentar und im Hinblick auf seine absolute Prinzipientheorie nicht mehr auf eine affirmative Theologie – im Speziellen: auf das eher affirmativtheologische Teilhabeverhältnis – rekurrieren muss.430 Dass es sich bei der Negation einer Bestimmung, sei diese nun Ruhe, Bewegung, Identität, Differenz, Gleichheit, Ungleichheit, Sein, Leben oder Denken, um eine Tat handelt, also um die höchste Aktivi­ tät des Geistes, in der die Bestimmung überschritten wird, ist bereits anhand der Konvergenz von Streben, also der fundamentalen Ur-Tat aller Seienden, und absolutem Negieren gezeigt worden. Gerade so wird die eine, singuläre, das Sein fundierende Aktivität der Negation, also das Negieren, als Gründungsakt erwiesen.431 Theol. Plat. II c. 10, p. 63, lin. 8–10. Der Ausdruck »gleichsam« (οἷον) meint, dass sie nicht wirklich in einem Gegensatz zu den Affirmationen stehen, sondern diesen asymmetrisch als deren Prinzipien vorgeordnet sind. Daher sind die Negationen nur »quasi-Gegensätze« der Affirmationen (Halfwassen: Hegel und der spätantike Neuplatonismus, 423–424). 429 Bes. deutlich In Parm. VII p. 520, lin. 3–4. 430 Proklos’ Metaphysik ist gleichwohl durch eine Mischung affirmativer und nega­ tiver Prinzipientheorie geprägt, wobei er in seiner Elementarlehre eher das affirmative und in seinen ausdifferenzierteren Werken – insbesondere in seinem hoch komplexen Parmenideskommentar – eher das negative Begründungsmodell bevorzugt. 431 Die Negationen von Sein, Leben, Denken, Identität, Differenz, Gleichheit, Ungleichheit etc. erscheinen bloß als partikuläre Akte. Ihnen liegt aber ein gemeinsa­ mes Wesen – oder besser: Überwesen – zugrunde, das sie zusammen ausmacht: Dieses Überwesen transzendiert das Sein und alle Denkbestimmungen totaliter und übt eine produktive Kraft (δύναμις) aus. Die Einsicht in das allem gemeinsame Überwesen, den simultanen, produktiven Transzendierungsakt, eröffnet uns den Blick auf den einen negativen Horizont, der ›hinter‹ der positiven Erscheinung des Seins ›liegt‹. Aus diesem Grund kann auch ein drohendes Missverständnis behoben werden: Die logisch unvermeidbar erscheinende Bindung der Negation an eine bestimmte Affirmation, an der sich die Negation gewissermaßen ›abarbeitet‹, ist bloß scheinbar, weil die transzendierende Negation, insofern sie die Spitze geistiger Aktivitäten ist, allen positiven Bestimmungen vorangeht: Die transzendierende Negation hängt also nicht 428

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Gerade im Hinblick auf den Akt ist auf den Begriff der ὠδίς432 aufmerksam zu machen: ὠδίς ist nichts anderes als das henologische Streben, das aber freilich nicht einfach im Absoluten ankommt und daher, also aufgrund seiner Unaustilgbarkeit, geradezu als schmerz­ haft bezeichnet werden kann. Im gleichwohl schmerzhaften – weil nicht-angekommenen – Hinspannen wird aber doch die diesem Streben inhärente produktive Kraft artikuliert, denn der Begriff ὠδίς kann auch mit »Geburtsschmerz« übersetzt werden, wodurch sogleich eine Brücke zu den im sechsten Buch des Parmenideskommentars erwähnten »Mütter« aller Affirmationen geschlagen wird. Gerade dadurch markiert Proklos die produktive Funktion des Negierens noch einmal deutlich. Die (schmerzhafte) »Geburt« von Sein und Denken ist nichts anderes als der urmütterliche Begründungsakt des transzendierenden Negierens. Nun kann zwar zweifelsfrei festgestellt werden, dass Proklos das Negieren qua »Geburtsschmerz« mit universal-produktiver Funktio­ nalität versieht. Allerdings darf diese Aussage nicht so gewertet wer­ den, als ob er hier einen Schöpfungsakt – oder gar einen Schöpfungsakt in der Zeit – artikulieren würde. Gegen eine solche Auffassung wendet sich schon allein das Proklische Konzept der ewigen αὐθυπόστατα (authypostata).433 In den propositiones 40 bis 49 der Stoicheiôsis theologikê entfaltet Proklos sein Konzept der αὐθυπόστατα, deren Wesen und Funktion gerade darin besteht, selbständige Wesen zu sein, die in und durch sich selbst gewirkt sind:434 Sie aktualisieren bzw. an Affirmationen, sondern die Affirmationen hängen an den Negationen – genauer: an der ihnen gemeinsamen produktiven Kraft (δύναμις), die ihr Überwesen ausmacht. 432 Die ὠδίς kommt besonders am Ende des Parmenideskommentars zur Sprache und wird auch in der lateinischen Übersetzung Moerbekes im griechischen Original belassen. Beispielhaft sei hier auf folgende Passagen hingewiesen: In Parm. VII p. 1191, lin. 6–7; p. 502, lin. 37 – p. 503, lin. 4; p. 509, lin. 13 – p. 510, lin. 3 und p. 511, lin. 3–33; bes. lin. 25–27: »Natura enim est, ut diximus, in omnibus, et non secundum iniectionem, unius desiderium et indeficiens motio [ὠδίς]«. Moerbeke hat souverän erkannt, dass dieser Begriff im Zentrum von Proklos’ Überlegungen zu seiner (negativen) Prinzipientheorie steht, und ihn genau deswegen zuweilen unübersetzt gelassen. 433 Auch der Selbstbegründungsakt des νοῦς bei Plotin lässt eine Schöpfung durch eine wie auch immer geartete höhere ›Entität‹ unwahrscheinlich werden. Plotin und Proklos geht es eher um eine geltungstheoretische Argumentation für eine fundamen­ tale Bedingung, die allen (Seins-)Akten ›im Rücken liegt‹, diese aber so auch geradezu fürsorglich trägt. 434 Im Hintergrund der Theorie der αὐθυπόστατα steht die Triade μονή, πρόοδος und ἐπιστροφή, in der nicht einfach nur kausale Begründungsstrukturen (bes. St. theol.

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II) Die neuplatonische »Henophanie«

verwirklichen sich durch sich selber. Daher ist ein αὐθυπόστατoν von keinem anderen (Seienden) abhängig, sondern autark. Die Aktuali­ sierung der Seinsmöglichkeit fällt also in den Verantwortungsbereich weitgehend autarker Seiender. Es liegt an ihnen, ihre Möglichkeit vollständig zu realisieren. Gleichwohl bleibt ein αὐθυπόστατoν – gemäß der ersten Proposition der Stoicheiôsis – von absoluter Einheit, die freilich kein anderes (Seiendes) sein kann, abhängig. In der For­ schung wurde hierin ein konzeptionelles Problem vermutet, das Pro­ klos nur ungenügend durchdacht habe.435 Proklos Wendung besteht nun darin, den Konflikt als einen bloß scheinbaren zu entlarven: Jedes αὐθυπόστατoν weist eine ihm eigene innere Aktivität (ἐνέργεια) auf, durch die es sich selber aktualisiert. Gleichwohl weist es, wie alles Seiende, ein Einheits- oder Geschlossenheitsbedürfnis auf. Aus diesem heraus wendet es sich dem Einen zu. Wir können es verkürzt so ausdrücken: Die Aktualisierung des αὐθυπόστατoν kann nur in der henologischen Wendung, die also ein Ausgreifen über sich hinaus ist, realisiert werden – und zwar so, dass es in dieser Wendung produktiv scheitert, weil es in dem Hinspannen auf sich selber zurückgeworfen wird.436 Das Erlebnis der schieren Unverfügbarkeit des Absoluten, die in der Unaustilgbarkeit des Strebens erfahren wird,437 bedingt das Sich-selber-Bilden des Geistes, also seinen Selbstbezug. Wir prop. 25–39), sondern auch und gerade, wie uns die Propositionen 40 bis 49 der Stoicheiôsis zeigen können, die Reflexivität grundgelegt wird (vgl. St. theol. prop. 17). Zur begründenden wie reflexiven Grundstruktur dieser Triade s. Beierwaltes: Proklos, 118–136. – Jean Trouillard hat die sachliche Verwandtschaft des Proklischen Konzeptes des αὐθυπόστατoν mit Spinozas Konzept der causa sui herausgestellt (»Proclos et Spinoza«. Revue philosophique de la France et de l’étranger 172 (1982), 435–448; bes. 447–448). Anders als Spinoza halten Plotin und Proklos – und auch Fichte – an der Transzendenz des Absoluten gegenüber seiner ontologischen Bestimmbarkeit fest. Kritik an Spinozas Gottesbild, das zugleich von Einheit und Vielheit geprägt ist, ist also sowohl von Seiten Plotins und Proklos’ wie von Seiten Fichtes angebracht (vgl. GA III/5, p. 102). 435 Theologische Grundlegungen. Übersetzt und mit einer Einleitung sowie einem durchgängigen erläuternden Kommentar hrsg. von Ernst-Otto Onnasch und Ben Schomakers. Hamburg: Felix Meiner, 2015, 261. 436 Damit greift Proklos den Plotinischen Grundgedanken von der Genese des Geistes auf. Dieses Konzept weist darüber hinaus auf Fichtes Denken hinaus (Kap. IV.2). 437 Beachtet werden muss dabei, um es noch einmal zu betonen, dass wir die Geschlossenheit des Absoluten nur im Streben, nicht im Absoluten selber, erfahren. Daher kann letztlich von einer Abbildung des Absoluten oder gar einer Nachahmung, auch wenn das Nachzuahmende selber, das Eine/Gute also, lebendig sein sollte, gar nicht mehr gesprochen werden.

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2) Proklos und das »Eine in uns«

können diesen Sachverhalt auch wie folgt wenden: Im Streben wird die eigene, letzte Grenze erfahren, wobei diese Erfahrung das Wissen um die Geschlossenheit und Einheitlichkeit des eigenen Wesens ursprünglich generiert.438 Die Funktion des vom »Geburtsschmerz« durchzogenen Negie­ rens liegt also, dies zeigt die zurückliegende Betrachtung, nicht in einem direkten Schaffen niederer Hierarchien, sondern eher in einer – metaphysischen – Ermächtigung.439 Daher kann das Negieren als δύναμις, also als eine Kraft, die Sein und Denken ermächtigt, ihre Möglichkeit zu realisieren, gewertet werden:440 Die δύναμις des Negierens ist Bedingung der Möglichkeit von Wirklichkeit.441Wenn Die Erfahrung ist die letzte Grenze, wobei dieser Erfahrung die Kraft inhäriert, durch die sich das Denken selber vollenden kann. Diese Kraft ist wie auch das heno­ logische Streben unendlich. Dergestalt lässt sich das Ur-Gegensatzpaar πέρας-ἄπειρον in den Kontext der philosophischen Evidenzerfahrung einordnen. Zur Einheit von Grenze und Unendlichkeit in der Kraft der Vorsehung s. § 22. 439 Diese Ermächtigung muss folgendermaßen dargelegt werden: Es handelt sich erstens um den Akt des ›Raumöffnens‹, denn das Hinspannen eröffnet erst den ›Raum‹, in dem sich Sein und Denken entfalten können. Dergestalt ist die δύναμις – zweitens – der Hintergrund, der alle Entfaltungen erst ermöglicht und fundiert. Dieser Ur-›Raum‹ trägt alles. – Vor diesem Hintergrund ist, nebenbei bemerkt, darauf hinzuweisen, dass Proklos ganz offensichtlich kein Emanationstheoretiker ist. Der Begriff der Emanation ist ohnehin problematisch (Gersh: κινησις ακινητος, 29). Darüber hinaus lässt sich konstatieren, dass die sog. Emanation in Proklos’ henologischer Metaphysik, wie schon zuvor bei Plotin, gar keine Rolle spielt. Die Emanation ist offenbar ein Begriff für ein Werden aus dem Absoluten, auch wenn dieses sich dabei nicht verströmt, sondern ganz in sich bleibt. Mit der Emanation wird, auch wenn sie nicht als Verströmen gedeutet wird, die Selbstsetzung des absoluten Geistes völlig außer Acht gelassen. Der Geist ist aber nach (Plotin und) Proklos Grund seiner selbst (St. theol. prop. 40–49). Genau genommen würde die Annahme einer Emanation zum Problem der unendlichen Iteration der Unendlichkeit führen: Ein reines Hervorgehen strebte der unbestimmten Vielheit zu. Proklos betont daher, dass die Emanation zur Trennung (und damit zur Auflösung) führte (St. theol. prop. 30–31 und 35). 440 Mit dem Begriff der δύναμις haben wir ein Themengebiet betreten, das über die πρόνοια direkt zu den Henaden führt. Die Henaden, um es verkürzt zu sagen, bilden den einen singulären, Sein und Denken tragenden Horizont. 441 Im henologischen Hinaufspannen werden wir, wie zuvor gezeigt, auf uns selber zurückgeworfen. Interessanterweise kommen wir also durch das henologische Streben zu positiven Bestimmungen (zurück). Der Weg hin zu concreta oder positiva geht also, wenn man es genau nimmt, über die henologische Grundspannung: Vor allem unsere Begriffe des Absoluten, das wir im Streben als das in sich geschlossene Eine erfahren haben, sind durch diesen Weg gesetzt. Wir kommen also selbst im Hinbli­ cken über die Grenzen von Denken und Sein hinaus nicht in diesem ›Jenseits‹ an, 438

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II) Die neuplatonische »Henophanie«

nun das Negieren insgesamt alle Affirmationen fundiert, so wird die eine negativ-hintergründige Negationsdimension zur Bedingung positiven Denkens und Seins insgesamt.442 Genau in diesem Sinne ist das Negieren ›schwanger‹ mit allen positiven Gehalten, deren Letztbegründung im durch das Negieren artikulierten intelligiblen Geburtsakt liegt.

§ 22) Vom Negieren zur pronoetischen Kraft der Henadendimension – oder: die πρόνοια als tragender Horizont Die Kraft, also die δύναμις γεννετικὴ, des Negierens ist unmittelbar mit einem weiteren Konzept verknüpft, das nur scheinbar anders gelagert ist. Vorzugsweise thematisiert Proklos es im Rahmen seiner Henadenlehre, wobei er ganz gezielt den Begriff der πρόνοια verwen­ det, die fraglos mit »Vorsehung« oder »Fürsorge« wiedergegeben wer­ den kann.443 Vom Negieren ununterscheidbar wird sie als »Grund« sondern werden auf positive Begriffe gewendet, ja dorthin, also zu ihrer Beschauung, geleitet. Vgl. dazu Damaskios’ Konzept der περιτροπή, der »Umwendung«. Gheorghe Paşcalău hat ihre produktive Wendung in seiner exzellenten Dissertation angedeutet: Die ›Unartikulierbaren Begriffe‹, 95–97. Damaskios hat die Proklische Theorie des intelligiblen »Geburtsschmerzes« also offenbar adaptiert (ibid. 95–96). – Ob aber Damaskios’ eigenes Konzept intelligibler »Geburtswehen« tatsächlich tragfähig ist, scheint vor dem Hintergrund seiner übersteigerten Apophatik (dazu Paşcalău: Die ›Unartikulierbaren Begriffe‹ und Cürsgen: Henologie und Ontologie, 315–458) mehr als nur fragwürdig. Mit dem Kollaps auch nur des aus dem Streben heraus vorgestellten absoluten Fluchtpunktes für das Denken brechen letztlich auch Streben und produk­ tive Spannung weg. Damaskios’ kritisches System scheint sich also selber zu Fall zu bringen: Wieso sollte sich nämlich, wenn allein schon die Annahme des Absoluten dem Zweifel anheimfällt, das strebende Hinaufspannen, das die produktive Kraft selber ist, noch halten können? 442 Wie wir im Folgenden feststellen können, wird im Negieren, dem ursprünglichen Streben, der Ur-›Raum‹, in dem sich Sein und Denken entfalten können, ursprünglich aufgebrochen. Dadurch kommt es gerade zu einer Universalisierung des Negierens als Prinzip: Es werden durch es nicht nur Begriffe vom Absoluten bedingt. Als uni­ versaler ›Raumöffner‹ avanciert es, das negierende Hinaufspannen, zur »Distinkti­ onsdimension«, in der sich Denken überhaupt erst ereignen kann. S. dazu § 22–23. 443 Zentralstelle für die »Vorsehung« ist St. theol. prop. 120–122, wobei sie dort im Kontext der Henadenlehre expliziert wird. Proklos hat der »Vorsehung« gleich drei Werke gewidmet; wobei die drei Werke wie folgt betitelt sind: De providentia, De decem dubitationibus circa providentiam und De malorum subsistentia. Die beiden zuerst genannten Werke sind für den vorliegenden Kontext von entscheidender

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2) Proklos und das »Eine in uns«

aller Dinge, des »Bestimmten« und auch des »Unbestimmten«444, bezeichnet.445 »Grund« ist sie in Gestalt einer produktiven δύναμις,446 wobei sie, so präzisiert Proklos, als »unendliche Kraft«, ἀπειροδυναμία also, bezeichnet werden sollte.447 Freilich ist sie als Unendlichkeit, als ἄπειρον, keine unbestimmte Vielheit – diese hatte sich ohnehin als Denkunmöglichkeit erwiesen –, sondern ›überbestimmt‹ »nach Art und Weise des Einen«448: Sie ist also dergestalt Einheit und Geschlossenheit. Demnach können wir schlussfolgern, dass in ihr Einheit und überbestimmte, unendliche Kraft zusammenfallen.449 Bedeutung. Die »Vorsehung« wird freilich auch in den Hauptwerken von Proklos, dem Parmenideskommentar und der Theologia Platonis, thematisiert. – Grundlegend zur πρόνοια ist Beierwaltes: Denken des Einen, 226–253. Mahnend sollte hier aber betont werden, dass durch Beierwaltes’ Ausführungen zuweilen der Eindruck entsteht, das Eine selbst würde πρόνοια wirken. Allerdings handelt es sich dabei um die spezifische Funktion der Henaden, die von dem Einen transzendiert werden. S. dazu Cürsgen: Henologie und Ontologie, 78–79. 444 Proklos meint damit wohl das bloß Mögliche, also dasjenige, was seine Mög­ lichkeit noch nicht realisiert hat. Die »Vorsehung« grundiert also auch die schiere Möglichkeit einer (noch nicht realisierten) ›Existenz‹. 445 De dec. dub. § 9, lin. 2–3. 446 Erneut ist zu betonen, dass die »Vorsehung« keinen Schöpfungsakt meint. Daher zeitigt die πρόνοια auch keinen Determinismus, sondern gewährt Freiheit, insofern aus ihr nicht zwangsläufig die Realisierung bestimmter Seiender oder gar das Erlangen höchster Einsicht durch uns folgt. Denn wir können diese Einsicht erreichen, oder auch nicht. Wenn die Vorsehung alles determinieren würde, wäre es schlicht unverständ­ lich, wieso nur einige und nicht alle Seelen höchste Einsicht erfahren. 447 S. dazu De dec. dub. § 10–14; bes. § 11, lin. 1–3: »Unum quidem igitur providentie omni unione incorporea et corporea est unitius, apirodynamum (id est infinitas virtus) autem omni virtute infinita et finita infinitius.« Vgl. ibid. § 11, lin. 17–21. Die »Vor­ sehung« ist also »die eine unbeschreibbare und allen unfassbare Macht« (ibid. § 10, lin. 24–25; Hervorh. Roh.), sie ist »vorherexistierende Macht« (ibid. § 10, lin. 27–28; vgl. St. theol. prop. 121, p. 106, lin. 20–22). Die Macht bzw. Kraft ist unendlich, nicht aber ist die »Vorsehung« quantitativ unendlich. Eine solche quantitative Unendlichkeit ist nämlich diejenige Unbestimmtheit, die in der ersten Proposition der Stoicheiôsis als Scheingedanke entlarvt wurde (vgl. ibid. § 11, lin. 4–8). 448 Etwa De dec. dub. § 7, lin. 24–26. 449 In der πρόνοια bilden Grenze und Unendlichkeit, das scheinbare »Ur-Gegensatz­ paar«, eine ununterscheidbare Einheit, wobei darauf zu achten ist, dass die »Vorse­ hung« über einer möglichen Dichotomie dieser beiden Begriffe stehen muss, ist sie doch Grund aller Bestimmungen, eben auch der Differenz. Vgl. dazu Klaus Feldbuschs höchst erhellende Aussage; Zehn Aporien über die Vorsehung: Frage 1–5. Übersetzt und erklärt v. Klaus Feldbusch. Köln: o. V., 1972, 37: »Da die Vorsehung so gegensätzliche Dinge wie höchste Einheit und unendliche Macht in sich vereinigt, ist es für sie ein leichtes, sowohl die Ursache des Bestimmten wie des Unbestimmten zu sein, ohne daß sie dabei in irgendeiner Weise den Kategorien ἑτερότης und ταὐτότης unterworfen

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II) Die neuplatonische »Henophanie«

Die in der Einheit und Geschlossenheit vorgestellte unendliche Kraft der πρόνοια wird von Proklos weiterhin als Tat – oder noch einmal genauer: als Ur-Tat – bestimmt:450 Die πρόνοια besteht in einem »Vorherwissen« dessen, was verwirklicht ›wird‹ bzw. bloß nur der Möglichkeit nach ›ist‹.451An anderer Stelle vermerkt Proklos, dass die πρόνοια »Gutes tut«, also Einheiten bedingt.452 Man kann sie ist.« Grenze und Unbegrenztheit sind wohl die obersten Henaden (bes. Saffrey: »Fonction divin de la δυναμις«, 112 und van Riel: »Les hénades de Proclus«, bes. 427). Sie sind realiter nicht zu trennen und bilden eine Einheit. Wenigstens hält Proklos, wie Gerald Bechtle zeigen konnte, den drohenden Dualismus so gering wie möglich (»Göttliche Henaden und platonischer Parmenides«, 358–391). Für Gerd van Riel inhäriert der Grenze eine unbegrenzte Kraft. So kann er verdeutlichen, dass Grenze und Unbegrenztheit eigentlich eine differenzlose Einheit bilden (»Les hénades de Proclus«, 418). Im Grunde sind die zwei obersten Prinzipien nichts anderes als der Inbegriff der Henadendimension: Die Grenze ist die eine unbegrenzte, ungebrochene und kontinuierliche Macht und bedingt Grenzziehungen und damit Begriffsbildun­ gen. Ihrerseits ist die unendliche Macht die letzte Grenze, die Sein und Denken als solche nicht überspringen können, weil sie das innere Zentrum der Wesen aller posi­ tiven Bestimmungen – in der ›Form‹ henologischen Strebens – ist. Man könnte darüber hinaus davon sprechen, dass Grenze und Unendlichkeit – bes. in der Stoicheiôsis – die Prinzipfunktion der Henaden und ihrer pronoetischen Kraft auf dia­ lektische Weise zum Ausdruck bringen sollen. Wie in der vorliegenden Arbeit gezeigt, wird dieser Monismus gerade in Proklos’ metaphysischer Negationslehre und seinem πρόνοια-Begriff, insofern damit der selber nicht konkret ›gegebene‹ Einheits- und Disjunktionspunkt gemeint ist, markant zum Ausdruck gebracht. S. dazu auch § 23. – Demgegenüber scheint mir Jonathan Greig das Verhältnis von Grenze und Unend­ lichkeit einerseits und der Henadendimension andererseits zu stark zu differenzieren. Besonders Grenze und Unendlichkeit zu »relativen« Gegensätzen zu machen, geht wohl zu weit, insofern dadurch die Differenz in die Henadendimension einzufallen droht (The First Principle in Late Neoplatonism, 216). 450 Die generierende, vollendete δύναμις ist für Proklos aktiv, weil sie alles – freilich indirekt – schöpft (In Alc. p. 122, lin. 9–11). 451 St. theol. prop. 120. Auch dasjenige, was nur der Möglichkeit nach ›ist‹, ist bereits durch das ursprüngliche Vermögen getragen: Es ist, wie gesagt, die Bedingung der Möglichkeit der Verwirklichung. 452 De dec. dub. § 10, lin. 6: »benefacere«. Vgl. ibid. lin. 5 [gr. Version]: »εὖ ποιεῖν«. – Man könnte aber folgende Frage an Proklos richten: Wenn die »Vorsehung« alles bedingt, fundiert sie dann nicht auch das Böse? Das Böse ist in neuplatonischen Kon­ texten eigentlich nicht-seiend. Ferner ist die »Vorsehung«, da sie Bestimmungen, also Intelligibles fundiert, nicht für das Böse verantwortlich, das auf der Ebene des wahren Seins auch gar keine Existenz besitzt. Was das Böse ›ist‹, kann an dieser Stelle nicht hinreichend erörtert werden. Lediglich ein Hinweis sei gegeben: Das, was wir als böse fassen, ist in Platonischen Kontexten wohl das Resultat einer Handlung der Seele bzw. des Menschen. Die »Vorsehung« wiederum ist das uns leitende, einheitsstiftende UrMoment. Wir sind aufgefordert, den ›Willen‹ der »Vorsehung« in Freiheit anzuneh­

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2) Proklos und das »Eine in uns«

daher als fürsorglich tätige Kraft verstehen, die Sein und Denken ursprünglich trägt. Genau dies, also das fürsorgliche Tragen453 von Sein und Denken, ist Aufgabe und Akt der Henaden454 – und in diesem Akt werden die ihnen subordinierten Hierarchien »geliebt«.455 »Vorsehung« meint also den Akt des fürsorglichen Vorhersehens aller concreta und wird von Proklos in diesem Sinne – etymologisierend – als »Tat« bzw. »Tätigkeit« gedeutet, die »vor dem Geist« zu verorten ist: »καὶ ποῦ γὰρ ἡ πρὸ νοῦ ἐνέργεια456 ἢ ἐν τοῖς ὑπερουσίοις; ἡ δὲ πρόνοια, ὡς τοὔνομα ἐμφαίνει, ἐνέργεια ἐστι πρὸ νοῦ.«457 Die Vorse­ hung ist also sowohl einheitlich, in sich vollkommen geschlossen, seins- und geisttranszendent als auch Tätigkeit; aber eben Tätigkeit vor dem Geist.458 Im Sinne ihrer Vorgeistigkeit ist die πρόνοια zwar kein Unwissen, aber doch kein Wissen im Sinne des absoluten Geis­

men und zu vollziehen. Gesollt ist die Umsetzung von Einheit und Harmonie. Ein Maximum an Einheit bedeutet offenbar auch ein Minimum an Leid. Das Gesollte ist die Realisierung von Einheit (letztlich auch zur Förderung der Menschheit). Wenn dieses Gesollte nicht erreicht wird, kommt es zur Realisierung schlechter Zustände. Das passiert dann, wenn der Mensch die »Vorsehung« nicht annimmt, wenn er zu schwach ist, das Gesollte umzusetzen, oder nicht genug Einsicht besitzt. Das Böse wird also auf dem Hintergrund (i) der menschlichen Borniertheit, die »Vorsehung« zu sehen, oder (ii) des menschlichen Widerwillens, die »Vorsehung« anzuerkennen, oder (iii) nicht vollendeter Einsichten in das absolut Gute realisiert. Als fürsorgliches Tra­ gen wird aber die »Vorsehung« auch den Menschen, der etwas tut, was wir als böse bezeichnen, nicht verlassen, insofern ihre Güte überwesentlich präsent bleibt – womit Proklos offenbar den christlichen Gedanken caritativer Gottesliebe antizipiert hat. 453 Proklos spricht von der »fürsorglichen Liebe« (ἔρως προνοητικός) der Henaden, die auch Sokrates als Inbegriff des besonnenen Philosophen und göttlichen Liebhabers vollziehen kann. 454 Die Henaden haben eine umfassende δύναμις (Theol. Plat. III c. 24, p. 86, lin. 7– 11). S. § 23. 455 In Alc. p. 56, lin. 2–3: »καὶ θεοὶ τοίνυν θεῶν ἐρῶσιν, οἱ πρεσβύτεροι τῶν καταδεεστέρων, ἀλλὰ προνοητικῶς«. Die Götter, die Henaden, lieben die niederen Götterklassen fürsorglich, wodurch wir also durchaus konstatieren können, dass Proklos das Konzept der christlichen ἀγάπη vorweggenommen hat. Da die Henaden zugleich von Liebe ›zum Absoluten‹ erfüllt sind, in ihnen aber nichts mehr unterschie­ den werden kann, bilden, wie wir im Folgenden sehen werden, ›aufsteigende‹ und ›absteigende‹ Liebe eine Einheit. 456 Sie ist also diese Tat eben nicht im Sinne einer konkreten »Verwirk­ lichung« (ἐνέργεια). 457 St. theol. prop. 120, p. 106, lin. 6–7. Vgl. ferner De dec. dub. § 10, lin. 22–29, worin die Transzendenz der Vorsehung gegenüber der Idee, dem intelligiblen, wesenhaften Gehalt (essentia/οὐσία), betont wird. 458 Bes. deutlich in De dec. dub. § 12, lin. 1.

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II) Die neuplatonische »Henophanie«

tes.459 Daher ist sie im Grunde nichts anderes als eine »verborgene Erkenntnisweise« (γνῶσις κρύφιος).460Dergestalt kann sie keine kon­ krete, auf bestimmte Objekte abzielende Tat oder Tätigkeit wie etwa das positive Ideendenken des Geistes sein. Vielmehr ist sie gereinigte oder reine Tätigkeit, gewissermaßen also – um ein Konzept des christlichen Neuplatonismus zu verwenden – actus purus. Wenn πρόνοια nun aber gründende, tragende Tätigkeit ist, in welchem Verhältnis steht sie dann zu Negieren und henologischem Streben, die doch ebenfalls Sein und Denken universal bedingen sollen? Wenn diese Konzepte dieselbe universale Funktion erfüllen, dann müssten sie, so können wir vermuten, konvergieren oder koinzi­ dieren.461 Konvergieren hier also anagogisch fungierende Liebe, ἔρως, einerseits und ›absteigende‹ bzw. fürsorglich-caritative Liebe, die man in der griechischsprachigen Theologie für Gewöhnlich mit dem Begriff der ἀγάπη beschreibt, andererseits? Zwar scheint Proklos mit anagogischen Begriffen einerseits und der »Vorsehung« andererseits unterschiedliche Aspekte beleuchten zu wollen, die aber eben nur bestimmte Perspektiven auf ein und denselben Horizont sind und für sich alleine betrachtet Proklos’ zentralen prinzipientheoretischen Ein­

Göttliche Vorsehung (πρόνοια), göttliche Kraft (δύναμις) und göttliches Wissen (γνῶσις) werden in St. theol. prop. 121, p. 106 zusammengeführt und mit der Trans­ zendenz verknüpft. S. bes. St. theol. prop. 121, p. 106, lin. 28–30: »εἴτε ἄρα γνῶσις ἐστι θεία, κρύφιός ἐστιν αὕτη καὶ ἑνοειδὴς ἡ γνῶσις; εἴτε δύναμις, ἀπερίγραφος πᾶσι καὶ περιληπτικὴ πάντων ὡσαύτως.« – »Wenn es ein göttliches [d. h. fürsorglich-pronoeti­ sches] Wissen gibt, dann ist dieses Wissen verborgen und einheitsförmig; Wenn es eine göttliche Kraft gibt, dann ist sie unbeschreibbar für alles und umfasst alles in gleicher Weise.« Vgl. ferner ibid. lin. 24–28: »διὰ γὰρ τὴν θείαν γνῶσιν τὴν ἐξῃρημένη τῶν ὅλων καὶ αἱ ἄλλαι πᾶσαι γνώσεις ὑπέστησαν, οὔτε νοερὰν οὖσαν οὔτε ἔτι μᾶλλον τῶν μετὰ νοῦν τινα γνώσεων, ἀλλὰ κατὰ τὴν ἰδιότητα τὴν θείαν ὑπὲρ νοῦν ἱδρυμένην.« 460 Zwar wird in De dec. dub. § 8 bemerkt, dass die »Vorsehung« das bloß Mögliche, das »Unbestimmte«, auf »bestimmte« Weise erkenne – sie ist also eine Tätigkeit, anders als das Eine selber. Hier ist aber nicht die Erkenntnisweise des Geistes oder der Seelen gemeint. Vielmehr ist diese Erkenntnisweise von der »Art des Einen« (ibid. § 7). Damit aber kann sie nicht positiv bestimmt sein. Vielmehr ist die »Vorsehung« gegenüber allen positiven Bestimmungen transzendent, wie Proklos bereits in der Stoicheiôsis zu erkennen gibt. Ihm kommt es in De dec. dub. § 8 darauf an, dass die »Vorsehung« auch das bloß Mögliche bedingt. Es ist die Bedingung der Möglichkeit der Verwirklichung. 461 Das Negieren als höchster Strebensakt hat eine universal bedingende Funktion wie auch die »Vorsehung« das Fundament aller Seinsakte ist. 459

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2) Proklos und das »Eine in uns«

heitsgedanken, der im Konzept des »Einen in uns« artikuliert wird,462 zu verstellen drohen. Denn Proklos scheint diese beiden Aspekte gar nicht voneinander trennen zu wollen, sind sie funktionell doch geeint, insofern sie Sein und Denken bedingen. Interessanterweise verweist schon Papst Benedikt XVI gerade auf den Zusammenhang dieser beiden Aspekte, freilich, und wie zu erwarten, in christlicher Hinsicht: »In Wahrheit«, so schreibt er, »lassen sich Eros und Agape – aufsteigende und absteigende Liebe – niemals ganz voneinander tren­ nen«.463 Proklos hat diese Konvergenz, wie wir nun sehen können, vorweggenommen.464 Dass sich Negieren und Streben einerseits und Wie wir im Folgenden sehen werden, geht es Proklos um das Aufspannen des einen Ur-Horizontes, vor dessen Hintergrund sich Sein und Denken überhaupt erst entfalten können. S. dazu den weiteren Verlauf der Diskussion. 463 Gott ist die Liebe: Die Enzyklika ›Deus caritas est‹. Freiburg im Breisgau/Basel/ Wien: Herder, 2006, 23 [7]. Gott, so führt Papst Benedikt weiter aus, »liebt, und diese seine Liebe kann man durchaus als Eros bezeichnen, der freilich zugleich ganz Agape ist« (ibid. 27 [9]). Also ist »[d]er Eros Gottes für den Menschen […] zugleich ganz und gar Agape« (ibid. 28 [9]). 464 Auf diesen Zusammenhang hat schon Christian Tornau in wünschenswerter Klarheit verwiesen (»Eros versus Agape«, Anm. 36 mit Verweis auf In Alc. p. 20, lin. 17 – p. 21, lin. 2). Fragwürdig ist aber Tornaus Deutung, nach der der »erotische Aspekt« dem »pronoetischen Wirken« zum Opfer fiele (Tornau: »Der Eros und das Gute«, 212). Beide Momente bilden vielmehr eine untrennbare Einheit. Und es ist gerade die Spannung des Strebens, die eine – in modernen Worten ausgedrückt – Energie entfaltet (diese sogar ist), durch die alles Seiende bedingt und mithin getragen wird. – Völlig verfehlt wiederum ist die ›klassische‹ Deutung des Verhältnisses des vermeintlich egoistischen ἔρως zur christlichen Nächstenliebe als unverträglicher Antagonismus aus der Feder des Lutheraners Anders Nygren (Eros und Agape: Gestaltwandlungen der christlichen Liebe. Vol. 1, Gütersloh: Bertelsmann 1930, bes. 183–200). Der theologischen Forschung ist dieser völlig unversöhnliche Antagonis­ mus ebenfalls fragwürdig geworden, weswegen das Verhältnis von ἔρως und ἀγαπή noch immer lebhaft diskutiert wird (s. etwa Edith Düsing und Hans-Dieter Klein (Hg). Geist, Eros und Agape: Untersuchungen zu Liebesdarstellungen in Philosophie, Religion und Kunst. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2009). Allerdings scheint die Grunddichotomie aus christlich-apologetischen Gründen heraus offenbar weiterhin Bestand zu haben, weil nur so die kolportierte Einzigartigkeit der christlichen caritas herausgestellt werden kann (etwa Edith Düsing. »Geist, Eros und Agape: Eine histo­ risch-systematische Problemskizze«. In: ibid. 7–40; bes. 8 und 30–40). Diese christ­ lich-theologische Grundhaltung scheint allerdings einen unvoreingenommenen Blick auf Proklos wenigstens zu erschweren. Dass ἔρως und ἀγαπή der Sache nach auch bei Proklos eine Einheit bilden, soll hier dokumentiert werden. Beachtet werden sollte diesbezüglich auch, dass Dimitrios Vasilakis die caritative Seite von Sokrates als »gött­ licher Liebhaber« des Alkibiades bemerkt hat (»Platonic Eros, Moral Egoism, and Proclus«. In: David D. Butorac und Danielle A. Layne (Hg). Proclus and his Legacy. Berlin/Boston: Walter de Gruyter, 2017, 45–52. Vgl. Eros in Neoplatonism and its 462

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II) Die neuplatonische »Henophanie«

caritative »Vorsehung« andererseits nicht widersprechen, sondern vielmehr eine Einheit bilden, kann auch wie folgt demonstriert wer­ den: (i) Den Henaden, deren Tat die fürsorglich tragende »Vorsehung« ist, eignet selber das henologisches Streben »durch das Eine in ihnen«.465 Die Götter des Proklischen Pantheon streben also ›zum‹ Absoluten – oder genauer: sie umtanzen ›es‹ im manischen Reigen. Insofern die Henaden jenseits des Geistes sind, für den es ja auch bes­ ser ist, trunken zu sein,466 entspricht die göttliche »Besessenheit« oder »Begeisterung« ihrer ›Stufe‹. Jenseits des Geistes ist keine Selbst­ kontrolle mehr, dort ist göttlicher Wahnsinn.467 Man kann daher davon ausgehen, dass Henaden ewiges und unaufhaltsames Rasen sind. Wenn die Henaden ›zum‹ Einen streben, das Streben in seiner höchsten (Proto-)›Form‹ aber Wahnsinn ist, dann ist das Streben der Henaden Rasen und der begeisterte Tanz ›um‹ das Absolute: Sie selber tanzen den nie abbrechenden manischen, absoluten Reigen.468 (ii) Wenn die πρόνοια kein Wissen im Sinne des absoluten Geistes, sondern »verborgene Erkenntnisweise« (γνῶσις κρύφιος) ist, dann ist sie doch nichts anderes als transzendentes Nichtwissen, fällt also erneut mit dem transzendierenden Negieren aller positi­ ven Bestimmungen notwendig zusammen: Mit diesem ist sie der Evidenzpunkt, durch den sich höchstes Wissen, das Wissen vom Nicht-Wissen-Können, generiert. Das Wesen der πρόνοια ist also – wie das henologische Streben – ›nur‹ negativ ›gegeben‹ und lässt sich, streng genommen, nicht im Denken umfassen und einhegen oder dominieren und daher nicht positiv beschreiben.

Reception in Christian Philosophy, 78–83). Dionysios Ps.-Areopagitês wird Proklos’ Überlegungen aufgreifen. Er modifiziert Proklos’ Konzept fürsorglicher Liebe freilich, indem er sie auf das Absolute selber überträgt. Gleichwohl erfüllt die Liebe bei Proklos und bei Dionysios auch unabhängig ihrer (hierarchischen) Zuordnung durchaus die­ selbe systematische Funktion. S. dazu § 26. 465 In Parm. VII p. 512, lin. 23–24. 466 Vgl. De prov. § 19, lin. 17–21. Auch für den absoluten Geist ist es, wie gesehen, besser trunken als wissend zu sein. 467 Etwa In Remp. I p. 84, lin. 12–17. 468 Wir können diesen Tanz mit den Henaden vollziehen (De prov. § 34, lin. 31–33 [gr. Version ibid. lin. 31–32]. Vgl. In Parm. VI p. 1072, lin. 1–11 und In Remp. I 180– 186.) In diesem Kontext ist wohl auch In Alc. p. 33, lin. 19–21 zu verstehen, insofern die dort genannte »Quelle alles Schönen«, die umtanzt wird, wohl nichts anderes als das Absolute ist. Zum Topos des Tanzes s. Beierwaltes: Proklos, 212–217.

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2) Proklos und das »Eine in uns«

(iii) Umgekehrt verwandelt sich der scheinbar bloß auf die eigene Erfüllung abzielende henologische ἔρως jenseits aller Gegensätze, also im Transzendieren, in die fürsorgliche Liebe. Denn wenn das henologische Streben und das absolute Negieren von Proklos, wie gesehen, Sein und Denken bedingen, dann lassen sie sich natürlich auch als caritative Liebe feiern, als fürsorglich tragende ›Instanz‹. Der ἔρως wird also bei Proklos – wie schon bei Plotin – ganz offen­ sichtlich henologisch überhöht und bekommt gerade so, wie schon mehrfach angedeutet wurde, fürsorglich liebenden Charakter;469 und zwar unbeschadet der Tatsache, dass er selber nicht in das Absolute übergegangen ist, weiterhin und unaustilgbar henologisch strebt und daher Inbegriff des Übergehens und Vermittelns ist.470 Dafür, dass der ἔρως deutlich in die Nähe pronoetischer Kraft gerückt wird, spre­ chen auch folgende Stellen: (i) Der ἔρως, der »pronoetische δαίμων«, wie man ihn auch bezeichnen könnte (In Alc. p. 41, lin. 21–24), ist ein verborgener ›Führer‹ unseres ganzen Lebens (etwa In Alc. p. 37, lin. 19 – p. 42, lin. 4). Er trägt damit unser Tun; wobei wir natürlich gefordert sind, ihn auch als ›Führer‹ zu entdecken und zu akzep­ tieren. (ii) In Sokrates wiederum, dem »göttlichen Liebhaber« (θεῖος ἐραστὴς; In Alc. p. 44, lin. 20), ist die »Liebe fürsorglich« (ἔρως προνοητικός; In Alc. p. 45, lin. 4). (iii) Interessanterweise wird ἔρως ferner als »einheitsförmig und verborgen« bezeichnet, womit die Liebe mit den Göttern, den Henaden also, schon rein philologisch verknüpft wird (ἑνοειδῆ καὶ κρύφιον; In Alc. p. 31, lin. 9–14; bes. lin. 10–11). (iv) Der pronoetische ἔρως ist eine selber ungebrochene Kraft, die allem präsent ist und durch die alles ver­ bunden, vereinheitlicht und zusammengehalten wird (In Alc. p. 53, lin. 19 – p. 56, lin. 4). (v) Auf die Einheit von Fürsorge und ἔρως verweist schließlich auch In Alc. p. 233, lin. 2 – p. 234, lin. 6; bes. p. 233, lin. 22 – 234, lin. 1: »Sie [scil. der allsehende Zeus und der ἁβρὸς ἔρως] sind also aufeinander wechselseitig bezogen, oder eher: mitein­ ander geeint«. Der hier im Hintergrund liegende Kontext ist die Frage nach dem Grund der Freundschaft, wobei genauer nach dem Gott (oder noch genauer: nach der Henade) gefragt wird, der Freundschaft bedingt. Als mögliche Bedingungen werden Zeus und ἔρως genannt, wobei Proklos beide vereint und so die providentielle Funktion des ἔρως ganz unzweideutig betont: Die Einheit von ἔρως und ἀγαπή, die nach der allgemeinen Forschungsmeinung erst von christlichen Denkern – etwa von Dionysios (§ 24–26) – synthetisiert wurden, ist also schon deutlich im paganen Neuplatonismus angelegt. (vi) Es ist schließlich noch einmal darauf hinzuweisen, dass die Henaden niedere Hierarchien »lieben«, wobei Proklos hierbei den ἔρως-Begriff verwendet. Einerseits kommt dadurch der pronoetische Sinn des ἔρως zutage. Andererseits verweist der ἔρως-Begriff auch auf das henologische Streben der Henaden (s. § 23). 470 Vor diesem Hintergrund lässt sich der praktische Charakter der Proklischen Henologie aufzeigen. Hierbei geht es aber nicht um die Einung, sondern um die Grundlegung einer vita activa durch die »Vorsehung«. Für Proklos ist Sokrates als »göttlicher Liebhaber« der wahrhaft Liebende, weil er sich fürsorglich dem Geliebten zuwendet. Er ist die Verkörperung der aus Einsicht erwachsenen vita activa. Vgl. dazu Fichtes Wendung der höchsten Einsicht hin zum Handeln (§ 48). 469

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II) Die neuplatonische »Henophanie«

Bei dieser Konvergenz hinaufstrebender und fürsorglicher Lie­ besbegriffe wird neben der Prinzipfunktion ein weiterer Aspekt betont, der bei genauer Betrachtung zur Beantwortung der Frage beiträgt, wie Sein und Denken durch das Fundament prinzipiiert werden. Aus der bisherigen Diskussion dürfte sowohl im Hinblick auf die henologischen als auch die caritativen Begriffe unzweifelhaft deren negativ-transzendente ›Seinsweise‹ aufgedeckt worden sein: Im Hinblick auf die πρόνοια ist in diesem Zusammenhang noch einmal und in besonderer Weise auf den Begriff der ἀπειροδυναμία hinzuweisen, die, wie bereits gezeigt wurde, als unendliche Kraft verstanden werden muss. Besonders hervorzuheben ist hierbei frei­ lich die Unendlichkeit dieser höchsten Wirkmacht: Denn sie bleibt unendlich, vor dem Geist und geht nicht in einen positiven Zustand über. Die Ur-δύναμις wird also nicht in konkrete Verwirklichungen umgewandelt, sondern sie bleibt die transzendente Bedingung für jede Verwirklichung. Sie ist also stets und unhintergehbar nicht-kon­ kret ›gegeben‹, gerade weil sie allen konkreten Verwirklichungen als deren Bedingung immer zugrundeliegt. Gerade vor diesem Hintergrund kommt Proklos’ Lichtbegriff eine entscheidende Bedeutung zu.471 In der Theologia Platonis identi­ fiziert er das Licht mit den Henaden, deren tragende Kraft, wie soeben gesehen, nicht-konkret gegeben sein kann.472 Interessanterweise wird dieses nicht-konkrete ›Wesen‹ gerade durch den Lichtbegriff erhellt: Das Licht ist die selber nicht-konkret ›gegebene‹ Kraft, durch die alles Seiende überhaupt erst konturiert wird. Das Licht bleibt als Bedingung immer nicht-konkret ›gegeben‹, wird aber gewisserma­ ßen ›aufgebrochen‹, sodass es zur bunten Vielheit des Ideenkosmos kommt. Das eine Licht ist metaphysisches Scheinen, das alles Seiende und alles Denken überhaupt erst konturiert bzw. konkretisiert. Es ist die Bedingung der Möglichkeit der Aktualisierung von Seiendem und konkreten Denkakten. Und genau in diesem Sinne wird alles durch das Scheinen des Lichtes, durch die Lichtfülle, zur Erscheinung gebracht; die Proklische Henologie offenbart sich also durch das selber nichtkonkrete, hintergründige, alles konturierende Licht als Henophanie. Auf diesem Hintergrund kann eine ganze Reihe an Begriffen genannt werden, die diese Fundierungsfunktion noch weiter erhellt: 471 Schon Werner Beierwaltes verknüpft das Licht mit der πρόνοια (Denken des Einen, 233). 472 Theol. Plat. III c. 4, p. 16, lin. 15 – p. 17, lin. 12.

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πρόνοια und henologisches Streben bzw. transzendierendes Negieren können auch als Ur-›Raum‹, als fundierender Hintergrund, als Distink­ tionsdimension oder – phänomenologisch gesprochen – als tragender Horizont beschrieben werden.473 Denn die jeweilige Singularität einer Bestimmung und ihre Differenz zu anderen Bestimmungen werden auf dem Hintergrund eines proto-logischen – oder besser: über-logi­ schen – Ur-›Raumes‹ erfasst. Da dem transzendierenden Negieren und der »Vorsehung« produktive Kraft zugestanden wird, lassen sich also Negieren und pronoetische Urkraft zum tragenden Horizont aller Konkretisierungen erheben. Man darf sogar konstatieren, dass Sein und Denken einen sich selber aufspannenden pronoetischen Ur-›Raum‹ voraussetzen, in dem sie sich entfalten können. Und dieser sich aufspannende Ur-›Raum‹ ist nichts anderes als das henologische Stre­ ben, dessen transzendente ›Vorgängigkeit‹ vorzugsweise im Gren­ zen-überschreitenden Akt des Negierens zum Ausdruck gebracht wird: Aus der »Indefinitheit« – oder eher: Überbestimmtheit – des henologischen Strebens heraus, das uns fürsorglich trägt, werden alle concreta überhaupt erst entfaltbar.474Der alles Sein und Denken 473 Der Gedanke eines hintergründigen Ur-›Raumes‹, worin sich Sein und Denken überhaupt erst entfalten können, wird auch in den folgenden Kapiteln im Zentrum der Diskussion stehen (Kap. III und IV). Proklos hat diesen Gedanken – genauso wie Plotin vor ihm – präfiguriert. Proklos selber scheint sogar – deutlich radikaler als Plotin – eine hypernoetische, alles andere bedingende Dimension gewissermaßen hypostasieren zu wollen. Diese Dimension muss sich aber einem solchen fixierenden Versuch notwendig entziehen. Denn insofern sie die Kategorien von Identität und Differenz bereits überschreitet, kann sie nicht durch diese bestimmt und objektiviert werden. – Proklos und Plotin greifen mit ihren Konzepten einer Distinktionsdimen­ sion offensichtlich auf Platons Politeia – genauer: das Sonnengleichnis – zurück, worin das Licht bereits als nicht-konkret gegebenes Prinzip inauguriert wird. Man hat diesbezüglich zu beachten, dass Platon das Licht nicht einfach mit seiner Quelle, dem Gott Helios bzw. der Idee des Guten, identifiziert. Proklos wiederum betont die bleibende Transzendenz der Quelle des Lichts gegenüber diesem ausdrücklich (Theol. Plat. II c. 7, p. 48, lin. 9–22). 474 Wie Wolfram Hogrebe richtig bemerkt, ist der ἔρως selber indefinit – und so Grund der Reflexion (Echo des Nichtwissens, 133, Anm. 72). Er ist selber rein, nichtkonkret und gerade so der Hintergrund, vor dem sich alles Konkrete ereignet. Des­ wegen ist der ἔρως indefinit, aber freilich so, dass er nicht die bloße Möglichkeit ist. Er ist nicht einfach ›noch nicht‹ realisiert, sondern er meint die ursprüngliche Kraft, durch die alles Seiende seine Möglichkeit aktualisiert. Wie wir bereits gesehen hatten, ist das Hinausweisen selber nicht positiv bestimmt, sondern nur negativ ›bestimm­ bar‹, grenz-überschreitend, und daher nicht bei einer bestimmten Position angekom­ men. Aufgrund der Indefinitheit des ἔρως ist er universal präsent, erscheint aber an den Bestimmungen je anders. Diese Erscheinungsformen dürfen aber sein ihm eige­

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tragende Horizont spannt sich durch sich selber im henologischen Streben auf. Wir können also spekulieren, dass es erst durch das Hin­ spannen zur Entfaltung von Sein und zum Erfassen, ja zur Bildung von Begriffen kommen kann.475 Wenn also überhaupt etwas zur Erschei­ nung kommen soll, dann nur auf dem Hintergrund des Ur-›Raumes‹, der freilich von der Tat des Aufspannens nicht getrennt ist, ja mit ihm eine Einheit bildet. Der Ur-›Raum‹ ist, so können wir es auch wenden, das »anonyme Reglement«, das unsere »Explikationsbemü­ hungen« – gerade weil er horizonthaftes, ›hintergründiges‹ Streben ist – »dirigiert«.476 Dieser Ur-›Raum‹ ist freilich, so muss betont werden, durch eine gewisse ›Differenz‹ zu seiner angenommenen ›Quelle‹, also dem Absoluten, geprägt; denn das Streben ist nicht das Absolute. Das ursprüngliche Streben nehmen wir also bei jedem einzelnen Denkakt in Anspruch, vollziehen es also vorbewusst schon immer. Dieses Streben aber ist für kein Begreifen rein zu halten.477 Auch wenn wir das henologische Streben aufgedeckt, ja erweckt und damit vollzogen haben, transformiert es sich selbst nicht in eine positiv wissbare Enti­ tät. Vielmehr ist es die Bedingung aller Begriffskonstruktionen und sogar der reinen Vernunftbegriffe, also der Ideen. Bei genauer Analyse wird daher erkennbar, dass die ursprüngliche Distinktionsdimension, die selbst nur negativ beschrieben werden kann, gewissermaßen ›auf­ bricht‹, ohne dabei aber ihre unaustilgbare Kontinuität zu verlieren. Das farblose, nicht fassbare Licht verliert seine Kontinuität nicht, bricht sich aber in die vielen Erscheinungen.478 Auf dieser Grundlage ist schließlich und mit Verve vor einem drohenden Missverständnis zu warnen. Zwar wertet Proklos das »Eine in uns« als henologische Liebe und damit – wie schon Plotin den »liebenden Geist« – als die höchste »Spitze« eben gerade auch unseres Denkens, in der dieses sich über seine eigenen Grenzen hinausspannt. Diese »Spitze« – Proklos kann freilich auch von dem

nes Wesen nicht verdecken. Daher darf von dem einen Negieren gesprochen werden, dem Einheitsmoment aller erscheinenden Akte. Zur Erscheinung s. § 23. 475 Wenn das Ideenwissen durch das Hinspannen überhaupt erst möglich wird, dann auch das Denken jeder einzelnen Idee. Also ist jeder Begriff qua intelligible Größe durch es getragen. 476 Hogrebe: Echo des Nichtwissens, 338. 477 S. dazu auch meine Ausführungen zur Erscheinung in § 12 und § 23. 478 Vgl. Theol. Plat. III c. 4, p. 16, lin. 15 – p. 17, lin. 12 mit In Parm. IV p. 845, lin. 23– 25, worin Proklos die Teilhabe an Gründen mit einer Brechung (ἀνάκλασις) vergleicht.

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»Zentrum« des Intelligiblen reden479 – liegt aber jeder Form, uns und unserem Denken, ja dem Denken schlechthin, stets ›im Rücken‹: Sie ist formtranszendent.480 Deshalb – und nur deshalb – können wir konstatieren, dass wir im Kern selber die ›raum‹-öffnende Tat sind. Genau genommen ›sind‹ wir481 diese Tätigkeit zwar im Kern, aber sie ist doch nicht etwas, was wir im Denken einhegen, umgreifen oder dominieren können, denn dieses Aufbrechen ist höher denn alles Wis­ sen und trägt es. Denn das henologische Streben liegt – wie schon ausgeführt wurde – ›hinter‹ allen anderen, also konkreten, Strebefor­ men verborgen, ist aber nach Proklos allen Dingen ganz natürlich immanent.

§ 23) Die Henadendimension und das Erscheinen des nichterscheinenden Scheinens Mit der Entdeckung des konkrete Differenz bedingenden Ur-›Rau­ mes‹, der niemals konkret vorliegt, wird klar, dass Proklos das heno­ logische Streben in bedingungsloser Reinheit fasst. Auch das Streben, Theol. Plat. III c. 4, p. 14, lin. 14. Transzendenz meint daher – wenigstens in dem vorliegenden Kontext – stets Formtranszendenz. Deutlich lässt sich dies daran zeigen, dass die höchsten Gattungen negiert und so transzendiert werden. Werden aber Identität und Differenz negiert, so kann die Differenz nicht mehr als Kategorie zur Beurteilung des Verhältnisses von Prinzip und Prinzipiat genutzt werden: Die Ur-Dimension ist also von uns nicht mehr kategorial unterscheidbar. Genausowenig kann sie aber mit uns identifiziert werden. Durch die Überwindung dieser Kategorien kommt es zu einer intimen Präsenz des Prinzips im Hinblick auf seine Prinzipiate. Vgl. dazu noch einmal In Parm. VII p. 1177, lin. 22–24: »τὸ ἓν οὐκ ἔστιν ἑαυτοῦ ἕτερον, τὸ ἓν οὐκ ἔστι τῶν ἄλλων ἕτερον, τὸ ἓν οὐκ ἔστιν ἑαυτῷ ταὐτόν, τὸ ἓν οὐκ ἔστι τοῖς ἄλλοις ταὐτόν.« Diese Aussage lässt sich pro­ blemlos auf den hier thematisierten Ur-Horizont anwenden. Vgl. dazu § 23, Anm. 496 mit Verweis auf In Parm. VII p. 509. Es sollte hierbei auch beachtet werden, dass diese von Proklos verwendeten transzendierenden Negationen im Hinblick auf das Absolute noch einmal negiert werden. 481 Im Kern bzw. in unserer Spitze ›sind‹ wir der Horizont bzw. das Streben, das den Horizont eröffnet. Der Form nach sind wir aber dieser Horizont nicht, denn dieser transzendiert jede Form, eben diejenige von Sein und Denken. Das Konzept der Transzendenz hilft hier, die Präsenz bzw. Immanenz des tragenden Fundamentes zu verstehen: Es ist kraft der Negation von Differenz und Identität nicht mehr von uns verschieden, aber doch ergibt sich daraus keine Identität von Fundament und Seiendem. Es ist also intim präsent und zugleich, weil es alle Form überschreitet, dem ›zupackenden‹ Denken und Sagen entzogen. 479

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so konnten wir feststellen, ist selber nur indefinit, also nur negativ, ›gegeben‹: Es ist dergestalt nicht übergegangen; es ist auf dem Weg – oder besser: es ist selber nichts anderes als Weg. Und weil es nicht an Affirmationen oder Wesenheiten hängt, sondern umgekehrt diese bedingt, lässt sich auch von einem reinen Relieren sprechen. Diesem reinen Relieren hat Proklos innerhalb seiner Metaphysik eine eigene oder eigenständige ›Position‹ zuerkannt, es gewissermaßen hypostasiert und so die Dimension eines actus purus geschaffen. The­ matisiert hat er diese Tätigkeit, die – so unbrauchbar topographische Darstellungen in diesem Fall auch sein mögen – ›zwischen‹ dem Absoluten und dem Sein anzusiedeln ist, in seiner Henadenlehre.482 Die Henaden, die höchsten Götter des Proklischen Pantheon, sind dem Einen »sehr ähnlich«483 und daher nicht mehr in den Formen direkter Aussagen zugänglich. Gleichwohl sind sie nicht das Absolute selber,484 aber doch »überseiend« bzw. »überwesentlich«, »überlebendig« und »übergeistig«: Sie transzendieren die Grundtrias von Sein, Leben und Denken.485Daher können sie nicht positiv, 482 Nach Gerd van Riel bilden die Henaden keine eigene Hypostase (»The One, the Henads, and the Principles«, 89–94). Seine Einschätzung ist völlig korrekt, weil die Henaden selber verborgen sind und nur negativ ›bestehen‹. Sie können daher nicht in Grenzen eingeschlossen werden: Da sie jede Differenz- und Grenzbestim­ mung transzendieren, bilden sie keine vom Seienden unterscheidbare Hierarchie. Gleichwohl sind sie nicht seiend. Vielmehr sind sie, insofern man sie ›an ihnen selbst‹ betrachtet, absolute, ungebrochen kontinuierlich wirkende δύναμις. Diese δύναμις ›ist‹ ihre spezifische ›Seins‹-weise. Insofern sie die eine überbestimmte Kraft sind, sind sie, genau wie die produzierenden Negationen, »Mütter« aller positiven Bestimmungen. Die transzendierend-produzierenden Negationen und die Henaden sollten also in dieser Hinsicht nicht voneinander unterschieden werden. Vielmehr bilden sie eine Einheit. – Sehr viel später wird Meister Eckhart den Unterschied, den Gott gegenüber den Kreaturen auszeichnet, nicht als Differenz, sondern als Ununterschiedenheit werten (Beierwaltes: Identität und Differenz, 97–104). Ähnlich können wir bei den Henaden vorgehen: Ihr ihnen eigenes ›Sein‹ besteht darin, alles Seiende zu transzendieren – sie ›sind‹ der Transzendierungsakt selber. 483 Theol. Plat. III c. 3, p. 12, lin. 23. 484 Etwa Theol. Plat. II c. 12, p. 73, lin. 21–23. – Falsch ist demgegenüber die Deutung Radek Chlups, weil er davon ausgeht, dass die Henaden im Einen selber bestünden (Chlup: Proclus, 114). Für diese Annahme wurde er völlig zu Recht von Friedemann Drews (Teilhabe-Ontologie, 158) und Ilinca Tanaseanu-Döbler (»›Alles, was am Einen teilhat, ist Eins und Nicht-Eins‹«, 247, Anm. 11) kritisiert. 485 St. theol. prop. 115. Vgl. De dec. dub. § 65, lin. 1 und In Remp. I p. 201, lin. 25: »τοῦ νοῦ θειότερον«. Sie sind also offensichtlich keine Seienden, sondern, wie es Veronika Roth durchaus passend ausgedrückt hat, »Quasi-Entitäten« (Roth: Das ewige Nun, 90).

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sondern eigentlich nur negativ ›bestimmt‹ werden.486 Sie sind dem­ nach verborgen,487 womit sie mit der Spur des Einen, dem Negie­ ren, dem indefiniten Streben etc. konvergieren müssen, denn diese sind genauso verborgen. Zwar lassen sich ihre jeweiligen »Eigen­ tümlichkeiten« wenigstens indirekt, also auf der Grundlage ihrer Wirkungen im Horizont ihrer Erscheinungen, ›erkennen‹ – oder eher: nachkonstruieren.488 Gleichwohl bilden die Henaden offenbar die eine negative Grunddimension, auf deren Hintergrund sich alles Seiende und alles Denken selber entfalten kann.489 Erneut zeigt sich im Hinblick auf die Henadendimension die Einheit von caritativer und anagogischer Liebe: (i) Proklos deutet sie im Hinblick auf ihre prinzipiierende Funk­ tion, wie wir im Rahmen der »Vorsehung« sehen konnten, als Tätig­ keit, wobei er sie vor allem als pro-noetisches ›Vordurchdenken‹ der Seinstotalität ›bestimmt‹. Darin üben die Henaden ihre produktive Macht aus: Dergestalt sind sie höchste δύναμις,490 ja die eine unend­ liche Kraft schlechthin.491 Diese Kraft wird von Proklos wiederum Cürsgen: Henologie und Ontologie, 282, Anm. 1195. Die »ganze Menge« der Henaden ist »verborgen« (St. theol. prop. 162. S. ferner ibid. prop. 121, p. 106, lin. 10–12 und lin. 28–29). 488 St. theol. prop. 118 und prop. 123, p. 110, lin. 4–9. Die jeweilige »Eigentümlich­ keit« (ἰδιότητες) der Henaden rekonstruieren wir. Sie werden von den Wesenheiten des Seienden deduziert, die wiederum von den Henaden abhängen. Sie sind eigentlich in differenzloser Reinheit völlig eins bzw. ununterschieden (van Riel: »Les hénades de Proclus«, 417 und »The One, the Henads, and the Principles«). 489 Sie können an ihnen selber nicht differenziert werden, wie, um es noch einmal zu betonen, vor allem Gerd van Riel völlig zu Recht pointiert hat. Freilich sind die transzendierenden Negationen und die Henaden im grammatischen Plural anzutref­ fen, aber sie können keine aktuale Vielheit sein, da diese immer positiv bestimmt und umgrenzt ist. Die Negations- bzw. Henadendimension ist also nur negativ ›gegeben‹. Außerdem ist sie als Negation der Vielheit nichts anderes als Einheit, wobei Proklos – bes. in der Stoicheiôsis – nicht müde wird die »Einförmigkeit« der Henaden zu betonen. 490 Theol. Plat. III c. 24, p. 86, lin. 7–11: »αἱ γὰρ τῶν θεῶν δυνάμεις ὑπερούσιοί εἰσιν αὐταῖς συνυπάρχουσαι ταῖς ἑνάσι τῶν θεῶν, καὶ διὰ ταύτας οἱ θεοὶ γεννητικοὶ τῶν ὄντων εἰσίν. ὀρθῶς οὖν καὶ ἡ ποίησις πανταχοῦ τὰ πάντα δύνασθαί φησι τοὺς θεούς.« 491 Die Henaden sind als unendliche Kräfte die Unendlichkeit schlechthin, als diese aber zugleich Grenze. Das »Ur-Gegensatzpaar« von Grenze und Unendlichkeit koinzidiert in der Henadendimension ununterschieden, also kraft ihrer Negativität. Denn die Henaden sind als henologisches Streben die letzte Grenze aller Seienden als Seiende und als fürsorgende Mächte die unerschöpfliche Macht, durch die alle Seinsentfaltungen getragen werden. Vgl. van Riel: »Les hénades de Proclus«, 417– 432 und ferner Drews: Teilhabe-Ontologie, 121–133. Vor diesem Hintergrund ist die Behauptung Jonathan Greigs, Proklos’ henologischer Prinzipientheorie inhäriere eine 486

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vorzugsweise als πρόνοια beschrieben. Aus diesem Grund sind sie auch – und anders als das Absolute – partizipierbar,492 denn sie sind das Fundament von Sein, Leben und Denken. (ii) Sie sind aber zugleich nichts anderes als reines henologisches Streben oder reine henologische Liebe. Ihre ›Seinsweise‹ wird auch noch einmal genauer bestimmt – und zwar, wie bereits gezeigt, als reine »Begeisterung«, als manisches Rasen, in dem sie das Absolute umtanzen. Sie sind nichts anderes als vollkommene, ja manische henologische Ausrichtung. In der Henadendimension zeigt sich also die Einheit von heno­ logischem Streben und fürsorglichem Tragen auf markante Weise. Proklos kommt es hiermit, also indem er die Differenzen übersteigt und eine Einheit postuliert, darauf an, Vollzugsakte zu ent-kategoria­ lisieren und zu ent-ontologisieren, um diese Akte als reine Tätigkeit genau einer ›Ebene‹ zuzuordnen, die Sein und Denken transzendiert. Darin ist ihm später Eriugena – über die Vermittlung von Dionysios Ps.-Areopagitês – gefolgt, insofern dieser an einer Möglichkeit inter­ essiert war, die Tätigkeit des Absoluten zu illustrieren, aber ohne dieses dabei zu ontologisieren und mit konkreten Bestimmungen zu belasten.493 Die Henaden bilden demnach eine zunächst merkwürdig anmutende Zwischenwelt, avancieren aber dadurch zum metaphysi­ schen Bindeglied schlechthin: Dergestalt sollen sie offenbar zwischen der positiv gesetzten Bestimmungstotalität und dem Absoluten und vice versa vermitteln.494 Dabei prinzipiieren sie einerseits alle Positi­ »ungelöste Spannung [unresolved tension]«, wohl eher verfehlt (The First Principle in Late Neoplatonism, 216). 492 Etwa St. theol. prop. 116. 493 S. § 30. Vgl. auch § 26. Konkrete Bestimmungen entziehen sich keineswegs dem Denken, das Absolute hingegen entzieht sich diesem vollständig. Denken wir nun aber das Absolute anhand von Bestimmungen, die zwangsläufig konkret sein müssen, um überhaupt denkbar zu sein, dann diminuieren wir die Transzendenz des Absoluten und drohen sogar, es durch unser Denken zu dominieren. 494 Etwa Theol. Plat. III c. 4, p. 17, lin. 10–12. Proklos beschreibt die Henaden als teilnehmbar, sie sind für ihn also μετεχόμενα, während das Absolute unteilnehmbar (ἀμέθεκτος) ist. S. dazu Pieter A. Meijer. »Participation in Henads and Monads in Proclus’ Theologia Platonica III, Chs. 1–6«. In: Egbert P. Bos und Pieter A. Meijer (Hg). On Proclus and his Influence in Medieval Philosophy. Leiden/New York/Köln: Brill, 1992, 65–87. Der Vorzug an Meijers Darstellung ist, dass er die Henaden in das Teilhabe- und damit in das metaphysische Begründungsschema integriert, sie also nicht isoliert betrachtet. Vor diesem Hintergrund plädiere ich dafür, sie mit dem transzendierenden Negieren zu identifizieren, um sie so als Inbegriff der negativen Prinzipientheorie des Scholarchen begreifen zu können.

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vitäten und leiten gleichzeitig denkende Wesen an, das Absolute zu erfahren. Als Vermittler sind sie selber reines Übergehen, das nicht positiv gefasst werden kann. Und gerade aufgrund ihrer Negativität und Un-endlichkeit bilden sie die Grenze des Fassungsvermögens schlechthin. Aus diesem Grund verknüpft sie Proklos auch mit dem Licht, also dem Scheinen, des Einen: Reines Licht ist reine Luzidi­ tät oder Durchsichtigkeit und als solche nicht konkret. Hier aber müssen wir noch einmal präzisieren: Die Henaden, ihr Scheinen und ihre Kräfte sind sicherlich nicht in ihrer Reinheit festzuhalten oder begreifend zu umfassen und so manifestieren sie sich nur an konkreten Bestimmungen und durch bestimmte Negationen. Jeder Bestimmung entspricht eine bestimmte Negation. Eine transzendie­ rende Negation einer konkreten Bestimmung ist die Illustration des Scheinens. Dabei lässt sich folgende Beobachtung machen: Jede transzendierende Negation ist durchaus ›konkret‹, negiert sie doch eine bestimmte Bestimmung. Wenn Proklos aber das Negieren, wie gesehen, auch in seiner Reinheit postulieren kann, dann muss letztlich von dieser Konkretisierung abgesehen werden. Konkrete transzen­ dierende Negationen, die mit positiven Bestimmungen verbunden bleiben, avancieren zwar zu konkreten ›Zeigern‹ oder – mit Karl Jaspers gesprochen – »Chiffren« des reinen Scheinens. Hierdurch wird ein an ihm selber Nicht-Erscheinendes, das reine Scheinen, im Wech­ selspiel von Affirmation und Negation punktuell zur Erscheinung gebracht, freilich in dem Bewusstsein, dass die Reinheit des Negierens für denkende Wesen immer nur punktuell aufblitzen – aber nicht (aus)gehalten495 – werden kann.496 Wie oben gezeigt können wir eigentlich nur das henologische Streben, nicht aber das Absolute selber, thematisieren. Was wir Das gleißende Licht des Absoluten würde uns verbrennen oder aufzehren, gingen wir in es dauerhaft ein. Dann wären wir aber durch es nicht im Kosmos angebunden, sondern in es selbst hinein aufgelöst. Proklos hält aber entschieden an der Trennung der ›Hierarchien‹ fest. 496 Dass der opake Horizont – nicht das Absolute selber – zur Erscheinung gebracht wird, lässt sich auch daran ablesen, dass Proklos davon spricht, dass wir das »Eine in uns« benennen, nicht aber das Absolute; In Parm. VII p. 509, lin. 12–13: »Aut non illud uocamus sic nominantes, sed eam que in nobis intelligentiam unius.« Dieser »Name« ist wiederum das »begriffliche Bild der Sache«; ibid. p. 508, lin. 9–11: »Omne autem nomen quod proprie dicitur, natura conuenit nominato et est imago rationalis rei.« Im Bild wird also der opake Horizont, der alles Seiende fürsorglich trägt, zur Erscheinung gebracht. Das Absolute bleibt gegenüber diesem Repräsentationsschema aber transzendent. 495

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also in den Blick bekommen müssen, ist, so können wir es auch wenden, das Scheinen des Absoluten. Wie wir gesehen hatten, folgt aus der vollkommenen Transzendenz des Absoluten, dass wir es nicht abbilden können. Würden wir es abbilden, würden sich unwei­ gerlich Rückschlüsse auf vermeintlich bloß opake Substrukturen des Absoluten ergeben, durch die diese illustriert werden könnten. Die­ sem abbildenden Bildbegriff steht aber Proklos – wie bereits Plotin – skeptisch gegenüber, was sich eindrucksvoll an seiner radikalen Transzendenzkonzeption zeigt. Vor diesem Hintergrund kann man schlussfolgern, dass im Grunde nur das Scheinen des Absoluten thematisiert und im Bild gezeigt oder illustriert wird. Es müssen also zwei Aspekte festgehalten werden: Erstens schei­ tern wir (und das Denken) im Streben, insofern es das Nicht-Ange­ kommen-Sein manifestiert, ›am‹ Absoluten. Gleichwohl sind wir im Streben völlig in der henologischen Ausrichtung, die einerseits in uns »Begeisterung« entzündet und die unüberspringbaren Grenzen des Seins als Seiendes markiert: Zurück bleibt letztlich ein höchstes Wissen, das als wissendes Nichtwissen beschrieben werden kann. Zweitens müssen wir nun aber auch erkennen, dass dieses Nichtwis­ sen, insofern es nichts anderes als das henologische Streben ist, nicht rein gehalten werden kann, auch wenn es stets präsent ist, alles Denken trägt, ja in uns selber aktiv ist. Dieses Nichtwissen – oder genauer: Negieren – blitzt momenthaft auf, wenn wir die absolute Abstraktion vollziehen und für den Moment die »Begeisterung« der Henaden erleben.497 Hier bricht die Einheit von Immanenz und Transzendenz unter dem Primat der Transzendenz durch: Die Henadendimension ist uns immanent und liegt in unserem Zentrum, sodass wir dieser in unserer höchsten Spitze durchaus ›sind‹. Aber gleichwohl ist dieses Zentrum nicht positiv zu denken, liegt also dem Denken und der Genese des höchsten Wissens, das im Wissen um das Nicht-Wissen-Können des Absoluten und um unsere letzte Grenze, ja sogar um die letzte Grenze von Sein und Denken überhaupt, besteht, stets ›im Rücken‹. Und diesen Gedanken von simultaner Transzendenz und Immanenz des uns tragenden Horizontes wird Fichte – freilich in verwandelter Gestalt – sehr viel später in erstaunlicher Analogie zu Plotins und

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De prov. § 19, lin. 17–21.

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Proklos’ Henophanie anhand seines absoluten Liebesbegriffes refor­ mulieren.498 Die Henaden lassen sich also, so können wir abschließend kon­ statieren, problemlos in den Kontext des transzendierenden Negie­ rens einordnen. Sie bilden den einen, in sich dynamisch bewegten – oder: tanzenden – Ur-›Raum‹, der – ›hypostasiert‹ verstanden – nichts anderes ist als actus purus, reiner Akt. Nicht nur nähern sich hier Einheits- und Seinsmetaphysik an, insofern es um den Aufweis eines nicht-konkreten, ungegenständlichen Ur-›Raumes‹ geht, der alles trägt und so alle konkreten Verbindungen bedingt.499 Vor allem zeigt sich nun, dass das »Eine in uns« der Inbegriff der Henaden, des Negierens und Strebens, des liebevollen Tragens und (An-)Lei­ tens ist. In ihm fallen all diese Konzepte, die für sich genommen immer nur bestimmte ›aufsteigende‹ oder ›absteigende‹ Aspekte erhellen können, zusammen. Streng genommen konvergieren daher alle behandelten henologischen Begriffe im »Einen in uns«, also im dem, was in unserer Wesensmitte auf überseiende Weise lebt und strebt.

S. dazu Kap. IV.2. Ob wir nun von Einheit oder Sein, von einer Einheitsmetaphysik oder Seinsme­ taphysik sprechen, ist im Hinblick auf den hier vorgestellten tragenden Horizont schlicht unerheblich. Sicherlich betont die Henologie eher die radikale Transzendenz, wohingegen eine Seinsmetaphysik, insofern sie am reinen Seinsakt interessiert ist, die gründende Aktivität des Absoluten fokussieren kann. Im Hinblick auf die Dimen­ sion des »Einen in uns« fällt aber diese Unterscheidung weg, weil es hier um die eine, in sich geschlossene Ur-Tat geht, die konkretes Sein und konkretes, ideales Den­ ken trägt. Proklos hat also die Synthese von Einheits- und Seinsmetaphysik, wie sie meiner Ansicht nach von Eriugena, Eckhart, Cusanus und Fichte vertreten wird, mit seinem Konzept des »Einen in uns« vorweggenommen. Demnach muss, um es noch einmal zu betonen (§ 4), die ältere Unterscheidung von Josef Koch von Einheitsme­ taphysik als Metaphysik »von oben« einerseits und Seinsmetaphysik als Metaphysik »von unten« andererseits abgewiesen werden (Die Ars coniecturalis des Nikolaus von Kues, 23). Proklos geht gerade nicht thetisch von der »Einheit als dem Erstgegebenen« aus, um aus ihr die Welt zu deduzieren. Die Aussagen von Koch zeugen eher von einem gravierenden Unverständnis für die neuplatonische Tradition. 498

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III) Die christliche Transformation der neuplatonischen »Henophanie«

1) Johannes Eriugena: Das Absolute als in uns wirkende Liebe § 24) Dionysios Pseudo-Areopagitês und die Transformation der neuplatonischen Orthodoxie Das vorliegende Kapitel gilt zwar in der Hauptsache der Metaphysik des irischen Philosophen Johannes Eriugena. Doch bevor wir uns seinem Denken im Hinblick auf unser Thema, den Einheits- und Disjunktionspunkt, widmen, soll zunächst auf eine wichtige Vorbe­ dingung seiner Absolutheitsspekulation eingegangen werden. Diese Vorbedingung ist mit dem Namen Dionysios Pseudo-Areopagitês innig verbunden: Dieser Dionysios war offenbar ein christlicher Den­ ker und ferner, aber das sei nur nebenbei erwähnt, eine ausgesprochen mysteriöse und undurchsichtige Gestalt.500 Nach Jahrzehnten – oder eher: Jahrhunderten – der Forschung steht freilich fest, dass er in erster Linie ein geistiger Schüler von Proklos war.501 Zentrale Aspekte 500 Zur Person und zum Denken dieser Gestalt s. bes. Adolf M. Ritter. Dionys vom Areopag: Beiträge zu Werk und Wirkung eines philosophierenden Christen der Spätan­ tike. Tübingen: Mohr Siebeck, 2018 und Beierwaltes: Platonismus im Christentum, 44–84. Das detaillierte Grundlagenwerk zu Dionysios’ Denken stammt von Ysabel de Andia. Henosis: L’union à Dieu chez Denys l’Aréopagite. Leiden/New York/Köln: Brill, 1996. S. ferner Ysabel de Andia. Denys l’Aréopagite: Tradition et Métamorphoses. Paris: Vrin, 2006, 15–139. 501 Paradigmatisch sei dazu auf das Urteil Werner Beierwaltes’ verwiesen, der sogar die berechtigte Frage stellt, ob Dionysios »[e]in christlicher Proklos« sei (Platonismus im Christentum, 50–51). Vgl. dazu die bahnbrechenden Studien von Hugo Koch (Pseudo-Dionysius Areopagita in seinen Beziehungen zum Neuplatonismus und Myste­ rienwesen: Eine litterarhistorische Untersuchung. Mainz: Kirchheim, 1900) und Joseph Stiglmayr (»Der Neuplatoniker Proklos als Vorlage des sogenannten Dionysius Areo­ pagita in der Lehre vom Übel«. Historisches Jahrbuch 16 (1895), 253–273 und 721– 748). Überhaupt ist das Interesse an dem Verhältnis dieser beiden Denker groß und

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seiner Metaphysik, insbesondere das Transzendenzkonzept, hat Dio­ nysios offenkundig aufgegriffen, dabei aber nicht einfach die Aussa­ gen des Scholarchen wiederholt, sondern originell umgedeutet und christlich transformiert. Dionysios gilt daher – noch vor Augustinus – als zentrale Figur bei der Genese des sog. christlichen Neuplatonismus und als wichtigster Referenzpunkt für die neuplatonische Tradition im Abendland. Seine Transformation und Weitergabe Proklischer Heno- und Noologie sind in ihrer Bedeutung für die nachfolgende Metaphysik kaum zu überschätzen und bedürfen hier keiner weiteren Rechtfertigung.502 Für unsere Thematik sind zwei Aspekte entschei­ dend: (i – § 25) Erstens hat Dionysios die Absolutheitskonzeption Plo­ tins und Proklos dahingehend modifiziert, dass er das Absolute bzw. Gott503 als Akt verstanden wissen wollte. Er wollte Gott nämlich nicht nur als reine, vollkommene transzendente Einheit verstehen, sondern ihm auch Sein, Leben und Denken (u.a.) zuschreiben.504 Es kann kaum ein Zweifel darüber bestehen, dass Dionysios diese Synthese des absoluten Einen (τὸ ἕν) mit dem seienden Einen (τὸ ἓν ὄν) postu­ reißt auch neuerdings nicht ab: S. etwa Ernesto S. Mainoldi. »The Transfiguration of Proclus’ Legacy: Pseudo-Dionysius and the Late Neoplatonic School of Athens«. In: David D. Butorac und Danielle A. Layne (Hg). Proclus and his Legacy. Berlin/ Boston: Walter de Gruyter, 2017, 199–217 und Ben Schomakers. »An unknown Elements of Theology? On Proclus as the Model for the Hierotheos in the Dionysian Corpus«. In: David D. Butorac und Danielle A. Layne (Hg). Proclus and his Legacy. Berlin/Boston: Walter de Gruyter, 2017, 183–197. – Dass Dionysios nach Ernesto S. Moinoldi direkt Damaskios’ radikale Apophatik kritisiere, ist so spekulativ wie interessant. Rein sachlich stünde ein direkter Vergleich dieser beiden Denker ohnehin an. Grundsätzlich wurde die sachliche Nähe des Dionysischen Denkens zu Damaskios’ Henologie freilich schon häufiger betont (s. überblickend Ritter: Dionys vom Areopag, 6). Es besteht aber diesbezüglich nicht unbedingt die Notwendigkeit, Dionysios’ Denken eine größere Nähe zu Damaskios’ als zu Proklos’ Philosophie zu attestieren. Für die vorliegende Untersuchung ist diese Frage auch gar nicht ausschlaggebend. – Ben Schomakers wiederum betont völlig zu Recht das Offensichtliche, nämlich dass Dionysios’ Argumentation, vor allem in De divinis nominibus, stark an Proklos’ Stoicheiôsis orientiert ist, wobei Dionysios aber Proklos’ Grundlage modifiziert. 502 Zur Dionysiosrezeption s. überblickend Andia: Denys l’Aréopagite, 143–323. 503 »Gott« und »Absolutes« können im Hinblick auf Dionysios’ Denken synonym verwendet werden. Der Hintergrund ihrer Synonymie ist Dionysios’ Versuch, einen ganzheitlichen Gottesbegriff zu entwerfen, der Transzendenz, Denken, Reflexivität, Trinität und Prinzipfunktion zusammenbindet. S. dazu die folgenden Ausführungen. 504 Dieser Grundzug der Dionysischen Philosophie, in der das absolute Eine mit dem seienden Einen synthetisiert wird, ist der Forschung allgemein bekannt. Vgl. dazu überblickend Rohstock: Der negative Selbstbezug, 127, Anm. 431.

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liert hat, um Gott als kreative Tätigkeit darstellen zu können. Aller­ dings ist die Synthese, wie wir sogleich sehen werden, durchaus pro­ blematisch und wohl weniger im Sinne der Rückführung aller Mannigfaltigkeit auf absolute Einheit zu verstehen, so wie sie von Plotin, Proklos, Eriugena, Cusanus und Fichte gefordert wurde. (ii – § 26) Zweitens synthetisierte Dionysios die Liebesbegriffe ἔρως und ἀγάπη. Dieses Faktum ist aber für sich betrachtet weniger entscheidend. Dies mag erstaunen, insofern die Vereinigung der Lie­ beskonzepte in der Forschung als eine Kernleistung von Dionysios angesehen wird. Von größerer Bedeutung ist aber, dass er diese Syn­ these – wobei er wiederum die neuplatonische Orthodoxie modifi­ zierte – auf Gott selber übertragen hat. Damit scheint Dionysios eine Absolutheitskonzeption angedacht zu haben, die eigentlich erst von späteren Denkern – vor allem von Eriugena – explizit erarbeitet wurde: Eriugena hat das Absolute als lebendige, alles Seiende für­ sorglich tragende, caritative Ur-Tätigkeit gewertet. Jedenfalls, so möchte ich die These in aller Kürze skizzieren, lassen sich Grundzüge der Theorie des Absoluten in uns in Dionysios’ Œuvre durchaus aus­ machen – und zwar trotz der Interpretationsprobleme, die sein Werk aufgrund seines geradezu hermetischen Charakters immer wieder heraufbeschwört. Grundsätzlich, so lässt sich ohne jede Frage konstatieren, erfährt die in dieser Arbeit in Anschlag gebrachte »Transformation der neu­ platonischen Henophanie« mit Dionysios eine entscheidende Dyna­ mik, durch die es letztlich möglich wurde, das Absolute selber als tragenden Horizont zu verstehen,505 der unbeschadet seiner Trans­ zendenz in uns selber lebt, liebt und wirkt. Dieser Gedanke wurde sodann von Eriugena und Cusanus vollendet. Fichte schließlich hat diesen Gedanken mit erstaunlicher Präzision reformuliert. Die hier zu besprechende christliche Modifikation nimmt also eine entscheidende Schlüsselposition ein.

505 Der Gedanke eines tragenden, selber nicht konkret ›gegebenen‹ Horizontes war schon, wie gezeigt, bei Plotin und Proklos vorhanden (Kap. II), wobei wir freilich auch bis zu Platons Metaphysik zurückgehen können (vgl. Hogrebe: Echo des Nicht­ wissens, 338).

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§ 25) Zu Dionysios’ versuchter Synthese absoluter und seiender Einheit Betrachten wir Dionysios’ Gottesbegriff etwas genauer, so fällt auf, dass er zwei Bedeutungen aufweist. Sie sollen im Folgenden skizziert und aufeinander bezogen werden. (i) Dionysios adaptiert – erstens – die spätantik-neuplatoni­ sche Transzendenzlehre.506 So beschreibt Dionysios das Absolute als vollkommene Transzendenz, über die man im Grunde nicht mehr sprechen könne. In überschwänglichen Wortkaskaden pointiert er die Transzendenz des Absoluten wie folgt: »Die urgöttliche Überwesenheit darf nach dem, was die Übersubstanz der Übergüte ist, niemand aus den Liebhabern der alle Wahrheit über­ steigenden Wahrheit als Wort oder Kraft oder Geist oder Leben oder Wesen preisen, sondern nur als überhoch hinausgerückt über jegliche Beschaffenheit, Bewegung, Leben, Phantasievorstellung, Meinung, Name, Wort, Gedanke, Erkenntnis, Wesen, Stand, Stellung, Einung, Ende, Unendlichkeit, kurz über alles, was ist«.507

Die Seins- und Wesenstranszendenz des Absoluten kulminiert bei Dionysios – ganz im Sinne der zuvor hier vorgestellten Proklischen Henologie – in den radikal anmutenden Aussagen, es sei übergöttlich und übergut. Daraus resultiert bei Dionysios zugleich die Erkennt­ 506 S. bes. Beierwaltes: Identität und Differenz, 55: »Identität und Differenz, Ständig­ keit und Bewegung bestimmen das Wesen Gottes, sofern er der Seiende ist; sofern er jedoch als Über-Sein betrachtet wird, ist er all dies nicht und entspricht so dem proklischen Einen präzis.« Wenn aber Beierwaltes davon spricht, dass Dionysios die Transzendenz sogar noch stärker betone als Proklos (Platonismus im Christentum, 142), so droht er, wie hier darzulegen sein wird, den Sachverhalt zu verzeichnen: Dionysios hat nämlich das Absolute nicht in der kompromisslosen Radikalität eines Proklos fassen können, weil er daran interessiert war, das Absolute als Akt zu denken. 507 De div. nom. I § 5; CD I, p. 117, lin. 5–11: »τὴν μὲν ὑπερουσιότητα τὴν θεαρχικήν, ὅ τι ποτέ ἐστιν ἡ τῆς ὑπεραγαθότητος ὑπερύπαρξις, οὔτε ὡς λόγον ἢ δύναμιν οὔτε ὡς νοῦν ἢ ζωὴν ἢ οὐσίαν ὑμνῆσαι θεμιτὸν οὐδενὶ τῶν, ὅσοι τῆς ὑπὲρ πᾶσαν ἀλήθείας εἰσὶν ἐρασταί, ἀλλ᾽ ὡς πάσης ἕξεως, κινήσεως, ζωῆς, φαντασίας, δόξης, ὀνόματος, λόγου, διανοίας, νοήσεως, οὐσίας, στάσεως, ἱδρύσεως, ἑνώσεως, πέρατος, ἀπειρίας, ἁπάντων, ὅσα ὄντα ἐστίν, ὑπεροχικῶς ἀφῃπαμένην.« Übers. nach Des Heiligen Dionysius Areopagita angeb­ liche Schriften über ›Göttliche Namen‹ – Angeblicher Brief an den Mönch Demophilus. Aus dem Griechischen übersetzt von Joseph Stiglmayr. München: Kösel/Pustet, 1933, 28. Die hier zitierte Übersetzung Joseph Stiglmayrs hat, obwohl sie recht frei gestaltet wurde, einen Vorteil: Man erlangt durch sie einen guten Einblick in die überschwäng­ liche Sprachgewalt des Ps.-Areopagiten.

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nistranszendenz, deren sprachliche Radikalität freilich ihresgleichen sucht: Gott ist nach Dionysios »über alles hinaus entrückt und über­ unerkennbar [ὑπεράγνωστον]«.508 (ii) Anders als Plotin und Proklos beschreibt Dionysios das Absolute – zweitens – analog zur zweiten hypothesis des Platonischen Parmenides, also als seiendes Eines, und mithin im Rahmen der neu­ platonischen Geisthypostase als Viel-Einheit, in der alle intelligiblen Bestimmungen in untrennbarer Einheit vorliegen.509 Wie Werner Beierwaltes bemerkt hat, kann Dionysios die »sophisteischen« und »parmenideischen« Prädikate dem Absoluten zusprechen, wobei Plo­ tin und Proklos diese ausschließlich von ihm negieren.510 Er vereint die höchsten Gattungen als innergöttliche Zentralbestimmungen zu einer Einheit, die unbeschadet ihrer Vielheit in sich Einheit bleibt und sich sogar als Einheit verwirklicht: Als jene Einheit in Vielheit und Differenz ist Gott absoluter Geist, da er sich denkend auf sich selbst (zurück-)bezieht.511 Dies hat für Dionysios offenkundig auch De div. nom. I § 4; CD I, p. 115, lin. 12–13. Vgl. ibid. I § 5; CD I, p. 116, lin. 7–13. De div. nom. V § 8; CD I, p. 188, lin. 4–10. Vgl. ibid. XI § 2; CD I, p. 218, lin. 18 – p. 219, lin. 2 und ibid. V § 7; CD I, p. 185, lin. 17–18. 510 Beierwaltes: Identität und Differenz, 49–55; hier 55. Vgl. dazu Dionysios’ eigene Aussagen De div. nom. IX § 4–9. Vgl. ferner Beierwaltes: Denken des Einen, 211–216. Halfwassen: Plotin und der Neuplatonismus, 168–169. Im Allgemeinen wird in der Forschung daher auch die Meinung vertreten, dass Dionysios Porphyrios (bzw. dem anonymen Parmenideskommentar) näher stehe als Proklos (John M. Dillon. »›Diony­ sius the Areopagite‹«. In: Stephen Gersh (Hg). Interpreting Proclus: From Antiquity to the Renaissance. Cambridge University Press, 2014, 111–124; hier 116. Vgl. Halfwas­ sen: »Sur la limitation du principe de contradiction chez Denys l’Aréopagite«, 46–50 und Auf den Spuren des Einen, 307–314; bes. 314). – Zur Einheit von absoluter und seiender Einheit bei Dionysios in der Forschung s. Rohstock: Der negative Selbstbe­ zug, 123–131. – Die Synthese absoluter und seiender Einheit ist allerdings, nebenbei bemerkt, keine Erfindung von Porphyrios. Schon bei Philon von Alexandrien lässt sie sich beobachten, wie man unschwer an der subtilen Studie von Ze’ev Strauss ablesen kann (Die Aufhellung des Judentums im Platonismus: Zu den jüdisch-platonischen Quellen des Deutschen Idealismus, dargestellt anhand von Hegels Auseinandersetzung mit Philon von Alexandria. Berlin/Boston, 2019). Vielleicht ist sie sogar in Platons Sinne (Constance C. Meinwald. Plato’s Parmenides. Oxford University Press, 1991). 511 De div. nom. XI § 1; CD I, p. 218, lin. 10–12: »οὔτε εἰς ἑαυτὴν εἰσιοῦσα καὶ πολλαπλασιάζουσα ἑαυτὴν ἀπολείπει τὴν ἑαυτῆς ἕνωσιν, ἀλλὰ καὶ πρόεισιν ἐπὶ πάντα ἔνδον ὅλη μένουσα«. Vgl. ibid. V § 2; CD I, p. 196, lin. 12 – p. 197, lin. 2 und I § 7; CD I, p. 120, lin. 2. – Für Dionysios’ Denken ist die Triade μονή-πρόοδος-ἐπιστροφή bestimmend. Beachtenswert ist diesbezüglich eine Studie Christian Schäfers (The Philosophy of Dionysius the Areopagite. An Introduction to the Structure and the Content of the Treatise ›On the Divine Names‹. Leiden: Brill, 2006. Vgl. »Μονή, πρόοδος und 508

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den Vorteil, die Trinität explizieren zu können.512 Die innergöttli­ chen Momente sind für ihn »ἡνωμένα τῇ διακρίσει καὶ τῇ ἑνώσει διακεκριμένα«.513 Jedes göttliche Moment zeichnet sich durch eine nur diesem Moment eigene Distinktion aus. Die Namen, die sich speziell auf den Unterschied von Vater, Sohn und Heiligem Geist beziehen, nennt Dionysios daher auch »τὰ διακεκριμένα«.514 Die διάκρισις ist für Dionysios – und ganz im Sinne der Plotinischen wie Proklischen Noologie – freilich kein Gegenbegriff zur Einheit, sondern korreliert mit der Einheit, sodass Gott in und trotz seiner inneren Differenz eine Einheit bleibt. Damit kommt es Dionysios auf eine Einheit an, in der die jeweiligen Eigenheiten der göttlichen Momente nicht vermischt werden.515 Er hat, so scheint es wenigstens auf den ersten Blick, die für das christliche Trinitätsdogma essenzielle distinctio realis vertreten. Auf dem Hintergrund dieser zwei Aspekte lässt sich nun feststel­ len, dass Dionysios sich offenbar an einer Synthese affirmativer und negativer Theologie im Hinblick auf den einen Gott versucht hat – und zwar zu dem Zweck, ihn sowohl als vollkommene Transzendenz als auch als in sich bewegte Einheit zu fassen. Das Resultat dieser versuchten Synthese von absolutem und seiendem Einem ist aber gleichwohl ein metaphysisches Konstrukt, dass die Paradoxie des ἐπιστροφή in der Philosophie des Proklos und des Areopagiten Dionysius«. In: Mat­ thias Perkams und Rosa M. Piccione (Hg). Proklos: Methode, Seelenlehre, Metaphy­ sik. Leiden/Boston: Brill, 2006, 340–362). Schäfer geht davon aus, dass Dionysios eine Umstrukturierung dieser Triade vorgenommen habe. Explizit wende er sie auf die Kreativität des Absoluten an: Das »Verweilen« könne bei Dionysios auch als »identifying halt« (ibid. 89) begriffen werden: Im ›Haltmachen‹ des Hervorgangs erhalte jedes Seiende seine ihm eigentümliche Form bzw. sein ihm eigenes Wesen. Schäfer begreift diesen »identifying ›halt‹« in Abhängigkeit von der »kreative[n] δύναμις Gottes« (ibid. 84). Diese geniale wie originelle Deutung der Dionysischen Triadik lässt sich mit der sog. Ekstase Gottes einerseits und der Dynamisierung des Absolutheitsbegriffes andererseits verbinden. Beide Phänomene werden im Folgen­ den diskutiert. 512 Beierwaltes: Identität und Differenz, 50–55; bes. 53 und Eriugena, 210–218. – Allerdings gibt Beierwaltes zu bedenken, dass die Prävalenz der Einheitsmetaphysik bei Dionysios eine »differenziertere Explikation der Trinität irritiert« haben könnte (Identität und Differenz, 55). Könnte es aber nicht ebenso gut sein, dass Dionysios durch seinen Rückgriff auf die Proklische Henadenlehre eine neue Gotteskonzeption im Sinn hatte? Beierwaltes jedenfalls hat diese Möglichkeit nicht sehen können, da er der Proklischen Henadenlehre kaum Beachtung geschenkt hat. 513 De div. nom. II § 4; CD I, p. 127, lin. 7. 514 De div. nom. II § 3; CD I, p. 125, lin. 19 – p. 126, lin. 2. 515 De div. nom. II § 2; CD I, p. 125, lin. 3–8.

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paganen Neuplatonismus in offenkundige Widersprüchlichkeit hin­ einzusteigern droht. Durch die Synthese der beiden Gottesmomente entsteht die für die neuplatonische Logik höchst widersinnige Zusam­ menführung von überrelationaler und relationaler Einheit in Gott. Das Absolute ist aber dann nicht mehr absolute Einheit, wenn es mit der Viel-Einheit des Geistes synthetisiert wird. Und andersherum ist der sich selber denkende Gott nicht die vollkommene Transzendenz, die Dionysios gleichwohl wortgewaltig pointiert.516 Dionysios war daran interessiert, die radikale Einheit des Abso­ luten, so wie sie von Plotin oder Proklos gedacht wurde, aufzubrechen, um ihm noch eine innere Aktivität zugestehen zu können. Gleich­ wohl hielt er – wie gesagt wenigstens dem Wortlaut nach – ganz unmissverständlich an der Transzendenz Gottes fest. Den Vorteil, die radikale Einheit des Absoluten aufzubrechen, sah Dionysios wohl darin, Gott als Trinität, Reflexivität und fürsorglich-caritativen Akt der Zuwendung denken zu können. Und sicherlich lässt sich nicht von der Hand weisen, dass eine radikal verfahrende negative Theologie das Absolute über jede innere Aktivität hinaus entrückt. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, wenn im christlichen Denken die Transzendenz bis zu einem gewissen Grad abgeschwächt wird, um das Absolute noch als selbsttätiges Prinzip verstehen zu können. Freilich gefährdet die von Plotin und Proklos formulierte Transzendenz des Absoluten, wie gesehen, nicht die Statik des paganen Neuplatonis­ mus. In der Tat wird es aber so schwierig, das Absolute selbst als Akt zu begreifen. Obendrein werden Trinität und Reflexivität geradezu unmöglich gemacht. Um dem zu entgehen, hat Dionysios auf die zweite hypothesis des Platonischen Parmenides zurückgegriffen. Die Explikation von Trini­ tät und Denken kommt nämlich nur schwer ohne triadisch-zyklische Strukturen, oberste Gattungen und besonders Identität und Differenz aus. Vor diesem Hintergrund wird die Kategorie der Differenz von Dionysios sogar zur Zentralbestimmung Gottes erhoben.517 Dies 516 Sachlich gesehen müsste aber überdacht werden, ob Dionysios die Transzendenz des Absoluten – trotz seiner radikalen Formulierungen – tatsächlich in derselben bedingungslosen Radikalität wie Proklos gedacht haben kann. Belastet er das Absolute dafür nicht zu stark mit ontologischen Bestimmungen? 517 Bes. in De div. nom. II § 3; CD I, p. 125, lin. 19 – p. 126, lin. 2 und ibid. II § 4; CD I, p. 126, lin. 3 – p. 127, lin. 12. Vgl. auch ibid. IX § 5; CD I, p. 210, lin. 7–11. Zur Differenz bei Dionysios s. Beierwaltes: Identität und Differenz, 49–55 und Denken des Einen, 211–216. Dionysios misst innerhalb seiner Gotteskonzeption der Differenz

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scheint aber geradezu zwangsläufig mit der Transzendenz, dem Negieren aller Bestimmungen im Allgemeinen und der Differenz im Besonderen, in Konflikt zu geraten. Und doch postulierte Dionysios die Synthese absoluter und seiender Einheit.518 Auch andere christli­ che Denker sind durchaus an einer gewissen Synthese interessiert, um wichtige Aspekte, etwa die caritative Tätigkeit Gottes, pointieren zu können. Sie haben aber auch die mit dieser Synthese einhergehenden Probleme oder Konflikte gesehen. Als Beispiel sei hier nur Cusanus ganz unmissverständlich große Bedeutung zu. Die Differenz wird nicht einfach transzendiert, sondern ist immanente Bestimmung Gottes. Damit hat Dionysios die Kate­ gorie der Differenz nicht konsequent überwunden. Wie wir aber im Hinblick auf Eriugena und Cusanus noch sehen werden, kann das Absolute nur dann als unmittel­ bare Präsenz verstanden werden, wenn es die Kategorie der Differenz (und der Identität) transzendiert. 518 Seit der Analysen Eugenio Corsinis ist diese Synthese in der Forschung allgemein bekannt (Il trattato ›De divinis nominibus‹ dello Pseudo-Dionigi e i commenti neopla­ tonici al Parmenide. Turin: Giappichelli, 1962). Grundgelegt hat Dionysios die Syn­ these in einer Herleitung, durch die diese nicht zur bloßen Behauptung diminuiert werden muss. Die Herleitung der vorgestellten Synthese expliziert Dionysios in einer bekannten Zentralstelle aus De divinis nominibus näher: Gott ist für ihn »ἡ πάντων θέσις, ἡ πάντων ἀφαίρεσις, τὸ ὑπὲρ πᾶσαν καὶ θέσιν καὶ ἀφαίρεσιν«, also »die Setzung von allem, die Aufhebung von allem, und über alle Setzung und Aufhebung hinaus« (De div. nom. II § 4, p. 127, lin. 1–2. Vgl. De myst. theol. I § 2; CD II, p. 143, lin. 3–7, worin Dionysios mit Verve betont, dass kein Widerspruch zwischen der Negation und der Affirmation konstruiert werden dürfe). Nach Jens Halfwassen folgt für Dionysios daraus die doppelte Aufhebung des aristotelischen Widerspruchgesetzes: Durch diese Aufhebung könne Dionysios die Einheit beider Gottesmomente fordern, ohne einen Widerspruch konstruieren zu müssen (»Sur la limitation du principe de contradic­ tion«, 46–47 und 49–50 und Auf den Spuren des Einen, 307–308). Wenn nämlich die Widersprüchlichkeit gefallen ist, so scheint es durchaus möglich zu sein, Gott in eins als absolute Einheit und seiende Einheit zu beschreiben. Beide Aussagenweisen, also affirmative und negative Aussagen über das Eine, werden offengehalten und nicht gegeneinander ausgespielt. Immerhin scheint die doppelte Aufhebung des Wider­ spruchgesetzes die Genese der Dionysischen Synthese zu erklären. Die Einheit von absoluter und seiender Einheit wird also nicht einfach bloß behauptet. In der For­ schung hingegen werden absolute und relationale Einheit oft wie selbstverständlich synthetisiert, ohne diese Behauptung durch Dionysios’ eigene philosophische Her­ leitung zu rechtfertigen. Ohne Zuhilfenahme der erst von Jens Halfwassen aufge­ deckten Aufhebung des genannten Gesetzes aber kann die Synthese strenggenommen nicht dem Status einer bloßen Behauptung enthoben werden. Nichtsdestoweniger bleibt auch mit dieser Herleitung eine kaum zu übersehende Spannung übrig, die nicht einfach ignoriert oder aufgelöst werden kann (Rohstock: Der negative Selbstbezug, 123–131; bes. 130). Womöglich hat aber Dionysios einen reinen Akt des Absoluten selber (vgl. § 30, § 34 und § 46) wenigstens angedacht. Auf diese Möglichkeit soll im folgenden Paragraphen zurückgekommen werden.

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angeführt: Er hat sogar eine negativ-theologische Trinitätsformel vor­ gestellt, besonders um einer Belastung Gottes mit Differenz entschie­ den begegnen zu können.519 Demgegenüber hat Dionysios die Trini­ tätslehre eher affirmativ-theologisch und ontologisch konzipiert und damit das Absolute durchaus mit concreta ›belastet‹. Es führt also kein Weg an der Feststellung vorbei, dass Dionysios das Absolute letztlich in eine relationale Einheit mit dem seienden Einen gezwungen hat.520 Und daher vermochte es Dionysios nicht – anders als Eriugena, Cusa­ nus und auch Fichte –, die Tätigkeit des Absoluten strikt ent-ontolo­ gisiert und in bedingungsloser Reinheit zu fassen, die überhaupt erst die durchgängige Differenz aller Bestimmungen fundiert. Allerdings kann von der sich hier zeigenden Problematik einer Synthese absoluter und seiender Einheit durchaus abgesehen werden, wenn wir bedenken, dass Dionysios – aller hier vorgebrachten Kritik zum Trotz – einen tragenden Horizont inaugurierte, der ganz ähnlich konzipiert ist wie die Henadendimension des Scholarchen Proklos. Und auf diesen Horizont ist die vorliegende Arbeit konzentriert.

§ 26) Dionysios’ Liebesbegriff – Translation der Proklischen Henadenlehre? Ansätze für den Gedanken eines caritativ-tragenden actus purus zei­ gen sich in dem für Dionysios wichtigen Liebesbegriff, worin er Pro­ klos’ These von der »Vorsehung« (πρόνοια) zu folgen scheint, aber so, dass er diese caritative Liebe zum Absoluten selber erhebt. Dionysios deutet die Liebe insgesamt als Synthese von ἔρως und ἀγάπη,521 die 519 S. dazu Rohstock: Der negative Selbstbezug, 61–68. Ob diese negative Trinitäts­ formel den Ansprüchen christlichen Denkens und Glaubens genügt, soll hier nicht erörtert werden. Denn hier geht es ausschließlich um die Konzeption einer fürsorgli­ chen Ur-Tat, die nicht konkret ›gegeben‹ ist und wie ein opaker Horizont Sein und Denken trägt. 520 Daher lässt sich die These vertreten, dass Dionysios die Forderung Fichtes, alle Vielheit auf absolute Einheit zurückzuführen, wohl nicht mit der nötigen Konsequenz erfüllt hat. Sicherlich muss aber auch gesagt werden, dass die Schrift De mystica theologia als henologische Reduktion gelesen werden kann (bes. De myst. theol. V; CD II, p. 149–150). 521 Zentralstelle ist De div. nom. IV § 11–14. Zur Liebe bei Dionysios, insbesondere als Gottesbegriff, s. Andia: Henosis, 145–164 und 249–253. Beierwaltes: Platonismus im Christentum, 72–75. Überblickend zum Liebesbegriff s. Vasilakis: Eros in Neopla­ tonism and its Reception in Christian Philosophy, 141–183. – Auch Eriugena (s. § 30),

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als vereinheitlichende und konjugierende Kraft (δύναμις) vorgestellt wird.522 Die von Dionysios formulierte Synthese kann als wichtige Weiterentwicklung begriffen werden, insofern er die genannte Union im Absoluten selber ›verortet‹. Wenn also Dionysios ἔρως und ἀγάπη koinzidieren lässt, geht er der Sache nach nur in diesem Punkt über Proklos hinaus: Nicht der bloße Umstand der Identifikation selber ist entscheidend, sondern der ›Ort‹ derselben. ἔρως und ἀγάπη konver­ gieren im Absoluten und werden zu dessen eigener Tätigkeit. Gerade diese ›Verschiebung‹ der zentralen, einheitsstiftenden Systemstelle hin zum Absoluten selber entfaltete einen weitreichenden Einfluss für

Cusanus (s. § 34) und Fichte (s. Kap. IV.2) wollten das Absolute als Lebendigkeit, Liebe und Tat verstanden wissen. – In diesem Zusammenhang ist auch auf den Begriff des Lichts hinzuweisen (De div. nom. IV § 4–6). Dieser entfaltet eine ganz ähnliche Dyna­ mik wie der Liebesbegriff. So ist für Dionysios das Absolute selber das Licht, während Proklos das Licht vom Guten als der Quelle des Lichtes unterschieden hat (Theol. Plat. III c. 4, p. 16, lin. 15 – p. 17, lin. 12). Dieses Licht ist die eine Kraft, die einigend, sammelnd und erleuchtend, also seinsstiftend, erkenntnisgründend und heilsbrin­ gend, wirkt (De div. nom. IV § 6; CD I, p. 150, lin. 1–14). Zur Lichtmetapher bei Dio­ nysios s. Adolf M. Ritter. »Die Lichtmetaphorik bei Dionysius Ps.-Areopagita und in seinem Wirkbereich«. In: Reinhold Bernhardt und Ulrike Link-Wieczorek (Hg). Metapher und Wirklichkeit: Die Logik der Bildhaftigkeit im Reden von Gott, Mensch und Natur. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1999, 164–178. – Die liebende Fürsorge bleibt bei Dionysios, nebenbei bemerkt, nicht auf Gott beschränkt. Auch Menschen handeln fürsorglich, insofern sie von Liebe durchdrungen sind. Zur Ethik und zur ethischen Dimension des Liebesbegriffs bei Dionysios s. Beate R. Suchla. »Subjekti­ vität und Ethik bei dem christlichen Neuplatoniker Dionysius Areopagita«. In: Theo Kobusch, Burkhard Mojsisch und Orrin F. Summerell (Hg). Selbst – Singularität – Subjektivität: Vom Neuplatonismus zum Deutschen Idealismus. Amsterdam/Philadel­ phia: Grüner, 2002, 89–109; bes. 101–109. 522 De div. nom. IV § 12; CD I, p. 158, lin. 13–18, worin Dionysios offenbar, worauf Beate R. Suchla in der kritischen Edition hinweist, auf Proklos rekurriert (In Alc. p. 53, lin. 5–12). S. ferner Andia: Henosis, 109–119. – Sicherlich haben Plotin und Pro­ klos sowohl dem ἔρως- als auch – wenigstens der Sache nach – dem ἀγάπη-Konzept tragende Rollen innerhalb ihrer Spekulationen zugesprochen, wobei der Begriff des ἔρως ihre Metaphysik freilich dominiert. Dieser ist, wie gezeigt, nicht egoistisch, son­ dern pronoetisch oder caritativ (ἔρως προνοητικός), sowohl im Hinblick auf die Fun­ dierung von Erkennen und Sein als auch auf das Heil des im henologischen Streben begriffenen Menschen. – Die δύναμις ist bei Dionysios, worauf Christian Schäfer schon völlig zutreffend hingewiesen hat, als »aktuale Kraft« zu verstehen (Unde malum: Die Frage nach dem Woher des Bösen bei Plotin, Augustinus und Dionysius. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2002, 448). Grundsätzlich erörtert Dionysios die δύναμις analog zu Proklos’ Konzept der ἀπειροδυναμία (De div. nom. VIII § 1–6; CD I, p. 200–204).

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die nachfolgende Philosophie, vor allem, wie wir noch sehen werden, für das Denken Eriugenas und Cusanus’. Dabei besteht Dionysios – wenigstens seinem Wortlaut nach – auf der Transzendenz des Absoluten. Und in diesem Zusammenhang fasst er die innere Bewegung des Absoluten als pro-noetische Liebe: Dionysios scheint daher gewisse Aspekte der Proklischen Henaden­ lehre adaptiert und dergestalt modifiziert zu haben, dass er sie auf sein Absolutheitskonzept übertragen hat.523 Denn Dionysios feiert Proklos’ Begriff der »Vorsehung«, die dieser, wie wir gesehen haben, als Tätigkeit der Henaden versteht, als göttlichen Namen.524 Wie im Hinblick auf Proklos bereits ausgeführt, sind in dieser Ur-δύναμις alle konkreten Seins- und Erkenntnisgehalte im pro-noetischen ›Denken‹ »einförmig« und »verborgen«.525 Dionysios knüpft an diese Passage an, wenn er meint, dass im »überwesentlichen Strahl«, einer von Dionysios’ Begriffen für das Absolute, »alle Bereiche aller Erkenntnisse unaussprechlich präexistieren, welche weder zu erkennen noch auszudrücken noch überhaupt irgendwie zu schauen möglich ist. Und das aus dem Grunde, weil er über alles hinaus entrückt und überunerkennbar ist, da er die Gebiete aller auf das Wesen (der Dinge) bezüglichen Erkenntnisse und Kräfte allzumal und insgesamt überwesentlich in sich vorausbegriffen enthält und in seiner unumfaßbaren Macht auch über allen überhimmlischen Geis­ tern erhaben thront. Denn wenn alle Erkenntnisse zum Gegenstande das Seiende haben und auf das Seiende abzielen, so ist der Strahl, der über alle Wesenheit hinausliegt, auch jeder Erkenntnis entrückt.«526 Zur Henadenrezeption Dionysios’ s. überblickend Dillon. »›Dionysius the Areo­ pagite‹«, 119. Dass bloß die Engellehre ihre Entstehung der Henadenrezeption ver­ danke, ist eine zu reduktionistische Sichtweise, die in der Forschung zu Unrecht verbreitet ist (etwa Inglis-Patrick Sheldon-Williams. »Henads and Angels: Proclus and the ps.-Dionysius«. Studia Patristica 11 (1972), 65–71. Beierwaltes: Platonismus im Christentum, 78). In einer Studie István Perczels lässt sich demgegenüber beobachten, dass Dionysios die Proklische Henadenterminologie auf sein Absolutheitskonzept übertragen hat (»Pseudo-Dionysius and the Platonic Theology: A preliminary Study«. In: Alain-Philippe Segonds und Carlos Steel (Hg). Proclus et la Théologie Platonicienne. Leuven University Press / Paris: Les Belles Lettres, 2000, 491–532). 524 Etwa De div. nom. I § 5; CD I, p. 117, lin. 12. Ibid. I § 7; CD I, p. 120, lin. 3–8. Ibid. I § 8; CD I, p. 120, lin. 10. 525 St. theol. prop. 121–123. 526 De div. nom. I § 4; CD I, p. 115, lin. 9–18. Übers. nach Des Heiligen Dionysius Areopagita angebliche Schriften über ›Göttliche Namen‹, 26. Vgl. dazu St. theol. prop. 123, bes. p. 108, lin. 29–32. Vgl. ferner De div. nom. I § 7; CD I, p. 120, lin. 5–8: »πάντα δὲ ἁπλῶς καὶ ἀπεριορίστως ἐν ἑαυτῇ τὰ ὄντα προείληφε ταῖς παντελέσι τῆς μιᾶς 523

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Insofern Dionysios tatsächlich dieses Moment der Proklischen Hen­ adenlehre adaptiert und die Urkräfte der Henaden als Tätigkeit des Absoluten selber verstanden wissen will, lässt sich spekulieren, dass er die Theorie eines actus purus bzw. eines reinen Relierens des Absoluten in sich selber wenigstens vorbereitet hat.527 Wir können in diesem Zusammenhang sogar noch einen Schritt weiter gehen, wenn wir beachten, dass die uns tragende Ur-Tätigkeit als innerster Kern unseres Selbst gelesen werden kann. Dieser Gedanke lässt sich spekulativ wie folgt herleiten: Insofern Dionysios den Liebesbegriff auf Gott anwendet, bezieht dieser sich in Liebe auf alle seine Prinzipiate. Wie aber ist diese Wendung vorzustellen? Jan A. Aertsen glaubt diesbezüglich – im Anschluss an die Untersuchun­ gen Werner Beierwaltes’528 – auf einen »riskanten Gedanken« gesto­

αὐτῆς καὶ παναιτίου προνοίας ἀγαθότησι καὶ ἐκ τῶν ὄντων ἁπάντων ἐναρμονίως ὑμνεῖται καὶ ὀνομάζεται.« 527 Insofern eine Rezeption der Henadenlehre durch Dionysios vorliegt, kann die Transzendenz zu einem gewissen Grad bewahrt werden: Die Liebe ist die göttliche UrTat, die den selber nicht-konkreten Hintergrund aller Bestimmung abgibt. Die Trans­ zendenz wird hier aber dennoch abgeschwächt und es kommt sogar zu einer gewissen Repräsentation des Absoluten. Insofern Dionysios wie schon Plotin und Proklos vor ihm darauf besteht, dass alle Gottesnamen, die wir verwenden, nur auf das Absolute verweisen und daher das Absolute nicht an ihm selber sind, können sie als Bilder des Absoluten gewertet werden. Dionysios’ spezifische Modifikation, die darin besteht, den Henadenhorizont als das Absolute anzusehen, führt dazu, dass das Bild nun auch eine repräsentative Funktion erfüllen kann: Weil jede geistige Bewegung als Ausdruck der Ur-Bewegung des Absoluten verstanden werden darf, kann das Bild bzw. die Erscheinung als Repräsentant des Absoluten begriffen werden. Dieses wird also als bewegt vorgestellt und ist demnach das Urbild jeder ontisch oder konkret gegebenen Bewegung. Es scheint demnach Dionysios’ Ansinnen durch, die an ihm selber opaken Strukturen des Absoluten zu illustrieren. Dieser Gedanke begegnet uns auch bei Eriugena und Cusanus, die durch ihre negativen Gottesbegriffe versuchen, die eigent­ lich nicht-konkrete und ungebrochene Ur-Tat des Absoluten zum Ausdruck zu brin­ gen. – Dass Dionysios wie Eriugena und Cusanus an einer Ent-Ontologisierung der göttlichen Ur-Tätigkeit gelegen war, lässt sich auch durch das ›Bildhauerbeispiel‹ stüt­ zen (De myst. theol. II; CD II, p. 145. S. dazu die Analyse von John N. Jones. »Sculpting God: The Logic of Dionysian Negative Theology«. Harvard Theological Review 89/4 (1996), 355–371. Vgl. aber Westerkamp: Via negativa, 32–36). Die in diesem Beispiel veranschaulichte ›Modellierung‹ Gottes könnte durchaus im Sinne der Fichteschen Abstraktionsmethode verstanden werden. Diese ist ein »hinwegsehendes Zusehen« (s. dazu § 39–40 und § 44), bei dem darauf geachtet wird, was ›übrig‹ bleibt, wenn von allen Objektivationen abgesehen wird. 528 Beierwaltes: Platonismus im Christentum, 73–74.

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1) Johannes Eriugena: Das Absolute als in uns wirkende Liebe

ßen zu sein, »der dem Neuplatonismus fremd« sei.529 Expliziert wird dieser Gedanke in De div. nom. IV § 13: »Im Interesse der Wahrheit müssen wir auch dies zu sagen wagen, daß selbst der Urheber der Welt durch die schöne und gute Liebe zum All wegen der Überfülle der liebenden Güte in den auf alle Wesen sich erstreckenden Akten der Vorsehung [προνοίαις] aus sich heraustritt und sozusagen von Güte, Liebesgesinnung und Liebesglut überwältigt wird. Aus der alles überragenden und allem entrückten Höhe wird er in ekstatischer, überwesentlicher Kraft [ὑπερούσιον δύναμιν], ohne aus sich herauszugehen [ἀνεκφοίτητον ἑαυτοῦ], zur Tiefe in alle Dinge herabgezogen [πρὸς τὸ ἐν πᾶσι κατάγεται].«530

Dionysios betont im Anschluss, dass das Absolute alles zu sich rufe, zu sich hinaufführe oder zu sich in Liebesverlangen wende.531 Hinzuzufügen ist weiterhin, dass, wenn das Absolute hinabzusteigen scheint, es freilich ganz in sich selber bleibt. Wie dieser Abstiegsge­ danke bei bleibender Innerlichkeit und Geschlossenheit der absoluten Tätigkeit erhellt werden kann, hat erst Eriugena explizit demons­ triert.532 Bei Dionysios finden sich aber bereits Anklänge an Eriuge­ nas Konzept des Absoluten in uns: Das Absolute scheint aufgrund seiner fürsorglichen Vorsehung aus sich herauszutreten, wodurch die ἔκστασις, die im orthodoxen Neuplatonismus im Sinne unserer Jan A. Aertsen. »›Eros‹ und ›Agape‹: Dionysius Areopagita und Thomas von Aquin über die Doppelgestalt der Liebe«. In: Edith Düsing und Hans-Dieter Klein (Hg). Geist, Eros und Agape: Untersuchungen zu Liebesdarstellungen in Philosophie, Religion und Kunst. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2009, 191–203; hier 196. 530 De div. nom. IV § 13, p. 159, lin. 9–14: »τολμητέον δὲ καὶ τοῦτο ὑπὲρ ἀληθείας εἰπεῖν, ὅτι καὶ αὐτὸς ὁ πάντων αἴτιος τῷ καλῷ καὶ ἀγαθῷ τῶν πάντων ἔρωτι δι᾽ ὑπερβολὴν τῆς ἐρωτικῆς ἀγαθότητος ἔξω ἑαυτοῦ γίνεται ταῖς εἰς τὰ ὄντα πάντα προνοίαις καὶ οἵον ἀγαθότητι καὶ ἀγαπήσει καὶ ἔρωτι θέλγεται καὶ ἐκ τοῦ ὑπὲρ πάντα καὶ πάντων ἐξῃρημένου πρὸς τὸ ἐν πᾶσι κατάγεται κατ᾽ ἐκστατικὴν ὑπερούσιον δύναμιν ἀνεκφοίτητον ἑαυτοῦ.« Übers. nach Des Heiligen Dionysius Areopagita angebliche Schriften über ›Göttliche Namen‹, 75. 531 Bes. De div. nom. IV § 14; CD I, p. 160, lin. 6–11. Das henologische Streben ist also, wie schon der ἔρως bei Plotin und Proklos und die Liebe zum Absoluten bei Cusanus (s. § 34), keine Mangelerscheinung. Vielmehr scheint die Liebe für Dionysios vom Absoluten selber bedingt zu sein. – Dionysios hat auch die Proklische »Begeis­ terung« adaptiert. Man kann erkennen, dass für ihn Erleuchtung nicht nur Gnaden­ geschenk ist, sondern von uns Handlungen, bes. Reinigung, erfordert (De myst. theol. I § 3; CD II, p. 143, lin. 17 – p. 144, lin. 15). Dass es sich bei der höchsten Einsicht auch um ein Erleben handelt, in dem man von Gott besessen wird, hat Dionysios pointiert; De div. nom. II § 9; CD I, p. 134, lin. 1–2: »οὐ μόνον μαθὼν, ἀλλὰ καὶ παθὼν«. 532 S. dazu bes. § 29–30. 529

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Einung mit dem Absoluten verwendet worden ist, nun selber auf das Absolute angewendet wird.533 Worin Aertsen – im Anschluss an Beierwaltes – eine Neuerung sieht, können wir auf dem Hintergrund der transzendenten Bildbegriffe Plotins und Proklos’ lediglich eine Dionysische Modifikation entdecken: Das Absolute wurde bereits bei Plotin und Proklos im Streben erfahren, sodass es gewissermaßen im Streben ek-sistiert. Gleichwohl hat Dionysios Plotins und Proklos’ Ansatz konsequent weitergedacht, indem er die fürsorgliche Tätigkeit kurzerhand dem Absoluten selber zugesprochen hat: Es tritt aufgrund seiner eigenen Liebeskraft, so formuliert es Dionysios auf metaphori­ sche Weise, hervor, steigt so in alles hinab, wobei Dionysios dieses Bild mit dem bekannten – auch von Fichte mehrfach zitierten – Pau­ luszitat verknüpft: »Nicht ich bin es, der noch lebt, sondern Christus lebt in mir.«534 Dass er damit gerade nicht meint, das Absolute würde faktisch aus sich hervorgehen – und sich so selber ontologisieren oder, was dasselbe bedeutet, zur Kreatur diminuieren –, scheint allein schon dadurch gesichert zu sein, weil er den Aspekt des »Verwei­ lens« an besagter Stelle deutlich pointiert und so als Korrektiv zu seiner allzu bildlichen Aussage verwendet. Er spricht nämlich von einer »überwesentlichen Kraft«, die sich selber nicht verlasse. Vor diesem Hintergrund darf wohl folgende Spekulation gewagt werden: Wenn die göttlich-absolute Liebeskraft in alles und uns hinabsteigt, also immanent ›wird‹, bleibt sie transzendent, wird also nicht zu allem und zu uns und verwandelt sich nicht in eine Bestimmung, Gattung, Kategorie, Form oder Substanz. Vielmehr scheint die Liebe im verborgenen Kern unseres eigenen Selbst fürsorglich tätig zu sein und ›dort‹ ihre tragende Funktion zu erfüllen, ohne dabei ihre Von der Forschung wird das Konzept einer unio mystica bei Dionysios immer wieder konstatiert, etwa von Werner Beierwaltes (Platonismus im Christentum, 66, Anm. 55). S. auch die kurzen, aber instruktiven Äußerungen von Christian Schäfer (Unde malum, 460–466). Dionysios beschreibt zwar eine mystische Einung, diese reklamiert er aber nicht für sich, sondern bezieht sie auf Moses und verweist damit auf das biblische Ereignis auf dem Berg Sinai (De myst. theol. I § 3; CD II, p. 143, lin. 17 – p. 144, lin. 15). Diese Beschreibung kann hier übrigens im Sinne der Proklischen Anagogik verstanden werden. Denn die Einung wird auf der »Spitze« des Berges voll­ zogen. Diese »Spitze« scheint durchaus als Verweis auf das »Eine in uns« gelesen werden zu können. 534 De div. nom. IV § 13; CD I, p. 159, lin. 5–6; Hervorh. Roh. – Für Dionysios ist Paulus der wahrhaft Liebende (ibid. lin. 4), womit er Proklos’ Charakterisierung von Sokrates christlich wendet: Christlich-jüdische Modelle ersetzen hier die ur-platoni­ schen. 533

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Überwesentlichkeit zu verlieren. Jedenfalls scheint Dionysios mit seiner ek-statischen Gottesliebe einen innergöttlich bleibenden Akt, der zugleich fürsorglich-liebevoll wirkt, zu inaugurieren, der in allem wirkt und doch transzendent bleibt.535 Genau vor diesem Hintergrund wird Eriugena später von einer liebenden Tätigkeit des Absoluten sprechen, die dieses in uns selber unbeschadet seiner Transzendenz vollzieht. Dieser immanent wirkenden Transzendenz des Absoluten gilt die folgende Diskussion. Zuvor aber kann folgendes Zwischener­ gebnis festgehalten werden: (i) Sicherlich ist Dionysios – anders als Plotin oder Proklos – darum bemüht, das Absolute selber als Tätigkeit zu konzipieren. (ii) Und doch führt seine Konstruktion zur Ontologisierung Gottes, gerade weil er die Differenz als immanente Bestimmung Gottes denkt. (iii) Dennoch ist nicht einfach von der Hand zu weisen, dass Dionysios ein überwesentliches, überseiendes und hypernoetisches Prinzip andeutet, wofür in erster Linie seine Rezeption des Prokli­ schen πρόνοια-Begriffes spricht.536 Er hat also versucht, die von Plotin Zur Liebe als selbstbewegte δύναμις, die alles bewegt und sammelt, s. bes. De div. nom. IV § 17; CD I, p. 162, lin. 1–5: »ἄγε δὴ καὶ ταύτας πάλιν εἰς συναγαγόντες εἴπωμεν, ὅτι μία τις ἔστιν ἁπλῆ δύναμις ἡ αὐτοκινητικὴ πρὸς ἑνωτικήν τινα κρᾶσιν ἐκ τἀγαθοῦ μέχρι τοῦ τῶν ὄντων ἐσχάτου καὶ ἀπ᾽ ἐκείνου πάλιν ἑξῆς διὰ πάντων εἰς τἀγαθὸν ἐξ ἑαυτῆς καὶ δι᾽ ἑαυτῆς καὶ ἐφ᾽ ἑαυτῆς ἑαυτὴν ἀνακυκλοῦσα καὶ εἰς ἑαυτὴν ἀεὶ ταὐτῶς ἀνελιττομένη.« Vgl. De div. nom. IV § 14; CD I, p. 160, lin. 1–11, worin Dionysios das Absolute als sich selbst liebende und selbstbewegte Kraft begreift. Vgl. auch Dionysios’ Aussagen zur Bewegung in De div. nom. IX § 9; CD I, p. 213, lin. 7–14. Diese meint keine Veränderung oder eine körperliche Bewegung. Vielmehr ist damit die Prinzip­ funktion des Absoluten angesprochen. 536 Für die These, dass Dionysios die Proklische Henadenlehre im Hinblick auf seine eigene Absolutheitskonzeption – und eben nicht nur im Hinblick auf seine Angelo­ logie – rezipierte, sprechen auch noch andere Passagen. Nur zwei Beispiele seien an dieser Stelle genannt: (i) Dionysios spricht von einer »Kraft, durch die wir ins Eine geformt und zu einer gottähnlichen Monade« kontrahiert werden (De div. nom. I § 4; CD I, p. 112, lin. 10–14. Vgl. dazu De div. nom. VIII § 1–6; CD I, p. 200–204). Eine solche vereinheitlichende Kraft spricht Proklos den Henaden zu (etwa St. theol. prop. 121, p. 106, lin. 10–22). (ii) Aus einer bereits oben zitierten Passage sei ein kurzer Abschnitt noch einmal angeführt: St. theol. prop. 123, p. 108, lin. 29–32: »πᾶσα γὰρ ἡ διὰ λόγου γνῶσις τῶν ὄντων ἐστὶ καὶ ἐν τοὶς οὖσιν ἔχει τὸ τῆς ἀληθείας καταληπτικόν […]. οἱ δὲ θεοὶ πάντων εἰσὶν ἐπέκεινα τῶν ὄντων«. Vgl. De div. nom. I § 4, p. 115, lin. 16–18: »εἰ γὰρ αἱ γνώσεις πᾶσαι τῶν ὄντων εἰσὶ καὶ εἰς τὰ ὄντα τὸ πέρας ἔχουσιν, ἡ πάσης οὐσίας ἐπέκεινα καὶ πάσης γνώσεώς ἐστιν ἐξῃρημένη.« Trotz der sicherlich nicht zu leugnenden sprachlichen Variationen ist die inhaltliche Übereinstimmung zwischen der Proklischen Henadenlehre und Dionysios’ Absolutheitsspekulation offensichtlich. Indirekt wird die Rezeption der Henadenlehre durch Dionysios im Hinblick auf seine 535

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und Proklos konzipierte prinzipientheoretische Funktion des selber nicht-konkreten Horizontes auf das Absolute zu übertragen.

§ 27) Von Dionysios zu Eriugena – oder: Das Absolute als tragender Horizont Johannes Scottus Eriugena (ca. 815 – 877), der nach Hegels Beob­ achtung als verlängerter Arm des spätantiken Neuplatonismus im Zeitalter der Scholastik zu gelten habe,537 hat den besprochenen Ansatz von Dionysios fortgeführt.538 So fußt Eriugenas Liebesbegriff, in dem Immanenz und Transzendenz zu einer Einheit verschmelzen, ganz unverkennbar auf den Schriften des Ps.-Areopagiten. Die Syn­ theseleistung Dionysios’ präzisierte Eriugena aber und gab ihr eine ganz eigene, originelle Wendung. Dieser spezifischen Originalität von Eriugenas Absolutheitskonzeption soll nun im Folgenden nach­ gespürt werden. Für den Einstieg539 in die Metaphysik Eriugenas ist zunächst einmal zu beachten, dass er in seinem Hauptwerk, Periphyseon

Konzeption des Absoluten von Salvatore Lilla bestätigt. Lilla hat gezeigt, dass Dio­ nysios’ δύναμις-Begriff von Proklos inspiriert ist (»L’idea di dunamis in Pseudo-Dio­ nigi L’Areopagita«. In: Francesco Romano und R. Loredana Cardullo (Hg). Dunamis nel Neoplatonismo. Firenze: La Nuova Italia Editrice, 1996, 173–210). Es lässt sich also konstatieren, dass eine eingehendere Untersuchung der Wirkungsgeschichte der Hen­ aden lohnend wäre. 537 Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Werke in zwanzig Bänden: Theorie Werkausgabe. Redaktion Eva Moldenhauer und Karl M. Michel. Vol. 19, Vorlesung über die Geschichte der Philosophie II. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1971, p. 551–552. 538 Zu den Quellen Eriugenas s. Beierwaltes: Eriugena, 32–51 und Eriugena: Studien zu seinen Quellen. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 1980. S. ferner Édouard Jeauneau. »Pseudo-Dionysius, Gregory of Nyssa, and Maximus the Confessor in the Works of John Scottus Eriugena«. In: Uta-Renate Blumenthal (Hg). Carolingian Essays. Washington, D.C.: The Catholic University of America Press, 1983, 137–149. 539 Dazu und insbesondere zum schwierigen Verhältnis von Transzendenz und Immanenz bei Eriugena s. Kreuzer: Gestalten mittelalterlicher Philosophie, 55–81 und Werner Beierwaltes. Eriugena: Grundzüge seines Denkens. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 1994. S. ferner John J. O’Meara. Eriugena. Oxford: Clarendon Press, 1988. Dermot Moran. The Philosophy of John Scottus Eriugena: A Study of Idealism in the Middle Ages. Cambridge University Press, 1989. Deidre Carabine. John Scottus Eriugena. Oxford University Press, 2000.

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genannt, eine vierfache Natureinteilung540 vornimmt: Die erste Natur, offenbar sein Ausdruck für das Absolute, schafft, wird aber nicht geschaffen. Die ebenfalls göttliche zweite Natur, in erster Linie Begriff für das Wort bzw. den Sohn Gottes, in dem alle Ideen bzw. Erstursachen (primordiales causae) enthalten sind, schafft und wird geschaffen. Die zweite Natur ist darüber hinaus der Ort von Eriugenas Trinitätsspekulation.541 Die dritte Natur, gewissermaßen Ausdruck für den sinnlichen Kosmos, schafft nicht und wird geschaffen. Die vierte Natur, Ziel der kosmologisch-ontologischen und eschatolo­ gisch-soteriologischen Rückkehr aller Dinge, schafft nicht und wird nicht geschaffen. Diese Natureinteilung steht im Kontext der neu­ platonischen Triade von μονή-πρόοδος-ἐπιστροφή (mansio-processioreditus542), die Eriugena vor allem über Dionysios Ps.-Areopagitês vermittelt wurde, und bildet die Grundstruktur seiner Prinzipien­ lehre, die sich folgendermaßen zusammenfassen lässt: Das Absolute, die erste Natur, ist der in sich selber tätige Anfang aller Dinge, durch den und aus dem alles hervorgeht, und das eschaton, zu dem alles, was hervorgegangen ist, zurückstrebt, weil es alles zu sich hinzieht.543 Die erste Natur ist laut Eriugena transzendent; und daher muss an dieser Stelle angemerkt werden, dass Eriugena der Tradition negativer Theologie – vielleicht in einem noch stärkeren Maße als Dionysios – verpflichtet bleibt, weil er dem Absoluten konsequent jedes Prädikat abspricht.544 In seinem Umgang mit der negativen 540 Periphys. I lin. 9–27 (PL 122, 441A-442A). Zitiert wird Eriugenas Hauptwerk nach den Zeilenangaben der kritischen Edition Édouard Jeauneaus: Iohannis Scotti seu Eriugenae Periphyseon. 5 Vol., Curavit Édouard Jeauneau. Turnholt: Brepols, 1996– 2003. Der Übersichtlichkeit halber werden die Stellenangaben der Patrologia Latina (Vol. 122) mitzitiert. 541 Man kann sogar sagen: Die erste Natur ist das Absolute, die zweite Natur hinge­ gen Gott. Sicherlich mag diese Formulierung nicht nur ungewöhnlich, sondern sogar unchristlich klingen. Allerdings bleibt zu beachten, dass Eriugena ein außergewöhn­ lich spekulativer Denker war: Er hat das pagan-neuplatonische Modell von absoluter und seiender Einheit restituiert, aber auch zu einem gewissen Grad modifiziert. Denn die erste Natur ist – anders als bei Plotin oder Proklos – in sich aktiv. 542 Stephen Gersh. From Iamblichus to Eriugena: An Investigation of the Prehistory and Evolution of the Pseudo-Dionysian Tradition. Leiden: Brill, 1978, 193–282. 543 Dabei bilden Hervorgehen und Hinstreben durchaus einen simultanen Akt. Wie dieser zu verstehen ist, werden wir weiter unten sehen (§ 29). 544 Zur negativen Theologie bei Eriugena und der Unbegreifbarkeit des Absoluten s. – neben den Studien Werner Beierwaltes’ – die pointiert geschriebenen Arbeiten von Veronika Limberger. Eriugenas Hypertheologie. Berlin/Boston: Walter de Gruyter, 2015 und Agnieszka Kijewska. »Eriugena on the Ineffability of God«. In: Harald

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Theologie ähnelt Eriugena in besonderer Weise Proklos, der das Absolute, wie gezeigt, über eine komplexe Negationslogik als voll­ kommene Transzendenz gedacht hat. Die sachliche Nähe zu Proklos wird auch und ganz besonders dadurch unterstrichen, dass Eriugena das Konzept des produktiven Negierens vertritt. Er wertet aber diese Produktivität anders als Proklos als eigene Tat des Absoluten.545 Die Synthesis aus Transzendenz, negativer Prinzipientheorie und absoluter Tätigkeit kulminiert bei Eriugena in der originellen Theorie eines reinen, nicht-konkreten, alle Wesenheiten fundierenden und cari­ tativ wirkenden Selbstbezuges des Absoluten.546 Dieser Selbstbezug ist der Einheits- und Disjunktionspunkt seiner Philosophie und damit die Bedingung der Möglichkeit der Bestimmungstotalität, von Selbstbewusstsein und sogar menschlich-kreatürlicher Seligkeit. Freilich suggeriert die Wortwahl Eriugenas eine Schöpfung oder ein Hervorbringen durch das Absolute. Bei genauer Betrachtung wird aber der geltungstheoretische Anspruch Eriugenas deutlich, gerade weil er das Absolute als Grundlegung aller Wesenheiten und ihrer Akte fasst.547 Wie der Selbstbezug des Absoluten diese Funktion zu erfüllen Schwaetzer und Marie-Anne Vannier (Hg). Der Bildbegriff bei Meister Eckhart und Nikolaus von Kues. Münster: Aschendorff, 2015, 167–178. S. ferner die Diskussion bei Rohstock: Der negative Selbstbezug, 138–163. 545 Das Absolute, die erste Natur, ist für Eriugena in sich tätig, verlässt dabei nicht sich selber, verändert sich also nicht und bewegt sich nicht aus sich selber heraus. Daher wird die Transzendenz offenbar nicht radikal gedacht. Die Negationen negativer Theologie scheinen im christlichen Neuplatonismus Eriugenas die Begrenztheit von Bestimmungen, also ihre kreatürliche Konnotation, auflösen zu sollen, damit diese vom Absoluten ausgesagt werden können. Die negative Theologie Eriugenas geht aber über diese bloß kathartische Funktion hinaus, insofern sie die spezifische Wendung einer absoluten Tätigkeit erst verständlich macht. 546 Ich habe an anderer Stelle von einem negativen Selbstbezug des Absoluten im Denken Eriugenas gesprochen (Rohstock: Der negative Selbstbezug und »Johannes Scottus Eriugena und Nicolaus Cusanus: Abhandlung über die historisch-systemati­ schen Grundlagen der cusanischen Spätphilosophie«. Mitteilungen und Forschungsbei­ träge der Cusanus-Gesellschaft 35 (2020), 411–432). Dieser soll hier aber nicht eigens thematisiert werden. 547 S. dazu bes. § 30. Zu beachten ist, dass Eriugena von einer creatio continua ausgeht und den »Augenblick« fokussiert, durch den alles Seiende getragen wird. Es geht Eriugena nicht um die Entstehung der Welt irgendwann in der Zeit oder am Beginn der Zeit, sondern um die Fundierung der Zeit, des Zeitlichen und sogar ewiger Bestim­ mungen durch den und im »Augenblick«, der nichts anderes als die intime Präsenz des Absoluten in allem ist. S. dazu Johann Kreuzer. »Der Augenblick der Schöpfung: Zur Logik des Kreativen bei Eriugena, Eckhart und Nikolaus von Kues«. In: Günther Abel (Hg). Kreativität. Hamburg: Felix Meiner, 2006, 397–418, hier 402–405. –

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vermag und wie Eriugena für ihn argumentiert, wollen wir uns im Folgenden anschauen. Vor diesem Hintergrund gilt es freilich, die Grundsatzfrage, die wir bereits im Hinblick auf Plotin und Proklos gestellt haben, auch an Eriugena heranzutragen: Wie kann er das Absolute als Transzendenz und Prinzip zugleich denken? Wie kann sich das Absolute, wenn es doch vollkommen transzendent ist, seinen Prinzipiaten fürsorglichliebevoll zuwenden? Wie kommt es dergestalt überhaupt zur Konsti­ tution des Seienden durch das Absolute? Oder noch einmal anders gefragt: Wie genau lässt sich die Funktionsweise des Prinzips illustrie­ ren? In diesem Zusammenhang muss die Frage mitbedacht werden, wie sich die Transzendenz des Absoluten mit dessen von Eriugena postulierter Tätigkeit verträgt. Sicherlich postuliert Eriugena, wie bereits gesagt, einen Selbstbezug des Absoluten, den er vorzugsweise mit seinem Liebesbegriff548 ausdrückt: Das Absolute liebt sich selber und bleibt dabei ganz in sich. Diese Liebe ist aber freilich nicht egoistisch, sondern muss im Sinne der caritativen, soteriologisch und eschatologisch wirkenden »Vorsehung« Gottes verstanden werden, die von christlichen Denkern aber weniger als ἔρως, sondern eher als ἀγάπη gefeiert wird. Daher gesteht Eriugena dem Absoluten einen kreativ-caritativen Akt zu, in dem sich das Absolute seinen Kreaturen geradezu zuwendet. Auf diesem Hintergrund spricht er sogar von einem »Abstieg« des Absoluten in die Seinsimmanenz.549 Genau Damit trifft sich Eriugena zugleich mit Fichte, der einer Schöpfung eher skeptisch gegenübersteht. S. dazu Kap. IV. 548 Zur Kennzeichnung der Liebe verwendet Eriugena hauptsächlich den Terminus amor. Dieser Begriff entspricht dem Dionysischen ἔρως, wie sich anhand von Eriuge­ nas Übersetzungen zu De divinis nominibus zeigen lässt (PL 122, 1135B–C. Vgl. De div. nom. IV § 12; CD I, p. 157, lin. 9–17). – Der Liebesbegriff bei Eriugena ist doppelt: Zum einen wird die Liebe dem Absoluten selbst zugesprochen, weshalb sie im Sinne des Genitivus subiectivus gedeutet werden kann. Andererseits hat die Liebe bei Eriugena auch die Bedeutung des henologischen Strebens. Denn alle Dinge strebten, so Eriugena, zum Absoluten (Periphys. I lin. 3304–3308 (PL 122, 519B). Vgl. Peri­ phys. I lin. 3341–3343 (PL 122, 520A–B)). In diesem Sinne kann die Liebe im Sinne des Genitivus obiectivus, als Liebe zum Absoluten, verstanden werden. Wie aber hän­ gen diese beiden Liebesbegriffe zusammen? 549 Periphys. III 2569–2575 (PL 122, 681C): »Diuina igitur bonitas, quae propterea nihilum dicitur quoniam ultra omnia quae sunt et quae non sunt in nulla essentia inuenitur, ex negatione omnium essentiarum in affirmationem totius uniuersitatis essentiae a se ipsa in se ipsa descendit, ueluti ex nihilo in aliquid, ex inessentialitate in essentialitatem, ex informitate in formas innumerabiles et species.« – Dass sich das Absolute – auch trotz des zitierten Wortlautes – in diesem Zuge nicht selber

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genommen spricht er von einem Abstieg »in die verborgensten Tie­ fen« (in secretissimis sinibus) aller Dinge und mithin in das Zentrum unseres eigenen Selbst.550 Das Absolute ist so allem immanent – oder, noch einmal anders ausgedrückt: Das Absolute lebt und liebt in uns. Der von Eriugena kolportierte Abstieg des Absoluten bei gleich­ zeitiger Betonung der bleibenden Innerlichkeit und Geschlossenheit der Transzendenz provoziert natürlich die Frage, in welchem Ver­ hältnis Immanenz und Transzendenz zueinander nun genau stehen. Widersprechen sich Transzendenz und Immanenz nicht sogar? Auf den ersten Blick mag diese Einschätzung vielleicht zutreffen: Wenn nämlich das Absolute sich selber liebt und so seine innere Geschlos­ senheit nicht verlässt, wie kann es sich dann gründend und caritativ auf alles beziehen? Wie verträgt sich die bleibende Innerlichkeit mit dem Abstieg in die Tiefen der Kreaturen? Um diese Fragen zu klären, müssen zunächst einmal die Trans­ zendenz und ihr Verhältnis zum eigenen Akt des Absoluten, also dem Selbstbezug, dargelegt werden (§ 28). Im Anschluss gilt es zu klären, wie der Selbstbezug Prinzip sein kann. Dafür wird es aber nötig sein, zu erörtern, was »Immanenz« eigentlich bedeuten soll und inwiefern sich diese mit der Transzendenz des Absoluten verträgt (§ 29). Darauf aufbauend kann die Funktionsweise des Prinzips näher erörtert wer­ den (§ 30). Auf diesem Hintergrund können wir schließlich einen kurzen Blick auf die Frage werfen, inwiefern wir zur Einung mit dem Absoluten streben und in welchem Verhältnis das menschliche Selbst zum Absoluten steht (§ 31).

§ 28) Transzendenz und Selbstbezug – Absolute Selbstliebe als ent-ontologisierter actus purus Eriugena denkt das Absolute als vollkommene Transzendenz, die alle Bestimmungen und Wesenheiten übersteigt. Wie sich im Folgenden anhand der spezifischen Funktionsweise des Absoluten in allem erhel­ len lassen wird, begründet Eriugena die Transzendenz mit der Prin­ zipfunktion des Absoluten, denn alles soll und muss auf dieses eine Prinzip zurückgeführt werden: Es bedingt – analog zum ἀνυπόθετον ontologisiert, habe ich bereits zu zeigen versucht (Rohstock: Der negative Selbstbezug, bes. 181–189). 550 S. dazu § 30.

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Platons – alles, ist aber selber unbedingt.551 Das Absolute ist für Eriugena daher »mehr als Wesen« (plus quam OYCIA) und daher »überwesentliche« (superessentialis) oder absolute Transzendenz.552 In diesem Sinne fasst er es auch explizit als absolute Negativität, also als »Negation aller Bestimmungen« (negatio omnium) oder als »Nichts« (nihil).553 Den Begriff des »Wesens« (essentia bzw. OYCIA554) behält Eriugena demgegenüber der zweiten Natur vor. Freilich ist auch zu betonen, dass in der bereits erwähnten Natureinteilung die erste Natur als tätiges Prinzip ausgewiesen wird, die durch seine Aktivität alles Seiende bedingt. Für Eriugena steht fest, dass das Absolute trotz seiner Transzendenz in sich selbst eine gewisse Bewegung aufweist, womit er das Transzendenzkonzept der neuplatonischen Orthodoxie neu durchdenkt, aber so, dass das Absolute dennoch nicht mit ontologischen Formeln, also nicht mit den oben genannten »sophisteischen« und »parmenideischen« Prädikaten des seienden Einen, belastet wird. Er insistiert in diesem Zusammen­ hang darauf, dass das Absolute wegen seiner Transzendenz ganz bei sich bleibt und nicht aufhört, über allem und eben auch über der Bestimmungstotalität der zweiten Natur zu sein. Eriugena macht diese Aktivität insbesondere anhand dreier Beispiele deutlich: (i) Am Ende des ersten Buches des Periphyseon konstruiert Eriugena eine überwesentliche »Bewegung« des Absoluten und begreift diese zugleich als dessen Selbstliebe. Die dem Absoluten eigene Bewegung vollzieht sich wie dessen Liebe freilich nicht in einem herkömmlichen ontologischen Sinn, der ja auch negiert wird, sondern »secundum excellentissimum modum«.555 Bewegung und Liebe des Absoluten müssen demnach als durch absolute Negation gereinigte ›Bewegung‹ und ›Liebe‹ begriffen werden.556 Eriugena Vgl. etwa Periphys. I lin. 403–408 (PL 122, 451C–D): »Praedictarum itaque naturae diuisionum prima differentia nobis uisa est in eam quae creat et non creatur. Nec immerito, quia talis naturae species de deo solo recte praedicatur, qui solus omnia creans ANAPXOC (hoc est sine principio) intelligitur esse, quia principalis causa omnium quae ex ipso et per ipsum facta sunt solus est. Ac per hoc et omnium quae ex se sunt finis est; ipsum enim omnia appetunt.« 552 Periphys. I lin. 876–884 (PL 122, 462C–D). Die Fülle an Stellen, in denen Eriugena die Transzendenz betont, ist enorm. S. überblickend Rohstock: Der negative Selbstbe­ zug, 158–159 mit Anm. 568. 553 Etwa Periphys. III lin. 2793–2801 (PL 122, 686C-687A). 554 Periphys. I lin. 894–896 (PL 122, 463A). 555 Periphys. I lin. 3400–3444 (PL 122, 521C-522C); hier lin. 3437–3438. 556 Periphys. I lin. 3218–3288 (PL 122, 514A-518D). 551

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beruft sich hierbei auf Dionysios, geht aber über dessen eher ontologi­ sche Beschreibung von göttlicher Ruhe und Bewegung hinaus.557 Das Absolute liebt sich nach Eriugena selbst und wird von sich selbst in sich selbst und in uns geliebt. Jedoch liebt das Absolute sich selbst nicht und es wird nicht von sich selbst in sich und in uns geliebt, weil es »sich mehr als liebt« und »in sich selbst und in uns mehr als geliebt wird«.558 Die »nominaliter« prädizierte Bestimmung wird dem Absoluten also durch die Negation abgesprochen.559 Und in der Folge dieser Negationsbewegung endet Eriugena in der bereits oben genannten Formel »plus quam«.560 Diese Formel bezeichnet für Eriugena vor allem die Überwesentlichkeit oder Transzendenz, wobei Eriugena im vorliegenden Fall eine entscheidende Wendung vornimmt: Eriugena entwirft hiermit, so habe ich an anderer Stelle ausführlicher zeigen können, eine Negationslogik, die gezielt den negativ-transzendenten Charakter des Absoluten und dessen ›Bezugsmodus‹ herausarbeitet. Und in diesem Zuge schreibt er dem Absoluten Liebe zu, aber ohne diese dem Absoluten in einem herkömmlichen, ontologischen Sinne eigentlich zuzuschreiben und ohne sie privativ vom ihm zu negieren. In der Negationsbewegung reinigt er die Liebe und kann sie so vom Absoluten aussagen – womit Eriugena, sachlich gesehen, über die Absolutheitskonzeption von Proklos hinausgeht und sich zugleich dessen πρόνοια-Begriff annähert. (ii) Fernerhin betont Eriugena, dass sich das Absolute in tran­ szendenter Überwesentlichkeit »weiß«.561 Da es keine Wesenheit ist, »weiß« es konsequenterweise nicht, »was« es ist. Daher bezeichnet Eriugena das Wissen des Absoluten als »Göttliches Nichtwissen« (diuina ignorantia).562 Dieses Nicht-Wissen ist für Eriugena jedoch nicht die Privation des Wissens, also kein Unwissen, sondern viel­ mehr »höchste Weisheit« (summa sapientia).563 Das Absolute, so 557 Periphys. I lin. 3445–3475 (PL 122, 522D-524A). Vgl. De div. nom. IX § 8–9; CD I, p. 212, lin. 16 – p. 213, lin. 20. 558 Periphys. I lin. 3415–3418 (PL 122, 522A). 559 Periphys. I lin. 3419–3425 (PL 122, 522A–B). 560 Periphys. I lin. 3412 (PL 122, 522A). 561 Periphys. II lin. 2380–2386 (PL 122, 598A). – Dieses »Wissen« ist nicht im Sinne des absoluten Wissens bei Fichte zu fassen, weil es sich nicht konkret explizieren lässt. Eher ist es als reines Fühlen zu begreifen, das Fichte der absoluten Liebe zuspricht. S. dazu Kap. IV. 562 Periphys. II lin. 2110–2115 (PL 122, 590C–D). 563 Periphys. II lin. 2210–2214 (PL 122, 593C–D). Dazu Beierwaltes: Eriugena, 180– 203. S. auch Rohstock: Der negative Selbstbezug, 163–164 mit Anm. 586 und Donald

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kann man vor diesem Hintergrund formulieren, bezieht sich im Modus seiner eigenen Negativität, in der ›Form‹ des Nicht-Wissens, auf sich selbst.564 (iii) Wie gesehen fasst Eriugena das Absolute als negatio omnium, die alle Wesenheiten übersteigt. Im Gegensatz zu Proklos bezeichnet Eriugena mit dieser Verneinung alles Seienden und NichtSeienden das Überwesen des Absoluten selbst und nicht ›bloß‹ unse­ ren Weg zu diesem: Wenn die erste Natur aktiv ist und zugleich als negatio omnium beschrieben wird, dann eignet dem Absoluten offen­ bar selber dieser Negationsakt. Der Begriff negatio omnium illustriert also die eigene Aktivität des Absoluten. Diese Wendung Eriugenas dient vor allem dazu, die Transzendenz zu bewahren, obgleich hier ein Akt angesprochen wird. Dergestalt können wir spekulieren, dass es als reines Negieren bzw. reiner Negationsakt verstanden werden soll, das bzw. der ganz in sich bleibt und daher als Selbstbezüglichkeit im Horizont reiner Negativität ausgewiesen wird.565 Und gerade hierin ist die ignorantia des Absoluten zu erkennen.566 Diese drei Beispiele lassen sich durch ein weiteres Konzept Eriugenas präzisieren, wodurch gerade die ent-ontologisierte und entkategorialisierte ›Form‹ des Selbstbezuges des Absoluten noch deut­ licher herausgearbeitet werden kann.567 Gemeint ist sein Begriffskon­

F. Duclow. Masters of Learned Ignorance: Eriugena, Eckhart, Cusanus. Aldershot/ Burlington, VT: Ashgate, 2006, 23–39. 564 Werner Beierwaltes hatte bereits einen negativen Selbstbezug des Absoluten bei Eriugena festgestellt (Beierwaltes: Denken des Einen, 337–367). Zur Explikation dieses Gedankens s. Rohstock: Der negative Selbstbezug, 132–201; bes. 163–173. 565 Damit hätte Eriugena den Negationshorizont, der von Proklos im Rahmen seiner Henadenlehre beschrieben wurde, reformuliert. 566 Vgl. Rohstock: Der negative Selbstbezug, 158–173. 567 Bei seiner Diskussion der Aristotelischen Kategorienlehre, die Eriugena, wie Jens Halfwassen im Anschluss an die Erörterungen Kurt Flaschs zeigen konnte, in sein ursprüngliches Platonisches Fundament reintegrierte (Jens Halfwassen. »Sub­ stanz/Substanz–Akzidenz«. Historisches Wörterbuch der Philosophie 10 (1998), Sp. 495–507. Kurt Flasch. »Zur Rehabilitation der Relation: Die Theorie der Beziehung bei Johannes Eriugena«. In: Wilhelm F. Niebel und Dieter Leisegang (Hg). Philosophie als Beziehungswissenschaft. Frankfurt: Heiderhoff, 1971, 5–25), wird deutlich, dass Eriugena daran interessiert ist, die Relation von Gott auszusagen. Eigentlich (proprie) aber könne die Relation nicht von Gott ausgesagt werden, sondern nur im übertrage­ nen Sinn (per metaphoram), da Gott alle Bestimmungen transzendiere (Periphys. I lin. 887–996 (PL 122, 462D-465C); bes. lin. 958–996). Hier scheint Eriugenas Absicht durch, eine Relation ohne konkretes relatum zu konstruieren.

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strukt oppositio oppositorum.568 Dieser Begriff weist eine doppelt negative Struktur auf, in der die andersheitliche Negationsform (oppositum) negiert und mithin transzendiert wird: Bekanntermaßen hat Eriugena die Kategorie der Relation rehabilitiert und sie damit in ihr ursprünglich platonisches Fundament reintegriert.569 Bei ihm ist die Relation keine akzidentielle Bestimmung wie bei Aristoteles, sondern wesentliches Charakteristikum aller Entitäten. Jedes Seiende steht seinem Wesen nach in einem Bezug zu anderen Seienden und ist daher ein oppositum. Die Relation avanciert so – wie bereits im Platonischen Sophistês – zum Grundzug der Wesen aller Seienden. Die Dimension dieses relationalen Wesens, das in sich durch die obersten Gattungen, Ruhe und Bewegung, geprägt ist, wird durch Eriugenas Negation transzendiert.570 Ganz im Sinne des spätantiken Neuplatonismus pointiert Eriugena mit der oppositio oppositorum also die Übergegensätzlichkeit des Absoluten. Und weil Eriugena das Absolute als aktive Einheit fasst, avanciert der Begriff oppositio oppositorum fernerhin zum Ausdruck der Vollzugs- und Bezugsform des Absoluten. Diese Negation beschreibt also die spezifische Bezugs­ form des Absoluten als Bezug in In-Differenz, wobei dieser Begriff die Negativität der oppositio oppositorum genauso gut zum Ausdruck bringt. Indem also das Absolute die andersheitliche Negation trans­ zendiert, bezieht es sich nicht-andersheitlich und damit in negativer ›Form‹ »von sich selbst in sich selbst zu sich selbst«.571 Eriugena kommt es gerade auf den Vollzug des Absoluten an: Es erscheint als nicht-andersheitlicher Bezug bzw. als nicht-andersheitliche Nega­ tionsform und damit als transzendente Selbstbezüglichkeit. Eriugena kommt es auf die Einheit von überseiendem ›Wesen‹ und überwe­ sentlicher Tätigkeit des Absoluten an. Die Tätigkeit des Absoluten ist also mit anderen Worten sein ›Wesen‹ und sein ›Wesen‹ ist die reine Negativität. Es lässt sich also vermuten, dass Eriugena den 568 Periphys. I lin. 3231–3232 (PL 122, 517C). S. dazu und zum Folgenden Rohstock: Der negative Selbstbezug, 163–181 und »Johannes Scottus Eriugena und Nicolaus Cusanus«, 425–430. 569 Flasch: »Zur Rehabilitation der Relation«, 5–25. 570 Vgl. Periphys. II lin. 2044–2052 (PL 122, 588D-589A). 571 Periphys. I lin. 458–463 (PL 122, 453A); Hervorh. Roh.: »Deum moueri non extra se dixi, sed a se ipso in se ipso ad se ipsum.« Vgl. Periphys. I lin. 3400–3440 (PL 122, 521C-522C). Damit ist das Absolute also gerade als negativer Selbstbezug reine Autarkie und in diesem Zuge auch Aseität. Es allein ist, wie auch Fichtes Absolutes, nicht von einem anderen, sondern »von sich« (Periphys. I lin. 550–551 (PL 122, 455A)).

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Selbstbezug des Absoluten als reines Relieren dachte. Und damit hat er einen zentralen Aspekt der Proklischen Henadenlehre reformuliert. Er hat also – deutlicher als Dionysios – die in sich geschlossen bleibende ›Bewegung‹ des Absoluten in Reinheit zu fassen versucht. Freilich bleibt zu beachten, dass der Begriff oppositio oppositorum ein sprachliches Konstrukt ist. Überhaupt besteht kein Zweifel daran, dass sich Eriugena – wie schon Proklos – darüber bewusst ist, dass wir das Absolute aufgrund seiner vollkommenen Transzendenz nicht durch unser Denken erreichen können. Allenfalls können wir uns und unser Wissen im Angesicht der Transzendenz besonnen bescheiden und das Absolute als Unbegreifliches begreifen.572 Daher betont er, dass die Negationen, durch die wir das Absolute als Prinzip denken, keine das Absolute selbst begrenzenden oder definierenden Bestim­ mungen seien, sondern über Denken und Begreifen hinaus auf das Absolute verweisen.573 Die Negation, durch die die Tat des Absoluten begreifbar gemacht wurde, bleibt also Begriff des Absoluten.574 Das Negieren bleibt also Verweis, der uns aber nicht über das Überwesen des Absoluten täuscht, sondern uns, wie Proklos es ausdrücken würde, vom Absoluten begeistert.575 Deswegen spricht auch Eriugena von einer »brennenden Begierde« nach dem Absoluten.576 Die Begrifflich­ keit des Negierens kann ferner nochmals präzisierend anhand der oppositio oppositorum demonstriert werden: Die »oppositio« ist, wenn sie an den »opposita« hängt, eigentlich ein Verweis. Betrachtet man sie aber an ihr selber, also die Negation der »opposita«, bleibt im

Vgl. etwa Periphys. I lin. 835–838 (PL 122, 461C): »Ea uero quae dicit ›ueritas non est‹ merito diuinam naturam incomprehensibilem ineffabilemque clare cognoscens non eam negat esse, sed ueritatem nec uocari proprie nec esse.« Agnieszka Kijewska hat das Verhältnis von unserem Begreifen und der Unbegreifbarkeit des Absoluten treffend beschrieben; »Eriugena on the ineffability of God«, 178: »Man attempts to ›catch‹ Him [scil. Gott] in the net of his concepts, but they are always metaphorical, approximate notions that describe God but do not quite describe Him. Thus, our cognitive notions become another theophany that conceals while revealing, discloses without disclosing, discusses without stating. When discussing God, Eriugena will­ ingly uses the language of paradox because he is convinced that logic only applies to human categories of thinking and can adequately describe our world only.« Damit nimmt Eriugena Cusanus’ und Fichtes Konzept des wissenden Nichtwissens vorweg, wie wir in den beiden folgenden Kapiteln noch sehen werden. 573 Periphys. I lin. 867–884 (PL 122, 462B-D). 574 Periphys. II add. 4, lin. 25–31 (PL 122, 527B). 575 S. oben, § 14 und § 18–20. 576 Periphys. V lin. 2019–2023 (PL 122, 904A–B). 572

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Grunde nur ein reines Relieren übrig.577 Und dieses reine Relieren ist nichts anderes als der (in sich geschlossene) Akt des Absoluten sel­ ber.578 In unserem konkreten Zeigen via negationis blitzt das Absolute offenbar selber augenblickhaft auf, das reine Scheinen erscheint an den konkreten Wesenheiten, wobei wir auf die Erscheinung des Abso­ luten im Rahmen der Diskussion der »Immanenz« noch einmal zurückkommen müssen.579

§ 29) Der ›Abstieg‹ zur Immanenz – die Liebe in uns Wie aber kann unter der Voraussetzung einer in sich geschlossenen ›Bewegung‹ das Absolute überhaupt immanent sein? Zunächst ein­ mal ist zu beachten, dass das Absolute nach Eriugena »aus der Negation des Seins in die Affirmation des ganzen Alls des Seins« herabsteige.580 Man könnte es vorläufig auch so ausdrücken: Das Absolute scheint aus seiner Transzendenz in die Immanenz des Seins überzugehen. Überwindet das Absolute also seine transzendente Negativität und veräußert es sich in diesem Prozess? Wird es gar sel­ ber zur Kreatur? Diese Fragen würde Eriugena mit Verve verneinen. Welche Funktion übernimmt aber dann der von Eriugena behauptete »Abstieg« und wie kann die Immanenz des Absoluten verstanden werden?581 Eriugena legt großen Wert darauf, zu zeigen, dass das Absolute auch bei seinem vermeintlichen »Abstieg« vollkommene Transzen­ denz ist und bleibt: »Denn so wie Gott in sich selbst jenseits jeder 577 Wie später Fichte verwendet Eriugena in diesem Zuge die Methode eines »hin­ wegsehenden Zusehens«, um die opaken Sub-›Strukturen‹ des Absoluten für uns verstehbar zu machen (s. § 39–40, § 44 und § 47). 578 Das Absolute kann so als der Liebesvollzug selbst – im Sinne eines actus purus – gelten: Periphys. I lin. 3431–3435 (PL 122, 522B–C). 579 S. dazu § 29–30. – Unter anderem, so sei hier aber vorweggenommen, führt das reine Relieren, das aufscheint, wenn wir von den konkreten Wesenheiten absehen, an denen sich die Negation zu vollziehen scheint, zu einem neuen Bildbegriff. Dieser war zwar in der neuplatonischen Orthodoxie, wie wir anhand der Proklischen Henaden­ lehre sehen konnten, vorgeprägt. Im Hinblick auf das Absolute fand er aber keine Anwendung. 580 Periphys. III lin. 2569–2575 (PL 122, 681B–C). 581 Zum Folgenden, also zum Verhältnis von Transzendenz und Immanenz sowie zum Theophaniebegriff, habe ich mich bereits geäußert Rohstock: Der negative Selbstbezug, 181–189.

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Kreatur von keinem Geist begriffen wird, so ist er auch, wenn er in den verborgensten Tiefen der Kreatur [...] betrachtet wird, unbegreiflich.«582 Das Absolute, so pointiert Eriugena ganz unmiss­ verständlich, wird nicht Teil der Welt, wird nicht zu dieser oder jener Erscheinung bzw. Theophanie, sondern es erscheint an oder in den Theophanien als das an ihm selbst Nicht-Erscheinende.583 Genau genommen erscheint es an allem als Negation, weshalb es sich eigentlich ausschließlich negativ, also als negatio omnium, beschreiben lässt.584 Um die Immanenz des Absoluten näher zu beschreiben, muss genau auf die entgrenzende Wirkung der Begriffe negatio omnium und oppositio oppositorum geachtet werden: Diese Konzepte verdeutlichen, dass das Absolute grundsätzlich nicht von seinen Prinzipiaten abgesondert werden kann – wobei es, insofern es Prinzip aller konkreten Wesenheiten und Bestimmungen sein soll, ohnehin nicht einfach als isoliert vorgestellt werden kann.585 Gleichwohl präzisiert Eriugena durch seine Formeln die Nähe des Absoluten gegenüber seinen Prinzipiaten und damit gegenüber allen Wesenheiten und Bestimmungen: Der Bezugsmodus der negatio omnium ist, wie gesehen, keine andersheitliche Abgrenzung. Das Absolute ist kraft seiner Transzendenz gegenüber der Differenz nicht verschieden von seinen Prinzipiaten. Vor diesem Hintergrund ist Eriugenas Behauptung zu verstehen, Schöpfer und Geschöpf bildeten Periphys. I lin. 65–68 (PL 122, 443B): »Nam sicut ipse deus in se ipso ultra omnem creaturam nullo intellectu comprehenditur, ita enim in secretissimis sinibus creaturae [...] consideratus incomprehensibilis est.« 583 Periphys. III lin. 589–598 (PL 122, 633A–B). 584 Periphys. III lin. 2541–2555 (PL 122, 680D-681A). 585 Auf diesem Hintergrund ist auch, wie ich an anderer Stelle hervorgehoben habe, die Deutung Beierwaltes’ bezüglich der Prinzipfunktion des Absoluten zurückzuwei­ sen. Denn dieser hatte diese als Negation der ursprünglichen Negativität des Absolu­ ten gedeutet. Wie aber deutlich geworden sein sollte, deutet Eriugena das Absolute als Selbstbezug im Horizont transzendenter Negativität und nicht als Negation dieses Horizontes. Explizit weist Eriugena auch die transzendierende Negation als Prinzip aller Seienden aus. Daher arbeitet Eriugena die transzendierende Negation als Grund aller Dinge heraus und setzt diese so explizit mit der produktiven Negation gleich – wobei wir im Folgenden aber erörtern müssen, wie Eriugena auf dem Hintergrund der Negativität des Absoluten dessen Prinzipfunktion erörtern kann: »Als Grund der Weltschöpfung bleibt nur jene Negation übrig, die durch die Verneinung jeder Kreatur Gott über alles, was gesagt und gedacht werden kann, heraushebt und ihn als das Nichts der Seienden und Nicht-Seienden verkündet.« (Periphys. III lin. 2814–2817 (PL 122, 687B)). S. dazu Rohstock: Der negative Selbstbezug, 173–181 und »Johannes Scottus Eriugena und Nicolaus Cusanus«, 428–430. 582

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eine Einheit.586 Zugleich wird auch die Identität des Absoluten mit seinen Kreaturen verneint, denn es ist als negatio bzw. nihil omnium gerade nicht mit diesen identisch. Die Bestimmungen von Identität und Differenz werden also negiert und überstiegen. Ganz entschieden muss in diesem Zusammenhang daher betont werden, dass der Begriff der Transzendenz nicht mit der Bestimmung der Differenz verwech­ selt werden darf. Noch weniger ist die Transzendenz im Sinne eines ›Außerhalb‹ zu deuten. Denn das Absolute besteht nicht irgendwo außerhalb der Welt oder außerhalb des Menschen. Vielmehr ist es in »den verborgensten Tiefen« der Kreaturen und unseres eigenen Selbst.587 In diesem Zusammenhang ist Transzendenz auch nicht als Gegenbegriff zur Immanenz zu werten, zumal das Absolute jede Gegensätzlichkeit, wie oben beschrieben, überstiegen hat. Daher dürfen Transzendenz und Immanenz nicht mehr als Gegenbegriffe aufgefasst werden. Vielmehr dominiert die Transzendenz die Imma­ nenz, denn ein Immanenzbegriff, der ohne Transzendenz auskommen will, kann schnell zu der Auffassung führen, Gott und Kreatur seien identisch. Eine solche Auffassung aber erweist sich als haltlos, wenn beachtet wird, dass die Transzendenz die eigentliche Bedeutung der Immanenz erhellt: Klar pointiert hat Eriugena diese durch vollkom­ mene Transzendenz bedingte und gereinigte Immanenz, wenn er schreibt, dass sich das Absolute nicht nur in sich, sondern auch in uns liebe – oder genauer: »mehr als« liebe: Das Absolute liebt sich selbst in sich und in uns ohne Unterschied, denn sein überwesentliches ›Sein‹ in ihm selbst ist zugleich sein überwesentliches ›Sein‹ in uns. Als in uns wesendes Überwesen ist es uns unmittelbar präsent bzw. immanent, denn es ist auf überwesentliche Weise in den Wesenheiten und auf übersubstantiale Weise in den Substanzen (superessentialis in essentiis, supersubstantialis in substantiis) präsent.588 Mit dem »Abstieg« will Eriugena also vor allem die intime – und so caritativ-fürsorglich wirkende – Nähe des Absoluten gegenüber allem Seienden zum Ausdruck bringen, die sich auch als transzen­ dente Immanenz fassen lässt: Das Absolute lebt gerade als überka­ tegoriale, überkonkrete und übergegensätzliche Transzendenz im

Periphys. III lin. 2818–2832 (PL 122, 687B–C). Periphys. I lin. 65–68 (PL 122, 443B). 588 Periphys. III lin. 2406–2407 (PL 122, 677C). Vgl. Periphys. III lin. 1110–1113 (PL 122, 645C). 586 587

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1) Johannes Eriugena: Das Absolute als in uns wirkende Liebe

»inneren Herzen« jeder Kreatur.589 Durch die bleibende Transzendenz des Absoluten ist »nichts verborgener« und »nichts gegenwärtiger« als es.590 Aufgrund seiner Transzendenz vermag das Absolute uns sogar näher zu sein, als wir uns in unserem eigenen Selbstbewusstsein nahe sein können. Denn das denkende Bewusstsein benötigt ein Minimum an Differenz, um sich auf sich selbst zu beziehen, während das Absolute jede Differenz transzendiert. Die Transzendenz ist der Garant für die intime Präsenz des Absoluten. Es ist als transzendente Negativität gegenwärtig, also überwesentliche Präsenz. Und dadurch klärt Eriugena die Einheit von Immanenz und Transzendenz durch die Transzendenz. Weil Eriugena an der Transzendenz des Absoluten festhält, kann er dessen Immanenz in allem auch als Selbstbezug der vollkommenen Transzendenz deuten: Der Selbstbezug ist nämlich nicht auf die Sei­ enden angewiesen, so als ob sich die Selbstbewegung des Absoluten an seinen Prinzipiaten vollziehen würde.591 Der Selbstbezug des Absoluten wird vielmehr durch die Negation aus der durchgängigen Differenz der Bestimmungen befreit und so zur Transzendenz stili­ siert. Nach Eriugena liebt (sich) das Absolute in allem und insofern es (sich) in allem liebt, will es Eriugena als Bedingung der Möglichkeit jedes Seienden verstanden wissen. Allerdings haben wir die Funk­ tionsweise dieses in uns lebenden, uns bedingenden und caritativ wirkenden Selbstbezuges im Folgenden zu präzisieren.592 Denn die Frage, wie eine reine Negativität, auch wenn sie als selbstbezügliche 589 Periphys. III lin. 615 (PL 122, 633C). – Wie wir weiter unten sehen werden (§ 30– 31), können wir auch schon bei Eriugena das Fichtesche Diktum konstatieren, dass wir das Absolute durchaus selber sind. Diese Einheit ist aber keine Identität und lässt sich daher nur negativ ausdrücken. Gerade die hier in Anschlag gebrachte Negations­ methode lässt uns also unsere Einheit mit dem Absoluten einsehen. Es lebt mit und in uns selber. 590 Periphys. III lin. 2040 (PL 122, 668C): »nihil secretius, nihil praesentius«. Vgl. Periphys. III lin. 617 (PL 122, 633D): »semper in se ipso manet«. Periphys. III lin. 619– 620 (PL 122, 633D): »Et dum aliis adiungitur, suam simplicitatem non relinquit.« Vgl. Periphys. III lin. 3337–3339 (PL 122, 699C). Vgl. auch Periphys. III lin. 603–604 (PL 122, 633B): »Et dum sic extrinsecus apparet, semper intrinsecus inuisibilis permanet.« – Man könnte auch sagen: Die Differenz zwischen dem Absoluten »in sich« und »in uns« ist gefallen. Sein »in sich« ist sein »in uns«. 591 Periphys. I lin. 3156–3175 (PL 122, 515D-516B). 592 Freilich ist hier noch einmal mit Betonung darauf hinzuweisen, dass das Absolute uns als Selbstbezug erscheint und als solcher begriffen wird. Es muss aber als solcher begriffen werden, um als Prinzip aller Kreaturen und Bedingung aller Möglichkeiten begriffen werden zu können.

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III) Die christliche Transformation der neuplatonischen »Henophanie«

Transzendenz in uns selber leben sollte, die Prinzipfunktion des Abso­ luten erhellen kann, bleibt nach wie vor drängend. Bleibt das typisch neuplatonische Problem, dass das Absolute aufgrund seiner Trans­ zendenz eigentlich nicht mehr als Grund begriffen werden kann, nicht auch bei Eriugena bestehen?

§ 30) Die Funktionsweise des (uns) immanenten Prinzips und seine Wirkungen Unverkennbar wird die selbstbezügliche Liebe des Absoluten als intime Präsenz verstanden, insofern uns »nichts gegenwärtiger« sein kann als das Absolute. Was aber, so wollen wir in einem weiteren Schritt fragen, bewirkt die absolute Liebe in unserem Innersten? Und wie lässt sich ihre Funktionsweise vorstellen? Eriugena spricht in Anlehnung an Dionysios – und ganz im Sinne des paganen Neuplatonismus – unmissverständlich davon, dass alle Kreaturen zum Absoluten streben.593 Das Absolute zieht uns also an, ruft uns gewissermaßen zu sich und Eriugena illustriert die Attraktivität des Absoluten, das in unserem Innersten weilt, durch die Kraft eines »Magneten«.594 Die magnetische Wirkung kann das Abso­ lute offenbar nur kraft seiner eigenen Aktivität und inneren Energie qua Selbstbezüglichkeit entfalten. Veranschaulichen lässt sich diese prinzipiierende Kraftentfaltung des Absoluten durch ein Konzept, das eigentlich auf Isaak Luria zurückzuführen ist und »Zinzum« genannt wird. Gershom Scholem hat dieses Konzept pointiert zusammenge­ fasst: Periphys. I lin. 3304–3308 (PL 122, 519B). Wird die Liebe als Streben zum Absoluten gefasst, kann sie im Sinne eines Genitivus obiectivus begriffen werden. Damit greift Eriugena offenbar auf die Platonische Tradition zurück: Die Liebe hat für Eriugena, wie schon der Plotinisch-Proklische ἔρως, eine anagogische Funktion und steht gewissermaßen ›zwischen‹ dem Liebenden und dem ›Objekt‹ der Liebe, also dem Absoluten. Im Sinne des Platonismus wird diese Liebe allerdings durch das Absolute transzendiert, weil sie henologisches Streben ist: Also scheint sie ein wesentliches Charakteristikum der Prinzipiate des Absoluten zu sein, gerade weil sie von Eriugena unmittelbar mit dem kosmologischen wie eschatologischen Rückgang (reditus), also der Rückkehr zu Gott, verbunden wird. Dieses Streben wird durch die metaphysische Anziehungskraft des Absoluten bedingt, sodass jedes Seiende als strebendes Wesen durch die Macht des Absoluten getragen und bedingt wird. 594 Periphys. I lin. 3348–3353 (PL 122, 520B). 593

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»Der erste aller Akte des unendlichen Wesens, des En-Sof, war also, und das ist entscheidend, nicht ein Schritt nach außen, sondern ein Schritt nach innen, ein Wandern in sich selbst hinein, eine, wenn ich den kühnen Ausdruck gebrauchen darf, Selbstverschränkung Gottes ›aus sich selbst in sich selbst‹.«595

Einen ganz ähnlichen Akt können wir im Hinblick auf Eriugenas Absolutheitskonzeption feststellen. In seinem Akt, der transzendie­ renden negatio omnium, ›zieht sich das Absolute in sich zurück‹ oder ›schließt sich ab‹. Wir können diese Tat durchaus als ›Selbsttranszen­ dierungsakt‹ verstehen, wobei hier dennoch Vorsicht geboten ist. Denn es ist mit Verve darauf hinzuweisen, dass sich das Absolute nicht transzendieren muss, um transzendent zu sein. Auch ist dieses Abschließen keine Privation, kein Ausgrenzen, keine Weltflucht, sondern präsente Lebendigkeit und Produktivität. Vielmehr wird hier das Konzept der Transzendenz durch den Gedanken des produktiven Entziehens näher beschrieben. Transzendieren meint nämlich einen produktiven Entzug, in dessen Zuge eine gravimetrische Kraft entsteht – oder anders ausgedrückt: Das Entziehen ist diese metaphysische Anziehungskraft selber. Dadurch wird ein neuer Begriff des ›Entzu­ ges‹ geschaffen, der eben keine Privation meint, sondern fundierende Kraft sein soll. Es wird durch den Selbstbezug eine innere Dynamik suggeriert, die eine Selbstkontraktion expliziert, die die Formen, die die Transzendenz so umlagern, wie ein Kreis den Mittelpunkt umschließt, anzieht – und zwar so, dass die Formen auf sich selber hin kontrahiert werden.596 Wir können uns diesen Akt ähnlich der Kraftentfaltung einer elektromagnetischen Spule vorstellen, die durch ihre eigene innere Dynamik eine gravimetrische Kraft erzeugt. Kraft seiner inneren Energie wirkt das Absolute auf seine Prinzipiate grav­ imetrisch, freilich auf absolute Weise, sodass es der »Punkt absoluter

595 Gershom Scholem. Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen. Frankfurt am Main: Metzner, 1957, 286. Insofern aber diese Selbstverschränkung als »Verbannung« oder »Exil« verstanden wird (ibid. 286–287), dürfte sich Lurias Konzept von Eriugenas Denken entfernen. 596 Oder noch einmal anders formuliert: Der Entzug ist die Selbstkontraktion des Absoluten, die nichts anderes als eine gravimetrisch-metaphysische Kraft ist, durch die alles Seiende in Spannung hin auf das Absolute gehalten wird. Dieses ist in uns selber, denn ein ›Außerhalb‹ kennt es nicht, und zieht uns dergestalt auf uns selber hin. Jede Bestimmung und jede Form wird durch die produktive Negativität des Absoluten gehalten.

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Gravitation« ist.597 Freilich müssen wir im Hinblick auf das Absolute die innere δύναμις selber als Kraft verstehen: Die Kraft umgibt also nicht das Absolute, sondern es ist die Kraft selbst.598 Und durch diesen Punkt sind alle Prinzipiate auf sich selbst hin ausgerichtet und kontrahiert, wobei in diesem Zusammenhang noch einmal pointiert werden muss, dass diese Kraft in uns selber lebt, sodass kein Abgrund mehr zwischen dem Absoluten und uns behauptet werden kann. Mit Fichte gesprochen könnte man sogar konstatieren, dass wir – freilich in unserem Kern – das Absolute selber sind, denn es wirkt nicht außerhalb von uns. Und doch sind wir als Formen nicht das Absolute, insofern jede Form durch das Band absoluter Liebe, das im Inneren des Daseins lebt und wirkt, zusammengehalten wird.599 Demnach bleibt das Absolute in uns formtranszendent. Es ist ja auch, wie oben beschrieben, reines Relieren, daher also nichts anderes als die nicht-konkret gegebene Bedingung aller konkreten Bestimmungen und Taten. In den Formeln der Lichtmetaphysik ließe es sich auch fraglos als reine Durchsichtigkeit oder reine Luzidität begreifen. Diese absolute Gravitation lässt sich als Bedingung des reditus, also des Rückganges zu Gott, verstehen und kann mit der in der For­ schung oft hervorgehobenen eschatologisch-soteriologischen Aus­ richtung von Periphyseon verbunden werden. Die Rückkehr meint in erster Linie Vereinfachung und Vereinigung von Getrenntem.600 Eriugena spricht in diesem Zusammenhang gar von einer Auflösung aller Kreaturen in Gott. Ziel scheint in erster Linie ein paradiesisches oder engelhaftes Dasein zu sein. Realisiert wird es, indem alles in 597 So auch Cusanus (s. § 34). Zu diesem Begriff s. Rohstock: Der negative Selbstbe­ zug, 186–187 und 198. 598 Es ist zu bemerken, dass Eriugena jede essentia als Dreieinigkeit von οὐσία (essentia), δύναμις (uirtus) und ἐνέργεια (operatio) denkt, wobei er die Dreieinigkeit anhand seiner Selbstbewusstseinstheorie erörtert (Periphys. I lin. 2053–2059 (PL 122, 490B)). Ohne das Sein würde es Verstehen nicht geben. Ohne die Fähigkeit des Verstehens wiederum käme es nie zur Realisierung des Verstehens. Verstehen wiederum ist fraglos eine Tätigkeit. Auch das Absolute kann in gewisser Weise als diese Dreieinigkeit begriffen werden, allerdings übersteigt es das Selbstbewusstsein des denkenden Ich. Gerade weil die tätige Kraft des Absoluten den Horizont des Konkreten transzendiert, kann Eriugenas Schema als Weiterentwicklung der Prokli­ schen Henadenlehre verstanden werden. Denn nun sind es nicht die Henaden, die in einem pro-noetischen ›Denken‹ alles vorhersehen. Es ist das Absolute selber, das diese ent-kategorialisierte Tätigkeit vollzieht. 599 S. dazu Kap. IV.2. 600 Periphys. V lin. 1502–1545 (PL 122, 893A-894A).

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seine Anfangsgründe, die im Wort Gottes subsistierenden primordi­ ales causae, reintegriert wird. Dieses erstrebenswerte paradiesische Dasein ist also rein intelligibler Natur. Die Erstursachen Eriugenas gleichen daher, nebenbei bemerkt, den göttlichen Ideen im (Neu-)Pla­ tonismus, die in der konkreten Totalität des absoluten Geistes (νοῦς) eingefaltet sind.601 Wie Eriugena den reditus im Detail bestimmt, soll an dieser Stelle nicht diskutiert werden.602 Entscheidend ist aber die Einsicht, dass sich aus dem eschatologischen Streben die ontologisch-kosmo­ logische Pointe ableiten lässt, dass das Streben bzw. die Liebe zum Absoluten als Struktur des Seins im Allgemeinen verstanden werden darf – und zwar auf der Grundlage der anziehenden Kraft des Abso­ luten. Jede Kreatur ist durch die Kraft des Absoluten auf das Absolute ausgerichtet und hingespannt; und aufgrund dieser Spannung ist sie gerade Seiendes. Kreatürliches Sein ist also durch sein natürliches Streben als Seiendes bestimmt, das nicht einfach in das Absolute übergeht, sondern durch die Kraft des Absoluten in der Disjunktion gehalten wird:603 Damit avanciert das Streben – oder, um es noch einmal anders auszudrücken: die henologische Spannung – zum Charakteristikum des Menschen, der Kreaturen und des Kosmos 601 Bes. pointiert bei Gregory Tullio. »Vom Einen zum Vielen: Zur Metaphysik des Johannes Scotus Eriugena«. In: Werner Beierwaltes (Hg). Platonismus in der Philosophie des Mittelalters. Darmstadt: WBG, 1969, 342–365. 602 Stephen Gersh. »The Structure of the Return in Eriugena’s Periphyseon«. In: Werner Beierwaltes (Hg). Begriff und Metapher: Sprachformen des Denkens bei Eriugena. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 1990, 108–125. Édouard Jeauneau. »The Neoplatonic Themes of Processio and Reditus in Eriugena«. Dionysius 15 (1991), 3–29. Carabine: John Scottus Eriugena, 93–107. 603 Wir sind nicht das Absolute, denn wir streben zu diesem. Das Streben ist also Ausdruck der Unterscheidung von uns und dem Absoluten, wobei diese Disjunktion durch das Absolute, also durch dessen attraktive Kraft, bedingt ist. Es zieht sich ferner von allen Formen und Formbestimmungen zurück, bedingt damit aber ihre jeweilige Einzigartigkeit und so wiederum ihre spezifische Differenz zueinander. – Das Ver­ hältnis des Absoluten zum Dasein einerseits und des Daseins zum Absoluten ist asymmetrisch: Das Absolute ist zwar nicht vom Dasein verschieden und unmittelbar präsent. Das Dasein aber ist nicht das Absolute und daher von diesem verschieden. – Inwiefern alles am Absoluten hängt, wird vom paganen und christlichen Neuplato­ nismus jeweils anders nuanciert: Während Plotin und Proklos betonen, dass es ohne die Transzendenz keine Spannung geben könne, verweisen Eriugena und Cusanus (s. § 34–35) auf die Kontraktion des Absoluten, durch die es attraktiv auf alles wirke. In beiden Fällen wird aber letztlich nicht mehr auf der Grundlage des Mangels der Prinzipiate argumentiert – oder anders formuliert: Henologisches Streben ist keine simple Mangelerscheinung.

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insgesamt. Die kreatürliche Gerichtetheit auf das Absolute oder das Hin(auf)spannen auf es, ist wiederum durch die Macht des Absoluten bedingt und gerade deswegen Ausdruck für unser spezifisches Wesen. Im Bilde des Magneten wird erkennbar, dass Streben unsere Signatur ist, die durch die metaphysische Anziehungskraft des Absoluten bedingt wird: Jedes Seiende wird, insofern es strebt, durch die Macht des Absoluten getragen und bedingt. Das Absolute ist also der tragende und selber opake Horizont aller Wesenheiten und unseres Selbst und meint eine vorauszusetzende Kraft, durch die alles Sein und Denken auf sich selber bezogen oder kontrahiert wird. Dieses Streben bzw. diese Spannung kann durch die oben beschriebene Immanenz absoluter Liebe im Wesenskern intelligibler Kreaturen noch genauer bestimmt werden. Drei Aspekte sind hierbei eigens hervorzuheben. (i) Zunächst kann die in allen Kreaturen gravimetrisch wirkende Kraft explizit ontologisch gewendet werden: Das Absolute zieht kraft seiner Selbstbezüglichkeit alle Prinzipiate an, wobei eine mögliche Trennung (χωρισμός) des Absoluten gegenüber den Kreaturen von Eriugena im Rückgriff auf die neuplatonische Negationslehre vermie­ den wird. Vielmehr plädiert Eriugena für eine intime Präsenz des Absoluten. Weil die Kraft des Absoluten als anziehende Macht vorge­ stellt werden kann, die in unserem Innersten wirkt, darf die Kreativität des Absoluten auch als Kontraktion des Seienden interpretiert werden: Gerade durch die allen Wesenheiten innerliche Kraft des Absoluten werden diese zu einem spezifischen Seienden zusammengezogen oder kontrahiert. Und als Kontraktionen sind wir auf uns selbst bezo­ gen. (ii) Wenn sich das Absolute in uns auf überwesentliche Weise liebt und uns so anzieht, dann werden wir durch es auf unser Inneres und mithin auf unser eigenes Selbst gewendet. Die Liebe des Absoluten ist mit anderen Worten Bedingung der Möglichkeit unserer eigenen Selbstbezüglichkeit und mithin unseres Denkens und unserer Reflexivität. Nur weil das Absolute als anziehende Selbstliebe wirkt, ist jede vom Absoluten geschaffene Wesenheit auf ihr eigenes Innerstes ausgerichtet. Weil auch wir durch das Absolute auf unseren verborgenen Wesenskern ausgerichtet sind, sind wir zugleich auf uns selbst, unsere Mitte und unser Innerstes ausgerichtet. Man kann die Liebe des Absoluten in diesem Zusammenhang auch als das Medium begreifen, durch das unsere Liebe zum Absoluten und

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unsere Bezogenheit auf unser Inneres möglich wird:604 Die Liebe des Absoluten kann in diesem Zusammenhang auch als das intelligible Licht verstanden werden, das selbst unsichtbar ist, aber gleichwohl die Bedingung aller intelligiblen Sehakte abgibt. Insofern bedingt und trägt es alle epistemischen Vollzüge, bleibt dabei aber selber gewissermaßen anonym, weil es nicht-konkret ›gegeben‹ ist und daher nicht im begreifenden Denken erfasst werden kann. Die Beschreibung des Absoluten als unser Zentrum gemahnt, nebenbei bemerkt, in besonderer Weise an die Philosophie Plotins und Proklos’ einerseits und an den transzendentalkritischen Idealis­ mus Fichtes andererseits: Das Streben hin zum Absoluten ist als Wendung auf unser Zentrum und unsere Herzensmitte gleichbedeu­ tend mit einer Wendung auf das eigene Selbst. Es ähnelt daher der Konzentration auf das Ich und kann mithin in den Kontext idealisti­ scher Selbstanalyse und Selbstdurchlichtung gestellt werden.605 Auch wenn Eriugenas Terminologie nicht an die Präzision idealistischer Analysen heranreichen mag, nehmen seine Absolutheitsspekulatio­ nen diejenigen des Idealismus sachlich gleichwohl vorweg. (iii) Im Lichte des Absoluten können wir uns zugleich bewusst werden, dass wir durch die Liebe des Absoluten in uns auf uns selbst hin konzentriert sind. Der Mensch ist sich seiner Führung durch das Absolute allerdings nicht immer bewusst, weshalb wir diese Möglich­ keit erst realisieren müssen. Die Möglichkeit zur Realisierung dieses Bewusstseins ist uns freilich gegeben – und zwar durch das Absolute selbst: Eine Macht liegt in uns verborgen, die aber kraft ihrer Trans­ zendenz, wie oben beschrieben, unmittelbar präsent ist. Aufgrund ihrer Präsenz haben wir natürlicherweise eine Ahnung des Absolu­ ten. Dieser können wir nachspüren, indem wir uns von allem bloß Äußerlichen abwenden, von der durchgängigen Gegensätzlichkeit des Kosmos abstrahieren, unsere intelligible Wesenheit analysieren 604 Unsere hier betrachteten Taten, also unser Selbstbezug und unser Absolutheitsbe­ zug, sind vom Absoluten selber bedingt. Genau vor diesem Hintergrund ist Eriugenas an Paulus orientiere Aussage zu verstehen, wonach eigentlich das Absolute in uns spreche, liebe, sehe und sich bewege (Periphys. I lin. 3429–3435 (PL 122, 522B–C). Wenn also diese unsere Taten durch das Absolute bedingt werden, dann kann unser Liebesverlangen nach dem Absoluten nicht Resultat eines Mangels sein. Vielmehr ist das Absolute Grund unseres Strebens und so wird dieses Streben als Grundcharakte­ ristikum des Daseins durch das Absolute selber bedingt. 605 Diesen Gedanken wird Cusanus später durch sein Konzept des Nicht-Anderen weiter konkretisieren (§ 34–35).

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und auf ihre Bedingungen hin hinterfragen. Dass das Absolute im Zuge dieses Prozesses fortschreitender Verinnerlichung als lichtende Macht begriffen werden kann, ist, wie bereits angedeutet wurde, durch die Gnade des Absoluten bedingt. Wahrscheinlich besteht das von Eriugena genannte »Gut-Sein« (bene esse), das er vom bloßen kreatürlichen »Sein« einerseits und dem »Ewig-Sein« im eschaton andererseits unterscheidet, im Bewusstsein darüber, dass das Absolute die uns fundierende Liebe ist.606 Dieses Bewusstsein, das in seiner Erweckung mit dem Proklischen ἐνθουσιασμός übereinstimmt, kann daher durchaus als Seligkeit bezeichnet werden. Seligkeit ist zwar offenbar Auserwählten vorbehalten, wobei aber Eriugena mit den Auserwählten diejenigen zu meinen scheint, die sich in freiem Ent­ schluss dem vom Absoluten gnadenhaft ausstrahlenden, erleuchten­ den und beseligenden Licht hingeben. Diese Auserwählten scheinen demnach nicht bloß Heilige oder besonders gläubige Menschen, son­ dern auch und gerade Philosophen zu sein: Denn Seligkeit ist offenbar kein bloßer Gnadenakt, sondern auch von unserer Einstellung abhän­ gig. Wir müssen uns den lichtenden Strahlen des Absoluten, also dem absoluten Licht selber, aktiv zuwenden. Daher kann Eriugena auch sagen, dass »Gut-Sein« durch zwei Gründe bedingt sei: Durch die Gnade absoluter Liebe einerseits und durch den freien Willen vernunftbegabter Kreaturen andererseits. Und derjenige, der sich der Liebe des Absoluten hingibt und dadurch vollends zur Vernunft durchdringt, ist ein die »höchste Weisheit« liebender Philosoph.

§ 31) Lieben und Leben des Absoluten in uns und die sog. unio mystica Diese drei Aspekte werfen schließlich Licht auf die Frage, inwiefern die Rückkehr zu Gott eine mystische Konnotation erhält. Ist, so müssen wir fragen, eine Einung mit dem Absoluten, so wie sie von Plotin, Proklos und Dionysios wenigstens gefordert wurde, überhaupt sinnvoll, wenn das Absolute doch schon in uns lebt? Zu diesem Zweck muss noch einmal der eschatologische reditus, der in der Philosophie Johannes Eriugenas eine prominente Rolle einnimmt und der die Reintegration des Geschöpfes in das Absolute selber zu meinen scheint, betrachtet werden. 606

Periphys. V lin. 2008–2023 (PL 122, 903D-904B).

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1) Johannes Eriugena: Das Absolute als in uns wirkende Liebe

Sicherlich lässt Eriugena keinen Zweifel daran, dass die Kreatur durch die göttliche Güte in einen ursprünglichen und daher paradie­ sischen Seins-›Zustand‹ zurückversetzt wird. Eriugena scheint davon auszugehen, dass die Kreatur in ihrem natürlichen Rückbezug auf Gott letztlich ihr irdisches Dasein überwindet und in die Natur der Erstursachen eingeht. Genau genommen handelt es sich hierbei um eine Reintegration der Kreatur in ihr eigenes und ursprüngliches, weil intelligibles Wesen. Die Erstursachen sind zwar ebenfalls geschaffen, gleichwohl aber geistige Entitäten, die ewig und unvergänglich im Wort Gottes subsistieren. Da alles Irdische von den intelligiblen Erstursachen abhängt, ist ein Rückgang zu diesen die Wiederherstel­ lung des ursprünglichen und eigentlichen Wesens jedes Seienden. Dieser Seins-›Zustand‹ ist für Eriugena das Dasein in Glückseligkeit und daher das Dasein607 im Paradies. Allerdings kann eine Reintegration der Kreatur in Gott auch durchaus im Sinne einer unio mystica verstanden werden, zumal die Einung mit dem Absoluten von Plotin, Proklos und Dionysios als Vollendung ihrer Philosophie begriffen wurde.608 Auch bei Eriugena taucht der Begriff deificatio (θέωσις) auf, wobei er diesen reditus spe­ cialis vom reditus generalis unterscheidet und den bereits erwähnten Auserwählten, die wie die Engel in »brennender Zuneigung«609 zum Absoluten und so selig sind, vorzubehalten scheint.610 Allerdings scheint Eriugena im Hinblick auf die Möglichkeit einer moment­ haften, punktuellen, augenblickhaften und also noch zu irdischen Lebzeiten realisierbaren unio mystica, soweit ich sehe, nicht ganz eindeutig Bezug genommen zu haben. Zwar erscheint das Absolute selbst als das uns erhellende Licht. Aber ist mit der beseligenden Erleuchtung zugleich ein Aufgehen im Absoluten gemeint? Vor allem scheint doch durch das Wissen um unsere Einheit mit dem Absoluten bereits Seligkeit erreicht worden zu sein. Wieso sollte also eine noch­ 607 »Dasein« ist hier verstanden als das Da-Sein des Seins, also als Erscheinung des Absoluten. Die Unterscheidung von Sein und dessen Dasein ist besonders bei Fichte – genauer: in seiner Anweisung zum seligen Leben – zu finden (GA I/9, passim). 608 Zur unio mystica bei Eriugena vgl. die instruierenden Überlegungen von Carabine: John Scottus Eriugena, 104–107. 609 Periphys. V lin. 2021 (PL 122, 904B). 610 S. dazu die ganze Passage Periphys. V lin. 2008–2093 (PL 122, 903D-906B). Zentral hierfür auch Periphys. V lin. 7043–7078 (PL 122, 1015B–C). Freilich meint Eriugena mit der Einung vor allem die Rückkehr zum Wort Gottes (etwa Periphys. V lin. 1481–1506 (PL 122, 892C-893B)).

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III) Die christliche Transformation der neuplatonischen »Henophanie«

malige Steigerung für Eriugena notwendig sein? Die höchste mögliche Einsicht ist für Eriugena zwar durchaus als Schau des Absoluten von »Angesicht zu Angesicht« zu verstehen, allerdings bestimmt Eriugena diese als das Begreifen des Absoluten als Unbegreifliches. Schon durch den unscheinbaren Begriff »als« wird erkennbar, dass es sich bei dieser Schau um unsere Einsicht und mithin unseren Begriff vom Absoluten handelt.611 Dadurch wird das transzendente Nichtwissen in die Strukturen des Wissens integriert. Das höchste menschenmögliche Wissen ist also ein wissendes Nichtwissen, ein Wissen um die Unbegreifbarkeit des Absoluten.612 Darüber hinaus weiß Eriugena – wie viele Jahrhunderte später Fichte –, dass das Absolute unser verborgener Wesenskern ›ist‹. Wir müssen uns daher gar nicht mehr in das Absolute selbst transformieren, denn im Kern ›sind‹ wir es bereits. Entscheidender als eine momentane, noch im Dasein zu erreichende unio mystica ist für Eriugena also die Einsicht, dass das Absolute als die uns leitende und daher uns immanente Liebe begriffen werden muss. Wir bilden mit ihr eine Einheit, gerade insofern sie von uns nicht mehr verschieden sein kann.613 Die Liebe muss als transzendent-immanente Bedingung unseres Daseins angenommen werden, auch wenn wir sie aufgrund ihrer Formtranszendenz im Begreifen niemals werden einholen können. Die transzendent-immanente Liebe ist offenbar das tragende Konzept der Metaphysik Eriugenas, denn sie avanciert zum meta­ physischen Band und Prinzip schlechthin, das jede Bestimmung, jede Wesenheit und überhaupt den gesamten intelligiblen Kosmos zusammenhält. Das Absolute liebt sich selbst in sich und in uns – und weil es sich (auch) in uns liebt, wendet es uns und alles Seiende kraft seiner gravimetrischen Macht zu ihm selbst hin, sodass Sein und Bewusstsein nur durch die Liebe des Absoluten bestehen können: Eriugena braucht, abschließend formuliert, nur noch den einen Liebesbegriff in Form absoluten Selbstbezuges, um alle Bestim­ mungen und ihre jeweiligen Differenzen zueinander auf absolute Einheit zurückzuführen. Sie ist das tragende Fundament aller kon­ 611 Zur Verbindung der Erscheinung, die wir denken können, und der Transzendenz, die unser Denken übersteigt, s. Rohstock: Der negative Selbstbezug, 181–189. 612 Gottes Nichtwissen oder Liebe bricht gewissermaßen auf. Und wir brechen das Licht in unserem Denken, sodass die Spekulation gewagt werden darf, dass wir selber Begriffe absetzen. Dieser letzte Gedanke wurde von Eriugena vorformuliert, von Cusanus weiterentwickelt (§ 34–35) und von Fichte vollendet (§ 46). 613 Vgl. dazu § 48 und § 49.

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2) Nicolaus Cusanus über das wissende Nichtwissen und den tragenden Horizont

kret-bestimmten Wesenheiten, damit auch die Grundlage für ihre jeweilige Abgrenzbarkeit und für die durchgängige Differenz der Sei­ enden.614 Und schließlich ist sie Bedingung für das henologische Stre­ ben der Kreaturen und damit unserer Seligkeit. Die Liebe des Abso­ luten wird also bei Eriugena kraft ihrer negativ-transzendenten und selbstbezüglichen Über-›Form‹ zum metaphysischen Band, das in uns selber lebt, mit uns eine Einheit bildet und die Bedingung der Mög­ lichkeit aller Akte abgibt.

2) Nicolaus Cusanus über das wissende Nichtwissen und den tragenden Horizont § 32) Cusanus’ neuplatonische Metaphysik Die oben vorgestellte Metaphysik Eriugenas findet im Denken Nico­ laus Cusanus’ ihre Fortsetzung.615 Es ist allgemein bekannt, dass Cusanus ein emsiger Leser neuplatonischer Schriften war: Seine Metaphysik steht, so kann man konstatieren, ganz im Zeichen der neuplatonischen Tradition. Die Hauptquellen Cusanischen Denkens sind natürlich die Werke von Dionysios Ps.-Areopagitês und Proklos. Freilich kann auch auf andere Denker, etwa auf Eriugena, Meister Eckhart, Thierry von Chartres oder Moses Maimonides verwiesen werden – wobei sich diese kleine Liste neuplatonisch inspirierter Denker problemlos verlängern ließe.616 Vor dem Hintergrund der 614 Man kann sicherlich davon ausgehen, dass Eriugena dafür plädieren möchte, dass das Absolute jedes Seiende zu diesem spezifischen Seienden macht. Warum aber die Seienden genau sie selber und nichts anderes sind, wird dadurch nicht geklärt. Dieses letzte Rätsel kann nach Eriugena wohl auch gar nicht geklärt werden. Nichtsdestoweniger lässt sich die Bedingung ihrer Faktizität angeben: Die Liebe hat sich als Bedingung der Möglichkeit jeder Konkretisierung verständlich gemacht. 615 Im Folgenden liegt der Fokus freilich auf dem Einheits- und Disjunktionspunkt und unserem Verhältnis zum Absoluten, wobei betont werden muss, dass Cusanus’ Denken äußerst vielschichtig ist. Den besten Überblick über die von Cusanus disku­ tierten Philosopheme bietet nach wie vor Kurt Flasch. Nikolaus von Kues: Geschichte einer Entwicklung – Vorlesungen zur Einführung in seine Philosophie. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 2001. S. auch Marco Brösch, Walter A. Euler, Alexandra Geissler und Viki Ranff (Hg). Handbuch Nikolaus von Kues: Leben und Werk. Darm­ stadt: WBG, 2014. 616 Zu der Vielzahl an Quellen insgesamt s. überblickend folgende kurze Notiz von Viki Ranff. »Hinweise zu den Quellen in den Schriften des Nikolaus von Kues«. In:

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zurückliegenden Erörterungen soll an dieser Stelle freilich und vor allem an das Denken Proklos’ und Eriugenas angeknüpft werden. Der Systemdenker Proklos ist hinsichtlich zweier Kernmomente des Cusanischen Denkens zweifellos dessen Hauptquelle:617 Erstens konnte sich Cusanus an Proklos’ Konzept der Transzendenz orientie­ ren und sich, zweitens und im selben Zuge, mit der Methode der negativen Theologie und ihrem Zusammenhang mit der affirmativen vertraut machen. 618 So wurde Proklos zum Ideengeber für das kom­ Marco Brösch, Walter A. Euler, Alexandra Geissler und Viki Ranff (Hg). Handbuch Nikolaus von Kues: Leben und Werk. Darmstadt: WBG, 2014, 355–359. 617 Der Einfluss von Proklos auf Cusanus ist gut dokumentiert. Zur Einführung s. Stephen Gersh. »Nicholas of Cusa«. In: Stephen Gersh (Hg). Interpreting Proclus: From Antiquity to the Renaissance. Cambridge University Press, 2014, 318–349. Neben einer schier unübersehbaren Fülle weiterer Publikationen (s. dazu Rohstock: Der negative Selbstbezug, 117–123, bes. 118, Anm. 400 und 401. S. auch Dirk Cürsgen. Die Logik der Unendlichkeit: Die Philosophie des Absoluten im Spätwerk des Nikolaus von Kues. Frankfurt am Main et al.: Peter Lang, 2007, 43–44 mit Anm. 5, 6 und 7) ist natürlich bes. auf die Arbeit Werner Beierwaltes’ zu verweisen (etwa auf Fußnoten zu Plato und Catena Aurea). In beiden Bänden steht das Cusanische Denken im Zentrum, wobei seine Verwurzelung in der neuplatonischen Tradition insgesamt besonders markiert wird. Mit Blick auf die Cusanische Proklosrezeption bes. hervorzuheben sind ferner Karl Bormann. »Affirmation und Negation: Der Parmenides-Kommentar des Proklos in Nikolaus von Kues’ Schrift Tu quis es«. Theologische Quartalschrift 181 (2001), 84–96. Schriften des Nikolaus von Kues in deutscher Übersetzung. Im Auftrag der Heidelberger Akademie der Wissenschaften hrsg. von Ernst Hoffmann, Paul Wil­ pert und Karl Bormann. Vol. 23, Über den Ursprung. Lateinisch-Deutsch. Neu über­ setzt, eingeleitet und mit Anmerkungen hrsg. von Karl Bormann. Hamburg: Felix Meiner, 2001, ix–xxvii. Beierwaltes: Procliana, 215–222. Schließlich sei auf die zahl­ reichen Randnotizen verwiesen, die Cusanus vor allem zum Parmenideskommentar und zur Theologia Platonis hinterlassen hat und die speziell den Einfluss der Prokli­ schen Henologie auf Cusanus dokumentieren: Karl Bormann. Cusanus-Texte: III. Marginalien. 2. Proclus Latinus. Die Exzerpte und Randnoten des Nikolaus von Kues zu den lateinischen Übersetzungen der Proclus-Schriften. 2.2 Expositio in Parmenidem Pla­ tonis. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 1986 (= CT III.2.2). Hans G. Senger. Cusanus-Texte: III. Marginalien. 2. Proclus Latinus. Die Exzerpte und Randnoten des Nikolaus von Kues zu den lateinischen Übersetzungen der Proclus-Schriften. 2.1 Theo­ logia Platonis – Elementatio theologica. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 1986 (= CT III.2.1). 618 In beiden Fällen kommt auch Dionysios, gerade weil er geistiger Schüler von Pro­ klos war, als Ideengeber infrage. Zum allgemeinen Verhältnis von Dionysios und Cusanus s. Beierwaltes: Platonismus im Christentum, 130–171. Doch an dieser Stelle soll der eher leidigen Frage, welcher Denker nun mehr Einfluss auf Cusanus’ Denken gehabt haben mag, nicht nachgegangen werden. Proklos steht hier eher im Zentrum, weil dessen Theorie des »Einen in uns« – freilich in verwandelter Form – auch bei Cusanus zu finden ist. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass Carlos

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2) Nicolaus Cusanus über das wissende Nichtwissen und den tragenden Horizont

plexe Verhältnis von Transzendenz und Prinzipfunktion bei Cusanus. Freilich transformierte Cusanus aber das Proklische Denken: Er hatte das tiefgreifende Problem, das die neuplatonische Henologie prägt, gesehen und genau dort angesetzt. Sicherlich konnte Cusanus bei Proklos Lösungen für das Grund­ paradoxon entdecken. Gerade die Bedeutung der transzendierenden Negation als produktive Kraft adaptierte und integrierte er in sein System.619 Überhaupt beweisen eine immense Fülle an Randbemer­ kungen zum Parmenideskommentar und zur Theologia Platonis und nicht wenige direkte Zitate in Cusanus’ philosophisch-theologischen Werken, besonders in De principio, seine Wertschätzung für Proklos’ negativ-theologische Philosophie. Natürlich modifizierte er dabei den Proklischen Grundgedanken so fundamental wie originell. Denn Cusanus hat die produktive Kraft des Negierens auf das Absolute620 selber übertragen und dieses gerade dadurch als Akt bzw. Tätigkeit verstanden. Man kann es verkürzt – und freilich zugespitzt – auch fol­ gendermaßen fassen: Das »Eine in uns«, also den Einheits- und Dis­ junktionspunkt der Proklischen Metaphysik, erhebt Cusanus gewis­ sermaßen zum Absoluten selber.621 Cusanus’ Herangehensweise und Steel die Differenzen zwischen der Proklischen und der Cusanischen Form negativer Theologie überzeichnet (»Beyond the Principle of Contradiction?«, 598–599). Denn bei beiden scheitert die Dialektik daran, das Absolute zu begreifen. In beiden Fällen kommt es aber gerade so zu einer produktiven Wende, in der ein selbstbewusstbesonnener Selbstbescheid des Denkens gegenüber dem Absoluten generiert wird. Vgl. § 18–19 mit § 33. Freilich ist zu konzedieren, dass Cusanus die Radikalität der Proklischen Konzeption abschwächt, vor allem um noch einen Selbstbezug des Abso­ luten (und mithin die Trinität) postulieren zu können. Für die vorliegende Diskussion ist aber Cusanus’ Rezeption produktiver Negativität entscheidend. 619 Proklos: In Parm. VI p. 1133, lin. 3–4: »αἱ ἀποφάσεις, ὡς δέδεικται, μητέρες εἰσὶ τῶν καταφάσεων«. Dazu CT III/2.2, Marg. 520. Vgl. ferner In Parm. VI p. 1075, lin. 14–15 mit CT III/2.2, Marg. 436, In Parm. VI p. 1076, lin. 23–25 mit CT III/2.2, Marg. 440 und In Parm. VII p. 1208, lin. 19–20 mit CT III/2.2, Marg. 585. Zur Aufnahme der produktiven Negation in das Cusanische Denken s. Rohstock: Der negative Selbstbezug, 44–49 und »Tu quis es – De Principio«. In: Marco Brösch, Walter A. Euler, Alexandra Geissler und Viki Ranff (Hg). Handbuch Nikolaus von Kues: Leben und Werk. Darmstadt: WBG, 2014, 222–226. 620 Für Cusanus gibt es keine Differenz zwischen den Bezeichnungen »Gott« und »Absolutes« (vgl. schon Hogrebe: Echo des Nichtwissens, 156). 621 Wie schon gesagt hat Johann Kreuzer die bleibende Bedeutung des »Einen in uns« in der Philosophiegeschichte klar erkannt (Hölderlin: Theoretische Schriften, xi, Anm. 12. Vgl. Kreuzer: Gestalten mittelalterlicher Philosophie, 119–120, Anm. 8). – Die apex mentis scheint übrigens das christliche Äquivalent zum »Einen in uns« zu sein, wobei die Abhängigkeit des christlichen Begriffes von der pagan-neuplatoni­

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Lösungsansatz des Grundparadoxons ist also anders gelagert als bei Proklos oder Plotin, insofern das Absolute selber zur δύναμις wird. Gleichwohl bleibt die Funktionsweise des Einheits- und Disjunktions­ punktes durchaus erhalten. Wir können es auch folgendermaßen auf den Punkt bringen: Cusanus’ Absolutheitskonzeption erinnert beson­ ders an die Ausführungen Eriugenas und, das sei hier der Vollständig­ keit halber erwähnt, Meister Eckharts. Denn bei allen drei Denkern lässt sich, trotz der jeweiligen Unterschiede, der Einheits- und Dis­ junktionspunkt als actus purus, also als reine Tätigkeit, begreifen. Diese Tat ist das Prinzip, das alles Seiende und unsere epistemischen Vollzüge trägt und leitet: Mit dem Begriff einer reinen, nicht-kategorial fassbaren und nicht mit ontologischen Bestimmungen beschreibbaren absoluten Tat ist ein hintergründiger, tragender Horizont gemeint. Und wenn Wolfram Hogrebe von einem »anonymen Reglement« spricht, das unsere »semantischen Explikationsbemühungen« diri­ giere, so bezieht er sich (u.a.) explizit auf Cusanus.622 Bei ihm, so darf hier vorweggenommen werden, avanciert dieser Gedanke sogar zum Kern seiner metaphysischen Absolutheitsspekulation. Und schließlich hat der Einheits- und Disjunktionspunkt bei Cusanus auch noch eine soteriologische Funktion623 und ist also für Theorie und Praxis maßgeblich. Freilich muss uns Cusanus darüber aufklären, wie er dazu kommt, das Absolute als Prinzip oder als Einheits- und Disjunkti­ onspunkt zu fassen, der selber alle Einheiten und jede spezifische Differenz bedingt. Hierbei kommt es zu dem Problem, dass das Abso­ lute auch in der Philosophie des Kardinals unfassbar ist. Die Inkom­ mensurabilität des Absoluten avanciert gar zum Markenzeichen des Cusanischen Denkens und firmiert bei ihm unter einem speziellen schen Tradition an dieser Stelle durchaus vermutet werden darf. Einleitend zur apex mentis hat sich Endre von Ivánka schon vor Jahrzehnten geäußert (»Apex Mentis: Wanderung und Wandlung eines stoischen Terminus«. Zeitschrift für katholische Theologie 72/2 (1950), 129–176; zur Parallele vgl. bes. 139), wobei hier darauf ver­ wiesen werden muss, dass Ivánkas Platonismusdeutung eher irreführend ist, weil er den Platonismus grundsätzlich in Opposition zum christlichen Denken sieht. Werner Beierwaltes hat Ivánka diesbezüglich schon umfassend korrigiert. S. etwa seine Rezen­ sion zu »Endre von Ivánka. Plato Christianus: Übernahme und Umgestaltung des Pla­ tonismus durch die Väter. Einsiedeln: Johannes Verlag, 1964« im Philosophischen Jahr­ buch 73 (1965/66), 375–377. S. auch – und zum Verhältnis von Christentum und Platonismus im Allgemeinen – Platonismus im Christentum, bes. 7–24. 622 Hogrebe: Echo des Nichtwissens, 338. S. dazu unten, § 34. 623 S. dazu § 34–35.

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Begriff: der docta ignorantia.624 Dieses wissende Nichtwissen war sicherlich, wie wir bereits sehen konnten, schon vor Cusanus zentraler Bestandteil der Metaphysik. Es ist aber Cusanus’ eigenes Verdienst, diesen Gedanken (u.a.) präzisiert zu haben. In besonderer Weise zeigt sich Cusanus als Denker eines besonnenen Selbstbescheides,625 denn in seiner »belehrten Unwissenheit« überspringt er gerade nicht die, wie er es nennt, »Mauer des Paradises«626, sondern bleibt im Denken, also im Diesseits, verwurzelt. Damit verweist Cusanus’ besonnener Selbstbescheid gegenüber dem Absoluten, wie man unschwer erken­ nen kann, auf Fichtes Denken. Dieser hatte das »Wesen« der Philo­ sophie gegenüber Jacobi gar als »Begreifen des Unbegreiflichen als solche[s]« bestimmt,627 womit er den besonnenen Grundgedanken des Cusanischen Denkens in erstaunlicher Präzision reformuliert hat. Cusanus’ Metaphysik scheint also – und gerade vor dem Hintergrund 624 Cusanus hat diesen Gedanken natürlich insbesondere in seinem frühen Haupt­ werk, De docta ignorantia, entfaltet. Er taucht aber in seinem gesamten Œuvre auf. Mit Blick auf die für die vorliegende Diskussion zentralen Werke, also Idiota de sapientia und De li non aliud, sei auf folgende Stellen verwiesen: De sap. II; h V, n. 28, lin. 16–17: »in omni conceptu concipitur inconceptibilis« und De non aliud c. 8; h XIII, p. 18, lin. 1–2: »incomprehensibiliter comprehenditur«. Zum Konzept insgesamt s. Kurt Flasch. Die Metaphysik des Einen bei Nikolaus von Kues: Problemgeschichtliche Stellung und systematische Bedeutung. Leiden: Brill, 1973. Josef Stallmach. Suche nach dem Einen: Gesammelte Abhandlungen zur Problemgeschichte der Metaphysik. Hrsg. von Norbert Fischer. Bonn: Bouvier, 1982, 83–97. Jens Halfwassen. »Nikolaus von Kues über das Begreifen des Unbegreiflichen«. In: Klaus Dethloff, Ludwig Nagel und Friedrich Wolfram (Hg). ›Die Grenze des Menschen ist göttlich‹: Beiträge zur Religionsphilosophie. Berlin: Parerga, 2007, 241–258 (jetzt auch in: Auf den Spuren des Einen, 315–329). Cürsgen. Die Logik der Unendlichkeit, 9–32. Vgl. auch die Studien von Donald F. Duclow. The Learned Ignorance: Its Symbolism, Logic and Foundations in Dionysius the Areopagite, John Scotus Eriugena and Nicholas of Cusa. Ann Arbor, MI: o. V., 1974 und Masters of Learned Ignorance: Eriugena, Eckhart, Cusanus. Aldershot/Burlington, VT: Ashgate, 2006, 229–292 und 307–325. 625 Zur Besonnenheit bei Cusanus als Sokratisches Erbe s. Stallmach: Suche nach dem Einen, 83–97; bes. 83–84. 626 De vis. c. 9; h VI, n. 37, lin. 9. – Die unio mystica will Cusanus nach eigenen Anga­ ben nämlich selber nie erreicht haben (Brief an Kaspar Aindorfer vom 22.09.1452, in: Edmond Vansteenberghe. Autour de la docte ignorance: Une controverse sur la théologie mystiques au XVe siècle. Münster: Aschendorff, 1915, 113. Dazu Beierwaltes: Catena Aurea, 255–286). Unsinnig hingegen ist die Deutung durch Franziskus von Heereman, weil er Cusanus als genuinen Mystiker versteht, der – anders als Fichte – in einer Art salto mortale des Denkens einen »Überstieg in das differenzlose Absolute an sich« lehre (»Durch und durch ein ›Durch‹: Größe und Grenze des Fichteschen Bildbegriffs«. Fichte-Studien 42 (2016), 29–47; hier 39–40). 627 GA III/5, p. 236, lin. 14 – p. 237, lin. 4. S. dazu Kap. IV.

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seiner neuplatonischen Herkunft – Fichtes Denken wenigstens in Aspekten vorweggenommen zu haben. Besonders und in erster Linie soll im Folgenden die regula doctae ignorantiae in den Blick genommen werden (§ 33), garantiert doch sie den Selbstbescheid von Wissen, Denken und Selbstbewusstsein gegenüber der Transzendenz. Sie scheint dergestalt gar Bedingung für vollendetes Selbstbewusstsein endlicher bzw. auf Differenz angewie­ sener Geistesvermögen und mithin des Menschen zu sein: Der Mensch kann Macht und Reichweite seines Denkens und Wissens im Angesicht des Absoluten besonnen bescheiden, denn er erfährt gerade im Selbstbescheid seine Grenzen. Dieser Eindruck provoziert freilich die naheliegende Frage, in welchem Verhältnis unser besonnener Blick auf das Absolute einerseits zur Tat des Absoluten selber ande­ rerseits steht: Wenn das Absolute als tragendes Prinzip von Denken, Wissen und Selbstbewusstsein vorgestellt wird, welche Rolle spielt dann unser Nichtwissen, durch das sich vollendetes Selbstbewusst­ sein generieren soll? Sind wir als formgebundenes Dasein vollständig abhängig vom Absoluten, wie Cusanus oft auf dem Hintergrund der alles tragenden Macht Gottes suggeriert? Wenn wir aber vollständig abhängig sind, welche Bedeutung kommt dann noch der menschli­ chen Freiheit zu? Sind wir – dem Delphisch-Sokratischen Imperativ folgend – nicht angehalten, selber nach dem Absoluten zu suchen, um durch es unsere Grenzen einzusehen? Generieren nicht wir durch unser forschendes Fragen nach der Bedingung der Möglichkeit aller Bestimmungen – und damit natürlich auch von uns selber – Selbst­ bewusstsein als Wissen um unsere Möglichkeiten und Grenzen? Wel­ che Bedeutung käme unserem Forschen und unseren Wissensakten noch zu, würden wir durch die Macht des Absoluten gänzlich absor­ biert werden?628 Wie verhalten sich also, um es noch einmal anders zu wenden, unsere geistigen Kräfte zur absoluten Kraft des Absolu­ ten? Welche Kraft dominiert hier welche? Lassen sich Absolutes und menschliche Freiheit überhaupt verbinden und harmonisieren? Und, wenn ja, wie können beide Momente so miteinander harmonisiert werden, dass wir und das Absolute ineinander wirken und keiner der beiden Momente zugrunde gehen muss? Denn, wie Fichte später in seiner Wissenschaftslehre 21804 schreiben wird: wir wollen nicht und

Wenn alles durch das Absolute dominiert würde, drohte der Akosmismus. S. dazu Rohstock: Der negative Selbstbezug, 109–111.

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Gott soll nicht zugrundegehen.629 Den Antworten auf diese Fragen wollen wir im Folgenden (§ 34–35) auf die Spur kommen.

§ 33) Von der Prinzipientheorie zur regula doctae ignorantiae In seinem Dialog Idiota de sapientia630 gibt Cusanus eine Kurzfassung seiner Prinzipientheorie, wobei er diese mit dem Transzendenzkon­ zept einerseits und der damit zusammenhängenden regula doctae ignorantiae andererseits pointiert verknüpft.631 Cusanus beginnt seine Erörterung mit einer Beobachtung, durch die er faktisch folgendes Ergebnis feststellt: Auf dem Markt bzw. Platz wird (Geld) gezählt, (werden Waren) gewogen und (gegeneinander) abgemessen.632 Bedingung dieser faktischen Tat ist offenbar Unterscheidung,633 durch die überhaupt Einzeldinge, seien diese nun Geldstücke oder bestimmte Waren, gegeneinander abgegrenzt und abwägend aufein­ ander bezogen werden können. Auf der Grundlage dieser offensicht­ lichen Einsicht fragt Cusanus nach der Bedingung der Unterschei­ dung.634 Recht unvermittelt, aber doch verständlicherweise, weil in unverkennbarer Bezugnahme auf den spätantiken Neuplatonismus, wird auf diese Frage das Eine als Bedingung sowohl der konkreten Zahlen als auch des rationalen Aktes des Zählens vorgestellt.635 Wenn das Eine Prinzip (principium) des konkreten Aktes des Zählens und jeder konkreten Zahl ist, dann ist das Gewicht Prinzip von Wiegen und Gewogenem und das Maß Prinzip von Messen und Gemessenem.636 Auf dieser Grundlage wird ersichtlich, dass Zahl, Gewogenes und Gemessenes einerseits und die mit ihnen verknüpften Akte anderer­ seits jeweils ihr Prinzip voraussetzen. Das Prinzip wiederum ist offen­ GA II/8, p. 114, lin. 22. Dazu § 46–47. Diese Schrift ist Grundlage der folgenden Überlegungen, denn in ihr wird in gedrängter Kürze unser Verhältnis zum Absoluten beschrieben und die spezifische Funktionsweise der Cusanischen Anagogik erörtert. Zur Schrift und ihrer Thematik s. bes. Klaus Kremer. Praegustatio naturalis sapientiae: Gott suchen mit Nikolaus von Kues. Münster: Aschendorff, 2004. 631 De sap. I; h V, n. 5–9. 632 De sap. I; h V, n. 5, lin. 4–9. 633 De sap. I; h V, n. 5, lin. 10–12. 634 De sap. I; h V, n. 5, lin. 13: »Per quae autem discretio?« 635 De sap. I; h V, n. 5, lin. 13–20. 636 De sap. I; h V, n. 6, lin. 1–22. 629

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bar – in einem freilich nicht temporär zu verstehenden Sinn – »frü­ her« als seine Prinzipiate. Aus der Beobachtung faktisch gegebener Objekte und Operationen führt Cusanus in einem Akt henologischer Reduktion das Mannigfaltige auf Einfacheres, Früheres oder Höheres zurück. Auf diesem Hintergrund fordert er uns schließlich auf, eine absolute Abstraktion zu vollziehen, uns also von den concreta und den konkreten Akten, die auf Märkten, Plätzen und Straßen verrichtet werden, abzuwenden, um uns dem »Höchsten«, also dem Einfachsten, zuzuwenden.637 Wir können nämlich bei sämtlichen concreta, auch bei intelligiblen bzw. geistigen Objekten oder Tätigkeiten, nach ihrem Prinzip fragen. In diesem Abstraktionsakt werden die Ebenen von Verstand und Vernunft638 transzendiert – und so wird zuletzt auf ein De sap. I; h V, n. 7, lin. 1–3. Den Superlativ betont Cusanus schon in De docta ignorantia: Dort lässt er das maximum, also das absolute Größte, mit dem minimum, dem absolut Kleinsten, insofern beide gerade Superlative sind, koinzidieren (h I, p. 10, lin. 12–24). 638 Cusanus nimmt unterschiedliche Formen des Erkennens an, wobei die zentralen Vermögen Verstand und Vernunft sind und die Vernunft den Verstand transzendiert. Jenseits der Vernunft wiederum ist das ›Denken‹ des Absoluten. S. dazu Kremer: Praegustatio, 179–224; bes. 181–186: Der Verstand, den Cusanus häufig als ratio bezeichnet, ist – in gebotener Kürze gesprochen – ein auf Differenz angewiesenes Denken, das das je Andere gegeneinander abmisst. Der Verstand setzt bei diesem Akt des abmessenden Denkens ein Maß für diesen Akt voraus, kann dieses aber nicht sel­ ber fokussieren, weil er aus der Welt durchgängiger Disjunktionalität nicht ausbrechen kann. Er bleibt in den Grenzen der Differenz gefangen und kann letztlich nur faktisch die Unterschiede der Einzelseienden attestieren. Dem Grund für die durchgängige Differenz jedoch kann er nicht nachspüren. – Die Vernunft, von Cusanus häufiger intellectus genannt, ist das Vermögen, die Koinzidenz von Gegensätzen einzusehen. So kann die Vernunft durchschauen, dass gegensätzlich erscheinende Bestimmungen sich nicht widersprechen müssen. So fallen etwa Identität und Differenz in jedem Einzelseienden kopulativ zusammen (s. Grotz: Negationen des Absoluten, 182–204; bes.186 – 187; vgl. auch 204–208. Vgl. dazu Max Rohstock. »Nicholas of Cusa’s Not-Other: The Absolute as Negative Self-Reference«. Dionysius 31 (2013), 117–126, Der negative Selbstbezug, passim; bes. 81–98 und »Der spekulative Höhepunkt des christlichen Neuplatonismus: Neuere Literatur zu Nicolaus Cusanus«. Philosophische Rundschau 62/1 (2015), 49–69; hier 47–49). Die Vernunft vermag sogar einzusehen, dass die Koinzidenz, die Identität und Differenz in einem jeden Einzelseienden auf je spezifische Weise eingehen, von einem Prinzip fundiert wird, das die Koinzidenz transzendiert (etwa De coni. I c. 5; h III, n. 24, lin. 1–9 bzw. De princ. h X/2b, n. 19, lin. 14–15. Vgl. dazu insbes. Burkhard Mojsisch. »Nichts und Negation. Meister Eckhart und Nikolaus von Kues«. In: Burkhard Mojsisch und Olaf Pluta (Hg). Historia Philosophiae Medii Aevi: Studien zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters. Vol. 2, Amsterdam/Philadelphia: Grüner, 1991, 675–693 und »Die Andersheit Gottes als Koinzidenz, Negation und Nicht-Andersheit bei Nikolaus von Kues: Explikation 637

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zugrundeliegendes Fundament geschlossen, das, insofern es einfach ist, nicht mehr zu den konkreten Objekten und Operationen, die stets plural strukturiert sind, gezählt werden kann, sondern ihnen vielmehr vorangeht und sie so bedingt. Cusanus hält uns also an, nach dem Prinzip aller möglichen Wissens- und Denkformen, gewissermaßen also nach den »Lücken im Erfahrungskontext«639, zu fragen. In letzter Hinsicht ist sogar die Plotinische νόησις auf das Absolute verwiesen, das mithin alle Bestimmungen, jedes Wissen, Denken und Sein trägt, fundiert und bedingt. Das Absolute selbst, so kann man mit Cusanus schlussfolgern, ist gewissermaßen das absolute Maß für alle (unsere) epistemischen Akte, für das Denken insgesamt und für alle Bestimmungen, Begriffe und Entitäten. Dieses Maß ist allem vorauszusetzen und ohne es könnte nichts erkannt werden. Man kann insofern davon sprechen, dass das Maß aufgrund seiner universalen Funktion, alles zu bedingen, unmittelbar präsent ist.640 Cusanus zeigt dabei auf, dass das Prinzip seinen Prinzipiaten so vorangeht, dass die Prinzipiate ihr Prinzip durch ihre Akte und geistigen Operationen nicht erreichen oder einholen können. Es han­ delt sich offenbar um ein asymmetrisches Verhältnis, wie wir es schon bei Proklos und Eriugena beobachten konnten. Dieses absolute Maß, das wir für jeden einzelnen Akt des Denkens voraussetzen müssen, können wir nicht im Denken ermessen, nicht durch das Denken und im Wissen umgreifen, nicht einhegen, nicht dominieren und daher auch nicht aus uns selber heraus erzeugen oder durch uns selber her­ vorbringen. Denn wenn wir uns dem absoluten Maß selbst zuwenden, um es zu ermessen, benötigen wir auch für diesen Akt des Messens gerade das absolute Maß als Möglichkeitsbedingung – wobei Cusanus im Laufe seines philosophischen Schaffens weitere Beispiele ange­ führt hat: Zu nennen sind etwa die Einheit (unitas), die Cusanus als und Kritik«. Documenti e Studi Tradizione Filosofica Medievale 7 (1996), 437–454). Damit ist die Vernunft das Vermögen, in dem das Wissen um das Nichtwissen verortet werden muss: In ihr geht uns das Absolute als Einheits- und Disjunktionspunkt auf. 639 Blumenberg: Theorie der Unbegrifflichkeit, 76. Oder anders formuliert: Cusanus hält uns an, nicht wie Aristoteles an den Objekten zu kleben, sondern uns von der bloßen Beschau von concreta zu emanzipieren (De non aliud c. 18; h XIII, p. 44, 2 – p. 45, 27). Nur wer diesen Abstraktionsschritt vollzieht, kann hoffen, dem Prinzip aller Konkretionen nachzuspüren. 640 Bes. eindrucksvoll zeigt Cusanus die Anwesenheit des Prinzips mit seinem Satz »aliud est non aliud quam aliud«. Das Nicht-Andere ist hier Bedingung jeder Bestim­ mung und ist also bei jeder Begriffsbestimmung und -definition bedingend präsent. S. dazu § 34.

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Bedingung aller Zahlen versteht, die aber allen Zahlen vorausgeht,641 das Nicht-Andere (non aliud), das alle Bestimmungen definiert, aber die Dimension der Anderen transzendiert,642 oder das Können-Selbst (posse ipsum), das er ganz im Sinne der Plotinisch-Proklischen δύναμις als nicht-konkret gegebener und ungebrochen tragender Horizont aller Seins- und Denkakte versteht.643 Die Letztbegründung kann also im Begreifen nicht erreicht werden, sie ist unbegreiflich: Das absolute Maß ist dem Wissen entzogen.644 Damit ist das wohl prägendste Paradoxon im Cusanischen Den­ ken aufgedeckt: Das Absolute wird als präsent und doch allem entzogen vorgestellt.645 Wie kann aber, so müssen wir Cusanus kritisch fragen, dieses Paradoxon ausgehalten werden? Bringt es seine Metaphysik vielleicht sogar zum Einsturz? Denn impliziert das Nicht­ wissen nicht ein Scheitern am Absoluten? Wie lässt es sich dann aber noch vernünftigerweise thematisieren? Wie lässt sich erklären, dass wir das, was wir in jedem Erkenntnisakt immer schon voraussetzen, zwar benötigen, aber offenbar doch nicht wissen können?646 Wenn wir das Absolute thematisieren können sollen, dann brauchen wir doch einen gewissen Zugang zu diesem. Haben wir diesen aber, können wir wiederum kritisch fragen, ob das Absolute dann noch als entzogen gedacht werden kann. Wie kann also der Entzug als bleibendes Moment der Cusanischen Philosophie begriffen werden?

De doc. ign. I c. 5; h I, p. 12, lin. 22 – p. 13, lin. 11. De non aliud bes. c. 1, c. 3–4 und c. 6. 643 De ap. theor. h XII, bes. n. 6: Das posse ipsum wird als Fähigkeit oder als Vermögen und damit nicht als bloße Möglichkeit herausgestellt. Für Cusanus ist es »Kraft« (virtus), »allmächtig« und »vollendet« (ibid. h XII, n. 7, lin. 13–19. Vgl. Halfwassen: Auf den Spuren des Einen, 323. – Dass Cusanus auch mit dem Begriff des Können-Ist (possest) eigentlich Macht oder Kraft und nicht bloße Möglichkeit ausdrücken wollte, hat schon Josef Stallmach in erhellender Kürze herausgestellt (Ineinsfall der Gegensätze und Weisheit des Nichtwissens: Grundzüge der Philosophie des Nikolaus von Kues. Münster: Aschendorff, 1989, 72–73). Auch in seinem frühen Hauptwerk spricht Cusanus bereits von einer »infinita potentia«, also einer »unendlichen Kraft« (De doc. ign. I c. 24; h I, p. 50, lin. 15). 644 Das Absolute wird zwar als entzogen vorgestellt, weil es jeden Begriff ursprüng­ lich definiert, wir hingegen mit unserem begrifflichen Denken immer ›zu spät‹ kommen und das Prinzip daher gar nicht denkend ›gepackt‹ bekommen. Gleichwohl führt dieser Entzug die Annahme eines absoluten Prinzips nicht ad absurdum. 645 S. dazu schon Rohstock: Der negative Selbstbezug, 26–35. Zur Lösung dieses Problems s. ibid. 69–111. 646 De sap. I; h V, n. 9–11. 641

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Und wenn der Entzug des Absoluten konstatiert wird, wie kann es dann noch ergründet647 werden? Diese Probleme entfalten sich im Zusammenhang mit der nega­ tiven Theologie. Wie schon Proklos vor ihm pointiert Cusanus die ›Vorgängigkeit‹ des Prinzips gerade durch diese philosophische Methode.648 Und in ihr wird das entscheidende Grundmomentum der Cusanischen Philosophie insgesamt, das Konzept der Transzendenz, grundgelegt, wobei in diesem Fall erneut die Frage in Anschlag zu bringen ist, ob die Transzendenz nicht die schiere Unverfügbarkeit, ja Abwesenheit des Prinzips aussagt. Sicherlich sollte jeder Leser*in von Cusanus’ Werken aufgefallen sein, dass in der von ihm konzipierten Form negativer Theologie versucht wird, die Transzendenz des Absoluten als tragendes Funda­ ment seiner Metaphysik einsichtig zu machen: In erster Linie fungiert sie sicherlich als Korrektur der affirmativen Theologie, die für sich genommen zum »Götzendienst« (idolatria649) verkommen würde. Doch gleichwohl bereitet die negative Theologie für sich alleine genommen – und besonders der Forschung – Probleme. Gefährdet, so werden wir genötigt zu fragen, eine radikal negative Theologie nicht die Thematisierbarkeit des Absoluten überhaupt? Und wird durch sie nicht auch die Prinzipfunktion des Absoluten und, besonders gravierend für christliche Denker*innen, die Trinität infrage gestellt? Die Forschung neigt vor diesem Hintergrund bisher eher dazu, die vermeintliche Radikalität der negativen Theologie abzuschwächen: Man müsse also affirmative und negative Theologie verbinden.650 647 Wie sich zeigen wird, ist das Absolute zwar unerkennbar. Dennoch kann es in dem Sinne ergründet werden, dass seine Unerkennbarkeit von uns erkannt werden kann. 648 De doc. ign. I c. 26. – Damit ist offenbar die Einsicht in die Unerkennbarkeit des absoluten Maßes gewonnen, wobei wir sogar festhalten müssen, dass dieses trotz seiner Inkommensurabilität für alle unsere Akte des denkenden Ermessens als Bedingung angenommen werden muss. 649 De doc. ign. I c. 26; h I, p. 54, lin. 16. – Die affirmative Theologie scheint darüber hinaus das Verhältnis von Transzendenz und Dasein auf das kausale Verhältnis von Grund und Begründetem zu reduzieren. Das Absolute lässt sich aber nicht in eine Kausalrelation eingliedern, auch weil es als Bedingung von kausalen Verhältnissen gefasst werden muss. 650 In aller Kürze dazu Rohstock: »De non aliud«, 245–249; hier 248–249. – Felix Resch hat umsichtig die Korrektur der affirmativen durch die negative Theologie beschrieben und damit zweifellos einen Kerngedanken Cusanus’ getroffen (Triunitas: Die Trinitätsspekulation des Nikolaus von Kues. Münster: Aschendorff, 2014). Grund­ sätzlich ist das Gros der Cusanusforschung der negativen Theologie gegenüber skep­

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Es muss aber sogleich betont werden, dass diese Ängste eher unbegründet sind: Die negative Theologie gefährdet Metaphysik und Prinzipientheorie nicht, sondern macht diese erst verständlich. Nicht einmal die Trinität wird bedroht.651 Es ist – auch und gerade vor dem Hintergrund der zurückliegenden Erörterungen – vielmehr zu betonen, dass die durch Negationen angezeigte Transzendenz nicht einfach Entzug im Sinne einer Abwesenheit bedeutet. Vielmehr ver­ deutlicht die mit Negationen ausgedrückte Transzendenz des Absolu­ ten die spezifische Weise ihrer Präsenz: Sie macht das Wie absoluter Präsenz verständlich. Und damit erklärt die negative Theologie aller­ erst die Synthese von Entzug und Präsenz bzw. ihren, wie Fichte es später ausdrücken wird, »genetischen« Zusammenhang.652 Explizieren lässt sich diese Einheit vor allem anhand von Cusa­ nus’ Spätschrift Über das Nicht-Andere (Directio speculantis seu de li non aliud653): Jedes Andere (aliud), so lässt sich schon auf den ersten Blick erkennen, ist eine auf Differenz basierende Bestimmung, denn das »Andere ist Ausdruck einer seinsimmanenten andersheit­ lichen Negation: Jedes Andere ist die anderen Anderen nicht und deswegen es selbst. ›Aliud‹ drückt die spezifische Differenz einer

tisch eingestellt, wobei diese Aversion mir unberechtigt erscheint. S dazu Rohstock: Der negative Selbstbezug, 1–11 und 190–194. Er hat nämlich durchaus und mit Plotin, Proklos und Eriugena eine negativ-theologische Prinzipientheorie vertreten. So hat Cusanus in seiner letzten Schrift, De apice theoriae, einen Gottesbegriff entworfen, der ganz unzweideutig an die neuplatonische δύναμις erinnert. 651 S. dazu Rohstock: Der negative Selbstbezug, 61–68. Es ist überhaupt zu fragen, ob die Trinitätslehre nicht gerade durch die negative Theologie verständlich wird. Denn in der Tat lassen sich die drei Momente Gottes nicht zählen und verobjektivieren. 652 Etwa GA II/8, p. 52, lin. 20–24. S. Kap. IV, bes. § 39–40 und § 42. 653 Grundlegend zu dieser Schrift Dirk Cürsgen. Die Logik der Unendlichkeit, 91–126, »Die Metaphysik der Negativität und Identität bei Nikolaus von Kues«. Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 54/2 (2009), 341–369 und Rohstock: Der negative Selbstbezug, 12–116. – Freilich ist hier hinzuzufügen, dass in der Forschung auch andere Einschätzungen des Nicht-Anderen, die auch die negative Theologie betreffen, existieren. S. etwa Davide Monaco. Nicholas of Cusa: Trinity, Freedom and Dialogue. Münster: Aschendorff, 2016. Monaco orientiert sich stark an Werner Bei­ erwaltes, der aber die negative Theologie bisweilen nicht ernst genug genommen hat (s. Rohstock: »Beierwaltes: Catena Aurea«, 97–99). Hier ist aber auch zu konzedieren, dass es unerheblich ist, ob man der Deutung des Nicht-Anderen als Ausdruck für einen betont negativen Selbstbezug des Absoluten folgt oder nicht folgt. Entscheidender im Rahmen dieser Arbeit ist, dass Cusanus in seiner spekulativen Metaphysik die Grund­ lage für Begriffsbildungen freigelegt hat. S. dazu die folgende Argumentation, bes. in § 34.

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2) Nicolaus Cusanus über das wissende Nichtwissen und den tragenden Horizont

Entität und damit ihre Selbstidentität aus.«654 Jedes Andere ist des­ wegen für Cusanus eine spezifische Einheit oder Konjunktion von Identität und Differenz.655 Das Nicht-Andere ist demgegenüber die Negation des Differenzrahmens, in dem sich jedes Andere seiner spezifischen Selbstidentität versichert, indem es sich von den Anderen abgrenzt.656 Die transzendierende Negation, also das Nicht-Andere, darf freilich weder privativ, noch andersheitlich verstanden werden, insofern das Nicht-Andere Begriff des Absoluten sein soll, also weder eine Beraubung meint noch das Andere einem Anderen gegenüber sein kann: In letzterem Fall wäre es, weil es bloß ein Anderes wäre, durch Differenz geprägt. Das Nicht-Andere transzendiert bzw. über­ steigt also die durchgängige Differenz der Anderen. Damit lässt das Nicht-Andere aber auch die Kategorie der Identität, ja alle Kategorien hinter sich: Diese sind nämlich für Cusanus an den Horizont der Differenz gebunden, sind sie doch jeweils Andere und als solche vom Nicht-Anderen abhängig. Die universale Prinzipfunktion des Nicht-Anderen dokumentiert Cusanus mit dem Satz »aliud est non aliud quam aliud«657, worin zum Ausdruck kommen soll, dass jede Kategorie und überhaupt jede Bestimmung, hier repräsentiert durch den Begriff »aliud«, gerade über und durch das Nicht-Andere defi­ niert wird.658 Kraft des Nicht-Anderen ist jede Bestimmung auf sich bezogen und so sie selbst. Demnach geht das Nicht-Andere allen Bestimmungen als deren Prinzip voran, wodurch es als Absolutes verstanden werden muss, das als Bedingung von Bestimmbarkeit die konkrete Bestimmungstotalität transzendiert. Diese Transzendenzformel hat Cusanus in Proklos’ Parmenides­ kommentar entdeckt, annotiert und auf sein Konzept des Nicht-Ande­ ren angewendet: Kurz gefasst sei das Absolute »neque idem sibi ipsi, neque alterum sibi ipsi neque idem alijs neque alterum ab hijs neque simile neque dissimile, neque tangens neque Rohstock: »De non aliud«, 246. Dazu Rohstock: Der negative Selbstbezug, 15–25. 656 Dieser Akt der Abgrenzung ist aber nicht Bedingung für die jeweilige Verschie­ denheit der Anderen, wie noch Klaus Jacobi im Anschluss an Heinrich Rombach glaubte (Die Methode der cusanischen Philosophie. Freiburg im Breisgau/München: Karl Alber, 1969). Grund der durchgängigen Differenz der Anderen ist für Cusanus allein das Absolute (s. dazu Rohstock: Der negative Selbstbezug, 81–98). 657 De non aliud c. 21; h XIII, p. 50, lin. 10–11 und c. 1; h XIII, p. 5, lin. 1–3. 658 Zur Prinzipfunktion des Nicht-Anderen s. Rohstock: Der negative Selbstbezug, bes. 44–98. S. dazu die folgende Diskussion, bes. in § 34. 654

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III) Die christliche Transformation der neuplatonischen »Henophanie«

seorsum existens, neque dicibile alicui est neque opinabile, neque scibile neque cognoscibile, in se ipso solum nulli co[o]rdinatum incir­ cumterminabile omnibus«.659

Wenn nun aber die Kategorie der Differenz vom Absoluten selber überstiegen wird, so kann es zu keiner Bestimmung mehr in Oppo­ sition treten: Es übersteigt jeden Gegensatz, weshalb Transzendenz nichts anderes als Übergegensätzlichkeit meint: Der vermeintliche Abgrund zwischen dem Absoluten und dem Anderen bricht also kraft der Negation der Differenz gar nicht erst auf, wobei auch eine Identi­ fikation unmöglich gemacht wird. Wenn das Absolute also kraft seiner Übergegensätzlichkeit von nichts mehr verschieden ist und keinem Anderen als oppositum, so als wäre es ein weiteres Objekt, gegen­ übertritt, dann kann es, in Ermangelung möglicher Alternativen, nur noch unmittelbar präsent sein.660 Es ist nicht irgendwo außerhalb, sondern kraft seiner Formtranszendenz in uns selber, wobei Cusanus diesen Umstand in seiner Formel »aliud est non aliud quam aliud« gezielt zum Ausdruck bringen möchte.661Im Nicht-Anderen, also in der transzendierenden Negation der Differenz, werden zugleich der formale Entzug des Absolute wie auch seine intime Präsenz deutlich markiert. 662 Cusanus gewinnt also der negativen Theologie eine Funktion ab, durch die das Absolute nicht mehr als (externes) Objekt oder als Teil bzw. Element eines Objektes vorgestellt werden muss. Damit wird das Absolute von Cusanus ent-kategorialisiert, ent-objektiviert und ent-ontologisiert. Gerade dadurch ist es in uns und in jeder Bestimmung und lässt uns auf uns und jede Bestimmung auf diese selbst bezogen sein.

CT III 2.2, Marg. 486. Josef Stallmach spricht von einem »Spannungsverhältnis von Immanenz bei bleibender äußerster Transzendenz« des Absoluten (Suche nach dem Einen, 96), wobei Cusanus, wie wir sehen können, die Harmonie von Transzendenz und Immanenz – oder auch: die (uns) immanente Transzendenz – konstatiert. 661 Das Absolute – hier im sprachlichen Ausdruck eindringlich vor Augen geführt – ist in unserer Wesensmitte und kontrahiert uns auf uns selber. S. dazu § 34. 662 Hans Blumenberg hat sicherlich völlig zu Recht erkannt, dass die »Koinzidenz von Immanenz und Transzendenz […] des Cusaners großes Thema« war (Paradigmen zu einer Metaphorologie. Kommentar von Anselm Haverkamp unter Mitarbeit von Dirk Mende und Mariele Nientied. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 22021, 179). Wir können aber vor dem Hintergrund der zurückliegenden Diskussionen nun präziseren: Transzendenz impliziert Immanenz, insofern durch Transzendenz die Überwindung von Differenz und Externalisierung angezeigt wird. 659

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Die durch die Negationslogik hergeleitete Präsenz des Absoluten stellt uns freilich vor gewisse Probleme, denn es kommt zu einem neuen Paradoxon: Wenn das Absolute präsent ist, wieso wissen wir dann nicht stets von ihm? Wieso ist es uns nicht geläufig? Und noch einmal anders gewendet: Wieso sehen wir das Maß nicht immer mit, wenn wir es doch anlegen, um durch es zu messen. Wenn wir es in jedem Akt des Messens benötigen, schauen wir es dann nicht immer auch mit an? Die Präsenz des Absoluten ist nun nicht so zu verstehen, als wäre es für uns ganz problemlos erkennbar, so als ob es offen zutage liegen würde. Vor diesem Hintergrund ist zu erwähnen, dass Cusanus in De sapientia von einem »Aufruf« des Absoluten spricht: Es rufe uns auf den Straßen, wo gezählt, gewogen und gemessen werde, auf, es zu suchen. Allerdings bedeutet dies für Cusanus nicht, dass es wie ein beliebiges, welt- oder seinsimmanentes Objekt gefunden werden könne: Das Absolute wohne nämlich nicht auf den Straßen und Plätzen, sondern throne über allen Dingen.663 Das bedeutet, dass das Absolute auch völlig unbemerkt bleiben kann:664 Auch wenn es stets ruft, können wir dieses Rufen offenbar überhören.665 Cusanus fordert uns daher explizit auf, dem Aufruf zu folgen und das Absolute zu suchen: Es – genauer: die Einsicht in das Absolute – soll in intensiver philosophischer Begriffsarbeit »erjagt« werden, wie Cusanus in De venatione sapientiae herausstellt.666 Daher ist die Absolutheitsspekulation gesollt: Zu einer vollständigen Aufklärung über sich selber, die Reichweite und Grenzen des eigenen Selbst und seines Wissens kann es nur kommen, wenn wir dem Ruf des Absoluten folgen und uns seine Funktion zu Bewusstsein bringen. Und genau in diesem Bewusstsein besteht für Cusanus offenbar das höchste Wissen. 663 De sap. I; h V, n. 3, lin. 10–12: »Ego autem tibi dico, quod ›sapientia foris‹ cla­ mat ›in plateis‹, et est clamor eius, quioniam ipsa habitat ›in altissimis‹.« Vgl. ibid. n. 4, lin. 13 und n. 5, lin. 3–4. Erst in n. 5 beginnt dann Cusanus die eigentliche Diskussion. 664 Freilich wird es, wie wir im Folgenden sehen werden, als Unerkennbares erkannt, wenn wir uns methodisch kontrolliert auf die Suche nach dem absoluten Prinzip bege­ ben. 665 Vor diesem Hintergrund spricht Stephan Grotz zu Recht davon, dass der Aufruf des Absoluten, es zu suchen, kein Gassenhauer sei, der die Straßen entvölkere (Negationen des Absoluten, 176–182; hier 177). Der Aufruf ist also subtiler Natur und nicht jedem offen ersichtlich. 666 h XII. Zum Motiv der Jagd nach der Weisheit s. Kremer: Praegustatio und Beierwaltes: Catena Aurea, 307–329.

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III) Die christliche Transformation der neuplatonischen »Henophanie«

Das Rufen des Absoluten impliziert freilich, dass wir bereits über einen gewissen Zugang zum Absoluten verfügen, denn es ist ja schließlich präsent. Dieser Zugang bzw. diese Präsenz des Absoluten lässt sich als ursprüngliche Intuition des Absoluten fassen, die dieses aber nicht einfach entschlüsselt. Vielmehr leitet sie uns an – oder noch einmal anders formuliert: sie setzt die philosophische Arbeit erst in Gang.667 Diese Arbeit wird auch dann nicht suspendiert, wenn Cusanus davon spricht, dass die Frage nach dem Gesuchten, also dem Absoluten, das Gesuchte bereits voraussetze.668 Es bedarf nach Cusanus nämlich konzentrierter Aufmerksamkeit, um die Frage nach dem Grund des Daseins klären zu können. Denn in der Hitze der Jagd drohten wir am dem, was wir eigentlich suchen, vorbeizulaufen.669 In diesem Zusammenhang wirft Cusanus Aristoteles ein Konzentra­ tionsdefizit vor: Dieser habe nur auf Objekte geschaut und daher das Absolute nie in den Blick bekommen.670 Wir können die Suche nach dem Absoluten wie folgt skizzieren: Wenn wir messen, wobei wir auch das Denken, wie gesehen, durchaus als einen spezifischen Akt des Messens begreifen dürfen, setzen wir faktisch ein Maß voraus, durch das wir messen können. Dieses Maß kann intelligibel sein, wie etwa die Gleichheit in Platons Phaidon, die als Bedingung für den Vergleich zweier Hölzer fungiert.671 Cusanus hat hier freilich das absolute Maß im Blick, also dasjenige, durch das alle Bestimmungen von uns ermessen bzw. gedacht werden können. Wollen wir nun dieses absolute Maß selber ermessen, setzen wir es selbst voraus, denn nur durch es ist jedes Messen grundgelegt: Wir greifen also immer auf das absolute Maß aus, holen es im Denken aber nie ein. Der ganze Gedankengang zeigt, dass wir stets 667 In De li non aliud ist das Nicht-Andere schon als Begriff in jeder sprachlich artikulierten Definition präsent, allerdings schärft Cusanus hierbei ein, dass auf den Ausdruck »non aliud« auch geachtet werden müsse (s. dazu die weitere Diskussion). Eine Gotteserfahrung im Sinne der unio mystica wird hingegen nicht als Ausgangs­ punkt der Diskussion gesetzt – und zwar schon allein deshalb, weil Cusanus selber keine mystische Einung erlebt haben will. 668 Klaus Kremer hat diesen Topos der Cusanischen Metaphysik in seiner Abhand­ lung »Nikolaus Cusanus: ›Jede Frage nach Gott setzt das Gefragte voraus‹« einer genauen wie einsichtigen Analyse unterzogen (Praegustatio, 147–178). 669 De non aliud c. 1; h XIII, p. 4, lin. 8–20. 670 De non aliud c. 18; h XIII, p. 44, 2 – p. 45, 27. Aristoteles achte also, so Cusanus, nicht auf die ›rufende‹ »Lücke im Erfahrungskontext«, sondern begnüge sich mit bloßen Faktizitäten. 671 S. Kremer: Praegustatio, 167.

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2) Nicolaus Cusanus über das wissende Nichtwissen und den tragenden Horizont

auf das absolute Maß angewiesen bzw. verwiesen sind: Alles ist vom Absoluten abhängig, hängt also ganz an diesem.672 Das Prinzip ist nichts von dem, das es begründet; es ist nicht eines der Anderen, also non aliud. Diese Verneinung verweist aus der Dimension der Prinzipiate hinaus, ohne aber das Prinzip selbst zu umfassen, insofern das absolute Prinzip aller Bestimmungen und Akte intendiert ist. Die Notwendigkeit, ein Prinzip anzunehmen, das die Dimension der je Anderen transzendiert, zeigt sich in der Analyse der Reduktion: Der Entzug gehört programmatisch zur Funktionalität des Absoluten als Prinzip.673 Die Einsicht in den Entzug wiederum, insofern dieser keine Privation meint, kann nicht als Unwissen gebrandmarkt werden. Vielmehr ist sie belehrt. Und die Anerkennung des Entzuges drückt sich im wissenden Nichtwissen aus. Das Nichtwissen (re-)präsentiert dabei den konstitutiven Entzug des Absoluten. Das Verwiesen-Sein des Anderen, aller Bestimmungen und unse­ res Selbst bringt Cusanus – wie schon andere neuplatonische Denker vor und Fichte nach ihm – dadurch zum Ausdruck, dass er von einem natürlichen und unauslöschlichen Streben und Sehnen674 zum Abso­

Und umgekehrt ist das Abhängige Verweis auf das Absolute: Es ist völlig auf es hin ausgerichtet. Diesen Gedanken hat Cusanus mit Meister Eckhart gemein. S. dazu Grotz: Negationen des Absoluten, 79–96; bes. 87: »Für Eckhart ist daher dieses Streben, d. h. der Bezug des Geschaffenen auf Gott, so zu fassen, daß dieses Streben bzw. dieser Bezug selbst die Form der Erfüllung für das Geschaffene ist: ›esurire est ipsum edere‹. Und eben weil dieses Streben selbst immer schon ein erfülltes, da ein von Gott bejahtes Streben ist (appetitus affirmatus) – sich also keinem Seinsmangel, sondern Gott verdankt –, stellt sich in Folge davon auch kein Überdruß sein: ›ideo non fastidiunt, quia esuriunt et quia esurire est ipsum edere‹.« Daher fasst Grotz Eckharts esse hoc et hoc, das kreatürlich-endliche Sein bzw. Dasein, als »durch und durch relational«. Dieses Ergebnis lässt sich auch auf Cusanus übertragen, insofern dessen Absolutes ebenfalls Bedingung unseres Absolutheitsstrebens ist, das demnach – wie auch schon das henologische Streben bei Plotin und Proklos – keinen Mangel indiziert. 673 Der Begriff »Entzug« ist sicherlich, wie oben bereits konstatiert, nicht ganz unproblematisch. Er kann nämlich als Privation, als Abkehr, gar als (Welt-)Flucht missverstanden werden. Transzendenz ist – ganz im Sinne der Übergegensätzlichkeit – aber bereits die Negation von Privation und meint gerade keine Flucht. Vielmehr denkt Cusanus die Transzendenz als liebevoll-caritative Zuwendung, Fürsorge oder Vorsehung, also als providentia, durch die sich alles ereignen kann (De doc. ign. I c. 22; h I, p. 44, lin. 12–18). 674 Streben und Sehnen sind bei Cusanus Affekte der göttlichen Attraktion. Wir sind, leben und denken nur durch sie und sie ist das Tragende und Fundierende, sodass wir in ihrer Abhängigkeit stehen. Dieses Getragensein geht unmittelbar mit unserem Verwiesen-Sein einher, das uns aber nicht immer bewusst sein muss. Man kann also 672

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luten hin spricht,675 wobei sich Cusanus hierbei explizit auf Proklos beruft.676 Henologisches Streben bzw. Sehnen ist der Grundzug bzw. die Signatur aller Formen und Wesenheiten, also auch von uns selber. Dieses ist durch allerlei derivative Strebeformen verdeckt: Es gilt, das basale Grundstreben, das alle Kreaturen Gottes und damit jede Wesenheit, jede Form und jede Bestimmung ausmacht, freizulegen. Explikation oder Ausdruck des henologischen Absolutheitsstrebens und der Inbegriff des Verweisens ist die transzendierende Negation, die Cusanus prägnant in seinem Begriff des Nicht-Anderen expliziert hat. Diese Negation ist als Verweis keine das Absolute selbst definierende Aussage: Der Weg, der zur Einsicht in das Absolute als Einheits- und Disjunktionspunkt führt, ist nicht einfach mit dem Absoluten selber identisch.677 Cusanus kann daher in direktem Anschluss an Proklos formulieren, dass wir trotz aller metaphysischen Bemühungen nur einen »Begriff« vom Absoluten (conceptum de primo) erlangen kön­ nen. Das Absolute wird mithin ›nur‹ als das Eine benannt,678 es selbst ist aber namenlos.679 Wenn Cusanus »von« dem Einen spricht, indem er es als »unsagbar«680 bezeichnet, umgrenzt er das Absolute also nicht. Er hat durchaus gesehen, dass Proklos das »Eine in uns« als negativen Begriff entworfen hat, der das Absolute nicht begrenzt,

sagen, dass die Kreatur ganz und gar henologisches Bezogensein oder Streben ist. Wird sie sich dieses Strebens auch bewusst, weiß sich die Kreatur als solche. 675 Auch in De sapientia findet sich dieser Grundsatz; h V, n. 11, lin 1–7. Die Liebe geht dem höchsten Wissen der Vernunft – wie schon bei Plotin und Proklos – voran, weil »[w]ahres Wissen […] nicht ohne Verlangen bzw. Lieben zu sein« vermag (Kremer: Praegustatio, 190). 676 CT III/2.2, Marg. 609: »quia tunc non esset nisi a cognitius desiderabile sed est ab omnibus desiderabile.« CT III/2.2, Marg. 503: »omnis naturalis appetitus ad vnum ut singulariter bonum tendit«. – Das Streben ist die Signatur des Prinzipiates, Bildes oder Daseins, womit Cusanus einen Grundgedanken Fichtes vorwegnimmt (GA I/9, p. 59, lin. 31 – p. 60, lin. 2. S. dazu § 42). 677 De non aliud c. 2; h. XIII, p. 6, lin. 12–16: »Cum nos autem alter alteri suam non possumus revelare visionem nisi per vocabulorum significatum, praecisius utique li ›non aliud‹ non occurrit, licet non sit nomen Dei, quod est ante omne nomen in caelo et terra nominabile, sicut via peregrinantem ad civitatem dirigens non est nomen civitatis.« 678 CT III/2.2, Marg. 606. 679 CT III/2.2, Marg. 609: »Nota cur vnum non habet nomen. scilicet quia non est cognitum. et cur non cognitum.« S. auch CT III/2.2, Marg. 616. 680 CT III/2.2, Marg. 617.

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sondern auf es hin- oder verweist.681 Und von diesem Verweis über die Grenzen der Differenzdimension hinaus können wir wissen. Dieser Verweis und seine Implikationen sind gerade der Kern der regula doctae ignorantiae. Besonders eindringlich hat Cusanus diese Regel anhand des Nicht-Anderen beschrieben. Mit diesem Begriff des Nicht-Anderen, dem conceptus absolutus bzw. absoluten Begriff,682 verweist Cusanus durch die Negation über den Horizont der Anderen hinaus. Dadurch wird das für das Denken wesentli­ che Wechselverhältnis von Affirmation und Negation, das Cusanus anhand der durchgängigen Relationalität der Anderen illustriert, überstiegen. Weil Cusanus die für das abgrenzende und bestimmende Denken wesentliche Relationalität übersteigt, fasst er seinen Begriff des Nicht-Anderen als Ausdruck des prinzipiellen Nichtwissens: Ein »Erkennen« des Absoluten ist nach Cusanus »nur negativ erreichbar« und nur in der Verneinung bzw. im Nichtwissen möglich.683 681 Wir können die Pointe der Übersicht wegen an dieser Stelle skizzenhaft vorweg­ nehmen: »Non« ist, wenn es am »aliud« hängt, ein Verweis. Betrachtet man es, also das »non«, an ihm selber, bleibt im Grunde nur ein reines Relieren übrig. Und dieses reine Relieren ist nichts anderes als der Akt des Absoluten selber. In unserem konkreten Zeigen blitzt das Absolute offenbar selber augenblickhaft auf, weshalb das Nichtwissen auch produktiv ist. Es ist aber nicht deshalb produktiv, weil wir es vollziehen, sondern es ist produktiv, weil wir durch es auf die Kraft des Absoluten ausoder vorgreifen. 682 De non aliud c. 20; h XIII, p. 49, lin. 14 – lin. 27. – Nach Klaus Kremer ist das Absolute selber der absolute Begriff (Praegustatio, 157–158). Diese Deutung ist kei­ neswegs verkehrt, insofern Kremer deutlich macht, dass dieser conceptus absolutus die prinzipiierende Form aller konkreten Formen ist (etwa De sap. II; h V, n. 32, lin. 9– 10: »forma omnium formabilium«), die gleichwohl das formal gegebene Sein tran­ szendiert. Zum Prinzip als Form aller Formen s. Rohstock: Der negative Selbstbezug, 40–41 mit Blick auf ibid. 74–81. Zu Eriugena, der diesen Gedanken durch seine nega­ tive Prinzipientheorie grundgelegt hat, s. ibid. 182–183 mit Anm. 651. – Man darf den absoluten Begriff aber wohl eher als Cusanischen Ausdruck unserer Gotteseinsicht lesen (ibid. 111–116). 683 De non aliud c. 8; h XIII, c. 8, p. 18, lin. 1–5. Vgl. ibid. c. 17; h XIII, p. 43, lin. 19–32: »Quando scilicet inquit: ›cum omnia, quae intelliguntur, sint aliquid, ideo non sunt Deus‹. Aliquid autem quid aliud est. Deus igitur, si intelligeretur, utique ›non esse aliud‹ intelligeretur. Unde si non potest intelligi esse id, quod per aliud et aliquid significatur, nec aliquid intelligi potest, quod per aliquid non significetur: ideo Deus, si videretur, necesse est quod supra et ante quid aliud et supra intellectum videatur. Ast ante aliud nil nisi ›non aliud‹ videri potest. Habes igitur quod ›non aliud‹ in principium nos dirigit intellectum et aliud et aliquid et omne excellens et antecedens intelligibile. Haec ibidem theologus declarat, atque etiam, quomodo ipsius ›non aliud‹ cognitio perfecta dici potest ignorantia, quando quidem eius, qui est super omnia, quae cognoscuntur, est cognitio. Haec nunc de nostro admirabili

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III) Die christliche Transformation der neuplatonischen »Henophanie«

Letztlich lässt sich dieses Prinzip nicht wissen, denn unter der Bedingung, dass auch nach dem Prinzip des Wissens gefragt werden kann – insofern das Wissen ja immer konkret gegeben und an Objekte geknüpft zu sein scheint –, wird das Wissen im Negieren transzendiert. Das Nichtwissen ist also ein Verweis über die Grenzen des Wissens hinaus. Daraus wird schon ersichtlich, dass dieses Nicht­ wissen nicht einfach als Unwissen abgeschätzt werden kann. Es hat vielmehr einen produktiven Charakter: Durch dieses Nichtwissen und in diesem wird eingesehen, dass das Absolute selbst unbegreiflich ist. Wenn wir die Erhabenheit des Absoluten über jeden Begriff und über den Horizont wechselseitiger Abgrenz- und Unterscheid­ barkeit eingesehen haben, haben wir die regula doctae ignorantiae vollzogen: Wir sind aufgeklärt darüber, dass wir zwar ein Prinzip voraussetzen müssen.684 Die letzte Voraussetzung entzieht sich uns aber notwendig. Diese ist die höchste Einsicht, die Cusanus entdeckt: Wir können wissen und verstehen, dass sich das absolute Prinzip nur als Unbegreifliches begreifen lässt.685 Die docta ignorantia hat also offenbar eine produktive Bedeu­ tung, wobei sich diese Produktivität noch weiter explizieren lässt: Weil das Streben zum Absoluten als Grundzug des Seienden unaus­ tilgbar bleibt, ist der suchende Bezug zum Absoluten ein performativer Akt, aus dem man nicht einfach aussteigen kann. Die Suche bildet vielmehr die Grundbewegung unseres Daseins, die sich als solche auch erhält und nicht aufgegeben werden kann: Das Verwiesen-Sein drückt sich in der transzendierenden Negation aus. Diese meint aber zugleich ein Nicht-Angekommen-Sein. Und darin erhält sie sich und das Streben, weil das Absolute prinzipiell nicht im Denken erreicht werden kann. Allein die Tatsache, dass sich das Streben so erhält und unaustilgbar ist, spricht gegen die Vermutung, die Suche könnte aufgrund der Unerkennbarkeit des Absoluten vergebens sein. In diesem Zusammenhang ist auf Karl Jaspers aufmerksam zu machen, da er das belehrte Nichtwissen in erhellender Kürze und gedrängter Intensität zusammengefasst hat: Das in der regula doctae ignorantiae theologo sic dicta sint; sufficiunt enim proposito ad quaeque alia per ipsum taliter dicta.« 684 S. dazu Rohstock: Der negative Selbstbezug, 111–116. 685 Cusanus begreift das Absolute »als (quam) das Nicht-Andere«, also als das, was die Dimension der Anderen, der concreta, transzendiert. Daher kann es nur als das begriffen werden, was sich dem umgreifenden Wissen bzw. Begreifen entzieht (etwa De non aliud c. 6; h XIII, p. 50, lin. 8–10).

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2) Nicolaus Cusanus über das wissende Nichtwissen und den tragenden Horizont

erreichte Nichtwissen sei, so Jaspers, »nicht das leere Nichtwissen, das nicht weiß, daß es nicht weiß, oder das gleichgültig liegen lässt, was es nicht wissen kann. Es ist vielmehr das wissende Nichtwissen (docta ignorantia), das sich denkend entfaltet und sich erfüllen lässt.«686 Sicherlich bricht sich die philosophische Arbeit im Nichtwissen, denn der Verweis geht zwar über die Grenzen von Wissen, Denken und Sein hinaus, umfasst das Absolute aber nicht, da es kein (im Denken umfassbares) Objekt sein kann. Wir haben es offenbar mit einer grundlegenden Spannung zu tun, die sich im Nichtwissen und der Unaustilgbarkeit des Strebens ausdrückt: Im Spannungsfeld des unaustilgbaren Strebens zum Absoluten hin und des steten begriff­ lichen Scheiterns an diesem artikuliert sich die Produktivität des Nichtwissens und der Negationen, durch die wir über die Dimension des je Anderen hinausblicken. Nichtwissen und transzendierende Negatio­ nen können, genauer gesagt, selbst als Spannung gewertet werden, insofern wir im unaustilgbaren Verwiesen-Sein nicht die Grenzen der Formen, des Wissens und des Denkens überspringen. Und dergestalt erfüllt das Negieren eine produktive Funktion für unser Wissen und Denken. Mit anderen Worten kann das Nichtwissen als Evidenzpunkt begriffen werden: Diese höchste Einsicht scheint das bewegende Moment, ja sogar das Prinzip unseres Wissens zu sein, weil diese Einsicht zweifelsfrei gewisses Wissen, wissendes Nichtwissen also, generiert. Denn das Nichtwissen lässt uns auf uns selbst bezogen sein, weil unser positives, umgreifendes oder umfassendes Denken und Erkennen am Absoluten scheitert, sodass wir auf uns selbst ›zurück­ geworfen‹ werden – worin die Produktivität der docta ignorantia – oder genauer: des Nichtwissens – aufgedeckt ist.687 Durch das Nicht­ wissen erkennen wir demnach nicht bloß die Unerkennbarkeit des Absoluten, sondern gerade die Grenzen unseres Denkens und Erken­ Karl Jaspers. Nicolaus Cusanus. München: Piper, 1964, 25; Hervorh. Roh. Es ist darauf aufmerksam zu machen, dass es überhaupt nur durch das produktive Nichtwissen zu einem inhaltlich gefüllten (nicht leeren) Wissen kommen kann. 687 Das Streben ist ein Nichtwissen, das als Verweis ein Nicht-Angekommen-Sein bedeutet. Diese Spannung ist das Wesen der Seienden, des Bildes bzw. des Prinzipia­ tes, wobei diese Spannung, aus der heraus Wissen generiert wird, durch das Absolute selber bedingt ist. Denn es lebt, wie wir im Folgenden noch sehen werden, so in uns, dass es sich durch seine innere Dynamik in sich selbst zusammenzieht und uns so zu dem kontrahiert, was wir sind. Dadurch wird auch klar, dass unsere Liebe zum Absoluten Affekt der gravimetrischen Kraft des Absoluten ist, die durch dessen Selbstbezug, der im Begriff des Nicht-Anderen zum Ausdruck kommt, generiert wird (s. Rohstock: Der negative Selbstbezug, 111 und 198). 686

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nenkönnens. Wir wissen also durch die Negation von der inneren Grundspannung, die uns ausmacht. Und in dieser Grundspannung, in diesem Hin(auf)spannen, erfahren wir unmittelbar unsere Grenzen. Das Erleben dieser Spannung ist zugleich unser (Zurück-)GeworfenSein auf uns selber. Diese höchste Vernunfteinsicht688 gelingt uns nur durch das Nachdenken über das Absolute und mithin über die Prinzipien unseres Denkens. Und diese Reflexion wird erst durch den verborgenen Aufruf des Absoluten möglich gemacht. Cusanus übernimmt in diesem Zusammenhang sogar Proklos’ These, dass das »Eine in uns« erweckt werden müsse.689 Mit dieser Erweckung gene­ riert sich das höchste dem Menschen mögliche Selbstbewusstsein, insofern wir durch das Nichtwissen die Grenzen unseres Wissens einsehen und gegenüber dem Absoluten einen Selbstbescheid vollzie­ hen. Wir schwingen uns nicht unbesonnen selber zum Absoluten auf, sondern es wird als die von uns unabhängige Bedingung aller Wissensakte eingesehen. Da wir das Absolute in Wissen und Denken nicht einholen können, erschließen sich uns im Scheitern die Grenzen des Bewusstseins. Cusanus macht stets klar, dass er nur Bilder und Begriffe des Absoluten konzipiert. Ihm geht es nicht um eine direkte Schau des Absoluten, die einen Sprung über die Grenzen des Denkens hinaus implizierte.690 Denn die Grenzen unseres Wissens sind für Cusanus in metaphysischer Besonnenheit unüberspringbar. Höchstes Wissen ist für Cusanus wissendes Nichtwissen, also das Wissen darum, dass das Absolute durch unsere Wissensakte nicht umgriffen oder einge­ hegt werden kann. Vielmehr scheitert das Denken am Absoluten – freilich produktiv, sodass die Grenzen von Wissen und Denken einge­ sehen werden und ein Selbstbescheid im Angesicht der Transzendenz erfolgt, der uns über unser Dasein vollständig aufklärt. Und erst unter Rückgriff auf die transzendierende Negation der Bestimmungstota­ lität (non aliud) decken wir das nie enden wollende henologische S. dazu Apol. h 2II, p. 16, lin. 1–6. CT III/2.2, Marg. 428 und 429. – Vor dem Hintergrund des Konzeptes des »Einen in uns« lässt sich folgende Spekulation wagen: Die höchste Spitze des Geistes bzw. der Vernunft ist bei Cusanus wie auch bei Proklos das transzendierende Negieren, das über den Differenzraum hinaus verweist. In diesem Negieren liegt der Evidenzpunkt, an dem Vernunftwissen und Selbstbewusstsein hängen. 690 Man könnte auch mit Karl Jaspers sagen, dass die Grenzerfahrung ihre Funktion erfüllt, indem sie wissens-, denk- und seinsimmanent bleibt und zugleich auf Trans­ zendenz verweist (Jaspers: Philosophie II 204). 688

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Streben in uns auf und bringen es uns zu Bewusstsein. Denn unsere Liebe zum Absoluten und unser Scheitern an diesem sind untrennbar eins, wobei unser Verwiesen-Sein über unsere Grenzen hinaus vom Absoluten selber bedingt wird.691 Das Nichtwissen ist fraglos unser Bezug auf das Absolute, also unsere Intentionalität, die aber freilich auf kein concretum trifft, sondern sich vielmehr an der Un-Endlichkeit, Nicht-Andersheit bzw. In-Definitheit des Absoluten bricht und so auf sich selber zurückge­ worfen wird, dass vollendetes Selbstbewusstsein generiert wird. Im Akt des Nichtwissens realisieren, aktualisieren oder verwirklichen wir die höchste Einsichtsmöglichkeit, nämlich die Einsicht in die Grenzen des Denkens insgesamt – und zwar in Freiheit.692 Für Cusanus ist die höchste Freiheit, die dem Menschen möglich ist, tatsächlich der genannte Selbstbescheid: Wir sollen uns dem Absoluten unterwer­ fen.693 Diese Unterwerfung in Freiheit avanciert für ihn gar zur »Vollendung« der Vernunft. Vollendung wiederum meint, dem Wort 691 Obwohl Cusanus die menschliche Freiheit stark macht, dominiert uns das Abso­ lute. Zu diesem schwierigen Verhältnis s. die folgende Diskussion. 692 Zu »Gottes Vorsehung« und der »menschliche[n] Freiheit« s. Kremer: Praegusta­ tio, 319–352. Vgl. auch die überzeugende Darstellung von Isabelle Mandrella. Viva imago: Die praktische Philosophie des Nicolaus Cusanus. Münster: Aschendorff, 2012, 211–217. – Schon vor Kremers Studien war der Forschung durchaus bekannt, dass sich der Mensch durch seine eigene »kreative Freiheit« selber »form[t]« (Eusebio Colomer. »Das Menschenbild des Nikolaus von Kues in der Geschichte des christli­ chen Humanismus«. Mitteilungen und Forschungsbeiträge der Cusanus-Gesellschaft 13 (1978), 117–143, hier 129). Der Mensch »verwirklicht« sich »Auge in Auge mit dem Absoluten« (ibid. 130), wodurch er seine höchste Möglichkeit realisiert. Auch Charles Hummel hat scharf gesehen, dass der Mensch in Freiheit sein eigenes Selbstbewusst­ sein verwirklichen könne, wobei Hummel völlig zutreffend hinzufügt, dass sich der Mensch in Freiheit dem Absoluten unterzuordnen habe (Das Individuationsprinzip in der Philosophie des Nicolaus Cusanus. Bern/Stuttgart: Verlag Paul Haupt, 1960, 49–54). Die an uns ergehende Aufgabe, im Angesicht der Transzendenz wir selber zu werden, hat vor allem Karl Jaspers eindringlich beschrieben (Nicolaus Cusanus, 157–167). 693 De vis. c. 35; h VI, n. 112, lin. 7–11 und bes. ibid. n. 113, lin. 1–3; Hervorh. Roh.: »Oportet autem omnem intellectum per fidem verbo dei se subicere et atten­ tissime internam illam summi magistri doctrinam audire, et audiendo, quid in eo loquatur dominus, perficietur.« Höchste Freiheit ist also auch für Cusanus ἐθελοδουλεία – und zwar gegenüber Gott. Vgl. dazu das laut Fichte in Freiheit anzu­ nehmende Soll (§ 48). Zum Verhältnis von Freiheit und Gehorsam bei Cusanus s. auch die völlig zutreffende Darstellung Isabelle Mandrellas: Die menschliche Freiheit darf nicht gegen den gebotenen Gehorsam gegenüber Gott ausgespielt werden und vice versa (Viva imago, 267–269).

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Gottes, also dessen eigenem ›Denken‹, so ähnlich wie möglich zu werden.694 Die gottförmige Vernunft ist diejenige, die sich dem Absoluten unterordnet, also ihren Platz im Sein freiwillig und in Demut einnimmt. Genau dieses ›Sich-Fügen‹ ist der Einsicht in die eigene Nicht-Absolutheit geschuldet, sodass man sagen darf, dass der Selbstbescheid die Realisierung höchster menschenmöglicher Freiheit ist, die gerade vollendetes Selbstbewusstsein meint: Wir wissen, dass wir nicht das Absolute sind und so ordnen wir uns diesem in Freiheit unter. Der Mensch realisiert also selber sein eigenes Selbstbewusstsein, insofern er sich dem Absoluten in Freiheit unterordnet, also einen Selbstbescheid vollzieht.695 Es wird uns eine gewisse Autonomie zugestanden, denn uns obliegt die Realisierung der höchsten Einsicht, durch die vollendetes Selbstbewusstsein im wissenden Nichtwissen erreicht wird. Klaus Kremer hält daher völlig zu Recht fest, dass Hans Blumenberg mit seiner Definition der Neu­ zeit als Zeitrahmen, in dem die Autonomie des Menschen und seine geistige Spontaneität entdeckt wurden, die Fakten verzerre.696 Wie gezeigt waren bereits Plotin und Proklos – übrigens noch intensiver als Cusanus – um die Autonomie und Spontaneität denkender Wesen bemüht. Aber auch bei Cusanus realisieren wir Selbstbewusstsein durch unsere freie Wendung auf das Absolute. Wenn der Mensch sich De vis. c. 35; h VI, n. 112, lin. 12–13. Zur Frage, ob unser Selbstfindungsprozess mit der Kreativität des Absoluten in Konflikt gerät, s. den folgenden Paragraphen. Schon hier sei auf die interessanten Beobachtungen Karl Jaspers’ verwiesen. Dieser scheint davon auszugehen, dass unsere Individualität durch das Absolute gesetzt wird. In der Tat sind wir als Andere durch das Nicht-Andere auf uns selber hin kontrahiert und als spezifische Andere mit einer eigenen Individualität gesetzt. Allerdings heißt dies für Jaspers nicht, dass wir darin schon zu uns selber geworden sind: Das »Selbstwerden«, die ich hier als unseren Durchbruch zum Selbstbewusstsein beschreibe, liegt nach Jaspers nämlich in unserer Verantwortung (Nicolaus Cusanus, 157–158). Man kann es auch so aus­ drücken: Wir sind mit gewissen Fähigkeiten zur Selbstverwirklichung ausgestattet, aber nicht als Vollendete gesetzt. Unsere Reflexionsfähigkeit ist gesetzt, weil wir als konkrete Nicht-Andere gesetzt sind. Sich dieser aber zu bedienen, liegt in unserer Verantwortung. – Es sollte ferner Erwähnung finden, dass Selbstbewusstsein erst dann verwirklicht ist, wenn die rechte Ordnung von Erkenntnisvermögen eingesehen wird: Die Sinneswahrnehmung, sensus, nimmt den untersten Rang ein, gefolgt von ratio (Verstand) und intellectus (Vernunft). Diese menschlichen Vermögen werden schließlich durch das Absolute dominiert. 696 Kremer: Praegustatio, 340. Darauf, dass Blumenberg Cusanus’ Denken zuweilen eher nicht verstanden zu haben scheint, habe ich unlängst verwiesen (Rohstock: Der negative Selbstbezug, 80 mit Anm. 269). 694

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also finden soll, so muss er das Absolute suchen; und darin findet er sich und auch das Absolute: Der Delphisch-Sokratische Imperativ, »Erkenne dich selbst«, fordert uns also auf, unser Inneres zu entde­ cken und zu durchforschen. Und dort, in unserem Inneren, lebt das Absolute. Vollendetes Selbstbewusstsein zu erreichen, bedeutet im Grunde nichts anderes als die gründende und uns tragende Präsenz des Absoluten in uns einzusehen. Zur Erörterung der tragenden Präsenz des Absoluten werden wir nun übergehen.

§ 34) Das Absolute als der uns tragende Horizont Wenn das Scheitern produktiv ist, dadurch also Wissen und Bewusst­ sein sowohl von der Unerreichbarkeit des Absoluten als auch von unseren Grenzen generiert werden, dann stellt sich die Frage, welche Rolle das Absolute bei dieser Genese spielt: Hat Cusanus nicht gesagt, dass das Absolute die aktive Bedingung aller Bestimmungen und Entitäten sei? Müsste seine Tat also nicht selber für die Genese des Bewusstseins verantwortlich sein? Cusanus jedenfalls hat die definierende Funktion des Absoluten pointiert hervorgehoben: Alles je Andere ist durch das Nicht-Andere auf sich selber bezogen und wird so durch das Nicht-Andere definiert.697 Ausgedrückt hat Cusanus diesen Gedanken durch seine bereits zitierte Formel »aliud est non aliud quam aliud«.698 Bei dieser Formel ist zunächst einmal zu beachten, dass Cusanus das Nicht-Andere als Illustration des Absoluten begreift:699 Es ist die begriffliche Repräsentation des universalen Bedingungshorizon­ tes, durch den alles Seiende fundiert wird. Diese Bedingung denkt Cusanus – anders als Plotin oder Proklos, aber in Übereinstimmung mit Eriugena und Fichte – als Tätigkeit: Das Absolute wird also als aktiver Grund begriffen, was vorzugsweise durch den Akt kreativen

Etwa De non aliud c. 1; h XIII, p. 5, lin. 1–5. Hier sei vermerkt, dass jedes Andere durch das Nicht-Andere als individuelles und konkretes Nicht-Anderes definiert wird. Jedes Andere bezieht sich kraft des Nicht-Anderen auf nicht-andersheitliche Weise auf sich selber. Der Selbstbezug daseiender Entitäten ist ein ins Konkrete gebrochenes in-differentes oder negatives Selbstverhältnis. S. dazu Rohstock: Der negative Selbstbezug, 74–98. 699 Zum Bildbegriff s. auch § 35. 697

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Sehens ausdrückt wird,700 wobei dieses Sehen nicht-objekthaft701 vorgestellt wird und seine innere Geschlossenheit nicht verlässt.702 Diesen Gedanken der bleibenden Innerlichkeit absoluter Tätigkeit illustriert Cusanus speziell durch eine Formel, die Dirk Cürsgen treffend als »Satz des Cusanus«703 bezeichnen hat: »non aliud est non aliud quam non aliud«.704 Mit diesem Satz demonstriert er den Selbstbezug des Absoluten, in dem sich dieses selber definiert: Es bezieht sich (non aliud) durch sich (non aliud) auf sich selber (non aliud). Es ist nicht von einem anderen, sondern von sich selber und durch sich selber und so ganz in sich selber.705 Es kann daher als reine Lebendigkeit und Aseität verstanden werden. Hier lässt sich von einem lebendigen Akt des Abschließens sprechen, durch den Cusanus auf die in sich bewegte Geschlossenheit des Absoluten aufmerksam machen möchte. Man könnte gar von einem Akt des Transzendierens sprechen, wobei natürlich betont werden muss, dass damit nicht De non aliud c. 23; h XIII, p. 54, lin. 25–30: »Visus ergo, qui et theos unitrinus, non alia sane visione sese et alia alia videt, sed ea visione, qua se, simul et omnia intuetur. Hoc videre definire est. Neque enim videre ab alio motum habet, sicut in nobis obiectum potentiam movet, sed illius videre constituere est quemadmodum inquit Moyses Deum vidisse lucem bonam et factam esse.« 701 In diesem Zusammenhang muss die Frage gestellt werden, ob das Absolute tatsächlich als intelligibles Sehen, also als Denken, begriffen werden kann. Wäre es nicht sachgemäßer, wie Plotin, Proklos und Fichte von einer reinen Liebe oder einem Gewahren zu sprechen? Denn mit der Liebe ist, wie wir im Hinblick auf Plotin und Proklos bereits sehen konnten, eine Art vor-geistiges Vollziehen gemeint, das nicht konkret gebunden ist, sondern das Konkrete transzendiert. Denken hingegen scheint immer irgendwie konkret gegeben zu sein, wobei es unerheblich ist, ob man es als διάνοια oder νόησις fasst. Eckhart freilich hatte bereits das unkonkrete Übersein absoluten Denkens pointiert (dazu Jens Halfwassen. »Gibt es eine Philosophie der Subjektivität im Mittelalter?«, 337–360). Das Absolute ist bei Eckhart reine Luzidität und völlige Unverborgenheit, die freilich als höchstes Sehen begriffen werden darf. Insofern das Absolute bei Cusanus nicht nach Art der Anderen ist und Differenz transzendiert, ist das ›Denken‹ des Absoluten auch bei ihm als reiner, ent-kategoria­ lisierter Akt vorzustellen. S. dazu Rohstock: Der negative Selbstbezug, 49–56; bes. 52. 702 Das Absolute bleibt als Kreativität ganz in sich selber: S. Rohstock: Der negative Selbstbezug, passim; bes. 69–74. 703 Cürsgen: Die Logik der Unendlichkeit, 93. 704 Hierzu Cürsgen: Die Logik der Unendlichkeit, 91–126. Rohstock: Der negative Selbstbezug. »Nicholas of Cusa’s Not-Other«, 117–126. »De non aliud«, 245–249. »Johannes Scottus Eriugena und Nicolaus Cusanus«, 411–420. 705 Aus der Fülle an zitierbaren Stellen sei diese aufgrund ihrer Prägnanz herausge­ griffen; De prin.; h X/2b, n. 18, lin. 8–9: »Principium enim, cum non sit ab alio, per se subsistere dicimus«. – Zu Fichte, der diesen Gedanken des »Von sich« ebenfalls vertreten hat, s. § 40 und § 44. 700

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gemeint sein soll, dass sich das Absolute aus der Dimension der Anderen zurückziehe, um alles zu übersteigen:706 Es arbeitet sich nicht am Anderen ab, auch wenn der Begriff des Nicht-Anderen diesen Gedanken suggeriert, insofern hier der Negationsakt am Anderen vollzogen wird.707 Wie bereits gesagt, fundiert Cusanus mit der Aktivität des Abso­ luten auch dessen universale Prinzipfunktion. Es kommt ihm gerade darauf an, zu zeigen, dass die Fundierung von Sein und Denken ein Akt konstanter Performativität ist. Dieser Akt lässt sich näher beschreiben: Bei konzentrierter Aufmerksamkeit auf die Funktion des Absoluten, hier repräsentiert durch den negativen Begriff des Nicht-Anderen, wird zunächst einmal erkennbar, dass es in uns selber lebt und wirkt. Es erscheint im Satz »aliud est non aliud quam aliud« als verbindende Mitte des je individuell daseienden Anderen. Insofern das Nicht-Andere wiederum Begriff des Absoluten ist, wird damit die definierende Präsenz des Absoluten durch den (und im) zitierten Satz angezeigt. Auf diesem Hintergrund wird sodann ersichtlich, dass es das Absolute ist, durch das jedes Andere auf sich selbst definierend bezogen ist. In diesem Sinne kontrahiert das Absolute jedes Andere auf dieses spezifische Andere und zieht es – wie ein in allem wirkender Magnet – zusammen. Demnach sind auch wir 706 Die nicht unproblematische Formel der Selbsttranszendierung werde ich im Folgenden gleichwohl noch einmal aufgreifen, weil sie hilft, die Prinzipfunktion zu verstehen. 707 Cusanus betont aber mit seiner Formel gerade Unabhängigkeit, Aseität und Unbestimmbarkeit des Absoluten, auch wenn er dabei auf sprachliche Konstrukte zurückgreifen muss, die ohne Differenz nicht auskommen. Durch die negative Formel zeigt sich die von Cusanus intendierte Ent-Ontologisierung des Absoluten, wobei wir hier hinzufügen können, dass er auch an einer Ent-Personalisierung Gottes und mithin an einer negativ-theologischen Trinitätsformel interessiert war. Zum Ausdruck kommt, dass das Absolute nicht von der Art des Anderen ist. Dergestalt ist es selber nicht objekthaft gegeben und ent-konkretisiert; De doc. ign. I c. 26: h I, p. 54, 24 – p. 55, 2: »Unde neque pater est neque filius neque spiritus sanctus secundum hanc negativam theologiam, secundum quam est infinitus absolutus«. Womöglich ist gerade eine negativ-theologische Trinitätsformel dem christlichen Mysterium des dreieinen Gottes sogar angemessener. Denn abzuschaffen gedachte Cusanus die Trinität gerade nicht. Zu überlegen wäre in diesem Zusammenhang auch, ob es nicht schon bei Dionysios Ps.-Areopagitês Anklänge an eine negative Trinitätsformel gibt, insofern er die Trinität nicht einfach nur anhand der Begrifflichkeiten der zweiten hypothesis des Platonischen Parmenides beschrieben hat. Ein Einfluss der Proklischen Henadenlehre ist durchaus wahrscheinlich – und zwar weniger im Hinblick auf Diony­ sios’ Angelologie, sondern viel mehr im Hinblick auf seine Absolutheitsspekulation.

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durch das Nicht-Andere, das in uns selber lebt, auf uns bezogen. Durch es erkennen wir uns, durch es kommen wir zur Erkenntnis, zum Be- und Umgreifen von uns.708 Durch es brechen wir zu uns selber durch. Wir müssen also einsehen, dass wir durch es alles (uns und es eingeschlossen) sehen. Damit ist gerade unser Selbstverhält­ nis durch das Absolute bedingt: Das Absolute wird zur Bedingung unseres Selbstbewusstseins,709 wobei aber dieser Gedanke die oben beschriebene Autonomie und Freiheit des Menschen nicht aufhebt oder tilgt. Mit dem genannten »Durch«, so können wir weiterhin präzisie­ ren, sind zwei Aspekte verknüpft, nämlich einerseits die Unsichtbar­ keit des Absoluten (i) und andererseits seine tragende Funktion (ii): (ad i) Das Absolute lässt sich als reine Durchsichtigkeit oder Inde­ finitheit beschreiben. Von Cusanus wird es als Licht ausgewiesen,710 708 Dass wir uns nach Cusanus nicht vollständig selber erfassen können, liegt daran, dass wir nicht selber der Grund unseres Daseins sind. Präzises Erkennen besteht für Cusanus im absolut negativen Akt, der nur dem Absoluten selber zukommen kann. Diese Präzision ist deshalb absolut, weil in ihr die Genese aller Bestimmungen vollzogen wird. Wir konstruieren nur nach, sind aber nicht die absolute Präzision, durch die sich alles generiert. Dass wir uns aber nicht in vollendeter Präzision sehen können, heißt nicht, dass wir kein vollendetes Selbstbewusstsein erreichen können. – In diesem Zusammenhang muss fernerhin betont werden, dass das Absolute selber die Anderen nicht als Andere erkennt, da es die Urteilsformen der Differenz, der Gleichheit etc. übersteigt. Es muss die Anderen nicht messend aneinanderhalten. Vielmehr ist es ihre Genese und darin besteht die Präzision des absoluten ›Wissens‹, das gerade nicht mehr formgebunden ist. 709 So schon Eriugena: s. § 30. 710 In Sermo CXLI; h XVIII, p. 93, lin. 7–8 betont Cusanus besonders die Aseität des absoluten Lichtes: »Nam est lux per se, non ab alio esse lucis habens«. In De non aliud c. 3; h XIII, p. 7, lin. 1–13 und p. 8, lin. 5–14 wiederum wird das Licht als Erkenntnisund Seinsprinzip ausgewiesen. Erkennbar ist es aber nur am sichtbaren Gegenstand: »Das Licht«, so schreibt Cusanus, »wird also im Sichtbaren, wo es erfasst wird, ergründet«. – »Lux igitur in visibili, ubi percipiatur, exquiritur«. Vgl. De ap. theor. h XII, n. 8–9. Das Licht ist Grund dafür, dass wir Farben und Gegenstände sehen. Seine Klarheit bleibt aber unsichtbar. Es erscheint nicht an ihm selber, sondern in der Ver­ schiedenheit der Farben und Objekte. Vgl. Halfwassen: Auf den Spuren des Einen, 324. – Damit wiederholt Cusanus einen Gedanken Bonaventuras und greift zugleich Fich­ tes Lichtspekulationen vor: Das Licht, das farblos und unsichtbar ist, bricht sich nach Bonaventura und Fichte an den gesehenen Objekten in die bunte Vielfalt der Farben, wobei es an ihm selber rein und ungebrochen bleibt, seine ursprüngliche Kraft bzw. sein »Können selbst« (posse ipsum) also nicht verliert (Bonaventura: Itinerarium men­ tis in Deum, c. 5, n. 4. Fichte: GA I/9, p. 100, lin. 24 – p. 101, lin. 16). Fichte begreift das Absolute als lichtende Durchsichtigkeit (GA III/5, p. 48, lin. 14–17). Zu Fichtes Lichtkonzeption s. Kap. IV.2; bes. § 46.

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wobei dieses gerade in-definit ist und nur nicht-konkret gegeben sein kann: Die Durchsichtigkeit des Absoluten bedeutet im Grunde gar nichts anderes als unser begriffliches Scheitern am Absoluten. Seine Durchsichtigkeit ist nämlich immer gleichbedeutend mit unserem Scheitern daran, es begrifflich zu fassen. Wir begreifen es daher auch nicht notwendig immer mit, wenn wir epistemische Akte vollziehen. Wenden wir uns freilich der Durchsichtigkeit in uns selber mit gebo­ tener Akribie und Aufmerksamkeit zu, wird uns unser begriffliches Scheitern an der und durch die Durchsichtigkeit bewusst. (ad ii) Die Anderen erkennen sich selber durch dieses selber in-definite, intelligible Licht: Es ist die selber nicht konkret gegebene Bedingung, durch die alle denkbaren Objekte überhaupt konturiert und so eingesehen werden können, wobei Cusanus hierbei noch einmal eine Präzision vornimmt: Das Absolute, hier repräsentiert durch das Nicht-Andere, leitet uns und unseren Blick über und durch sich auf uns selbst hin. Das Absolute ist überhaupt der tragende Akt, der nicht nur epistemische Operationen, sondern unser ganzes Dasein hält und bewahrt. Das Licht des Absoluten kann, so darf hier der besseren Übersicht und Anschaulichkeit halber hinzufügen werden, sachlich analog zu Proklos’ Konzept der πρόνοια begriffen werden. Es ist dergestalt die Bedingung des Seins aller Seienden und des den­ kenden, reflektierenden Selbstbezuges kreatürlicher Wesenheiten. Es leitet jeden Blick, auch wenn wir uns seiner tragenden Funktion gar nicht bewusst sind.711 Gleichwohl werden wir dadurch nicht von der Kraft des Absolu­ ten absorbiert – uns verbleibt, wie bereits deutlich gemacht wurde, eine gewisse Autonomie. Diese besteht nun eher weniger in der Wendung auf die eigene Reflexivität, sondern in erster Linie in der Wendung auf unseren Transzendenzbezug, durch den wir über die Grenzen unseres eigenen Daseins hinaus verwiesen sind. Eine einfache selbstbezügliche Reflexion ist also offenbar nicht gefordert, denn durch bloße Selbstbeschau wird das tragende Fundament des eigenen Daseins nicht ersichtlich. Cusanus geht es wie Plotin, Proklos, 711 Die Durchsichtigkeit ist das caritative Band, durch das alles ist. Im alltäglichen Vollzug von Denkakten aber haben wir womöglich, höchst wahrscheinlich sogar, gar nicht bemerkt, dass wir die Durchsichtigkeit immer mitvollziehen, also durch sie hindurch blicken. Wir können uns dieser tragenden Funktion bewusst werden, indem wir auf die Bedingung unserer Erkenntnisvermögen reflektieren: Hierbei müssen wir aber von allem Konkreten absehen, also die Abstraktion in das Reflektieren mit aufnehmen.

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Eriugena und Fichte darum, dass der Reflexion eine henologische Perspektive gewissermaßen eingesetzt werden muss. Ohne diese würde das Dasein nur in sich kreisen, sich aber gerade nicht über sich selber aufklären. Wendet sich das Denken dem Absoluten durch Abstraktion zu, wird es dieses dennoch niemals direkt sehen, aber doch einsehen können, dass durch es alles ist und dass es als Indefinitheit oder Durchsichtigkeit allem Sehen und Erkennen präsent bzw. immanent ist. Und so kommen wir zum Bewusstsein, dass das Absolute in uns lebt und von uns mitvollzogen wird. Dass wir durch das Absolute auf uns verwiesen sind, also nicht durch unsere Form des Denkens und der Reflexivität, sondern durch die Proto-›Form‹ reiner Durchsichtigkeit, können wir erkennen; und durch diese ist es überhaupt erst möglich, zu höchstem Wissen und vollendetem Selbstbewusstsein durchzubre­ chen. Vollendetes Selbstbewusstsein bedeutet also auch immer das Wissen, dass das Selbstbewusstsein durch das Absolute bedingt wird: Intellektuelle Anschauung und νόησις sind nicht einfach bloß reflexive Selbstbeschau, sondern durch die Erfahrung mitgeprägt,712 dass sie als Formen nicht das Absolute sind.713 Wie gesehen vollziehen wir also das Absolute, schon allein weil es stets und überall präsent ist, immer mit. Dieser Mitvollzug lässt sich anhand des Nicht-Anderen noch einmal präzisieren, stellt es doch die ursprüngliche Definition eines jeden Anderen dar. Nur durch es wird jedes Andere für uns erkennbar auf sich selber fixiert. Wir greifen auf die Kraft des Absoluten aus, insofern alle Selbstbezüge durch diese Kraft bedingt werden. Dabei wird das Absolute selber aber nicht positiv gewusst. Es ist ja als Nicht-Anderes der Dimension des auf Differenz angewiesenen Denkens enthoben und daher nicht selber positiv gesetzt. Wir können uns also auf es, wie bereits gesagt, nur im Nicht-Wissen beziehen, wobei dieser Bezug nicht beim Absoluten ankommt. Gerade an diesem Punkt wird ein präzisierender Blick auf den Begriff des Nichtwissens notwendig. Nur wenn der innere Zusammenhang der Wortpartikel »Nicht« und »Wissen« im Begriff des Nichtwissens durchschaut wird, kann das Verhältnis von unserem Vor diesem Hintergrund sei auf die Dionysische Formel »οὐ μόνον μαθὼν, ἀλλὰ καὶ παθὼν« (De div. nom. II § 9; CD I, p. 134, lin. 1–2) zurückverwiesen. 713 Wir müssen also die Vollendung selber erstreben und wollen. Das Absolute gibt uns nur die Grundlage, aber wir müssen uns ihm auch aktiv zuwenden. Also ist Selbstbewusstsein nicht einfach ein Gnadengeschenk – aber es besteht auch nicht einfach im (scheinbar autarken) Sich-selber-Denken. 712

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Negationsakt, durch den wir das Absolute intendieren, und der Tätig­ keit des Absoluten selber verstanden werden. Die im Nichtwissen zum Ausdruck gebrachte Negation ist zwar unser Akt bzw. der Akt des Denkens. Letztendlich gilt es aber anzuer­ kennen, dass das Absolute selber Begriff, Bewusstsein und Selbstbe­ wusstsein aktiv bedingt. Cusanus macht nämlich unmissverständlich deutlich, dass das Nicht-Andere zwar Begriff des Absoluten, aber doch als Illustration der Bedingung aller Anderen verstanden werden soll. Der Gedanke, dass das Absolute selbst die Tat der Negation ist, durch die alle Prinzipiate des Absoluten bedingt werden, hängt offensichtlich mit Proklos’ Konzept produktiver Negationen zusam­ men, wenngleich Proklos dem Absoluten keine Negationstätigkeit zuspricht. Dergestalt ›verwandelt‹ sich das Nichtwissen in den Akt des Absoluten: Cusanus schreibt dem Absoluten eine negative Aktivität zu, weshalb das Nicht-Andere mehr als nur unsere Perspektive auf das Absolute ist. Das Absolute scheint gewissermaßen selber zu uns auf dem Weg zu sein, wobei dieser Akt eine ›Bewegung‹ des Absoluten ›nach außen‹ zu suggerieren droht. Vollzieht sich also das Nichtwissen nicht gerade am Wissen oder Anderen? Würde es aber dadurch nicht in eine gewisse Abhängigkeit vom Anderen geraten? Das Problem lässt sich folgendermaßen lösen: Wenn das Absolute in uns lebt, dann vollziehen wir es offenbar bei jedem Akt mit – eine Alternative ist für Cusanus nicht mehr gegeben. Es ist Leben in uns, an dem wir notgedrungen mit unserem ganzen Dasein hängen, insofern es das Urmomentum unseres eige­ nen Selbst ist. Wir werden aber im Mitvollzug nicht zum Absoluten: Wir sind es nicht selber, denn es ›ist‹ Durchsichtigkeit, reiner Vollzug und ungebrochener Akt. Wir hingegen hängen immer an der Form, artikulierbar im Begriff ›Nichtwissen‹. Das Negieren sind wir also hier nicht rein. Daher können wir das Absolute auch immer nur punktuell mitvollziehen, während es selber die reine Negationstätigkeit bleibt: Es ist, wie bereits gezeigt, unabhängig vom konkreten Wissen. Wenn das Absolute nun ferner als das Nicht des Anderen vor­ zustellen ist, dann ist es – mangels Alternativen – auf sich selbst bezogen. Dieses ›Selbst‹ ist aber reines Negieren, sodass es sich selber nicht objektiviert. Es fixiert sich selbst – auch wenn dies paradox klingen mag – als reines Relieren, das als Reinheit – analog zur Proklischen πρόνοια und zu Eriugenas Begriff absoluter Liebe – nie

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gebrochen ist und daher transzendent bleibt.714 So ist das »Nicht« im Begriff des »Nicht-Anderen« Verweis auf das Absolute, insofern der Begriff des »Nicht-Anderen« Konkretes, eben das »Andere«, in sich aufgenommen hat.715 Das Absolute vollzieht sich aber rein, während wir es nur punktuell mitvollziehen – und zwar nur in einem konkreten Negations-Vollzug. Es ist das Primäre, wir das Derivative.716 Auf diesem Hintergrund soll noch einmal auf die kühne, weil missverständliche Aussage, das Absolute könne durchaus als Akt des Transzendierens verstanden werden, zurückgekommen werden. Diese Aussage soll hier riskiert werden, um die spezifische Prinzip­ funktion des Absoluten einsichtig machen zu können: Wie bereits betont, entzieht sich das Absolute nicht, um sich selber transzendent zu machen – es ist schon immer transzendent und daher von allen Bestimmungen und Wesenheiten unabhängig –, sondern um alles auf sich selber zu kontrahieren: In diesem Akt ›zieht es sich in sich zurück‹ oder ›schließt sich ab‹.717 Dieses Abschließen ist keine Privation, kein Ausgrenzen, sondern absolute Lebendigkeit und Produktivität: Transzendieren meint den produktiven Entzug, durch den überhaupt erst eine gravimetrische Kraft entsteht – bzw.: das Entziehen ist diese Kraft selber. Dadurch wird ein neuer Begriff des ›Entzuges‹ Den Selbstbezug des Absoluten kann man daher bei Cusanus auch als Selbstliebe verstehen, die pronoetische Kraft (ἀγάπη) ist und das erotische Streben initiiert oder bedingt. Die Selbstliebe des Absoluten ist vom henologischen Streben bei Plotin und Proklos aber durchaus verschieden. 715 Das Nicht-Andere kann im Sinne einer Jaspers’schen Chiffre verstanden werden. Die Funktion der Chiffre des Nicht-Anderen – wir dürfen auch »Metapher« sagen – besteht vor allem darin, den Raum zu öffnen, in dem das, was eigentlich stets unthematisch bleibt, zur Sprache gebracht wird. Diese Chiffre verweist aus der Eindi­ mensionalität der Sprache heraus, bleibt aber Teil derselben. Ihre Funktion kann sie allerdings nur auf dem Hintergrund der Transzendenz erfüllen, auf die sie (zurück)ver­ weist. – Zu denken ist auch an Hans Blumenbergs Begriff der »Sprengmetapher«, deren Funktion darin bestehe, »die Transzendenz als Grenze theoretischen Vollzugs […] sozusagen ›erlebbar‹ zu machen« (Paradigmen zu einer Metaphorologie, 176). 716 Und so – und nur so – ist die scheinbare Wechselseitigkeit von Gottes Sehen und unserem Sehen (De vis. c. 10; h VI, n. 40) zu deuten, denn es handelt sich ja offenbar nicht um Reziprozität: Das Absolute dominiert diese ›Beziehung‹. Es ist die Bedingung und wir sind angehalten, unsere höchste Erkenntnismöglichkeit im Rückgriff auf die absolute Kraft zu verwirklichen. 717 Dieser Akt kann – wie schon bei Eriugena – durchaus im Sinne Isaak Lurias verstanden werden. Dazu Scholem: Die jüdische Mystik, 286. Wie schon bei Eriugena muss aber auch hier betont werden, dass diese Selbstverschränkung weder als »Ver­ bannung« noch als »Exil« verstanden werden darf (ibid. 286–287). 714

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2) Nicolaus Cusanus über das wissende Nichtwissen und den tragenden Horizont

geschaffen, der eben keine Privation meint, sondern fundierende Kraft sein soll. Es wird durch den Selbstbezug eine innere Dynamik suggeriert, die eine Selbstkontraktion meint, die die Formen – also das Andere, das das Nicht-Andere umlagert, – anzieht – und zwar so, dass das Andere auf sich selber hin kontrahiert wird. Das NichtAndere entfaltet durch seine innere Dynamik eine anziehende und zusammenhaltende Kraft, wobei ich in diesem Zusammenhang an das bereits oben im Hinblick auf Eriugenas Metaphysik verwendete Bild einer elektromagnetischen Spule erinnern möchte. Sicherlich umgibt die kontrahierende Kraft nicht das Absolute, sondern es ist aufgrund seiner inneren δύναμις selbst diese Kraft. Und dergestalt ist es gewissermaßen der »Punkt absoluter Gravitation«718, durch den alle Prinzipiate auf sich selbst hin ausgerichtet und kontrahiert sind. Und diese Kraft lebt in uns, sodass kein Abgrund mehr zwischen dem Absoluten und uns behauptet werden kann. Mit Fichte gesprochen könnte man sogar konstatieren, dass wir – freilich in unserem Kern – das Absolute selber sind, denn es wirkt nicht außerhalb von uns. Und doch sind wir als Formen nicht das Absolute, insofern jede Form durch das Band absoluter Liebe, das im Inneren des Daseins lebt und wirkt, zusammengehalten wird.719 Wie schon Eriugena hat Cusanus also eine kontrahierende Kraft konzipiert. Das reine Relieren des Absoluten ist für ihn pure meta­ physische Macht, durch die alles Sein und Denken auf sich selbst bezogen oder kontrahiert wird. Damit hat Cusanus aber Eriugenas Aussage, dass sich das Absolute in uns liebe, durch die anschauliche Formel der Definition durch das Nicht-Andere noch einmal poin­ tierter darzustellen vermocht. Die Gemeinsamkeiten von Proklos, Eriugena und Cusanus, wobei wir Plotin in diese kleine Gruppe hochspekulativer Denker mit aufnehmen können, bestehen darin, dass sie eine δύναμις als tragenden Horizont ihrer Metaphysik konzi­ pieren. Dieser Horizont ist reine Durchsichtigkeit, reine Luzidität, nicht-konkret gegebene Bedingung aller konkreten Taten. Mehr als alle anderen Denker vor ihm entwirft Cusanus diesen absoluten Hintergrund als Akt des Dirigierens, Leitens und Führens. Durch das Konzept des Nicht-Anderen wird das Absolute als das treibende 718 Rohstock: »Nicholas of Cusa’s Not-Other«, 122 und Der negative Selbstbezug, 99–111. Cusanus vergleicht in De sapientia das Absolute mit einem Magneten (De sap. I; h V, n. 16). 719 S. dazu bes. § 40, § 42–43 und § 46–47.

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III) Die christliche Transformation der neuplatonischen »Henophanie«

Moment begriffen. Es zeigt sich in jedem Definitionsakt als reines Übergehen, Brückenschlagen, Dirigieren. Es zeigt sich als in sich geschlossenes und tätiges singulum, das ganz in sich bleibt und sich nicht nach außen richten muss. Das Nicht-Andere lenkt in und aus seiner Geschlossenheit und durch seine innere Geschlossenheit alle konkreten Blicke. Gerade Cusanus könnte mit Verve vom Absoluten als dem »anonymen Reglement«, wie Wolfram Hogrebe es treffend ausgedrückt hat, sprechen.720 Grundgelegt ist dieser Gedanke freilich bereits in den Spekulationen von Plotin, Proklos und Eriugena. Mit seinem Konzept des Nicht-Anderen hat Cusanus aber die dirigierende Ur-Tat präzise herausgearbeitet. Im Zusammenhang mit dem »anonymen Reglement« spricht Wolfram Hogrebe auch, wie bereits in den vorangehenden Diskus­ sionen mehrfach erwähnt, von der »Distinktionsdimension«: Diese werde »zwar von jeder Distinktion in Anspruch genommen«, lasse sich aber »gegen nichts mehr distinguieren. Sie bleibt der völlig diaphane Hintergrund aller semantischen Kontraste, der selber gegen nichts mehr kontrastierbar ist.«721 Dieser Horizont ist der lichtende Hintergrund722, den nicht etwa wir im Denken oder durch unser Denken aufbrechen. Vielmehr ist er schon immer da. Jedenfalls wird anhand dieser Illustrationen deutlich, dass Cusanus auf eine mög­ 720 Hogrebe: Echo des Nichtwissens, 338. Damit nimmt Hogrebe übrigens eine durch­ aus polemisch ausfallende Abgrenzung der Cusanischen zur Hegelschen Metaphysik vor: »Es bleibt immer ein im Wissen Nicht-Gewußtes, an dem wir aber orientiert bleiben und das wie ein anonymes Reglement unsere semantischen Explikationsbe­ mühungen ›dirigiert‹ und ihr Kontinuativ ist. Sachlich hat das bereits Platon, später Cusanus klar erkannt, ebenso Kant und auch Schelling, nicht jedoch Hegel. Für ihn war es einfach unerträglich, mit einem epistemisch nicht auflösbaren ›Rest‹ zu rechnen, der nicht begrifflich transparent gemacht werden kann. Sein System entwirft daher die Vision einer riesigen semantischen Verbrennungsmaschine, die die Gehalte aller Grundbegriffe am Ende zur Schlacke werden läßt, so daß der sich final restlos begreifende Geist kollabiert.« 721 Hogrebe: Echo des Nichtwissens, 339. Damit trifft sich Cusanus mit Plotin, Prok­ los, Eriugena und schließlich auch Fichte (§ 46). 722 Um diesen Hintergrund weiterhin zu veranschaulichen, könnte man von einer Art Leinwand sprechen, die die Bedingung ist, Objekte einzuzeichnen. Nur durch das Vorhandensein dieses Distinktionsraumes können wir überhaupt Zeichen eintragen und sie zueinander in Bezug setzen. Graphisch lässt sich so ein »Subjekt« einzeichnen, das sich in einem Denkakt auf ein beliebiges »Objekt« bezieht; etwa in der Form »S → O«. Ohne die Leinwand könnte nicht einmal eine minimale Form der Differenz eingezeichnet werden, nicht einmal ein Kreis, der die Subjektivität geometrisch illustrieren soll.

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2) Nicolaus Cusanus über das wissende Nichtwissen und den tragenden Horizont

lichst anschauliche Weise zu zeigen versucht, dass alles Intelligible durch das Absolute auf sich selber hin kontrahiert wird. Interessan­ terweise geht es Cusanus damit hauptsächlich um die Fundierung des Selbstbewusstseins und des Verstehens, bei dem das Denken auf das vorgängige Nicht-Andere angewiesen ist. Welche Konsequenzen, so wollen wir abschließend fragen, ergeben sich aus dieser Einsicht?

§ 35) Die Spannung des Bildes Es ist das Absolute, das in seinem Akt des Transzendierens, der nichts anderes als Attraktion, Kontraktion, Dirigieren, Leiten und Tragen bedeutet, das Andere in der Spannung auf das Absolute hin hält. Das Transzendieren entfaltet also eine gravimetrische Kraft, durch die Denken und Seiende im Hinaufspannen gehalten werden. Das Andere lebt also in und als Spannung. Und Spannung bedeutet lebendige Energie. Das Absolute wiederum ist Bedingung für diese Spannung, von Lebendigkeit und Energie, die unser eigenes Leben bedeutet. Das Absolute ist also all-präsente Attraktivität kraft seiner bleibender Formtranszendenz, sodass sich alles Andere in Spannung hält oder darin gehalten wird. Jedes Andere ist daher Ausdruck oder Bild von Entzug und Anziehung. Und so zeigt sich uns die konstitutive Einheit von Entzo­ genheit und Präsenz des Absoluten ausschließlich in der Spannung der Begriffe. Das Absolute kann auch nur am Anderen erscheinen, wie der Begriff des Nicht-Anderen, wie gezeigt, deutlich werden lässt. Soll es zur Erscheinung des Absoluten kommen, muss also der Begriff bzw. das Andere gesetzt sein. Und nur weil das Andere gesetzt ist, kann die Tat des Absoluten im Begriff des Nicht-Anderen illustriert werden. Cusanus’ Begriff des Nicht-Anderen ist daher wohl nichts anderes als ein »synkategorematischer Ausdruck«, also ein Begriff, der nur mit dem Anderen und am Anderen verstanden werden kann.723 723 Mischa von Perger. »›Nichts anderes‹ – ein Fund des Cusanus auf der Namens­ suche für das erste Prinzip aller Dinge«. Internationale Zeitschrift für Philosophie 13 (2004), 114–139. Ein synkategorematischer Ausdruck ergibt »nur zusammen mit einem anderen Ausdruck – verbunden durch ›als‹ – einen Satzterminus« und damit Sinn (ibid. 125). Cusanus verwende den synkategorematischen Ausdruck »nichts anderes« in einem kategorematischen Sinn. Interessant daran ist nun, dass das Absolute bei Cusanus für uns nur dann Sinn ergeben kann, wenn es am Anderen erscheint. Wenn es nicht erscheinen würde, wäre es vollständig unerforschlich und

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III) Die christliche Transformation der neuplatonischen »Henophanie«

Genau genommen ist jeder Begriff Bild des Absoluten, insofern er Ausdruck der Kraft des Absoluten ist und so in einer Spannung verharrt, die seine Lebendigkeit ausmacht. Jeder Begriff ist also deshalb Begriff des Absoluten, weil jeder Begriff auf seine Bedingung zurückverweist,724 insofern er durch sie getragen wird. Die Spannung des Begriffs resultiert freilich aus der Tat des Absoluten selber, die Cusanus, wie gesehen, besonders eindringlich durch den negativen Begriff des Nicht-Anderen illustriert.725 Dieser Begriff macht uns das gründende Leben des Absoluten in uns bewusst, welches wiederum jede Perspektivität leitet und dirigiert. Wie oben gezeigt vollziehen wir es in jedem Akt des Blickens immer mit, wodurch wir nicht nur erkennen können, sondern sogar ermächtigt zu werden scheinen, Begriffe abzusetzen. Denn wir konnten in der zurückliegenden Dis­ kussion sehen, dass wir die Möglichkeit vollendeten Selbstbewusst­ seins selber realisieren können.

unverständlich. Ähnlich äußert sich diesbezüglich Fichte, der davon ausgeht, dass sich das Absolute an ihm selber nicht verstehe und nicht verstehen lasse. Aus diesem Grund fokussiert Fichte auch die Erscheinung des Absoluten, da das Absolute nur über diese begriffen werden könne. Fichtes Lehre vom Absoluten ist also Erscheinungslehre – und darin ist ihm auch Cusanus vorangegangen. 724 »[I]n jedem Begriff« wird also »Gott (mit)begriffen«, wie es Klaus Kremer ausgedrückt hat (Praegustatio, 152 mit Verweis auf De sap. II; h V, n. 28, lin. 16–17). Weil das Absolute die absolute Voraussetzung schlechthin ist, verweist jeder Begriff auf es zurück. 725 Das Absolute wird im Spiegel des Nicht-Anderen als reine Kraft und innere Lebendigkeit verstanden. Die absolute Tätigkeit wird durch das Nicht-Andere begreifbar gemacht. Dadurch illustriert Cusanus anhand des negativen Begriffs den kreativen Vollzug des Absoluten, in dem dieses nicht aus sich selbst heraustritt, sondern ganz für sich, in sich und bei sich bleibt. Und so bleibt die ursprüngliche Aktivität des Absoluten für uns begrifflich unumgreifbar. Nicht einmal die Negationen reichen, wie wir schon bei Proklos gesehen hatten, an es heran. Cusanus versucht aber, die NichtObjektivierbarkeit des Absoluten in seinem höchsten Begriff, dem Nicht-Anderen, zu bewahren. Denn dieser überwindet als Negation den Horizont positiver Begriffe, weist über die Grenzen des Begreifens hinaus und ist daher, wie auch Proklos’ Begriff für das Eine – das »Eine in uns« –, nur schwer fassbar. Das Absolute zeigt sich also im Nicht-Anderen als das, ›was‹ es ›ist‹: als rein durchsichtige Unbegreifbarkeit. Das Nicht-Andere avanciert zum absoluten Begriff, der im Grunde genommen kein Begriff mehr sein kann, weil er nicht positiv bzw. nicht durch Affirmationen, auch nicht durch den Begriff »idem«, beschreibbar ist, sondern nur in der Negation und als Negation ausgedrückt werden kann. S. dazu Rohstock: Der negative Selbstbezug, 60–61 mit Anm. 204, »Nicholas of Cusa’s Not-Other«, 119 und »Der spekulative Höhepunkt«, 56–57.

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2) Nicolaus Cusanus über das wissende Nichtwissen und den tragenden Horizont

Mit Blick auf Fichtes Konzept der Begriffsschöpfung lässt sich hier die Frage stellen, ob tatsächlich das Absolute direkt Bestimmun­ gen absetzt oder schöpft. Ist es nicht eher das endliche Begreifen, das durch das Absolute ermächtigt ist, Begriffe zu setzen? Dieser Gedanke scheint bei Cusanus vielleicht vorgeprägt zu sein, er entfaltet sich aber erst bei Fichte, wobei sich dieser so Plotins und Proklos’ Denken annähert, in dem die Setzung der Bestimmungen letztlich als Akt des Geistes begriffen wird.726 Insgesamt zeigt sich aber, dass Cusanus’ Argumentation geltungstheoretisch begriffen werden muss, insofern das Absolute gerade als Bedingung der Möglichkeit unserer epistemischen Akte bewusst gemacht wird. Auf dem Hintergrund der zurückliegenden Diskussion zeigt sich nun mehr als deutlich, dass wir als freie Menschen den Delphischen Imperativ erfüllen, indem wir unser begriffliches Scheitern im Ange­ sicht des Absoluten eingestehen. Dieser Selbstbescheid führt zur Besonnenheit und letztlich zum Selbstbewusstsein. Demgegenüber ist das Absolute reine Tat, Liebe, un-konkretes Relieren, das alles bedingt. Es ist der lichtende, aber selber opake Horizont, zugleich also das »Allerklarste« und »Allerverborgenste«,727 die absolute Durch­ sichtigkeit, durch die alles ist. Insofern uns das Absolute als dieses tragende Fundament ein­ leuchtet, sind wir durchaus selig – und zwar im diesseitigen Dasein: Wir fühlen uns, weil wir das höchste Einsehen vollzogen haben, vom Absoluten getragen.728 Wir wissen: Es lebt in unserer Wesensmitte, kann keinem Sein fehlen, weswegen wir völlig auf es vertrauen dürfen. Zu Fichtes Grundlegung der Begriffsbildung s. § 46. – Cusanus inauguriert die Kreativität des Begreifens unter der Bedingung des Absoluten. Dass er freilich explizit von einem Setzen der Anderen durch die Tat des Absoluten selber spricht, reißt keinen Abgrund zwischen seiner Metaphysik und derjenigen Fichtes auf. Denn auch Fichte kann zuweilen vom Absoluten als »Begriffsschöpfer« sprechen: S. § 46. Vgl. § 44. 727 Fichte: GA II/8, p. 228, lin. 7–8. S. dazu § 46. 728 De aequal. h X/1, n. 2, lin. 5–9; Hervorh. Roh.: »Haec dixit, ut intelligeremus nos per verbum dei tam in esse prodiisse quam illuminari in ratione, post subiungens nos posse illuminari per dictam veram lucem, usque quo perducamur ad apprehensionem ipsius lucis substantialis nos sic illuminantis. Et tunc beati et felices erimus.« Nach Cusanus erfüllt uns die belehrte Unwissenheit mit größter Freude (De sap. I; h V, n. 11, lin. 7–23). Isabelle Mandrella verweist zu Recht darauf, dass die »Glückseligkeit« in der vita contemplativa, also in der henologischen Ausrichtung, bestehe (Viva imago, 195–210). Aus dieser Ausrichtung folgt sogar ein praktisches Soll, das in einer sukzessiven, aber asymptotisch bleibenden »Angleichung« an Gott besteht (s. dazu ibid. 217–230). 726

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III) Die christliche Transformation der neuplatonischen »Henophanie«

Das leitende Licht des Absoluten ist schon immer da – oder, wie es Dieter Henrich im Hinblick auf Fichtes Metaphysik formuliert hat: »Dieses Licht können wir nicht anzünden. Denn wo wir sind, da brennt es schon.«729 Durch absolute Abstraktion kommt es also zur Einsicht in die bewahrend-tragende Immanenz der Transzendenz.

729

Henrich: Dies Ich, das viel besagt, 34.

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IV) Der Einheits- und Disjunktionspunkt in der Wissenslehre J. G. Fichtes

1) Fichtes Lehre vom »Sein« § 36) Einleitung »Die Seeligkeit selbst«, so schreibt Fichte am Ende der zehnten Vorlesung seiner 1806 publizierten Schrift Die Anweisung zum seligen Leben730, »besteht in der Liebe, und in der ewigen Befriedigung der Liebe, und ist der Reflexion unzugänglich: der Begriff kann dieselbe nur negativ ausdrücken, so auch unsere Beschreibung, die in Begriffen einhergeht. Wir können nur zeigen, daß der Seelige des Schmerzes, der Mühe, der Entbehrung frei ist, worin seine Seeligkeit selbst, positiv bestehe, läßt sich nicht beschreiben, sondern nur unmittel­ bar fühlen.«731 Fichte trifft mit diesen Worten gleich zwei zentrale Gedanken der neuplatonischen Tradition: Einerseits ist diese Tradition, ob nun paganer oder christlicher Ausrichtung, durch einen eminent soterio­ logischen Anspruch gekennzeichnet. In uns soll ein Glühen, Brennen oder Lieben erzeugt werden, das man mit Plotin oder Proklos als erotisch-henologische Grundspannung, als ἐνθουσιασμός oder – mit Eriugena gesprochen – als bene-esse, also als Seligkeit, bezeichnen kann. Überhöht wird diese Begeisterung zuweilen sogar noch durch

730 Zitiert wird Fichtes Werk nach der kritischen Ausgabe: J. G. Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. 42 Vol., Hrsg. von Reinhard Lauth, Hans Gliwitzky, Erich Fuchs et al. Stuttgart/Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 1962–2012. Untergliedert ist die Ausgabe in vier Abteilungen: (I) Publizierte Werke, (II) Nachgelassene Schriften, (III) Briefe und (IV) Vorlesungsmitschriften. Die Anwei­ sung zum seligen Leben befindet sich in GA I/9, p. 1–212. Zur Anweisung s. die weitere Argumentation, bes. ab § 41. 731 GA I/9, p. 173, lin. 18–24.

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IV) Der Einheits- und Disjunktionspunkt in der Wissenslehre J. G. Fichtes

die unio mystica, die Einung mit dem Absoluten selber, die auch Fichte, wenigstens dem Wortlaut nach, zu ersehnen scheint.732 Andererseits zeichnet sich die neuplatonische Tradition trotz ihrer (zuweilen unzweifelhaft gegebenen) Ausrichtung auf die unio mystica – und genau wie das Denken Fichtes – durch Besonnenheit aus. Denn unsere Form, also unser subjektives Fundament, das durch (reflexives) Begreifen, Wissen und Denken gekennzeichnet ist, wird nicht einfach – in einer Art salto mortale – übersprungen oder getilgt. Vielmehr erkennen Denken und Wissen dezidiert an, selber nicht das Absolute zu sein, das Denken und Wissen vielmehr transzendiert733: Denken und Wissen können letztlich auf dieses nur verweisen.734 Beide Aspekte markieren, so die hier vertretene These, das Zentrum von Fichtes Spätphilosophie, wobei ihr Verhältnis zuein­ ander sowohl im Neuplatonismus als auch bei Fichte allerhand Fra­ gen aufwirft. Pointiert hervorgehoben werden diese ›höchsten‹ bzw. wichtigsten Aspekte der Fichteschen Philosophie im sog. Einheitsund Disjunktionspunkt, der in der Wissenschaftslehre 21804735 und 732 Etwa GA I/9, p. 59, lin. 35 – p. 60, lin. 2. Eindringlich formuliert Fichte diesen Anspruch auch in einem unbetitelten Sonett; GA II/9, p. 454: »Nichts ist denn Gott, und Gott ist nichts denn Leben | Du weißest, ich mit dir weiß im Verein, | Doch wie vermöchte Wißen dazuseyn, | Wenn es nicht Wißen wär’ von Gottes Leben. || ›Wie gern ach! wollt ich diesem hin mich geben | Allein wo find’ ich’s; fließt es irgend ein | Ins Wißen, so verwandelt’s sich in Schein | Mit ihm gemischt, mit seiner Hüll umgeben‹ || Gar klar die Hüll[e] sich vor dir erhebet | Dein Ich ist sie; es sterbe was vernichtbar, | Und fortan lebt nur Gott in deinem Streben || Durchschaue, was dies Sterben überlebet, | So wird die Hülle dir als Hülle sichtbar | Und unverschleiret [sic: unverschleiert] siehst du göttlich Leben.« 733 Fichte verwendet den Ausdruck »Transzendenz« sicherlich im Kantischen Sinne (vgl. Enders: »Transzendenz/Transzendieren«, Sp. 1447–1448). Der Sache nach ist das Konzept der Transzendenz aber in seiner ursprünglich neuplatonischen Bedeutung, also als Übergegensätzlichkeit und unbegreifbare Präsenz, in Fichtes Denken sehr wohl vorhanden. S. dazu die folgende Argumentation. 734 Darin liegt zugleich die Antwort, wieso der Geist als Geist und das Wissen als Wissen keine mystische Einung vollziehen: Sie würden sich selber aufgeben, aber sie sind, woran Plotin und Fichte festhalten, selber absolut. S. dazu bes. § 48. 735 Die Wissenschaftslehre 21804 findet sich in GA II/8, p. 2–421. – Die Wissen­ schaftslehre 21804, der wir uns im Folgenden annehmen wollen, ist relativ häufig in Forschungsarbeiten thematisiert worden. Neben der bekannten und bereits genannten Darstellung Wolfgang Jankes, Fichte: Sein und Reflexion, gehören zu den wichtigsten Studien: Ingeborg Schüssler. Die Auseinandersetzung von Idealismus und Realismus in Fichtes Wissenschaftslehre: Grundlage der Gesamten Wissenschaftslehre 1794/5 – Zweite Darstellung der Wissenschaftslehre 1804. Frankfurt am Main: Vittorio Kloster­ mann, 1972. Ulrich Schlösser. Das Erfassen des Einleuchtens: Fichtes Wissenschafts­

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1) Fichtes Lehre vom »Sein«

später in der Anweisung zum seligen Leben von 1806 die zentrale Position einnimmt, von der aus, so möchte ich festhalten, alle anderen Theoreme der Fichteschen Wissenslehre erst verständlich werden. Und dieser Einheits- und Disjunktionspunkt wirft auch Licht auf die Frage, inwieweit sich systematische Parallelen zwischen der Phi­ losophie Fichtes und der neuplatonischen Tradition im Allgemeinen ergeben können. Freilich ist hierbei ein erstes Problem zu markieren: Fichte kon­ statiert unmissverständlich, dass es ihm mit seiner Philosophie nie um das Absolute, sondern im Grunde nur um das Bild des Absolu­ ten zu tun gewesen sei: Die Wissenslehre müsse vom »absoluten Wissen«, nicht vom »Absoluten« ausgehen. Und dieses trete nur ein in unser Bewusstsein »als Form des Wissens«.736 Zu beachten bleibt aber freilich, dass das Bild bei Fichte stets als Bild des Absoluten zu verstehen ist.737 Das bedeutet, dass das Absolute nicht einfach aus der Spekulation und der Bildtheorie ausgeschlossen werden kann, so als wäre es ein Zusatz, den man betrachten könne, oder auch nicht. Man wird um eine spekulative Betrachtung desselben kaum

lehre von 1804 als Kritik an der Annahme entzogener Voraussetzungen unseres Wissens und als Philosophie des Gewißseins. Berlin: Philo, 2001. Cürsgen: »Die Unbegreif­ lichkeit des Absoluten«, 91–118. Andreas Schmidt. Der Grund des Wissens: Fichtes Wissenschaftslehre in den Versionen von 1794/95, 1804/II und 1812. Paderborn et al.: Schöningh, 2004, 63–114. Rebecca Paimann. Die Logik und das Absolute, 2006, 219–239. Weniger überzeugend und eher deskriptiv sind Günter A. Meckenstock. Das Schema der Fünffachheit in J. G. Fichtes Schriften der Jahre 1804–1806. Inaugu­ raldissertation Göttingen, 1973, 99–165 und Joachim Widmann. Die Grundstruktur des transzendentalen Wissens nach Johann Gottlieb Fichtes Wissenschaftslehre 18042. Hamburg: Felix Meiner, 1977. 736 GA II/6 [Darstellung der Wissenschaftslehre 1801/2], p. 144. Vgl. GA II/15 [Thatsachen des Bewussteyns 1813], p. 122. 737 Etwa GA II/15 [Wissenschaftslehre 1813], p. 148, lin. 29 – p. 149, lin. 6. Vgl. Johann Gottlieb Fichte’s sämmtliche Werke. 11 Vol., Hrsg. von Immanuel Hermann Fichte. ND Berlin: Walter de Gruyter, 1971, X p. 40. Zum Bild des Absoluten besonders erhellend sind die Ausführungen Rebecca Paimanns (Die Logik und das Absolute, 488). S. dazu auch ihre luzide Deutung des Bildbegriffs auf dem Hintergrund der Wissenschaftslehre 1812 (ibid. 444–481). Paimanns zitierte Habilitationsschrift zeichnet sich generell durch subtile Analysen aus. Ihre Untersuchungen lassen die Verwandtschaft des Fich­ teschen mit dem Denken der neuplatonischen Tradition klar zutage treten, ohne dass Paimann dem Neuplatonismus gezielt Beachtung schenkt. Zum Bild bes. als Bild des Absoluten s. ferner § 47.

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IV) Der Einheits- und Disjunktionspunkt in der Wissenslehre J. G. Fichtes

herumkommen – zumal Fichte Gottesbegriffe entwirft und so das Absolute in gewisser Weise thematisiert.738 Schon vor diesem Hintergrund zeigt sich die Verwandtschaft des Fichteschen mit dem Plotinischen und dem Proklischen Denken. Zur Erinnerung: Bei Plotin darf der Geist, insofern er Geist ist, nicht nur für sich betrachtet werden. Soll der Geist als Geist begriffen werden, so muss stets auch das absolute Eine mit in die Betrachtung einfließen. Denn der Geist erkennt sich nur dann als Geist, wenn er ›bemerkt‹, dass er selber nicht das absolute Eine, sondern dessen Bild ist. Er muss vor der inneren Geschlossenheit des Absoluten kapitulieren, um so seine subordinative Position einnehmen zu können.739 Ohne den Einheits- und Disjunktionspunkt würde also das Verhältnis von abso­ lutem Wissen bzw. absolutem Geist einerseits und dem Absoluten andererseits ungeklärt bleiben. Im Folgenden geht es also darum, den genannten Kulminati­ onspunkt im Fichteschen Denken herauszuarbeiten, um sodann die Gemeinsamkeiten von neuplatonischer Tradition und Fichtescher Wissenslehre anhand dieses zentralen Kerngedankens zu pointieren, der überhaupt – von der Forschung freilich kaum bemerkt – als Die im Folgenden zu beobachtende Gleichsetzung von Gott und Absolutem hat Fichte selber vollzogen. Der entscheidende Schritt zu dieser Gleichsetzung ist Fichtes Ent-Personalisierung Gottes, wodurch er diesen als reinen Akt verstehen konnte (vgl. Wolfgang Janke. »Amor Dei intellectualis: Vernunfts- und Gottesliebe in Gipfelsätzen neuzeitlicher Systembildungen (Spinoza, Hegel, Schelling – Fichte)«. In: Wolfgang Janke. Entgegensetzungen: Studien zu Fichte-Konfrontationen von Rousseau bis Kierke­ gaard. Amsterdam/Atlanta, GA.: Rodopi, 1994, 97–118; hier 100). Diese Reinheit scheint wiederum in allen Begriffen, mit denen Fichte das Absolute verständlich machen will, durch. So entwirft er das absolute Sein als in actu begriffene Tätigkeit, wobei er, legen wir die Anweisung zugrunde, Gott ebenfalls als actus purus versteht. Besonders das intime Verhältnis der Wissenschaftslehre 21804 und der Anweisung kann die Synonymie von Absolutem und Gott verdeutlichen (s. § 41–42). Zur Gleichset­ zung von Gott und Absolutem s. auch Cürsgen: »Das Begreifen des Unbegreiflichen«, 104, Anm. 72. – Die genannte Gleichsetzung mag zwar im Hinblick auf den spätan­ tiken Neuplatonismus und Eriugena problematisch sein. Denn bei Plotin, Proklos und Eriugena ist das Absolute im Grunde nicht Gott, sondern das Übergöttliche. Fichte steht aber den genannten Neuplatonikern insofern durchaus nahe, als er eine EntPersonalisierung Gottes betreibt, wodurch er seinen Gottesbegriff verabsolutiert. Auch bei Cusanus lässt sich die Gleichsetzung von Gott und Absolutem gerade über sein Konzept des Nicht-Anderen feststellen, wobei auch Cusanus offenbar eine EntOntologisierung und, damit einhergehend, eine Ent-Personalisierung Gottes anzu­ streben scheint. – Zur Bedeutung und Funktion des Absoluten für das Denken Fichtes im Allgemeinen s. Paimann: Die Logik und das Absolute. 739 Zu dieser Konzeption des Geistes nach Plotin s. Kap. II.1. 738

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1) Fichtes Lehre vom »Sein«

Schlüssel zum Verständnis der abendländischen Philosophie neupla­ tonischer Prägung begriffen werden darf.

§ 37) Die henologische Erweiterung der Fichteschen Wissenslehre Als Wissenschaftslehre bezeichnet Fichte seine Philosophie, wobei er damit keineswegs nur seine eigene, sondern die eine Philosophie und ihr Kernthema ganz unzweideutig benennen möchte: Philosophie meint für ihn in erster Linie die Lehre vom Wissen bzw. die syste­ matisch und auf transzendentalkritischem oder ›Kantischem‹ Funda­ ment betriebene Wissenschaft vom Wissen. Als Wissenschaft vom Wissen ist die Wissenschaftslehre »Philosophie der Philosophie«740 und damit die Fundamentaldisziplin der Philosophie schlechthin: Fichte betreibt also nichts anderes als Metaphysik.741 Konkret kreist Fichtes Denken dergestalt nicht ›nur‹ um die Strukturen des Wissens, sondern auch um die Bedingungen und Grenzen des Wissens, – und damit unmittelbar verknüpft – des Bewusstseins und Selbstbewusst­ seins. Diesen der Forschung wohlbekannten Fokus auf Wissen und Bewusstsein hält Fichte in allen seinen Schriften durch, seien sie nun wissenschaftlich oder populär, unveröffentlicht oder publiziert, vor der Jahrhundertwende oder nach dieser verfasst. Es ist daher keinesfalls abwegig, Fichtes Aussage, ihm sei es eigentlich immer 740 Reinhard Lauth. Zur Idee der Transzendentalphilosophie. München/Salzburg: Anton Pustet, 1965, 95. Der Begriff der »Philosophie der Philosophie« wird bei Karl Albert zur Metadisziplin der Philosophie, in der sich die Philosophie auf ihre Prinzipien besinnt. »Philosophie der Philosophie« im Albertschen Sinn ist also nichts anderes als Metaphysik: Philosophische Studien. Vol. 1, Philosophie der Philosophie. Sankt Augustin: Academia Verlag Richarz, 1988, bes. 3–6. Im Zentrum dieser Metaphysik steht für Albert – auf dem Hintergrund von Lavelles und Heideggers Denken – die »Erfahrung des Seins«, die der Sache nach durchaus in die Nähe der Mystik zu rücken sei, auch wenn Albert damit kein irrationales Fühlen, sondern die eine höchste menschenmögliche Einsicht meint, durch die sich der Mensch über die grundlegenden Bedingungen von Sein und Denken bewusst zu werden vermag. Genau deshalb versucht Albert, die Seinserfahrung als wesentliches, ja kaum weg­ zudenkendes Zentralmoment der abendländischen Philosophie aufzuweisen (ibid. 49–126), zumal sie nicht einfach durch Glauben, sondern durch philosophische Spekulationen grundgelegt wird. 741 Fichte gesteht selber ein, Metaphysik zu betreiben (GA I/9, p. 67, lin. 20).

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um denselben Gedanken gegangen,742 Glauben zu schenken. Genau deshalb kann von einem Kontinuitätsbruch in Fichtes Denken kaum und von einer »veränderten Lehre« wohl nur bedingt die Rede sein.743 Und doch ist damit das Grundproblem der Forschung, worum Fichte philosophisch eigentlich bemüht war, nicht beantwortet. Das hängt wohl damit zusammen, dass Fichtes Denken trotz der soeben festgestellten Kontinuität durchaus eine entscheidende Erweiterung erfährt. Diese pointiert Fichte selber in aller Klarheit: Er arbeite, so hält er am 27. Dezember 1800 gegenüber Schelling fest, an der »wei­ tere[n] Ausdehnung der TransscendentalPhilosophie, selbst in ihren Principien«.744 Hinweise oder »Winke«, wie sich Fichte ausdrückt, fänden sich bereits, so schreibt er weiter, im dritten Buch seiner kurz zuvor erschienenen Bestimmung des Menschen.745 Darin findet sich GA I/9, p. 47. Überblickend dazu Peter L. Oesterreich und Hartmut Traub. Der ganze Fichte: Die populäre, wissenschaftliche und metaphilosophische Erschließung der Welt. Stuttgart: Kohlhammer, 2006, 108–167; bes. 112–115. Zur Kontinuität und zur Veränderung der Fichteschen Lehre vgl. besonders die Beiträge in den Fichte-Studien 17 (2000), worin die Spätphilosophie J. G. Fichtes behandelt wird. S. bes. Daniel Breazeale. »Die Neue Bearbeitung der Wissenschaftslehre (1800): Letzte ›frühere‹ oder erste ›spätere‹ Wissenschaftslehre?«. Fichte-Studien 17 (2000), 43–67. – Schelling freilich attestierte Fichte einen Kontinuitätsbruch, wie aus einem Schreiben Fichtes an Schelling hervor­ geht; GA III/5, p. 45, lin. 7–13: »Ich habe dieses Ihr früheres Schreiben nicht bei der Hand, aber wenn ich mich recht erinnere, sagten Sie in demselben, ich gestehe zu, daß gewisse Fragen durch die bisherigen Principien noch nicht erledigt wären. Dies gestehe ich nun gar nicht zu. Es fehlt der Wissenschaftslehre durchaus nicht in den Principien; wohl aber fehlt es ihr an Vollendung; die höchste Synthesis nemlich ist noch nicht gemacht, die Synthesis der GeisterWelt.« Wenig später, im Oktober 1801, schreibt er Fichte in aller Deutlichkeit, dass sein Denken eine beträchtliche Veränderung durchlaufen habe (GA III/5, p. 83, lin. 11–15). 744 GA III/4, p. 406. 745 Mit der Bestimmung des Menschen (GA I/6, p. 183–311) suchte Fichte Anschluss an Jacobi. Fichte hat Jacobis Grundsatz vom wissenden Nichtwissen zu seinem eigenen erhoben. Fichte ging in seiner Auseinandersetzung mit Jacobi überhaupt behutsam vor und hat diesen sogar »mit Kant« als »Reformator der Philosophie« gefeiert: Birgit Sandkaulen. Jacobis Philosophie: Über den Widerstreit zwischen System und Freiheit. Hamburg: Felix Meiner, 2018, 9. – Björn Pecina. Fichtes Gott: Vom Sinn der Freiheit zur Liebe des Seins. Tübingen: Mohr Siebeck, 2007, 143 bezeichnet die Bestimmung des Menschen zutreffend als »Übergangschrift in die Spätphase seiner [scil. Fichtes] Religionsphilosophie«. S. dagegen Ives Radrizzani. »Die Bestimmung des Menschen: Der Wendepunkt zur Spätphilosophie?«. Fichte-Studien 17 (2000), 19–42. – Freilich lassen sich auch Unterschiede zwischen den beiden Denkern markieren (Günter Zöller. »›Das Element aller Gewißheit‹: Jacobi, Kant und Fichte über den Glauben«. Fichte-Studien 14 (1998), 21–41; bes. 40–41). Allerdings sollte hier betont werden, 742

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eine Absolutheitsspekulation, die eine erstaunliche Nähe zu christ­ lich-neuplatonischen Gotteskonzeptionen aufweist: Gott wird als das lichtende Prinzip gefeiert, das gleichwohl unbegreiflich bleibt, denn Gott eigne »kein Name« und »kein Begriff« umfasse ihn.746 Gleich­ wohl kann Fichte konstatieren: »In dir, dem Unbegreiflichen, werde ich mir selbst, und wird mir die Welt vollkommen begreiflich, alle Räthsel meines Daseyns werden gelös’t, und die vollendetste Har­ monie entsteht in meinem Geiste.«747 In einer unzweideutig an Cusa­ nus gemahnenden Sprache fährt Fichte fort: »Was ich begreife, wird durch mein bloßes Begreifen zum Endlichen; und dieses läßt auch durch unendliche Steigerung, und Erhöhung sich nie ins Unendliche umwandeln. Du bist vom Endlichen nicht dem Grade, sondern der Art nach verschieden. Sie machen dich durch jene Steigerung nur zu einem größern Menschen, und immer zu einem größern; nie aber zum Gotte, zum Unendlichen, der keines Maßes fähig ist.«748

Dass Fichte in an Cusanus’ Worte gemahnender Weise vom Absolu­ ten spricht, hängt wohl – hier nur nebenbei bemerkt – mit seiner Jacobi-Rezeption zusammen. Friedrich Heinrich Jacobi hatte seinem Werk Über die Lehre des Spinoza einige Beilagen angehängt, in denen er Giordano Brunos De la causa extensiv zitierte.749 Brunos Denken wiederum ist ohne jede Frage von Cusanus geprägt. Besonders seine Begriffe von absoluter und kontrakter Unendlichkeit, von absoluter Einheit, von Wirklichkeit und Möglichkeit sind der Philosophie des Kardinals entlehnt. So ist also über die Vermittlung Brunos und Jaco­ bis ein nicht unerheblicher Teil Cusanischer Henologie in das Denken Fichtes eingedrungen, was sich ganz unzweideutig an Fichtes soeben dass die Differenzen nicht überbetont werden sollten, denn für beide Denker gilt: Die Philosophie vermag einen immensen Einfluss auf das Leben des Menschen zu entfalten, wenn sie konsequent vollzogen wird. Sie hat eine existenzielle Dimension. Diesem Umstand werden wir weiter unten vor allem anhand der Anweisung zum seligen Leben nachspüren (Kap. IV.2). – Zur Deutung der Bestimmung des Menschen, vor allem im Hinblick auf die Philosophie Platons, s. Zehnpfennig: Reflexion und Metareflexion bei Platon und Fichte. 746 GA I/6, p. 296, lin. 28. 747 GA I/6, p. 296, lin. 31–34. 748 GA I/6, p. 297, lin. 15–20. Vgl. De doc. ign. I c. 1–4. 749 Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn. Auf der Grundlage der Ausgabe von Klaus Hammacher und Irmgard-Maria Piske bearbeitet von Marion Lauschke. Hamburg: Felix Meiner, 2000, 213–220.

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zitierten Formulierungen ablesen lässt. Gerade im Hinblick auf die Hauptthese der Wissenschaftslehre 21804 kann dieser Zusammenhang darüber hinaus konstatiert werden. Denn dort betont er, dass sich das Unbegreifliche nur als Unbegreifliches begreifen lasse, womit der Kerngedanken der Cusanischen docta ignorantia, der »belehrten Unwissenheit«, präzise getroffen wird.750 Die Bestimmung des Menschen ist Element einer im Grunde kon­ tinuierlichen Erweiterung des Fichteschen Systems. In Fortsetzung dieser Schrift lassen sich weitere Entwicklungen in der Darstellung der Wissenschaftslehre 1801/02 und – gewissermaßen als vorläufiger Höhepunkt – in der Wissenschaftslehre 21804 erkennen: Ein henolo­ gischer Fokus etabliert sich sukzessive. Trotz unverändertem Fokus auf den Grundlagen zweifelsfreien Wissens und mithin auf den Strukturen der Subjektivität erweitert Fichte sein System, weshalb wir erst seine späten Schriften, also diejenigen ab der Jahrhundertwende, als diejenige intellektuelle Lebensleistung dieses Denkers ansehen können, die dieser selber als Spitze seines Schaffens angesehen hat.751 Die Grundlage von 1794/5752 ist demgegenüber letztlich nichts anders als das: eine Grundlage. Sie ist noch nicht die vollendete Fassung von Fichtes Wissenslehre. Die Erweiterung seines Denkens ist für Fichte also gleichbedeutend mit dem Akt fortschreitender Vollendung. Man kann es durchaus auch so formulieren: Die Einsichten der frühen Entwürfe bewahrheiten sich erst und nur an den späteren Wissensleh­ 750 GA II/8, bes. p. 52–64. Als »Wesen« seiner Philosophie bezeichnet Fichte das Begreifen des Unbegreiflichen als Unbegreifliches in einem Brief an Jacobi (GA III/5, p. 236–237). Vgl. dazu die präzisen Äußerungen bei Paimann: Die Logik und das Absolute, 510: »Die Wissenschaftslehre ist sowohl positives Wissen (vom Wissen) als auch negatives Wissen vom Absoluten, weil das eine das Abbild des anderen ist; denn die Wissenschaftslehre ist das Absolute, indem sie es nicht ist, sie versteht das Absolute, indem sie es als unbegreiflich weiß.« Zum Begreifen des Unbegreiflichen als solches s. auch die erhellenden Ausführungen von Cürsgen: »Die Unbegreiflichkeit des Absoluten« und Hühn: Fichte und Schelling, 107–116. S. ferner Christoph Asmuth. Das Begreifen des Unbegreiflichen: Die Philosophie und Religion bei Johann Gottlieb Fichte 1800–1806. Stuttgart/Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 1999. 751 GA II/8, p. 236–238. Ähnlich formuliert es Fichte in seiner Vorrede zur Anwei­ sung, worin er erklärt, in dieser sei der »Gipfel, und hellste[-] Lichtpunkt« seiner Philosophie auf populäre Weise dargestellt. Dieser Gipfel sei »Resultat meiner, seit sechs bis sieben Jahren, mit mehr Muße, und im reifern Mannesalter, unablässig fortgesetzten Selbstbildung« (GA I/9, p. 47, lin. 7–9). 752 S. hierzu die konzis geschriebene und unumgehbare Studie von Rainer Schäfer. Johann Gottlieb Fichtes ›Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre‹ von 1794. Darm­ stadt: WBG, 2006.

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ren, nicht umgekehrt. Und in dieser Vollendung wird, wie wir noch sehen werden, die (Selbst-)Bewusstseinstheorie Fichtes durch eine henologische Metaphysik grundgelegt – oder noch einmal anders formuliert: (Selbst-)Bewusstsein und absolutes Wissen, die man auch als intellektuelle Anschauung etikettiert, werden ausschließlich durch die henologische Perspektive des Denkens fundiert. Und gerade dadurch wird die innere Verwandtschaft zwischen neuplatonischer Tradition und Fichtes Metaphysik ersichtlich.753

§ 38) Die Grundlagen der Fichteschen Henologie Die Aufgabe der Fichteschen Spätphilosophie, worin sie unzweideutig als Henologie in Erscheinung tritt, besteht, so heißt es in der Wissen­ schaftslehre 21804, darin »[a]lles Mannigfaltige [...] zurückzuführen auf absolute Einheit«.754 Unter der absoluten Einheit, auf die alle Viel­ heit zurückgeführt werden müsse, versteht Fichte eine vollkommen vielheitslose oder reine Einheit, die durch jedes zusätzliche Prädikat nicht mehr als reine Einheit bezeichnet werden könne: »Das absolute selbst [...]«, so schreibt er an Schelling, »ist kein Seyn, noch ist es ein Wissen, noch ist es Identität, oder Indifferenz beider: sondern es ist eben – das absolute – und jedes zweite Wort ist vom Uebel.«755 Fichte variiert freilich seine Bezeichnungen für das Absolute. Neben der Einheit bevorzugt Fichte – besonders emphatisch in der Wissen­ schaftslehre von 1812756 – den Begriff des Seins, wobei er dieses Sein nicht als leblose Sache, sondern als reine Lebendigkeit versteht. Wichtig für das Verständnis der Fichteschen Metaphysik sind ferner 753 Verwiesen sei auf die νόησις, also die sich selber durchdringende Selbstbezüg­ lichkeit reinen Denkens, und ihre Genese in der neuplatonischen Tradition: S. §10 (Plotin), § 18 (Proklos) und § 33 (Cusanus). 754 GA II/8, p. 8, lin. 10–12. Zu Fichtes »Rückführung« und den Grundannahmen Fichtes in seiner Wissenschaftslehre 21804 s. bes. Cürsgen: »Die Unbegreiflichkeit des Absoluten«, 91–118. 755 GA III/5, p. 113. Fast mit denselben Worten formuliert Fichte diesen Gedanken in seiner Darstellung der Wissenschaftslehre 1801/2 (GA II/6, p. 143, lin. 15 – p. 144, lin. 2). 756 S. dazu Paimann: Die Logik und das Absolute, 444–481. Johannes Brachtendorf. Fichtes Lehre vom Sein: Eine kritische Darstellung der Wissenschaftslehren von 1794, 1798/99 und 1812. Paderborn et al.: Schöningh, 1995, 248–301 und »Der erscheinende Gott: Zur Logik des Seins in Fichtes Wissenschaftslehre 1812«. Fichte-Studien 20 (2003), 239–251.

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die Begriffe »Licht« bzw. »Durchsichtigkeit«757 und »Liebe«758, wobei diese deutlicher als der Begriff des Seins eine innere Dynamik des Absoluten suggerieren. Diese Begriffe sind ferner und gerade in der neuplatonischen Tradition prominent. Alles Nicht-Absolute ist nach Fichte demgegenüber nichts ande­ res als »Principiat«759, »Bild«760, »(Ur-)Schema«761, »Daseyn«762 oder »Erscheinung«763 dieses Einen.764 Damit etabliert er – ganz ähnlich wie Proklos in seiner Stoicheiôsis theologikê – eine Grunddi­ chotomie von Absolutem einerseits und der Erscheinung des Abso­ luten andererseits. Die Erscheinung denkt er dabei in Abhängigkeit von der Einheit. Sicherlich ließe sich einwenden, dass hierdurch offensichtlich eine weitere Disjunktion, nämlich die von absolutem Sein und abhängiger Erscheinung, etabliert wird. Denn das Verhält­ nis zwischen dem Einen und dem Vielen erscheint uns und dem Wissen schlechthin als eine Relation von differenten Momenten.765 Gleichwohl ist Fichte sichtlich darum bemüht, die Dichotomie zwi­ schen der absoluten Einheit und der Vielheit aufzuheben. So schreibt Fichte in seiner Wissenschaftslehre von 1812 – und durchaus im Sinne von Parmenides und Meister Eckhart: »Eins ist, und ausser diesem Einen ist schlechthin nichts«.766 Außerhalb des Einen ist 757 Bes. pointiert in GA III/5, p. 48, lin. 14–17. Vgl. auch Wolfgang Janke. »›Der Platon tritt in jeder Stunde unverkennbar bei ihm hervor‹: Von der Erfahrung des Seins in Fichtes Vollendung des Platonischen Idealismus«. In: Elenor Jain und Stephan Grätzel (Hg). Sein und Werden im Lichte Platons. Freiburg im Breisgau: Karl Alber, 2001, 77–90; hier 81, worin Platons Sonnengleichnis mit Fichtes Lichtspekulation par­ allelisiert wird. Zum Lichtbegriff Fichtes und seiner Beziehung zur neuplatonischen Tradition s. ferner Cürsgen: »Die Unbegreiflichkeit des Absoluten«, 91–116; bes. 105–107 und 109. Loheide. Fichte und Novalis, 117–119. 758 Die Liebe ist der Hauptbegriff der Anweisung zum seligen Leben und wird unten (Kap. IV.2) erörtert. 759 GA II/8, p. 8. 760 GA II/8, p. 100–106. Vgl. GA II/13, p. 61. 761 Bes. GA II/13, p. 62. 762 »Daseyn« ist der bevorzugte Begriff Fichtes für das Bild des Absoluten in der Anweisung: GA I/9, passim. 763 GA II/13, passim; bes. p. 56–69. 764 Zum Bild und dessen Bezug zum Absoluten s. auch unten, § 47. 765 Karen Gloy. Einheit und Mannigfaltigkeit: Eine Strukturanalyse des ›und‹: Systema­ tische Untersuchungen zum Einheits- und Mannigfaltigkeitsbegriff bei Platon, Fichte, Hegel sowie in der Moderne. Berlin/New York: Walter de Gruyter, 1981, 86–87. 766 GA II/13, p. 56. Zur Analyse dieses Satzes s. Brachtendorf: Fichtes Lehre vom Sein, 248–259. Vgl. dazu Eckhart: Predigt 21; DW I, p. 357–370 und Prologus generalis

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freilich, so betont Fichte, kein bloßes Vakuum, nicht das privative Nichts, das von Fichte als Denkunmöglichkeit ausgewiesen wird,767 sondern dessen »Erscheinung«,768 wodurch Fichte die Erscheinung wiederum an das eine absolute Sein knüpft und von ihm abhängig macht. Fichte will durch das angegebene Zitat deutlich machen, dass das Absolute als das Eine und Einzige (singulum) auszuweisen ist, das, weil es zu nichts, zu keinem Etwas also, in Opposition tritt, ganz in sich geschlossen ist, wodurch sich konstatieren lässt, dass das Absolute jede Dichotomie und jeden Gegensatz transzendiert. Jede Beziehungseinheit von (verschiedenen) relata muss also im Hin­ blick auf das Absolute aufgrund ihrer inneren Vielheit überwunden werden. Vielheit und Gegensätzlichkeit sollen auf absolute, wider­ spruchsfreie, vor allem aber übergegensätzliche Einheit zurückgeführt und so ergründet werden. Erstaunlicherweise erarbeitet Fichte die durch die Rückführung ganz unzweideutig intendierte Übergegensätzlichkeit des Absoluten analog zu Plotins und Proklos’ Anagogik: Fichte negiert jegliche Rela­ tion im Hinblick auf das Eine. Denn wenn etwas in einer Beziehung zu etwas anderem steht, ist dieses Teil eines Ganzen.769 Damit das Eine

in Opus tripartitum n. 12; LW I.2, p. 29–31. Eckhart versteht Gott als singulum, das in sich geschlossen bleibt und zu nichts in einen Gegensatz treten kann: Er ist indistinctum in sich und ›nach außen‹. ›Außerhalb‹ ist auch für Eckhart nicht das totale Nichts, das eine Denkunmöglichkeit darstellt, sondern das, dem nicht im eigentlichen Sinne Sein zukommt: Es ist durch das Absolute da. Zu Eckharts an Parmenides’ Lehrgedicht gemahnender absoluter Seinslehre s. Roberto Vinco. »Zum parmenideischen Charakter des Denkens Meister Eckharts«. Theologie und Philosophie 88 (2013), 161–175. 767 GA I/9, p. 56, lin. 23–27: »Es kann keinen reinen Tod geben, noch eine reine Unseeligkeit; denn indem angenommen wird, daß es dergleichen gebe, wird ihnen das Daseyn zugestanden«. Dazu und zur Wissenschaftslehre als Lebenslehre Wolf­ gang Janke. »Leben und Tod in Fichtes ›Lebenslehre‹«. Philosophisches Jahrbuch 74 (1966/67), 78–98. Dass die Wissenschaftslehre, insofern sie ja Philosophie ist, Lebenslehre sein soll, ist nicht weiter verwunderlich. Genauer gesagt ist jede Philoso­ phie, die dem Delphischen Leitspruch, »Erkenne dich selbst«, folgt, eine Lebenslehre und hat eine existenzielle Dimension, die sich bei Fichte genauso wie in den hier betrachteten neuplatonischen Konzepten in der Grenzerfahrung des begrifflichen Scheiterns am Absoluten ausdrückt. 768 GA II/13, p. 57. 769 S. dazu Janke: »›Der Platon tritt in jeder Stunde unverkennbar bei ihm hervor‹«, 84. Hier scheint Fichte der Argumentation des platonischen Parmenides zu folgen. Denn das schlechthinnige Eine kann kein Ganzes sein. Daher muss jede Vielheit auf absolute Einheit zurückgeführt werden.

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alle Gegensätze und mithin jede Mannigfaltigkeit als deren Prinzip überragt, muss es als schlechthinnige oder gar absolute Negation aller relationalen Bestimmungen begriffen werden.770 Fichte fordert daher in martialischer Radikalität, jeden Begriff im Hinblick auf das Abso­ lute ultimativ zu »vernichten«.771 Mit diesen Aussagen ist bereits das Kerngeschäft der späten Wissenslehre, nämlich die Methode sukzessiven Negierens – oder eher im Sinne Fichtes ausgedrückt: Abstrahierens –, aufgedeckt. In der Diskussion dieser Methodik werden wir im Folgenden zum Ein­ heits- und Disjunktionspunkt aufsteigen, um so die systematischen Parallelen der Fichteschen Spätphilosophie und der neuplatonischen Tradition hervortreten zu lassen.

§ 39) Der Aufstieg zum Einen in der Wissenschaftslehre 21804 In offensichtlicher Analogie zu Platons Höhlengleichnis ist die Wis­ senschaftslehre 21804 in zwei Abschnitte eingeteilt, wobei der erste Abschnitt, also bis zur 15. Vorlesung, als Aufstiegs-, der zweite hinge­ gen als Abstiegsbewegung begriffen werden darf.772 Fichte beschreibt zunächst seine Seins-, Wahrheits- oder Existenzlehre, worin er zur höchsten Einsicht vordringt, um von dort aus die Erscheinungslehre zu explizieren. Der Weg, der zur höchsten Einsicht führt, lässt sich, wie bereits angedeutet, als ein stetes Übersteigen charakterisieren, in dem letztlich über die Grenzen von Denken und Wissen hinaus verwiesen wird, um so die reine Einheit als Fundament von Denken und Wissen aufzudecken.773 Vgl. Gloy: Einheit und Mannigfaltigkeit, 86–87. GA II/8, p. 52–64; bes. p. 56: Zugang zum Absoluten erhalte man nur »durch die Vernichtung des absoluten Begriffes«: »Soll das Unbegreifliche, als allein für sich bestehend, einleuchten, so muß der Begriff vernichtet [...] werden.« Vgl. GA II/7 [3ter Cours der W.L. 1804], p. 321. 772 Eine Aufstiegsbewegung bringt vor allem Wolfgang Janke zum Ausdruck (Fichte: Sein und Reflexion). Genauso Gloy: Einheit und Mannigfaltigkeit, 94–106. Eine umfas­ sende, eng am Text orientierte Analyse der Auf- und Abstiegsbewegung hat Wolfgang Janke für die Wissenschaftslehre 1805 vorgelegt (Johann Gottlieb Fichtes ›Wissen­ schaftslehre 1805‹: Methodisch-systematischer und philosophiehistorischer Kommentar. Darmstadt: WBG, 1999). 773 Ähnlich äußerte sich schon Paimann: Die Logik und das Absolute, 524: »Die Wissenschaftslehre ist die durch sich selbst im Wissen gedachte Grenze des Wissens, die immerfort nach ihrem eigenen unbegreiflichen Grund strebt.« 770 771

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In seinen die ersten fünf Vorlesungen umfassenden »Prolego­ mena« beschreibt Fichte sein Vorgehen, seine Methode also, etwas näher, antizipiert dabei sogar die höchste Einsicht, ohne aber in die­ sem Zuge zu konstatieren, diese Einsicht unbezweifelbar als sicheres Fundament seiner Philosophie und des Wissens bereits erwiesen zu haben. Erst in der fünfzehnten Vorlesung kann er diese Einsicht mit unbezweifelbarer Gewissheit fassen: Das Absolute wird zum »actus«774 und zum »esse in mero actu« übersteigert.775 Der reine Seinsakt wiederum ist das »Allerklarste« und »Allerverborgenste«776, gewissermaßen also das selber unsichtbare Licht der neuplatonischen Tradition, das ineins präsent und entzogen ist. Wie der Neuplatonismus Vielheit und Differenz vorfindet und für erklärungsbedürftig erachtet, so will Fichte die Grundlagen der stets dichotomen, disjunktionalen oder relationalen Grundstruktur des Denkens, Wissens und Selbstbewusstseins klären. Dafür stellt er zunächst Dichotomien auf, um sie dann mittels seiner Methode der Abstraktion zu überwinden. Die Kaskaden an Entgegensetzungen und Abstraktionen kulminieren schließlich in der fünfzehnten Vorlesung in der Methode absoluter Abstraktion, die Wolfgang Janke auch tref­ fend als »hinwegsehendes Zusehen« beschrieben hat.777 In Anwendung dieser abstraktiv-regressiven Methode wird deutlich, dass es Fichte nicht um eine Synthesis der Disjunktions­ glieder im Sinne einer Synthesis post factum zu tun ist. Er will vielmehr klären, worin die Disjunktionsglieder ursprünglich zusammenhän­

GA II/8, p. 229, lin. 33. GA II/8, p. 228, lin. 30. 776 GA II/8, p. 228, lin. 7–8. 777 Janke: Fichte: Sein und Reflexion, 41–46 und 391–399; bes. 43 und 393. Wolfgang Janke. Die dreifache Vollendung des Deutschen Idealismus: Schelling, Hegel und Fichtes ungeschriebene Lehre. Amsterdam/New York: Rodopi, 270–274; bes. 271. S. dazu auch § 44. Man kann, wie sich in der folgenden Argumentation zeigen wird, auch davon sprechen, dass wir durch die Abstraktion methodisch kontrolliert den Raum in uns freigeben oder öffnen, worin sich höchste Evidenz ereignet. Zur absoluten Abstraktion s. auch Gloy: Einheit und Mannigfaltigkeit, 106–116. Allerdings kann gar keine Rede davon sein, dass die »Stelle der Transzendenz« bei Fichte »leer« bliebe (ibid. 116). Dann wäre nämlich die Transzendenz eine Privation, die sie aber keineswegs ist. Auch lässt sich nicht davon sprechen, dass sich die vermeintlichen Probleme des Fichteschen Denkens nur durch »Hegels Theorie des Selbstbewußtseins« lösen lassen. Im Gegen­ teil erarbeitet Fichte eine veritable Alternative zu Hegels transzendenzvergessener Metaphysik. 774

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gen.778 Es handelt sich daher um die Frage nach dem, was Wissen und Selbstbewusstsein in ihrem Innersten bedingt, zusammenhält und trägt. Darüber hinaus soll dieser Grundpunkt auch zugleich erklären können, wie es zur spezifischen Differenz der jeweiligen Glieder kommen kann. Mit anderen Worten geht es Fichte darum, Disjunktionspaare als organische, sich wechselseitig durchdringende Einheiten zu erklären, wofür er aber nicht einfach nur ihr wechselseiti­ ges Verhältnis betrachtet, sondern beide im Hinblick auf dasjenige hin untersucht, was sie vorgängig zusammenhält und, was hinzugefügt werden muss, unterscheidet – oder genauer: ihre Unterscheidung bedingt. Es geht Fichte also, wie er sich ausdrückt, um eine Synthesis a priori. Die Wahl einer abstraktiven Methode ist hierfür das allein geeig­ nete Mittel. Denn die Disjunktionsglieder durchdringen sich wech­ selseitig und sind damit Momente einer Ganzheit,779 die wiederum nichts anderes als Vielheit ist.780 Fichte bezeichnet diese wechselsei­ tige Durchdringung gerne mit der ungewöhnlichen Substantivierung »Durch«.781 Bliebe man bei diesem »Durch« stehen, wäre Fichtes Aufgabe, alle Mannigfaltigkeit auf absolute Einheit zurückzuführen, ganz offensichtlich nicht erfüllt. Schon in seinen bereits erwähnten Prolegomena verdeutlicht Fichte diese Forderung, indem er nach dem einen Unwandelbaren sucht, das alles Wandelbare, also die Welt der Vielheit, übersteigt und dominiert. Diese Welt der Mannigfaltigkeit ist nämlich durch einen ständigen Perspektivwechsel auf jeweils ein Glied einer beliebigen Disjunktion charakterisiert und daher stets mittelbar. Wie kann es Vgl. GA II/8, p. 132. Vgl. Janke: »›Der Platon tritt in jeder Stunde unverkennbar bei ihm hervor‹«, 77–90; hier 84. Hier scheint Fichte der Argumentation des Platonischen Parmenides zu folgen (Parm. 137C). 780 Die Glieder begründen sich nicht gegen- oder wechselseitig. Sie mögen sich durchdringen, aber in der Durchdringung ist nicht geklärt, welches Glied Priorität beanspruchen kann. Daher ist auch das Sein in der Anweisung zum seligen Leben im Grunde nicht Prinzip des Daseins. Die Absolutheit des Daseins wird pointiert, aber auch zurückgenommen, wenn der Bildbegriff eingeführt wird und das Dasein sich im Angesicht des Absoluten vernichten muss. Deutlich wird die Abhängigkeit schließlich in der Entdeckung der Liebe. S. dazu Kap. IV.2. 781 Janke: Fichte: Sein und Reflexion, 348–358. Das »Durch« ist Dia-lektik im Sinne des Sophistês, also im Sinne der wechselseitigen Durchdringung der μέγιστα γένη (Janke: Die dreifache Vollendung, 261). Und dieses »Durch« setzt ein »sich selbst begründendes Leben voraus« (GA II/8, p. 160, lin. 25–26). Dieses Leben ist für Fichte, so schreibt er an anderer Stelle, reine Luzidität, also das Absolute selber. 778

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aber, so fragt sich Fichte, zum Durchbruch zur Unwandelbarkeit bzw. zur Unmittelbarkeit kommen, wenn wir doch faktisch in der Welt der Vielheit verwurzelt sind und bleiben? Fichte entdeckt das gesuchte Unwandelbare, das allen Wandel und jede Disjunktion transzendiert, im reinen Wissen.782 Gemeint ist mit diesem reinen Wissen freilich nicht ein Wissen, wie es für den absoluten Geist Plotins, insofern sich der νοῦς als sich selbst denkende Ideentotalität weiß, konstitutiv ist. Diese Art des Wissens kann Fichte zwar ebenfalls als absolut bezeichnen. Was Fichte aber 1804 mit dem reinen Wissen meint, ist kein konkretes, inhaltlich gefülltes Wissen, sondern lautere Evidenz, reines »Licht« oder reine »Durchsichtigkeit«,783 das konkretes Wissen und Begreifen erst durch seine Unbestimmtheit vorgängig bedingt: »Es ist sein [scil. Gottes] Licht, durch welches wir das Licht, und alles was in diesem Lichte uns erscheint, erblicken.«784 Den Aufstieg zu dieser reinen Luzidität vollzieht Fichte über die Konstruktion des reinen Wissens mittels der Abstraktion: In allen konkreten Wissensbezügen wird ein Objekt abgesetzt.785 Abstrahie­ ren wir von konkreten Denk- und Wissensbezügen, erfasst uns plötz­ lich die Einsicht in die Unwandelbarkeit der alle Denk- und Wissens­ akte tragenden Substanz, also des reinen Wissens. Gesetzt werden in Wissensbezügen bei genauer Betrachtung gleich zwei Momente, nämlich das Sein qua Objekt und das Bewusstsein qua Denken oder Wissen. Abstrahieren wir von dem Objekt und dem Subjekt des Wissens bleibt allein das nicht-konkrete Wissen in reiner Tätigkeit und Lebendigkeit übrig.786 Fichte gelangt durch das Setzen einer Grunddi­ chotomie, also derjenigen von Sein und Denken, und durch das darauf folgende Überschreiten (oder Sein-Lassen) der jeweiligen Momente als Disjunktionsglieder zur Einsicht, dass das reine Wissen in allen möglichen Objektbezügen trotz der Mannigfaltigkeit der Objekte und GA II/8, p. 13, lin. 21 – p. 14, lin. 8. Gott wird von Fichte pointiert als reines, ungegenständliches »Licht« oder als reine »Durchsichtigkeit« verstanden (GA III/5, p. 48, lin. 14–17). 784 GA I/6, p. 296, lin. 15–16. 785 GA II/8, p. 36, lin. 24–26 und p. 38, lin. 22–23. 786 Das Wissen leuchtet uns also nicht etwa bloß durch unsere Tat des Abstrahierens, sondern durch sich selber »als unabhängig von aller Subjektivität und Objektivität« unmittelbar ein (GA II/8, p. 38, lin. 14–15). Das Wissen ist, so schreibt Fichte, »über alle Differenz des D sowohl, als des S« (GA II/8, p. 38, lin. 25–26). Vgl. auch GA I/9, p. 101–102. 782

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der möglichen Objektbezüge sich selber stets gleich bleibt. Daraus kann Fichte auf die Unabhängigkeit, Autarkie und Substantialität der einen und damit von allen Objektbezügen gereinigten Wissenstat schließen.787 Das – freilich vorläufige – Resultat Fichtes ist also, dass nun das Absolute entdeckt wurde. Es leuchtet uns als autarkes Wissen ein und ist von aller Objektivität und konkreten Subjektivität gelöst oder befreit.788 Auch wenn Fichte diese Einsicht im Folgenden als bloßen Schein bezeichnet, so bleiben die hier direkt ausgesprochenen oder indirekt angesprochenen Merkmale des Absoluten, also seine Absolutheit, Autarkie, Substantialität, Tätigkeit und Lebendigkeit, bewahrt. Fichte wird also von diesen Bestimmungen nicht mehr absehen. Und doch haben wir mit der bisher erfolgten Argumentation nur eine faktische Evidenz erreicht, die wir – wie schon in Proklos’ Metaphysik – noch einmal auf ihre Bedingungen hin hinterfragen können. Zentral für Fichte ist der Hinweis darauf, dass wir in der Konstruktion des Unwan­ delbaren nicht auf unser Verfahren geachtet und es in diesem Zuge versäumt haben, zu bemerken, dass wir das eigentlich nicht-objekti­ vierbare Absolute – paradoxerweise trotz des Überstiegs über alle konkreten Objekte – zu einem Objekt degradiert haben.789 In diesem Zuge haben wir nur einen leeren oder gar toten Begriff des Absoluten abgesetzt. Es kommt deshalb zu einer Objektivierung des reinen Wissens, weil im Zuge unserer Konstruktion die zuvor postulierte innere Lebendigkeit des reinen Wissens unversehens getilgt wird. Das eigentlich Tätige, also das, was das reine Wissen als Unwandelbares setzt, ist hier das reflektierende Subjekt, das sich im Wissensakt

GA II/8, p. 36, lin. 23 und p. 38, lin. 2–3; vgl. p. 40, lin. 17–22. Und dies ist eine nicht-empirische Einsicht bzw. eine Einsicht a priori (GA II/8, p. 40, lin. 4–15). 789 Vgl. dazu den naiven Realismus in der Anweisung: Ein solcher Realismus eilt in »Liebe« und mit »Herz« zum Objekt und »verliert« sich dabei selbst (GA I/9, p. 87). Dieses ›Eilen‹ ist gleichbedeutend mit einem propositionalen Wissen, das selbstvergessen ist (vgl. Plotin: Enn. V 1, 1, 10–12). Vergessen wir uns selbst, kann das Verfahren nicht beachtet werden und wir nehmen als objektive Gültigkeit hin, was doch ›nur‹ im Bewusstsein vorkommen kann. – Wir haben, noch einmal anders gewendet, gar nicht bemerkt, dass wir durch unser Verfahren das Wissen als reines Wissen konstruiert haben. Dadurch wurde es zum bloßen Objekt; und unser Anspruch, das reine Wissen rein aufgehen zu lassen, hat sich nicht erfüllt. Wir sollen aber letztlich einsehen, dass es das reine Wissen selbst ist, das in sich lebendig ist und als diese Lebendigkeit die Bedingung der Möglichkeit des Denkens ist. 787

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ein Objekt gegenüberstellt.790 Der durch unsere Konstruktion gewon­ nene Begriff ist der Tod der ursprünglichen Lebendigkeit des reinen Wissens – oder anders ausgedrückt: Die lebendige Kraft – Plotin und Proklos würden sagen: die δύναμις – des reinen Wissens wird in der Begriffsbildung entleert, ihrer Kraft beraubt und in ein stehendes Sein transformiert oder gebrochen, obwohl sie doch gerade unwandelbar sie selber bleiben soll. Die Lösung dieses Problems besteht laut Fichte, wie bereits angedeutet, darin, auf unser Verfahren zu achten: Wenn wir auf unser Verfahren und unsere Methode achten, konzentrieren wir uns zugleich auf unser intelligibles Inneres, das – im Gegensatz zum toten Objekt – unser Denken und Wissen trägt. Dieses Problem drohender Objektivierung findet sich im Grunde auch in der Proklischen Stoicheiôsis theologikê wieder. Zwar wird in dieser ein vorgängiges Einheitsprinzip nachgewiesen. Jedoch bleibt eine gewisse Dichotomie, nämlich die von Einheit und Vielheit, bestehen. Das Eine wird in diesem Zuge der Vielheit – wenngleich als deren Prinzip – vorausgesetzt.791 Dadurch aber droht das Eine in einen Begriff verwandelt zu werden: Es würde als Prinzip ausgewiesen und so in eine Relation eingebunden. Absolut wäre dieses Eine dann aber nicht mehr, sondern seinerseits von der Bestimmung der Relation eingehegt und damit wiederum als Prinzip, gar als kausal wirkender Grund, begreifbar. Dieses – wohlgemerkt bloß vorläufige – Dilemma der Proklischen Elementarlehre wird vor allem dadurch hervorgerufen, weil Proklos in dieser Schrift nicht dezidiert auf die Methode – oder genauer: auf seine Methode negativer Theo-logik – reflektiert. Diese thematisiert Proklos in anderen Werken, nämlich in besonderer Weise im Parmenideskommentar. Und erst im Fokus auf dieses Verfahren wird – analog zu Fichtes Methodenreflexion – das Problem der drohenden Objektivierung des Absoluten in einem energischen Zugriff gelöst.792 In der Reflexion auf die Entleerung des reinen Wissens durch den Begriff und unser Verfahren kommt Fichte dazu, das reine Wissen neu 790 Unsere Tat ist die Reflexion (1), die die Ur-Tat (2) aufbricht: Es wird erkennbar, dass die Ur-Tat die Reflexion bedingt; und die Reflexion aktualisiert das stehende Sein, setzt also Begriffe ab. S. dazu § 46. 791 Ich hatte bereits in den vorangehenden Kapiteln auf den Unterschied von Voraus­ setzen einerseits und Voraussetzung andererseits aufmerksam gemacht. 792 In diesem Zuge wurde, wie gesehen, dem transzendierenden Negieren »generie­ rende Kraft« zugeschrieben. Bei Proklos wird so – im Anschluss an Plotins δύναμις πάντων – die ἀπειροδυναμία zur Ursprungskraft, die Sein und Denken ursprünglich bedingt. Diese Kraft ist – mit Fichte ausgedrückt – eine über dem Sein und dem

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zu fassen. Fichte konstatiert im Rückgriff auf die Autarkie des reinen Wissens gegenüber Objekten und Subjekten, dass sich dieses eigent­ lich nicht von uns konstruieren lasse, sondern sich selber konstruieren müsse. Wenn also die reine Evidenz von uns nicht konstruierbar ist, dann kann sie durch die Begriffsarbeit nur nachvollzogen oder nachkonstruiert, nicht aber konstruiert werden. Das reine Wissen wird also in unserer reflektierenden Wendung auf unsere nachkon­ struierende Begriffsarbeit, also unser Verfahren, von dem Begreifen abstrahiert und so als von uns Nicht-Konstruierbares eingesehen. Von dieser Wendung her wird eines der wichtigsten Theoreme Fichtes verstehbar: Wir begreifen im reflektierenden Blick auf unser Verfahren, dass wir vom Begreifen absehen müssen, sodass wir die Unbegreifbarkeit des Unwandelbaren, des reinen Wissens bzw. des Absoluten, einsehen. Und daher können wir das Absolute nur als Unbegreifliches begreifen. Dieses ›Merkmal‹ der Ungreifbarkeit wird Fichte im weiteren Verlauf der vorliegenden Wissenschaftslehre im Speziellen und seiner philosophischen Entwicklung im Allgemeinen nicht mehr aufgeben, sondern sogar zur höchsten Einsicht der Philo­ sophie überhaupt stilisieren.793 Mit der Annahme eines sich selbst konstruierenden Lichtes, das, wie wir noch sehen werden, zum eigentlichen Prinzip avanciert, wird aber ein neues Problem aufgeworfen. Wir können es folgenderma­ ßen herleiten. (1) Zunächst haben wir das reine Wissen als Unwandelbares kon­ struiert. (2) Sodann mussten wir auf unser Verfahren achten und erkennen, dass unser Konstruieren anhand von Begriffen und im Begreifen vollzogen wird. Das Begreifen ist aber stets mittelbar, sodass wir im Begreifen das Unmittelbare gar nicht konstruieren, sondern nur begrifflich, also mittelbar, nachkonstruieren können. Das unmittelbare Absolute soll doch vollkommen autark sein, sodass es sich genau genommen selber konstruieren müsste – und zwar ohne die Zuhilfenahme des Begreifens, das dem Absoluten stets äußerlich bleibt.

Denken schwebende ›Instanz‹, die die Ur-›Differenz‹ durch ihre liebende Ur-Tat aufbricht und Begriffsbildungen bedingt. 793 GA III/5, p. 236–237. S. dazu unten, bes. § 45–46.

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Aber selbst wenn wir in Anbetracht unserer eigenen Begriffsarbeit von dieser absehen, um das Absolute rein zur Geltung kommen zu lassen, um ihm also die Würde des Absoluten zuzugestehen, konstru­ ieren wir faktisch noch immer – und zwar unter Zuhilfenahme der Methode der Abstraktion. Das Resultat also wäre, dass das Absolute sich qua Absolutes einerseits selber konstruieren soll, aber gleichwohl als Absolutes von uns konstruiert wird. Wessen Tat, so können wir das Problem auch umreißen, ist also die Konstruktion des Absoluten?794 Ist und bleibt es unsere Tat oder ist es die Tat des Absoluten? Fichte wendet dieses Problem noch einmal anders, indem er fragt, wer sich denn wem unterordnen solle: »Wir wollten nicht«, so schreibt er, »Gott sollte nicht«.795 Fichte geht dieses Problem im weiteren Verlauf der Wissen­ schaftslehre 21804 in einem energischen Zugriff an, indem er zunächst einen Widerstreit zwischen Idealismus und Realismus konstruiert, um diesen im Anschluss zu überwinden.796 In diesem Zuge stößt er zur Position eines »absoluten Realismus«797 vor. Durch diesen klärt 794 Vgl. Janke: Fichte: Sein und Reflexion, 330–335 und, zur weiteren Aufklärung des Problems, 335–339. – Die Frage des ›wodurch‹ bzw. die Frage, wessen Tat eigentlich das Durchstreichen des Begreifens und des Begriffes ist, lässt sich auch im spätantiken Neuplatonismus finden. Denn wir können uns die Frage stellen, wessen Tat es eigentlich ist, durch die unsere semantischen Explikationsbemühungen einerseits geleitet werden und durch die uns göttliche Begeisterung andererseits umfängt. Die klare Antwort darauf ist die göttliche Liebe, also der »liebende Geist« bzw. das »Eine in uns«. Aber wer vollzieht diese Tat? Einerseits sind es wir, die diese Aspekte in uns erwecken und die Liebe so vollziehen. Andererseits ist diese Liebe vorgängig und daher unabhängig von uns, insofern wir sie nicht immer bewusst vollziehen und doch durch sie in unserem Sein und Denken ermöglicht werden. Während bei Plotin die geistige Liebe mit unserer nicht abgestiegenen Seelenspitze vollzogen wird, gesteht Proklos der Ur-Tat, indem er sie den Henaden zuschreibt, mehr Eigenständigkeit zu, insofern diese für sich den manischen Tanz um das Absolute vollziehen und von uns nur im Augenblick teilgenommen werden können. Allerdings stellt auch Proklos klar, dass die Henaden im Grunde nichts anderes als die eigentliche, weil negative, überwesentliche Wesensmitte aller intelligiblen Entitäten – und mithin von Geist und Seele – sind. 795 GA II/8, p. 114, lin. 22. 796 Zur Überwindung von Idealismus und Realismus bei Fichte s. bes. die ausführliche Diskussion bei Janke: Fichte: Sein und Reflexion, bes. 376–399. S. ferner Gloy: Einheit und Mannigfaltigkeit, 94–106. Schüssler: Die Auseinandersetzung von Idealismus und Realismus in Fichtes Wissenschaftslehre, 89–136. Hühn: Fichte und Schelling, 136–138. Schmidt: Der Grund des Wissens, 77–84. 797 Man kann durchaus von einer »Vorliebe« Fichtes für den Realismus sprechen (GA II/8, p. 264).

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sich auch endgültig auf, dass weder Denken noch Wissen das Absolute sein können. Das Absolute übersteigt ganz im Sinne Plotins oder Proklos’ Denken, Wissen, Begreifen und Verstehen und kann daher nur in – Cusanisch gewendet – belehrter Unwissenheit gewusst wer­ den. Betrachten wir daher den höheren Idealismus – und mit diesem den höheren Realismus – in aller Kürze, um sodann zur höchsten Einsicht der Wissenschaftslehre 21804 durchbrechen zu können.

§ 40) Vom höheren Idealismus zum absoluten Realismus Der Idealismus betont unsere eigene Bewusstseinsleistung, wodurch er alle Absolutheitsspekulationen unter sein eigenes Paradigma sub­ sumiert und letztlich die Würde des Absoluten für sich selber bean­ sprucht – oder eher: usurpiert. Dennoch scheint der von Fichte sog. höhere Idealismus ein guter Kandidat für das Absolute – oder auch: für die sog. intellektuelle Anschauung, insofern diese der »einzige feste Standpunkt für alle Philosophie« und überhaupt für alles Den­ ken und Begreifen ist,798 – zu sein. Denn der Idealismus betont, dass wir unsere subjektiven Bewusstseinszustände oder -akte nicht verlas­ sen oder in einem salto mortale des Denkens überwinden können. In der Anweisung verweist Fichte darauf, dass zwar der »Trieb, mit dem Unvergänglichen vereinigt zu werden, und zu verschmelzen, [...] die innigste Wurzel alles endlichen Daseins, und [...] in keinem Zweige dieses Daseins ganz auszutilgen« sei.799 Aber »[w]ir«, so Fichte weiter, »sind in unserm unaustilgbaren Wesen nur Wissen, Bild, und Vorstellung; und selbst, in jenem Zusammenfallen mit dem Einen, kann jene unsere Grundform nicht verschwinden. Selbst in diesem unserm Zusammenfallen mit ihm, wird er nicht unser eigenstes Sein selber«.800 Wenn wir vom Denken gar nicht absehen können und auch das Absolute, insofern wir es als solches begreifen, nicht dem Denken zu entkommen scheint, dann ist das Denken, das Dasein, so pointiert Fichte, selber absolut.801 Damit wird auch klar, dass alle unsere Konstruktionen, eben auch unsere Explikationsbe­ mühungen im Hinblick auf das Absolute, »durch unsere energische 798 799 800 801

GA I/4, p. 219, lin. 28–29. GA I/9, p. 59–60; vgl. p. 71–72. GA I/9, p. 103. GA I/9, p. 88.

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Reflexion« bedingt bleiben,802 wobei Fichte später in der Anweisung in wünschenswerter Klarheit verdeutlicht, dass das Absolute eigentlich die Reflexion übersteige.803 Der höhere Idealismus macht also das »unmittelbare Bewußtsein zum Absoluten, zum Urquell und Bewäh­ rer der Wahrheit«, wobei Fichte hinzufügt, dass es sich um ein »abso­ lute[s] Bewußtsein« oder um das »Selbstbewußtsein« handele.804 Woran krankt aber, so müssen wir fragen, der höhere Idealismus und wieso ist das Bewusstsein nicht das Absolute selber? Und in welcher Beziehung steht der höhere Idealismus zur intellektuellen Anschau­ ung? Das Bewusstsein ist nach Fichte von uns bloß faktisch vorge­ funden,805 also eine bloße Tatsache, und daher nicht das gesuchte Absolute.806 Fichtes Argument ist im Grunde simpel: Eine Tatsache wird nur vorgefunden, aber nicht aus ihren Entstehungsgründen und ihrer Erzeugung heraus erklärt. Die »Erzeugung« aber liegt nach Fichte »höher« als das »Erzeugte«.807 Das Bewusstsein, das bloß vorgefundene Faktum, krankt daran, sich selber nicht zu hinterfragen und sich also bei seiner Genese nicht zuzusehen. Die Einsicht in

GA II/8, p. 192. Dazu Janke: Fichte: Sein und Reflexion, 376–383 und Die dreifache Vollendung, 267–268. Vgl. Schmidt: Der Grund des Wissens, 80–83. 803 S. dazu unten, § 7–13. 804 GA II/8, p. 200, lin. 8–11. 805 Vgl. dazu auch Fichtes dritte Vorlesung der Anweisung (GA I/9, 80–91). 806 GA II/8, p. 202, lin. 15–26: »Dieser [scil. höhere] Idealismus ist, als an sich gültig, widerlegt: obwohl er, als Erscheinung, und wahrscheinlich als Urgrund aller Erscheinung wieder Dasein erhalten dürfte, was wir abzuwarten haben: – widerlegt aus dem Grunde, weil er faktisch ist, und eine höhere Genesis auf seinen Ursprung deutet. Faktisch nennt man eine Thatsache, und das hier vom Bewußtsein die Rede ist, wäre diese Thatsache eine Thatsache des Bewußtseins; oder es strenger ausgedrückt: nach diesem idealistischen Systeme, wäre das Bewußtsein selber Thatsache. Nun hat die W.-L., von dem ersten Augenblicke ihrer Entstehung an, erklärt, daß es das πρῶτον ψεῦδος der bisherigen Systeme sei, von Thatsachen auszugehen, und in diese das Absolute zu setzen: sie legt zu Grunde, hat sie bezeugt, eine Thathandlung [...].« Fichte identifiziert im Folgenden die Tathandlung mit dem Begriff der Genesis (ibid. lin. 25–28). Ibid. p. 204, lin. 22–26: »[D]er Grund der Wahrheit, als Wahrheit, liegt doch wohl nicht in dem Bewußtsein, sondern durchaus in der Wahrheit selber; von der Wahrheit mußt du also immer das Bewußtsein abziehen, als derselben durchaus nichts verschlagend. Es bleibt dieses nur die äussere Erscheinung der Wahrheit, aus der du nicht herauskommen kannst [...].« Wenn die Wahrheitslehre in der Rückführung auf absolute Einheit besteht, dann kann das Bewusstsein nicht selber der Wahrheitslehre letzter Schluss sein, weil es als Relationalität ausgewiesen wird. 807 GA II/8, p. 204, lin. 5–10. 802

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die Genese vorgefundener Faktizitäten ist aber – wie schon in der neuplatonischen Tradition – von uns gefordert. Damit wäre der höhere Idealismus im Grunde bereits abgewie­ sen. Fichte setzt aber noch einmal an, um den höheren Idealismus in seine Schranken zu verweisen: Das Bewusstsein konstruiert für Fichte das Denken als Sein, also als Absolutes, wodurch das unmittelbare Bewusstsein offenbar sich selber die Würde des Absoluten zugesteht. In diesem lebendigen Setzungsakt tötet das Bewusstsein das Denken als Tätigkeit aber, indem es diese in ein stehendes Objekt verwan­ delt.808 Vollzieht das Bewusstsein die Konstruktion des Denkens als Sein – oder gar: als Seiendes –, verobjektiviert es dieses und setzt es sich selbst gegenüber. Fichte kann in diesem Zusammenhang auch von einer gewissen Externalisierung des Denkens als Sein sprechen, unbeschadet der Tatsache, dass die Unterscheidung von Sein und Bewusstsein nur im Bewusstsein verortet werden kann. Gleichwohl wird eine minimale Differenz im Akt des Setzens gebildet.809 Fichte Vgl. dazu das Gesetz der Reflexion GA I/9, p. 97–101. Schon bei Plotin ist der absolute Geist durch Vielheit bestimmt: Die Selbstiden­ tifikation des Geistes ist ohne Differenz gar nicht möglich oder denkbar. S. dazu die instruierenden Überlegungen von Halfwassen: Plotin und der Neuplatonismus, 59–97. Vgl. dazu auch die treffende Beobachtung Friedrich Hölderlins; Theoretische Schriften. Mit einer Einleitung und Anmerkungen hrsg. v. Johann Kreuzer. Hamburg: Felix Meiner, 2020, p. 7: »[D]as Ich ist nur durch diese Trennung des Ichs vom Ich möglich. Wie kann ich sagen: Ich! Ohne Selbstbewußtseyn? Wie ist aber Selbstbewußtseyn möglich? Dadurch daß ich mich mir entgegenseze, mich von mir selbst trenne, aber ungeachtet dieser Trennung mich im entgegengesezten als dasselbe erkenne.« Daher könne die Identität, so führt Hölderlin weiter aus, nicht das absolute Sein selber sein, weil die Identität nur durch die »Ur-Theilung« möglich ist. Zum Verhältnis von Hölderlin und Fichte s. Violetta L. Waibel. »Wechselbestimmung: Zum Verhältnis von Hölderlin, Schiller und Fichte in Jena«. Fichte-Studien 12 (1997), 43–69 und Violetta L. Waibel. Hölderlin und Fichte (1794–1800). Paderborn: Schöningh, 2000. – Auch Novalis, ein entschiedener Gegner ›idealistischer Hybris‹, kritisiert insbesondere Fichtes Grundsätze, also »a ist a« und »Ich bin Ich«, als bloße Scheinsätze. In diesen Scheinsätzen könnte das erste Prinzip gar nicht formuliert werden, weil nicht nur im »a ist a«, sondern auch im »Ich bin Ich« eine Spaltung und Entzweiung vollzogen würde (Schriften II, p. 104). Für Novalis ist die Einheit des Bewusstseins nicht rein oder absolut einfach: Der »vermeintliche Grundsatz verfehlt als Grundsatz den absoluten Grund«, wie Oliver Koch im Hinblick auf Novalis’ Auseinandersetzung mit Fichte völlig zutreffend festhält (»Novalis und Jacobi: Vom Gefühl des Entzugs und Entzug des Gefühls«. In: Walter Jaeschke und Birgit Sandkaulen (Hg). Friedrich Heinrich Jacobi: Ein Wendepunkt der geistigen Bildung der Zeit. Hamburg: Felix Meiner, 2004, 278–297; hier 282. Vgl. Manfred Frank. ›Unendliche Annäherung‹: Die Anfänge der philosophischen Frühromantik. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1997, 802–830). 808

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spricht sogar von einem »Abgrund« zwischen dem Bewusstsein und dem Denken als Sein. Indem so eine innere Zweiheit konstruiert wird, kann das Bewusstsein als das Spaltende schlechthin verstanden werden. Fichte kann diese Tatsache des Bewusstseins auch dadurch ausdrücken, indem er die Konjunktion »Als« substantiviert, zum inneren Charakteristikum der Reflexion und so zum »Princip [a]ller nachmaligen Trennung und Mannigfaltigkeit« erhebt.810 Das »Als« dokumentiert den spaltenden Charakter der Reflexion, ist aber auch das Bindeglied der fünf Glieder des Bewusstseins und damit der Inbegriff der Selbstreflexion. Wie also, so müssen wir vor diesem Hintergrund fragen, können die stets drohende Verobjektivierung und der Abgrund überbrückt Novalis kritisiert Fichte also für dessen Verabsolutierung des Ich, das in Novalis’ Augen nicht als das Absolute selbst gelten kann – wobei Novalis’ Kritik, wenn überhaupt, nur das Denken des frühen Fichte trifft (vgl. Schlösser: Das Erfassen des Einleuchtens, 154–155). 810 GA I/9, p. 96, lin. 21–22. Die spaltende Aktivität der Reflexion wird eigens und ausführlich in der vierten Vorlesung thematisiert (GA I/9, p. 96–101). – Zum Begriff des »Als« s. Janke: Fichte: Sein und Reflexion, 28: »Vermöge seiner Als-Struktur also spaltet sich das absolute Wissen in sich selbst; denn absolute Reflexion ist die Subjekt-Objekt-Einheit, die sich als solche weiß und sich durch diese Fügung des Als in die Zweiheit von Reflektierendem und Reflektiertem zerteilt.« Diese Spaltung gelte, so Janke weiter, natürlich nicht nur für die Selbstreflexion, sondern auch für die »objektivierende[-] Reflexion« (ibid. 29). Letztlich dokumentiert das »Als«, wie Janke völlig richtig anfügt, den »Bild-Charakter des Sichwissens«. Und dieser Charakter muss dem reflektierenden Sich-Wissen aufgehen, um vollendetes Selbstbewusstsein erlangen zu können. Es ist freilich völlig klar, dass das »Als« dergestalt nicht bloß spaltet, sondern Subjekt und Objekt in Beziehung setzt: Das »Als« stiftet eine durch (minimale) Differenz bestimmte Beziehungseinheit. Damit ist das »Als« also Grundmoment der intellektuellen Anschauung, der Selbsttransparenz und des Selbstbewusstseins (Wolfgang Janke. Vom Bilde des Absoluten: Grundzüge der Phänomenologie Fichtes. Berlin/New York: Walter de Gruyter, 1993, 266–267). – Diesbezüglich ist auch auf die eigene Lebendigkeit des Ich hinzuweisen, das sich in einem spontanen Akt ›zunächst‹ sich selber gegenübersetzt, also die Tat vollzieht, die Hölderlin die »Urtheilung« genannt hat (Theoretische Schriften, p. 7). Dabei wird zwar eine – freilich minimale – Differenz etabliert, die aber nicht zur destruktiven Zerspaltung des Ich führt: Diese Spaltung wird nämlich im Bewusstsein, also der Bewusstseinsimmanenz, vollzogen. Darin weiß sich das Ich als Einheit, es kehrt also in der »Urtheilung« zu sich selbst zurück – oder eher: es bleibt in sich. Dabei weiß es um sein In-sich-Bleiben. In diesem Zusammenhang weiß sich das Ich als es selbst; es ist auf sich bezogen und insofern es auf sich bezogen ist, weiß es sich selber: Das Sich-selber-Wissen ist also der Bezug des Ich auf sich in diesem selber, wobei das »Als« sowohl Identität als auch Differenz markiert und damit gewissermaßen sogar zum Inbegriff des Selbstbewusstseins erhoben werden kann.

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werden? Das Bewusstsein scheint jedenfalls das Denken als Sein durch etwas hindurch zu konstruieren, das es nicht erklären kann. Sein Setzen des Denkens als absolutes Sein ist demnach Projektion »per hiatum«.811 Das bedeutet, dass das Bewusstsein das Prinzip, auf das es ausgreift,812 gar nicht ins Auge fassen kann, ungeachtet es dieses aber voraussetzt. Der Idealismus krankt also daran, dass er (i) ein Sein absetzt und (ii) sich dieses Setzen nicht erklären kann: (ad i) Der Idealismus veräußert, spaltet letztlich und dadurch ist das Bewusstsein, auch das absolute, das Spaltende813, nicht aber das schlechthin Eine. Das unmittelbare Bewusstsein bleibt in der Dialektik der Subjekt-Objektivität und damit in der Vielheit hän­ gen. Das Bewusstsein und das Denken als Sein sind noch immer Disjunktionsglieder, obwohl sie im Selbstbewusstsein unabtrennbar zusammen bestehen. (ad ii) Ferner kann sich das Bewusstsein das Setzen des Denkens als Sein, ungeachtet es dieses Setzten vollzieht, nicht erklären. Es bleibt blind für den Zusammenhang dieser Glieder.814 So wird das erfassende Bewusstsein zur Vielheit stilisiert und so als das Absolute selbst desavouiert. Daraus folgt, dass das Postulat des Bewusstseins, selber das Absolute zu sein, bloße Behauptung ist – und als Behauptung tritt der Idealismus, darüber hinaus, noch in einen Widerstreit815 mit GA II/8, p. 220, lin. 3–5. Verwiesen sei hier auf GA I/9, p. 52, lin. 33 – p. 53, lin. 3: »Erfassung des ganzen abgehandelten Gegenstandes aus seinem tiefsten Standpunkte. – Das, in der Form der Selbstständigkeit des Ich, als der Reflexionsform, schlechthin, sich selbst von sich selbst, ausstoßende Seyn, hänge, jenseits aller Reflexion, allein durch die Liebe, mit der Form zusammen. Diese Liebe sey die Schöpferin des leeren Begriffs von Gott.« S. dazu § 46–47. 813 S. dazu auch § 46. 814 Gegen diese Blindheit ist schon, wie oben gezeigt, Proklos vorgegangen, indem er in seinem Parmenideskommentar die Methode des Negierens eigens thematisiert hat: Gerade so hat er dem Bewusstsein gewissermaßen ein Auge eingesetzt. 815 Befinden sich Idealismus und Realismus gar in Isosthenie? Mit diesem Begriff wird in der Pyrrhonischen Skepsis die (er)scheinende Gleichwertigkeit zweier Posi­ tionen benannt. S. dazu überblickend Sexti Empirici Opera. Vol. 1, Pyrrôneiôn hypoty­ pôseôn libros tres continens. Ed. stereotypam emendatam curavit addenda et corrigenda adiecit Jürgen Mau. Leipzig: Teubner, 1958, I c. 4–13. Der Skeptiker stellt stets eine ihm als solche erscheinende Gleichwertigkeit her, wodurch es zur Urteilsenthaltung, der ἐποχή, kommt (ibid. I c. 12,). Denn für den Skeptiker ist aufgrund mangelhafter Kriterien eine Entscheidung, welcher Position der Vorrang gebührt, wenigstens in diesem Moment seines Nachdenkens, unmöglich. Fichte freilich widerspricht der Pyr­ 811

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dem höheren Realismus. Dadurch geraten Idealismus und Realismus in eine Dichotomie, die gemäß der Maxime, alle Mannigfaltigkeit auf absolute Einheit zurückzuführen, durch absolute Abstraktion überwunden werden muss. Damit ist gefordert, vom Bewusstsein, auch dem unmittelbaren, abzusehen, wobei sich diese Forderung bei der Überwindung des höheren Realismus wiederholen wird: Der höhere Realismus begeht im Grunde denselben Fehler wie der Idealismus, bemerkt diesen aber noch nicht einmal, weil er laut Fichte ein verkappter Idealismus ist. Der höhere Realismus beachtet also sein idealistisches Fundament nicht. Wenn nun im höheren Realismus eine Abstraktionsleistung vollzogen wird, kommt es nach Fichte durch diese Abstraktion zur Verobjektivierung des Absoluten und mithin zu dessen Tod.816 Wir müssen also nach Fichte eine Wende vollziehen, in der wir von Idealis­ mus und Realismus absehen, um zur höchsten Einsicht durchbrechen zu können. Damit sich das Bewusstsein seiner selbst überhaupt bewusst sein kann, muss es – so haben es schon Plotin und Proklos for­ muliert – seine Grenzen erfahren. Und diese erfährt es nur und ausschließlich, indem es am Absoluten scheitert, wodurch das Denken auf sich zurückgeworfen wird und vollkommenes Selbstbewusstsein erst generiert: »[D]er Begriff« finde, so Fichte, »seine Gränze; begreift sich selber als begränzt, und sein vollendetes sich Begreifen ist eben das Begreifen dieser Gränze. Die Gränze, welche wohl ohne alle unsere Bitte oder Gebot Keiner überschreiten wird, erkennt sie nun bestimmt an; und jenseits ihrer liegt das Eine, rein lebendige Licht: sie [scil. die Grenze] verweiset daher aus sich heraus an das Leben, oder die Erfahrung, [...] an diejenige Erfahrung, die allein Neues enthält, an ein göttli­ ches Leben.«817

rhonischen Skepsis, indem er seine Methode absoluter Abstraktion zur Anwendung bringt und so zu der einen Position durchbricht, die – wie schon bei Plotin und Prok­ los (§ 8 und § 17) – aufgrund ihrer Übergegensätzlichkeit keinen Widerspruch oder Gegensatz mehr haben kann. 816 GA II/8, p. 220–226, 817 GA II/8, p. 124, lin. 2–9. Zur Herleitung der Grenze im Wissen s. auch Pai­ mann: Die Logik und das Absolute, 523–524. – Wir können hier sehen, dass es Fichte – ganz im Sinne von Dionysios (De div. nom. II § 9; CD I, p. 134, lin. 1–2) – um eine höchste Erfahrung gegangen ist. In dieser und aus dieser heraus generiert sich absolutes Wissen, das sich selber vollkommen transparent ist.

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Das vollkommene Selbstbewusstsein besteht also darin, zu erkennen, dass das Selbstbewusstsein nicht das Absolute ist. Damit wäre ein wesentlicher Aspekt des Fichteschen »Soll«818, das in der DelphischSokratischen Maxime, »Erkenne dich selbst«, besteht, realisiert. Und damit ist – nebenbei bemerkt – auch geklärt, dass Fichte an Kants Pro­ gramm der kritischen Selbstbegrenzung zwar orientiert bleibt, aber in revolutionärer Weise dieses durch das Konzept der Transzendenz wendet und damit das ursprünglich neuplatonische Modell – von ihm aber offenbar unbemerkt – restituiert. Und genau deshalb können wir nur unter Berücksichtigung der Transzendenz in den »feste[n]

818 S. dazu unten, § 48. – Das Konzept des Soll ist bei Fichte höchst komplex und schwer zu durchschauen. Auf den entscheidenden Grundpunkt des Soll sei aber schon jetzt verwiesen: Es ist nach Wolfgang Janke das »Dasein des Absoluten im Menschen« (Fichte: Sein und Reflexion, 283), wobei er präzisiert; ibid. 46: »Das Soll fordert das absolute Wissen zu äußerster Grenzbesinnung und Selbsterkenntnis auf. Das Wissen soll sich als Bild des absoluten Seins oder als Schema göttlichen Lebens sehen; es soll seinen Anfang und sein Ende reflektieren.« Darin erfolgt schließlich der Selbstbe­ scheid, dass eben das »Selbstbewußtsein« nicht »der Anfangsgrund« sein kann. Dass nun das Soll das »Dasein des Absoluten im Menschen« sei, kann aber nicht meinen, dass das Soll das Absolute selber ist. Sicherlich lebt das Absolute in uns. Das Soll ist aber die daraus folgende Konsequenz: Wir sollen das Absolute als Lebensmittelpunkt anerkennen, gerade um zum Selbstbewusstsein durchzubrechen, das darin besteht, dass eben das Selbstbewusstsein nicht das Absolute ist. Und in diesem Zuge sollen wir sogar noch einen Schritt weiter gehen: Auf dem Hintergrund unserer (beseligen­ den) Einsichten sollen wir zur vita activa übergehen, worin sich das Soll erst wirklich realisiert (§ 48). – Vgl. auch Zehnpfennig: Reflexion und Metareflexion bei Platon und Fichte, 233: »[W]eil kein Wissen, kein Handeln sich selbst begründen kann, ohne sich zugleich selbst zu zerstören, muß ein tragfähiger Grund beider gesucht werden. Das ist die Aufgabe der Philosophie – der Verzicht darauf ist ihre Selbstaufgabe.« »Gesollt« ist also die Suche nach dem tragfähigen Grund von Wissen und Handeln und damit von uns selbst.

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Standpunkt für alle Philosophie«, die man im Deutschen Idealismus auch als intellektuelle Anschauung819 bezeichnet hat, übergehen.820 819 Das unmittelbare Bewusstsein ist, so betont Wolfgang Janke völlig zu Recht (Fichte: Sein und Reflexion, 14–19), Anschauung. Die intellektuelle Anschauung geht aber, womit man Janke nur zustimmen kann, nicht auf einen Gegenstand, auf eine Tatsache, sondern auf ein Handeln bzw. eine Tat, die das Denken bzw. Intelligieren selbst ist (ibid. 15). Die intellektuelle Anschauung ist im Grunde das­ selbe wie das bewusstseinsimmanente Urfaktum, nämlich dass das »Ich-denke alle meine Vorstellungen begleiten können muss«. Denn ohne die Anschauung bzw. das Anschauen unserer Vorstellungen und Bewusstseinsakte wäre alles Wissen und Vorstellen und Bewusstwerden selbstvergessen (ibid. 16). Fichte formuliert es in seiner Zweiten Einleitung in die Wissenschaftslehre so; GA I/4, p. 216, lin. 36 – p. 217, lin. 2: »Dieses dem Philosophen angemuthete Anschauen seiner selbst im Vollziehen des Actes, wodurch ihm das Ich entsteht, nenne ich intellectuelle Anschauung. Sie ist das unmittelbare Bewusstseyn; dass ich handle, und was ich handle: sie ist das, wodurch ich etwas weiß, weil ich es thue.« Und wenig später lin. 14: »[N]ur durch die Anschauung weiß ich, daß ich es thue«. Die intellektuelle Anschauung ist also überall in unserem Bewusstsein präsent (Janke: Fichte: Sein und Reflexion, 17). Das »Ich denke«, das bei Fichte wohl nichts anderes ist als das Begreifen des Bildes als Bild, führt zu vollständigen »Transparenz«, die freilich von uns aktualisiert werden muss (s. dazu Anton F. Koch: Subjektivität in Raum und Zeit. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 1991, 255). Diesen Gedanken hat freilich, wie oben gezeigt, schon Proklos antizipiert (In Parm. IV p. 958, bes. lin. 4–10). Zu fragen ist aber vor diesem Hintergrund, ob eine intellektuelle Anschauung, insofern diese der feste Standpunkt sein soll, durch den kein Zweifeln mehr möglich ist, bei Fichte ohne henologische Perspektive überhaupt auskommt. Mit Karl Jaspers kann das »Ich denke« zwar als »Helligkeit« beschrieben werden, durch die das Ich »ein Wissen um eine freie Selbsttätigkeit« habe. Auf das »Ich denke« kann ich mich nach Jaspers aber nicht gründen. Vielmehr ist die Liebe der Grund. Und »ein Denken ohne Liebe erfährt den Schein einer Herrschaft durch das Wissen« (Von der Wahrheit. München: Piper & Co, 1958, 988). – Zur intellektuellen Anschauung bes. beim frühen Fichte s. Jürgen Stolzenberg. Fichtes Begriff der intellektuellen Anschauung: Die Entwicklung in den Wissenschaftslehren von 1793/94 bis 1801/02. Stuttgart: Klett-Cotta, 1986 und Andrea Gentile. Bewusstsein, Anschauung und das Unendliche bei Fichte, Schelling und Hegel: Über den unbedingten Grundsatz der Erkenntnis. Freiburg im Breisgau/München: Karl Alber, 2018, 66–70. 820 S. dazu die folgenden Überlegungen, bes. in § 45–48. Im Hinblick auf die intel­ lektuelle Anschauung sei hier Folgendes gesagt: Intellektuelle Anschauung ist, inso­ fern – und nur insofern – sie den Standpunkt zweifelfrei gewissen Wissens und voll­ endeter Selbsttransparenz meint, im Grunde kein verobjektivierendes Begreifen, sondern reines Denken und ohne henologische Perspektivität, also ohne das Konzept der Transzendenz, gar nicht realisierbar. Intellektuelle Anschauung ist als solche abso­ lute oder höchste Einsicht – und zwar in den Bildcharakter absoluten (Selbst)Wissens, das nur über die henologische Perspektive realisiert werden kann. Damit unterscheidet sich die intellektuelle Anschauung vom Denken des Begriffes. Nur in der intellektu­ ellen Anschauung findet vollendete Selbstdurchlichtung statt. Sie ist sodann absolutes Wissen oder auch absolutes Denken, absolutes Verstehen oder absolutes Begreifen.

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Überstiegen werden Idealismus und Realismus in der absoluten Abstraktion, also durch denjenigen Vollzug, den man im Hinblick auf den Neuplatonismus als transzendierendes Negieren bezeichnen kann: Absolutes Abstrahieren und transzendierendes Negieren mar­ kieren die letzte Grenze unseres Denkens und vermögen uns über das Absolute – und freilich auch über uns selber – aufzuklären. Welche Ergebnisse lassen sich durch die Widerlegung des höheren Idealismus und Realismus in ihrem Überstieg durch die absolute Abstraktion im Hinblick auf das Absolute festhalten?821 Nur drei Aspekte möchte ich an dieser Stelle in aller Kürze skizzieren: (a) Durch den Überstieg über jede Entgegensetzung und Abset­ zung erscheint uns das Absolute als reine Immanenz – genauer: als der uns vollkommen immanente Grundpunkt, durch den eine Differenzierung von Gott und Ich letztlich unmöglich gemacht wird. Fichte spricht in diesem Zusammenhang gerne von der »Identität« von Gott und Ich,822 wobei der Begriff der Identität wegen seiner ihm immanenten Vielheit wohl kaum als Gottesbegriff genügen kann.823 (b) Das Absolute wird ferner als seine eigene Innerlichkeit eingesehen, die Fichte auch als Geschlossenheit, reine Einheit oder als Unbegreifbarkeit markiert. Das Absolute verlässt seine reine Innerlichkeit und Geschlossenheit nicht, wodurch wir es im Abstrak­ tionsakt als Unerreichbarkeit einsehen müssen: In der Abstraktion wird die Unaufschließbarkeit des Absoluten andemonstriert und

Würde der Blick auf das Absolute nicht in die intellektuelle Anschauung mit einflie­ ßen, bliebe sie unvollständig. Dann nämlich wäre das Bewusstsein in sich nicht voll­ ständig transparent, denn ihm würde die Einsicht in den Grund- und Einheitspunkt fehlen. 821 Dazu Janke: Fichte: Sein und Reflexion, 376–399. 822 Vgl. GA II/8, p. 230, lin. 15–27: »Wir leben aber unmittelbar im Lebensakte selber; wir sind daher das Eine ungetheilte Sein selber, in sich, von sich, durch sich, das schlechthin nicht herausgehen kann zur Zweiheit. Daß wir nun dieses Wir mit seinem inwendigen Leben selbst wiederum objektiviren, dessen sind wir uns, wenn wir uns recht besinnen, freilich unmittelbar bewußt: wir müssen aber einsehen, daß diese Objektivität eben so wenig, als irgend eine andere, Etwas bedeutet, und wir wissen ja, daß gar nicht von diesem Wir an sich die Rede ist, sondern lediglich von dem einen in sich selber lebenden Wir in sich, welches wir begreifen lediglich durch unsere eigene kräftige Vernichtung des Begreifens, das sich uns hier faktisch auf drängte. – Jenes Wir, im unmittelbaren Leben selber; jenes Wir, nicht bestimmt, oder charakterisirbar durch irgend Etwas, das hier Jemandem beifallen dürfte, sondern charakterisirbar lediglich durch unmittelbares, actuelles Leben selber.« 823 S. dazu unten, § 43.

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erfahrbar gemacht. Mit anderen Worten dokumentiert Fichte mit der Abstraktion die Formtranszendenz des Absoluten. (c) Wenn das Absolute innerlich geschlossen bleibt, wird es nicht zum toten Objekt diminuiert, sondern es wird gerade seine innere Lebendigkeit aufgezeigt: Wenn das Absolute nicht mehr objektiviert wird, wird der Tod, der den Begriff charakterisiert, vollständig getilgt und in die innere Lebendigkeit und Tätigkeit des Absoluten verwandelt. Die absolute Abstraktion ist aber, so muss an dieser Stelle sogleich angemerkt werden, nicht selber das Absolute, denn dieses ist nach Fichte »allerhöchste Position«.824 Genau genommen gehört die Abstraktion, auch die absolute, noch zur Reflexion. Sicherlich verstehen wir durch die Abstraktion das Absolute als in uns lebende Geschlossenheit. Und weil es lebendig und gerade nicht steril oder tot ist, konstruiert sich also das Absolute selber.825 Es kommt der­ gestalt zu einem Umschlag, in dessen Zug das eigentliche Prinzip aufblitzt: Es wird in zunehmender Klarheit erkennbar, dass die Tat der inneren Lebendigkeit oder die (reine) Gottesliebe Begreifen und Begriff von sich und durch sich abhält, den Begriff gewissermaßen von sich und durch sich abstößt, geradezu durchstreicht und so durch sich selber absetzt,826 wobei wir schon jetzt wie folgt präzisieren müssen: Das Absolute erscheint als die Bedingung für das Abset­ GA II/8, p. 142, lin. 4. – Am Ende der zehnten Vorlesung seiner Anweisung (GA I/9, p. 173, lin. 18–24) verknüpft Fichte negative Theologie und den actus purus, der dort für ihn die reine Gottesliebe ist. Was Liebe sei, könne nur negativ ausgedrückt werden. Es handelt sich dabei offenbar um eine transzendierende Negation. Der Begriff versucht sich am Absoluten und gewinnt einen negativen Begriff und damit das Wissen um die Unbegreifbarkeit des Absoluten. Fichte verknüpft damit die Entdeckung des actus purus mit der negativen Theologie, in der er die Liebe gegenüber dem Wissen priorisiert. 825 Die letzte Gefahr einer Verobjektivierung des Absoluten kann aber erst auf dem Hintergrund von § 46 gebannt werden. 826 Christian Danz. »Die Duplizität des Absoluten in der Wissenschaftslehre von 1804 (zweiter Vortrag): Fichtes Auseinandersetzung mit Schellings identitätsphilo­ sophischer Schrift ›Darstellung meines Systems‹«. Fichte-Studien 12 (1997), 335–350; bes. 339: »Indem der Begriff versucht, das Absolute zu vergegenwärtigen, verfehlt er es, und dies macht deutlich, daß der Begriff eigentlich nicht von uns negiert wird, sondern daß er durch die Selbstkonstitution des Absoluten in unserer Einsicht negiert wird.« Diese Aussage ist vollkommen richtig und vermag, die Absolutheitsspekula­ tionen Fichtes transparent zu machen. Gewarnt sei an dieser Stelle gleichwohl vor der Gefahr, Fichte einen Schöpfungsgedanken zu unterstellen: Wenn nämlich das Abso­ lute den Begriff absetzt, schöpft es ihn dann nicht? S. dazu die folgende Argumentation, bes. § 46. 824

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zen des Begriffes.827 Die Lebendigkeit hält Begreifen und Begriff gewissermaßen auf Distanz, sodass das Begreifen immer nur auf seine Bedingung zurückverweisen kann. Die reine Lebendigkeit des Absoluten avanciert also offenbar zur Bedingung der Möglichkeit von Begriffsbildungen. Die absolute Abstraktion, die gewissermaßen auch als Negation der Negation begriffen werden kann, insofern schon im höheren Realismus eine Abstraktion vollzogen wird, fixiert unsere Einsicht, dass sich das Absolute »von sich[,] in sich, durch sich«828 selber konstruiert und nicht von uns konstruiert wird.829 Die Negation bekundet daher ›bloß‹, dass das Absolute den Begriff nicht an sich heranlässt. Die reine Lebendigkeit des »[V]on sich« lässt durch ihre kontrahierende Dynamik das Begreifen nicht an sich heran,830 wobei es uns auch in größter Intensität anzieht. Diesem schwer verständ­ 827 S. § 46. Der Begriff kommt nicht an das Absolute heran. Dieses trägt und leitet jeden Begriff. Fichte möchte hier nicht sagen, dass das Absolute jeden Begriff direkt setzt oder gar schöpft. Auch darf man diese Aussage nicht so verstehen, dass der Begriff erst gesetzt, und dann durchgestrichen wird. Es geht eher darum, dass das Absolute Bedingung der Begriffsbildung ist. 828 GA II/8, p. 229, lin. 29. Johannes Brachtendorf hat das Absolute Fichtes passend als »Aseität« beschrieben (Fichtes Lehre vom Sein, 248–256). Freilich ist diese Position Fichtes innerhalb der Philosophiegeschichte nicht neu: S. etwa Eriugena: Periphys. I lin. 3156–3175 (PL 122, 515D-516B). Cusanus: De doc. ign. II c. 2; h I, p. 65, lin. 13–15: »Docuit nos sacra ignorantia in prioribus nihil a se esse nisi maximum simpliciter, ubi a se, in se, per se et ad se idem sunt: ipsum scilicet absolutum esse«. Vgl. auch Meister Eckhart, der fast dieselben Worte wie Fichte findet: Expositio libri Exodi n. 158; LW II, p. 140–141; bes. p. 140, lin. 8–9: »[I]n quo et per quem et a quo sufficit omnibus«. Vgl. auch Prologus generalis in Opus tripartitum n. 8; LW I.2, p. 27, lin. 1–2: »Ab ipso igitur esse ›et per ipsum et in ipso sunt omnia‹, ipsum non ab alio.« Zurückzuführen sind »von sich, in sich und durch sich« letztlich auch auf den neutestamentarischen Römerbrief 11, 36: »ὅτι ἐξ αὐτοῦ καὶ δι᾽ αὐτοῦ καὶ εἰς αὐτὸν τὰ πάντα.« 829 Daher muss man bei Fichte auch von einer Evidenzerfahrung sprechen. Denn wir konstruieren die Evidenz nicht aktiv – und doch ereignet sie sich in uns nach dem methodisch kontrollierten Durchgang durch alle möglichen Wissensformen. – Man könnte im Hinblick auf Fichte freilich auch von einer »performative[n] Vollzugsevidenz des Philosophierens« sprechen (Peter L. Oesterreich. »Die Rede vom Absoluten in der Spätphilosophie Fichtes«. Fichte-Studien 17 (2000), 169–188; hier 181), insofern wir aufgefordert sind, energisch zu denken und das Denken mit eigenem Leben zu füllen. Gleichwohl ist das Gleißen des Evidenzlichtes die Tat des Absoluten selber und lässt sich von uns und unserem energischen Denken nicht dominieren oder ursprünglich konstruieren. 830 Die innere Dynamik absoluten Lebens wendet sich nicht dem Begreifen zu: Die Dynamik des Absoluten hat nämlich, wie wir sehen konnten, keinen Bezug zum Begriff, zum Bild oder zur Erscheinung. Es gilt vielmehr umgekehrt, dass das Begreifen

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lichen Grundgedanken wollen wir im Folgenden nachspüren. Doch bevor wir uns dieser Aufgabe stellen, muss zunächst ein Überblick über das Verhältnis der Anweisung zu Fichtes Wissenschaftslehren gegeben werden.

§ 41) Fichtes späte Wissenslehre und die Anweisung zum seligen Leben Die Anweisung831 ist fraglos eine religionsphilosophische Schrift. Allerdings wird ihr in der Forschung für die Deutung und Analyse der späten Wissenschaftslehren eine nur geringe Bedeutung beigemes­ sen. Das hängt mit zwei allgemein verbreiteten Vorstellungen zusam­ men: Erstens sei die Anweisung, was Fichte freilich selber konstatiert, nur ein populärer Vortrag und weise daher nicht annähernd die hohe Komplexität der Wissenschaftslehren auf. Außerdem, worauf in der Forschung immer wieder gerne hingewiesen wird, handele es sich bei der in der Anweisung vertretenen Position bloß um eine religiöse einen Bezug auf das Absolute aufweist – oder noch genauer: Das Begreifen verweist über seine Grenzen hinaus. 831 Björn Pecina geht zu Recht davon aus, dass die Anweisung durch die Wissen­ schaftslehre 21804 fundiert ist (Fichtes Gott, 225). Auch Frédéric Seyler betont ihre sachliche Nähe zueinander, etwa im Hinblick auf das Begreifen des Unbegreiflichen als solches: Fichtes ›Anweisung zum seligen Leben‹: Ein Kommentar zur Religionslehre von 1806. Freiburg im Breisgau/München: Karl Alber, 2014, 182. Überblickend zur Religionsphilosophie bei Fichte s. Hansjürgen Verweyen. »Fichtes Religionsphiloso­ phie: Versuch eines Gesamtüberblicks«. Fichte-Studien 8 (1995), 193–224. Neben den bereits genannten Werken ist bei der Analyse der Anweisung auch auf folgende Studien zu achten: Edith Düsing. »Sittliches Streben und religiöse Vereinigung: Untersuchungen zu Fichtes später Religionsphilosophie«. In: Walter Jaeschke (Hg). Religionsphilosophie und spekulative Theologie: Der Streit um die Göttlichen Dinge (1799–1812). Hamburg: Felix Meiner, 1994, 98–128. Hartmut Traub. »Vollendung der Lebensform: Fichtes Lehre vom seligen Leben als Theorie der Weltanschauung und des Lebensgefühls«. Fichte-Studien 8 (1995), 161–191. Asmuth: Das Begreifen des Unbegreiflichen, 100–134. Quero-Sánchez: Sein als Freiheit, 308–328. Öster­ reich/Traub: Der ganze Fichte, 303–330. Pecina: Fichtes Gott, 225–346. Rolf Kühn. »›Fleisch‹ und persönliches Dasein: Fichtes Religionslehre des ewigen Wortes«. In: Markus Enders und Rolf Kühn (Hg). ›Im Anfang war der Logos…‹: Studien zur Rezeptionsgeschichte des Johannesprologs von der Antike bis zur Gegenwart. Freiburg im Breisgau/Basel/Wien: Herder, 2011, 175–205. Die Anweisung zum seligen Leben, oder auch die Religionslehre. Hrsg. von Hansjürgen Verweyen. Hamburg: Felix Meiner, 2012, xiii–lxvii. S. ferner Michael Gerten. »Zum Verhältnis von Wissen, Moralität und Liebe beim späten Fichte«. Fichte-Studien 17 (2000), 299–318; bes. 311–318.

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Ansicht, also um eine Ansicht, die aus dem Standpunkt der Religion, also aus dem vierten und damit nicht aus dem höchstmöglichen Standpunkt, die Welt und das Sein zu betrachten, heraus geschrieben worden sei.832 Der höchste Standpunkt sei nämlich Fichtes Wissens­ lehre vorbehalten. Es ist sicherlich gar nicht von der Hand zu weisen, dass Fichte die in der Anweisung artikulierte »Wahrheit« gewissermaßen als Propädeutik philosophischer Untersuchungen charakterisiert.833 In dieser Eigenschaft thematisiert die Anweisung gleichwohl die eine Wahrheit, sodass sie durchaus als Maß für die Beurteilung der nach Fichte höchsten menschenmöglichen Einsicht begriffen werden darf. Auf dem Weg zu dieser höchsten Einsicht sei, so Fichte, bereits Platon gewesen, dessen Philosophie er »heilig« spricht.834 In der direkten Folge gesteht Fichte sogar freimütig zu, dass die heilige Philosophie des Johannesevangeliums dasselbe lehre wie er selber.835 Wenn die Anweisung nun das Ziel verfolgt, »rein und einfach […] die Wahrheit« auszusprechen,836 es für Fichte aber nur eine Philosophie und inner­ halb dieser nur eine Wahrheit geben kann,837 dann artikuliert die Anweisung nichts anderes als die Quintessenz der Wissenschaftslehre selbst.838 Zwar betont Fichte, dass sich der wissenschaftliche Vortrag von dem des populären unterscheide: In der Wissenschaft gehe es darum, einer Position eine Gegenthese gegenüberzusetzen. Aus dieser dichotomen Grundposition müsse man durch die Überwindung der jeweiligen konkreten Gegensätze herauskommen. Daraus ergibt sich ein stetes Fortschreiten, das aber letztlich – ganz im Sinne der Proklischen Aussagen in der Stoicheiôsis theologikê – irgendwann einmal enden muss, will Fichtes Lehre sich nicht im infiniten Regress Diese religiöse Ansicht ist ferner »faktische Evidenz« (Janke: Fichte: Sein und Reflexion, 283). 833 GA I/9, p. 71–72. 834 GA II/9, p. 157–158 835 GA I/9, p. 73. – Fichte gesteht sogar Goethe und Schiller diese Einsichten zu. 836 GA I/9, p. 72. Genauso formuliert Fichte bereits 1804 die Aufgabe seiner Lehre (GA II/8, p. 8, lin. 4). 837 GA II/8, p. 10, lin. 14–19. 838 Fichte schreibt an Jacobi, seinen »verehrungswürdigste[n] Freund«, dass er »besonders in der Anweisung ec. die Resultate« seines »Denksystems klar ausge­ sprochen« habe (GA III/5, p. 354, lin. 15–16). Fritz Medicus hebt in seiner Einleitung zur Anweisung zum seligen Leben (ND Hamburg: Felix Meiner, 1970, iii) hervor, dass sie als »eines der reifsten und tiefsten Werke der gesamten Literatur der Menschheit« zu gelten habe. 832

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2) Die Liebe in Fichtes Anweisung

selber widerlegen. Man kann aber nun freilich auch in der Anweisung die Methodik des Entgegensetzens und Abstrahierens beobachten. Insofern also in der Anweisung die Methodik der Fichteschen Wis­ senschaft angewendet wird, unterscheiden sich Anweisung und Wis­ senschaftslehre nur im Grad des Details, nicht aber grundsätzlich for­ mal oder inhaltlich. Daher kann man die These vertreten, dass es sich bei der Anweisung weniger um eine bloß religiöse Ansicht, die Welt zu nehmen, sondern um eine religionsphilosophische Schrift han­ delt,839 die die späte Lehre Fichtes als philosophische Theologie aus­ weist.840 Es lässt sich sogar die These formulieren, dass in der Anwei­ sung die Essenz der Fichteschen Philosophie trotz ihrer auch von ihm betonten Faktizität dargelegt wird. Dieser Umstand wird sich im fol­ genden Kapitel erhellen lassen.

2) Die Liebe als transzendent-immanenter Einheits- und Disjunktionspunkt in Fichtes Anweisung § 42) Die Liebe als Streben und als Gottesbegriff Fichte entwirft, so muss zunächst einmal festgehalten werden, einen doppelten Liebesbegriff.841 Einerseits nimmt er im Rückgriff auf die Platonische Tradition des ἔρως ein Streben zum Absoluten an: 839 Sie kann dergestalt als Ausgleich von religiöser und wissenschaftlicher, d.h. philosophischer, Sichtweise begriffen werden. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Fichte die Anweisung sogar im Hinblick auf die tiefe Religiosität seiner Frau, Marie Johanne Fichte, konzipiert hat, um zu demonstrieren, dass sich (ihre) Religion und (seine) Philosophie im Grunde nur in der Form unterschieden. M. J. Fichte hörte die Vorlesungen der Anweisung (GA I/9, p. 4). 840 Völlig zu Recht fasst Wilhelm Weischedel daher Fichtes Philosophie als »Philo­ sophische Theologie«: Der Gott der Philosophen: Grundlegung einer Philosophischen Theologie im Zeitalter des Nihilsmus. Vol. 1, Wesen, Aufstieg und Verfall der Philosophi­ schen Theologie. ND Darmstadt: WBG, 1998, 221–245; bes. 245, wobei Weischedel Fichtes Philosophie als gescheitert ansieht. Diese Ansicht scheint aus Weischedels Unverständnis für die Transzendenz und vor allem ihrer produktiven Bedeutung zu resultieren. 841 Diese Doppelung wird schon in der ersten Vorlesung deutlich (GA I/9, p. 55–66). Einerseits wird dort der Begriff der Seligkeit eingeführt; GA I/9, p. 55, lin. 17–19: »Das Leben ist selber die Seeligkeit, sagte ich. Anders kann es nicht seyn; denn das Leben ist Liebe, und die ganze Form und Kraft des Lebens besteht in der Liebe, und entsteht

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IV) Der Einheits- und Disjunktionspunkt in der Wissenslehre J. G. Fichtes

»Folgendes ist überhaupt das Verhältnis der Erscheinung, oder des Wirklichen und Endlichen, zum absoluten Seyn, oder zum Unendli­ chen und Ewigen. Das [...], welches die Erscheinung tragen, und im Daseyn erhalten müsse, wenn sie auch nur als Erscheinung daseyn solle [...], ist die Sehnsucht nach dem Ewigen. Dieser Trieb, mit dem Unvergänglichen vereinigt zu werden, und zu verschmelzen, ist die innigste Wurzel alles endlichen Daseyns, und ist in keinem Zweige dieses Daseyns ganz auszutilgen, falls nicht dieser Zweig versinken soll in völliges Nichtseyn.«842

Andererseits integriert er auch das Konzept einer reinen Gottesliebe in seine Lehre.843 So spricht er von einer Liebe Gottes »zu sich selber«:844 Gott affiziert sich selber und wendet sich im Akt reiner Liebe auf sich selbst, ohne sich aber, was zunächst erstaunlich wirken mag, zu reflektieren. Denn diese Gottesliebe liegt »hinter aller Reflexion«845 und ist »höher, denn alle Vernunft«846. Sie ist die ultimative Erfüllung des erwähnten Sehnens. Der Mensch, so Fichte, gelange nur in der Erfahrung dieser Liebe zur Seligkeit.847 Damit gemahnt Fichtes absolute Liebeskonzeption an die Ausführungen vor allem christli­ cher Neuplatoniker, etwa an diejenigen Dionysios’, Eriugenas und Cusanus’. Schon allein Fichtes religionsphilosophische Terminologie erinnert ganz unzweideutig an die Liebes- und, so muss hinzugefügt werden, Lichtspekulationen der neuplatonischen Tradition. aus der Liebe.« Andererseits spricht Fichte ebenda auch von einer Sehnsucht, die als solche unverkennbar an die Tradition des Platonischen ἔρως gemahnt. 842 GA I/9, p. 59, lin. 31 – p. 60, lin. 2; Hervorh. Roh. Vgl. GA I/9, p. 71–72. In seinem Werk über das Wesen des Gelehrten bezeichnet er das Streben, den Grund-Trieb, ganz im Sinne von Proklos als »ein Uebernatürliches, nach einem andern Uebernatürlichen Hinziehendes im Menschen« (GA I/8, p. 81, lin. 14–15). 843 Etwa GA I/9, p. 173, lin. 18–24. 844 GA I/9, p. 166, lin. 32; vgl. p. 170, lin. 1. – Das Absolute ist reines Leben und reine δύναμις. Dieses Leben ist ganz in sich geschlossen. Da es nicht tot und ganz in sich selber ist, bewegt es sich in sich zu sich: Es kann daher auch als Liebe zu sich selber begriffen werden. Diese Liebe ist aber nicht egoistisch, denn sie ist, wie wir noch sehen werden, die Bedingung der Möglichkeit des Selbstbezuges des Wissens. Jeder Wis­ sensakt, so können wir insbesondere in den § 46–47 sehen, wird durch sie bedingt. 845 GA I/9, p. 167, lin. 32 und 33–34. 846 GA I/9, p. 167, lin. 36. 847 GA I/9, p. 173, lin. 14–24. – Wie bei Plotin, Proklos und den christlichen Neu­ platonikern geht es auch bei Fichte um eine höchste Erfahrung, die das Wissen im Grunde transzendiert, aber doch höchste Vernünftigkeit bedeutet, weil in ihr die Quelle höchsten Wissens liegt; etwa De div. nom. II § 9; CD I, p. 134, lin. 1–2: »οὐ μόνον μαθὼν, ἀλλὰ καὶ παθὼν«.

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2) Die Liebe in Fichtes Anweisung

Bei diesen bloß terminologischen Übereinstimmungen enden jedoch die Parallelen nicht, sondern sie lassen sich sachlich erweitern. Um dies zu verdeutlichen, muss die komplexe Frage in Anschlag gebracht werden, wie erotische Liebe und göttliche Selbstliebe mit­ einander in Beziehung stehen. Ihr Verhältnis zueinander ist alles andere als leicht verständlich, aber die Einsicht in ihre spezifische Verschränkung ist eine Spezialität der neuplatonischen Tradition und kann daher helfen, die Frage zu klären, inwiefern Fichte wenigstens sachlich in diese eingeordnet werden kann. Fichte verknüpft beide Liebesbegriffe, indem er ein sich sukzessiv reinigendes Sehnen ganz im Sinne des Platonischen Symposion kon­ statiert, wobei er in letzter Konsequenz den Fokus des sich Sehnenden bzw. Strebenden auf immer nur anderes überschreiten möchte. Würde es uns nämlich, wie Fichte ausführt, immer nur »anders« werden, wür­ den wir uns also immer nur auf etwas beziehen, das durch Differenz zu unserem vorherigen Gemütszustand geprägt wäre, könnten wir niemals zur Seligkeit durchbrechen.848 Vielmehr geht es Ficht um eine »Sammlung des Gemüthes« und »die Einkehr desselben in sich sel­ ber«,849 wodurch gerade das Postulat verwirklicht wird, »unsere Liebe aus dem Mannigfaltigen auf das Eine« zurückzuziehen.850 In wün­ schenswerter Klarheit wird dadurch der Aufstieg zur beseligenden Liebe in der Anweisung mit dem Aufstieg zur Übergegensätzlichkeit in der Wissenschaftslehre 21804 verknüpft. Fichte entwirft in der Anwei­ sung sogar eine Argumentationskette, die aus der Dichotomie von Sein einerseits und Daseins andererseits hinausführen soll. Dadurch wird die sog. Popularität der Anweisung aufgebrochen, denn Fichte verwendet auch in der Anweisung Argumentationsmuster, die er laut seiner eigenen Aussage in der zweiten Vorlesung der Anweisung eigentlich der Wissenslehre allein vorbehalten wollte.851

GA I/9, p. 60, lin. 14 – p. 61, lin. 34. GA I/9, p. 64, lin. 12–13. 850 GA I/9, p. 64, lin. 5. – Wenn wir in diesem Analyse- und Rückführungsprozess zu bestimmten Einsichten kommen und – ethisch gewendet – in einem bestimmten Moment gar Glück verspüren, so müssen wir Einsicht und Glücksgefühl stets weiter analysieren. Fichte mahnt uns zur Frage, ob es uns vielleicht nur »anders« geworden sein könnte. Solange die Mannigfaltigkeit, das Relationsgefüge, nicht überschritten wurde, sind wir nicht im höchsten Punkt, sondern bei derivativen Einsichten, Seinsund Lebensformen angekommen. 851 GA I/9, p. 71, lin. 22–36. 848

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IV) Der Einheits- und Disjunktionspunkt in der Wissenslehre J. G. Fichtes

Der Konstruktion einer Grunddichotomie folgt ihre Überwin­ dung durch die Abstraktionsmethode, die als solche auch benannt wird, wenn Fichte etwa darauf hinweist, dass die jeweils höheren Standpunkte, das Sein und die Welt zu betrachten, die jeweils niede­ ren Perspektiven »vernichte[ten]«.852 So übersteigt der Standpunkt der Legalität, womit u.a. das Kantsche Sittengesetz gemeint ist, den niedersten Standpunkt des Materialismus oder Sensualismus (i). Die Legalität (ii) wiederum wird von der »höheren Moralität« (iii) und diese wiederum durch den Standpunkt der Religion (iv) transzendiert. Der höchste Standpunkt (v) entspricht natürlich Fichtes Wissenslehre, die er aber dem Inhalt nach mit dem Standpunkt der Religion koinzidieren lässt.853 Letztlich kulminiert der Aufstieg der Anweisung in der höchsten Einsicht, die Fichte in der zehnten Vorlesung präsentiert. Hierbei kommt es, was zunächst so überraschend wie ungewöhnlich klingen mag, zu einer gewissen ›Verschiebung‹ des Absoluten. Im Zuge dieses Argumentes scheint Fichtes Absicht durch, das Sehnen oder Streben zum Absoluten so zu wenden, dass der Mensch Seligkeit zu erreichen vermag. Noch wichtiger aber ist, dass die Argumentation Fichtes das Verhältnis der beiden Liebesbegriffe zueinander aufklären kann, wodurch auch die systematischen Parallelen zur neuplatonischen Tradition hervortreten. Insbesondere die erwähnte ›Verschiebung‹, die sich wie folgt illustrieren lässt, kann die erstaunliche Nähe der GA I/9, p. 109, lin. 13. Die fünf Standpunkte werden in der fünften Vorlesung (GA I/9, p. 104, lin. 17 – p. 114, lin. 20) vorgestellt und im Verlauf, von der siebenten bis zur zehnten Vorlesung, aufgegriffen und im Detail erörtert. Im sukzessiven Durchgang durch die Seinsperspektiven, so sei hier angemerkt, werden die niederen freilich nicht einfach getilgt, sondern in die jeweils höheren bzw. in den höchsten aufgenommen und aufgehoben. – Inwiefern diese Standpunkte mit den fünf Idealismus- bzw. Realis­ musformen der Wissenschaftslehre 21804 übereinstimmen, ist zwar bereits diskutiert (Seyler: Fichtes ›Anweisung‹, 99–119 und 139–180), aber gleichwohl nicht vollständig aufgeklärt worden. Grundsätzlich darf aber davon ausgegangen werden, dass die jeweiligen Positionen weitgehend übereinstimmen. So entspricht der Standpunkt der höheren Moralität weitgehend dem höheren Idealismus, der bloß faktische religiöse Standpunkt weitgehend dem höheren Realismus. Das bedeutet nun aber nicht, dass die Aussagen der zehnten Vorlesung der Anweisung, die freilich als faktische vorgetragen werden, nicht auch der höchsten Einsicht der Wissenschaftslehre 21804 entsprächen. Dass die Aussagen der zehnten Vorlesung nicht nur rein dem Inhalt nach den höchsten Einsichten der Wissenschaftslehre 21804, sondern wenigstens ansatzweise formal der Methodik der genannten Wissenschaftslehre entsprechen, soll im Folgenden gezeigt werden. 852

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2) Die Liebe in Fichtes Anweisung

spätantik-neuplatonischen und der Fichteschen Absolutheitslehre hervortreten lassen: Fichte stellt zunächst die bereits bekannte Grunddichotomie erneut auf: »Das Seyn – ist da«854. »Das Daseyn des Seyns«, so prä­ zisiert Fichte, »ist notwendig Bewußtsein, oder Reflexion«.855 Schon in der dritten Vorlesung der Anweisung hatte Fichte die Reflexion als Kernelement des (Selbst-)Bewusstseins ausgewiesen.856 Dieses wie­ derum wurde als das Bewusstsein vom Bewusstsein bestimmt. Darin geht dem Wissen auf, dass alles Wissen stets die Struktur aufweist, ›Wissen von x‹, also Wissen von einem beliebigen Objekt, zu sein.857 Der Stellvertreter ›x‹ kann, so sollte präzisierend hinzugefügt werden, sowohl ein beliebiges Objekt als auch das sich selber wissende Subjekt meinen. In letzterem Fall kann Fichte die dual erscheinende Struktur, das Bewusstsein des Bewusstseins, in die Drei- bzw. Fünffachheit überhöhen: Das Wissen (1) weiß (2) sich selber (3) – oder: Das Wissen (1) weiß sich (2) als (3) Wissen (4) von sich (5).858 Fichte, so kann hier hinzugefügt werden, erweitert die neuplatonische Triadik also zu einer Pentalogie, wobei er aber an den Grundfesten des spätantiken Neuplatonismus in bemerkenswerter Klarheit festhält:859

GA I/9, p. 166, lin. 1. GA I/9, p. 166, lin. 1–2. 856 GA I/9, p. 85–88. 857 Damit trifft sich Fichte mit Plotin, für den »alles innen«, also in der Wissensim­ manenz, ist (Enn. III 8, 6). So muss die Seele, das ist unser eigenes dianoetisch-dis­ kursives Denken, lernen, dass alles von ihr Angeschaute in der Immanenz bewussten Anschauens liegt und bleibt. Der Akt des Anschauens impliziert also keine extramen­ tale Bezugnahme. Sogar das Absolute wird, wie wir gesehen haben (§ 12), in die Bewusstseinsimmanenz des Wissens integriert, insofern es im unserem henologi­ schen Streben erfahren wird – woraus uns letztlich das wissende Nichtwissen erwächst. 858 Oder noch einmal anders gewendet: Das Bewusstsein weiß sich als aktives Bilden seines eigenen Selbst und Bild des Absoluten. – Grundlegend für das Verständnis des Wissens als Bild des Bildes des Bildes (B3) und als Fünffachheit s. Janke: Vom Bilde des Absoluten, 131–132 und Paimann: Die Logik und das Absolute, 444–481; bes. 455. 859 Der Einschätzung Christian Danz’, nach der sich Fichtes Bildlehre aufgrund der »Dreistelligkeit« von der Platonischen unterscheide, ist vor diesem Hintergrund zurückzuweisen (»Das Bild als Bild: Aspekte der Phänomenologie Fichtes und ihre religionstheoretische Komponente«. Fichte-Studien 18 (2000), 1–17; hier 3). Darüber hinaus muss in Frage gestellt werden, ob das Bild im Platonismus einfach im Sinne einer »Abbildtheorie« verstanden werden sollte. Wie gezeigt gibt es im Platonismus gerade aufgrund der postulierten Transzendenz des Absoluten eine transzendente Bildkonzeption, die keine einfache Repräsentation eines vermeintlich extramentalen Objektes meint. 854

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IV) Der Einheits- und Disjunktionspunkt in der Wissenslehre J. G. Fichtes

Er entwirft mit seiner Fünffachheit kein »Reflexionsmodell« des Selbstbewusstseins,860 sondern eine intellektuelle Anschauung, in der sich das absolute Wissen als simultane Einheit der genannten Momente durchdringt. Der Absolutheitsbezug, der schon für die νόησις Plotins konstitutiv ist, wird im Wissen – wie im Folgenden zu zeigen sein wird – bewahrt, sodass die Pointe intellektueller Anschau­ ung, absoluten Wissens und Selbstbewusstseins folgendermaßen formuliert werden muss: Fichte kommt es nicht einfach auf eine Selbstbeschau des Wissens, sondern auf die Einsicht in dessen Genese an: Transzendenzbezug und Selbstbezug sind demnach untrennbar miteinander verknüpft, aber so, dass der Transzendenzbezug zum genetischen Punkt des Selbstbezuges absoluten Wissens avanciert. Fichte verbindet Sein und Dasein ganz unzweideutig, indem er den Ort der Dichotomie in das Dasein, also das Bewusstsein, setzt und so Sein und Dasein zu einer relationalen Viel-Einheit macht.861 Daraus entsteht Fichte aber letztlich ein Grundproblem, das wir aus der Diskussion des höheren Idealismus und des höheren Realismus bereits kennen: Im Dasein wird das Absolute begrifflich erfasst. Indem es aber begrifflich gefasst wird, wird es durch die Form konturiert und zu einem »Wesen«, also »in eine stehende Bestimmtheit«862, transformiert.863 Daraus folgt, dass »das, was Wir selbst, und Für uns selbst sind, haben und besitzen, – in der Form unsrer selbst, des Ich, der Reflexion, im Bewußtseyn, – niemals das Seyn an sich«, sondern nur »das Seyn, in unsrer Form, als Wesen« sein kann.864 Hierdurch wird erneut ein Abgrund aufgebrochen, der Sein und Dasein voneinander trennt. Dadurch wird nun aber die Frage Dieter Henrich hat in seinem Werk Fichtes ursprüngliche Einsicht in erhellender Kürze dargelegt, inwiefern Fichte die Mängel des Reflexionsmodells des Selbstbe­ wusstseins aufgedeckt und überwunden hat. Henrichs Arbeit ist kürzlich von ihm kommentiert und neu herausgegeben worden (Dies Ich, das viel besagt, 1–49; bes. 15– 19). – Interessanterweise kann der Geist bei Plotin analog zu Fichtes Bild-Konzeption als das sich selber Setzende verstanden werden. Indem es hervorgeht, sich also aus sich zu sich selber wendet, ist es ›zunächst‹ unbestimmt und setzt sich in der Rückwendung zu sich selber als bestimmt. 861 GA I/9, p. 166, lin. 4–8. Vgl. GA I/9, p. 87, lin. 33 – p. 88, lin. 7. 862 Die stehende Bestimmtheit ist der leere Begriff von Gott, dem seine Macht gewissermaßen ›geraubt‹ wird, wenn wir einen Begriff von ihm bilden: Der Begriff ist nämlich nicht mächtig, sondern ohnmächtig. Er ist das Produkt der Ursprungskraft, nicht aber diese Kraft selbst. 863 GA I/9, p. 166, lin. 8–17; hier lin. 8–10. 864 GA I/9, p. 166, lin. 14–17. 860

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drängend, »wie«865 die beiden Momente zusammenhängen: Könnten sie etwa durch Schöpfung zusammenhängen, sodass aus dem Sein das Dasein folgt? Entsteht so vielleicht sogar ein neues Sein? Die Möglichkeiten einer Schöpfung, einer Kausalkette, einer Entstehung neuen Seins und einer Emanation 866 werden von Fichte aber explizit verneint.867 In der Anweisung entscheidet er sich dafür, nicht nach dem »Wie« zu fragen – auch wenn er in der Anweisung die Frage nach dem »Wie« nicht vollständig beiseite lässt –,868 sondern das bloße »Daß«869 zu setzen: Sie hängen faktisch ›irgendwie‹ zusammen – und 865 GA I/9, p. 166, lin. 17–23. – Genau genommen gibt es bei Fichte ein zweifaches »Wie«: Erstens stellt sich die Frage, wie wir den Einheits- und Disjunktionspunkt einsehen können und, zweitens, wie Disjunktionsglieder im und durch den Einheitsund Disjunktionspunkt zusammenhängen. 866 Das Konzept der Emanation spielt, wie oben bereits gesagt, in der Henologie des spätantiken Neuplatonismus schlicht keine Rolle. 867 GA I/9, p. 88, lin. 17–27 und bes. p. 119, lin. 1–18. Zur Kritik am Konzept der Schöpfung s. auch Kühn: »›Fleisch‹ und persönliches Dasein«, 178–182. 868 Die Frage nach dem »Wie« wird der Wissenschaftslehre vorbehalten. Das »Wie« wird in der Anweisung nur angedeutet, wenn auch vernehmbar für diejenigen, die die Wissenschaftslehren Fichtes kennen: Durch den Überstieg vermittels der absoluten Abstraktion wird der Zusammenhang ersichtlich. Weil das »Wie« aber nur angedeutet wird, wir uns also dem Verfahren nicht explizit zuwenden, bleibt die Einsicht in der Anweisung faktisch (vgl. Janke: Fichte: Sein und Reflexion, 283). Und doch muss weiterhin betont werden, dass mit der ›Bestimmung‹ der Liebe als Einheits- und Disjunktionspunkt das »Wie« des Zusammenhangs von Disjunktionsgliedern durch­ aus erhellt wird. Fichte deutet die Liebe als das Verborgene »hinter« der Reflexion, als transzendente Übergegensätzlichkeit und als reinen Vollzug und betont sogar, dass die Liebe nur negativ bestimmt werden könne. Damit geht die Anweisung bis zu einem gewissen Grad durchaus über die bloß faktische Evidenz des religiösen Standpunktes hinaus. Vgl. dazu Fichtes »Beilage zur sechsten Vorlesung«; GA I/9, p. 188–193; bes. p. 191, lin. 13 – p. 192, lin. 20. Darin wird deutlich zwischen Jesus, der keine Spekulationen vollziehen musste, um seine Einheit mit Gott zu leben, und dem Philosophen unterschieden. Letzterer leitet seine Einsichten aus dem Begriff ab, nicht aber, wie Jesus, aus seinem unmittelbaren »Selbstbewußtseyn«. Der Anspruch Fichtes in der Anweisung besteht nun aber gerade darin, die »Vernunftwahrheit«, die eben jener Jesus unmittelbar aus sich selber schöpfen konnte, vermittels der Methode der Abstraktion aufzudecken. Genau deshalb nimmt die Anweisung eher eine Mittelposition im Œuvre Fichtes ein: Sie ist weder bloß faktisch, noch rein genetisch und weder rein populär, noch rein wissenschaftlich. 869 Die Erscheinung Gottes ist für Fichte Faktizität oder gar Notwendigkeit; so etwa Brachtendorf: »Der erscheinende Gott«, 245. – Die Entstehung des Daseins aus dem Absoluten, über die Fichte also offenbar nachdachte, lässt sich nicht begreifen. Mithin bleibt nur übrig, die Faktizität eines Hervorgehens zu statuieren. Fichte spricht gar von einem »Strahl, an welchem wir aus dem Unendlichen ausgehen« (GA I/6, p. 293, lin. 21). Wie dieser Hervorgang aber stattfindet, bleibt bei Fichte wie schon bei Plotin

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IV) Der Einheits- und Disjunktionspunkt in der Wissenslehre J. G. Fichtes

zwar durch ein »Band«, das aber höher als alle Reflexion ist und daher von der Reflexion schlicht nicht umfasst oder eingeholt werden kann. Dieses Band scheint »mit und neben« der Reflexion »auszubre­ chen«.870 Es ist Empfindung – oder genauer: die »Liebe Gottes«.871 Diese hält und trägt das Sein selber und ist der Selbstbezug absoluten Seins.872 Diese Liebe ist zugleich unsere Liebe zu Gott, wobei Fichte – wie vor ihm Eriugena – präzisiert: Eigentlich handelt es sich bei unserer Liebe zu Gott um einen Ausdruck der Selbstliebe Gottes »in uns«.873 »Gott«, so schreibt Eriugena, »liebt sich selbst und wird von sich selbst in sich selbst und in uns geliebt«. Er modifiziert dabei über seine neuplatonisch inspirierte Negationslogik den Lie­ besbegriff dergestalt, dass er die Liebe dem Absoluten eigentlich (proprie) zuschreiben kann, aber ohne zu ontologisieren, wodurch er die Transzendenz des Absoluten bewahren kann, obgleich das Absolute als uns immanent begriffen werden muss, weil es sich ja schließlich »in uns« liebt.874 Nach Fichte affiziert uns diese uns immanente Selbstliebe – oder anders formuliert: Die attraktive Gottesliebe kontrahiert uns auf unser Innerstes, in dem sie wohnt und wirkt. Wir werden dadurch

oder Proklos unbegreiflich (GA I/8, p. 74. GA I/9, p. 88, lin. 17–22. S. dazu Cürs­ gen: »Die Unbegreiflichkeit des Absoluten«, 105, Anm. 85). Aus diesem Grund kann vielleicht ein Hervorgang angenommen werden. Für die Genese absoluten Wissens aber spielt er – wie schon bei Plotin oder Proklos – eigentlich keine Rolle. 870 GA I/9, p. 166, lin. 23–30. 871 GA I/9, p. 166, lin. 26. – Schon Michael Gerten hat zu Recht auf den inneren Zusammenhang des von Fichte in der Bestimmung des Menschen thematisierten »geistigen Bandes« und der »Liebe« in der Anweisung verwiesen (»Zum Verhältnis von Wissen, Moralität und Liebe beim späten Fichte«, hier 312). 872 GA I/9, p. 166, lin. 28–29. Affekt des Absoluten sind seine eigene Liebe zu sich selber einerseits und unsere Liebe zum Absoluten andererseits. Der Mensch ist freilich aufgefordert zu erkennen, dass man durch das Absolute angezogen wird und in heftiger Erregung und Begeisterung zu diesem strebt. 873 GA I/9, p. 166, lin. 30–34. 874 Vgl. Meister Eckhart: Predigt 6; DW I, p. 113, lin. 2–3: »Man ensol got niht nehmen noch ahten ûzer im sunder als mîn eigen und daz in im ist.« Kurt Flasch übersetzt diese Stelle so; »Predigt 6: ›Iusti vivent in aeternum‹«. In: Georg Steer und Loris Sturlese (Hg). Lectura Eckhardi: Predigten Meister Eckharts von Fachgelehrten gelesen und gedeutet. Stuttgart: Kohlhammer, 2003, 29–51; hier 37: »Man soll Gott nicht denken oder achten als etwas außer uns, sondern als mein eigen und etwas, das in mir ist.« Eckhart sagt auch ganz deutlich; Predigt 6; DW I, p. 113: »Got und ich wir sint ein«, also »Gott und ich, wir sind eins« (ibid. p. 455).

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zu Gott ›hingezogen‹875, der in unserer Mitte, so ist durch die Überge­ gensätzlichkeit erwiesen, lebt. Die Gottesliebe wirkt also in uns und lässt uns zum Absoluten streben. Daraus folgt, dass sich das Absolute nicht mehr als bloße Substanzialität bzw. als Sein verstehen lässt, insofern das Sein als dem Dasein gegenübergesetzt gedacht und so zum Objekt stilisiert wird. Die Liebe Gottes der Anweisung ist nichts anderes als die Lebendigkeit des Absoluten der Wissenschaftslehre 21804: Die innere Dynamik Gottes ist daher das eigentliche Absolute. Nicht das stehende Sein ist Gott, das Fichte auch bloß als »A« bezeich­ net,876 sondern die Liebe ist das Absolute. Die Liebe avanciert zum »Absoluten«, weil sie allein die Reflexion trägt, aber stets »hinter« dieser verbleibt.877 Diese entscheidende Pointe im Aufstieg zum Absoluten lässt sich noch präzisieren: Die Liebe wird vor diesem Hintergrund zum »Durchkreuzungspunkt« des »A«, also des Seins, und des »B«, also des Daseins bzw. der Form.878 Der »Durchkreu­ zungspunkt« von Sein und Dasein ist damit der Punkt, worin sie beide zusammenhängen und worin ihre Unterscheidungsmöglichkeit liegt. Die Liebe des Absoluten avanciert zum Einheits- und Disjunk­ tionspunkt, weil sie Sein und Dasein zu »zweien« scheidet und »zu Einem« bindet.879 Man kann es auch so formulieren: Die Liebe ist weder das Da des Seins, noch das Sein, sondern deren verbindende und scheidende Mitte, also ›Da – Sein‹: In diesem Ausdruck erscheint es weder als ›Da‹, noch als ›Sein‹, sondern gewissermaßen als der im Begriff des ›Da – Seins‹ zum Ausdruck gebrachte Bindestrich, als

875 Es erfolgt, so können wir es im Angesicht der menschlichen Freiheit auch formu­ lieren, ein Aufruf des Absoluten, der permanent besteht. Unser intelligibles Auge wird also, wenn wir uns dem Aufruf hingeben, auf die Wurzel gewendet, wobei das Sehen des Auges sich am Absoluten bricht (s. dazu § 45–46). 876 GA II/8, p. 52, lin. 20–24: »Ich bin gefragt worden, ob sie [scil. die Wissenschafts­ lehre] nicht vielmehr in A stehe. Die bestimmteste Antwort ist, daß sie eigentlich und der Strenge nach in keinem von beiden, weder in der Einheit, noch in der Mannigfaltigkeit, sondern im Vereinigungspunkte beider steht. A für sich ist objektiv, und darum innerlich todt; so soll es nicht bleiben, sondern genetisch werden.« 877 GA I/9, p. 167, lin. 31–34; vgl. p. 167, lin. 10–20. 878 GA I/9, p. 166, lin. 35 – p. 168, lin. 3. – Fichtes Begriff des Daseins ist immer als Form zu verstehen. Das Sein, das im Neuplatonismus stets mit Form verknüpft ist, avanciert bei Fichte nur dann zum Absoluten, wenn es ent-kategorialisiert gedacht wird. 879 GA I/9, p. 166, lin. 35–36.

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›–‹.880 Es erscheint – noch einmal anders formuliert – im Da-Sein als immanente Transzendenz. Vor diesem Hintergrund kann Fichte in seiner Einleitung in die Wissenschaftslehre 1813 das Absolute als »Ueberseyn« apostrophieren und damit gegenüber seinem herkömm­ lichen Absolutheitsbegriff, dem Sein, transzendieren.881 Als Einheits- und Disjunktionspunkt kann die Liebe für Fichte sogar zur »Schöpferin unsers oft erwähnten leeren Begriffs eines reinen Seins, oder eines Gottes«882, zur »Wurzel der Realität«, zur »Schöpferin des Lebens« und zum »Grundstoff«883 der Reflexion erhoben werden. Und dabei »verbirgt« sie sich »hinter« aller Refle­ xion, sie ist »höher« als die Vernunft und daher ihre »Quelle«.884 So kann Fichte auch sagen, dass sich das Absolute nicht selber verstehe, sondern sich verständlich mache.885 Genau genommen müsste man daher sagen: Der Bindestrich ›ist‹ das Absolute. Der Bindestrich ist daher nicht der verbindende Denkakt, denn dieser ist, insofern er stets an die Subjekt-Objektivität gebunden ist, konkret. 881 GA II/17, p. 244, lin. 5–7: »Der Grund des Seyns, der eben darum weil er dies ist, nicht selbst wieder ist und ein Seyn ist. – Ein sich erweitern zum Ueberseyn.« – Der Ausdruck »Ueberseyn« erinnert keineswegs zufällig an Platons Sonnengleichnis, worin die Idee des Guten als ἐπέκεινα τῆς οὐσίας (Platon: Resp. VI 509B) gedeutet wird. Dass Fichte die Politeia und insbesondere das Sonnengleichnis gelesen hat, ist kaum zu bestreiten: Belegt wird Fichtes Kenntnis durch ein Exzerpt der Politeia. Dieses endet zwar mit dem Schluss des dritten Buches (GA II/17, p. 387–388). Dass Fichte aber die Lektüre nicht einfach abgebrochen hat, lässt sich plausibel machen. Zu beachten ist hierbei, dass Fichte auch Lehrsätze Platons rezipierte, die dieser in den hinteren Abschnitten der Politeia aufgestellt hat. So plädiert Fichte wie Platon für eine rein staatliche Erziehung des Nachwuchses, was einer Forderung entspricht, die in ihrer Radikalität den Zeitgenossen Fichtes unbekannt war. Mit anderen Worten: Für diese These Fichtes kommt als Quelle nur das fünfte Buch der Politeia infrage; GA II/15, p. 297: »Ich will aber die Ehen alle kinderlos! Auch alle ferneren Zusammenhang zwischen Eltern, u. Kindern aufgehoben, durchaus wie Platon. An die Stelle der Eltern treten die Erzieher.« Vgl. dazu Platon: Resp. V; bes. 460B–D. 882 GA I/9, p. 166, lin. 36 – p. 167, lin. 1. Vgl. GA I/9, p. 296, lin. 3–4. 883 GA I/9, p. 167, lin. 25–26. 884 GA I/9, p. 167, lin. 31–37. Aber schon in seiner Wissenschaftslehre 21804 kann Fichte schreiben; GA II/8, p. 74, lin. 16–18: »Die Liebe des Absoluten, oder Gottes, ist das wahre Element des vernünftigen Geistes, in welchem allein er Ruhe findet und Seligkeit«. 885 GA II/17, p. 142, lin. 8. – Fichte notiert am 15.01.1814; GA II/17, p. 196, lin. 31–32: »Es kommt darauf an zu zeigen, daß es nicht Gott sey, der sich verstehe, sondern, daß es seine absolute Erscheinung sey.« Und einen Tag später schreibt er; GA II/17, p. 197, lin. 33–36: »Sie [u.a. Spinoza; vgl. GA II/8, p. 115–117] haben alle verstehen wollen, wie die Welt, das ausser Gott, hervorgehe aus Gott. –. Weil sie aber nicht bemerkten, daß sie es verstehen wollten, also, daß es im Verstande 880

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Hiermit ist nach Fichte der »höchste[-] [...] Gesichtspunkt« sei­ ner »Seyns- und Lebens- und Seeligkeitslehre«, und also, so präzisiert Fichte noch einmal, »der wahren Spekulation«, erreicht.886 Diese höchste Einsicht ist von derjenigen der Wissenschaftslehre 21804, wie wir nun sehen können, nicht mehr zu unterscheiden, sodass die vorliegende religionsphilosophische Schrift die Kerngedanken der Fichteschen Spätphilosophie sehr wohl deutlich macht, nämlich die transzendente Übergegensätzlichkeit, Geschlossenheit, Unbe­

daraus hervorgehen sollte, daher ihre Irrthümer.« – Nebenbei bemerkt ist bei Spinoza die Liebe zu Gott unmittelbar mit der Gotteserkenntnis verknüpft: Wir lieben Gott, »insofern wir begreifen, dass Gott ewig ist [Deum aeternum esse intelligimus]« (Baruch de Spinoza. Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt. Lateinisch–Deutsch. Neu übersetzt, hrsg., mit einer Einleitung versehen von Wolfgang Bartuschat. Hamburg: Felix Meiner, 42015, Vol. 5, p. 576 (prop. 32 Cor.)). Derjenige also, dem dieses Begreifen verschlossen ist, kann Gott wohl auch nicht lieben. Wird aber die Liebe zu Gott bei Spinoza dergestalt nicht vom Begreifen abhängig gemacht? Und wird dem Absoluten dadurch nicht ein selbstreferentieller Erkenntnisakt unterstellt? Trotz der unübersehbaren Parallelen zu Fichtes Liebesbegriff (s. dazu Pecina: Fichtes Gott, 302–318) ist eine intellektuelle Gottesliebe nicht einfach mit Fichtes Diktum, wonach die Liebe »höher, denn alle Vernunft« sei (GA I/9, p. 167, lin. 35–36), kompatibel. Vgl. schon Janke: »Amor Dei intellectualis«, 100: »[D]ie Aufstellung einer substantia infinita setzt auf eine göttliche Substanzeinheit, die schlechthin unendlich und ohne Schranken, daher – nach Fichtes und Hölderlins Votum – ohne Selbstbewußtsein und Personalität ist. Darum streitet der Anfang bei einer absoluten Substanz ohne Intellekt und selbstbewußte Vernunft mit der Rede von einer intellektuellen Gottesliebe.« Dem­ gegenüber sind die Ausführungen Edith Düsings nicht ganz korrekt (»›Himmel der Vollendung‹? Fragmente über Liebe, Gott und Sein bei Hegel, Hölderlin und Fichte«. In: Edith Düsing und Hans-Dieter Klein (Hg). Geist, Eros und Agape: Untersuchungen zu Liebesdarstellungen in Philosophie, Religion und Kunst. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2009, 311–341; hier 338–339). Wir erkennen das Absolute nämlich nicht an ihm selber, können aber via abstractionis rekonstruieren, dass es in uns leben muss. Auch die Seligkeit, die Einheit mit Gott, lässt sich laut Fichte nicht direkt wissen, nur negativ beschreiben und unmittelbar fühlen (GA I/9, p. 173, lin. 18–24). – Zum Verhältnis Fichtes zu Spinoza s. Johannes Brachtendorf. »Substanz, Subjekt, Sein: Die Spinoza-Rezeption der frühen und der späten Wissenschaftslehre«. Fichte-Studien 30 (2006), 57–70. Birgit Sandkaulen. »Spinoza zur Einführung: Fichtes Wissenschaftslehre von 1812«. Fichte-Studien 30 (2006), 71–84. Vgl. auch Günter Zöller. »Fichte als Spinoza, Spinoza als Fichte: Jacobi über den Spinozismus der Wissenschaftslehre«. In: Walter Jaeschke und Birgit Sandkaulen (Hg). Friedrich Heinrich Jacobi: Ein Wendepunkt der geistigen Bildung der Zeit. Hamburg: Felix Meiner, 2004, 37–52. 886 GA I/9, p. 168, lin. 1–2; Hervorh. Roh.

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greifbarkeit, Innerlichkeit, da-seins-immanente Dynamik und reine Lebendigkeit des Absoluten, das »jenseits des Begriffes«887 wohnt. Vor diesem Hintergrund lässt sich eine Parallele zu Proklos’ Metaphysik ziehen. Wie oben bereits erwähnt, unterscheidet sich die Prinzipientheorie der Stoicheiôsis theologikê markant von derjenigen des Parmenideskommentars. Zur Erinnerung: In der Elementarlehre wird das Eine/Gute zwar als Prinzip aller Vielheit ausgewiesen. Und sicherlich wird dabei die Transzendenz des Einen/Guten sugge­ riert, jedoch nicht eigens thematisiert. Unreflektiert bleibt daher das Grundproblem des spätantiken Neuplatonismus, nämlich die Frage, ob das vollkommen transzendente Absolute überhaupt noch als Prin­ zip gedacht werden kann. Diese Frage erörtert Proklos bekanntlich anhand seiner negativen Theologik. Vor dem Hintergrund dieser komplexen Theorie kommt es zu einer gewissen ›Verschiebung‹ dessen, was wir als Prinzip aller Bestimmungen zu bezeichnen haben. Nicht das Eine ist der tragende Horizont aller Bestimmungen, son­ dern das transzendierende Negieren avanciert zum Einheits- und Disjunktionspunkt. Daher kann Proklos die Negationen im Parmen­ ideskommentar auch als »Mütter der Affirmationen« ›bestimmen‹ und ihnen eine »generierende« oder produktive Kraft zugestehen: Während also der Parmenideskommentar eine negativ-theologische Prinzipientheorie vorträgt, verbleibt die Stoicheiôsis theologikê im Stadium affirmativer Theologie. Verwiesen sei vor diesem Hintergrund auf die erstaunlichen Parallelen zu Fichte: Indem Proklos den Akt des reinen Negierens als Prinzip ›bestimmt‹, wird die affirmative Theologie der Stoicheiôsis aufgebrochen: Das Absolute ›rückt‹ gewissermaßen ›höher‹,888 wäh­ rend das Negieren die Funktion des tragenden Horizontes einnimmt. Mit anderen Worten nimmt das Negieren, das ich vor dem Hinter­ grund meiner Erörterungen zu Proklos auch als intelligiblen Geburts­ schmerz, als δύναμις πάντων oder ἀπειροδυναμία bezeichnet habe, exakt die Systemstelle ein, die bei Fichte der absoluten Liebe ent­ spricht: Denn in beiden Fällen handelt es sich um den Einheits- und Disjunktionspunkt, durch den einerseits Begeisterung (Proklos) bzw. Seligkeit (Fichte) erreicht werden und durch den andererseits die GA I/9, p. 97, lin. 13 und bes. lin. 34–36: »[J]enseits des Begriffes aber, d.h. wahrhaftig und an sich, ist nichts und wird in alle Ewigkeit nichts, denn der lebendige Gott in seiner Lebendigkeit.« 888 Vgl. GA II/8, p. 146, lin. 7–8: »Der Begriff rückt höher, das wahre Licht zieht sich zurück.« 887

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Welt der Vielheit und der Differenz bedingt wird. Im Folgenden gilt es, die Vielschichtigkeit und Komplexität von Fichtes Theorie des Einheits- und Disjunktionspunktes zu durchdringen. Zum besseren Überblick über die folgenden Spekulationen seien die entsprechenden Untersuchungsfelder an dieser Stelle skizziert. Die Attraktion des in uns lebenden und wirkenden Absoluten führt in letzter Konsequenz zur Seligkeit: Diese besteht im »unmit­ telbaren [F]ühlen« bzw. im Vollziehen der Gottesliebe.889 Damit es aber zu diesem Vollzug kommen kann, muss die Seligkeit zunächst einmal in immer intensiver werdender Konzentration auf unser Selbst, Ich oder Inneres entdeckt, freigelegt und verstanden werden: Der selige Mensch weiß vor diesem Hintergrund um seine Einheit mit Gott und – umgekehrt – um Gottes Unabtrennbarkeit vom Dasein. Das Mittel zur Entdeckung dieses Zusammenhangs ist das Negieren bezie­ hungsweise Transzendieren jeglicher Objektivation (§ 43). Und durch das Transzendieren kann eingesehen werden, dass das Absolute als reine Lebendigkeit zu verstehen ist. Wenn nun das Absolute als reine Lebendigkeit anerkannt wird, so können wir sogar die Spekulation wagen, dass das Absolute kraft seiner Selbstbezüglichkeit den Begriff absetzt – wobei diese Aussage freilich die Gefahr in sich birgt, das Absolute als Schöpfergott misszuverstehen (§ 44). Vor dem Hinter­ grund der Geschlossenheit des Absoluten lässt sich ferner konstatie­ ren, dass das Begreifen schlechthin am Absoluten scheitert. Dieses Scheitern ist bei Fichte – wie schon im spätantiken Neuplatonismus – positiv bewertet, denn nur durch es wird vollendetes Selbstbewusst­ sein generiert (§ 45). Bei genauerer Betrachtung wird letztlich klar, dass das Absolute, verstanden als unmittelbare Präsenz, uns dazu ermächtigt, zu begreifen und Begriffe zu bilden. Es ist dergestalt reines Vollziehen, reine Tätigkeit und reines Übergehen im Gegensatz zum toten Begriff oder Erkenntnisobjekt. In diesem Zuge kommt es auch zur Differenzbildung, also zur Ausbildung der Andersheit, der Viel­ heit und der Begriffe durch die Reflexion, die zur Durchführung dieser Akte vom Absoluten ermächtigt wird (§ 46). Aus diesen Überlegun­ gen heraus werden wir uns dem komplexen Bildbegriff Fichtes nähern: Fragen wollen wir, wie der Begriff des Bildes bei Fichte vor dem Hin­ tergrund seines Transzendenzkonzeptes zu verstehen ist: Haben wir es mit einem abbildenden oder mimetischen Bildbegriff zu tun? Aber inwiefern kann Fichte von einem Abbild(en) des Absoluten sprechen, 889

GA I/9, p. 173.

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wenn dieses doch vollkommen transzendent ist (§ 47)? In einem letz­ ten Schritt kehren wir noch einmal zur Seligkeit zurück, um diese im Hinblick auf Fichtes Umgang mit der unio mystica zu untersuchen. Dadurch wird auch Licht auf die Frage geworfen, wie das »Soll«, das zweifelsohne eine zentrale Funktion im Fichteschen Denken erfüllt, zu verstehen ist (§ 48).

§ 43) Die Erweckung der höchsten Einsicht Die Seligkeit und die Erfüllung unserer Sehnsucht, zum Absoluten zu gelangen, wobei Fichte das Sehnen auch als »heilsamen Stachel« bezeichnen kann,890 durch den wir uns von Materialismus, den niederen Formen der Seinsanschauungen und dem allgemeinen Welt­ schmerz lösen können, entdecken und erfahren wir aufgrund der bereits erwähnten Attraktivität des Absoluten. Durch diese Attrakti­ vität werden die sich intensivierende Konzentration auf unser Inneres und letztlich der Vollzug absoluter Abstraktion geleitet. Im Zuge dieser Konzentration brechen wir dann zur Seligkeit durch, wenn wir in der Überwindung von Idealismus und Realismus einsehen, dass wir nicht von der göttlichen Liebe getrennt sind, sondern vielmehr eine Einheit mit dem Absoluten bilden.891 Indem wir nämlich Idea­ lismus und Realismus und ferner jegliche Dichotomie übersteigen bzw. durch die absolute Abstraktion transzendieren, wird uns zu Bewusstsein gebracht, dass das Absolute über alle Gegensätze hinaus­ geht. Insofern wir im Abstrahieren einsehen, dass Gegensätze und Disjunktionen jeglicher Art überstiegen werden müssen, können wir konstatieren, dass eine Unterscheidung von absoluter Liebe einerseits und unserem Dasein andererseits unterlassen werden muss. Wo aber keine Dichotomie mehr konstatiert werden kann, können vermeintli­ che Abgründe und Trennungen nicht mehr angenommen werden: Die GA I/9, p. 134; vgl. 147, worin Fichte von einem »Trieb nach Glückseligkeit« spricht. Die Formel eines ›heilsamen Stachels‹ dürfen wir wohl durchaus auf die Sehnsucht übertragen, wodurch sich diese als erotischer ›Grundschmerz‹ im Sinne Proklos’ deuten lässt. 891 Das »Gute« umgebe uns fortwährend, sodass wir es daher nur anzurühren haben, um »im Augenblicke« selig zu sein (GA I/9, p. 172, lin. 5). Der »sichere Hafen« und die »unzerstörbarste Ruhe« (ibid. lin. 9) wird sich also dann wohl irgendwann einfinden, denn letztlich hat der Selige die ganze Unendlichkeit ›Zeit‹ an ihr zu arbeiten (ibid. lin. 14–17). 890

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Kategorie der Differenz fällt und wird als unzulässige Bestimmung vom Absoluten und seinem ›Bezug‹ zum Dasein abgewiesen. Und dadurch werden letztlich Bestimmung und Begriff, weil sie stets durch Differenz und Andersheit gegenüber anderen Bestimmungen und Begriffen charakterisiert sind, vom Absoluten abgesetzt. Damit verweist Fichte eindrucksvoll neoplatonisierend auf die reine Einheit, die alle Relationalität übersteigt. Fichte kann in diesem Zusammenhang die Einheit von Abso­ lutem und Ich behaupten, aber nur kraft des soeben genannten transzendierenden Überstiegs aller formalen oder begrifflichen Diffe­ renzierungen. Denn eine bloße Identitätsaussage ohne die korrigie­ rende Kraft negativer Theologie auszusprechen, drohte, Absolutes und Ich derart zu vermischen, dass dem Absoluten die Form des Ich oder des Selbstbewusstseins zugesprochen würde.892Wie aber nun deutlich geworden sein sollte, transzendiert das Absolute die Form schlechthin. Sicherlich kann Fichte dem Absoluten in gewisser Weise noch ›Subjektivität‹ unterstellen, aber nur in der Proto-›Form‹ des reinen Liebens: Im Grunde handelt es sich dabei nicht mehr um eine Form, sodass weder Subjektivität noch Bewusstsein zwar einfach geleugnet, aber zugunsten der über-reflexiven Selbstliebe des Absolu­ ten suspendiert werden müssen.893 Das Absolute bzw. das unendliche Leben, so hält Fichte noch kurz vor seinem Tod fest, »versteht sich Der Begriff der Identität ist aber ohne eine minimale Differenz und mithin ohne Zweiheit gar nicht auszusagen. Das Problem des Satzes der Identität hat bereits Nova­ lis, wie wir oben sehen konnten (§ 40), deutlich pointiert (dazu Koch: »Novalis und Jacobi«, 278–297). Und auch Fichte ist sich dieser Problematik bewusst. Vor diesem Hintergrund ist es angebrachter, von der Einheit von Gott und Ich zu sprechen. Vgl. auch Akira Omine. »Das Verhältnis des Selbst zu Gott in Fichtes Wissenschaftslehre«. Fichte-Studien 12 (1997), 323–334; hier 332: »Daß es [scil. das absolute Sein] beweg­ liches Sein ist, bedeutet, daß das Sein durchaus verweigert, als etwas irgendwo (außer dem oder im Bewußtsein) Seiendes vorgestellt zu werden.« Es sei zwar »da, insofern wir es leben«, aber es sei »nirgendwo da, sobald wir es objektiv zu erfassen versuchen« (ibid. 332). Daher kann Omine auch zu Recht konstatieren, dass die Aussage, Gott und wir seien identisch, »kein objektives Verhältnis zwischen zwei Dingen« meine (ibid. 333). Diese spezielle Identitätsaussage wird daher von Fichte auf eine andere Ebene gehoben und muss kraft des hier zugrundeliegenden Konzeptes der Transzen­ denz in nicht-kategorialer Weise verstanden werden. 893 Demgegenüber kann die Deutung Alexander Schnells, nach der das »Licht« in Fichtes Wissenschaftslehre 21804, weil es unmittelbar mit dem »absolute[n] Ich« der Grundlage verknüpft sei, eine »subjektive Dimension« bewahre, nur bedingt zutreffen (Was ist Phänomenologie? Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 2019, 103). Denn in Schnells Deutung fehlt das korrigierende Konzept der Transzendenz. 892

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nicht, sondern es macht sich verständlich«.894 »Es kommt darauf an zu zeigen, daß es nicht Gott sey, der sich verstehe, sondern, daß es seine absolute Erscheinung sey.«895 Fichte hält also an der Transzendenz des Absoluten gegenüber jedem Wissen896, gegenüber der Reflexion897 und gegenüber jeder »ist«-Prädikation898 fest. Wie bereits erwähnt, nennt Fichte das Absolute daher neoplatonisierend »Ueberseyn«. Die Einheit – nicht aber die aussagenlogisch verstandene Identi­ tät – von Gott und Ich kann freilich behauptet werden, weil durch die absolute Abstraktion jeder »Abgrund« und jede externalisierende Objektivation getilgt wurde. Da das Absolute dem Dasein gerade nicht gegenübergesetzt werden kann, bleibt als einzig mögliche Alternative die reine Daseins-Immanenz des Absoluten. Genauer gesagt ist das Absolute nicht das Dasein des Seins: Kraft absoluter Abstraktion sehen wir ein, dass es in unserem Innersten liebt und lebt.899 Das Absolute ist mir sogar näher als ich mir selbst in der Form des Selbstbewusstseins nahe sein kann. Denn unser Selbstbe­ wusstsein benötigt ein Minimum an Differenz, um sich wissend auf sich beziehen zu können. Das Absolute transzendiert allerdings jede Differenz.900 Daher transformiert sich das Absolute auch nicht

894 GA II/17, p. 142, lin. 8; Hervorh. Roh. Vgl. Paimann: Die Logik und das Abso­ lute, passim. 895 Das Absolute ist – wie Fichte in seinem eindringlichen Sonnet »Nichts ist denn Gott, und Gott ist nichts denn Leben« (GA II/9, 454), – nichts anderes als reines Leben, das er als Tat versteht, durch die sich das Leben im Bild (scil. im Wissen) verständlich macht (GA II/17, p. 187, lin. 11–12). – Daher muss Fichte »eine Selbstbestimmung des Lebens an sich«, also des Absoluten in diesem selbst, nicht annehmen (GA II/17, p. 189, lin. 19–21). Das Wissen wiederum, also auch die Wissenschaftslehre, ist »eingeschlossen in einen gewissen Zirkel, u. in diesem begreift es auch sich« (GA II/17, p. 189, lin. 28–29). Dass Fichte in diesem Zusammenhang der Philosophie vor ihm, und insbesondere Spinoza, vorwirft, dass diese nicht gesehen hätte, dass es auf das Verstehen Gottes ankäme, bedeutet Folgendes: Dem Absoluten darf kein Denken, Verstehen oder Bewusstsein zugesprochen werden. Denn dann wäre es Denken; sodann wären wir aber auch mit dem Absoluten formal identisch. Die Behauptung einer formalen Identität verletzte aber Fichtes Gebot transzendentalkritischer Beson­ nenheit, weil das Denken so verabsolutiert würde. 896 GA II/6, p. 143, lin. 25. 897 GA I/9, p. 165–173; bes. p. 167, lin. 31–34 und p. 173, lin. 19–21. 898 GA II/8, p. 79 und 115. 899 Es gilt nach Fichte, zum Bewusstsein durchzubrechen, dass »Gott in uns wirklich lebe, und thätig sei« (GA I/9, p. 113, lin. 9). 900 Noch einmal sei auf Hölderlin verwiesen: Das Ich kann sich ohne ein Minimum innerer Differenziertheit gar nicht als Ich fassen (Theoretische Schriften, p. 7–8).

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einfach in die Form des Daseins oder zum Ich. Es ist vielmehr der Kern des Selbst(bewusstseins). Demnach lässt sich konstatieren, dass das Konzept metaphysischer Transzendenz, so wie es von Plotin und Pro­ klos konzipiert und bes. von Eriugena und Cusanus aufgenommen wurde, auch bei Fichte zu finden ist.901 Wir bilden nämlich nach Fichte eine Einheit mit dem Absoluten, aber nicht in der Form, sondern dort, wo es ›wohnt‹, also »jenseits des Begriffes«.902Gerade aufgrund der Formtranszendenz kommt es letztlich auch zum Scheitern des Begriffs am Absoluten, denn in der Reflexion kann die Liebe nie begrifflich eingeholt werden.903

§ 44) Die Lebendigkeit des Absoluten in uns Durch die soeben diskutierte absolute Abstraktion erkennen wir auch die Lebendigkeit des Absoluten: Nach Fichte lebt es in uns. Wie aber kann Fichte die Lebendigkeit des Absoluten statuieren? Fichtes Argumentation für die Lebendigkeit des Absoluten vollzieht sich an der oben bereits vollzogenen Negation der Objektivation: Wenn von höherem Idealismus und höherem Realismus abgesehen werden muss, kommt es nicht mehr dazu, das Absolute als Objekt abzusetzen. Die Begriffsbildung oder Objektivation des Absoluten wird bei Fichte auch als »ertöten« des Absoluten begriffen. Töten wir aber das Absolute, indem wir von ihm Begriffe bilden, und sehen wir dann von dieser Begriffsbildung durch die Vernichtung des Begreifens ab, so bleibt nur noch die reine Lebendigkeit des Absoluten übrig. Mithilfe dieser abstraktiv-regressiven Methode, die Wolfgang Janke in einer genialen Wendung »hinwegsehendes Zusehen« nennt, wird Insofern das Absolute aus aller Vielheit und Relationalität befreit werden muss, damit es als reine Einheit aufscheinen kann, muss es alle Differenz überwinden: Damit ist erwiesen, dass Fichte den Plotinisch-Proklischen Grundgedanken getroffen hat: Die Differenz muss im Akt des Negierens überstiegen werden. 902 GA I/9, p. 97, lin. 13 und auch lin. 34–36: »[J]enseits des Begriffes aber, d.h. wahrhaftig und an sich, ist nichts und wird in alle Ewigkeit nichts, denn der lebendige Gott in seiner Lebendigkeit.« – Die Einheit mit dem Absoluten bleibt schon in der neuplatonischen Tradition als Erfahrungstatsache bestehen, wobei wir auch mit Plotin, Proklos, Eriugena und Cusanus konstatieren können: Wir gehen als Daseiende nie ganz im Absoluten auf: S. dazu auch § 48. 903 Vgl. etwa GA I/9, p. 167, lin. 15–20; hier 18: Der Begriff ist das, was »ihr [scil. der Liebe] nie nachkommt«. Zum Theorem des Scheiterns s. unten, § 45–48. 901

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darauf geachtet, was nach der Negation aller minderen Absolutheits­ perspektiven als einzig mögliche »übrig« bleibt. Wenn nämlich das Absolute nicht mehr im Begriff ertötet904 wird, sehen wir es kraft der Abstraktion als reine, aktive Lebendigkeit, als actus purus, ein. Die Begriffsbildung als das Töten des Absoluten zu begreifen, lässt sich mit dem spätantiken Neuplatonismus – genauer: mit der Theorie absoluter Kraft, Macht oder Lebendigkeit, die bei Plotin mit dem Begriff der δύναμις πάντων und bei Proklos mit dem Begriff der ἀπειροδυναμία ausgedrückt wird – in Verbindung bringen. Insofern wir diese ursprüngliche Kraft bei Plotin und Proklos in den Blick nehmen, diese aber im Verlauf der Hinwendung nicht in ihrer Rein­ heit halten können, mithin an ihr scheitern und ›nur‹ ein Begriff von ihr zurückbleibt, haben wir die reine Kraft in einen stehenden und daher kraftlosen Begriff verwandelt. Auch bei Fichte entleeren wir die Ursprungskraft absoluter Liebe und verwandeln diese durch unser Begreifen in einen stehenden und mithin toten Begriff, der selber bar jedes generierenden Vermögens ist.905 Demgegenüber aber muss das Absolute bei Fichte – wie schon die absolute δύναμις in der neuplatonischen Tradition – unendliche Dynamik und ungebrochene Ursprungskraft bleiben. Da im Zuge der absoluten Abstraktion die reine Lebendigkeit hervortritt, können wir letztlich auch das Verhältnis von absoluter Abstraktion einerseits und absoluter Lebendigkeit andererseits näher beleuchten: Insofern nämlich allein die Lebendigkeit übrig bleibt, stellt sich letztlich ein ›Perspektivwechsel‹ ein. Wir können sicherlich konstatieren, dass uns die absolute Abstraktion zu gewissen Einsich­ ten geleitet hat. Haben aber dann nicht wir das Absolute als Lebendig­ keit konstruiert? Genau genommen, so müssen wir erneut festhalten, ist es letztlich genau umgekehrt: Die ursprüngliche Lebendigkeit des

904 Wenn wir das Absolute im Begreifen töten bzw. aus seiner reinen Lebendigkeit lösen, dann muss es in Retrospektion notwendig als reine Lebendigkeit angenommen werden. Zu diesem Problem, nämlich ob die Lebendigkeit des Absoluten uns als bloße Illusion gegeben ist, s. unten, § 47. 905 Dadurch ist der Begriff aber nicht gänzlich tot, wie sich im weiteren Verlauf noch zeigen wird: s. dazu unten, bes. § 46–47. Auch bei Plotin und Proklos ist das Abge­ setzte nicht tot. Anders als Fichte sehen sie in dem Abgesetzten sogar Lebendigkeit, denn diese ist für sie der Inbegriff intelligibler Bestimmtheit. Nichtsdestoweniger ist die Idee nicht (mehr) die Ur-Kraft des pro-noetischen Horizontes.

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Absoluten setzt den Begriff ab906 – oder besser: bedingt den Begriff. Die Transzendenz lässt den Begriff nicht an sich heran und so wird dieser erst als Prinzipiat und Bild des Absoluten abgesetzt. Da das Absolute selbst wie auch das Dasein des Begriffs bei Fichte gleicher­ maßen absolut sind, kommt es hierbei nur darauf an, wem das logische Primat gebührt. Daher konstruieren nicht wir das Absolute durch unsere Operation der Negation. Die Negation bleibt bloße Nachkon­ struktion der in sich geschlossenen Ur-Tätigkeit des Absoluten: Durch die Geschlossenheit des Absoluten, das sich gewissermaßen selber aktiv abschließt, scheitert das Begreifen überhaupt erst an diesem. Mit anderen Worten bekundet sich das Abgewiesensein des Begriffs in der Negation des Begreifens. Im Begriff sind daher positiver und negativer Aspekt geeint – und zwar durch die Kraft des Absoluten, durch die es sich in sich selber verschränkt und durch die das Dasein von ihm angezogen wird. In der Kombination der letzten zwei Paragraphen lässt sich schon jetzt Folgendes konstatieren: Das Absolute zieht uns an, entzieht sich aber auch dem Begreifen. Beide Aspekte der Attraktion und des Entzuges sind verknüpft durch die innere Liebe und Lebendigkeit des Absoluten. Wir können daher das Absolute einerseits als eine innere Dynamik oder Kraft fassen, die alles anzieht. Wie ich schon im Hinblick auf Eriugena ausgeführt habe, lässt sich das innere Vermögen des Absoluten durch das Beispiel eines Magneten oder gar einer elektromagnetischen Spule illustrieren: Da es im innersten Kern des Daseins lebt und alles affiziert, zieht es die es umlagernde Hülle, vorzugsweise das Ich,907 zu sich hin. Daraus resultiert nicht nur unser innerer Bezug auf das Absolute. Durch diese Kraft wird sogar unser Selbstbewusstsein bedingt: Nur weil wir kraft der Attraktion des

906 Die Rede vom Absetzen des Begriffs durch das Absolute ist streng genommen ein uneigentlicher Ausdruck für die Ermächtigung, Begriffe abzusetzen. Das Absolute setzt den Begriff nicht. Es ist zwar die eigentliche Bedingung des Begriffes, aber dies ist nicht so zu verstehen, als würde es ihn schöpfen und direkt aus sich selber heraus entfalten. Die Aussage vom Absetzen steht unter der Kautel des kommenden Para­ graphen (§ 46). Die soeben angebrachte Korrektur wurde schon im Kapitel zu Cusanus angesprochen. Allerdings mussten wir dort feststellen, dass Cusanus die Macht des Absoluten als dessen Kreativität begreifen wollte. Aber auch bei ihm klingt an, dass das Absolute eigentlich ›nur‹ unseren Blick leitet. 907 »Hülle« und »Ich« werden in Fichtes Sonett »Nichts ist denn Gott« verknüpft; GA II/9, p. 454, lin. 9–11: »Gar klar die Hülle sich vor dir erhebet | Dein Ich ist sie; es sterbe was vernichtbar | Und fortan lebt nur Gott in deinem Streben«.

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Absoluten auf unser Innerstes gewendet werden, kann der lichtende Bezug auf unser eigenes Selbst vollzogen werden.908 Die Lebendigkeit des Absoluten ›stößt‹ aber gewissermaßen auch alles ›von sich‹, weil es als innere Geschlossenheit und Einheit nicht vom Begreifen zu erreichen ist. Weil es nach Fichte ein »Von sich«909 ist, wird es nicht vom Begriff konstruiert, weswegen dieser aus der Kraft der Selbstbezüglichkeit des Absoluten heraus durchge­ strichen oder als uneigentlich abgewiesen wird. Dabei ist zu beobach­ ten, dass sich das Absolute dem Begriff bzw. seinen Prinzipiaten nicht neben seinem ›Selbstbezug‹ noch einmal extra zuwenden muss. Denn es tritt gerade nicht aus sich heraus.910 Die Parallelen zu Cusanus’ Konzept in sich bleibender, absoluter Selbstbezüglichkeit, die im Begriff des Nicht-Anderen angezeigt wird, sind hierbei offensichtlich: Bei Cusanus erscheint zwar das Absolute als gründender Bezug auf seine Prinzipiate. Bei genauer Betrachtung lässt sich aber feststellen, dass die gründende Kraft des Absoluten in dessen Selbstbezug liegt. Da das Absolute kraft seiner Transzendenz die vollkommene Immanenz in unserer Wesensmitte ist – sprachlich illustriert im Satz »aliud est non aliud quam aliud« –, wird durch des­ sen Selbstbezug der konkrete Selbstbezug jedes (intelligiblen) Ande­ ren bedingt, wodurch es zur Setzung von Begriffen kommen kann. Wenn die Ur-Tätigkeit die Koinzidenz von Attraktion und Entzug ist, dann lässt sie sich durchaus als höchste Kontraktion verstehen, als überreflexive Ur-›Bewegung‹, die durch Selbstkontraktion911 alles zu sich zieht und sich genau in dieser ›Bewegung‹ dem Anderen und der Konstruktion durch Anderes (ab alio) entzieht und dieses Andere so – durchaus analog zum Cusanischen Konzept des NichtAnderen – von sich weist.912 Und in dieser in sich bleibenden, allein auf sich gerichteten und sich gewissermaßen in sich selbst zurückziehenden Lebendigkeit absoluter Selbstbezüglichkeit ist das 908 Diesem Aspekt muss ein weiterer, nämlich das produktive Scheitern des Begrei­ fens am Absoluten, hinzugefügt werden: s. unten, § 45. 909 Etwa GA II/8, p. 228, lin. 26. 910 GA II/8, p. 242, lin. 1–3. 911 Dieser Begriff taucht auch bei Fichte auf – und zwar im Hinblick auf den Rückzug des Bewusstseins auf sich selber (GA I/9, p. 130), wobei dieser Selbstbezug freilich, so müssen wir ergänzen, vom Absoluten getragen wird. 912 Ist das Absolute »Von sich«, dann ist es nicht ab alio, sodann aber hat das Absolute die Anderen durch sein »Von sich« von sich gewiesen. Dass Fichte aber behutsamer als Cusanus vorgeht, ist bereits mehrfach gesagt worden. S. § 46.

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Absolute dem externalisierenden Begreifen entzogen. Man könnte in diesem Zusammenhang und analog zu Cusanus sogar von einem ›Selbsttranszendierungsakt‹ des Absoluten sprechen.913 Von Fichte ist damit aber, wie schon mehrfach erwähnt wurde, keine kreative Entfaltung des Daseins durch das Absolute gemeint. Zwar kann Fichte durchaus über einen Hervorgang des Daseins aus dem Absoluten spekulieren. Dieser aber ist nach Fichte, wie übrigens auch nach Plotin, völlig unerklärlich. Fichte behilft sich mit dem Hin­ weis auf die Absolutheit des Daseins, das sich als Tatsache stets vorfin­ det.914 Damit steht er wiederum in der Tradition Plotins oder Proklos’, für die das reine Denken ewig und ungeworden ist. Gleichwohl, so argumentieren Fichte, Plotin und Proklos, lassen sich die Bedingun­ gen des absoluten Wissens und des absoluten Geistes in der Wendung auf die Methode absoluter Abstraktion oder Negation angeben. Sie argumentieren geltungstheoretisch und in dieser Hinsicht ist auch Fichtes an seine eigene wissenschaftliche Philosophie herangetragene Aufgabe zu lesen, das »Wie« des Zusammenhangs von Absolutem und seiner Erscheinung zu erklären.915 Die Lebendigkeit schöpft also nicht (direkt) den Begriff, aber sie ist dessen Bedingung.916 Und auf diese Bedingung bleibt das Ich hingespannt. Genau deswegen dürfen wir in diesem Zusammenhang vorausblickend sagen, dass das Ich Bild des Absoluten ist: Die innere Spannung des Ich auf das Absolute hin ist Ausdruck der attraktiven Liebeskraft des Absoluten.917

§ 45) Das Scheitern des Begreifens und die Genese des Selbstbewusstseins Wenn das Absolute »jenseits des Begriffes« wohnt, dann kommt es, wie oben bereits gesagt, zum Scheitern des Begriffes am Absoluten.918 Zu diesem Akt bei Cusanus s. § 34. S. dazu auch Eriugenas Überlegungen und das sog. Zinzum (§ 30). 914 GA I/9, p. 88, lin. 17–27. 915 GA I/9, p. 112, lin. 5–17. Das »Wie« entspricht daher nicht der Frage danach, »warum« das Absolute das Dasein begründet. 916 S. dazu § 46. 917 S. dazu bes. § 47. 918 Die Produktivität des Scheiterns erinnert keineswegs zufällig an Cusanus, inso­ fern wir durch das Scheitern, das Nichtwissen, zum vollkommenen Wissen gelangen, das darin besteht, dass wir das Absolute nicht begreifen können. Daher sei an dieser 913

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IV) Der Einheits- und Disjunktionspunkt in der Wissenslehre J. G. Fichtes

Das Absolute hält die Form ab, denn es ist, um einen passenden wie prominenten Begriff aus dem Cusanischen Denken zu entlehnen, inkommensurabel. Der Begriff des Scheiterns muss in diesem Zusam­ menhang freilich erklärt werden, droht er doch missverstanden zu werden: Es könnte nämlich der Eindruck entstehen, wir hätten über­ haupt keinen Zugang zum Verständnis des Absoluten. Fichte stellt aber klar, dass sich das Absolute vollständig entberge. In diesem sollen sogar alle »Räthsel meines Daseyns« gelöst sein.919 Und dennoch, so können wir ebenfalls bei Fichte nachlesen, bleibt das Absolute das Stelle noch einmal die zentrale Aussage der Metaphysik Fichtes zitiert: Dieser schreibt am 31. März 1804 an Jacobi, wobei darin die Produktivität des Transzendenzgedan­ kens, der sich im Angewiesen-Sein des Daseins und in der Unbegreiflichkeit des Absoluten dokumentiert, durchscheint; GA III/5, p. 236, lin. 14 – p. 237, lin. 4; Her­ vorh. Roh.: »In Rücksicht Ihrer letzten Verhandlungen hätte ich vorläufig nur eine einzige Frage an Sie zu stellen. Köppen’s ganze Weisheit nämlich scheint mir darauf hinauszulaufen, daß dem Wissen immer etwas vom Begriffe durchaus nicht zu Durch­ dringendes, ihm Inkommensurables und Irrationales übrig bleibe; und Sie scheinen [...] diese Weisheit als die rechte und höchste zu billigen, und für Ihre eigene zu erklä­ ren. Hierbei möchte ich nun fragen: das, was Sie da sagen: meinen Sie es etwa nur und ist es Ihr vorläufiges Dafürhalten bis zur bessern Einsicht: (in welchem Falle Sie die Behauptung, daß dies das Höchstmögliche sey, schon stillschweigend zurücknähmen) oder sehen Sie es selber, als schlechthin gewiß, aus seinem absoluten Princip genetisch ein? Falls Sie im letzten Falle entweder selber sich befänden, oder wenigstens als mög­ lich zugeben müßten, daß irgend Jemand in demselben sich befinde; wie wäre es, wenn gerade in dieser Einsicht das Wesen der Philosophie läge, und diese ganz und gar nichts Anderes wäre, als das Begreifen des Unbegreiflichen als solchen?« Vgl. auch GA III/8, p. 215. In der kritischen Edition, GA III/5, p. 237, Anm. 5, wird ferner auf Germain de Staël verwiesen, die das Begreifen des Unbegreiflichen als Grundsatz der Fichte­ schen Philosophie erkannt hat. Vgl. Mme de Staël. De l’Allemagne. Nouvelle édition publiée d’après les manuscrits et les éditions originales avec des variantes, une intro­ duction, des notices et des notes par Jean de Pange. Vol. 4, Paris: Librairie Hachette, 1959, p. 252, lin. 4–5. Nach Jean de Pange (ibid. p. 252, Anm. 1) sei es denkbar, dass de Staël von Fichte höchstselbst über diesen Grundsatz aufgeklärt wurde. – Zum Topos des produktiven Scheiterns bei Fichte vgl. Cürsgen: »Die Unbegreiflichkeit des Abso­ luten«, 106–116 und Paimann: Die Logik und das Absolute, 224. Auch Edith Düsing spricht völlig zutreffend von einem Scheitern der Reflexion »trotz ihrer methodischen Sorgfalt« (»›Himmel der Vollendung‹?«, 341). Nebenbei sei auch auf die »positive[-] Vernichtung« im 21. Vortrag verwiesen (GA II/8, p. 324, lin. 23–24), durch die das »absolute[-] Sein[-] des Wissens im Wissen« gesetzt werde. S. dazu Hitoshi Minobe. »Das Absolute in der Wissenschaftslehre von 1804«. Fichte-Studien 17 (2000), 163–168; hier 167: »Wir vernichten uns also als das Prinzip des Wissens und zugleich setzen wir das uns unzugängliche Sein des Wissens. Solche Sichvernichtung von uns im Wissen nennt Fichte ›positive Negation‹.« Minobe hält entschieden und völlig zu Recht fest, dass das Bewusstsein nicht das Absolute sein könne (ibid. 165). 919 GA I/6, p. 296, lin. 33.

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2) Die Liebe in Fichtes Anweisung

Unbegreifliche. Wie also können diese beiden Aspekte miteinander verknüpft werden? Das Theorem eines Scheiterns, das keineswegs privativer, son­ dern gerade produktiver Natur ist, lässt sich bei Fichte häufiger finden: Das Absolute, wie Fichte mehrfach betont, ist dem Begriff »unzugänglich[--]«, und in der zehnten Vorlesung der Anweisung resümiert er, dass das »Auge des Menschen [...] ihm Gott« verde­ cke.920 Daraus folgt natürlich nicht, dass das Absolute völlig uner­ forschlich wäre. Vielmehr ergibt sich für Fichte daraus folgende Konsequenz: »Im Bewußtseyn verwandelt das göttliche Leben sich unwiederbringlich in eine stehende Welt.«921 Im weiteren Verlauf der Anweisung konkretisiert Fichte diesen Gedanken anhand unseres Auges, gewissermaßen unser natureigenes Prisma, und des an ihm selber »farblose[n] Äther[s]«, der durch das Auge in die bunte Vielfalt der Farben gebrochen werde.922 Fichte überträgt dieses Bild auf das intelligible Licht und das geistige Auge: »Wisse darum doch, daß es nicht an sich, sondern, daß es nur in dieser deiner Reflexion […] gebrochen, und gestaltet, und wie ein Mannigfaltiges gestaltet ist«.923 Das »Eine Sein [scil. des Absoluten] wird durch die Reflexion, welche im wirklichen Bewußtseyn mit jenem unabtrennlich vereinigt ist, in einen unendlichen Wechsel von Gestalten zerspaltet.«924 Versucht 920 GA I/9, p. 169, lin. 16–17. – Es liegt freilich nicht nur am Absoluten, dass wir es nicht fassen können, sondern auch an unserem Begreifen selber, insofern dieses zerspaltend ist; GA I/9, p. 97, lin. 9–12: »[W]ir begreifen zu allernächst uns selber nicht, wie wir an sich sind: und daß wir das Absolute nicht begreifen, liegt der Grund nicht in dem Absoluten, sondern er liegt in dem Begriffe selber, der sogar sich nicht begreift.« Der Begriff begreift sich selber nicht, wenn er seine Genese nicht angibt. Diese kann er aber durchaus angeben, wenn die Methode absoluter Abstraktion vollzogen wird. Damit trifft sich Fichte mit Plotin und Proklos, denn es ist das Begreifen, das uns das Absolute verdeckt, wenn wir uns nicht den Bedingungen des Begreifens in der – henologisch erweiterten – νόησις zuwenden. 921 GA I/9, p. 100, lin. 7–8. 922 GA I/9, p. 100, lin. 24 – p. 101, lin. 16. 923 GA I/9, p. 101, lin. 1–4. 924 GA I/9, p. 101, lin. 14–16. Vgl. zu dieser von Fichte gebrauchten Metapher auch GA I/6, p. 306, lin. 37 – p. 307, lin. 4: »Aber rein und heilig, und deinem eignen Wesen so nahe, als im Auge des Sterblichen etwas ihm seyn kann, fließet dieses dein Leben hin als Band, das Geister mit Geistern in Eins verschlingt, als Luft und Aether der Einen Vernunftwelt; undenkbar und unbegreiflich, und doch offenbar da liegend vor dem geistigen Auge.« – Diese Überlegungen Fichtes erinnern an die neuplatonische Lichtspekulation, besonders an Bonaventuras Lichtlehre; Itinerarium mentis in Deum c. 5, n. 4: Das geistige Auge sei in den »Farbunterschieden befangen«, wodurch das

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IV) Der Einheits- und Disjunktionspunkt in der Wissenslehre J. G. Fichtes

sich also der Begriff am Absoluten, so kann er dieses nur als für ihn gerade Unbegreifliches begreifen.925 Dass der Begriff letztlich vom Absoluten abgewiesen ist, können wir durchaus nachvollziehen, indem wir, wie oben gezeigt, sukzessive zum Absoluten aufsteigen und in diesem Vollzug einsehen, dass das Absolute als solches nicht von uns konstruiert wird, sondern sich selber in autarker Aseität erhält. In diesem Zuge erkennt das denkende und wissende Bewusstsein, dass es nicht das Absolute ist – und dadurch generiert sich erst vollendetes Selbstbewusstsein. Und dieses besteht eben darin, dass das Scheitern des begrifflichen Umfassens des Absoluten in den Horizont des Wissens integriert wird, sodass es zum wissenden Nichtwissen kommt. Das Wissen ›immanentisiert‹ das Nichtwissen dergestalt, dass es anerkennt, dass sich das Absolute dem umfassenden (und zerspaltenden) Begreifen entzieht. Die höchste Einsicht besteht also darin, dass das Ich nicht das Absolute sein kann. Und dadurch wird es gewissermaßen auf sich zurückgeworfen und sich so seiner Grenzen vollkommen bewusst: Die Delphisch-Sokratische Forderung ist daher erst unter der Bedingung des begrifflichen Scheiterns am Absoluten vollständig erfüllt und voll­ endetes Selbstbewusstsein erreicht, womit Fichte das neuplatonische Theorem des wissenden Nichtwissens offenbar reformuliert.926 Während das Absolute qua Selbstkontraktion und -entzug Bedingung des Selbstbewusstseins ist, sind wir als denkende Wesen dazu aufgefordert, dessen Genese nachzuvollziehen: Erst wenn das ungebrochene intelligible Licht, das eigentlich Ersterkannte und damit das Prinzip des vernünftigen Sehens, nicht wahrgenommen werde. Die »Blindheit« gelte es aber zu überwinden, indem man sich aus den Objektivationen befreie. 925 GA II/8, p. 58, lin. 16–18. 926 So auch schon Cürsgen: »Die Unbegreiflichkeit des Absoluten«, 115: »Das erschei­ nende Bild wird zum Ende unseres Denkens, das sich als Nichtabsolutes erkennt und dadurch erst selbst positiv bestehen kann.« Das Theorem des wissenden Nichtwissens bei Fichte hat auch Lore Hühn herausgestellt; Fichte und Schelling, 116: »Das Denken, insofern es in aller Ausdrücklichkeit erfährt, daß es das Absolute nicht erkennen kann, wird nicht nur zu einer kritischen Analyse des eigenen kognitiven Instrumentariums herausgefordert, sondern auch dazu veranlaßt, die Unvordenklichkeit des eigenen Grundes anzuerkennen, nicht als etwas, was ihm entstammt, sondern notwendig vorausliegt. Genauer gesagt, es wird dazu genötigt, eine Struktur [scil. das Absolute] anzuerkennen, die zwar nicht ohne subjektive Konstitutionsleistung aktualisiert und angesprochen, aber dennoch nicht durch sie herzustellen und zu ermöglichen ist.« Dass Hühn im Nachgang den Begriff der »docta ignorantia« ablehnt (ibid. 117–118), resultiert aus dem vermeidbaren Missverständnis der neuplatonischen Philosophie als Mystik.

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2) Die Liebe in Fichtes Anweisung

»Wie« des Zusammenhangs von absoluter Liebe und daseiendem Selbstbewusstsein von uns durchschaut wird, ist vollendetes Selbst­ bewusstsein verwirklicht. Dadurch wird Fichtes Absicht erkennbar, Absolutes und Begreifen dergestalt ›wechselseitig‹ aufeinander zu beziehen, dass das Begreifen nicht einfach zum Geschöpf des Abso­ luten degradiert wird. Dem Begreifen kann – wie den αὐθυπόστατα – eine eigene Leistung zugestanden werden. Hiermit konkretisiert Fichte, wie oben bereits angedeutet wurde (§ 44), die im Cusanuska­ pitel diskutierte Theorie absoluter Bedingung (§ 35).

§ 46) Lebendigkeit und Liebe als ›Begriffsschöpfer‹ vermittels der Reflexion Transzendenz meint freilich nicht einfach bloß den Entzug des Absoluten gegenüber Form und Begriff: Die Liebe ist nach Fichte nämlich auch da, wie uns die Anweisung stets vor Augen führt.927 Genauer gesagt ist die Liebe in uns und daher unmittelbar präsent. In ihrer Präsenz ermächtigt die Gottesliebe uns zur Reflexion, also zur Begriffsbildung und zur Abgrenzung von Begriffen. Sie ist in dieser Präsenz aber zugleich, so paradox dies klingen mag, entzogen, insofern sie nicht denk- oder wissbar ist, aber freilich von Denken und Wissen immer in Anspruch genommen wird: Insofern sie präsent ist, ist sie Luzidität, weil sie dasjenige ist, wodurch wir sehen. Das Abso­ lute, so drückt es Fichte in der zweiten Wissenschaftslehre von 1804 aus, ist das »Allerklarste«.928 Insofern die Liebe als reine Luzidität, »reine Durchsichtigkeit« oder reines »Licht« vorgestellt wird,929 ist sie gleichwohl verborgen, weil die Liebe selber nicht konkret erkannt, sondern immer nur an Anderen wahrgenommen wird. Wo keine Konturen, sondern nur reines Licht zu ›sehen‹ ist, ist im Grunde nichts Konkretes, aber gleichwohl auch nicht nichts zu sehen. Wie Fichte in der genannten Wissenschaftslehre schreibt, ist das Absolute das »Allerverborgenste«, es ›ist‹ »da[,] wo keine Klarheit ist«.930 Oder anders ausgedrückt: Das Absolute ist opak. Etwa GA I/9, p. 96. GA II/8, p. 228, lin. 7. 929 Noch einmal sei auf diese wichtige Einsicht in Fichtes Briefen verwiesen: GA III/5, p. 48, lin. 14–17. 930 GA II/8, p. 228, lin. 7–8. 927

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Dieses Zugleich von Präsenz und Entzug des Absoluten erinnert an die neuplatonische Tradition und besonders an die Ausführungen der Dionysios-Schüler Eriugena und Cusanus.931 Eine rein negative Prinzipientheorie entwirft Fichte freilich nicht, sondern ähnlich wie christliche Neuplatoniker ist er um die Ent-Kategorialisierung von Bestimmungen bemüht, um durch diese das Absolute verständlich machen zu können. Damit trifft er die Grundintention Dionysios’, die dieser gewissermaßen als Erbe Eriugena, Meister Eckhart oder Cusanus hinterlassen hat: Sie alle waren, wie später Fichte, um die Explikation von Präsenz und Entzug des Absoluten bemüht, wobei sie dieses Zugleich durch ihr von der neuplatonischen Orthodoxie rezipiertes Transzendenzkonzept herleiten konnten. Es lässt sich hier auch von immanenter Transzendenz sprechen, die sich bei Fichte wie folgt explizieren lässt.932 Unschwer zu erkennen ist, dass die Liebe die nicht ins Konkrete gebrochene Tätigkeit des Absoluten sein soll. Fichte nennt diese Tätigkeit actus, die freilich nicht konkret, sondern eben rein, also actus purus, ist. Als solcher ist die liebende Ur-Tätigkeit reiner Vollzug – oder eher: reines Vollziehen. Dadurch lassen sich erneut Parallelen zur neuplatonischen Tradition konstatieren. Wie oben beschrieben ist der »liebende Geist« die reine und nicht konkrete Ur-Tat schlechthin. Ganz ähnlich können wir der Proklischen »Vorsehung« ein reines, unkonkretes Vollziehen zuschreiben, das wir nur rein negativ ›bestim­ men‹ können. Und wie gezeigt kann das »Eine in uns«, unser negativer ›Begriff‹ vom Absoluten in uns, als reines Streben oder Sehnen und mithin als reines Vollziehen gedeutet werden. Ähnlich verhält es sich mit den Gotteskonzeptionen von Eriugena und Cusanus, die 931 Fichte scheint hier eine Vereinigung von affirmativer und negativer Theologie zu postulieren. Genauer gesagt blitzt über die Methode der Negation die reinste Affirmation, das Absolute, in uns auf. Es ist diese »allerhöchste Position« (GA II/8, p. 142, lin. 4), die den Ur-›Raum‹ selber aufspannt. In diesem Raum bewegen wir uns immer: S. dazu die folgenden Erörterungen. 932 Es sollte mittlerweile mehr als deutlich geworden sein, dass sich die Immanenz nicht gegen die Transzendenz und die Transzendenz nicht gegen die Immanenz aus­ spielen lässt. Vielmehr können wir überhaupt nur dann von Immanenz sprechen, wenn wir die Transzendenz als dominierendes Konzept akzeptieren. Auf diesem Hin­ tergrund ist übrigens Edith Düsings Deutung, in der eine Unterscheidung von Imma­ nenz und Transzendenz aufscheint, abzulehnen (»Sittliches Streben«, 102, Anm. 8). Wenn es zu einem Vergleich zwischen der neuplatonischen Tradition und der Meta­ physik Fichtes kommen soll, dann muss vorher Klarheit über die Bedeutung des neu­ platonischen Transzendenzbegriffes herrschen.

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– unter Berufung auf Dionysios – gemeinsam für ein unkonkretes Ur-Vollziehen des Absoluten plädieren. Dieses ursprüngliche Vollziehen leitet oder – wie Wolfram Hogrebe es ausdrücken würde – »dirigiert« als »anonymes Regle­ ment« alle unsere »semantischen Explikationsbemühungen«, unser Begreifen und sogar unser Handeln und liegt diesen Taten immer ›im Rücken‹: »Durch sie [scil. die Liebe], aus ihr, als Grundstoff, sind, vermittels der lebendigen Reflexion, alle Dinge gemacht, und ohne sie ist nichts gemacht, was gemacht ist; und sie wird ewig fort, in uns, und um uns herum, Fleisch, und wohnt unter uns, und es hängt bloß von uns selbst ab, ihre Herrlichkeit, als eine Herrlichkeit des ewigen und nothwendi­ gen Ausflusses der Gottheit, immerfort vor Augen zu erblicken.«933

Als Grundstoff tritt das Absolute aber nie aus sich heraus, sondern es bleibt in seiner inneren Geschlossenheit. Weil es nicht das tote Objekt ist, das durch die Reflexion abgesetzt wird, ist es der reine Lebens- und Liebesakt, der ganz in sich bleibt: Man kann das Absolute daher auch als reines Übergehen beschreiben, das gewissermaßen den ›Hintergrund‹ abgibt, durch den ein konkreter Reflexionsakt erst vorgängig bedingt wird. Die Liebe liegt »hinter« der Reflexion und damit dieser zugrunde: In ein sinnenfälliges, freilich etwas statisches Beispiel verwandelt, kann man diesen notwendigen Hintergrund auch als Leinwand begreifen, ohne die wir nicht in der Lage wären, Zeichen einzutragen. Eine Leinwand und letztlich sogar das diesem Text zugrundeliegende Medium lassen sich als Metaphern für die Bedingung der Möglichkeit von Begriffsbildungen verwenden. Die Liebe bei Fichte ist also strukturell mit dem δύναμις-Begriff der neuplatonischen Tradition – etwa der ἀπειροδυναμία Proklos’ – verwandt, ermächtigt sie uns doch dazu, zu wissen, zu reflektieren und Begriffe zu bilden. Die Liebe öffnet gewissermaßen den logischen Ur›Raum‹, bedingt Wege und Brückenschläge und kann ganz allgemein als fürsorgliches Tragen verstanden werden: Ohne diese ›öffnende‹, den logischen Ur-›Raum‹ aufspannende Funktion der Liebe wären konkrete Denk- und Reflexionsakte gar nicht realisierbar.934 Wir neh­ 933 GA I/9, p. 168, lin. 31–35. Hier schließt sich Fichte dem Johannesevangelium an: Gott wird in gewisser Weise »Fleisch«, insofern Begriffe abgesetzt werden. Zum Begriff des Fleisches bei Fichte s. Kühn: »›Fleisch‹ und persönliches Dasein«. 934 Die »Indefinitheit von Liebe und Sehnen«, so Wolfram Hogrebe, macht uns refle­ xiv (Echo des Nichtwissens, 133, Anm. 72).

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men diese Ur-Tat – oder auch Ur-›Differenz‹ – immer in Anspruch, wobei das Absolute reines Überschreiten ist und bleibt, weil es immer in sich verharrt und nie zum Objekt aus sich heraus geht:935 Als reines Überschreiten ist das Absolute nie konkret, sondern immer dasjenige, wodurch wir zum Begriff gelangen. Das bedeutet auch, dass wir, sobald wir denken und handeln, das reine Überschreiten immer in Anspruch nehmen und so in jedem Akt die Einheit mit dem Absoluten vollziehen. Man könnte in diesem Zusammenhang auch von einer reinen Relation – oder besser: von einem reinen Relieren sprechen, das als reines Übergehen noch nicht einmal mehr als Relation mit nur einem Relat gewertet werden kann. Die Lebendigkeit des Absoluten ist also das Primäre, das unser Denken und Handeln ursprünglich er-bahnt und so Denken und Handeln leitet: Nicht wir dominieren es, sondern es dominiert unser Denken.936 In phänomenologischer Terminologie kann man zweifellos auch von einem Horizont sprechen, vor dessen Hintergrund alles Konkrete konstruiert wird.937 Das ist die »Hervorbringung des Absoluten durch sich in uns« (Cürsgen: »Die Unbegreiflichkeit des Absoluten«, 113). Es bringt sich zur Erscheinung, indem es rei­ nes Überschreiten ist: Sein Vollzug ist die Bedingung der Möglichkeit seiner Erschei­ nung in Begriffen und Gestalten. – Vergleicht man Fichtes absolute Liebe der Anwei­ sung mit der schwebenden Einbildungskraft aus § 4 seiner Grundlage (s. dazu Janke: Fichte: Sein und Reflexion, 145–161), ergeben sich zwar erstaunliche Parallelen. Aller­ dings ist die Einbildungskraft als vermittelnder Denkakt zu verstehen, der nur in und zusammen mit der Subjekt-Objektivität bestehen kann und daher nicht das gesuchte Absolute ist. Die Liebe ist demnach noch einmal ›höher‹ anzusetzen und gerade dadurch bestätigt sich ihre Funktion als Bedingung sogar von absoluten Denk- und Wissensakten. 936 Vgl. auch schon Dieter Henrichs Analyse; Dies Ich, das viel besagt, 34: »Dieses Licht können wir nicht anzünden. Denn wo wir sind, da brennt es schon.« S. dazu auch die folgenden Paragraphen. 937 Alexander Schnell fokussiert eine »Konstruktion der Bedingung der Möglichkeit« auf der Grundlage der transzendentalkritischen Analyse der Klassischen Deutschen Philosophie und stellt in diesem Zusammenhang Übereinstimmungen und Unter­ schiede zwischen Fichtes Denken und der von ihm offenbar beeinflussten Phänome­ nologie fest (Was ist Phänomenologie?, 83–107; hier 92). Diese Konstruktion der Bedingung der Möglichkeit fasst Schnell nicht als »spekulativ[-]« oder »metaphy­ sisch[-]«, sondern als genuin »phänomenologisch[-]« auf (ibid. 90). Demgegenüber bleibt festzuhalten, dass sich das metaphysische Konzept des Transzendenzgedankens als ungemein fruchtbar für die Deutung des Fichteschen Denkens gezeigt hat: Die Transzendenz erweist sich als hinreichend. Sicherlich sind die von Schnell aufge­ zeigten Parallelen zwischen Fichtes Denken und der Phänomenologie (etwa von Emmanuel Lévinas) von besonderem Forschungsinteresse. Mahnend möchte ich aber anmerken, dass nicht der Eindruck entstehen sollte, dass auf phänomenologische Kon­ 935

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2) Die Liebe in Fichtes Anweisung

Doch gehen wir, bevor wir diese Aussagen als Ergebnis akzep­ tieren, noch einmal einen Schritt zurück: Vor dem Hintergrund des oben angeführten Zitats und der Spaltung durch das intelligible Auge und die Reflexion scheint doch durchaus angenommen werden zu dürfen, dass eben jene spaltende Reflexion Begriffe, auch Begriffe des Absoluten, bildet und so setzt. Hier ist aber sogleich einzuwenden: Es konnte soeben festgestellt werden, dass das Absolute selber Prinzip der Begriffe sein soll. Ist es als Disjunktionspunkt nicht für die Bildung von Differenz und Spaltung verantwortlich? Fichte macht aber dem­ gegenüber deutlich, dass die Reflexion das Prinzip der Trennung ist.938 Wie lässt sich dieser Zwiespalt lösen? Die Liebe ist sicherlich das Grund- oder Ur-Prinzip für die Spaltung und die Ausdifferenzierung von Begriffen. Die Reflexion ist demgegenüber, worauf Fichte mit Betonung hinweist, dasjenige, das die Spaltung und damit die Begriffs- und Weltschöpfung (auf dem Hintergrund des Horizontes) in concreto aktualisiere: »[V]ermittels der Reflexion«, so Fichte wortwörtlich, sei die Welt gemacht, wobei der absolute »Grundstoff«939 diese Genese offenbar bedingen soll.940 zepte zurückgegriffen werden muss, um Fichtes Einsichten in die Genese faktischen Daseins zu erhellen. Denn auch in der neuplatonischen Tradition, zu der Fichtes Denken vor dem Hintergrund der hier erfolgten Deutungen wenigstens der Sache nach zuzurechnen ist, wird sowohl das »Faktum« des Daseins – bzw. des seienden Einen – als auch die »Bedingung der Möglichkeit« dieses Faktums fokussiert (ibid. 90–91). Dieser Fokus ist also nicht allein der Phänomenologie vorbehalten, sondern Kernelement des Neuplatonismus, insofern dieser auf einer kritischen Analyse des Denkens aufbaut. Dergestalt setzt der Neuplatonismus Plotins oder Proklos’ kein Prinzip thetisch voraus, aus dem dann alles Weitere durch Emanation hervorginge. Zu Umgang und Würdigung der Platonischen Metaphysik im Denken der Phänome­ nologie am Beispiel Edmund Husserls s. die Ausführungen Thomas Arnolds, durch die die häufig gesetzten Grenzen zwischen vormoderner und moderner Philosophie pointiert überwunden werden (Phänomenologie als Platonismus, 276–317). 938 GA I/9, p. 96, lin. 21–22. 939 Rein terminologisch erinnert Fichtes absoluter Grundstoff an Plotins »intelligible Materie« (Enn. II 4). Hierbei ist aber darauf zu verweisen, dass der Grundstoff in Fichtes Denken keine bloße Möglichkeit sein kann. Er ist nämlich Prinzip der Begriffsbildung: Wir sind durch ihn ermächtigt, Begriffe abzusetzen. Und deshalb kann der Grundstoff Fichtes mit dem δύναμις-Konzept der paganen und den Gottes­ vorstellungen der christlichen Neuplatoniker parallelisiert werden. 940 Vgl. auch GA I/9, p. 97, lin. 19–25: »Das Wissen, als ein Unterscheiden, ist ein Charakterisieren der Unterschiedenen; alle Charakteristik aber setzt durch sich selbst das stehende und ruhende Seyn und Vorhandenseyn des charakterisiert werdenden voraus. Also, durch den Begriff wird zu einem – Stehenden, und Vorhandenen Seyn [...] dasjenige, was an sich unmittelbar das göttliche Leben im Leben ist [...].«

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Wir dürfen schlussfolgern, dass die Reflexion den absoluten Grund­ stoff in ein Objekt verwandelt.941 Die Liebe ist demnach die Bedingung der Möglichkeit aller Bestimmungsbildungen.942 Die eigentliche Spal­ tung vollzieht die Reflexion,943 wobei die Liebe, die nichts anderes als das ist, was Wolfram Hogrebe »Distinktionsdimension« nennt, uns zur Reflexion ermächtigt. Das Absolute ist dergestalt bei Fichte und insofern es als Horizont gedacht wird, das Scheinen selber, womit die Henologie Fichtes in ihrem Grundpunkt als Henophanie ausgewiesen wäre, weil an diesem Scheinen alle Einheiten und Differenzen hängen. Es ist aber die Reflexion, die das reine Liebeslicht in die mannigfal­ tigen Farben aufbricht und so Bestimmungen aktiv realisiert oder aktualisiert.944 Der Grundstoff absoluter Liebe ist demgegenüber die Ur-›Differenz‹, die das konkrete Verbinden, Differenzieren und GA I/9, p. 167, lin. 20–24. Zum Verhältnis des Grundstoffes zur Reflexion insgesamt s. GA I/9, p. 166, lin. 35 – p. 167, lin. 1. Auf diesem Hintergrund sind dann auch folgende Äußerungen zu verstehen; Johann Gottlieb Fichte’s sämmtliche Werke IX p. 101: »Dies ist nun das absolute Neue unserer Lehre; aber gerade in dieser Rücksicht ist sie kaum vernommen worden: dieses Dreifache, daß der absolute Anfang und Träger von Allem reines Leben sey; alles Daseyn und alle Erscheinung aber Bild oder Sehen dieses absoluten Lebens sey, und daß erst das Produkt dieses Sehens sey das Seyn an sich.« 942 Vor diesem Hintergrund kann auch Fichtes Aussage verstanden werden, dass die Tatsache, dass einige Menschen noch nicht zur reinen Gottesliebe vorgedrungen seien, »nicht unmittelbar die Abwesenheit der Liebe« anzeige (GA I/9, p. 170, lin. 22–23). Wenn uns das Absolute, das »Gute«, fortwährend umgibt (GA I/9, p. 172, lin. 5), dann ist es doch wohl auch für die Begriffsbildung, die unser eigentliches philosophisches Geschäft ist, konstitutiv. Jeder Begriff ist eine konkrete Erscheinung des Absoluten; GA I/9, p. 170, lin. 12–19: »Die Liebe ist ewig ganz, und in sich gedrungen, sagten wir; und sie hat in sich, als Liebe, ewig die Realität ganz; bloß und lediglich die Refle­ xion ist es, welche theilt und spaltet. Darum ist auch – hierdurch kommen wir zu dem Punkte zurück, bei welchem wir in der vorigen Rede stehen blieben, – darum ist auch die Spaltung des Einen göttlichen Lebens in verschiedene Individuen keinesweges in der Liebe, sondern, sie ist lediglich in der Reflexion. Das sich unmittelbar, als han­ delnd, erscheinende Individuum sonach, und alle außer ihm erscheinende Individuen, sind lediglich, die Erscheinung der Einen Liebe, keinesweges aber, die Sache selbst.« Vgl. dazu § 48. 943 GA I/9, p. 169, lin. 3–4. – Genau dies ist die Präzisierung der Cusanischen Prinzipientheorie, wobei in dieser bereits angelegt ist, dass jedes konkrete Wesen nichts anderes ist als der Akt konkreter Selbstbezüglichkeit, der freilich vom Absoluten getragen und bedingt wird. Das Absolute leitet dabei den Blick, bleibt aber immer unkonkret. Damit avanciert das Absolute zum ›Überperspektivischen‹, das alle kon­ kreten Perspektiven leitet. Und dieses ist die Bedingung jeder Konkretion. 944 Vgl. Paimann: Die Logik und das Absolute, 224: »Am Absolutem (als reinem Licht) muß der Begriff scheitern (sich brechen), damit in der Begriffsvernichtung aufgrund 941

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Begriffsbilden bedingt und die von der Reflexion stets in Anspruch genommen wird. Wir können in diesem Zusammenhang also von einem Aufbrechen oder Aufspannen des protologischen Ur-›Raumes‹ sprechen, wobei zu beachten bleibt, dass dieser, wie schon Proklos’ henologisch-pronoetische Ur-Dimension, niemals seine Kontinuität und Reinheit verliert. Die Reflexion wird also durch die unaustilgbare Grunddynamik der Liebe immer weiter getrieben. Begreifen und Reflexion sind durch die Liebe dazu ermächtigt, stets mit den sie cha­ rakterisierenden Aktivitäten fortzufahren: Begreifen und Reflexion können so niemals abbrechen, zumal der schiere Tod des Denkens von Fichte ohnehin verabschiedet wurde. Die Kontinuität von Begreifen und Reflexion lässt sich aber nur erklären, weil die Realisierung der Liebe in und durch Begreifen und Reflektieren nicht vollständig erreicht wird. In ihrem Vollzug heben Begreifen und Reflektieren die Ur-Kraft – oder: δύναμις – des Absoluten nicht auf. Fichte deutet auf dem Hintergrund der Ur-Kraft das Dasein, worin absolutes Wissen und Denken, intellektuelle Anschauung, vollständiges Begreifen und vollendetes Reflektieren vereint sind, als stete Performativität.945

§ 47) Das Bild als spannungsgeladenes Paradoxon – oder: über Entzug und Präsenz des Absoluten Der Begriff des Bildes wird in der neuplatonischen Tradition – wie wir oben bereits sehen konnten – in einem speziellen Sinne verstanden, wenn er in Bezug auf das Absolute angewendet wird. Sprechen Plotin oder Proklos von einem Bild des Absoluten, dann denken sie den Bildbegriff nicht im Sinne eines Abbildes, sondern im Sinne eines transzendenten Bildkonzeptes. Auch bei Fichte können wir bereits jetzt ähnliches vermuten.946 Und genau diesem bereits betretenen der stets wiederkehrenden Unbegreifbarkeit sowohl das Absolute erahnbar als auch der Begriff bestimmbar werden.« 945 Aufgrund ihrer Transzendenz geht die Ur-Kraft nicht in das Dasein über, sondern bleibt gründende Kraft, durch die das Begreifen als solches stets in Gang gehalten wird. Dieser Sachverhalt lässt sich auch folgendermaßen formulieren: Der Selbstbezug des Absoluten, in dem es sich in sich abschließt, hält unsere Begriffsbildung in Gang. 946 Insofern Fichte – wie sich noch zeigen wird – ein transzendentes Bildkonzept vertritt, kann seine Bildtheorie in sachlicher Analogie zu Hans Blumenbergs Meta­ phorologie und Karl Jaspers’ Chiffrenphilosophie gelesen werden. Zwar ist darauf zu verweisen, dass Fichte Metaphern gegenüber eine kritische Haltung einzunehmen

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Pfad wollen wir im Folgenden in aller Kürze nachspüren. Dabei geht es wohlgemerkt nicht um eine Darlegung der äußerst komplexen Bildtheorie Fichtes im Ganzen.947 Vielmehr soll herausgearbeitet werden, inwiefern der Bildbegriff Transzendenz nicht nur impliziert, sondern sogar fordert. Fichte erörtert vorzugsweise im Bildbegriff die Frage, ob das Absolute, das vollkommen transzendent sein soll, überhaupt thema­ tisiert werden könne. Allein die Frage nach der Thematisierbarkeit des Absoluten ist aber heikel, impliziert sie doch die Annahme, das Absolute würde wie jedes andere Denkobjekt einen epistemischen Zugang gewähren. Die Frage, ob sich das Absolute thematisieren lasse, ist aber im Grunde falsch gestellt. Wie wir bei Plotin und Proklos sehen konnten, wird die Ek-sistenz des Absoluten nur in uns erfahren – und deswegen verlagert sich die Thematisierung des Absoluten auf das Streben. Die hier diskutierten christliche Denker gehen ähnlich vor: Auch sie thematisieren das Absolute im Bild. Sie erkennen auf der Grundlage ihrer Analyse von Sein und Denken, dass das Begreifen stets vom Absoluten abgewiesen wird. Sie versuchen aber darüber hinaus, die – freilich opaken – Sub-›Strukturen‹ des Absoluten durch eine Ent-Kategorialisierung ihrer Rede von diesem zu illustrieren. Wie aber löst nun Fichte dieses gravierende Problem? Vor dem Hintergrund der zurückliegenden Untersuchung kön­ nen wir diese Frage im Hinblick auf Fichte im Grunde genommen bereits beantworten: Das Absolute wird verstanden als Klarheit, durch die hindurch wir wissen können, die aber aufgrund ihrer reinen Luzidität als unkonturiert vorgestellt wird und daher als Verborgenheit begriffen werden muss. Es wird thematisiert als Präsenz und Entzug. scheint (GA I/9, p. 116). Diese Kritik diminuiert aber nicht die zentrale Funktion von Metaphern, spricht sich also nicht grundsätzlich gegen eine Metaphorologie aus. Denn Fichte verwendet seine Bilder vom Absoluten im Sinne von raumöffnenden wie sinnstiftenden Metaphern bzw. Chiffren. Fichte positioniert sich hier nur gegen eine mögliche Trivialisierung des geradezu existenziellen Gehaltes seiner mit Metaphern durchaus angereicherten Philosophie. Für Fichte inhäriert seinen metaphorischen Bildern ein philosophischer Ernst, der nicht zum bloßen Sprachspiel verkommen darf. 947 Zum Bildbegriff Fichtes s. bes. Janke: Vom Bilde des Absoluten. Christoph Asmuth. »Die Lehre vom Bild in der Wissenstheorie Johann Gottlieb Fichtes«. In: Christoph Asmuth (Hg). Sein – Reflexion – Freiheit: Aspekte der Philosophie Johann Gottlieb Fichtes. Amsterdam/Philadelphia: Grüner 1997, 269–299. Cürsgen: »Die Unbegreif­ lichkeit des Absoluten«, bes. 115–116. Paimann: Die Logik und das Absolute, bes. 444– 481 und 481–502. Alexander Schnell. »Die drei Bildtypen in der transzendentalen Bildlehre J. G. Fichtes«. Fichte-Studien 42 (2016), 49–65.

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Allein diese Aussagen ermöglichen einen ersten klärenden Blick auf den bei Fichte höchst prominenten Bildbegriff: Wenn das Absolute an ihm selber gar nicht verstanden werden und man über dieses letztlich nur schweigen kann – und sogar dieses Schweigen im Grunde schon zu viel über das Absolute aussagt –, dann kann es streng genommen nicht zu einer Abbildung des Absoluten kommen. Viel­ mehr geht es um die Selbstaufklärung des Bildes: Das Bild soll sein, um das Absolute zur Erscheinung bringen zu können. Können wir das Absolute nicht an ihm selber thematisieren, erfolgt der extremste Selbstbescheid: In der versuchten Schau des Absoluten sind wir auf uns selbst zurückgeworfen. Es kommt zu keiner Abbildung, keiner Nachahmung, die durch eine direkte, wissenschaftlich kontrollierte Beobachtung – etwa im Sinne einer empirischen oder überhaupt quantifizierbaren (Kultur-)Wissenschaft – bedingt wäre, sondern zur Selbstbildung des Bildes im Angesicht der Transzendenz des Absolu­ ten. Nur in einer indirekten Retrospektion werden Begriffe gebildet, die unser Verständnis für die Transzendenz aufschließen sollen. Ihre Form aber verweist stets darauf, dass die Begriffe das Absolute nicht umgriffen haben, sodass es zur Tilgung ihrer Gültigkeit oder ihres ganzen Wesens im Angesicht des Absoluten kommen muss, denn die sog. Adäquationstheorie ist im Hinblick auf das Absolute unange­ messen. In diesem Zuge entstehen aber Philosophierenden immer neue Begriffe, wodurch sich, wie bereits gesagt, die Produktivität des Transzendenzbezugs bekundet. Im Folgenden werden wir diesen Sachverhalt anhand des Bildbegriffs in der Philosophie Fichtes weiter verfolgen, vor allem um die komplexe Frage zu lösen, warum sich das Bild bzw. das Wissen nach Fichte selber bilden soll, aber als Bild des Absoluten doch offenbar auf das Absolute angewiesen zu sein scheint, wenngleich sich gerade dadurch und erneut das Problem einstellt, inwiefern sich das Absolute als Prinzip thematisieren lässt. In seiner Wissenschaftslehre 1813 bestimmt Fichte das absolute Wissen nicht nur als Bild, sondern, so präzisiert er, als Bild des Abso­ luten.948 Damit gerät Fichte unversehens ins Fahrwasser Plotinischen Denkens, denn Plotin hat den absoluten Geist, wie wir bereits oben sehen konnten, als Bild des Absoluten begriffen. Genauso wie bei Plotin und in offensichtlicher Kontinuität zum Platonischen Sophistês kann das Bild bei Fichte als Zusammenfallen (συμπλοκή) von Sein GA IV/6, p. 276, lin. 13–14: »[D]as Wissen ist durch und durch Bild und zwar Bild des Einen, des Absoluten.«

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und Nicht-Sein bestimmt werden.949 Das Nicht-Sein ist freilich nicht Nichts – dieses wurde von Fichte ohnehin schon als Denkunmöglich­ keit ausgewiesen –, sondern es hat selber ein Sein bzw. es ist, genauer gesagt, Da-Sein.950 Damit ist das Bild ein relatives Nicht-Sein und letztlich positiv gesetzt. Das Sein wiederum ist nicht das Bild, wenngleich das Sein dem Bild immanent ist, da die Entgegensetzung von Sein und Dasein im Dasein vollzogen wird. In der wechselseitigen Durchdringung von Sein und Dasein pointiert Fichte freilich die Abhängigkeit des Bildes im Hinblick auf das Sein: Das Bild habe nämlich »eine Bezie­ hung auf das Seyn, u. ohne Seyn vermöchte auch nicht zu seyn ein Bild.«951 Dergestalt hat das Bild Teil am Sein und besitzt kraft dieser ›Teilhabe‹952 selber den Charakter des Seienden. Insofern ist das Bild (onto)logisch auf das Sein bezogen, verwiesen oder angewiesen. Das Seinsbedürfnis des Bildes drückt sich in diesem Verwiesen-Sein aus. Teilhabe meint also das Verwiesen-Sein und Angewiesen-Sein des Bildes auf das Sein, wodurch sich sein Bildcharakter überhaupt erst erschließt. Dabei ist das Sein nicht als es selbst im Bild präsent, weil ansonsten das Dasein nichts anderes als das Sein wäre – denn Fichte 949 Die Fichteforschung hat die Kontinuität des Bildbegriffes von Platon zu Fichte unbeschadet der Frage, wie Fichte von dieser Theorie wissen konnte, bereits erkannt und betont (Janke: Vom Bilde des Absoluten, 126–134. Alessandro Bertinetto. »Das Bild als Durch-Einheit: Das Bild und die Wissenschaftslehre«. Fichte-Studien 42 (2016), 67–76; hier 75). Im Hinblick auf den Bildbegriff ist aber Folgendes in Erin­ nerung zu rufen: Im Neuplatonismus gibt es mehrere Ebenen des Bildkonzeptes. Die Welt ist, grob gesagt, Bild des Intelligiblen und das Intelligible ist Bild des Absoluten. Das Bild des Absoluten, insofern es Bild der Transzendenz ist, ist aber völlig anders geartet als das Bild des Intelligiblen, das in der Tat als Abbild begriffen werden kann. Wir haben also zwischen einem transzendenten und nicht-mimetischen Bildbegriff einerseits und einem mimetischen Bildbegriff andererseits zu unterscheiden. S. dazu § 12 und die folgenden Erörterungen. 950 GA I/9, bes. p. 56. Vgl. auch die ersten vier Vorlesungen insgesamt, in denen Fichte mit dem Verhältnis von Sein und Dasein ringt. Die ultimative Lösung des Problems des Daseins des Absoluten wird freilich erst in der zehnten Vorlesung prä­ sentiert. 951 GA II/15, p. 122, lin. 14–15. 952 Fichte spricht selber von Teilhabe (GA I/9, p. 108, lin. 21 – p. 109, lin. 2) und greift damit offenbar auf das vertikale Teilhabeverständnis des Platonismus zurück. Bei Proklos allerdings wird die ›vertikale‹, also begründende, Teilhabe durch eine negative Prinzipientheorie ersetzt und die Teilhabe vor allem auf die wechselseitige Durchdringung der Ideen angewendet.

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beabsichtigt keine tautologische Vermischung von Sein und Dasein. Präsent ist das Sein als der Träger des Daseins und doch bleibt es entzogen. Im daseienden Nicht-Sein des Bildes wird das Sein offenbar repräsentiert, denn ein Bild ohne Repräsentation ist nach Fichte kein Bild.953 Die Repräsentation meint freilich nicht, dass das Sein vollständig aus sich heraus in das Bild einginge. Vielmehr verweist das Bild über sich selbst hinaus. Der Begriff der Repräsentation kann sicherlich leicht zu der Annahme führen, Fichte habe einen mimetischen, also nachahmen­ den, Bildbegriff konstruieren wollen. Das nachahmende Bildkonzept lässt sich problemlos an jedem beliebigen Portrait illustrieren, auch wenn dieses das Original verfälschen mag, etwa dadurch, dass die portraitierte Person vorteilhafter oder weniger vorteilhaft dargestellt wird, als sie tatschlich aussieht.954 Ein Portrait veranschaulicht, dass es sich bei Bildkonzeptionen um ein asymmetrisches Verhältnis handelt. Dergestalt ähnelt zwar das Bild dem Original, aber das Original ähnelt umgekehrt nicht dem Bild. Grundsätzlich gilt daher, dass sich das Bild als μίμησις, also als bloße Nachahmung eines freilich unerreichbaren Originals und als Abkünftigkeit von diesem Original, zeigt. Gegen die nachahmende Konzeption des Bildes hatte Platon bekanntlich Einspruch erhoben und damit die mimetische Kunst einer grundsätzlichen Kritik unterzogen.955 Doch um diesen Bildbegriff geht es weder in der Henologie Plotins oder Proklos’ noch in der Erscheinungslehre Fichtes. Mit »Bild« meint Fichte nicht irgendeine Abbildung eines beliebigen Gegenstandes, eines vermeintlich extra­ mentalen ›Dinges-an-sich‹. Vielmehr geht es Fichte um einen Bildbe­ griff, der die Genese absoluten Wissens aufschlüsselt. Mit anderen Worten geht es um den Akt des (Sich-selber-)Bildens – verbaliter und als Aktivität verstanden – des absoluten Wissens.956 Doch diese Deutung des Fichteschen Bildbegriffes ist für sich genommen trivial. Auch wenn es Fichte dezidiert um den Bildungsakt des Wissens zu tun ist, bleibt gleichwohl die Ausrichtung oder der Fokus auf das GA II/8, p. 100. Am eigenen Leib hat der Despot Heinrich VIII. diesen Umstand erfahren: Zwar gefiel ihm das Portrait Anna von Kleves aus der Feder Hans Holbeins des Jüngeren, aber nicht diese selbst (s. Helga Thoma. Ungeliebte Königin: Ehetragödien an Europas Fürstenhöfen. München/Zürich: Piper, 22003, 37–39). 955 Platon: Resp. X 595A-604B. 956 Bilden und Konstruieren werden von Fichte identifiziert (etwa GA II/8, p. 396, lin. 28). 953

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Absolute bestimmend – allerdings dergestalt, dass das Absolute nicht einfachhin abgebildet wird. Denn eine Abbildung implizierte, dass es sich beim Absoluten um ein abbildbares Seiendes handelte. Die­ ser nicht-mimetische Bildbegriff kommt also ohne das Konzept der Transzendenz gar nicht aus, weshalb wir ihn als transzendente Bild­ konzeption fassen müssen. Das Bild ist eigentlich ein negativer Begriff, womit Fichtes Bildlehre mit Plotins Begriff des »liebenden Geistes« und vor allem Proklos’ Konzept des »Einen in uns« parallelisiert werden kann.957 Das Bild hat also offenbar den Transzendenzaspekt in sich; denn es ist ein ›Zeigen‹ in und aus der Daseinsimmanenz heraus, worin freilich die Grenzen des Bildes nicht übersprungen werden. Daher können wir das Bild bei Fichte folgendermaßen deuten: Es ist die Erscheinung eines an ihm selbst Nicht-Erscheinenden.958 Bevor wir aber zur näheren Explikation dieses komplexen und schwer verständlichen Bildkonzeptes kommen können, muss zunächst auf den Umstand hingewiesen werden, dass es sich bei Fich­ tes Philosophie sicherlich um (i) eine Lehre vom Bild (des Absoluten) handelt: Es geht ihm dergestalt um die innere Struktur des Bildes, also auf die dem Bild immanente Bildkonstruktion oder das Sich-Ver­ stehen des Bildes.959 Diesbezüglich kann man sich auf die Aussage Fichtes berufen, dass die Wissenschaftslehre im Grunde keine Seins-, sondern eine Erscheinungs- oder Bildlehre sei. Nichtsdestoweniger dürfte durch die bisherigen Ausführungen geklärt sein, dass Fich­ tes Lehre auch einen ganz unmissverständlichen Absolutheitsbezug aufweist. Wenn nämlich die »Hülle«960, die das Absolute umgibt, vernichtet werden soll, um das Absolute rein zu »[s]chauen«961, dann wird die Schau des Absoluten als höchster Gesichtspunkt der Wis­ senslehre apostrophiert. Noch ausschlaggebender im vorliegenden Fall ist, dass Fichte dezidiert Gottesbegriffe entwirft, mit denen er offenbar die innere Dynamik des Absoluten verdeutlichen will. Er Das Bild ist also Verweis auf das Jenseitige seiner selbst. Von einem »negativen Begriff« ist sogar in der Ausgabe von Immanuel Herrmann Fichte (Johann Gottlieb Fichte’s sämmtliche Werke I p. 564) die Rede, wobei dieser Ausdruck in der kritischen Edition der Thatsachen des Bewußtseyns fehlt (GA II/15, p. 122). 958 Diese Formel geht auf Eriugena zurück (Periphys. III 589–598 (PL 122, 633A–B), verweist aber weiter auf Platons Bildlehre (Soph. 204B–C). 959 S. etwa Schnell: »Die drei Bildtypen«, 49–65. Diese Perspektive darf aber unter keinen Umständen verabsolutiert werden. 960 GA II/9, p. 454, lin. 9. 961 GA I/9, p. 112. Vgl. GA II/9, p. 454, lin. 14. 957

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bestätigt sogar, dass das Bild »Repräsentant«, ja »Abbildung« bleibe, denn ein Bild ohne »Repräsentant«, ein Bild ohne »Abgebildetes« sei kein Bild.962 Vor diesem Hintergrund jedenfalls scheint Fichte der Tradition christlicher Neuplatoniker durchaus nahe zu stehen, weil diese ihrerseits Gottesbegriffe, etwa amor, oppositio oppositorum, actus purus, posse ipsum oder non aliud, zur Illustration der opaken Sub-›Strukturen‹ des Absoluten konzipiert haben. Vor diesem Hintergrund müssen wir das Bild bei Fichte auch dezidiert als Bild des Absoluten (ii),963 also als dessen Illustration, verstehen. Zu beachten bleibt aber, so sei hier gleich vermerkt, dass das Bild selbst, auch in dieser zweiten Variante als Bild des Absoluten, weiterhin als Bild im Fokus bleibt und sich dergestalt über sich selber aufklärt. Wir können es vorläufig auch so ausdrücken: Das Bild des Absoluten sagt letztlich ›mehr‹ über sich selbst als über das Absolute aus. Können nun, so wollen wir fragen, diese beiden Perspektiven verknüpften werden, und, wenn ja, wie? Fichte konstruiert das Wissen als sich selber bildendes Bild und hält – wie Proklos – entschieden daran fest, dass sich das Bild gerade als Bild und nicht als das Absolute selber fasst, sodass es überhaupt erst zur Realisierung vollendeten Selbstbewusstseins wie im Falle der αὐθυπόστατα kommt.964 Wie in § 45 beschrieben, können wir bei Fichte ein produktives Scheitern am Absoluten konstatieren, wodurch sich das Bild seines unüberspringbaren Bildstatus’ bewusst wird. Vor 962 GA II/8, p. 100, lin. 25–27: »[D]enn es ist klar, daß ein Repräsentant, ohne die Repräsentation des darin Repräsentierten, ein Bild, ohne Abbildung des Abgebildeten, Nichts ist.« Vgl. GA I/9, p. 97, lin. 3–7. 963 Wenn uns Fichte verdeutlicht, dass wir es über die absolute Abstraktion als Absolutes, als Leben, als Liebe etc. begriffen haben, so weist er uns stets explizit auf die Konjunktion »Als« hin (GA I/9, p. 96, lin. 17 – p. 97, lin. 2). Durch das »Als« wird angezeigt, dass wir nicht das Absolute selbst begreifen, sondern bloß dessen »Bild« anschauen: Das »Als« zeigt also bei Fichte unsere Entzweiung vom Absoluten an, womit er die Position Plotins, Proklos’, Eriugenas und Cusanus’ der Sache nach reformuliert. 964 Dass sich ein ähnlich gelagertes Problem wie bei Proklos auch bei Fichte finden lässt, ist der Forschung nicht entgangen. Vgl. dazu Janke: Vom Bilde des Absoluten, 267, Anm. 100, der sich mit folgenden Worten gegen die Deutung Karen Gloys stellt: »Natürlich bleiben Reflexion und Selbstbeziehung auf dem Grunde des Sich-Setzens erhalten, aber nicht mehr als Einheitsgrund, wohl aber als Konstitutionsmomente. Die causa-sui-Problematik tritt auf, wenn das Sich-Setzen gegen Fichtes Monitum als Existenzerzeugung und Ins-Dasein-Rufen unter der temporalen bzw. logischen Ursa­ che-Wirkung-Kategorie und nicht als ursprüngliches Fürsichwerden verstanden wird [...].«

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dem Hintergrund der beschriebenen protologischen Ur-›Kreativität‹ des Absoluten bei Fichte (§ 46), die bei diesem in Verbindung mit dem transzendenten Bildbegriff steht, müssen wir aber freilich eine Präzi­ sierung vornehmen. Um diese Aufgabe zu lösen, gilt es zunächst ein­ mal zu beachten, dass jeder Begriff im Grunde Bild des Absoluten ist.965 Sämtliche Begriffe, alles Begreifen und Wissen und letztlich auch alle Beschreibungen des Absoluten sind als Begriffe nie das Absolute selber, sondern beschreiben oder illustrieren indirekt das, was im Begreifen nicht unmittelbar erfasst werden kann und an ihm selbst nicht erscheint: Begriffe sind also Selbstillustrationen und zugleich Erscheinungen des Absoluten. Wieso aber können wir behaupten, dass das absolute Wissen im Allgemeinen und ferner alle Begriffe und im Grunde jedes Wissen im Speziellen Bilder des Abso­ luten sind, auch wenn es uns in der Konstruktion von Begriffen gar nicht immer darum zu tun ist, dezidiert ein Bild des Absoluten zu ent­ werfen? Wenn wir im Allgemeinen den Akt des Begreifens vollziehen, verwandeln wir, wie zuvor bereits erörtert, die ursprüngliche Kraft und es ereignet sich ein stehender Begriff. Wenn das Begreifen, ganz gleich in welche ›Richtung‹ wir uns wenden, einsetzt, brechen wir den ursprünglichen Horizont, vor dem wir sehen und begreifen, auf, und setzen so Begriffe ab. Die Begriffe werden durch die einsetzende Reflexion, also durch uns, und vor dem Hintergrund reiner Luzidität gebildet.966 Auch dann, wenn wir uns gezielt diesem ›hintergründi­ gen‹ Horizont zuwenden, weil wir die Ur-Tat des Absoluten selber begreifen wollen, setzen wir diesen Horizont voraus, brechen so aber den protologischen Ur-›Raum‹ auf und setzen einen Begriff des Absoluten ab. Die Reflexion spaltet also den reinen göttlichen Vollzug auf und beraubt diesen seiner ursprünglichen Kraft, unbe­ schadet der bleibenden Innerlichkeit und Kontinuität des absoluten Vollziehens. Wenden wir uns gezielt dem Absoluten als der uns vermutlich leitenden Tat zu, kommt es zum Begreifen des Absoluten als Unbegreifliches, da wir das, was in jedem Reflexionsakt voraus­ Auf diesem Hintergrund kann man durchaus, freilich im übertragenen Sinne, von der ›Fleischwerdung‹ Gottes sprechen. S. dazu Kühn: »›Fleisch‹ und persönliches Dasein«, bes. 205. 966 Hier zeigt sich erneut die spezifisch Fichtesche Form des produktiven Scheiterns am Absoluten. Dieses spezifische Scheitern können wir auch bei Proklos finden: Das positive Begreifen scheitert nicht nur am Absoluten, sondern bereits an den Henaden, die das Begreifen in ihrer Reinheit nicht (aus-)halten kann.

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gesetzt wird, nicht in diesem einholen, umgreifen oder einhegen können. Wir können diesen Umstand auch noch pointierter darlegen: Immer dann, wenn wir im Begreifen verweisen, oder Begriffe, die gerade zurück-verweisen, absetzen, greifen wir auf ›etwas‹ aus, das wir zur Konstruktion des Begriffes benötigen. Auch wenn wir etwa das Absolute freizulegen versuchen, so greifen wir auf dieses ›etwas‹ aus. Aber dieses ›etwas‹ lässt sich in seiner Reinheit schlicht nicht Re- oder Nachkonstruieren: Dafür kommt das Begreifen, so darf man es wohl formulieren, immer zu spät.967 Auch die höchste Einsicht, die darin besteht, dass das Absolute vom Begreifen als Voraussetzung jedes Denk-, Wissens- und Verstehensaktes begriffen wird, ist wiederum durch das Absolute bedingt und geleitet und damit durch das Prinzip fundiert, welches wir immer voraussetzen. Indem wir einsehen, dass wir das Absolute voraussetzen müssen, nehmen wir es bereits in Anspruch, sodass jede Einsicht durch dasjenige fundiert ist, was sich uns im Begreifen entzieht.968 Dieses ›Prinzip‹ bleibt unverfügbar und ist doch wiederum als Bedingung präsent – wobei wir das Absolute im Begreifen verständlich gemacht haben. Aus diesem Paradoxon des steten Aus- und Vorgreifens gibt es kein Entrinnen, weil wir durch­ aus gerechtfertigt969 auf ein Proto-›Sein‹ verweisen, das in seiner Annahme notwendig erscheint. Dadurch werden erneut die Parallelen zur neuplatonischen Tradition ersichtlich, gerade weil diese durch eine paradoxieverliebte Denkweise charakterisiert ist. In diesem Verweisen klärt sich der Bildbegriff über sich auf: Die Geschlossenheit, die wir auf das Absolute übertragen, sagt nämlich mehr über uns und unser Verwiesen-Sein auf das Absolute als über das Absolute aus: Aus diesem Verweisen kommt das Bild nie heraus, es erfährt sich darin als begrenzt. Das Bild wiederum kann seine Grenze nur negativ angeben, weshalb Bild und Begriff in ihrer Spitze nichts anderes als die Negationen des Begriffes und der Begreifbarkeit des Absoluten sind.970 Daraus ergeben sich zwei wichtige Konsequenzen. (a) Jeder Akt des Verstehens ist bedingt und geleitet durch das Absolute. Dergestalt wird das Absolute als die Funktion erkennbar, GA I/9, p. 167. Ähnlich schon Schlösser: Das Erfassen des Einleuchtens, 155, der zutreffend von einem »Horizont« spricht, der gegenwärtig sein muss, weil er stets von uns in Anspruch genommen wird, auch wenn er sich dem konkreten Erfassen entziehen mag. 969 Fichte bezieht diese Rechtfertigung u.a. aus der oben geschilderten Überwindung von Idealismus und Realismus. 970 GA I/9, p. 167, lin. 7. 967

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die das Wissen bei genauer Analyse als notwendig rekonstruiert. Das Absolute fungiert bei Fichte als Träger des Verstehens, worin sich das Wissen letztlich als sich selber bildendes Bild begreifen kann. Die konkrete Lebendigkeit des Verstehens in jedem Verständnisakt ist nur vor dem Hintergrund der reinen Lebendigkeit möglich. Damit ist alles Konkrete (freilich indirekt) durch das Absolute gebildet, und darin liegt kein einfaches Abbilden, keine μίμησις, mehr vor. Das Absolute mag sich in diesem Zuge selber nicht verstehen, aber es macht sich verständlich, indem es das Verstehen und so den klärenden Blick des Begreifens auf es selbst bedingt: Es ist die nicht aus sich heraustretende Bedingung der Möglichkeit des (Sich-)Verstehens. (b) Wie gesagt holen wir diese Ur-Tat im Begreifen nicht ein. Sogar eine absolute Abstraktion bleibt immer nur ein Moment die­ ser versuchten Rekonstruktion. Interessanterweise erscheint nämlich eine absolute Abstraktion immer nur an Anderem, im Speziellen an Idealismus und Realismus, die in einem letzten Negationsakt überschritten werden sollen. Das Absolute kann, weil es an ihm sel­ ber nicht erscheint,971 nur anhand der erscheinenden Grundstruktur des (absoluten) Wissens verständlich gemacht werden. Vor diesem Hintergrund kann die absolute Abstraktion Fichtes mit dem Cusani­ schen Nicht-Anderen parallelisiert und als Moment des Begreifens gewertet werden. Aus dem unauslöschlichen Streben heraus, das Absolute in den Blick zu nehmen, ergibt sich ein Zwiespalt, nämlich aus dem steten Ausgreifen auf das, was alles Begreifen trägt, und dem Nicht-Begreifen-Können des Absoluten. Daraus folgt, dass das Bild des Absoluten, sowohl das Bild als auch dezidiert das Bild des Absoluten, generell durch eine innere Spannung gekennzeichnet ist: Weil das Begreifen stets auf das Absolute, das uns anzieht und uns daher zu sich hinaufspannt, zurückverwiesen972 ist, aber niemals beim Absoluten ankommt, es also nicht wird, ist es durch eine Spannung charakterisiert, die man auch als Grundparadoxon der Fichteschen Bild-, Begriffs- oder Wissenslehre begreifen kann. Jeder Begriff ist Verwiesen-Sein auf das Absolute, weil er auf seine Bedingung, die ihn trägt, stets zurückverweist. Zugleich ist er nie diese Bedingung 971 Man hat zu beachten, dass es im Grunde – wie schon bei Plotin – kein ›An-sich‹ des Absoluten geben kann, weil dieses ›An-sich‹ mit dem ›Für-uns‹ in eine Dichotomie gerät: Verwiesen sei daher auf die auch auf Fichtes Denken zutreffende Analyse von ›An-sich‹ und ›Für-uns‹ bei Plotin (§ 12). 972 Jedes Begreifen geschieht im Lichte des Absoluten, sodass jenes stets von diesem getragen wird.

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selber, weil er von dieser abgewiesen oder abgesetzt wird, indem er sich an ihr versucht. Das Hinspannen ist Charakteristikum des Begriffs und überhaupt des Bildes, vor allem des absoluten Wissens, wobei diese Spannung das – paradoxe – Sein oder Wesen des Bildes ausmacht. Ohne Attraktion und Entzug des Absoluten gäbe es gar keine Grundspannung des Begriffs. Diese ist vielmehr der Inbegriff des Bildes. Auf dieser Grundlage können wir nun einen genaueren Blick auf die Repräsentation des Absoluten werfen: Bei Fichte bleibt offenbar das Ansinnen bestehen, das Absolute selber gewissermaßen aufzu­ schließen. Gegenüber einer Abbildfunktion des Bildes ist aber schon Alexander Schnell zu Recht kritisch eingestellt: Der Begriff sei, womit er sich direkt auf Fichte berufen kann, leer und tot. Die Leere und morbide Sterilität des Begriffes könnten daher unmöglich die innere Lebendigkeit des Absoluten abbilden.973 Und doch lässt sich feststel­ len, dass der Begriff nicht schlechthin tot ist.974 Der schiere Tod, der als nihil privatissimum vorgestellt wird, ist eine Denkunmöglichkeit, jede Erscheinung ist daher immer eine »Vermischung« aus Tod und Leben.975 Die verbleibende Lebendigkeit des Begriffs dokumentiert sich sogar in der Spannung des nachkonstruierenden Begriffs, die das eigene ›Leben‹ des Begreifens ausmacht. Gerade dadurch wird der Begriff, insofern er paradox konstruiert ist und dergestalt eine innere Spannung aufweist, zum Ausdruck der reinen Urkraft des Absoluten, zum Ausdruck seiner einenden und disjungierenden Dynamik, sei­ ner Selbstkontraktion, seiner Attraktivität und seiner Transzendenz. Damit »repräsentiert«, wie Fichte schreibt, das Bild das Absolute. Man kann sogar davon sprechen, dass das Absolute im Begriff ek-sis­ tiert,976 denn es tritt als Grundspannung in Erscheinung, wodurch sein Ek-sistieren im und als Begriff durchaus gewisse Rückschlüsse auf das Absolute zuzulassen scheint. Ein (präziser) Ausdruck977 für Schnell. »Die drei Bildtypen«, 53. Das geht schon aus dem Bildbegriff Fichtes hervor, der im Anschluss an Platons Bildkonzeption nicht schlechthinnig nicht-seiend ›ist‹, sondern als Form des Bildes das Andere dem Absoluten ›gegenüber‹ ist. 975 GA I/9, p. 56. 976 Hansjürgen Verweyen weist mit Blick auf diesen Begriff völlig zu Recht darauf hin, dass das Absolute im Grunde nicht aus sich heraustrete, sondern ganz in sich bleibe: Die Anweisung zum seligen Leben, oder auch die Religionslehre. Hrsg. von Hansjürgen Verweyen. Hamburg: Felix Meiner, 2012, xxxv. 977 Vgl. Rohstock: Der negative Selbstbezug, 115. 973

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das Absolute ist aber freilich nur in der genannten Grundspannung, ja im Grunde nur als Grundspannung formulierbar: Es kann nur als spannungsreiches Zugleich von Präsenz und Entzug dargestellt werden, wobei die vermutete und durch den Begriff angenommene Selbstkontraktion des Absoluten die Grundlage für das Dasein des Begriffs legt.978 Diese Herleitung könnte eigentlich die Vermutung bestärken, dass es bei Fichte tatsächlich einen letzten Rest einer »Abbildung« des Absoluten gäbe. Fundieren ließe sich diese Vermutung auch dadurch, dass Fichte letztlich eine realistische Position favorisiert. Auch das Absolute im spätantiken Neuplatonismus scheint eine gewisse Wirk­ lichkeit aufzuweisen, insofern es, wie auch die erwünschte Einung mit diesem, keine Illusion des Denkens ist. Kann aber vor diesem Hintergrund behauptet werden, dass auch bei Denkern radikaler Transzendenz ein letzter realistischer Rest nicht vollständig getilgt werden kann? Hierbei bleibt sogleich zu bedenken, dass ein Verweis aus der Spannung auf das Absolute immer indirekt bleibt, denn ein unmittelbares Begreifen des Absoluten, das einem Einhegen oder Dominieren desselben gleichkäme, gibt es bei Fichte wie auch bei Plotin oder Proklos nicht. Noch wichtiger aber ist, dass es durch Fichtes Überwindung von Idealismus und Realismus erneut zu einer gewissen ›Verschiebung‹ und damit zur Etablierung einer neuen Perspektive auf das Bild kommt: Indem der Begriff des Bildes neu definiert wird, wird er von seiner mimetischen Funktion befreit. Denn es geht für Fichte nicht um ein höheres Sein, das da ›irgendwo‹ schon vorläge und dergestalt abgebildet werden könnte, sondern um den Einblick in die Genese von Denken oder Wissen.979 Es handelt sich nicht um einen ontologischen Realismus, der von einem faktisch vorliegenden Absoluten ausgeht, sondern um eine transzendentalkritische Analyse von Wissen und Denken. Und im Zuge dieser Analyse werden sich Wissen und Den­ ken ihrer Genese bewusst. Sicherlich ist es dabei Fichte nicht um einen 978 Ganz ähnlich konstruiert auch Cusanus mit seinem Begriff non aliud eine Span­ nung, die auf das Absolute verweist, aber zugleich stets an Anderes gebunden bleibt. Cusanus verweist aus der Spannung des Begriffes auf eine Urenergie, die alle Bestim­ mungen und Reflexionsakte bedingt und leitet (§ 35). 979 Dadurch werden wir auch davor bewahrt, der Illusion zu erliegen, dass wir die Beziehung von Gott und Welt bzw. Ich gewissermaßen von außen betrachten könnten. Wir umgreifen diese zwei vermeintlichen Pole nicht. Wir sind nämlich selber das Ich und nur von dort aus können wir argumentieren.

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Idealismus zu tun, der sich selbst zum Absoluten erhebt, sondern um eine Position, die auf idealistischer Grundlage ihre Grenzen erfahren möchte und so in der Retrospektion gewissermaßen zum Realismus zurückfindet: Dass die Annahme eines bedingenden Absoluten keine Illusion ist, ist Resultat der Analyse des Denkens und der damit einher­ gehenden Einsicht in die Transzendenz des Absoluten. Also handelt es sich nicht um eine realistische oder theistische Setzung Gottes oder einer (extramentalen) Realität. Hierin treffen sich Fichte und der spätantike Neuplatonismus erneut: Gefordert ist die Analyse von Denken und Wissen – und dergestalt wird das Absolute nicht als Anfangspunkt vorausgesetzt. Daher kann letztlich nicht mehr von einer Abbildung gesprochen werden, denn es ist keine Urentität gesetzt, deren Sein wir im lebendigen Denken und Handeln nachahmen könnten. Das Absolute wird nicht abgebildet, sondern in der Retrospektion als notwendige Annahme und als für das Begreifen notwendiges Voraus oder »Ueberseyn« freigelegt.980 Man könnte diesen Zusammenhang auch mittels einer konservativen Projektion verdeutlichen: Eine sol­ che Projektion erbringen wir zum Beispiel beim Lesen einfacher Texte, wenn wir auf Schriftzeichen sprachlich-gedanklichen Sinn projizieren. Dabei projizieren wir aber nicht invasiv, sondern konservativ und rekonstruktiv genau denjenigen Sinn, der Kraft Autoren-Intention codiert ist. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch klären, inwiefern wir von einer Ur-Tat ausgehen dürfen, die zwar keine Reflexion sein soll und dennoch von uns und unseren subjektiven Strukturen nicht zu unterscheiden ist: Durch die Überwindung eines Idealismus, der die Reflexion als unsere Ur-Tat missversteht, und die Überwindung eines Realismus, der die absolute Ur-Tat gewissermaßen aus uns herauszusetzen droht, kommt es zur höchsten Einsicht: Die göttliche Ur-Tat wird in uns vollzogen und ist von uns nicht mehr kategorial zu trennen. Die Alternative, ob das Ich sich Gott oder Gott sich dem Ich 980 Birgit Sandkaulen deutet Fichtes Bildkonzept in Anlehnung an Jacobi, wodurch dieses erneut an den Abgrund des Nihilismus gerät (»›Bilder sind‹: Zur Ontologie des Bildes im Diskurs um 1800«. In: Joachim Bromand und Guido Kreis (Hg). Was sich nicht sagen lässt: Das Nicht-Begriffliche in Wissenschaft, Kunst und Religion. Berlin: Akademie Verlag, 2010, 469–485, bes. 469–478). Tatsächlich kann das Bild des Absoluten, wie gezeigt, nichts im eigentlichen Sinne abbilden. Die Lösung des späten Fichte besteht nun darin, einen Bildbegriff zu entwerfen, der das Absolute nicht zur Illusion verkommen lässt und zugleich nicht einfach als Abbild verstanden werden darf.

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unterzuordnen habe, um dem jeweils anderen den logischen Vortritt zu lassen, wird dadurch gelöst: Es handelt sich um unsere Tat, aber genau genommen und im Grundpunkt um die Tat des Absoluten, die unser Primäres ist und unser Innerstes ausmacht. Vor diesem Hin­ tergrund können wir sogar konstatieren, dass es sich bei all unseren Bemühungen, das Absolute zu verstehen, weniger um unseren Weg zum Absoluten, sondern um das Resultat von dessen eigenem ›Weg‹ handelt. Genauer gesagt handelt es sich um dessen Selbstbezug, weil dieser als reines Übergehen alle konkreten Übergänge bedingt und fundiert: Der reine Vollzug lebt und wirkt in uns und bedingt durch seine ungegenständliche Präsenz die Aktualisierung aller konkreten Wissens- und Denkbezüge. Vor diesem Hintergrund wird – erstens – klar, dass der Bildbe­ griff von Fichte entworfen wurde, um zu veranschaulichen, dass sich das Wissen selber versteht. Denn das Bild des Absoluten bekundet, dass das Bild als Bild immer in Spannung lebt und Begriffe webt. Das Bild des Absoluten »deutet« dieses Absolute immer nur. Diese Deu­ tung aber lässt das Bild immer auf sich selber zurückgeworfen sein. Die Bilder bleiben bei Fichte zwar durchaus Illustrationen des Abso­ luten. Und doch sagen diese immer mehr über das Bild als über das Absolute aus. Und in der versuchten Re-präsentation des Absoluten präsentiert sich das Begreifen als begrenzt und bestimmt – und damit als Nicht-Absolutheit. Bilden und Begreifen sind stets Retrospektion und keine reine oder gar mystische Schau des Absoluten.981 Der Begriff kommt nicht aus sich heraus, ist dergestalt begrenzt und also nicht das Absolute selbst. Das Bildbewusstsein ist ein Moment in uns, das uns darüber aufklärt, dass das Wissen nicht alles – und schon einmal gar nicht das uns und unsere konkreten Erkenntnisvollzüge tragende Licht des Absoluten – dominiert.982 981 Fichtes Wissenslehre könnte vor diesem Hintergrund auch als Hermeneutik des Wissens im Angesicht des Absoluten bezeichnet werden. Das Absolute, so können wir es im Rückgriff auf die Bestimmung des Menschen (GA I/6, p. 292–294 und 297–298) auch ausdrücken, ›will‹, dass wir in seinem Angesicht Selbstaufklärung in der Form transzendentalkritischer Philosophie betreiben. 982 Vgl. dazu die schon bereits mehrfach zitierte Aussage von Henrich: Dies Ich, das viel besagt, 33–35; hier 34–35: »Dieses Licht [scil. des Absoluten] können wir nicht anzünden. Denn wo wir sind, da brennt es schon. So müssen wir ›still‹ sein, wenn es aufscheint: Dennoch können wir es nicht erblicken, wenn wir untätig sind. Denn ohne unser Sehen, außerhalb seiner findet es sich nicht. Nicht durch uns bewirkt, aber doch nur im Vollzug des ›Ich‹ ist es zu finden.« Vgl. ferner Albert: Philosophie der Philosophie, 97–104.

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Wir deuten uns ferner – zweitens – als stetes Begreifen-Müs­ sen, als in Unendlichkeit fortgetriebene Begriffsbildung – und zwar deshalb, weil das Absolute eine unerreichbare unendliche Kraft ›ist‹. Aufgrund der prinzipiellen Nicht-Wissbarkeit des Absoluten und der aus der Transzendenz resultierenden inneren Spannung muss der Akt der Begriffsbildung stets weiter getrieben werden. In diesem Bewusstsein sind nach Fichte »alle Räthsel meines Daseyns«983 im Dasein geklärt.984 Die Ur-Tat des Absoluten ist im Grunde nicht zu verstehen, ja selber ein Nicht-Verstehen, aber im Sinne des Vorausseins, also ›ist‹ sie vor dem Begriff. Das Transzendie­ ren des Verstehens ist daher nicht ihre Privation. Dergestalt avanciert das Absolute also nicht zum Unverständigen, sondern zu der dem Verstehen stets im ›Rücken‹ liegenden Transzendenz. Das Bild hat sich demnach vollständig über sein absolutes Prinzip aufgeklärt, gerade weil dieses vom Begreifen aus nur als Unbegreif­ lichkeit begriffen werden kann. Hans Blumenberg kann in solchen Zusammenhängen davon sprechen, dass der Begriff erlaube, »Lücken im Erfahrungskontext festzustellen, weil er auf das Abwesende bezo­ gen ist – aber nicht nur, um es anwesend zu machen, sondern auch, um es abwesend sein zu lassen.«985 Damit trifft er Fichtes Konzept des Bildes, denn dieser billigt dem Bild die Kraft zu, die – mit Gunnar Hindrichs gesprochen – »Hohlstellen im Gängigen«986 aufzudecken, auch wenn diese Kraft nicht ursprünglich konstruiert, sondern nur nachvollzieht.987 Es geht Fichte also tatsächlich nicht um eine Analyse des Absoluten, sondern um die Genese des Wissens, GA I/6, p. 296, lin. 33. Hier ist die Systematik der Fichteschen Metaphysik zwar gewissermaßen abschließend vollzogen, aber gleichwohl bleibt der performative Grundzug seiner Wissenshermeneutik bewahrt. Denn Wissen und Denken vollziehen nur dann den ›Willen‹ des Absoluten, wenn sie ihre Lebendigkeit und Aktivität in ungebrochener Intensität weiter vollziehen. Freilich kann aber der Philosoph, der vollständig über sich und das Wissen aufgeklärt ist, in die Praxis der Lehre übergehen, worin aber die Lebendigkeit von Wissen und Denken nicht getilgt wird: S. unten, § 48. 985 Blumenberg: Theorie der Unbegrifflichkeit, 76. 986 Hindrichs: Das Absolute und das Subjekt, 13. – Das Absolute ist gewissermaßen der blinde Fleck oder der tote Winkel des intelligiblen Auges, weswegen es konzen­ trierter Aufmerksamkeit bedarf, es als Grundpunkt freizulegen. 987 Vor diesem Hintergrund spricht Fichte (GA I/9, p. 68, lin. 30-33) auch davon, »daß man nur durch das eigentliche, reine und wahre Denken, und schlechthin durch kein anderes Organ, die Gottheit und das aus ihr fließende selige Leben, ergreifen, und an sich bringen könne«. 983

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also um dessen Bilden. Dieses Bilden ist der Akt des Bildes selber, aber in protologischer Hinsicht, also nicht in der Form der Reflexion, sondern in der primären und also entscheidenden über-reflexiven Ur-›Form‹ reiner Ur-Tätigkeit: Wie schon Plotin den »liebenden Geist« als Spitze des Denkens und damit als höchsten Aspekt des Geistes fasst, so begreift Fichte das Absolute als in uns lebende und durch uns immer mitvollzogene Ur-Tat. Diese ist die Bedingung der Möglichkeit der Selbstbildung absoluten Wissens und dergestalt ist das Wissen Bild: ›Absolutes Bild‹ bedeutet also die Selbstbildung des Bildes unter der Voraussetzung seiner Bedingung, die den Pro­ zess des (Sich-)Verstehens fundiert: Die Pointe der intellektuellen Anschauung bei Fichte ist, dass diese gar nicht ohne henologische Perspektivität auskommt.988 Damit wird mit einem Schlage deutlich, dass Fichte einen Bildbe­ griff konstruiert, der dem des spätantiken und demjenigen des christ­ lichen Neuplatonismus mehr als nur ähnelt. So entwerfen Eriugena und Cusanus wie schon Plotin und Proklos einen transzendenten Bildbegriff, wenngleich sie mit ihren Bildern auf die innere ›Struktur‹ des Absoluten, die sie aufzudecken versuchen, verweisen. Sicherlich sind sich Eriugena und Cusanus darüber im Klaren, dass ihre Bilder nur auf das Absolute verweisen, worin sie sich freilich nicht von Plotin oder Proklos unterscheiden. Anders aber als diese spätantiken Denker gehen sie von einer intrinsischen, wenngleich opaken Meta-›Struk­ tur‹ des Absoluten aus: Durch ihre negative Theologie versuchen sie, dem Absoluten eine innere Aktivität in einem nicht-kategorialen und nicht-ontologischen Sinne zuzuschreiben. Diese Proto-›Strukturen‹ lassen sich gerade kraft der Transzendenz des Absoluten in unserem Innersten ›verorten‹. Im Hinblick auf den spätantiken Neuplatonis­ mus lässt sich konstatieren, dass die Ur-Funktion des Absoluten bei Fichte der Funktion des »liebenden Geistes« bei Plotin und der 988 So lässt sich bei Fichte das reine Wissen nur in der und durch die Liebe realisie­ ren. Das bedeutet, dass Lieben und Wissen (qua absolutes Denken) nicht in einer symmetrischen Beziehung zueinander stehen: Das Lieben präfiguriert das Wissen, nicht umgekehrt. Wissen realisiert sich nur in der Liebe und durch die Liebe, sodass Wissen nicht der Liebe gleichkommt: Es handelt sich nicht um eine auf dem Boden der Differenz etablierte wechselseitige Durchdringung, denn das Lieben ist primär. Daraus erhellt auch, wieso das Philosophieren mit einer vor-bewussten Ahnung beginnt und mit der über-bewussten Liebe ihren höchsten Punkt erreicht. Wenn jeder Begriff ein Begriff des Absoluten ist, weil er stets auf das Absolute zurückverweist, so blitzt bei jedem in Klarheit gedachten Gedanken das Absolute im Begreifen durch. Aufgabe des Denkens bleibt es aber, diese Lücke im Begreifen herauszuarbeiten.

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Funktion der ὠδίς bei Proklos entspricht. Was also Plotin und Proklos als das Absolute in uns, nicht aber als das Absolute selber verstanden haben, wird spätestens bei Eriugena, bei Cusanus und sodann bei Fichte – strukturell gesehen – zum Absoluten selber, das freilich in uns lebt: Die Systemstelle verschiebt sich dabei durch ein etwas anders gelagertes Verständnis des Absoluten. Das bedeutet auch, dass die Transzendenz des Absoluten von christlichen Neuplatonikern und auch von Fichte zugunsten einer inneren Tätigkeit des Absoluten in gewisser Weise abgeschwächt wird, auch wenn sie am Konzept der Transzendenz – wie gezeigt – ganz unmissverständlich festhalten. Das Aus- und Vorgreifen auf das Prinzip kann daher im christlichen Neuplatonismus und auch von Fichte wie der eigene Akt des Abso­ luten beschrieben werden. Und dieser Akt wird, anders als im spät­ antiken Neuplatonismus, nicht mehr als ewiger intelligibler Geburts­ schmerz, sondern als vom Schmerz befreite Liebe gedeutet, die aber genauso wie die ὠδίς als tragendes Ur-Vermögen begriffen werden muss.

§ 48) Seligkeit, unio mystica und ›gesollte‹ vita activa Die Betrachtung der in uns lebenden Liebe Gottes kann auch die Frage aufklären, in welchem Verhältnis Fichte zur unio mystica vom Schlage Plotins oder Proklos’ steht. Es lässt sich konstatieren, dass eine unio mystica, also eine totale Versenkung des Ich in das Absolute, für Fichte trotz seines klar geäußerten Wunsches, mit dem Absoluten zu verschmelzen, unerreichbar bleibt: »Nach dem, was wir bisher ersehen, besteht die Seligkeit in der Vereinigung mit Gott, als dem Einen, und absoluten. Wir aber sind in unserm unaustilgbaren Wesen nur Wissen, Bild, und Vorstellung; und selbst, in jenem Zusammenfallen mit dem Einen, kann jene unsere Grundform nicht verschwinden. Selbst in diesem unserm Zusammen­ fallen mit ihm, wird er nicht unser eigenstes Sein selber, sondern er schwebt uns nur vor, als ein fremdes, und außer uns befindliches, an das wir lediglich uns hingeben, und anschmiegen, in inniger Liebe; er schwebt uns vor, an sich als gestaltlos, und gehaltlos, für sich keinen bestimmten Begriff oder Erkenntnis von seinem innern Wesen gebend, sondern nur als dasjenige, durch welches wir uns, und unsre Welt, denken, und verstehen. Auch nach der Einkehr in ihn, geht die Welt uns nicht verloren; sie erhält nur eine andere Bedeutung; und wird, aus

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einem für sich selbstständigen Sein, für welches wir vorher sie hielten, lediglich zur Erscheinung und Äußerung des in sich verborgenen göttlichen Wesens, in dem Wissen.«989

Zwar verweisen diese Aussagen auf eine gewisse Skepsis Fichtes bezüglich einer (mystischen) Einung mit dem Absoluten.990 Er ist darauf bedacht, die Besonnenheit nicht einfach zu überspringen, denn an den unaustilgbaren subjektiven Grundstrukturen des Daseins hält er im Angesicht der Einung mit dem Absoluten fest.991 Außerdem 989 GA I/9, p. 103, lin. 3–16. – Man ist geneigt, hier eine sachliche Verwandtschaft zu Aussagen der Romantiker zu vermuten. Fichte schreibt in seiner Bestimmung des Menschen; GA I/6, p. 298, lin. 13–14; Hervorh. Roh.: »Denn in dir, und durch dich hindurch, o Unendlicher, erblicke ich selbst meine gegenwärtige Welt in einem anderen Lichte.« Eine sachlich durchaus analoge Aussage findet sich in Joseph von Eichen­ dorffs berühmtem Gedicht Wünschelrute; Sämtliche Werke des Freiherrn Joseph von Eichendorff. Historisch-kritische Ausgabe. Begründet von Wilhelm Kosch und August Saur. Fortgeführt und hrsg. von Hermann Kunisch und Helmut Koopmann. Vol. I/1, Gedichte. Hrsg. von Harry Fröhlich und Ursula Regener. Stuttgart/Berlin/Köln: Kohlhammer, 1993, p. 121: »Schläft ein Lied in allen Dingen, | Die da träumen fort und fort, | Und die Welt hebt an zu singen, | Triffst du nur das Zauberwort.« Dieses »Zauberwort« lässt sich spekulativ mit jener höchsten Einsicht in Verbindung bringen, die Fichte fordert. Erst wenn der – mit Fichte gesprochen – »Grundpunkt« des Daseins aufgedeckt wird, wird die Welt in und durch diesen ursprünglichen Punkt in einem Licht geschaut, durch das alles Dasein durchsichtig, gewissermaßen zu ›Glas‹, wird. Nur dadurch wird die eigentliche Schönheit der Welt, mag sie nun als externe oder interne gedeutet werden, erfahrbar. Der Kontrapunkt, den Fichte gegen die Romantik setzt, besteht letztlich nur darin, dass Fichte von einem strengen Denken ausgeht, das er bei den Romantikern, die er eher als Schwärmer verstand, nicht vollzogen sieht. Dass aber die Romantiker, allen voran Novalis, sehr wohl scharf gedacht haben, entging Fichte offenbar. 990 Diese Skepsis teilt Fichte mit Nicolaus Cusanus. Dieser deutet in einem Brief an Kaspar Aindorffer an, dass es ihm nicht vergönnt gewesen sei, das Absolute von Angesicht zu Angesicht in mystischer Einung zu schauen (Vansteenberghe: Autour de la docte ignorance, 113). Daher ist Vorsicht angebracht, die Cusanische Metaphysik einfachhin als Mystik zu bezeichnen. Jedenfalls ist die Deutung Franziskus von Heeremans, insofern er Cusanus als Mystiker darstellt, blanker Unsinn (»Durch und durch ein ›Durch‹«, 39–40). Wie oben nämlich gezeigt hält gerade Cusanus an der Begrenztheit wie Unüberspringbarkeit des Begreifens fest. Daher ist Cusanus’ Denken – wie schon dasjenige des spätantiken Neuplatonismus und Fichtes – transzendental­ kritisch fundiert. 991 Man könnte hier ein Zitat Karl Jaspers’ anbringen, um Fichtes Position, die sich hier trotz aller Eigenständigkeit in Übereinstimmung insbesondere mit Proklos, Eriugena und Cusanus zeigt, auf den Punkt zu bringen. Denn bei Fichte kommt es letztlich zu einer befreienden Erfahrung, die aber nicht als unio mystica gewertet werden sollte; Karl Jaspers. Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung. München: Pieper & Co., 1962, 136: »Während wir faktisch in der Subjekt-Objekt-

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stellt sich die Frage, ob die totale mystische Einung überhaupt noch sinnvollerweise angenommen werden muss, wenn wir doch unsere Einheit mit dem Absoluten durch dessen Präsenz in uns eingesehen haben. Gleichwohl lässt sich die Parallele zum spätantiken Neuplato­ nismus angeben.992 Genauer gesagt zeigt sich durch dieses Zitat die Verwandtschaft zwischen Fichtes Auffassung der Seligkeit einerseits und dem »liebenden Geist« bei Plotin und dem »Einen in uns« bei Proklos andererseits: Erwecken wir die urtätige Liebe oder das »Eine in uns«, sind wir »trunken« oder begeistert vom Absoluten. In dieser Begeisterung sind wir aber nicht einfach selber zum Absoluten gewor­ den und haben uns nicht in dieses transformiert. Die Gotterfülltheit bzw. die manische Gottbesessenheit im spätantiken Neuplatonismus ist daher – wie ich bereits öfter betont habe – ›lediglich‹ Vorstufe der mystischen Einung. Mit der Einkehr in den »liebenden Geist« oder das »Eine in uns« geht uns bei Plotin und Proklos also nicht einfach unsere subjektive Grundstruktur verloren. Vielmehr haben wir ihr Funda­ ment bzw. ihre Spitze, ihr höchstes Moment also, aufgedeckt.993 Ganz ähnlich argumentiert Fichte, der dafür plädiert, den »Grundpunkt« unseres Daseins herauszuarbeiten, um so im vollen Bewusstsein in der Liebe Gottes zu leben, zu denken und zu handeln. Fichte nähert sich in diesem Zusammenhang dem Plotinisch-Proklischen Konzept des ἐνθουσιασμός: So erstrahlt das Absolute nach Fichte in demjenigen, der durch diese Einstrahlung zu einem »von Gott Begeis­ Spaltung bleiben, wird uns diese doch auf eine Weise bewußt, daß wir an die Grenze gelangen, an der wir unseren Zustand im Umgreifenden als die Wirklichkeit spüren, deren bewußt zu werden uns verwandelt. Denn im Gefängnis vom Gefängnis zu wissen befreit zwar nicht von der Realität der Zeit, aber befreit das Denken dahin, wo wir Ursprung und Ziel zwar nicht erkennen, aber als einer uns bestimmenden Macht innewerden. Dadurch werden in der Spaltung die Erscheinungen selber heller, wird in ihnen das Umgreifende gegenwärtiger. Das Gefängnis wird nicht gesprengt, wie durch die unio mystica, die in eine Unzugänglichkeit fallen läßt. Aber wenn das Gefängnis erkannt, gleichsam auch von außen gesehen wird, ist es selber durchstrahlt. Die Entfaltung der Erscheinungen in der Zeit im Lichte des Umgreifenden läßt das Gefängnis immer weniger Gefängnis sein.« 992 Es muss natürlich bemerkt werden, dass das Absolute den Neuplatonikern nicht als ein Fremdes oder Äußeres vorschwebt. Fichte wird diese Aussage in der Zehnten Vorlesung der Anweisung ohnehin korrigieren, indem er das Absolute als Liebesakt in unserer Wesensmitte deutet. 993 Und dieses höchste Moment von Wissen und Denken ist eben nicht außerhalb von Wissen und Denken. Genau hierin ist eine grundlegende Parallele zwischen Plotins und Proklos’ henologischem Streben einerseits und Fichtes Absolutheitskonzeption andererseits aufgedeckt.

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terten« wird, in dem Gott selbst lebt.994 Nur der von Gott Begeisterte, so Fichte weiter, könne diesen Gott auch offenbaren, gerade weil der von Gott Begeisterte nichts anderes als Erscheinung Gottes sei. Erscheinung Gottes wiederum sei in erster Linie der Johanneische Jesus, in dem Gott lebe, sodass Gott und Jesus, Gott und Gottes Wort ihrem Wesen nach – oder besser: ihrem »Ueberseyn« nach – ununterschieden sein müssen.995 Und nur derjenige könne zu einem »Priester der Wissenschaft«996 werden, der sich durch die göttlichen »Funken«, die »in die Seele geworfen« werden, »entzünden« lasse.997 Um aber vom göttlichen Licht begeistert zu werden, müsse man, so Fichte, das »Organ«, durch das man das »Reelle« oder Absolute ergreifen könne, »beleben« und »erwärmen«,998 womit Fichte die Proklischen Aussagen zur Erweckung des »Einen in uns« erstaunlich präzise reformuliert. Abgesehen von dieser Übereinstimmung nähert sich Fichte dem Neuplatonismus auch auf einer anderen Ebene an: Das Seh­ nen, das uns im Aufstieg getragen hat, wird, so können wir es formulieren, in gewisser Weise ›verwandelt‹. Wir werden freilich durch diese Verwandlung nicht zum Absoluten. Vielmehr scheint Fichte dafür plädieren zu wollen, das rein kontemplative Streben zu diesem aufzugeben, um den letzten Rest eines egoistischen ›Fürsich-haben-Wollens‹ zu tilgen.999 Das Streben scheint eher in neue Bahnen gelenkt zu werden, es wird ›umgebogen‹ zur Praxis und so 994 GA I/9, p. 172. Vgl. GA I/6, p. 287, lin. 28–32: »Erst durch die Verzichtleistung auf das Irdische tritt der Glaube an das Ewige hervor in unsrer Seele, und wird isolirt hingestellt, als die einige Stütze, an die wir uns noch halten können, nachdem wir alles andere aufgegeben, – als das einige belebende Princip, das unsern Busen noch hebt, und unser Leben noch begeistert.« Zur Begeisterung bei Fichte s. Hartmut Traub. »›Lasst uns Menschen machen‹: Fichtes Lehre vom Bild: Zwischen Gottes-Ebenbild­ lichkeit und Bilderverbot«. Fichte-Studien 42 (2016), 153–173; hier 164–165. 995 GA I/9, p. 192. 996 GA I/8, p. 131. 997 GA I/8, p. 128. 998 GA I/6, p. 177–178. 999 Diese Vernichtung des Ich lässt sich mit Meister Eckharts Seligkeitsvorstellung in Verbindung bringen. Wir sollen uns selber vernichten (etwa Predigt 8; DW I, p. 127–137), indem wir von allem Endlich-Konkreten absehen und uns so für Gott öffnen, der in unserem Innersten lebt. Diese Selbstvernichtung ist aber nicht die Tilgung aller Formen, insofern uns unsere subjektiven Grundstrukturen auch bei Eckhart nie verloren gehen. Es handelt sich also mitnichten um eine unio mystica. Vielmehr soll uns die Einheit mit Gott zu Bewusstsein gebracht werden. Vgl. Quero-Sánchez: Sein als Freiheit, bes. 316–317.

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zur vita activa1000 stilisiert.1001 Vor diesem Hintergrund wird auch klar, warum Fichte seine Philosophie als Dienst an der Menschheit verstanden wissen wollte. Die vita activa hängt aber gleichwohl an der zuvor durchgeführten theoretischen Betrachtung, also an der vita contemplativa.1002 Wenn wir sodann die höchste Einsicht erlangt 1000 Vgl. Eckhart: Predigt 86; DW III, p. 481–492. Zur Deutung dieser Predigt s. die exzellenten Ausführungen bei Grotz: Negationen des Absoluten, 53–77; bes. 76–77. Vgl. dazu aber die ganz anders gelagerte Darstellung von Dietmar Mieth (Im Wirken schauen: Die Einheit von vita activa und vita contemplativa bei Meister Eckhart und Johannes Tauler. Darmstadt: WBG, 2018, 195–248). – Dass Eckharts Lehre überhaupt an Fichtes Denken erinnert und sachliche Parallelen kaum geleugnet werden können, hat Andrés Quero-Sánchez völlig überzeugend darlegt (Sein als Freiheit, bes. 263– 328). Offensichtlich ist ferner, dass Eckharts Überlegungen zu vita contemplativa und vita activa an Fichtes Seligkeitslehre gemahnt: Zuerst gilt es nach Eckhart, selig zu werden, um dann die tugendhaften Taten zu vollbringen; Predigt 86; DW III, p. 492, lin. 11–13: »Sô die heiligen ze heiligen werdent, danne allerêrst vâhnet sie ane, tugende ze würkenne, wan danne samenent sie hort êwiger sælde.« Das aktive Leben ist also nicht durch eine »Schule des Lebens« (Grotz: Negationen des Absoluten, 77) fundiert, die man neben der Kontemplation noch zusätzlich durchlaufen müsste – wie wohl Martha in Luk. 10, 38–42 im Hinblick auf die (junge) Maria zu meinen scheint. Vielmehr ist es so, dass das Lernen »bî den vüezen unsers herren« (Predigt 86; DW III, p. 492, lin. 26) und die daraus erfolgende Erleuchtung die hinreichende Grundlegung oder Bedingung für die wahre vita activa ist. Der Theorie folgt demnach die in göttlicher Liebe vollzogene Praxis und so wird keine der beiden »Lebensformen« gegen die andere ausgespielt. Gerade der Vollzug einer vita activa unter Bedingung ihrer theoretischen Grundlegung ist bei Fichte die Realisierung des Sollens. – Vgl. ferner Platon: Symp. 206B-207A; bes. 206D–E und die pronoetische Liebe bei Proklos, deren Inbegriff der Sokrates des Großen Alkibiades ist (Kap. II.2). 1001 Schon in der höheren Moralität gilt es, zu handeln. Die selige Tat aber hängt an der höchsten Einsicht. Nur durch sie ist der Mensch selig, weil er den wahren »Grundpunkt« (GA I/9, p. 161–162) aufgedeckt hat. Erst dann kann den Menschen, insofern er selig geworden ist, nichts mehr erschüttern (vgl. ibid. p. 164 und p. 172). Auch »Zweifel« und Verzweiflung beunruhigen den Seligen niemals (ibid. p. 173–174). – Schon Wolfgang Janke hat die vita activa bei Fichte hervorgehoben und dessen Lehre gegen den Vorwurf des Mystizismus abgesichert (»Religion und Mystik: Fichtes Abwehr des Mystizismus«. In: Wolfgang Janke. Entgegensetzungen: Studien zu Fichte-Konfrontationen von Rousseau bis Kierkegaard. Amsterdam/Atlanta, GA.: Rodopi, 1994, 83–95. S. auch Janke: »Amor Dei intellectualis«, 117–118). 1002 Für die Religion gilt nach Fichte, dass diese »nicht lediglich betrachtend, und beschauend, nicht bloß brütend über andächtigen Gedanken« sein dürfe. Sie müsse auch »notwendig tätig« sein (GA I/9, p. 113, lin. 6–8). Denn sie bestehe in dem »innigen Bewußtseyn, daß Gott in uns wirklich lebe, und tätig sei, und sein Werk vollziehe« (ibid. lin. 8–9). Auch hier lässt sich also konstatieren, dass wahres Handeln am Bewusstsein hängt, dass Gott uns innerlich leite und trage, wobei es egal ist, ob wir uns wissenschaftlich zu diesem Bewusstsein erheben oder durch den unmittelbaren Glauben bereits in diesem Bewusstsein leben.

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haben und selig sind, handeln1003 wir in der Liebe Gottes, wobei unsere Grundform dennoch unaustilgbar ist. Näher expliziert heißt dies Folgendes: Wir streben zum Absoluten und wir sollen auch dieses Streben vollziehen. Doch im Zuge dieses Strebens, wenn wir Idealismus und Realismus durchreflektiert und diese dann durch die absolute Abstraktion überwunden haben, sollen wir zur Einsicht durchbrechen, dass das Streben zum Absoluten letztlich aufgehoben werden muss. Sicherlich werden wir dieses nie austilgen können,1004 insofern wir stets in henologischer Ausrichtung verbleiben. Weil wir das Streben nicht tilgen können, sollen wir es in Gelassenheit anund aufnehmen und zum Zwecke einer pädagogischen Anagogik, wie man zur höchsten Einsicht gelangen könne, vollziehen.1005 Vor dem Hintergrund des Einungswunsches, der Einsicht in die Einheit mit Gott und der Unaustilgbarkeit des Strebens kann konstatiert werden, dass es Fichte nicht so sehr um den Umschlag vom Streben in die Liebe Gottes zu tun ist. Mehr noch scheint er seine Philosophie gar nicht primär auf die bloße Seligkeit hin ausgelegt zu haben. Vielmehr geht es ihm um die Umwendung der Kontemplation und des Strebens zum Absoluten in die vita activa und damit um das geistige und praktische Handeln in Seligkeit, das auf die Mitmenschen abzielt. Die vita activa bricht also als das eigentlich Gesollte hervor. Allerdings müssen wir, dieser Umstand bleibt zu beachten, erst im Bewusstsein der Einheit mit dem Absoluten sein, um dann auf diesem Fundament mit Gelassenheit und in der Liebe Gottes handeln zu können.1006

1003 Zu den Formen der Praxis bei Fichte s. Lauth: Transzendentalphilosophie, 104–123. 1004 Vgl. noch einmal GA I/9, p. 59–60. 1005 Fichte vollzieht den Aufstieg zum Absoluten bzw. die Analyse auf absolute Einheit hin mehrfach, auch weil er mehrere Wissenslehren entwirft, wobei er als Lehrer oder Pädagoge wirkt, also seine Kontemplation in den Dienst der Menschheit stellt und so als vita activa definiert, in der die Mitmenschen angeleitet werden. 1006 Kurz gesagt ist die Grundlage für die gottgewollte vita activa das Bewusstsein über unsere Einheit mit Gott und also unser Getragen-Sein. Nur dann können wir in Ruhe an der Besserung der Menschheit arbeiten. Letzteres bedeutet für Fichte auch immer, unsere Mitmenschen über die Grundlagen von Dasein und Bewusstsein und über das Bild-Sein unseres Daseins aufzuklären. Dieses Einheitsbewusstsein muss freilich gehalten werden. Jedenfalls können wir nur aus dem Einheitsbewusstsein heraus selig sein und selig handeln. Sollten wir aber aus diesem herausfallen, so kön­ nen wir auf die Wissenschaftslehren und die Anweisung zurückgreifen, um es wieder zu erlangen. Das kann aber nur gelingen, wenn wir uns von Fichtes Argumentation wirklich überzeugen lassen.

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Damit ist das Soll, das Alexander Schnell treffend als »katego­ rische Hypothetizität« bezeichnet hat,1007 näher bestimmt. Grundle­ gend für das Verständnis des Soll ist die Deutung Wolfgang Jankes, das Soll sei das »Dasein des Absoluten im Menschen«: »[U]nser wahres Leben und Tun«, so fährt er fort, sei »nichts als das Leben Gottes in uns«.1008 Wie aber sind diese Aussagen im Kontext der henologischen Metaphysik Fichtes zu verstehen? Ordnen wir das Soll systematisch in die Wissenslehre ein, so können wir konstatieren, dass es am Beginn des Philosophierens in Freiheit steht. In der Tat haben wir die Wahl, ob wir dem Sollen nachgeben wollen, oder nicht.1009 Insofern ist das Soll eine Auffor­ derung, aber ›noch‹ unterbestimmt: Es ist dergestalt noch auf dem Weg.1010 Und deswegen kann es, so ist gegen Alexander Schnell Schnell: »Die drei Bildtypen«, 52. Vgl. GA II/8, p. 264–266. Janke: Fichte: Sein und Reflexion, 283. Instruierend sind auch die weiteren Ausführungen Jankes; ibid. 45–46; hier 46: »Das Soll fordert das absolute Wissen zu äußerster Grenzbesinnung und Selbsterkenntnis auf. Das Wissen soll sich als Bild des absoluten Seins oder als Schema göttlichen Lebens sehen; es soll seinen Anfang und sein Ende reflektieren.« Darin erfolgt schließlich der Selbstbescheid, dass eben das »Selbstbewußtsein« nicht »der Anfangsgrund« sein kann. 1009 Die Wahlfreiheit, man darf sie im Sinne Fichtes durchaus mit dem »Soll« und im christlichen Neuplatonismus mit dem Aufruf des Absoluten, es zu suchen, in Verbindung bringen, ermöglicht zwar die höhere Form der Freiheit, die Seinsfreiheit, bedingt diese aber nicht (Krämer: »Die Grundlegung des Freiheitsbegriffs in der Antike«, 239–270; hier 270). Die höchste realisierbare (Seins)Freiheit des Menschen besteht letztlich in einer Unterordnung unter die reine Autarkie des Absoluten und damit in einer Selbstbescheidung: Wir, als Selbstbewusstsein, sind nicht das Absolute und daher können wir uns selber nicht zum Gott aufschwingen: Gott lässt sich, gegen Nitzsche gewendet, nicht töten und also werden wir nie zu Gott. Wir werden sodann niemals Herren der Freiheit und können anderen Freiheit und Seligkeit nicht implantieren. Und daraus resultiert, dass wir zwar Anleitungen oder Anweisungen zur Seligkeit geben können, aber uns nicht erdreisten dürfen, andere zu zwingen (GA I/9, p. 94, lin. 2–5). Der Aufweis der Unterordnung des Selbstbewusstseins unter das Absolute tilgt jeden Totalitarismus gleich in doppelter Weise, nämlich gegenüber Gott einerseits und gegenüber den Mitmenschen andererseits. Die Forderung, die Fichte an uns richtet, ist also, in Gelassenheit und nie nachlassender Energie und – weil der Aufstieg gelingen kann – in unentwegter Hoffnung auf unsere Mitmenschen zu handeln (GA I/9, p. 173, lin. 5–13). – Damit ist der höchste Akt der Freiheit eine Selbstbescheidung und die Aufgabe der eigenen Selbstständigkeit (GA I/9, p. 154, lin. 3–6; vgl. p. 160, lin. 21–35. Vgl. dazu Seyler: Fichtes ›Anweisung‹, 158). Und deswegen kann die höchste formale Freiheit bei Fichte im Sinne der Proklischen ἐθελοδουλεία verstanden werden: Der Mensch soll sich in »freie[m] Gehorsam« (GA I/6, p. 293, lin. 5) dem Aufruf, dem Soll, fügen. 1010 Etwa im System der Sittenlehre (GA I/5, p. 75, lin. 12–16). 1007

1008

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IV) Der Einheits- und Disjunktionspunkt in der Wissenslehre J. G. Fichtes

festzuhalten,1011 unmöglich der Akt des Absoluten sein, denn dieser ist nicht unter-, sondern überbestimmt. Das Soll ist bloß hypothetisch und daher wohl nichts anderes als Möglichkeit, nicht aber ist es die Bedingung der Möglichkeit. Dergestalt also entspricht das Soll eher dem formal möglichen Dasein des Absoluten.1012 Erst wenn wir das Soll realisieren, haben wir den ›Willen‹ des Absoluten vollzogen.1013 Was aber wird uns durch das Soll aufgetragen? Das Ich soll sich bilden als Bild Gottes, um dadurch – vor allem im Überschreiten idealistischer und realistischer Positionen, das für Fichte im »absolu­ ten Realismus« transzendentalkritischer Besonnenheit endet, – voll­ endetes Selbstbewusstsein und schließlich Seligkeit zu erreichen.1014 Der Kern des Soll aber ist, darauf verweist die Anweisung deutlicher als jede Wissenschaftslehre, die vita activa im Ausgang philosophischer Theoriebildung, worin die apriorische Synthesis von theoria und pra­ xis erreicht und die Aufgabe des Deutschen Idealismus im Ausgang von Kants Theorie und Praxis zerspaltenden Kritiken gelöst ist. Unser Streben soll nach Fichte vorzugsweise und letztlich dem Menschengeschlecht gelten.1015 Daher ist die Seligkeit, um es noch einmal zu betonen, nicht so sehr als eigentliches Ziel des menschli­ chen Daseins zu verstehen, insofern das Streben zur Seligkeit auch bloß oder ausschließlich kontemplative Züge tragen und sogar als egoistischer Akt missverstanden werden könnte. Nicht die beseli­ gende Schau ist das Ziel Fichtes – diese ist gewissermaßen nur die Vorstufe gotterfüllten Handelns –, sondern die allgemeine Erzie­ hung und die damit einhergehende Besserung der Menschheit, ohne Schnell: »Die drei Bildtypen«, 51. Man könnte es auch so ausdrücken: Das Soll ist gewissermaßen der Affekt absoluter Liebe und aus dem absoluten Liebesakt folgt das Soll. 1013 Vgl. GA I/6, p. 292–294 und 297–298. – Man kann es auch so ausdrücken; Zehnpfennig: Reflexion und Metareflexion bei Platon und Fichte, 176: »Der Wille ist die Transzendenz in der Immanenz«. 1014 Soll das Bild sein, dann kommt es zur Brechung des Begreifens am reinen Akt des Absoluten: Wird der Akt als das tragende Fundament eingesehen, erkennt das Bild, das absolute Wissen, seine Nicht-Absolutheit. Dann ist das Bild als solches realisiert, es weiß um seinen Bildcharakter: Soll das Bild sein und sich als Bild wissen, dann muss es alle Formen des Idealismus und des Realismus durchgehen und von ihnen abstrahieren. 1015 Wir müssen demnach nicht auf Gott hoffen, denn Hoffnung impliziert eine Trennung, wird doch in dieser eine zukünftige Einheit mit Gott ersehnt (GA I/9, p. 173, lin. 1–5). Die Liebe Gottes ist aber allgegenwärtig und immer in uns, womit Fichte eine gängige Position der Neuplatoniker reformuliert. 1011

1012

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2) Die Liebe in Fichtes Anweisung

dabei nachzulassen oder gar an bloß äußeren Umständen zu verzwei­ feln.1016 In allen unseren Handlungen, ob geistiger oder praktischer Natur, vollziehen wir die Einheit mit dem Absoluten: Wir (er-)leben also die Einheit mit dem Absoluten, weil wir es immer und in jeder Lebenssituation in Anspruch nehmen. Seligkeit ist, genau genom­ men, das geradezu existenzielle Gefühl des Getragenseins durch die absolute Liebe, gerade weil wir sie stets in Anspruch nehmen, auf sie stets ausgreifen und in jedem Vollzug voraussetzend mitvollzie­ hen.1017 Und durch das Gefühl des Getragenseins hören wir nicht GA I/6, p. 298, lin. 10–13: »Ich bin ruhig bei allen Ereignissen in der Welt, – denn sie sind in deiner Welt. Nichts kann mich irren, oder befremden, oder zaghaft machen, so gewiß du lebst, und ich dein Leben schaue.« 1017 Es dürfte damit klar sein, dass dieses Fühlen ein gereinigtes und höchstes Gewahren ist und nicht etwa, wie es bereits Andrés Quero-Sánchez unmissverständ­ lich betont hat, in einem »subjektivistischen Sinne« verstanden werden darf (QueroSánches: Sein als Freiheit, 326–327). Hier darf man durchaus die Auffassung vertreten, dass ein letzter Rest mystischen Denkens auch in Fichtes Philosophie fortbesteht, insofern er tatsächlich ein höchstes Fühlen konstatiert. Es ist gar nicht in Abrede zu stellen, dass Fichtes Philosophie zuweilen mystische Momente enthält. Vgl. Albert: Philosophie der Philosophie, 217–218. Man muss den Begriff des Mystischen hier also nicht scheuen, wenn man folgende vier Aspekte bedenkt. (i) Das höchste Fühlen ist nicht irrational, sondern als überrationales Gewahren zu verstehen. (ii) Es wird durch philosophische Argumentationen grundgelegt. Der schlechte Mystizismus ist nach Fichte bloß »Privilegi[e]rte[n]« vorbehalten (GA II/7 [Vorlesung der W.L. im Winter 1804], p. 177). Er krankt daher daran, dass er nicht auf transzendentalkritischem Boden steht, also den Mitmenschen nicht zu vermitteln ist. Vor diesem Hintergrund verwechselt der Mystizismus auch »Weg und Ziel, Sollen und Sein, Zeit und Ewigkeit« (Janke: »Religion und Mystik«, 88). (iii) Vor diesem Hintergrund handelt es sich bei dem mystischen Moment im Denken Fichtes nicht um ein Verschwinden des Denkens in Gott. Darauf legt er sogar mit Betonung Wert; GA I/5, p. 142, lin. 1–5: »Der Irrthum der Mystiker beruht darauf, daß sie das unendliche, in keiner Zeit zu erreichende, vorstellen, als erreichbar in der Zeit. Die gänzliche Vernichtung des Individuum, und Verschmelzung desselben in die absolut reine Vernunftform oder in Gott, ist allerdings letztes Ziel der endlichen Vernunft; nur ist sie in keiner Zeit möglich.« Vgl. GA I/9, p. 103. Wir bleiben also an unsere subjektiven Grundstrukturen gebunden, wobei Plotin, Proklos, Eriugena und Cusanus Fichtes Diktum, wie wir gesehen haben, zustimmen würden, wenn wir bedenken, dass sie uns mit ihren Grundlegungen zum absoluten Wissen, dem wissenden Nichtwissen, führen wollen. (iv) Schließlich ist hinzuzufügen, dass wir nur dann von einer Mystik bei Fichte sprechen können, wenn sie nicht zu einer weltabgewandten, solipsistischen Kontemplation, sondern zum aktiven Leben für unsere Mitmenschen führt. S. hierzu bes. Janke: »Religion und Mystik«, 83–95. Wie Janke richtig bemerkt, wehrt sich Fichte gegen den Vorwurf, er habe Mystik betrieben; ibid. 88: »Zwar soll die Eigenmächtigkeit des individuellen Ich wirklich abgetötet werden, aber nicht, damit sich die Stille welt- und praxislosen Meditierens in der Seele des Eingeweihten ausbreitet, sondern damit das Individuum als Glied 1016

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IV) Der Einheits- und Disjunktionspunkt in der Wissenslehre J. G. Fichtes

mehr auf, den ›Willen‹ des Absoluten zu wirken. Der selige Mensch ist sich dieses Einheitsvorgreifens und damit seines Lebens und Handelns in der göttlichen und durch die göttliche Liebe (und auch den »liebenden Geist« und das »Eine in uns«) bewusst, wenngleich er als denkendes und wissendes Selbstbewusstsein nicht selber die Liebe ist.1018 Und weil er sich dieser Einheit bewusst ist und in jedem Seinsakt um die Einheit mit dem Absoluten weiß, wird er unermüdlich und in Gelassenheit an der Besserung der Menschheit in »unzerstörbarste[r] Ruhe« fortwirken.1019

der Geisterwelt das Göttliche in der Welt als Rechts-, Kultur- und Moralordnung zur Erscheinung bringt.« Damit krankt der Mystizismus an einem Mangel an Handlungs­ fähigkeit (vgl. ibid. 94–95). Interessanterweise ist auch die Philosophie eines Proklos nicht durch Handlungsunfähigkeit geprägt. Das Platonische Erbe, aus der erfolgten Kontemplation zur Handlung überzugehen, wie es im Höhlengleichnis unzweideutig formuliert wird, ist gerade bei Proklos zu finden. Inbegriff des fürsorglichen Handelns ist, wie wir gesehen hatten, Sokrates, der »göttliche Liebhaber«. 1018 Zwar kann Fichte die Seligkeit auch einfach vom Glauben ›abhängig‹ machen. Wie wir sehen konnten, soll aber die Wissenschaftslehre einen Weg hin zur Seligkeit bahnen (etwa GA I/9, p. 102). Wenn Wissenschaftslehre und Anweisung ferner dem Inhalte nach ununterschieden sind, dann hebt die Wissenschaftslehre die Anweisung und mit ihr deren Anspruch, zur Seligkeit zu führen, in sich auf. 1019 GA I/9, p. 173.

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V) Schlussbemerkung

§ 49) Die bedingende Ur-Funktion in uns Gefragt hatten wir nach den Gemeinsamkeiten von und den Unterschieden zwischen neuplatonischem und Fichteschem Denken. Unsere Analysen fokussierten die metaphysische Frage nach dem Einheits- und Disjunktionspunkt bzw. dem tragenden Horizont, der als Bedingung der Möglichkeit von Wirklichkeit in der Lage ist, die Faktizität der von uns vorgefundenen Vielheit und der spezifischen Differenzen von Bestimmungen erklären zu können. Alle hier behan­ delten Denker sind, so konnten wir feststellen, dem anfangs zitierten Programm Fichtes, »[a]lles Mannigfaltige […] auf absolute Einheit« zurückzuführen, verpflichtet. Realisierbar ist dieses Programm nur, wenn wir ein spezifisches Verfahren bzw. eine spezifische Methode vollziehen, wobei wir dieses Verfahren auch eigens betrachten und kritisch analysieren müssen: Dieses Verfahren hat sich als negative Theologie bzw. als Abstraktionsmethode gezeigt, durch die es allein möglich ist, über die faktisch gegebene Vielheit hinaus zu verweisen. Letzten Endes gipfelt dieses Verfahren, insofern wir es nicht einfach mechanisch zur Anwendung bringen, in einer höchsten Einsicht, die zugleich höchste und transformative Erfahrung ist. Trotz aller Unterschiede im Denken der untersuchten Philosophen lässt sich gerade hier eine entscheidende Gemeinsamkeit feststellen: In der höchsten Erfahrung ist kein Zweifeln mehr möglich. Fragen wir nun nach den Inhalten der Einsicht, wobei wir zunächst Plotins Ausführungen betrachten wollen, so lässt sich fol­ gendes Ergebnis skizzieren: Plotins Aufstieg führt zu einer Erfahrung, die noch höher anzusetzen ist als das Selbstwissen der sog. Zweifels­ betrachtung.1020 Diese höchste Erfahrung ist die henologische Per­ spektive, die über die Grenzen von Sein und Denken hinaus verweist, ohne dabei in das Absolute überzugehen. Was wir in diesem henolo­ 1020

Enn. V 5, 1–2.

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V) Schlussbemerkung

gischen Streben erfahren, kann wie folgt beschrieben werden: Erstens sind wir in der Perspektive über Sein und Denken hinaus »begeistert«, weshalb dem henologischen Streben auch stets ein soteriologischer Aspekt inhäriert, insofern dieses Streben als vollkommene Ausrich­ tung begriffen werden muss. Zugleich erfahren wir – zweitens – die Ur-Disjunktion und diese ist ein Scheitern, insofern wir nicht in das Absolute übergegangen sind. Diese Ur-Disjunktion ist aber freilich keine zerstörerische Erfahrung, sondern eher ein heilsamer Stachel, der in der Lage ist, die drohende Hybris des Denkens – auch des absoluten Denkens –, sich selber als das eine Absolute zu fassen, zu tilgen. Die Ur-Disjunktion ist produktiv und daher in erster Linie der genetische Punkt des Geistes, weil er in dieser Ur-Unter­ scheidung auf sich geworfen wird und in diesem Zuge die Grenzen seiner selbst – geradezu existenziell1021 – erfährt. Der Geist usurpiert in diesem Zuge nicht (mehr) die Würde des Absoluten für sich, bescheidet sich gegenüber dem Absoluten und erlangt vollendetes Selbstbewusstsein und höchstes Wissen, das eben darin besteht, das Nicht-Wissen-Können der Transzendenz einzusehen. Daher ist die νόησις, die intellektuelle Anschauung bzw. das höchste Wissen, nicht einfach Selbstbeschau, in der sich das absolute Denken auf sich selber bezieht, sondern notwendig auch immer wissendes Nichtwissen. Es versteht sich, wie wir gesehen hatten, als Bild des Absoluten, was vor allem bedeutet, dass es weiß, nicht das Absolute zu sein. Wie bei Fichte immanentisiert das Bild die henologische Perspektive und weiß sich als das sich selbst bildende Bild des Absoluten. Wenn nun die Erfahrung der Ur-Disjunktion produktiv wirkt, insofern der Selbstbescheid und mit ihm vollendetes Selbstbewusst­ sein nur in dieser höchsten Erfahrung realisiert werden können, dann folgen daraus weitreichende Konsequenzen: In der Ur-Unter­ scheidung henologischen Strebens wird der Horizont aufgespannt, durch den Einheiten und ihre spezifischen Differenzen zueinander 1021 Wie wir sehen konnten, dürfen die metaphysischen Systeme Plotins, Proklos’, Eriugenas, Cusanus’ und Fichtes, insofern wir in ihnen zum Bewusstsein durchbre­ chen, dass die Liebe uns als Horizont trägt und leitet, nicht als bloße Erkenntnistheo­ rien gewertet werden. Ihnen inhäriert eine eminent existenzielle Bedeutung, weil wir in ihnen zu einer Erfahrung durchbrechen, die in der Lage ist, sogar die (womöglich) in uns gärende Urangst vor dem Nichts und dem Tod zu tilgen oder wenigstens auf ein Minimum zu reduzieren. Und überhaupt ist jede Philosophie, die als solche gewertet werden will, durch einen lebenspraktischen Anspruch geprägt: Der urphilosophische Imperativ, »Erkenne dich selbst«, ist kein logisches Spiel, sondern existenzieller Ernst.

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V) Schlussbemerkung

überhaupt erst bedingt werden. Das henologische Streben, das Plotin als »liebenden Geist« fasst, lässt sich so als »Distinktionsdimension« bzw. als die Bedingung der Möglichkeit von Begriffsbildungsprozes­ sen fassen: In diesen Prozessen werden einheitliche Bestimmungen auf dem Hintergrund der Distinktionsdimension abgesetzt. Nimmt man die negative Theologie von Plotin in ihrer Radikalität wirklich ernst, kann nämlich streng genommen keine Kreativität des Abso­ luten angenommen werden, insofern dieses jede Kraft (δύναμις) transzendiert. Viel mehr lässt sich feststellen, dass es wegen der voll­ kommenen Transzendenz zum produktiven Scheitern des Denkens und zur Genese des Geistes durch seine ihm eigene Spitze kommt, die Plotin auch als das »Erste des Geistes« fasst. Wir können uns diese Ur-Disjunktion auch ganz plastisch als energetische Spannung vorstellen: Insofern die ursprüngliche Disjunktion als ›Hinauf‹-Span­ nen über Sein und Denken hinaus begriffen werden kann, darf sie als unendliche und ungebrochene δύναμις gefasst werden – und diese Kraft ist Bedingung der Begriffsbildung. Die Transzendenz des Abso­ luten ist freilich Grundlage für die Spannung, wenngleich der Akt des Spannens der tragende Horizont des Denkens bleibt. Denn aus die­ ser Spannung heraus ›gebiert‹ das Denken gewissermaßen Begriffe, wobei Proklos von einem intelligiblen »Geburtsschmerz« reden kann. Spannung bzw. δύναμις spüren und erfahren wir sogar unmittelbar nur in uns selbst, sodass sich sagen lässt, dass die Transzendenz gewissermaßen nur in uns ›existiert‹ – oder besser: ›ek-sistiert‹: Es geht also primär um den Erfahrungshorizont der Transzendenz und die Grunderfahrung des Entzuges, die sich in der Spannung äußert – oder besser: Die Spannung ist die Grunderfahrung sowohl der Trans­ zendenz als auch der eigenen Einheit und der Einheitsbildung.1022 Auch wenn sich der »liebenden Geist« als Ur-Kraft verstehen lässt, so wird dieser Gedanke von Plotin gleichwohl nur angedeu­ tet.1023 Ausformuliert finden wir ihn erst bei Proklos, der mit sei­ Noch einmal sei in diesem Zusammenhang darauf verwiesen, dass einheitliche, in sich geschlossene Bestimmungen auf dem Hintergrund der Ur-Spannung gebildet oder abgesetzt werden. Diese wären gar keine begreifbaren Bestimmungen, wären sie nicht abgeschlossen und als Einheiten gesetzt. Die Frage nach der Einheitlichkeit und Begreifbarkeit des (Da-)Seins ist, so hat sich gezeigt, Grundzug der Philosophie von Plotin, Proklos, Eriugena, Cusanus und Fichte: Ihre Philosophie ist in erster Linie kritische Einheitsmetaphysik. 1023 In diesem Zusammenhang sei noch einmal auf die Forschungskontroverse bezüglich der Deutung des Absoluten bei Plotin verwiesen. Wir hatten zwar gesehen, 1022

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V) Schlussbemerkung

nem Konzept des »Einen in uns« die Bedingung aller epistemischen Vollzüge, aber darüber hinaus auch von praktischen Handlungen thematisiert. Er fasst diese Bedingung bevorzugt als transzendieren­ des Negieren, als henologisches Streben, als intelligiblen »Geburts­ schmerz« oder auch als πρόνοια. Wir konnten sehen, dass er mit diesen Begriffen die eine alles bedingende Ur-Kraft (δύναμις) beschreiben will. Diese δύναμις ist transzendent und daher die pro-noetisch oder überkonkrete »Vorsehung«, die ebenso sehr Bedingung für die Reali­ sierung von Bestimmungen ist, wie nach Fichte die absolute Liebe als »Grundstoff« der Begriffsbildungen verstanden werden muss. Das henologische Streben spannt nach Proklos diesen tragenden Horizont auf, wobei das Aufspannen des Ur-Horizontes vorzugsweise im Gren­ zen-überschreitenden Akt des Negierens zum Ausdruck gebracht wird. Von weitreichender Bedeutung hierbei ist, dass wir diesen Horizont mit der »Spitze« unseres Denkens aufspannen, insofern das henologische Streben das basale Grundmomentum aller Seienden insgesamt ist.

dass Plotin als Vertreter einer radikalen negativen Theologie verstanden werden kann. Dennoch war es einigen Forscher*innen möglich, Plotins Absolutem einen eigenen (kreativen) Akt zu unterstellen. Die verschiedenen Lesarten rühren wohl aus dem experimentellen Stil Plotins. Sowohl für die These, Plotin sei Vertreter einer radikalen Transzendenz des Absoluten gewesen, als auch für die These, er habe das Absolute als Akt denken wollen, lassen sich Belege finden. Für den vorliegenden Vergleich der neuplatonischen Tradition mit dem Denken Fichtes wäre es sogar wünschenswert gewesen, wenn das Absolute Plotins im Sinne eines actus purus hätte verstanden werden können. Denn so hätte das Absolute Plotins mit demjenigen Fichtes stärker als hier geschehen parallelisiert werden können. Dass es dazu nicht kommen konnte, lag an der negativen Theologie Plotins: Diese sollte in ihrer Radikalität ernst genommen und nicht vorschnell abgeschwächt werden. Nimmt man sie aber ernst, wird die Frage dringend, wie wir das Absolute überhaupt noch thematisieren können, wodurch wiederum eine transzendentalkritische Wende erfolgt: Verlangt ist so eine Reflexion auf Reichweite und Grenzen aller epistemischen Vollzüge im Allgemeinen und der Reflexion im Speziellen. Betont man die Radikalität der Transzendenz, kommt es zu einem weiteren Effekt: Wenn die Transzendenz jede »Kraft« übersteigt, kann sie wohl kaum noch an ihr selber δύναμις πάντων sein (vgl. Halfwassen: Der Aufstieg zum Einen, 125–126; vgl. Auf den Spuren des Einen, 164), wobei in diesem Zusammenhang auch darauf zu achten ist, dass sich der Geist nach Plotin selber setzt. Und doch deuten sich die daraus abzuleitenden Konsequenz bei Plotin nur an, wohingegen sie bei Proklos, der Plotin auch dafür kritisiert, dem Absoluten noch irgendwie eine eigene Aktivität zugestehen zu wollen, explizit gemacht werden: Die ungebrochene Kraft, die alles trägt, ›befindet‹ sich in der Henadendimension: Sie ist die »Vorsehung« und als Akt des produktiven Negierens und des intelligiblen »Geburtsschmerzes« zu verstehen.

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V) Schlussbemerkung

Es lässt sich aber auch beobachten, dass Proklos diese Kraft eigens ›hypostasieren‹ möchte – wofür insbesondere seine Henaden­ lehre herangezogen werden kann. Allerdings muss sogleich und mit Verve einschränkend hinzugefügt werden, dass man in diesem Fall streng genommen nicht von einer Hypostasierung sprechen kann. Denn die pronoetische Kraft ist nicht konkret, sondern überkonkret. Gerade in dieser Überkonkretheit ist sie rein oder in Reinheit zu verstehen. Diese Reinheit pointiert Proklos wiederum durch seine Henadenlehre, denn die Henaden bilden die eine, nicht durch Dif­ ferenzen charakterisierte, vermittelnde Dimension, die ineins reine henologische Ausrichtung und liebevoll tragende Fürsorge für alle Wesenheiten ist. Ihre Dimension ist das Scheinen des Absoluten, sie ist das lichtende Prinzip der Proklischen Henophanie. Wir aber, insofern wir stets an Formen gebunden sind, sind diese Dimension in ihrer Reinheit nicht. Aber mit unserer »Spitze« vollziehen wir das Aufbrechen des Horizontes gleichwohl mit, wobei dieser Akt, wie gesagt, alle konkreten Formen transzendiert und als reiner Akt – actus purus – angenommen werden muss. Im Hinblick auf diesen actus purus ähneln Eriugena, Cusanus und Fichte Proklos, aber mit einer entscheidenden Transformation: Das Absolute selbst bricht bei Eriugena, Cusanus und Fichte den Horizont auf, es erscheint uns als reine Tätigkeit. Die δύναμις ist dergestalt nicht in Spannung über sich hinaus, denn sie ist für diese Denker die Trans­ zendenz schlechthin. Diese ist für sie aktiv und daher lässt sich sogar sagen, dass das Absolute den Horizont aufspannt. Es ist selber der Horizont, das konturierende Licht, das tragende Fundament, die Dis­ tinktionsdimension und damit die Bedingung der Möglichkeit für die Genese von Bestimmungen und für Begriffsbildungen. Fichte versteht das Absolute allerdings, wie gesehen, präziser als Eriugena und Cusa­ nus als Grundstoff für die Genese von Begriffen, die durch das Begrei­ fen abgesetzt werden, während Eriugena und Cusanus eher dem Absoluten selbst den Akt des Setzens zusprechen wollen. Sicherlich sind Eriugena und Cusanus von Fichtes Annahmen nicht weit ent­ fernt, was ein Vergleich der Absolutheitsspekulationen von Eriugena (§ 30), Cusanus (§ 34) und Fichte (§ 46) zeigt. Allerdings steht Fichte hier Plotin und Proklos näher, die Denken und Sein eine selbstset­ zende Aktivität zugestehen, die diese vermittels absoluter δύναμις vollziehen können. Nichtsdestoweniger ist das Absolute auch bei Eriugena und Cusanus nicht von uns abzusondern, so als würde es als ›außerir­

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dische‹, von uns vollkommen abgetrennte Substanz den Ur-Hori­ zont eröffnen. Denn wie bei Fichte lebt das Absolute bei ihnen in uns. Zugleich können alle drei Denker hierbei präziseren, dass wir, insofern wir die Form des Bewusstseins haben, nicht das Absolute selber sein können. Handelt es sich hierbei, so wollen wir noch einmal fragen, um einen Widerspruch? Mitnichten, denn Eriugena, Cusanus und Fichte können herleiten, dass in unserem verborgenen Wesenskern zwar das Absolute lebt, dass aber unsere Form und unser Begreifen, die immer konkret gegeben sind, vom übergegensätzlichen Absoluten transzendiert werden: Es kann nur deshalb als intime Präsenz verstanden werden, weil es die Kategorien von Identität und Differenz übersteigt. Auf diesem Hintergrund müssen wir auch im Hinblick auf die Metaphysik von Eriugena, Cusanus und Fichte davon sprechen, dass wir mit unserem begreifenden Zugriff am Absoluten scheitern, wobei diesem Scheitern ein produktiver Aspekt inhäriert: Wir können durchaus wissen, dass wir das Absolute im Wissen nicht erreichen können, insofern es ja alle Formen und jedes Begreifen und Verstehen transzendiert.1024 Nach den Überlegungen dieser drei Denker sind wir also aufgeklärt darüber, dass das höchste Wissen ein Wissen um unser Nicht-Wissen-Können ist: Wir erfahren im Nicht-Wissen die Grenzen des begreifenden Umfassens. Und doch wissen wir darin auch immer, dass wir mit dem Absoluten verbunden sind, ja mit ihm eine Einheit bilden. Insofern wir mit dem Absoluten eine Einheit bilden – denn es ist kraft seiner Transzendenz nicht von uns verschieden –, ist eine unio mystica, so könnten wir es zur Verdeutlichung, aber freilich überspitzt ausdrücken, geradezu obsolet: Wir sind schon mit dem Absoluten verbunden. Wieso also sollten wir uns noch in das Absolute Cusanus begreift das Absolute aber anders als Fichte als höchstes Denken – oder präziser: als ›Denken‹. Sicherlich ist dieses ›Denken‹ nicht konkret, also nicht im Sinne des absoluten Geistes im Plotinischen Sinne zu verstehen, insofern dieser als Schau konkreter Totalität begriffen werden muss. Das Absolute von Cusanus transzendiert nämlich Vorstellung, Verstand und Vernunft. Dennoch will der Kardinal das Denken nicht als Zentralbestimmung des Absoluten aufgeben, auch wenn er das Denken überhöht, indem er es als reine Negativität begreift. Eriugena ist hier konsequenter als Cusanus, wenn er – an Fichte gemahnend – schreibt, dass das Absolute nicht verstehe, was es sei. Aber es ist Fichte, der dem Absoluten an ihm selber konsequent Denken und (Sich-)Verstehen abspricht und stattdessen ein reines Gewahren bzw. ein höchstes Fühlen statuiert. 1024

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hinein versenken, wenn wir via negationis unsere Einheit mit ihm schon eingesehen haben und uns so ganz getragen fühlen dürfen?1025 Vor diesem Hintergrund können wir über eine Wende spekulieren, die innerhalb der Forschung zur neuplatonischen Tradition eher unbe­ achtet geblieben ist: Sicherlich findet sich bei vielen Denkern der neuplatonischen Tradition eine Spekulation über die unio mystica, wobei Plotin, Proklos und Eriugena deutlicher als Cusanus eine solche vertreten oder wenigstens nicht gänzlich aus ihrem Denken getilgt haben. Die eigentliche Wende besteht hier aber weniger in der (versuchten) Einung mit dem Absoluten, sondern in einer liebe­ voll-zugewandten Wendung hin zu unseren Mitmenschen, die durch die göttliche Fürsorge (πρόνοια/caritas) fundiert wird. Fichte ist hier sicherlich expliziter als die anderen hier behandelten Philosophen. Und doch lässt sich gerade auf dem Hintergrund der höchsten Ein­ sicht besonders bei Proklos folgende Überlegung wagen: Aus der Metaphysik heraus entzündet sich die Lebenspraxis, weil es durch die höchste Einsicht zur Praxis kommt. Für Proklos liebt Sokrates Alkibiades durch die Einsicht in das Absolute: Deshalb ist er der »göttliche Liebhaber«. Und hier treffen sich die Überlegungen von Proklos und Fichte.1026 Durch den Einheits- und Disjunktionspunkt sind nicht nur unsere epistemischen Vollzüge getragen. Wir wissen auch, insofern er von uns als in uns lebendes Fundament erfahren und entdeckt wurde, dass er unsere Handlungen fundiert. In ihm hängen also Theorie und Praxis ursprünglich – oder: a priori – zusammen. Durch ihn leben wir und durch ihn können wir mit unseren Taten Einheit stiften. Und das Stiften von Einheiten ist von uns durch das Verweyen: »Negative Theologie: Weltflucht oder Weltdienst?«, 207. »Er [scil. Sokrates] weiß seine Seele in ihrem ›bestmöglichen Zustand‹, in völliger Übereinstim­ mung mit dem Guten, wonach er getrachtet hat, und mit der göttlichen Stimme in ihm selbst. Was von außen auf ihn zukommen mag, kümmert ihn nicht. Auch dies ist eine unio mit dem Göttlichen, wenn auch keine ›unio mystica‹.« Diese geniale Beob­ achtung Verweyens lässt sich auf dem Hintergrund der zurückliegenden Diskussionen auf Plotins, Proklos’, Eriugenas, Cusanus’ und Fichtes kritische Einheitsmetaphysik übertragen. – Freilich könnte das hier beschriebene Fühlen durchaus als mystisch bezeichnet werden, wenn der Begriff des Mystischen von den Vorwürfen der philoso­ phischen Unzugänglichkeit, Irrationalität, elitären Exklusivität und weltabgewandten Anachorese befreit würde. 1026 Hier ließe sich noch einmal Meister Eckhart anführen, der die vita activa durch die vita contemplativa fundiert; Predigt 86; DW III, p. 492, lin. 11–13: »Sô die heiligen ze heiligen werdent, danne allerêrst vâhnet sie ane, tugende ze würkenne, wan danne samenent sie hort êwiger sælde.« Erst durch die höchste Einsicht werden wir selig, weil wir wissen, dass das Absolute in uns selber lebt. 1025

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V) Schlussbemerkung

Soll, das an uns ergeht, gefordert – sofern wir nicht, wie oben gezeigt, die Freiheit unserer Mitmenschen einschränken. Betrachten wir also die Gemeinsamkeiten zwischen der neupla­ tonischen Tradition einerseits und dem Fichteschem Denken ande­ rerseits, so lässt sich ganz offenkundig von einer Kontinuität der neuplatonischen Transzendenzmetaphysik sprechen: Rein sachlich gesehen steht Fichtes Philosophie zweifelsohne in der Tradition der neuplatonischen Henologie, wenngleich sich eine historisch Bezug­ nahme Fichtes auf die hier diskutierten Systeme schwerlich nachwei­ sen lässt.1027 Ein Einheits- und Disjunktionspunkt ist fraglos in allen hier behandelten Systemen festzustellen, auch wenn zu beachten bleibt, dass sich die Funktionen durchaus unterscheiden: Während in der neuplatonischen Orthodoxie (bes. eines Proklos) das henologi­ sche Streben im Zentrum steht, bevorzugen Eriugena, Cusanus und Dass Fichtes Denken an die Metaphysik der neuplatonischen Tradition paganer wie christlicher Prägung erinnert, ist, wie sich gezeigt hat, zwar kaum zu bezweifeln. Dass er aber direkt auf neuplatonische Quellen Bezug genommen hat, lässt sich wohl eher weniger positiv beantworten. Die Quellenlage für einen direkten Einfluss ist einfach zu spärlich. Nichtsdestoweniger gibt es durchaus Verbindungen des Fichte­ schen Denkens zur platonisch-metaphysischen Tradition. Nur vier Aspekte seien hier eigens hervorgehoben: (i) Fichte kannte, wie oben bereits erwähnt wurde, Platons Politeia und, was im Rahmen seiner Lichtspekulation besonders wichtig ist, Platons Ausführungen zur »Idee des Guten« im Sonnengleichnis. (ii) Im Zusammenhang mit dem Platonischen Sonnengleichnis ist auch auf Fichtes Kenntnis der fraglos vom Neu­ platonismus inspirierten Lichtmetaphorik Dantes hinzuweisen, denn Fichte kannte dessen Göttliche Komödie bestens: Den 28. Gesang des Purgatorio hat Fichte eigens ins Deutsche übertragen und 1807 unter dem Titel Dantes irdisches Paradies publiziert (GA I/9, p. 281–286). Es sei in diesem Zusammenhang wenigstens darauf hingewie­ sen, dass Hartmut Traub als Quelle des Fichteschen Lichtbegriffs dessen »theologische Studien« vermutet (Der Denker und sein Glaube: Fichte und der Pietismus oder: Über die theologischen Grundlagen der Wissenschaftslehre. Stuttgart/Bad Cannstatt: From­ mann-Holzboog, 2020, 530–536; hier 531). (iii) Auch ist ein Einfluss François Féne­ lons nicht ausgeschlossen, war Marie Johanne Fichte doch eine Verehrerin seiner vom Neuplatonismus – genauer: von Dionysios (vgl. Jeanne-Lydie Goré. »Néoplatonisme et Quiétisme: Fénelon et l’Aréopagite«. Revue d’Histoire littéraire de la France 69 (1969), 583–602) – inspirierten Liebes- und Seligkeitskonzeption. Fénelon habe – mit Jeanne Marie Bouvier de la Motte Guyon – den Kerngedanken des Christentums getroffen, den sie in einer Seligkeitslehre verwirklicht sieht, die sich so auch in der Anweisung zum seligen Leben finden lasse (GA III/8, p. 127–128; vgl. p. 126. Vgl. dazu GA III/6, p. 87 und GA III/8, p. 108). (iv) Der wohl wichtigste Zugang Fichtes zu Philosophe­ men der neuplatonischen Tradition waren aber freilich und zweifelsohne Jacobis Arbeiten. Vor allem in dessen Werk Über die Lehren des Spinoza finden sich, wie oben bereits erwähnt wurde, einige Exzerpte aus dem Denken Giordano Brunos, der wie­ derum Grundgedanken der Cusanischen Henologie aufgegriffen hat (s. § 37). 1027

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V) Schlussbemerkung

Fichte das Konzept einer selbstbezüglichen Liebe, die das innere Band aller Bestimmungen, Begriffe und Handlungen sein soll. Doch diese Unterschiede diminuieren die hier pointierten Übereinstimmungen keineswegs. Vielmehr sind die Parallelen systematischer Natur und liegen im Kern der hier dargestellten metaphysischen Spekulationen, insofern es allen hier behandelten Denkern um einen überkonkreten Ur-Horizont zu tun war, der alle concreta, also all unser Denken und Handeln, fürsorglich-tragend fundiert. Selbst Fichtes Konzept transzendentalkritischer Besonnenheit, in der durch eine kritische Analyse der Selbstbescheid der Vernunft erfolgt, durch den diese ihre letzte Grenze erfährt und anerkennt, trennt ihn nicht von seinen neuplatonischen Vorgängern. Im Gegenteil zeigte sich der besonnene Selbstbescheid von Wissen und Denken auch als zentrales Motiv der Metaphysik von Plotin, Proklos, Eriugena und Cusanus. Und genau deswegen können alle hier behandelten Denker von einer reinen, fürsorglich-tragenden Ur-Funktion sprechen, die im innersten Kern unseres eigenen Selbst lebt, liebt und wirkt, gerade weil sie alle concreta, also alle Bestimmungen und alles Begreifen, transzendiert.

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VI) Bibliographie

1) Primärquellen mit Siglen Plotin Enn.

Plotins Schriften. 6 Vol., Übersetzt von Richard Harder. Neu­ bearbeitung mit griechischem Lesetext und Anmerkungen fortgeführt von Rudolf Beutler und Willy Theiler. Hamburg: Felix Meiner, 1956–1971.

Weitere Ausgaben Plotini Opera. Ed. Paul Henry et Hans-Rudolf Schwyzer. 3. Vol., Paris/Brüssel: Desclée de Brouwer, 1951–1973. Plotini Opera. Ed. Paul Henry et Hans-Rudolf Schwyzer. 3. Vol., Oxford Univer­ sity Press, 1964–1982. Traité sur la liberté et la volonté de l’Un: Ennéade VI 8 [39]. Introduction, texte grec, traduction et commentaire par Georges Leroux. Histoire des doctrines de l’antiquité Classique 15. Paris: Vrin, 1990. Traité 38: VI, 7. Introduction, traduction, commentaire et notes par Pierre Hadot. Paris: Éditions du Cerf, 1999.

Proklos In Remp.

In Platonis Rem Publicam Commentarii. 2 Vol., Ed. Wilhelm Kroll. Leipzig: Teubner, 1899–1901.

In Tim.

In Platonis Timaeum Commentaria. 3 Vol., Ed. Ernst Diehl. Leipzig: Teubner, 1903–1906 [ND Amsterdam: Hak­ kert, 1965].

De prov. / Tria Opuscula: De providentia, libertate, malo. Latine De dec. dub. Guilelmo Moerbeka vertente et Graece ex Isaacii Sebastocra­

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VI) Bibliographie

toris aliorumque scriptis collecta. Ed. Helmut Boese. Berlin: Walter de Gruyter, 1960. In Alc.

Sur le Premier Alcibiade de Platon. 2 Vol., Texte établi et traduit par Alain-Philippe Segonds. Paris: Les Belles Lettres, 1985.

St. theol.

The Elements of Theology. A revised Text with Translation, Introduction, and Commentary by Eric R. Dodds. 2nd Edition Oxford/New York: University of Oxford Press, 1963 [ND Oxford: Clarendon Press, 1992].

Theol. Plat.

Théologie Platonicienne. 6 Vol., Texte établi et traduit par Henry D. Saffrey et Leenhard G. Westerink. Paris: Les Belles Lettres, 1968–1997.

In Parm.

In Platonis Parmenidem Commentaria. 3 Vol., Ed. Carlos Steel. Oxford University Press, 2007–2009.

Weitere Ausgaben Oracles Chaldaïques. Avec un choix de commentaires anciens. Texte établi et traduit par Édouard des Places. Paris: Les Belles Lettres, 1971. Zehn Aporien über die Vorsehung: Frage 1–5. Übersetzt und erklärt von Klaus Feldbusch. Inaugural-Dissertation Köln, 1972. Zehn Aporien über die Vorsehung: Frage 6–10. Übersetzt und erklärt von Ingeborg Böhme. Inaugural-Dissertation Köln, 1975. Über die Vorsehung, das Schicksal und den freien Willen an Theodoros, den Inge­ nieur (Mechaniker). Nach Vorarbeiten von Theo Borger übersetzt und erläutert von Michael Erler. Beiträge zur Klassischen Philologie 121. Meisenheim am Glan: Hain, 1980. Commentary of Plato’s Parmenides. Translated by Glenn R. Morrow and John M. Dillon with Introduction and Notes by John M. Dillon. Princeton University Press, 1987. Proclus’ Hymns. Essays, Translation, Commentary by Robbert M. van den Berg. Philosophia Antiqua 90. Leiden/Boston/Köln: Brill, 2001. Kommentar zu Platons Parmenides 141E-142A. Eingeleitet, übersetzt und erläu­ tert von Rainer Bartholomai. 2. Aufl. Sankt Augustin: Academia, 2002. Grundkurs über Einheit: Grundzüge der neuplatonischen Welt. Text, Über­ setzung, Einleitung und Kommentar von Erwin Sonderegger. St. Augustin: Academia, 2004. Commentaire sur le Parménide de Platon. 7 Vol., Par Concetta Luna et AlainPhilippe Segonds. Paris: Les Belles Lettres, 2007–2021. Theologische Grundlegung. Übersetzt und mit einer Einleitung sowie einem durchgängigen erläuternden Kommentar hrsg. von Ernst-Otto Onnasch und Ben Schomakers. Hamburg: Felix Meiner, 2015.

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1) Primärquellen mit Siglen

Commentary on Palto’s Republic. Vol. 1, Essays 1–6. Ed. and translated by Dirk Baltzly, John F. Finamore and Graeme Miles. Cambridge University Press, 2018. In Platonis Timaeum Commentaria. 5 Vol., Recognovit brevique adnotatione critica instruxit Gerd van Riel. Oxford University Press, 2022.

Dionysios Ps.-Areopagitês De div. nom.; CD I

Corpus Dionysiacum. Vol. 1, De divinis nominibus. Hrsg. von Beate R. Suchla. Berlin/New York: Walter de Gruyter, 1990.

De myst. theol. / Ep.; CD II

Corpus Dionysiacum. Vol. 2, De coelesti hierarchia. De ecclesi­ astica hierarchia. De mystica theologia. Epistulae. Hrsg. von Günther Heil und Adolf M. Ritter. Berlin/New York: Walter de Gruyter, 1991.

Weitere Ausgaben Des Heiligen Dionysius Areopagita angebliche Schriften über ›Göttliche Namen‹ – Angeblicher Brief an den Mönch Demophilus. Aus dem Griechischen übersetzt von Joseph Stiglmayr. Bibliothek der Kirchenväter II/2. München: Kösel/ Pustet, 1933. Über die Mystische Theologie und Briefe. Eingeleitet, übersetzt und mit Anmer­ kungen versehen von Adolf M. Ritter. Stuttgart: Hiersemann, 1994.

Johannes Eriugena Periphys.

Iohannis Scotti seu Eriugenae Periphyseon. 5 Vol., Curavit Édouard Jeauneau. Turnholt: Brepols, 1996–2003.

Weitere Ausgaben Iohannis Scotti Eriugenae Periphyseon (De diuisione naturae). 3. Vol., Ed. by Inglis-Patrick Sheldon-Williams, with the Collaboration of Ludwig Bieler. Scriptores Latini Hiberniae 7, 9 et 11. Oxford University Press, 1969–1981.

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VI) Bibliographie

Periphyseon (The Division of Nature). Translation by Inglis-Patrick SheldonWilliams. Revised by John J. O’Meara. Cahiers d’Étude Médiévales, Cahier Spécial 3. Montréal: Éditions Bellarmin / Washington, D.C.: Dumbarton Oaks, 1987. Über die Einteilung der Natur. Philosophische Bibliothek 86–87. Übersetzt von Ludwig Noack. Dritte, unveränderte Auflage, mit einer Vorbemerkung und neuer Bibliographie von Werner Beierwaltes. Hamburg: Felix Meiner, 1994. Periphyseon – De divisione naturae. Übersetzt von Hans G. Zekl. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2016.

Nicolaus Cusanus Opera omnia. Iussu et auctoritate Academiae Litterarum Heidelbergensis ad codicum fidem edita. Leipzig/Hamburg: Felix Meiner, 1932–1944; 1959–.

De doc. ign.; De docta ignorantia. Ed. Ernst Hoffmann et Raymund Klib­ hI ansky. Leipzig: Felix Meiner, 1932. Apol.; h 2II

Apologia doctae ignorantiae. Ed. Raimund Klibansky, Edi­ tio Stereotype praefatione editoris altera et addendis corri­ gendisque aucta. Hamburg: Felix Meiner, 2007.

De coni.; h III

De coniecturis. Ed. Josef Koch et Karl Bormann Hans G. Senger comite. Hamburg: Felix Meiner, 1972.

De sap.; h V Idiota de sapientia – de mente. Ed. post Ludwig Baur alternam curavit Rentate Steiger, duas appendices adiecit Raymund Klibansky. De staticis experimentis ex editione Ludwig Baur, brevem dissertationem addiderunt Karl Bormann et Hans G. Senger. Hamburg: Felix Meiner, 1983. De vis.; h VI De visione dei. Ed. Heide D. Riemann. Hamburg: Felix Mei­ ner, 2000. De princ.; h X/2b

Opuscula II: Fasciculus II b: De Deo unitrino principio. Tu quis es ›De principio‹. Ed. commentariisque illustraverunt Karl Bormann et Heide D. Riemann. Hamburg: Felix Mei­ ner, 1988.

De ven. sap.; De venatione sapientiae. De apice theoriae. Ed. commentari­ h XII isque illustraverunt Raymund Klibansky et Hans G. Senger. Hamburg: Felix Meiner, 1982. De non Directio speculantis seu de non aliud. Ed. Ludwig Baur et Paul aliud; h XIII Wilpert. Leipzig: Felix Meiner, 1944.

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1) Primärquellen mit Siglen

Sermones; h XVIII

Sermones CXXII‑CCIII. Ed. Silvia Donati, Rudolf Haubst, Isabelle Mandrella, Heinrich Pauli, Harald Schwaetzer, FranzBernhard Stammkötter, indices contulit Johannes Leicht Heidi Hein comite, Hamburg: Felix Meiner, 2007.

CT III.2.2

Cusanus-Texte: III. Marginalien. 2. Proclus Latinus. Die Exzer­ pte und Randnoten des Nikolaus von Kues zu den lateinischen Übersetzungen der Proclus-Schriften. 2.2 Expositio in Parmen­ idem Platonis. Hrsg. von Karl Bormann. Heidelberg: Univer­ sitätsverlag Winter, 1986.

CT III.2.1

Cusanus-Texte: III. Marginalien. 2. Proclus Latinus. Die Exzer­ pte und Randnoten des Nikolaus von Kues zu den lateinischen Übersetzungen der Proclus-Schriften. 2.1 Theologia Platonis – Elementatio theologica. Hrsg. von Hans G. Senger. Heidel­ berg: Universitätsverlag Winter, 1986.

Weitere Ausgaben Schriften des Nikolaus von Kues in deutscher Übersetzung. Im Auftrag der Hei­ delberger Akademie der Wissenschaften hrsg. von Ernst Hoffmann, Paul Wilpert und Karl Bormann. Vol. 23, Über den Ursprung. Lateinisch-Deutsch. Neu übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen hrsg. von Karl Bormann. Hamburg: Felix Meiner, 2001. Complete Philosophical and Theological Treatises of Nicholas of Cusa. 2. Vol., Translated by Jasper Hopkins. Minneapolis: Banning Press, 2001.

Johann Gottlieb Fichte GA

J. G. Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. 42 Vol., Hrsg. von Reinhard Lauth, Hans Gliwitzky, Erich Fuchs et al. Stuttgart/Bad Cannstatt: From­ mann-Holzboog, 1962–2012.

Weitere Ausgaben Die Anweisung zum seligen Leben. Hrsg. von Fritz Medicus. Philosophische Bibliothek 234. ND Hamburg: Felix Meiner, 1970. Johann Gottlieb Fichte’s sämmtliche Werke. 11 Vol., Hrsg. von Immanuel Her­ mann Fichte. ND Berlin: Walter de Gruyter, 1971.

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VI) Bibliographie

Johann Gottlieb Fichte im Gespräch: Berichte der Zeitgenossen. 7 Vol., Hrsg. von Erich Fuchs in Zusammenarbeit mit Reinhard Lauth und Walter Schieche. Stuttgart/Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 1978–1992. Johann Gottlieb Fichte in zeitgenössischen Rezensionen. 4 Vol., Hrsg. von Erich Fuchs, Wilhelm G. Jacobs und Walter Schieche. Stuttgart/Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 1995. Die Bestimmung des Menschen. Auf der Grundlage der Ausgabe von Fritz Medicus revidiert von Horst D. Brandt. Mit einer Einleitung von Hansjürgen Verweyen. Hamburg: Felix Meiner, 2000. Die Anweisung zum seligen Leben, oder auch die Religionslehre. Hrsg. von Hansjürgen Verweyen. Hamburg: Felix Meiner, 2012.

2) Weitere Quellen Sancti Augustini Confessionum libri XIII. Corpus Christianorum: Series Latina 27. Quos post Martin Skutella iterum ed. Luc Verheijen. Turnholt: Brepols, 1981. Bonaventura. Itinerarium mentis in Deum – De reductione artium ad theologiam. Eingeleitet, übersetzt und erläutert von Julian Kaup. München: Kösel, 1961. Johann Jakob Brucker. Historia critica philosophiae. 4 Vol., Leipzig: Breitkopf, 1742–1767. Samuel Taylor Coleridge. Coleridge on the Seventeenth Century. Hrsg. von Roberta F. Brinkley. Durham, N.C: Duke University Press, 1955. Ralph Cudworth. The True Intellectual System of the Universe. 2 Vol., London: Royston, 1678. Meister Eckhart. Die deutschen und lateinischen Werke. Hrsg. im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Stuttgart(/Berlin): Kohlhammer, 1937–2015. Sämtliche Werke des Freiherrn Joseph von Eichendorff. Historisch-kritische Aus­ gabe. Begründet von Wilhelm Kosch und August Saur. Fortgeführt und hrsg. von Hermann Kunisch und Helmut Koopmann. Vol. I/1, Gedichte. Hrsg. von Harry Fröhlich und Ursula Regener. Stuttgart/Berlin/Köln: Kohlham­ mer, 1993. Gustav Fülleborn. »Neuplatonische Philosophie«. Beyträge zur Geschichte der Philosophie 3 (1793), 70–85. Johann Wolfgang Goethe. Faust: Der Tragödie zweiter Teil. Universal-Bibliothek 2. Stuttgart: Reclam, 2001. Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Gesammelte Werke. In Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft hrsg. von der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste. Hamburg: Meiner, 1968 ff. —. Werke in zwanzig Bänden: Theorie Werkausgabe. 20 Vol., Redaktion Eva Moldenhauer und Karl M. Michel. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1969–1971. Johann Christian Friedrich Hölderlin. Sämtliche Werke. 15 Vol., Hrsg. von Friedrich Beißner und Adolf Beck. Stuttgart: Kohlhammer, 1943–1985. —. Theoretische Schriften. Mit einer Einleitung und Anmerkungen hrsg. von Johann Kreuzer. Hamburg: Felix Meiner, 2020.

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2) Weitere Quellen

Friedrich Heinrich Jacobi. Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn. Auf der Grundlage der Ausgabe von Klaus Hammacher und Irmgard-Maria Piske bearbeitet von Marion Lauschke. Hamburg: Felix Meiner, 2000. Christoph Meiners. Beytrag zur Geschichte der Denkart der ersten Jahrhunderte nach Christi Geburt, in einigen Betrachtungen über die Neu-Platonische Philoso­ phie. Leipzig: Weidmann & Reich, 1782. Johann Lorenz Mosheim. Radulphi Cudworthi systema intellectuale huius universi seu de veris naturae rerum originibus commentarii. 2 Vol., Jena: Meyer, 1733. Das Neue Testament. Griechisch und Deutsch. Hrsg. von Erwin Nestle, Barbara Aland und Kurt Aland. Vierte, korrigierte und um die Papyri 99–116 erweiterte Aufl. Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft/Katholische Bibelanstalt, 2003. Novalis. Schriften: Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Hrsg. von Paul Kluck­ hohn und Richard Samuel. Zweite, nach den Handschriften ergänzte, erwei­ terte und verbesserte Auflage in vier Bänden und einem Begleitband. Stuttgart: Kohlhammer, 1960–1975. Ernst Platner. Philosophische Aphorismen nebst einigen Anleitungen zur philoso­ phischen Geschichte. 2 Vol., 1. Auf. Leipzig: Schwickert, 1776–1782; 2. Aufl. Leipzig: Schwickert, 1784; 2. Aufl. Frankfurt/Leipzig: Schwickert, 1790; 3. Aufl. Frankfurt/Leipzig: Schwickert, 1793–1800. Platonis Opera. 5. Vol., Recognovit brevique adnotationes critica instruxerit John Burnet. Oxford University Press, 1900–1907. Friedrich Rößler. De commentitiis ammonianae philosophiae fraudibus et noxis. Tübingen: Schramm, 1786. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. Historisch-kritische Ausgabe. Im Auftrag der Schelling-Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften hrsg. von Jörg Jantzen, Thomas Buchheim, Jochem Hennigfeld, Wilhelm G. Jacobs und Siegbert Peetz. Stuttgart: Frommann-Holzboog, 1976 ff. —. Sämmtliche Werke. 14 Vol., Hrsg. von Karl Friedrich August Schelling. Stuttgart/Augsburg: Cotta, 1856–1861. Sexti Empirici Opera. Vol. 1, Pyrrôneiôn hypotypôseôn libros tres continens. Ed. stereotypam emendatam curavit addenda et corrigenda adiecit Jürgen Mau. Leipzig: Teubner, 1958. Speusippus of Athens. A critical Study with a Collection of the related Texts and Commentary by Leonardo Táran. Leiden: Brill, 1981. Baruch de Spinoza. Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt. Latei­ nisch–Deutsch. Neu übersetzt, hrsg., mit einer Einleitung versehen von Wolfgang Bartuschat. Philosophische Bibliothek 92. Vierte Aufl. Hamburg: Felix Meiner, 2015. Gottlieb Tennemann. Geschichte der Philosophie. 11 Vol., Leipzig: Barth, 1798–1819. Dieterich Tiedemann. Geist der spekulativen Philosophie. Vol. 3, Von der neue­ ren Akademie bis auf die Araber. Marburg: Neue Akademische Buchhand­ lung, 1793.

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VI) Bibliographie

Mme de Staël. De l’Allemagne. Nouvelle édition publiée d’après les manuscrits et les éditions originales avec des variantes, une introduction, des notices et des notes par Jean de Pange. Vol. 4, Paris: Librairie Hachette, 1959.

3) Weiterführende Literatur Aertsen, Jan A. »›Eros‹ und ›Agape‹: Dionysius Areopagita und Thomas von Aquin über die Doppelgestalt der Liebe«. In: Edith Düsing und Hans-Dieter Klein (Hg). Geist, Eros und Agape: Untersuchungen zu Liebesdarstellungen in Philosophie, Religion und Kunst. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2009, 191–203. Albert, Karl. Philosophische Studien. Vol. 1, Philosophie der Philosophie. Sankt Augustin: Academia Verlag Richarz, 1988. Andia, Ysabel de. Henosis: L’union à Dieu chez Denys l’Aréopagite. Philosophia Antiqua 71. Leiden/New York/Köln: Brill, 1996. —. Denys l’Aréopagite: Tradition et métamorphoses. Paris: Vrin, 2006 Arnold, Thomas. Phänomenologie als Platonismus: Zu den Platonischen Wesens­ momenten der Philosophie Edmund Husserls. Berlin/Boston: Walter de Gruyter, 2017. —. »In the ›Realm of the Mothers‹: On the Absolute in Husserl’s Phenomenol­ ogy«. In: Ermylos Plevrakis und Max Rohstock (Hg). Grundlegung des Absolu­ ten? Paradigmen aus der Geschichte der Metaphysik. Heidelberger Forschungen 42. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2019, 279–304. Asmuth, Christoph. »Die Lehre vom Bild in der Wissenstheorie Johann Gottlieb Fichtes«. In: Christoph Asmuth (Hg). Sein – Reflexion – Freiheit: Aspekte der Philosophie Johann Gottlieb Fichtes. Bochumer Studien zur Philosophie 26. Amsterdam/Philadelphia: Grüner, 1997, 269–299. —. Das Begreifen des Unbegreiflichen: Die Philosophie und Religion bei Johann Gottlieb Fichte 1800–1806. Spekulation und Erfahrung II/41. Stuttgart/Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 1999. —. Interpretation – Transformation: Das Platonbild bei Fichte, Schelling, Hegel, Schleiermacher und Schopenhauer und das Legitimationsproblem der Philoso­ phiegeschichte. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2006. —. »Bild des Bildes des Bildes: Fichtes konstruktivistische Bildtheorie«. In: Simone Neuber und Roman Veressov (Hg). Das Bild als Denkfigur: Funktionen des Bildbegriffs in der Geschichte der Philosophie. München: Fink, 2010, 153–165. Bacin, Stefano. Fichte in Schulpforta (1774–1780): Kontext und Dokumente. Spekulation und Erfahrung II/42. Stuttgart/Bad Cannstatt: Frommann-Holz­ boog, 2007. Baumgartner, Hans M. »Die Bestimmung des Absoluten: Ein Strukturvergleich der Reflexionsformen bei J. G. Fichte und Plotin«. Zeitschrift für Philosophische Forschung 34 (1980), 321–342. Bechtle, Gerald. »Göttliche Henaden und platonischer Parmenides: Lösung eines Mißverständnisses?« Rheinisches Museum für Philologie 142 (1999), 358–391.

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3) Weiterführende Literatur

Beierwaltes, Werner. »Endre von Ivánka. Plato Christianus: Übernahme und Umgestaltung des Platonismus durch die Väter. Einsiedeln: Johannes Verlag, 1964«. Philosophisches Jahrbuch 73 (1965/66), 375–377. —. »Ἐξαίφνης oder: Die Paradoxie des Augenblicks«. Philosophisches Jahrbuch 74 (1966/67), 271–283. —. Plotin: Über Ewigkeit und Zeit: Enneade III 7. Übersetzt, eingeleitet und kommentiert von Werner Beierwaltes. Frankfurt am Main: Vittorio Kloster­ mann, 1967. —. Platonismus und Idealismus. Philosophische Abhandlungen 40. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 1972. —. »Plotins Metaphysik des Lichtes«. In: Clemens Zintzen (Hg). Die Philoso­ phie des Neuplatonismus. Wege der Forschung 436. Darmstadt: WBG, 1977, 75–117. —. »Pronoia und Freiheit in der Philosophie des Proklos«. Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 24 (1977), 88–111. —. Proklos: Grundzüge seiner Metaphysik. Philosophische Abhandlungen 24. Zweite, durchgesehene und erweiterte Auflage Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 1979. —. Identität und Differenz. Philosophische Abhandlungen 49. Frankfurt am Main: Klostermann, 1980. —. Eriugena: Studien zu seinen Quellen. Vorträge des III. Internationalen Eriugena-Colloquiums (Freiburg im Breisgau, 27.-30. August 1979). Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Philoso­ phisch-historische Klasse 3. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 1980. —. Denken des Einen: Studien zur neuplatonischen Philosophie. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 1985. —. »Proklos: Ein systematischer Philosoph?« In: Jean Pépin und Henry D. Saffrey (Hg). Proclus: Lecteur et interprète des anciens. Actes du colloque international du CNRS (2.-4. Oktober 1985). Paris: Éditions du CNRS, 1987, 351–368. —. »Plotins Erbe«. Museum Helveticum 45 (1988), 75–97. —. Selbsterkenntnis und Erfahrung der Einheit: Plotins Enneade V 3 – Text, Übersetzung, Interpretation, Erläuterungen. Frankfurt am Main: Vittorio Klos­ termann, 1991. —. Eriugena: Grundzüge seines Denkens. Frankfurt am Main: Vittorio Kloster­ mann, 1994. —. Das wahre Selbst: Studien zu Plotins Begriff des Geistes und des Einen. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 2001. —. Platonismus im Christentum. Zweite Aufl. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 2001. —. Fußnoten zu Plato. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 2011. —. Catena Aurea: Plotin, Augustinus, Eriugena, Thomas, Cusanus. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 2017. Beierwaltes, Werner, Balthasar, Hans Urs von und Haas, Alois M. Grundfragen der Mystik. Kriterien 33. Einsiedeln: Johannes Verlag, 1974. Benedictus XVI. Gott ist die Liebe: Die Enzyklika ›Deus caritas est‹. Freiburg im Breisgau /Basel/Wien: Herder, 2006.

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3) Weiterführende Literatur

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VI) Bibliographie

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3) Weiterführende Literatur

—. »Fichte als Spinoza, Spinoza als Fichte: Jacobi über den Spinozismus der Wis­ senschaftslehre«. In: Walter Jaeschke und Birgit Sandkaulen (Hg). Friedrich Heinrich Jacobi: Ein Wendepunkt der geistigen Bildung der Zeit. Studien zum achtzehnten Jahrhundert 29. Hamburg: Felix Meiner, 2004, 37–52. —. Fichte lesen. legenda 4. Stuttgart/Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 2013.

383 https://doi.org/10.5771/9783495994924 .

https://doi.org/10.5771/9783495994924 .

Nachwort

Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um die leicht überarbeitete Fassung meiner Habilitationsschrift, die unter dem Titel »Das Abso­ lute in uns: Untersuchungen zum Verhältnis der neuplatonischen Tradition und Johann Gottlieb Fichtes Henologie« am 03.02.2022 an der Philosophischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Hei­ delberg als Habilitationsschrift eingereicht und von ebenderselben Fakultät am 27.07.2022 als schriftliche Habilitationsleistung aner­ kannt wurde.* Ich möchte die Gelegenheit nutzen, um einer ganzen Reihe an Personen und Institutionen, ohne die diese Arbeit nie entstanden wäre, in aller Kürze zu danken: Mein erster Dank gilt Prof. Dr. Anton Koch, der sich nach dem tragischen Tod meines Lehrers, Prof. Dr. Dr. h. c. Jens Halfwassen, sofort und ohne Umschweife bereit erklärt hat, Mentorat und Erst­ gutachten zu übernehmen. Danken möchte ich natürlich auch den weiteren Gutachtern, namentlich PD Dr. Roberto Vinco und Prof. Dr. Johannes Brachtendorf. Prof. Dr. Dr. Markus Enders und Prof. Dr. Bernhard Uhde wiederum danke ich für die Aufnahme in die Reihe Scientia & Religio. Der Fritz Thyssen Stiftung gebührt mein Dank für eine großzügige dreijährige Projektförderung, in deren Rah­ men der Großteil meiner Forschungen an dem zugrundeliegenden Thema stattgefunden hat, und für die Übernahme der Druckkosten. Äußerst dankbar bin ich ferner meinen Kolleg*innen, Student*innen, Freund*innen, Eltern und Geschwistern, weil sie mit mir über die hier verhandelten und bisweilen nur schwer verständlichen Themen kontrovers diskutiert haben. Namentlich hervorheben möchte ich an dieser Stelle aber nur diejenigen, die diese Arbeit nicht nur ganz oder zum Teil gelesen, sondern sie auch noch mit kritischen Anmerkungen versehen haben, durch die ich zur nochmaligen Reflexion geradezu gezwungen wurde: PD Dr. Dirk Cürsgen, Patrick Neuberger, Hai Linh Ngo, Dr. Gheorghe Paşcalău, Dr. Tolga Ratzsch, Prof. Dr. Anne *

Das Kolloquium fand am 16.11.2022 im Senatsaal der Alten Universität statt.

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Nachwort

Rohstock und Evelyne Rohstock. Die größte Hilfe war zweifellos Anna Maria Train. Sie hat die gesamte Arbeit nicht bloß mehrfach kritisch gelesen, sondern vor allem mit weiterführenden Gedanken intensiv durchwirkt. Darüber hinaus war sie auch in schwierigsten Lebenslagen mein unerschütterlicher Rückhalt. Ihr gilt daher mein wichtigster Dank. Heidelberg im Mai 2023

M. R.

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Personenregister

Aertsen, Jan A. 192–194, 362 Albert, Karl 13, 261, 332, 343, 362 Andia, Ysabel de 181, 182, 189, 190, 362 Aristoteles 22, 64, 74, 80, 204, 227, 234 Arnold, Thomas 85, 125, 317, 362 Asmuth, Christoph 28, 29, 37–39, 264, 287, 320, 362 Augustinus 16, 31, 32, 182, 360 Bacin, Stefano 362 Balthasar, Hans Urs von 13, 42, 363 Bartholomai, Rainer 129, 356 Baumgartner, Hans M. 35, 362 Bechtle, Gerald 103, 164, 362 Beierwaltes, Werner 13, 25, 29–31, 34, 37, 41–44, 49, 59, 72, 74, 83, 86, 88, 89, 94–100, 102– 104, 114, 123, 127, 129, 133, 135, 137, 139, 149, 151, 152, 157, 160, 163, 168, 170, 174, 181, 184– 187, 189, 191, 192, 194, 196, 197, 202, 203, 207, 220, 222, 223, 230, 233, 363 Benedictus XVI 167, 363 Bertinetto, Alessandro 322, 364 Beutler, Rudolf 355 Blumenberg, Hans 23, 137, 227, 232, 242, 250, 319, 333, 364 Boese, Helmut 356 Bonaventura 82, 246, 311, 360 Bormann, Karl 220, 359, 364

Brachtendorf, Johannes 16, 265, 266, 286, 295, 299, 364 Bracken, Ernst von 37, 364 Breazeale, Daniel 262, 364 Brisson, Luc 154, 364 Brösch, Marco 219, 364 Brucker, Johann Jakob 13, 360 Bruno, Giordano 263, 352 Buchner, Hans 79, 364 Burnet, John 361 Bussanich, John 154, 364 Carabine, Deirdre 196, 213, 217, 364 Cattin, Emanuel 36, 364 Ceming, Katharina 37, 364 Chlup, Radek 95, 174, 365 Coleridge, Samuel Taylor 360 Colomer, Eusebio 241, 365 Corsini, Eugenio 188, 365 Cudworth, Ralph 13, 360 Cürsgen, Dirk 29, 34, 36, 56, 94, 95, 97, 102, 103, 106, 107, 109, 113, 114, 119, 121, 122, 127, 132, 139, 142, 145, 147, 149, 157, 162, 163, 175, 220, 223, 230, 244, 259, 260, 264–266, 296, 310, 312, 316, 320, 365 Damaskios 82, 116, 121, 122, 126, 144, 162, 182 Dante 352 Danz, Christian 285, 293, 365 de Pange, Jean 310, 362

387 https://doi.org/10.5771/9783495994924 .

Personenregister

d’Hoine, Pieter 95, 99, 103, 378 Diehl, Ernst 355 Dillon, John M. 154, 185, 191, 365 Dodds, Eric R. 103, 356 Dörrie, Heinrich 19, 365 Drechsler, Julius 35, 365 Drews, Friedemann 103, 174, 175, 365 Duclow, Donald F. 203, 223, 365, 366 Düsing, Edith 167, 287, 310, 366 Düsing, Klaus 366 Ehret, Hermann 35, 366 Eichendorff, Joseph von 336, 360 Emilsson, Eyjólfur K. 51, 366 Enders, Markus 39, 67, 98, 258, 366 Erler, Michael 43, 99, 356, 366 Euler, Walter A. 219, 364 Feldbusch, Klaus 163, 356 Fénelon, François 352 Fichte, Immanuel Hermann 35, 259, 324, 359 Fichte, Marie Johanne 289, 352 Flasch, Kurt 32, 203, 204, 219, 223, 296, 366, 367 Fogelin, Robert J. 110, 367 Frank, Manfred 278, 367 Franz, Michael 34, 367 Fuchs, Erich 359, 360 Fülleborn, Gustav 360 Gabriel, Markus 53, 72–74, 81, 83, 86, 367 Gaiser, Konrad 22, 367 Geissler, Alexandra 219, 364 Gentile, Andrea 283, 367 Gersh, Stephen 95, 104, 105, 161, 197, 213, 220, 367

Gerson, Lloyd P. 12, 19, 367 Gerten, Michael 287, 296, 367 Gliwitzky, Hans 359 Gloy, Karen 35, 266, 268, 269, 275, 325, 368 Goethe, Johann Wolfgang 150, 288, 360 Goré, Jeanne-Lydie 352, 368 Goris, Wouter 56, 368 Gregory, Tullio 196, 213, 368, 372 Greig, Jonathan 157, 164, 175, 368 Grondijs, Lodewijk H. 368 Grotz, Stephan 138, 226, 233, 235, 339, 368 Guérard, Christian 149, 368 Guyon, Jeanne Marie Bouvier de la Motte 352 Haas, Alois M. 13, 42, 363 Hadot, Pierre 41, 42, 45, 51, 74, 92, 355, 368 Halfwassen, Jens 12, 15, 19, 22–30, 34, 41–45, 47–54, 56–60, 63, 65, 67–69, 77–81, 83, 86, 90, 92, 95, 100, 102, 103, 112, 120, 123, 125, 127, 139, 151, 152, 157, 158, 185, 188, 203, 223, 228, 244, 246, 278, 348, 368–370 Hammacher, Klaus 361 Harder, Richard 355 Heereman, Franziskus von 223, 336, 370 Hegel, Georg Wilhelm Fried­ rich 34, 49, 196, 252, 269, 360 Heidegger, Martin 82, 261 Heidemann, Dietmar H. 110, 370 Heil, Günther 357 Helmig, Christoph 95, 377 Henrich, Dieter 144, 256, 294, 316, 332, 370 Hermanni, Friedrich 48, 370

388 https://doi.org/10.5771/9783495994924 .

Personenregister

Hindrichs, Gunnar 70, 137, 333, 370 Hogrebe, Wolfram 31, 73, 81, 90, 171, 172, 183, 221, 222, 252, 315, 318, 370 Hölderlin, Johann Christian Fried­ rich 97, 221, 278, 279, 299, 304, 360 Horn, Christoph 16, 370 Hühn, Lore 35, 36, 264, 275, 312, 370 Hummel, Charles F. 241, 371 Iamblichos 12, 99, 116 Ivánka, Endre von 222, 363, 371 Jacobi, Friedrich Heinrich 11, 39, 223, 262–264, 288, 310, 331, 352, 361 Jacobi, Klaus 231, 371 Jaeschke, Walter 28, 371 Jalloh, Chernor M. 39, 371 Janke, Wolfgang 24, 258, 260, 266–270, 275, 277, 279, 282– 284, 288, 293, 295, 299, 305, 316, 320, 322, 325, 339, 341, 343, 371 Jaspers, Karl 67, 69, 93, 105, 149, 177, 238–242, 250, 283, 319, 336, 371, 372 Jeauneau, Édouard 196, 197, 213, 357, 372 Jones, John N. 192, 372 Kant, Immanuel 13, 15, 18, 38, 39, 96, 252, 258, 261, 262, 282, 292, 342 Kijewska, Agnieszka 197, 205, 372 King, Christopher S. 20, 372 Kobusch, Theo 21, 23, 43, 51, 56, 64, 84, 97, 98, 100, 102, 114, 152, 372 Koch, Anton F. 67, 283, 372

Koch, Hugo 181, 373 Koch, Josef 46, 179, 373 Koch, Oliver 278, 303, 373 Krämer, Hans J. 22, 24, 76, 83, 341, 373 Kremer, Klaus 19, 136, 225, 226, 233, 234, 236, 237, 241, 242, 254, 373 Kreuzer, Johann 97, 98, 196, 198, 221, 278, 360, 373 Kristeller, Paul O. 31, 95, 373 Kroll, Wilhelm 355 Krüger, Gerhard 56, 373 Kühn, Manfred 373 Kühn, Rolf 287, 295, 315, 326, 373 Lankila, Tuomo 104, 373 Lauth, Reinhard 257, 261, 340, 359, 360, 373 Lechner, Gerhard 373 Leinkauf, Thomas 31, 34, 374 Lemanski, Jens 19, 38, 374 Leroux, Georges 74, 355 Lilla, Salvatore 196, 374 Limberger, Veronika 197, 374 Loder, Martin 49, 50, 52, 133, 148, 374 Loewe, Johann H. 35, 374 Loheide, Bernward 36, 266, 374 Mähl, Hans-Joachim 34, 374 Mainoldi, Ernesto S. 182, 374 Mandrella, Isabelle 241, 255, 374 Marion, Jean-Luc 72, 263, 374 Marsilio Ficino 31 Martijn, Marije 95, 99, 103, 378 Martin, Wayne M. 39, 374 Mazur, Alexander J. 68, 94, 374 McGinn, Bernard 13, 42, 374 Meckenstock, Günter A. 259, 374

389 https://doi.org/10.5771/9783495994924 .

Personenregister

Medicus, Fritz 288, 359, 360 Meijer, Pieter A. 176, 375 Meiners, Christoph 13, 361 Meinwald, Constance C. 185, 375 Meister Eckhart 16, 31, 37, 56, 73, 92, 97, 99, 114, 123, 135, 138, 153, 174, 179, 198, 203, 219, 222, 223, 235, 244, 266, 267, 286, 296, 314, 338, 339, 351, 360, 366 Mieth, Dietmar 339, 375 Minobe, Hitoshi 310, 375 Mojsisch, Burkhard 31, 56, 226, 375 Monaco, Davide 230, 375 Moran, Dermot 196, 375 Mortley, Raoul 59, 375 Moses Maimonides 219 Mosheim, Johann Lorenz 13, 361 Moutsopoulos, Evanghé­ los 147, 375 Nadler, Josef 35, 375 Narbonne, Jean-Marc 72, 83, 86, 375 Novalis 34, 278, 279, 303, 336, 361 Nygren, Anders 167, 375 O’Brien, Carl S. 14, 375 Oesterreich, Peter L. 262, 286, 375, 376 O’Meara, Dominic J. 83, 376 O’Meara, John J. 196, 376 Omine, Akira 303, 376 Onnasch, Ernst-Otto 160, 356 Opsomer, Jan 12, 376 Otto, Stephan 160, 376 Pachoumi, Eleni 154, 376

Paimann, Rebecca 29, 259, 260, 264, 265, 268, 281, 293, 304, 310, 318, 320, 376 Parmenides 266, 267 Paşcalău, Gheorghe 82, 97, 121– 123, 126, 144, 153, 162, 376, 381 Pecina, Björn 262, 287, 299, 376 Pépin, Jean 105, 376 Perczel, István 376 Perger, Mischa von 253, 377 Perkams, Matthias 95, 377 Philon von Alexandrien 185 Pigler, Agnès 51, 63, 72, 377 Platner, Ernst 361 Poetsch, Christoph 86, 377 Porphyrios 12, 44, 185 Quero-Sánchez, Andrés 37, 287, 338, 339, 343, 377 Radrizzani, Ives 262, 377 Ranff, Viki 219, 364, 377 Ranke, Leopold von 35, 377 Ratzsch, Tolga 67, 377 Reale, Giovanni 24, 377 Redondo, José M. 154, 377 Rentsch, Thomas 102, 377 Resch, Felix 229, 378 Riel, Gerd van 103, 104, 164, 174, 175, 378 Ritter, Adolf M. 181, 182, 190, 357, 378 Rohstock, Max 31, 32, 45, 52, 82, 96, 97, 116, 120, 136, 139, 182, 185, 188, 189, 198, 200–204, 206, 207, 212, 218, 220, 221, 224, 226, 228–231, 237–239, 242–244, 251, 254, 329, 378 Rößler, Friedrich 361 Roth, Veronika M. 103, 174, 378

390 https://doi.org/10.5771/9783495994924 .

Personenregister

Saffrey, Henri D. 103, 104, 164, 356, 379 Sandkaulen, Birgit 262, 299, 331, 379 Schäfer, Christian 186, 190, 194, 379 Schäfer, Rainer 264, 379 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 34, 252, 262, 265, 361 Schlegel, Friedrich 34 Schlösser, Ulrich 258, 279, 327, 379 Schmidt, Andreas 259, 275, 277, 379 Schnell, Alexander 316, 320, 324, 329, 341, 342, 379 Scholem, Gershom 210, 211, 250, 379 Schomakers, Ben 160, 182, 356, 379 Schultz, Jana 157, 379 Schüssler, Ingeborg 258, 275, 379 Schwyzer, Hans-Rudolf 74, 379 Segonds, Alain-Philippe 356 Seidl, Horst 79, 379 Senger, Hans G. 220, 359 Sextus Empiricus 110, 280, 361 Seyler, Frédéric 287, 292, 341, 380 Sheldon-Williams, InglisPatrick 191, 380 Siemek, Marek J. 39, 380 Siep, Ludwig 380 Siorvanes, Lucas 95, 380 Smith, Andrew 80, 380 Speusipp 77, 78, 100, 361 Spinoza, Baruch de 35, 39, 160, 263, 298, 299, 304, 361 Stallmach, Josef 223, 228, 232, 380 Staël, Mme de 310, 362

Steel, Carlos 95, 102, 104, 112, 116, 121, 123, 126, 127, 134, 152, 221, 356, 377, 380 Stein, Heinrich von 35, 380 Stiglmayr, Joseph 181, 184, 357, 381 Stolzenberg, Jürgen 283, 381 Strauss, Ze’ev 185, 381 Suchla, Beate R. 190, 357, 381 Szlezák, Thomas A. 22, 24, 56, 381 Tanaseanu-Döbler, Ilinca 103, 174, 381 Tarán, Leonardo 100, 381 Tennemann, Gottlieb 13, 361 Theiler, Willy 355 Thierry von Chartres 219 Thoma, Helga 323, 381 Thomas von Aquin 72 Tiedemann, Dieterich 13, 361 Tornau, Christian 66, 93, 122, 129, 132, 137, 142, 145, 147, 167, 381 Traub, Hartmut 262, 287, 338, 352, 376, 381 Trouillard, Jean 95, 97, 160, 382 van den Berg, Robbert M. 99, 153, 356 Vancamp, Bruno 382 Vansteenberghe, Edmond 223, 336, 382 Varessis, Evangelia 77, 382 Vasilakis, Dimitrios A. 63, 129, 167, 189, 382 Verweyen, Hansjürgen 99, 287, 329, 351, 360, 382 Vinco, Roberto 71, 267, 382 Waibel, Violetta L. 278, 382 Weischedel, Wilhelm 289, 382 Westerink, Leenhard G. 103, 356

391 https://doi.org/10.5771/9783495994924 .

Personenregister

Westerkamp, Dirk 102, 192, 382 Widmann, Joachim 259, 382 Wilhelm von Moerbeke 101, 128, 159 Wotschke, Theodor 382 Wundt, Max 35, 382

Wurm, Achim 63, 382 Zehnpfennig, Barbara 56, 263, 282, 342, 382 Zöller, Günter 37, 262, 299, 382, 383

392 https://doi.org/10.5771/9783495994924 .