Postmoderne und Lebensphänomenologie: Zum Verhältnis von Differenz und Immanenz des Erscheinens 9783495820537, 9783495490402


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Inhalt
Einleitung: Die Postmoderne als epochales Ereignis
Teil I: Metaphysik und Phänomenologie
1. Reduktion und Destruktion bei Husserl und Heidegger
1. Zum Verhältnis von Reduktion und Daseinsanalytik
2. Bedürfen und »pathische Onto-do-logie«
3. Sichgeben und transzendentale Geburt
2. Michel Henry und die Dekonstruktion der »Metaphysik der Vorstellung«
1. Die reine Phänomenalität als Affektivität und ursprüngliche Einheit
2. Zeit, Mitpathos und Unbewusstes als phänomenologische Zukunftsfragen
3. Der differe(ä)ntielle Zeitbezug als grundsätzliche Auseinandersetzung mit der Postmoderne
3. Der Leib/Welt-Chiasmus bei Maurice Merleau-Ponty als »Opazität«
1. Welthafte Inkarnation
2. Die Frage der Passivität und Immanenz
3. Sprache und Leib
4. Trieb und Erotik in der Lebensphänomenologie und bei Georges Bataille
1. Die Absolutheit des erotisch sensuellen Leibes
2. Intersubjektivität und Erotik als transgressiv-kulturelle Problematik
3. Konfrontation mit der Erotik als »Verausgabung« bei Bataille
Teil II: Dekonstruktion und Postmoderne
5. Wiederholung und Immanenz als »Intensität« gemäß Gilles Deleuze
1. Wiederholung als Intensität
2. Begehrender Wille und fragmentierte Immanenz im »nomadischen Denken«
3. Transzendentalität, Empirismus und Anti-Dogmatismus
6. Cogito/sum und Phantasma im ethisch-analytischen Denken Jacques Lacans
1. »Lustprinzip« und »Ding« (la chose) schlechthin – oder Descartes, Kant und Sade
2. Sublimierung und Tod des Subjekts als creatio ex nihilo
3. Das Verschwinden des Anderen (A) als postmoderne »Melancholisierung«
7. Religion und Kultur bei Levinas als »Substitution« und Pluralität
1. Menschwerdung und Messiastum des »Ich« diesseits der Ontologie
2. Affektion und Reduktion in Bezug auf »Inkarnation« und »Leben«
3. »An-archie« und Pluralisierung als kulturelles Kriterium
8. Jacques Derrida und Jean-Luc Nancy: Dekonstruktion als »Fraktur«
1. Dekonstruktion als Dissemination und Aufschub bei Derrida
2. Intuition und Haptologie als Grundorientierung abendländischer Metaphysik
3. Das Apriori des Außen in der »Dekonstruktion des Christentums« nach Nancy
Ausblick: Wovon wir berührt werden – was wir berühren
Gesamtbibliographie
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Postmoderne und Lebensphänomenologie: Zum Verhältnis von Differenz und Immanenz des Erscheinens
 9783495820537, 9783495490402

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Seele, Existenz und Leben Band 33

Rolf Kühn

Postmoderne und Lebensphänomenologie Zum Verhältnis von Differenz und Immanenz des Erscheinens

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495820537

.

B

Rolf Kühn

Postmoderne und Lebensphänomenologie

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495820537 .

Seele, Existenz und Leben Band 33 Herausgegeben von Rolf Kühn und Frédéric Seyler Forschungsstelle für jüngere französische Religionsphilosophie, Forschungskreis Lebensphänomenologie, Universität Freiburg i. Br und Department of Philosophy DePaul University, Chicago

https://doi.org/10.5771/9783495820537 .

Rolf Kühn

Postmoderne und Lebensphänomenologie Zum Verhältnis von Differenz und Immanenz des Erscheinens

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495820537 .

Rolf Kühn Post-Modernity and Phenomenology of Life On the Relationship of Difference and Immanence of Appearance Immanence and difference have been the leitmotifs and central notions of the phenomenology of life and postmodernism since the 1960s. Along these leitmotifs Kühn’s new book presents a critical dialogue between deconstruction and radical phenomenology. Based on Husserl’s and Heidegger’s revolution of the thought of modernity Kühn analyses and discusses the developments of this new thinking by postmodern authors such as Bataille, Merleau-Ponty, Levinas, Deleuze, Lacan, Lyotard, Baudrillard, Foucault sowie Derrida and Nancy. Their respective affinities for the phenomenology of life as a deconstruction of the »metaphysics of representation« found in Henry’s work lead to a significant thematical consideration of the body, intensity, desire and jouissance. The book hence also treats postmodern critique of knowledge and power in relationship with discourse and language in order to imagine an ethical-aesthetic future for culture and society which cannot be ignored by recent developments of norm-oriented post-postmodernism.

The Author: Rolf Kühn (born 1944), PhD from Paris-Sorbonne; lecturer of philosophy in Vienna, Beirut, Nice, Lisbon, Louvain-la-Neuve; director of »Research Centre for Contemporary French Philosophy of Religion« at the University of Freiburg as well as of the »Research Group Phenomenology of Life« Freiburg-im-Breisgau; several publications in phenomenology, psychological anthropology, philosophy of culture and of religion.

https://doi.org/10.5771/9783495820537 .

Rolf Kühn Postmoderne und Lebensphänomenologie Zum Verhältnis von Differenz und Immanenz des Erscheinens Am Leitfaden von Immanenz und Differenz als den beiden zentralen Begriffen, die Lebensphänomenologie und Postmoderne seit den 1960er Jahren charakterisieren, erfolgt in der vorliegenden Untersuchung ein kritisches Gespräch zwischen Dekonstruktion und radikaler Phänomenologie. Im Ausgang von Husserl und Heidegger als Umbruch des Denkens in der Moderne werden die Weiterentwicklungen bei den postmodernen Autoren wie Bataille, Merleau-Ponty, Levinas, Deleuze, Lacan, Lyotard, Baudrillard, Foucault sowie Derrida und Nancy aufgegriffen und diskutiert. Ihre entsprechenden Affinitäten zur Lebensphänomenologie als einer Dekonstruktion der »Metaphysik der Vorstellung« bei Henry führen zur besonderen thematischen Berücksichtigung von Leiblichkeit, Intensität, Begehren und jouissance. Dabei wird ebenfalls die postmoderne Wissens- und Machtkritik im Zusammenhang mit Diskurs und Sprache behandelt, um eine ethisch-ästhetische Zukunft in Kultur und Gesellschaft in den Blick zu bekommen, welche auch die neuere normorientierte Post-Postmoderne nicht ignorieren kann.

Der Autor: Rolf Kühn (geb. 1944), Dr. phil. Paris-Sorbonne; Univ.-Dozent für Philosophie in Wien, Beirut, Nizza, Lissabon, Louvain-la-Neuve; Leiter der »Forschungsstelle für jüngere französische Religionsphilosophie« an der Universität Freiburg-im-Breisgau sowie des »Forschungskreises Lebensphänomenologie« Freiburg-im-Breisgau; zahlreiche Veröffentlichungen im Bereich Phänomenologie, Psychologische Anthropologie, Kultur- und Religionsphilosophie.

https://doi.org/10.5771/9783495820537 .

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Erich und Maria Russell-Stiftung, c/o Deutsche Bank AG, Stiftungsverwaltung, 20079 Hamburg), sowie der Erzdiözese Freiburg-im-Breisgau.

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2019 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49040-2 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82053-7

https://doi.org/10.5771/9783495820537 .

Inhalt

Einleitung: Die Postmoderne als epochales Ereignis . . . . . .

11

Teil I: Metaphysik und Phänomenologie 1. 1. 2. 3.

Reduktion und Destruktion bei Husserl und Heidegger Zum Verhältnis von Reduktion und Daseinsanalytik . . Bedürfen und »pathische Onto-do-logie« . . . . . . . Sichgeben und transzendentale Geburt . . . . . . . .

2.

Michel Henry und die Dekonstruktion der »Metaphysik der Vorstellung« . . . . . . . . . . . . . Die reine Phänomenalität als Affektivität und ursprüngliche Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mitpathos und Unbewusstes als phänomenologische Zukunftsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der differe(ä)ntielle Zeitbezug als grundsätzliche Auseinandersetzung mit der Postmoderne . . . . . . . . .

. 108

Der Leib/Welt-Chiasmus bei Maurice Merleau-Ponty als »Opazität« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Welthafte Inkarnation . . . . . . . . . . . . . . . Die Frage der Passivität und Immanenz . . . . . . Sprache und Leib . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . .

1. 2. 3.

3. 1. 2. 3.

4. 1.

. . . .

. . . .

. . . .

43 44 59 66

.

75

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76

.

88

123 124 133 147

Trieb und Erotik in der Lebensphänomenologie und bei Georges Bataille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 Die Absolutheit des erotisch sensuellen Leibes . . . . . . 177

7 https://doi.org/10.5771/9783495820537 .

Inhalt

2. 3.

Intersubjektivität und Erotik als transgressiv-kulturelle Problematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konfrontation mit der Erotik als »Verausgabung« bei Bataille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

188 194

Teil II: Dekonstruktion und Postmoderne 5. 1. 2. 3.

6. 1. 2. 3.

7. 1. 2. 3.

8. 1. 2.

Wiederholung und Immanenz als »Intensität« gemäß Gilles Deleuze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wiederholung als Intensität . . . . . . . . . . . . . . Begehrender Wille und fragmentierte Immanenz im »nomadischen Denken« . . . . . . . . . . . . . . . . Transzendentalität, Empirismus und Anti-Dogmatismus

. 217 . 222 . 230 . 241

Cogito/sum und Phantasma im ethisch-analytischen Denken Jacques Lacans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Lustprinzip« und »Ding« (la chose) schlechthin – oder Descartes, Kant und Sade . . . . . . . . . . . . . . Sublimierung und Tod des Subjekts als creatio ex nihilo . Das Verschwinden des Anderen (A) als postmoderne »Melancholisierung« . . . . . . . . . . . . . . . . . . Religion und Kultur bei Levinas als »Substitution« und Pluralität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Menschwerdung und Messiastum des »Ich« diesseits der Ontologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Affektion und Reduktion in Bezug auf »Inkarnation« und »Leben« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »An-archie« und Pluralisierung als kulturelles Kriterium .

264 265 277 293

307 311 323 329

Jacques Derrida und Jean-Luc Nancy: Dekonstruktion als »Fraktur« . . . . . . . . . . . . . . 353 Dekonstruktion als Dissemination und Aufschub bei Derrida . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 Intuition und Haptologie als Grundorientierung abendländischer Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . 368

8 https://doi.org/10.5771/9783495820537 .

Inhalt

3.

Das Apriori des Außen in der »Dekonstruktion des Christentums« nach Nancy . . . . . . . . . . . . . . .

Ausblick: Wovon wir berührt werden – was wir berühren

383

. . 409

Gesamtbibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433

9 https://doi.org/10.5771/9783495820537 .

https://doi.org/10.5771/9783495820537 .

Einleitung: Die Postmoderne als epochales Ereignis

Lebensphänomenologie wie Postmoderne entstanden als zwei wichtige neuere Richtungen innerhalb des philosophischen Denkens seit den 1960er Jahren in Frankreich, aber bisher wurden beide mit Ausnahme von verstreuten Einzeluntersuchungen noch nicht einem systematischen Vergleich zugeführt. Er wird in dieser Untersuchung unter den beiden tragenden Begriffen der Immanenz und Differenz vorgenommen, wobei der Ausgangspunkt in den Selbstradikalisierungen der Phänomenologie seit Heidegger ruht, der den methodisch leitenden Begriff der »Dekonstruktion« den postmodernen Denkern unter anderem vorgab. Von diesen werden in den folgenden Kapiteln vor allem Maurice Merleau-Ponty, Georges Bataille, Gilles Deleuze, Jacques Lacan, Emmanuel Levinas sowie Jacques Derrida und JeanLuc Nancy berücksichtigt, insofern sie hinsichtlich der lebensphänomenologischen Grundanalysen Michel Henrys zu Leib, Immanenz, Intensität oder Begehren sowie einer Kritik der »Metaphysik der Vorstellung« eine gewisse Affinität implizieren. Dabei sind die postmodernistischen Stellungnahmen von Jean Baudrillard, Jean-François Lyotard wie Michel Foucault zum Verhältnis von Wissen/Macht einerseits als auch von Sprache/Trieb in der Moderne andererseits nicht ausgeblendet, 1 insofern sie eine ethische Kultur- und Gesellschaftsdebatte implizieren, die maßgeblich auch der »Selbstsorge« für das eigene Leben gewidmet ist, welche die moralischen Urteile Für den Hintergrund der politisch-geschichtlichen Krise der Moderne des 20. Jahrhunderts hierbei vgl. R. Behrens, Postmoderne, Frankfurt/M., Europäische Verlagsanstalt 2014. Außerdem A. Wellmer, Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne, Frankfurt/M., Suhrkamp 1993; K. Riha, Prämoderne, Moderne, Postmoderne, Frankfurt/M., Suhrkamp 1995; Y. Boisvert, Le Monde postmoderne. Analyse du discours sur la postmodernité, Paris, L’Harmattan 1996, sowie D. Madson, Postmodernism. A Bibliography, Amsterdam, Rodopi 1995; P. Baum u. S. Höltgen (Hg.), Lexikon der Postmoderne – Von Abjekt bis Zižek. Begriffe und Personen, Bochum – Freiburg, Projektverlag 2010.

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Einleitung: Die Postmoderne als epochales Ereignis

durch ästhetische ersetzen will, was ebenfalls eine gewisse Parallele zur Einheit von ethos und religio als »Lebensmystik« bei Henry darstellt. In unserer Auseinandersetzung geht es dabei zentral um die phänomenologische wie dekonstruktive Kernfrage, ob die Differenz sich allein hervorbringen kann oder nicht vielmehr eine lebendige Immanenz voraussetzt, die das ständige Differieren der Transzendenz (différance) als »Spur« bzw. »Aufschub« eines ursprünglich Absoluten praktisch-transzendental zu verstehen gibt. Denn ohne ein solch immanentes Leben in der singulär-pluralen »Subjektivierung« der Individuen würde – im Gegensatz zur originären Selbstaffektion in der Lebensphänomenologie – in der Tat nie mehr eine ursprüngliche Einheit des Erscheinens erreicht. Durch den »Tod des Subjekts« innerhalb der permanenten »Nachträglichkeit« unendlich sprachlicher Existenz- oder Situationsurteile in der Nachfolge des »Todes Gottes« bei Nietzsche, der ebenfalls schon keine hermeneutische Einheit von Sinn und Werten mehr zuließ, verdeckt daher die Postmoderne strukturell eine unverzichtbare Vorgabe, die als solche für das Denken zwar unsichtbar und unbenennbar ist – aber radikal phänomenologisch nicht negiert oder verloren gehen kann. Denn der vorhandene Quasi-Transzendentalismus der Sprache bei den meisten postmodernen Autoren antwortet nicht auf die Frage nach einer unmittelbar selbstgegebenen Vollzugswirklichkeit, die als intensive Leiblichkeit implizit von denselben Denkern unter der Wirklichkeit des Begehrens oder Triebs bzw. der Lust (jouissance) im Sinne eines an-archischen Energetismus als stets differentem Ur-Chaos des Seins – wie in der Figur des Dionysos bei Nietzsche – in Anspruch genommen wird. Diese ästhetisch-ethischen als »a-theologische« Vorentscheidungen (Bataille) können somit für das dekonstruktive Vorgehen hinterfragt werden, wenn sie mit einer radikalen oder gegen-reduktiven Lebensvorgabe konfrontiert werden, die ihrerseits die Vorstellungskritik der Postmoderne epistemologisch integrieren kann. So die Frage, ob durch die sprachliche Nicht-Entscheidbarkeit seitens einer unmöglichen meta-differenten oder metaphysischen Hermeneutik nur der permanente »Widerstreit« als agonaler Konflikt bleibt (Lyotard), um auf diese Weise schließlich das »Subjekt« als solches selbst aufzuheben und durch Narratologie oder Diskursivität im Sinne einer abgründig vorgegebenen Struktur zu ersetzen. Diese unendliche Verweisung als »Spur« favorisiert somit die Ereignishaftigkeit der ephemeren Neuheit eines jeden Augenblicks, der aber dennoch nicht von 12 https://doi.org/10.5771/9783495820537 .

Einleitung: Die Postmoderne als epochales Ereignis

einer immanenten Ursprünglichkeit getrennt sein muss, wenn man diesen »Augenblick« notwendigerweise selbstaffektiv in der material phänomenologischen Lebenspassibilität verankert sieht. Begriffe wie »asketische Praxis« oder auch »Spiritualität« etwa bei Foucault, um hierbei den Weg eigener Autarkie gegenüber diskursiven Machtansprüchen zu charakterisieren und sich zugleich ebenfalls über die Sprache davon zu befreien, bleiben jedoch der Endlosigkeit des Kampfels um eine solche Freisetzung verpflichtet. Aber selbst wenn solche Askese und Spiritualität als Lebensästhetik kein Ziel kennt, weil das Subjekt nie definitiv innerhalb eines solchen skeptisch-ironischen Anti-Essentialismus zu sich selbst gelangen kann, führt solche résistance dennoch zur Ethik einer »freimütigen Rede« 2. Mit anderen Worten sollen jene Einschränkungen oder sogar Ausschließungen durchbrochen werden, welche Geltung erheischen, anstatt in ihrer historischen Genese transparent zu werden, wie es die Diskursanalyse beabsichtigt, die bei Derrida hinsichtlich einer »UrSchrift« (archi-écriture) sicher stärkere ontologische Züge einer negativen Metaphysik besitzt als die empirisch-transzendentale Sichtweise der Historisierung von »Wissen« (savoir) bei Foucault im Schatten Kants. Jedenfalls wird Wahrheit in keinem Fall über irgendein substanzbezogenes oder dialektisches Werden (devenir) erzielt, denn jegliche geschichtliche Teleologie bedeutet nur ein Aufbrechen von Positivitäten, die zugleich über das jeweils herrschende institutionelle Regelwerk der Macht (pouvoir) verändert werden, um auf diese Weise die Interpretation zu einer unablässigen Aufgabe werden zu lassen. Dabei darf allerdings nicht vergessen werden, dass dieser geschichtlich-kategoriale Machtanspruch mittels herrschender Diskurse ein »Objekt des Begehrens« bildet und somit letztlich auf die energetische oder intensive Differenz der Körper (Deleuze) zurückverweist, ohne eine ur-leibliche Selbstaffektion als lebensphänomenologische Wirklichkeit näher in Betracht zu ziehen. Damit dürfte der heuristische Rahmen eines philosophischen und praktischen Gesprächs eröffnet sein, welches für unsere kulturelle Zukunft selbst entscheidend bleibt, indem sich nämlich in der gegenwärtigen Post-Postmoderne die Tendenz abzeichnet, wieder 2 Vgl. M. Foucault, »Der Wille zum Wissen«, in: Schriften 2, Frankfurt/M., Suhrkamp 2002, 295 ff.; zur Diskussion ebenfalls O. Friedrich, D. Aurenque, G. Assadi u. S. Schleidgen (Hg.), Nietzsche, Foucault und die Medizin. Philosophische Impulse für die Medizinethik, Bielefeld, Transcript 2016.

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Einleitung: Die Postmoderne als epochales Ereignis

auf feste Normen und Imperative oder »Realismus« und »starkes Denken« zurückzugreifen, bzw. »Dekonstruktion« durch »Rekonstruktion« von Naturrecht und Objektivität zu ersetzen, um den politischen und ökonomischen Zusammenhalt von Gruppen und Gemeinschaften zu sichern. Die teilweise Überkreuzung von Lebensphänomenologie und Postmoderne kann hierzu verständlich machen, wie die theoretischen Gewinne der letzteren phänomenologisch aufgeklärt weitergeführt werden können, ohne in eine Nostalgie der Restauration zu verfallen, die sich zum Teil in Kunst und Religion sowie in neuen gesellschaftlichen Narrativen heute bereits deutlich manifestiert. Denn es herrscht aktuell beispielsweise nicht nur eine Ambivalenz zwischen Körperfetischismus und Körperverneinung vor, indem Selbstinszenierung und Selbstkontrolle sich keineswegs ausschließen, um Individualismus und Effizienz zwecks sozialer Anerkennung miteinander zu verbinden. Vielmehr wird auch der Prozess zur sichernden Herausbildung eigener persönlicher Teilidentitäten in der gegenwärtigen Multioptionsgesellschaft meist unbewusst von einem Markt gesteuert, der wie ein abwesender »Großer Anderer« (A) im Sinne Lacans fungiert und dem früheren »Gott« der universellen Sinnstabilisierung innerhalb eines theologischen Schöpfungsgedankens funktional gleicht. 3 Die »Lebenskunst«, welche daher von vielen in Anspruch genommen wird, um solchen individuellen wie lebensweltlichen Ambivalenzen zu entgehen, kann allerdings nur gelingen, wenn die postmodern reklamierte Priorität des subjektiven Fühlens vor der abstrakten Vernunft als prinzipiell abgelehntem Allgemeinheitsanspruch die effektive Ursprünglichkeit solchen Empfindens immanent auch wirklich zu erproben weiß. Damit sollte die »Berührung« durch ein phänomenologisch »Reales« möglich werden, das durch keine gesellschaftliche Symbolik mehr imaginär verstellt ist und demzufolge solche »Wahrheit« des Einzelnen nicht länger ausschließlich einem regulativen Konsensdiskurs wie in der pragmatisch kommunikativen Moderne (Apel, Habermas) überlässt. 4 Denn die berechtigte postmoderne Skepsis gegenüber dem selbstzerstörerischen Potenzial dieser Moderne seit dem 19. Jahrhundert spätestens dürfte Vgl. U. Beck, Weltrisikogesellschaft. Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit, Frankfurt/M., Suhrkamp 2007. 4 Vgl. J. Habermas, Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt/M., Suhrkamp 21986. 3

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Einleitung: Die Postmoderne als epochales Ereignis

ebenso zukünftig zu einer erweiterten Erkenntnis gehören wie der bisher zu einseitig verallgemeinerte szientistische oder empirische Vernunftbegriff, oder epistemologisch gesehen die Kritik jeder analytischen Methodologie, da sie hermeneutischen Problematiken unterliegt, die interpretativ keine einheitliche Letztbegründung von Realität und Erkenntnis zulassen. Die lebensphänomenologische Immanenz als Selbstaffektion muss dabei allerdings nicht den unendlich aufgeschobenen Zielverweis im Sinne einer infinitistischen Bedeutungskritik teilen, da sie selber keine neue »Metaerzählung« (Lyotard) anstelle der bisherigen rationalen, ontologischen oder theologischen Letztprinzipien bietet. Die Selbstaffektion ist nämlich im Wie ihres rein phänomenologischen Erscheinens keine Vorstellung oder ein Signifikat, sondern in der Tat eine ab-gründig affektive Erprobung. Demzufolge hinterlässt die ontologische Leerstelle einer negativ konnotierten unendlichen oder transversalen Vernunft 5 nicht bloß simulacra als libidinös-energetisch aufgeladene Bilderflut, wie insbesondere gemäß Baudrillard und Deleuze, sondern es ergibt sich in solcher Erprobung die unmittelbare »Offenbarungs«-Wirklichkeit eines nie fehlenden Lebens als Potenzialität, die als inneres »Wort des Lebens« jeder Hermeneutik und Dekonstruktion bzw. Delimitation vorausliegt. Schon bei Levinas war meine Geiselnahme durch das »Antlitz« des Anderen eine ursprüngliche Gewalt, welche in die Rekurrenz der Sinnlichkeit als Passivität selbst eingeschrieben ist. Ähnlich bildet vor allem bei Derrida die jedem Subjekt vorhergehende »Spur« der Schrift als différance eine solche Gewalt, die durchaus in struktureller Hinsicht der Gewalt reiner Lebensempfänglichkeit durch das uns inkarnatorisch gebärende transzendentale Leben gleicht. Anders gesagt, gibt es postmodern wie lebensphänomenologisch eine Ur-Situativität oder faktisch immanente Ereignishaftigkeit, die auf ein »schweigendes Cogito« verweist, wie auch schon Merleau-Ponty es nannte, ohne selbstreflexiv oder rational je eine solch fleischliche cogitatio als passio einholen zu können. Wenn auch die aus dieser originären Vorgegebenheit gezogenen Konsequenzen unterschiedlich sind, nämlich dekonstruktiv ein permanent sich aktualisierendes disjunktives Sprachapriori und lebensphänomenologisch eine immanent passible Einheitserprobung ohne Repräsentation in jedem subjektiven Voll5 Vgl. W. Welsch (Hg.), Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, Berlin, Akademie Verlag 1994.

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Einleitung: Die Postmoderne als epochales Ereignis

zug, so will gerade eine diesbezüglich strukturelle wie thematische Übereinstimmung nicht nur den Leitfaden der folgenden Analyse bilden. Vielmehr soll darüber hinaus diese unumgänglich individuelle wie kulturelle Konstellation einer solchen Anfangsgewalt unserer Gegenwart wie Zukunft zu verstehen geben, die Wahrheit einer dergestalt einmaligen Ursprungswirklichkeit für alle Menschen nicht zu vorschnell durch neu aufgesuchtes moralisches, religiöses oder normatives Wissen zu verdunkeln – um vielleicht von daher ebenfalls alle Gewalt zu verstehen, wie sie geschichtlich auftritt, nämlich verwurzelt in einem Begehren, das sich selbst »Gewalt« bleibt, weil es prinzipiell kein Objekt der Erfüllung weder in Sprache noch Welt zu finden vermag. Insofern teilen wir die Einschätzung von Peter Engelmann, 6 die Postmoderne nicht nur unter verkürzenden Vorgaben medialer Rezeption als ein Phänomen der »Beliebigkeit« zu verstehen, sondern als den ernsthaften Versuch der Spätmoderne, sich aus den Einengungen ideologischer Allgemeinheitsansprüche zu befreien, um die emanzipatorischen Werte der Moderne wie etwa Aufklärung und Humanismus als Anerkennung der Heterogenität in deren Prinzip zum Durchbruch zu verhelfen. Der Ansatz bei den »Sprachspielen« Wittgensteins, 7 wie er sich im programmatischen Entwurf der Postmoderne bei Lyotard findet, war daher das Bemühen, die totalitären Allgemeinheitsansprüche wie etwa im Kommunismus und Faschismus sowie im wissenschaftlichen Objektivismus als Szientismus, wodurch das Heterogene oder Plurale ausgeklammert war, durch die Öffnung der Sprache auf eine nicht geschichtlich begrenzte Diskursivität weiterhin zu ihrem Recht zu verhelfen. Dieses Verhältnis von Subjektivem/Allgemeinem, wodurch gleichzeitig eine Konfrontation mit Hegels dialektischer Logik als einem gewissen Abschluss abendländischer Metaphysik vorgezeichnet war, ist als philosophische Auseinandersetzung naturgemäß komplexer als nur mediale Inszenierungen des »postmodernen Denkens«, wie sie hauptsächlich dann

6 Vgl. »Einführung: Postmoderne und Dekonstruktion. Zwei Stichwörter zur zeitgenössischen Philosophie«, in: P. Engelmann (Hg.), Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart, Leipzig, Reclam 1990, 5–32, hier bes. 12 f. 7 Vgl. dazu bereits R. Kühn, Wort und Wahrheit. Phänomenologische Untersuchungen zum originären Sprachverständnis, Hildesheim – Zürich – New York, Olms 2005. 89–124: »Sprachgrammatik und Sprachspiele«.

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Einleitung: Die Postmoderne als epochales Ereignis

auch für ein größeres Publikum zunächst im Bereich der Literaturwissenschaft, Kunst und Architektur stattfanden. 8 Innerhalb der genannten philosophischen Perspektive kann sich die lebensphänomenologische Analyse im Gespräch mit der postmodernen Kritik an den Defiziten der metaphysischen Tradition und Moderne ebenfalls nur in das heutige Bemühen einreihen, adäquate Formen der Gesellschaftlichkeit freier bzw. ipseisierter Individuen zu finden. Insofern ist dann der Lebensbegriff auf keinen Fall zu hypostasieren, um Bedürfnis- und Entfremdungsvorgaben zu bedienen, die einen vergessenen Bezug zur eigenwesentlichen Phänomenalisierung des Lebens als reiner Immanenz beinhalten. Daher ist unser Ansatz bei der lebendigen Immanenz, die keinerlei Vorgabe hinsichtlich einer »menschlichen Natur« macht, sondern allein das radikale Empfindenkönnen der Subjektivität als angemessenen phänomenologischen Leitfaden für jegliches Erscheinen betrachtet, ein kritischer Begriff gegenüber allen Verkürzungen, die das originäre Cogito nur als gesellschaftlichen Habitus bzw. sprachliche Symbolisierung festschreiben wollen. Allen »Sprachspielen« oder »Metaerzählungen« geht in der Tat eine lebendige Gemeinschaftlichkeit als Pathos voraus, das keiner letzten abstrakten Rechtfertigung unterworfen werden kann, sei diese allgemein rational oder postmodern differe(ä)ntiel, insoweit es sich bei diesem Pathos um eine rein passible oder uranfängliche Phänomenalisierungsweise handelt, die sich jeder Interpretation entzieht, da sie selbstaffektiv zunächst als radikal ursprüngliche Faktizität praktisch zu leben ist. Distanz zu jeder theoretischen Interpretation markiert daher sowohl postmodern als auch lebensphänomenologisch einen epochal epistemologischen Einschnitt, um sich der verkürzenden Abstraktionsprozesse jeglicher Art mit ihren 8 Vgl. G. Wunberg u. S. Dietrich (Hg.), Die literarische Moderne. Dokumente zum Selbstverständnis der Literatur um die Jahrhundertwende, Freiburg-im-Breisgau, Rombach 1998, wo sich als Modernismus – etwa in der Wiener und Pariser Moderne – die Postmoderne ankündigt, was zeigt, dass die Begriffe Spätmoderne und Modernismus ab ca. 1850 erst im Rückblick erkennbar und definierbar sind. Außerdem A. Berger u. G. E. Moser (Hg.), Jenseits des Diskurses. Literatur und Sprache in der Postmoderne, Wien, Passagen 1994; M. Lützeler (Hg.), Spätmoderne und Postmoderne. Beiträge zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Frankfurt/M., Fischer 1991; P. V. Zima, Moderne / Postmoderne. Gesellschaft, Philosophie, Literatur, Tübingen, Francke-UTB 42016, 237–376. Zur Architektur siehe Ch. Jencks, Die Sprache der postmodernen Architektur. Die Entstehung einer alternativen Tradition, Stuttgart, Metzler 1978; I. Flagge u. R. Schneider (Hg.), Die Revision der Postmoderne. Post-Modernism Revisited, Hamburg, Junius 2004.

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Einleitung: Die Postmoderne als epochales Ereignis

logischen und totalitären Ausschlüssen in Bezug auf das originäre oder lebendige Selbsterscheinen als Immanenz bewusst zu werden. Sollte sich erweisen, dass der Differe(ä)nzbegriff als Dekonstruktion selbst noch an einem solchen Ausschluss teilhat, obwohl er gerade letzteren methodisch verhindern möchte, dann kann dies nur bedeuten, genau das in den Blick zu nehmen, was verdunkelt oder vergessen wird, wenn alles Sein zum Text (Sprache) deklariert wird, wie es unter anderem beim frühen Derrida der Fall ist. Mit anderen Worten handelt es sich für uns um eine Auseinandersetzung mit dem hypostasierten philosophischen Transzendenzbegriff, der als Anschauung, Idee oder Sprache jenen ontologischen wie diskursiven Abstand grundlegt, in dem sich überhaupt erst allgemeine Aussagen und deren normative Ansprüche etablieren lassen. Die selbstkritische Einsicht der Dekonstruktion in methodischer Hinsicht, nicht selbst unter den Vorwurf unstatthafter Verallgemeinerung fallen zu wollen, obwohl sie diese in erklärender Hinsicht einer plausiblen Argumentation nicht ganz zurückzuweisen vermag, kann sich daher nicht nur auf den je zu berücksichtigenden Bezug von Text und Kontext beschränken. Denn auch jeder Kontext ist allein in einer Transzendenz denkbar, der als existentieller Situiertheit oder lebensweltlicher Symbolisierung jene immanente Ur-Situativität vorausliegt, in der die ebenso unauflösbare wie immemoriable Verbindung von Leben/Leib als pathischer Inkarnation in transzendentaler Hinsicht geschieht. Das kritische lebensphänomenologische Gespräch mit der Postmoderne hat daher bis in diese Grundstruktur von Text, Diskurs und Transzendenz als prinzipieller Kluft zurückzugehen, um hierin jene unbefragte Ermöglichung des abendländischen Logos als Ontologie auszumachen, wie er zu den unterschiedlichen geschichtlichen Gewaltformen der Ausgrenzung des Heterogenen geführt hat. Erst wenn deutlich wird, dass Pathos und Heterogenität in der Wirklichkeit der Subjektivität als originäres Empfindenkönnen zusammenfallen, ist keine Entgegensetzung von Subjektv/Allgemein mehr möglich, die nach der richtigen Einsicht der theoretischen Postmoderne keineswegs dem totalitären Anspruch von Ausschluss/Einschluss entgeht. Denn mit dem originär passiblen Empfindenkönnen als reinem Selbsterscheinen wird eine andere Phänomenalisierungsweise erreicht, die dem Monismus der Transzendenz entgeht, wie er auch noch in jeder sprachlichen oder diskursiven Differe(ä)nz waltet. 9 9

Vgl. als grundlegende Analyse M. Henry, L’essence de la manifestation, Paris, PUF

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Es reicht daher in unseren Augen nicht, bloß eine Aufmerksamkeit für die jeweilige Kontextabhängigkeit von Sprachen und Texten als Grundlage dekonstruktiver Haltung auszubilden, da der Methodenbegriff als solcher in seinem umfassenden Anspruch durchschaut werden soll. Unbefragt bliebe nämlich sonst das dogmatische Apriori, dass es kein »Außerhalb des Textes« gäbe, 10 und zwar in jener fundamentalen Hinsicht, ob das immanente Selbsterscheinen des Lebendigen nicht gerade ein solch meta-genealogisches Voraus oder Außerhalb aller denkbaren Texte überhaupt darstellt, um niemals in eine Bedeutung, Metapher oder Symbolik als »Sinn« einzutreten. Hier erst findet die dekonstruktive Methodendiskussion ihren wirklichen Abschluss, um zwischen dem äußeren »Wort der Welt« und dem immanenten »Wort des Lebens« eine prinzipielle Heterogenität offen zu legen, die Heterogenität und Pluralität der Individuen erst radikal phänomenologisch verständlich macht. 11 Damit ist gleichfalls die differe(ä)ntielle Dialektik von Anwesenheit/Abwesenheit, wie sie sowohl von Hegel wie Freud übernommen wurde und noch von einer Vorstellungsmetaphysik des Bewusstseins abhängig ist, einer radikalen Dekonstruktion zugeführt. Diese Dialektik gilt in der Tat im Bereich des Unbewussten wie der Texte, Signifikanten und Symbolik, insofern sich ein Sinn immer letztlich entzieht, um im Horizont der Weltbedeutungen auf weitere Sinnimplikationen zu verweisen, wie wir seit den Analysen klassischer Phänomenologie bei Husserl wissen. 12 Die Selbstgegebenheit unserer originären Leiblichkeit entzieht sich uns hingegen niemals als selbst1963, 59–163 (dt. Das Wesen des In-Erscheinung-Tretens, Freiburg/München. Alber 2018, Teil I); dazu auch unser folgendes Kapitel I,2. 10 Vgl. zum Beispiel J. Derrida, zit. P. Engelmann, »Einführung: Postmoderne und Dekonstruktion«, 21. – Zum Verständnis bleibt zu ergänzen, dass für Derrida die Differänz zugleich Iterabilität (itérabilité) ist, das heißt eine Radikalisierung der Position der partikulären Textoffenheit sogar von Roland Barthes noch, um keinerlei Wiederholung des Selben bei gleichen Signifikanten aufkommen zu lassen. Derrida vertritt mithin eine ständige Abweichung von vorangegangenen Bedeutungen als Sinnverschiebung und Sinnzerfall, wenn scheinbare Wort- oder Begriffswiederholungen in einem Text sich einstellen. Zur Unterscheidung vom strengen Strukturalismus bei J. Greimas hierbei vgl. R. Barthes, Das semiologische Abenteuer, Frankfurt/M., Suhrkamp 1985, 11 ff. 11 Vgl. M. Henry, Affekt und Subjektivität. Lebensphänomenologische Beiträge zur Psychologie und zum Wesen des Menschen, Freiburg/München, Alber 2005, 64–90: »Pathos und Sprache«. 12 Vgl. etwa Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der Logik (1939), Hamburg, Meiner 1985, 112 ff.

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affektive Faktizität, so dass eben nicht nur die »Gewalt« zu bedenken ist, die wir durch die Gesamtheit von Begriffen und Taxinomien den gedeuteten Texten antun, sondern vor allem jenes Vergessen, welches die Individuen gewaltsam trifft, wenn sie nicht konkret phänomenologisch in ihrer ursprünglichen Lebendigkeit bedingungslos berücksichtigt werden. Mithin kann sich die Dekonstruktion nicht nur als stetige Aufmerksamkeit gegenüber Formalisierungsprozessen von Allgemeinheitsaussagen verstehen, sondern als eine Lektüre der Welt, die das Ausgegrenzte bei fixierten Sinnidentitäten ans Licht heben soll, bleibt letztlich vor allem jene Ausblendung des Lebens radikal phänomenologish bewusst zu machen, die mit dem Textprimat selbst noch vollzogen und verfestigt wird. Ob die postmoderne Berücksichtigung von Körper, Begehren, Trieb, Lust etc. ein innerdekonstruktives Korrektiv hierfür schafft, wie es bei Bataille, Deleuze, Lacan und Foucault versucht wurde, ist dann im Einzelnen an entsprechender Stelle abzuwägen, und zwar im Zusammenhang mit der kritischen Frage, ob ein anonym vitaler Energiebegriff der transzendentalen Lebendigkeit in ihrer radikalen Ursprungsweise wirklich gerecht wird. 13 Mit den vorhergehenden Hinweisen ist ebenfalls unterstrichen, dass unsere Untersuchung sich im phänomenologischen Rahmen nach der prinzipiellen Frage des Erscheinens bewegt, um die »Postmoderne« als den Ausdruck eines Denkens zu verstehen, welches die Differe(ä)nz konsequent von allen Bestimmungen löst, die der genannten Transzendenz als Substanz, Wert oder Sinnvorgabe noch anhaften können. Damit ist unser Hauptziel nicht die hermeneutisch wirkungsgeschichtliche Diskussion des Verhältnisses der Postmoderne zu Moderne, Modernismus, Neuzeit oder Avantgarde, wie sie in vielfältigen Arbeiten durch unterschiedliche historische oder soziologische Konstruktionen versucht wurde, 14 sondern die Herausarbeitung der epochalen Bedeutung dieses Differe(ä)nzgedankens selbst. Er erschöpft sich nämlich nicht einfach in der Feststellung von Heterogenität und Pluralisierung mit ihren gesellschaftlichen und kulturellen Folgeerscheinungen von Ambivalenz, Ambiguität und Indifferenz, wie sie das globalisierte Markt-, Technik- und Finanzgeschehen manifestieren. 15 Vielmehr stellt der von solch globalen Erscheinun13 14 15

Vgl. unsere folgenden Kapitel I,4 und II,5. Vgl. etwa die Übersicht bei P. V. Zima, Moderne / Postmoderne, 19 ff. Vgl. als Kritik am rationalen Universalismus zugunsten eines radikalen Partikula-

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gen hervorgebrachte Individualismus, soll er nicht nur die Hervorhebung eines »narzisstischen Partikularismus« sein, die Frage nach der möglichen Selbstgegebenheit von »Individualität« in der Differenz selbst. Im strengen Sinne lässt Differe(ä)nz als Abstand oder Kluft im originär phänomenologischen Sinne keinerlei Individualität mehr zu, so dass der Begriff dekonstruktiv überdeterminiert bleibt und die durchgehend schweigende Präsenz der Immanenz verrät, insofern keine Individualität ohne jene transzendentale Lebendigkeit denkbar ist, die auch jedem Narzissmus noch vorausliegt. Das Phänomen des postmodernen Partikularismus im Bereich individuierten Erscheinens bleibt daher – neben allen berechtigten Beobachtungen gesellschaftlicher Natur – als eine Frage nach jenem Sich zu verstehen, dass allen ambivalenten oder imaginären Selbstbildern prinzipiell noch vorausliegt und gerade durch seine Ambiguität innerhalb des postmodernen Differe(ä)nzbegriffs eine neue Klärung verlangt. 16 Wir verneinen also nicht, dass die Postmoderne ebenso komplementär wie kontrastiv zur Moderne als Zeit der »Subjektkonstruktion« betrachtet werden kann, um mit diesem Begriff der Moderne sowohl eine historische Periodisierung wie umfassende Sozialdiagnose verfolgen zu können. Aber diese bis heute kontrovers durchgeführten Klassifikationen, die kaum von einzelnen Daten und Ereignissen abhängig zu machen sind, auch wenn die beiden Weltkriege, Kommunismus und Faschismus sowie die Krisen in der Wissenschaftsbegründung und Neuansätze in der Literatur wie etwa bei Kafka, Pirandello und Musil einen markanten Einschnitt darstellen, lässt eben die Frage nach der tiefsten Mutation im Verständnis des Lebens und des Individuums offen. Originär vereint in einer radikalen Selbstaffektion, können beide in Zukunft nicht mehr unter der traditionellen Vorgabe vom Subjekt/Objekt-Verhältnis verstanden werden, welches seit der griechischen Antike als Grundlage wahrer oder objektiver Erkenntnis gedient hat. Weder immanentes Leben noch rismus Z. Bauman, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Frankfurt/M., Fischer 1995. 16 Für die soziologische Problematisierung vgl. als Durkheimschüler zum Beispiel G. Lipovetsky, L’Ere du vide. Essais sur l’individualisme contemporain, Paris, Gallimard 1983, hier besonders Kapitel III: »Narcisse ou les stratégies du vide«; ähnlich H. von Fabeck, Vom Sinn zum Spiel, 43 ff. Die Stärkung der Gesellschaft durch das Streben der Individuen nach Selbstverwirklichung als life-politics wird hingegen von A. Giddens, Modernity and Self-Identity. Self and Society in the Last Modern Age, Cambridge, Polity 1991, favorisiert.

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pathisches Individuum vermögen länger gemäß dem Leitfaden der Gegenständlichkeit oder Objektität betrachtet zu werden, wie sie auch von Husserl und Heidegger noch nicht vollkommen in der Phänomenologie überwunden wurden. 17 Und für diese nicht umgehbare »Me-ontologie«, wie Merleau-Ponty und Levinas diesen Begriff eingeführt haben, steht letztlich der Begriff der Postmoderne in unseren Augen. Ohne Michel Henry zu den postmodernen Denkern in einem direkten Sinne zu zählen, verstehen wir seine radikale Vorstellungskritik als Weg der Aufdeckung zur absolut phänomenologischen Immanenz hin dennoch als Teil dieser Postmoderne in einem weiteren Sinne, um diesen epochalen Einschnitt zu offenbaren. 18 Auch wenn das Spiel der Sinnvarianz durchaus ein wichtiges Element dabei ist, um die Ambivalenz und radikale Pluralisierung innerhalb der Postmoderne zu unterstreichen, so halten wir ebenfalls diese alleinige Charakterisierung 19 nicht für den ausschließlich zählenden Maßstab, da die absolut individuierte Erprobung der »Gewalt« der Immanenz, von der wir schon sprachen, diesem Spiel ebenfalls phänomenologisch unverzichtbar vorausliegt. Dieses »Spiel« ist ein vorübergehendes Moment auf der Suche nach einem erneuerten individuellen wie kulturellen Verständnis von Leben im transzendentalen Sinne, um seiner tiefsten Herausforderung gerecht zu werden, die nicht im unbegrenzt variablen Bereich von Sinn, Signifikant und Sprache liegt, sondern in der subjektiven Entsprechung angesichts der rein immanenten Notwendigkeit von Selbst- als Lebenserprobung, welche sich niemals in irgendeinem Maße naturalisieren lässt, sondern eine »nächtliche Intrige« darstellt, um einen weiteren Begriff von Levinas zu verwenden. 20 Der bedeutungsverleihenden »Metaphysik der Vorstellung«, die bisher für Denken und Kultur im Okzident vorgeherrscht hat, kann so eine »Metaphysik der Erprobung« zur Seite gestellt werden, 21 um zu verdeutlichen, worauf in letzter Vgl. J.-L. Marion, Réduction et donation. Recherches sur Husserl, Heidegger et la phénoménologie, Paris, PUF 1989. 18 Vgl. unsere folgenden Kapitel I,3 und II,7, sowie als frühen lebensphänomenologischen Hinweis in diesem Sinne F.-D. Sebbah, L’épreuve de la limite: Derrida, Henry, Levinas et la phénoménologie, Paris, PUF 2001. 19 Wie durch H. von Fabeck, Vom Sinn zum Spiel. Ein Leitfaden in die Postmoderne, Wien, Passagen 2015, wobei der Begriff des Spiels hier nur die älteren Begriffe wie Kontext, Situation und Rolle ersetzt. 20 Vgl. R. Gély, Rôles, action sociale et vie subjective. Recherches à partir de la phénoménologie de Michel Henry, Brüssel, Peter Lang 2009, 91 ff. 21 Vgl. M. Staudigl, »Die Unhintergehbarkeit des ›absoluten Lebens‹«, in: S. Kattel17

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Instanz jeder »Sinn« wie »Ab-Sinn« (Lacan) als »Spiel« verweist – nämlich auf die Ab-gründigkeit jeglichen Erscheinens als ein durch das rein phänomenologische Leben fundiertes und getragenes Erfahrenkönnen schlechthin. Auch die Diskussion, ob die Postmoderne die Posthistoire darstelle, 22 lässt unter rein ideengeschichtlichem Gesichtspunkt die grundlegende Frage unbeantwortet, ob trotz Historismus und Hermeneutik, die seit der Romantik als Reaktion auf die Aufklärung die epistemologische Deutungshoheit zum Verständnis des Menschen beanspruchten, das transzendentale Individuum überhaupt als ein vorrangig geschichtliches Wesen verstanden werden kann. Ohne den Historismus als Vorwegnahme für die dekonstruktivistische Interpretationsvielfalt wäre die Postmoderne sicher nicht entstanden, 23 aber die meta-genealogische Analyse Michel Henrys macht darauf aufmerksam, dass in der Tat keine der großen »Meta-Erzählungen als récits im Sinne Lyotards für den Menschen letztendlich zutrifft, insofern alle Historie im vorgeschichtlichen affektiven Bedürfen wurzelt, das durch den immanenten Übergang zu Begehren, Arbeit und Verzehr überhaupt erst »Geschichte« wirklich werden lässt, wie auch Marx gezeigt hat. 24 Keine Interpretation vermag die pro-duzierende Investitur des subjektiven Leibes jemals zu ersetzen, so dass das Konzept der »Posthistoire« zwar mit Recht auf die Verlagerung der hervorbringenden Arbeit in immer mehr funktionale Dienstleistungsbereiche verweisen kann, aber dadurch der transzendentale Aspekt von Arbeit keineswegs durch neue Berufsgruppen und außerindustrielle, digital-technische Fähigkeiten schlechthin ersetzt ist. In jeder Arbeit bleibt trotz allen wissenschafts- und marktkonformen Anpassungen eine Konfrontation mit dem abyssalen Aspekt der genannten

mann u. S. Knöpker (Hg.), Lebensphänomenologie in Deutschland. Hommage an Rolf Kühn, Freiburg/München, Alber 2012, 218–235. 22 Vgl. L. Niethammer, Posthistoire. Ist die Geschichte zu Ende?, Reinbek, Rowohlt 1989. 23 Vgl. W. Wehle (Hg.), Romantik. Aufbruch zur Moderne, München, Fink 1991; ebenfalls unseren Ausblick mit Verweis auf Nietzsche, Blumenberg, etc. 24 Vgl. B. Kanabus, »Leben und Geschichte in Michel Henrys Marx«, in: E. Angehrn u. J. Scheidegger (Hg.), Metaphysik des Individuums. Die Marx-Interpretation Michel Henrys und ihre Aktualität, Freiburg/München, Alber 2011, 174–193; R. Kühn, Subjektive Praxis und Geschichte. Phänomenologie politischer Aktualität. Freiburg/ München, Alber 2008, 175 ff.

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Investitur des Leibes bestehen, die nach Bataille, aber auch schon Simone Weil, 25 eine »Verausgabung« (dépense) im Sinne des darin antizipierten Todes ist. Und wird die Postmoderne als »Posthistoire« nach Nietzsche als Austauschbarkeit aller Werte verstanden, die auf dem Markt als Indifferenz auftritt, so ist damit ebenfalls noch nicht aufgezeigt, dass das Leben nicht selbst als Wert austauschbar ist, da sich alle ästhetisch-ethischen Pluralismen oder Spiele auch dann noch im Lebensselbstvollzug subjektiv erproben und als mögliche »Lebenskunst« deshalb vom Einzelnen daran gemessen werden, selbst wenn die existentielle Haltung hierbei in Skepsis und Zynismus enden sollte, wie es bei Sloterdijk der Fall zu sein scheint. 26 Durch diese einleitenden Beobachtungen hoffen wir darauf aufmerksam gemacht zu haben, dass die Postmoderne als radikale Herausforderung für das Erscheinen als me-ontologische Wahrheit oder Wirklichkeit eine entsprechend radikale Analyse auf einer Ebene verlangt, welche die vorgenommenen soziologischen Einordnungen übersteigt. Daher kann es nicht darum gehen (radikalen) Pluralismus und (extreme) Universalisierung als Einheitsdenken in solcher abstrakten Gegenüberstellung zu belassen, oder dialogische Versöhnungsversuche vorzuschlagen, die Identität und Differenz in einer gewissen kulturellen Schwebe halten, um die anstehenden gesellschaftlichen Probleme der Zukunft lösen zu können. 27 Es dürfte eher gefordert sein, eine uns vorgängige Wirklichkeit auszumachen, die gleichzeitig ebenso universal wie singulär ist; aber dies weder in einem bloß dialektischen noch dekonstruktiven Sinne, sondern als phänomenologische Gleichursprünglichkeit, wofür lebensphänomenologisch die Selbstgegebenheit von lebendiger Gemeinschaftlichkeit wie Ipseisierung steht. 28 Erst dann zeigt sich nämlich, dass der Begriff der Subjektivität nicht durch die Differ(ä)nz überholt ist, sondern vor aller metaphysischen oder reflexiven Subjektbestimmung und ihrer Vgl. S. Weil, L’enracinement. Prélude à une déclaration des devoirs envers l’être humain, Paris, Gallimard 1949, 223 f. (dt. Die Einwurzelung. Einführung in die Pflichten dem menschlichen Wesen gegenüber, München, Kösel 1956). 26 Vgl. F. Suarez-Müller, »Zum postmodernen Kynismus. Die Wiederauferstehung des Neffen Rameaus im Sphärenprojekt Peter Sloterdijks«, in: B. Goebel u. F. Suarez-Müller (Hg.), Kritik der postmodernen Vernunft. Über Derrida, Foucault und andere zeitgenössische Denker, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2007, 225–257. 27 Vgl. P. V. Zima, Moderne / Postmoderne, 303 f. u. 377–410. 28 Vgl. M. Henry, Affekt und Subjektivität, 140–161: »Mitpathos als Gemeinschaft«. 25

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postmodernen Denegation eine material-phänomenologische Erscheinensweise bezeichnet, die allen Lebendigen unbedingt zukommt und dadurch gleichfalls einen neuen Naturbegriff vorbereitet, der nicht nur postmodern, kapitalistisch, marxistisch oder ökofeministisch ist. 29 Der Leser wird sich allerdings hinsichtlich der bisherigen kritischen Rückfragen an die Debatte um die Postmoderne vielleicht fragen, ob die lebensphänomenologische Sichtweise derselben nicht einen konservativen Standpunkt im Verständnis dieses Postmodernismus verrät, wie man ihn beispielsweise bei Peter Koslowski findet, welcher der Indifferenz und dem Partikularismus neue christlichethische Werte gerade auch in Bezug auf die Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung entgegensetzen will. 30 Daraus ergibt sich für ihn ebenfalls die Notwendigkeit, eher von »Postmodernismus« als einer breiteren »philosophischen Strömung« zu sprechen, welche allgemein die Krise der modernen Wissensformen offen legen will. Von einem »anarchischen Postmodernismus« grenzt Koslowski sich als Herausgeber in »Moderne oder Postmoderne« 31 dabei insoweit ab, als er ein postneuzeitliches Denken durchaus mit einem neo-aristotelischen Wesensdenken verbunden sehen kann, das nicht den radikal postmodernen Anti-Essentialismus ais Anti-Rationalismus und skeptischen Relativismus akzeptieren muss, das heißt die Ablehnung von allen Metakriterien und Werten. Zunächst spräche für eine solche Sichtweise des Konservatismus, der bisher in Bezug auf M. Henry kaum diskutiert wurde, 32 die starke Gegenüberstellung von Technik, Wissenschaft und Ökonomie angesichts einer originären »Lebenskultur«, die zu verschwinden drohe, weil die genannten Bereiche methodisch seit Galilei durch den Ausschluss subjektiver Wahrheit als unmittelbar empfindendes Leben selbst gekennzeichnet sind. AndeVgl. für letzteren Aspekt unter anderem F. d’Eaubonne, Feminismus oder Tod. Thesen zur Ökologiedebatte, München, Verlag Frauenoffensive 41981. 30 Vgl. P. Koslowski, Die postmoderne Kultur. Gesellschaftlich-kulturelle Konsequenzen der technischen Entwicklung, München, Beck 1988. Ähnlich E. H. Tenbruck, Die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft. Der Fall der Moderne, Opladen, Westdeutscher Verlag 21990. – Dass J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt/M., Suhrkamp 21985, die Postmoderne selbst als aufklärungsfeindlich und konservativ betrachtete, verfolgen wir hier nicht weiter. 31 Weinheim, VCH-Verlag 1986. 32 Vgl. indes S. Auroux, Barbarie et philosophie, Paris, PUF 1990, J.-M. Domenach, »En marge de quatre livres (A. Finkielkraut, M. Henry, B. Lussato, G. Messadier)«, in: Krisis 1 (1988) 33–19. 29

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rerseits wird aber auch radikal phänomenologisch von ihm grundsätzlich aufgewiesen, dass eine Trennung (aufgrund der zuvor schon von uns genannten Meta-Genealogie der menschlichen Geschichte) gerade nicht möglich ist. In diesem Sinne treten daher nicht spezifische Werte, wie etwa die notwendige Beibehaltung des frühkapitalistischen »asketischen Ideals« (Max Weber) oder die Solidarität von Kollektiven zur Kontrolle technisch-wissenschaftlicher Prozesse ohne ausreichende demokratische Elemente als Korrektiv auf, sondern Henry plädiert über die Eindämmung eines abstrakt allgemeinen Wahrheitskonzepts (Objektivität) hinaus für eine prinzipiell transzendentale Rückbesinnung auf das rein phänomenologische Leben, um dieses dann als den Grund und die Quelle aller Werte anzuerkennen, wie schon angedeutet wurde. Denn das Leben ist nicht der »höchste Wert« aus metaphysischen oder ideologischen Gründen, sondern es ist jene apriorisch affektive Wirklichkeit, durch die überhaupt Werthaftes entstehen und erkannt zu werden vermag. Diese Position ist nicht »konservativ« im politischen Sinne, da sie jegliche Wertaffirmation – sei sie sozialistisch solidarisch, plural individualistisch, hedonistisch indifferent oder konservativ wertsetzend 33 – an die immanente Ermöglichung ihrer je eigenen Behauptung verweist, um darin zugleich immer auch ein Korrektiv zu finden, wenn sich eine ethisch-geschichtliche Sichtweise einseitig ideologisieren oder dogmatisieren sollte. Das »Leben« ist also kein einzelner, ontologisch, existentiell oder gesellschaftlich isolierbarer Wert, sondern jene ab-gründige Wirklichkeit, an der sich alle menschlichen Bereiche zu orientieren hätten, anstatt es transzendental zu vergessen. Dieser kritische Stellenwert als ethos und religio im Sinne eines unmittelbar kulturellen Grundempfindens schlechthin impliziert mithin in unseren Augen ein dekonstruierendes Element, das der Postmoderne insofern nahe kommt, als auch sie die Dekonstruktion als Prozess in einer ständigen Offenheit für Veränderung lebendig halten will, so wie das Leben seinerseits durch seine ständig immanente Selbstbewegung gekennzeichnet ist, die nicht an einzelnen Stellen politisch, normativ oder religiös fixiert zu werden

33 Vgl. M. Henry, Können des Lebens. Schlüssel zur radikalen Phänomenologie, Freiburg/München, Alber 2017, 90–113: »Zur Krise des Marxismus – das Doppelantlitz des Todes«, worin sowohl Kapitalismus wie Kommunismus als nicht zukunftsträchtig analysiert werden, weil sie beide der »Kompossibilität« des leiblich-affektiven Lebens gesamtkulturell nicht gerecht werden.

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vermag. 34 Hierdurch zeigt sich, dass sich gerade in der Postmoderne die unterschiedlichsten Positionen durchaus überschneiden können, das heißt etwa das Konservative, Feministische, Ökologische und Marxistische als Teilaspekte dieses epochalen Prozesses, so dass ein radikal phänomenologischer Rückgriff auf die gemeinsame Lebendigkeit bei all diesen Differenzen möglich bleibt. Daher ist es offensichtlich, dass der »Polytheismus der Werte«, wie ihn schon Max Weber 35 bezeichnete, um als Kennzeichen der Moderne im Sinne einer noch stärkeren »Pluralität« die Postmoderne und wahrscheinlich die Zeit nach ihr zu bestimmen, in einem soziologischen Betrachtungsrahmen nur zur Möglichkeit einer entweder dualistischen oder integrativen Interpretation führen kann. Die erstere herrscht in der bisherigen Diskussion vor, weil individuelle Freiheit, technisch-wissenschaftliche Rationalität, narzisstische Lebensstile und allgemeine Marktindifferenz konzeptuell kaum noch zu vereinen sind, solange eine Logik des Zerfalls oder der Oberflächlichkeit den Maßstab abgibt, wofür wir einige heuristische Beispiele für diese Einteilung bereits aufgegriffen haben. Aber auch eine integrative Sicht wie etwa diejenige des Lyotard-Schülers Wolfgang Welsch 36 unter dem positiv rezipierten Begriff der Pluralität ergibt Widersprüche, insofern die Dezentrierung von Subjekt, Sinn und Lebensformen zwar nicht länger als beliebiges anything goes betrachtet werden muss, aber kaum jenes Empfinden ganz aufzuklären vermag, welches die individuelle wie kulturelle Situation weitgehend im Postmodernismus beschreibt, die zum Gefühl von Unbehagen 37 oder Anomie (Durkheim) bei den meisten Menschen führt. Das heißt, nicht die Austauschbarkeit als solche, welche den postmodernen »Polytheismus der Werte« als Erscheinungsbild der gesellschaftlichen Indifferenz auftreten lässt, ist das eigentliche Problem, sondern die subjekVgl. ebenso M. Maesschalck u. T. Dedeurwaedere, »Ist eine Kultur des Lebens möglich?«, in: S. Nowotny u. M. Staudigl (Hg.), Grenzen des Kulturkonzepts. MetaGenealogien, Wien, Turia + Kant 2003, 187–204. 35 Vgl. Soziologie. Universalgeschichtliche Analysen. Politik, Stuttgart, Kröner 1971, 272 f. 36 Vgl. Unsere postmoderne Moderne, Weinheim, CH-Verlag 31991. 37 Was bei P. L. Berger, B. Berger u. H. Kellner, Das Unbehagen in der Modernität, Frankfurt/M., Campus 1975, 157 f., als ein solches »Unbehagen« analysiert wird, tritt bei M. Henry, Die Barbarei, 222 f., ähnlich als Malaise, Unzufriedenheit oder Ressentiment auf, die sich bis zur »Krankheit des Lebens« als dessen »Selbstverneinung« von innen her steigern können. Vgl. ebenfalls J. Zylberberg (Hg.), Masses et postmodernité, Paris, Kliensieck 1986. 34

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tive Spannung zwischen Affekt/Vorstellung, die bei den einzelnen Individuen und kulturell insgesamt entsteht, insoweit kein Individuum ohne eine bestimmte (wenn auch zeitlich variierende) Antwort auf den immanenten Anspruch einer gewissen Entsprechung zwischen Begehren/Sinn leben kann. 38 Sollte aber der epochale Offenbarungscharakter der Postmoderne gerade darin bestehen, ohne Vorstellung auf die Herausforderung durch den immanent leiblichen Affekt mit seinem stets inhärent unendlichen Begehren antworten zu müssen, dann befinden wir uns genau in jener zuvor von uns angeführten »Metaphysik der Erprobung«, die es kulturell bzw. zivilisatorisch bisher noch niemals gegeben hat. Diese Erprobung stellt das bisherige Erbe von Anthropologie als »menschlicher Natur« und Kosmos als »Schöpfung« (Nancy) in Frage und übersteigt selbst die postmoderne Offenheit der Differe(ä)nz als Zustimmung in je unterschiedlichen Sinn, um die reine oder transzendentale Subjektivität in Zukunft nicht mehr von der Vorstellungsdimension her zu betrachten, sondern vielmehr als eine je lebendige Erprobung. Wie unter solch ganz neuer Bedingung gesellschaftliche Kommunikation, solidarische Gemeinschaftlichkeit und ethisches Verhalten angesichts global technisch-marktgegebener Entwicklungen ohne möglichen Einhalt ausfallen werden, wird dann als Frage auf der öffentlichen Diskursebene keineswegs hinfällig – aber die Individuen werden sich selbst letztlich in ihrer je inneren affektiv-leiblichen Erprobung von keinem Diskurs her mehr bestimmen und entsprechend ideologisch missverstehen, was dann einen erneuerten transzendental-lebensweltlichen Habitus hervorbringen könnte, um es mit Husserl auszudrücken. Innerhalb des postmodernen Spektrums käme die semiotischsoziologische Sichtweise von Jean Baudrillard dieser Aufhebung der Vorstellung als Wertkriterium sehr nahe, denn er sieht in der Weiterentwicklung des kapitalistischen Tauschwertes zu einem reinen Signifikanten hin eine unendliche Hyperrealität von Medien, Markt, Geschichte und Politik entstehen, wo der Widerspruch zwischen dem Realen und Imaginären selbst aufgehoben ist. 39 Das heißt, die postmoderne Differe(ä)nz wäre nicht nur eine ständige supplemenVgl. dazu besonders auch unser folgendes Lacan-Kapitel II,6.2: »Das Verschwinden des Anderen (A) als postmoderne ›Melancholisierung‹«. 39 Vgl. Pour une critique de l’économie politique du signe, Paris, Gallimard 1972, 94, 164 u. 190 f. 38

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täre Sinnverschiebung, sondern in letzter Konsequenz das Verschwinden der Wirklichkeit selbst, insofern dieses »perfekte Verbrechen« im Sinne des diskret-spurenlosen Handelns von Kierkegaards Verführer das Verschwinden der Wirklichkeit durch die reine Zeichenpräsenz von Waren überall einer uneinsehbaren Tarnung als simulacrum anheim fiele. 40 Dabei würde alles Erscheinen zu einer nunmehr prinzipiellen Indifferenz und Oberflächlichkeit, die nicht mehr nur ideologisch bedingt ist, sondern nach Baudrillards anfänglich marxistisch postmoderner Hauptthese sich aus der völligen Auflösung von Gebrauchswert und Tauschwert ergibt. Michel Henry kam angesichts einer allpräsenten Medialität zu einem vergleichbaren Ergebnis, wenn er fragt, was dem Einzelnen noch als sinnlichleibliches Wahrheitskriterium bleibt, wenn sein subjektives Empfinden in allen Lebensbereichen virtuell digitalen Simulierungsprozessen unterworfen wird. 41 Durch diesen inzwischen gesellschaftlich breit vollzogenen Prozess sieht Baudrillard die Postmoderne prinzipiell schon als Posthistoire wie andere Kritiker, wogegen wir bereits das Argument ins Feld führten, dass erst mit der effektiven Abschaffung unserer radikal phänomenologischen Leiblichkeit das wirkliche »Ende der Geschichte« gekommen wäre. Denn selbst wenn jegliches Signifikat im semiotischen Sinne simuliert wäre, und damit im Grunde zugunsten ausschließlich zirkulierender Signifikanten als Code abgeschafft aufträte, bliebe eine subjektive Konfrontation mit Angst, Langeweile, Einsamkeit, Anstrengung etc. bestehen, die ein restloses Aufgeben der Leiblichkeit unwahrscheinlich machen, auch wenn die biotechnischen Utopien eines zukünftig vollständigen »Transhumanismus« von Maschine/Mensch in diese Richtung zielen. Dies unterstreicht erneut, dass die Postmoderne nicht irgendein geschichtliches Ereignis im Zusammenhang mit Moderne und PostPostmoderne darstellt, sondern wie zuletzt bei Baudrillard die bisheVgl. J. Baudrillard, Von der Verführung, München, Matthes & Seitz 1992; Das perfekte Verbrechen, München, Matthes & Seitz 1996. 41 »Ich bin die Wahrheit«. Für eine Philosophie des Christentums, Freiburg/München, Alber 1997, 380 ff., wo die militärische und erotische »Simulierungskabine« als Beispiel genannt wird, also menschliche Grundsituationen angesichts Tötung und Erotik, was dann auf alle anderen Situationen übertragbar ist. Vgl. auch J. Baudrillard, Simulacres et simulation, Paris, Gallimard 1981, wo dies für die gesamte Erscheinungswelt heute theoretisch durchgeführt wird, was nach H. von Fabeck, Vom Sinn zum Spiel, 78 ff., heißt, Realität immer mehr durch Erlebnismächtigkeit zu ersetzen und somit postmodern zu relativieren. 40

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rigen Grundannahmen des transzendentalen Fragens in Bezug auf Empirie und Erscheinungen überhaupt erschüttert werden, um notwendigerweise zu wirklichen Neubegründungen hinzufinden, die keine obsolete Begrifflichkeit bloß restaurieren. Wir hatten die Wirklichkeitsfrage mit der affektiv-leiblichen Erprobung diesseits von Vorstellung und Anschauung verknüpft, so dass die Auseinandersetzung in den folgenden Kapiteln mit maßgeblichen postmodernen Autoren diese Problematik als epochale Situation deutlich machen soll, ohne eben eine neue theoretische oder weltanschauliche Sinnantwort zu produzieren, die nur weiterhin Schein bedeuten würde, wobei durch diese kurzen Ausführungen hier keinerlei Art eines umgekehrten Platonismus (Sein/Schein) bzw. Hegelianismus (Wirklichkeit/Erscheinung) zugestimmt werden muss. Allerdings macht Baudrillard bis hin zur Möglichkeit eines Endes wissenschaftlicher Theorie überhaupt darauf aufmerksam, dass eine von der totalen Simulation verdeckte Wirklichkeit an Gebrauchswert/Tauschwert auch nicht länger als Referent für den kommunikativen Diskurs in Anspruch genommen werden kann und somit der Status der Vorstellung als Idee und Begriff schlechthin zur Disposition steht. 42 Dass nach dem Zerfall der Großideologien wie Christentum, Aufklärung, Marxismus neue Ideologiefixierungen auftreten können, scheint Baudrillard nicht weiter in Augenschein zu nehmen (weil er die semiologische Reduktion als den eigentlichen Prozess der Ideologie selbst betrachtet), womit er die Möglichkeit einer normativ ausgerichteten Post-Postmoderne gerade übersehen dürfte, die bereits von solch anderen Narrativen lebt. Das Zeitalter der Simulakren als Austauschbarkeit von Wahr/ Falsch (Begriff), Schön/Hässlich (Mode, Ästhetik), Nützlich/Unnütz (Ware, Politik) wird daher bei ihm aufgrund umfassender Negativität zu einem symbolischen Todesaustausch, 43 dessen apokalyptische Stimmung durch die Subversion der universellen Simulation nur noch durch die Form einer Generosität abgemildert werden könnte, die ohne Warenäquivalente ist und durch authentisch gelebte Gegenseitigkeit den sozialen Zusammenhalt zu garantieren hätte. Dieser

Vgl. zur Diskussion bezüglich Baudrillard R. Bohn u. D. Fuder (Hg.), Baudrillard. Simulation und Verführung, München, Fink 1994; T. Skrandies, »Baudrillard, Jean«, in: Th. Bedorf u. K. Röttgers (Hg.), Die französische Philosophie im 20. Jahrhundert. Ein Autorenhandbuch, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2009, 44–50. 43 Vgl. Der symbolische Tausch und der Tod, Berlin, Merve 2005. 42

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nicht kommerzielle Tausch als »Großzügigkeit«, die an ähnliche Gedanken schon bei Descartes und Sartre erinnert, dürfte daher als nicht-ökonomischer Tausch eine »Gabe« implizieren, die gemäß der An-ökonomie des »Antlitzes« ebenfalls bei Levinas oder der »Gerechtigkeit« nach Derrida bzw. des »Zwischen-Uns« bei Nancy heute vielfach in der Soziologie und Philosophie als neue gesellschaftliche Begegnungs- und Anerkenungsform diskutiert wird. 44 Als nicht kalkulierbare Erscheinungsform zum Verständnis reinen Sich-Gebens des Lebens wäre dies eben eine Gegebenheit vor jeglicher Vorstellung, um dadurch dem simulierten Schein zu entgehen, der immer auch jeglichen Diskurs als Gesagtes anstelle des Sagens selbst durchwaltet, 45 wobei im Sinne der Simulation die Dinge so miteinander verkettet werden, als ob sie einen Sinn hätten, wodurch eine Transzendierng oder Alterität als solche unmöglich wird. Ergibt nun eine näherhin philosophische Betrachtung der Postmoderne, wie wir es schon angedeutet haben, über den bloßen Gegensatz von Dualität und Integration hinaus für die Dekonstruktion von Begriffen wie Subjekt, menschliche Natur oder Wahrheitsgehalt eine weitere Dimension als die Feststellung der Austauschbarkeit miteinander verwandter oder verfeindeter Aussagen, da sonst in der Tat nur der Schein im Sinne Baudrillards letztlich bliebe? Dieser Aporie sollte schon bei Deleuze und dann auch bei Welsch die RhizomMetapher entgegenwirken, 46 mit anderen Worten nach MerleauPontys Leib/Welt-Chiasmus sowohl die Bewahrung des Singulären wie eine gewisse Verdichtung verschiedener Übergänge und Ebenen (Plateaus), um den Pluralismus gegen eine allgemein indifferente Heterogenität abzugrenzen. Methodisch hieße dies, dass für die »transversale Vernunft« als Denken im Sinne des Rhizoms 47 gemeinsame Elemente bei den einzelnen postmodernen Autoren und ihren Kritikern stärker ausgeprägt sein dürften als ihre bloß heterogen ideologischen Hintergründe, so etwa das gemeinsame Erbe NietzVgl. Journal für Religionsphilosophie 3 (2014): Gabe – Alterität – Anerkennung. Vgl. für den Bereich der Psychoanalyse gleichfalls J. Lacan, Le Séminaire XVIII: D’un discours qui ne serait pas du semblant, Paris, Seuil 2007. Eine gewisse Übereinstimmung ergibt sich hierbei auch durch den Begriff der digitalen Codierung als Fetischismus im Sinne von »Leidenschaft des Codes«; vgl. J. Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod, 117 f. u. 322 ff. 46 Vgl. unser folgendes Kapitel II,5. 47 Vgl. W. Welsch, Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft, Frankfurt/M., Suhrkamp 1995, 362 f. 44 45

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sches, das sich bei allen Dekonstruktivisten nachweisen lässt. 48 Aber damit hätten wir die soziologische Hermeneutik der Postmoderne nur in eine philosophische Hermeneutik verwandelt, bzw. darin weitergeführt, anstatt ihr wirklich epochales Moment herauszuarbeiten, dessen Brisanz über solch geschichtliche Einordnungsversuche hinaus liegt, wie wir in Bezug auf die grundsätzlich nicht dekonstruierbare Lebenswirklichkeit schon andeuteten. Auch »transversale Vernunft« als Erbe der Dekonstruktion ist noch Vernunft, während beispielsweise schon Kierkegaard durch den methodischen Begriff des »Sprungs« (zwischen Selbst/Absolutem) oder Heidegger 49 durch die »Verwindung« (der Metaphysik) zugunsten eines »anderen Denkens«, das nicht mehr »Philosophie« wäre, darauf hingewiesen haben, das Denken aus sich selbst heraus zu führen, um es für das Absolute oder das Sein bzw. »Ereignis« empfänglich zu machen. Solche Empfängnis ist mit der Lebenserprobung unmittelbar gegeben, da wir gar nicht auf andere Weise im transzendentalen Sinne lebendig sein könnten als durch die radikal phänomenologische Gleichursprünglichkeit von Selbstgebung/Rezeptivität des Lebens. Daher bleibt auch die postmoderne Problematik von hier aus bereits einleitend dergestalt zu erwägen, um zu sehen, wie sie mit solcher Passibilität umgeht, da diese nicht dekonstruiert werden kann, wie man an der Ersetzung der klassischen Begriffe von Wesen und Wahrheit durch Körper/Leib (corps, chair) unter anderem sehen kann. 50 Denn die postmoderne Nietzsche-Nachfolge interpretiert nicht nur die idealistischen Vorgaben von Wahrheit, Ich und Totalität bzw. absolutem Geist als Figuren der Rhetorik und nicht dekonstruierter Metaphysik, sondern, da kein unbedingtes Wissen mehr mit der Philosophie als ewiger Wahrheitssuche verbunden werden kann, tritt an die Stelle metaphysischer Prinzipien und geschichtlicher Dialektik oder Linearität als Sinnerkenntnis und Teleologie das eingangs erwähnte Dionysische Chaos des Zufalls als Kontingenz der Vielfalt. 51 Da Nietzsche dies über die »ewige Wiederkehr« als Kunst, Spiel und eigentlich affektive Aristokratie des Menschen fundamental als neues Vgl. P. V. Zima, Moderne / Postmoderne, 130–140., sowie für die vorhergehende Phase des Existentialismus H. von Fabeck, Vom Sinn zum Spiel, 21 ff. 49 Vgl. Zur Sache des Denkens, Tübingen, Niemeyer 31988, 61 ff. 50 Vgl. zur Diskussion zum Beispiel J. G. Merquior, Foucault ou le nihilisme de la chair, Paris, PUF 1986. 51 Vgl. hierzu auch G. Vattimo, Das Ende der Moderne, Stuttgart, Reclam 1990, 178 ff. 48

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Lebensgefühl gegen jedes Ressentiment zu bejahen versuchte, findet sich diese Rezeption der Lehre von der »ewigen Wiederkehr« nicht nur als gesellschaftliche Deutung der Kapitalzirkulation wieder, wie sie auch immer wieder von der postmodernen Soziologie aufgegriffen wurde, 52 sondern vor allem auch in der Ersetzung des transzendentalen Subjekts (Cogito, Ich, Ego, Selbst, Person, etc.) durch Identitätsbrüche. Diese durchziehen uns auf psychologischer Ebene ständig, so dass die »Wiederkehr des Selben« keinen unverlierbaren Ursprung indiziert, sondern eine ständige Sub-jektivierung als politische oder wissenschaftliche Unterwerfung und Verwaltung der Körper. Was Foucault etwa in seinen archäologisch-genealogischen Hauptuntersuchungen über Wahnsinn, Sexulaität und Kriminalität bekannerweise herausarbeitet, ist ein dergestalt ständig von außen malträtierter Leib, der zugleich in seinem Innern von Schmerz, Lust und Begehren ohne mögliche Vereinheitlichung durchwirkt wird. Dieses Schicksal von innerer und äußerer Gewalt ist dabei als eine Art Chiasmus zu sehen, so dass sich die individuelle und kulturelle Körpergegebenheit miteinander verflechten – nämlich als die Dionysische Bestimmung permanent partikularisierter physis, deren existentielle Probe für den Einzelnen dann gerade darin beseht, sich fähig zu erweisen, ohne Gedenken an eine mögliche Konvergenz diese Fragmentierung zu leben und sich dabei in ästhetischer Hinsicht, wie wir schon sahen, einer vollständigen Kolonialisierung durch die Machtdispositive zu entziehen oder davon freizusetzen. Diese rein innermundane Wahrheitsprobe des Menschen, welche durch das Heer von sprachlichen Metonymien und symbolisierenden Metaphern hindurch die je singuläre Bejahung der genannten ewigen »Wiederkehr des Selben« als affektiv-leibliches Chaos zu bestehen hat, findet allerdings nie zur immanent lebensphänomenologischen Erprobung hin, ohne die allerdings weder ein Schmerz oder eine Lust wirklich denkbar wären. Wir hatten diese epochale Problematik der Postmoderne und nach ihr schon deutlich hervorgegoben und werden im Verlauf der weiteren Untersuchung notwendigerweise jeweils darauf zurückkommen müssen, denn eine völlige Denegation des »Ursprungs« ist nicht möglich, insofern das »Chaos« des sinnlich-leiblichen Empfindens zumindest ein transzendentales Empfindenkönnen voraussetzt, 52

Vgl. hier J.-F. Lyotard, Des dispositifs pulsionnels, Paris, Galilée 1973, 218 f.

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welches die zuletzt genannte »ewige Wiederkehr« im Sinne Nietzsches erst begründet und darum zugleich ebenfalls allen äußeren Machtansprüchen vorausliegt. 53 Auch der ästhetisch-ethische Selbstentwurf als Antwort auf Chaos und Macht muss von einer Unmittelbarkeit immanenter Ästhetik als indiividuell-kultureller Historialisierung der Gefühle und Affekte getragen sein, so dass etwa nicht erst der Versuch, kreativ literarische Momente oder andere in die Philosophie aufzunehmen, dieser Elementarästhetik unserer Leiblichkeit gerecht wird, wie Deleuze, Derrida und auch Rorty es propagieren. 54 Vielmehr bleibt die immanente Passibilität als unmittelbar ästhetische Potenzialität zu verstehen und bedeutet dann nicht nur »die Freude am Vielen, die vielfältige Freude« zwecks pluralistischer Bejahung, die trotz allem vom »Wesen des Tragischen« geprägt bleibt. 55 Ursprünglich ist die Freude als bonheur de la vie schlechthin (Henry) die ständige Selbstgegebenheit des rein phänomenologischen Lebens, insofern Passibilität als Selbstaffektion die originär potentielle »Wiederkehr des Selben« in unaufhörlicher Modalisierung impliziert, nämlich als jene immanente Selbstgebung des Lebens, der durch kein Leid im Grunde widersprochen wird, auch wenn dieses sich bis zur »Unerträglichkeit« hin steigern kann. 56 Gewiss erlaubt die quasitranszendentale Neuentdeckung der Sprache in der Postmoderne eine »Verwindung« der theo-(ego-)ontologischen Einheitstradition als Wesen, Totalität, Dialektik, etc., aber es geht nicht bloß um eine neue dekonstruktiv-rhetorische Vermittlung von Allgemeinem/Besonderem, sondern die Partikularität des Individuums bleibt als eine unmittelbare Universalität des Lebensempfangs zu verstehen, worin Indifferenz und Gleichschaltungsmechanismen per se aufgehoben sind. 57 Vgl. R. Kühn, Lebensreligion. Unmittelbarkeit des Religiösen als Realitätsbezug, Dresden, Text & Dialog 2017, 155–173: »Affektiv Ur-Eines bei Nietzsche«. 54 Vgl. R. Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt/M., Suhrkamp 1997; im lebensphänomenologischen Vergleich dazu H. Dusausoit, Vie et Ironie: Dialogue entre Michel Henry et Richard Rorty sur la possibilité et les conséquences en philosophie d’une critique radicaliséee de la représentation, philos. Dissertation, Université Namur 2011. 55 Vgl. G. Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, Frankfurt/M., Suhrkamp 1985, 22 f. 56 Vgl. M. Henry, Affekt und Subjektivität, 124 ff., Die Barbarei, 290 ff. 57 Vgl. R. Kühn, Lebensreligion, 72 ff., zu diesem Universalitätskriterium als Singularität. – G. Vattimo versteht die Verwindung im Anschluss an Heidegger im Gegensatz zur Utopie der Überwindung und prägte dafür auch den Begriff der Heterotopie 53

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Betrachtet man die Postmoderne demzufolge als einen entscheidenden Augenblick in der Entwicklung der Menschheitsgeschichte überhaupt, auch wenn sie zunächst in der westlichen Welt ihre hauptsächlichen Auswirkungen gezeitigt hat, dann kann man sich in gegen-reduktiv phänomenologischer Einstellung vor Augen führen, dass die einzelnen Subjektivitäten die Erprobung ihrer abgründig inneren Nacht, mithin ihre »nächtliche Intrige«, stets mit Hilfe unterschiedlichster Mythen, Riten, Begriffe und Vorstellungen an die Folgegenerationen weitergegeben haben. Vor jeder geschichtlichen Betrachtung liegt daher diese abyssale Wahrheit als Ursprung des subjektiven oder selbstaffektiven Lebens, welches in keinerlei Vorstellung totalisierend zusammengefasst, repräsentiert oder archiviert zu werden vermag, so dass nur die Weitergabe dieser ursprünglich pathischen Bekundung den Rahmen für ein Verstehen abgibt, in dem keine Erfahrung als Erprobung fremd ist. Wenn die Wissenschaft als eine gewisse Flucht vor der Angst des Subjekts und seiner Leiblichkeit in die Objektivität hinein analysiert werden kann, 58 dann bedeutet auf der anderen Seite das Pathos der Postmoderne den unverzichtbaren Versuch eines Sich-Aussetzens an diese Ursprungssituation subjektiven Empfindens, ohne dabei weiterhin die ererbten metaphysischen Versicherungen in Anspruch nehmen zu wollen, wozu auch ein Ursprungsdenken im Sinne prinzipieller, analogischer oder mimetischer Wiederholung gehört. Diese verständliche Reaktion hebt aber keineswegs den Ursprungscharakter oder die Unmittelbarkeit des Pathos selbst auf, so dass die berechtigte dekonstruktive Kritik der Postmoderne diese rein phänomenologische Wirklichkeit nicht verstellen sollte, weil sie selbst in ihrem Affekt des Widerspruchs davon lebt. Das epochale Moment an der Postmoderne wäre mithin die Konstellation dieser intendierten rein subjektiven Ur-Situativität als einer meta-historischen Gegebenheit, obwohl die iterative Geschichte als Genealogie des Bedürfens, Begehrens und Handelns gerade darin begründet bleibt. Hier können sich dann Lebensphänomenologie und Postmoderne ohne Zweifel begegnen und gegenseitig befruchten, um eine andere Zukunft vorzubereiten, die weder an Markt, Logozentrismus, Vatermetapher (Phallokratie) oder Ethnozentrismus allein gebunden im Sinne des »Befreiungsprozesses der Differenzen«; vgl. Die transparente Gesellschaft, Wien, Passagen 1992, 21 f.; Das Ende der Moderne, 170 f. 58 Vgl. M. Henry, Die Barbarei, 116 ff.; Affekt und Subjektivität, 51 ff.

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ist, wie es bisher weitgehend der Fall war. Allerdings ist eine deklamatorische oder utopische Freisetzung vom Pathos der Subjektivität nicht möglich, so dass hier auch Grenzen der rein dekonstruktiven Indifferenz oder theoretischen Pluralität sichtbar werden, die nicht einfach ausgeklammert werden können, soll die Unterscheidung von Wirklichkeit/Schein weiterhin eine Berechtigung für das Empfinden besitzen. War die Moderne noch durch eine Anthropozentrik gekennzeichnet, die spätestens seit Kant alles vom Menschen kategorial ausgehen und ethisch-teleologisch zu ihm zurückkehren ließ, so finden wir in der Postmoderne (besonders in Kunst und Architektur) nicht nur eine »Doppelkodierung« wie einfach und komplex sowie elitär und populär, sondern darüber hinaus auch ein Plädoyer für Unausschöpfbarkeit, die über Pluralismus als theoretische wie praktische Haltung noch hinausgeht. Wenn aber das Wirkliche grundsätzlich heterogen ist und sich daher eine Verpflichtung zur Gerechtigkeit (Levinas, Derrida) oder Generosität (Baudrillard) demselben gegenüber ergibt, dann ist solch »achtenswerte Postmoderne«, für die Lyotard 59 früh eintrat, schließlich sogar das Bemühen um ein »prekäres Ganzes«, welches gerade auch inkonsistente Beziehungen und »Ungelöstes« nicht ausschließt. Wenn also die Pluralität in diesem epochal weitergeführten Sinne selbst das Inkommensurable nicht vergisst, dann sind wir nicht weit entfernt von der phänomenologischen Anerkennung eines Lebens, dessen Zentrum nicht der »Mensch« ist, sondern das schon durchgehend erwähnte Pathos der transzendentalen Selbstaffektion, worin die Gemeinschaftlichkeit all dessen, was leiden und sich erproben kann – die »Natur« als Erscheinen – mit einbezogen ist. Allerdings dürften die hieraus gezogenen postmodernen Folgerungen, um unsere naturhafte Umgebung von der genannten Anthropozentrik zu lösen und das menschliche Innen aus der Perspektive des Außen (etwa Landschaft für die Städte) zu betrachten, noch nicht die radikal phänomenologische Reduktion von der bewusstseinsreflexiven Intentionalität als allgemeinem Erkenntniszugang vollzogen zu haben. Denn das Außen breitet sich weiterhin vor dem Blick aus, während eine originär mitpathisch empfundene Natur unmittelbar subjektiv gegeben ist. Wenn Wolfgang Welsch 60 Vgl. Der Widerstreit, München, Fink 1987, 12 f. Vgl. »Was war die Postmoderne – und was könnte aus ihr werden?«, in: I. Flagge u. R. Schneider (Hg.), Revision der Postmoderne, 32–39, hier 38 f.

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in solchem Zusammenhang anstelle einer unmittelbaren Lebenszugehörigkeit für eine grundlegende Weltzugehörigkeit plädiert, wo der homo mundanus den homo humanus ablösen soll, dann lässt sich an dieser durchaus gegebenen primordialen Verbundenheit mit der Welt als »Natur« dennoch die epochale Virulenz der Postmoderne als Erscheinen nicht gänzlich wieder finden. 61 Es geht nicht darum, das Humane durch ein »Transhumanes« zu erweitern oder sogar zu ersetzen, sondern in jedem Individuum stets jenen immanent lebendigen Ursprung erproben zu können, der prinzipiell inkommensurabel ist und daher die Innen/Außen-Dualität zugunsten einer älteren Einheit aller Beziehungen als lebendiger Kompossibilität noch übersteigt. Das heißt, sich vom bloßen Blick auf die Dinge löst, um sie nicht länger intentional für uns einzusetzen, so dass es radikal phänomenologisch gesprochen in letzter Instanz um jene zu vertiefende transzendentale »Aufmerksamkeit für das Leben« geht, welche sich im Akt selbst der Reduktion von jeder Mimesis der Selbstvorstellung (Bild, Simulakren) befreit, um aus der unmittelbar pathischen Selbstaffektion dieses Moments als ethos heraus die Wirklichkeitsbezüge zu apperzipieren. 62 Dass aus einer Beachtung des naturhaften Außen als unserer Umgebung etwa organisch integrative Stadtplanung erwachsen kann, steht außer Zweifel, 63 aber wenn das subjektive Empfindenkönnen die pathisch apriorische Erscheinensbedingung für alles Wirkliche darstellt, dann bleibt diese rein phänomenologische Erscheinenswahrheit die unaufhebbar ursprüngliche Bedingung für alle Welt- und Selbstbezüge. Um diese Frage kreist die epochale Relevanz der Postmoderne, insofern sie kein Singuläres, Plurales und Inkommensurables für ein abstrakt AllAußer dem Begriff des Inkommensurablen ließe sich auch der parallele ästhetische Begriff des Undarstellbaren in diesem Zusammenhang aufgreifen, von dem Lyotard, Das Inhumane, Wien, Passagen 1989, 221, schreibt, es enthielte »die einzige Frage, für die im kommenden Jahrhundert der Einsatz von Leben und Denken sich lohnt«. Beides wird ebenfalls mit Kants Begriff des Erhabenen verbunden, welches der ästhetische Ausdruck des »Widerstreits« sei, insofern zwischen Endlichem und Unendlichem, Schönheit und Schrecken hierbei keine Auflösung durch Vernunft und Einbildungskraft möglich sei, so dass das Subjekt dabei wie zerrissen auftrete. Vgl. Die Analytik des Erhabenen, München, Fink 1994, 257 f. – eine Auffassung, die sich ebenfalls bei Lacan findet. 62 Vgl. R. Kühn, Subjektive Praxis und Geschichte, 438 ff., zu dieser subjektiv-gemeinschaftlichen Potenzialisierung als Ineinanderfallen von Reduktion/Pathos mit Bezug auf Fichte, Bergson, Husserl und Herny. 63 Vgl. I. Flagge u. R. Schneider (Hg.), Revision der Postmoderne, 160 ff. u. 268 ff. 61

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gemeines opfern möchte, wobei die immanenten Modalisierungen des rein phänomenologischen Lebens gerade dieser je singuläre, plurale und abyssale Vollzug sind, um von daher prinzipiell kein Erscheinen ausschließen zu müssen. Daher ist es ein Sophismus, den postmodernen Leitfaden des Pluralismus für einen Widerspruch in sich zu halten, da solcher Pluralismus es nicht erlaube, eine allgemeine These über sich selbst aufzustellen, insofern diese dann nicht mehr unter den Anspruch des Singulären fiele. 64 Denn wenn das Plurale als je subjektives Leben in seiner ausschließlich singulären Modalisierung oder Affektion jeglicher allgemeinen Logik vorausliegt, dann ist diese radikal phänomenologisch gegebene Oszillation oder immanente Veränderung des Lebens als seiner permanent bedürfenden und begehrenden Historialität von Freude/Schmerz der Umsturz der abstrakten Universalität zugunsten einer je konkreten Universalität der Ipseisierung selbst. Natürlich erlaubt dies nicht, Minderheiten wie Schizophrene, Gefängnisinsassen, Prostituierte, Homosexuelle, Immigranten 65 etc. zu »mythischen Aktanten« einer metaphysisch befrachteten Geschichtshoffnung zu erklären, um damit von ihnen jene Verwirklichung einer Gesellschaftsteleologie übernehmen zu lassen, die zuvor vom humanistischen oder marxistischen Fortschrittsdenken eingenommen worden war. Aber diese Minderheiten weisen unverrückbar darauf hin, was die radikal phänomenologische Ipseisierung konkret besagt, nämlich auf ein immanent pathisch erprobtes »Wort des Lebens«, welches aufmerksam zu vernehmen und in die übrigen gesellschaftlichen Narrative mit aufzunehmen ist, selbst wenn dadurch politisch-epistemisch keine Destabilisierung »der Macht« schlechthin erhofft werden kann, wie es besonders bei Lyotard, Deleuze und Foucault oft der Fall ist. 66 Abgründiger als diese säkular messianischen Hoffnungen, welche die Postmoderne nicht ganz für 64 Vgl. P. V. Zima, Moderne / Postmoderne, 156 f., der von der Kritischen Theorie Adornos her argumentiert. 65 Speziell zur Diskussion über Einwanderung und offene Grenzen weltweit vgl. den Literaturbericht von W. Kellerwessel u. C. Krämer, »Flucht, Immigration und Aufenthalt – normative Perspektiven«, in: Philosophischer Literaturanzeiger 71/2 (2018) 162–197. 66 Vgl. zum Beispiel J.-F. Lyotard, Economie libidinale, Paris, Galilée 1974, 124 f., wohinter im Übrigen eine spezifisch französische anarchistische Tradition von Proudhon bis Breton erkennbar bleibt; ebenfalls Moralités postmodernes, Paris, Galilée 1993, 66 f.

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sich vermeiden konnte, ist daher ihre epochale Grundeinsicht, dass jeglicher sichtbaren Manifestation im gesellschaftlichen Bereich leiblich-affektives (libidinöses) Empfinden der Singularitäten vorausgeht, wie immer es sich dann in kleineren oder größeren Kollektiven mit ihren Hoffnungsvorstellungen verbinden mag, die revendikativ naturgemäß dem »Widerstreit« unterliegen, ohne völlige soziale Übereinstimung zu finden, aber auch nicht weiteres »Unrecht« (tort) gemäß Lyotard erleiden sollten. Halten wir daher im Vorgriff fest, dass das mögliche Zusammenspiel von Lebensphänomenologie und Postmoderne keinerlei weltanschauliche Auffassungen als solche legitimiert, sondern die Anerkennung des Erscheinens selbst vor jedem analogisierten Sein oder Simulierten bildet. Daraus ergibt sich die Wachsamkeit wie Aufmerksamkeit, in allem diskursiven oder vorgestellten Sein dieses Erscheinen als lebendig subjektives wieder zu erkennen und ohne Bedingung phänomenologisch anzuerkennen, weil sich darin jeweils eine abyssale Erprobung verwirklicht, die alle menschliche Würde als reines Empfindenkönnen bedingt. In solcher Hinsicht kann man dann Deleuze 67 beispielsweise zustimmen, wenn er etwa schreibt: »Im Menschen selbst gilt es, das Leben zu befreien, da der Mensch selbst eine Weise darstellt, es einzusperren. Das Leben wird zum Widerstand gegen die Macht, wenn die Macht das Leben zu ihrem Objekt macht«. Dadurch muss kein »Übermensch« im Sinne Nietzsches anvisiert werden, sofern man darunter etwas anderes verstünde als die zuvor genannte »Bejahung« in allem originären Erscheinen. Letzteres kann dann existentiell und repräsentativ als Zufall, Kontingenz und Chaos auftreten, aber gerade in lebensphänomenologischer Hinsicht nicht die Verbindung zu einem lebendigen Ursprung solch originären Empfindenkönnens verlieren, welches dann seinerseits keineswegs mehr als Unwandelbarkeit, Urbild oder Wiederholung des Selben im Platonischen Sinne verstanden werden kann. Dass sich das Subjekt durch seine selbstgeschaffenen Entfremdungen dem Zerfall ausliefert, vermag daher nur auf einer diskursiven oder hermeneutischen Ebene der Fall sein – die diesem Prozess zugrundeliegende Subjektivität als »Wesen des Erscheinens« (Henry) kann sich als Pathos oder Empfinden niemals von sich selbst im Sinne eines Verlustes ihrer ursprünglichen Ipseisierung »entfremden«. Diese Heterogenität innerhalb des plural Heterogenen hat die Postmoderne durch ihre Partikularisie67

Foucault, Frankfurt/M., Suhrkamp 1987, 129.

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Einleitung: Die Postmoderne als epochales Ereignis

rungsanalyse nicht in letzter Klarheit verdeutlichen können, weshalb die Kontroverse hierüber auf weiterhin verschiedenen Diskurs- und Kommunikationsebenen ausgetragen werden, wo sowohl von Seiten des agonalen »Widerstreits« wie einer emanzipatorisch gedachten »Universalpragmatik« die Gefahr besteht, dass die subjektiven Voraussetzungen dabei – sowohl soziologisch wie phänomenologisch – einer theoretisch verfügten Monosemie zum Opfer fallen. 68 Das heißt, die Weise, wie eine Subjektivität in einen Diskurs eintritt, ist nicht nur eine Voraussetzung, die nicht durch einen postulierten reinen Metadiskurs (Konsens, Herrschaftsfreiheit, kritische Rationalität) ausgeblendet werden kann, sondern diese subjektiv-sprachliche Voraussetzung reicht in die noch tiefere immanente Sphäre von Leiblichkeit und Affekt hinein, die als solche nicht unmittelbar sowie umfassend versprachlicht werden können – und deshalb in ihrer »Inkommensurablität« wie »Undarstellbarkeit« respektiert werden müssen, um sowohl ihre Nicht-Anerkennung durch einen indifferenten Pluralismus wie eine rhetorische Universalisierung zu vermeiden. Da die Postmoderne zumeist den prekären Platz zwischen beiden eingenommen hat, ist ihr dennoch epochales Potenzial für das Singuläre durch entsprechende Aufklärung lebensphänomenologisch weiter zu betreiben.

Vgl. ebenfalls M. Frank, Die Grenzen der Verständigung. Ein Geistergespräch zwischen Lyotard und Habermas, Frankfurt/M., Suhrkamp 1988; P. V. Zima, Theorie des Subjekts, Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne, Tübingen – Basel, Francke 2010.

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Teil I: Metaphysik und Phänomenologie

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1. Reduktion und Destruktion bei Husserl und Heidegger

Besonders in Frankreich war das Entstehen des dekonstruktivistischen Denkens seit den 1950er Jahren spätestens an die Rezeption von Husserl und Heidegger gebunden, die im Wesentlichen gemeinsam erfolgte. Es ist daher angezeigt, kurz auf die reduktiven und destruierenden Vorgaben bei letzteren hinzuweisen, um die weitere Entwicklung der »Dekonstruktion« besonders bei den nachfolgenden französischen Autoren besser ermessen zu können. Bei Heidegger, besonders in »Sein und Zeit«, wird die Reduktion als phänomenologische Methode nicht eigens thematisiert, weil durch Husserls Erbe ein solches Vorgehen für einen unmittelbareren Weltzugang vorausgesetzt werden konnte. Jedoch verbindet Heidegger in der Angstanalyse Kritik und Weiterführung in Bezug auf Husserl miteinander, sofern die Angst eine Befindlichkeit ist, die uns »überkommt« und nicht wie die Epoché einfach willentlich herbeigeführt werden kann. 1 Des Weiteren hebt die Angst den Weltcharakter insgesamt auf (darin gleicht sie der Einklammerung der Generalthesis des naiven Weltvermeinens), um aber zugleich deutlich zu machen, dass die Welt selber weder eine »Gegenständlichkeit« ist noch die bloße Gesamtheit aller Seienden, sondern eben reine Transzendenz, in der das Dasein als solches in seiner faktischen Geworfenheit allein mit sich selbst konfrontiert ist. Kann das Dasein aber in der Tat nicht hinter den Wurf seiner Geworfenheit zurückgehen, so ist mit dieser existenzialontologisch allgemeinen Struktur letztlich doch noch nicht radikal phänomenologisch geklärt, was die Angst als lebendig affektives SichEmpfinden auszeichnet. Vor diesem Aufweis – mit Hilfe der Grundgegebenheiten Bedürfen/Begehren zum Abschluss dieses ersten Kapitels – hat daher die Berücksichtigung des Heideggerschen RedukVgl. M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen, Niemeyer 111967, 140 ff. (§ 30); dazu auch M. Eldracher, Heteronome Subjektivität. Dekonstruktive und hermeneutsche Anschlüsse an die Subjektkritik Heideggers, Bielefeld, Transcript 2018.

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Reduktion und Destruktion bei Husserl und Heidegger

tionsbegriffes als »Dekonstruktion« zu erfolgen, wie er schon in der frühen Husserlkritik erarbeitet und dann immer stärker in die Metaphysikkritik der ontologischen Tradition einbezogen wurde, worauf die Postmoderne in allen Bereichen zurückgreifen wird, um solche »Dekonstruktion« als »Differenz« zu ihrem tragenden Begriff zu machen.

1.

Zum Verhältnis von Reduktion und Daseinsanalytik

Da wir aufgrund andernorts vorliegender Untersuchungen hier nicht im Einzelnen auf die Reduktionsproblematik bei Husserl selbst eingehen, 2 sei einleitend zum Verständnis der historisch phänomenologischen Zusammenhänge, die zugleich systematische Fragestellungen berühren, auf Husserls Sichtweise der Heideggerschen Seinsinterpretation im Zusammenhang mit einem möglichen Platz der Daseinsstrukturen innerhalb einer Phänomenologie der Umwelt verwiesen, die von seinem Verständnis des Apriori als Konstitutionsproblematik geprägt bleibt: »Es steht in dieser Hinsicht nichts im Wege, zunächst ganz konkret mit unserer menschlichen Lebensumwelt und mit dem Menschen selbst als wesensmäßig auf diese Umwelt bezogenen anzufangen und eben rein intuitiv das daraus reichhaltige und nie herausgestellte Apriori einer solchen Umwelt überhaupt zu erforschen, es zum Ausgang einer systematischen Auslegung der Wesensstrukturen menschlichen Daseins und sich korrelativ in ihm erschließender Weltschichten zu nehmen. Aber das was geradehin gewonnen wird, obschon ein System des Apriori, wird erst philosophisch verständliches […] und auf letzte Verständnisquellen zurückbezogenes Apriori, wenn eben die konstitutive Problematik als die der spezifisch philosophischen Stufe eröffnet, wenn damit der natürliche Erkenntnisboden mit dem transzendentalen vertauscht wird.« 3 Im Sommer 1929 hatte Husserl in der Tat Heideggers Werk »Sein und Zeit« unter dem Gesichtspunkt des »natürlichen Weltbegriffs« studiert und den 2 Vgl. R. Kühn, Husserls Begriff der Passivität. Zur Kritik der passiven Synthesis in der Genetischen Phänomenologie, Freiburg/München, Alber 1998, Kap. 4: »Genesis, Synthesis und Reduktion«; mit M. Staudigl als Herausgeber: Epoché und Reduktion. Formen und Praxis der Reduktion in der Phänomenologie, Würzburg, Königshausen & Neumann 2003. 3 E. Husserl, Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge (Husserliana I), Den Haag, Nijhoff 21963, 165 (§ 59).

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Zum Verhältnis von Reduktion und Daseinsanalytik

Unterschied seines eigenen Denkens dazu vor allem in der Natur und Weise der transzendental-phänomenologischen Reduktion gesehen, wie Briefe an R. Ingarden aus jener Zeit belegen. 4 Die Reduktion anstelle eines originären Weltzugangs misszuverstehen, hieß für Husserl, den radikalen Unterschied zwischen Philosophie als »strenger Wissenschaft« und als »Weltanschauung« – bzw. zwischen Phänomenologie und Anthropologie – nicht zu sehen, anstatt sich »von der mundanen Subjektivität (dem Menschen) zur ›transzendentalen Subjektivität‹« zu erheben, so dass »man also in einer, sei es empirischen oder apriorischen, Anthropologie stecken bleibt, die nach meiner Lehre noch gar nicht den spezifisch philosophischen Boden erreicht, und die für Philosophie anzusehen ein Verfallen in den ›transzendentalen Anthropologismus‹ bzw. ›Psychologismus‹ bedeutet«, wie es im »Nachwort« zu den »Ideen« heißt. 5 Wichtiger als die häufig getroffene Feststellung, dass Husserl auf diese Weise die Bedeutung des phänomenologischen Neuansatzes bei Heidegger völlig verkannt habe, ist jedoch der hier von uns unternommene Versuch in Bezug auf die Postmoderne und Lebensphänomenologie, in der Auseinandersetzung zwischen beiden Denkern eine unverzichtbare Problematik als solche aufzudecken, die das Verhältnis der Phänomenologie zu der jeweils neu zu bestimmenden Methodenfrage in ihr überhaupt betrifft. Denn auch »Sein und Zeit« beruft sich im § 7 ausdrücklich auf einen »methodischen Vorbegriff« der Phänomenologie, womit Heidegger anerkennt, dass die für ihn spezifische Seinsfrage nicht ohne die vorherige Herausarbeitung einer phänomenologischen Grundhaltung möglich gewesen wäre. Husserls Kritik an Heideggers Versuch eines originären Seinsverstehens bedeutet dann aber, dass die Reduktion wesenhaft zur Phänomenologie gehört, sofern sich die klassische Phänomenologie prinzipiell als Methode definiert. Noch in der »Krisis«-Schrift bezeichnet Husserl deshalb auch die phänomenologische Reduktion als jenen »erschütternden« Ausgangspunkt, der ihn das »universale Korrelationsapriori von Erfahrungsgegenstand und Gegebenheitsweisen« sehen ließ, und die Vgl. die Hinweise bei J.-F. Courtine, Heidegger et la phénoménologie, Paris, Vrin 1990, 207–247: »Réduction phénoménologique-transcendentale et différence onticoontologique«. 5 Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, 3. Buch: Die Phänomenologie und die Fundamente der Wissenschaften (Husserliana V), Den Haag, Nijhoff 1976, 140. Zur Frage einer empirisch-transzendentalen Phänomenologie vgl. auch D. Janicaud, La phénoménologie éclatée, Paris, Eclat 1998, 104 ff. 4

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Reduktion und Destruktion bei Husserl und Heidegger

weitere »Einbeziehung der menschlichen Subjektivität in die Korrelationsproblematik notwendig eine radikale Sinnverwandlung dieser ganzen Problematik erzwingen und schließlich zur phänomenologischen Reduktion auf die absolute transzendentale Subjektivität führen musste«. 6 Heidegger trennt seinerseits die »Logischen Untersuchungen« Husserls zu stark von dessen restlichem Werk ab, obwohl er gerade in der »kategorialen Anschauung« die unmittelbarste Einwirkung auf sein eigenes Seinsdenken anerkennt, um Husserl schließlich unter den platonisierenden Einfluss Natorps fallen zu sehen, der mit den »Ideen« als Hinwendung zur »transzendentalen Phänomenologie« seinen Höhepunkt erreiche. 7 Dieser Heideggerschen Rekonstruktion des Werkes Husserls lässt sich nicht nur eine ebenso geduldige wie tiefe Entfaltung der Reduktionsproblematik bei letzterem entgegenhalten, sondern vor allem auch die enge Verbindung zwischen der Idee der phänomenologischen Methode als solcher und der Frage nach der Anwesenheit sowie des Sinnes von Sein in »Sein und Zeit« selbst, auch wenn gerade hierin die Husserlsche Reduktionsproblematik mit keinem Wort gewürdigt wird. Unsere Analyse muss hier und auch in den folgenden Kapiteln daher auf die Frage abzielen, was die Situation der Reduktion und Dekonstruktion in einem phänomenologischen Entwurf bedeuten kann, der die Epoché und die Konstitution als solche gar nicht thematisch behandelt, sich aber dennoch als zutiefst phänomenologisch gibt. 8 Bilden Epoché, Reduktion sowie Konstitution notwendige Elemente der Phänomenologie, oder handelt es sich bei ihnen nur um einen Ausdruck der philosophischen »Position« Husserls, die ihrerseits wiederum aufs Engste von der cartesianischen »Sorge« einer absolut sicheren Wissenschaftlichkeit abhinge, wie Heidegger kritisiert? Oder anders gefragt: Wie verhält sich eine »Theorie der Reduktion« zur »Grundhaltung des Denkens« im Sinne der Heideggerschen Philosophiebesinnung, 9 die in einem solch

Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (Husserliana VI), Den Haag, Nijhoff 21976, 169 f. Anm. 1 (§ 48). 7 Vgl. M. Heidegger, Einführung in die phänomenologische Forschung (GA 17), Frankfurt/M., Klostermann 1994, 42 ff. 8 Vgl. außer Sein und Zeit auch M. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie (GA 24), Frankfurt/M., Klostermann 1990, 466 f.; Grundprobleme der Phänomenologie (1919/20) (GA 58), Frankfurt/M., Klostermann 1993. 9 Dies gilt auch für den späteren Heidegger, der das »besinnliche Denken« als Hören 6

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Zum Verhältnis von Reduktion und Daseinsanalytik

ur-phänomenologischen Denken die »Phänomenologie« in ihrem vor-konstitutiven Verständnis aufsuchen will? Lässt sich überhaupt eine Phänomenologie ohne Reduktion denken, auch wenn zuzugestehen bleibt, dass die Reduktion hier nicht nur als ein rein technisch methodologisches Element genommen wird, um eine sichere Bestimmung der Wissenschaftlichkeit zu ermöglichen? Zumindest hatte Husserl die »Sache« der Phänomenologie in den Göttinger Vorlesungen von 1907 als historischer Gründungsschrift der Phänomenologie zunächst so vorgestellt: »Das schauende und ideierende Verfahren innerhalb der strengsten phänomenologischen Reduktion ist ihr ausschließliches Eigentum, es ist die spezifisch philosophische Methode, insofern als diese Methode wesentlich zum Sinn der Erkenntniskritik und so überhaupt zu jederlei Kritik der Vernunft gehört (also auch der wertenden und praktischen Vernunft). Was aber neben der Kritik der Vernunft im echten Sinne noch Philosophie heißt, ist durchaus auf diese zu beziehen: also Metaphysik der Natur und Metaphysik des gesamten Geisteslebens und so Metaphysik überhaupt im weitesten Verstande.« 10 Die Phänomenologie erscheint hierbei vornehmlich als Erkenntniskritik im klassisch metaphysischen Sinne, aber bereits in den »Ideen« klingt ein anderer Ton an, der nicht mehr einfach mit einer metaphysisch orientierten Epistemologie gleichgestellt werden kann: »Inwiefern jedoch transzendentale Phänomene als singuläre Fakta einer Forschung zugänglich sind, und welche Beziehung eine solche Tatsachenforschung zur Idee der Metaphysik haben mag, das wird erst in der abschließenden Reihe von Untersuchungen seine Erwägung finden können.« 11 Damit spricht Husserl eine paradoxe Situation an, dass nämlich die Idee einer »wahren Philosophie« – das heißt der »Phänomenologie als Erste Philosophie«, 12 die erst noch zu begründen ist –

eines Seinsanspruchs versteht, dem wir zu »entsprechen« haben, was dieser uns eigentlich darin »zuspricht«. Vgl. Der Satz vom Grund, Pfullingen, Neske 1958, 203 f. 10 Vgl. Die Idee der Phänomenologie (Text nach Husserliana II), Hamburg, Meiner 1986, 58 f. 11 Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, 1. Buch, 1. Halbband: Einführung in die reine Phänomenologie (Husserliana III/1), Den Haag, Nijhoff 1976, 7 (Einleitung). 12 Vgl. die entsprechende Handeintragung Husserls in seinem Exemplar zur 2. Aufl. der »Ideen I«: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, 1. Buch, 2. Halbband (Husserliana III/2), Den Haag, Nijhoff 1976, 479.

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Reduktion und Destruktion bei Husserl und Heidegger

sich als Voraussetzung jeglicher Metaphysik erstellt, welche dann die vergangene oder gegenwärtige Philosophie aufhebe. Diese fortschreitend stärker gedachte autonome Stellung der Phänomenologie geht einher mit der immer deutlicher bekundeten Hauptrolle der Reduktion, so dass diese konsequenterweise auch als zunehmend »unmotivierter« erscheinen muss. Die von Husserl beständig verfolgte Herausstellung der verschiedenen »Wege« der Reduktion bedeutet daher nicht einfach, sie als Methodenregel genauer zu fassen, sondern diese reduktive Radikalität, wie sie besonders dann in den Vorlesungen »Erste Philosophie« von 1923–24 erscheint, verbietet eine bloß methodologische Bestimmung der Reduktion, um in ihr vielmehr eine zentrale innerphilosophische Problematik schlechthin zu erblicken: die Reduktion fällt mit der Errichtung der Philosophie als solcher zusammen. Aus der Reduktion die Protomethode aller philosophischen Methoden zu machen, lässt sie zu einem »Sprung« werden, von dem aus sich der Raum der Phänomenologie als solcher erst erschließt, denn ohne sie bleibt jede Philosophie prinzipiell ein »mundanes« Denken, das heißt ein »dogmatisches«, wie E. Fink 13 hervorhebt – aber auch als gegen-reduktive bzw. gegen-intentionale Notwendigkeit nochmals gegen die klassische Phänomenologie selbst gewandt werden kann, wie die neueren Versuche bei Henry und Marion zeigen. 14 Es scheint nun, dass durch die Hervorhebung der Reduktion bei Husserl, sei sie psychologisch, egologisch oder alterologisch orientiert, der Unterschied zum Heideggerschen Denkweg vertieft wird, ohne dann aber genau Rechenschaft darüber ablegen zu können, warum Heidegger sich bis in seine späten Texte hinein – und hier besonders im letzten »Zähringer Seminar« oder auch im Vortrag »Zeit und Sein« – auf die phänomenologische Inspiration beruft. Wenn Heidegger vollständig auf die Reduktion verzichtete, ließe sich dann nur noch in einem äquivoken Sinne von Phänomenologie bei ihm

Vgl. Studien zur Phänomenologie, Den Haag, Nijhoff 1966, 105 ff.: dazu auch Chr. Kube, Die Frage der Kehre. Eine kritische Darstellung der Zeittheorie Martin Heideggers im Hinblick auf die Zäsur zwischen Früh- und Spätwerk, Würzburg, Königshausen & Neumann 2018. 14 Vgl. M. Henry, Radikale Lebensphänomenologie, Ausgewählte Studien zur Phänomenologie, Freiburg/München, Alber 1992, 63–186: »Die phänomenologische Methode«; J.-L. Marion, Réduction et donation. Recherches sur Husserl, Heidegger et la phénoménologie, Paris, PUF 1989, 85 ff. 13

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Zum Verhältnis von Reduktion und Daseinsanalytik

sprechen? W. Biemel 15 hat diesbezüglich früh die These vertreten, dass Heidegger aufgrund der Abwesenheit der Reduktion in »Sein und Zeit« in einer »naiven«, »mundanen« und letztlich »anthropologischen« Sphäre gefangen bliebe, was Husserls eigener Interpretation entsprach, wie wir sahen. Allerdings lässt sich auch die Auffassung vertreten, dass die Analyse des ursprünglichen »In-der-Welt-seins« von vornherein jede Epoché unnötig oder sogar unmöglich mache. Denn indem Heidegger einen Hinweis Husserls über den »natürlichen Weltbegriff« aufgreift, verfolgt er selbst einen Weg, der dem frühen Husserlschen Projekt einer transzendentalen Egologie entgegensteht, insofern nämlich seine Welt/Daseinsanalyse die Aufklärung einer »Lebenswelt« versucht, die als »Welt aus reiner Erfahrung« jeder Thematisierung und Objektivierung vorausliegt. Husserl selbst schrieb in den »Ideen I«: »In dieser Weise finde ich mich im wachen Bewusstsein allzeit, und ohne es je ändern zu können, in Beziehung auf die eine und selbe, obschon dem inhaltlichen Bestande nach wechselnde Welt. Sie ist immerfort für mich ›vorhanden‹, und ich selbst bin ihr Mitglied. Dabei ist diese Welt für mich nicht da als eine bloße Sachenwelt, sondern in derselben Unmittelbarkeit als Wertewelt, Güterwelt, praktische Welt.« 16 Vor jeder Reduktion – und vor jeder Bewusstseinsanalyse mithin – geht es Heidegger im Rückgriff auf die zitierte Vorgabe darum, eine Welt »evident« zu machen, wie sie sich für eine unmittelbare Erfahrung eröffnet. Damit würde der stärkste von Husserl empfangene Impuls zugleich paradoxerweise erklären, warum jede explizit genannte Epoché in »Sein und Zeit« abwesend erscheint. Andererseits setzt die Analytik des »In-der-Welt-seins« die gesamte Husserlsche Thematik der Reduktion voraus, wie M. MerleauPonty dies als einer der ersten erkannte: »Anstatt die Formel einer idealistischen Philosophie zu sein, wie man geglaubt hat, ist die phänomenologische Reduktion die Formel einer existentiellen Philosophie: das ›In-der-Welt-sein‹ Heideggers erscheint nur auf dem Hintergrund der phänomenologischen Reduktion.« 17 Ebenso bemerkte auch E. Tugendhat 18 später, dass Husserl durch die Epoché den Weg Vgl. »Husserls Encyclopaedia-Britannica-Artikel«, in: Tijdschrift voor Filosofie 12 (1950) 246–280 (Nachdruck in: Husserl, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1973, 282–315). 16 Ideen I, 58 (§ 27). 17 Phénoménologie de la perception, Paris, Gallimard 1945, S. IX (Avant-propos). 18 Vgl. Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, Berlin, De Gruyter 1970, 63 15

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Reduktion und Destruktion bei Husserl und Heidegger

zur Dimension des »Daseins« vorbereitet habe, welches Heidegger dann als »In-der-Welt-sein« thematisierte. Die Tatsache, dass Heidegger die Epoché als solche selbst nicht aufgreift, bedeutet also keinen Rückschritt gegenüber der transzendental-phänomenologischen Reduktion, sondern deren Radikalisierung als Bestimmung der anfänglichen Seinsphänomenalisierung von Entbergen/Verbergen. Wenn die Epoché in »Sein und Zeit« dem Namen nach nicht auftritt, so liegt der Grund hierfür eben darin, dass die Epoché ihren Sinn nur aus dem Intentionalitätsverständnis als Setzung und Objektivierung bezieht. Werden aber diese Voraussetzungen eingeklammert, wie es bei Heidegger geschieht, so ergibt sich ein ursprünglicherer Modus der »Gegebenheit« als jener der Objekte in ihrer »Gegenständlichkeit«, nämlich die A-letheia als äußerste phänomenologische Wahrheitsstruktur des Seins. Verstand Husserl seinerseits »Sein« zunächst wohl als »Objektivität«, als gesetztes Sein, und damit das Dasein im Horizont der »Vorhandenheit«, so wird auch ersichtlich, warum er zwischen dem rein konstituierenden Ich und dem »menschlichen Ich« unterscheiden musste, was Heidegger bereits kritisch in seinen Bemerkungen zur zweiten Bearbeitung des »Encyclopaedia-Britannica«-Artikels über »Phänomenologie« anfragte: »Gehört nicht eine Welt überhaupt zum Wesen des reinen ego?« – »Vorhandenes! Aber das menschliche Dasein ›ist‹ so, dass es, ob zwar Seiendes, nie lediglich vorhanden ist.« 19 Vor seinem frühen Hauptwerk »Sein und Zeit« hat Heidegger in der Marburger Vorlesung von 1925 »Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs« 20 die Seinsfrage und – damit verbunden – die Daseinsanalytik ausdrücklich in einen Bezug zur Husserlschen Phänomenologie gestellt, die er radikalisieren wird, wie wir sagten. Er charakterisiert dabei zunächst die drei Grundentdeckungen der Phänomenologie, nämlich die Intentionalität, die kategoriale Anschauung u. 266; außerdem F.-W. von Herrmann, Hermeneutik und Reflexion. Der Begriff der Phänomenologie bei Heidegger und Husserl, Frankfurt/M., Klostermann 2000; ebenfalls J. Greisch, »L’herméneutique dans la ›phénoménologie commte telle‹«, in: Revue de Métaphysique et de Morale 1 (1991) 43–64. 19 Zit. in: E. Husserl, Phänomenologische Psychologie. Vorlesungen Sommersemester 1925 (Husserliana IX), Den Haag, Nijhoff 21968, 274 f. Anm. 1 u. 2. 20 (GA 20), Frankfurt/M., Klostermann 21994, 136 u. 147 ff. im Folgenden; dazu auch R. Brisart. La phénoménologie de Marbourg, ou la résurgence métaphysique chez Heidegger à l’époque de »Sein und Zeit«, Bruxelles, Facultés Universitaires SaintLouis 1991.

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Zum Verhältnis von Reduktion und Daseinsanalytik

und die Aufklärung des Apriori, um im Zusammenhang mit der Husserlschen bewusstseinsimmanenten Feldbestimmung die Problematik der Epoché und Reduktion anzusprechen. Um die Eigenart des Seins des Bewusstseins zu erfassen, sei es notwendig, die These der natürlichen, materiellen oder transzendenten Welt nicht mitzumachen. Aber dieses »Nicht-mitmachen«, sagt Heidegger, nimmt dem Seienden nichts fort und bedeutet auch nicht seine Nicht-Setzung, sondern eine »Umschaltung« des Blickes, um gerade den Seinscharakter des Seienden in der geforderten phänomenologischen »Ausschaltung« der Transzendenzthesis präsent werden zu lassen. Denn das reine Außer-Spiel-Setzen der Daseinsthesis oder Existenz führe in einen Irrtum, bemerkt Heidegger weiterhin, sofern man glaube, die phänomenologische Betrachtung habe jetzt nichts mehr mit dem Seienden zu tun, obwohl es sich gerade nur noch um die Seinsbestimmung des Seienden handle. Die Epoché öffnet mit anderen Worten den Blick für die Phänomenalität der Phänomene, aber weil solche Zurückführung auf die Bewusstseinseinheit des Erlebnisfeldes zugleich im Husserlschen Sinne eine Universalisierung darstellt, bedeutet sie ebenfalls eine Abstraktion als Absehen von der Bewusstseinswirklichkeit in der natürlichen Einstellung des faktischen Menschen. Und genau aus diesem abstraktiven Grund erscheint Heidegger die Reduktion grundlegend ungeeignet, um das »Sein« des Bewusstseins positiv zu bestimmen. Gerade in der Reduktion, wie sie hier von Heidegger interpretiert wird, verlasse man jenen Boden, von dem aus es überhaupt erst möglich wäre, in Richtung auf das Sein des Intentionalen hin zu fragen. Mithin erfülle die Husserlsche Reduktion nicht die ihr an sich zugewiesene Aufgabe, die Besonderheit der Bewusstseinsregion aufzuhellen. Die Immanenz, die absolute Selbstgegebenheit sowie die reine Individuierung als Differenzierungen der angeblich phänomenologischen Ursprungsdimension sind keine »originären ontologischen Bestimmungen«, wie dies dann die Postmoderne, etwa bei Derrida, noch stärker kritisieren wird. Im übrigen sei die primordiale Frage Husserls keineswegs jene nach dem Sein des Bewusstseins, sondern ein reflexives Anliegen, wie nämlich das Bewusstsein zum Gegenstand einer absoluten Wissenschaft werden könne. Zwar bedeute diese thematische Ausrichtung keine reine Spekulation, aber sie sei in der Tat nicht »an den Sachen selbst« ausgewiesen, weil sie von der traditionellen Fragestellung der neuzeitlichen Philosophie seit Descartes abhänge. 51 https://doi.org/10.5771/9783495820537 .

Reduktion und Destruktion bei Husserl und Heidegger

Mit anderen Worten ist die Kritik Heideggers an der Reduktion hier von einer grundsätzlicheren Kritik motiviert: dass es Husserl nämlich »versäumt« habe, die entscheidende Seinsfrage und den Seinsmodus des Intentionalen zu klären. Wenn das Intentionale in seiner Seinsweise befragt werden soll, so muss das Seiende, das intentional ist, gegeben sein, das heißt, es muss genau »in seiner Weise zu sein« erfahren werden. Aber dieses »Seinsverhältnis« zum intentional Seienden werde von der Husserlschen Reduktion nicht erreicht, da ihre Abstraktion eben darin besteht, das jeweilig singuläre Erlebnis in seiner Individuierung beiseite zu lassen. In diesem Absehen von der »jeweiligen Vereinzelung« der Erlebnisse nimmt die Reduktion, wie Heidegger sagt, nicht die Akte als solche in den Blick, nämlich als die meinigen und die der Anderen, sondern das »Was« oder Wesen dieser Akte – ihre Struktur und nicht die Weise ihres Seins. Wird aber in der reduktiven Evidenz nur der »Wasgehalt« der Akte erhellt, die den Erlebnissen zugrunde liegen, so verschwinde der wichtige Unterschied zwischen dem Was und dem Dass, denn die Husserlsche Konzeption der Ideation als Wesenserschauung sieht von der wirklichen Vereinzelung so ab, als wäre die Möglichkeit des Quid und seine jeweilige Bestimmung von der Existenz unabhängig. Würde man beim »Sein«, dessen Was im »zu sein« besteht, von dieser fundamenalen Seinsfrage aber lassen, so lieferte man die Reduktion dem vielleicht größten Missverständnis aus. Entgegen der Husserlschen Reduktionsauffassung muss folglich die Faktizität des Intentionalen in seinem Sein als Individuierung und Singularität befragt werden (was für die Postmoderne zur »singulären Pluralität« führen wird), und die Möglichkeit einschließt, das Sein des Bewusstseins losgelöst von der klassischen Korrelation essentia/existentia zu betrachten, um dann die Unmittelbarkeit der »natürlichen Einstellung« zu analysieren: »Die wirkliche Ausarbeitung der Fragestellung ist so Phänomenologie des Daseins […]. Die Fragestellung nach dem Sinn des Seins auszuarbeiten, besagt: das Fragen auf ein Seiendes, das heißt das Dasein selbst freilegen.« 21 Diese Kritik scheint ebenso definitiv wie radikal zu sein und wird daher in »Sein und Zeit« entsprechend vorausgesetzt, denn die Daseinsanalytik macht von vornherein die methodische Husserlsche Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, 155 (§ 17). Vgl. auch M. Heidegger, Einführung in die phänomenologische Forschung (GA 17), 55 ff., zum Bewusstseinsund Sorgebegriff.

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Reduktion überflüssig und wird sogar in einer wesentlichen Hinsicht gegen diese durchgeführt. Dennoch kann nicht allgemein behauptet werden, dass der Vorwurf der Abstraktion die Reduktion (im weitesten Sinne als Möglichkeit des Zugangs zur »Weltphänomenalität« verstanden) im Heideggerschen Vorgehen von »Sein und Zeit« völlig obsolet werden lässt. In Bezug auf die entstehenden Fragen für die kommende dekonstruktive Postmoderne soll hier deshalb noch zum weiteren Hintergrundverständnis eine Heideggervorlesung herangezogen werden, die im Sommersemester 1927 unmittelbar auf die Veröffentlichung von »Sein und Zeit« folgte. Im Kapitel 3 des letzten Teils dieser »Grundprobleme der Phänomenologie« sollten nämlich als Grundelemente der Phänomenologie die Titel von Reduktion, Konstruktion und Destruktion behandelt werden. Allerdings blieb dieser Teil insgesamt unausgearbeitet, so dass wir auf einige – jedoch für die Folge entscheidende – Hinweise in der damals tatsächlich vorgetragenen Vorlesung angewiesen sind, die Heidegger zugleich als Bestimmung seiner Phänomenologie im Gegensatz zu derjenigen Husserls verstand. Da die »Grundprobleme« ebenfalls die Kernelemente der Fundamentalontologie Heideggers des Weiteren behandeln sollten, ist es wichtig zu betonen, dass in ihnen auch zum ersten Mal ausdrücklich die ontologische Differenz formuliert wird, die dem Entwurf von »Sein und Zeit« bekannter Weise überhaupt zugrunde liegt. Denn genau in diesem Kontext der ontologischen Differenz wird die Reduktion als phänomenologisches Hauptstück erwähnt, das heißt in diesem Fall unabhängig von jedem expliziten Bezug auf Husserl. Die Reduktion sei ein Zurückführen (re-ducere) des Seienden auf das Sein, welches als solches zu fassen und zu thematisieren ist. Das Sein ist jeweils Sein des Seienden und kann daher nur von einem Seienden aus anvisiert werden. Deshalb muss sich der Blick in seiner phänomenalisierenden Funktion auch mit aller Entschiedenheit dem Seienden zuwenden – jedoch eben dergestalt, dass ein Zugang zum Sein dieses Seienden gefunden werde. Die phänomenologische Analyse als Erfassen des Seins richtet sich folglich jeweils auf das Seiende, aber auf solche Weise, dass sie den Blick von der alltäglichen Wahrnehmung des Seienden wegführt, um ihn zum Sein zurückzuführen. 22 Diese Heideggersche Reduktion im Sinne einer »Rückführung« ist damit gewiss auch ein Re-duzieren, aber dieses bleibt von vorn22

Vgl. Grundprobleme der Phänomenologie (GA 24), 28 f.

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Reduktion und Destruktion bei Husserl und Heidegger

herein fundamentalontologisch von der Eröffnung dessen bestimmt, was die Differenz des Seienden zum »Sein überhaupt« erschließt – und nicht nur das Sein des Seienden als Seiendheit darstellt. In dieser Hinsicht sei jede Metaphysik auf der Reduktion errichtet, sofern die Metaphysik eben weitgehend unbewusst auf der ontologischen Differenz beruht. Gewiss teilt oder differenziert auch die Husserlsche Reduktion, indem sie die grundlegenden Bereiche von Realität/Bewusstsein, Transzendenz/Immanenz oder relativem/absolutem Sein unterscheidet. Jedoch bleiben diese jeweilig noetisch-noematisch aufgeklärten Bereiche voneinander getrennt, so dass nach Heidegger jene von Husserl herausgestellte Differenz eine metaphysische ist, welche die Seiendheit des Seienden bloßlegt, ohne jemals nach dem Sein oder nach dem ón im griechischen Sinne als solchem zu fragen. Analog unterscheidet Heidegger in seinem Vortrag »Phänomenologie und Theologie« vom Sommer 1927 ebenfalls »die Wissenschaften vom Seienden, ontische Wissenschaften – und die Wissenschaft vom Sein, die ontologische Wissenschaft, die Philosophie. Die ontischen Wissenschaften machen zum Thema je ein vorliegendes Seiendes, das immer schon in einer gewissen Weise vor der wissenschaftlichen Enthüllung enthüllt ist […]. Ihr Charakteristikum liegt darin, dass die Richtung der Vergegenständlichung dessen, was sie zum Thema machen, geradezu auf das Seiende zugeht als eine Fortführung der schon existierenden vorwissenschaftlichen Einstellung zu diesem Seienden. Die Wissenschaft vom Sein dagegen, die Ontologie, bedarf grundsätzlich einer Umstellung des auf das Seiende gerichteten Blickes: vom Seienden auf das Sein, wobei gerade gleichwohl das Seiende, freilich für eine modifizierte Einstellung, noch im Blicke gehalten wird.« 23 Zieht man in diesem Zusammenhang Husserls Bestimmung der Reduktion aus den »Ideen I« im § 33 heran (die Heidegger bei seiner Kritik vornehmlich vor Augen hat), dass nämlich »das Bewusstsein in sich selbst ein Eigensein habe, das in seinem absoluten Eigenwesen durch die phänomenologische Ausschaltung nicht betroffen wird«, so kontrastiert dieses »phänomenologische Residuum [als] Feld einer neuen Wissenschaft – der Phänomenologie« naturgemäß mit der Heideggerschen Reduktion als »Umstellung« auf die Seinsfrage. Ist in der Tat die Erfassung des Seienden in irgendeiner Weise immer 23 Frankfurt/M., Klostermann 1970, 14; bzw. Wegmarken (Ga 9), Frankfurt/M., Klostermann. 21996, 48 f.

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Zum Verhältnis von Reduktion und Daseinsanalytik

je-weilig bestimmt, so muss der seinsrückgewandte Blick im Sinne Heideggers dieses Sein als »Entwerfen auf die Weise seiner Unverborgenheit« hin erfassen. Wie bei Husserl fungiert die Reduktion hier ebenfalls noch vom Seienden aus, so wie dieses sich in der alltäglich natürlichen Einstellung gibt, aber das reduktiv erfasste Sein ist nicht mehr das Sein im Sinne der absoluten Position des konstituierenden Bewusstseins. Die Reduktion führt sozusagen direkt vom Seienden zum Sein schlechthin, oder anders gesagt, führt sie nicht vom Seienden zum Sein als von einer Region zu einer anderen (auch wenn es sich um eine »Ur-Region« handeln sollte), sondern sie verschafft unmittelbar Zugang zum Seiend/Sein gemäß der doppelten Seinsweise von Verborgenheit/Unverborgenheit. In beiden Fällen, bei Husserl wie bei Heidegger, ergibt sich die Phänomenalität im Sinne der Phänomenologie aus der Reduktion, aber mit ihrer Bindung an die Seinsfrage wird das Seiende nicht mehr an das anonyme Leben des konstituierenden Bewusstseins und dessen Gebungsakte verwiesen, sondern an das Sein und dessen Wahrheit. 24 An dieser Stelle wird daher greifbar, dass sowohl durch die mögliche Radikalisierung des Lebensbegriffs bei Husserl wie des Wahrheitsbegriffs als Seinsoffenheit bei Heidegger in der Weiterführung solcher Diskussion dann eine neue reduktive Konstellation als Gegenreduktion (Lebensphänomenologie) bzw. von Differ(ä)nz (Postmoderne) entstehen musste. Denn wenn einerseits radikal phänomenologisch gesehen das Leben niemals anonym sein kann und sich die Wahrheit andererseits als Phänomenalisierungsprinzip keineswegs unserem eigenen subjektiven oder pathischen Offenbarsein als affektiv materialer Phänomenalisierung entzieht, dann tritt jene »Gegenreduktion« als die einzig mögliche Weise auf, diese Einheit von Leben/Wahrheit noch diesseits der »Seinsfrage« grundlegender aufzuklären. 25 Aus der Sicht der Postmoderne hingegen wird die Wahrheit und ihre angenommene unmittelbare Präsenz zur »Nachträglichkeit« erklärt, wie es sich seit dem Strukturalismus in Frankreich ankündigte, sofern nur Zur Frage von Gebung/Gegebenheit vg. auch D. Panis, Il y a le il ya. l’énigme de Heidegger, Bruxelles, Ousia 1993, 52 u. 132 f., sowie C. Serban, »Michel Henry und der frühe Heidegger als Lebensphänomenologe«, in: S. Grätzel u. F. Seyler (Hg.), Sein, Existenz, Leben: Michel Henry und Martin Heidegger, Freiburg/München, Alber 2013, 107–130. 25 Vgl. ausführlicher hierzu unsere Analyse: »Die lebensphänomenologische Gegenreduktion«, in: R. Kühn u. S. Nowotny (Hg.), Michel Henry. Zur Selbsterprobung des Lebens und der Kultur, Freiburg/München, Alber 2002, 23–54. 24

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Reduktion und Destruktion bei Husserl und Heidegger

noch der Bezug der Elemente untereinander (Zeichen, Worte etc.) in einem System zählte. Für Heideggers Reduktionskritik kann somit nicht einfach gesagt werden, dass er seine ontologische Reduktion der transzendentalen Reduktion im Sinne Husserls entgegenstellt, um von der Seiendheit auf das Sein selbst zu verweisen, sondern die Heideggersche Reduktion zielt genauer noch auf das Verstehen des Seins ab. In dieser Hinsicht verbleibt auch seine Reduktionsauffassung noch transzendental, jedoch so, dass sie dieses Motiv der Transzendentalität verstärkt, indem Heidegger so eng wie möglich das Seinsverständnis als Dasein aufzuweisen versucht. Spricht man daher mit J.-F. Courtine 26 genauer von einer ontisch-ontologischen Reduktion im Gegensatz zur transzendental-phänomenologischen Reduktion bei Husserl, so ist festzuhalten, dass letztere der ersten nicht einfach gegenübersteht, sondern dieser untergeordnet wird. Denn die Reduktion als »Zurückführung« soll nicht nur den Blick vom Seienden zum Sein selbst zurückleiten, sondern sie ist zugleich ein »Sicheinbringen zum Sein«, wie es in den »Grundproblemen der Phänomenologie« heißt. 27 Die Abwendung vom alltäglich wahrgenommenen Seienden bleibt solange ein bloß negativ methodologischer Schritt, wie dieser nicht zur ausdrücklichen Hinführung zum Sein wird, das heißt eine »Leitung« auf dieses hin. Auf solche Weise wird die Seinsfrage als Suche nach dem Seinsverstehen notwendig zu einer Frage des phänomenologischen Zugangs zum Sein, denn das Sein ist in der Tat niemals als ein Seiendes zugänglich; wir treffen das Sein nicht einfach im Gegenüber wie jeden anderen Gegen-stand an. Vielmehr wird Heidegger in seinem ganzen Denken nicht müde zu betonen, dass wir das Sein jedes Mal durch einen freien Entwurf des Daseins in unseren Blick zu nehmen haben. In seiner Kantschrift von 1929 nannte Heidegger dies die Konstruktion als »Angriff des Daseins auf das metaphysische Urfaktum in ihm«; 28 anders gesagt darauf, dass wir die Dinge, die Mitmenschen und uns selbst zunächst stets dinglich missverstehen und dieses Missverständnis als etwas Selbstverständliches hinnehmen. Der Begriff der phänomenologischen Konstruktion als Konsequenz sowie Teil der Reduktion erhält daher einen anderen Sinn als im üb»Réduction phénoménologique-transcendentale et différence ontico-ontologique«, 239 f. 27 S. 29. 28 Kant und das Problem der Metaphysik, Frankfurt/M., Klostermann 31965, 210. 26

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Zum Verhältnis von Reduktion und Daseinsanalytik

lichen Sprachgebrauch und bezeichnet auf dem Hintergrund der »Grundprobleme« (weniger von »Sein und Zeit«) den im Voraus gegebenen offenen Entwurf des Seienden in Richtung auf dessen Sein und seine ontologischen Strukturen hin: »ein Entwerfen, in dem gerade die vorgängige Führung sowohl als auch der Absprung des Entwurfs vorherbestimmt und gesichert sein müssen«. 29 Eine solche phänomenologische Konstruktion, welche das postmoderne Verfahren der De-Konstruktion vorbereitete, soll natürlich ganz offensichtlich die Husserlsche »Konstitution« ablösen. Als Begriff entstammt die Konstruktion dem nachkantischen Idealismus, insbesondere Schellings Schrift »Über die Konstruktion in der Philosophie«. Aber er bedeutet für Heidegger kein »freischwebendes Sichausdrücken von etwas«, sondern was die Konstruktion mit der Reduktion verbindet, ist die Führung, welche die aus der Reduktion gewonnene Bewegung in Richtung auf das Sein aufgreift. In dieser Hinsicht wird die Konstruktion in den »Grundproblemen« noch im Gegensatz zur Destruktion verstanden, die als De-strukturierung der Tradition und ihrer philosophischen Hinterlassenschaft ebenfalls als eine Umwandlung der Husserlschen »Voraussetzungslosigkeit« verstanden werden kann. Als kritischer Abbau der überlieferten Konzepte dient die »Destruktion« dazu, zu jenen Quellen zurückzuführen, aus denen die philosophische Konzeptualisierung zuerst geschöpft wurde, um auf diese Weise die reduktive Konstruktion der Seinsinterpretation und deren ontologische Strukturen angemessener zu formulieren. 30 Dies bedeutet mit anderen Worten, dass trotz des Gegensatzes zwischen egologischer und ontologischer Reduktion das transzendentale Motiv in den Vorlesungen von 1927 weiterhin vorherrscht. Die Reduktion ist nach Heidegger nur ein erster Schritt innerhalb des Zugangs zum Sein, denn letzteres erschließt sich nur in der grundsätzlich metaphysischen Rückkehr zum Subjekt. Sein gibt es nur, wenn Wahrheit ist, das heißt, wenn das Dasein existiert, so wie Heidegger dies dann in »Was ist Metaphysik?« präzisieren wird. Bei der »Überwindung der Metaphysik« geht es daher weder um ein Ersetzen des bisherigen Philosophiegrundes noch um das Aufdecken einer bisher »übersehenen Voraussetzung«, sondern das »Andenken an das Sein« als »Überwindung der Metaphysik« ist Ebd., 210 (§ 42). Vgl. Grundprobleme der Phänomenologie (GA 24), 31; im Folgenden bes. 103 f. u. 219 f. 29 30

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Reduktion und Destruktion bei Husserl und Heidegger

»Gang in die Nähe des Bezuges des Seins als Gehören [des Menschen] in das Sein«. Des Weiteren wird hier verdeutlicht, dass das Verwechseln von Sein/Seiendem kein rationaler Fehler sei, sondern ein Ereignis der »Seinsvergessenheit«. 31 Aber auch in seinem Entwurf zum »Encyclopaedia-Britannica«Artikel bringt Heidegger dieses transzendentale Motiv schon klar zum Ausdruck: »Ist diese Umwendung des Blicks vom Seienden auf das Bewusstsein [in der Philosophie von Parmenides bis Kant] zufällig oder am Ende von der Eigenart dessen gefordert, was unter dem Titel Sein als Problemfeld der Philosophie ständig gesucht wurde?« 32 Zwar handelt es sich hierbei um einen nach einer ersten Fassung Husserls »redigierten« Text Heideggers, aber letzterer drückt sich ganz entsprechend auch in einem Brief an Husserl vom 22. Oktober 1927 wie folgt aus: »Übereinstimmung besteht darüber, dass das Seiende im Sinne dessen, was Sie ›Welt‹ nennen, in seiner transzendentalen Konstitution nicht aufgeklärt werden kann durch einen Rückgang auf Seiendes von ebensolcher Seinsart. / Damit aber ist nicht gesagt, das, was den Ort des Transzendentalen ausmacht, sei überhaupt nichts Seiendes – sondern es entspringt gerade das Problem: welches ist die Seinsart des Seienden, in dem sich ›Welt‹ konstituiert? Das ist das zentrale Problem von ›Sein und Zeit‹ – d. h. eine Fundamentalontologie des Daseins. Es gilt zu zeigen, dass die Seinsart des menschlichen Daseins total verschieden ist von der alles anderen Seienden und dass sie als diejenige, die sie ist, gerade in sich die Möglichkeit der transzendentalen Konstitution birgt. / Die transzendentale Konstitution ist eine zentrale Möglichkeit der Existenz des faktischen Selbst. Dieses, der konkrete Mensch ist als solcher – als Seiendes nie eine ›weltlich reale Tatsache‹, weil der Mensch nie nur vorhanden ist, sondern existiert. Und das ›Wundersame‹ liegt darin, dass die Existenzverfassung des Daseins die transzendentale Konstitution alles Positiven ermöglicht.« 33 Hinzu tritt, dass die »Grundprobleme« die Daseinsanalytik positiv in der Tradition des »Rückgangs auf das Subjekt« verankern und in Bezug auf Kant ausdrücklich zum Beispiel betonen, dass sein Weg im weitesten Sinne der einzig mögliche und legitime sei. Natürlich ist damit nicht die Restaurierung eines »subjektivistischen« ego cogito 31 32 33

Was ist Metaphysik?, Frankfurt/M., Klostermann 91965, 7 ff. In: E. Husserl, Phänomenologische Psychologie, 256. Ebd., 601 f. (Anlage I zum Brief).

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Bedürfen und »pathische Onto-do-logie«

gemeint, denn auch Platon wie Aristoteles gehören zu dieser Tradition, sofern das antike Denken bereits ein authentisches Fragen war, das von der neuzeitlichen Philosophie verstärkt wurde. 34 Diese Erweiterung des Subjektbegriffs, die es erlaubt, das griechische Denken mit Kant zusammen zu sehen, weil sie jeweils den Logos, genauer noch: den lógos tês psychês, befragten, beinhaltet keinerlei Abrücken von der transzendentalen Problematik. Insofern führt die »Rücksicht« in Bezug auf die Daseinsproblematik nicht nur zur ontologischen Fragestellung, sondern sie bewirkt auch die ausdrückliche Thematisierung der transzendentalen Reduktion. In diesem Sinne lässt sich sagen, dass die Fundamentalontologie auf ihre Weise die transzendental-konstitutive Phänomenologie aufgegriffen und vollendet hat. Die Husserlsche Frage nach dem Bewusstsein wird mittels der ontologischen Präzisierung der transzendentalen Reduktion zur Vertiefung des Subjektbegriffs im Sinne des Daseins (wenn man vom dabei wesentlich unaufgeklärt verbleibenden Lebensbezug als »Bedürfen« absieht), weil die Reduktion auf das »Seinsverstehen« zugleich auch Reduktion auf das Dasein ist. Die Aufgabe der Heideggerschen Phänomenologie war damit eine doppelte, nämlich ontologisch ein Seiendes mit einer besonderen Seinsart vor allen anderen Seienden aufzuweisen, und zwar derart, dass seinem »Sein« als Ek-sistenz das Verstehen des Seins zuinnerst eigen ist, worauf die ontologische Problematik im Allgemeinen dann überhaupt in seinem Sinne zurückzuführen bleibt.

2.

Bedürfen und »pathische Onto-do-logie«

Diese Metaphysikdestruktion gemäß Heidegger auf eine reine Seinsbezüglichkeit hin stößt hingegen an eine radikal phänomenologische Grenze, denn wenn solche Bezüglichkeit bereits in jedem originären Bedürfen mitgegeben sein sollte, sofern das Dasein ein lebendiges ist, so besitzt diese Heideggersche Bezüglichkeit selbst nicht als ereignishaft-materiales Strukturelement diese affektive Qualität in jedem Begehren selbst. Im absoluten Bedürfen gibt sich das »Sein« nämlich schon affektiv, ohne dass dieser Affektivitätscharakter dann zur »Gabe« des Seins als Offenheit seiner selbst gehören würde. Die

34

Vgl. Grundprobleme der Phänomenologie (GA 24), 103, 219 f., 238 u. 308.

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Reduktion und Destruktion bei Husserl und Heidegger

»Stimmungen« bei Heidegger 35 sind kein Bedürfen im radikal strengen Sinne, sondern nur existenziale Verfasstheiten, die sich vornehmlich aus der »Geworfenheit« ergeben und eben im weltumgreifenden oder -verlierenden Sinne Transzendenzeröffnungen als »Anker und Abkehr« sind – vornehmlich Angst, Langeweile, Traum, Freude, Erstaunen, Verhaltenheit im Erschrecken und Scheu. 36 Anlässlich der Angst haben wir schon zu Beginn durchblicken lassen, dass deren existentielle Weltbestimmung als absolut vom Dasein selbst ergriffener »Inständigkeit« im »Aus« des »Da« nicht das Leben in seinem immanenten Selbstlasten auf sich selbst erhellen kann, um in solchem Bedürfen seiner selbst als Selbstaffektion den Affekt der Angst innerlich als unhintergehbare Bedingung der Subjektivität schlechthin zu erfahren. Denn das Bedürfen ist unmittelbar absolute Subjektivität, in deren Erwachen als Begehren »ich« als individuiert Lebendiger in der Selbstbewegtheit radikaler Passibilität geboren werde. Eine konsequente Metaphysik-Destruktion muss daher letztlich auf diese »Gabe« der Geburt meiner selbst als »Mich« in der originären Selbstgebung des Lebens hinführen. Heidegger klammert letztere in »Was ist Metaphysik?« aus, wenn er schreibt: »Die Metaphysik bleibt das Erste der Philosophie. Das Erste des Denkens erreicht sie nicht […] Solange der Mensch sich als das vernünftige Lebewesen versteht, gehört die Metaphysik nach dem Wort Kants zur Natur des Menschen. Wohl könnte dagegen alles Denken, wenn ihm glückt, in den Grund der Metaphysik zurückzugehen, einen Wandel des Wesens des Menschen mitveranlassen, mit welchem Wandel eine Verwandlung der Metaphysik einherginge.« 37 Mit der kritisierten Metaphysik wird hier die originäre oder transzendentale »Lebendigkeit« ausgeklammert, da sie nur im Zusammenhang mit der Rationalität des Menschen gesehen wird, sozusagen als deren Trägergrund, nicht aber als die urtümlich phänomenologische Offenbarungsweise des Erscheinens überhaupt, so dass damit auch die »Erste Philosophie« nur der Daseinsanalytik in gewisser Weise zugeschlagen wird, um der Metaphysik als (ontischem) Thema ein bereits verkürztes (funktionalisiertes) Lebendig-sein zu überlassen,

Vgl. H. Fink-Eitel, »Die Philosophie der Stimmungen in Heideggers Sein und Zeit«, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 17/3 (1992) 27–44. 36 Vgl. E. Kettering, Nähe. Das Denken Martin Heideggers, Pfullingen, Neske 1987, 346 ff. 37 Was ist Metaphysik?, 9. 35

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Bedürfen und »pathische Onto-do-logie«

das dann nicht mehr die Orientierung der Metaphysikdestruktion selbst übernehmen kann, weil auf ihm die Dichotomie von Metaphysik/Seinsdenken lastet. So schreibt beispielsweise auch D. Koch im Anschluss an Heideggers prinzipieller Verordnung von hermeneutischer Wesensauslegung der ontischen Sachverhalte aus ekstatischer Seins/Daseinsbezüglichkeit heraus: »Die Bestimmtheit Leben zeigt sich im Lebendigsein, trotzdem bleibt das Leben vom Lebendigen streng unterschieden.« 38 Da die Verbindung ratio/animalitas – im Vergleich Hegel/Nietzsche – nicht die animalitas für sich ans Licht treten lässt, ergibt sich beispielsweise ebenfalls für D. Franck die Frage nach dem »Fleisch« als dem eigentlichen »Ende der Metaphysik«. 39 So wie Sein und Dasein aufgrund ihrer Eröffnungs- oder Ereignisdistanz niemals eins werden können, so ist damit gleichfalls von vornherein sowie später für die Postmoderne verhindert, dass in dieser seinsstrukturalen Sicht »Leben« und konkret »Lebendiger« phänomenologisch radikal ineinander fallen. Aber das Erscheinen von Leben im Lebendigen kann – im Unterschied zum Sein als vierdimensionaler Zeit – immer nur wieder selber Leben sein, was bedeutet, dass das Wie des Selbsterscheinens des Lebens als phänomenologischer Grundsachverhalt in seiner Manifestationsweise nur die Ankünftigkeit dieses Lebens als solchem zu sein vermag, das heißt ein effektives An-wesen als Präsenz im selbstwirksamen Sinne. Und nichts anderes ist das Bedürfen in seinem rein phänomenologischen Wesen, denn seine tranzendentale Lebendigkeit besteht genau darin, dass der »Augenblick« seines Sich-Offenbarens im Erscheinen ausschließlich mit ihm selbst gefüllt ist – eben mit dem rein affektiven Selbstbedürfen des Lebens, welches nicht mit dem Ziel intentionaler »Erfüllung« verwechselt werden darf, da diese in den Bereich der realen oder imaginären Re-präsentation gehört. Was Heidegger mithin »das Achten auf die Ankunft des noch unausgesprochenen Wesens der Unverborgenheit« nennt, »als welche das Sein sich angekündigt hat«, liegt in der Tat außerhalb des »vorstellenden Denkens«. 40 Aber diese Ankunft ist keineswegs anonyme, hohlformartige Offenheit im horizonthaft gespannten Bogen eines temporalisierten »Es gibt«, sonZur Hermeneutischen Phänomenologie. Ein Abriss, Tübingen, Attempto 1992, 14; vgl. 25, 28, 33. 39 Vgl. Heidegger et le problème de l’espace, Paris, Minuit 1986, 126 ff. 40 Was ist Metaphysik?, 11. 38

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Reduktion und Destruktion bei Husserl und Heidegger

dern wirktatsächliches Kommen-in-sich als Zu-sich-Werden oder -Kommen, mithin transzendentale Geburt in und aus dem absoluten Leben als Grundweise der Phänomenalisierung des Selbsterscheinens. 41 Soll eine solche pathische »Onto-do-logie« 42 nach Heideggers Metaphysikdestruktion weiterverfolgt werden, damit die Gabe des Seins als effektiv sich gebende »Selbstentbergung« angedacht wird, dann ist ein neues, anderes oder tautologisches Denken anstelle bisheriger »Philosophie« aufzuzeigen. Ab »Sein und Zeit« stand das Programm an, die bisherige Ontologiegeschichte unter dem Gesichtspunkt der Auslegung der Zeit als des transzendentalen Horizonts der Frage nach dem Sein zu überprüfen, was die Seinsfrage wesenhaft an die Geschichtlichkeit band. Dadurch wurde das seinsverstehende wie -auslegende Dasein als solches, das heißt in seiner Inständigkeit im »Da« oder zeitlichen »Außer-sich«, innerhalb der phänomenalitätsbildenden Ek-stasis seinerseits ganz durch die Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit bestimmt, welche auch für die Postmoderne leitend bleiben werden. Die Ontologie wurde mit anderen Worten »kinetisiert« und hebt sich letztlich als reine »Bewegtheit« im Sinne einer be-gründenden Fundamentalontologie auf, weil ein ständig sich bewegendes »Fundament« (nämlich das Versetzen in die Möglichkeit des Existierens als Ermöglichung schlechthin) nicht mehr thematisch eingeholt zu werden vermag, sondern nur noch als reines Vollzugsgeschehen existentiell »gelebt« werden kann. 43 Wichtiger als die destruktiv-problemerhellende Aneignung des Ontologieerbes als verstellender Onto-(Ego)-Theologie bleibt daher in diesem Zusammenhang festzuhalten, dass die Dynamisierung der Seins/Daseins-Differenz als Kinetisierung einen Zeitbegriff handhabt, der nicht mehr an der messenden Zeit erhoben wird, und insofern mit dem späteren Vgl. M. Henry, Affekt und Subjektivität. Lebensphänomenologische Beiträge zur Psychologie und zum Wesen des Menschen, Freiburg/München, Alber 2005, 22 ff. – Jacques Lacan wird Bedürfen und Begehren im Sinne von rein physiologischer Tatsache und jouissance über ein Phantasma als Wesen des Menschen unterscheiden, was in solcher Trennung jedoch phänomenologisch fraglich bleibt; vgl. J.-F. de Sauverzac, Le désir sans foi ni loi. Lecture de Lacan, Paris, Aubier 2000, 80 ff. 42 Wir greifen diesen Begriff von Claude Bruaire (1932–1986) auf; vgl. L’être et l’esprit, Paris, PUF 1983, 51 ff.; dazu schon R. Kühn, Französische Religionsphilosophie und -phänomenologie. Metaphysische und post-metaphysische Positionen zur Erfahrungs(un)möglichkeit Gottes, Freiburg – Basel – Wien, Herder 2013, 195–216. 43 Vgl. R. Ansén, Bewegtheit. Zur Geschichte einer kinetischen Ontologie bei Heidegger, Cuxhaven, Junghans 1990, 93 ff. 41

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Bedürfen und »pathische Onto-do-logie«

Zeitraum des Zu-spiels durch das »Es gibt« parallelisiert werden kann. Mit anderen Worten wird ein rein formaler Über-gang postuliert, nämlich der Transzensus vom Verborgenen ins Entbergen, wodurch die Gabe des Seins er-scheint, und zwar als Offenhalten aller ontischen Möglichkeiten, jedoch als Selbstverlust ihres eigenen Selbsterscheinens. Eine Gabe ohne eigenen Gehalt – ohne Selbst oder Ipseität, da jede Bestimmung sofort unter die Kritik setzender und damit substantieller Vorhandenheit fallen würde, ist leer, bloße Struktur, worauf Heideggers Versuch, die Wahrheit des Seins vom Gegenwesen des Ontischen her zu denken, nämlich durch das Nichts, verweist. Eine reine Struktur ist in der Tat inhaltlich ein Nichts, ohne jedoch phänomenologisch »nichts« zu sein, und insofern sind die entsprechenden Ausführungen in der Antrittsvorlesung von 1929 »Was ist Metaphysik?« ebenso wie die späteren Vorträge der 1960er Jahre nicht als negative Zerstörung zu kritisieren, Aber es ergibt sich schon die notwendige Frage, ob mit der lebendigen Bedürfens- und Begehrensphänomenalisierung nicht ein Gegeben-sein in seiner »entbergenden« Offenbarwerdung auftritt, welche Struktur und Gehalt in Einem besitzt, nämlich eine sich gebende Phänomenalität absoluten Anfangs, der als reine Subjektivität in der Weise des »Mich« noch keine Welt in sich birgt, und somit im Heideggerschen Sinne auch kein Da-sein, sondern reines Leben ist, ohne die Merkmale einer subjektiv erprobbaren Ursprungsphänomenalisierung zu verlieren. Dann könnte eine Destruktion, die sowohl die Daseins- wie die Ereignispriorität als hermeneutisches oder deutendes Verstellen noch erhellt, in der selbstaffektiven Passibilität unserer Lebensabkünftigkeit nicht nur eine Verbindung von Transzendentalität und Faktizität wahrnehmen, in die sich die Differenz von Sein/Seiendem einbetten lässt, wie es J. Greisch für die existenzialontologische Auslegung der Leiblichkeit als »Ort« dieser Ursprungsdifferenz in Anspruch genommen hat. 44 Vielmehr dürfte eben eine solche pathische Destruktion auf das fleischlich lebendige Selbstertragen als Bedürfen hin ein immanentes Grundwesen erkennen lassen, dessen Phänomenalität noch älter ist als die der Eröffnung und Zeitverortung, weil Leiblichkeit als Urpassibilität des absolut phänomenologischen Lebens als solchem eben bewegtes »Bei-sich-sein« als »Selbstbegehren« vor allem Vgl. »Das Leibphänomen als Versäumnis von Sein und Zeit«, in: P. J. M. Tongeren u. a. (Hg.), Eros und Eris, Dordrecht, Kluwer 1992, 243–262, hier 252 f.

44

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Welterstellen beinhaltet. Weil also hier zunächst keine ekstatische Zeitlichkeit in der Modalität der Passibilität auftritt, wohl aber stetige Übergangsveränderungen von immanent affektiver Natur, wird dafür auch von M. Henry 45 der Begriff der Historialität verwandt, da es sich um die »Geschichte« unserer transzendentalen Geburt im phänomenologischen Anfang aus dem Absoluten als Leben vor allen Vorstellungen wie welthaften Möglichkeiten heraus handelt. Solche Historialität als innere Selbstbewegtheit des Bedürfens impliziert mit anderen Worten die unbegrenzbaren Potenzialitäten eines im Leben gezeugten Sich, welches sich niemals in seinem Empfinden von sich differieren oder im Sinne der Postmoderne »aufschieben« bzw. »entfremden« kann. Genau aus diesem Verdacht heraus, dass die abendländische Philosophie bis hin zu »Sein und Zeit« nur einen Zeitmodus, nämlich jenen der Anwesenheit anstelle von allen drei Zeitekstasen, artikuliert habe, motivierte ja die Wiederholung der Seinsfrage im »Schritt zurück« gegenüber der ontologischen Tradition, um im »Es« das Schicken und Sich- Zurückhalten als vierte »Dimension« auszumachen. 46 Es liegt hier also nicht nur Deutung und Analogie vor, wie Marion 47 kritisierte, sondern auch ein Dimensionales zusätzlich, welches eben die Distanz der Differenz – und zwar als Indifferenz gegenüber allem darin Erscheinenden, Mensch oder Ding – enthält, welche die Postmoderne ebenfalls erben wird. Der phänomenologische Bezug zwischen dem zeitlich-einräumenden Selbstwesen des Seins in seiner sich verbergenden Eröffnung als universaler Wahrheit und der pathischen Historialität als Geburt aus dem transzendentalen Leben ohne mögliche Distanzierung heraus würde dann genau die Kernproblematik der Destruktion als Metaphysiküberwindung im klassischen wie postmodernen Sinne ausmachen, wie wir sie in diesem Buch untersuchen wollen. Raum und Zeit lassen sich nicht ohne irgendeine Form denken, und sei es jene der Er-eignung oder der Ein-bildung. Aber die immanente Historialität der Subjektivität kennt letztlich nur die Intensität des Affektiven (Bataille, Deleuze, Henry), 48 was den Versuch darstellt, die phänomenologische Materie Vgl. Affekt und Subjektivität, 26 ff. Vgl. M. Heidegger, Beiträge zur Philosophie. Vom Ereignis (GA 65), Frankfurt/M., Klostermann 1994, 377 ff.; hierzu bereits R. Kühn, Radikalisierte Phänomenologie, Frankfurt/M., Peter Lang 2003, 50 ff. 47 Réduction et donation, 159 f. 48 Vgl. R. Arsenic-Zamfir, Le corps dans la philosophie française contemporaine – 45 46

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Bedürfen und »pathische Onto-do-logie«

der Phänomenalisierung nicht von einer Morphé oder von einem Eidos in-formieren zu lassen, sondern in sich selbst jene Phänomenalität zu bilden, welche mit der Bewegung der Selbstphänomenalisierung als Selbsterscheinen identisch ist. Deshalb ist auch eine innere Zeitlichkeit ohne Ekstase nicht die »Inständigkeit« des Selbst im »Außer-sich« seiner Existenz, sondern ein transzendental gebürtig ipseisiertes »Mich« ist die reine Passibilität seines Sichbegehrens als Lebensbedürfen ohne einen jemals möglichen Hiatus oder »Riss« (Lacan). Ist solche Subjektivität – ohne vorentworfene Substanz als hypokeimenon in einem schon immer als entäußert gedachten Ich, Ego oder Personsein – die Destruktion jeglicher Substantialität auf eine passible Materialität des Erscheinens hin, die nicht mehr die dimensionale »Lichtung« der Seinsereignung voraussetzt, dann ist dieses Unsichtbare der Gabenabhängigkeit radikalste Parusie des Lebens in seinem Selbstvergessen. Das auf solches Sich-Offenbaren des Lebens reduzierte Bedürfen/Begehren ist die vorzeitliche Präsenz des Lebens, ohne jedoch irgendein mystifiziertes Unbewusstes oder ein metaphysisches Vitalprinzip wie bei Bergson und Freud zu sein, welche sich unaufgeklärter Ontik verdanken. 49 An eine solche Phänomenalisierung als Hervortreten der Lebensgabe im Begehren ihrer selbst als gleichzeitiger Erfüllung lässt sich Heideggers Theorie von der »Seinsvergessenheit« als vom Sein selbst geschickte Verborgenheit und Irrnis nicht herantragen, denn das radikalisierte subjektive Bedürfen als reine Selbstverwesentlichung des Erscheinens kennt keine geschichtliche Prä- oder Deformierung in seiner rein affektiven Selbstbeladenheit als Passibilität des Mich. Deshalb kann es auch als historiale Kulturwerdung vor aller historischen Kulturleistung angesprochen werden, für die Heidegger und die Postmoderne weder einen Begriff noch einen genuin phänomenologischen Ort in ihrem Denken besitzen, denn die Wahrheit des Dichtens ist bei Heidegger nur eine Variante des Sichsagens des Seins im zugestellten Wort. 50 Es lässt sich dazu auch die Vorlesung zu ArisMichel Henry et Gilles Deleuze, phios. Diss. Université de Bourgogne, Dijon 2006. 396 S. 49 Vgl. für diese Klärung R. Kühn, Lebensmystik. Ursprüngliche Erfahrungseinheit von Religion und Ethik im Spiegel »Philosophischer Mystik«, Dresden, Text & Dialog 2018. 50 Vgl. Unterwegs zur Sprache, Pfullingen, Neske 1959, 256 f.; Holzwege, Frankfurt/ M., Klostermann 1952, 248–295: »Wozu Dichter?« – Zur Kritik des Kulturbetriebs im Zusammenhang mit Erleben und Machenschaft vgl. Beiträge zur Philosophie, 127 ff.

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toteles von 1931 heranziehen, 51 denn selbst wenn hier, in der Periode der Fundamentalontologie, der Logos des Seienden nicht mehr nach der Wahrheitspriorität gesucht wird, sondern nach dem Sagen von dynamis und energeia, so bleibt das Dasein doch weiterhin der bevorzugte Seinsmodus als Entbergung. Zwar verschwindet dabei weitgehend die Existenzialität als apophantisches Sagen, doch nur um dem Physis-Begriff Raum zu geben, auch wenn er rein von der Bewegtheit und der Veränderung her bestimmt ist. Die Kraft, mit der Heidegger dynamis übersetzt, ist allgemein Be-wegt-heit als Anwesen, als Ankunft in das Anwesenheitswerden hinein. Es ist jedoch nicht die effektive Kraft des rein sich begehrenden Bedürfens als Ertragen seiner selbst, welches keinen zurückzulegenden Weg von sich zu sich kennt, sondern nur die passible Selbstauslieferung ohne Anwesenheit in der Bewegtheit durch die Verzeitlichung. Insofern ist solches Bedürfen als begehrende Passibilität dann reine Lebensselbstgebung, wenn alles Welt- und Zeitwerden aus dieser »Präsenz« ausgeklammert ist.

3.

Sichgeben und transzendentale Geburt

Die angesprochene »Tautologie« von Geben/Empfangen als das Selbe der Kraft ist in sich reines Leben, sofern diese Kraft selbstaffektiv Bedürfen ihrer selbst ist, um zu »sein«. Keine wahre Kraft kann ihre Kraft jemals anderswoher beziehen als aus sich selbst. Denn eine Differenz setzt bereits wieder eine Minimalkraft voraus, welche dieses Dif-ferieren bewegt, wie gegen die Postmoderne insgesamt zu zeigen sein wird. Bedürfen als die sich selbst begehrende Kraft des Pathos ist daher jene Eigenbewegtheit, in der sich »Sein« als Lebendigkeit verwesentlicht. Wo Sein wird, ist dieses dann nicht mehr das Primor-

In der (Post-)Moderne entfaltet sich die Kulturanalyse in den Gegensätzen von Geist/ Leib, Leben/Entfremdung oder Sprache/Macht wie etwa bei Simmel, Adorno oder Foucault; vgl. C.-F. Geyer, Einführung in die Philosophie der Kultur, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1996. 51 Vgl. Aristoteles: Metaphysik IX (GA 33), Frankfurt/M., Klostermann 1981; zur aristotelischen Problematik von Wesen, Gattung und Individuum im Gegensatz zur Intensität auch C. Majolino, »Est individuum ineffabile? Phänomenologische Bemerkungen über Wesen, Differenz und Selbstaffektion«, in: R. Kühn u. S. Nowotny (Hg.), Michel Henry. Zur Selbsterprobung des Lebens und der Kultur, 81–106.

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Sichgeben und transzendentale Geburt

diale, der Grund, das Prinzip oder der absolute Anfang. Diese Originarität ruht ausschließlich im Leben, das allein die Fähigkeit besitzt, sich tatsächlich zu geben, denn alles Öffnen, Verzeitlichen, Anwesenlassen bzw. dekonstruktive Aufschieben ist nur über ein lebendig affiziertes Dasein vernehmbar zu machen, um in der Gabe seines unaufhebbaren Lebendigseins die Transzendentalität des Sich-Gebens phänomenalisierend zu fassen und die Ontologie als lebendige Onto-do-logie zu vollenden. Transzendentalität hat also in solcher Passibilität ihren urfaktischen Ort, wo auch die Heideggersche Verortung der egologischen Intentionalität im radikalisierten weltinständigen Dasein noch zu kurz greift. Denn wenn das Austragen und Ausdauern als »Sorge« und »Sein zum Tode« das volle Wesen der Existenz des Menschen als »Ausstehen dieser Inständigkeit« ausmacht, 52 dann ist solche Stasis nicht ohne das Moment des Ertragens als immanent passibler Subjektivität möglich – oder es bleibt nur eine leere Struktur, die sich der formalen Kategorialität der Objektivitätsbegründung durch ein a-subjektives »Ich denke« bei Kant annähert. 53 Jedes Bedürfen als Lebensbegehren ist zunächst ein nicht-ekstatisches Ausstehen und Austragen in der reinen Impressionabilität der eigenen Last des Bedürfens als absoluter Lebensabkunft selbst, welche Lebensankunft als Gabe ist. 54 Die hier kurz durchgeführte Anwendung des Destruktionsgedankens auf die reine Bedürfensphänomenalität dürfte schon gezeigt haben, dass kein neuer deduktiver Grund für die Metaphysik gesucht wird, oder eine vergessene Voraussetzung der Philosophie, die etwa ansatzweise als desiderium naturale von der Scholastik oder als conatus bei Spinoza angedacht wurde. Auch der Gang in die Nähe des Bezuges des Seins zum Menschen als dessen »Gehören in das Sein«, 55 und in »Zeit und Sein« als An-wesen im »Es gibt« den Menschen betrifft, kann durch die Bedürfensselbstgegebenheit noch stringenter gefasst werden. Denn nichts stellt ein stärkeres und engeres Gehören-in als die sich selbstbindende Kraft des Bedürfens in seinem

M. Heidegger, Was ist Metaphysik?, 15. Vgl. J. Scheidegger, »Kant – Heidegger – Henry. Geschichte einer Ontologisierung«, in: S. Grätzel u. F. Seyler (Hg.), Sein, Existenz, Leben, 85–106. 54 Zur Gabe als reinen postmodernen »Gabeneffekten« oder als »Spur« bei Derrida vgl. Falschgeld. Zeit geben I, München, Fink 1993, dazu bereits R. Kühn, Radikalisierte Phänomenologie, 131 ff. 55 Was ist Metaphysik?, 20. 52 53

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Reduktion und Destruktion bei Husserl und Heidegger

sich modalisierenden Begehren dar, welches keine Distanz in sich als reine Selbsterprobung kennt und in der Auslieferung an diese radikale Distanzlosigkeit die Subjektivität als passible »Wahrheit« der rein praktisch phänomenologischen Lebenszugehörigkeit transzendental erproben lässt. Leben heißt stets »im Leben sein«, und zwar ohne jede mögliche Ausflucht, so dass diese äußerste Inständigkeit als effektive Immanenz ohne Pro-jekt das Maximum des »Gehörens-in« bedeutet und auch keine Abschwächung durch »eigentliche« oder »uneigentliche« Existenzialität kennt. Was noch kaum bedacht ist und von Heideggers Destruktion und Kehre im Sinne der Metaphysiküberwindung sowie deren postmodernen Nachfolgern als letztes Moment nahe gelegt wird, ist ein wirkliches Verlassen des vor-stellenden Denkens der Onto-(Ego)-Theologie, welches als idealistisches Moment eben auch noch im »gedeuteten« Ereignis als interpretierendes Verstehen anzutreffen ist. Kann jedoch eine nicht-vorstellende Denkbemühung die Vorstellung tatsächlich verlassen, sofern sie aus der Dif-ferenz, Di-stanz, Ek-stasis, Ent-borgenheit, Zu-sage usw. heraus denkt? Heidegger wie die nachfolgende Postmoderne will gewiss ein neues transzendentes Vorstellen im Gegen-über vermeiden und verweist dazu auf die genannten Möglichkeiten solchen Andenkens durch Inständigkeit und Zeitlichkeit als Wesen der Seinsverborgenheit, die sich nochmals im »Nichten« durch das Nichts des Seins resümieren bzw. weiterführen lassen. Der Nihilismus ist hier nicht jener der existenzialen Angst und Geworfenheit aus jeder welthaft und seinsgeschichtlich geprägten Daseinsverfasstheit heraus, sondern vielmehr ruht dieser Nihilismus in der prinzipiellen Unfähigkeit, eine originäre Stätte oder Bleibe anzugeben, in der wir schon immer diesseits jeder Repräsentation leben, das heißt im sich selbst gebenden Leben unseres Bedürfens. Dass dieses sich ebenfalls Erfüllungen in einem weiteren intentionalen Schritt vorstellt, hindert nicht die Urphänomenalisierung dieses begehrenden Bedürfens als radikale Vorstellungsunmöglichkeit. Sie muss nicht erst philosophisch und metaphysikkritisch eingefordert werden, da in der pathischen Selbstübereinstimmung des Bedürfens mit sich selbst eine Onto-do-logie erprobbar wird, welche die Gabe des »Ist« außerhalb allen Vergleichens lässt. Jedes Bedürfen »ist« in seinem Ausstehen oder Ertragen (ohne Freude und Tun auszuschließen) das, was es als passible Impressionabilität lebt, und verweist nicht von einem Etwas auf ein immer noch anderes im Sinne des

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Sichgeben und transzendentale Geburt

unendlichen »Spiels des Es gibt«, 56 sondern ruht in seiner Intensität absolut in sich. Dass wir uns von seiner Unerträglichkeit manchmal befreien wollen, dass wir Erfüllungsteleologien bewährter Natur in der Lebenswelt nachgehen wollen, hindert ebenfalls nicht, dass dieses Bedürfen kein vorstellendes und damit horizontentwerfendes Fragen in sich kennt. Kein Bedürfen und Begehren fragt primär: Warum bin »ich«? Warum so und nicht anders? Warum jetzt und nicht früher oder später? Warum überhaupt dieses Bedürfen anstelle von Nichtbedürfen als A-pathie? Die Leibnizfrage, die Heidegger zitiert: »Pourquoi il y a plutôt quelque chose que rien?«, 57 gibt es im absoluten Phänomen des Bedürfens nicht, weil seine reine Passibilitätsphänomenalität keine Distanz kennt, aus der heraus diese Frage überhaupt aufbrechen könnte. Die absolute Geburt des pathischen Bedürfens ist mithin ohne Frage, so wie das Leben bei Meister Eckhart, 58 so dass nicht an das Nichts als an das Andere des Seienden zu verweisen bleibt, oder an das entbergende Ereignis, um einem verstellt repräsentierten Sein zu entgehen, sondern zu verweisen ist an das reine »Selbstausstehen« (Pathos) des Bedürfens in seinem In-sich-sein als immanentem Für-sich-sein. Alles Vor-stellen kann immer nur von außen im Gegen-über eines Horizontes herangetragen werden, um ihm Namen oder Deutungen zu geben, welche nicht mehr die eigene affektive »Sprache« des Bedürfens in seinem Selbstbegehren sind, sondern »Worte der Welt« (Henry) als Objektbezüglichkeit im zeitlich differenziert und bestimmt anwesendem Sein, in dem es sich scheinbar – als »ist« der Kopula – vorübergehend stillen kann. Die weltekstatisch so beurteilte »Blindheit« des »instinkthaften« Bedürfens, die in der Postmoderne als »Opazität« wiederkehrt (Merleau-Ponty), entspricht daher seiner absolut inneren Vorstellungsabwesenheit als einer anderen Phänomenalisierungsart, welche nicht nur der Entzug des Seins ist, um sich als Quelle dieser Abwesenheit in der zuvor eröffneten Zu-sage oder »Schickung« zu offenbaren, ohne die keine Ab-wesenheit vernommen werden könnte. Was nicht »da« ist (nicht mehr oder noch nicht), verweist in der Tat zumindest 56 Zur Lektüre Heideggers bei Levinas vgl. J. Taminiaux, Sillages phénoménologiques. Auditeurs et lecteurs de Heidegger, Brüssel, Ousia 2002, 227 ff. 57 Principes de la nature et de la grâce fondés en raison (Hg. A. Robinet), Paris, PUF 1954, 65, zit. Was ist Metaphysik?, 22. 58 Vgl. Deutsche Predigten und Traktate (Hg. J. Quint), München, Diogenes 1979, 176 (Predigt 5).

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Reduktion und Destruktion bei Husserl und Heidegger

auf den transzendentalen Horizont dieses »Da« als Erscheinensraum, worin sich jedes einzelne Dieses- oder Jetzt-Da zeigen kann. Deshalb ist die a-repräsentative Blindheit oder Dunkelheit des Bedürfens, seine prinzipielle Unmöglichkeit radikaler Natur, in einer Vorstellung seine Erfüllung zu finden, sein phänomenologisches Eigenwesen selbst. 59 Jedoch nicht als An-wesen in der Zeit und als Zeitlichkeit, sondern als inchoatives Tun, welches als »subjektive Praxis« ebenfalls im impressional phänomenologischen Fleisch seines leiblichen Vollzugs keine Vorstellung als Handlungsprojekt zunächst hervorbringt, sondern reine Entfaltung von subjektiven Potenzialitäten des urtümlich lebendigen »Ich kann« bedeutet. Die Unsichtbarkeit von Bedürfen, Begehren, Anstrengung und Handeln als nicht ekstatisch fassbarer Übergang im Sinne einer Weisung, Vorschrift, Norm, Kontrolle oder Wertausrichtung impliziert geradezu ein »Sein« als Kraft in der bleibenden Verborgenheit für das Sehen, ohne dadurch irgendwie aufzuhören, eine stets sich gebende iterative Gabe zur »Wiederholung« unserer Leib- und Geisteskräfte in ihrem immanenten Ausüben als transzendentaler Leistung zu sein. 60 Der onto-do-logische Transitus des Bedürfens/Begehrens ohne Veräußerung in die Transzendenz der Schau ist als genanntes »Ich kann« keine reflexive Selbstvorstellung oder inspectio sui im Sinne Husserls, sondern ausschließlich Ein-druck seiner selbst als »Können« in der Passibilität des Lebens sowie aus diesem heraus. Das Bedürfen, im absolut phänomenologischen Leben ipseisierend geboren, ist das Erwachen der Potenzialitäten zu sich selbst als iterative Kraft, wo immer sie zum Einsatz kommen soll – und folglich Geburt der »Wahrheit des Seins« als ein Hervorbringen im Sinne subjektiver Praxis, die keine neue Form polhaft zentrierter Egologie ist, sondern gerade in der Selbsterprobung solcher Praxis das Durchbrechen der transzendentalen Ich-Illusion oder -Naivität auf die reine Lebensstätte hin, welche in keiner Kraft jemals fehlt. Auch das Sein bei Heidegger ist letztlich gewiss kein Gegenstand der Frage oder der Reflexion, aber es verweigert die entscheidende Identität seiner Wesensoffenbarung mit dem Da-sein als dessen verlebendigende Selbstaffektion 59 Dieses Unsichtbare schließt nicht notwendigerweise eine »Theologisierung« ein, wie Dominique Janicaud an Levinas, Henry, Chrétien, Marion etc. kritisierte; vgl. Le tournant théologique de la phénoménologie française, Paris, Eclat 1991. 60 Vgl. im Detail R. Kühn, Subjektive Praxis und Geschichte. Phänomenologie politischer Aktualität. Freiburg/München, Alber 2008, Kap. III,8.2: »Bedürfen als Einheit der Lebensbestimmung« (S. 252–264).

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Sichgeben und transzendentale Geburt

mit der selben Mächtigkeit wie das »Sein« selbst, so dass es für immer zwischen beiden eine Fremdheit, ein Nicht-Offenbares, eine Kluft gibt – im besten Fall einen »kommenden Gott«, wie ihn die letzten Texte Heideggers für einen möglicherweise noch anderen Geschichtsanfang als nicht-philosophisches Denken beschwören. 61 Diese notwendige Abgrenzung verlegt die praktische Parusie des Bedürfens als erprobte Gabe des sich immanent selbst gegebenen Handelnkönnens in eine Modalisierungssphäre von Bedürfen/Erfüllen, wo kein Raum einer aufklaffenden Lichtung bzw. eine Verzeitlichung des Sich-Ereignens von Sein in dessen reiner Selbstreferentialität als ontisch-analogielosem Entbergungsvollzug notwendig ist. Die Heideggersche Metaphysiküberwindung als Destruktion auf das reine Selbsterscheinen als Sichgeben hin muss daher in der Radikalisierung des von ihm initiierten postmodernen »Ruins der Vorstellungen« (welchen auch Levinas 62 früh aufgegriffen hat und worin wohl die Größe der Heideggerschen »Philosophie« als Versuch um ein »anderes Denken« überhaupt letztlich bestehen dürfte) heute noch weitergeführt werden. Denn gerade die postmoderne Destruktion selbst nämlich ist ein Bedürfen oder entspricht einem Begehren, so dass dieses Verlangen an Vorstellungsaufhebung bezüglich der immanenten Selbstgabe im Bedürfen der wesenhaften Vorstellungsabwesenheit in diesem als solchem entspricht. Die Destruktion wird daher nicht von außen – etwa als Entschluss – an das Bedürfen herangetragen, so wie Husserl den Einsatz der Epoché als Freiheit motivierte, sondern sie tritt als »Selbstexplikation« des Begehrens überhaupt auf, welche nicht mit der Selbstobjektivierung innerhalb einer befriedigenden Erfüllung eines empirischen Bedürfnisses zu verwechseln ist. 63 Dies bedeutet, dass das radikalisierte Bedürfen eine onto-do-logische Dignität von höchster phänomenologischer Relevanz besitzt, denn es verweist in seiner vollkommenen oder absoluten Vorstellungsarmut auf die Urphänomenalisierung allen Erscheinens diesseits der Repräsentation. Mit Heidegger ist darin übereinzustimmen, dass alles Zurückgreifen auf primär affektive Synthesen im ontogenetischen Sinne von psychologisch anthropologischer Natur dieVgl. Beiträge zur Philosophie, 399 ff. Vgl. Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg/München, Alber 1992, 120–139: »Der Untergang der Vorstellungen«. 63 Vgl. für die postmoderne analytische Position B. Baas, Le désir. Parcours philosophiques dans les parages de J. Lacan, Löwen, Peeters 1992. 61 62

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Reduktion und Destruktion bei Husserl und Heidegger

sen Ursachverhalt verkennt und sich nur zu einer Pseudo-Transzendentalität aufschwingen kann. 64 Mit dieser Radikalisierung der Destruktion im Interesse einer Onto-do-logie, wo das Sein als Leben reines Selbsterscheinen im Wie seiner Wirksamkeit allein bedeutet, ist jedes Vorher und Nachher als wesentlicherer Augenblick der Phänomenalisierung aufgehoben, da der pathisch impressionale oder passible Grund die Bedürftigkeit an Leben zu jedem Moment »sein« lässt. Demzufolge sind die historisch genealogischen Aspekte der Destruktion zur seinsvergessenden Hermeneutikdiskussion sekundär, denn das Verstellen existenzialer Seinswahrheit durch unangemessene Seinsauslegungen berührt nur indirekt die Tatsache, dass im Vollzug dieser gesamten vergeschichtlichenden Auslegungsstruktur die Phänomenalität des Bedürfens eine andauernde lebendige Wirklichkeit ist, die uns jeden gewesenen, gegenwärtigen und kommenden »Menschen« in seiner transzendentalen Lebendigkeit und deren »Äußerungen« verstehen lässt, ohne auch sinngenetisch – wie Husserl – auf Fremd- oder Heimwelten rekurrieren zu müssen. Selbstverständlich gilt das philosophische Gebot, die eigene phänomenologische Entfaltungsbewegung des »Sachverhalts« Bedürfen auf die Überfremdung durch überlieferte Begrifflichkeiten hin zu überprüfen. 65 Aber gerade beim radikalen Achten auf »Sachidentität« und »Sachdifferenz« ist im Fall des rein pathischen Bedürfens eine »Sachverfehlung« nicht möglich, denn es leitet immanent als Interesse, Verlangen, Begehren, Trieb usw. die phänomenologische Analyse selbst und muss bereits gegeben sein, damit überhaupt ein Vergleich zu »anderem« Bedürfen angestellt werden kann. Hat die hermeneutische Destruktion zur angemessenen Verortung der seinsverstehenden Seinsweisen schon viel erreicht, wenn der Ursprungsort der Phänomene nicht mehr aus den Augen verloren wird, 66 dann kann eine weitere Gefahr eines unzulässigen Übertragens auf andere Sachverhalte beim Bedürfen gar nicht stattfinden, solange eben phänomenologisch radikal an seiner reinen Selbstgegebenheit festgehalten wird, das heißt, alles Vorstellen auf seine Erfüllung in der »Welt« hin außer Spiel gesetzt wird, so dass

64 Vgl. hierzu die Analysen in Zollikoner Seminare (Hg. M. Boss), Frankfurt/M., Klostermann 1987. 65 Vgl. bereits dazu R. Kühn, Leben als Bedürfen. Eine lebensphänomenologische Analyse zu Kultur und Wirtschaft, Heidelberg, Springer-Physica 1996. 66 Vgl. D. Koch, Hermeneutische Phänomenologie, 28 ff.

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Sichgeben und transzendentale Geburt

auch jede »andere« absolute Subjektivität dank mit-pathischer Unmittelbarkeit wahrgenommen wird, nämlich als ein lebendiges Wesen. Die Epoché als Bedürfen der Phänomenologie, deren Motivation dazu an sich die Erfüllungsevidenz bzw. der Seinssinn ist, findet im Bedürfen selbst längst eine »radikalisierte Epoché« vor, wie sie Husserl und Heidegger letztlich ausschlossen, weil mit dem Wegfall der distanzierten Schau oder Differenz jedes notwendige Licht für die Wesensschau oder die Seinsereignung ebenfalls verschwunden wäre, um rein mit sich als begehrender Ipseität konfrontiert zu sein, das heißt mit dem je individuierten Selbsterscheinen ohne theoretische Ausflucht ins Allgemeine, was auch das berechtigte postmoderne Plädoyer für die geschichtliche »Pluralität« des Singulären unterstreicht. Sich im Bedürfen radikal phänomenologisch festzumachen, entspricht also der »Krisis« der Phänomenologie selbst, nämlich ihrem Angelegtsein auf »absolute Phänomene«, 67 an denen sich ihre reduktiv gebende Möglichkeit am besten dokumentieren kann, wie dies postmodern dann für jede Form von »Alterität« unternommen wird. Wir suchen unsererseits diesen Ort der Absolutheit ebenfalls im Alltäglichsten, im bescheidensten Hervorbrechen nicht nur anschauungsarmer Phänomene wie geometrischer Ideationen zum Beispiel, die Husserl von früh an bevorzugte, 68 sondern sogar in der eidetischen Unmöglichkeit, für irgendeine Anschauung überhaupt »da« zu sein, weil es im Bedürfen keinen Spalt des »Da« gibt, in den ein Blick intentional gleiten könnte. Und in diesem Zusammenhang gibt es auch kein »irriges« Bedürfen, so dass die hermeneutisch destruierende Frage der »vorstellenden Auslegung« immer nur die Interpretationen von Bedürfnisstillungen auf diese oder jene Weise betrifft, nicht aber die effektive Passibilität oder Fleischlichkeit eines jeden Bedürfens als solchem. Wie sicher schon hinreichend grundgelegt wurde, soll mit den beiden letzteren Begriffen des Urleiblichen und Passiblen eine unverwechselbar affektive Materialität bezeichnet sein, die nichts mit irgendeiner physikalischen Materie als Boden der gegenständlichen Weltdifferenzierung gemein hat, aber auch nicht in biologische Körperlichkeit aufgeht, sondern jene radikal phä-

Vgl. bereits R. Kühn, »Zur Problematik ›absoluter Phänomene‹ in der Husserlschen Phänomenologie«, in: Recherches Husserliennes 5 (1996) 83–108. 68 Vgl. J.-L. Marion, Ėtant donné. Essai d’une phénoménologie de la donation, Paris, PUF 1997, 75 ff. (dt. Gegeben sei. Entwurf einer Phänomenologie der Gegebenheit, Freiburg/München, Alber 2015). 67

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Reduktion und Destruktion bei Husserl und Heidegger

nomenologische Weise bezeichnet, wie uns das Affekt-sein im Bedürfen unmittelbarer berührt als jede andere materielle Notwendigkeit, welche im Übrigen durch diese transzendentale Sinnlichkeit »hyletisch« vermittelt ist. Denn messbare Quantitäten wie Entfernungen bzw. andere aufzählbare Parameter zeitlicher oder räumlicher Natur gibt es beim originären Bedürfen nicht; es ist eine absolute Modalisierung des phänomenologischen Lebens, welches ich als sum durch solches Bedürfen bin. Somit stellen wir für die absolute Situiertheit der radikalen Subjektivität in der transzendentalen Geburt des Lebens als der eigentlichen Lebensstätte in Frage, bei allen anderen Orten und deren Wechsel wie Fragmentierung dieselben als ursprüngliche »Wanderschaft in freien Ortschaften« zu verstehen. 69 Aber ebenfalls von allen Freiheits-»Dialektiken« ist abzurücken, welche das pathische Bedürfen zu reflexiven oder ethischen Notwendigkeitsüberwindungen bzw. zur »unnützen Leidenschaft« und ästhetisierender »Selbstsorge« wie etwa bei Sartre und Foucault umfunktionalisieren wollen. 70 Damit ist am Ende dieses ersten Kapitels als problematisierender Auseinandersetzung mit Husserl und Heidegger hinsichtlich der Frage von Reduktion und Dekonstruktion jener durchgehende Leitfaden genannt, der in den nachfolgenden Kapiteln die Diskussion mit den verschiedenen postmodernen Autoren bestimmen wird.

Vgl. M. C. A. Otto, Der Ort. Phänomenologische Variationen, Freiburg/München, Alber 1992, wonach allerdings auch der Heideggersche Zeitlichkeitsprimat suspendiert werden soll. 70 Vgl. zu dieser Entwicklung des Bewusstseinserlebens in der Moderne und Postmoderne P. Guenancia, La voie de la conscience, Husserl, Sartre, Merleau-Ponty, Ricœur. Une histoire personnelle de la philosophie, Paris, PUF 2018. 69

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2. Michel Henry und die Dekonstruktion der »Metaphysik der Vorstellung«

Mit Radikalität meinte Edmund Husserl, der Begründer der klassischen Phänomenologie, die Selbstbesinnung der phänomenologischen Methode auf einen absolut gewissen Anfang des Erkennens hin, der von keiner unausgewiesenen Voraussetzung mehr abhängig sei. Was Husserl 1 im immanenten Bewusstseinsleben des reinen Ego als einen solch apodiktischen Ursprung zu finden glaubte, wurde von der nachfolgenden Phänomenologie bei M. Heidegger, M. MerleauPonty, J. Derrida und E. Levinas etwa auf unterschiedliche Weise in Frage gestellt. Sie versuchten, das ontologische Vorverständnis der besonderen Bewusstseinssphäre »Ich« als Dasein beispielsweise zu klären, oder dass eine Welt/Leib-Verflechtung die nicht weiter reduzierbare Vorgegebenheit bildet, wie auch die Differe(ä)nz (différance) keinen nie rein gegebenen Ursprung zulässt oder die ethische Transzendenz des Anderen als »Antlitz« vorrangig sei. Damit wurde innerphänomenologisch prinzipiell immer deutlicher, dass der »Gegenstand der Phänomenologie« nicht so sehr die einzelnen beschreibbaren Phänomene sind, als vielmehr die originäre Phänomenalisierung als solche, mit anderen Worten die Phänomenalität selbst der Welthorizontalität, Existenz, Sinnzerstreuung oder eines absoluten Anrufs. 2 Indem M. Henry seinerseits die lebendige Ur-Ermächtigung oder Potenzialisierung aller Akte eines »Bewusstseins von …« aufsucht, führt er kein neues Paradigma der »Andersheit« in die phänomenologische Philosophie ein, sondern er gibt grundsätzlich hinsichtlich des seit Heidegger postulierten »Endes der Metaphysik« zu 1 Vgl. Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge (Husserliana I), Den Haag, Nijhoff 1963. 2 Vgl. R. Kühn, Radikalisierte Phänomenologie, Frankfurt/M., Peter Lang 2003; H.D. Gondek u. L. Tengelyi, Neue Phänomenologie in Frankreich, Frankfurt/M., Suhrkamp 2011; K. Novotny, Was ist Phänomen? Phänomenalitätskonzepte beim frühen Husserl und in der nachklassischen Phänomenologie, Würzburg, Königshausen & Neumann 2011.

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Michel Henry und die Dekonstruktion der »Metaphysik der Vorstellung«

bedenken, dass wir damit – wenn es tatsächlich eingetreten sein sollte – noch keineswegs am Ende des »Absoluten des Lebens« im selbstaffektiven oder pathischen Sinne wären.

1.

Die reine Phänomenalität als Affektivität und ursprüngliche Einheit

Michel Henry (1922–2002), der bis 1987 den Lehrstuhl für Philosophie an der Universität Montpellier innehatte, griff daher mit völliger Erneuerung diese radikale Rückfrage nach dem phänomenologischen »Wesen des Erscheinens« auf, wie sein umfangreiches frühes Hauptwerk »L’Essence de la manifestation« 3 zeigt. Dabei ging er in seiner maßgeblichen Radikalisierung eben noch weiter als die eingangs genannten Phänomenologen, insofern er die mit dem transzendenten Seinsbegriff verbundenen Vorentscheidungen seit dem griechischen Denken bis Heidegger und darüber hinaus hinterfragte. 4 Seine philosophiegeschichtlich kritische wie dekonstruktive Aufklärung dieser klassischen Metaphysik- und Erkenntnistradition führte aber nicht einfach zu einer Ersetzung des Seins durch das absolut phänomenologische Leben, sondern zu einer notwendigen Unterscheidung der Phänomenalisierung als »Duplizität« bzw. »Heterogenität« selbst. Vor jeder intentionalen oder ereignishaften Welteröffnung durch das Ego bzw. Da-sein hat immer schon das sich selbst affizierende Leben als ipseisierte Subjektivität sein Werk getan. Es ermöglicht a priori diese Bewegung der Transzendenz als Seinseröffnung, ohne dass dabei das lebendige Ich als originär passibles »Mich« (Bedürfen, Begehren) seinerseits in irgendeiner sinnerschlossenen Welt erscheint. Damit bezieht sich die Radikalisierung bei Henry auf die strenge Analyse eines Lebens, dessen innere oder immanente Wahrheit allein sein phänomenologisches Sich-Selbst-Erscheinen sein kann, das alle weitere Erscheinung durch unser ursprünglich lebendiges ErfahrenKönnen bestimmt, 5 auch wenn dieses dann existentiell oder diskursiv 3 Paris, PUF 1963 (Neuaufl. 1990; dt. Das Wesen des In-Erscheinung-Tretens, Freiburg/München, Alber 2018); vgl. dazu J. Leclercq u. Chr. Perrin (Hg.), Genèse et structure de l’Essence de la manifestation, Paris, Hermann 2017. 4 Vgl. R. Kühn, Leiblichkeit als Lebendigkeit. Michel Henrys Lebensphänomenologie absoluter Subjektivität als Affektivität, Freiburg/München, Alber 1992. 5 Vgl. M. Henry, Können des Lebens. Schlüssel zur radikalen Phänomenologie, Freiburg/München, Alber 2017.

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Die reine Phänomenalität als Affektivität und ursprüngliche Einheit

umfassend durch Differenz, Andersheit oder Pluralität bestimmt ist, wie die allgemeine These der Postmoderne seit J.-F. Lyotard (1924– 1998) lautet 6 und letzterer sie den nordamerikanischen kulturwissenschaftlichen Diskussionen entnahm, auch wenn diese durch die frühen strukturalistischen Arbeiten von F. de Saussure oder C. LéviStrauss unter anderem vorbereitet worden waren. 7 Die von M. Henry seit »L’Essence de la manifestation« erarbeitete »materiale Phänomenologie« mündet auf ganz eigenständige Weise ohne Abhängigkeit vom postmodernen Umfeld, wenn man von Heideggers Gewicht für die Sinn-Dekonstruktion der ontologischen Differenz von Sein/Seiendem absieht, in eine alle Erscheinungsbereiche umfassende »radikale Lebensphänomenologie« ein. 8 Vgl. La condtion postmoderne. Rapport sur le savoir, Paris, Minuit 1979 (dt. Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Wien, Passagen 52005); Le Postmoderne expliqué aux enfants 1982–1985, Paris, Gallimard 1986 (dt. Postmoderne für Kinder. Briefe aus den Jahren 1982–1985, Wien, Passagen 21989). Außerdem A. Huyssen u. K. R. Scherpbe (Hg.), Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels, Reinbek, Rororo 1986: H. U. Gumbrecht u. R. Weimann (Hg.), Postmoderne – globale Differenz, Frankfurt/M., Suhrkamp 1992. 7 Zu diesem Strukturalismus vgl. des Näheren R. Kühn, Französische Religionsphilosophie und -phänomenologie der Gegenwart. Metaphysische und post-metaphysische Positionen zur Erfahrungs(un)möglichkeit Gottes. Freiburg – Basel – Wien, Herder 2013, 247–260; ebenfalls M. Frank, Was heißt Neostrukturalismus?, Frankfurt/ M., Suhrkamp 1984; C. Belsey, Poststrukturalismus, Leipzig, Reclam 1992; P. Flack, Idée, expression, vécu. La question du sens entre phénoménologie et structuralisme, Paris, Hermann 2018. – Insofern kann darauf hingewiesen werden, dass der Begriff der »Postmoderne« schon zuvor bei J. W. Chapman (1870), K. Pannwitz (1917), F. de Onis (1934), A. J. Toynbee (1949) und D. Howe (1959) auftrat, und zwar in Bezug auf Malerei, Literatur und Kulturentwicklung; vgl. M. O. Schuster, »Rudolf Pannwitz’ kulturphilosophische Verwendung des Begriffes ›Postmodern‹«, in: Archiv für Begriffsgeschichte 47 (2005) 192–205; K. J. Milch, Die frühe Postmoderne. Geschichte eines europäisch-amerikanischen Kulturkonflikts, Würzburg, Campus 1998; Chr. Riedweg (Hg.), Nach der Postmoderne. Aktuelle Debatten in Kunst, Philosophie und Gesellschaft, Basel, Schwabe 2014, 9 ff. 8 Vgl. M. Henry, Phénoménologie matérielle, Paris, PUF 1990; Radikale Lebensphänomenologie. Ausgewählte Studien zur Phänomenologie, Freiburg/München, Alber 1994. – Die Abwendung Henrys vom Neo-Kantianismus in Frankreich seit den 1940er Jahren hat vor den eigentlichen phänomenologischen Einflüssen Husserls und Heideggers eher reflexionsphilosophische Hintergründe durch J. Lagneau und J. Nabert; vgl. J.-M. Longneaux, Etude sur le spinozisme de Michel Henry, Paris, PUF 2004, 153 ff. Außerdem gehörte er durch seine Habilitationsschrift zum Schülerkreis um J. Hyppolite (1907–1968), hat sich aber von dessen Hegelausrichtung kaum beeinflussen lassen, wie der Anhang von L’Essence de la manifestation in seiner Kritik an Hegel deutlich zeigt; vgl. 863–906: »Appendice – Mise en lumière de l’essence 6

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Michel Henry und die Dekonstruktion der »Metaphysik der Vorstellung«

Der Ausgang von den klassischen Konzepten der Phänomenologie seit Descartes dient dabei hauptsächlich dazu, nach deren originärer Ermöglichung zu fragen. Ego-cogito (Ich denke), Bewusstsein, Intentionalität, Welthorizont, Seinsart oder Existenz sowie postmodern die Differenz oder Alteriologie bzw. Nachträglichkeit (Supplement) können in ihrem je aufschiebenden Transzendenzcharakter nur als relativer Aufweis einer lebendigen phänomenologischen Wesenhaftigkeit gelten, die als selbstaffektives Pathos den eigentlichen Ursprung aller Phänomenalisierung beinhaltet. Der schon genannte grundsätzliche Phänomenalisierungsunterschied von Leben/Welt beinhaltet eine »Heterogenität« der zweifachen Phänomenalitätsart als »Licht« (Idee, Theorie, Schau, Lichtung, Diskurs usw.) und »Passibilität« (Abgrund, Nacht, Vergessen, Unsichtbarkeit, reines Empfinden, Affekt, Fleisch usw.). Dadurch wendet sich Henry nicht nur erkenntniskritisch gegen eine einseitig ek-statische Seinsauffassung bis in die Gegenwart hinein, sondern vor allem auch gegen ein damit spätestens seit Galilei theoretisch-physikalisch ermöglichtes »Wissenschaftswissen«, das sich positivistisch als heute zumeist alleiniger Wahrheitszugang im Sinne von »Objektivität« versteht. 9 Gewisse Ausnahmen bilden für Henry in dieser transzendent-monistischen Traditionskette der Descartes der »II. Meditation«, Meister Eckhart, Maine de Biran, Fichte, Schopenhauer, Nietzsche, 10 Marx, Kandinsky sowie zuletzt ebenfalls ein radikal phänomenologisch oder johanneisch verstandenes Christentum. 11 Letzteres enthält gemäß M. Henry eine noch nicht mit aller Konsequenz genutzte selbstradikalisierte Phänomenologie des unaufkündbaren Selbstoffenbarungsprozesses originaire de la révélation par opposition au concept hégélien de manifestation (Erscheinung)«. 9 Vgl. M. Henry, Die Barbarei. Eine phänomenologische Kulturkritik, Freiburg/ München, Alber 1994 (Studienausgabe 2016); Affekt und Subjektivität. Lebensphänomenologische Beiträge zur Psychologie und zum Wesen des Menschen, Freiburg/ München, Alber 2005, 51–63: »Was die Wissenschaft nicht kennt«. Hierzu auch R. Kühn u. S. Nowotny (Hg.), Michel Henry. Zur Selbsterprobung des Lebens und der Kultur, Freiburg/München, Alber 2002; J.-F. Lavigne (Hg.), Michel Henry. Pensée de la vie et culture contemporaine, Paris, Beauchesne 2006. 10 Vgl. hierzu besonders M. Henry, »Heidegger, Descartes, Nietzsche: Schopenhauer et le ›courant souterrain‹ de la métaphysique«, in: Les Etudes Philosophiques 102/3 (2012) 307–313. 11 Vgl. R. Kühn, »Von der Glückseligkeit zur Inkarnation des absoluten Lebens (Nachwort)«, in: M. Henry, Radikale Religionsphänomenologie. Beiträge 1943–2001, Freiburg/München, Alber 2015, 337–368.

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Die reine Phänomenalität als Affektivität und ursprüngliche Einheit

des absoluten Lebens in »Gott« dank seines fleischgewordenen Wortes. Als inkarnierter »Sohn Gottes« oder »Christus« bildet dieses innergöttliche Wort für den Selbstbezug jeder lebendigen Subjektivität den originären Zusammenhang (religio wie ethos) von Fleisch und Leben in ihrer passiblen »Selbsterprobung«. 12 Aber eine solch »radikale Religionsphänomenologie« ist nicht in erster Linie als eine theologisierende Hermeneutik des Christentums zu lesen, 13 sondern vielmehr als eine streng phänomenologische Radikalisierung, die gegenüber dem klassischen philosophischen Transzendenz- oder postmodernen Differenzbegriff die nicht zu destruierende Verbindung von Leben/Lebendigem als absoluter Individuierung unterstreicht, das heißt als eine »Gabe« letztlich, die originär niemals zurückgewiesen werden kann, auch wenn sie existentiell verneint werden sollte. 14 Die Wirklichkeit unseres Zugangs zu solchem Leben impliziert folglich insofern eine Kritik der phänomenologischen Methode seit Husserl, als diese in einer noetisch-noematischen Wesensschau »zu sehen geben« will, was als Urimpression gerade nicht zur Schau gestellt werden kann, da jeder Eindruck zunächst nur unserem rein immanenten Selbstempfinden unterliegt. Ist solches Sich-Empfinden der eigentliche Grund als phänomenologische »Selbst-Gebung« (auto-donation) im Sinne eines rein affektiv-materialen Pathos ohne Gegenstandsinhalt, 15 dann muss die Gegen-Reduktion alles äußere oder transzendente Sein (Sinn, Symbolik, Diskurs) radikal aufheben. Nur so ist jene absolute Subjektivität rein phänomenologisch aufzuklären, die als unser Ursprungsleben keiner weiteren Einklammerung oder Differenzierung mehr unterliegen kann. Schon in der anfänglichen Phänomenologie bei Descartes übernimmt das reine Selbstempfinden des Traumes, des Schmerzes, der Bewegung usw. diese hyperbolische Epoché aller Vorstellung und Welthaftigkeit. Vgl. »Ich bin die Wahrheit«. Für eine Philosophie des Christentums, Freiburg/ München, Alber 1997; Inkarnation. Eine Philosophie des Fleisches, Freiburg/München, Alber 2002; Christi Worte. Eine Phänomenologie der Sprache und Offenbarung, Freiburg/München, Alber 2010. Dazu G. Dufour-Kowalska, Logos et absolu. Relire la phénoménologie du christianisme de Michel Henry, Louvain, Presses Universitaires 2916. 13 Vgl. Ph. Capelle (Hg.), Phénoménologie et christianisme chez Michel Henry. Les derniers écrits de Michel Henry en débat, Paris, Cerf 2004. 14 Vgl. dazu R. Kühn, Lebensreligion. Unmittelbarkeit des Religiösen als Realitätszugang, Dresden, Text & Dialog 2017, sowie zur allgemeinen Gabendiskussion heute Journal für Religionsphilosophie 3 (2014): Gabe – Alterität – Anerkennung. 15 Vgl. M. Henry, Auto-donation. Entretiens et conférence, Paris, Beauchesne 2004. 12

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Michel Henry und die Dekonstruktion der »Metaphysik der Vorstellung«

M. Henry 16 spricht deshalb auch genauer von einer »Gegen-Reduktion«, weil es keinen e-vident (videre) überprüfbaren, das heißt sichtbar kontrollierten Rückgang von der Welttranszendenz in die Lebensimmanenz hinein geben kann. Jede Epoché nimmt nämlich zu ihrer Ausübung als transzendentaler Vollzug die Lebensselbstaffektion als Kraft oder Potenzialität bereits in Anspruch, die keinem intentionalen »Zweifel an …« mehr unterliegt, da jede bejahende oder verneinende Idee als kategoriales oder (unendlich) reflexives Urteil mit der Reduktion der gesamten Welt als Sichtbarkeitsraum schlechthin dahin gefallen ist. Das transzendentale oder ursprüngliche Ego bricht daher erst als »Mich« in jenem Augenblick hervor, wo es für die Gegen-Reduktion weder Welt noch Zeit oder Vorstellung mehr gibt – und somit jeder ursprüngliche Raum als Horizont der Erscheinung bzw. »Lichtung« 17 zugunsten unserer reinen Impressionabilität zurückweicht. Als absolut »phänomenologische Materialität« kann dieses innere Beeindrucktsein keine Gegen-ständlichkeit oder Objektität im Sinne anschaulich feststellbarer oder vernunftlogisch deduzierter Erfahrung gemäß Kant mehr sein, 18 sondern nur noch das sich selbst genügende Leben als Affektivität, Sinnlichkeit, Trieb, Bedürfen, Begehren, Energie, Anstrengung usw. Letztlich ist allerdings selbst dieses reine Selbstempfinden als je individuiertes Pathos noch nicht der äußerste Grund des Selbsterscheinens des Erscheinens in seinem lebendigen Wie. Denn das reine Ego wird aus der Sicht eines phänomenologisch ewigen Prozesses der Lebensselbstoffenbarung – als »gottheitlicher« Un- wie Abgrund nach Meister Eckhart – tiefer noch als eben jenes rein passive »Mich« gegründet, 19 welches die absolute Empfänglichkeit des Lebens ohne irgendein Zutun unsererseits im Augenblick seiner ebenso unmittelbaren wie differenzlosen »Geburt« bedeutet.

16 Vgl. Radikale Lebensphänomenologie, 279 f.; Können des Lebens, 28–45: »Nichtintentionale Phänomenologie und Gegen-Reduktion«. 17 Vgl. ebenfalls J. G. Hart, »Intentionality, Phenomenality and Light«, in: D. Zahavi (Hg.), Self-awareness, Temporality and Alterity.Central Topics in Phenomenology, Dordrecht, Nijhoff 1998, 95–121. 18 Vgl. M. Henry, »Destruction ontologique de la critique kantienne du paralogisme de la psychologie rationnelle«, in: Studia Phaenomenologica 9 (2009): Michel Henry’s Radical Phenomenology, 17–54; Généalogie de la psychanalyse. Le commencement perdu, Paris, PUF 1985, 125–158: »La subjectivité vide et la vie perdue: la critique kantienne de l’âme«. 19 Vgl. M. Henry, »Ich bin die Wahrheit«, 186 ff.

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Die reine Phänomenalität als Affektivität und ursprüngliche Einheit

Die weiter geführte Konzeption einer solch »transzendentalen Geburt« impliziert in der Tat das Verlassen des »Ich denke« oder Cogito als den traditionellerweise für gewiss angenommenen Anfang der Phänomenologie. Jedoch bedeutet gerade die reine Passibilität unserer Geburt im Leben den singulären Gewinn einer unverlierbaren Selbstheit, die besagt, dass das wahre Ego nur auf dem Grund einer noch älteren Ipseität an sich selbst gegeben wird. In dieser »Selbstgebung« an sich selbst ist das Ego im Akkusativ als »Mich« in der Tat ohne jede Initiative; es »erleidet« vielmehr diese rein affektive »Lebensselbstumschlingung« in sich wie eine Gewalt vor jeder Freiheit. Aber nur dank dieses aller Zeit vorausgehenden »Ersten Sich« des Lebens als »Ur-Sohn« 20 in Gestalt des fleischgewordenen »Wortes Gottes« kann unser Ich überhaupt zu einem Sich oder Selbst (le soi) in dieser Lebens- oder Ur-Ipseität werden. 21 Insoweit diese letzte Sichtweise M. Henrys in seiner Werkgenese unter anderem kritisch gegen die Heideggersche »Daseins-Geworfenheit« als »Selbstheit« 22 bzw. Sartres situativ-dialektischen Freiheitsbegriff analysiert wird, die ihre Subjektdestruktion am bloß vorgestellten Selbst ausrichten, muss auch der Begriff von »Menschsein« ein fundamental anderer sein. 23 Das »Ich-kann«, welches jede lebendige Subjektivität ständig praktisch ausübt, verdankt sich nämlich weder der zeitlichen Bewegtheit in ihrer »Entschlossenheit zum Tode« hin (Heidegger) noch einem unendlichen Vernunftziel (Husserl), sondern vielmehr der genannten Lebensipseität als immanenter »Selbsterprobung« (épreuve de soi). Letztere vollzieht das Leben vor aller Zeit in sich selbst als seine nie aufhörende affektive »Selbstoffenbarung«, um jedem Lebendigen darin den effektiven Zugang zum Leben zu geben. Durch seine transzendentale Geburt wird unserem Ego folglich die »UrMächtigkeit« seines »Ich kann« als Potenzialität des Lebens selbst vermittelt, wodurch nicht nur die distanzlose Rückbindung an die in sich bewegte Selbstoffenbarung »Gottes« als »Kraft« gegeben ist. 24 20 Vgl. B. Kanabus, La généalogie du concept d’Archi-Soi chez Michel Henry, Hildesheim – Zürich – New York, Olms 2011. 21 Vgl. M. Henry, »Ich bin die Wahrheit«, 133 ff. 22 Vgl. Sein und Zeit, Tübingen, Niemeyer 111967, 316 ff. (§ 64); M. Henry, L’Essence de la manifestation, 448 ff. (§ 43 f.); dazu ebenfalls D. Giovannangeli, Le retard de la conscience. Husserl, Sartre, Derrida, Brüssel, Ousia 2001, mit entsprechenden Rückgriffen auf Heidegger. 23 Vgl. Affekt und Subjektivität, 33–50: »Die Kritik des Subjekts«. 24 Vgl. für eine ausführliche Analyse, auch wenn der Begriff des »Vitalismus« hierbei

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Vielmehr kann auf diese Weise auch die allumfassende Wirklichkeit der »subjektiven Praxis« 25 in den Gesamtentwurf einer phänomenologischen Kulturkritik gegenwärtiger Zivilisation und Gesellschaft bzw. ihres ästhetischen, ethischen und religiösen Gegenbildes eingehen. Dieses ist primär nicht vom »Widerstreit« durch an sich unversöhnbare Diskursformen im Sinne Foucaults und Lyotards geprägt, 26 sondern von der ihnen vorgängigen Erfahrbarkeit schlechthin als immanenter Einheit mit dem rein phänomenologischen Leben selbst. Besonders in »Philosophie et phénoménologie du corps« 27 behandelte Henry die Ontologie Pierre Maine de Birans als eine radikale Phänomenologie des »subjektiven Leibes« im Sinne des genannten »Ich kann«. Als Analyse der spezifischen »transzendentalen Apperzeption« bei Maine de Biran 28 führt diese Phänomenologie daher bereits eindeutig auf die korrelative »Urtatsache« von Ich/Welt hin, wie sie mit der Anstrengung (effort) gegeben ist. Jede sensitiv-kinästhetisch motivierte Anstrengung bedeutet in der Tat schon eine originär innere Bewegtheit, wodurch das Kontinuum meines Organleibes sich modifiziert, während die »Welt« für diesen sich von innen her bewegenden Leib eine nicht weiter zurückdrängbare »äußere« Widerständigkeit darstellt. 29 Die Welt ist damit nicht primär Gegenstand der Schau, wie wir schon zeigten, sondern nur durch diese lebendig affizierte Bewegungskraft gegeben, welche jede Empfindung als gleichzeitig apperzeptives Sich-Empfinden impliziert. Als »Gefühl der Anstrengung«, wie es Maine de Biran nennt, ist solches Empfinden aber für uns irreführend ist, G. Jean, Force et temps. Essai sur le »vitalisme phénoménologique« de Michel Henry, Paris, Hermann 2015. 25 Vgl. M. Henry, Radikale Lebensphänomenologie, 293 ff.; R. Kühn, Subjektive Praxis und Geschichte. Phänomenologie politischer Aktualität, Freiburg/München, Alber 2008. 26 Vgl. etwa M. Foucault, Die Wahrheit und die juristischen Formen, Frankfurt/M., Suhrkamp 2004; J.-F. Lyotard, Le différend, Paris, Minuit 1983 (dt. Der Widerstreit, München, Fink 21989). 27 Paris, PUF 1965; dieses Buch wurde erst nach L’Essence de la manifestation veröffentlicht, aber entstand vorher, das heißt Ende der 1940er Jahre, und bildet – abgesehen von der Magisterarbeit über Le bonheur de Spinoza – die erste philosophische Schrift Henrys. Gänzlich veröffentlicht wurde diese Spinoza-Studie zuletzt in J.-M. Longneaux, Etude sur le spinozisme de Michel Henry, 11–146. 28 Vgl. Von der unmittelbaren Apperzeption. Berliner Preisschrift 1807, Freiburg/ München, Alber 2008. 29 Vgl. hierzu R. Kühn, Pierre Maine de Biran – Ichgefühl und Selbstapperzeption. Ein Vordenker konkreter Transzendentalität in der Phänomenologie, Hildesheim – Zürich – New York, Olms 2006.

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nicht nur als genuin autonome Existenzerprobung (épreuve) zu werten, sondern es schließt zugleich das praktische Gedächtnis aller leiblichen und geistigen Vermögen ein, mit denen ein lebendiges Individuum durch die Lebensaffektion ausgestattet ist und in jeder Wiederholung als Iteration seines Könnens vom Ursprung solchen Lebens selbst her aktualisiert. Damit ist über Kant und Husserl hinaus die phänomenologische Originarität des »Ich kann« an das Wesen des sich zunächst nur passiv gegebenen Ego selbst gebunden, womit gleichzeitig eine Kritik der Konstitution und Egologie als rein intentionaler Aktsystematik des Bewusstseins vorbereitet ist, wie sie Henry dann zuletzt systematisch in »Incarnation. Une philosophie de la chair« von 2000 als »Umsturz der Phänomenologie« vollendet hat. In Bezug auf das postmoderne Körper- und Leibverständnis kann daher hier schon gesagt werden, dass die vorrangig von Trieben bewegte Leiblichkeit nicht nur eine ständige »Subjektivierung« und »Entsubjektivierung« durch Schmerz und Lust darstellt, 30 in deren individuelle Manifestation sich die historischen und gesellschaftlichen Machtstrukturen als Bio-Beherrschung einschreiben. 31 Vielmehr liegt diesen seit Freud wie Lacan postmodern der »Selbstsorge« anvertrauten ständigen Oszillationen des (libidinösen) Erlebens eine originäre Einheit des Lebens voraus, welche die lebensphänomenologisch nicht zu leugnende Grund-Affektabilität von Freude/Schmerz keineswegs zu einer bloßen »Beliebigkeit« des Empfindens werden lässt, wie oft eine oberflächliche Rezeption der Postmoderne im Sinne des anything goes lautet. Affektiv-geistige Lebensselbststeigerung als subjektive Praxis besagt demzufolge neben ihrem ökonomischen Aspekt der Produktion und Konsumtion eben auch stets ästhetische Praxis, um »das Unsichtbare zu sehen«, wie der Titel eines Kandinskybuches von Henry lautet, 32 wobei mit solcher prinzipiellen »Ästhetisierung« des Vgl. J.-F. Lyotard, Des dispositifs pulsionnels, Paris, Minuit 1973; M. Foucault, Histoire de la sexualité II. L’usage des plaisirs, Paris Gallimard 1984 (dt. Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit 2, Frankfurt/M., Suhrkamp 1986). 31 Vgl. M. Foucault, Naissance de la biopolitique. Cours au Collège de France 1978– 1979, Paris, Grasset 2004 (dt. Geschichte der Gouvernementalität II. Die Geburt der Biopolitik 2. Vorlesung am Collège de France 1978–1979, Frankfurt/M., Suhrkamp 2004); dazu S. Nowotny, »Der lebendige Körper der Macht und die Stimmen des Lebens. Lebensphänomenologie und Biopolitikanalyse«, in: S, Nowotny u. M. Staudigl (Hg.), Perspektiven des Lebensbegriffs. Randgänge der Phänomenologie, Hildesheim – Zürich – New York, Olms 2005, 319–344. 32 Voir l’invisible – sur Kandinsky, Paris, Bourin 1988; Können des Lebens, 63–75: 30

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Lebens nicht nur ein postmodernes Lebensgefühl grundsätzlich integriert wird, wie es auch schon bei G. Bataille 33 auftritt, sondern gleichfalls der Eindruck vermieden wird, der Leib sei – trotz aller phänomenologischen Radikalität – noch ein letztes metaphysische Einheitsprinzip als Substanz. Jede Ausübung individuell künstlerischen Schaffens entstammt nämlich in der Tat vielmehr jener »dynamischen« Ursprungsdimension, wo sich die sinnlichen Elemente des Kosmos, letztlich Farbe und Form, in der abgründigen Nacht der impressionalen Empfindung unsichtbar ergreifen, bevor sie sich wahrnehmbar im Kunstwerk und dessen Rezeption entfalten. Von einer Linie etwa sind so viele Variationen möglich, wie es innere »Schwingungen« dazu gibt, denn die Kraft der subjektiven »Ur-Leiblichkeit«, die sich in der Bewegung und Richtung einer Komposition mitteilt, entspricht innerlich der Lebensaffektion in deren ständigem Wechsel als modaler Gewissheit des Gefühls. Die Verfeinerung und Entwicklung, die sich aus solch ästhetischer Praxis wie Betrachtung für die Formung unseres Bedürfens und Begehrens an ihrer phänomenologischen Ursprungsstätte des »Ungrundes« selbst ergibt, folgt damit einem der wichtigsten Grundgesetze des Pathos. Jeder Affekt als Kraft, Trieb oder Begehren strebt zu einem »Mehr« (Nietzsche) hin, das zum unausschöpfbaren Wesen des Lebens selbst gehört, um seine Vermögen und Fähigkeiten miteinander als »Kom-possibilität« (Husserl) zur immanent empfundenen Vollendung zu bringen. Insofern ist die Lebensphänomenologie eine Philosophie der Fülle und des Glücks (bonheur) rein immanenter Teleologie, die sich gegen die dialektischen oder analytischen Denkweisen der »Negativität« von Hegel bis Freud oder Lacan 34 und darüber hinaus bis Jean-Luc »Das Geheimnis der letzten Werke Kandinskys«; dazu ebenfalls H. Bischof (Hg.), Kunst und Lebensphänomenologie. Untersuchungen im Anschluss an Michel Henry, Freiburg/München, Alber 2008. Vgl. für den postmodernen Kontext J.-F. Lyotard, Leçons sur l’Analytique du sublime (Kant, Critique de la faculté de juger, §§ 23–29), Paris, Minuit 1991 (dt. Die Analytik des Erhabenen (Kant-Lektionen, Kritik der Urteilskraft, §§ 23–29), München, Fink 1994), sowie seine Studien zu verschiedenen Malern wie Adami, Anakawa und Buren. Hierzu auch P. V. Zima, Ästhetische Negation. Das Subjekt, das Schöne und das Erhabene von Mallarmé und Valéry zu Adorno und Lyotard, Würzburg, Königshausen & Neumann 2018. 33 Vgl. L’Expérience intérieure, in: La Somme athéologique (Œuvres complètes V/1), Paris, Gallimard 1973, 131 ff. 34 Vgl. Lacan. Le maître absolu, Paris, Flammarion 1995. Es ist offenkundig, dass die durch Lacan (1921–1981) erneuerte Psychoanalyse viele postmoderne Themen wie Sprache ohne Subjekt etc. vor den postmodernen Autoren im engeren Sinne thema-

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Nancy 35 heute wendet. Denn die Affektivität ist in allen Lebensbereichen immer eine ethisch angestrebte Verwirklichung des Inneren, in der sich das Leben niemals von sich selbst abwendet – im Unterschied zur zeitlichen Existenz, wo Projekt und Ausführung als »Fraktur« oder »Sorge« stets auseinanderklaffen. Jeder einfache Blick gehorcht beispielsweise bereits einem affektiv-hyletischen »Interesse des Lebens« (Husserl), so dass unsere Einbildungskraft als grundsätzlich ästhetische Welteröffnung vor aller intentionalen Ausrichtung schon immer konkret affektiv bestimmt ist. Die Sinne, welche sich geeint auf die Welt hin entwerfen, werden insgesamt von demselben inneren Sich-Empfinden bewohnt, so dass das jeweilige Pathos als subjektive Modalisierung darüber entscheidet, was wir ertasten, sehen, hören usw. 36 In seiner reinen Immanenz folgt daher jeder Weltentwurf, ohne zunächst von außen beeinflusst zu sein, den ästhetischen Gesetzen der transzendentalen Affektabilität. Denn diese ist im fundamentalen Sinne ein selbstaffektives »Sich-Erleiden/Sich-Erfreuen« der originär passiblen Selbsterprobung des Lebens in sich selbst. Erwähnt sei an dieser Stelle daher auch, dass M. Henry Autor von vier Romanen ist, die eine »Meta-Genealogie des Lebens« in imaginär literarischer Form erzählen, deren Intrige das Pathos des Lebens als eine fiktive Narration für jedes mögliche individuelle Leben mit dessen gemeinschaftlichen Bezügen darstellt. 37 Die Grundstimmungen oder Tonalitäten solcher ästhetischpraktischen Sinnlichkeit als je konkrete Bestimmung unseres Bewusstseinslebens in allem Tun, Denken und Fühlen bilden demzufolge umfassend die Eigenschaft der Kultur, ohne sie totalitär in einer definitiven Repräsentation als »Weltanschauung« vereinheitlichen zu wollen, wogegen sich gleichfalls der postmoderne Diskurs im Sinne der »quasi-transzendentalen« Anerkennung des Singulären vor irgendeiner allgemeinen Form wendet, wie etwa bei J. Derrida. 38 Diese tisiert hat und so den Boden für eine entsprechende Entwicklung in Frankreich neben Bataille (1897–1962) und Blanchot (1907–2003) vorbereitete. 35 Vgl. seine Kunstinterpretation in Noli me tangere, Berlin, Diaphanes 2008. 36 Vgl. M. Henry, Die Barbarei, 116 ff. 37 Vgl. R. Kühn, Wie das Leben spricht: Narrativität als radikale Lebensphänomenologie. Neuere Studien zu Michel Henry, Chams (CH), Springer 2016, 277–312: »Henrys Romanwerk als Meta-Genealogie individuellen Geschicks«. 38 Zur Transzendentalität als gegen-reduktive »Aufmerksamkeit für das Leben« ohne bewussten oder unbewussten Machtanspruch insgesamt vgl. ebenfalls M. Maesschalck, »Radikale Phänomenologie und Normentheorie«, in: S. Nowotny u. M. Staudigl (Hg.), Perspektiven des Lebensbegriffs, 277–300.

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Kultur hat sich bis zur Moderne jeweils im unabtrennbaren Zusammenhang von Arbeit, Wirtschaft, Religion, Kunst, Ethik, Wissenschaft und alltäglichem Lebenswissen entfaltet, wozu auch Medizin und Therapie gehören. 39 Nachdem die naturwissenschaftliche Revolution Galileis in die technisch-szientistische Wahrheitsauffassung als alleinige »objektive Realität« einmündete, wie wir schon erwähnten, leben wir in einer bisher nie da gewesenen »Barbarei« nach M. Henry. 40 Es herrscht nämlich aufgrund einer methodologisch prinzipiellen Entscheidung nunmehr eine Zivilisation vor, die erstmals die Kultur als transzendentales Leben systematisch verbannt, und in dieser Hinsicht lässt sich sagen, dass die Henrysche »Barbarei«-Kritik nicht hinter der Ideologiekritik der Postmoderne seit der »Kritischen Theorie« Adornos etwa zurücksteht. 41 Galilei schied in der Tat die sinnlichen Erfahrungsqualitäten der Subjektivität wie Wärme, Farbe usw. aus der geometrisch-physikalischen Welterkenntnis aus, um zu einer durch Experiment und Messung allein gesicherten Erkenntnis des materiellen Universums zu gelangen. Nach Descartes, Newton, Leibniz und anderen, deren Denken Lyotard 42 zu den prägenden »Meta-Erzählungen« unserer abendländischen Tradition zählte, wird diese Methode heute mit ihrer allseits durchgeführten Mathematisierung (Algorithmen) bis in die Humanwissenschaften wie Biologie, Soziologie und Psychologie hinein angewandt. 43 Dabei wird diese zunächst rein methodologische Notwendigkeit im Positivismus der Neuzeit zu Ideologie und Religionsersatz, denn die Wissenschaft als Methode impliziert an sich keine allgemein ontologische Realitätsaussage. Durch die technisch-ökonomische Ausrichtung der Wissenschaften gewinnt die prinzipielle Ausscheidung der Subjektivität als »täuschendem« Wahrheitszugang im Sinne von »Schein« 39 Vgl. R. Kühn (Hg.), Pathos und Schmerz. Beiträge zur phänomenologisch-therapeutischen Relevanz immanenter Lebensaffektion, Freiburg/München, Alber 2017, mit dem grundlegenden Beitrag von M. Henry über »Leid und Leben« (2001), 13–26. 40 Vgl. Die Barbarei, 87 ff. 41 Zur aktuellen Debatte vgl. auch W. Schmied-Kowarzik, Die Vielfalt der Kulturen und die Verantwortung für die eine Menschheit. Philosophische Reflexionen zur Kulturanthropologie und zur interkulturellen Philosophie, Freiburg/München, Alber 2017; F. Jullien, Es gibt keine kulturelle Identität. Wir verteidigen die Ressourcen einer Kultur, Berlin, Suhrkamp 32018. 42 Vgl. Moralités postmodernes, Paris, Gallimard 1993, 13 ff. (dt. Postmoderne Moralitäten, Wien, Passagen 1998); L’Inhumain. Causeries sur le temps, Paris, Minuit 1989 (dt. Das Inhumane. Plaudereien über die Zeit, Wien, Passagen 1989). 43 Vgl. »Ich bin die Wahrheit«, 51 ff.

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zudem noch eine zusätzliche Zuspitzung im kapitalistischen System. Als »lebendige Arbeit« (Produktion) und »Lebensregenerierung« (Verbrauch) verschwinden die Individuen tendenziell aus dem zunehmend rationalisierten und digitalisierten Wirtschaftskreislauf, 44 um einer sich selbst regulierenden Technik Platz zu machen, deren globalisierende Eigenrechtfertigung nur ihre Weiterführung als »Nutzenkalkül« ohne jedes weitere ethische Denken als »Interesse am Leben« kennt, wie gleichfalls der schon genannte G. Bataille 45 als Vorreiter der Postmoderne diesen Neo-Kapitalismus im Namen von »Souveränität«, »Verausgabung« und »Übertretung« (transgression) in Frage stellte. Für diese umfassende Umwandlung der Erde, die selbst in allem als »Natur« zu Technik werden soll, 46 ist seit jüngster Zeit die Informatik als mediale Errichtung einer virtuellen Realität mit einzubeziehen. Hierbei gibt die subjektive Sinneserfahrung keine eindeutigen Kriterien von »Wahr« und »Falsch« mehr ab und wird daher simulierbar wie manipulierbar, anstatt dem Empfinden seine innere Gewissheit zu belassen. 47 Wie jedoch schon Nietzsche erkannte, verfällt ein kulturelles Leben, für dessen Grundmodalitäten wie Freude, Schmerz, Angst, Leidenschaft usw. keine individuellen und gemeinschaftlichen Austauschmöglichkeiten mehr bereit stehen, der »Krankheit des Lebens«. Die letzte Stufe derselben ist die Selbstzerstörung des Lebens unter ihren vielfältigen Formen von Selbstabdankung, Sucht, Fundamentalismen, Suizid oder Gewalt, so dass gefragt werden muss, ob die postmoderne Kritik am Allgemeinen und Prinzipienhaften metaphysischer Wesen als Herrschaft nicht schon längst ihrerseits von dieser neuen Entwicklung überholt wurde, ohne ihr von einem lebensphänomenologisch erneuerten Originaritätsdenken her wirklich eine andere Perspektive entgegengestellt zu haben. Denn das Leben ohne affektiven Austausch wird sich als seine eigene, abso44 Vgl. P. Ricœur, »Le Marx de Michel Henry«, in: Esprit (1979) 124–139; E. Angehrn u. J. Scheidegger (Hg.), Metaphysik des Individuums. Die Marx-Interpretation Michel Henrys und ihre Aktualität, Freiburg/München, Alber 2011. 45 Vgl. La part maudite, essai d’économie générale. I: La consumation (1949), Paris, Gallimard 1980 (dt. Der verfemte Teil, in: Die Aufhebung der Ökonomie, München, Hanser 1985, 33–234); dazu G. Bergfleth, Theorie der Verschwendung. Einführung in Georges Batailles Antiökonomie, München, Beck 1985. 46 Vgl. auch R. Kühn, Natur und Leben. Entwurf einer aisthetischen Proto-Kosmologie, Freiburg/München, Alber 2011, 127 ff. u. 262 ff. 47 Vgl. M. Henry, »Ich bin die Wahrheit«, 361 ff.

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lut subjektive »Last« selbst unerträglich, die es unter dem Gewicht der reinen Selbsterprobung ohne jede Fluchtmöglichkeit erfährt. Es erblickt dann keine nachvollziehbaren Verwandlungswege seines Sich-Erleidens in sein Sich-Erfreuen mehr, wie sie bisher die gesamte kulturelle Geschichtlichkeit der Generationenabfolge zur schöpferischen Nachahmung hinterlassen hatte. 48 Deshalb gehört zur inneren Notwendigkeit einer Kulturentwicklung der Zukunft, die Gegebenheit solcher Verwandlung für die einzelnen Individuen sowie im Miteinander offen zu halten, ohne in eine machtentfremdende mimesis zurückzufallen. 49 Dabei kann der postmoderne Grundsatz der Pluralität als prioritäre Anerkennung des je Einzelnen vor dem Allgemeinen – wie etwa in der erwähnten Kritik Batailles, Lacans, Foucaults, Lyotards und anderer – anerkannt werden. Zu fragen bleibt jedoch, ob damit eine vorgängige Einheit der Phänomenalisierung überhaupt prinzipiell ausgeschlossen bleibt, auch wenn diese lebensphänomenologisch eben nicht mehr über das Denken als Begriff und Vorstellung gesucht wird, um sich dergestalt nunmehr auch gegen den Totalisierungsversuch der alleinigen »Differe(ä)nz« als Credo in der Postmoderne zu wenden, 50 das heißt hier eine notwendige Diskussion für unsere weitere Kulturentwicklung anzustoßen.

2.

Zeit, Mitpathos und Unbewusstes als phänomenologische Zukunftsfragen

Die Doppelheit des Erscheinens von Welttranszendenz und Lebensimmanenz erlaubt es der Lebensphänomenologie demzufolge nicht nur, die dargestellte phänomenologische Grundwahrheit der ursprünglichen Gegebenheitsweise als Auto-donation zu vertiefen, Vgl. M. Henry, Die Barbarei, 189 ff. Vgl. R. Girard, La violence et le sacré, Paris, Gallimard, 1972 (dt. Das Heilige und die Gewalt, Zürich, Diaphanes 1987); für den Bezug zur postmodernen Diskussion um Nachahmung bei Opfern wie Tätern W. Palaver, René Girards mimetische Theorie im Kontext kulturtheoretischer und gesellschaftlicher Fragen, Münster, Aschaffenburg 2004. 50 Vgl. zum Überblick W. Welsch, Unsere Postmoderne, Weinheim, CH-Verlag 31991; Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft, Frankfurt/M., Suhrkamp 1995; M. Enders, Postmoderne, Christentum und Neue Religiosität. Studien zum Verhältnis zwischen postmodernem, christlichem und neureligiösem Denken, Hamburg, Verlag Dr. Kovaë 2010; A. Hübener u. a. (Hg.), Umstrittene Postmoderne. Lektüren, Heidelberg, Winter 2010. 48 49

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sondern auch bisherige Zentralprobleme der Philosophie, Kultur und Phänomenologie überhaupt neu aufzurollen. Denn durch den radikalisierten Ausgangspunkt, der die maßgeblichen praktischen meta-genealogischen Kategorien im unmittelbaren Lebenspathos schöpft und nicht mehr in einer bloß sinn- oder horizontorientierten Phänomenbeschreibung, 51 welche dem äußeren Wahrnehmungsmodell gehorcht, eröffnen sich originelle Zugänge zur Realitätsfrage als solcher. So ist bei Husserl das grundlegende Zeitproblem an die Erscheinung des sich wieder erinnernden Bewusstseins gebunden, das heißt an die Weise, wie das Bewusstsein die drei ek-statischen Zeitformen Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart in »passiver Synthesis« bildet. Die Lösung wird von ihm mit Hilfe der Intentionalität als Retention und Protention gesucht, wodurch die Frage der phänomenologischen Selbstgebung von vornherein als eine im Bewusstseinsfluss teleologisch orientiere Selbstkonstitution auftritt. Die klassische Phänomenologie vergibt damit ihre Chance, dem Ich einen wirklichen phänomenologischen Status zuzuweisen, denn die lebendige Subjektivität verliert sich für Husserl 52 in einem »Heraklitischen Fluss« mit einer bloß idealen Grenze als »Gegenwart« zwischen Protention und Retention. Hierbei ergibt sich letztlich die Auflösung der reinen Subjektivität, weil ihre unsichtbar verbleibende Uroffenbarung als rein affektiver Eindruck durch die genannten Ek-stasen der Zeit ersetzt wird. Auch wo Husserl – wie in den nachgelassenen Forschungsmanuskripten 53 – vermehrt von einer triebintentionalen »lebendigen Gegenwart« spricht, denkt er diese Frage der Urgegebenheit noch weiterhin in zeitlich konstitutiver Hinsicht. Die Seinsweise des reinen Ich bleibt hierbei eine zeitliche Fortsetzung (Iteration) von reflektiertem und reflektierendem Ich als der angeblichen Ureinheit von Selbstidentifikationen im »strömenden Bewusstseinsfluss« unseres inneren Erlebens. Diese im (passiv-hyletischen) Dunklen verharrende Seite der Ichbildung, welcher auf der anderen Seite die »wache« Intentionalität als heller Kontrast gegenüber steht, hat in der Nachfolge der Phänomenologie Husserls zu einer grenzenlosen Sinnaus51 Vgl. R. Kühn, Subjektive Praxis und Geschichte, Kap. II,6: »Kategorialität und praktische Wahrheitsgenese« (S. 176–208). 52 Vgl. Die Idee der Phänomenologie, Hamburg, Meiner 1986, 47. 53 Vgl. Analysen zur passiven Synthesis. Aus Vorlesungs- und Forschungsmanuskripten 1918–1926 (Husseriana 11), Den Haag, Nijhoff 1966; dazu auch detailliert R. Kühn, Husserls Begriff der Passivität. Zur Kritik der passiven Synthesis in der Genetischen Phänomenologie, Freiburg/München, Alber 1998.

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weitung als Hermeneutik geführt, 54 ohne dabei jedoch der Subjektivität eine wirklich lebendige Qualität zuerkennen zu können. Für dieses Vergessen ist die Lebensphänomenologie in der Lage, ein überzeugendes Motiv anzugeben, welches nach M. Henry eben in der Missachtung der immanenten Bewusstseinserlebnisse (cogitationes) als je bestimmter und konkreter Selbstaffektion unserer Eindrücke beruht. 55 Dabei sind Übereinstimmungen mit der Kritik an Husserls Zeitanalysen oder Heideggers ontologischem Präsenzgedanken bei Jacques Derrida 56 keineswegs zu leugnen, auch wenn sie zu unterschiedlichen Konsequenzen führen – bei Henry zur vorzeitlichen Selbstaffektion der Urimpression, bei Derrida zur Nachträglichkeit jeglichen Ursprungsdenkens. 57 Wie wir anfangs schon andeuteten, ist dieses Verkennen der ursprünglichen Lebensaffektion in der klassisch phänomenologischen Methode als solcher bis in die postmoderne Dekonstruktion hinein strukturell angesiedelt. Die phänomenologische Reduktion bedeutet nämlich seit Husserl eine Verabsolutierung der »reinen Schau« als alleiniger E-videnz, wodurch die theoretische Erkenntnis der lebendigen Subjektivität ohne Ausnahme der Intentionalität überantwortet bleibt. Sofern nämlich die Reduktion auf das reine Erfassen von idealen Wesenheiten abzielt, ist das ursprünglich transzendentale Leben als ein unsichtbares Leben grundsätzlich einem solchen Sehen entzogen. Außerdem wird der konkret affektive Charakter der immanenten »Erstgegebenheiten« unseres Bewusstseinslebens als das erfahrbare »Dies-da« eines absolut individuierten Eindrucks oder Gefühls durch wissenschaftlich verallgemeinerungsfähige Inhalte ersetzt. Die Methode der Husserlschen Wesensschau ist daher ständig bemüht, originäre »Selbstgegebenheiten« und sekundäre »Transzen54 Vgl. etwa P. Ricœur, Zeit und Erzählung, 3 Bände, München, Fink 1985–1991; M. Hähnel (Hg.), Memoria und Mimesis. Paul Ricœur zum 100. Geburtstag, Dresden, Text & Dialog 2013. 55 Vgl. M. Henry, Radikale Lebensphänomenologie, 63 ff.; Inkarnation, 87 ff. 56 Vgl. Marges de la philosophie, Paris, Minuit 1972, 31–78: »Ousia et Grammè. Note sur une note de Sein und Zeit« (dt. Randgänge der Philosophie, Wien, Pssagen, 1988); zur weiteren Diskussion über »Gegenwärtigkeit« als transzendentale Geburt auch J. Reaidy, Michel Henry, la passion de naître. Méditations phénoménologiques sur la naissance, Paris, L’Harmattan 2009, 71 ff. 57 Vgl. dazu S. Grätzel u. F. Seyler (Hg.), Sein, Existenz, Leben: Michel Henry und Martin Heidegger, Freiburg/München, Alber 2013; S. Laoureux, »Material phenomenology to the test of Destruction. Michel Henry and Derrida«, in: Studia Phaenomenologica 9 (2009) 237–248.

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denzen« als »mitgemeinte« Inhalte durch Abstraktion, Variation oder Fingieren untereinander zu versöhnen. Dies hat zur Folge, dass bloß »subjektive« oder »beliebige« Erscheinungen durch die Konstitutionsfrage verdrängt werden. Aber gerade ihr Weiterbestehen als Affekt, Begehren, Pathos etc. zeugt von der Unaufhebbarkeit der uranfänglich nicht-transzendenten Fülle des Lebens selbst, an der sich das Husserlsche Vorgehen immer wieder stößt: »Und wenn wir so weit sind, hilft alles nichts, wir müssen auch anerkennen, dass in gewisser Weise auch das Widersinnige, das völlig Absurde ›gegeben‹ ist. […] Prinzipiell können uns [jedes Wahrgenommene, Vorgestellte, Fingierte, symbolisch Vorgestellte, Absurdum] vor ihrer Klärung nicht hindern zu sagen, soweit wirkliche Evidenz reicht, soweit reicht Gegebenheit. […] Und überall handelt es sich nicht darum, beliebige Erscheinungen als gegeben festzustellen, sondern das Wesen der Gegebenheit und das Sichkonstituieren der verschiedenen Gegenständlichkeitsmodi zur Einsicht zu bringen.« 58 Die berechtigten Einwände schon vor der Postmoderne gegenüber einer solchen noch erkenntniskritisch von Form/Inhalt bzw. Teil/Ganzem und nicht rein phänomenologisch orientierten Phänomenologie 59 können aber auf der anderen Seite nicht die Frage angesichts der radikalen Lebensphänomenologie ihrerseits unterbinden, ob eine Phänomenologie des Unsichtbaren nicht ein Widerspruch in sich selbst sei? 60 Oder anders gefragt, wenn sich das rein selbstaffektive Leben prinzipiell jeder Schau oder Konstitution entzieht, ist es dann überhaupt möglich, irgendetwas darüber als Theorie oder Diskurs auszusagen? Dieser Grundeinspruch, auf den wir eingangs schon mit Hinweis auf das unhintergehbare Lebenspathos als Ur-Passibilität zu antworten versuchten, gliedert sich hier nochmals in zwei weitere kritische Hauptaspekte, nämlich in den Vorwurf des Solipsismus und in die Frage nach dem Anderen als alter ego, die gerade auch in der Postmoderne immer wieder diskutiert werden. 61 Im radikal E. Husserl. Die Idee der Phänomenologie, 73. Vgl. zum Beispiel K. Held, Lebendige Gegenwart. Die Frage nach der Seinsweise des transzendentalen Ich bei E. Husserl, entwickelt am Leitfaden der Zeitproblematik, Den Haag, Nijhoff 1966. 60 So D. Janicaud, Le tournant théologique de la phénoménologie française, Paris, Eclat 1999; als indirekte Kritik hierauf vgl. M. Henry, Inkarnation, 129 ff., über die Aporie der »bildlichen Gegebenheit«; gleichfalls »L’invisible et la révélation«, in: La curiosité (Série Morale), Paris 1993, 79–97. 61 Vgl. etwa J. Derrida, Psyché. Inventions de l’autre, Paris 1987. 58 59

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immanenten Werden des Lebens in sich selbst durch seinen eigenen Prozess als Selbstaffektion wird ein je einzelnes wie einzigartiges Sich als Individuum geboren, wie wir schon sagten. Ist aber ein solches Sich (soi), welches singulär von der rein phänomenologischen Materialität seines lebendigen Pathos hervorgebracht, gehalten und umschlossen wird, nicht eine in sich abgekapselte Subjektivität, das heißt eben ein solipsistisches Leben? Und wenn in solch rein phänomenologischem Leben tatsächlich die transzendentale Möglichkeit ruht, eine Phänomenologie der reinen Affektivität als Selbstheit außerhalb jeglicher Welt oder Differe(ä)nz bzw. jeden »Mangels« (Lacan) zu begründen, kann dann eine solche Selbstheit in ihrer Passibilität jemals mit einer anderen Ipseität gleicher Art in Beziehung treten? 62 Husserl hatte versucht, auf diese phänomenologische Problematik der »Intersubjektivität« oder »Fremderfahrung« ebenfalls mit der Intentionalität zu antworten, indem die Öffnung auf eine transzendente Welt hin zugleich auch jeden Bezug mit Anderen begründen soll. Denn wir nehmen alle eine Welt wahr, selbst wenn wir sie subjektiv je unterschiedlich erfahren. Falls aber das »In-der-Welt-Sein« jedes »Mitsein« trägt, um mit Heidegger zu sprechen, dann ist von vornherein das Wesentliche am »Anderen« verkannt, denn er tritt als ein alter ego auf, das in der Welt als ein »Ich« oder »Du« wahrgenommen wird, was immer die Vorstellung von einem gedachten Ego anstelle seines wahren oder lebendigen »Mich« einschließt. Das Ego des Anderen ist also nicht seine unmittelbar ko-pathisch erlebte Selbstheit, sondern es wird nach Husserl 63 als seine »Seele« über die einfühlende Wahrnehmung des fremden Körpers im Sinne einer psycho-physischen »Appräsentation« mit wahrgenommen. Die Anderen, sofern sie jeweils wie ich selber nur eine perspektivische Sicht von der Welt besitzen können, heben sich demzufolge von einer gemeinsam erfahrenen »Lebenwelt« ab, die dann objektiv in Wissenschaft und Philosophie – oder auch alltäglich naiv – idealisiert wird. Die Anderen legen, kurz gesagt, Zeugnis von dieser einen Welt ab, wodurch sie aber konstitutiv selbst davon abhängig gemacht werden, 1999 fand im Odéon-Theater in Paris eine öffentliche Debatte insbesondere zu diesem spezifischen Verhältnis von absolutem und individuiertem Leben, das heißt zwischen Ur-Ipseität (le Soi) und singulärem Ich (le soi) statt; vgl. M. Henry, Phénoménologie de la vie, t. IV: Sur l’éthique et la religion, Paris, PUF 2004, 205–247. 63 Vgl. Cartesianische Meditationen, 121 ff.; dazu M. Henry, »Reflexionen über die ›V. Cartesianische Meditation‹ Husserls«, in: Radikale Lebensphänomenologie, 213– 253. 62

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indem bei Husserl im letzten eben derselbe intentionale Wahrnehmungsblick auf Welt und Andere fällt. An dieser Schwierigkeit der transzendent verbleibenden »Fremderfahrung« ändert auch das postmoderne Konzept der »pluralen Singularität« nichts, 64 insofern die Pluralität im besten Fall nur ein je einzelnes perzipiertes bzw. weltbezogenes Individuum anerkennen kann, nicht aber dessen immanentes Selbstsein. Levinas hat diesen Pluralitätsgedanken der Postmoderne durch seine radikalisierte Phänomenologie des »Antlitzes« mitbegründet, postulierte jedoch offener weiterhin als die anderen postmodernen Autoren eine »Metaphysik der Transzendenz« als »Andersheit« oder »Jenseits des Seins« schlechthin. Aber selbst hier bleibt trotz des Rückgriffs auf eine »rekurrente Passivität« für den inneren metaphysischen Anruf des Anderen in meinem Selbst eine gewisse Anonymität gegeben, sofern das »Antlitz« wieder nur eine allgemeine Figur des Anderen darstellt – nicht aber als eine absolut subjektive Individuierung wirklich verstanden werden kann. 65 Paradoxerweise liefert nun gerade das rein phänomenologische Leben, welches sich auf nichts anderes als auf sich selbst bezieht, jenes »Medium«, worin sich jede nur denkbare Intersubjektivität als »Intropathie« im Sinne eines originär gemeinschaftlichen Mitpathos vollzieht. Wie wir schon ausführten, gelangt das Leben in der radikal immanenten Erprobung einer jeden Subjektivität in sich selbst und ergreift dadurch seine eigene Existenz. Jedoch ist diese Ipseität nicht nur ein Sich, welches sich einmalig individuell in der Lebenspassibilität gründet, sondern in diesem selbstaffektiven Pathos ereignet sich alles, was dieses Sich überhaupt affizieren kann. Folglich teilt sich insbesondere auch das »Sein« der »Anderen« jeweils auf dem Grund dieser pathischen Affektion mit, was bedeutet, dass das ego wie alter ego beide einen gemeinsamen Ursprung als gemeinschaftliches Wesen besitzen. Sie sind unmittelbar transzendental Lebendige füreinander und treten als solche in einen Beziehungsaustausch – als

Vgl. J.-L. Nancy, Être singulier pluriel, Paris, Galilée 1996 (dt. singulär plural sein, Berlin, Diaphanes 2005). 65 Vgl. E. Levinas, Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg/München, Alber 31992, 140–153: »Intentionalität und Metaphysik«; 316 ff.; Autrement qu’être ou au-delà de l’essence, Den Haag, Nihoff 1974 (dt. Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg/München, Alber 1992); Entre nous, Essais sur le penser-à-l’autre, Paris, Grasset1991, hier bes. 245– 249: »Sur l’idée de l’infini en nous«. 64

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Liebende, Hassende, Indifferente zum Beispiel, und zwar vor jeder bestimmten Vorstellung vom wahrgenommenen Anderen. Dies vermag anschaulich das »Mutter-Kind«-Verhältnis zu verdeutlichen, wo das Kind noch ganz von seinem Affekt als leiblich affiziertes wie affizierendes Wesen getragen ist, ohne schon die welthafte Vorstellung »Mutter« oder »Vater« überhaupt begrifflich irgendwie gebildet zu haben. Wenn daher das Leben grundlegend eine transzendentale Affektivität in all seinen Äußerungen darstellt, dann gewinnt jede Form von Intersubjektivität, die daraus ihre Motive schöpft, den Charakter eines Mitpathos. 66 Dementsprechend gewinnt auch der Begriff des »Unbewussten« bei Freud eine radikal phänomenologische Bedeutung, denn er versteht sich als Gegensatz zur direkt einsehbaren Phänomenalität der Ideenwelt. Dies schließt aber bei Freud noch ein, dass das Unbewusste als Negation seines Gegenteils nur von diesem selbst her verständlich bleibt. Was beabsichtigt die psychoanalytische Theorie und Praxis nämlich anderes, als jene Bedingungen konkret auszumachen, unter denen ein als unbewusst deklarierter psychischer Prozess bewusst zu werden vermag oder nicht? Wie könnten aber diese Bedingungen definiert und in der Kur oder Therapie als »Übertragung« verwirklicht werden, falls nicht zuvor geklärt wurde, worin die »Bewusstheit« im Sinne Freuds besteht, das heißt noch nicht – oder auch gar nicht mehr – als möglich erscheint? Hier hilft der lebensphänomenologische Begriff eines zweifachen oder heterogenen Erscheinens ebenfalls weiter, da er das Verständnis des analytisch-therapeutischen Unbewussten aufgreifen und verändern kann. In der Tat definiert Freud seine Auffassung vom Unbewussten ausdrücklich im Zusammenhang mit der traditionellen Idee von Phänomenalität, welche als vorstellendes Bewusstsein bestimmt ist, um diesem nur die alleinige Existenz für das Bewusstseinsleben abzusprechen, wie es Vergessen und Wiedererinnern zum Beispiel zeigen: »Wir wollen nun die Vorstellung, die in unserem Bewusstsein gegenwärtig ist und die wir wahrnehmen, ›bewusst‹ nennen und nur dies als Sinn des Ausdrucks ›bewusst‹ gelten lassen; hingegen sollen latente Vorstellungen, wenn wir Grund zur Annahme haben, dass sie im Seelenleben vorhanden sind – wie es

66 Vgl. M. Henry, Radikale Lebensphänomenologie, 213 ff.; Affekt und Subjektivität, 140–162: »Mitpathos als Gemeinschaft«; »Textes inédits sur l’expérience d’autrui«, in: Revue Internationale Michel Henry 2 (2011) 16 ff.

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beim Gedächtnis der Fall war – mit dem Ausdruck ›unbewusst‹ gekennzeichnet werden.« 67 Wenn jedoch das originäre Erscheinen unsichtbar bleibt und sich in einem Pathos selbstaffiziert, dessen Sicherfreuen und Sicherleiden der rationalen Bewusstseinsvorstellung fremd ist – welchen Bezug unterhält dann das Unbewusste im Freudschen Sinne mit dieser uranfänglichen Selbsterprobung des Lebens in uns? Ist das »Unbewusste« dann deren Verneinung oder eher ein anderer Name dafür, auch wenn er unglücklich gewählt ist und aus der Philosophie des 19. Jahrhunderts übernommen wurde, wie beispielsweise bei Schelling und Schopenhauer? 68 Meint solch ein Unbewusstes der sich etablierenden Psychoanalyse um 1900 das tiefste Wesen unserer lebendigen Subjektivität, welche von der »Metaphysik der Vorstellung« seit den Griechen verkannt wird? Freud kündigt also den Paradigmenwechsel der Lebensphänomenologie in gewisser Weise an, auch wenn er das Erbe der genannten Tradition aufgreift, und zwar indem er darauf hinweist, dass der Affekt selbst nie unbewusst ist, sondern nur die in der »Verdrängung« damit verbundene Vorstellung. An die Stelle eines mechanistischen oder energetisch-naturalen bzw. dynamischkonfliktuellen Triebverständnisses vermag daher die lebensphänomenologische Sichtweise von der Lebensimmanenz als Affektaustausch zu treten, der nach lebendiger Selbststeigerung verlangt. Denn der Affekt ist ein sich seiner selbst gewisses inneres »Lebenswissen«, das keine Andersheit als Welt benötigt, um als Trieb wie Begehren zu sein. Oder mit Freuds 69 eigenen Worten ausgedrückt: »Wenn wir den ursprünglichen Zusammenhang wieder herstellen, heißen wir die ursprüngliche Affektregung eine ›unbewusste‹, obwohl ihr Affekt niemals unbewusst war.« Und wenn schließlich nach Freud die Angst den »notwendigen Durchgang« all unserer Affekte bildet, dann muss ich deren innere Pathoserprobung bereits in mir tragen, um über-

S. Freud, Gesammelte Werke, Bd. 8, Frankfurt/M., Fischer 1943, 431 (»Einige Bemerkungen über den Begriff des Unbewussten in der Psychoanalyse«); vgl. auch M. Henry, Affekt und Subjektivität, 106–123: »Phänomenologie und Psychoanalyse«. 68 Vgl. M. Henry, Können des Lebens, 46–62: »Die Frage der Verdrängung nach Schopenhauer und Freud«. 69 Gesammelte Werke, Bd. 10, Frankfurt/M., Fischer 1946, 276 (»Triebe und Triebschicksale«). 67

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haupt zum »Bewusstsein« der affektiven Verhältnisse gelangen zu können, wie M. Henry aufweist. 70 Der Untertitel »Le commencement perdu« von »La généalogie de la psychanalyse«, worin Henry 1985 diesen Fragen grundsätzlich nachging, sagt bereits sehr deutlich, dass der offen zu legende Verlust der »Seele« als rein phänomenologisches Leben auf dem ideengeschichtlichen Weg von Descartes bis Freud über Malebranche, Kant, Schopenhauer und Nietzsche eine strukturelle »Meta-Genealogie« dieser Entwicklung erfordert. Welche philosophischen, epistemologischen und psychologischen Entscheidungen wurden in der Tat gefällt, um den absolut phänomenologischen Ursprung der lebendigen cogitatio vergessen zu lassen, die Descartes 71 im videre videor prinzipiell angedacht hatte? Nach Henry war dies die Entscheidung für eine metaphysische Wissenschaftsbegründung bei Descartes, bzw. für das formale, subjektentleerte »X« des »Ich denke« bei Kant, wie wir schon erwähnten, 72 sowie für den letztlich pessimistisch teleologisch gedeuteten Willen bei Schopenhauer und für das »blinde« Unbewusste in Freuds Topik. Allein Nietzsche hat nach Henry eine Lebensphänomenalisierung konzipiert, welche der Notwendigkeit einer Manifestation des lebendig »Ur-Einen« im rein Affektiven als der Gemeinsamkeit von Dionysos (Trieb) und Apollo (Vorstellung) am

Vgl. dazu auch Stanford Literature Review 2 (1989): Michel Henry. Philosophy and Psychanalysis; K. Wondracek, Psychoanalyse und Lebensphänomenologie. Ein Beitrag zur Klinischen Psychologie, Freiburg/München. Alber 2013; R. Kühn, Begehren und Sinn. Grundlagen für eine phänomenologisch-tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und Supervision – zugleich ein Beitrag zu Jacques Lacan, Freiburg/ München, Alber 2015, Kap. I,3.3: »Psychoanalyse und Lebensphänomenologie« (S. 187–210); N. M. Proenca, »Inconscient et refoulement selon la phénoménologie de la vie«, in: Revue Internationale Michel Henry 7 (2016) 35–52. Über die schon seit Minkowski und Sartre gegebene Debatte in Frankreich, welche Phänomenologie am ehesten der Psychoanalyse entsprechen könnte, vgl. H.-D. Gondek u. L. Tengelyi, Neue Phänomenologie in Frankreich, 260–317. 71 Vgl. Meditationen über die Grundlagen der Philosophie (Hg. L. Gäber), Hamburg, Meiner 1959: 51»Aber es scheint mir doch (videre videor), als ob ich sähe, hörte, Wärme fühlte, das kann nicht falsch sein, das eigentlich ist es, was an mir Empfinden (in me sentire) genannt wird, und dies, genau so verstanden, ist nichts anderes als Bewusstsein (cogitare).« 72 Vgl. unsere vorherige Anm. 18; dazu ebenfalls F. Calori, »La vie perdue? Michel Henry lecteur de Kant«, in: J.-M. Brohm u. J. Leclercq (Hg.), Dossier Michel Henry, Lausanne, L’Age d’homme 2009, 246–259. 70

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nächsten kommt. 73 Dies macht zugleich auch verständlich, warum Nietzsche ebenfalls bei den meisten postmodernen Autoren wie etwa Bataille oder Foucault eine Schlüsselfigur darstellt. Bei ihnen steht allerdings der Übergang vom »Tod Gottes« zum »Tod des Subjekts« als reine Diskursausgeliefertheit ohne weitere personale Substanz mehr im Vordergrund 74 als die Proto-Phänomenologie des abgründigen Lebens bei Nietzsche gemäß der Lektüre Henrys, 75 auch wenn natürlich Werteumsturz und Triebprimat eine wichtige Rolle für die Postmoderne spielen. Dies bedeutet für eine Auseinandersetzung mit der Postmoderne, dass weder eine univok anerkannte transzendente Andersheit des »Anderen« noch die daraus sich ergebende »Pluralität« (Levinas, Deleuze, Foucault) nur einen ständigen »Sinnaufschub« mit ihren diskursiven »Intervallen« (Lacan, Derrida, Nancy) impliziert. Eine solche Sichtweise trifft nur für die Vorentscheidung einer begrifflichen oder hermeneutischen Sinnidentität zu, aber die Pluralität der Kulturen und Religionen im Verstehenshorizont der Welt widerspricht keineswegs – innerhalb solcher Pluralität selbst – der pathischen Gemeinschaftlichkeit des Lebens aller, auch wenn hierbei von jedem Versuch einer totalitär ideologischen oder politischen Vereinheitlichung prinzipiell zu lassen ist. Wenn es daher möglich ist, mit der Lebensphänomenologie philosophische, psychologische, kulturelle, gesellschaftliche wie auch interreligiöse Fragen zu erneuern, ohne aufzuhören, eine streng phänomenologische Analyse auf dem Boden von Immanenz und Einheit zu betreiben, 76 dann ist dies ein zusätzlicher Hinweis für die Fruchtbarkeit ihres Ansatzes. Nach der antiken und mittelalterlichen Bestimmung des Menschen als »vernunftbegabtem Wesen« und »endlichem Geschöpf« hat die neuzeitliche Philosophie vor allem das Subjektsein (Descartes) oder den Sorgecharakter des Daseins (Heidegger) als das Wesensmerkmal des Menschen unterstrichen. Aber dabei wird nicht bedacht, dass eben aller ichhaften oder intentionalen Person- oder Aktzentrierung (Scheler) Vgl. dazu auch R. Kühn, Lebensreligion, Kap. III,7: »Affektiv Ur-Eines bei Nietzsche« (S. 155–174). 74 Vgl. K. Ruhstorfer, Konversionen. Eine theologische Archäologie der Bestimmung des Menschen bei Foucault, Nietzsche, Augustinus und Paulus, Paderborn, Schöningh 2004, 47 ff. 75 Vgl. Généalogie de la psychanalyse, Kap. VII–VIII; Die Barbarei, 114 f. u. 218 f. 76 Vgl. M. Enders (Hg.), Immanenz und Einheit. Festschrift zum 70. Geburtstag von Rolf Kühn, Leiden – Boston, Brill 2015. 73

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einschließlich möglicher Identitätsdissoziationen an den Rändern des Bewusstseins 77 eine originär phänomenalisierende Passibilität voraus liegt, die als absolut phänomenologische Lebensempfänglichkeit schon all unsere Vermögen in geistiger wie praktischer Hinsicht in sich birgt 78. Kann also eine radikalisierte Phänomenologie das »Mich im Akkusativ« als unsere eigentlich selbstaffektive Geburt im Leben erweisen, dann ist damit zugleich der postmoderne Vorwurf überwunden, der Subjektivitätsbegriff gehöre insgesamt allein einer überkommenen Metaphysik an. 79 Vielmehr sind die bisherigen und neueren transversalen Konzepte der Philosophie wie Human- wie Kulturwissenschaften ihrerseits auf eine Überdeterminiertheit hin zu befragen. Denn sie benutzen alle den Lebensbegriff, wie etwa bei Georges Bataille, Maurice Merleau-Ponty oder Gilles Deleuze, nur im Sinne von »Animalität«, »Undurchsichtigkeit« und »Schweigen«, ohne diese Charaktere als notwendig unsichtbare Erscheinensweise des immanenten Lebens in seinem subjektiv-affektiven Pathos selbst aufzuklären. 80 So hat sich die Lebensphänomenologie einerseits in ihrer kritisch destruktiven Arbeit gegen die fast gesamte bisherige philosophische Tradition zu begründen, jedoch fehlt andererseits keineswegs der Bezug auf sie innerhalb der phänomenologischen Kernauseinandersetzungen heute betreffs des originären Erscheinens. 81 Die Frage nach der »Erfahrbarkeit« eines »phänomenologisch Unsichtbaren« ist daher mit der nicht länger abweisbaren Problematik einer anderen Phänomenologie als der bisher intentionalen, hermeneutischen oder dekonstruktiven Denkweise verbunden.

Vgl. M. Titze, Organisation des Bewusstseins: Typenstrukturierte Sinnzusammenhänge in den Welten des normalen, abnormalen und paranormalen Alltags, Freiburg/München, Alber 2011. 78 Vgl. auch F. Seyler, »Sorge und immanente Affektivität – eine praktische Synthese?«, in: S. Grätzei u. F. Seyler (Hg.), Sein, Existenz, Leben, 221–240. 79 Vgl. J. Derrida, Marges de la philosophie, 129–164: »Les fins de l’homme«. 80 Vgl. etwa R. Barbaras, »Le corps selon M. Henry et M. Merleau-Ponty«, in: J. C. Goddard u. M. Labrune (Hg.), Le corps, Paris, Vrin 1992, 245–255; Le désir et la distance. Introduction à la phénoménologie de la perception, Paris, Vrin 1999; Vie et intentionnalité. Recherches phénoménologiques, Paris, Vrin 2005; S. Laoureux, »Affektivität, Spektralität und Historizität. Beitrag zu einer Marx-Debatte zwischen Michel Henry und Jacques Derrida«, in: E. Angehrn u. J. Scheidegger (Hg.), Metaphysik des Individuums, 220–246. 81 Vgl. M. Fichant, »Michel Henry et l’histoire de la philosophie«, in: J.-M. Brohm u. J. Leclercq (Hg.), Dossier Michel Henry, 260–270. 77

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Zur letzteren sind auch die sprachanalytischen und kognitivistischen Weiterentwicklungen mit ihrer jeweiligen Bedeutung für die Anthropologie und Gesellschaftswissenschaften zu zählen. 82 Wie aufgezeigt wurde, geht es jedoch um einen epistemologischen Paradigmenwechsel oder besser »Umsturz« überhaupt innerhalb der Wahrheitsdiskussion heute. Dabei können weder Sprache noch Geschichte oder neuerlich die Neurowissenschaften eine letztlich transzendentale Wirklichkeit material-phänomenologisch bezeugen, sofern alle intentionalen Verweisstrukturen immer idealisierend – und damit irrealisierend – sind, wie dies schon Husserl 83 bahnbrechend in seiner Kritik an Psychologismus und Szientismus um 1900 gezeigt hat. Ist phänomenologische Wahrheit letztlich in ihrem Selbsterscheinen konkret an eine lebendig leibliche Ermöglichung gebunden, dann vermag auch nur ein solch transzendental leibliches Leben als affektive Selbsterprobung für einen solchen Ab-grund als praktische Gewissheit zu zeugen. Und bildet die transzendentale Affektwirklichkeit bzw. Affektabilität als unmittelbar subjektives »Lebenswissen« den vorsprachlichen »Logos« des Lebens selbst, dann kann außerdem keine analytische, pragmatische oder strukturalistische Sprachphilosophie das letzte Verständnis unseres Sprechens als »Wort«, »Ausdruck« und (herrschaftsfreie) »Kommunikation« bilden. 84 Die Sprache als originäres Sich-Sagen-Wollen ist nur möglich, weil sie ständig dem inneren transzendentalen Leben jenes subjektiv begehrende Wissen entlehnt, welches sie als Bedeutungs- und Sinntranszendenz dann selbst intentional innerhalb bestimmter Sprachsysteme (langue) ausbildet. In Bezug auf die Wirklichkeit als Referenz jeglicher Sprache ist letztere eine Irrealität, denn nur indem ich schon selbstaffektiv weiß, was Wollen, Begehren, Mitteilen, Abstrahieren, Handeln usw. »sagen« wollen, kann ich mir diese Vollzüge auch als »Bedeutungen« (Signifikat) vorstellen und sprachlich formulieren. 85

Vgl. bereits R. Kühn, Wort und Schweigen. Phänomenologische Untersuchungen zum originären Sprachverständnis, Hildesheim – Zürich – New York, Olms 2005, hier bes. 89 ff. u. 195 ff. 83 Vgl. Formale und transzendentale Logik. Versuch einer Kritik der logischen Vernunft, 2. Auflage 1929, Tübingen, Niemeyer 1981. 84 Vgl. S. Kattelmann, Liebe als Kommunikationsmedium und als Affektion. Die Systemtheorie von Niklas Luhmann und die Lebensphänomenologie von Michel Henry im Vergleich, Nordhausen, Bautz 2011. 85 Vgl. M. Henry, Affekt und Subjektivität, 64–90: »Pathos und Sprache«. 82

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Auch hier gilt, dass die postmoderne Kritik eines »Phonozentrismus« als unmittelbare Ich- und Sinnpräsenz geteilt werden kann, 86 aber daraus folgt keineswegs, dass damit alle Möglichkeiten für eine originäre »Offenbarung« ausgeschöpft sind, wie dies auch Jean-Luc Marion gegenwärtig über seine phänomenologischen Untersuchungen der »Gegebenheit« (Donation) als »Sättigung« weiterführend zeigt. 87 Denn selbst Lacan 88 mit seinem anfänglich subjektlosen, analytisch-sprachlichen Strukturalismus muss in seiner Spätphase die affektiv-leibliche lalangue als primäre Gegebenheit unabhängig von der zunächst angenommenen diskursiv-symbolischen Überfrachtung anerkennen, wie er es besonders im literarischen Werk von James Joyce im Zusammenhang mit der Symptombildung untersucht. Dadurch wird im Übrigen die Postmoderne selbst mit ihrem eigenen Diskursapriori konfrontiert, welches weitgehend die Machtstrukturen der gesellschaftlichen Sprache als intersubjektives Anerkennungsproblem und die individuellen Affektionen in Schmerz und Lust (Foucault) nur miteinander konfliktuell parallelisieren kann, ohne hierbei eine mögliche gemeinsame Fundierung zu erkennen zu geben. Denn auch »Macht« verbirgt sich zunächst nicht nur in Diskurs und Espistemé, sondern wird zunächst inner-affektiv generiert, wie M. Henry dies über seinen »Barbarei«-Begriff zeigen kann. 89 Sieht man schließlich eine diesbezüglich künftige Ethik an die Tatsache gebunden, dass bisher nur die Welttranszendenz (einschließlich Zeitlichkeit und Geschichte) als begrenzter Bereich des Erscheinens von der (dekonstruktiven) Phänomenologie berücksichtigt wurde, dann wird die Krise der Weltglobalisierung und Digitalisierung dahin führen, prinzipiell zu fragen, ob das »unsichtbare Leben« überhaupt erkenntniskritisch noch in Anschlag gebracht oder ganz

Vgl. J. Derrida, Die Stimme und das Phänomen. Einführung in das Problem des Zeichens in der Phänomenologie Husserls, Frankfurt/M., Suhrkamp 2003, sowie auch in anderer Art und Weise für einen analytisch-sprachlichen Strukturalismus J. Lacan, Ecrits I, Paris, Seuil 1966, 111–208: »Fonction et champ de la parole et du langage en psychanalyse«. Dazu ebenfalls S. Till, Die Stimme zwischen Immanenz und Transzendenz. Zu einer Denkfigur bei Emmanuel Levinas, Jacques Lacan, Jacques Derrida und Gilles Deleuze, Bielefeld, Transcript 2013. 87 Zur Diskussion vgl. H.-B. Gerl-Falkovitz (Hg.), Jean-Luc Marion. Studien zum Werk, Dresden, Text & Dialog 2013. 88 Vgl. Struktur. Andersheit. Subjektkonstitution, Berlin, August Verlag 2015; Le Séminaire XXIII: Le sinthome, Paris, Seuil 2005, 11 ff. u. 65 ff. 89 Vgl. Die Barbarei, 295 ff. 86

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verleugnet werden wird. Die Phänomenologie ist nicht deshalb unverzichtbar für eine solche Entwicklung, weil sie in der Vergangenheit glanzvolle Forschungsergebnisse und Denkdurchbrüche hervorbrachte, die unsere Kenntnis der Bewusstseins- oder Daseinsweisen unendlich erweiterten, sondern weil im Gegenteil eine fundamental weitere Arbeit noch auf sie wartet. Jede Sphäre der Wirklichkeit muss Gegenstand einer neuen Analyse werden, um sie eben bis zu ihrer unsichtbaren Dimension zurückzuführen, wo sich affektiv-leiblich das Leben als Ursprung rein manifestiert. Dabei ist ein nicht leicht zu vermeidendes Missverständnis darin gegeben, die selbstaffektive oder pathische Immanenz als eine »innere Welt« aufzufassen, das heißt als eine »Welt der Gedanken und Gefühle« im Sinne der »schönen Seele« (Hegel). Eine solche Innerlichkeit wäre aber nur eine Variante des äußeren Weltbegriffs, denn seit Descartes bedeutet das reine Ego keine Weltflucht nach innen, sondern die gegen-reduktive Aufklärung jeglichen Weltbezugs schlechthin durch die praktisch affektive Kraft solcher Weltwerdung, sei diese apriorisch, intentional, logisch, ökonomisch oder ästhetisch. Jeder Weltgehalt bildet, anders gesagt, eine »Selbstobjektivierung des Lebens«, während die Vor-stellung oder Re-präsentation davon jeweils nur eine sekundäre Wiederholung der ursprünglich impressionalen Selbstgegebenheit zu sein vermag. 90 Der selbstvergessene oder immemoriale Ab-grund des Lebens bildet somit die transzendental konkrete Möglichkeit jeder Welt überhaupt, einschließlich der postmodernen Betonung vielfältiger Diskurs- und Kulturformen. Und deshalb ist die Immanenz selbst keine Welt, wozu auch die als »Fremdwelt« (Husserl) erlebten Ränder und Ausschließungen gehören. 91 Vielmehr bleibt das originär passible Prinzip der rein phänomenologischen Weise des Erscheinens für alle Erfahrung gültig, an das keine Begriffsphilosophie, wissenschaftliche Empirie oder Diskursrhetorik jemals heranreicht.

Vgl. M. Henry, Radikale Lebensphänomenologie, 87 ff.; »Ich bin die Wahrheit«, 326 ff.; »Ethik und Religion in einer Phänomenologie des Lebens«, in: Radikale Religionsphänomenologie, 285–297; dazu auch F. Seyler, Eine Ethik der Affektivität: Die Lebensphänomenologie Michel Henrys, Freiburg/München, Alber 2010, 40 ff.; R. Kühn, Lebensethos. Inkarnatorische Konkretionen originärer Lebensreligion, Dresden, Text & Dialog 2017, 27 ff. 91 Vgl. K. Held, »Heimwelt, Fremdwelt, die eine Welt«, in: Phänomenologische Forschungen 24–15 (1991): Perspektiven und Probleme der Husserlschen Phänomenologie, 305–337. 90

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Michel Henry und die Dekonstruktion der »Metaphysik der Vorstellung«

Die beiden Bände Henrys seiner ebenfalls sehr umfangreichen Marxmonographie 92 von 1973 sind dementsprechend eine stringente Anwendung der radikal phänomenologischen Analyse einschließlich der Biranschen Leibphilosophie auf den Wirtschaftsbereich und die Politische Ökonomie, um vor allen abstrakten Äquivalenten wie Lohn, Mehrwert, Kapital, Zins usw. die »subjektive Arbeit« der Individuen als allein wertschaffenden Faktor in größter Nähe zum Marxschen Text auszumachen. Die Marxsche Ideologiekritik an Hegel 93 bietet zugleich die Möglichkeit, das Verhältnis von Repräsentation und pathisch verwurzelter Arbeit als Realitäts- oder Wahrheitsentfaltung zu beleuchten, so dass nämlich hierbei die Ideologie als Vorstellung zwar eine Notwendigkeit ist, sobald die Individuen und gesellschaftlichen Gruppen in den (zeit-)vermessenden Äquivalentenaustausch miteinander eintreten, aber nicht die originäre Produktion durch Arbeit selbst betrifft, welche an die immanente »Nacht« der Passibilität der fleischlichen Leiblichkeit zurückverweist. Kritisch deckt dieses Buch somit – gegen den damals vorherrschenden marxistisch postmodernen Strukturalismus bei Louis Althusser 94 – eine tendenzielle Zurückdrängung heute der subjektiven Arbeit als Produktionsfaktor ebenso auf wie eine Abnahme der Konsumtion mangels Lohnangemessenheit für breite Schichten der Bevölkerung. Dadurch entsteht die entscheidende Zukunftsfrage, wie die Menschen mit der Gesamtheit ihrer subjektiven Potenzialitäten umgehen werden, falls der Arbeitsrhythmus nicht mehr – wie in den Generationen zuvor – das tägliche Leben allgemein regelt. Das Buch »Du communisme au capitalisme« 95 ist eine Weiterführung dieser Analysen in Bezug auf die Ost/West-Ereignisse Ende der 1980er Jahre in Europa, und zwar unter der leitenden Idee eines janusköpfigen »Todes« durch doktrinäre und technische Objektivierung in den beiden Gesellschaftsformen von Sozialismus und Kapitalismus, die sich gegenwärtig unter der Paris, Gallimard 1973 (Neuaufl. 1990), Bd. I: Une philosophie de la réalité; Bd. II: Une philosophie de l’économie. 93 Vgl. hierzu auch R. Kühn, Subjektive Praxis und Geschichte, 11–47: »Hegel – Seinsprozess und gesellschaftliche Vermittlung«; 48–80: »Marx – Produktion als subjektive Praxis«. 94 Vgl. Pour Marx, Paris, Maspéro 1965 (dt. Für Marx, Frankfurt/M., Suhrkamp 1968); M. Henry, Marx I, 21 ff., was zeigt, dass er mit einem Teil der Quellen der Postmoderne vertraut war. 95 Mit dem Untertitel Théorie d’une catastrophe, Paris, Odile Jacob 1990; vgl. als eine Zusammenfassung der Thesen hierin M. Henry, Können des Lebens, 90–113: »Zur Krise des Marxismus – das Doppelantlitz des Todes«. 92

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gemeinsamen Form der Globalisierung zu einer »Alchemie« der Naturtransformation schlechthin entwickeln. Wir fragten schon, was die Postmoderne dieser Entwicklung grundsätzlich entgegenzusetzen hat, falls nicht eine Rückbesinnung auf den »subjektiven Faktor« erfolgt, der weder ein ideologischer (laizistischer) »Humanismus« noch ein bloßer »Individualismus« zu sein vermag, 96 sondern die Quelle der geschichtlichen Erfahrung als solcher. Die Klärung solcher herrschenden Weltanschauungen und Menschenbilder mit postmoderner Koloratur ist auch deshalb notwendig, um jede Verwechselung der Selbstaffektion oder der Passibilität des Lebens mit einer psychologisierenden »Selbsterfahrung« zu vermeiden, bzw. auch mit der gegenwärtig weiterhin viel diskutierten »Selbstsorge« (Foucault) oder »Lebenskunst« (Nietzsche). 97 Das reine Leben wird letztlich nicht empirisch erfahren oder festgestellt, sondern es ist die apriorische Bedingung für jedes Erfahren-Können in uns sowie in der Welt. Und auf diesem Hintergrund ist gerade Henrys Buch über das Christentum »Ich bin die Wahrheit« der methodologisch wie inhaltlich unverzichtbare Vorstoß für ein radikal phänomenologisches Denken mit den schon erwähnten ethischen Konsequenzen für die Zukunft. Denn es geht darum, ein Verständnis des »Menschen« und seiner Würde als Individuum zu bestimmen, die von keinerlei äußeren Vorgaben mehr abhängig sind, um so alle (insbesondere auch interkulturellen wie interreligiösen) Vergleiche zu vermeiden, die nur wieder hermeneutische Unterschiede unter den Menschen im besten Fall heraufbeschwören können. 98 Deshalb muss hier im Zusammenhang mit der Postmoderne die Frage des Christentums – oder der Religion allgemein – radikal phänomenologisch aufgegriffen werden, um einen solchen Gegenentwurf in seiner epochalen Bedeutung überhaupt würdigen zu können. Denn welcher Zugang zur »Wahrheit des Christentums« oder zur »Religion« ist Vgl. dazu auch M. Henry, Christi Worte, 28 ff.; R. Miggelbrink, Lebensfülle. Für die Wiederentdeckung einer theologischen Kategorie, Freiburg – Basel – Wien, Herder 2008. 97 Vgl. M. Foucault Histoire de la sexualité III. Le souci de soi, Paris, Gallimard 1984 (dt. Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit 3, Frankfurt/M., Suhrkamp 1986); G. Gödde, N. Loukidelis u. J. Zirfas (Hg.), Nietzsche und die Lebenskunst. Ein philosophisch-psychologisches Kompendium, Stuttgart, Metzler 2016; W. Schmid, Das Leben verstehen. Von den Erfahrungen eines philosophischen Seelsorgers, Berlin, Suhrkamp 2016. 98 Vgl. zur Diskussion Jahrbuch für Religionsphilosophie 16 (2017): Lebensreligion interreligiös. 96

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überhaupt noch möglich, wenn die bisherigen dogmatischen (konfessionellen) Formulierungen sich als geschichtlich abhängige Aussagen und spekulativ überladene Reflexionen erweisen, die heute kaum mehr eine direkte Aussagekraft für viele Menschen zu besitzen scheinen? Die Antwort ist ebenso klar wie unmittelbar, wenn die Wahrheit des Christentums im »Leben Gottes« selbst als dessen ganzer Fülle gesehen wird. 99 Und die »Offenbarung Gottes« an die Menschen besteht in seiner Selbstoffenbarung, die sich ohne jeden Rückhalt durch seinen »Sohn« als den »Erst-Lebendigen« an die Menschen gibt, das heißt als Inkarnation ihres affektiven Fleisches selbst. Wenn das Christentum, wie die Schriften des Neuen Testaments deutlich erkennen lassen, prinzipiell die Wirklichkeit solcher Offenbarung mit dem Leben verknüpft, und nicht mit bloßen Bildern, Sätzen oder Symbolen, dann ist dieses göttliche Leben zugleich das unsrige. Ohne ein absolut phänomenologisches Leben existierten wir nicht, würden wir nichts wahrnehmen noch etwas erkennen und wären unfähig, auch nur die einfachste Geste zu vollziehen, die jeweils durch unsere lebendige Leiblichkeit inkarnatorisch bedingt ist. Seit Husserl als dem Begründer der klassischen Phänomenologie wird daher das »Leben« mit Recht als der Ursprung allen transzendental subjektiven Erscheinens angesehen. Aber wie wir darstellten, muss diese Einsicht dahingehend radikalisiert werden, dass das rein phänomenologische Leben von keiner Intuition, Sprache oder Erkenntnis angemessen vor den Blick zu bringen ist. In der Tat setzen wir für jeden Akt, den wir bewusst oder unbewusst vollziehen, das Leben als ge-gebene Bedingung immer schon voraus – und diese ebenso notwendige wie in sich gewisse Bedingung ist nichts anderes als die Selbstaffektion im Sinne einer originären »Offenbarung«, 100 die auch keineswegs durch eine »Dekonstruktion des Christentums« in Frage gestellt werden kann, um dessen »Selbstauflösung« zum Kern postmoderner Religiosität »offener Horizontalität« zu machen, 101 wie es auch schon der Gedanke der »Spur« bei Levinas und Derrida als Anerkennung einer abso99 Vgl. ebenfalls A. Vidalin, La Parole de la Vie. La phénoménologie de Michel Henry et l’intelligence des Écritures, Paris, Parole et Silence 2006. 100 Vgl. M. Henry, Können des Lebens, 114–122: »Was ist eine Offenbarung?«; Christi Worte, 52 ff. 101 Vgl. allgemein B. Goebel u. F. Suarez-Müller (Hg.), Kritik der postmodernen Vernunft. Über Derrida, Foucault und andere zeitgenössische Denker, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2007, 7–28: »Postmodernismus. – Status quo einer

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luten Vergangenheit implizierte, die nie eine Gegenwart geworden ist, aber dennoch eine Ethik des Anderen oder eine »Mystik der Gerechtigkeit« herausfordere. 102 Sinnfraktur und Horizontaufgebrochenheit bzw. Spur sind dennoch nur andere postmoderne Namen für die angeblich ausschließliche Transzendenzverwiesenheit, auch wenn sich die Einsicht durchgesetzt hat, dass unter solcher Prämisse jegliche Illusion hinsichtlich der Einheit des Denkens oder der Wahrheit prinzipiell zu verabschieden bleibt. Die Dekonstruktion seit Foucault und Derrida stellt damit keine neuen Wahrheitsbehauptungen auf, welche die alten metaphysischen ersetzen würden, sondern sie konstatiert die Unmöglichkeit von Wahrheitserkenntnis durch das Denken als solches. Dadurch werden aber naturgemäß ethische Anforderungen in den Vordergrund gespielt, wie eben die schon genannte gegenseitige (plurale) Anerkennung (Lyotard, Foucault) oder Gerechtigkeit (Levians, Derrida) bzw. das reine Begehren des Begehrens (Bataille, Lacan). Ist diese Weise des uns affizierenden Lebens der absolute Ursprung unserer selbst, ohne dass wir jemals einen reflexiven Zugang dazu hätten, dann liegt auf der Hand, dass auch phänomenologisch gesehen »Gottes Leben« und unser Leben eine unmittelbare Verknüpfung besitzen. Dieses Band als religio zwischen »Gott« und uns ist »Christus« als jener »Erst-Lebendige« (Ipseität), den M. Henry auch den »Ur-Sohn« nennt. 103 Die göttliche »Sohnschaft« im Prozess der ewig lebendigen Selbstzeugung Gottes ist das entscheidende Offenbarungsmoment als die konkrete Selbstbestimmung dieses innergöttlichen Prozesses. Der »Vater« ergreift sich als das Leben selbst, und diese Selbstergreifung ist zugleich sein »Wort«, in dem sich dieses uranfängliche Leben als immer lebendiges aussagt, ohne dass dabei irgendein Abstand zwischen Vater und Sohn in der lebendigen Einheit Gottes entstünde. Daher beinhaltet dieser sich absolut selbstgenügende innergöttliche Lebensprozess, dass das ausgesagte Wort und dessen liebende Rückgabe an den »Vater« in innerlicher Gegenseitigkeit in allem das Leben und nichts als das Leben sind. Dadurch jedoch, dass die Lebensselbstmitteilung als Sichergreifen in Gott zuphilosophischen Strömung«; speziell zur Auseinandersetzung mit dem Werk von J.-L. Nancy siehe unser folgendes Kapitel II,8. 102 Vgl. dazu im Einzelnen M. Enders, Postmoderne, Christentum und Neue Religiosität, 85 ff.; zum Konzept der »Spur« S. Attila u. a. (Hg.), Der Spur auf der Spur. Sur les traces de la trace, Heidelberg, Universitätsverlag Winter 2018. 103 Vgl. »Ich bin die Wahrheit«, 79 ff.

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Michel Henry und die Dekonstruktion der »Metaphysik der Vorstellung«

gleich ihre eigene Empfänglichkeit bedeutet, in der sie sich aussagt, besitzt sie die schon eingangs erwähnte Selbstheit (Ur-Ipseität), welche als der Ur-Sohn das Prinzip allen individuierten Lebens schlechthin ist. Unseren Zugang zum Leben dank einer transzendentalen Geburt gibt es daher letztlich nur durch die ur-»christologische« oder inkarnatorische Bestimmtheit des göttlichen Lebens – oder wie das Johannesevangeliums sagt: Christus als das ewige Wort, das »im Anfang bei Gott war«, ist die »Wahrheit und der Weg als Leben« für jeden Lebendigen. Insofern unser eigener Selbstbezug im »Ich« sowie unser Fremdbezug zu »Anderen« nur als lebendige Beziehung möglich ist, wie wir bei der Frage der Intersubjektivität sahen, liegt auch diesen Relationen die Ipseität des fleischgewordenen Wortes als Leben zugrunde. Wir können mithin keinen Schritt auf den Anderen oder auf uns selbst zu machen, ohne in unserem lebendig phänomenologischen »Fleisch« nicht mit »Christus« als Ur-Ipseität in notwendige Berührung zu kommen. Wir sind daher ursprünglich »Söhne und Töchter Gottes«, das heißt absolut Lebendige durch das göttliche Leben im »Erstgeborenen Sohn«. Hierbei kann die postmoderne Kritik wie bei Jacques Lacan 104 etwa dazu verhelfen, die bei Henry benutzten Begriffe von »Vater« (Prinzip des Lebens) und »Sohn« (ErstIpseisierung dieses Lebens als Inkarnation) nicht als Symbole oder Metaphern zu verstehen, durch die ein allgemeines (phallisches) Gesetz im Sinne von Sein oder Substanz fortgezeugt wird. Denn ein solches Gesetz erlaubt dem Einzelnen immer nur die »Mehr-Lust« der Wiederholung in seinem existentiellen Leben, keineswegs jedoch die originäre jouissance des Lebens selbst als dessen auto-jouissance, welche gemäß der christlichen Tradition die Selbstfreude oder Selbstliebe Gottes als solche ist, an der beispielsweise die Mystiker ihrer eigenen Aussage nach direkt Anteil gewinnen. 105 104 Vgl. Des Noms-du-Père, Paris, Seuil 2005. – Deshalb haben wir das gewöhnliche christliche Vokabular wie Gott, Sohn, Vater, Christus etc. hier in Anführungsstriche gesetzt, um zu unterstreichen, dass sie als rein immanente Offenbarungs- oder Relationsbestimmung zu verstehen sind. Die Postmoderne muss ihrerseits erkennen, dass die dekonstruktive Problematisierung des Verhältnisses zwischen Sprache/Wirklichkeit nicht die notwendige Ermöglichung von »Erfahrbarkeit« schlechthin – mithin »Leben« als solches – aufhebt. Es geht also um mehr als nur um das hermeneutischdiffere(ä)nte Problem von Sprechen und dessen Regelung durch eine Universalvorgabe, an die selbst die Diskurse als »Widerstreit« (Lyotard) implizit gebunden blieben; vgl. W. Welsch, Unsere postmoderne Moderne, 296 f. 105 Vgl. für eine entsprechende Untersuchung R. Kühn, Lebensmystik. Ursprüngliche Erfahrungseinheit von Religion und Ethik im Spiegel »Philosophischer Mystik«,

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Zeit, Mitpathos und Unbewusstes als phänomenologische Zukunftsfragen

Auf diese Weise gelingt es M. Henry zur Zeit der größten theoretischen Erfolge der Postmoderne mit ihren Einflüssen auf alle Bereiche der Existenz, die Wahrheit des Christentums grundsätzlich als eine bisher weitgehend ungenutzte Phänomenologie zu erweisen, wie sie dann in seinem Buch »Inkarnation« abschließend vorliegt. 106 Sie bindet grundsätzlich das Wesen der Menschen nicht mehr an das Sein oder an die Vernunft bzw. an die Sprache, sondern allein an das Leben, welches immer ein einmaliges und konkret individuiertes darstellt. Deshalb könnte die »Johanneische Intelligibilität« in diesem Sinne für die Zukunft eine gewaltige Bedeutung bekommen, sofern das transzendentale Leben durch die oben skizzierten nihilistischen Theorien, technischen Manipulationen und postmodernen Identitätsauflösungen 107 in seinem subjektiven Prinzip als solchem bedroht ist. Die absolute Bindung der religio an das rein phänomenologische Wesen des Lebens, welches im Sinne Meister Eckharts die »Gottheit« als der durch nichts bestimmbare »Ungrund« selbst ist, könnte der Menschheit insgesamt sowie jedem Einzelnen (und zwar unabhängig von allen äußeren Faktoren wie Rasse, Geschlecht, Stand, Bildung usw.) eine absolute Selbstgewissheit wie Achtung zurückgeben. Diese wären dann nicht erst allgemein zu beweisen, sondern sie sind durch die bloße Effektivität jeder lebendigen Existenz an sich gestiftet. Aus dieser gottheitlich-menschlichen Lebensapriorität ergibt sich infolgedessen ebenfalls eine Ethik, deren Praxis als die »Wiedergeburt des Lebens« in all seinen materiellen wie geistigen Bedürfnissen angesprochen werden kann. Ein solches ethos wäre kein Imperativ mehr, welcher dem Leben von außen als eine ihm fremde Norm auferlegt würde, sondern es enthielte unmittelbar die Motivation und Kraft zum je entsprechenden Handeln selber aus der Unmittelbarkeit des Lebens heraus. Solches Tun entspricht wesensgemäß der radikalen Phänomenologie des Lebens als »subjektiver Praxis«, nämlich Dresden, Text & Dialog 2018, hier vor allem in Bezug auf den Evangelisten Johannes und Meister Eckhart im Kapitel I,1–2 sowie auch das Kapitel II,7 zur Mystikrezeption von Heidegger bis Derrida, Marion und Henry. 106 Eine solche Perspektive zielt weiter, als die Postmoderne nur für die Theologie und deren Wahrheitsbegriff fruchtbar zu machen; vgl. K. Ruhstorfer, »Verortungen – Zum Wahrheitsverständnis der Postmoderne«, in: M. Enders u. R. Kühn (Hg.), Kritik gegenwärtiger Kultur. Phänomenologische und christliche Perspektiven, Freiburg/ München, Alber 2013, 140–157. 107 Vgl. H. G. Petzold (Hg.), Identität. Ein Kernthema moderner Psychotherapie – interdisziplinäre Perspektiven, Wiesbaden, VS Verlag-Springer 2012.

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Michel Henry und die Dekonstruktion der »Metaphysik der Vorstellung«

dank einer »zweiten Geburt« den abgründigen Ursprung als Leben in sich zu erneuern, sofern dieses vergessen, verloren oder sogar verneint wurde. 108 Es hat sich schon deutlich für uns erwiesen, dass der Distanz der Differe(ä)nz oder Kluft in der Postmoderne als Beharren auf einer »dezentrierten Subjektivität« seit Freud die bereits erwähnte »Lebensmystik« letztlich zur Seite gestellt werden kann, die nicht in frühere metaphysische Vorstellungszwänge zurückfällt, aber auch nicht eine ursprüngliche Einheit nur als »Phantasma« leugnen muss. 109

3.

Der differe(ä)ntielle Zeitbezug als grundsätzliche Auseinandersetzung mit der Postmoderne

Im Vergleich mit dem Entwurf einer radikalen Lebensphänomenologie und dem postmodernen Differe(ä)nzprimat ergibt sich aus einer schließlich »lebensmystisch« konzipierten Einheit jeglichen Tuns und Denkens die Möglichkeit, die originäre Leiblichkeitsanalyse methodologisch mit einem notwendigen »Umsturz« 110 der bisher vorherrschenden »intentionalen Phänomenologie« (Husserl) bzw. »transversalen Vernunft« (Welsch) in Anschlag zu bringen. Das heißt, eine Umkehr vom ideengeschichtlich ererbten Intelligibilitätsprinzip Denken/Leben hin zum vorrangigen, rein praktisch-phänomenologischen Verhältnis Leben/Denken aufzuweisen. Letzteres scheint uns einen einheitlichen Leitfaden anzubieten, um hier einen skizzenhaften Überblick für das Gespräch zwischen Lebensphänomenologie und Postmoderne zu erlauben, wozu abschließend einige Detaildiskussionen gerade zur Zeitanalyse genauer aufgegriffen werden sollen, insofern die Zeitlichkeit den Aufschub in Transzendenz und Diskursivität schlechthin bestimmt. Vgl. M. Henry, »Ich bin die Wahrheit«, 213–239: »Die zweite Geburt«. Vgl. J. Laplanche u. J.-B. Pontalis, »Fantasme originaire, fantasme des origines, origine du fantasme«, in: Les Temps Modernes 215 (1964) 25–41 110 So lautet der I. Teil von Henrys Kernuntersuchung über die Inkarnation (S. 43– 147), um über eine »Phänomenologie des Fleisches« (S. 149–264) dann in eine »Phänomenologie der Inkarnation« als rein phänomenologische Analyse zum »Heil im christlichen Sinne« überzugehen (S. 265–398), was insgesamt in eine Schlussbetrachtung »Über Phänomenologie und Theologie hinaus – die Johanneische Ur-Intelligibilität« einmündet (S. 399–414). Dies stellt ohne Zweifel bisher die entscheidendste »Dekonstruktion« aller idealisierenden wie auch postmodernen Vorgaben zugunsten eines rein pathischen Selbsterscheinens dar. 108 109

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Der differe(ä)nte Zeitbezug

Bei M. Henry spannt sich in der Tat der Bogen seiner frühen Horizont- und Zeitkritik von der Auseinandersetzung mit der Kantischen Rezeptivitätsproblematik kategorialer Vernunft über die Analyse einer affektiv zeitlosen »Historialität« bis hin zur Aufhebung der existenzial-hermeneutischen Geschichtlichkeit als Primat des originär phänomenologischen Wahrheitszugangs. Auf diesem Weg einer grundsätzlichen Infragestellung des Transzendenz- und Differe(ä)nzkonzepts übernimmt die absolute Lebensselbstaffektion immer konkreter die Aufgabe der immanenten Urphänomenalisierung, wie wir gesehen haben. Diese verläuft nämlich als Selbsterscheinen des Erscheinens diesseits aller Zeitlichkeit, um letztlich im »innergöttlichen Lebensprozess« als ewig autarker Selbsterzeugung ihren nicht-erinnerbaren Ursprung als »Ungrund« zu besitzen, was auch die fundamentalhermeneutische Faktizität der »Sorge« zu einem illusionshaften »Selbst«-Projekt werden lässt. Metaphysikkritisch impliziert das Unterlaufen der philosophisch zentralen Zeitproblematik nach den Griechen durch die inner-historiale Selbstoffenbarung der Affektivität daher vor allem die »Destruktion« der Transzendenz, Intentionalität, Ekstase oder des Da-seins besonders nach Descartes, Kant, Husserl und Heidegger als ontologisch »monistischem Phänomenzugang«, 111 dem wir den postmodernen Ansatz zugesellen. Denn der Sorgebegriff bei Heidegger sowie nachfolgend bei Michel Foucault als »Selbstsorge« verweist darauf, dass schließlich jede (post-)moderne Gründung des Selbst angefragt ist, selbst wenn diese sich alterologisch, aufschiebend oder fraktal als ständige Oszillation der »Autosubjektivierung« im Sinne von »Selbstentfernung« (aversion) und »Selbstzuwendung« (conversion) darstellen sollte. 112 Denn auch ein »Selbst als ein Anderer«, um Ricœurs 113 späteren Buchtitel exemplarisch für viele Ansätze in diese Richtung heute zu verwenden, bleibt ein Gründungsversuch des Selbst in der Spaltung von Eigenheit (mêmeté) und Selbstheit (ipséité), gerade auch wenn er in der Relationalität im oder durch den Anderen mittels Sprache, Text oder Tradition geschieht. Denn die Andersheit ist nicht nur eine vorausliegende logische Kategorie für die Differe(ä)nz als solche, die dann selbst wieder Vgl. M. Henry, Phénoménologie de la vie, t. I: De la phénoménologie, Paris, PUF 2003, 25 ff. 112 Vgl. K. Ruhstorfer, Konversionen. Eine theologische Archäologie der Bestimmung des Menschen bei Foucault, Nietzsche, Augustinus und Paulus, 64 ff. 113 Vgl. Soi-même comme un autre, Paris, Seuil 1990 (dt. Das Selbst als ein Anderer, München, Fink 22005). 111

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Michel Henry und die Dekonstruktion der »Metaphysik der Vorstellung«

dergestalt quasi-transzendental fundiert wird, sondern jede Relationalität fußt lebensphänomenologisch in der Vorgegebenheit einer Proto-Relationalität. Diese ist die effektiv transzendentale Verlebendigung aller möglichen Bezüge als solchen, weshalb wir auch Henrys radikal phänomenologische Ausführungen vornehmlich zum Johanneischen Christentum gerade als prinzipielle Destruktion von bloß analogisch oder hermeneutisch bestimmten Verhältnissen lesen. Was nämlich als »Selbstgegebenheit« in der lebendigen religio als re-ligare gerade interessiert, ist keineswegs der immer mögliche dogmatische Aspekt hierbei in geschichtlicher Hinsicht, sondern die prinzipielle Kraft des einheitlichen Verbindens als Affekt oder Begehren. Die Zeit ist nun nach Kant als Ermöglichung jeder Erscheinung nicht nur das Wesen der Weltphänomenalität selbst, sondern sie muss als eine solche Ob-jektivierung durch das apperzeptive Ich (»Seele«) auch die Wahrnehmbarkeit dieses entworfenen Horizontes für das Gesamt der Wirklichkeit als »selbstaffektive Rezeptivität« beibehalten. Diese Leistung übernimmt die reine Zeit dank der Einbildungskraft, die als transzendentale Intuition imstande ist, aus sich selbst heraus das entstehen zu lassen, was sie dann als ihren eigenen Inhalt empfängt. Dieser Modus der Gegenwärtigung als zeitlich ekstatische Trias bestimmt die Grundstruktur der Transzendenz, worin Henry Heideggers 114 Kantinterpretation zunächst folgt, worin im Grunde der postmoderne Gedanke permanenter Zeitaufschiebung im Anschluss an »Sein und Zeit« vorentschieden wird. Aber hinsichtlich des »inneren Wahrnehmungssinnes«, dessen Wesen darüber hinaus eine originäre Zeit sein soll, erhebt sich die Problematik, dass dieser »Sinn« rein formal nur das Medium der Ob-jektivität wäre, nämlich das Urbild eben jener radikalen »Außenheit«, die nichts »von außen« empfangen kann, sondern sich nur selbst ständig ex-teriorisiert oder differe(ä)nziert. Das Außen der Transzendenz kann sich in der Tat nicht nochmals transzendieren, denn der innere Zeitsinn empfängt dank der Einbildungskraft nur jene Außenheit, die er selbst »ver-äußert« hat. Die Kantische »Selbstaffektion« als Prototyp (post)moderner Dialektik, Differe(ä)nz oder Nachträglichkeit bleibt somit nur eine Art »Selbsterregung« der Zeit durch den zeitlichen Welthorizont, ohne eine wirklich vermögende Affektion in sich zu sein. Phänomenologisch radikaler wird daher eine wirklich lebendige Vgl. Kant und das Problem der Metaphysik, Frankfurt/M., Klostermann 21951, 171 ff. (§ 34).

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Der differe(ä)nte Zeitbezug

Selbstaffektion als Kraft gefordert, die eben nicht Gegen- oder ÜberSetzung in einer zeitlichen Ek-stase ist, sondern reines Sich-SelbstEmpfangen als absolut leibliche Passibilität ohne Vermittlung eines Außen bzw. einer Distanz, Differe(ä)nz, Spaltung oder Kluft (Lacan, Derrida, Marion). Zwar kann auch nach Kant die Zeit nicht wahrnehmungsmäßig thematisch erfasst werden, aber ihre sich entäußernde Selbstobjektivierung impliziert, dass dieser Zeithorizont im Sinne transzendenter »Ausrichtung auf …« eben nur affiziert, um einen Gegensatz als Gegen-Über hervorzurufen. Daher ist eine solche Selbstproduktion der Zeit zugleich absolute Bedingung für alles, was die Transzendenz zu ihrem Grund hat, nämlich für jegliche Vor-stellung, und zwar prinzipiell vor allem jene des Raumes als reiner Intuition der Abfolge im Hier/Jetzt oder im ersten »Da«. 115 Damit wird der Bezug von Affektion/Vorstellung grundsätzlich auch für die Postmoderne vorangetrieben. Insofern nämlich das entscheidende Element im Akt der Einbildungskraft das Bereitstellen eines (Ur-)Bildes ist, das die Entgegennahme des zeitlichen Horizonts sicherstellt, beinhaltet der Kantische Schematismus als Intuition eine ursprünglich vor-stellende Aufgabe, die durch die reine Form der Zeit als Repräsentierbarkeit erfüllt wird. Zeit/selbstaffektive Einbildungskraft/Intuition/Bildung eines transzendentalen Seinshorizonts in jeder »gemeinten« Vorstellung sind deshalb Äquivalente für die einseitig ek-statische oder differe(ä)nte Verwirklichung des Wesens der Phänomenalität. 116 Das Intuitionieren als reine Abfolge bleibt – auch als nicht-ontische Thematisierung – nur eine negative Bestimmung, ohne ein solches Bewusstsein in sich tatsächlich selbstaffektiv sein zu lassen, da es nur (Sinn-)Differenzen und keine materialen oder sinnlichen Gehalte hervorbringt. Die Schematismuserklärung verläuft – wie alle späteren Zeitanalysen – zirkelhaft, wenn die Intuition als Anschauung das Wesen der ursprünglichen Affektion sein soll, die als Bedingung der Transzendenz ihrerseits Grund der Intuition ist, so wie die Differe(ä)nz als Aufschub oder Nachträglichkeit selbst wieder nur Differe(ä)ntes zu zeugen vermag. Will man vermeiden, dass die transzendentale Subjektivität letztlich nicht auf die »Objektivität« selbst reduziert wird, um ins »Feld« zeitlich äußerer Phänomenalität aufzugehen, dann darf die Wahrnehmbarkeit des je differe(ä)nten Vgl. M. Henry, Phénoménologie de la vie, t. I, 77 ff. u. 57 ff. Vgl. J. Derrida, Marges de la philosophie, 1–39: »La Différance«; dazu ebenfalls P. Engelmann (Hg.), Die différance. Ausgewählte Texte, Leipzig, Reclam 1993. 115 116

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Michel Henry und die Dekonstruktion der »Metaphysik der Vorstellung«

Welthorizonts nicht mit der transzendentalen Möglichkeit der Transzendenz als solcher verwechselt werden, in der jene Wahrnehmbarkeit und ihre Sinnerstellung ruht. Das Denken als Wahrnehmbarkeit des Horizonts hat seinen Grund in der Affizierbarkeit der Transzendenz durch den Horizont, was jedoch impliziert, dass die Rezeptivität eine eigene phänomenologische Realität besitzt, welche die immanente Macht hat, im Akt des Transzendierens den Horizont »bei sich« zu halten. Verbirgt mithin die transzendentale Einbildungskraft in der Kantischen Bewegung des Denkens als Zeithorizont genau das, was das Wesen dieser Bewegung selbst ausmacht, so ist dieses konsequenterweise in der Immanenz des Bei-Sich-Bleibens zu suchen. Was sich nämlich nicht selbst übersteigt, sondern in sich verbleibt, ohne sich zu verlassen oder aus sich hinauszugehen, ist genau das Wesen der urphänomenalisierenden Immanenz. 117 Diese bleibt somit auch weiterhin in jedem postmodernen Differe(ä)nz- und Alteritätsdenken anzusetzen, will man nicht bei einem je nur hermeneutischen »Sinnaufschub« als jeweiliger »Nicht-Identität« stehen bleiben. 118 Auf diesem grundsätzlichen Boden des material affektiven Ursprungswesens allen Erscheinens lässt sich die lebensphänomenologische Konkretisierung der nicht-zeitlichen Urphänomenalisierung als nicht-intentionale »Subjektivität« oder passible »Impressionabilität« hier auch für die Postmoderne weiterverfolgen. Als Affekt, reines Wollen, Trieb oder Begehren nach Nietzsche, Schopenhauer und Freud, wie wir schon sahen, bzw. auch als Potenzialität im Sinne der originären cogitatio als passio bei Descartes, 119 tritt die Zeitproblematik als bisheriges Zentralmotiv neuzeitlicher Philosophie im Sinne von Dekonstruktion metaphysischer Ursprungs- und Einheitsansprüche 120 hinter einer »Meta-Genealogie« des apodiktischen »Anfangs« zurück. Letzterer wird nicht nur ebenfalls dem metaphysi117 Für diese zentrale Aussagen erstmals als Ergebnis seiner langen Untersuchung vgl. M. Henry, L’Essence de la manifestation, 738 ff. (§ 66). 118 Vgl. bereits R. Kühn, Radikale Phänomenologie, 131–159, sowie; G. Leghissa, »Dekonstruktion und die Rhetoriken der Fundierung bei Jacques Derrida«, in: R. Kühn u. M. Staudigl (Hg.), Epoché und Reduktion. Formen und Praxis der Reduktion in der Phänomenologie, Würzburg, Königshausen & Neumann 2003, 177–196. 119 Vgl. M. Henry, Phénoménologie de la vie, t. II: De la subjectivité, Paris, PUF 2003, 57 ff. u. 73 ff. 120 Vgl. zur Diskussion H. Kimmerle, »Ist Derridas Denken Ursprungsphilosophie? Zu Habermas’ Deutung der philosophischen Postmoderne«, in: M. Frank, G. Raulet u. W. van Reijen (Hg.), Die Frage nach dem Subjekt, Frankfurt/M., Suhrkamp 1988, 222–241.

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Der differe(ä)nte Zeitbezug

schen Vorstellungsprimat entrissen, sondern deckt auch die meist nur rein formale Egologie des »Ich denke« auf, an deren Ungenügen sich die postmoderne Kritik des Selbst oder des Subjekts entzündete. So muss der innere Zeitsinn, der ganz nach der allgemeinen Intuition eines kategorial weiter bestimmten Außen fungiert, letztlich auch bei Kant schon seine Inhaltlichkeit von einem Empfinden her letztlich beziehen, das nicht schon Begriff sein kann – und insofern »anders« ist. Dadurch ergreift die Kantische Subjektivität in der Tat ein heterogen kontingentes Element, das sie systemimmanent nicht mehr in dessen phänomenologischer Eigenwesentlichkeit selbst ausweisen kann, was mit Recht den Boden abgab für die postmoderne Forderung nach der Nicht-Einschreibung von Begehren, Trieb oder Lust (jouissance) in die Rhetorik des Selben. Die Materialität des »Empfindens« entgleitet hiermit schon lange vor Husserl der klassischen Zeitanalyse auf der Ebene der Selbstheit des »Ich« (Ipseität), um sich in das lebendige Selbstempfinden zu verlagern, wenn wir ebenfalls hinter die postmoderne Kritik weiter zurückgehen. Denn die Empfindung als »innerer Sinn« definiert die »Existenz« als Leben eines individuierten Ich im Sinne des »Mich« schlechthin, was auf der Tatsache beruht, dass das Sich-Empfinden als Selbstempfindung gleichzeitig das ursprüngliche Wesen der Subjektivität als Leben bestimmt sowie das Wesen der Ipseität selbst. Diese Meta-Genealogie als der verlorene und wieder gefundene Anfang ist daher mit ihren weiteren Ausführungen zu Schopenhauer, Nietzsche und Freud bzw. Ricœur jene Folie bei Henry, 121 auf der sich 121 Vgl. Phénoménologie de la vie, t. II, 163 ff.; vgl. eine gute Zusammenfassung dieser drei Phasen durch G. Deleuze »Sur les principaux concepts de Michel Foucault«, in: Deux régimes de fous. Textes et entretiens 1975–1999, Paris, Minuit 2003, 226– 243. – Bei Foucault ist die Genealogie die Weise, wie der Mensch unter historischen oder herrschenden Machtverhältnissen analysiert wird, nachdem in einer ersten Phase der Archäologie die Formen des Denkens untersucht wurden; darauf folgte die dritte ethische Phase bei Foucault im Sinne oszillierender »Selbstsubjektivierung« als »Selbstsorge«. Bei Henry bezeichnet die Meta-Genealogie einerseits die immanente Ipseisierung des Individuums vor jeder Geschichtlichkeit sowie die Rückführung der letzteren auf die innere Historialität im Sinne des aufzudeckenden »vergessenen Anfangs«. Hierbei liegen also sowohl Überschneidungen mit Heideggers »Seinsgeschichte« vor, deren »ereignishafter« Sinn destruierend aufzusuchen ist, sowie mit Foucaults Archäologie- und Genealogiebegriff, insofern gerade die historischen Machtansprüche bei der Bestimmung des »Subjekts« evakuiert werden sollen; vgl. Généalogie de la psychanalyse, 13 ff. u. 87 ff.; Marx I, 223 ff. u. 401 ff., zur Genealogie der Ideologie, was auch der Kritik bei Foucault entsprechen würde. Dazu auch G. Jean, »Genealogie, Historialität und Passivität. Michel Henry und die Phänomeno-

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in einer breiteren Sicht die maßgebliche Auseinandersetzung auch mit Husserls »innerem Zeitbewusstsein« und dessen postmoderner Hinterfragung vollzieht. Was dabei radikal phänomenologisch auf dem Spiel steht, beruht darin, die Befragung der Zeit wie bei Husserl und seinen Nachfolgern als die Weise zu denken, wie sich das Bewusstsein selbst manifestiert, das heißt die Phänomenalität des Erscheinens als solchem. Dass die Selbstoffenbarung der absoluten Subjektivität in der klassischen Phänomenologie von vornherein als »Selbstkonstitution« verstanden wird, lässt das zuletzt Konstituierende eines jeden bestimmten phänomenologischen Status beraubt sein 122 – es wird der »Anonymität« (Husserl) bzw. »Opazität« (Merleau-Ponty) überliefert, 123 welche die Kernaussage allen postmodernen Denkens sind, sofern es keine »Identität« mehr als durch das Denken garantiert ansehen kann. Denn insoweit es sich ausschließlich den unendlichen Intervallen von Sprache (langue) und Diskurs (Symbolik) überliefert hat, ist für eine eigenwesentliche Subjektivitätsbestimmung wie bei Henry als transzendentale Verlebendigung kein Platz mehr neben dem »Tod des Subjekts« innerhalb des endlosen Sprachspiels ohne jede Finalität. Die Konsequenz eines material heterogenen Empfindens gegenüber der Vorstellung für eine atemporale bzw. nicht-differente Immanenzanalyse liegt damit auf der Hand. Das rein phänomenologische Leben bestimmt nicht nur als transzendental sinnliche Einbildungskraft die affektive Form jeder Vorstellung in den Zeitekstasen, sondern dieses Leben besitzt ebenfalls seine eigene affektive Zeitlichkeit im Sinne der passiblen oder pathischen Wesens-Historialität. Jeder Eindruck als sich-ipseisierendes Leben bedeutet absolut originäres Sich-Empfinden, und wenn dabei Akt und Inhalt dasselbe phänomenologische Wesen der Selbstaffektion besitzen, dann sind Geben/ Empfangen das eine materiale »Fleisch« der Urphänomenalisierung als Grundtonalitäten des Sicherfreuens/Sicherleidens gerade im Sinne eines mit sich identischen Akts wie Inhalts. Denn die Affektivität ist das »Historiale« des Absoluten selbst, das heißt die ewig verschielogie der Geschichte«, in: E. Angehrn u. J. Scheidegger (Hg.), Metaphysik des Individuums, 194–219. 122 Vgl. als eine frühe Kritik hierzu schon E. Levinas, Théorie de l’intuition dans la phénoménologie de Husserl, Paris, Alcan 1930. 123 Vgl. hierzu gleichfalls R. Gély, »L’imaginiare et l’affectivité originaire de la perception. Une relecture henrienne du débat entre Sartre et Merleau-Ponty«, in: Studia Phaenomenologica 9 (2009) 173–192.

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dene und abwechselnde Weise, wie das absolute Werden in sich kommt, sich ohne mögliche Trennung von sich selbst erprobt, sich in jener liebenden Selbstumschlingung umgreift, welche als auto-jouissance das Wesen des Lebens ohne jede mögliche Vorstellung davon ausmacht. 124 Die klassischen Tonanalysen aus der Husserlschen Zeitdoktrin erfahren dadurch beispielsweise eine grundsätzliche Verwandlung ins Ästhetische, denn im Anschluss an Nietzsche und Kandinsky etwa bezeugen sie keine bloß retentional aufgewiesene »Urimpression« im grenzidealen »Jetzt« allein mehr, sondern das innerste Leben dieses Empfindens selbst als Sich-Begehren (désir) in dessen Schmerz und Trunkenheit. Wenn in solcher Ästhetik ebenfalls die Heterogenität von Ton/Bild noch aufgehoben werden kann, 125 so gilt fundamental bei dieser Rückführung allen »Erlebens« in die »pathische Subjektivität«, dass auch alle sichtbaren differe(ä)nten Weltgehalte letztlich in der sie hervorbringenden Affektivität ruhen. Solange die Welt also nur zeitlich intentional oder fragmentiert und fraktal erfasst wird, lässt sich ihr eigentlich lebens-weltlicher Charakter nicht festhalten, wie sich auch mit Deleuze unterstreichen ließ, 126 selbst wenn dieser die »Immanenz« als begriffliche Wiederholung versteht, dabei allerdings eine kontinuierlich naturale Lebensenergie als »Intensität« in Anspruch nimmt. Deshalb bleibt die lebensphänomenologische Kritik Henrys an der alleinigen Zeit/Welt-Phänomenalisierung als radikales »AußerSich-Sein« im Sinne postmoderner Differe(ä)nz dazu bestimmt, die wahrhaftige »Welt-für-das-Leben« ganz von der lebendig subjektiven Praxis her bestimmt sein zu lassen. 127 Die Bestimmung der »Weltwahrheit« durch die Zeitlichkeit seit Heidegger insbesondere als 124 Zur Analyse dieser »Selbstumschlingung des Lebens« als Gottes innerster Selbstfreude in seinem Wesen vgl. M. Garcia-Baró, »Die Henrysche Kulturanalyse und die Bestimmung des Christentums als Selbstoffenbarung Gottes im gegenwärtigen gesellschaftlichen Kontext«, in: M. Enders u. R. Kühn (Hg.), Kritik gegenwärtiger Kultur, 120–139. 125 Vgl. M. Henry, Phénoménologie de la vie, t. IV: De l’art et du politique, Paris, PUF 2004, 241–282: »Dessiner la musique: théorie pour l’art de Briesen«; dazu ebenfalls J.M. Longneaux, »Une phénoménologie du dessin: Michel Henry et l’art abstrait total d’August von Briesen«, in: A. Jdey u. R. Kühn (Hg.), Michel Henry et l’affect de l’art. Recherches sur l’esthétique de la phénoménologie matérielle, Leiden – Boston, Brill 2012, 133–157. 126 Vgl. unser folgendes Kapitel II,5. 127 Vgl. für einen solchen Zusammenhang ebenfalls R. Kühn, Natur und Leben, 220 ff.

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transzendentales Medium ihrer phänomenologischen Wahrheit ist nur der konsequenteste Ausdruck des neuzeitlichen Selbstverständnisses der Philosophie als »Pro-jektion« im Sinne des vorherigen Idealismus wie jeder darauf folgenden Hermeneutik: Zeit und Welt sind identisch, sie bezeichnen jenen außerordentlichen Prozess, in dem das »Außen« sich selbst ver-äußert, um niemals mehr in eine Einheit zurückzukehren, was der Postmodernen auf dieser Ebene ihre theoretische Rechtfertigung verleiht. Die Wahrheit dieses Ins-AußenVersetzens bedeutet nämlich nicht nur eine ständige Verlagerung als »Dissemination« (Derrida) der Dinge innerhalb der Erscheinung, sondern sie sind dadurch nach Michel Henry 128 auch wesenhaft »ihrer eigenen Wirklichkeit beraubt« – »außerhalb von sich« im Bild der Welt als jener »Exteriorität ohne Dichte«, über die der Blick hinweg gleitet, ohne jemals in sie eindringen zu können. Im äußersten Fall, wie etwa in den sinnlich reduktiven Wissenschaften, werden die Dinge zu einem bloß epiphänomenalen »Schein« (Illusion), während sie intentional bzw. dekonstruktiv-phänomenologisch gesehen in ein ständiges »Nichts« als »Intervall« oder »Riss« gleiten, sofern die noetisch-noematisch analysierte »lebendige Gegenwart« als idealer Grenzpunkt in der Tat eigentlich nicht existiert. Alles nämlich, was in der Welt erscheint, wird einem Prozess prinzipieller Entwirklichung unterworfen, der a priori alles Erscheinende in einen ursprünglichen Zustand der Unwirklichkeit versetzt, weshalb die Lebensphänomenologie für diesen Bereich das Differänzprinzip gänzlich mittragen kann und so einen Teil der postmodernen Kritik teilt. 129 Demgegenüber schleudert das atemporale wie akosmische Leben jedoch das in ihm selbstaffektiv oder individuiert Gezeugte nicht aus sich heraus, weil sein Offenbarungsakt als gleichursprünglicher Offenbarungsinhalt gerade die absolute Selbstbindung an sich selbst ohne innere Möglichkeit irgendeiner Distanz ist, wie wir schon Vgl. Phénoménologie de la vie, t. I, 63 ff. u. 165 ff. Ohne Derrida namentlich zu nennen, sagt M. Henry, Inkarnation, 87 f., von der »Ursprungsform der Ek-stase in deren ursprünglichem Hervorbrechen«, dass man diese »Differenz in der Tat als Differänz (Différance) schreiben kann«, weil sie nichts anderes als die reine Tatsache des Differierens, Entfernens (écarter), Trennens ist – die erste Kluft (écart). Insofern lässt sich nicht die Behauptung aufstellen, Henry lasse sich in keinem Fall zur Postmoderne zählen, nur weil er einen »christlichen Gegenentwurf« mit Hilfe des Johanneischen Wahrheitsbegriffs biete; vgl. M. Enders, Postmoderne, Christentum und Neue Religiosität, 21 f. u. 147 ff., denn er teilt gerade für die reine Weltphänomenalität diesen Differe(ä)nz-Begriff.

128 129

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durchgehend unterstrichen. Sofern Henry letztlich die Absolutheit dieser affektiv-inkarnatorischen Ur-Phänomenalität im lebendig innergöttlichen Offenbarungsverhältnis zwischen »Vater« und »Sohn« sieht, ist dieser inkarnatorische Logos vor- wie außerzeitlicher Wahrheit eben keine Zeitlichkeit oder Geschichtlichkeit mehr, sondern eben »die ewige Selbstliebe Gottes« als autarkische Freude im Sinne des pathisch phänomenologischen Lebens der Affektivität. Dies lässt sich rein phänomenologisch dann mit Lacan 130 eben auch als die autojouissance der jouissance verstehen, insofern sie kein Objekt zur äußeren Erfüllung mehr benötigt. Damit wäre eine zweite Weise nach der Weltphänomenalität als »Außer-Sich« (Differänz) bezeichnet, wie die Lebensphänomenologie über die Anerkennung des Eigenwesens von Affekt und Begehren – als Grundgegebenheit immanenter Modalisierungen – die Postmoderne in ihrem Bemühen um eine neue Konzeptualisierung von Differe(ä)nz/Begehren anerkennen kann, ohne das Begehren als Sich-Begehren allerdings in solche Differenz aufgehen zu lassen. Vielmehr bleibt das Begehren als Triebfeder von Denken und Tun bestehen, wodurch auch die Erotik einen besonderen Stellenwert erhält, insofern sie aus keiner Zwischenleiblichkeit weggedacht werden kann, ohne damit auf eine reine Verfolgung von »Lüsten« reduziert werden zu können, 131 da die Geschlechtlichkeit in den umfassenden Bereich kulturell-ästhetischer Verwirklichung gehört. Dies schließt ein, dass gerade die Geschichtlichkeit nicht für die Wahrheit des Lebens zeugen kann, insoweit Geschichte als Historie nur das zeitlich sprachliche Weltgesetz auf der Ebene von ek-statischen »Ereignissen« wiederholt, die niemals in ihrer ab-gründig individuierten Lebensversunkenheit durch irgendein Wissen totalisierbar sind. Die Wahrheit des absolut phänomenologischen bzw. »gottheit-

130 Vgl. Séminaire XX: Encore, Paris, Seuil 1975, 86 ff., die entsprechende Analyse leiblich-mystischen Erlebens jenseits phallischer Festschreibung durch deren »Herrensignifikanten«. 131 Vgl. hierzu bereits R. Kühn, Begehren und Sinn, 151–172. »Trieb und Erotik«; M. Foucault, Der Gebrauch der Lüste, 13 ff., mit dem Bezug zum »Spiel der Regeln der Wahrheitsproduktion«. Es sei darauf hingewiesen, dass im Französischen plaisir – wie im Originaltitel von M. Foucault, L’usage des plaisirs (Sexualität und Wahrheit 2) – einen breiteren semantischen Umfang hat als die deutsche Übersetzung mit Lüsten; vgl. dazu auch C.-D. Rath, »Einige Beziehungen zwischen Lacanscher jouissance und Freudscher Lust«, in: Riss. Zeitschrift für Psychoanalyse Freud – Lacan, Baden, Vissivo Verlag 2017, 22–39, wo dieses sprachliche Spektrum verglichen wird.

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lichen« Lebens als »Ungrund« entzieht sich nicht nur jeder Art von historischer »Zeugenschaft« (Ricœur) 132 oder existenzialer »Entschlossenheit« (Heidegger), sondern sie hebt fundamental durch die Zeitsuspension auch jeden Sorgecharakter als transzendentale Faktizität im Sinne des »geworfenen Daseins« bzw. der »Selbstsorge« (Foucault) auf, wie wir schon unterstrichen. Diese hier für epochal gehaltene Auseinandersetzung mit Heidegger und seinen Nachfolgern einer »Destruktion der Metaphysik« markiert die Notwendigkeit phänomenologischer Selbstbesinnung heute, denn die Unmöglichkeit der Definition des Menschen durch die »Sorge«, »Dezentrierung« oder »Anonymität« bzw. den »Mangel« bedeutet, die ausschließliche Reduktion der Phänomenalität auf die Weltphänomenalität zu hinterfragen – und folglich die Definition des Menschen als »In-der-Welt-Sein« oder als reines »Sprachsein« (parlêtre) wie schon durch Lacan. Dies besagt des Weiteren, dass der »transzendentale Mensch« seine unsichtbar absolute Geburt allein im Leben hat, 133 sowie andererseits aber auch, dass die Geschichte als »Meta-Genealogie« letztlich in der immanenten Zeitlichkeit des Lebens als inneraffektiver »Historialität« wurzelt. 134 Das heißt in der Umkehr des begehrenden Verlangens (désir) in seine Erfüllung durch die innere auto-jouissance als singulärem Akt eines jeglichen leiblich-geistigen Vollzuges ohne Objekt. Denn was das Leben »sucht«, ist die Wiederzusammenführung mit sich selbst über den Abstand von Welt und Zeit hinaus, in den es selbst nie eingetreten ist. Sofern diese Schlussüberlegungen die tiefste Auseinandersetzung mit der Postmoderne als einer besonderen Weise des heutigen menschlichen Pathos implizieren, mündet unser lebensphänomenologischer Versuch eines ethos für die Gegenwart demzufolge in die Betonung des rein subjektiven Handelns als all-kompossiblem Lebensbezug ein, ohne sich nur in psychologisierende »Befindlichkeiten« zu verlieren. Als »zweite Geburt« besteht ein solches ethos in unmittelbarer Einheit mit der »Lebensmystik« darin, allein aus diesem einen Leben heraus zu leben, welches nicht weiter destruierbar ist und deshalb auch noch in jeder Differe(ä)nz als

132 Vgl. J.-S. Hardy, J. Leclercq u. C. Sautereau (Hg.), Paul Ricœur et Michel Henry. Entre héritages et destinées phénoménologiques, Louvain, Presses Universitaires 2016. 133 Vgl. M. Henry, Phénoménologie de la vie, t. II, 16 ff., 123 ff. u. 197 ff. 134 Vgl. R. Kühn, Subjektive Praxis und Geschichte, 148 ff.

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deren affektive Ermöglichung aufzufinden ist, indem eben jenes Handeln des absoluten Lebens in jedem eigenen sowie gemeinschaftlichen Vollzug wieder gefunden werden kann. Entsprechend heißt es schon in einer »Eckhart-Legende« von einer Frau, die sich weder als Jungfrau, Knecht, Herr, Frau oder Witwe im Sinne der Eckhartschen Predigten verstand: »Von alledem miteinander bin ich keines und bin ein Ding, wie ein ander Ding und laufe so dahin.« Worauf Meister Eckhart 135 antwortete: »Ich habe den allerlautersten Menschen vernommen, den ich je gefunden habe, wie mich dünkt.« Naturgemäß hat sich die Diskussion bezüglich Lebensphänomenologie und Postmoderne in ihrem Verhältnis zueinander 136 zwischenzeitlich in verschiedene Richtungen entwickelt. Entweder wird die reine »Selbständigkeit und Originarität« des absoluten Lebens 137 oder dessen affektive Historialität im Sinne der inneren »Begehrensmodalisierung« als mögliche weitere Ausarbeitung einer »nicht-intentionalen Passibilität« im Sinne eines leiblich-fleischlichen Pathos 138 betont und mit der gegenwärtigen Dekonstruktion seit Heidegger in Zusammenhang gebracht. Eine ähnliche Analyserichtung verfolgte Y. Yamagata, 139 ein japanischer Phänomenologe, der im »Grund« (Fond) der Passivität als »Natur« jene »Andersheit« sieht, welche keine Außenheit gegenüber der Lebensimmanenz bildet, sondern die »Rückseite« einer »dynamischen Kommunikation« zwischen

Deutsche Predigten und Traktate (Hg. J. Quint), München, Diogenes 1979, 443. Vgl. schon grundsätzlich für alle Formen von Bewusstseinsanalyse M. Henry, »Phénoménologie de la conscience et phénoménologie de la vie«, in: G. B. Madison (Hg.), Sens et Existence. En hommage à Paul Ricœur, Paris, Seuil 1975, 128–151; »Philosophie et phénoménologie«, in: Encyclopédie Philosophique Universelle, t. IV: Le Discours philosophique, Paris, PUF 1998, 1873–1886. 137 Vgl. G. Dufour-Kowalska, »Die phänomenologische und die christliche Offenbarung Gottes«, in: R. Kühn u. S. Nowotny. Michel Henry. Zur Selbsterprobung des Lebens und der Kultur, 225–242. – S. Knöpker lehnt aus ontologisch-hedonistischer Sicht eine »Verdoppelung« individueller Selbstaffektion durch eine Selbstaffektion des absoluten oder »göttlichen Lebens« ab, weil damit nur mehr Fragen entstünden als gelöst werden könnten; vgl. Michel Henry. Eine Einführung, Düsseldorf, Onomatto 2012., 123 ff. Ähnlich beschränkt sich P. Audi auf eine rein ethische Ausrichtung der Lebensphänomenologie; vgl. P. Audi, Rousseau, éthique et passion, Paris, PUF 1997; »Forme et excédence«, in: Alter. Revue de phénoménologie 15 (2007) 285–207. 138 Vgl. zuletzt R. Kühn, Begehren und Sinn, 43 ff.; Lebensethos, 11 ff. 139 Vgl. »Le langage du sentiment«, in: J.-F. Lavigne (Hg.), Michel Henry. Pensée de la vie et culture contemporaine, 291–300. Ähnlich auch R. Vaschalde, Epreuve de soi et vérité du monde, Paris. L’Horizon 2016. 135 136

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Michel Henry und die Dekonstruktion der »Metaphysik der Vorstellung«

Ich und Natur. B. Forthomme 140 hat Henrys Schematismuskritik an Kant insbesondere als »Bildlosigkeit« der Selbstaffektion schlechthin aufgezeigt, so dass die Zeit jene Weise ist, wie das Sichtbare, das Seiende, aus der Transzendenz mit Hilfe der Epoché zugunsten der Immanenz prinzipiell ausgeschieden wird. Auf der anderen Seite erinnert F.-D. Sebbah 141 mit stärkeren eigenen postmodernen Akzenten an die »phänomenologische Operationalität« der Urimpression als zeitlichem »Grenzphänomen«, das von Henry zu schnell im Sinne von Novalis 142 zur »dunklen Klarheit« als »Nacht« der Immanenz gemacht werde, während R. Bernet 143 in einer »doppelten Intentionalität« affektive Impressionabilität und ekstatische Zeitlichkeit im Sinne der Husserlschen »Transzendenz in der Immanenz« miteinander verbunden sieht. Ähnlich fragte auch L Tengelyi 144 die »Metaphysik der Anwesenheit (des Lebens)« in der »stummen Empfindung« bei Henry an, um einen methodischen Rückgang auf die »Spuren des Triebes« im »Urdatum« anzumahnen, die sich seiner Auffassung nach (die stark von Marc Richir und B. Waldenfels beeinflusst ist) nicht mehr ohne weiteres in die »Konstitutionsbestimmung des Zeitbewusstseins« einfügten, sondern die Erfahrung der lebensgeschichtlichen »Widerfahrnis« unterstrichen. Mit Anschluss an Scheler, Nabert und Ricœur liest J. Porée 145 zudem in einem ethischen Sinne die immanente »Zeit des Leidens«, um aus der Konfrontation von Zeitekstase/Innerlichkeit im Schmerz wie Empfinden ein »Rechtfertigungsverlangen« im Sinne von Protest/Bezeugung des Personseins zur Sprache zu bringen. Konsens besteht jedoch bei allen genannten und weiteren Interpreten darüber, dass Henrys Frage nach dem selbstaffektiven »Grund« jeden Erfahrens 146 bzw. nach dem »Pathos 140 Vgl. Manifestation et affectivité suivant M. Henry, Beirut, Université Saint Joseph 1995. 141 Vgl. L’Epreuve de la limite. Derrida, Henry, Levinas et la phénoménologie, Paris, PUF 2001, 126 ff. 142 Vgl. »Hymnen an die Nacht«, in: Schriften, Bd. I. Das dichterische Werk, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1976, zit. M. Henry, L’Essence de la manifestation 556, Anm. 4: »du hast die Nacht mir zum Leben verkündet«. 143 Vgl. La vie du sujet, recherches sur l’interprétation de Husserl dans la phénoménologie, Paris, PUF 1994, 85 f. 144 Vgl. H.-D. Gondek u. L. Tengelyi, Neue Phänomenologie in Frankreich, 115–151; L. Tengelyi, Der Zwitterbegriff Lebensgeschichte, München, Fink 1998. 145 Vgl. »Le temps du souffrir. Remarques critiques sur la phénoménologie de Michel Henry«, in: Archives de Philosophie 54 (1991) 213–240. 146 Vgl. D. Janicaud, Le tournant théologique de la phénoménologie française, 95 ff.

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Der differe(ä)nte Zeitbezug

des Ursprungs« 147 als »Erprobung« zu den gegenwärtig wichtigsten phänomenologisch-destruierenden Diskussionen gehöre, sofern es in der Phänomenologie hauptsächlich, wie Heidegger schon hervorhob, um »das Sichmelden von etwas, das sich nicht zeigt, durch etwas, was sich zeigt«, geht. 148 Für die Lebensphänomenologie im Anschluss an Henry tritt allerdings das »Sich-nicht-Zeigende« in keinerlei »Sich-Zeigen« irgendeines Sichbarkeitshorizontes mehr ein, sei er perzeptiv, ideativ oder ereignishaft. Und dieser Unterschied zwischen Heidegger und Henry einschließlich Kant, Husserl, etc. betrifft auch das grundlegende Verhältnis der Lebensphänomenologie zur Postmoderne, mit der sie die Elemente der »Dekonstruktion« von Präsenz- und Vorstellungsmetaphysik für den Welthorizont teilen kann, ohne jedoch die Varianten der »Differänz« wie Nachträglichkeit und Aufschub bzw. Fraktur und Riss aus dieser Vorstellungsmetaphysik zu entlassen. Denn auch letztere Differenzformen sind noch Abwandlungen jener Transzendenz, welche als Erscheinens- oder Manifestationsprinzip das philosophische Denken von der griechischen Antike bis heute allein methodisch beherrschte. Denn fasst man schließlich den postmodernen Dekonstruktionsgedanken als die erkenntniskritische Anwendung eines in reflexiver Hinsicht »unendlichen Urteils« im Sinne Kants, das keinerlei Identität durch irgendeine allgemeine Affirmation mehr besteheh lassen möchte, 149 dann gehört selbst solch unbegrenzt limitierender Urteilscharakter zur (transversalen) Variation des genannten Transzendenzprimats, 150 insofern es das Vermeiden von unendlichem Regress bei der Identitätssuche einerseits in die Pluralität der Singularitäten als »Andersheiten« oder »Ränder« andererseits versetzt. Damit hat das einseitig phänomenalisierende Transzendenzprinzip als »Spiel« ohne Finalität zwischen Sprache/Wirklichkeit bzw. von Subjekt/Objekt in der Nachfolge von Heideggers »Lichtung« als »ontologischer Differenz« von Sein/Seiendem nur Vgl. D. Giovannangeli, La passion de l’origine, Paris, Galilée 1995. Sein und Zeit, § 7A 149 Vgl. K. Ruhstorfer, Konversionen. Eine theologische Archäologie der Bestimmung des Menschen bei Foucault, Nietzsche, Augustinus und Paulus, 112 ff. 150 Vgl. auch C. Macann, »Deux concepts de transcendance«, in: Revue de Métaphysique et de Morale 1 (1986) 24–46; R. Formisano, »Die Frage der Transzendenz bei Michel Henry und die Voraussetzungen der Kritik an der Philosophie Heideggers in L’Essence de la manifestation«, in: S. Grätzel u. F. Seyler (Hg.), Sein, Existenz, Leben, 55–84. 147 148

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Michel Henry und die Dekonstruktion der »Metaphysik der Vorstellung«

eine neue Anwendung erfahren, ohne konstitutiv einer effektiv umfassenden Dekonstruktionsanalyse unterworfen worden zu sein, wie es die Lebensphänomenologie durch die »Duplizität« von Immanenz/ Transzendenz bzw. von Leben/Welt in der gegenwärtigen Debatte innerhalb der weiter geführten Selbstradikalisierungen der Phänomenologie anstrebt.

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3. Der Leib/Welt-Chiasmus bei Maurice Merleau-Ponty als »Opazität«

Im Rahmen eines postmodernen Körper- und Leibdenkens bildete sich eine rein mundane und ästhetische Phänomenologie der »Inkarnation« bei Maurice Merleau-Ponty (1906–1961) heraus, welche zwar ein »Unsichtbares« in ihrer letzten Werkphase kennt – dies allerdings nur als eine vor-ichliche Welt im Sinne eines »rohen« oder »wilden Seins«. Eine solch vorgängige Welttranszendenz lässt jede Erfahrung prinzipiell zur Abweichung oder Differenz werden, insofern uns das Sein nicht länger intellektualistisch frontal gegenüber steht, sondern als ein opakes Element umgibt. Merleau-Ponty erblickt in solchem être brut oder sauvage nur noch eine »Textur«, welche jede symbolisch-kulturelle Ordnung sprengt, obwohl eine »Zwischenleiblichkeit« darin eingebettet bleibt. Auch der eigene oder subjektive Leib (corps propre) wird damit zugleich zu einem zweideutigen Verhältnis von Selbstbezug und Selbstentzug im Sinne einer »Überkreuzung« (Chiasma, Chiasmus, auch entrelacs) von Eigenem und Fremdem. Diese wesenhaft dunkle oder ferne Hintergründigkeit der Welt ist deren zu verstehende »Unsichtbarkeit« als »originäres Anderswo«, als »blinder Fleck« oder als »Unbewusstes des Bewusstseins«. 1 Damit können wir für die postmoderne Diskussion schon 1 Vgl. M. Merleau-Ponty, Le Visible et l’Invisible, suivi de notes de travail, Paris, Gallimard 1964, 189 u. 320 f. (dt. Das Sichtbare und das Unsichtbare, München, Fink 1986, 198 u. 320 f.). Ursprünglich sollte dieses posthume Werk den Titel Der Ursprung der Wahrheit tragen, was auch die kritische Selbstrevision Merleau-Pontys darin anzeigt. Abgesehen vom anatomischen Sinn der sich überkreuzenden Sehnerven wird der Begriff des Chiasmus vom bekannten französischen Dichter Paul Valéry (1871–1945) als das Überkreuzen »zweier Schicksale« oder »Gesichtspunkte« aufgegriffen. Dazu P. Herkert, Das Chiasma. Zur Problematik von Sprache, Bewusstsein und Unbewusstem bei Merleau-Ponty, Würzburg, Königshausen & Neumann 1987; B. Waldenfels, Deutsch-Französische Gedankengänge, Frankfurt/M., Suhrkamp 1995, 346–383; R. Barbaras, Le tournant de l’expérience, Paris, Vrin 1998; F. Evans u. L. Lawlor (Hg.), Chiasme. Merleau-Ponty’s Notion of Flesh, Albany, University Press 2000.

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Der Leib/Welt-Chiasmus bei Maurice Merleau-Ponty als »Opazität«

nachvollziehen, dass dieser Unsichtbarkeitscharakter in der Phänomenologie spätestens seit Merleau-Ponty sich teilweise auf eine reine »Prosa der Welt« beschränkt, 2 ohne noch metaphysische Konsequenzen aus diesem elementaren Sachverhalt eines verborgenen Seins zu ziehen. Denn als ontologischer Begriff bezieht sich der Chiasmus nicht nur auf Leib/Welt, sondern auch auf Ich/Leib oder Körper/Leib bzw. Ich/Andere, wo es aufgrund der Momente von Reversibilität, Reziprozität und damit Zirkularität nie zu einer Synthese oder Koinzidenz von Einheit kommen soll. Für den mundanen Bereich des Sichtbaren und Unsichtbaren wird somit eine phänomenologisch alterologische Grundstruktur angenommen, die wie bei Bataille und Lacan sowie dann bei Foucault oder Derrida einer radikalen Asymmetrie entspricht, da die Reversibilität nie vollkommen ist.

1.

Welthafte Inkarnation

Dieser kurz skizzierten leibhaft originären Passivitätsproblematik im Schoß der sinnlichen Aktivität selbst, die als sinntypisierende Potenzialität uns schon immer mitgegeben ist, hat Merleau-Ponty in intensiver Auseinandersetzung mit Husserl 3 seine neu akzentuierte Phänomenologie des subjektiven Leibes gewidmet, 4 womit er sich seinerseits – unter anfänglichem Einfluss von Bergson – vom rationalen Kritizismus und progressiven Intellektualismus Léon Brunschvicgs (1869–1944) 5 absetzte. Wir beschränken uns hier daher im WesentVgl. La prose du monde (Hg. C. Lefort), Paris, Gallimard 1969 (dt. Die Prosa der Welt, München, Fink 1984). 3 Vgl. U. Melle, Das Wahrnehmungsproblem und seine Verwandlung in phänomenologischer Einstellung. Untersuchungen zu den phänomenologischen Wahrnehmungstheorien von Husserl, Gurwitsch und Merleau-Ponty, Den Haag, Nijhoff 1983; R. Bernet, La vie du sujet. Recherches sur l’interprétation de Husserl dans la phénoménologie, Paris, PUF 1994, 163–185, Kap. II,3: »Perception et monde naturel: Husserl et Merleau Ponty«; S. Günzel, Maurice Merleau-Ponty. Werk und Wirkung, Wien, Turia + Kant 2007. 4 Vgl. seine weiteren Hauptwerke: La structure du comportement (1942), Paris, PUF 1972; Phénoménologie de la perception, Paris, Gallimard 1945 (dt. Die Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin, De Gruyter 1966); Éloge de la philosophie et autres essais, Paris, Gallimard 1953; Signes, Paris, Gallimard 1960; Le primat de la perception et ses conséquences philosophiques (1933–1934), Grenoble, Cynara 1989; Maurice Merleau-Ponty à la Sorbonne. Résumé de cours 1949–1952, Grenoble, Cyrana 1988. 5 Vgl. dazu N. Monseu, Les usages de l’intentionalité. L’introduction de Husserl en France, Louvain, Peeters 2006, 85 ff.; R. Kühn, Französische Religionsphilosophie und 2

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Welthafte Inkarnation

lichen auf die Frage, wie die »Immanenz« der Leiblichkeit für Merleau-Ponty zugleich »Verweltlichung« desselben bedeutet, das heißt, wie die Sinnespassivität für ihn unabtrennbar eine Welt impliziert, ohne letztlich über eine absolute Selbstaffektion im Sinne Michel Henrys (1922–2002) gegeben zu sein. Auf diese Weise können wir innerhalb unserer Untersuchung zu Postmoderne und Lebensphänomenologie im Rahmen des Denkens Merleau-Pontys auch schon die Verstehensvoraussetzungen für einen Phänomenologietypus schaffen, der mehr dem stratifizierten Erscheinen der Welt in ihren affektiv-sinnlichen Sinnschichten verpflichtet ist als dem absoluten Selbsterscheinen des Lebens, bzw. die Heterogenität der Phänomenalisierungsweisen von Immanenz/Transzendenz überhaupt überwinden will. 6 Hierbei will chair (Fleisch) als Erstgegebenheit den Gegensatz von Körper/Welt überwinden, ist aber schon nach MerleauPonty gerade nicht als Substanz zu begreifen, sondern als opakes »Element« im Sinne der Vorsokratiker, das heißt als latenter Soff, der eine Welt erst hervorbringt. Die Formel »Ich bin mein Leib«, die Merleau-Ponty im Übrigen mit dem ihm vorausgehenden christlichen Existenzphilosophen Gabriel Marcel (1889–1973) 7 teilt, bedeutet auf diesem Hintergrund daher zweierlei. Zum einen hat es nur Sinn, von einem Bewusstsein zu sprechen, sofern damit ein »inkarniertes Ich« gemeint ist, das im Sinne Husserls – wenn auch leiblich-fleischlich modifiziert – »Bewusstsein von etwas« bleibt. Zum anderen ist eine so verstandene subjektive Leiblichkeit (corps propre) ein Synonym für Existenz als situiertes Dasein schlechthin, denn als unmittelbar aktive Transzendenz öffnet sie das »Subjekt« ohne innere Rückzugsmöglichkeiten auf die Anderen wie auf die Welt hin. Damit erkennen wir ebenfalls bei Merleau-Ponty schon eine originäre passio größer als die Freiheit, nämlich in unserem »Innersten« selbst weltausgeliefert zu sein (anstatt dem absolut selbstaffektiven Leben oder dem ethisch befehlenden Anderen wie bei Henry und Levinas). Die in-karnatorische Deskription dieser leibhaften Existenz und Vernunft ist mithin zunächst -phänomenologie der Gegenwart. Metaphysische und post-metaphysische Positionen zur Erfahrungs(un)möglichkeit Gottes, Freiburg – Basel – Wien, Herder 2013, 52–57. 6 Vgl. R. Barbaras, »Le sens de l’auto-affection chez Michel Henry et Merleau-Ponty«, in: Epokhè 2 (1991) 91–111; A. Métraux u. B. Waldenfels (Hg.), Leibhaftige Vernunft. Spuren von Merleau-Pontys Denken, München, Fink 1986. 7 Vgl. Être et avoir, Paris, Aubier 1935, 58 f.

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Der Leib/Welt-Chiasmus bei Maurice Merleau-Ponty als »Opazität«

gegen jede Reduktion des Leibes auf ein bloßes Teilsein der res extensa gerichtet, wodurch aber gerade auch die klassische Identifikation des Bewusstseins mit einem reflexiven Selbst-Bewusstsein zurückgewiesen ist, denn im leiblichen Zugang zur Faktizität der Welt verleiht Merleau-Ponty dem Bewusstsein korrelativ eine Dichte, die ein Sich-Auflösen des Cogito in ein inkonsistentes oder idealistisches Selbstbewusstsein verhindern soll. Diese Dichte als Opazität wie Tiefe von Leib/Welt-Verschränkung tritt so als phänomenologisch postmoderner Garant dafür auf, dass »Weltzugang« und »Innerlichkeit« gleichursprünglich gegeben und ineinander verwoben sind. Da aber diese Innerlichkeit nur eine solche ist, insofern sie Welt eröffnet, ist sie nicht mit der radikal passiven Immanenz der absolut lebendigen Selbstaffektion zu verwechseln, wie wir sie gemäß unseres vorhergehenden Kapitels aus lebensphänomenologischer Sicht kennen. Genauer betrachtet, besagt mithin die Formel »Ich bin mein Leib« nicht, dass der Leib ein »Ich« wäre, sondern dass das Ich einen Leib besitze, wodurch sich die Subjektivität letztlich jener anonymvital »dumpfen« Existenz angleicht, durch die das »Ereignis« einer Welt überhaupt aus passivsten Schichten heraus erst möglich wird. Hier liegt eine entscheidende Verständnisvoraussetzung für die ametaphysisch postmoderne Weltontologie Merleau-Pontys, denn die subjektive Leiblichkeit als Opazität soll nicht bedeuten, dass dadurch das Welterscheinen in seiner Gebung blind erfolge, sondern dass es sich nur nicht über den Anspruch einer radikalen Innerlichkeit bzw. Immanenz verstehen lässt, deren In-karnation dann keinen Sinn mehr hätte. 8 Gäbe es keine »Dichte« als Kopräsenz von Leib/Welt, das heißt keine »Einschreibung« der Ich-Leiblichkeit in die Welt als solche, so könnte sich die Innerlichkeit nicht einmal mehr selbst ergreifen, und zwar mangels phänomenologischer Materialität oder »Fleischlichkeit« (chair). Die Modalität, in der sich die Gebung der Welttranszendenz »selbstaffiziert«, um erscheinen zu können, liegt daher nicht im passiven Vermögen einer originären Ipseität, was jedoch weniger als ein radikaler Ausschluss der letzteren gesehen werden soll, als vielmehr im Sinne einer phänomenologisch prinzipiellen

Vgl. bereits R. Kühn, Studien zum Lebens- und Phänomenbegriff, Cuxhaven-Dartford, Junghans 1994, Kap. VII,3: »Er-Innerung als Memorial« (S. 333–348).; zuletzt auch Lebensethos. Konkretionen originärer Lebensreligion, Dresden, Text & Dialog 2017, I,1: »Leiblichkeit und Intensität als radikalphänomenologische Identitätsbestimmung« (S. 11–26).

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»Ambiguität«. 9 Diese möchte das für die Erfahrung Eigentliche der Leiblichkeit diesseits der Subjekt/Objekt-Trennung aufsuchen, so wie sich auch schon bei Husserl 10 eine Verlagerung des statischen Inhalt/Anschauungs-Modells zur instinktiv hyletischen Vorstrukturierung innerhalb der passiven Genesis als »Triebintentionalität« hin beobachten lässt. Der subjektiv eigene Leib hebt aber für MerleauPonty die klassischen Unterscheidungen der Bewusstseinsobjektivierung als solcher auf, um – anders gesagt – in der »passiven Selbstaffektion« der Sinnlichkeit das Werk der Intentionalität selbst schon zu entdecken. Am oft zitierten Beispiel der Hand ausgedrückt, die den eigenen Leib berührt, bedeutet dies thesenhaft: ihr Berühren ist ein Berührtwerden, ihr Fühlen ein passives »Erleiden«, gerade weil es »intentional« ist. Allerdings ist nicht zu übersehen, dass diese Grundanalyse der Reversibilität in »Phénoménologie de la perception« von 1945 ständig zwischen einer Beschreibung der Weltgebung seitens des corps propre einerseits und einer Erhellung derselben in Termini einer Bewusstseinsphilosophie andererseits hin und her schwankt, da dieses Werk zugleich gegen den reflexionsphilosophischen Intellektualismus (unter anderem Jules Lagneaus) 11 gerichtet ist, wie aber auch vom Naturalismus abhängt, welcher der berücksichtigten Gestaltpsychologie und der Gehirntheorie des Neurologen K. Goldstein inhärent ist. 12 So schreibt Merleau-Ponty: »Der Akt, durch den ich Bewusstsein von etwas habe, muss selbst in dem Augenblick erfasst werden, in dem er sich vollzieht, weil er ohnedem zerstört würde.« 13 9 Vgl. A. de Waelhens, Une philosophie de l’ambiguïté (Préface), in: M. MerleauPonty, La structure du comportement, S. V–XV. Fasst man diese Problematik in Bezug auf Husserls und Heideggers Position, dann gilt, dass Merleau-Ponty die Unterscheidung Empirisch/Transzendental wie später bei Jacques Derrida unterlaufen will und aus den natural-anonymen Leibstrukturen (»On«/»Man«) Existenzialien ableitet, die bei Heidegger das Dasein innehat. Gleichzeitig bleibt mitzubedenken, dass sich die »Ambiguität« als ein »Zwischen« stark gegen Sartres Dualismus von Fürsich und Ansich vor allem wendet, womit das »Man« dann zugleich postmodern zum Selbstentzug durch das Fremde/Andere wird; vgl. B. Bernet, La vie du sujet, 165 f. 10 Vgl. Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der Logik (1939), Hamburg, Meiner 1985, 181 ff. 11 Vgl. R. Kühn, Französische Religionsphilosophie und -phänomenologie, 66–74. 12 Vgl. B. Waldenfels, Phänomenologie in Frankreich, Frankfurt/M., Suhrkamp 1983 (21998), 142–216: »M. Merleau-Ponty: inkarnierter Sinn«; E. Ströker u. P. Janssen, Phänomenologische Philosophie, Freiburg/München, Alber 1989, 293–335: »Merleau-Pontys Phänomenologie des der Welt inkarnierten Daseins«. 13 Phénoménologie de la perception, 426.

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Der Leib/Welt-Chiasmus bei Maurice Merleau-Ponty als »Opazität«

Bedeutet dies eine Anerkennung der Kategorie der Subjektivität innerhalb einer Philosophie, welche dieselbe als Immanenz kritisiert, oder handelt es sich bloß um ein Weiterbestehen der »Innerlichkeit« im Rahmen der erwähnten phänomenologischen Ambiguität, die das Spätwerk Merleau-Pontys eindeutiger zugunsten des rein »fleischlichen Leibes« klären wird? Immerhin lässt sich nicht ganz von der Hand weisen, dass mangels einer absolut passiven »Selbstkonstitution« des Leibes dieser dahin tendiert, seine transzendentale Funktion zu verlieren, um sich dem ontischen Bereich im Sinne eines geheimnisvoll naturalen »Lebens« zu nähern, dessen anonyme Leistungen – wie meist in der Postmoderne – eben doch wie »blind« sind und unterhalb des Ich-Bewusstseins einen zweifelhaften ontologischen Status einnehmen. 14 Im Mittelpunkt der phänomenologischontologischen Debatte steht damit sowohl die »Seinseinheit« des mannigfaltig strukturierten »Zur-Welt-Seins« sowie der apriorische Status von Welt und Leben. Denn als natürliche und soziale Lebenswelt ist die unendlich offene Welt Ursprung aller symbolischen Transzendenzen, aber zugleich ist sie vom Leben nicht ungeschieden, so dass letzteres oftmals die eigentliche »transzendentale Quelle« zu sein scheint, ohne sich von einem Naturkorrelat lösen zu lassen. Positiv gesehen, um nämlich gerade das Absinken des phänomenologischen Erlebens in ein empirisch-vitales Leben zu verhindern, würde Merleau-Pontys Rückgriff auf die Bewusstseinsreflexivität bedeuten, dass die vom subjektiven Leib entfaltete phänomenale Transzendenz von der abstrakt wie naiv objektiven Weltexteriorität abgegrenzt wird. Dann wäre die Erhellung der phänomenologischen Leiblichkeit in ihrer opaken Passivität in Termini des Cogito eher eine Dies ist die Kritik von M. Henry, L’essence de la manifestation, Paris, PUF 1963, 468 ff. (dt. Das Wesen des In-Erscheinung-Tretens, Freiburg/München, Alber 2018). – Diese Schwierigkeiten führen zur prinzipiellen Andersartigkeit des Reduktionsverständnisses bei Merleau-Ponty; vgl. Phénoménologie de la perception, S. VIII, wo eine »Unmöglichkeit vollständiger Reduktion« betont wird, bzw. später Signes, 225: »Was in uns der Phänomenologie widersteht – das Natursein, das ›barbarische‹ Prinzip, von dem Schelling sprach –, kann nicht außerhalb der Phänomenologie bleiben und muss seinen Platz in ihr haben.« So ließe sich mit R. Bernet, La vie du sujet, 169, von einer »Reduktion zum Leben hin« anstelle einer »Reduktion des naturalen Lebens« sprechen. Dies schließt ein, dass die Genesisproblematik der Subjektivität als Leib ein größeres Gewicht einnimmt als die Konstitutionsproblematik im Sinne Husserls. Für die öfters erwähnten Vergleiche mit Husserl vgl. auch R. Kühn, Husserls Begriff der Passivität. Zur Kritik der passiven Synthesis in der Genetischen Phänomenologie, Freiburg/München, Alber 1998.

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Vertiefung des Transzendenzbegriffs, so wie Husserl durch die Triebhyle den Intentionalitäts- und Ichbegriff schärfer fasste. Das folgende Zitat zeigt eindeutig diesen problematischen Zusammenhang: »Die Schau erreicht sich selbst und holt sich im Gesehenen ein. Es ist ihr wesenhaft, sich zu ergreifen, und täte sie es nicht, so wäre sie die Schau von nichts. Aber sie ergreift sich wesenhaft in einer Art Zweideutigkeit und Dunkelheit, denn sie besitzt sich nicht, sondern entflieht sich selbst ins Gesehene hinein.« 15 Merleau-Ponty spricht daher in diesem späteren Stadium auch weniger von Wahrnehmung (perception) als von vision, sofern sich für ihn ein solches Sehereignis (Schau) zwischen Sehendem, Gesehenem und Mitsehendem abspielt und tiefer reichen soll als auf Objekte ausgerichtete subjektive Wahrnehmungsakte der klassischen Philosophie. 16 Aus radikal phänomenologischer Sicht betrachtet, drückt sich in dieser Spannung des Wahrnehmungsaktes die Spannung der Wahrnehmungsanalyse Merleau-Pontys selbst aus. Da sie ganz auf das Außen, auf die Welt hin orientiert ist, kann sie die Innerlichkeit nur im Sinne einer »Dunkelheit« festhalten. Aber es ist natürlich auch eine andere Lesart möglich, die der ausgedrückten »Zweideutigkeit« ihren Status lässt, wobei dann die Frage einer letzten transzendentalen Fundierung gewollt offen bleibt. 17 Das »Denken der Schau« verharrt in einer bereits postmodernen Schaukelbewegung, weil das wahrnehmende Bewusstsein als Cogito-Immanenz unfähig ist, das originäre Phänomen der Transzendenz adäquat zu ergreifen, was einen fortbestehenden Dualismus bei Merleau-Ponty seit seinem ersten Werk »La structure du comportement« von 1942 charakterisiert. Er muss die noch nicht »ideelle« Besonderheit der wahrnehmenden Leistung von der intellektualistischen Reflexivität unterscheiden, weil deren »Idee« die Eigenheit des wahrnehmenden Welterlebnisses als eines leiblichen »Zur-Welt-Seins« (être-au-monde) nicht wiedergeben kann, nachdem er jedoch zuvor gerade mit Hilfe dieser Phi-

Phénoménologie de la perception, 432. Vgl. L’œil et l’esprit, Paris, Gallimard 1964 (dt. Das Auge und der Geist, Hamburg, Meiner 1984: F. Dastur, »Monde, chair, vision«, in: Maurice Merleau-Ponty: le psychique et le corporel, Paris, Aubier 1988, 128–142. 17 Dass das anonyme Fungieren des Leiblichen quasi-transzendentale Funktionen der Intentionalität übernimmt, ohne den entsprechenden Status eines Daseins, Cogito oder Bewusstseins wie bei Heidegger, Sartre bzw. Husserl einzunehmen, unterstreichen besonders E. Ströker u. P. Janssen, Phänomenologische Philosophie, 308 ff. 15 16

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Der Leib/Welt-Chiasmus bei Maurice Merleau-Ponty als »Opazität«

losophie den Naturalismus gebannt hatte. 18 Trotzdem bleibt die Erwähnung einer Dunkelheit im Denken selbst ihrerseits phänomenologisch mehr als dunkel und unterstreicht die verbleibenden großen methodischen wie ontologischen Schwierigkeiten. Denn diese Dunkelheit kann bedeuten, dass das Denken als Selbstbewusstsein wesentlich nur Ver-Äußerlichung als Objektivierung ist, so dass das Nicht-Objektivierbare dann eben nur als »Dunkelheit« erscheint, ohne letzterer vom Denken her einen positiven phänomenologischen Status verleihen zu können, sofern nicht eine radikale Epoché auf das rein phänomenologische Leben im Sinne einer »Gegen-Reduktion« vollzogen wird. 19 Vergessen wir allerdings nicht, dass Merleau-Ponty in seinen beiden genannten ersten Hauptwerken und vor allem in späteren Schriften dann eine »dritte Dimension« sucht, »wo unsere Aktivität und unsere Passivität, unsere Autonomie und unsere Abhängigkeit, einander nicht mehr widersprechen«. 20 Diese dritte ontoMan tut gut daran, über die historische Phänomenologie hinaus festzustellen, dass Merleau-Ponty einer spezifischen »Französischen Schule der Wahrnehmungsanalyse« verpflichtet ist, die sich nach Descartes vor allem von Maine de Biran und Lagneau herleitet. Vgl. G. Granel, Traditionis traditio. Essais, Paris, Gallimard 1972, 17 ff., sowie R. Kühn, Französische Religionsphilosophie und -phänomenologie, 58 ff. Es erstaunt dann in der Tat weniger, dass die Leibanalyse bei Merleau-Ponty von einem gewissen (dynamischen) »Spiritualismus« durchzogen bleibt, dessen »metaphysischer Rest« nicht einfach in »Psychologie« aufzulösen ist, wie R. Bernet, La vie du sujet, 176 f., meint. Zuzustimmen ist daher, wenn letzterer die »Expressivität« des Leibes in Analogie zum Kunstwerk sieht, wo die ideale Sinngestalt ebenfalls nicht von der sinnlichen Materialität ablösbar ist. In diesem Sinne hat die späte Kunstanalyse zu Cézanne beispielsweise weiterhin einen »spirituellen Wert«, welcher sich der »religiösen (theologischen) Transzendenz« an der Oberfläche substituieren kann, insofern es die Dinge sind, die uns ansehen und anreden; vgl. etwa Le visible et l’invisible, 286 f. 19 Zur weiteren Klärung des Verhältnisses von Unsichtbarkeit/Dunkelheit und Phänomenalität vgl. auch M. Henry, Radikale Lebensphänomenologie. Ausgewählte Studien zur Phänomenologie, Freiburg/München, Alber 1992, 111 ff.; J.-L. Marion, Le Visible et le Révélé, Paris, Cerf 2005. 20 Titres et Travaux; zit. Th. Geraets, Vers une nouvelle philosophie transcendantale. La genèse de la philosophie de M. Merleau-Ponty jusqu’à la »Phénoménologie de la perception«, Den Haag, Nijhoff 1971, 36 f. Vgl. ebenfalls Phénoménologie de la perception, 183: »Unter den eigentlichen Wahrnehmungen gibt es also, um sie zu halten, eine tiefere Funktion […]. Dies ist die Bewegung, die uns über die Subjektivität hinausträgt, die uns in der Welt eingerichtet sein lässt.« Merleau-Ponty spricht daher im Spätwerk auch von ontologie indirecte oder intra-ontologie, um das überlieferte philosophische Verhältnis von An- und Abwesenheit zu revidieren und für die nachfolgenden postmodernen Autoren wie etwa Lacan vorzubereiten, der in Le Séminaire XI: Les quatres concepts fondamentaux de la psychanalyse, Paris, Seuil 1964, seiner18

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logische Dimension mit diesmal ganz offensichtlich postmodernen, das heißt struktural-phänomenologischen Elementen würde dann bedeuten, dass Naturalisierung des wahrnehmenden Subjekts ebenfalls eine gewisse Subjektivierung der Natur nach sich zieht. 21 Der Mensch wäre ohne Dinge nichts, und ein »universales Leben des (wilden) Sinnes« strömt zu jedem Augenblick unbezwingbar ein, um einen Begriff von Husserl aus seiner Letztbegründungsproblematik von Empirie/Transzendentalität zu verwenden. 22 Spannung, Ambiguität, Dunkelheit wie Dualismus sind daher die Anzeichen dafür, dass gemäß Merleau-Ponty weder das Phänomen der Transzendenz in Termini einer Immanenz gedacht werden kann, noch die Passivität ganz in die Transzendenz eingeht, ohne andererseits als originär fundierende Selbstaffektion, welche die Transzendenz in sich selbst erst ermöglicht, analysiert werden zu können. Denn Merleau-Ponty fügt der oben zitierten Stelle vom »Denken der Schau« bei, dass das Cogito (des Sehens) uns weder eine psychologische noch eine transzendentale Immanenz offenbart, sondern »die tiefe Bewegung der Transzendenz, die mein Sein selbst ist: die gleichzeitige Berührung meines Seins mit dem Sein der Welt«. 23 Dramatiseits auf Merleau-Ponty verweist; vgl. auch G.-F. Duportail, Les institutions du monde de la vie. Merleau-Ponty et Lacan, Grenoble, Millon 2008. Als gemeinsame postmoderne Punkte hieraus ergeben sich für diese beiden Autoren die Spiegelung des Ich, der kindliche Polymorphismus sowie die sprachliche Situiertheit des Leibes. 21 C. Lévi-Strauss widmete sein Werk Pensée sauvage (Paris, Gallimard 1962) Merleau-Ponty und zeugt damit von einer gewissen Korrespondenz hinsichtlich einer symbolischen Struktur, in die Natur und Kultur aufgehen, so wie diese auch den Leib/Welt-Bezug bei Merleau-Ponty kennzeichnet. 22 Vgl. auch R. Gély, Imaginaire, perception, incarnation. Exercise phénoménologique à partir de Merleau-Ponty, Henry et Sartre, Brüssel, Peter Lang 2012. 23 Phénoménologie de la perception, 432. Natürlich kann dieser Seinsbegriff hier nicht wie bei Husserl als anschauliche Erfüllung in einem Bewusstseinsleben verstanden werden, weshalb das »phänomenologische Wesen« des »Zur-Welt-Seins« bei Merleau-Ponty neben methodologischen Fragen das Problem der »Seinseinheit« und ihrer Erkennbarkeit überhaupt aufwirft, das heißt im Letzten auch den Status der Philosophie selbst. Liegt nämlich der »Sinn« der Existenz in leib-engagierten Situationsvollzügen, so kann solches Leisten wie das Geleistete nicht in (Pseudo-)Deskriptionen erhellt werden. Man kann hierbei eine Orientierung am späten Husserl der Lebenswelt und Triebmonadologie erkennen, der allerdings den Anspruch auf die Selbstgebungsleistung des Erkennens nie aufgab. In anderer Hinsicht kann damit aber auch von Merleau-Ponty beabsichtigt sein, unser »Weltleben« nicht nur von zu »dekonstruierenden« Sichtweisen der Postmoderne abhängig zu machen, wie sie gegen Ende seines Lebens mit einem sich etablierenden (Post-)Strukturalismus erwuchsen. – Zur Diskussion um den Begriff der Situation bei Heidegger, Sartre und Merleau-

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Der Leib/Welt-Chiasmus bei Maurice Merleau-Ponty als »Opazität«

scher ausgedrückt, bezeichnet mithin das »Bewusstsein« eher die Intentionalbewegung, die jedes Bewusstsein als »Immanenz« selbst zerreißt, so dass die Subjektivität sich eigentlich nicht in einem eigenen Status phänomenologisch von der Transzendenz unterscheiden lässt, weil sie als affektiv wahrnehmendes Empfinden »am« Objekt selbst erst geboren wird. Mit anderen Worten wird die Subjektivität ein Sich (soi) nur dergestalt, indem sie ein Selbst (soi-même) in dem Maße ausbildet, wie sie eine Welt entfaltet. Man kann Merleau-Ponty dabei zugestehen, dass er durch den Rückgriff auf eine Bewusstseinsterminologie (Selbst/Soi) einen naiven Realismus vermeiden will. Aber hat es dann in einem solchen, bereits postmodernen Kontext einer leibhaft-sinnlichen Weltwerdung überhaupt noch einen Sinn, weiterhin vom Cogito zu sprechen, ohne dieses radikalisiert als transzendentale Ermöglichung aus dem absolut phänomenologischen Leben als solchem heraus zu verstehen und mit dem Fleisch (chair) wirklich identisch zu setzen? 24 Sehen wir also davon ab, dass Merleau-Ponty im weiteren Verlauf seiner Analyse die Leiblichkeit in uneigentlichen Termini des »Wissens« beschreibt, so bleibt bestehen, dass dieses latente, anonyme und habitualisierte Wissen des Leibes die aktive Transzendenz desselben als Zugehörigkeit zur Welt meint. Die Passivität tritt dann eher als die »Präsenz« dieser Welt selbst auf denn als das affektive Wesen der Immanenz, weil »Immanenz« für Merleau-Ponty wie für die Postmoderne traditionskritisch die reflexiv intellektuale Einheit von Denken und Gedachtem bedeutet. Gerade um aber eine Art von »Selbstaffektion« denken zu können, bedarf es in seiner Philosophie einer phänomenologischen Materialität der passiven Opazität selbst,

Ponty hierbei vgl. bereits R. Kühn, Studien zum Lebens- und Phänomenbegriff, Kap. VII,2.: »Freiheits-›Dialektik‹ und immanente ›Nicht-Freiheit‹« (S. 316–332). 24 Diese Analyse eines sich selbst identischen »fleischlichen Cogito« im Zusammenhang mit einem rein absoluten Leben leistet M. Henry vor allem in seinem Spätwerk Inkarnation. Eine Philosophie des Fleisches, Freiburg/München, Alber 2002, wobei im Kap. 21 u. 31 auch der reversible Chiasmus Merleau-Pontys einer grundsätzlichen Kritik unterzogen wird. Nicht nur würde die Sinnlichkeit hier verabsolutiert und unter dem Begriff der (Welt-)Transzendenz hypostasiert, sondern der fehlende Bezug zu einem absoluten (selbstaffektiven) Leben zeige sich auch darin, dass dem »Berührten« kein wirklicher Passivitätsstatus zuerkannt wird, der ebenso originär ist wie das aktive »Berühren«. Vgl. dazu auch R. Gély, »Réversibilité et asymétrie des rôles chez Michel Henry et Merleau-Ponty«, in: J. Hatem (Hg.), Michel Henry, la Parole de la Vie, Paris, L’Harmattan 2003, 117–166.

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Die Frage der Passivität und Immanenz

so dass der corps originaire die äquivalente Stelle einer sinnlichen Intentionalität einnimmt, wodurch der tatsächlich faktische Sinn der Phänomenalität überhaupt erst gebildet wird. Diese Phänomenalität des originären Erscheinens, womit wir in die fruchtbarste Auseinandersetzung mit Merleau-Ponty eintreten, wird nicht so sehr im Sinne einer »eidetischen Notwendigkeit« gemäß Husserlschen Vorgaben ergriffen, sondern als Bezeugung der »Erfahrung« (expérience, épreuve), die in meinem subjektiven Leib gelebt wird. Das heißt, die frontal korrelative Konstitution durch Noese und Noema wird aufgegeben als ein zu abstrakt objektivierendes »Vor-uns-AusgebreitetSein«. Das Originäre der Phänomenalität setzt, anders gesagt, eine nicht-objektivierende Gebung voraus, wofür eben der Begriff der Passivität als »Gewebe« oder »Geflecht« (Textur) der Welt steht und spätere radikalisierte Phänomenologien in Frankreich vorbereitet. 25

2.

Die Frage der Passivität und Immanenz

Merleau-Ponty fragt also durchaus, indem er vom Seienden »Leib« zur Eröffnung desselben als und in der Transzendenz phänomenologisch zurückkehrt, nach der Modalität, wie die Ursprungs-Erfahrung sich selbst gegeben ist. Nur ist die Selbstgebung der passiv empfindenden Leiblichkeit bereits eine auf diese Weise »konstitutiv« originär transzendente, da sie als »leib-fleischliches Bewusstsein« (conscience charnelle) zu keinem Augenblick mit sich selbst zusammenfällt, oder mit anderen Worten: das Empfinden vermag sich innerhalb seiner sinnlichen Aktivität niemals als reines »Selbsterlei-

Eine unmittelbare Anknüpfung an Merleau-Ponty findet man gegenwärtig bei Marc Richir (geb. 1943), der im Zusammenhang mit der parole opérante als fungierender Sprache in jedem »Ereignis« als Sehen und Sagen zu dessen selbst-produktivem »Sinn« als spontanem sens se faisant zurückfinden will. Richirs Zentralbegriff einer »Symbolischen Stiftung« (institution symbolique) richtet sich dabei kritisch gegen alle Kulturgestalten, welche einen solchen potenziellen Sinn immer schon vereinnahmt haben, aber weiterhin verborgen davon zehren. Nach dieser Sichtweise gibt es kein »unmittelbares Phänomen«, denn jedes scheinbar selbstverständliche Phänomen muss aus seiner symbolisch mitbestimmten Gegebenheitsweise erst noch herausgeschält werden; vgl. M. Richir, Méditations phénoménologiques, Grenoble, Millon 1992 (dt. Phänomenologische Meditationen, Wien, Turia + Kant 2001); H.-D. Gondek u. L. Tengelyi, Neue Phänomenologie in Frankreich, Frankfurt/M., Suhrkamp 2011, 41–113.

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Der Leib/Welt-Chiasmus bei Maurice Merleau-Ponty als »Opazität«

den« im Sinne leiblich-lebendiger »Passibilität« zu erfahren. 26 Es herrscht vielmehr im Leibsein eine fundamentale Umkehrbarkeit vor, die sich durch Merleau-Pontys gesamte Phänomenologie auch von Welt und Natur zieht – dass nämlich das Empfinden jederzeit aus sich heraustreten kann, um empfundenes Objekt zu werden, so wie Blick (»Ich«) und Dinge untereinander umkehrbar sind, indem sie insgesamt ein »symbolisches System« auch im Sinne von LéviStrauss und Lacan bilden, das meine Wahrnehmung von einem Ding zum anderen weiterleitet. Die Passivität – anstatt die Matrix eines möglichen absolut phänomenologischen Lebens abzugeben – tritt also auf die Seite dessen, was sie zum Erscheinen bringt. Dies wertet Merleau-Ponty als ontologische Kontinuität zwischen Leib und Welt, so dass es nach ihm niemals ein Gegen-Über einer rein sich selbst empfindenden »Subjektivität« einerseits und einer von dieser sich selbst gegebenen Welt andererseits gibt. Gerade weil alles Sinnliche wesenhaft das Empfinden eines Leibes ist, der schon immer welthaft situiert ist, vermag die Sinnlichkeit nicht vom »Ereignis« einer empfundenen Welt im Sinne einer phänomenalen Transzendenz ohne verfälschende Abstraktion abgelöst zu werden. Für Merleau-Ponty hat es im Unterschied zu M. Henry keinen Sinn, eine rein transzendental selbstaffektive Sinnlichkeit von einer weltverbundenen Sinnlichkeit als Gebung eines sinnlichen Gehalts zu unterscheiden, womit allerdings noch nichts gegen den Einbezug des Gehalts »Welt« in die Immanenz qua subjektiver Kraft oder Praxis ausgesagt ist. 27 Es gibt mithin nach Merleau-Ponty »nur eine Berührung mit sich durch den Abstand von sich«, was für seine späte phänomenologische Analyse und dann entsprechende postmoderne Weiterentwicklungen heißt: »Die Selbstgegenwart ist Gegenwart zu einer differenzierten Welt hin.« 28 Die Phänomenalität als passiv transzendentes Werden des Seins zum Erscheinen lässt folglich das Empfinden zu Welt werden und bezeichnet in dieser »Umkehrbarkeit« dergestalt ein primordiales »Ent-Springen« als Ursprungsereignis, wodurch das Empfinden erst Empfinden zusammen mit der Welt als Weltwerdung wird. Deshalb haben Innerlichkeit und Ipseität für sol26 Henry meint damit die unzertrennbare Verbindung von Leben/Leib; vgl. Inkarnation, 193 ff. 27 Vgl. zur Diskussion ebenfalls R. Kühn, Natur und Leben. Entwurf einer aisthetischen Proto-Kosmologie, Freiburg/München, Alber 2011, 59 ff. u. 207 ff. 28 Vgl. Le Visible et l’Invisible, 245 f.: »La présence à soi est présence à un monde différencié.«

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Die Frage der Passivität und Immanenz

che Sinnlichkeit keinen Sinn bei Merleau-Ponty, denn das »Ich«, welches wahrnimmt, »ist niemand, ist das Anonyme«, so dass letztlich »nicht wir es sind, die wahrnehmen; es ist das Ding, das sich dort hinten wahrnimmt«. Das Empfinden ist solches nur im Überbordetwerden durch die Welt; seine radikale Passivität ist seine Transzendenzgenese, die zugleich »Fülle an Subjektivität und Fülle an Materialität« ist. 29 In Husserls Passivitätsanalyse ergeben die untersten genetischen Schichten noch selbst einen (hyletischen) »Weltsinn«, der regressiv durch die phänomenologische Reduktion eingeholt und vor dem noetischen Ich als Potenzialität ausgewiesen werden kann, während Merleau-Ponty diese Sinnintegration für prinzipiell unstatthaft hält, weil Bewusstsein vereinigt, was uneinholbar über es hinausgeht: »Die Welt ist nicht, was ich denke, sondern das, was ich lebe, ich bin offen zur Welt, unzweifelhaft kommuniziere ich mit ihr, doch ist sie nicht in meinem Besitz, sie ist unausschöpfbar. Nie kann ich von dieser ständigen These des Lebens: ›Es gibt eine Welt‹ oder vielmehr ›Es gibt die Welt‹, vollständig Rechenschaft ablegen.« 30 Der Chiasmus zwischen Weltpräsenz und leiblichem Empfinden besagt folglich, dass die Aktivität selbst Passivität ist, denn das Ergreifen der Welt ist Ergriffen-Sein durch sie. Merleau-Ponty möchte dabei jene Transzendenz des Sichtbaren, die »ohne ontische Maske« ist, von der Exteriorität des Ansich als Objekt unterscheiden, womit er Levinas und M. Henry im postheideggerschen Aufsuchen einer originären Phänomenalität durchaus gleicht. 31 Letztere will nicht länger einfache Juxtaposition und Koexistenz von Sein und Bewusstsein sein, sondern Infragestellung der passiven »Rezeptivität« selbst als einer »Me-Ontologie« 32 des identifizierenden Bewusstseins. Allerdings kann diese Überkreuzung von Weltwerdung des Leibes und Fleischwerdung der Welt, worin die phänomenologische »VerweltEbd. 259, 239 u. 302; vgl. R. Barbaras, Le sens de l’auto-affection, 99 ff. Phénoménologie de la perception, S. XI f. Anstelle des Begriffs »Kommunikation« mit der Welt werden auch die Begriffe »Symbiose, Kommunion« und »Paarung« gebraucht (vgl. ebd., 367 u. 370), wodurch qua ungeteiltem Leben ein und dieselbe »existentielle Modalität« (429) im Sinne einer Konnaturalität zum Ausdruck kommt, deren Aufweis seinem Werk manchmal lyrische Züge verleiht. Vgl. beispielsweise die Analyse des wahrgenommenen blauen Himmels, die darin endet, dass »mein Bewusstsein von diesem unbegrenzten Blau aufgebläht wird« (248). 31 Vgl. J. Taminiaux, Sillages phénoménologiques. Auditeurs et lecteurs de Heidegger, Brüssel, Ousia 2002, 273–293: »Merleau-Ponty, lecteur de Heidegger«. 32 Vgl. E. Levinas, Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und zur Sozialphilosophie, Freiburg/München, Alber 1992, 113 ff. 29 30

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Der Leib/Welt-Chiasmus bei Maurice Merleau-Ponty als »Opazität«

lichung« des Leibes zur Phänomenalisierung der Welt bei MerleauPonty postmodern vorangetrieben wird, nicht verhindern, dass damit der subjektive Leib integral in das Verweisungssystem oder Bedeutungsspiel der Sichtbarkeitshorizonte eintritt, um sich selbst darin zu verlieren, nahezu zu »opfern«, sofern hingegen nach M. Henry 33 Leib immer auch eine Selbst-Gegebenheit bleibt, die unmittelbar für sich als nicht absolut identisch mit »Welt« erprobt wird. Merleau-Pontys Phänomenologie, die ohne allen Zweifel den unendlich sinnlichen Reichtum der Welt potenziell bis in die Kunst hinein einfängt (möglicherweise sogar die Philosophie als je individuell schöpferische Leistung im ästhetischen Sinne verstand), 34 ist dennoch bei aller »Dialektik« zwischen Leib/Welt eine Philosophie der monistischen Identität unter dem Einheitsprimat sichtbarer (transzendenter) Sinnwerdung. Die Leiblichkeit selbst findet sich ausschließlich unter der Form einer »lebend« erscheinenden Welt wieder, was spätere postmoderne Autoren als »Fraktur« des Leibes thematisieren werden, worin sich die horizonthafte Welterschließung ohne je möglichen Sinnabschluss de-konstruktiv wiederholt bzw. neu ereignet. 35 Auch wenn diese »lebende Welt« also keine »Welt an sich« ist, das heißt keine abstrakt distanzierte Bewusstseinstranszendenz im Sinne eines »Panoramablicks«, sondern eine Welt, »wo das versunkene rohe Sein (Être brut) auf sich selbst zurückkommt, [indem] das Sinnliche sich aushöhlt« 36 (wodurch das Sinnliche selbst in dieser Vgl. Inkarnation, 145 ff. Vgl. J. Slatman, L’expression au-delà de la représentation. Sur l’aisthesis et l’esthétique chez Merleau-Ponty, Paris, Vrin 2003; A. Kapust u. B. Waldenfels (Hg.), Kunst. Bild. Wahrnehmung. Blick: Merleau-Ponty zum Hundertsten, München, Fink 2008. 35 Vgl. K. Busch, »Exposition und Berührung (Jean-Luc Nancy)«, in: E. Alloa, Th. Bedorf, Chr. Grüny u. T. N. Klass (Hg.), Leiblichkeit. Geschichte und Aktualität eines Konzepts, Tübingen, Mohr Siebeck UTB 2012, 323–345. 36 Le Visible et l’Invisible, 263. Gegen Hegel ist diese Dialektik keine vom absoluten Wissen getragene Selbigkeit des Erkennens und seines Gegenstandes, sondern eine Dialektik der Endlichkeit; vgl. ebd., 129: »Die gute Dialektik ist jene, die weiß, dass jede These eine Idealisierung darstellt, dass das Sein nicht aus Idealisierungen oder aus Gesagtem besteht, wie noch die alte Logik glaubte, sondern aus verbundenen Ganzheiten, wo die Bedeutung immer nur als Tendenz vorhanden ist.« In Letzterem drückt sich die durchgehende Orientierung Merleau-Pontys an seinem frühen Struktur- und Gestaltbegriff aus. Zur Dialektik als Selbstbewegung der Dinge wie aber auch einer Möglichkeit der geist-orientierten Naturdialektik vgl. des Näheren B. Waldenfels, Phänomenologie in Frankreich, 158 ff. Damit erweist sich der »Rückstieg« von einer kulturell geformten Wahrnehmung zu einem »rohen Sein« aber zugleich auch 33 34

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Die Frage der Passivität und Immanenz

passiven Selbstvertiefung als Weltverfleischlichung ein »Sinnliches an sich« im doppelten Sinne von Empfindendem und Empfundenem ist), so kann doch nicht geleugnet werden, dass hier eine Distanziertheit bzw. Räumlichkeit ins Spiel kommt, die Ausgehöhltsein des Leibes und Dichte der Welt als voneinander ungetrenntes Passivitätsereignis insgesamt erst ermöglicht. Denn die »Tiefe der Welt« besonders in der Spätphilosophie Merleau-Pontys ab den 1950er Jahren, wo diese Tiefe qua Empfinden zur wahrgenommenen Sichtbarkeit im intersensoriellen Sinne wird, bleibt ein Apriori der Horizontalisierung oder Natur-Materialisierung, auf das sich die Analyse stützt, um die Leib/Welt-Identität als schon postmoderne »Identität der Differenz« behaupten und fassen zu können. Weil dieses Apriori, eine Art Weltfaszination im Sinne des Husserlschen »Weltabsolutismus«, vorentschieden scheint, kann Passivität nur in bzw. an einem »Etwas« wiedergegeben werden: »Das Berührende ist immer gerade im Begriff, sich als das Berührte zu ergreifen, verfehlt jedoch sein Ergreifen und vollendet es nur in einem es gibt.« 37 Merleau-Pontys Denken zeugt in der Konkretisierung solcher In-karnation mithin deutlich von der Letztschwierigkeit aller radikalisierten Phänomenologie der Passivität. Denn der Einwand der »Naturalisierung« des Leibes durch dessen Weltwerdung entspringt der Vorentscheidung, nur »etwas« gelten zu lassen, das als übergreifender Charakter eines »Lebensflusses« überhaupt Geltung beanspruchen soll, weil so schöpferische Leistungen auftauchen und in denselben Lebensfluss zurücksinken. Dies zeigen besonders dann auch seine Ausführungen zu Kultur und Geschichte im Zusammenhang mit dem Freiheitsthema, 38 wo neben Bergsons Lebensbegriff jene »Habe« auszumachen ist, die Husserl 39 »geschichtliche Sedimentierung« nannte. Sofern das »wilde Sein« als polymorphes Geheimnis in postmoderner Umkehrung gegen die abendländische Tradition eine nicht-idealisierte Lebensmacht ist, musste natürlich die Husserlsche Grundposition umgeändert werden, woraus sich ebenfalls – außer der schon erwähnten Reduktionseinschränkung – die grundlegende Kritik an der Apperzeptionskonstitution ergab: »[Die in das Sein hineinverlagerte Intentionalität] ist als Hinweis auf ein »eminentes Sein« als jene »Sache selbst«, welche die jeweilige phänomenale Gegebenheit und das Wahrgenommene transzendiert. 37 Le Visible et l’Invisible, 313. 38 Vgl. etwa Phénoménologie de la perception, 389 ff., 496 ff.; Éloge de la Philosophie, 288–308: »Bergson se faisant«, der seinen eigenen Denkweg vorwegnimmt. 39 Vgl. Erfahrung und Urteil, 334 ff.

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Der Leib/Welt-Chiasmus bei Maurice Merleau-Ponty als »Opazität«

nicht mehr vereinbar mit der ›Phänomenologie‹, das heißt mit einer Ontologie, die alles, was nicht nichts ist, dazu verurteilt, sich dem Bewusstsein durch Abschattungen hindurch zu präsentieren und als etwas, das sich von einer originären Sinngebung herleitet, die ein Akt, das heißt ein Erlebnis, unter anderen ist.« 40 Sollte also Passivität phänomenologisch unter den Bedingungen des weltlich sprachlichen Verweisungssystems unsagbar sein, so gilt dennoch auch mit Merleau-Ponty, dass die Affektivität das Wesen der Phänomenalität ist. Denn jede Charakterisierung der Welt als Fleisch (Leib) beinhaltet für das Empfinden ein relatives Sich-Empfinden: »Die Dinge der Welt sind [als Erprobung] meiner Substanz entnommen, sind Stacheln in meinem Fleisch (Leib).« 41 Jede Gebung von »Welt« ist Selbstaffektion (affection de soi), jedoch nicht im absolut radikalen Sinne einer Selbstergreifung des Passivseins in sich (autoaffection), sondern eben als erwähntes Selbst-Ent-Springen einer Welt in dieser Selbstphänomenalisierung der Ursprungsgebung als »Fleisch«. Merleau-Pontys frühe Kritik, seit »La structure du comportement«, am wissenschaftlichen Vorurteil bis hin zur späteren Einbettung aller Subjektivität in eine nicht nur »zwischenleibliche«, sondern sogar »kosmische Lebenswelt«, zielt darauf ab, dass auch jegliches idealisierte Universum innerhalb der phänomenalen Transzendenz in der Idealisierung der affektiv-leiblichen Wahrnehmung gründet und eine Bedeutungseinbettung im »sprachlichen Fleisch (Leib)« voraussetzt. 42 Jedes Wahre leuchtet nur durch eine affektivemotionale Erfahrung hindurch, so dass die »Ideen« physiognomische Züge des Anderen und meiner selbst sind sowie im affektiven Austausch von Hass und Liebe entgegengenommen oder abgewiesen werden, was ebenfalls die weitgehend metaphorische Schreibweise bei Merleau-Ponty erklären würde. 43 Diese Verfleischlichung des Ideellsten verhindert jedoch nicht, dass im Gegenzug zur transzendentaLe Visible et l’Invisible, 308 f. Ebd., 234. 42 Zum Eigenwesen des Wortes, sich selbst zu vergessen (was eine Art Passivität ist), um das Inkarniertsein in transparent reflektierte Bedeutungen aufgehen zu lassen, vgl. besonders unseren folgenden Teil 3 in diesem Kapitel. 43 Zwar distanziert sich Merleau-Ponty von Max Scheler, aber eine gewisse Nähe zum phänomenologisch-naturalen Leben des Menschen im Schoß einer affektiv-vital erlebten Natur bei letzterem ist hier nicht zu übersehen. Vgl. auch H. Leroux, »Sur quelques aspects de la réception de Max Scheler en France«, in: E. W. Orth u. G. Pfaffenroth (Hg.), Studien zur Philosophie von Max Scheler (Phänomenologische Forschungen 28/29), Freiburg/München, Alber 1995, 332–356, hier 335 f. 40 41

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Die Frage der Passivität und Immanenz

len Affektivität als Wesen der Phänomenalisierung aller »Dinge« die phänomenale Transzendenz das Wesen dieser Affektivität selbst bleibt. Die Selbsterprobung bzw. -erfahrung (épreuve) des leiblichen Fleisches bleibt mithin als »Ereignis« Welterfüllung und ist keine pathisch transzendentale Selbstaffektion als absolutes Passivsein. Es gibt kein eidetisches Verhältnis im Sinne von Gründung und Begründetem bei Merleau-Ponty, das heißt von Selbstaffektion ausschließlich zunächst im Leben und »dann« vorstellend in dadurch ermöglichter Transzendenz. Zwar affiziert »sich« die Transzendenz selbst im »Sich« des Fleisches, aber dieses »Sich« ist zugleich, wie wir sahen, Aus-Höhlung durch Welt, deren Ent-Faltung (pli) 44 als Moment der Phänomenalisierung selbst – und keine affektiv-immanente Selbstaffektion. Die Unterscheidung von affection de soi und auto-affection, wie bei M. Henry 45 im Sinne einer protorelational-absoluten Selbstaffektion, ergibt bei Merleau-Ponty keinen Sinn, denn »das Fleisch der Welt ist Ungeteiltheit jenes sinnlichen Seins, das ich bin, und alles übrige, was in mir empfunden wird (se sent) ist Ungeteiltheit von Lust/Realität (indivision plaisir réalité)«. 46 Das Gefühl ist daher nicht dessen »eigener Geschmack« zunächst: reines, passives Ausgeliefertsein an sein inneres Pathos, in dem kein »Etwas« hervorgebracht wird, sondern es ist koextensiv mit der welthaft vor-stellenden Sinnlichkeit, wie später auch in den »Lüsten« (plaisirs) bei Foucault. 47 Jede Empfindung mit ihrem unabtrennbaren Gehalt »wilden, Dieser Begriff wird dann insbesondere auch von J.-L. Marion für die »Faltung« der Gegebenheit aufgegriffen werden; vgl. Ėtant donné. Essai d’une phénoménologie de la donation, Paris, PUF 1997, 89 f. (dt. Gegeben sei. Entwurf einer Phänomenologie der Gegebenheit, Freiburg/München, Alber 2015). In Die Schrift und die Differenz, Frankfurt/M., Suhrkamp 1972, 44 f., entwickelte auch schon Derrida am Beispiel des Wortes pli beim Dichter Mallarmé seine These von différance und itérabilité, dass nämlich Wiederholungen in einem Text kein kohärentes Thema bilden, sondern eher einen Sinnzerfall des Signifikanten. Vgl. zur Falte auch den Schluss unseres Kapitels II,5 über Deleuze. 45 Vgl. L’essence de la manifestation, 823 ff. 46 Le Visible et l’Invisible, 309; vgl. ebd., 292, sowie schon Phénoménologie de la perception, 235: »Der eigene Leib ist in der Welt wie das Herz im Organismus: er hält ständig das sichtbare Schauspiel am Leben; er beseelt und nährt es innerlich und formt mit ihm ein System.« 47 Vgl. Les mots et les choses, Paris, Gallimard 1966, Kap. IV, wo Foucault allerdings kritisch die »Selbstverdoppelung des Menschen« im Begriff der Ambiguität bei Merleau-Ponty anfragt. Dazu auch D. Eribon, Michel Foucault. Eine Biographie, Frankfurt/M., Suhrkamp 1999, 241 ff. 44

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Der Leib/Welt-Chiasmus bei Maurice Merleau-Ponty als »Opazität«

rohen Seins« ist als »vertikale« Einschreibung in unser Leben »Affektion« im Sinne der transzendent-leiblichen »Präsenz-zur-Welt«, die dann »horizontal« erlebt wird. Diese Lebens-»Vertikalität« der Affektion als identischer Sensation impliziert jedoch des Weiteren einen Objektivierungsprozess, so dass es nicht bei einer einfachen Identifizierung zwischen Affektion und Sensation bleiben kann, da die Intersubjektivität des Wortes eine Des-Affektion in dem Maße bewirkt, wie die »fleischliche Verwurzelung« mit einem Schleier umgeben wird. Allerdings ist selbst diese idealisierende Objektivierung noch eine affektive Modalität, in deren Bewegung die eigentliche Bedeutung von Immanenz für MerleauPonty liegt, insofern ihr Sinn ein teleologischer ist. Eine an sich rein passive oder absolute Immanenz ist folglich auch aus diesem Grund nicht möglich, da die Affektion der Transzendenz als Vertiefung der Weltdichte eben nicht Selbst-Transparenz in der Immanenz mit einem sich selbst offenbarenden Bezug meint, sondern unmittelbar weiter treibendes Telos zum Anderen hin ist. Mit anderen Worten bleibt die Phänomenalisierung des »sich«-erfahrenden Fleisches unabschließbare Welteröffnung, in die sich die einzelnen sensoriellen »Welten« als untereinander »kommunizierende« Welten einbetten. Versteht man dieses teleologische Ent-Springen einer Welt als »Geburt« oder »Erwachen« der Subjektivität (Sinnlichkeit) wie der Welt, dann ist dieses weltgebürtig gezeugte Leben keine Sich-Ipseität als reines Pathos der absoluten Lebensübereignung, sondern es ist vorpersonales oder anonymes Leben – bzw. plural im Sinne der Postmoderne wie bei Deleuze und Nancy. In diesem wird alle »Innerlichkeit« daraufhin als Geschichte mit der Welt geboren, so dass wir von unserem »Eigentlichen« – verstanden als transzendentale Lebensabkünftigkeit vor der Leib/Welt-Werdung – auf immer getrennt sind, denn Gefühl und Affekt als unser primordiales Leben »existieren« nur bei Merleau-Ponty, weil uns eine Welt ihr »Fleisch« leiht. Einfacher gesagt, wir erfahren nicht, auf welche Weise »Leben« in sich phänomenologisch überhaupt Leben wird, weil sich die Anonymität unklärbar über dessen inneren Ursprung ausbreitet und insofern über unsere transzendental absolute Herkunft. Wie bei Levinas (wenn auch ohne unmittelbar ethische Konnotation), und in Übereinstimmung mit der historischen Phänomenologie seit Husserl, ist folglich die Affektivität für Merleau-Ponty originär keine absolute Selbsterprobung und damit auch nicht absolute »Offenbarung« des Erscheinens in sich, sondern als Gebung stets 140 https://doi.org/10.5771/9783495820537 .

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Manifestation von Andersheit, das heißt intentional-transzendentes Begehren und Verlangen (désir) im Sinne postmoderner singulärer Pluralität. Das Begehren umschlingt sich zunächst nicht selbst in seinem Bedürfen als absolutes Bedürfen des Lebens, um überhaupt »sein« zu können, sondern nach Merleau-Ponty ist auch solches Verlangen nur denkbar im Sich-Ereignen der Andersheit. Damit ist zugleich eine Nähe zum damals ebenfalls noch zeitgenössischen Existentialismus Sartres und Camus’ gegeben. 48 Denn anstatt mit all solchem Weltreichtum letztlich eine Philosophie des »Glücks« als des unverlierbaren Sicherfreuens des »Lebens« zu sein, 49 ist jede Erfahrung von ihrer sinnlichen »Verweltlichung« her ein unausweichbares Zerrissenwerden, welches – wie die »Wunde« oder der »Riss« bei Lacan – als Auf-Bruch von Welt deren zwingend (symbolisch) sich aufdrängende »Investitur« bedeutet: Präsenz der Welt als leibliche Verfleischlichung, wodurch jede Affektion als sinnliche Affektivität faktisch aber immer nur ek-statische Erkenntnis ist. Von hier aus würde sich auch schließlich erklären, warum Merleau-Pontys Philosophie eine starke Rezeption in psychologischer Anthropologie und Soziologie gefunden hat 50 – hingegen die Frage nach der phänomenologischen Berechtigung eines »Absoluten« bei ihm unbeantwortet blieb oder sogar negativ entschieden wurde. Eher übernimmt die Zeitlichkeit eine metaphysische Letztgründung im Sinne geschichtlicher Solidarität, insofern bei Merleau-Ponty durchaus eine Faszination für das Geheimnis eines in das Fleisch der sinnlichen Welt eingeschriebenen »Logos« gegeben bleibt, der einen originär »perzeptiven Glauben« in das naturale Leben motiviert, aber letzteres dennoch stark von »Trennung, Verlust und Negativität« wie in der folgenden tragischen bzw. melancholischen Postmoderne dann gekennzeichnet sein lässt. 51 Investitur, Begehren, Alterität etc., so anziehend sie mithin eine Vgl. zum Beispiel R. Berlinger, Sartres Existenzerfahrung, Würzburg, Königshausen & Neumann 1982. 49 Vgl. M. Henry, Affekt und Subjektivität. Lebensphänomenologische Beiträge zur Psychologie und zum Wesen des Menschen, Freiburg/München, Alber 2005, 27 f. 50 Vgl. R. Giuliani (Hg.), Merleau-Ponty und die Kulturwissenschaften, München, Fink 2000. 51 Vgl. X. Tilliette u. A. Métraux, »Maurice Merleau-Ponty: Das Problem des Sinnes«, in: J. Speck (Hg.), Grundprobleme der großen Philosophen. Philosophie der Gegenwart II, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 2. erg. Aufl. 1981, 181–230; hier 190 f., 206 f.; R. Bernet, La vie du sujet, 165 f., 184 f. 48

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Der Leib/Welt-Chiasmus bei Maurice Merleau-Ponty als »Opazität«

verlebendigende »Prosa der Welt« sinnenhaft-leiblich verkünden, einen Dinge und Menschen verbindenden Lebenssinn, um das unverständliche Gegenüber einer intellektualistischen Transzendenz wie einer tautologisch reflexiven Transparenz des Bewusstseins zu überwinden – sie bleiben dennoch eingeschrieben in einen (griechisch) ererbten Erkenntnislogos, auch wenn er in seiner reichen Metaphorik manchmal mythische Akzente anzunehmen scheint. Zwar ist das »Fleisch der Welt« eher affektive Erprobung als intellektueller Erkenntnisbesitz, aber diese Erkenntnisverlagerung in Richtung einer passiv-originären Weltwerdung ist dennoch in gewisser Weise re-flexive Verdoppelung, nämlich Berührung, die sich berührt; Sehen, das sich sieht etc., auch wenn Merleau-Ponty keine Konstitutionsproblematik hinter dieser leiblich-welthaften Verbindung selbst wieder errichten möchte und sich dadurch vom transzendentalen Entwurf Husserls unterscheidet: »Die Wahrnehmung der Wahrnehmung bildet das Ergriffene nicht in ein Objekt um und fällt nicht mit einer konstituierenden Quelle der Wahrnehmung zusammen.« 52 Auch wenn das fleischliche Gefühl sich selbst ergreift (ohne reine Sich-Passivität in absolut affektiver Selbsttransparenz zu sein), um in der Dichte dieses Ergriffenen die Opazität als Teleologie der Welt zu berühren, die in originärer Ambiguität verharrt, so ist doch damit eben Reflexivität im »Geflecht« von Leib/Welt als gewordener Nähe aus ursprünglicher Distanz heraus ausgesagt – und folglich ein Logos des Sein-Anwesens, der nicht primär Pathos im Sinne einer Passivität ist, wie sie nicht in Termini der Rezeptivität irgendeines differe(ä)nten Gehalts als Gegenständlichkeit, Objekt oder Welt ausdrückbar ist. Im Selbsterscheinen der reinen Passivität erscheint nämlich nichts als »gegeben«, das heißt als ein irgendwie hervorgebrachtes Etwas, sondern was hier wie ein »Gehalt« überquillt, ist das phänomenologische »Sich-immer-schon-Gegeben-Sein«, welches nach Michel Henry als »Präsenz« für uns »Leben« schlechthin ist. 53 Liest man Merleau-Ponty beim Versuch dieser reinen oder absoluten Selbstphänomenalisierung des Wesens der Passivität mit dem Gedanken eines nicht isolierbaren »Gehalts« im Sinne eines (impliziten) Bewusstseinsgegenübers, sondern auf seinem Hintergrund eines affektiv perzeptiven Vollzuges, wo das »fleischliche Leben« der »Kern« dieser Verschränkung von Welterfahrung als Sicherfahrung 52 53

Le Visible et l’Invisible, 303. Vgl. Affekt und Subjektivität, 19 ff.

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selbst ist, dann bleibt dieses Leben dennoch zugleich phänomenale Welteröffnung und damit Erkenntnis-Ekstasis wie bei Heideggers Dasein. Diese ist zwar nicht mittelbar repräsentierende Transzendenz, es sei denn in der Ver-Äußerung des Fleisches als Expressivität und damit als das Immer-Schon-Andere seiner selbst im Augenblick des Erscheinens als Selbsterscheinen. Merleau-Ponty mag damit – wie Levinas 54 – eine originäre Transzendenz gegen den »Untergang der Vorstellung« als immer wieder aufgeschobene Transzendenz des Horizontalen in gewisser Weise absichern, aber der philosophische Preis dafür ist metaphysierende Naturalisierung durch eine postmoderne »Lebensanonymität«, die damit nicht nur das Leben überhaupt ein anonymes sein lässt, sondern es dadurch – als Welt- und Geschichtserscheinung – in eine notwendige sichtbare Hypostase rückt, um es so qua Erkenntnis im weitesten Sinne sein zu lassen. Denn die Selbstüberbordetheit des Empfindens in seiner Passivität bei Merleau-Ponty ist das Immer-Schon-Da der Welt – eine Präsenz also, in der dann absolutes Leben nicht mehr als solches erscheint, weil die Sammlung der teleologisch uneinholbaren Weltzerstreuung, wie auch Derridas spätere »Dissemination«, in diesem uranfänglichen »Da« beginnt – es sei denn, man ließe diese je situiert auf-springende »Welt« als Ausdruck einer kosmischen Lebensentität im Sinne einer allumfassenden »Natur« gelten, die aber selbst dann nicht das rein phänomenologische Leben sein kann, sondern nur einen letzten begrifflichen Einheitsversuch kaschiert. 55 Anders gesagt, bleibt in Auseinandersetzung mit Merleau-Ponty wie der Postmoderne im weiteren Sinne ein Eigenwesen des phänomenologischen Lebens als sich selbst gebendes Prinzip allen Erscheinens zu erkunden, das noch nicht von der unaufgeklärten Massivität der Weltevidenz überschattet ist. Die absolute Selbstbindung des Lebens an sich selbst, wodurch der »Gehalt« des Lebens sein eigenes Sich-Erproben ist, findet als eine solch unaufkündbare Ipseität keinen unbedingten Passivitätsstatus als »Passibilität« im Denken MerleauPontys. Nur darin könnte sich rein phänomenologisch dieses Leben wirklich mit ureigenster pathischer Stimme »sagen« bzw. »offen-

Vgl. Die Spur des Anderen, 120 ff. Vgl. Résumés de cours. Collège de France 1952–1960, Paris, Gallimard 1968, 94: »Die Natur […] gibt sich uns als schon immer vor uns da, und dennoch wie neu unter unserem Blick. Diese Implikation des Immemorialen im Gegenwärtigen, dieser darin enthaltene Anruf im neuesten Gegenwärtigen, verunsichert das reflexive Denken.«

54 55

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baren«, bevor die Erdrücktheit dieser affektiven Selbstbindung gegen sich selbst als Begehren oder Trieb sie zur Affektion einer Transzendenz werden lässt, um in dieser Selbstentzündung des Bewusstseins »Welt« werden zu lassen – jedoch ohne selbst als Leben phänomenologisch schon Welt sein zu müssen. Allerdings legt Merleau-Ponty mit Dringlichkeit nahe, dass ein Sicherleiden als reine Passivität keinerlei solipsistische oder monadologische In-Sich-Verschlossenheit meint, sondern vom Ursprung an pathische »Kraft«, die als Energie und Praxis jegliches Weltsein werden lässt, so dass es in der Tat nichts gibt, was nicht im »Griff des Lebens« (Husserl) ursprünglich entstünde und darin gehalten bliebe. Aber damit ist eben nicht gesagt, dass das Erleiden des Lebens als sein Sich-Selbst-Ertragen in dieser zuinnerst gründenden »Er-Eignung« (Heidegger) auch schon »Welt« sein muss, und zwar in jenem Sinne, dass das minimalste »Da« bereits jene Aushöhlung oder Kluft bedeutet, in der sich die sinnlichen Phänomene dann pro-duzieren können. Die originäre Passivität verschließt sich dem nicht, als müsste sie ihr eigenes Leben gegen eine Welt verteidigen, denn dann wäre es aus dem Vergleich geboren, und nicht allein aus sich. 56 Aber das Sagen der Passivität im Modus des fleischlichsten »Da« (und fortan des elementar-sinnlichsten »Es gibt«) ist eben keine rein phänomenologische oder leibliche Passibilität des Selbsterscheinens des Lebens mehr, sondern Passivität durch Welt. Für Merleau-Ponty ist die Phänomenalität aus anti-metaphysischer Haltung heraus letztlich ohne Grund; sie geschieht aus einem »Schon-Da« als »originärer Vergangenheit« heraus, die Husserls Limes des Unbewussten der Retention reaktiviert. Das Immemoriale des Lebens hingegen ist nicht eine zeitliche Vergangenheit bzw. Gewesenheit, da es außerhalb jeder Zeit steht, und insofern offenbart es sich als das »phänomenologisch Absolute«. Für Merleau-Ponty bricht der »Ur-Sprung« auf, ist als bereits postmoderne Differe(ä)nz dieser »Auf-Sprung« selbst als Manifestation einer zu entdeckenden »Tiefe«, welche die Philosophie als »Nicht-Zusammenfall, als Differenzierung« 57 begleiten soll. Dabei bleibt dann offen, ob die philosophische Reflexion den »Lebensvollzug« nur zu56 Vgl. M. Henry, Können des Lebens. Schlüssel zur radikalen Phänomenologie, Freiburg/München, Alber 2017, 42 ff. 57 Le Visible et l’Invisible, 165. Zur weiteren Diskussion des Immemorialen im Zusammenhang mit dem Problem der Innerlichkeit bei M. Merleau-Ponty vgl. auch M.-V. Petit, »Le soi incarné. Merleau-Ponty et la question du sujet«, in: F. Heidsieck (Hg.), Merleau-Ponty. Le philosophe et son langage. Paris, Vrin 1992, 415–447, hier

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fällig – wie andere kulturgeschichtlich menschliche »Äußerungen« – aussagt, oder aber eine angemessene Meta-Genealogie desselben impliziert, die nicht mehr temporär geschichtlich vermittelt ist, sondern unsere »absolute Geburt« selbst aus dem Leben in jedem »Augenblick« mit entsprechenden ethischen, ästhetischen und religiösen Konsequenzen bedeutet. 58 Für Merleau-Ponty vollendet sich jedenfalls seine frühe existenziale Phänomenologie, welche die Strukturierungen und Umstrukturierungen des leiblichen Verhaltens zunächst aufsuchte, in eine Anonymität insofern, als sich die »dritte ontologische Dimension«, die weder reines Bewusstsein noch bloß natürliches Ding ist, in eine »ursprüngliche Vergangenheit [wendet], die niemals Gegenwart war«. 59 Hierin zeichnet sich schließlich deutlich ab, dass die ab den 1960er Jahren dann vor allem von Derrida dekonstruierte »Präsenzmetaphysik« (welche etwa auch Gabriel Marcel 60 nicht über ein reflexives Bewusstsein, sondern über existentielle Ausrichtungen wie Treue und Zeugenschaft noch bekunden wollte) mit Merleau-Ponty schon deutlich im Schwinden begriffen ist, um bereits den leitenden postmodernen Gedanken einer »Verspätung« oder eines »Aufschubs« prinzipiell vorwegzunehmen. Zwar setzt auch Merleau-Ponty eine naive Vertrautheit mit Welt vor jeder Reflexion voraus, aber der Zugang zu solchem Ursprungssein bleibt insofern negativ, wie wir sahen, als es unmöglich ist, das Weltsein auf eine ontologische Positivität zurückführen zu können – es handelt sich vielmehr bei ihm um die Äquivalenz von Position und Negation. 61 Im Unterschied zum Cartesischen Dualismus und zu klassisch metaphysischen Dichotomien möchte Merleau-Ponty die gemeinsame Verknüpfung der Gegensätze unterstreichen, das heißt eine Gleichzeitigkeit von Einheit und Differenz. Aber ein unüberbrückbarer Hiatus kann dennoch nicht geleugnet werden, auch wenn die Einheit im Spätwerk gegenüber der Differenz 444 f., der mit Recht darauf verweist, dass das Problem der Husserlschen Selbstvergessenheit von Merleau-Ponty nur in den Objektvollzug verlegt wird. 58 Vgl. R. Kühn, Lebensmystik. Ursprüngliche Erfahrungseinheit von Religion und Ethik im Spiegel »Philosophischer Mystik«, Dresden, Text & Dialog 2018. 59 Le Visible et l’Invisible, 283. 60 Vgl. La présence totale, Paris, Aubier 1934. 61 In diesem Sinne fällt in Le Visible et l’Invisble, 78, der Begriff der négintuition; vgl. auch S. 269: »Der Sinn ist unsichtbar, doch das Unsichtbare ist nicht das Gegenteil des Sichtbaren: Das Sichtbare selbst hat eine Gliederung aus Unsichtbarem, und das Unsichtbare ist das geheime Gegenstück zum Sichtbaren.«

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Der Leib/Welt-Chiasmus bei Maurice Merleau-Ponty als »Opazität«

noch zu überwiegen scheint, was sein Denken eben einer kritischen Übergangsphase zwischen reflexionsphilosophischer Metaphysik und dekonstruktiver oder postmoderner Differe(ä)nz im eigentlichen Sinne zurechnen lässt. Eine gemeinsame Voraussetzung zusammen mit der Postmoderne dürfte dabei eben sein, dass mit der »Sinngebung« durch ein unangefochtenes intentionales Bewusstsein bzw. Dasein im Sinne Husserls und Heideggers gebrochen wird, was aber nicht nur zur Folge hat, den Reflexions- und Intentionalitätsgedanken zu hinterfragen, sondern auch eine »hyperbolisch-phänomenologische Reduktion« 62 und damit den eidetisch-transzendentalphilosophischen Ansatz der klassischen Phänomenologie überhaupt. Aber die Konsequenzen zielen noch weiter, denn wenn jegliches »Ereignis« nur noch in einer unverfügbar alterologischen oder pluralisierten Faktizität und Kontingenz wurzeln sollte, dann kann keine vorgegebene (formale) Möglichkeitsbedingung mehr in Anspruch genommen werden, die solchem Ereignis irgendwelche Schranken setzt. Wirklichkeit wäre also nicht länger die Realisierung vorgegebener Möglichkeiten, sondern das, was sich entgegen den jeweils aktuellen Möglichkeiten durchsetzt, um somit unendlich differe(ä)nte oder eben plurale Möglichkeiten zu eröffnen – vielleicht noch eine »Gabe«, die jedoch weder einen erkennbaren Geber noch Empfänger kennt. Derrida und Marion werden diese postmoderne Entwicklung weiterführen, was dann insgesamt wie ein Echo auf Merleau-Pontys letztes Denken erscheint, welches sich für ein offenes Geschichtsfeld im Sinne eines symbolischen Handlungsfeldes seit seiner Trennung von Sartre engagiert hatte: »Wenn die Philosophie unter der Hülle des Zweifels ein vorgängiges ›Wissen‹ entdeckt, wenn sie rings um die Dinge und die Welt […] einen Horizont findet, der sowohl unsere Negationen wie auch unsere Affirmationen umfasst, und wenn sie sich in diesen Horizont vertieft, so ist es gewiss, dass sie dieses neue Etwas neu definieren muss.« 63 Diese Möglichkeiten des faktischen »Sich-Ereignens« entziehen sich nicht nur allen methodischen und skeptischen Bewältigungsversuchen, sondern mit »Fleisch« im gegen-reduktiv lebensphänomenologischen Sinne ist hingegen auch

62 Begriff von M. Richir, Phénoménologie et institution symbolique, Grenoble, Millon 1990, 55 f. 63 Le Visible et l’Invisible, 146 f.; zur Trennung von Sartres (stalinistischem) Kommunismus vgl. M. Merleau-Ponty, Humanisme et terreur, Paris, Minuit 1947 (dt. Humanismus und Terror, Frankfurt/M., Suhrkamp 1976).

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eine Wirklichkeit gegeben, welche in keinerlei Hinsicht mehr irgendeine Virtualität darstellt, da sie keinem Aktualisierungsmodus als Wille, Zeitigung oder Erwachen zum Leben unterliegt. Die Möglichkeit dieses Fleisches ist keine »reine Möglichkeit« im Sinne Kants, sondern der Vorrang der Wirklichkeit über die Möglichkeit schlechthin, insofern »das Leben [als Ur-Fleisch] schon immer in sich selbst gekommen ist«. 64 Das heißt, es geht letztlich um eine jeder Weltstruktur inkommensurable Wirklichkeit, die gegenüber den kontingenten Sinnzusammenhängen der traditionellen Phänomenologie und ihrer postmodernen Kritik einen effektiv post-metaphysischen Offenbarungszugang im Leben selbst als absolute Phänomenalisierungsweise zulässt.

3.

Sprache und Leib

Herausgestellt wurde bisher, dass in der Phänomenologie MerleauPontys eine originäre Leib/Welt-Verschränkung gegeben ist, die zugleich als sprachliches Zur-Welt-Sein verstanden wird. Außerdem wird die nunmehr zu verfolgende Sprachanalyse im Zusammenhang mit der Wahrnehmungsanalyse so vom späten Merleau-Ponty als eine Reflexion über die Philosophie in ihrem eigenen Sprachvollzug des Beschreibens vorgetragen, dass hier weiterhin das Bemühen vorliegt, ebenso phänomennah wie deskriptionskritisch die prä-reflexive Vorgabe der Welt durch die Sprache als »Geste« (Gestalt) hindurch leibkonstituierend bzw. -instituierend zu verfolgen. Hinzu tritt, dass Merleau-Ponty seine Sprachanalyse mit einem linguistischen wie ästhetischen Hintergrund sowie mit der Alltagserfahrung des Sprechens und Hörens verbindet, wie wir schon erwähnten. 65 Abschließender Untersuchungsgegenstand bildet für uns daher hier die Tatsache, dass Sprache diesseits ihrer sedimentierten Bedeutungen innerhalb ihrer Konstitutionsleistung Implikationen enthält, die als Verweise den »linguistischen Tatsachen« der Sprachwissenschaften vorausgehen und letztere umkleiden, ähnlich wie alle Syntheseleistungen bei Husserl von passiver Genesis umspielt sind. Der sprachliche Ausdruck als ein bestimmter Bereich der WeltM. Henry, Inkarnation, 194. Vgl. dazu schon Y. Thierry, Du corps parlant. Le langage chez Merleau-Ponty, Brüssel, Ousia 1987. 64 65

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erfahrung führt zwar nicht grundsätzlich zur Aufhebung der Trennung zwischen Sprachordnung und »stummer Welt«, aber ihre Verschränkung wird dahingehend immer enger in Merleau-Pontys Werk, dass er ein Bewusstsein ablehnt, das von seiner Spracherscheinung unabhängig wäre. Um diese allgemein postmoderne Gleichursprünglichkeit von Sprache und Welt (Foucault, Derrida) als Bewusstseinsvollzug zu verstehen, beginnt Merleau-Ponty mit einer unermüdlichen Analyse zwischen Wahrnehmungs- und Spracherfahrung, wobei die Bedeutungsintentionen für ihn wichtiger sind als die Identitätsvollzüge von Vorstellung und Urteil. Diese zunächst noch noetisch-noematische Vorgehensweise hängt also von der weiteren Vorgabe eines bewussten oder reflexionsphilosophischen Subjekts am Anfang seiner Untersuchungen wie in »Phénoménologie de la perception« von 1945 ab. Aber im Unterschied zu Heidegger ist trotzdem kein umfassendes Seinsverständnis auf dem Hintergrund des Wesens abendländischer Metaphysikgeschichte angestrebt, von der Merleau-Ponty sich auf seine Weise befreien will, indem er eben dem Leib einen transzendentalen Status zuschreibt, wie wir bislang sahen. Dies verpflichtet ihn dazu, und zwar zunächst unabhängig von der späteren Begegnung mit der Linguistik Ferdinand de Saussures (1857–1931), eine innere Form des Signifikats zu denken und demzufolge zu fragen, wie das Sprachphänomen innerhalb einer Wahrnehmungsphilosophie überhaupt auftaucht, die zunächst auf die schweigende Welt und nicht unmittelbar auf das Reich der Sprache ausgerichtet ist. Denn dieses phänomenologische Wie muss es uns erlauben, die gestenhafte Konfiguration der leiblichen Sprachgenese in ihrem Anfang zu erkennen und zugleich auch die bei Husserl seit dessen »Logischen Untersuchungen« auftauchende Problematik zu verfolgen, dass einerseits das Sprachproblem einer bestimmten ontologischen »Region« entspricht, es aber andererseits auch alle Konstitutionsprobleme enthält, was eine gewisse Parallele zur Zeittranszendentalität enthält. Das heißt, keinerlei phänomenologische Aufklärung dieses klassischen Stils kann der Bedeutungsintention entgehen, die ihren schweigenden oder passiv vorgegebenen Weltursprung mit der entwickelteren kulturellen Intersubjektivität der Lebenswelt verbindet. 66 66 Vgl. E. Husserl, Logische Untersuchungen, 2 Bände. Text der 1. und 2. Auflage (Husserliana XVIII–XIX), Den Haag, Nijhoff 1975–1984; dazu ebenfalls R. Kühn, Wort und Schweigen. Phänomenologische Untersuchungen zum originären Sprach-

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So schreibt auch Merleau-Ponty schon seit seinem ersten Hauptwerk »La structure du comportement« von 1942 jegliche Bedeutung in das koextensive Verhältnis von Bewusstsein und Welt ein. Aber da die Objekte als ideale Einheiten und als Bedeutungen durch »individuelle Perspektiven« hindurch ergriffen werden, 67 muss die Analyse dieser Apperzeptionsgenese für ihn die Voraussetzung jeder reflexiven Beschreibung einholen, nämlich die Faktizität der Subjekt/ Welt-Bezüge. Ohne Einbeziehung dieses »vorobjektiven Feldes« würde die Wahrnehmung von der Repräsentation aufgesogen werden und die Philosophie vergäße jenen chiasmatischen Ursprung, der alle sekundären Idealisierungen der Kultur trägt. Dadurch ändert sich der Anspruch einer totalen Reduktion im Sinne der Husserlschen »IchAnderer-Welt-Systematik«, wie erneut zu unterstreichen ist, um durch den Widerstand der Faktizität eine Kluft zwischen universalem Reflexionsanspruch und der jeweiligen Bewusstseinssituiertheit offen zu halten, in der dieser Anspruch gelebt wird. In diese Kluft gehört gerade auch, dass die schweigende Gegenüberständigkeit der Welt für das Subjekt bei aller leibgegebenen Verschränkung nicht aufgehoben wird, denn die vorreflexive Faktizität der wahrgenommenen Welt ist insofern »ohne Wort«, als dieses hierbei mit entsteht: »Im Schweigen des originären Bewusstseins sieht man nicht nur erscheinen, was die Worte sagen wollen, sondern auch, was die Dinge sagen wollen: den Kern der ersten Bedeutung, um den herum sich Benennungs- und Ausdrucksakte organisieren.« 68 Diese Situation ist insofern zweideutig, als es die Wirklichkeit eines sprachlichen Sinnes gibt, der selbst auf einen nicht-sprachlichen Sinn zurückverweist, aber unter Einschluss eines noch nicht sprechenden Bewusstseins. Durch seinen Sprechakt hört der Mensch auf, dem Umfeld unmittelbar anzugehören, indem er es zum »Schauspiel« werden lässt und durch die Erkenntnis im eigentlichen Sinne davon Besitz ergreift. Innerhalb der hierbei vorausgesetzten Wahrnehmungsgenese des Kindes werden beispielsweise zwei Dinge mit demselben Wort bezeichnet, wodurch sie in Zukunft an ein und derselben verbalen wie

verständnis, Hildesheim – Zürich – New York, Olms 2005, Kap. II,3: »Intentionalität des Bedeutens« (S. 59–88). 67 Vgl. La structure du comportement, 232. Dazu B. Waldenfels, Phänomenologie in Frankreich, 144 ff. 68 Phénoménologie de la perception, S. X.

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affektiven Sphäre teilhaben, was es ermöglicht, sie als gleich aufzufassen, und nicht umgekehrt. 69 Zu verstehen bleibt also, dass die Objektbenennung darin zu bestehen scheint, das Objekt seines individuellen Charakters zu berauben, um in ihm den Repräsentanten eines Wesens oder einer Kategorie zu sehen, was Heidegger 70 durch das dichterische Sagen gerade vermeiden wollte. Folgt man hier der Analyse im Rahmen eines solch fortbestehenden Repräsentationsapriori weiter, so ist zu sagen, dass die Sprache sowohl ein »Knechtschafts-« wie ein »Freiheitsprinzip« ist, denn sie stellt sich zwischen die Dinge und das Denken, so wie sie andererseits auch Vorurteile auflöst, indem diesen ein bestimmter Name verliehen wird. Verfällt das Subjekt mithin in eine Aphasie, wenn es die kategoriale Einstellung zugunsten der konkreten Haltung aufgibt, das heißt, das Wort von seinem Sinn trennt, so bleibt der philosophische Diskurs dennoch der Versuch, sich dem schweigenden Seinsgrund (Welt) anzugleichen, um – wie in der Kunst – dessen Wahrheitsintention gerecht zu werden. Zwar entfaltet sich die Sprache ganz offensichtlich in sekundären Idealisierungen, aber sie kann dennoch nicht auf dieses Übergangsphänomen reduziert werden, da sich in diesem Übergang selbst die Sinngenese für das Bewusstsein insgesamt ereignet. Gibt es aber eigene Sinnkonstitution durch die Sprache, so kann es sich dabei nicht nur um die Bereitstellung eines sinnlichen Trägers handeln, der dem Begriff äußerlich bliebe, weil der Übergang dann nur formal ohne eigentliche Teilname der phänomenologischen Materialität wäre, wie etwa das Inhalt/Auffassungs-Schema bei Husserl. 71 Dennoch lässt sich nicht davon absehen, dass der Ursprung der Sprache nicht mit dem Ursprung der Wahrnehmung zusammenfällt, so dass die Sprache gerade auch als das Subjekt der Spannung zwischen idealisiert getrennten Wesen und dem Schweigen des originären Bewusstseins bestimmt werden kann. Damit hält die Sprache bei aller Trennung zwischen vorstelligem Denken und jeweilig konkreter Situation zugleich die Verankerung dieses Denkens in einer solchen Situation aufrecht, was zwar einen explizit metaphysischen Leib/SeeVgl. Structure du comportement, 182. Dazu auch M. Merleau-Ponty, Keime der Vernunft. Vorlesungen an der Sorbonne 1949–1952, München, Fink 1994, bes. Vorlesung 1: »Das Bewusstsein und der Spracherwerb« (franz. Merleau-Ponty à la Sorbonne. Résumé de cours 1949–1952, Grenoble, Cynara 1988). 70 Vgl. »Wozu Dichter?«, in: Holzwege, Frankfurt/M., Klostermann 1952, 248–295. 71 Vgl. Erfahrung und Urteil, 124 ff. 69

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le-Dualismus über eine dissoziative Sprachanalyse im Sinne eines Platonischen Gegensatzes etwa von sinnlichem Laut und intelligibler Idee verhindert, aber keinen perspektivischen Parallelismus. Wenn ich daher eine Fremdsprache höre, deren Sinn ich im einzelnen nicht verstehe, liefert mir die Aufmerksamkeit eben nicht nur unverständliche Laute, sondern trotz allem ein »sprachliches Ereignis«, dessen »Sinn« der Phonetik als wissenschaftlichem Teilgebiet immer schon vorausliegt, weshalb die lauthaften Elemente auch nur abstrakt in einem linguistischen System beschrieben werden können. Die Verankerung der Sprache in einer Situiertheit besagt dabei nicht nur eine Instrumentalisierung der sprachlichen Zeichen als Erkenntnishilfe, sondern eine prinzipielle Öffnung auf die Faktizität des Nichtreflexiven hin. Husserls 72 Problem einer »grammatischen Verflechtung« in der genetischen Gründung einer rein transzendentalen Logik findet sich damit noch erweitert, denn es geht um den Modus des Hervorbrechens der Sprache als solcher in einem Medium, dessen Phänomenalität – trotz der noch mitgegebenen Ausgerichtetheit an einem Repräsentationsmodell – nicht von vornherein auf die Polarität von Idealitäten und Vorprädikativem fixiert ist. In diesem Sinne bleibt in der Wahrnehmungsphänomenologie die Konstitution durch die Sprache mittels einer Konstitution der Sprache selbst zu verstehen. 73 Bei diesem Oszillieren Merleau-Pontys zwischen einer rekonstruierten Genese der Sprache ohne eigene Primordialität und einer Hinwendung zur Ursprünglichkeit der Phänomene nimmt »der Leib als Ausdruck und Wort« (le corps comme expression et parole) in jenem Teil I,6 seines Werkes eine Rolle ein, die ihm die Wahrnehmungssanalyse zugeschrieben hat, nämlich der Ausgangspunkt der Bewegung im Raum, der Dingperzeption und des Begehrens (désir) zu sein. Die konstitutiven Bewusstseinsbezüge mit der Welt führen dazu, dass die Thematisierung des »Sprachausdrucks« also innerhalb einer Forschungsabsicht auftritt, die beständig die Ebene der konventionellen Zeichen und der Diskursaktualisierung der Sprache überbordet, da es Merleau-Ponty um den »vorbewussten Besitz der Welt« geht. Außerdem zeigen die Zeitanalysen hierbei, dass die Sprachregion des Weiteren sekundär gegenüber dem zeitlichen Wesen der Subjektivität bleibt, da die Wahrnehmungssynthesen selbst eine Ver72 Vgl. Formale und transzendentale Logik. Versuch einer Kritik der logischen Vernunft (1929), Tübingen, Niemeyer 21981, 62 ff. 73 Vgl. Phénoménologie de la perception, 203–234.

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bindung zwischen dem »prospektiven« und »retrospektiven« Aspekt darstellen, die jede Objekterscheinung bestimmt. Das heißt, selbst die Gleichzeitigkeit zwischen Wahrnehmung und wahrgenommenem Gegenstand, die anfänglich durch einen Raumabstand ausgewiesen zu sein scheint, wird in den Zeitprozess mit hineingenommen, so dass der Leib seinerseits unlösbar mit den Zeitekstasen verbunden ist. 74 Für Merleau-Ponty löst sich dieser Prozess allerdings nicht in eine teleologische Bewegung auf, welche die primordiale Opazität der Bedeutungsschichten aufheben würde, so dass gerade mit der Bestimmung des zuvor schon von uns untersuchten corps propre, durch den es erst eine wahrgenommene Welt gibt, die Begriffe von Sinn und Ausdruck notwendig werden. Ist der Leib »die Bewegung des Ausdrucks selbst«, so »entwirft er die Bedeutungen nach außen, indem er ihnen einen Ort gibt«. 75 Dieser Ausdruck ist noch nicht sprachlicher Natur, aber in der Kontinuität dieses Ausdrucksverlaufs (Expressivität) sind die Bedingungen des gesprochenen Wortes (parole) vereinigt. Letzteres erscheint mithin als eine Art äußerster Punkt von einer ersten, anonymen Intentionalität her, die von der Verflechtung zwischen Wahrnehmung und Welt wie »geschürt« ist, um den Übergang zu neuen Bedeutungen vorzubereiten, die ihrerseits wiederum die wahrgenommene Welt erschüttern werden. Einerseits kann sich (leiblicher) »Sinn« nach Merleau-Ponty also unabhängig von jedem Sprachphänomen ereignen, andererseits sind jedoch für einen solchen Erfahrungstyp Wort und Sprache nicht nur möglich, sondern im Grenzfall unausweichlich. Darüber hinaus ist auch schon deutlich geworden, dass der sprachliche Ausdruck sich in die Konstitution der wahrgenommenen Welt einschreibt und einen neuen Bedeutungsprozess eröffnet, der nicht auf die Objektgegenwärtigung reduziert werden kann. Es ist bekannt, dass Merleau-Ponty von Anfang an sowie auch in seiner ständigen Auseinandersetzung mit Husserl die Kategorie der »Gestalt« (forme) einsetzt, welche die Verhaltensweisen des Organismus so hierarchisiert, dass diese schließlich in »symbolischen Gestalten« kulminieren, wo »das Verhalten nicht nur eine Bedeutung hat, sondern selbst Bedeutung ist«. 76 Auf der Sprachebene dient dieser Begriff dazu, nicht eine linguistische Systematik zwischen empirisch 74 75 76

Vgl. ebd., 344 u. 276 f. Vgl. ebd., 171. La structure du comportement, 133; im Folgenden ebd., 102 u. 240 f.

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feststellbaren Größen zu umreißen, sondern die Bedeutungsträchtigkeit des sinnlichen Wortphänomens (mot) aufzuweisen, das seinerseits von dem sprachlichen Kontext abhängt, den ein Diskurs bietet. Vom rein physikalischen Geschehen eines solchen Wortes als Luftschwingungen her ließe sich keinerlei physiologisches Phänomen im Gehirn beschreiben, das als Substrat für die Wortbedeutung dienen könnte, da das Wort beim Hören wie beim Sprechen als Gesamtheit motorischer Erregungen eine melodische Struktur voraussetzt, die ihrerseits wieder den Satz als Bedeutungseinheit zur Bedingung hat. Zwar ist diese sprachliche Bedeutungsebene noch nicht das Denken im streng begrifflichen Sinne, aber der Rückgriff auf »Gestalten« lässt erkennen, dass es unabhängig vom Wortsinn – oder zumindest vor ihm – einen »Sinn« von Ganzheitsbeziehungen gibt, wie es die bekannte Struktur von Hintergrund/Gestalt aus Phänomenologie wie Gestalttheorie zeigt. 77 Diese Idee eines »Instituierten« – und nicht »Konstituierten« – im Wahrgenommenen nach Merleau-Ponty impliziert genau, dass das Verhalten seinem Umfeld nicht nur einen Richtungssinn verleiht, sondern die Dinge selbst darin von sich aus bedeuten, sofern sie sich in ihrem Erscheinen als »Ausdruck« eines partikulären Sinnes geben, der nicht von der betreffenden Sinneserfahrung getrennt zu werden vermag. Bestimmt Merleau-Ponty »dieses Wunder des Ausdrucks« dahingehend, dass »ein Inneres sich dem Außen offenbart«, insofern »eine Bedeutung in die Welt hinabsteigt« und als solche nur verstanden werden kann, »indem sie mit dem Blick an ihrem Ort gesucht wird«, 78 so stoßen wir dabei erneut auf ein problematisches Verhältnis von Innen/Außen, welches seine Phänomenologie des Ausdrucks kennzeichnet. Da dieser innere Ausdruck nicht animistisch verstanden werden kann, ließe er sich prinzipiell über die leibliche Affektion verstehen, aber die Verflechtung von Leib/Welt impliziert bei Merleau-Ponty, dass die Affektion ihrerseits keine subjektive Immanenz birgt, sondern eine »Aushöhlung« durch die Welt beinhaltet, das heißt, die Affektion entsteht erst in der Berührung mit der Welt und durch diese. Eine solche, zuvor schon herausgestellte Ausscheidung einer rein phänomenologischen Selbstaffektion führt dann jedoch dazu, dass Merleau-Ponty die expressive »Kommunikation« in die Vgl. M. Wertheimer, Drei Abhandlungen zur Gestalttheorie, Erlangen, Cotta 1925. 78 Phénoménologie de la perception, 369. 77

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Bedeutung unserer Sinne untereinander und in jene potenziellen Bezüge hineinverlegen muss, die ein Ding mit jenen Bedingungen unterhält, die ihm seinerseits von der wahrgenommenen Welt als Erscheinung auferlegt werden. Dies beinhaltet für die sprachlichen Prozesse in phänomenologischer Hinsicht, dass diese zunächst ihren Ursprung im Leib als einem ersten Bedeutungsverhältnis besitzen, sowie umgekehrt, denn der Leib als »inkarnierter Sinn« verpflichtet wiederum dazu, ihn als Teil einer monistisch existentiellen Welt zu denken, in der er »Ausdruck« ist, ohne dass sich dabei das Sich-Ausdrückende vom Ausgedrückten trennen ließe. 79 So gibt es einen vorprädikativen Sinn, der zu den sprachlichen Bedeutungen hinführt, aber der vorsprachliche Sinn ist nicht in das Wahrnehmungsbewusstsein selbst eingeschrieben. Letzteres ist nämlich – wie wir gleichfalls schon sahen – nicht dadurch bedeutungsträchtig, dass es dem noematischen Korrelat ein konstituierendes Vermögen verleiht, sondern indem es sich selbst von der »Organisationsstruktur« des Noema »belehnen« (investir) lässt, das heißt durch dessen Innendifferenzierungen und Unvollständigkeiten, die analog zu den Husserlschen Leerhorizonten wie Potenzialitäten fungieren. Der vorsprachliche Sinn bildet auf diese Weise für Merleau-Ponty eine Orientierung auf den Eintritt der Sprache hin, so dass diese sich – bevor sie als ein konventionelles System ausgeübt wird – schon durch die bestehende Einheit zwischen Zeichen und Bedeutungen definiert. Aber diese Einheit ist weder feststehend noch homogen, sondern sie wird nochmals von einem Bedeutungsverhältnis in jenem anderen Sinne getragen, dass sich dem Bewusstsein nichts gibt, was nicht aus einer Vielzahl sinnlicher und geistiger Aspekte bestünde. Phänomenologisch gesehen, existiert mithin kein Element, dass sich gäbe, ohne dass es nicht implizite Verweise auf zugleich Anderes wie Ähnliches oder Gleiches enthielte, wie wir seit Husserls 80 genialen Apperzeptions- und Horizontanalysen wissen. Für Merleau-Ponty und sein Sprachverständnis als Genese ergibt sich daraus grundlegend, dass die Sprache sowohl als ein vom Wahrgenommenen ausgehender Prozess erscheint wie andererseits aber auch als jener Ausgangspunkt, von dem aus die Wahrnehmung ihrerseits verstanden werden muss. Sind nämlich die sprachlichen Bedeutungen in einer Hinsicht nur möglich, weil es schon einen Sinnbezug des Leibes zur 79 80

Vgl. ebd., 193. Vgl. Erfahrung und Urteil, 36 ff.

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Welt gibt, so kann in zweiter Hinsicht das Bedeutungsvermögen der Wahrnehmung nicht ohne Referenz zur Spracherfahrung verstanden werden. Kurz gesagt, ist die Sprache damit jener Ausdruck eines sich vollziehenden Denkens, das seinerseits in der Wahrnehmung erwacht, denn das Wahrnehmungsding wird letztlich durch die Tatsache seiner Benennung begriffen. Letztere lässt sich eben nicht auf eine bloß sinnliche Entäußerung einer ideellen Vorstellung reduzieren, die von jedem Bedeutungsverhältnis unabhängig wäre, denn das Ausgedrückte ist ein Aspekt jenes Geschehens, wodurch der Ausdruck zur Gegenwärtigung des Gegenstandes für das Bewusstsein beiträgt. Die gesamte Kritik bei Merleau-Ponty am Empirismus und Intellektualismus konzentriert sich daher unter anderem in seinem Kapitel über die Sprache, denn deren Phänomenalität kann solange nicht verstanden werden, wie man eine bloße »Übersetzung des Denkens« daraus macht, wie ebenfalls die Postmoderne als Post-Strukturalismus allgemein unterstreicht. 81 Folglich ist die Sprache nicht das »Zeichen« des Denkens, da sie kein Phänomen darstellt, welches noch ein anderes ankündigen würde. Vielmehr handelt es sich um einen gegenseitigen Einschluss. Das Wort als parole verwirklicht das Denken, welches seinerseits die Wörter als mots und Sätze belebt. Außerdem ist die sprachliche Gegebenheit keine bloße Hülle, welche als Fixierung die Gedächtnisleistungen ermöglichen würde, weil »das Denken den Ausdruck nur suchen kann, falls die Worte durch sich selbst einen verständigen Text bilden«. Da für Merleau-Ponty ein rein inneres und schweigendes Denken schließlich ausscheidet, wie wir bereits sahen, insofern ein solch reines Denken sich von bereits konstituierten Bedeutungen aus gibt, muss er eine Denkweise in Anspruch nehmen, die sich von der Konzeptualisierung unterscheidet. Letztere setzt ohne Zweifel den Übergang zur Sprache voraus, aber das Sprechen selbst besteht deshalb nicht in der Verwirklichung des einen oder anderen Begriffs, sondern es ist zunächst »Stellungnahme des Subjekts in der Welt seiner Bedeutungen«. Das heißt, es gibt ein Verstehen diesseits des Austausches im vorstelligen Idealisierungsprozess, nämlich jene Bedeutung, die der Geste des Sprechens selbst immanent ist. Es gilt daher die Verbindung zwischen einem phänomenalen Bedeutungsfeld und der Geste zu verstehen, insofern eben die Geste einen Bruch 81 Vgl. zum Beispiel J. Derrida, Marges de la philosophie, Paris, Minuit 1972, 185– 208: »La forme et le vouloir dire. Note sur la phénoménologie du langage«.

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mit diesem Feld vollzieht und dadurch ein neuer Sinn hinsichtlich der Wahrnehmungsorganisation eintritt. Der Übergang vom Schweigen zum gesprochenen Wort vollzieht sich mithin nicht durch eine platonisierende Überführung der sinnlichen Besonderung in den Begriff hinein, und auch nicht in einem Sprung aus der Natur in den Bereich der intersubjektiven Konvention, sondern er ereignet sich im Hören oder Hervorbringen einer stimmlichen Folge, die in sich einen Sinngestus birgt, den Merleau-Ponty auch sens émotionnel nennt. Dieser Erregungs- oder Gefühlssinn schließt weder die Möglichkeit der Begriffsideation noch die Gegenwart der Konvention im Ursprung des Wortes aus. Aber entscheidend bleibt, dass die lautliche Artikulierung eine Verhaltensweise des Leibes darstellt, die dessen Umfeld Bedeutung verleiht, die hinsichtlich eines je bestimmten Bezuges zu solchem Umfeld ausgesprochen wird. 82 Diese existenziale Funktion der Geste, die Merleau-Ponty einer vorhermeneutischen Tradition der Verbindung der Analyse lebensorientierender Zeichen mit der Leibanalyse seit Descartes und Maine de Biran als einer spezifisch französischen Wahrnehmungsphilosophie entnimmt, 83 löst das Zeichen aus seiner scheinbaren Willkürlichkeit heraus, um es in Bezug auf die Sprache als Wort (mot) zum sinnlichen Ereignis werden zu lassen, in dem dieses Wort als Sequenz durch gegenseitige Differenzierung zum Bedeutungsträger wird. Streicht man nämlich von einem gegebenen Vokabular alles ab, wie etwa phonetische Gesetze und grammatische Rationalisierungen innerhalb der Sprache, so müsste sich, meint Merleau-Ponty, am Ursprung einer jeden Sprache ein »Ausdruckssystem« finden, welches es eben nicht als willkürlich erscheinen ließe, »das Licht Licht zu nennen, wenn man die Nacht Nacht nennt«. 84 Der vorprädikative Sinn hängt damit nicht von einer natürlichen Ähnlichkeit zwischen dem Zeichen und den Wahrnehmungsdingen ab, sondern vom sozusagen »stilisierenden« Verhalten hinsichtlich der letzteren, wobei die Expressivität dieses Stils gerade – wie bereits gesagt – von den inneren Differenzierungen aus entsteht, die sich zwischen Elementen und Sequenzen dieses Verhaltens abspielen. Wenn dann in seinem

Vgl. Phénoménologie de la perception, 212, 225 u. 218. Vgl. M. Merleau-Ponty, L’union de l’âme et du corps chez Malebranche, Biran et Bergson (Notes prises et éditées par J. Deprun), Paris, Vrin 1968, sowie bereits unsere Anm. 18. 84 Phénoménologie de la perception, 218. 82 83

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posthum erschienenen Buch »La prose du monde« (1969) die Linguistik F. de Saussures aufgegriffen wird, so geht es dabei gewiss um die Hervorhebung dieser inneren sprachlichen Differenzen, aber ebenfalls um ihre Verankerung in einer ursprünglichen Gestik. Der Begriff des »diakritischen Zeichens« taucht daher hierzu auf, und bezeichnet dieser bei Saussure die Sinnproduktion innerhalb der Sprache durch die differenzierenden Abstände, welche den gegenseitigen »Wert« der Zeichen bestimmen, so ist jedoch für Merleau-Ponty die Sprache, wie schon vorher, »weniger eine Summe von Zeichen (Wörter sowie Grammatik- und Syntaxformen) als ein methodisches Mittel, um die Zeichen voneinander zu unterscheiden«. Wie Saussure ebenfalls maßgeblich für den postmodernen Strukturalismus sagt, ist diese Differenzierung zunächst eine Differenzierung der »Phoneme«, die der Bedeutung entbehren, welche aber für Merleau-Ponty trotz dieser Abwesenheit von Referent und Signifikat einem Bedeuten in dessen erstem Vollzug entsprechen. Ihr System ist nämlich »eine unerschöpfliche Macht, eine sprachliche Geste von einer anderen zu unterscheiden«. 85 Auch wenn also die linguistischen Theoreme die phänomenologische Annäherung an die Sprache nicht zerstören und außerdem das aktivierte Wort unter anderen Ausdrucksweisen nicht bevorzugt wird, begegnet man bei Merleau-Ponty dennoch einem weiteren Analyseschritt, nämlich der Sedimentierung, um die sprachliche Besonderheit zu verstehen. Das Sprechen als Leibgeste, die schon einen Sinn besitzt, verschwindet nicht mit dem Ausdrucksgeschehen, sondern sie übersteigt sich über das Punktuelle hinaus auf einen »intersubjektiven Erwerb« hin. Merleau-Ponty nennt diesen auch eine »innere Reflexivität«, denn dieser Erwerb ist nicht nur ein Erbe, sondern ein Bedeutungsprozess, der ständig für sich selbst wiederholt und befragt werden kann. Das Subjekt beginnt mit anderen Worten seine Sprache nicht mit einem absoluten Anfang, da seine Bedeutungsproduktion sich einerseits in ein gegebenes Sinnuniversum überhaupt einschreibt und andererseits als Wortgeste im Welthorizont als Universalhorizont im Sinne Husserls verankert ist. Dennoch ist das Sprachsubjekt nicht so determiniert, als wäre es nur der Träger einer Systemverwirklichung, wie im reinen Strukturalismus, 86 denn eine Bedeutung kann unendlich viele andere sprachliche Bedeutungen 85 86

Ebd., 45 u. 47. Vgl. P. Ricœur, Hermeneutik und Strukturalismus, München, Kösel 1973.

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weiterbefragen, so dass »man über das Wort sprechen kann, während sich nicht über die Malerei malen lässt«. Dies erlaubt es, den Intentionalitätstyp überhaupt zu erkennen, den die Bedeutungsproduktion als Sprache beinhaltet. Das heißt, die wiederholende wie bereichernde Sprachsedimentierung setzt die Verbindung mit der gleich bleibenden Finalität »Welt« stets voraus, in die alle Gesten und Akte einmünden, sei es als Dingreferenz oder als Vorstellung. Gerade dadurch scheint sich nun das Wort in seiner sinnlichen Bedeutung als solcher selbst aufzuheben, indem es in uns die Idee der Wahrheit als Grenzbegriff seiner Spannung hinterlässt, wodurch »das Ideal eines Denkens ohne Worte [entsteht], während die Idee einer Musik ohne Töne absurd ist«. 87 Der Anschein solchen Verschwindens des Wortes verpflichtet jedoch dazu, den Weg der reflexiven Sedimentierung zurückzuverfolgen, und zwar nicht nur, um zu erkennen, dass ein Zusammenfallen mit den Dingen nicht möglich ist, sondern um dieses Nicht-aus-sichHeraustreten-Können des Cogito wiederum als dessen Opazität zu unterstreichen. Merleau-Ponty spricht anfangs in einem problematischen Sinne von einem cogito tacite und einem cogito parlé (stillschweigendes/gesprochenes Cogito), um diesseits der Komplexität der Worte eine Unmöglichkeit herauszustellen, genau das einzuholen, worauf sie zu verweisen scheinen: »Jene Akte eines zweiten oder dritten [sprachlichen] Ausdrucks haben jedes Mal [innerhalb der Ausdrucksverdeutlichung] ihre überzeugende Klarheit, aber ohne dass sich jemals die Grunddunkelheit des Ausgedrückten auflösen könnte oder sich der Abstand des Denkens zu sich selbst auf nichts reduzieren ließe.« 88 Als Bedeutungsintention gibt sich das Denken in der Vorstellung durchaus an sich selbst, aber in seiner Bindung an sinnlich gesonderte Aspekte findet ein unendlicher Sprachverweis statt, der nie in einer univoken oder universalen Bedeutung eingeholt werden kann. Die Opazität der Sprache sei daher mit dem Ideal ihrer Selbstauslöschung bzw. ihres Selbstvergessens korrelativ, denn die Ausübung der unendlichen Reiteration kann sich nur mit dem jeweiligen Bewusstsein vollziehen, in der Sprache zu sein, die stets ein Verweis auf einzelne Worte bleibt. Es handelt sich diesbezüglich bei Merleau-Ponty weniger um eine Unterscheidung vom linguistischen Typ Signifikat/Signifikant als vielmehr um eine phänomenologische 87 88

Vgl. Phénoménologie de la perception, 221 f. Ebd., 449.

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Sprachintentionalität vom Typ Bedeutungsabsicht/Rückkehr in die Wortverankerung. Oder einfacher gesagt ist die – aufgrund von Sedimentierungen mögliche – innere Reflexivität der Sprache eine Dialektik, die vom Engagement zur Transzendenz reicht, vom Besonderen zum Allgemeinen und umgekehrt. Da die Sprache für Merleau-Ponty also keine homogen phänomenologische »Region« ist, sondern eine postmodern subjektdezentrierende Verflechtung zwischen leiblichem Verhalten als Geste und sich verselbständigenden Bedeutungen hinsichtlich dieser Ursprungssphäre darstellt, muss er eine Unterscheidung zwischen parole parlante und parole parlée einführen, die auch in seinen späteren Werken beibehalten wurde was an die Unterscheidung von Dire und Dit bei Levinas und Lacan erinnert. Das »sprechende Wort« bezeichnet hierbei die beginnende, phänomenologische Bedeutungsintention, die durch kein naturhaft empirisches Objekt definiert werden kann, während das »gesprochene Wort« sich die vorhandenen Bedeutungen »wie einen erworbenen Reichtum« zu eigen zu machen vermag. Das »sprechende Wort« bricht mit unserem fiktiven Natursein und eröffnet einen Erscheinensmodus, der zunächst nicht im organischen Verhalten als bloßer Geste enthalten gewesen zu sein scheint – nämlich die Sprache als Kulturwelt, deren Sedimentierungen dem »gesprochenen Wort« korrespondieren. Die kulturell geprägte Sprachwelt eröffnet ihrerseits ständig neue Wortbenutzungen, wie zum Beispiel beim Erlernen einer Sprache oder beim literarischen Schaffen, wobei allerdings jedes Mal die Kluft zwischen einem gegebenen Sinn und dessen Unbestimmtheit bzw. Unabgeschlossenheit ebenfalls bestehen bleibt: »Diese immer wieder neu geschaffene Eröffnung in der Fülle des Seins bedingt das erste Wort des Kindes wie des Schriftstellers, die Konstruktion der Wörter wie der Begriffe.« 89 Diese transzendentale Ekstasis der Sprache, die an Heideggers Physisverständnis als unabschließbares »Aufgehen« erinnert, in dem sich die weiteren Dinge dann zeigen können, enthält eine phänomenologische Schwierigkeit, die noch einmal das Verhältnis von Sprache und Wahrnehmung betrifft. Denn wenn die Sprache eine Eröffnung in der ihr gegebenen Welt bewirkt, dann deshalb, weil ihr bereits ein Medium vorausgeht, das der linguistischen Eröffnung durch Wörter und Sätze nicht bedarf. Im vorsprachlichen Sinn finden sich bereits entscheidende Bedingungen vereinigt, damit Sprache als 89

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Rede (parole) sein kann, nämlich innere Bedeutungsdifferenzierungen im Wahrgenommenen sowie Leibbewegungen, die als Kinästhesen ihrerseits diese Differenzierungen motivieren. Diese Abhängigkeit sedimentierter Rede vom Unreflektierten unterstreicht, dass letztere bei Merleau-Ponty immer in Abhängigkeit von der Wahrnehmung betrachtet wird. Wie kann dann aber im Sprachphänomen als solchem der nichtlinguistische Teil der Sprache sowie die Diskursivität jeweils als »Sinn« unterschieden werden? Aus den bisherigen Hauptmomenten der Sprachanalyse wie Bedeutungsintention, Gestik, Sedimentiertes sowie sprechender und gesprochener Sprache ergibt sich als phänomenologische Konstante, dass Sprache jeweils nur mit Hinsicht auf ein phänomenales Feld begriffen werden kann, das sich ihr entzieht. Damit erschließt sich ein Grund für den niemals abgeschlossenen Sinn, der jedes Mal das Sprechen an seinen Hervorbringungsort verweist, der mediale oder transzendente Offenheit ist. Dennoch ist die Heideggersche Parallele von Sein und Sprache als Erscheinenlassen im Aufgehen der Physis, 90 das heißt der Natur oder des Lebens als Gesamtsein bei Merleau-Ponty, insofern anders gelagert im Sinne der oben schon angedeuteten Grundschwierigkeit, als nämlich zu klären ist, ob die Sprachgenese nach Merleau-Ponty nicht dem Gegebenheitsmodus unter der klassischen Form der Präsenz entweicht, wie dies die Postmoderne annimmt. Die Heterogenität zwischen den beiden Erscheinensmodi der Wahrnehmungsauffassung und der Benennung sowie der reine Beziehungsstatus des sprachlichen Bedeutens scheinen bei MerleauPonty in der Tat eine Identifizierung der Rede mit einem unveränderlichen Korrelationstyp wie Zeichen/Bedeutung zu verhindern. Das notwendigerweise formale Repräsentationsmodell der Sprache und die bedingende linguistische Erklärung ihrer empirischen Faktoren werden niemals die Grunderfahrung der Sprache freigeben, die jedem Sprechen tatsächlich innewohnt, wie Merleau-Ponty durchgehend zeigt. Wenn jedoch diese Besonderheit der Sprache weder der rein perzeptiven Erfahrung noch allein dem Reich idealer Wesen angehört, dann besteht für die klassisch phänomenologische Deskription ohne Zweifel ein Widerspruch, da sie in ihrer Eidetik einen entsprechenden intentionalen Übergang zwischen Erleben und Essenz gerade 90 Vgl. Unterwegs zur Sprache, Pfullingen, Neske 1959; M. Kawase, »Sein und Sprache bei Heidegger und Michel Henry«, in: S. Grätzel u. F. Seyler (Hg.), Sein, Existenz, Leben: Michel Henry und Heidegger, Freiburg/München, Alber 2013, 191–220.

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voraussetzt. »Existiert« daher die Sprache im Sinne einer Präsenzmetaphysik überhaupt? Um hierauf zu antworten, kann der Phänomenologe das Problem eines Urwortes nicht ausklammern, wobei es sich natürlich nicht um einen empirisch lokalisierbaren Anfang handelt, sondern um die Möglichkeiten unendlicher Sprachreaktivierung überhaupt, wie auch Deleuze dies für die Immanenz der Begrifflichkeit in Anspruch nimmt. Bei Merleau-Ponty erweist sich ein solcher Rückgriff auf das sprechende Subjekt als genetische Regression auf die Leiblichkeit als »Ausdruck« selbst hin, worin Wahrnehmungserscheinung und sprachliche Bedeutungserscheinung ihre gemeinsame Wurzel haben. Dies bedeutet aber mit anderen Worten, dass der Leib eine »metaphysische Struktur« ist, 91 die denselben als den eröffnenden Ort aller möglichen Offenheit charakterisiert, das heißt, die Heideggersche Daseinsfunktion einnimmt. 92 Der Begriff des Ausdrucks, der die Verankerung der Sprache in der Wahrnehmungswelt kennzeichnet, impliziert in der Tat das Vermögen, in der Wahrnehmung ausgelöste Bedeutungen hervorzubringen, die dann als sedimentierter Sinn nicht der Wahrnehmungserfahrung zu unterliegen scheinen. Genau dieser Sachverhalt lässt sich bei Merleau-Ponty strukturell durch sein ganzes Werk hindurch erkennen. Auf der einen Seite soll die Sprache in alle Verflechtungen des subjektiven Sprachvollzugs eingeschrieben werden, und auf der anderen Seite wird eine Distanz zwischen einer perzeptiven, aber schweigenden Sinnwelt sowie einer Diskurssphäre aufrecht erhalten, die sozusagen vom Vergessen ihrer Einwurzelung in diese schweigende Welt mittels leiblicher Geste lebt. Die eigentliche Präsenz wäre somit für die Sprachphänomenalität dieses welthafte Schweigen als vorprädikatives Feld. Allerdings ergibt sich diese Einsicht nur wiederum durch die Philosophie als Diskurs innerhalb der Epoché, denn es ist keineswegs irgendeine empirische Berührung des Subjekts mit den Phänomenen, die eine Unmittelbarkeit mittels Anschauung liefern könnte. Deshalb ist für Merleau-Ponty die Philosophie keine unnötige Verdoppelung des weltverflochtenen Lebens, sondern eine Gelegenheit, dass dieses Leben nicht in der Selbstunkenntnis oder im Chaos verschwinde. Jedoch finden wir hier keine Analyse des rein phänomenologischen Lebens, das in seinem immanenten Werk bloß als eine Art kosmisch Vgl. Phénoménologie de la perception, 195. Zur weiteren Gegenüberstellung mit Husserl und Heidegger vgl. Y. Thierry, Du corps parlant, 53 ff., 65 ff.

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naturhafter Entität vorausgesetzt zu sein scheint, 93 ohne uns in das Schweigen eines lebendigen Sichvergessens als solchem einzuführen, wie es aus Sicht der Lebensphänomenologie angezeigt bleibt. 94 Aber die Regression auf das Vorprädikative als schweigende Feldpräsenz im sinnenhaft Leiblichen lässt andererseits erkennen, dass die Sprache auf dieser Grundlage in jeder Phase einer sinnlichen Erkenntnis auftritt, um »mögliche Bedeutungen für das tatsächlich Gesehene zu liefern, wobei die weitere Erkenntnis den Verbindungen der Sprache gemäß dann voranschreitet. […] Diese Art Leben der Bedeutungen lässt das konkrete Wesen des Objekts unmittelbar lesbar werden, indem es sogar nur so dessen ›sinnliche Eigenschaften‹ erscheinen lässt«. 95 Mithin ist das Wort selbst »Leben«, wenn es mich bei der Wahrnehmung einer Farbe an einem Gegenstand, der noch nicht eindeutig identifiziert ist, weiterleitet; so beispielsweise, wenn ich denke oder sage: dies ist rot – auch kreisförmig, es könnte eine Kerze sein, denn es fühlt sich wie Wachs an, usw. Aus diesem Zusammenhang lässt sich für Merleau-Ponty nicht folgern, dass der Sinn des Wahrgenommenen erst durch die Diskursivität konstituiert würde; vielmehr unterstreicht seine Analyse, dass die Wahrnehmung selbst bereits wortlos von Bedeutungen belebt ist. Erst wenn diese Osmose zwischen Sinn und Sinnlichem unterbrochen oder zerstört zu sein scheint, ergibt sich der Bezug auf anderswo bereits konstituierte Bedeutungen als die einzige Hilfe, um für das weltbezogene Subjekt die Wahrnehmung neuerlich signifkant werden zu lassen. In unserem vorherigen Beispiel: dieser rote, runde Gegenstand ist eine Kerze. Immerhin ist dabei vorausgesetzt, dass der Sinn des Wahrgenommenen dieser sprachlichen Bedeutungspotenzialität gegenüber nicht fremd sei. Wenn nämlich die inneren Sprachgesetzlichkeiten die Wahrnehmungssynthesen leiten können, so müssen diese ihrerseits einmal in der Bedeutungsbildung aufgetreten sein, die jetzt die Wörter repräsentieren, um wiederum auf die sinnliche Gegebenheit angewandt werden zu können. Dieser scheinbare Zirkel verdeutlicht nur, dass Merleau-Ponty keine chronologische Priorität von Sprache oder Wahrnehmungsauffassung kennt, denn der Abstand zum Objekt kann sich ebenso in der Geste des Zeigens wie in der BegriffsanwenVgl. Signes, 212 f., zu dieser bereits erwähnten »Zwischenleiblichkeit«; außerdem Le visible et l’invisible, 186–190. 94 Vgl. M. Henry, Inkarnation, 163 ff. 95 Phénoménologie de la perception, 152 f. 93

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dung offenbaren. Und vor dem Zeigegestus noch hat das Subjekt insofern schon einen Sinn von den Dingen aus erfahren, als der Leib stets auf irgendeine Weise die Welt primordial bewohnt, wie wir sahen. Die Erfahrung von Auffassung und Vorstellen kann mithin stattfinden, ohne dass eine Kluft distanzierte Subjekt/Objekt-Vermittlung verlangt. Es muss also weiterhin festgehalten werden, dass der Wahrnehmungsprimat bei Merleau-Ponty durch die Sprache nicht erschüttert wird – jedoch keineswegs, weil die Sinneserfahrung linear oder kausal der Sprache und dem begrifflichen Denken vorausginge, sondern weil sie sich als transzendentale Voraussetzung erweist. Das heißt hier zusammengefasst, dass jede Erfahrungsbestimmung durch Sprache eine rekurrente Bestimmung darstellt. Das Bedeutungsvermögen kann in der Tat nur ausgeübt werden, weil eine Sinnorganisation leiblich immer schon zuvor stattgefunden hat. Dies schließt ein, dass das Denken nicht ohne seinen Ausdruck im sagenden Wort (parole) existiert. Dieses Wort ist das Denken in der Bewegung seines Erscheinens selbst, so wie diese Gebung wiederum kein sekundäres Moment hinsichtlich der Konzeptualisierung bildet. Jeder Gedanke setzt andere im Wort ausgedrückte Gedanken voraus, ohne dass jemals ein erster Gedanken erreicht werden könnte, der sich selbst transparent wäre. Damit bestätigt die grundsätzliche Opazität des Denkens die bestimmende Macht der Sprache an sich: »Diese Gedanken in ihrer augenblicklichen Wirklichkeit sind ihrerseits nie ›reine Gedanken‹ gewesen, und in ihnen gab es bereits den Überfluss des Signifikats über den Signifikanten hinaus sowie dieselbe Anstrengung des Denkens, um das denkende Denken einzuholen; dieselbe vorübergehende Verbindung des einen mit dem anderen, was das ganze Geheimnis des Ausdrucks ausmacht.« 96 Es bleibt nochmals zu bemerken, dass Signifikat und Signifikant in diesem Kontext nicht der linguistischen Definition von Begriff und sinnlichem Bild nach Saussure entsprechen, sondern der Ordnung der sprachlichen Bedeutungen (signifiés), die das linguistische Zeichen und seine Aspekte sowie auch die punktuelle Erscheinung eines Sinnes (signifiant) im Fall eines Gedankens einschließen. Damit vollzieht sich also das Denken einerseits nicht ohne sprachlichen Ausdruck, ohne dass andererseits das Denken im verbalen Sinne (penser) wesenhaft linguistischer Natur wäre. 97 Für Merleau-Ponty ist in der Tat das Denken nicht nur 96 97

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von seinem Ausdruck unablösbar, sondern die Tatsache selbst einer solchen Feststellung kann es gar nicht ohne sprachliche Intentionalität geben, die genau die Opazität des Denkens vergessen lässt, welche in der Verbindung des Denkens mit dem Wort als Sagen (parler, Dire) verbunden bleibt. Die Gewissheit, jenseits des sinnlichen Ausdrucks eine getrennte Wahrheit als Wesensidealisierung zu erreichen, ist – postmodern gesehen – eine Wirkung der Sprache selbst. 98 Diese Opazität verbirgt aber gerade jenen subjektiven Pol, der beim Verstehen der Wörter selbst vorausgesetzt ist und von der Sprache nicht entfaltet wird. Unter Rückgriff auf das Cogito bei Descartes bemerkt Merleau-Ponty, dass die Bedeutung dieses Cogito von der Lektüre der »Meditationen« 99 als Text aus nur insofern nachvollzogen werden kann, als mein rezipierendes Denken nicht die bloße Wirkung eines anonymen Diskurses ist, sondern die Öffnung meines Vorstellungslebens auf die vorgeschlagene Cartesianische Bedeutung des Cogito mittels einer Sprache voraussetzt: »Ich könnte den Text Descartes’ nicht einmal lesen, wenn ich vor jedem Wort nicht mit meinem eigenen Leben und meinem eigenen Denken in Berührung wäre und das gesprochene Cogito (cogito parlé) in mir nicht einem stillschweigenden Cogito (cogito tacite) begegnete.« 100 Dieses schweigende Cogito, das Descartes angeblich gemeint haben soll, führt uns wiederum an jene Stelle heran, die unsere Untersuchung im Zusammenhang mit der Postmoderne allgemein motiviert – ob nämlich das »Denken« als cogitatio überhaupt erst im Zusammenhang mit einem sprachlichen Ereignis wie Text, Rede, Dialog usw. offenbar wird, oder ob – wie hier bei Merleau-Ponty – die Opazität nicht genau eine unausgewiesene Selbstaffektion birgt, die als phänomenologisches Pathos die absolute Selbstgewissheit und deren affektives »Sagen« im Sinne der begriffsmäßig uneinholbaren »Lebenserprobung« als Selbsterprobung (épreuve) darstellt. Denn wenn Descartes’ Text mir wissenschaftlicher Weltbefragung in die Phänomenologie allgemein vgl. besonders seine Beiträge: »Le langage indirect et les voix du silence« und »Sur la phénoménologie du langage«, in: Signes, 49–54 u. 105–122. Außerdem Le problème de la parole (Résumés de cours, Paris, Gallimard 1968, 33 ff. Darin werden Phänomene wie das »sublinguistische Schema« oder die Phonologie als »sprachliches Gestikulieren« befragt. 98 Vgl. Phénoménologie de la perception, 459. 99 Vgl. Meditationen über die Grundlagen der Philosophie (Hg. L. Gäbe), Hamburg, Meiner 1959. 100 Phénoménologie de la perception, 460 f.

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etwas über mein Cogito offenbaren kann, dann nicht, weil dieses Cogito sozusagen wie eine Leervorstellung darauf wartet, sondern weil es genau mit seinem eigenen phänomenologischen Leben schon als »Selbstbewusstsein« in Berührung ist, welches dann des Weiteren für jedes Verständnis eines Textes gilt, sofern er eine Wahrheit anspricht, die als stimmungsmäßige Resonanz »in mir« ist. Diese rein affektive Selbstergreifung als Selbstberührung liegt daher als phänomenalisierend ontologisches Urfaktum immer schon voraus, so dass Merleau-Pontys Schlussfolgerung genau umzukehren bleibt: ich verstehe den Text der »Meditationen« als Aussage über mein transzendentales Ego nur, sofern ich in mir dessen Wahrheit immer schon erprobt habe. 101 Eine Sprachtheorie, welche trotz aller Rekurrenz der Bedeutung ins leiblich Gestenhafte hinein den »Sinn« meiner selbst einer Ausdrucksphänomenologie überlässt, vollzieht damit in unseren Augen die Grundentscheidung der meisten Descarteskommentatoren 102 wie der modernen Philosophie überhaupt nach – dass nämlich das Selbstwissen des Cogito ein Evidenzwissen wäre, mit anderen Worten im theoretischen Zugriff innerhalb der Vorstellungstranszendenz oder ihrer transzendentalen Horizontsichtbarkeit errichtet würde. Gewiss will Merleau-Ponty kein substantialistisches Subjekt restaurieren, sondern mit dem »stillschweigenden Cogito« darauf verweisen, dass die Wirklichkeit des Subjekts nicht unabhängig von einem Kontext ergriffen werden kann. Im vorliegenden Fall bedeutet diese kontextuelle Referentialität, dass das Subjekt zwar als Verstehensinstanz vorauszusetzen sei, es aber je nur durch seine eigene Besonderung existiert, indem es sich aus einem schweigsamen Feld von Ausdrucksphänomenen herauslöst, anders gesagt auf sein eigenes Bild unter der Gestalt eines »gesprochenen Cogito« zurückverweist. Diese phänomenologische Situation ist prinzipiell hermeneutisch, wie es auch 101 Vgl. zu dieser Kritik auch M. Henry, Die Barbarei. Eine phänomenologische Kulturkritik, München/Freiburg, Alber 1994, 97 f.: »Diese Illusion [eines textvermittelten Cogito] erhält ihre äußerste Zuspitzung in der modernen Kultur mittels der Substitution des Referenzgehaltes durch die Diskursivität und der eigenen Weise, wie ein solcher Gehalt sich von selbst in der Erscheinung des Seins setzt und darin fortschreitet, nämlich mittels der Subsitution durch einen entsprechenden Diskurs, das heißt durch einen Text und seine objektive Gegebenheitsweise.«. 102 Mit einer gewissen Ausnahme bei J.-L. Marion, »Générosité et phénoménologie. Remarques sur l’interprétation du Cogito cartésien par Michel Henry«, in: Les Études philosophiques 1 (1988) 51–72.

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das spätere Sprechen eines »verwundeten Cogito« (cogito blessé) – verwundet durch göttliche Unendlichkeit und geschichtlich unbegrenzte Selbstinterpretation mittels Dokumente – bei Paul Ricœur belegt. 103 Die ontologische Problematik des (schweigenden) »Urwortes« bei Merleau-Ponty scheint uns genau diese unvermeidbare Hermeneutisierung in seinem postmodern geprägten Denken zu sein. Denn dieses Urwort ist in Wirklichkeit kein solches, weil es der ereignishafte Anfang der Sprache oder sogar das immanente »Wort des Lebens« (Henry) als dessen Selbstoffenbarung wäre, sondern weil es in jeder Aussage jene Leistung wiederholt, welche die erworbenen Bedeutungen neu organisiert und dadurch einen je neuen Sinn bildet. Anders gesagt, ist das Urwort nur pro-duktiv bezüglich eines jeden Sinnes, weil es in den Kon-Text einer bereits kommunikativen Welt und Intersubjektivität eingelassen ist. Dass Merleau-Ponty auch in seiner stärkeren Übereinstimmung mit Heidegger später eine hermeneutische Ontologisierung der Welt aufgrund intersubjektiver »Zwischenleiblichkeit« (intercorporéité) vornimmt, 104 unterstreicht deutlich, dass die phänomenologische Vorentscheidung des Aus-drucks als leiblicher Stilisierung, inkarniertem Sinn und polyvalenter Verflechtung mit einem anonymen Weltfeld das absolute Eigenwesen dieses Leiblichen als erster Parusie nicht einholt, sondern sich immer mehr an weiter differenzierende Weltarchaismen veräußern musste – bis hin zum »Leib der Welt« (chair du monde), wo die Welt als ihr Proprium genau das als phänomenologische Auszeichnung erhält, was das ureigenste Wesen der Subjektivität selbst ist, nämlich empfinden zu können. Wir haben diese weitere Entwicklung bereits sichtbar werden lassen, so wie sie auch strukturell in der Subjektivitätsbestimmung in Bezug auf Wort und Welt deutlich wird, so wenn Merleau-Ponty schreibt: »Über das gesprochene Cogito hinaus, das sich in Aussage und Wesenswahrheit verwandelt, gibt es eindeutig ein stillschweigendes Cogito: eine Erprobung (épreuve) meiner selbst durch mich. Aber diese nicht deklinierbare Subjektivität besitzt nur einen entgleitenden Zugriff über sich selbst und die Welt. Sie konstituiert die Welt nicht; sie ahnt sie 103 Vgl. dazu J. Greisch, »Descartes selon l’ordre de la raison herméneutique. Le ›moment cartésien‹ chez Michel Henry, Martin Heidegger et Paul Ricœur«, in: Revue des Sciences philosophiques et théologiques 73 (1989) 529–548, hier bes. 544 ff. 104 Zu dieser sprachlichen wie leiblichen Intersubjektivität vgl. eingehender Y. Thierry, Du corps parlant, 69 ff.; H. Coenen, Diesseits von subjektivem Sinn und kollektivem Zwang, München, Fink 1986, Kap. V,1.

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nur um sich herum, als ein Feld, das sie sich nicht gegeben hat. Sie konstituiert das Wort nicht, sondern spricht, wie man singt, weil man fröhlich ist. Sie konstituiert nicht den Sinn des Wortes; dieser entspringt für die Subjektivität in ihrem commercium mit der Welt sowie mit den anderen Menschen, die sie bewohnen.« 105 Diese Subjektivität ist mithin bei aller anvisierten immanenten Selbsterprobung eigentlich ein phänomenologisches Nichtsein, und da das Wort nur in der Ekstasis der Welt entstehen kann, herrscht dieses Weltverständnis auch über das Wortverständnis selbst, welches dann seinerseits »die empirische Stütze für das eigene Nichtsein« der subjektiven Existenz ist. 106 Die Sprache erweist sich insgesamt bei Merleau-Ponty mithin im Sinne expressiver Gestalt als ein Sonderfall der pro-jektiven Daseinsweise des Subjekts. Und wenn gerade die späteren Arbeitsnotizen die Idee des »schweigenden Cogito«, das heißt die Möglichkeit einer rein affektiven Subjektivität in Zweifel stellen, 107 dann vollzieht sich damit definitiv die genannte Hermeneutisierung der Welt als einer ontologisch verflochtenen Gleichzeitigkeit von wahrgenommener Welt in ihrer Stummheit und einem sprechenden Subjekt in seiner sinnlichen Leibkonkretion als »inkarniertem Sinn«. Das heißt, diese Hermeneutisierung von Subjektivität und Sprache wird mehr und mehr zu einem Denken des Seins und der Sprache, wobei in den Phänomenen ein Seinssinn gesucht wird, der jedes Mal eine Verschiedenheit von Gegebenheit durchwirkt. Dies gilt für das Auftreten der Sprache als solcher selbst, die mithin nicht auf ein linguistisches Feld reduziert werden kann, was ohne Zweifel ein epistemologisch wertvolles Ergebnis ist, da dieses Feld mit anderen Erfahrungen »institutiv« verflochten bleibt. Die gegenüber Husserl herausgestellte Faktizität eines solchen Feldes besagt dabei, dass der Korrelatsgedanke als starres Gegenüber eines transzendentalen Zuschauers aufzugeben sei zugunsten eines »aktiven Transzendenzbezuges zwischen dem Subjekt und der Welt«. Die damit ihrerseits »subjektivierte Welt« durch diese ek-statische Bewegung der Subjekttranszendenz lässt Phénoménologie de la perception, 462. Vgl. ebd., 229. 107 Vgl. Le visible et l’invisible, 224 f.: »Was ich das stillschweigende Cogito nenne, ist unmöglich. Um die Idee eines ›Denkens‹ (penser) zu haben (im Sinne des ›Denkens des Sehens und des Empfindens‹), um die ›Reduktion‹ auszuführen, um zur Immanenz und zum Bewusstsein von … zurückzukehren, sind Wörter unbedingt notwendig.« 105 106

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dann innerhalb der Zeitanalyse sogar »Subjekt«, »Objekt« wie »Welt« zu bloßen Prozesstermini eines subjektiven Lebens werden, da die Verzeitlichung als passiv synthetischer »Selbstbezug zu sich« in der Bezüglichkeit eines jeden Augenblicks spielt: »Subjekt und Objekt sind zwei abstrakte Momente einer einzigen Struktur der Präsenz.« 108 Diese Präsenz als Feld sowohl in intersensorieller wie intersubjektiver Hinsicht lässt natürlich keinen transzendentalen Idealismus im Hegelschen Sinne aufkommen, sondern sie zerbricht vielmehr die klassisch phänomenologische Hauptachse intentionalen Bewusstseins zugunsten einer komplexen »Dialektik« zwischen natürlicher und transzendentaler Einstellung, die sich vielleicht am besten mit den von Merleau-Ponty benutzten Ausdrücken wie Zirkularität, Überstieg durch Verinnerlichung, Selbstvergessen oder Übergriff als Merkmale der phänomenologischen Beschreibungsweise charakterisieren lässt. Es handelt sich darum, so viele Einstellungen wie möglich seitens des Bewusstseins in Bezug auf jene »Erde« auszuschöpfen, die den unverlierbaren Boden unseres Lebens und Denkens darstellt. Dieser »perzeptive Glaube in Akten und Einstellungen« will postmodern der »reflexiven Untugend« entgegenarbeiten, »die Offenheit der Welt in eigene Selbstzustimmung, die Institution der Welt in Idealität der Welt« zu verwandeln. 109 Als je gemeinter Seinssinn handelt es sich phänomenologisch also darum, die »Welt« frei von irgendeiner vorher festgelegten Ontologie her zu sehen, was natürlich eine Reduktion der objektiv repräsentierenden Sprache einschließt, um die angesprochene Hermeneutisierung weiter zu treiben, die gerade im posthum veröffentlichten Werk »Le visible et l’invisible« (1964) eine Erforschung des Seins ohne Rückgriff auf einen bestimmten ontischen Typus bildet und daher eher als Bestimmung jener »Orte« erscheint, von denen aus das Sein sich für ein Seiendes zeigen kann, welches für das Sein offen ist. Diese Weise, die »ontologische Differenz« als Referenz aufzuheben, führt jedoch nicht – wie bei Heidegger 110 letztlich – zur Aufgabe der Ontologie schlechthin, um die »Wahrheit des Seins« ereignishaft oder »seyns-

Phénoménologie de la perception, 489 u. 491 f. Le visible et l’invisible, 76. Zum »perzeptiven Glauben« vgl. die guten Ausführungen bei R. Bernet, La vie du sujet,166 ff. 110 Vgl. Vgl. Beiträge zur Philosophie. Vom Ereignis (GA 65), Frankfurt/M., Klostermann 1994, II,57: »Die Geschichte des Seyns und die Seinsverlassenheit« (S. 119 f.). 108 109

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geschichtlich« zu denken, sondern zur Ontologie als spezifischer Erfahrungsart der schon erwähnten Sinnverflechtung durch Wahrnehmung, Leiblichkeit und Lebenswelt. In Hinsicht auf die Sprache beinhaltet dies nicht nur die aufgewiesene Herausstellung von Gestik/Sedimentierung sowie der Unterscheidung von sprechender/gesprochener Sprache unter Infragestellung nunmehr des »schweigenden Cogito«, 111 sondern vor allem die transzendentale Eröffnung einer »gemeinschaftlichen Präsenz« durch die sinnliche Verflechtung von »Ich« und »Anderem« hindurch. Hören und Sprechen als nicht konstituierte Weisen einer potenziell universalen Kommunikation sind »das Vermögen, sich von einem gegenwärtig Anderen, von mehreren möglichen Anderen und präsumtiv von allen auflösen und neu machen zu lassen«. 112 Damit wird das Wort in seinem inneren Geflecht der Ort einer Kommunikation, die zunächst wie zwei unmöglich zu verbindende »Rivalitäten« erscheint, nämlich zur Relation zwischen singulärem Ausdruck und universalisierbarem Sinn. Das heißt, Sprache ist Zwischenleiblichkeit und Zirkulation von intelligiblen Bedeutungen, ist Verwurzelung im »rohen Sein« (Etre brut) der Welt und Erschütterung dieses anonymen Seins, mithin ontologische Wechselwirkung zwischen Wahrnehmungswelt und Wortmedium. Für die Seinsmanifestation schälen sich damit insbesondere zwei »Orte« heraus, in denen Analogie, Genese und Grundlegung der Sprache sich so verschränken, dass man schließlich vom zeitlichen Memorial als der letztentscheidenden Phänomenalität von Sprache und Existenz sprechen kann: »In der unvorstellbaren Flachheit des Seins«, wo unsere Bewegungen und Blicke erste Orientierungen und Abhebungen einführen, bedeutet die Sprache nunmehr für Merleau-Ponty eine Artikulierung im »Leben des Seins«, die weder Übersetzung noch bloße Kundgebung von vorher existierenden Bedeutungen ist, sondern die begehrende wie umkehrbare Weiterführung der signitiven Wahrnehmungsdifferenzierungen auf einer neuen intentionalen Ebene. Sprechen und Hören sind Anlass für Sinnintentionen, die von keiner Schau – trotz der Intersensiorialität – integriert werden können, so dass unter anderem hierdurch auch eine Konzeption von Geschichte möglich wird, die jenseits der Alternative von »Notwendigkeit der 111 Vgl. La prose du monde, 187 ff. Über die »Dezentrierung« des Ich durch die Osmose von Leib und Welt ebd., 36 u. 202. 112 Ebd., 29 f.; im Folgenden 85 u. 109 f.

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Dinge« und »menschlicher Initiative« anzusiedeln bleibt. 113 Damit sind für die phänomenologische Sprachanalyse lebensweltliche Situationen anzusetzen, in denen die Genese der Sprache damit anhebt, dass es immer schon Sprache gibt, wovon in der Postmoderne auch Lacan, Foucault und Derrida ausgehen. Abgesehen von der Frage eines diachronischen »Ursprungs der Sprache« in der Menschheitsgeschichte bzw. beim Werden des kindlichen Sprechens, wo für Merleau-Ponty beides Mal beim »Chiasmus« des Leiblichen als Sehen und Gesehenwerden anzusetzen ist, weil aus ihnen der Ausdruck gestenhaft erwächst, 114 wird die Analyse dort besonders fruchtbar, wo Begehren und Wort zusammenspielen. Anders als in Heideggers Denken des schweigenden Seinsrückzugs, das dem Begehren keine absichtslose Parusiemöglichkeit einräumt, wie wir in unserem ersten Kapitel sahen, ergibt sich für MerleauPonty aus der Begegnung der Blicke eine Mitpräsenz von leiblichen Subjektivitäten, die sich im Prozess des désir fortsetzt. Denn das Wort zerbricht hierbei die Faszination der »schweigenden Kommunikation« nicht grundsätzlich, sondern lässt die originäre Genese von Sein und Rede als »Umkehrbarkeit« (réversibilité) verstehen: »Fasziniert von der einzigen Idee, mit einem anderen Leben schwimmend im Sein zu treiben«, paart sich der Leib nunmehr nicht mehr mit der Welt, sondern umschlingt einen anderen Leib, »um sich zum Außen seines Inneren und zum Inneren seines Außen zu machen«. Und in dieser »geduldigen und schweigsamen Arbeit des Begehrens beginnt das Paradox des Ausdrucks«. 115 Auch wenn dieser Ausdruck noch nicht das worthafte Sprechen sein muss, und also das Begehren nicht einfach zur »Ursache« des Wortes gemacht werden kann, wie es zur gleichen Zeit Lacan nahe legt, ereignet sich hierbei nichtsdestoweniger eine Überschneidung von Intimität und Nähe, die verstehen lässt, dass sich beispielsweise im Sehen und Berühren des Anderen aus beVgl. Eloge de la philosophie et autres essais, 63 ff. Unter anderem sei darauf hingewiesen, dass Sprechen und Hören schon in der Leibontologie Maine de Birans nur einen existentiellen Unterschied bedeuten, weil das »subjektive Ego-Wissen« als passives und aktives im Sinne des reinen Selbstempfindens dabei dasselbe bleibt. Mithin können Hören und Sprechen ihre Identität auch nicht erst vom expressiven Wort her erfahren, da diese Identität dann äußerlich bliebe. Vgl. näherhin auch mit Bezug auf Merleau-Ponty Y. Yamagata, »Sprache, Stimme und Kinästhese«, in: E. Blattmann u. a. (Hg.), Sprache und Pathos. Zur Affektwirklichkeit als Grund des Wortes, Freiburg/München: Alber 2001, 135–145. 114 Vgl. Le visible et l’invisible, 203; La prose du monde 60 u. 195. 115 Le visible et l’invisible, 189 f.; vgl. Signes, 24. 113

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Sprache und Leib

stimmten Bewegungen des Leibes heraus der lautliche Ausdruck vorbereitet, das heißt ein »wirkendes Wort« geboren wird, das sowohl sinnliche wie differenzierende Organisation und Satz »ist«. Und dieses gehörte, gesehene wie gefühlte Sprechen, wenn ich meinen Kopf auf Hals, Brust, Rücken oder Schultern eines Anderen lege, wird zugleich vom Gegenüber in solcher Umkehrbarkeit wahrgenommen, dass ich zum Gesehenen, Berührten und Begehrten werde. Die Sprache modifiziert daher nicht nur die in das Sinnliche schon eingeschriebene Intersubjektivität, sondern aus einer »Gemeinschaft des Seins« wird eine »Gemeinschaft des Tuns«. 116 Diese Umkehrbarkeit, die mich als dasselbe Subjekt (ohne eigentlichen Pol eines reflexiven oder schweigenden Cogito) sein lässt, sofern der zunächst wortlose Leib »Idee« und der Geist »sinnlich« wird, bereitet die »letzte Wahrheit« der Sprache vor, die MerleauPonty in seinen ganz späten Notizen evoziert, dass es nämlich »dasselbe Sein ist, das wahrnimmt und spricht«. 117 Analogie und Genese der Reversibilität führen nach ihm nunmehr zu einer Zirkularität auf der phänomenologischen Fundierungsebene als solcher, wo die Bedeutungswelt keinen Überbau zur Sinneswelt mehr darstellt, sondern sich als »Ausdruck selbst vordatiert und fordert, dass das Sein auf diesen zuging«. 118 Bricht nämlich die Sprache das Schweigen, dann umhüllt dennoch dieses Anfangsschweigen »die absolute, denkende Sprache« weiterhin, um eben durch diese hindurch zu ergreifen, was in der Aufeinanderfolge und Gleichzeitigkeit der sprechenden Subjekte »will, denkt und spricht«. Abgesehen von der schon erwähnten kosmischen Lebensanonymität, die hier unausgewiesen bleibt, wendet sich die Analyse solcher Seinsparusie in diesem Zusammenhang besonders auch der phänomenologischen Kunstbesinnung zu, vor allem Cézanne, um zu verstehen, dass die Geste des Malens als einer indirekten Sprache eine ontologische Botschaft freilegt, die in den diskreten sinnlichen Sehweisen selbst besteht, welche gewöhnlich 116 Diese Sichtweise bliebe unter den heutigen Bedingungen einer Mediengesellschaft weiter zu analysieren, denn schon Luhmann wies darauf hin, dass wir unser Weltverständnis heute weitgehend aus den Medien schöpfen, wobei die »Informationen« immer mehr zu »Erregungswerten« einer »Affektregie« werden, welche die Themenkreisläufe so aktuell hält; vgl. P. Sloterdijk, »Über Aktualität. Römische Fußnote zur Medientheorie«, in: Chr. Riedweg (Hg.), Nach der Postmoderne. Aktuelle Debatten zu Kunst, Philosophie und Gesellschaft, Basel, Schwabe 2014, 291–298. 117 Vgl. Le visible et l’invisible, 23 f. u. 230. 118 Eloge de la philosophie, 37.

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Der Leib/Welt-Chiasmus bei Maurice Merleau-Ponty als »Opazität«

nicht offenbar werden. 119 Der Schriftsteller arbeitet seinerseits in ähnlicher Weise, indem er aus der Verdichtung der persönlichen wie interpersonalen Zeit heraus durch das Wiederaufgreifen und Weiterführen der Sprache die aktualisierte Präsenz sedimentierter Gedanken erlaubt und damit eine Seinseröffnung ermöglicht, die im Ungesagten des Gesagten angelegt war: »Die Wahrheit ist ein anderer Name für die Sedimentierung, die selbst die Gegenwart aller Gegenwärtigkeiten in der unsrigen ist.« 120 Es geht Merleau-Ponty allerdings weniger darum, ein bestimmtes Ausdrucksmittel anderen vorzuziehen, also etwa die Sprache der Malerei, als vielmehr jeden Ausdruck als von einem »Sein« her abkünftig zu erweisen, das seinerseits niemals ganz »ist«, weil es stets andere Metamorphosen in seinem Erscheinen gemäß postmoderner Differenz eingeht. Wenn die Sprache auch als »sprechendes Denken« den Vorzug hat, ihre sinnliche Schicht handhabbar gemacht zu haben, ohne trotzdem ein umfassenderes Wissen als die wortlosen Ausdrucksformen zu erreichen, so bedeutet dies gerade, dass weder Philosophie, Wissenschaft noch Literatur oder Malerei einen ein für allemal gesicherten Erwerb darstellen, 121 weshalb Deleuze ihnen vergleichbare Legitimität als »Intensität« in seiner »expressionistischen« Dekonstruktion zukommen ließt. Nie wird »die Sache selbst entborgen«, denn es bleibt eine Grundsphäre mit Schweigen, Dunkelheit und unentwirrbarer Situiertheit gegeben, so dass das, »was wir sagen wollen, nicht vor uns […] wie in einer reinen Bedeutung ist. Es ist nur das Übermaß dessen, was wir leben, über das hinaus, was schon gesagt wurde. […] Unsere Aussagen sind nur die Schlussbilanz unserer Austauschvorgänge mit einer Situation«. 122 Solches Übermaß (excès) jedoch, wo das Gesagte niemals nur Wiederholung ist, sowie das Neue kein absolut bisher ungeahnter Sinn, unterstreicht erneut, dass für Merleau-Ponty »Bewusstsein« Existieren in einer originären Kluft ist, weil sich deren Chiasmus oder Geflecht als Überquellen von Sinnlichkeit und Expressivität ohne Abschließbarkeit bekundet. Gibt es darüber hinaus trotzdem noch eine ontologische wie phänomenologi119 Vgl. Sens et non-sens, Paris, Nagel 1948, 13 (»Le doute de Cézanne«); Signes, 69; L’œil et l’esprit, 27. 120 Signes, 120, mit Rückgriff auf Husserls Beilage III in der »Krisis«-Schrift über den »Urprung der Geometrie« (1936) als Aufweis des Zusammenhangs von Urstiftung und Idealitäten; vgl. auch Signes, 106 u. 120 f. 121 Vgl. L’œil et l’esprit, 91. 122 Signes, 104.

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Sprache und Leib

sche Vereinheitlichung solchen »Lebens des Seins«, dann wäre es ohne Zweifel die Zeit, wie häufiger angedeutet wurde, die jedoch insofern eine verzweifelte und zerrissene Subjektivität impliziert, als jedes Einholen von gefühltem und gesagtem Sinn diesen unmittelbar sofort wieder differiert durch die »aktive Transzendenz« als Übergang der Situationen. In diesem Sinne scheint auch die Sicht des Todes gewollt heroisch, und zwar als sublimierte Kontingenz, so wenn ausgeführt wird, der Tod selbst sei nicht ohne Sinn, »weil die Kontingenz des Erlebten eine beständige Bedrohung für die ewigen Bedeutungen darstellt, in denen es sich ganz auszudrücken können glaubt«. 123 Da jedoch eine absolute »Situiertheit« im rein phänomenologischen Leben als Selbstbindung dieses Lebens an seine absolute Gebung für Merleau-Ponty nicht möglich ist, sofern die originäre »Kluft« postmodern meine einzige Immanenz als Weltgegenwart ist, ergibt sich auch nicht die Möglichkeit, dass dieses Leben mit einem eigenen »Wort« spräche, welches nicht zugleich uneinholbare EntÄußerung wäre. In diesem Sinne ist die Spracheröffnung durch Zeit, Geschichtlichkeit, (Zwischen-)Leiblichkeit und Sinnlichkeit bei Merleau-Ponty zwar facettenreicher als bei Heideggers reiner Weltlichkeit der existenzialen Offenheit, aber die phänomenologische Grundentscheidung ist dennoch keine andere, insofern das Weltverstehen als Sinn- oder Ausdrucksoffenheit sein Sprachverständnis als ausschließliches Differe(ä)nzvermögen leitet. Auch wenn dies nicht in einem engen theorie-linguistischen Sinne gilt und niemals alles gesagt sein wird, so bleibt Sprache doch prinzipiell Weltgeschehen durch ihre unendliche Weiterführung innerhalb eines ersten »Bildes« der Kluft oder Differe(ä)nz als zu versinn(bild)lichendem »Geflecht« des Gegenüber oder Da. Damit erhält auch der Leib in seinem unverwechselbar fleischlichen »Sagen« der Lebensselbstgewissheit nicht seine volle ontologische Dignität, wie wir schon zu Beginn dieses Kapitels zeigten, insoweit er eben nicht primordial »Welt«, sondern unveräußerbar sich selbst offenbarendes, reines »Leben« ist. Allerdings können Merleau-Pontys Analysen zu dem grundsätzlichen Verständnis verhelfen, dass die Welteröffnung in sich als Kluft oder Abstand eine transzendentale Affektivität birgt, so dass eine reine Immanenz keineswegs von der Welt trennen muss. Umfasst beispielsweise die perzeptive Sichtbarkeit jedes einzelne Sehen, so ist sie damit zugleich als lebendige Sichtbarkeit bestimmt, das 123

Vgl. den Schluss von Phénoménologie de la perception, 487 f.

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Der Leib/Welt-Chiasmus bei Maurice Merleau-Ponty als »Opazität«

heißt, die Welt »ist« in dieser Sichtbarkeit als eine »Offenheit«, die nur von der sinnlichen Leiblichkeit her möglich ist. Wenn Aristoteles und Descartes sagen, dass wir fühlten, Welt zu sehen, so wie bei Husserl die Intentionalität immer intentionales Leben ist, dann bedeutet dies, dass der sinnliche Leib als »Welteröffnung« die Welt als deren passive Fortsetzung ist. Denn die Welteröffnung bildet so den Leib selbst als jene Sichtbarkeit in unserem Beispiel, die als Sehen »gelebt« wird und nur von solchem Leben aus möglich ist. In dieser Hinsicht kann dann die Weltekstasis auch niemals neutral sein, nämlich ohne expressiv ästhetische Färbung. Die leiblich fundierte Ek-stasis ist keine Leere, wie es der abstrahierenden Vorstellung erscheinen mag, sondern Eröffnung einer wirklichen Lebens-Welt, in der alles für das Leben ist, einschließlich der Sprache von ihrer Gestik her, wie gerade Merleau-Ponty zeigen kann. Das Sehen der Alterität wie ihre Benennung vollzieht die primordiale Einverleiblichung der Dinge, die nicht anders als für das Leben da sein können, und zwar indem sie sehend für dieses er-griffen werden. Wenn die Immanenz das Ganze der Transzendenz selbst hält, sofern sie deren Träger ist, 124 gibt es im Grunde nichts Fremdes, da alles »Opake« kein undurchsichtig anonymes Sein bildet, sondern ebenfalls schon immer in einem affektiven »Griff« gehalten ist, der zur Expressivität werden kann, ohne darin voll ausgeschöpft zu werden. Denn anstatt die Sinnlichkeit als Transzendenz im Chiasmus von Berühren/Berührtwerden oder Sehen/Gesehenem zu hypostasieren, bleiben Passibilität und Intentionalität (Aktivität) als dieselbe Weise des rein phänomenologischen Lebens zu fassen, wie es gerade auch die Einheit von Sprechen/Hören in dem einen Leib zu verstehen gibt. Durch die Re-flexivität des Sinnlichen als jeweils Gefühltes und Fühlendes kommt es jedoch bei Merleau-Ponty zu einer Eröffnung von »leiblicher Tiefe«, die eine »Entmachtung des Ich« (dépossession de moi) darstellt. Dem Selbst ist dergestalt eine immanente Struktur der »Kluft« inhärent, die als »innere Räumlichkeit« der In-karnation angesprochen wurde, ohne aber – wie phänomenologisch strenger bei Henry – als Wesen der Immanenz selbst ausgewiesen zu werden. Damit wäre das Empfinden sowohl für das Selbst wie für die Alterität prinzipiell in sich offen, und die Selbstheit (ipséité) entstünde für Merleau-Ponty aus der sinnlichen Leiblichkeit als »Umkehrbarkeit«. Aber diese Selbstheit bleibt nun gerade bei ihm anonym oder vor124

Vgl. M. Henry, L’essence de la manifestation, 349 ff.

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Sprache und Leib

egologisch, das heißt in Übereinstimmung mit der weiteren Postmoderne ist sie nicht eigentlich die meinige, so dass der Begriff solcher Ipseität von einer absolut phänomenologischen Subjektivitätswirklichkeit her problematisch ist, wie prinzipiell aufzuzeigen war. Damit schälen sich zugleich zwei Grundtatsachen für die Auseinandersetzung mit der Postmoderne heraus, nämlich deren Versuch einerseits, der Vernichtung der Subjektivität durch das Anonyme mittels einer existentiellen Verfielfältigung der sinnlich relevanten Situationen zu entgehen, und andererseits eine praktische oder ethische bzw. ästhetische Kohärenz zwischen dem leiblich inkarnierten Individuum und der es umgebenden Welt zu schaffen. Damit ist der Dualismus nicht grundsätzlich aufgehoben, aber das Univoke der Manifestation von Sein und Existenz bildet einen gewissen methodischen Sprung, durch eine solche Weise der »Subjektivierung« schon immer über den »Sinn« des Erscheinens von Welt und seiner selbst entschieden zu haben. In der Anonymität oder Opazität bleibt aber dann nichtsdestoweniger die phänomenologisch aufzuklärende »Armut« des Wesens des Erscheinens gegeben, nämlich nicht »Entzug«, sondern selbstaffektive »Immanenz« zu sein.

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4. Trieb und Erotik in der Lebensphänomenologie und bei Georges Bataille

Der Trieb ist gemäß lebensphänomenologischer Sicht zutiefst in der immanenten Affektivität verwurzelt und erscheint als triebhafte Intentionalität unbegrenzt und unreflektiert, was die subjektive Bewegung in ihrer sichtbaren Kontingenz betrifft. Von Autoren wie Husserl, Freud und Scheler etwa wird zwischen dem unbewussten Trieb und der bewusst werdenden Tendenz des Triebes eine Zwischenzone angesetzt, die aus dem scheinbar »blinden Begehren« ein Moment der Verbindung von Instinkt und Wollen darstelle, um schließlich in ein ethisch orientiertes Handeln überzugehen. Diese »Reifung« des Triebes kann in leiblicher Hinsicht als eine dreiteilige Dynamik von animalischem, libidinösem und symbolischem Leib angesehen werden, wie beispielsweise bei Merleau-Ponty, der diese Dynamik zudem mit der motorischen, erotischen und existentiellen Intentionalität im Allgemeinen korrelieren lässt. 1 Die Unterscheidung zwischen Instinkt und Trieb entspräche dabei allerdings nicht genau der Unterscheidung zwischen Tier/Mensch, denn der libidinöse Trieb findet sich bei den höheren Tierlebewesen wie bei den Menschen, während die symbolisierte Leiblichkeit nur bei den letzteren auftrete. Was die gegenwärtige phänomenologische Diskussion betrifft, so wird weitgehend Trieb und Wahrnehmung zusammen gesehen, und zwar in dem Sinne, dass die Wahrnehmung vom Trieb durchzogen sei, um eine »innere Spannung« zu signalisieren, die den Organismus antreibe, sofern dieser von einem Bedürfen bestimmt ist, welches ein entsprechendes Objekt der Befriedigung vorzeichne. 2 Vgl. M. Merleau-Ponty, Die Natur (Vorlesungen am Collège de France, 1956– 1958), München, Fink 2000. 2 Vgl. H.-D. Gondek u. L. Tengelyi, Neue Phänomenologie in Frankreich, Frankfurt/ M., Suhrkamp 2011, 581–603, zu Renaud Barbaras und dessen Werken wie Le désir et la distance. Introduction à une phénoménologie de la perception, Paris, Vrin 1999; Introduction à une phénoménologie de la vie, Paris, Vrin 2008; außerdem C. Maier u. H. van Laak, Die Entdeckung des Begehrens, München, Goldmann 2007; A. Löwe, 1

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Die Absolutheit des erotisch sensuellen Leibes

Von diesen Voraussetzungen her erscheint das Leben zumeist als ein Widerspruch oder eben als eine wesentliche Spannung zwischen physisch-chemischen Gegebenheiten und einem psychologischem Verhalten, welches das Innere mit dem Äußeren zu verbinden habe. Aber es ist offensichtlich, dass der Trieb (bzw. die Triebhaftigkeit, um Tier und Mensch bereits auf der Instinktebene zu unterscheiden) mehr darstellt als die bloß animalische Spannung, um ein Bedürfen zu befriedigen, denn gerade unser Begehren (désir) zeigt, dass bei letzterem stets ein subjektives Verlangen in Bezug auf das Selbst oder Ich mitgegeben ist, während das Bedürfen als nur gegenständlich angesehen wird. Dies tritt ganz klar im erotischen Begehren zu Tage, denn letzteres erfüllt sich nicht allein in einem sexuellen Verlangen, sondern sucht eine Koinzidenz der Subjektivität auf beiden Seiten der Liebenden, so dass hier eine rein phänomenologische Immanenz des Lebens ins Spiel kommt, die hinsichtlich des Begehrens und des Triebes genauer zu untersuchen bleibt.

1.

Die Absolutheit des erotisch sensuellen Leibes

Die geschlechtliche Vereinigung von zwei Subjektivitäten, wie immer sie im Einzelnen gelebt wird, setzt auf jeden Fall eine Alterität der Individuen bei der Triebhaftigkeit als Begehren voraus, das heißt eine transzendentale Relation innerhalb dieser spezifischen Intersubjektivität. Dieses begehrende Verhältnis wird in der Phänomenologie oftmals als paradigmatisch für das Verständnis von Intersubjektivität überhaupt angesehen, wobei allerdings nicht nur die Wiederholung des erotischen Aktes eine fundamentale Frage für das Verständnis der intensiven (triebhaften) Leiblichkeit darstellt, sondern gerade auch der Zusammenhang zwischen dieser begehrenden Intensität und einem transzendenten oder objektiven (geschlechtlichen) Körper, der oftmals diese Intensität in ihrem rein immanenten Verlangen auch scheitern lässt. Mit anderen Worten ergibt sich daraus die Problematik des Libidinösen im Sinne Freuds überhaupt, ob es nämlich in seiner Bewegung auf den Anderen hin nicht zugleich an die Grenzen der Welthaftigkeit als Transzendenz dergestalt gebunden ist, dass der Andere in der Welt niemals erreicht werden kann. Dann wäre das BeR. Lesmeister u. D. Krochmalnik (Hg.), Gesetz und Begehren. Theologische, philosophische und psychoanalytische Perspektiven, Freiburg/München, Alber 2017.

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Trieb und Erotik in der Lebensphänomenologie und bei Georges Bataille

gehren letztlich in der Tat auf die genannte Immanenz als allein ständige Präsenz angewiesen, denn welthaft kann es mit der kontingenten Präsenz des Anderen als »Körper« nicht zusammenfallen, so wie es andererseits auch nicht die Immanenz des Anderen als singuläre Erlebnisweise und Ipseität jemals zu erreichen vermag. Daraus ergibt sich die prinzipielle Frage, ob das Begehren an sich oder als Liebe nicht immer schon über alle Seienden in der Welt hinaus ist und genau auf diese Weise die Kontingenz unserer Existenz zu überwinden versucht, indem es die intensive Präsenz des Anderen sucht. Auf jeden Fall stoßen wir hier bereits auf den radikalphänomenologischen wie auch tiefenpsychologischen Sachverhalt, dass die Immanenz des Anderen in der Kontingenz eine ontologische Unmöglichkeit darstellt. Denn was in der Erotik erreicht wird, ist allein eine Re-präsentation des Anderen, mit anderen Worten das unaufhebbare Intervall zwischen dem, was das Begehren in sich empfindet, und dem, was sich vom Anderen her zu empfinden gibt, ohne mit dem eigenen Empfinden zusammen fallen zu können. Daraus muss sich nicht unbedingt eine Einsamkeit als Hauptgefühl einstellen wie bei Bataille, aber zumindest weist dieser grundsätzliche phänomenologische Abstand im leiblichen Empfinden darauf hin, dass die schon erwähnte Wiederholung der Erotik eine Folge der jeweiligen Unvollendetheit der einzelnen Akte bildet, was im äußersten Fall eine Tragik für die Intersubjektivität als Liebe schlechthin herbeiführen kann. Lebensphänomenologisch gesehen ist nun das Wesen eines jeden Gefühls im Sinne Maine de Birans und Henrys mit jener Bewegung identisch, die sich ontologisch in der Immanenz des Lebens aktualisiert, so dass sich die innere Struktur des pathisch Absoluten als Leiblichkeit oder Intensität des Affekts ebenfalls in jenen Gefühlen erproben lässt, welche die Menschen untereinander empfinden. 3 In dieser Hinsicht ist jedes intersubjektive oder erotische Gefühl eine wirkliche Erprobung (épreuve), welche sich zunächst weder im reflexiven Bewusstsein noch im moralischen Gewissen ereignet, sondern dem ursprünglichen Bereich des affektiven Werdens des Seins als Leben angehört und stets auf eine innere Ich/Mich-Erfahrung als passible Ipseität zurückverweist. Die intersubjektive Differenz als Bezug der Andersheit beinhaltet daher das Verhältnis des lebendigen Leibes 3 Vgl. R. Kühn, Pierre Maine de Biran – Ichgefühl und Selbstapperzeption. Ein Vordenker konkreter Transzendentalität in der Phänomenologie, Hildesheim – Zürich – New York, Olms 2006, hier bes. 144 ff.

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Die Absolutheit des erotisch sensuellen Leibes

zu einem anderen lebendigen Leib, was zu verstehen erlaubt, dass der Bezug zu einem anderen Leib als intensivem Fleisch (chair) eine unverzichtbare Größe im Selbstverständnis eines jeden lebendigen Individuums darstellt. Wird dieser Bezug daher auf den sichtbaren oder objektiven (geschlechtlichen) Körper beschränkt, so wurde die entsprechende Leiblichkeit als umfassende Intensität (Fleisch) – sei es der subjektive Leib des Anderen oder der meine – durch Abstraktion des Ego auf ein (intentionales) Leibsein reduziert, welches es unmöglich macht, den Anderen wirklich als solchen wahrzunehmen, da jeglicher subjektive Bezugspunkt im radikalphänomenologischen Sinne verloren ging. Der Andere ist dann im Grunde nicht mehr als die fiktive Verdoppelung meiner selbst, denn auch ich habe mich dann in einer solchen Vorstellung des Anderen auf eine entsprechende Repräsentation meiner selbst reduziert. Verallgemeinert man diese Analyse der »Fremderfahrung«, so kann gesagt werden, dass im reflexiven Bewusstsein niemals zwei Leiber als affektives Fleisch in der Einheit einer solch vorstellenden »Paarung« vereint sein können, da der Andere als solcher gar nicht angemessen »konstituiert« wurde. 4 Es gibt also gute Gründe zu fragen, ob der erotische Raum als Paradigma der Intersubjektivität schlechthin nicht in einen absolut phänomenologischen Bereich verlegt werden muss, denn nur dort könnten die Liebenden zu einer intensiven Einheit hin finden, das heißt im Abgrund des Lebens, der radikalphänomenologisch jene Kontingenz nicht kennt, welche die Welt ihnen auferlegt. In den Augen Michel Henrys, der für eine solche Begegnung plädiert, in denen die erotische Beziehung letztlich nicht der Weltsicht unterworfen ist, das heißt den ausschließlich kontingenten Körperbedingungen, handelt es sich dabei nicht um eine »Sublimierung« von Leiblichkeit und Eros im Sinne Freuds, 5 sondern um einen Vollzug, in dem die Sexualität als Transzendenz des Körpers auf eine Implosion im Leben hin gelebt wird. Es muss nämlich gesehen werden, dass es innerhalb der Erotik ein pathisch Sensuelles gibt, 6 welches mehr ist als die im KaVgl. E. Husserl, Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge (Husserliana I), Den Haag, Nijhoff 21963, § 51, der für diese Sichtweise in der nachfolgenden Phänomenologie häufig kritisiert wurde; dazu auch I. Yamaguchi, Passive Synthesis und Intersubjektivität bei Husserl, Den Haag, Nijhoff 1982. 5 Vgl. Das Ich und das Es. Metapsychologische Schriften, Frankfurt/M., Fischer 2014, 191–250: »Jenseits des Lustprinzips« (1920). 6 Vgl. M. Henry, Inkarnation. Eine Philosophie des Fleisches, Freiburg/München, Alber 2002, 322 ff., wo mit dem Sensuellen das erotisierte Sinnliche bezeichnet wird, 4

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Trieb und Erotik in der Lebensphänomenologie und bei Georges Bataille

pitel zuvor dargestellte Reversibilität von Berühren/Berührtem im Sinne Merleau-Pontys, da die ursprüngliche Passibilität des Fleisches mit zu berücksichtigen bleibt, welche nicht univok einem Weltverhältnis der Transzendenz gehorcht. Mit anderen Worten ist die erotische Beziehung nicht bloß eine sexuelle Beziehung, die sich in einer objektiven Körperlichkeit allein vollzieht, sondern im pathisch Sensuellen, welches über das rein empirisch Sinnliche hinausgeht, gibt es letztlich ein »Berühren« des Anderen, welches zugleich mit dem immanenten Leben des Anderen in Beziehung tritt. Unter der Gestalt einer endlichen Modalität der Geschlechtsvereinigung wird dabei der Versuch unternommen, dem Vergessen des Lebens in der Welt zu entrinnen, was durch den sensuellen Leib des Anderen insofern unmittelbar gegeben ist, wie er das einzig »magische Objekt« (Sartre) in der Welt darstellt, welches ein Absolutes verheißt. Und der Abgrund dieses erotisch Absoluten ist genau jene Passibilität, welche das unsichtbare Wesen des Fleisches aufseiten von Mann und Frau oder auch gleichgeschlechtlichen Partnern ist. Diese intersubjektive Beziehung der Erotik und Liebe zwischen den Geschlechtern oder den Liebenden ist daher insofern einmalig, wie sie zum einen den mit der Endlichkeit behafteten Leibkörper in der Welt betrifft, wie aber auch die unendliche Möglichkeit des Lebendigen schlechthin, woraus in der Sexualität jene (nicht-neurotische) Angst entspringt, den Abgrund des Lebendigen über den intentionalen oder sinnlichen Körper allein nicht erreichen zu können. Denn diese Endlichkeit des Körpers ist sowohl an die Vorstellung gebunden, durch die jeder sichtbare Körper in Raum und Zeit auftritt, sowie aber auch an die Intentionalität als solche, mit der wir uns auf alle Weltgegebenheiten hin beziehen – und dazu gehört eben auch der mundane Körper des Anderen. Darüber hinaus ist jede Intentionalität aber immer auch eine bestimmte Intentionalität, die horizonthaft begrenzt ist, insofern sie auf Einzelnes in seiner Veränderbarkeit bezogen bleibt. Innerhalb der erotischen Intentionalität wird also eine begrenzte Intentionalität im Sinne der Lust als »Objekt« in Anspruch genommen, ohne dass das erotische Begehren selbst endlich wäre, um es von der allgemeinen Sinnlichkeit der Wahrnehmung zu unterscheiden. Zuvor schon M. Henry, Philosophie et phénoménologie du corps. Essai sur l’ontologie biranienne, Paris, PUF 1965 (Neuaufl. 1987), 294 ff. (dt. Teilübersetzung in: M. Henry, Radikale Religionsphänomenologie. Beitrage 1943–2001, Freiburg/München, Alber 2015, 29–52: »Körper und Geist im griechisch-humanistischen Denken und im Christentum«.

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insofern es auf ein absolut erlebtes Leben abzielt, das heißt durch keinen einzelnen Geschlechtsakt für immer erfüllt werden kann. Daher paart sich die Angst (sowohl vor der unsichtbaren Immanenz des Lebens wie vor den Möglichkeiten des eigenen »Ich kann« als Freiheit) mit der Wiederholung der geschlechtlichen Akte, die oft auch an einen Wechsel der »Sexualpartner« gebunden ist, wodurch die erotische Beziehung leicht den Charakter des Misserfolges für das zutiefst Ersehnte annehmen kann, was heute zudem durch eine öffentliche Freizügigkeit favorisiert werden dürfte, 7 die Bataille schon zu seiner Zeit im Sinne der entstehenden Postmoderne gegen jede moralische Einschränkung im Sinne seines »souveränen Menschen« gefordert hatte. Mit anderen Worten errichtet sich der Bezug zum Anderen auf einer Konstitution des lebendigen Fleisches, dessen ursprüngliche Kontingenz als Leib nicht bloß einer intentionalen Herkunft entstammt, auch wenn diese in der Welt als Körper gegeben ist. Das Erleben der Sexualität unterstreicht vielmehr, dass der lebendige Leib als Fleisch endlich wird, wenn sich seine begehrende Absicht auf ein endliches Element des transzendenten Seins richtet, das heißt hier insbesondere auf die Geschlechtsmerkmale eines sichtbaren weiblichen oder männlichen Körpers in der Welt. Die Faszination für das Erotische als Trieb und Lust (jouissance) besitzt mithin einen zweideutigen Status auf dem Hintergrund eines immer auch transzendenten Körpers des Menschen, obwohl der rein phänomenologische Ursprung unserer Leiblichkeit absolut und unendlich ist. Dieser doppelte Status macht zugleich verständlich, warum unser subjektiver Leib – und besonders die Erotik – eine existentielle, ethische und symbolische bzw. religiöse Bedeutsamkeit erlangen kann, insofern es prinzipiell möglich bleibt, eine mit (nicht-neurotischer) Angst durchsetzte Sexualität vor den abgründigen Möglichkeiten dieses Körpers im Sinne der Analyse Kierkegaards in seinem Werk »Der Begriff Angst« (1844) auch zu einer Liebe ohne Angst werden zu lassen. Denn so wie unsere weltliche Endlichkeit nicht den Sinn von ontologischer Endlichkeit schlechthin ausmacht (die eher auf Grund der Passibilität als Geburt im absolut phänomenologischen Leben beVgl. hierüber zum Beispiel J.-L. Marion, Das Erotische. Ein Phänomen, Freiburg/ München, Alber 2010; zur Kritik einer möglichen »Theologisierung des Eros« bei Marion und Henry etwa vgl. N. Depraz, »Eros et intersubjectivité«, in: J. Hatem (Hg.), Michel Henry, la Parole de la Vie, Paris, L’Harmattan 2003, 167–180.

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Trieb und Erotik in der Lebensphänomenologie und bei Georges Bataille

stimmt werden kann, welche einen welthaft begrenzten Begriff der Endlichkeit aufhebt), 8 so kann auch das sexuelle Begehren als besonderer Modus unserer Existenz eine andere Realität gewinnen. Diese letztere ist die absolute Subjektivität unserer ursprünglichen Leiblichkeit, welche ebenfalls für das sexuelle Begehren im Sinne des zuvor genannten »pathisch Sensuellen« gilt und darüber hinaus alle Möglichkeiten der lebendigen Leiblichkeit impliziert, ohne sich auf das Sexuelle im Sinne einer welthaften (geschlechtshaften) Körperhaftigkeit reduzieren zu müssen. 9 Dabei stellt sich allerdings die Frage, ob wegen der reinen Impressionabilität im jeweiligen Fleisch der erotischen Begegnung die Welt so verlassen werden muss, dass sich die eigentlich »unsichtbare Erotik« nur in einem Bezug ohne Bild und Schau des Anderen wie unserer selbst verwirklicht? In der Tat enthält die Einschreibung in die Unsichtbarkeit des Lebens als intensiven Abgrund erotischen Erlebens ein gegenseitiges Empfangen und Sicherfreuen des Lebens, welches an die pathische Selbsterprobung gebunden ist und sich in der Nacht des absolut phänomenologischen Lebens letztlich vollzieht, welches weder Gesicht noch Namen besitzt, sofern es in der Welt nicht erscheinen kann – zumindest nicht unmittelbar. In diesem Sinne verweist jene Dunkelheit des phänomenologisch Absoluten auch auf die Dunkelheit des Sexuellen, indem dessen »Geheimnis« darin besteht, nicht in sich unverständlich zu sein, sondern eine Erfahrung des Anderen in der Weise suggeriert, das absolute Leben durch zwei kontingente Körper hindurch zu erreichen. Wie dann aber dieses absolute Leben berühren, wenn es in der Welt gerade nicht möglich ist, irgendein Fleisch in seiner Unsichtbarkeit selbst als rein subjektives Leben zu berühren? Die Intensität des erotischen Begehrens lässt darauf hoffen, dass die Liebenden das Leben in ein und derselben Lust als »Selbstgenuss« (auto-jouissance) des Lebens erreichen, so dass die Reflexion über das Erotische notwendigerweise zu einem zentralen Moment der Analyse radikalen Lebens überhaupt wird. 10 Es ließe sich dann besser verstehen, dass das Begehren letztlich nicht wegen der Differenz der 8 Vgl. im Einzelnen R. Kühn, Lebensethos. Inkarnatorische Konsequenzen originärer Lebensreligion, Dresden, Text & Dialog 2017, 11–26: »Leiblichkeit und Intensität als radikalphänomenologische Identitätsbestimmung«. 9 Vgl. B. Mallinger, »Angst und Begehren im erotischen Verhältnis«, in: G. Funke u. a. (Hg.), Existenzanalyse und Lebensphänomenologie. Berichte aus der Praxis, Freiburg/München, Alber 2006, 162–173. 10 Vgl. auch M. Henry, »Notes sur le phénomène érotique« (ca. 1950), in: Revue

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Die Absolutheit des erotisch sensuellen Leibes

Geschlechter hervorgerufen wird, sondern durch jene vorgängige Identität der Lebendigen, welche das gemeinschaftliche Leben der Individuen als solchen ausmacht. 11 In diesem Fall würde das Begehren nicht erst durch eine zufällige erotische Anziehung oder Verführung geweckt, sondern vielmehr durch die Unsichtbarkeit des Abgrundes des Lebens selbst – durch jenes Leben, welches die Liebenden »in ihrer Nacht«, das heißt in der Abwesenheit von Bild und Namen, miteinander schon immer teilen. 12 Wenn auf diese Weise jede Vorstellung von der erotischen Begegnung gegenreduktiv abgezogen wurde, würden sich die erotischen Akte außerhalb aller Bilder vollziehen, welche sich dem affektiven Sein des Lebens sonst stets dabei substituieren. Die Pornographie zeigt in der Tat, dass die Sexualität als reine Außenheit unter der Vorherrschaft des Bildes zur vordergründigen Zur-Schau-Stellung der Körper wird, die heutzutage von der allumfassenden medialen Visualisierung alles Geschlechtlichen dominiert ist und die individuellen wie öffentlichen Phantasmen des Erotischen besetzt hält. 13 Die wirkliche Erotik in ihrem intensiven Begehren wäre daher eher ein Verlangen dessen, was sich nicht zeigt, sich nicht zeigen kann, insofern keine lebendige Intensität jemals als objektiv Körperhaftes zu erscheinen vermag. Daraus ergibt sich ebenfalls, dass die Unsichtbarkeit eines jeden Fleisches – also hier von Mann und Frau oder der Geliebten allgemein – prinzipiell auch keine ontologische Unterscheidung in ihren Geschlechtsmerkmalen impliziert. Die oft genannte »Passivität« der Frau ist dann ebenso »aktiv«, wie die »Aktivität« des Mannes »passiv« ist, nämlich als Empfängnis des Lebens in der gegenseitigen Abhängigkeit von der Grundpassibilität des Internationale Michel Henry 4 (2013) 27–44; »Le problème du toucher«, in: M. Henry, De la phénoménologie, t. I: Phénoménologie de la vie, Paris, PUF 2003, 157–164. 11 Vgl. M. Henry, Affekt und Subjektivität. Lebensphänomenologische Beiträge zur Psychologie und zum Wesen des Menschen, Freiburg/München, Alber 2005, 140– 162: »Mitpathos als Gemeinschaft«. 12 Der Ausdruck »Nacht der Liebenden« fand auch seinen literarischen Ausdruck im Roman Michel Henrys mit dem Titel L’amour les yeux fermés, Paris, Gallimard 1976; eine kurze Darstellung desselben in R. Kühn, Wie das Leben spricht: Narrativität als radikale Lebensphänomenologie. Neuere Studien zu Michel Henry, Cham (CH), Springer 2015, 288–293. Zur rein phänomenologischen Analyse vgl. auch schon R. Kühn, Praxis der Phänomenologie, Einübungen ins Unvordenkliche, Freiburg/ München, Alber 2009, 231–237: »In der ›Nacht der Liebenden‹«. 13 Vgl. dazu etwa K.-J. Pazzini (Hg.), Geld und Liebe (RISS Materialien), Baden, Vissivo Verlag 2017.

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Trieb und Erotik in der Lebensphänomenologie und bei Georges Bataille

Lebens. Damit verschwindet in transzendentaler Hinsicht jede »sexuelle Differenz«, aber auch jede virtuelle Diskriminierung von Mann und Frau oder anderen Geschlechtsformen in welthafter Perspektive, so wie ebenfalls jede »vernünftige Wahl« verschwindet, da der erotische Bezug sich letztlich nicht von der Welt her errichtet, sondern von einer Intensität ohne Namen und Gesicht aus. In uns finden wir daher immer schon die Ur-Mächtigkeit dieser Liebe als »Potenzialität« vor, 14 während die Vorstellung des Anderen stets nur ein imaginäres Trugbild erreicht, welches dann auf eine rein intentional gewollte Begegnung als ungestillte »Einsamkeit« zurückschlagen kann. In der intensiven Begegnung im Sinne eines erotisch absoluten Fleisches wäre das Ergebnis einer radikalphänomenologischen Analyse mithin eine unsichtbare Erotik, das heißt ein erotischer Vollzug frei von allen welthaften Bildern. Was sich dadurch eröffnet, ist der Chiasmus von zwei subjektiven Leibern, die das Sichtbare des Körpers zusammen mit der Unsichtbarkeit des Fleisches der ursprünglichen Leiblichkeit miteinander verbinden, ohne dass jemals ein Element davon als »Fetisch« isoliert werden kann. 15 Über alle Metaphorik hinaus vermag dann die Erotik zum Namen des Seins selbst zu werden, nämlich als einer Sinnlichkeit und Sensualität, die im Bereich der Welt (Körper) die Erprobung des Lebens zu leben hat, um gleichzeitig in der Endlichkeit eine Offenheit auf den Anderen hin in einem ursprünglich gemeinschaftlichen Leben zu lieben, welches selbst auf das Absolute im phänomenologischen Sinne hin öffnet. 16 Über die sexuelle Differenz der Geschlechtsorgane sowie eines je spezifisch weiblichen oder männlichen Empfindens hinaus, oder besser diesseits davon, gibt es folglich ein absolut phänomenologisches Leben, welches in der Ermöglichung des je individuellen wie gemeinschaftlichen Lebens die unendlichen Modalitäten des EmpfindenKönnens überhaupt begründet. In diesem Sinne ist die Analyse der »sexuellen Differenz« sowohl eine notwendige Betrachtung hinsichtlich des Chiasmus oder der Gegenseitigkeit des Uns-Berühren-Könnens überhaupt wie auch zugleich in Bezug auf alle kulturelle DiffeVgl. M. Henry, »Potenzialität«, in: R. Kühn, Wie das Leben spricht, 351–360 (Schlusskapitel aus M. Henry, Généalogie de la psychanalyse. Le commencement perdu, Paris, PUF 1985, 387–398). 15 Vgl. S. Freud, »Fetischismus« (1925), in: Das Ich und das Es, 327–334. 16 Vgl. R. Arsenic-Zamfir, Le corps dans la philosophie française contemporaine: Michel Henry et Gilles Deleuze, philos. Diss. Université de Bourgogne (Dijon) 2006, 176 ff. 14

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Die Absolutheit des erotisch sensuellen Leibes

renzen und Empfindungsweisen, da sie eine originäre Einheit in der prinzipiellen Selbstgegebenheit der Affektabilität aller Individuen voraussetzen. Die transzendentale Reduktion als Gegen-Reduktion impliziert mithin in einer solch radikalphänomenologischen Perspektive sowohl die Reduktion des objektiv sichtbaren Körpers mit seinen Genitalien und den weiteren sekundären Geschlechtsmerkmalen sowie der subjektiv oder innerlich gelebten »geschlechtlichen Identität«, welche eine Weise des Empfindens in dessen singulär einheitlicher Ausprägung darstellt und in der Hetero- wie Homosexualität zum Ausdruck kommt, insofern beide auf einer Selbstaffektion gründen, welche sich als »geschlechtlich« oder »erotisch« in ihrer jeweiligen existentiellen Gegebenheit empfindet. Auf diese Weise lenkt die kulturell gelebte Sinnlichkeit, die subjektiv erfahrene Geschlechtlichkeit wie der Habitus unserer alltäglich individuellen Praxis auf eine Affektivität zurück, die wir im Sinne der pathisch-leiblichen Intensität als Offenheit auf unsere Welterfahrung als solche hin bezeichnet haben. Wenn jedoch in der radikalen Immanenz des Lebens als UrGemeinschaftlichkeit der Lebensaffektion aller Individuen diese sichtbare wie subjektiv im Inneren erlebte Vollzugsweise von Eros und Praxis nicht mehr radikalphänomenologisch definitiv zählt, sondern nur das Geboren-Werden im Leben selbst, dann zählt auch nur noch diese generatio schließlich, sofern sie alle Vollzüge in deren Existenz erlaubt, um diesseits von Mann und Frau sowie auch allen anderen kulturellen Unterschieden dieses ununterbrochene GeborenWerden miteinander zu teilen und zu steigern. Lebensweltlich oder soziologisch betrachtet bleiben natürlich die Rollen in der Weltwahrnehmung gegeben, aber gerade eine rein phänomenologische Analyse der »sexuellen Differenz« innerhalb der Erotik und Kultur macht dergestalt deutlich, dass letztlich der wirkliche Austausch des rein Affektiven aus gegen-reduktiver Sicht eine prinzipielle Notwendigkeit bildet und mit der Freiheit eines jeden als Ipseität korreliert. 17 In Bezug auf die Erotik als Trieb und Lust müssen wir uns daher bewusst bleiben, dass das Bild eine wichtige Rolle in den lebendigen Beziehungen der Intersubjektivität spielt, denn der Affekt als Gefühl entfließt einem affektiven Bild dergestalt, dass der entsprechende Affekt in Bezug auf die Vorstellung, mit der er im Bewusstsein auftritt, Vgl. R. Kühn, Subjektive Praxis und Geschichte. Phänomenologie politischer Aktualität, Freiburg/München, Alber 2008, 438–444: »Transzendentale Aufmerksamkeit und gemeinschaftliche Lebensverwirklichung«.

17

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Trieb und Erotik in der Lebensphänomenologie und bei Georges Bataille

zur Freude (Liebe) oder zum Hass wird, wie sowohl die Affektenlehre von Spinoza, Schopenhauer und Freud zeigt. 18 Auf diesem Hintergrund erlaubt die erotische Liebe nämlich zu erfassen, dass sie eine Weise intersubjektiven Verstehens ist, in der neue affektive wie intelligible Welten erfahren werden, wo das je gemeinsame Werden eingeübt wird oder auf dem Spiel steht. Dazu dienen die Zeichen der Liebenden untereinander, welche der erotisch-triebhaften und kommunikativen Interaktion mit dem Anderen entstammen, aber es muss bewusst bleiben, dass die Intra-Subjektivität als originäre Gemeinschaftlichkeit eben letztlich bildlos ist, wodurch sie sich von der welthaften Intersubjektivität und deren diskursiver Semiotik wie Symbolik unterscheidet. Das heißt, es gilt in ontologischer Hinsicht, sich in ein intensiv-leibliches Werden zu integrieren, welches dieser transzendentalen Bildlosigkeit angehört, ohne Affekt und Trieb aufzukündigen, welche der Unmittelbarkeit der subjektiven und ursprünglichen Leiblichkeit als solcher entspringen und zu deren Wesen gehören. Die Frage von Erotik, Trieb, Begehren und Liebe stellt sich dann in jener radikalen Hinsicht, ob unsere intersubjektiven Bezüge eine Relation leben können, die allein der Univozität des affektiven Seins als »Leben« im verbalen Sinne von »leben« verpflichtet ist. Dies schließt zudem ein, die Freiheit des gemeinsamen Handelns von allen Bildern und Zeichen so zu lösen, dass ein anderer Habitus entsteht, als er üblicherweise von der zeitlichen Weltsukzession und deren horizonthaften Erwartungen her vorgeschrieben ist, nämlich einem System illusionärer »Selbstsorge« anzugehören, 19 welche alle Dinge, Personen und Situationen nur auf sich und die eigene Befriedigung in einer »transzendentalen Illusion« (Henry) bezieht. Ein solches Lebensethos in Bezug auf Trieb und Erotik mit ihren Erfüllungen und Misserfolgen verlangt somit eine ontologische Klärung der phänomenologischen Grundverhältnisse, die einen prinzi18 Vgl. Können des Lebens. Schlüssel zur radikalen Phänomenologie, Freiburg/München, Alber 2017, 46–60: »Die Frage der Verdrängung nach Schopenhauer und Freud«; R. Bernet, Force-Pulsion-Désir. Une autre philosophie de la psychanalyse, Paris, Vrin 2013. 19 Der Begriff stammt von M. Foucault, Histoire de la sexualité II. L’usage des plaisirs, Paris Gallimard 1984 (dt. Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit 2, Frankfurt/M., Suhrkamp 1986); ›La vérité et les formes juridiques‹, in: Dire et Écrits, III, Paris, Gallimard, 1994, 123 f. Inzwischen gibt es eine größere Debatte darüber, wobei auch der weitere Begriff der »Lebenskunst« eine Rolle spielt; vgl. etwa Psycho-logik 10 (2015): Abenteuer und Selbstsorge.

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Die Absolutheit des erotisch sensuellen Leibes

piellen Zusammenhang von originärer Affektivität und Liebe als leiblich-individueller Potenzialität beinhalten, ohne erwarten zu können, dass auch die intentionalen Weltverwirklichungen dem unmittelbar entsprechen. So können wir affektive Situationen lebensphänomenologisch begründen, die als Öffnung gegenüber dem ununterbrochen affektiven Werden des Lebens stets selbst in der Bereitschaft verbleiben, sich auch den neuen welthaften oder intersubjektiven Situationen anzupassen, da die ursprüngliche Selbstaffektion des Lebens diese Offenheit für alle Relationen schlechthin beinhaltet. Die passible Ur-Situativität des Lebens kann in der Tat niemals sichtbar werden und damit auch nicht umfassend einsehbar sein, so dass der »Trieb«, welcher radikalphänomenologisch »unbewusst« aus dieser Ur-Situativität hervorgeht, ein prinzipiell offener ist – frei für jenes mit-pathische Werden, welches sich im Leben miteinander abzeichnet. 20 Die prinzipiell philosophische wie wissenschaftliche Unmöglichkeit, das Leben und seine Intensität rational umfassend verstehen zu können, ist daher keineswegs ein Nachteil, sondern der Freiheit als ursprünglichem Affekt im Sinne der sujektiv-leiblichen Potenzialität geschuldet, welche der ontologischen Vielfalt in den subjektiven und liebenden Beziehungen grundsätzlich koextensiv ist und als originäres »Mehr« des Lebens im Sinne Nietzsches, Husserls und Henrys stets über alles momentan Entschiedene und Fixierte hinaus geht. In diesem Sinne »subjektiviert« (Foucault) uns die Liebe im intentionalen Sinne, während sie uns als Begehren und Eros in die Nacht der Unsichtbarkeit der Intensität des Gefühls hinein versetzt, welche dem Leben und seinem immanenten Wesen als unserer absoluten Individuierung eigen ist. Spätestens hier wird einsichtig, dass wir diese Analyse über »Trieb und Erotik« gleichfalls als maßgebliches Paradigma für intersubjektive Begegnung überhaupt verstehen können, nämlich als Einübung in eine Reduktion, welche Begegnungen und Beziehungen jeder Art zwischen einzelnen Individuen letztlich nicht denkt und interpretiert, sondern von der Inklusion des Denkens in den Affekt hinein versteht. 21

Vgl. M. Henry, Affekt und Subjektivität, 154 ff., in Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse. 21 Für diesbezüglich weitere Details vgl. R. Kühn, Begehren und Sinn. Grundlagen für eine phänomenologisch-tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und Supervision – zugleich ein Beitrag zu Jacques Lacan, Freiburg/München, Alber 2015, 211 ff. 20

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Trieb und Erotik in der Lebensphänomenologie und bei Georges Bataille

2.

Intersubjektivität und Erotik als transgressiv-kulturelle Problematik

Wenn es daher einen Bezug zwischen der ontologischen Fülle des Lebens und den intensiven desiderata unserer Subjektivität gibt, dann bedeutet der Zusammenhang zwischen Eros und absolutem Leben einerseits, die welthafte Praxis nicht vom Trieb abzukoppeln, aber andererseits auch, dieses erotisch Absolute, welches ohne Bild ist, auf kein Seiendes – auf keinen Anderen – in der Welt fetischhaft zu fixieren. Was Jacques Lacan 22 in analytisch-therapeutischer Hinsicht unter der Nie-Erreichbarkeit der vollen Wirklichkeit (le réel) versteht, kann dann nämlich zu dem Verständnis verhelfen, dass unser Gefühl von den analogischen oder axiologischen Zwängen zu befreien ist, welche die intentionale Liebe selbst absolutieren wollen, ohne im transzendental ermöglichenden Leben diese ursprüngliche Absolutheit aufkündigen zu müssen. 23 Denn es gehört zu den Paradoxen des intentionalen Lebens in der Welt, dass die Anstrengung, um einer neuen Situation aus dem Weg zu gehen, genau dieselbe ist wie jene, um eine Veränderung herbeizuführen. Für Eros, Trieb und Liebe heißt dies, dass die gesuchte ontologische Einheit unter den Menschen und besonders zwischen Liebenden eine Synchronisierung der Subjektivitäten im letzten Sinne unmöglich macht, da der subjektivleibliche Rhythmus bei jedem ein je anderer ist. Eifersucht, Hass, Lüge und Gewalt im Bereich der »Liebe« rühren aus dieser Unmöglichkeit, die ursprüngliche Gemeinschaftlichkeit und Einheit in eine welthafte »Verschmelzung« überführen zu wollen, während die ursprüngliche Univozität des (mit-)pathischen Lebens nur bedeutet, dass vor-ontologisch aus ihr alles Wirkliche hervorgeht, um im intentionalen Werden der Individuen effektiv realisiert werden zu können. Insofern kann nochmals festgehalten werden, dass der triebhafte Eros vom ursprünglichen Leben her eine Öffnung oder auch die VerheiVgl. Séminaire XX: Encore, Paris, Seuil 1975 (dt. Das Seminar XX: Encore, Berlin/ Weinheim, Quadriga 1986); Le séminaire XIX: … ou pire, Paris, Seuil 2011; Le Séminaire. Livre VI: Le désir et son interprétation, Paris, Éditions de la Martinière 2013; dazu A. Badiou u. B. Cassin, Es gibt keinen Geschlechtsverkehr. Zwei Lacanlektüren, Zürich, Diaphanes 2012; M. S. Aumercier, »Das Nicht-Geschlechtsverhältnis: ein Axiom?«, in: Riss. Zeitschrift für Psychoanalyse Freud – Lacan, Baden, Vissivo Verlag 2017, 53–65. 23 Vgl. dazu E. J. Lee, Pour une critique phénoménologique de la psychanalyse: Henry, Freud, Lacan, philos. Diss. Universität Straßburg 2009, 206 ff. 22

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ßung von Existenz bedeutet, welche alle festgehaltenen Bilder, Vorstellungen und Bedeutungen übersteigt. Die Zeit der Liebe und des Verliebtseins erscheint so im Nachhinein oft als eine »verlorene Zeit«, was aber nur auf den radikalphänomenologischen Grundsachverhalt zurückverweist, dass die Liebe als subjektive Intensität frei von jeder welthaften Teleologie ist, um im Miteinander der Liebenden (was hier wieder für die Frage der Intersubjektivität überhaupt steht) Gewissheiten allein im Sinne der Erprobung auf dem affektiven Hintergrund von Habitus und Veränderung einzugehen, welche die immanente Bewegung des Lebens zum Ausdruck bringen. Werfen wir aus diesem Grund einen abschließenden Blick auf intersubjektive Verhältnisse in der lebensphänomenologisch betrachteten Erotik, die aus (perversen) Gewaltverhältnissen zwischen an sich lebendigen Individuen hervorgehen. Die Erotik kann in der Tat wie ein Spiegel der Weltverhältnisse sein und deren Exzess deutlich machen, weil der erotische Trieb sie für die eigene Sinnlichkeit in Besitz nehmen kann. Die Lust vermag als Grundelement des subjektiven Begehrens und seiner intentional gewollten Befriedigung eine zentrale Funktion innerhalb der gesellschaftlichen Praxis der sexuell geprägten Leiblichkeit annehmen, da die Sexualität – abgesehen von der sie begründenden immanenten Affektivität – auch der privilegierte Ort der Begegnung zwischen den Individuen in der Gesellschaft darstellt. So wie Sklaventum und Knechtschaft als Zerrbild des Gesellschaftlichen auftreten, so ist auch der Masochismus eine Karikatur der Gesellschaft. Die masochistische Perversion besteht in der Tat darin, dass jemand innerhalb der »erotischen« Beziehung bestraft wird, um aus dieser Unterwerfung die Hoffnung auf eine mögliche sexuelle Lust zu beziehen. Jedoch wird der Masochist nicht in erster Linie von der Lust beherrscht, sondern vom erlittenen Schmerz, so dass die Frage auftaucht, wie schon bei Hume, ob es überhaupt ein gemeinsames Prinzip zwischen Lust und Schmerz gäbe, welches erklären könnte, warum wir dem letzteren entgehen wollen und die Lust suchen. In lebensphänomenologischer Hinsicht kann geantwortet werden, dass es in der ursprünglichen Sphäre des rein immanenten Lebens eine Reversibilität zwischen allen affektiven Modalitäten des Lebens gibt, während dies auf der Ebene der welthaften Körper nicht möglich ist, insofern die Lust selber nicht von der Geltung des Prinzips Rechenschaft ablegt, die sie im psychischen Leben einnimmt. Dadurch entsteht eine Problematik, welche werthafte Rolle die Individuen den affektiven Möglichkeiten in der Gesellschaft zu189 https://doi.org/10.5771/9783495820537 .

Trieb und Erotik in der Lebensphänomenologie und bei Georges Bataille

sprechen, nämlich in diesem Fall der Lust und nicht der ursprünglichen Intensität des Lebens. Betrachtet man folglich Masochismus und Sadismus als Perversionen und nicht als angenommene »souveräne« vitale Steigerungen des Lebens wie bei Georges Bataille, 24 so wird die Lust im empirischen Sinne fast zu einem ontologischen Vorurteil erhoben, aufgrund dessen sie ihre Herrschaft bekräftigt. In den beiden genannten Perversionen bringt der Schmerz demjenigen Lust, der ersteren ausübt, oder aber demjenigen, der ihn erleidet. Dies würde für den gesellschaftlichen Bereich besagen, dass der Schmerz im sexuell-erotischen Sinne nur mit Formen der Wiederholung in der Gesellschaft einhergeht, die den Gebrauch von Schmerz bedingen, wie Gilles Deleuze 25 diese Praktik analysiert. Dies würde heißen, dass sich in gesellschaftlicher Hinsicht nicht die Axiologie der Lust ändert, sondern nur das Verhältnis, wie in der Gesellschaft die Körper in ein sich verselbständigendes System von Wiederholungen eintreten, nämlich in ein Schwanken zwischen Resexualisierung und Desexualisierung. In Freudschen Termini kann entsprechend ergänzt werden, dass auf diese Weise Eros desexualisiert wird, um besser Thanatos zu sexualisieren, das heißt jenes intensive Band zu trennen, welches die subjektive Leiblichkeit mit dem rein phänomenologischen Leben unterhält. Im Masochismus und Sadismus gibt es daher kein »Geheimnis« der Verbindung zwischen Vgl. »La souveraineté«, in: Monde Nouveau-Paru 101–103 (1956) (dt. »Die Souveränität«, in: G. Bataille, Die psychologische Struktur des Faschismus. Die Souveränität, München, Matthes & Seitz 1978, 45–86); L’érotisme (1957), Paris, Minuit 1972 (dt. Die Erotik, München, Matthes & Seitz 1994), weiter ausgeführt im 3. Teil dieses Kapitels. 25 Vgl. Présentation de Sacher-Masoch, Paris, Minuit 1967, 80 u. 103 f. – Auch für Freud scheint es so, dass der Masochismus nicht einfach als ein gegen sich selbst gerichteter Sadismus verstanden werden kann, insofern ein »primärer Masochismus« schon in der Selbsterotik des Kindes existiere, auch wenn Freud ab 1920 in Triebe und Triebschicksale (Gesammelte Werke, Bd. 10, Frankfurt/M, Fischer 1948, 209–232) einen »primären Sadismus« als fundamentaler ansieht und von einem »Bemächtigungstrieb« herleitet, welcher ohne Grausamkeit dazu diene, den Widerstand des sexuellen Objekts später zu überwinden und sich daher mit dem sexuellen Trieb als solchem verbinde; vgl. S. Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (Gesammelte Werke, Bd. 5, Frankfurt/M. Fischer 1948, 161–286). Radikal phänomenologisch ließe sich dieser Befund so auffassen, dass die Möglichkeit des Triebes, welcher in der kindlichen Erotik noch vereint auftritt, als die affektive Fähigkeit zu verstehen ist, zu berühren (»Ich kann«) und berührt zu werden (Passivität), ohne beides transzendental voneinander trennen zu müssen. Vgl. auch M. Henry, Inkarnation, 346 ff., zur Frage erotischer Perversionen. 24

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Intersubjektivität und Erotik als transgressiv-kulturelle Problematik

Lust und Schmerz, sondern die Erklärung findet sich in dem Sachverhalt, dass eben die Sexualität hier mehr ein gesellschaftliches Modell zum Ausdruck bringt als eine immanente Dynamik der Affekte und Gefühle im Sinne des ursprünglichen passiv-aktiven Triebes als Begehren und Eros. Auf dieser Ebene wäre dann auch verständlich, dass die individuelle Homosexualität eher auf eine existentiell habitualisierte Intra-Intersubjektivität verweist, die im gleichgeschlechtlichen Anderen dieselbe Intensität des Lebens sucht wie in der eigenen Existenz, während die Transsexualität eine Art ontologischer Koexistenz der Geschlechter als Überkreuzung der Körper darstellt, wodurch sich zeigen kann, was es an Weiblichem in einem männlichen Körper gibt und umgekehrt. Dahinter stünde dann die Vermutung, dass die ursprünglich immanente Struktur des Lebens als leiblich-affektives Sein eine Fluidität von erotisch-sensuellen Verhältnissen impliziert, die allein von der Intensivierung des Lebens bedingt sind, so dass Trieb, Begehren und Eros ein ursprünglich mögliches »Sein« als Existenzmodus beschreiben, der von allen Vorstellungsqualitäten frei ist, da letztere nichts anderes als eine welthafte Kopie mit entsprechenden Illusionen enthalten. Gibt es radikalphänomenologisch keine Lust als Freude ohne Leid, 26 dann lassen sich die geschlechtlichen Verhältnisse auch nie genau durch die »Sublimierung« des einen oder anderen sexuellen Modells definieren, ohne hier in pornographische Vorstellungsfixierungen abdriften zu müssen. Denn auf jeden Fall taucht phänomenologisch gesehen der Andere innerhalb des pathisch Sensuellen als »Gegenstand« des Begehrens distanzhaft vor dem Ego auf, und dieses welthafte Erscheinen dekliniert sich als eine von mir verschiedene Leiblichkeit, aber auch noch fundamentaler – das heißt über alle Sichtbarkeit im Erotischen hinaus – als eine Möglichkeit des Lebendigen schlechthin in der Welt und im Abgrund des Lebens zugleich. Dadurch stößt die Intentionalität als Trieb und Begehren in ihrem Empfinden (Eros) an eine Grenze, denn auf der einen Seite ist der pathische Abgrund aller Erotik und Intersubjektivität a-rational und unbewusst (abyssal lebendig), und auf der anderen Seite setzt das Bewusstsein des Gefühls des Anderen ein Umfeld voraus, in dem die inneren Triebe nur einen kontingenten Ausdruck finden können. Insofern ließe sich sagen, dass das ursprüngliche Gefühl subjektiven Lebens als Affekt und Trieb einen phänomenalen Kreislauf beschreibt, denn es ist einerseits am Ur26

Vgl. M. Henry, Affekt und Subjektivität, 124–139: »Leid und Leben«.

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Trieb und Erotik in der Lebensphänomenologie und bei Georges Bataille

sprung der lebendigen Existenz, geht durch die intentionale Wahl eines Gegenstandes des Begehrens auf der Ebene des Bewusstseins hindurch und kehrt schließlich in seine eigene Immanenz zurück, wobei in allen Phasen die immanenten und intentionalen Gesetze der Intersubjektivität als Intra-Subjektivität ihre Rolle spielen. Wenn die sexuelle Identität also aus einem Begehren wird, welches zugleich immer auch leibliche Bewegung oder immanente Praxis darstellt, dann verweist jede Form von Sexualität an einen kulturellen Habitus, der sowohl subjektiv wie kulturell bedingt bleibt. In diesem Sinne lässt sich daher ergänzend feststellen, dass jemand hetero-, homo- oder transsexuell wird, insofern die Geschlechtsorgane als biologische Vorgegebenheit nicht das sexuelle Empfinden als solches begründen können, welches für jedes subjektive Leben der Möglichkeit nach allein in der transzendentalen Affektabilität ruht, die in ihrer reinen Immanenzsphäre keine unmittelbar gegebene objektive Körperform kennt. Die von Freud angenommene Bisexualität als Trieb ohne spezifisches Objekt in der frühen Kindheit konnte daher von Judith Butler etwa unter konstruktivistischen Vorgaben (Foucault, Derrida) so weiter geführt werden, dass sich der Körper als »performative Materie« erst durch iterative »Stilisierung« geschlechtlich stabilisiert, indem der Einzelne kulturellen Grenzziehungen auf seinem Körper folgt. 27 Dies bedeutet radikalphänomenologisch, dass sich in der Tat auch Homo- und Transsexualität auf der grundlegenden »affektiven Dialektik« von Freude/Leid herausbilden, nämlich gemäß einer rein immanenten Triebrealität, welche Leiden als jene Unmöglichkeit erfährt, sich von sich selbst nicht lösen zu können, und Freude als Steigerung des je eigenen Handeln-Könnens als Intensität oder conatus. Es gibt mithin nur von der Lebensselbstaffektion her einen »Trieb«, der älter ist als jeder durch Habitus/sexuelle Identität zum Ausdruck gebrachte Trieb. In dieser Hinsicht spielen sich dann HeteVgl. Bodies that Matter. On the Discursive Limits of »Sex«, New York/London, Routledge 1993; dazu auch O. Ducharme, Michel Henry et le problème de la communauté. Pour une communauté d’habitus, Paris, L’Harmattan 2013, 87 ff., 138 ff. u. 208 ff., der zum ersten Mal dieser Frage aus lebensphänomenologischer Sicht nachgegangen ist; zuvor kurz R. Kühn, Natur und Leben. Entwurf einer aisthetischen Proto-Kosmologie, Freiburg/München, Alber 2011, 287–302: »Erotik, Epistemologie oder Humanismus als ›Kulturheil‹«?. Zur weiteren Diskussion ebenfalls C. Höfner u. B. Schigl, »Geschlecht und Identität. Implikationen für Beratung und Psychotherapie – gendertheoretische Perspektiven«, in: H. G. Petzold (Hg.), Identität. Ein Kernthema moderner Psychotherapie – interdisziplinäre Perspektiven, Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften / Springer 2012, 127–156.

27

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Intersubjektivität und Erotik als transgressiv-kulturelle Problematik

ro-, Homo- und Transsexualität auf der Ebene jenes transzendentalen Übergangs ab, bei dem das rein immanente »Mich« der leiblichen Ursprungsbewegung als pathisches »Ich kann« ergriffen und iterativ aus solcher Lebensgeburt heraus gelebt wird, 28 ohne damit eine »Natürlichkeit« dieser sexuellen Verhaltensweisen schlechthin voraussetzen zu müssen, auch wenn sie in der genitalen Körperkonfiguration vorgezeichnet bleiben. Allerdings darf dabei ebenfalls nicht vergessen werden, dass jedes affektive (sensuelle, sexuelle, erotische) Werden in der Impressionabilität ansetzt, die verhindert, dass das rein phänomenologische Leben zu einer missverständlichen (spekulativen) Unbestimmtheit werden könnte. Sofern unsere ursprünglichen Impressionen zugleich die Passibilität des Triebes über das Erleben von Bedürfen und Begehren beinhalten, finden wir uns damit stets schon in der zuvor genannten »affektiven Differenz« oder »Dialektik« von Freude/ Schmerz vor, zu deren Beantwortung Sexualität und Erotik eine grundlegende Antwort bieten, und zwar mit allen kulturell-gemeinschaftlichen Übereinstimmungen wie Grenzen (Sanktionen), auf die wir hinsichtlich der ontologischen Kontingenz aller intentionalen Entwürfe hinwiesen. Und hiervon sind weder Hetero- noch Homosexualität ausgenommen, ohne damit irgendeine gesellschaftliche Ächtung legititimieren zu wollen, die stets nur zur Herausbildung von Beschämung und deren seelischen Schäden führt, wie gerade Analyse und Therapie aus der alltäglichen Praxis nur zu gut wissen. 29 Entscheidend ist in der Tat innerhalb der erotischen Beziehung wie in jeder anderen Begegnung nicht, was der Andere empfindet, sondern die Erfahrung des Anderen selbst als einer Subjektivität, die dieses oder jenes empfindet, ohne die Bedeutung der Inhalte auf ihrer angemessenen Ebene zu leugnen. Das heißt, der Andere als alter ego manifestiert sich mir gegenüber letztlich als eine transzendentale Subjektivität, was jede rein welthafte »Fremderfahrung« (Husserl) erschüttert, sofern sie nur auf transzendente oder objektive Inhalte des gegenseitigen Erlebens fixiert war. Zutiefst erfahre ich nämlich in Vgl. M. Henry, Die Barbarei. Eine phänomenologische Kulturkritik, Freiburg/ München, Alber 1994, 111 ff. u. 244 ff. (Neuaufl. Studienausgabe 2016), wo auch deutlich wird, dass das »Mich im Akkusativ« (Moi) die originär passible Selbstgegebenheit des Ego vor seinen intentionalen Ichbezügen (Je) darstellt. 29 Vgl. besonders zur Scham M. Titze u. R. Kühn, Lachen zwischen Freude und Scham. Eine psychologisch-phänomenologische Analyse der Gelotophobie, Würzburg, Königshausen & Neumann 2010, 45 ff. 28

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Trieb und Erotik in der Lebensphänomenologie und bei Georges Bataille

meiner Subjektivität als Ipseität, dass der Andere lebt, und zwar eben als ein transzendentales Leben, so dass der Zugang zu seinem Leben zugleich den Zugang zu meinem eigenen Leben darstellt – und umgekehrt. Diese »gegenseitige Innerlichkeit«, wie sie als Chiasmus der Affektivität gerade für jede intersubjektive Begegnung an sich maßgeblich ist, bedeutet jedoch keine allgemeine Formalisierung im Sinne abstrakter Transzendentalität des Denkbaren, da die Singularität des Anderen dem abstrahierenden Blick prinzipiell verborgen bleibt, um über das Begehren (und dies insbesondere in der »unsichtbaren Erotik«) ein gemeinsames Band jener lebendigen Mächtigkeit zu erproben, welche die radikalste Bindung zwischen Ipseitäten überhaupt darstellt. Und aus dieser gegenseitig erlebten unsichtbaren Mächtigkeit des Lebens heraus ergibt sich dann zugleich jenes äußere Beziehungsgeflecht, in dem sich die Vermögen der Partner, Paare und Gruppen individuell wie gemeinschaftlich entfalten können. Dass wir die sexuelle Affektivität des Anderen nicht in sich selbst berühren können, schließt also keineswegs aus, dass wir den Anderen nicht in seiner transzendentalen Mächtigkeit berührten, die zugleich Antwort auf unser eigenes, immanent erprobtes Vermögen als »Potenzialität« ist. Aus einer solchen Verschränkung von Begehren und geschlechtlicher Vereinigung ergibt sich daher im Vollzug der subjektiven Leiber als auch sichtbaren Körpern stets die Möglichkeit, jene absolut originäre Einheit zu erproben, welche als rein immanentes Leben der Geschlechtlichkeit als solcher vorausliegt und daher nicht von dieser als Erfüllung allein her erwartet werden kann. In diesem Sinne bleibt die Phänomenalität des Sexuellen paradox, nämlich letztlich die Möglichkeit einer geschlechtlichen Liebe »ohne Körper«, die wir daher auch »unsichtbare Erotik« nannten und welche durch keinen Signifikanten (Lacan) oder irgendeine wissenschaftliche Formel (etwa der Sexologie) als Bestimmungsversuch jemals wird eingefangen werden können.

3.

Konfrontation mit der Erotik als »Verausgabung« bei Bataille

Wir hatten einen Vergleich mit Georges Bataille (1897–1962) angekündigt, 30 um unsere radikalphänomenologischen Analysen bisher anhand seiner Sichtweise der Erotik im Ausblick dieses Kapitels zu 30

Vgl. vorherige Anm. 24.

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Konfrontation mit der Erotik als »Verausgabung« bei Bataille

überprüfen. Auch wenn es schwierig sein dürfte, für sein Gesamtwerk zu entscheiden, ob im Mittelpunkt der »souveränen Erfahrung« des Menschseins die Religion oder Erotik letztlich steht, weil sie beide zum Kern seines »Mystizismus« des Sakralen gehören, so ist auf jeden Fall offensichtlich, dass sie – zusammen mit der Ökonomie – den Mittelpunkt seiner Untersuchung über die »Verausgabung« (dépense) bilden. 31 Insofern lässt sich festhalten, dass Bataille gleichfalls eine radikale Bestimmung des Lebens als Begehren (désir) erarbeitet hat, die sich jedoch als gänzlich a-theistisch oder a-theologisch verstand 32 – und dennoch eben darin gerade als mystisch. Bataille 33 sah die »innere Erfahrung« des Begehrens als lebendige Grenzerfahrungen der Subjektivität und verband sie daher mit dem Erotischen und dem Heiligen (sacré) in dem Sinne, als er von einer Lebensauffassung ausging, die einen zerstörerischen »Überschuss« (excès) für die Selbstwerdung oder Individuation einschließt. Das »Opfer« in entsprechenden religiösen Ritualen erhält dadurch eine Art »lebensmystischer« Zwischenrolle als sakrifizielle Schwingung zwischen animalischer Immanenz des Lebens und bewusstseinsgegebener Transzendenz des Subjekts, 34 wobei sich das »Verschwinden« bzw. die »Auflösung« der Individuation als Paradox des Exzesses im Rahmen entfesselter Sexualität oder ökonomischer Verausgabung 35 mit dem Erleben einer spirituellen Unendlichkeit paaren soll. Bataille hat daher als philosophisch-literarischer Autor bis in die Gegenwart hinein vor allem gro-

Vgl. G. Bataille, »La notion de dépense«, in: La Critique Sociale 7 (1933) 7–15 (dt. »Der Begriff der Verausgabung«, in: G. Bataille, Die Aufhebung der Ökonomie, München, Matthes & Seitz 1985, 7–31). 32 Vgl. G. Bataille, La Somme athéologique (Œuvres Complètes V, t,1), Paris, Gallimard 1973; dort auch in »L’extase, récit d’une expérience en partie manquée«, 16 ff., die Schilderung eines mystischen Zustandes »leerer Gegenwart, die sich nicht mehr von einer Abwesenheit unterscheidet«, wie dies dann später ebenfalls für die Beschreibung der Erotik in Anspruch genommen wird, nämlich der »höchste Augenblick« als »Schweigen der Erotik« (L’érotisme, 305). 33 Vgl. das frühe Werk L’expérience intérieure, Paris, Minuit 1943 (dt. Die innere Erfahrung nebst Methode der Meditation und Postskriptum 1953, München, Berlin, Matthes & Seitz 2017). 34 Vgl. Théorie de la religion, Paris, Gallimard 1976, 39 ff. (dt. Theorie der Religion, München, Matthes & Seitz 1997). 35 Vgl. G. Bataille, La part maudite, essai d’économie générale. I: La consumation (1949), Paris, Gallimard 1980 (dt. Der verfemte Teil, in: Die Aufhebung der Ökonomie, München, Matthes & Seitz 1985, 33–234); dazu G. Bergfleth, Theorie der Verschwendung. Einführung in Georges Batailles Antiökonomie, München, Beck 1985. 31

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ßen Einfluss im Sinne kulturkritischer Erneuerung ausgeübt, wie dies im Folgenden gerade im Zusammenhang mit der Postmoderne berücksichtigt werden soll. Dabei stehen die Ambivalenz von Todeserfahrung im Leben und die Figur der Überschreitung (transgression) als unentscheidbares Phänomen von individueller Kontinuität/Diskontinuität im Vordergrund, wobei gerade die Subjekt-»Selbstentmachtung« wie »Subjektivität des Seins« als »Genuss des Ich« (jouissance) zwei komplementäre Seiten sind. Mit anderen Worten ist das Leben »Verausgabung« oder »Verschwendung«, was nie von der Objektivierung des ökonomischen Nutzenkalküls eingeholt werden kann, so dass die »Souveränität« des Menschen sich letztlich für Bataille nicht nur im Opfer, im Lachen und in der Erotik sowie im Fest zeigt, sondern insgesamt in einem Angst wie Gewalt überspannenden »Mystizismus«. Hierdurch wird die Vernunft in ihrem eigenen Verlust zur reinsten Selbstbejahung geführt, was bei ihm schließlich als »Nicht-Wissen« (nonsavoir) ebenfalls entsprechende Lektüren von Johannes vom Kreuz wie von Nietzsche und Hegel impliziert. Durch eine solche Sicht des »a-theologisch Heiligen« hat Bataille eine Selbstaufklärung der Aufklärung initiiert, die dann nicht nur für den Poststrukturalismus maßgeblich war, sondern überhaupt die Frage nach der Einheit von Vernunft und Leidenschaft beim Einzelnen wie in der Gesellschaft innerhalb diesbezüglicher Diskussionen bis heute stellt. 36 Denn ein reiner Verweisungszusammenhang (Sinn) der Nützlichkeit durch Werkzeuge als »wahrhaftem Zweck« (Produktion) wäre eine »Absurdität«, die kein wirkliches Ziel für den Menschen mehr wäre, insofern dieser mit keinerlei Ding zusammen fallen kann. 37 In diesem kurz skizzierten Gesamtrahmen seines fragmentarischen und oft aphoristischen Denkens ist die »erotische Verschwen-

36 Vgl. Critique 195–196 (1991): Hommage à Georges Bataille; H. Schmidt, »Bataille, Georges«, in: Th. Bedorf u. K. Röttgers (Hg.), Die französische Philosophie im 20. Jahrhundert. Ein Autorenhandbuch, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2009 38–43; A. R. Boelderl, Georges Bataille. Über Gottes Verschwendung und andere Kopflosigkeiten, Berlin, Diaphanes 2005; A. R. Boelderl (Hg.), Welt der Abgründe. Zu Georges Bataille, Wien, Turia + Kant 2015. 37 Vgl. G. Bataille, Théorie de la religion, 27 f.; R. Bischof, Souveränität und Subversion. Batailles Theorie der Moderne, München, Matthes & Seitz 1984; H.-J. Heinrichs, Der Wunsch nach einer souveränen Existenz. Georges Bataille, Graz, Droschl 1999; M. Dick, Die Dialektik der Souveränität. Philosophische Untersuchungen zu Georges Bataille, Hildesheim – Zürich – New York, Olms 2010.

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Konfrontation mit der Erotik als »Verausgabung« bei Bataille

dung« 38 der fundamentale Ausdruck der maßlosen »Verausgabung« menschlicher Energie schlechthin im Unterschied zum erwähnten ökonomischen Nutzenkalkül und gehört durch die historische wie prinzipielle Verschränkung von Verbot/Übertretung (Inzest, Vergewaltigung) zu einem letztendlich solaren Energieüberschuss, in den Gewalt, Fortpflanzung und Tod zusammen mit dem Sakralen eingebettet sind. 39 Die Erotik sei auf diese Weise das wesentliche Problem menschlicher Existenz, denn sie geht als phantasmatische Aktivität 40 über das bloß Sexuelle bzw. Libidinöse wie bei Freud hinaus, so dass sie eben bis zum Tod des Individuums selbst und des Anderen bei ihrer Ausübung reichen kann. Da sich hierin ein unbegrenztes Begehren ausdrückt, wie es auch die Lebensphänomenologie kennt, kann die Erotik über das erotische Objekt (für Bataille die Frau) zur Fülle der Vereinigung mit dem Sein selbst werden, was gleichzeitig jedoch die Selbstauslöschung in eben demselben impliziert. Aus diesem Grund kann die Erotik letztlich für Bataille niemals reduziert werden und gewinnt von daher eine unmittelbare Nähe zum zuvor genannten Sakralen und Mystischen, wie Theresa von Avila als Beispiel zeigen soll. Diese Unbedingtheit beinhaltet den erwähnten »souveränen Menschen«, der gegenüber jeglicher Angst vor Verboten frei ist, wie sicher Sade und Blanchot hierbei Bataille inspiriert haben, 41 so dass die philosophische Frage mit dem Paroxysmus der Erotik selbst zusammenfalle. Neben dieser Einwirkung Sades lassen sich ebenfalls weitere Einflüsse von Nietzsche, Kierkegaard und HeiVgl. außer L’érotisme von 1957 ebenfalls G. Bataille, L’Histoire de l’érotisme, in: Œuvres Complètes VIII, Paris, Gallimard 1976. 39 Der Inzest ist für Bataille nicht das erste Verbot der Gesellschaften wie für LéviStrauss etwa, sondern ihm geht das Verbot durch den Tod voraus, der als Gewalt der Transzendenz hereinbricht; vgl. L’érotisme, 53; B. Mattheus, Georges Bataille. Eine Thanatographie, 3 Bände, München, Matthes & Seitz 1984. 40 Worin er sich mit Lacan trifft; vgl. J.-F. de Sauverzac, Le désir sans foi ni loi. Lecture de Lacan, Paris, Aubier 2000, 2 ff.; S. Lippi, Transgressions. Bataille, Lacan, Paris, Erès 2008. 41 Vgl. M. Blanchot, Lautréamont et Sade, Paris, Minuit 1949; G. Bataille, L’érotisme, 183–196: »L’homme souverain de Sade«. – Maurice Blanchot (1907–2003) ist besonders für seine literaturkritischen Essays und die philosophisch-politische Zusammenarbeit mit Levinas, Bataille und Derrida bekannt; vgl. L’Entretien infini, Paris, Gallimard 1969 (teilw. dt. Das Unzerstörbare. Ein unendliches Gespräch über Sprache, Literatur und Existenz, München, Hanser 1991. Nancy widmete ihm unter anderem zwei Beiträge, die auch für unseren Zusammenhang aufschlussreich sind: »Der Name Gottes bei Blanchot« und »Auferstehung Blanchots«, in: J.-L. Nancy, Dekonstruktion des Christentums, Berlin, Diaphanes 2008, 147–152 u. 153–158. 38

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degger neben Hegel heraushören, wie sie über Alexandre Kojève 42 in Frankreich vermittelt wurden. Denn es korrelieren nicht nur Begehren und Tod miteinander wie im Hegelianismus, sondern die »Seinserfahrung« innerhalb der Erotik besitzt zusammen mit der Todesbestimmung fundamentalontologische Züge wie beim Heideggersche »Dasein«. Diesseits sowie gegen jede religiöse Moralität scheint Bataille damit eine Annäherungsweise an das »Heilige« eröffnen zu wollen, wo auf der Ebene des Begehrens oder des lebendigen Leibes (chair) nicht mehr zwischen Grausamkeit und Erlösung deutlich unterschieden werden kann und soll. Im Opfervollzug des Kannibalismus übernimmt beispielsweise die »Überschreitung« (transgression) nach ihm eine Begegnung mit dem Heterogenen des »Heiligen« als dem Verbotenen und Tabuisierten (interdit), das heißt als einer »mystischen Erfahrung« in der unbedingten Entfesselung der Gewalt. Dass die Dialektik von Tabu und Überschreitung nicht nur als religiöses Phänomen zu sehen ist, sondern gleichfalls als ein Spiel mit den Grenzen der gesellschaftlichen Ordnung und der ihr entsprechenden subjektiven »Identität« (die nicht mit der rein begehrenden Individuation des fleischlichen Leibes zu verwechseln ist) liegt auf der Hand und erklärt, warum in der postmodernen Rezeption Batailles häufig auch Parallelen zu Antonin Artaud und Jacques Lacan gezogen wurden, um die »stillgestellten Leidenschaften« eines »verfemten Teils« (la part maudite) in Ökonomie und Genuss (jouissance) wieder zu ihrem Recht zu verhelfen. 43 Simone Weil, die in den 1930er Jahren wie Bataille dieselben dissidenten kommunistischen Zirkel frequentierte, kritisierte hingegen schon sehr früh jene Konsequenzen, die sich aus Batailles libidinös-passionierter Sichtweise für eine freudo-marxistische Revolutionstheorie ergaben. 44 Daraus kann man ebenfalls ent42 Vgl. Hegel. Eine Vergegenwärtigung seines Denkens. Kommentar zur Phänomenologie des Geistes (1947), Frankfurt/M., Fischer 22005; G. Bataille, »Hegel, la mort et le sacrifice«, in: Deucalion 5 (1955) 326–355; Hegel. Der Mensch und seine Gescchichte, Berlin, Matthes & Seitz 2017. 43 Vgl. dazu R. Ochs, Verschwendung: die Theologie im Gespräch mit Georges Bataille, Frankfurt/M., Peter Lang 1995; A. Hetzel (Hg.), Georges Bataille: Vorreden zur Überschreitung, Würzburg, Königshausen & Neumann 1999; T. Iwano, L’expérience et la divinité chez Georges Bataille, Lille, ANRT 2008, sowie im Vergleich mit der Lebensphänomenologie J. Rogozinski, »Sans je ni lieu. La vie sans Être chez Antonin Artaud«, in: A. David u. J. Greisch (Hg.), Michel Henry, l’Épreuve de la vie, Paris, Cerf 2001, 333–358. 44 Vgl. S. Pétrement, La vie de Simone Weil, t. I, Paris, Fayard 1976, 422 ff., unter

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nehmen, dass sie seinen Begriff der »inneren Erfahrung« als Versuch der Rückversetzung in die »animalischer Immanenz« oder des »Heiligen« als absolute »Überschreitung« ethischer Ordnungen nicht geteilt hat. Dennoch wirft diese Begegnung zwischen S. Weil und Bataille gerade ein Licht auf das breite Spektrum des Begriffs des lebendigen Begehrens (désir), welches zu berücksichtigen bleibt, um der »lebensmystischen« Gesamtrezeption jener Jahre in Frankreich und darüber hinaus gerecht zu werden, denn auch für S. Weil bildet das Begehren das Wesen des Menschen. 45 Diese neue Denkkonstellation wie bei Bataille will das »Phänomen des Religiösen« nicht mehr nur von konfessionellen oder axiologischen Vorgaben der traditionellen Gläubigkeit oder Metaphysik einschließlich dogmatischem Atheismus abhängig machen. Die »verschwenderische Bewegung des Lebens« 46 bildet als das archaisch Sakrale einen Gegensatz insbesondere zum christlichen Heiligen, insofern als sie in kein dualistisches Schema von Gut/Böse bzw. Rein/ Unrein mehr einzuordnen ist und deshalb die Ambivalenz des Sakralen (Heiligen) ohne Trennungsmöglichkeit von Erotik und Gewalt zum Ausdruck bringt. Solches »Aufbrausen des Lebens« (bouillonnement prodigue de la vie) unterstreicht die Stellung des Menschen zwischen »Fesselung und Entfesselung«, wie sie durch Riten, exzessive Sexualität und Gewalt gekennzeichnet ist, womit ohne Zweifel der Rahmen einer sozial ertragbaren Religion gesprengt wird. Denn bei Bataille herrscht letztlich eine »trunkene Leere« der Erfahrung als »Nicht-Wissen« vor, wo sich »Schrecken, Leid und Tod« so verdichten, dass die »Souveränität des Menschen« von einer »faszinierenden Aureole« umgeben wird. Diese kann insofern göttlich oder mystisch genannt werden, als ein vorgestelltes »höchstes Wesen« nur ein Wesen neben anderen wäre, während der Mensch allein durch den Exzess seiner eigenen Verausgabung die »kostspieligen Neuerungen am Leben erhalten kann«, um nicht in den »animalische Schlaf« zurückzufallen, den er durch Bewusstsein und Sprache schmerzhaft hat auf-

anderem mit Bezug auf G. Bataille, »La structure psychologique du Fascisme«, in: La Critique Sociale 10 (1933) u. 11 (1934) 159–165 u. 205–211. Auch J.-P. Sartre kritisierte die »Mystik« Batailles, die der Sprache nicht genug Gewicht einräume; vgl. »Un nouveau mystique«, in: Situations I, Paris, Gallimard 1947, 143–188. 45 Vgl. Zeugnis für das Gute. Traktate, Briefe, Aufzeichnungen, München, DTV 1990, 45 ff. 46 G. Bataille, L’érotisme, 62.

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geben müssen, aber dennoch weiterhin danach begehrt. 47 Allerdings bleibt gerade aus originär lebensmystischer Sicht zu fragen, ob eine solch ambivalente (kultur-)anthropologische oder naturalistische Methode wie bei Bataille jene rein immanente oder radikale Gegebenheit wirklich erreicht, welche das originär phänomenologische Wesen des »Mystischen« aus der »Selbstverwirklichung« (souveranité) des Menschen befreit, wie uns dies im Sinne einer Kritik transzendentaler Selbstillusion als unabdingbar erscheint. Mit spezifischem Bezug auf die Erotik bliebe hier für die weitere Diskussion festzuhalten, dass ebenfalls dem erotischen Erleben eine material phänomenologische Ermöglichung vorausgehen muss, die wir zu Beginn dieses Kapitels in der passible Affektabilität verankert sahen 48 und wohl kaum auf kosmische oder naturale Energieeinflüsse letztlich zurückgeführt werden kann. Wird diese radikalphänomenologische Notwendigkeit eingesehen, dann kann man mit Bataille durchaus hervorheben, dass die »innere Erfahrung« jedes Individuums stets vom erotischen Erleben durchwirkt ist, wie Freud mit der Libido und Henry durch den Begriff des erotisch Sensuellen ihrerseits unterstrichen. Hierbei kann dann jedoch die Unbegrenztheit des Begehrens nicht nur bedeuten, dass sie bis zur Todeserfahrung zu gehen vermag, sondern gerade jedes Objekt in seiner Unerfüllbarkeit als umfassende oder verschmelzende jouissance die welthafte wie immanente Grenzerfahrung des Erotischen beinhaltet. Die Wiederholungen des Sexualaktes und die Differenz der Ipseitäten als Geschlechtspartner bleiben zwei phänomenologische wie faktische Gegebenheiten, die auch Bataille in der »mystischen« Kontinuität von Tod und Gewalt nicht aufzuheben vermag. 49 Wenn er zudem zusammen mit Blanchot die Einsamkeit (isolement) zur ontologischen Grundlage des freien oder souveränen Menschen erklärt, die beim Libertin im Sinne Sades jede perverse Vgl. Théorie de la religion, 51 u. 71; R. Kühn, Lebensmystik. Ursprüngliche Erfahrungseinheit von Religion und Ethik im Spiegel »Philosophischer Mystik«, Dresden, Text & Dialog 2018, unter anderem zu Maine de Biran, Bergson, Derrida, Marion und Lacan. 48 Zum Begriff solcher »phänomenologischen Materialität« vgl. ebenfalls D. Popa, »La matérialité d’expérience. Husserl, Henry et Bachelard«, in: D. Popa, B. Kanabus u. F. Bruschi (Hg.), La portée pratique de la phénoménologie. Normativité, critique sociale et psychopathologie, Brüssel, Peter Lang 2014, 103–120. 49 Vgl. ebenfalls M. Surya, Georges Bataille, la mort à l’œuvre, Paris, Gallimard 1992 (Neaufl. 2012). 47

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Transgression als Zeichen der Freiheit erlaube, um »zur stärksten jouissance vorzudringen«, 50 dann wird der eigentliche Abgrund der Einsamkeit verkannt. Dieser ruht in der Ipseität der absolut phänomenologischen Individuierung, die einerseits durch nichts substituiert werden kann und andererseits gleichfalls eine prinzipielle Beziehung zum selbstaffektiven Leben als generatio impliziert. Dadurch ist gleichursprünglich eine ko-pathische Gemeinschaftlichkeit gestiftet, welche über die Erotik hinaus auch »personale Liebe« der Zuwendung zum Anderen hin erlaubt. 51 Das heißt, das Begehren ist zwar »souverän« im Sinne seiner Unbegrenztheit, wie auch Lacan nach Freud unterstrich, aber dies hebt die Ursprungsfaktizität nicht auf, dass es selbst gegenreduktiv im Leben fundiert ist, um lebendiges und relationales Begehren zu sein. Dadurch ist jedes Sich selbst nur als Bezug zu sich selbst wie zum Absoluten im Leben gegeben, wie bereits Kierkegaard dies in existenzieller Hinsicht beschrieben hatte. Älter als die von Heidegger inspirierte »Auflösung ins Sein« der inneren Erfahrung des Menschen nach Bataille ist daher gerade die radikale Individuierung im Leben, die nicht nur jeglicher Verschmelzung im Sinne eines totalen Geschehens entgegensteht, sondern eben auch jeglicher individuellen Auflösung, wie sie schon die Romantik und Schopenhauer propagiert hatten. 52 Auf diese Weise ist das radikale Begehren weder als Sorge noch als Todessehnsucht zu deuten, sondern es eröffnet die Frage nach dem rein immanenten Selbstbegehren des Lebens in unserem subjektiven Begehren als solchem, wodurch auch die Seinsfrage des Daseins als bloßes Interesse für seinen eigenen »Sinn« als »Sein« überschritten wird und die Erotik ein radikalphänomenologisches Offenbarungsmoment auf den Abgrund des Lebens selbst hin enthält, den die Liebenden als prinzipielle Gegebenheit miteinander teilen können, ohne dabei in eins zu fallen. Bataille geht seinerseits über den Heideggerschen Atheismus in der Seinsfrage hinaus (falls man vom späteren zweideutigen Verhältnis des »kommenden Gottes« zum »Ereignis«

L’érotisme, 194, im genannten Kapitel über Sade; vgl. auch allgemein E. Möde, Die neue Einsamkeit der Postmoderne, München, Edition Psychosymbolik 1991. 51 Vgl. M. Henry, Inkarnation, 337 ff., ohne dies allerdings im Sinne einer »Metaphysik der Liebe« wie etwa bei F. Fénelon, Abhandlung über die reine Liebe (Hg. A. Kreuzer), Freiburg/München, Alber 2017, oder auch von D. von Hildebrand, Das Wesen der Liebe (Gesammelte Werke Bd. 3), Stuttgart, Kohlhammer 1971, zu verstehen. 52 Vgl. M. Henry, Inkarnation, 286 f. 50

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absieht), 53 aber die mystisch-erotische Teilhabe am Sakralen dürfte letzteres dennoch naturalisieren, so dass die Hinweise auf die Brautmystik bei Johannes vom Kreuz und Theresa von Avila auch die spezifisch theologischen Hintergründe der via negationis angsichts aller imaginären oder phantasmatischen Vorstellungen mit berücksichtigen müssten – einschließlich eines bloß naturhaft sinnlichen Leibverständnisses. 54 Zur anderen Seite hin, das heißt hinsichtlich der analytischen Subjekt-Dezentrierung durch die triebhafte oder sprachlich-unbewusste Genese des Begehrens bei Freud und Lacan, 55 bleibt Bataille beim tragischen bzw. aktiven »Riss« (coupure) der Subjekttrennung zwischen Animalität/Bewusstsein stehen und versucht daraus einen existentiellen wie gesellschaftlich-kulturellen Lebensentwurf der Transgression zu machen. Dieser kann ohne Zweifel im Anschluss an die Postmoderne auch heute noch auf die Überschusspotenziale des Lebens als »Exzess« mit Recht aufmerksam machen, aber dadurch wird gerade die prinzipielle Frage nach der radikalphänomenologischen Analyse eines solchen »Mehr« des Lebens herausgefordert – und dies nicht nur in Bezug auf die Erotik, sondern ebenfalls mit Blick auf die Ökonomie als Produktion und Konsum, wie bereits Marx dies aufgewiesen hat. In bester französischer Tradition vereinigen sich in Batailles Stil seiner Untersuchungen im Übrigen Literatur und Philosophie, 56 aber dies kann bei einem so grundlegenden Problem wie Trieb und Erotik nicht davon abhalten, seine Intuitionen, die auch von seiner eigenen Krankheit als tiefem Leiden (Tuberkulose) gekennzeichnet waren, 57 auf ihre Triftigkeit hinsichtlich der Natur von passion und désir zu Vgl. Beiträge zur Philosophie. Vom Ereignis (GA 65), Frankfurt/M., Klostermann 1994, 399 ff. 54 Vgl. R. Kühn, Lebensmystik, Kapitel II,7: »Mystikrezeption und Dekonstruktion seit Heidegger«. 55 Vgl. dazu auch E. Roudinesco, »G. Bataille entre Freud et Lacan. Une expérience cachée«, in: D. Hollier (Hg.), Georges Bataille après tout, Paris, Berlin 1995, 191–212. 56 Allerdings kennt Bataille gerade auch die Unmöglichkeit der Sprache, die »schweigende Übertretung« in der Erotik fassen zu können; vgl. L’érotisme, 304 f.; E. Lange, An den Grenzen der Sprache. Studien zu Bataille, Frankfurt/M. Peter Lang 1982. 57 Bataille war der Sohn eines durch Syphilis völlig gelähmten und erblindeten Vaters, auf den er sich in Histoire de l’oeil (1922) schmerzvoll, aber auch bewundernd bezieht; in Premiers écrits 1922–1940 (Œuvres Complètes I), Paris, Gallimard 1970, 75 f. (dt. Das obszöne Werk: Die Geschichte des Auges. Madame Edwarda. Meine Mutter. Der Kleine. Der Tote, Reinbeck, Rowohlt 1972); vgl. auch P. Wiechens, Bataille zur Einführung, Hamburg, Junius 1995. 53

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befragen. Denn gegenwärtig wird die post-postmoderne Frage nach dem Zusammenhang von Leidenschaft und Leiblichkeit als »Selbstverwirklichung« innerhalb gesellschaftlicher Zwänge immer noch virulenter werden. 58 Man kann die Erotik wie bei Bataille auf ihren fleischlichen und mystischen Aspekt hin konzentrieren, der mit dem Tod als Tragik des Begehrens im Hegelschen Sinne zusammenfalle, oder wie Freud und Lacan den Todestrieb innerhalb des Begehrens genetisch aufrollen. Entscheidend wird jedoch in all diesen Fällen bleiben, welche Bedeutung die phänomenologische Absolutheit des Begehrens innerhalb der transzendentalen Verlebendigung als solcher besitzt – nämlich als ständige Selbstwiederholung und Selbstbejahung des Lebens. Und dies selbst noch im existentiellen oder ontischen »Verlust« (perte), denn im lebensphänomenologischen Sinne gibt es eine noch ältere Unbedingtheit als diesen Verlust, welche Henry als das immanente »Wort des Lebens« oder als ununterbrochenes »Geräusch meiner Geburt« im transzendentalen Sinne qualifiziert, wodurch ein »Geschmack des Seins« diesseits von Verlust und Mangel gegeben ist, 59 von dem gerade auch die Erotik zeugt. Daher bleibt die Formel Batailles von der »Erotik als Bestätigung des Lebens bis in den Tod hinein« noch genauer in ihrer Dreiteilung als Erotik der Körpers, der Herzen sowie der sakralen Erotik zu verstehen. In Abgrenzung von gängigen Vorstellungen der sexuellen oder pornographischen Erotik führt er sie, wie wir bereits bisher unterstrichen, auf Gewalt (violence) und Exzess des Begehrens zurück: »Der Bereich der Erotik ist wesentlich der Bereich der Gewalt, der Vergewaltigung (violation).« 60 Das heißt, im Unterschied zur Platonischen Dialektik des eros, die schließlich zur Schönheit der Seele und des Wissens hin führen soll, intendiert Bataille gerade keine Objektveränderung durch das Begehren. Vielmehr bleibt das Zentrum der »inneren Erfahrung« die Intensität der jouissance als Transgression des Verbotenen, womit die traditionell metaphysische Korrelation von Begehren/Gutem im abendländischen Denken – gemäß postmoderner Auffassung – aufgehoben werden soll, denn die Erotik unterscheidet den Menschen nicht nur von der »tierischen Sexualität«,

Vgl. G. Marramao, »Demokratie und Postdemokratie. Eine Diagnose der globalisierten Welten«, in: Chr. Riedweg (Hg.), Nach der Postmoderne. Aktuelle Debatten zu Kunst, Philosophie und Gesellschaft, Basel. Schwabe 2014, 125–136. 59 Vgl. J.-L. Chrétien, »La vie sauve«, in: Les Etudes philosophiques 1 (1987) 37–49. 60 La part maudite, précéde de »La notion de dépense«, 23 u. 34. 58

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sondern sie stellt in ihm das »Sein« als solches in Frage. 61 Selbst Freud kennt noch eine Bindung des Triebs an ein Objekt, 62 auch wenn dies äußerst variabel ist, während Bataille die Erotik eher als Auflösung des Lustobjekts sieht, anders gesagt dessen Reduktion auf eine Erfahrung von Verunreinigung und Abfall (souillure, déchet) durchführt. Letztere schließen ein, dass der Körper mithin nicht auf etwas Höheres hin transzendiert wird (die Seele bei Platon und im Christentum), sondern nichts ist. Dadurch wird die Frau konsequent auf eine bloße Objektposition reduziert, auf ein Objekt des Opfers, um so vielleicht dann doch wieder den Charakter der Frau als Ganzheit schlechthin zu bewahren. In Beispielen der Antike sieht Bataille eine mögliche Annäherung von Liebesakt und Menschenopfern, 63 und daher gibt es eine Vernichtungstendenz innerhalb seiner Erotikkonzeption. Diese kündigt sich in der Entkleidung bis zur Nacktheit (Opfer) hin an, wobei es aber weniger hierbei um sexuelle Lust geht als vielmehr darum, der fundamentalen Einsamkeit zu entfliehen, wie wir schon für das Verständnis des Individuums bei Bataille und Blanchot hervorhoben. Und gerade deshalb handelt es sich demzufolge nicht allein darum, die animalische Sexualität von der Fortpflanzung zu lösen, um in der Erotik die jouissance als solche zu suchen, sondern um die Problematik, welche prinzipielle Beziehungsform des Lebens in der Erotik gegeben bleibt. Die Theorie des Obszönen und der Verunreinigung bleibt auf diese Weise bei Bataille an eine metaphysische Sichtweise gebunden, dass wir nämlich in unserem Körper im Exil sind, anstatt in der Grundgegebenheit von Leib/Leben als Passibilität im radikalphänomenologischen Sinne eine originäre Einheit zu erkennen. Insofern ist die Tragik der Erotik nach Bataille nicht nur eine existentielle Tragik, sondern – wie stets in der Postmoderne – Ausdruck einer Grundposition der Diskontinuität oder Differe(ä)nz. Auch hier gibt es einen Unterschied zu Platon und der klassischen philosophischen Tradition, denn eros verbindet nicht länger mit der Ewigkeit und Unsterblichkeit, sondern ist das Zeichen einer »diskontinuierlichen Individualität« eben, deren Hauptleiden die Einsamkeit bleibt. 64 Man darf folg-

Vgl. L’érotisme, 35. Vgl. »Triebe und Triebschicksale« (1915), in: S. Freud, Gesammelte Werke, Bd. 10, 209 ff. 63 Vgl. L’érotisme, 25; Henker und Opfer, Berlin, Matthes & Seitz 2008. 64 Vgl. ebd., 18 f. u. 27. 61 62

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lich bemerken, dass Bataille sich gegen die christliche Seinslehre im Anschluss an Platon kehrt, die letzten Endes keinen Tod kennt, um stattdessen seinerseits in diesem Tod selbst das eigentliche Sein – wie bei Heidegger oder Lacan und anderen postmodernen Autoren – zu finden. Dass dies dann insgeheim über die Betonung des Opfers eine gewisse Apologie des erotischen Sadismus impliziert, liegt auf der Hand, wenn Bataille etwa sagt: »Willst du das Sein, opfere den Anderen.« Und hierin offenbart sich auch die Problematik solcher Opfermystik, denn die Tötung im Opfer ist »die Antithese der Produktion« als Nutzenkalkül, weil der »tiefere Sinn« im Verzehr (consumation) liegt, der nur im Augenblick je selbst von Bedeutung ist. 65 Hier vollendet sich die Objektauflösung im ontologischen Privileg des Augenblicks, dessen Ewigkeit das Ephemere der jouissance selbst als reiner Vollzug bildet. Die »Welt des Heiligen« (monde sacré) ist keine Welt von sich wiederholenden stabilen Signifikanten wie die »profane Welt«, sondern sie ist »Ungleichgewicht« (déséquilibre) als »Identifikation mit dem Objekt, das verlustig geht«. Daher kann Bataille festhalten: »In der Erotik verliert das ICH sich.« 66 Aus den zuletzt genannten Hinweisen vor allem lässt sich leicht nachvollziehen, dass Batailles Konzeption der Erotik eigentlich keine Verdrängung kennt, denn das Verbot schließt bloß aus, hinterlässt jedoch wie bei Freud kein unbewusstes Begehren im Subjekt, was auch in der Aussage Michel Henrys zu Tage tritt, dass »der Affekt niemals unbewusst« sei, wie Freud selbst für den Affekt – diesseits von dessen Verbindung mit der Vorstellung – zugestand. 67 Die Erotik bleibt daher für Bataille im Wesentlichen eine subjektive Erfahrung der individuellen Selbsterkundung, die nur unausgesprochen zu dem Anspruch führt, eine Philosophie oder ethische Anschauung auf solcher Auffassung begründen zu wollen. Aber insoweit sich das »atheologische Sakrale« als mystische jouissance auf ein Subjekt gründet, welches selbst in seinem Objekt verschwindet, das es begehrt (die 65 Vgl. Théorie de la religion, 66 f., sowie L’érotisme, 29 u. 157, den entsprechenden Bezug der Erotik auf den Tod bzw. auf die »Transfiguration der Prostituierten«. 66 L’érotisme, 37. Hierin unterscheidet sich die Sichtweise Batailles von der des zeitgenössischen Religionshistorikers Mircea Eliade; vgl. S. Eichner, »Die Idee der Hierophanie bei Mircea Eliade«, in: M. Enders, (Hg.), Selbstgebung und Selbstgegebenheit. Zur Bedeutung eines universalen Phänomens, Freiburg/München, Alber 2018, 151– 160. 67 Vgl. K. Wondracek, Psychoanalyse und Lebensphänomenologie. Eine Beitrag zur Klinischen Psychologie, Freiburg/München, Alber 2013, 93 ff.

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Trieb und Erotik in der Lebensphänomenologie und bei Georges Bataille

Frau), negiert auch die Erotik eigentlich jeden Akt im spezifischen Sinne – es sei denn, den Anderen seiner Intimität und Schönheit zu berauben. 68 Dadurch wird der Andere zur Animalität, ebenso fremd für uns wie diese selbst, und nur das Opfer gleicht beide an, wie wir schon für die Frau als reines Objekt sahen. Auch wenn Bataille den Imperativ Kants anführt, dass der Mensch die »souveräne Bedeutung« eines Zwecks beibehielte, so schließt dies dennoch nicht aus, dass sich die Frau dem Begehren des Mannes als Objekt darbietet – und »Gott selbst eine Prostituierte« ist. Diese Einschätzung wirkt sich nicht nur auf die Sichtweise der weiblichen Genitalien aus, die Abscheu und Verunreinigung für Bataille bedeuten und dadurch einen tierischen Aspekt erhalten. 69 Vielmehr signalisiert die Gleichstellung von Sexualität und Animalität letztlich ein Phantasma, insofern die Vorstellung des Anderen und seiner selbst als »Tiere« hierbei – tiefenpsychologisch betrachtet – eine Regression auf eine mythische Animalität im Menschen darstellt, um die Gewalt eines Begehrens auszudrücken, die von jeder Symbolik im Sinne von begrenzender Lebenswelt oder Kultur befreit wäre. 70 Die Moral ist in der Tat für Bataille im Widerspruch zu »meinen Interessen«, woraus eben folgt, dass der Mensch im Geschlechtsakt, der »verunreinigt«, die Grenze der menschlichen Wesen übersteigt. Der Gegenstand des souveränen Begehrens ist damit über das Sein hinaus, wie wir sahen, wovon insbesondere die Angst zeuge, welche das entsprechende Gefühl dieser unausschöpfbaren Erwartung darstelle. 71 Insofern ist das Begehren in seiner erotischen Wirklichkeit bei Bataille nicht nur eine Metaphysik, sondern auch jene erwähnte implizite Ethik, die sich als rein individuelle Ethik jenseits von Gut und Böse befindet. Das Sexualleben ist der »wilde Hervorbruch auf einen Höhepunkt hin«, indem es sich um die Zukunft mitnichten sorge. 72 Ersetzt somit die Intensität jedes zeitliche Vorhaben, dann bedeutet dieser verewigte Augenblick ephemerer Lust die Aufhebung Vgl. L’érotisme, 24. Vgl. ebd., 159 f. 70 Vgl. zur Diskussion hierüber schon R. Kühn, Innere Gewissheit und lebendiges Selbst. Grundzüge der Lebensphänomenologie, Würzburg, Königshausen & Neumann 2005, 49–59: »Geburt, Animalität und Sexualität«. 71 Vgl. »Sur Nietzsche, Volonté de chance« (1945), in: La Somme athéologique, 32 f. u. 50; Wiedergutmachung an Nietzsche. Das Nietzsche-Memorandum und andere Texte, München, Matthes & Seitz 1999). 72 Vgl. La Somme athéologique, 140. 68 69

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Konfrontation mit der Erotik als »Verausgabung« bei Bataille

der Trennung zwischen den Körpern, wodurch der Andere auf mich reduziert wird. Auf diese Weise wirkt die Einsamkeit der Individuen als Motiv einer jouissance, die nur sich selbst als »souveränes Individuum« kennt. das über jede Moral hinaus ist und dies in seinem erotischen Verhalten bekundet: »Das Verbot ist gegeben, um verletzt zu werden.« 73 Dadurch wird allerdings das Verbot strukturell zur Ursache für das Begehren als solches, und methodisch gesehen benötigt Bataille demzufolge die Moral und das Christentum als Gegenpol, um eine Ethik der erotischen Übertretung formulieren zu können. Psychoanalytisch betrachtet wäre dies die Frage nach dem »Namen-desVaters« bei Lacan 74 oder der Rolle des Ödipus bei Freud, wobei dann der Abscheu vor dem geschlechtlich Anderen (Frau) das Phantasma der eigenen Macht aufrecht erhielte, was wohl durch die extremen körperlichen Verfallserscheinungen des eigenen Vaters von Georges Bataille motiviert ist, worauf wir kurz hinwiesen. Im angesprochenen Verhältnis zum Anderen als der Frau hat das Obszöne damit einen Spiegelcharakter, denn als Störung signalisiert es im Geschlechtsakt, dass das Verhältnis zum eigenen Körper als »Selbstbesitz« die »dauerhafte und bejahte Individualität in Frage stellt«. Der Blick auf die spasmischen Verzerrungen der Körper in diesem Akt ist ein Blick auf »die Auflösung der konstituierten Formen«. 75 In diesem Sinne ist die Erotik die Zerstörung der Schönheit und das Zerrissenwerden des Anderen und meiner selbst, wenn nur die Genitalien außerhalb der erotischen Bewegungen und des Glanzes des Gesichtes betrachtet werden. Dahinter verbirgt sich offensichtlich ein Motiv von Sade, dass die »Zerstückelung« des Körpers des Anderen die Angst als Zeichen des Lebens hervorbrechen lassen soll, um demselben über alle Bildhaftigkeit hinaus wirklich begegnen zu können, was nach Henry 76 im absoluten Sinne gerade nicht möglich ist, da keine Ipseität die andere jemals in der ihr eigenen immanenten Selhstaffektion zu erreichen vermag. Die Wiederholung der sexuellen Akte wird daher in Batailles Sicht zusätzlich durch die Pluralität der Anderen verdoppelt, denn sie stellen das abwechselnde Mittel dar, um die eigene Kontinuität zu verwirklichen, so dass hier die erotische Intersubjektivität rein negativ konnotiert bleibt. Denn Batailles 73 74 75 76

L’érotisme, 72. Vgl. Des Noms-du-Père, Paris, Seuil 2005. L’érotisme, 24 f. Vgl. Inkarnation, 329 ff.

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Trieb und Erotik in der Lebensphänomenologie und bei Georges Bataille

Negation führt zu keiner wirklichen Anerkennung wie in Hegels Dialektik der Arbeit und Sprache, sondern der Andere bleibt Objekt, wodurch »die fleischliche Bewegung dem menschlichen Leben erstaunlich fremd ist«, um der »blinden Gewalt« der Tiere zu gleichen, die wir schon angesprochen hatten. Daher verlangen die rhythmischen Verkrampfungen des Fleisches im sexuellen Akt »jenseits der Zustimmung des Schweigens die Abwesenheit des Geistes«. 77 Diese aphanisis des Subjekts (Lacan) als Geist ist mithin eine Bedingung der jouissance für Bataille, und in deren Regression auf die Animalität erscheint deutlich die gewollte Umkehr platonisch-christlicher Positionen. In der Transgression liegt daher der äußerste Versuch vor, jenes Böse aufzudecken, welches im Heiligen (sacré) selbst verdeckt ist, so dass sich hier wohl am ehesten zeigt, wie sich die menschliche »innere Erfahrung« für Bataille sowohl unter erotischem wie religiösem Gesichtspunkt mit gleichem Recht deklinieren lässt. Mit anderen Worten muss er sich auf die Paulinische Lehre aus dem Römerbrief 7,7 ff. berufen, das Fleisch sei Sünde, um seine eigene Perspektive der Sexualität davon abheben zu können. Seine Soziologie des Heiligen/ Sakralen kann daher nicht nur als eine ebenfalls implizite individuelle Ethikbegründung gelesen werden, sondern methodisch ist besonders festzustellen, dass sich sein Denken nur gegen das Verbot der Religion – und speziell des Christentums – entfalten konnte, um das unbegrenzte Begehren als Herausforderung konzeptualisieren zu können, worin ihm dann Lacan teilweise nachfolgen wird. 78 Versteht man die Korrelation von Heilig/Unrein andererseits als eine Analogie zum ebenfalls doppelsinnigen lateinischen sacer, 79 so bedeutet dies bei Bataille, dass der Andere letztlich als der fremde Körper verstanden werden muss, dessen Exkremente und Erbrochenes beispielsweise als »Abfall« (déchet) gerade zur Kommunion werden können. 80 Anders als Freud sieht Bataille hierin keinen unbeL’érotisme, 116. Vgl. J.-F. de Sauverzac, Le désir sans foi ni loi, 50 f. Lacan kennt nämlich eine fundamentale Unterscheidung zwischen jouissance und Mehr-Lust (plus de jouir), wobei letztere fixierte Wiederholung des Lustgewinns über ein bestimmtes Objekt ist, während die jouissance über jeden Signifikanten als Objekt hinaus ist; vgl. Encore, 86 ff. 79 Vgl. hierzu ebenfalls G. Agamben, Homo sacer. Le pouvoir souverain sur la vie nue, Paris, Seuil 1997, gefolgt von zwei weiteren Bänden Etat d’exeption (2002) und Le règne et la gloire (2008). 80 Vgl. G. Bataille, »La valeur d’usage de D. A. E. de Sade«, in: Ecrits posthumes 1922–1940 (Œuvres Complètes II), Paris, Gallimard 1987, 56, mit Rückgriff auf die Gestalt Verneuils bei Sade, die Exkremente etc. des sexuellen Opfers verzehrt (dt. Die 77 78

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wussten oralen Primärvorgang, sondern die Möglichkeit einer Teilhabe oder Identifikation wie im Opferritual, um sich »das ganz Andere« einverleiben zu können. 81 Alle perversen Sexualformen wie ebenfalls die rituellen Exzesse beim Opfern stellen also eine extreme Alterologie dar, die mit einer Negativen Theologie vergleichbar wird, sofern die Einheit der Natur, Gottes und der »verunreinigten Teile« des Körpers dadurch gefeiert werden soll. 82 Dieser alterologische Aspekt von Verlust, Rest und Abfall modifiziert aber nicht nur das psychoanalytische »Partialobjekt« (wie etwa die Brust der Mutter), sondern stellt die Frage nach jenem unauslöschbaren »Rest«, der als »Differänz« (Derrida) die gesamte postmoderne Dekonstruktion beschäftigen wird: das Andere als in keine (metaphysische) Gesamtheit oder Sinneinheit mehr integrierbar – und damit für immer vom Subjekt, Geist etc. getrennt. Für Bataille sind Abfall und Rest folglich das, was nach seinem Text »La valeur d’usage de D. A. E. de Sade« als »göttlich, sakral (heilig) oder wunderbar« betrachtet werden kann. Die Alterologie als »Heterologie« kann deshalb zu jener »Hetärologie« 83 werden, wo die Prostituierte zum sakrifiziellen Objekt wird. Und in dieser Hinsicht, die sicherlich auch das ganze persönliche Ausmaß seiner Ausführungen zur Erotik verdeutlicht, schreibt Bataille von sich selbst: »Ich bin kein Philosoph, sondern ein Heiliger (saint), vielleicht ein Verrückter.« 84 Damit berührt Bataille dennoch eine Frage, wie sie auch in der Lebensphänomenologie sich stellt. Ob es nämlich im rein phänomenologischen Leben eine Erscheinung geben kann, die nicht an die Absolutheit dieses Lebens als originäres Selbsterscheinen zurückgebunden bliebe. Diesseits der naturalistischen Vorentscheidungen Batailles Literatur und das Böse. Emily Brontê – Baudelaire – Michelet – Blake – Sade – Proust – Kafka, München, Matthes & Seitz 1987). 81 Der letztere Ausdruck deutsch im Text ebd., 58 f. 82 In Indien gab es Sekten, die ebenfalls Exkremente, Fleisch von Toten etc. in ihre Rituale in diesem Sinne mit einbezogen; vgl. A. Daniélou, Shiva et Dionysos. La religion de la Nature et de l’Eros. De la préhistoire à l’avenir, Paris, Fayard 1979, 285 ff.; A. Navigante, »Das Problem der Selbst-Affektion in nicht-christlichen Religionen am Beispiel des Hinduismus«, in: Jahrbuch für Religionsphilosophie 16 (2017): Lebensreligion interreligiös. 83 Von griechisch hetaira, Gefährtin; vgl. F. M. Müller u. V. Sossau (Hg.), Gefährtinnen. Vom Umgang mit Prostitution in der griechischen Antike und heute, Innsbruck, University Press 2012. 84 »Méthode de médiation«, in: La Somme athéologique, 208; vgl. dazu B. Sichère, »Saint Bataille«, in: Le Dieu des écrivains, Paris, Gallimrd 1999.

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ergibt sich nämlich auch bei ihm der Versuch, alles Wissen zugunsten einer rein praktischen Wahrheit aufzugeben, die weder als Sprache (langue) noch als Repräsentation erscheinen kann. Die Erotik ist daher letztlich der radikale Versuch eines »frei gelegten Nicht-Wissens«, 85 dessen »Nacktheit« (non-savoir dénudé) insbesondere in der erotischen Perversion von Angst und Abfall aufgesucht werden soll, um »mystisch« mit dem Anderen des Göttlichen oder Heiligen zu verbinden. Das Begehren ist in seiner unbegrenzten Herausforderung die Potenzialität einer solchen Negativität, die Angst und Tod wie Einsamkeit und Rest (Abfall) zur apophatischen Annäherung von einem Wirklichen werden lässt, das sich jedem Bild entzieht. Wir haben die Grenze einer solchen »Lebensmystik« bereits oben unterstrichen, ob sie nämlich auch positiv diese Bild- und Namenlosigkeit als phänomenologisch notwendige innere Struktur einer Immanenz des Erscheinens aufweisen kann, um zugleich dabei ebenfalls ein originäres wie ko-pathisches ethos zu implizieren. Die Erotik nach Bataille entzieht sich nämlich letzten Endes jeder symbolischen Grenze, um diese Erotik nur in jener individuellen Mächtigkeit bestehen zu lassen, mit der sie sich vollzieht, das heißt, jedes geschlossene System zu desavouieren. Mit anderen Worten gegen Hegel folglich eine »Negativität ohne Verzauberung« darstellt, 86 eine ernüchterte Überschreitung im Sinne »entzauberter Transzendenz« in der Postmoderne und für diese, wie die andauernde Rezeption Batailles bezeugen dürfte. Vergleicht man die Position von Henry und Bataille betreffs Trieb und Erotik schließlich mit der postmodern sehr einflussreich gewordenen Ansicht Foucaults hinsichtlich des freien Umgangs mit den eigenen »Lüsten« (plaisirs), so ist offenkundig, dass die Verwandtschaft zwischen Bataille und Foucault größer ausfällt als jene zwischen Henry und Foucault. Zum einen liegt dies an der epistemischen Verschränkung von Macht- und Sprachstrukturen mit dem Trieb, welche die beiden postmodernen Autoren im engeren Sinne herausstellen, zum anderen an dem schillernden Begriff von »Lust« und »Leben« bei Bataille und Foucault, während die jouissance bei Henry eindeutig in der auto-jouissance des Lebens als dessen unsichtbarer Selbstoffenbarung verankert ist. Dennoch muss man seVgl. L’expéreince intérieure, 66. G. Bataille, Choix de lettres 1917–1962 (Hg. M. Surya), Paris, Gallimard 1997, 132, in einem Brieffragment an A. Kojève von 1937. 85 86

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Konfrontation mit der Erotik als »Verausgabung« bei Bataille

hen, dass die Leiblichkeit des Menschen, welche diesen als bloßes »Fleisch« (chair) ganz in die Endlichkeit von Leiden und Tod aufgehen lässt, nicht nur die Öffnung auf die Welt zu im Sinne Merleau-Pontys 87 darstellt, sondern gleichzeitig jede welthafte wie geschichtliche Synthese des Cogito unmöglich werden lässt. Dies wird für den ekstatischen Bereich der Welttranszendenz auch von der Lebensphänomenologie unterstrichen, so dass die »Transgression« bei Bataille wie Foucault in den Mittelpunkt einer »Individuation« entweder über Angst/Gewalt bzw. über die »Ent-subjektivierung« als nacktem Trieb in Bezug auf den endlos Anderen ins Zentrum rückt. Sexualität wird damit strukturell auf der einen Seite zu einer nichtreflexiven Identität von Begehren/Ich bin, während sie auf der anderen Seite als ständige Transgression die Differenz in Bezug auf jede Grenze bedeutet, so dass in dieser Überschreitung gerade die »Subversion« von Reflexion und Fiktion stattfindet. Wird dabei die allpräsente menschliche Sexualität zur »Erbin der Allmacht Gottes«, so heißt dies in einem oberflächlichen Sinne nicht nur: »Le sexe, raison de tout«, 88 sondern sie bedeutet einen postulierten Weg der Fülle als Steigerung eines (anonymen) Lebens mit Hilfe des je Differenten als dem endlos Anderen. Sollen diese Momente allerdings nicht völlig in rein fragmentiertes Erleben zersplittern, was der Psychose wie dem Wahn nahe käme, dann bildet die projizierte »Fülle« als auto-erotische »Selbstsorge« ein Minimum des Übergangs zwischen den einzelnen »Lust«-Momenten von »Subjektivierung« und »Entsubjektivierung«: »Nicht Reflexion, sondern Vergessen; nicht Widerspruch, sondern Wiederholung; kein Geist auf der rastlosen Suche nach seiner Einheit, sondern endlose Erosion des Außen; keine endlich aufscheinende Wahrheit, sondern das endlose Geriesel und die Verlorenheit eines Sprechens, das immer schon begonnen hat.« 89 Dass diese Genealogie als Funktion des »Lebens« von Nietzsches »Willen zur Macht« beeinflusst ist, 90 verhindert keineswegs, dass die Vgl. Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin, De Gruyter 1966, 402 f. M. Foucault, Histoire de la sexualité I. La volonté de savoir, Paris, Gallimard 1976, 103 (dt. Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt/M., Suhrkamp 1983). 89 M. Foucault, »Das Denken des Außen«, in: Dits et écrits I, Frankfurt/M., Suhrkamp 2001, 670–697, hier 677. 90 Vgl. K. Ruhstorfer, Konversionen. Eine theologische Archäologie der Bestimmung des Menschen bei Foucault, Nietzsche, Augustinus und Paulus, Paderborn, Schöningh 2004, 101 f.; zur Durchlässigkeit von Grenze/Transgression in der Überschreitung 87 88

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Trieb und Erotik in der Lebensphänomenologie und bei Georges Bataille

geschichtlich nicht mögliche Synthese für den Menschen dennoch über die Lebensrealität ein gewisses Gefühl der »Endlosigkeit« von Kontinuität in der Diskontinuität verschafft. Für die Lebensphänomenologie wäre dies die Selbstaffektion als Ermöglichung jeder Differe(ä)nz im transzendentalen Sinne, so dass auch die rein körperlichen Schmerzen und die Lüste eben nicht jeder »Einheit« entbehren, welche nicht nur durch fragmentierte Transversalität und Transgression gekennzeichnet bleibt, sondern durchaus auch eine Art »Trans-passibilität« darstellt. 91 Henri Maldiney (geb. 1912) kennt in seinen ästhetischen wie psychopathologischen Studien zu Melancholie, Manie und Schizophrenie eine »Durchlässigkeit« (transpassibilité) des Leidens, welche sich für ihn aus der ursprünglichen »Angst vor dem Nichts« ergibt und eine durchgehende innere »Empfänglichkeit« impliziert, welche in ihrer grundlegenden »Bedeutsamkeit nicht bedeutet werden kann« (signifiance insignifiable). Sie manifestiert sich im Ereignis wie im Ausdruck eines Bildes oder eines Anderen etwa wie von selbst und ist nicht in die »Jemeinigkeit« integrierbar. Außerdem unterscheidet er die Empfänglichkeit als irreduzible persönliche Krise der Existenz von der Krise des Lebendigen im Sinne des Organischen, womit er mehr Heidegger und Binswanger nahe steht als einer radikalen Empfänglichkeit der rein phänomenologischen Passibilität nach Meister Eckhart und Henry. Dennoch könnte der Begriff der »Transpassibilität« eben auch für die Postmoderne insgesamt aufgegriffen werden, um ihr Pathos als mitzugehörig zum grundlegenden Wesen jeglicher Impressionabilität oder Affektabilität von Leiden/Lust zu kennzeichnen. Erkenntnis als »Kompromiss zwischen den Trieben« nach Nietzsche 92 gibt dann ohne Zweifel keine Identität für die Vorstellung mehr ab, aber die »(Ent-)Subjektivierung« bleibt dennoch an die Grundgegebenheit des Leibes gebunden, die damit durch alles Anders-Werden des Subjekts hindurch trotz allem diese Differe(ä)nz trägt und ermöglicht – auch wenn sie überdeterminiert bleibt, falls ebenfalls C. A. Scheier, »Aporien oder die poröse Moderne«, in: V. Borso u. B. Goldammer (Hg.), Moderne(n) der Jahrhundertwenden, Baden-Baden, Vissivo 1999, 57– 69. 91 Vgl. H. Maldiney, Penser l’homme et la folie, Grenoble, Millon 32007; dazu ebenfalls R. Kühn, Praxis der Phänomenologie, 71–103: »Affektiver Übergang und Transpassibilität«. 92 Vgl. M. Foucault, Die Wahrheit und die juristischen Formen, Frankfurt/M., Suhrkamp 2004, 18 f.

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Konfrontation mit der Erotik als »Verausgabung« bei Bataille

man nicht nach ihrer originären Ermöglichung im radikalphänomenologischen Leben fragt. Dies aber würde bedeuten, dass sowohl bei Bataille wie Foucault Trieb, Erotik und Lust prinzipiell zurückgeführt werden können auf eine sie affizierende Einheit, sofern auch der Differe(ä)nzprimat als Transzendenz bildlos – und damit unerkannt – von der Immanenz getragen wird. Die Postmoderne als Durchleben des objektlosen Begehrens präsentiert sich damit zusätzlich als ein Pathos, das seine innerste Passibilität als »Dunkle Nacht« (Johannes vom Kreuz) jedem Menschen diesseits von allen Repräsentationsversuchen anbietet. 93 Dadurch enthalten Erotik, Trieb und Lust eine »Offenbarungswahrheit«, welche selbst die postmoderne ideologische Hermeneutik übertönen kann, wenn es zur wortlosen Erprobung dieses Erlebens kommt. Schon Simone Weil 94 bemerkte in den 1930er Jahren, dass in einer Zeit, wo »alles verloren« scheint, Körper wie Geist, eine »kollektive dunkle Nacht« zu durchmessen bleibe, die nicht ohne Verheißung neuer »Entdeckungen« (inventions) wäre. Denn »Transgression« bedeutet stets einen strukturellen Zusammenhang von jouissance/Verbot, 95 so dass sowohl weder traditionelle Versagenskultur noch enttabuisierende Permissivität in der Postmoderne deren komplexen Weg lösen können, der jenseits der Täuschungen der Vergangheit wie des Fortschritts verlaufen wird. Jedes »Genieße!« als Imperativ verbirgt ein Phantasma, das zur Zeit vom kapitalistischen Markt vorgegeben wird, sofern jedes Begehren nur einem Scheinobjekt jeweils folgt, wenn dieses nicht durchschaut wird. Daher steht auch die Postmoderne noch vor einer weiteren Selbstaufklärung, welche sich unablässig in der hartnäckigen Bekundung des Lebens als Bedürfen/Begehren manifestiert.

Vgl. R. Welten, »The Night in John of the Cross and Michel Henry. A Phenomenological Interpretation«, in: Studies of Spiritualiy 13 (2003) 42–59. 94 Vgl. Cahiers I, Paris, Plon 1967, 35 f. 95 Vgl. S. Lippi, Transgressions, 54 ff. 93

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Teil II: Dekonstruktion und Postmoderne

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5. Wiederholung und Immanenz als »Intensität« gemäß Gilles Deleuze

Die grundlegenden lebensphänomenologischen Begriffe wie Selbstaffektion, Kraft, Passibilität und Übergang im Sinne Michel Henrys, um unsere transzendentale Geburt im Leben und deren weitere Modalisierungen wie Freude, Schmerz, Begehren, Anstrengung oder Erfüllung beispielsweise auszusagen, sind in gewisser Weise nur punkthaft herausgestellte Elemente in der Kohärenz und Kontinuität des Lebens, welches wesenhaft durch Wiederholung oder Iteration bestimmt ist. 1 Ohne in den Irrtum zu verfallen, bloße Funktionen des biologischen Lebens, wie zum Beispiel Schlaf, Ernährung und Sexualität, für bereits ausreichende Wesenszüge des absolut phänomenologischen Lebens zu halten, woran uns die Aristotelische Tradition mit ihrem teleologischen Material- und Formprinzip gewöhnt hat, lässt sich dennoch nicht leugnen, dass in solchen Funktionen gerade der Aspekt einer sich immer wieder einstellenden und zum Leben notwendigen »Wiederholung« bereits zum Ausdruck kommt. Aber wenn wir radikal phänomenologisch weiterhin – in Auseinandersetzung mit der Postmoderne – davon ausgehen, dass wir nicht einen einzigen Augenblick ohne dieses Leben existieren könnten, das heißt, kontinuierlich des Lebens in seiner uns zeugenden Selbstaffektion bedürfen, dann enthält die Wiederholung ein transzendentales Wesensmerkmal des Lebens, welches es genauer zu analysieren gilt. Bewegt sich das Leben nämlich in einer ständigen Modalisierung als Impression, Affekt oder Gefühl, so bergen die damit gegebenen Vollzugsweisen gerade die Wiederkehr des selben Lebens, was unter anderem an Nietzsches »ewige Wiederkehr des Gleichen« in seinem Spätwerk denken lässt. Aber dieses »Gleiche«, welches sich im rein phänomenologischen Lebensvollzug wiederholt, kann nicht die ein1 Vgl. E. Husserl, Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der Logik (1939), Hamburg, Meiner 61985, 484 f. u. 508 f., in Bezug auf die Iteration des Sinnes und der Zeit.

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Wiederholung und Immanenz als »Intensität« gemäß Gilles Deleuze

fache Vervielfältigung desselben Inhalts sein, denn wenn sich das Leben in seiner inneren Konkretion stets individuell bestimmt oder ipseisiert, dann gibt es in dieser »Wiederholung des Lebens« auch nur ein singuläres Leben bei gleichzeitiger Selbigkeit oder Identität. Gilles Deleuze (1925–1995) hat als ein einflussreicher postmoderner Denker versucht, Wiederholung und Differenz als Immanenz zusammen zu denken, 2 so dass es hier eine begriffliche Überschneidung mit der Lebensphänomenologie gibt, die zu untersuchten bleibt. Bei Weltphänomenen schließen sich ontisch-ontologische Einmaligkeit und wahrgenommene Wiederholbarkeit nicht aus, insofern ein »unwiederholbares« Individuum durchaus immer wieder als dasselbe von außen identifiziert werden kann. Beim Leben hingegen treffen wir auf jene außergewöhnliche Situation, dass dieses gerade als singuläres Leben sich selbst je wiederholt, mit anderen Worten stets dasselbe in der Selbstaffektion seiner passiblen Materialität als individuiertes Empfindenkönnen ist. 3 Schon die klassische Existenzphilosophie hat herausgestellt, dass das Ich nicht nur in transzendentaler Hinsicht die Einheit der als Ganzes unwiederholbaren Welt ermöglicht, sondern dieses Ich als eine je individuelle »Person« sich in immer wieder neuen Lebensvollzügen »wiederhole«. Dabei greift Kierkegaard in seinem Buch »Die Wiederholung« von 1843 den Zusammenhang mit der Erinnerung und der existentiellen Ausnahmesituation auf, um die Möglichkeit einer Einheit der Existenz in ihrer Zeitlichkeit zu betonen, während der frühe Heidegger in seiner Fundamentalhermeneutik von »Sein und Zeit« besonders die geschichtliche Überlieferung für das Seinsvorverständnis und deren Destruktion hervorhebt, wie wir in unserem ersten Kapitel besonders herausstellten. Geht für Kierkegaard vor allem hierbei durch die Wiederholung als das Wieder-geholte die Wirklichkeit in die Zukunft ein, um das Selbst in seinem Existenzentwurf an seine eigene Geschichte zu binden, 4 so können wir daraus für eine radikale Phänomenologie, welche sogar die Zeitlichkeit als Transzendenz noch einklammert, zuVgl. Différence et répétition, Paris, PUF 1968 (dt. Differenz und Wiederholung, München, Fink 32007). 3 Vgl. M. Henry, Affekt und Subjektivität. Lebensphänomenologische Beiträge zur Psychologie und zum Wesen des Menschen, Freiburg/München, Alber 2005, 26 ff. 4 Vgl. Die Wiederholung. Ein Versuch in der experimentierenden Psychologie (Ges. Werke Abt. V–VI), Düsseldorf, Diederichs 1965; dazu auch A. K. Banser u. Ph. Bode, Selbstwerden. Über das Selbst als Aufgabe und die Möglichkeiten seiner Realisierung bei Sören Kierkegaard, Würzburg, Königshausen & Neumann 2018. 2

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Wiederholung und Immanenz als »Intensität« gemäß Gilles Deleuze

mindest den Gedanken der reinen Qualität zurückbehalten. Denn insofern etwas wieder-(ge)holt wird, gewinnt das Jetzt eine neue Qualität, und dies würde dem ontologischen Sachverhalt entsprechen, dass das »sich wiederholende Leben« in seiner Singularität in der Tat stets eine neue impressionale Qualität besitzt, die es aber durchgehend der selben transzendentalen Affektivität verdankt. Wenn Nietzsche mithin in der Qualität die reine Kraftbestimmung sieht, die keine Quantität zu ihrer Definition mehr benötigt, dann enthält dies bereits einen Hinweis auf das Verständnis der zuvor erwähnten »ewigen Wiederkehr« in einem radikal phänomenologischen Sinne, der sich nicht mit der Feststellung eines heraufziehenden oder bereits eingetroffenen Nihilismus begnügen kann, in dem alle Werte »umgewertet« werden, um jenen »Übermenschen« zu ermöglichen, welcher die ewige Wiederholung des »Nichts« als Sinnlosigkeit für sich zu bejahen vermag. Die Kraft dieses reinen, »ewigen Nichts« als einer Bejahung ist nämlich zugleich das Ende jeder Interpretation, so dass es letztlich nicht um eine zu erneuernde hermeneutische Konstellation geht, sondern um ein ontologisches Prinzip, welches Nietzsche das Leben als »Willen zur Macht« bestimmen lässt: »Es gibt nichts am Leben, was Wert hat, außer dem Grade der Macht – gesetzt eben, dass Leben selbst der Wille zur Macht ist.« 5 Bedeutet mithin das Leben als Selbstphänomenalisierung reine Kraft oder Mächtigkeit, die sich selbst will, so erlangt die Wiederholung des Selben als Leben den Charakter des absoluten SichSelbst-Wollens des Lebens. Kein Wert kann dem Leben von außen aufoktroyiert werden, wenn es diesen in seinem Selbstwollen nicht will, ohne damit eine zeitliche Teleologie dieses Wollens wieder einzuführen, was ein Widerspruch wäre, sofern jeder Zweck als Interpretation auch schon bei Nietzsche getilgt ist. Die einzige »Teleologie«, welche das Leben kennt, ist nach M. Henry seine immanente Historialität, das heißt der kontinuierliche Vollzug der Affektivität in der unaufhörlich sich wandelnde Modalisierung von Passibilität als Impressionabilität. Insofern letztere jeweils ein »Sich« impliziert, welches die qualitative Bestimmtheit des Lebens als eine individuelle

5 Aus dem Nachlass der Achtziger Jahre: Werke III (Hg. K. Schlechta), München, Hanser 1973, 853 f.; vgl. für weitere Aspekte dieser Nietzschelektüre R. Kühn, Lebensethos. Inkarnatorische Konkretionen originärer Lebensreligion, Dresden, Text & Dialog 2017, Kap. I,3: »›Wir, die Guten, die Glücklichen …‹ – eine radikalphänomenologische Nietzschelektüre« (S. 46–62).

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Wiederholung und Immanenz als »Intensität« gemäß Gilles Deleuze

Identität zu jedem Augenblick ausmacht, ist auch jenes Sich nicht mehr ein gewolltes im Sinne einer Intention, sondern ein sichselbst-wollendes. Wäre es nämlich nur ein projekthaft gewolltes Sich, so träte eine Distanz im sich-affizierenden Leben als solchem auf, die sein Wollen von dessen unmittelbar immanenter Erfüllung trennen würde, wodurch das Leben nicht mehr es selbst in seiner Wiederholung als sich-selbst-wollendes wäre. 6 Was jedoch nur sich selbst will, ohne die Vermittlung eines Anderen, Fremden, für dieses Wollen in seinem Vollzug in Anspruch nehmen zu können, weil es sonst nicht mehr es selbst wäre, muss daher ein solches Sich besitzen, welches mit dem Wollen nicht auseinander fällt. Das heißt, es gibt hier nicht mehr das Verhältnis von Subjekt/Objekt und einer Kopula, die eine vereinigende Tätigkeit darstellen würde, sondern das Sich als reine Qualität der Impressionabilität ist zugleich die Aktivität dieses Vollzugs als jener Kraft, in der sich dieses Sich selbst-erprobend vollzieht. Passibilität und Macht sind dergestalt eins, und diese Einheit in der Selbstaffektion des Lebens bedeutet seine immanente Wiederholung: Die »Transpassibilität« der sich modalisierenden »Übergänge« entspricht in ihrer Identität der Wiederholung des Sich des Lebens als sein Wollen. 7 So gibt

Vgl. M. Henry, Inkarnation. Eine Phänomenologie des Fleisches, Freiburg/München, Alber 2002, 268 f. u. 337 ff. 7 Zum Begriff des Übergangs hierbei vgl. R. Kühn, Radicalité et Passibilité. Pour une phénoménologie pratique, Paris, L’Harmattan 2003, Kap. II,7: »Certitude affective comme Passage absolu«. – Wir übernehmen außerdem hier den Begriff der Transpassibilität von Maldiney, verwenden ihn jedoch im Sinne jenes trans-passiblen Lebens, welches sich in jeder seiner rein immanenten Modalisierungen als seiner ihm eigenen Passibilität je neu gebiert, wie die Henrysche Analyse es nahe legt; vgl. H. Maldiney, Penser l’homme et la folie, Grenoble, Millon 1991. Maldiney (geb. 1912) kennt in seinen ästhetischen wie psychopathologischen Studien zu Melancholie, Manie und Schizophrenie eine »Durchlässigkeit« (transpassibilité) des Leidens, welche sich für ihn aus der ursprünglichen »Angst vor dem Nichts« ergibt und eine durchgehende innere »Empfänglichkeit« impliziert, welche in ihrer grundlegenden »Bedeutsamkeit nicht bedeutet werden kann« (signifiance insignifiable). Sie manifestiert sich im »Ereignis« wie im Ausdruck eines Bildes oder eines Anderen etwa wie von selbst und ist nicht in die »Jemeinigkeit« integrierbar. Außerdem unterscheidet er die Empfänglichkeit als irreduzible persönliche Krise der Existenz von der Krise des Lebendigen im Sinne des Organischen, womit er mehr Heidegger und Binswanger nahe steht als einer radikalen Empfänglichkeit der ontologisch-phänomenologischen Passibilität nach Meister Eckhart und Henry. Dennoch kann der Begriff der »Transpassibilität« aufgegriffen werden, um das Pathos als grundlegendes Wesen jeglicher Impressionabilität oder Affektabilität zu kennzeichnen. Vgl. auch bereits R. Kühn, 6

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Wiederholung und Immanenz als »Intensität« gemäß Gilles Deleuze

es nur ein Wollen, welches ständig dasselbe Sich-Selbst-Wollen ist, auch wenn jedes Sich in modaler Hinsicht ein singulär neues ist, je einmalig, so wie es in der Materialität seiner Impressionabilität »ist«. Es gibt lebensphänomenologisch gesehen folglich nicht erst Kraft und dann Vollzug, erst dynamis und dann enérgeia, sondern der Vollzug des Lebens ist seine Kraft oder Mächtigkeit als jene Selbstbewegtheit, die seinem ständigen Sich-Selbst-Wollen entspricht und daher eine »Wiederholung« seiner selbst ist, und zwar ohne die in einem zweiten Schritt zu erstellende Identität intentionaler Differenzen und Sinnhorizonte. An dieser Stelle können wir zur Überprüfung unserer Eingangsthesen jenes zu Beginn erwähnte postmoderne Denken aufgreifen, welches gerade das Gegenteil behauptet, nämlich die Wiederholung als prinzipielle Differenz bei Gilles Deleuze, der sich mit seinem ganzen Werk von der Frage nach der Sinnzirkulierung zu jener Problematik hinführen lässt, wie die Verwirklichung des Vielfältigen zu tun sei. 8 Schon in der »ewigen Wiederkehr« Nietzsches erblickt auch er eine Erfahrung, welche nur das wiederkehren lässt, was seine Differenz bejaht. Die Wahrheit sei daher nicht etwas Wieder-zu-Findendes, als vielmehr selbst der Wille zur »Wahrheit«, das heißt zu sein, wodurch der »Wert« solcher Wahrheit eben in ihrer bejahenden oder verneinenden Qualität beruhe. Bejahung und Verneinung wären dann keine Gegensätze wie in der formalen Aussagelogik, sondern eher das, was sich dif-ferierend voneinander abhebt, so dass die Wiederholung als Erfahrung der »ewigen Wiederkehr« das »Ereignis der Differenz« als solcher bilde. Entsprechend erblickt Deleuze im herkömmlichen Differenzgedanken seit Platon zwei unterschiedliche Ordnungen: eine begriffliche Differenz und eine Differenz ohne Begriff. Die erste Ordnung ist unserem Verstand als Vermögen der Begriffsbildung inhärent, während die zweite Ordnung keine logische mehr sei, sondern eine räumliche, mit anderen Worten eine ReproPraxis der Phänomenologie. Einübungen ins Unvordenkliche, Freiburg/München, Alber 2009, Kap. I,3: »Affektiver Übergang und Trans-passibilität« (S. 71–103). 8 Vgl. außer dem frühen Hauptwerk Différence et répétition zuvor schon Nietzsche et la philosophie, Paris, PUF 1962 (dt. Nietzsche und die Philosophie, Frankfurt/M., Suhrkamp 1985); als Kommentar ebenfalls J.-C. Martin, Variations – La philosophie de Gilles Deleuze, Paris Payot & Rivages 1993; A. Badiou, Gilles Deleuze. La clameur de l’être, Paris, Hachette 1997; K. Röttgers, »Deleuze, Gilles«, in: Th. Bedorf u. K. Röttgers (Hg.), Die französische Philosophie im 20. Jahrhundert. Ein Autorenhandbucb, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2009, 106–114.

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duktion des Identischen, wobei in dieser äußeren Ordnung mehrere Dinge unter demselben Begriff subsumiert werden und sich nur durch ihren Platz im Raum unterscheiden.

1.

Wiederholung als Intensität

Deleuze möchte mithin gerade die Differenz von der Seite der Wiederholung her aufwerten, denn die Wiederholung sei nur dann Reproduktion des Identischen, wenn man sie von außen betrachte, nämlich aus der Stellung eines allgemeinen und transzendenten Subjekts heraus. Verlässt man jedoch diese Perspektive eines wie von oben betrachteten Seinspanoramas des Vielfältigen, wie es gleichfalls Merleau-Ponty forderte, um das »Sich« der Wiederholung wahrzunehmen, so ändere sich auch die gesamte Problematik. Es muss eine innere und dennoch nicht-begriffliche Differenz gedacht werden. Denn wenn man von der reinen Differenz keine Erfahrung haben kann und sie deshalb auch nicht unter allgemeine Begriffe fassen könne, wodurch sie unserem Verstand für immer äußerlich bleibt, so lässt sie sich stets als eine der »Idee« innerliche Differenz verstehen, welche dem Sein als umfassendem Horizont angehöre. Hatte Deleuze diesem vorgestellten Ganzen bereits mit Nietzsche eine »Philosophie des Willens« gegenübergestellt, wie wir oben sahen, so ist auch die Differenz als solche keine Gegebenheit der Intuition mehr, sondern vielmehr das im postmodernen Sinne, wodurch das Gegebene überhaupt »gegeben« werde, denn jedes Phänomen verweise auf die Ungleichheit als seine Bedingung, wodurch der identifizierte Sinn eben immer etwas Sekundäres darstelle. Anders gesagt, handelt es sich bei der Differenz um das univoke Sein des Sinnlichen, welches für Deleuze keine Kraft bedeutet, die sich selbst sichtbar wäre, aber etwa in der Kunst zur Darstellung gelangt: »Wenn die Kraft die Bedingung der Empfindung ist, so wird dennoch nicht die Kraft empfunden, denn die Empfindung ›gibt‹ etwas ganz Anderes ausgehend von den Kräften, welche sie bedingen […]. So hat die Musik die lautlosen Kräfte hörbar und die Malerei die unsichtbaren Kräfte sichtbar zu machen.« 9 Wenn Deleuze diesen transzendentalen Empirismus auch in der Folgezeit immer mehr aus den zuvor noch Kantischen Vorgaben weiter herausgelöst hat, um den Raum des Sinnlichen eben nicht mehr 9

Francis Bacon. Logique de la sensation, Paris, La Différence 1981, 39.

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von der Iteration gemäß Husserl, sondern vom Denkfluss und dessen »Intensitäten« her zu denken, wie etwa in »Mille plateaux« von 1980, so bleibt jedoch auch darin der Grundgedanke erhalten, dass es in der Tat nicht primär um Vorstellungen geht. Vielmehr handelt es sich darum, die frei fließenden affektiven Kräfte, welche das Denken in seiner unbewussten Tiefenschicht ausmachen, in ihrer disseminierenden Vielfalt zu leben, um die nur scheinbar einheitliche Oberflächenstruktur des Sinns zu durchbrechen, das heißt, sich immer wieder neuen Differenzierungen hinzugeben. Dies schließt im Übrigen eine Vermehrung der Begriffe nicht aus, wie wir im Weiteren noch sehen werden, denn »der Empirismus ist keineswegs die Reaktion gegen die Begriffe noch ein bloßer Aufruf zur gelebten Erfahrung. Er unternimmt vielmehr die verrückteste Schöpfung an Begriffen, wie sie noch niemals gesehen oder gehört wurden. Der Empirismus ist der Mystizismus des Begriffs und dessen Mathematisierung«. 10 Dieses poststrukturalistische Denken der Pluralität als Differenz möchte mithin die abendländische Metaphysik der Repräsentation in ihren transzendentalen Illusionen erschüttern, wie sie mit dem Postulat einer absoluten Einheit des Denkens, der ausschließlich logischen Urteilsbildung durch Analogieschlüsse vom Typ »gleich wie …«, »anders als …«, »in Bezug auf …«, sowie mit dem Gegensatz von Qualitäten und der perzeptiven Übereinstimmung von Abbild und Urbild gegeben sind, oder zusammenfassend gesagt, als ratio essendi, cognoscendi, fiendi und agendi auftreten. Denn die Einheit des Denkens in der Identität des Begriffs mit sich selbst, wie sie besonders bei Hegel als Abschluss einer langen Tradition zum Ausdruck kommt, lässt vom Denken nur das Selbstbild einer allgemeingültigen und überzeitlichen Gesetzgebung entstehen, wo die (eventuell dialektische) Genese dieses Denkens und seine ursprüngliche Funktionsweise eben verfälscht sei. So bemerkt Deleuze auch in Bezug auf das Cartesianische Ego ähnlich wie Lacan beispielsweise: »Ein passives Subjekt, das sich diese Aktivität eher vorstellt, als dass es handle; es empfindet eher die Wirkung, als dass es deren Initiative besäße, und es lebt dies wie ein Anderer seiner selbst«, kurz gesagt: »ein passives Ich, welches aus einer Grundlosigkeit hervorgegangen ist, welche es betrachtet«. 11 Différence et répétition, 3; vgl. ebenfalls Empirisme et subjectivité. Essais sur la nature humaine selon Hume, Paris, PUF 1953. 11 Différence et répétition, 117 u. 354. 10

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Wiederholung und Immanenz als »Intensität« gemäß Gilles Deleuze

Werden zudem die Seinsqualitäten der Erkenntnisgegenstände mit der Ausschließlichkeit der »richtigen« Urteilsbildung durch logische Gattungs- und Artverhältnisse versehen, so werden auch die Qualitäten in ihrer Polarität von positiv/negativ, eigentlich/uneigentlich usw. einer Dialektik des Werdens unterworfen, um sie in beherrschbare Bahnen zu lenken, sofern die unablässige Veränderbarkeit der Sinnenwelt zur Sicherheit eines funktional vereinheitlichten Handelns werden muss. Die Unterwerfung der Differenz durch die auf Ordnung wie Organisation abzielende abendländische Vernunft bedarf folglich wesenhaft der Repräsentation einer monozentrischen Weltkonvergenz, welche zusammen mit dem besonders neuzeitlichen Gedanken einer instrumentellen Vernunft die tiefe produktive Dimension der Differenz nicht für sich zu denken vermag. Um also die anzuerkennende postmoderne Pluralität in ihren sozialen, wissenschaftlichen und ästhetischen Zusammenhängen als hervorbringende Möglichkeit des je Neuen begreifen zu können, muss konsequenterweise die Differenz als dezentrierende Heterogenität ergriffen werden. Deshalb konnte es Deleuze auch nicht genügen, die Wiederholung bloß aus der jeweiligen Erneuerung vollkommener Ähnlichkeit mit sich selbst zu verstehen, weil damit innerhalb des genannten Repräsentationsmodells allein eine mechanische Selbstproduktion des in sich identisch Vorgegebenen und Verbleibenden erreicht wird, was Bergson schon kritisch analysiert hatte. 12 Die Eigendimension der Wiederholung auf dem Hintergrund eines sich selbst bejahenden Willens, wohinein sich deutlich Aspekte der Affektenlehre Spinozas mischen, 13 umschließt mithin eine Aktualisierung und Differenzierung, die ideelle wie praktische Veränderung bewirken soll – letztlich ein »Nomadentum« des Denkens und der Existenz, welche sich dem Unvermessbaren des »Ereignisses« (événement) stellen, um die wechselnde Situativität in ihrer Pluralität zu leben, wie es auch Foucault sah. 14 Diese Forderung behält bei Deleuze den schon skizzierten erkenntnistheoretischen Hintergrund, denn die kritisierte Identität als unterschiedslose Wiederholbarkeit, das heißt als das Zu-sich-selbst-Kommen der Vernunft im unendlich reproduzierbaren Begriff, besitze an ihrem Anfang als »Denkakt« Vgl. G. Deleuze, Le bergsonisme, Paris, PUF 1966. Vgl. Spinoza ou le problème de l’expression, Paris, Minuit 1969; Spinoza. Philosophie pratique, Paris, Minuit 1981. 14 Zum Vergleich G. Deleuze, Foucault, Paris, Minuit 1986. 12 13

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Wiederholung als Intensität

einen lebendigen Wirkungsprozess, welcher als tätiger ganz in seine Ereignishaftigkeit aufgehe – und wo sich deshalb nichts repräsentieren lasse. Vielmehr gehen die Denkinhalte als kristallisierte »Spiegelungen« erst aus dieser unbewussten, radikal pluralen und energetisch »intensiven« Urebene des Denkens hervor. Diese Ebene der je differenten Wiederholung als erneuerndes Ereignis bilde die eigentliche Dimension des Willens und der Freiheit, in der ein »höheres Unbewusstes« zur Wirkung komme. Sehen wir hierbei von der anfänglichen Rezeption der mitspielenden Psychoanalyse Freuds ab, so möchte Deleuze die Selbständigkeit solcher tiefendimensionalen Vernunft jenseits aller Verdinglichung zum Vorschein bringen, um sich in der Tat weniger mit ihren Inhalten als mit ihrer lebendigen Tätigkeit zu identifizieren, wobei solche »Identität« als Differenz und Wiederholung »an sich selbst« nur als permanente Veränderung im Sinne der genannten energetisch affektiven »Urschicht« des Denkens vollzogen werden kann, ohne dass dieses »Grundgeschehen« – ebenso wie bei Heidegger und Derrida sowie anderen Postmodernen – auf einen erkennbar einheitlichen Grund zurückführbar wäre. Trotz der offensichtlichen Parallelen zu lebensphänomenologischen Termini wie Leben, Intensität, Immanenz, Affekt und subjektiver Praxis bei M. Henry ist aber bereits hier unverkennbar, dass fundamentale Vorgaben der Metaphysik weiterhin von Deleuze geteilt werden, und zwar bis in die entscheidende Bestimmung der Differenz selbst hinein: »Alle Wiederholungen, ordnen sie sich nicht in der reinen Form der Zeit an?« Um daraus schließlich zu folgern: »Aber die Wiederholung ist die einzige verwirklichte Ontologie, das heißt die Univozität des Seins.« 15 Die allgemeinsten und formalsten Bedingungen, unter denen die Wiederholungen – und folglich auch die Differenz – erscheinen, sind hiernach die Zeitlichkeit und das Sein, welche gemäß dem klassischen Wesensverständnis der Metaphysik zusammen das Erscheinen des Phänomenalen überhaupt ermöglichen. 16 Aber gerade ein radikalisierter Lebensbegriff im Sinne Henrys hat in phänomenologischer Perspektive noch die Zeit selbst einzuklammern, und auch das Sein als äußersten Immanenzhorizont, so dass im Folgenden auf weitere Différence et répétition, 376 u. 387; vgl. J. Köhler, »Geistiges Nomadentum«, in: Philosophisches Jahrbuch 91/1 (1984)158–175. 16 Zur weiteren Diskussion vgl. ebenfalls W. Viertel, Modelle der Existenz. Metaphysik nach dem Ende der Metaphysik, Würzburg, Königshausen & Neumann 2018. 15

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Unterschiede in Bezug auf den lebensphänomenologischen Immanenz- und Intensitätsbegriff zu achten bleibt. 17 Der Ereignisbegriff der Wiederholung soll allerdings nicht mehr an die vorstellende Iteration von Sukzession und Koexistenz gebunden sein, so dass hier ein Raumbegriff der Differenz gedacht wird, wo sich alle Situationen und Zustände rein aus dem Werden ergeben, dem es in seinen fließenden wie sich kontraktierenden Bewegungen zu »folgen« gelte, und zwar gemäß jener »nomadischen« Verteilung, welche mehr den unbewussten »Intensitäten« der Tiefenbewegung als den gegenständlichen Inhalten vertraut. Das dabei vorausgesetzte postmoderne »Subjekt« solchen Werdens (devenir) kann deshalb nicht mehr das klassische Cogito sein, welches bewusstseinsphilosophisch den Raum transzendiert, sondern in der Immanenz desselben hervorgebracht wird, 18 um eben dergestalt der intensiven Vielfalt stattzugeben, die sich darin bildet, wobei der Modus dieser immanenten Intensitäten auf der Hypothese eines »organlosen Körpers« aufbaut. Der alltäglich wahrgenommene Körper sei nämlich einem ihm eigenen System der gesellschaftlichen Regulierung zugeordnet, welches ihn zur mechanischen Ausübung von Verrichtungen zwingt, während er insgeheim davon träume, sich von seinem Organismus zu befreien, um jene prävitale Schicht wieder zu finden, in der er vor dem Fall in die Differenz gelebt habe. Der organlose Körper funktioniert daher nach zwei Modellen, nach dem der Anziehung und der Abwehr, wobei sich energetische Transformationen ergeben, die eine Serie von Abständen von Null an bilden, und diese »Null« entspricht dem organlosen Körper selbst, insofern er die unmittelbare Produktion von intensiven Mengen darstelle. Ist der Nullpunkt daher mit der Intensität selbst identisch, so durchlaufe das »Subjekt« permanent intensive Werdensformen, die es bei jeder Stufe seine »Identität« wechseln ließen: »Ich bin alle Namen der Geschichte«, wie Deleuze sagt.

Vgl. auch A. Beaulieu, Gilles Deleuze et la phénoménologie, Paris, Sils Maria 2004. Vgl. dazu ebenfalls G. Deleuze, »Qu’est-ce que l’immanence? Une vie«, in: Philosophie 47 (1995) 3–7, hier bes. S. 5 in Bezug auf eine asubjektive, aber je singularisierte Immanenz als Transzendentalität virtueller Ereignis-Zeit ohne transzendente Objekte: »Ein Leben ist überall, in all den Augenblicken, die dieses oder jenes lebendige Subjekt durchquert und durch solch erlebte Objekte ihr Maß finden: immanentes Leben, welches die Ereignisse und Singularitäten davon trägt, die sich nur in den Subjekten und Objetkten aktualisieren.« 17 18

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Wiederholung als Intensität

In diesem Bemühen, alle identifizierenden Wiederholungen zu unterlaufen, kann man also davon sprechen, dass Affekt und Wille in der Weise des »organlosen Körpers« einer a-kategorialen Energie folgen, die einem freien Fluktuieren von vielgestaltigen Kraftfeldern der Intensität entspricht. Das Subjekt/Objekt-Verhältnis, wenn man diesen Begriff hier noch beibehalten will, ist demzufolge kein repräsentatives mehr, sondern ein rein intensives, wie es sich besonders an der Schizophrenie ablesen lasse, die als ein gewisses Modell für ein positiv verstandenes Spiel der Intensitäten verstanden wird. 19 Denn die hier anvisierte an-archische Begehrensstruktur im Geflecht von libidinös-gesellschaftlichen Überkreuzungen bedeutet für den intensiven Raum des organlosen Körpers eine solche Teilung seiner Intensitäten, 20 wo das Geteilte auf jeder Stufe die Natur seiner Teilung ändere und auf diese Weise ständig von sich selbst verschieden sei. Der Differenzgedanke zur postmodernen Dekonstruktion des klassischen Identitätsprinzips beinhaltet daher auf dieser vitalen Ebene der primären Energieverteilung, dass das Vielfältige nicht mehr irgendeinem allgemeinen Subjekt zugeschrieben wird, sondern selbst »substantiviert« wird. Außerhalb jeder Unterwerfung unter zeitlose Seinsgesetze wird es nämlich zum energetischen Diskontinuum der »nomadischen« Vielheiten, die als »Wiederholungen« jeweils neue Intensitätserfahrungen bergen, bzw. den Körper aktiv sein lassen, anstatt nur passiv reaktiv, was an Spinozas conatus als Prinzip des je freien Handelns in immanenter Übereinstimmung mit der Mächtigkeit (Substanz) des Affekts erinnert. Wenn also auch Deleuze die lebendige Tätigkeit unterstreicht, und zwar als Verabschiedung der onto-logischen Prinzipien von Ursache und Verallgemeinerung, so kann diese »Philosophie des Willens« gerade nicht mehr als ein neues Denken der Subjektautonomie verstanden werden, denn die Intensivgrößen sind zwar Minimal19 Vgl. Capitalisme et schizophrénie, Bd. 1: L’Anti-Oedipe, Paris, Minuit 1972; Bd. 2: Mille plateaux, Paris, Minuit 1980 (zusammen mit F. Guattari). Ebenfalls G. Deleuze, Deux régimes de fous. Textes et entretiens 1975–1995, Paris, Minuit 2003, hier bes. 17–28 »Schizophrénie et société« (dt. Schizophrenie und Gesellschaft. Texte und Gespräche 1975–1995, Frankfurt/M., Suhrkamp 2005). Dazu auch H. Berger, »L’AntiŒdipe«, in: Tijdschrift voor Philosophie en Theologie 46 (1985) 289–313; G. Deleuze, A. Villani, A. Negri u. C.-C. Härle (Hg.), Karten zu »Tausend Plateaus«, Berlin, Merve 1993; F. Guattari, Die drei Ökologien, Wien, Passagen 1994. 20 Vgl. hierzu ebenfalls G. Deleuze, Présentation de Sacher-Masoch, Paris, Minuit 1967.

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elemente des Willens, können aber niemals einer universalen Subjektinstanz zugesprochen werden. In dieser Hinsicht handelt es sich, wie mit dem Namen Spinozas schon angedeutet wurde, eher um eine Philosophie des Affekts – und in diesem Sinne des Lebens. Denn wenn der Abscheu vor der einseitig verwalteten Welt Deleuze eine Antwort abfordert, so ist dies zweifellos der »Glaube« an das Leben, um mit dessen immanent gegebenen intensiven Differenzen ein Denken und Handeln zu ermöglichen, welches sich postmodern der schöpferischen Kraft allein verpflichtet weiß. Das Singuläre der »nomadischen Differenz« als Bereich der Intensitäten und bisher noch nie wahrgenommener Formen des Werdens ist jedoch nicht das Singuläre eines »Subjekts«, denn die erlebten Intensitäten sind nicht mit dem Subjekt vergleichbar, welches sie erfährt. Tritt nämlich die Intensität an die Stelle klassischer Bedeutungslehre, so wird das Ich selber nur zu einem »Ort«, an dem sich ausschließlich Effekte verteilen, ohne ein identifizierbares »Hier«, »Es gibt« oder »Es ist« ansprechen zu können. Die Wahrheit existiert also nicht, sondern sie insistiert, wie Deleuze für die Wiederholung zu verstehen geben will. 21 Wenn seine Kritik am Sinn- und Bedeutungsprimat in gewisser Weise auch die intentionale Eidetik der historischen Phänomenologie trifft, so ist andererseits jedoch zu sehen, dass die »Wiederholung« bei Deleuze immer noch von der schon erwähnten Ontologie der Zeit beherrscht wird, was auch sein Werdensbegriff unterstreicht. Außerdem benutzt die Realität der Intensität als Körperimmanenz hinter dem Affekt- und Willensbegriff eine Auffassung von »Leben«, die sich schwerlich von einem anonymen Vitalismus bzw. Naturalismus abgrenzen lässt, obwohl Deleuze natürlich eine substanzialistische Kraft »hinter« den Ereignissen leugnen würde. 22 Das von ihm be-

Zur Diskussion von Intensität und Affekt, unter anderem bei Spinoza, vgl. auch R. Kühn, Lebensmystik. Ursprüngliche Erfahrungseinheit von Religion und Ethik im Spiegel »Philosophischer Mystik«, Dresden, Text & Dialog 2018, Kap. I,3: »Spinoza und die Einheitserprobung im Selbstverstehen«. 22 Als einer der ersten Kommentatoren hat S. Laoureux auf gemeinsame Themen zwischen Henry und Deleuze hingewiesen (etwa Vorstellungskritik und Befreiung der Transzendentalität von konstituierenden Vorgaben), aber auch den wesentlichen Unterschied zwischen einem individuierenden und einem apersonalen oder asubjektiven Lebensbegriff schon festgehalten; vgl. L’immanence à la limite. Recherches sur la phénoménologie de Michel Henry, Paris, Cerf 2005, 97 f. u. 165 f. Vgl. danach ausführlich R. Arsenic-Zamfir, Le corps dans la philosophie française contemporaine. Michel Henry et Gilles Deleuze, philos. Diss., Université Dijon 2006, 390 S. 21

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schworene Leben, welches sich im philosophischen Denken mit anderen Mitteln fortzusetzen habe, aber in demselben durchaus auch als Aktion und erlebte Immanenz, insofern die logischen Urteile und Begriffsbildungen auf der Immanenzebene ihres tätigen Wirkens berücksichtigt werden und oft Collageform annehmen – es bleibt ein empirisches Leben, da seine Effekte als Intensität oder Affektbildung vom Raumgedanken abhängen, selbst wenn dieser Raum jener eines organlosen Körpers sei. Deleuze würde sicher einwenden, dass es ihm um konkrete Veränderungen gehe, aber eine solche an sich berechtigte Absicht vermag dennoch nicht die strukturellen Vorentscheidungen zu verwischen, wie sie in der Tat mit der Unterwerfung der »Lebensselbstphänomenalisierung« als Unbewusstes unter eine – wenn auch relativierte – Transzendentalität von Zeit und Raum als Werden gegeben bleibt. Existiert nämlich ein »Nullpunkt« der Intensität innerhalb jener raum-zeitlichen Koordinaten, dann ist die diskontinuierliche Ausbreitung dieses Nullbereichs als »vor-individuelle Singularitäten« der Intensitätslinien oder -brüche nicht minder ein transzendentales Feld, wie es unter anderen Vorgaben jede Bewusstseinsphilosophie und auch die historische Phänomenologie noch als Ausgangspunkt ihrer Analyse voraussetzen. So mag das Sein des Sinnlichen letztlich eine reine Begehrensstruktur anstelle einer noch triebhyletischen Objektivierung im Sinne Husserls bedeuten, wodurch sich der Affekt an der Geschichte oder Genese der Subjektwerdung reibt, um eine Art naturalistische Transzendentalität ins Werk zu setzen. Aber solche noumenalen Umdeutungen als Bewegungsempirie von Begehren (désir) und sinnlichem Werden können damit gegen die metaphysisch ontologischen Trugbilder der Vergangenheit nicht die eigene weiter bestehende metaphysische Ontologie verbergen, welche zudem eine des hypostasierten Unbewussten ist, bzw. eben auch eines dekonstruktiv aufgeklärten »Vitalismus«. Denn das Leben ist bei Deleuze ein Empfinden, welches sich zwar als Intensität erfährt, ohne uns jedoch zu sagen, aus welcher inner-eidetischen Notwendigkeit heraus diese Korrelation von Leben/Empfinden phänomenologisch gegeben sein muss. Steht »hinter« dem Sinnlichen der Empfindung eine unsichtbare Kraft, durch welche das Gegebene »gegeben« wird, dann ist solche Unsichtbarkeit wie Gebung als unverzichtbar auszuweisen, denn die Frage »Was tut sich hier?« anstelle von »Was ist hier?« kann nicht bereits als vollgültige Antwort auf den Unsichtbarkeitscharakter der

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Wiederholung und Immanenz als »Intensität« gemäß Gilles Deleuze

(problematischen) organlosen Produktion in ihrer Stufung genommen werden. 23 Eine Philosophie der Aktion, um Differenzen gesellschaftlich oder literarisch im Diskurs gegen bloßes Interpretieren hervorzubringen, ist nicht schon dadurch weniger Ontologie, weil sie postmodern als eine solche Forderung der dekodierten oder neu situierten »Wiederholung« auftritt. Im Ruf nach einer »anderen Praxis« muss zumindest das Bewusstsein gegeben bleiben, dass auch sie »etwas« für sich in Anspruch nimmt, was sie nicht selbst produziert – und dafür steht der rein phänomenologische Lebensbegriff in seiner radikalen Immanenz, welche im Sinne Michel Henrys nicht nur die Immanenz einer Verteilung von Differenzen als Intensitäten sein kann. Denn erneut bleibt gegenüber postmodernem (De-)Konstruktivismus zu fragen, was ermöglicht das Dif-ferieren als solches? Mit anderen Worten verlangt jede Reflexion über die Wiederholung eine Berücksichtigung des konkret Potenziellen, insofern auch jedes Neue das Wiederholen einer »transzendentalen Habitualität« voraussetzt, damit ein Können des Wiederholens als Vollzug selbst möglich sei. Will man diese Frage weder ausschließlich zeitlich-ontologisch noch naturalistisch oder vitalistisch bzw. bloß metaphorisch beantworten, wie es das Sprechen von einer »unbewussten Schicht« oder einem »organlosen Körper« nahe legt, dann bleibt nur der Weg einer reinen Lebensanalytik, die sich ihr Ziel nicht von einem vorherigen (monistischen wie gesellschaftskritischen) Praxisprimat vorschreiben lässt.

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Begehrender Wille und fragmentierte Immanenz im »nomadischen Denken«

Dass Deleuze trotz dieser kritischen Einschränkung etwas Wesentliches an der Lebensphänomenalisierung gesehen hat, haben wir als Parallele zur materialen Phänomenologie Henrys bereits durchscheinen lassen. Will sich das Leben selbst, so bejaht es sich in seinem Grégory Jean diskutiert einen »phänomenologischen Vitalismus« innerhalb seiner Untersuchung zu »Kraft und Zeit«, aber er kommt nicht auf Deleuze zu sprechen, um gerade den Henryschen Lebensbegriff genauer vom Konzept des »Vitalismus« zu trennen; vgl. Force et temps. Essai sur le »vitalisme phénoménologique« de Michel Henry, Paris, Herrman 2015. Zur Kritik vgl. R. Kühn, »Einleitung: Vitalismus oder reine Potenzialität?«, in: M. Henry, Können des Lebens. Schlüssel zur radikalen Phänomenologie, Freiburg/München. Alber 2017, 9–27.

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Begehrender Wille und fragmentierte Immanenz im »nomadischen Denken«

Wollen als Begehren um seiner selbst willen. Und wenn es sich nicht in den Sinnmanifestationen erschöpft, so ist damit auch gegeben, wie Deleuze und Guattari im »Anti-Oedipe« gemeinsam unterstreichen, dass es sich nicht um den Mangel herum gruppiert, wie dies das analytische Denken Lacans zur selben Zeit annimmt. 24 Terminieren diese freien, weil ungedachten und undenkbaren Kräfte durchaus in der Welt als Schöpfung dieser aktiven Kräfte, so bleibt doch durch die Aufhebung der ödipalen Mangelkonstellation ein Wesenszug des Lebens getroffen, insofern es sich selbst Erfüllung ist. Die Einschränkung auf einen Welthorizont erscheint dabei allerdings als zu zahlender Tribut für ein vorgegebenes transzendentales Feld der Differenzen, insoweit Dif-fere(ä)nz den phänomenologischen Weltcharakter schlechthin ausmacht, der sich dann als »Telos« wiederholt, auch wenn diese Zielintention nicht mehr der reflexiven Selbstidentifizierung Vorschub leisten will. Dies ändert sich des Weiteren auch nicht dadurch, dass die sich fortschreibenden Differenzen in ihrer Wiederholung mehrere heterogene Weltprozesse auf einmal initiieren können, die keiner vorgegebenen Hierarchie entsprechen, sondern allein der energetisch intensiven Begehrensproduktion folgen, so dass jeder seine »eigene Welt« besitzt. 25 Und in diesem Sinne bedeutet die Schizophrenie für die beiden genannten Autoren keine psychologische Regression, sondern einen positiven Prozess affektiver Produktion von imaginären Verbindungen in einer uneingeschränkten Expansion und Vervielfältigung, ohne damit allerdings analytisch-therapeutisch ein letztes Wort über die Schizophrenie gesagt zu haben. 26 Denn phänomenologisch gesehen, ist die Möglichkeit von imaginären Welten in ihrem Nebenund Miteinander prinzipiell kein Heraustreten aus der »Welt« als solcher, und wenn hierbei die freie Variation mehr betont wird als die Zur Kritik an Lacan und der Psychoanalyse im Allgemeinen vgl. G. Deleuze, Deux régimes de fous, 56 f. (zusammen mit Lyotard) u. 72–79: »Quatre propositions sur la psychoanalyse«, wo besonders die Beschränkung des Begehrens (désir) durch eine rigide ödipale Deutung hervorgehoben wird. Zum Vergleich auch S. Till, Die Stimme zwischen Immanenz und Transzendenz. Zu einer Denkfigur bei Emmanuel Levinas, Jacques Lacan, Jacques Derrida und Gilles Deleuze, Berlin, Transcript 2013. 25 Vgl. dazu Alliez, La signature du monde, ou Qu’est-ce la philosophie de Deleuze et Guattari?, Paris, Cerf 1993; zur Art und Weise der gmeinsamen Redaktion mit Félix Guattari vgl. G. Deleuze, Deux régimes de fous, 217–220. 26 Vgl. H.-J. Möller u. A. Deister, »Schizophrenie«, in: H.-J. Möller, G. Laux u. H.-P. Kapfhammer (Hg.), Psychiatrie und Psychotherapie, Berlin – Heidelberg – New York, Springer 22003, 1051–1122. 24

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Wiederholung und Immanenz als »Intensität« gemäß Gilles Deleuze

unbewusste Errichtung solcher Welten, dann liegt darin ein zentrales Moment der lebendigen Einbildungskraft als »Selbstobjektivierung« des Lebens, welches zwar niemals mit einer Vorstellung oder einem Bild identisch ist, aber doch in solcher Variation sich selbst zu ergreifen versucht, wie es besonders die Kunst zu illustrieren vermag. 27 Nun scheint es andererseits kein rigideres System der Wiederholung zu geben als die Sprache (langue) mit ihren grammatikalischen und lexikalischen Vorgaben, selbst wenn sie als gesprochenes Wort (parole) die freie Wahl und individuelle Färbung erlaubt. Aber Deleuze versucht, seine Sprachphilosophie in seine Affektphilosophie von Begehren und Intensität zu integrieren. Durch die (stoische) Unterscheidung von Ursache und Effekt lassen sich die schon bekannten Bereiche von Körper und Ereignis in ihrer Unterschiedlichkeit herausstellen. Letztere beiden sind die äußere Bedingung für Sprache, insofern Sätze »ausgedrückt« und Sachverhalten »zugeschrieben« werden, und Ereignisse als Effekte sind unkörperliche Transformierungen, welche Körpern zugesprochen werden: Ein Richterspruch macht so unmittelbar aus einem bisher nur Verdächtigten einen Verurteilten. Jeder Satz ist in diesem Sinne »redundant« für Deleuze, weil er immer auch einen Befehl oder einen nicht-körperlichen Akt ausdrückt, wodurch die linguistischen Modelle von Information und Kommunikation in Frage gestellt werden, weil eben ihre Finalität weder in der einen noch der anderen Funktion bestehe, sondern in der Weitergabe von Befehlen. Das kollektive Zusammenspiel der Sätze ist daher jenes Ensemble, welches die nicht-körperlichen Veränderungen regelt, welche in einer gegebenen Gesellschaft den Körpern zugesprochen werden. Dass es mehrere solcher »semiotischen Maschinen« gleichzeitig geben kann und auch das »Ich« oder »Selbstbewusstsein« nur das Resultat solcher Zuschreibung von mir auf meinen Körper wären, liegt nach dem bisher Gesagten bei Deleuze auf der Hand, denn die nicht-körperlichen Zuschreibungen gelten Handlungen wie Leidenschaften, um sie unmittelbar zu verändern. 28 Vgl. M. Henry, Die Barbarei. Eine phänomenologische Kulturkritik, Freiburg/ München. Alber 1994, Kap. 2: »Die Kunst als Wissenschaftskriterium«; Inkarnation, Kap. 14: »Die Frage der ›bildlichen Gegebenheit‹ des unsichtbaren Lebens«. 28 Vgl. im Einzelnen Logique du sens, Paris, Minuit 1969. Im Rückblick sagt Deleuze zu diesem Buch, dass darin die Reihung der Oberflächen, eine Art »Kino-Philosophie« und eine Schizo-Analyse vorbereitet wurde, welche Intensität und Ereignisse von der »Tiefe« löst, um sich dem Rhizom ohne Wurzelgrund anzunähern; vgl. Deux régimes de fous, 58–60: »Note pour l’édition italienne de Logique du sens« (1976). 27

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Begehrender Wille und fragmentierte Immanenz im »nomadischen Denken«

Dadurch verleiht die Leidenschaft (passion) dem Lebendigen im eigentlichen Sinne dessen Existenz, während das Welthafte die mögliche Struktur dazu im Sinne einer intensivierten Subjektivität bildet Die Wiederholungen wirken hier daher als Deterritorialisierung und Reterritorialisierung, wodurch sich die Differenzierungen – wie im Denken Foucaults von Sprache/Macht – verlangsamen, beschleunigen oder sedimentieren können. Die Sprache ist aus diesem Grund kein homogenes System, welches im Sinne des Strukturalismus den Dingen oder Affekten transzendent wäre, sondern sie setzt sich mit ihnen gemäß der unendlich variierenden Immanenz der Begriffe zusammen. In diesem Sinne lässt sich dann insgesamt festhalten, dass der Pluralismus ein Monismus sei, wie es eine »Philosophie des Willens« seit Spinoza nahe legt. Das Werk »Logique du sens« von 1969 knüpfte deshalb unmittelbar an »Différence et répétition« (1968) an, um die normativen Regelungen der bisherigen Metaphysikordnung weiterhin zu durchbrechen. Und so wie die Wiederholung nicht an ein Identisches gebunden sei, so ist auch der Sinn, wie er in der Sprache zum Ausdruck kommt, keine Qualität. Denn diese bezieht sich nicht intentional auf einen zu erfüllenden Inhalt oder Grund bzw. auf eine Relation im bedeutungsrelevanten Sinne, sondern der Sinn besitzt eine Zwitterstellung zwischen bewusstem und unbewusstem Denken (das Deleuze Phantasma nennt) sowie dem oben schon erwähnten »Ereignis« als dem eigentlich tätigen Denkakt. Damit scheidet der Sinn für eine bloße »Wieder-Darstellung« als Re-präsentation von absolut identischen oder logischen Beziehungen aus, wie schon Deleuzes frühe Hauptthese lautete, um durch die Vereinigung von Phantasmen und Ereignis die nomadisch zirkulierenden Differenzund Kraftfelder punktuell miteinander zu verbinden. Dies entspricht auf der Ebene der Sprache deren Verbindung mit eben solchen immanenten Affektintensitäten des Denkens und Empfindens, weshalb die »Sinnproduktion« folglich auch eine unmittelbare Affinität zum Paradox und Nicht-Sinn aufweise, was sowohl an das Phantasma des »Objekts a« wie dem damit gegebenen a-sens (Ab-sinn) bei Lacan erinnert. 29 Denn der begehrende wie unbewusst gerichtete Wille der intensiv-imaginären Weltschöpfung ist dem statischen Subjekt/ObjektVerhältnis entzogen, um sich stattdessen im postmodernen VerVgl. A. Badiou, »Formeln des Etourdit«, in: A. Badiou u. B. Cassin, Es gibt keinen Geschlechtsverkehr. Zwei Lacanlektüren, Zürich, Diaphanes 2012, 91–120, hier 98 f.

29

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Wiederholung und Immanenz als »Intensität« gemäß Gilles Deleuze

ständnis eben als Intensität gemäß der Verbindung von Phantasma/ Ereignis zu bekunden. Die Begehrensstruktur als Sprache und Sinn bleibt daher aufgrund ihrer unbewussten Herkunft an-archisch wie dif-ferentiell, womit sich Deleuze (wie Derrida mit seinem Différance-Gedanken und Heidegger mit seinem Ereignis als zeitlichem »Zuspiel«) vor allem vom Begriff eines inneren Grundes trennen will, der seit Leibnizscher Formulierung desselben eine ultima ratio abgeben soll. Da die intensiven Sinnströme demnach keine einigende Ursache besitzen, ist der Sinn weder erinnerbar noch stereotyp wiederholbar, sondern in seiner unberechenbaren Energie gerade frei schöpferisch. Dadurch besitzen weder Sprache noch Sinn oder die Wiederholung ein »Wesen«, und ihr Geschick spielt auch nicht zwischen Identität und Kontingenz, wie in der klassischen Metaphysik, sondern sie drücken die durch den Vollzug des Willens bejahten Phantasmen ohne eine territorial oder philosophisch vermessbare Wahrheit aus. Was mithin an die Stelle der »Logik des Sinns« treten soll, ist so letztlich eine »Ethik des Ereignisses«, das heißt die erwähnte Praxis der Veränderung als nie dieselbe Wiederholung von einmaligen Differenzen. 30 Letztere Mannigfaltigkeiten sind folglich als »Realität« ohne Einheit und ohne Subjekt und gehen auch in keine finale oder axiologische Totalität ein, das heißt als an-archisch unabgeschlossene Prozesse sind sie ebenfalls ohne jede umfassende bzw. antizipierte Teleologie im Sinne der Postmoderne. Dadurch werden alle Akte der Vereinheitlichung wie Subjektivierung erst im fließenden Wollen selbst hervorgebracht, um darin wieder zu verschwinden, so dass die ethische Frage der Tradition nach einem letzten »Höchsten Gut« zugunsten des »Je-Neuen« entschieden wird. Konventionen und Institutionen sind künstlich konstruierte Kraftdispositionen mit dem symbolisch zentrierten Anspruch auf allgemeingültige Vereinheitlichungen, weshalb eben die zuvor erwähnte Schizophrenie als ein subversives Durchkreuzen von solchen künstlichen Trennungen wie Bewusst/Unbewusst, Natur/Geschichte oder Körper/Seele in Anspruch genommen werden konnte. Infolgedessen tritt auch »Frag-

Für den Bereich der Literatur vgl. auch dementsprechend G. Deleuze, Proust et les signes, Paris, PUF 1996; als Anwendung auf Film und Bild Cinema I–II, Paris, Minuit 1983–1985 (dt. Das Bewegungsbild. Kino I, Frankfurt/M., Suhrkamp 1989; Das ZeitBild. Kino II, Frankfurt/M., Suhrkamp 1991).; dazu ebenfalls M. Schaub, Gilles Deleuze im Kino. Das Sichtbare und das Sagbare, München, Fink 2003. 30

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Begehrender Wille und fragmentierte Immanenz im »nomadischen Denken«

mentierung« des Sinns an die Stelle von »Kanalisierung« und »Territorialisierung« durch gesellschaftliche Ordnungsmächte, um die Befreiung zur Unmittelbarkeit des Ereignisses zu gewinnen – und zwar als Möglichkeit von Denken und Handeln »auf tausend Ebenen« (mille plateaux) zugleich. Damit ist eindeutig ein postmodernes Philosophieverständnis insgesamt impliziert, welches ein »nicht-denkendes Denken« intendiert, um die Begriffsbildung selbst, wie nunmehr einsichtig, als ein »Immanenzerleben« des Denkens zugänglich zu machen: »Der Begriff ist nicht gegeben, er ist geschaffen und muss geschaffen werden, er setzt sich selbst in sich selbst. Der Begriff ist der Umriss, die Konfiguration, die Konstellation eines künftigen Ereignisses.« 31 Da objektiver, subjektiver wie intersubjektiver Idealismus nach allem bisher Ausgeführten für eine weitere zukünftige Bestimmung der Philosophie ausscheiden, insofern diese deskriptiv-ontologisch wie empirisch-anthropozentrisch orientiert sein sollte, werden nach Deleuze und Guattari ihre bisherigen Bestimmungen als Kontemplation, Reflexion oder Kommunikation durch die Freundschaft ersetzt, 32 welche Wille, Gefühl und Denken in einem umschließt, das heißt schöpferische Produktion, intensive Durchdringung und gegenüberstehende Selbsterfassung von Ideen in ihrer dynamisierten Begriffsform. Im diachronischen wie synchronischen Durchgang dieser drei genannten »Methoden« werden lebendige Vollzugszusammenhänge »untrennbarer Variationen« sichtbar, die wirklicher sind als bloße Namen, da sie durch die »Begriffsperson« (personnage conceptuel) der Subjekte als individuelle Sinn- und Lebensvollzüge, mit anderen Worten als qualifizierende »Denkdispositionen«, begriffliche Realität erhalten, was wir im letzten Teil dieses Kapitels unter stärkeren methodologischen Gesichtspunkten weiter aufgreifen werden. Am Ende kommen Deleuze und Guattari aber dennoch nicht umhin, explizit ein »transzendentales Erleben« in Anspruch zu nehmen, sofern das originäre Ereignis der Begriffsbildung trotz allem »innere Gegenwart von Denken« bedeute, und zwar als Selbstvollzug des Individuums und als Welterzeugung wie Weltaneignung, mithin von Sinn und Sein als objektivem Begriffsinhalt und subjektivem BeQu’est-ce que la philosophie?, 32; vgl. R. Benedikter, »Gilles Deleuze«, in: F. Volpi (Hg.), Großes Werklexikon der Philosophie I, Stuttgart, Kröner 1999, 355–360. 32 Wie dies auch beim späten Derrida aufgegriffen wird; vgl. Politiques de l’amitié, Paris, Galilée 1994 (dt. Politik der Freundschaft, Frankfurt/M., Suhrkamp 2000). 31

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Wiederholung und Immanenz als »Intensität« gemäß Gilles Deleuze

griffsvollzug. Damit verifiziert sich, dass die »Wiederholung« als freie Selbsttätigkeit zumindest eine Ontologie praktischer Vereinheitlichung voraussetzt, auch wenn diese keine länger logisch gegebene Erkenntnis oder Repräsentation mehr sein soll, sondern Erkenntnis, welche nicht mit dem Sachverhalt verschmilzt, in dem sie sich verkörpert – weil sie »Ereignisse« aus den Dingen und Entitäten freisetze. Auch dieser postmoderne Differenzgedanke als »Konstruktivismus« bleibt somit selbstbeobachtendes Denken, um die Empirie der Immanenzebene des Denkens zur Wirklichkeitskonstituierung sui generis zu nutzen, womit die klassische Figur der schauenden Distanz als Theorie und der weltbildenden Produktion durch das Bewusstsein trotz allem beibehalten ist, um eben eine Ontologie epistemologischer Praxis (im Bereich der Philosophie) zu bleiben, auch wenn enzyklopädische Objektivierung (Hegel), kategorial subjektive Vermittlung (Kant) und funktionale Begrifflichkeit (Moderne) damit überwunden sein sollen. Die Einheit der vitalisierten immanenten Begriffsebene im Sinne von G. Deleuze bleibt mit anderen Worten eine Variante der in der griechischen Philosophie vorentworfenen Einheit von Denken/Sein, auch wenn sie hier »energetisch« erstrebt wird und neue Denkmöglichkeiten für die Zukunft eröffnen soll. Versetzen wir uns daher an den neuralgischen Punkt der vorliegenden Diskussion, das heißt in der Tat diesseits von transzendenter Sinnidentität und vorgestellten Selbstbildern des Subjekts, dann lautet zunächst die rein lebensphänomenologische Frage, wie Wiederholung im Zusammenhang mit einem behaupteten Unbewussten möglich sei, welches bei Deleuze zugleich als denk- wie willensimmanente Kraft und Intensität definiert wird. Soll das Unbewusste nämlich nicht nur ein Reservoir von Vorstellungen in der Latenz sein, wie auch Freud es weitgehend sah, so bleibt der immanente Konnex von Unbewusstem/Kraft selbst zu denken, und zwar als ein wirkender oder praktischer Konnex. Kennt »sich« nämlich das Unbewusste selbst nicht als Kraft, so ist es auch keine solche Kraft, oder es bezöge diese Effektivität, als Kraft zu »wirken«, auf mirakulöse Weise von anderswo her. Handelt es sich jedoch um eine Kraft, welche nur »unbewusst« für das Denken der Repräsentation ist, dann muss konsequenterweise das Transzendenzfeld des Denkens als Erscheinensvoraussetzung eingeklammert werden, um einen anderen, eigenen Phänomenalisierungsmodus der Kraft zu analysieren, welcher mit dem Leben und dessen Intensität als Sich-Selbst-Wollen identisch ist, und zwar in der originären Passibilität dieses Sich-Selbst-Affizierens 236 https://doi.org/10.5771/9783495820537 .

Begehrender Wille und fragmentierte Immanenz im »nomadischen Denken«

als ständiger »Wiederholung« von Sich-Ertragen und Sich-Erfreuen in ihrer je individuierten »Kontinuität« als transzendentaler Affektivität. 33 Solche Kontinuität als Wiederholung eines stets singulären Lebens muss, falls sich die einzelnen »Akte« der Selbstphänomenalisierung nicht über einem Ab-grund des »Nichts« (der Zeit oder der Formalität des Wesens in seiner bloßen Möglichkeit) phänomenalisieren sollen, eine Habitualität besitzen, welche aufgrund der immanenten Passibilität jedes Sich als Investitur mit dem absoluten Leben zugleich auch Potenzialität sein lässt. Diese Korrelation (oder besser nichtintentionale Reziprozität) von Ohnmacht/Mächtigkeit in der reinen Transzendentalität der Selbstphänomenalisierung des individuierten Lebens entspricht der unmittelbaren Selbsterprobung des Lebens und dessen Intensität als Wiederholung oder Bedürfen/Begehren seiner selbst im Sinne des zu Beginn dieses Kapitels genannten SichSelbst-Wollens. Akzeptierte man nämlich nur eine Habitualität im Sinne sedimentierter Akte als sekundärer Passivität wie bei Husserl, 34 dann bliebe in der Tat immer noch zu klären, wie das Leben in seinem apodiktischen Anfang unmittelbar absolutes Können und Wiederholung zu sein vermag, ohne auf eine bereits operative Intentionalität oder logische Möglichkeit zurückgreifen zu dürfen, da diese metagenealogisch gerade auszuweisen bleiben. Auch alle energetischen Ströme, Fluktuierungen und Differenzierungen wie bei Deleuze setzen dieses genannte Grundgeschehen voraus, welches somit weder transzendent noch empirisch oder vitalistisch zu sein vermag, aber auch kein »Ereignis« im Sinn einer kontextuellen Sinnerneuerung. Ein »organloser Körper« fungiert in einem solchen Zusammenhang (wenn man zunächst die Problematik der Organizität als inneres Widerstandserlebnis beiseite lässt) dennoch als ein originärer Leib, dessen absolute Subjektivität als immanent subjektive Praxis (und nicht als Vorstellung) darin besteht, alle Vgl. dazu im Einzelnen auch R. Kühn, Begehren und Sinn. Grundlagen für eine phänomenologisch-tiefenpsychologische fundierte Psychotherapie und Supervision – zugleich ein Beitrag zu Jacques Lacan, Freiburg/München, Alber 2015, 95 ff. 34 Vgl. R. Kühn, Husserls Begriff der Passivität. Zur Kritik der passiven Synthesis in der Genetischen Phänomenologie, Freiburg/München, Alber 1998, 333 f. Außerdem H. Goto, Der Begriff der Person in der Phänomenologie Husserls. Eine Interpretation der Husserlschen Phänomenologie als Ethik im Hinblick auf den Begriff der Habitualität, Würzburg, Königshausen & Neumann 2004; Alter. Revue de phénoménologie 12 (2004): L’habitude. 33

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Wiederholung und Immanenz als »Intensität« gemäß Gilles Deleuze

möglichen praktischen wie theoretischen Intentionalitäten oder Weltentwürfe in sich habitualisiert zu besitzen, weil der originäre Leib die materialisierte oder verfleischlichte Weise des Lebens darstellt, welchem aufgrund der originären Reziprozitätsverhältnisse in der Immanenz nie eine Leiblichkeit (als »Fleisch«) fehlt – und so in der Tat ein ganz anderes, radikal anfängliches Cogito bildet als das innerhalb der Vorstellungstradition kritisierte. Ist im rein phänomenologischen Leben nach Michel Henry alles »Wirklichkeit« (und niemals bloß Metaphorik oder Un-Bewusstes bzw. nur widerspruchsfrei zu Denkendes im Sinne von »Möglichkeit der Erfahrung« bei Kant), so bedeutet die Selbstbewegtheit eines solch autonomen Lebens in seiner Selbstphänomenalisierung genau ein Sich-Bewegen, worin konkret alle Formen des Greifens, Gehens, Schauens, Einbildens usw. gegeben sind. Diese »innere Apperzeption« rein praktischer Natur, wie Pierre Maine de Biran gezeigt hat, 35 impliziert – von Seiten der Wiederholung her gesehen – ein leibliches Gedächtnis, welches als Habitualität im transzendentalen Sinne angesprochen werden kann. Da der originär subjektive Leib als mein eigener zugleich Leben – und nur selbstaffektives Leben – ist, besitzt dieses primordiale Gedächtnis auch kein Erinnerungsvermögen im retentionalen Sinne, sondern jede durchlaufene oder zu durchlaufende Bewegung bleibt an die konkrete Vollzugsmöglichkeit des Sich-Bewegen-Könnens zurückgebunden, welches auch noch vor allen Kinästhesen liegt, sofern die originäre Selbstbewegtheit aus der pathischen Intensität des sichselbst-bedürfenden Lebens stammt, und nicht aus einem intentionalen Wollen, auch wenn dieses »triebhyletisch« im Husserlschen Sinne sein sollte. Als ein rein immanenter Prozess ist jenes genannte Können daher niemals erst Wollen (Potenz) und dann Akt, sondern vielmehr unmittelbar transzendentale Verlebendigung aller »Akte« in der wirkhaften Potenzialität des Akthaften schlechthin. Somit gibt es keine verdoppelnde Wiederholung in dieser originär phänomenologisch-ontologischen Habitualität, sondern die Habitualisierung ist das »Sein« des Könnens als lebendige Selbstbewegtheit diesseits eines sich erinnernden Gedächtnisses, welches bereits dem intentionalen Bewusstsein angehört. In seinem Vollzug thematisiert sich der Leib

35 Vgl. Influence de l’Habitude sur la faculté de penser (Hg. P. Tisserand), Paris, PUF 1954, 14 ff.; Von der unmittelbaren Apperzeption. Berliner Preisschrift 1807, Freiburg/München, Alber 2008, 310 ff.

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Begehrender Wille und fragmentierte Immanenz im »nomadischen Denken«

in der Tat niemals selbst, und jede (Selbst-)Wahrnehmung desselben ist bereits eine Pro-jektion in die Transzendenz als objektivierter Körper unter anderen Weltkörpern, so dass die reine Immanenz des Leibes folglich ein Wissen um sich selbst als subjektives Vermögen darstellt, welches nie in ein Horizontwissen eingeht – und dennoch, bzw. gerade deshalb, wirkmächtig ist. Gibt es diese fundamentale Heterogenität zwischen Welt und Leben als zwei unterschiedlichen Phänomenalisierungsweisen (die eine in der Indifferenz der Ver-äußerung für alle Onta und das andere in der prinzipiellen Versinnlichung allen Geschehens fundiert), dann sind die gesamte Welterscheinung sowie ihre einzelnen Inhalte in der Selbstbewegtheit des Leibes als Habitualität gegeben, da die Zugänglichkeit zur Welt – ihre ekstatische Eröffnung als solche – in der konkreten Bewegungspotenzialität selbst ruht. Ergreife ich beispielsweise einen Gegenstand, so gibt es auf der einen Seite Erkenntnis und Wiedererkenntnis dieses Gegenstands als auch andererseits unmittelbares Leibwissen um die entsprechende Handbewegung als Bewegung sowie »Ich-Apperzeption« der damit verbundenen Kraft im kontinuierlichen Widerstandserlebens des zugreifend Berührten. Da Erkenntnis und Wiedererkennen identisch sind, insofern es nur einen »Akt« der Bewegung gibt und sich kein thematisierendes Wiedererinnern dazwischen schaltet, ruht gerade in dieser »Identität« als »Wiederholung« solchen Ergreifens – von einst und jetzt sowie zukünftig – die Habitualität als ontologisches Vermögen im Sinne der prinzipiellen Welterschließung. Und da es keine Vorstellung von einem »gleichen« Greifen in der Vergangenheit gibt, wenn ich den Gegenstand in diesem Augenblick berühre, sind folglich alle Zeitekstasen in einer solchen Leibbewegung suspendiert, weshalb die Habitualität als ausschließliches Leibgedächtnis im Vollzug innerhalb des reinen Sich-Selbst-Wollens des Lebens die volle ontologische Dignität auch als Weltphänomenalisierung besitzt. Betrachte ich auf der anderen Seite diese an sich originär immanente Kraftentfaltung der Hand als eine Bewegungsfigur im Raum, so könnte ich durch die bloß wahrgenommene Ortsveränderung der Hand nie verstehen, wie es zu einem effektiven Ergreifen kommt, da letzteres ausschließlich in der Potenzialität einer habitualisierten Kraft liegt. 36

Vgl. M. Henry, Philosophie et phénoménologie du corps. Essai sur l’ontologie biranienne, Paris, PUF 1965, 128 ff., sowie Inkarnation, Kap. 27 ff.

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Wiederholung und Immanenz als »Intensität« gemäß Gilles Deleuze

Zu keinem Augenblick gibt es bei diesem Vollzug irgendein »Un-Bewusstes«, denn als bewegende (oder im anderen Fall als ruhende) »weiß« die Hand um die Zielgerichtetheit ihres Tuns, ohne eine explizite Bedeutungsreferenz des Gegenständlichen daran zu binden. Ist aber alles sinnhafte Geschehen in der Welt als subjektiver Intentionalbezug bis zu einer solch originären Habitualität als Potenzialität hin gegenreduktiv aufrollbar, dann sind auch die Energien, welche begehrensmäßig oder motivational damit verbunden sind, niemals unbewusst, sondern stets immanent »sich wissende« lebendige Modalisierungen im Zusammenhang mit der Bewegungseffektivität, sofern Bewegung nicht primär Ortswechsel im Raum bedeutet, sondern die innerste Offenbarung des Lebens an sich selbst in seinem Sich-Affizieren. Erst im interpretierenden Blick auf unser Tun, das heißt als festgestellte Handlung in der Welt, kann sich daher zwischen Motiv und Ziel die Deutung einer un-bewussten Herkunft, einer frei fluktuierenden oder einer reaktiv gehemmten Vollzugsweise einschieben. Daher bleibt es bei Deleuze und anderen postmodernen Denkern (Bataille, Lacan, Foucault) problematisch, eine so genannte ursprüngliche (und subjektlose) Energieverteilung oder -konzentration anzunehmen, welche zuerst unbewusst wäre, um dann zu einem »Ereignis« des Neuen oder Veränderten zu werden 37 – denn diese Sichtweise gilt nur unter dem Primat der Sinnobjektivierung, welche als Apriori gerade aufgehoben sein sollte. Man kann daher nicht gleichzeitig eine Immanenz und ein Unbewusstes beschwören, um den »Sinn« gegen die Immanenz auszuspielen, wenn letztere aufgrund des postulierten Unbewussten implizit von der Vorstellung »im Werden« her gedacht bleibt. Im übrigen lässt eine postulierte »Pluralität als Monismus« gar keine andere Möglichkeit zu, insofern singuläre Pluralität als Differenz immer Teilung bedeutet, welche ihrerseits nur Teilung von »etwas« sein kann, anders gesagt eine vorgegebene Weltidee, auch wenn dies als Latenz von unbewussten Energiemengen oder -serien vom Punkt Null der Körperintensität aus konzipiert wird.

37 Vgl. für den Zusammenhang von Ereignis, Differenz. Anruf und Geburt im Feld von Phänomenologie und Dekonstruktion bei Heidegger, Maldiney, Romano, Nancy, Arendt, Levinas und Marion weiterführend J. Reaidy, Michel Henry – la passion de naître. Méditations phénoménologiques sur la naissance, Paris, L’Harmattan 2009, 105–146; M. Schaub, Gilles Deleuze im Wunderland. Zeit als Ereignisphilosophie, München, Fink 2003.

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Transzendentalität, Empirismus und Anti-Dogmatismus

3.

Transzendentalität, Empirismus und Anti-Dogmatismus

Ist deutlich geworden, dass es nicht der welthaften Differenz bedarf, um die Wiederholung als eine originäre Habitualität zu denken, welche die affektive Mannigfaltigkeit als Vielgestaltigkeit nicht ausschließt, so gilt Gleiches für die damit verbundene Subjektproblematik. Ein Cogito als die rein phänomenologische Reziprozität der Henryschen Immanenz von Leib/Leben ist dann in der Tat zugleich ein Cogito der Habitualität wie der Spontaneität, wenn man diesen Begriff aus der Anschauungssynthesis Kants auf dieser Ebene gelten lassen will. Vollkommen in das absolute Leben eingetaucht, so dass er dessen fleischlich materialisierte Selbstaffektion als Selbsterprobung darstellt, ist der Leib als unmittelbar lebendiges Memorial der Bewegungshabitualität eine Transzendentalität, welche zugleich umfassende Potenzialität eines »Ego« auf der Grundlage der Transpassibilität des originären »Mich« ist. Wenn Husserl in seinem Spätwerk die mögliche Erweiterung transzendentaler Erfahrung zuließ, 38 so wie Heidegger auch die Möglichkeit weiterer Existenzialien als die in »Sein und Zeit« beschriebenen, so befinden wir uns hier gegenreduktiv auf einer solchen Ebene, die auch Deleuze durch seinen »empirischen Konstruktivismus« intendiert. Denn ist das originärste Cogito gleichursprünglich als Habitualität/Potenzialität zu denken, dann ist der damit behauptete transzendentale Zusammenhang die über Kant und seine Nachfolger hinausgehende Bestimmung von Erfahrbarkeit überhaupt, sofern letztere alle subjektiv transzendentalen Leistungen als Lebensmodalisierungen voraussetzt. Zugleich ergibt sich damit die Möglichkeit in ihrer Gänze, nicht nur immanente Einheit und Identität ohne Sinnzwang zu denken, sofern das Identische wie Geeinte in der Leib/Lebens-Reziprozität ruht, sondern eben eine rein praktische Transzendentalität schlechthin, welche sowohl den abendländischen Bedeutungsmonismus wie dessen postmoderne Differenzkritik unterläuft. Weil sich nämlich aufgrund der Leib/Lebens-Kohäsion jeder Akt in seinem Vollzug unmittelbar als das habitualisierte Vermögen dieses Aktes selbst gibt, um dergestalt eine direkte Kenntnis davon zu haben (wie Descartes 39 in der vierten Antwort auf Einwände von ArVgl. dazu E. Fink, VI. Cartesianische Meditation. Teil I: Die Idee einer transzendentalen Methodenlehre (Husserliana-Dokumente 2), Dordrecht, Kluwer 1988. 39 Vgl. Œuvres IX-1 (Hg. Adam/Tannery), Paris, Vrin 1973, 190: »Wir haben sicher38

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Wiederholung und Immanenz als »Intensität« gemäß Gilles Deleuze

nauld gegenüber den »Meditationen« erläutert), so umschließt gerade die Transzendentalität des lebendigen Leibwissens als ursprünglichstes Cogito diese Einheit von Vermögen/Akt als rein immanente Praxis diesseits aller Vor-stellung. Eingeklammert ist hierdurch der ungelöste Paralogismus des Unbewussten wie einer möglichen Rekognition, denn beim Unbewussten weiß ich nicht, ob das Cogito auch jemals wirklich sein Vermögen ergreifen kann, und bei der transzendenten Wiedererkennung bleibt zweifelhaft, ob das hierbei fungierende Ego jenes Vermögen wieder erkennen kann, welches es gerade für einen bestimmten Vollzug in Anspruch nimmt. Das »fleischliche Cogito« im genannten lebensphänomenologischen Sinne 40 beantwortet diese Problematik ebenso von vornherein wie die noch viel entscheidendere Frage, ob das Ego als solches überhaupt die Kraft besitzt, bzw. woher es sie beziehen könnte, um sich mit seinem »Vermögen« zu vereinen. Als Leben ist dieses Cogito diese Kraft selbst, welche es in seiner Passibilität der Lebensgeburt empfängt. Die damit ge-gebene Transzendentalität ist daher nicht mehr nur eine »Tendenz auf Welt hin« wie bei Husserl und Fink oder eine anonym empirische Energie wie bei Deleuze, sondern die tatsächliche Kraft jeder notwendigen Vermögenheit als Habitualität des leiblich-lebendigen Sich-Bewegen-Könnens. Berücksichtigt man innerhalb dieser rein praktischen Transzendentalität die Intensität als Selbsterprobung des Lebens im je individuierten Leib, 41 dann ist die Habitualität als prinzipielles Bewegungsvermögen zugleich das Sich-Wollen dieser Bewegung als Selbsterprobung durch die reine Intensität des Lebens in seinem Fleischlichsein als phänomenologischer Materialität im Sinne der Urphänomenalisierung. 42 Diese Transzendentalität ist dann weder mimetische Vorlich eine aktuelle Kenntnis der Akte und Vollzüge unseres Geistes, aber nicht immer seiner Vermögen, es sei denn nur der Möglichkeit nach, so dass wir, sofern dieses Vermögen in unserem Geist ist, sofort dessen aktuelle Kenntnis erwerben, wenn wir uns anschicken, uns irgendeines Vermögen zu bedienen.« 40 Zu diesem von M. Henry eingeführten Begriff vgl. Inkarnation, 212 f. 41 Vgl. bereits hierzu unser Kapitel »Intensität und Graduierung des Affektiven« als Auseinandersetzung mit Kant, Hegel und Husserl in R. Kühn, Individuationsprinzip als Sein und Leben. Studien zur originären Phänomenalisierung, Stuttgart, Kohlhammer 2006, 51–74. 42 Auch Deleuze kennt den Begriff des Sich (le Soi), verwendet ihn aber nur im Sinne des »Eigennamens« einer Individualität, welche sich im »Zwischen« (entre) der ereignishaften Subjektivierungen vollzieht und daher auch mit dem scholastischen Begriff der haecceitas belegt wird, mithin weiterhin eine Subjektivierung »ohne Subjekt«

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Transzendentalität, Empirismus und Anti-Dogmatismus

gabe noch ek-statisch dif-ferierendes Energie- oder Sinnfeld von letztlich thematisch möglicher Bedeutungserfüllung, sondern das Memorial der Immemoriabilität des effektiven Selbstvollzuges rein phänomenologischen Lebens. Als Leiblichkeit ist solch transzendentales Fungieren die Gesamtheit unserer tatsächlichen Vermögen (aber ohne Vorstellung) von körperlichen oder geistigen »Akten«, welche in der Re-präsentation – wie Deleuze 43 richtig betont – unmittelbar entwirklicht werden, bzw. mit anderen Worten keine »Kraft« mehr sind, sondern die Fragmentierung derselben nach den kategorialen Gesetzen der Pro-jektion im Gegenüber des Vorstellungsraumes. Die Möglichkeit dieser Akte im Sinne der Gesamtheit der Leib/ Lebens-Reziprozität ist dann keine bloß ideale Möglichkeit, welche niemals das »Setzen« als ein wirkliches Hervorbringen zu tragen vermag, wie Realontologie und Idealismus dies postulieren, sondern die »Realität« selbst als ontologische Potenzialität, welche die hier in Anspruch genommene praktische Transzendentalität ausmacht. 44 In solbedeutet, um so den Zusammenhang von Empirismus, Vielheit und Begriff festzuhalten. Denn der Begriff ist das »vielfache Sein«, welches im Buch Dialogues (zusammen mit C. Parnet), Paris, Flammarion 1977, den Übergang von der noch kantischen Untersuchung zu Anti-Œdipe (1972) mit dem »nachkantischen Buch« Mille Plateaux (1980) verband; vgl. Deux régimes de fous, 286 f. u. 289 f. Diese Frage des »Subjekts« als haecceitas fasst Deleuze daher auch als ein »transzendentales Feld« ohne Subjekt, welches »vor-individuelle Singularität« und »nicht-personale Individuierung« miteinander verbinde, um den Subjektbegriff eben im postmodernen Sinne sowohl von seiner Funktion der Universalisierung wie Individuierung zu trennen; vgl. Deux régimes de fous, 291 f., 327 f. u. 339. 43 Vgl. dazu auch zusammen mit F. Guattari, Rhizome, Paris, Minuit 1976 (dt. Rhizom, Berlin, Merve 1976). – Das Wurzelgeflecht von Pflanzen (Rhizome) dient hier als botanische Metapher für das postmoderne bzw. poststrukturalistische Modell der Wissensorganisation und Weltbeschreibung, wodurch die ältere Baum-Metapher für hierarchische Wissenstrukturen (etwa bei Descartes und Heidegger, aber auch allgemein als Taxonomien und Klassifikationen seit der Antike) abgelöst werden soll, was in Kulturwissenschaften, Medienphilosophie und Wissenschaftstheorie stark rezipiert wurde. Es sollen nämlich Dichotomien überwunden werden, um Querverbindungen (»Äste«) und das Überspringen von Hierarchieebenen zu ermöglichen, wodurch sich das Rhizom einer Beschreibungsmöglichkeit von Netzen annähert; das heißt, es gibt kein Raummodell mehr, sondern nur noch »Linien«. Scheinbar chaotische Verknüpfungen als Wege zwischen unterschiedlichen Plateaus sowie Perspektiven von befreiten Machtstrukturen können so als »Raumbild« reiner Immanenz verstanden werden, wie Deleuze letztere früh angedacht hatte. Vgl. dazu S. Heyer, Deleuzes und Guattaris Kunstkonzept: ein Wegweiser durch tausend Plateaus, Wien, Passagen 2001. 44 Zum Begriff der individuierten Subjektivität als Potenzialität vgl. M. Henry, Marx, t. I: Une philosophie de la réalité, Paris, Gallimard 1976, 264 ff.; Généalogie de la

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Wiederholung und Immanenz als »Intensität« gemäß Gilles Deleuze

cher Transzendentalität gibt es in der Tat nicht erst vorausgesetztes Vermögen und dann Akt, sondern als Habitualität ist sie die Gesamtheit des je erfahrbaren Seins im Leben des leiblich originären Könnens selbst. Will man letzteres mit Husserl sowie auch gemäß Maine de Biran schon unser fundamentales »Ich kann« nennen, so darf dabei jedoch nicht vergessen werden, dass dieses »Ich« nur auf der Grundlage der Passibilität des reinen »Mich« gegeben ist. Dieser Zusammenhang ist berücksichtigt, wenn man das urtümlich fleischliche Cogito eben als die materialisierte Reziprozität von Leib/Leben bestimmt – und nicht erst das Subjekt als zufällige Koinzidenz von Energie/Körper im »Ereignis« gemäß Deleuze entstehen lässt. Können sowie Ich im Rahmen einer solchen Transpassibilität als jeweils im modalisierten »Übergang« sich aktualisierende Habitualität der phänomenologischen Ur-Leiblichkeit im Sinne des lebendigen Cogito lässt dann im Grunde auch keinen Gegensatz mehr zwischen Transzendentalität und Empirie als zwei – für immer voneinander getrennten – Seinsweisen aufkommen, weil die hier analysierte »Empirie« die Weltphänomenalität als effektives »Korrelat« einer Kraftentfaltung des Lebens in seiner Potenzialität erprobt. Ruht, kurz gesagt, »Welt im Leben« und nicht umgekehrt, dann ist die gesehene Welt nicht die eigentlich »reale« Welt, sondern die Wirklichkeit der Welt ist jene transzendental sich stetig verschiebende Widerständigkeit, welche der Leib in der inneren Entfaltung seiner Potenzialität als Kraft erfährt. Widerstandserleben kann in der Tat nur im Zusammenhang mit Bewegung gegeben sein und nicht als eine noematisch sinnliche Eigenschaft am Weltgegenstand als »Phänomen« selber, so dass die Grenze der Resistenz eine sich verschiebende oder bewegliche ist – und genau diese ist als »Korrelation« der immanenten Kraft des Leibes die »Wirklichkeit der Welt«. 45 Hier von Empirie im üblichen Sinne zu sprechen, würde die Husserlsche Konstitutionsfrage zum unhintergehbaren Apriori der Phänomenalisierung erpsychanalyse. Le commencement perdu, Paris, PUF 1985, 387 ff.; Können des Lebens, 41 ff. 45 Vgl. zur Widerstandsanalyse in der jüngeren Philosophiegeschichte U. Kaiser, Das Motiv der Hemmung in Husserls Phänomenologie, München, Fink, 1997, 46–66, wobei allerdings die radikal phänomenologische Analyse inadäquat bleibt. Im Zusammenhang mit dem dabei gerade zu berücksichtigenden »Gefühl der Anstrengung« vgl. R. Kühn, Pierre Maine de Biran – Ichgefühl und Selbstapperzeption. Ein Vordenker konkreter Transzendentalität in der Phänomenologie, Hildesheim – Zürich – New York, Olms 2006, 40 ff.

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Transzendentalität, Empirismus und Anti-Dogmatismus

heben, während sich im Cogito der Ur-Leiblichkeit gerade nichts »konstituiert«, sondern ein Modus der absoluten Gebung analysiert wird, welcher sich keiner intentionalen Voraussetzung mehr verdankt, weil die reine Selbstphänomenalisierung des Lebens als praktische Transzendentalität fungiert. 46 Man könnte demzufolge eine »höhere Empirie« wie bei Schelling 47 in Anspruch nehmen, aber die von uns hier analysierte Transzendentalität ist kein Gegensatz mehr zum Empirischen, sofern dies die Faktualität des Gegenständlichen meint, sondern die rein phänomenologische Weise des Gegenständlichen als solchem in dessen vor jeder Tatsachenfeststellung ruhenden Kraftimplikation des leiblichen Weltmemorials als Potenzialität. Natürlich gilt weiterhin, dass Transzendentalität die Aufklärung der eidetischen Erscheinensgesetze ohne Rückgriff auf irgendeine empirisch konstituierte Vorgabe bedeutet. Aber insofern nicht von einer Weltreduktion des naiv Faktuellen auf ein transzendentales Leben regressiv, analogiehaft bzw. logisch rückgeschlossen wird, sondern die Analyse gegenreduktiv im absolut phänomenologischen Leben selbst anhebt, ist die dabei in Anspruch genommene Transzendentalität keine bloß a priori eingeforderte mehr, sondern die Unmittelbarkeit der konkreten Erfahrbarkeit als mein je lebendig erprobtes Leibsein selbst. Dadurch sind auch die neueren Versuche einer »Renaturalisierung der Phänomenologie« als methodische Finalität ausgeschlossen, durch die epistemologische Vorgaben der Wissenschaften zwecks einer »empirischen Transzendentaliät« in die Methodologie der Phänomenologie mit einfließen sollen. 48 Wir können daher die sinn- wie machtanalytisch orientierte Kritik bei Deleuze an einem instrumentalisierten Körper zur Durchsetzung von gesellschaftlichen Herrschaftsansprüchen mit vollziehen, ohne jedoch einen »organlosen Körper« gemäß seinem Verständnis 46 Vgl. ebenfalls R. Arsenic-Zamfir, Le corps dans la philosophie française contemporaine, 56 ff. 47 Vgl. zum Beispiel J. C. Horn, »Zur Frage des spekulativen Empirismus bei Schelling«, in: Studia Leibnitiana 3 (1971) 213–223; Th. Buchheim, Eins in Allem. Die Selbstbescheidung des Idealismus in Schellings Spätphilosophie, Hamburg, Meiner 1992, 154 ff. 48 Vgl. N. Depraz, Comprendre la phénoménologie. Une pratique concrète, Paris, Colin 2006, 140 f., wo die Immanenzfrage des Affektiven auf ein deskriptives Problem »prekärer Diskursivität« reduziert wird (dt. Phänomenologie in der Praxis. Eine Einführung, Freiburg/München, Alber 2012).

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Wiederholung und Immanenz als »Intensität« gemäß Gilles Deleuze

annehmen zu müssen. 49 Denn die Energieverteilung der Intensitäten operiert bereits mit einer Weltontologie als begrifflich freier Schöpfung, ohne hierbei die rein phänomenologische oder subjektive Potenzialität des organischen Leibes selbst zu berücksichtigen, wie es scheint. Soll die Energie – wie das Unbewusste – nicht nur rein faktuell plötzlich auftreten, ohne phänomenologisch zu wissen, wie dies geschieht, dann bleibt gerade der Zusammenhang von Organizität und Leibbewegung als Kraftentfaltung im zuvor angegebenen transzendentalen Sinne zu erheben. Der »Welt« als absolut resistentem Korrelat innerhalb der Bewegungskraft des originär subjektiven Leibes entspricht immanent eine sich je modalisierende »Widerständigkeit« des Leibes selbst, welche die phänomenologische Realität der »Organe« ausmacht. Unter der Anstrengung der Kraftentfaltung zieht sich dieser subjektive Organleib zusammen oder dehnt sich aus und bildet so eine »Plastizität« der urleiblichen Potenzialität als transzendentales Können, welches in der Gesamtheit unserer Sinne sowie in ihnen einzeln wirkt, was nach M. Henry selber als eine seiner wesentlichen »Entdeckungen« bezeichnet werden kann. 50 Das Wie der gegen-ständigen (resistenten) Welt bezieht daher seine Phänomenalisierung vom Wie des sich unendlich in seiner Kraftaktualisierung nuancierenden Leibes her, so dass die Transzendentalität als Organizität tatsächlich das radikal phänomenologische oder materialisierte Memorial aller denkbaren Formen bildet, welche vom subjektiven Leib ergriffen oder wahrgenommen werden können. Es entsteht, anders gesagt, ein »innerer Raum« der Immanenz, welcher weder der Räumlichkeit der apriorischen Anschauung bei Kant entspricht noch dem einer kinästhetischen Intentionalität bei Husserl. Vielmehr handelt es sich im Sinne der »inneren Apperzeption« nach Maine de Biran um einen »Raum« des unmittelbaren Gefühls (sentiment) ohne Reflexion innerhalb der Habitualität, sofern jede Anstrengung als muskuläre oder organische im transzendentalen Sinne die »mitgewusste« Habitualität des effektiven Könnens beinhaltet. Jede »Wiederholung« in diesem Sinne ist – im Unterschied zu Deleuze – untilgbar mit dem Gefühl der apperzeptiven Ur-Mächtigkeit selbst verbunden, um die entsprechende Bewegung im und als Vgl. Francis Bacon. Logique de la sensation, 33 ff. Vgl. Entretiens, Arles, Sulliver 2005, 128 u. 138. Für die geschichtlichen und gesellschaftlichen Konsequenzen vgl. R. Kühn, Subjektive Praxis und Geschichte. Phänomenologie der politischen Aktualität, Freiburg/München, Alber 2008, hier bes. 162 ff. 49 50

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Transzendentalität, Empirismus und Anti-Dogmatismus

»Ich« tatsächlich ausführen zu können, was auch für die retentionale Erinnerung an eine entsprechende Bewegungsgestik gilt. 51 Bliebe nämlich diese transzendentale Organstruktur außerhalb einer originär phänomenologischen Analyse, und sei sie deskriptivontologisch oder empirisch-differentiell wie bei Deleuze, so würde nicht nur eine bloße Faktualität die Transzendentalität ersetzen (bzw. idealistisch eine niemals erprobte Nullebene der Energiemenge postuliert), sondern es würde auch der Aufweis nicht möglich sein, wie sich die Potenzialität als Habitualität konkret modalisiert, um Leben und Welt in ein und dieselbe innere Bewegung hinein zu nehmen. Ist die rein phänomenologische Kraft die Trans-passibilität jenes conatus als Trieb, Energie, Begehren oder Bedürfen, wie diese innerhalb der »Anstrengung« als impressionaler Selbstimplosion des Lebens unter der sich-begehrenden Intensitätsaffektion seiner Einheit von Sich-Erfreuen und Sich-Ertragen geboren werden, dann ist damit der radikal phänomenologische Anspruch eingelöst, dass sich alle Ge-gebenheiten als transzendental lebendige Erscheinungen auszuweisen haben. Die Organizität als Transzendentalität bildet so das Wie der leiblichen Bewegung als tatsächlicher Hervorbringung von Erscheinen-Können innerhalb der Selbstbewegtheit des Lebens, das heißt als radikaler Leiblichkeit oder Fleisch. Leib/Seele-Dualismen oder -Parallelismen wie bei Descartes, Malebranche etc. sind damit ebenso kritisch aufgehoben wie eine transzendentale Leben/Welt-Gegensätzlichkeit im Sinne unterschiedlicher metaphysischer Prinzipien oder Substanzen, auch wenn die Duplizität des Erscheinens als reines Sich-Geben einerseits und (In-)Differenz andererseits methodisch bestehen bleibt. Die radikal phänomenologische Einsicht, dass Transzendentalität allein praktisch eingelöst zu werden vermag, entspricht dann jener Ur-Faktizität, wonach die Leib/Lebens-Reziprozität als materialisiertes Cogito älter ist als die Denken/Seins-Korrelation seit Parmenides. Die Transzendentalität als Selbsterprobung ist – hier zusammenfassend gesagt – ein Können, welches nicht bloß virtuell auftritt wie die Möglichkeiten der Hyle oder des Daseins, sondern sich stets effektiv vollzieht, und

Dass dies auch bei extremen Krankheitsbildern nicht aufgehoben wird, zeigt R. Vaschalde, »Selbstvergessen und vergessen(d)es Leben. Eine phänomenologische Betrachtung der Alzheimer-Krankheit«, in: R. Kühn (Hg.), Pathos und Schmerz. Beiträge zur phänomenologisch-therapeutischen Relevanz immanenter Lebensaffektion, Freiburg/München, Alber 2017, 136–146.

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Wiederholung und Immanenz als »Intensität« gemäß Gilles Deleuze

zwar in allen Erscheinungen, ohne anonym wie bei Deleuze zu verbleiben. Allerdings muss auch gesehen werden, dass bei allen Unterschieden Henry und Deleuze eine gemeinsame Kritik jeglichen Dogmatismus im Denken miteinander verbindet. Bei Deleuze drückt sich dies schon in der äußersten Flexibilität einer Methode und Schreibweise aus, die eine grundsätzliche Gleichheit zwischen Philosophie, Kunst sowie Wissenschaft anerkennt und von daher eine andere Zukunft des Denkens überhaupt erwartet, insofern sich aus der »transsubjektiven« Überschreitung der Disziplinen ein immanentes Denken ohne Hierarchien bzw. Analogien und axiologischen Vorentscheidungen durchsetzen könnte. Über das Rhizom und die »Tausend Plateaus«, wie wir sahen, ist also prinzipiell auch bei Deleuze die Ausklammerung von Intentionalität und Transzendenz vorgenommen, um einer immanenten Intensität anstelle noetisch-noematischer Konstitution wie bei Husserl (und teilweise auch noch bei MerleauPonty) den Vorrang zu lassen. 52 Dieses Außerspielsetzen der klassischen Phänomenologie wie in Henrys materialer oder selbstaffektiver Phänomenologie impliziert nun insoweit auch zugleich einen Anti-Dogmatismus, wie philosophiegeschichtlich betrachtet Eidetik (Kontemplation), Kritik (Reflexion) und Kommunikation (Subjekt/Erleben) die Immanenz als ein Gefängnis für die Transzendenz ansehen, um letztere daraus zu befreien. 53 Deleuze bestreitet mithin eine »Immanenz des Subjekts« (Husserl), da diese für ihn intentional oder teleologisch konzipiert bleibt, anstatt unmittelbar zum Sein des Lebens selbst vorzustoßen, welches sich als Bild (Kunst) wie Denken (Philosophie) entfaltet, so dass letzteres eben nur praktisch sein kann. Es geht demzufolge bei Henry wie Deleuze um ein »primordiales Erleben«, welches von allen Meinungen und Vorstellungen befreit sein soll, insofern hier keinerlei welthafte Kausalität mehr waltet. Vielmehr lässt der empirische Anti-Dogmatismus bei Deleuze nur intensive Bezüge gelten, die sich anstelle der Abhängigkeit von subjektiver Wahrnehmung ausschließlich auf der durchgehend vitalen Konsistenzebene manifestieren. Hier ist dann auch der Ort, wo Kunst und Kultur in das Erleben als

Vgl. hierzu auch sein Vorwort zur amerikanischen Übersetzung von Différence et répétition in Deux régimes de fous, 280–283 (von 1986). 53 Vgl. Qu’est-ce que la philosophie?, 49; für den lebensphänomenologischen Bereich vgl. M. Enders (Hg.), Immanenz und Einheit. Festschrift zum 70. Geburtstag von Rolf Kühn, Leiden – Boston, Brill 2014. 52

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Transzendentalität, Empirismus und Anti-Dogmatismus

wirkliche, das heißt affektiv-triebhafte »Kommunikation« eintreten und eine »Gemeinschaft von Freunden« bilden. 54 Und da die unterschiedlichen Sinnlichkeitsbereiche auf verschiedene Sinnesorgane verweisen, bildet ihre existentielle »Kommunikation« untereinander für Deleuze 55 das »pathische« (pathétique) Moment der Sinnlichkeit, welches nicht mit dem perzeptiven Vorstellungsmoment darin verwechselt werden darf. Der Künstler gibt vorzugsweise eine Art ursprünglicher Einheit zu sehen, die »direkt mit einer vitalen Mächtigkeit in Verbindung steht, welche über alle Bereiche hinausgeht und sie durchströmt«. Daher ist solch vitaler »Rhythmus« tiefer ebenfalls als das Sehen oder Hören allein anzusetzen. Um die Immanenz des Lebens zu erreichen, muss mithin die »Falle« der Wahrnehmungskontingenz überschritten werden, um jene intensive Konsistenz wieder zu finden, welche der perzeptiven Oberfläche im Sehen oder Berühren Gewalt antut. Dies hat wiederum Parallelen zur Henryschen Gegen-Reduktion und ihrer immanenten »Gewalt« der selbstaffektiven Erprobung, die sie freilegt, auch wenn Deleuze sich auf den erwähnten »organlosen Körper« unter dem Organismus beschränkt, während Henry die Reduktion auf ein subjektiv ipseisiertes Leben im absolut phänomenologischen Leben zurückführt. 56 Der postmoderne Versuch bei Deleuze ist dennoch eine festzuhaltende Erneuerung durch eine intensive Leiblichkeit und ein immanentes Leben, womit er sich eben gegen jede dogmatische Philosophie stellt, welche die Erfahrungsdifferenzen zugunsten einer geometrischen oder rationalen Gleichheit einebnet. Daher bezeichnet Deleuze 57 seinen »metaphysischen Empirismus« auch als »Beleidigung eines jeden Denkens«, indem er eine »Naivität« und »Unschuld« als »rohe Kunst« innerhalb der Philosophie vertrete. In postmoderner Perspektive heißt dies, dass die Grundlage der Metaphysik – hier des Empirismus des Intensiven – niemals im VoQu’est-ce que la philosophie?, 141 f. Francis Bacon. Logique de la sensation, 31. 56 Zur »Gewalt der Lebenserprobung« vgl. R. Kühn, Lebensreligion. Unmittelbarkeit des Religiösen als Realitätsbezug, Dresden, Text & Dialog 2017, 11–23. 57 Pourparlers, 1972–1990, Paris, Minuit 1990, 49 u. 122 (dt. Unterhandlungen 1972– 1990, Frankfurt/M., Suhrkamp 1993); vgl. ebenfalls Deux régimes de fous, 290: »Die Prinzipien in der Philosophie sind Schreie, um die herum die Begriffe wahrhafte Lieder entwickeln«, wobei jede Ebene (plateau) ihren eigenen Gesang besitzt, die Philosophie insgesamt eine Art »kosmischen Sprechgesang« darstellt (letzterer Begriff deutsch im französischen Original). Zur Auseinandersetzung mit der Musik vgl. ebd., 272–279: »Occuper sans compter: Boulez, Proust et le temps«. 54 55

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raus gegeben ist, sondern sich erst im Vollzug herausstellt und entsprechend erarbeitet werden muss, wodurch sich für Deleuze eben eine »Logik der Vielheiten« als Konstruktivismus ergab, der zugleich eine Art Expressionismus in Anlehnung an seine Spinozadeutung ist. Da sich das philosophische Denken von derselben Konsistenz nährt wie das Leben, nämlich als vielgestaltige Intensität, taucht solches Denken einerseits in die Unendlichkeit als Einheit wie auch bei Leibniz ein, um andererseits eine Vielzahl von Ebenen (plans, plateaux) miteinander existieren zu lassen, die ebenfalls das Nicht-Philosophische einschließen. Es gibt folglich ein nicht-göttliches bzw. nichtreligiöses Absolutes bei Deleuze, welches in seinem Empirismus als solchem vorausgesetzt ist, insofern die Intensitäten, Triebe (pulsions) und Begehren (désirs) darin wurzeln, um sich als univoke Immanenz bei aller existentiellen Differenz zu entfalten. 58 In dieser Hinsicht ist das Denken wie bei den meisten postmodernen Autoren zugleich eine Kunst wie Ethik, denn es will sowohl gegenüber den etablierten Religionen wie den herrschenden gesellschaftlichen Meinungen die Möglichkeit eines Lebens einfangen, für welches die »Kunst« der Entdeckung und Herausbildung von Begriffen maßgeblich bleibt. Denn es muss sich das Denken solchen Lebens stets erneuern, was die öfters in der Neuzeit geäußerte Annahme einer Aufgabe oder Überschreitung der Philosophie hinfällig macht. Auf diese Weise ist die Methode bei Deleuze keine »philosophische« im klassischen Sinne, sondern eben ein »Konstruktivismus« als stets veränderte Begriffsbildung, um gemäß der inneren Evidenz der intensiven Immanenz und der ihr korrespondierenden empirisch-vitalen Leiblichkeit die individuelle Erfahrung konzeptuell zu strukturieren und zu organisieren. Dadurch hält Deleuze durchaus an einer systematischen Darstellung seiner Analysen und Gedanken fest, auch wenn die bereits erwähnte Flexibilität für unterschiedlichste Ereignisse und Erfahrungsebenen einem Maximum an Vielgestaltigkeit gehorchen möchte. 59 Wenn die Philosophie also eine Art »Zentrum der Schwingung« (vibration) ist, um gemeinsam mit Kunst und Wissenschaft in beVgl. Qu’est-ce que la philosophie?, 45 f.; Pourparlers, 122 u. 201; zum Begehren als Phantasma, welches als »unbewusste Maschine« Wirkliches hervorbringe L’AntiŒdipe, 33 f., und von der gesellschaftlichen Produktion benutzt wird, um die energetischen Verhältnisse ziwschen den Individuen in ihrem Sinne zu lenken. 59 Vgl. Qu’est-ce que la philosophie?, 8; Deux régimes des fous, 338 u. 353 f., wobei die Vielgestaltigkeit der Ebenen im Sinne auch von Territorien eine »Geo-Philosophie« darstelle. 58

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Transzendentalität, Empirismus und Anti-Dogmatismus

grifflicher und affektiver Korrelation das »Ereignis« (und nicht länger die Essenz oder eine Gegenständlichkeit) zum Ausdruck zu bringen, dann gehören für Deleuze die Univozität des Seins und das Werden zusammen. Letzteres meint die ständige Veränderung der Körper und ihrer Bezüge zu den sich einstellenden Ereignissen, ohne dem Sein in seiner Gesamtheit zu widersprechen, denn alle körperlichen Erscheinungen drücken ein und denselben Sinn des Seins aus. Wie in der Henryschen Lebensphänomenologie tritt daher der lebendige Leib auf der Grundlage eines ontologischen Vorverständnisses des einen Seins als Leben auf, wobei der nochmals zu unterstreichende Unterschied methodisch wie inhaltlich darin besteht, dass Henry die leibliche Selbstgebung als eine primordiale »Offenbarung« des absolut individuierten Lebendigen in seiner unverzichtbaren Ipseität auffasst, während Deleuze dem empirischen Schema einer phänomenalen Beschreibung (Konstruktion) der vor-ontologischen Seinseinheit als vielgestaltigem »Sinn« folgt. Man könnte auch sagen, dass er die lebendige Kraft innerhalb der zwischenmenschlichen Bezüge wie Naturprinzipien versteht, die sich zwischen den Körpern als unterschiedlichen Mächtestufen (conatus) herstellen, wodurch sich »Geist« als qualifiziertes »Ich« (moi) im spinozistischen Sinne zugleich als Ewigkeit wie Äußerlichkeit ereignet. 60 Beide zeitgenössischen Denker treffen sich jedoch, wie ebenfalls bereits hervorgehoben wurde, in ihrem Aufweis einer lebendigen Intensität, die für Henry allerdings zugleich eine radikal phänomenologische Unmittelbarkeit darstellt, während Deleuze diese Immanenz als Werden und Zeitlichkeit auffasst, das heißt durch eine niemals ganz im Voraus gegebene Existenz. Wenn demzufolge der bleibende Unterschied zwischen diesen beiden Denkweisen des »Lebens« in der Frage unmittelbar radikaler oder absoluter Individuierung beruht, so schließt dies nicht aus, dass Henry wie Deleuze das Verhältnis von Leben und Kultur dergestalt analysieren, dass die Weltdifferenzen prinzipiell nicht mit der univoken Einheit der Leiblichkeit als Intensität im Sinne einer originären Erprobung (Henry) oder einer ständigen Erfahrung (Empirismus) vereint werden könnten. In Bezug auf die Kritik der »Meta-

Vgl. B. Spinoza, Ethik (Werke lateinisch und deutsch II), Darmstadt, Wissenschaftlich Buchgesellschaft 1967, V,23, Anmerkung; dazu G. Deleuze, Empirisme et subjectivité, 15 f., wodurch das Innere ein »selektioniertes Außen« und das Außen ein »projiziertes Innere« darstellt, die sich als Zeichen vermitteln. Siehe auch Proust et les signes, 10 f.; Spinoza. Philosophie pratique, 168 f.

60

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Wiederholung und Immanenz als »Intensität« gemäß Gilles Deleuze

physik der Vorstellung« und Dogmatismen substantieller Essenzen sind beide Autoren hierbei als postmodern einzustufen. Was sie trennt, ist das Verständnis der Postmodernität als »Dekonstruktion« oder »Konstruktion« im Sinne einer ausschließlichen Pluralität oder Vielgestaltigkeit der Ereignisse, welche für immer von der unmittelbaren Einheit mit einem lebendigen Ab-grund getrennt blieben, auch wenn sie letzteren – wie bei Deleuze – »zum Ausdruck« bringen. Denn wenn für ihn das »nomadische Dasein« einen Lebendigen in ständiger Bewegung ausdrückt, dann kann die Individuierung eben als ständige Modifzierung des Seins verstanden werden, als permanente Überkreuzung von Materie und Form. Mit anderen Worten versucht Deleuze die Kantische Lehre von Sinnlichkeit, Einbildungskraft, Verstand und Vernunft als transzendentalen Vollzug der immanenten Bedingung des Menschen bzw. »Lebendigen« (vivant) zu integrieren, indem er diese Vermögen in einem »Spiel der Umstellung« untereinander austauscht und damit die traditionellen philosophischen Konzepte der subjektiven Kategorialität in seinen Konstruktivismus als »Expressionismus« überführt. 61 Dadurch herrscht das Apriori der Erfahrung über die Vorstellungen, anstatt die Repräsentation zum Maßstab der empirischen Erfahrbarkeit zu machen, was des Weiteren ebenfalls eine göttlichmenschliche Hierarchie im metaphysischen Sinne von Freiheit/Finalität als Noumenon oder An sich ausschließt. Hierdurch entfällt dann gleichfalls die analogische Interpretation von Ich- und Weltverhältnissen in Bezug auf ein Absolutes (Gott), da sich der unbenennbar einheitliche Ab-grund des Seins nur als Reichtum existentiell lebendiger Vielfältigkeit vollzieht. Das Werden kann damit als Prinzip der welthaften Differenzen und ihrer ständigen Metamorphosen bezeichnet werden, wodurch das Denken selbst keiner »notwendigen Begrenzung« im Sinne idealistischer Vernunftkritik mehr unterworfen ist, sondern die Transzendentalität der letzteren entspricht vielmehr dem Ausdruck des Seins als Relation. Fallen göttliche Analogie und Teleologie dergestalt dahin, dann wird die Immanenz aus der begrenzenden Vorgabe menschlicher Endlichkeit befreit, welche in der Philosophie stets bisher den Bezug von Denken/Leiblichkeit vorentschieden hatte, insofern der Leib für das Bewusstsein die Stelle menschlicher Kontingenz überhaupt bezeichnete. 62 Die radikal phä61 62

Vgl. G. Deleuze, La philosophie critique de Kant, Paris, PUF 1977, 32. Vgl. M. Henry, Philosophie et phénoménologie du corps, 253 ff. (dt. zum Teil als

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nomenologische bzw. konstruktivistische Neubewertung des immanenten Lebens bei Henry und Deleuze suspendiert daher folgerichtig die transzendenten Intentionen und Werte, durch die der körperlichleiblich begrenzte Mensch angeblich »über sich hinaus gelangt«, um die zuvor genannte Transzendentalität der subjektiven Vermögen als innere Lebensvollzüge zu deren überbordender Intensität hinzuleiten, welche zugleich den affektiv-leiblichen Modalitäten der Welterfahrung entspricht. Der Misserfolg, das Wesen des Lebens als Immanenz jemals direkt zu erreichen, welches all unsere Weltwahrnehmung durchzieht, liegt dann schließlich daran, dass wir »uns in die Falle des Objekts, ins Garn der Subjektivität [als ›Subjekt‹] verstricken«. 63 Insgesamt favorisierte Henry 64 eine »Lebenswelt« im Sinne einer in der Immanenz des Lebens gehaltenen »Welt-für-das-Leben«, während Deleuze die schon genannte theoretische Entscheidung einer »Begriffsperson« (personnage conceptuel) einführte, die ins empirische »Chaos« eingetaucht ist und daraus die Merkmale des Lebens gewinnt. In der »vor-philosophischen Immanenz« agieren mithin »pro-philosophische Personen« (personnages pro-philosophiques), welche in ihrer inneren Verlebendigung univoker Immanenz die philosophischen Begriffe als »Dauerhaftigkeit« (consistance) hervorbringen: »Spuren vorzeichnen, erfinden, erschaffen (tracer, inventer, créer) – dies ist die philosophische Trinität. Diagrammatische, personalistische und intensive Merkmale.« 65 Hier bricht dann allerdings auch wieder unsere durchgehend kritische Frage gegenüber dem Verständnis der Individuierung und Subjektivität auf, denn diese »Körper und Geist im griechisch-humanistischen Denken und im Christentum«, in: M. Henry, Radikale Religionsphänomenologie. Beiträge 1943–2001, Freiburg/München, Alber 2015, 29–53). 63 G. Deleuze, Proust et les signes, 50 f. 64 Vgl. Die Barbarei, 86 ff. 65 G. Deleuze u. F. Guattari, Qu’est-ce que la philosophie?,73 f., bzw. die »Trinität: Konzept-Perzept, Affekt« nach Deux régimes des fous, 304. – Dies wird auch unter dem Begriff des agencement im Sinne von Anordnung, Disposition zusammengefasst, der den früheren Begriff der machines désirantes ersetzt, um die Intensitätslinien des immanenten Lebens in der Überkreuzung von Körper und Verbot durch Machtstrukturen aufzeigen zu können. Vgl. Deux régimes de fous, 162–166, als Rückblick auf sein Werk Mille Plateaux; dazu auch P. Klossowski, Divertimento für Gilles Deleuze, Berlin, Merve 2005, der in seinen historischen Studien zu Begehren und Verhalten in Antike und Mittelalter sowie bei Sade und Nietzsche ebenfalls dem Intensitätsbegriff verpflichtet ist.

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»Begriffsperson« ersetzt ohne Zweifel das klassische »Subjekt«, um zwischen intensiver Immanenz und geschaffenen Begriffen angesichts des »Chaos« der existentiellen Unbestimmtheit des Seins einen virtuellen und hypothetischen Platz der Vermittlung einzunehmen. Es gibt daher bei Deleuze keine unmittelbare Entsprechung oder Autonomie zwischen Subjekt/Immanenz, welche Henry seinerseits als ipseisierte Subjektivität freilegt, sondern nur eine fluktuierende begriffliche »Selbstbestimmung« zwischen der apriorisch undenkbaren Immanenz des empirischen Erfahrungschaos und den »Ereignissen«, denen dadurch eine relativ begriffliche Bestimmung anhaftet. Dies bleibt in unseren Augen weiterhin eine anonyme Grundsituation für die Subjektivität, denn die Lebensimmanenz, die als Passibilität der Selbstaffektion gerade das phänomenologische Eigenwesen des »Mich« nach Henry ausmacht, wird bei Deleuze letztlich nur als vitaler Exzess definiert, 66 von dem ein einzelnes Subjekt nie vollständig Rechenschaft ablegen kann. Damit korrelieren im postmodernen Verständnis ebenfalls bei Deleuze Pluralität und Exzess der Ereignishaftigkeit miteinader, um die kulturelle Lebenswelt von Trieben und Mächten bestimmt sein zu lassen, die dann im Poststrukturalismus und Postkonstruktivismus ebenfalls jede vorgängige Einheit des Lebens aufheben, wie sie Deleuze als Univozität des Seins noch festhielt. Anders gesagt, werden bei Deleuze und in der nachfolgenden Postmoderne die Universalien im bisherigen analogischen Seinsverständnis seit der Antike aufgehoben, um über die Hervorbringungsmacht von Affekt/Begriffen eine immanent praktische »Subjektivierung« zu konzipieren, welche allerdings die Gefahr in sich birgt, dass »die konstitutiven Elemente des Lebendigen unbestimmt bleiben«, um »sich in einer anonymen Entfaltung von Kräften zu verlieren«. 67 Radikal phänomenologisch ist daher angesichts solch allgemein postmoderner Tendenz der Versuch nicht aufzugeben, sowohl eine ursprünglich immanente Praxis der Subjektivierung wie aber auch ihrer Ipseisierung als innere »Selbsterkenntnis« weiter zu verfolgen, ohne in die Dichotomien oder Dogmatismen der bis dahin von der Metaphysik geleiteten Philosophie zurückzufallen. Die Postmoderne Zu geschichtlichen Vorformen des postmodernen »Exzess«-Begriffs vgl. B. Burrichter u. Ch. Wehr (Hg.), Exzess. Formen der Grenzüberschreiung in der Vormoderne, Würzburg, Königshausen & Neumann 2018. 67 R. Arsenic-Zamfir, Le corps dans la philosophie française contemporaine, 55. 66

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Transzendentalität, Empirismus und Anti-Dogmatismus

möchte nämlich die Dualismen Mensch/Gott, Geist/Körper, Natur/ Kultur etc. durch die Gleichzeitigkeit von praktischer und epistemologischer Einheit in ständigem Wechsel miteinander überwinden. Dabei wird jeder Substanzbegriff fallen gelassen, um die Individuen allein von ihrer affektiven Differenzierung her zu betrachten, die dann mit der rein modalen Wirklichkeit des subjektiven Leibes zusammenfällt, wie wir sahen. Hinsichtlich der zuvor genannten Lebenswelt bedeutet dies, dass der Unterschied zwischen den Individuen in ihrer intensiven Differenz liegt, die Henry durch eine originäre Gemeinschaftlichkeit mit der Einheit der Ipseisierung verbindet, ohne seinerseits hierfür ein analogisch oder teleologisch Allgemeines in Anspruch zu nehmen. 68 Die Leiblichkeit bleibt hierbei als Pathos eine fundierende phänomenlogische Materialität, welche als immanenter »Leib-zur-Welt« eine Singularität ständigen praktischen Vollzugs bildet, dessen Aktualisierung und affektive Differenzierung sich im und als rein phänomenologisches Leben selbst vollzieht, womit auch im Sinne von Deleuze die traditionelle Seinsstufung der Wesen seit Aristoteles in ein Höher oder Niedriger aufgehoben wird, wie er schon in seiner frühen Bergsonlektüre herausstellte. 69 Bei Henry wie Deleuze ist der Leib mithin weder ein Ding noch eine Substanz, sondern seinem immanenten Wesen nach prinzipiell Können (pouvoir), welches in seiner subjektiven Praxis bzw. affektiven Intensität nicht länger der reduzierenden Kontingenz durch die intentionale Bewusstseinsreferenz unterliegt. Ist der Leib nach Deleuze dabei ebenfalls keinerlei Analogie mit dem Göttlichen mehr unterworfen, um selbst über die univoke Immanenz ein absolutes Apriori zu bilden, so verbindet Henry die ipseisierte Subjektivität in ihrer Identität mit der originären Passibilität, das heißt mit einem proto-relationalen bzw. absolut phänomenologischen Leben, dessen Selbstaffektion mit jener der absoluten Individuierung in eins fällt. Diese ab-gründige, vorstellungsfreie Pro68 Vgl. M. Henry, Affekt und Subjektivität, 140–160: »Mitpathos als Gemeinschaft«; zur lebensphänomenologischen Diskussion hierüber B. Kanabus, La généalogie du concept d’Archi-Soi chez Michel Henry, Hildesheim – Zürich – New York, Olms 2011, 172 ff.; J. Reaidy, Michel Henry – la passion de naĩtre, 197 ff.; P. Ziade, Généalogie de la mondialisation. Analyse de la crise identitaire actuelle, Paris, L’Harmattan 2015, 223 ff. 69 Vgl. Le bergsonisme, 9 ff.; dazu auch Deux régimes de fous, 313 f., wo Bergson bescheinigt wird, stets Metaphysik und Wissenschaft, die ein Absolutes implizieren, zusammen gesehen zu haben.

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Wiederholung und Immanenz als »Intensität« gemäß Gilles Deleuze

to-Relation liegt dem einzelnen Lebendigen nicht zeitlich voraus, sondern fundiert transzendental als lebendige Ursprungsrelation jegliche weitere Bezüglichkeit als Vollzug oder immanente Modalisierung – einschließlich des intentional bedingten Welterscheinens und somit einer originären wie kulturellen Unmittelbarkeit von religio und ethos. 70 Damit entgeht diese Transzendentalität praktischer Leiblichkeit jeder ontisch-ontologischen Endlichkeit als reflexivem Rahmen metaphysischer Leibbetrachtung, um unmittelbar Inkarnation der ursprünglichen Einheit von Leib/Leben zu sein, die durch nichts unterbrochen oder aufgehoben wird. 71 Diese radikale Inkarnation scheint uns bei Deleuze zugunsten seines Verständnisses des Individuums allein als intensiver Einheit des empirisch Vielfältigen abgeschwächt, insofern sich ein solches Individuum nur über die Beziehung Trieb/ Welt als Werden des Begehrens manifestieren kann, ohne ein originäres Selbsterscheinen (Ipseität) in sich zu bilden. Das lebensphänomenologische Pathos kann diesen affektiven Triebleib des empirischen Konstruktivismus als konstitutives Begehren ohne weitere Begrenzung integrieren, insofern nämlich jede pathisch affektive Erprobung sowohl die Fundierung durch das absolut phänomenologische Leben wie auch die Vielfalt der körperlichen Veränderungen innerhalb der Weltbegegnung impliziert. Lebensphänomenologie und Postmoderne als Konstruktivismus hier tragen somit zur Klärung des entscheidenden Stellenwertes der Leiblichkeit im gegenwärtigen Denken und dessen kulturellen Auswirkungen bei, das heißt hinsichtlich der Frage, ob der subjektive Leib letztlich eine transzendentale Offenbarungswirklichkeit absoluter Natur in sich birgt oder nur chaotisch-exzesshafte Ereignismetamorphosen über die lebendige Intensität. Letztere wird dann vielfach auch nicht mehr über Deleuze hinaus als immanente Einheit wahrgenommen, sondern als bloße Fragmentierung empfunden – um bei aller Anerkennung von Pluralität und Alterologie dem subjektiven Identitätsverlust Vorschub zu leisten, wie es die Begriffe der »Wunde«, »Ent-Subjektivierung« oder »Fraktur« bei Lacan, Foucault und Nancy zeigen. Wird der Leib indes rein als Bewegung oder Können gefasst, Vgl. M. Henry, »Ethik und Religion in einer Phänomenologie des Lebens«, in: Radikale Religionsphänomenologie, 285–292. 71 Vgl. M. Henry, Inkarnation, Teil III: »Phänomenologie der Inkarnation« (S. 265– 414). 70

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Transzendentalität, Empirismus und Anti-Dogmatismus

dann fallen in dieser absolut phänomenologischen Wirklichkeit Passivität/Aktivität, Pathos/Erkenntnis sowie Genese/Aneignung von Welt zusammen. Dies ist ein Gewinn im postmodernen Denken, den auch die Melancholisierung und psychologischen Identitätsverluste des modernen »Subjekts« nicht grundsätzlich aufheben können. Im Kantischen Verständnis fielen affektiver Leib und Objektivierung der Welt auseinander, auch wenn die transzendentale Ästhetik einen »inneren Wahrnehmungssinn« zur primordialen Bestimmung des Subjekts in Anspruch nahm, ohne dadurch allerdings Immanenz der Sinnlichkeit und transzendente Empfindungsgehalte miteinander vereinen zu können, 72 insofern sie kategorial durch Zeit und Raum allein bestimmt waren. Durch die leibliche Wirklichkeit von Pathos und/oder Intensität als lebendiger Selbstbewegung entspricht nunmehr solche Empfindung – transzendental konkret gesehen – dem Empfindenkönnen selbst und dem leiblichen Affekt wie Gefühl als Bewegungen, wodurch die absolute bzw. empirisch exzesshafte Subjektivität nach Henry und Deleuze den Weltbezug in einem Selbstbezug (Ipseität, Begriff) fundieren kann. Damit ist auch die Husserlsche noetisch-noematische Transzendenzabhängigkeit der Phänomenalität überwunden, um die Impression der Intentionalität zu entreißen und sich in sich selbst als eigenwesentliche oder immanente »Offenbarung« vollziehen zu können, so dass jede Weltbestimmung darin als Impressionalität ermöglicht ist. 73 Hinter der Herausstellung von Chaos, reiner Ereignishaftigkeit, begehrendem Trieb ist für die Postmoderne diese grundsätzliche Einheit nicht zu verkennen, so dass letztlich die Impression, wie bei Kant angedeutet, das Bewusstsein selbst ist, nämlich als Fundierungsgrund von Wirklichkeit schlechthin. Hierdurch sind mittels der Univozität aller Seinsattribute bei Deleuze die Individuen mit den Singularitäten ihrer affektiven Differenzen ebenfalls grundsätzlich geeint, so dass Sinn/Leben nicht weiter – wie in einer späteren de-konstruktiven Postmoderne – zu vermitteln sind, sondern unmittelbar eine Reziprozität des Verstehens im Raum lebendiger Erprobung/Erfahrung ermöglichen. 74 Auf der »Ebene der Immanenz« (plan de l’immanence) als »Ebene der Konsistenz« des Lebens und seiner individuellen Verdichtung bedeutet daher der Konstruktivismus von Deleuze die Gleichzeitig72 73 74

Vgl. M. Henry, Généalogie de la psychanalyse, 125 ff. Vgl. M. Henry, Inkarnation, 81 ff. Vgl. G. Deleuze, Spinoza. Philosophie pratique, 74 f.

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Wiederholung und Immanenz als »Intensität« gemäß Gilles Deleuze

keit von Möglichkeit und Wirklichkeit eines solchen Lebens. Der pathische Ab-grund jeder Erscheinung ist identisch mit der »intensiven Materialität der Konstruktion«, da die »Konsistenz« einen individualisierenden Schnitt im Chaos der vitalen Entfaltung bildet. 75 Methodisch entspricht die Immanenzebene mithin einem »absoluten Horizont« der Existenz, in dem Bild und Denken als la Pensée im Sinne von Konstruktion und Expression zusammenspielen. Diese postmoderne Sichtweise bei Deleuze entspricht ohne Zweifel einem unendlichen Rahmen von Begriffsurteilen, was einerseits die Postmoderne noch an ein gewisses »Absolutes« bindet, das zugleich durch Chaos und Differe(ä)nz relativiert wird, andererseits aber in Übereinstimmung mit dem anti-metaphysischen Prinzip vom »Tod des Subjekts« die traditionelle Höherstellung auch des denkenden Subjekts radikal in der Postmodernität in Frage stellt. Denn der »Tod des Subjekts« im Sinne von Deleuze ist die Unmöglichkeit, das Sein nach unveränderlichen Gesetzen des Subjekts oder des Bewusstseins erkennen zu wollen. 76 Fallen bei Henry in der Selbstaffektion absolutes Leben und Ipseität des Individuums zusammen, so liegt die Immanenz bei Deleuze jedem apperzipierenden Subjekt als zeitliches Apriori des Werdens solchem »Subjekt« voraus. Auch die Henrysche Subjektivität restauriert nicht die metaphysische Person bzw. sogar ein rationales Subjekt als Wesen oder Substanz, sondern sie bildet eine passible Inkarnation, in der die unmittelbare Verfleischlichung eines jeden subjektiven wie intentionalen Leibes »im Anfang« geschieht, womit die postmoderne Subjektkritik, sofern sie ebenfalls Vorstellungskritik ist, in die Lebensphänomenologie aufgenommen werden kann. Mit anderen Worten umkreist dieses postmoderne Denken weiterhin die Unerreichbarkeit einer originären Selbstgebung (autodonation), wobei das zuvor erwähnte »Vor-Philosophische« (pré-philosophique) bei Deleuze genau darin besteht, dass nichts außerhalb der Philosophie gegeben sei, insofern es die Lebensgegebenheit als Konstruktion in einer gemeinsamen Verwirklichung von Immanenz/Begriff ergreift. Dies kann keine strenge Ipseisierung als unmittelbare Selbstgebung wie bei Henry bedeuten, denn das Denken als Begriff ergibt durch den bildlich-sprachlichen Sinn der ontologischen Qu’est-ce que la philosophie?, 39 f. Vgl. La philosophie critique de Kant, 89 f., wodurch das Empfinden den ontologischen Primat zurückerhält.

75 76

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Transzendentalität, Empirismus und Anti-Dogmatismus

Wirklichkeit nur einen Ausdruck, der als Konzeptualisierung den Abgrund des Lebens selbst nicht ergreift oder berührt. Ergriffen wird nur die intensive Oberfläche der jeweiligen Kräfteverhältnisse, die in der Konsistenz der Immanenz wurzeln, weshalb Deleuze und Guattari 77 hierbei letztlich auch von einer »riesigen abstrakten Maschine« sprechen. Die Fulguration der Immanenz schließt dann eine gewisse Subjektivierung als werdendes »Individuum« nicht aus, wie wir sahen, aber die Metapher der Maschine verweist nicht nur auf die öfters kritisch unterstrichene Anonymität dieser Lebensfulguration letztlich zurück, sondern belegt erneut die Abhängigkeit des postmodernen Denkens als Konstruktion bzw. Dekonstruktion von einer strukturellen Differe(ä)nzvorgabe als Geflecht bloßer Kräfteverhältnisse. Trotz deren Rückbindung an eine immanente Intensität können diese »chaotischen« Bezüge nicht die Formalität dieses Differe(ä)nzaxioms überwinden, um »Kraft« und »Individuum« in einer effektiven immanenten Gegenseitigkeit zur »Selbstoffenbarung« dieser Ursprungsgegebenheit werden zu lassen. Um diese postmoderne Oszillation im Konstruktivismus von Deleuze festzuhalten, kann nämlich nicht übersehen werden, dass sich die Seinsunivozität nicht ganz mit der Immanenz schließlich deckt. Univok ist das Sein in methodologischer Hinsicht, um nach dem Ausschluss von Transzendenz (Vorstellung) die Einheit des Vielfältigen im Ontisch-Ontologischen der Weltbezüge zu garantieren, während die Immanenz eine Absolutheit ist, welche die Bestimmung des Lebens und des Seins als unhintergehbaren »Horizont« aller Ereignisse ausmacht. Solche Immanenz hängt ihrerseits von keinem Beobachter mehr ab und bezeichnet das, was zu denken ist, ohne gedacht werden zu können: »das Innerste des Denkens und dennoch das absolute Außen desselben«. 78 Damit wäre an sich auch der Begriff des Horizonts selbst noch zu verabschieden, da er Distanz impliziert, wie Henry 79 es durch seinen gegen-reduktiven Immanenzbegriff tut. Aber Deleuze bietet dennoch durch die Absolutheit seiner Immanenzbestimmung das Verlassen eines jeden rationalen Transzendentalismus, um zwischen Sein/Denken als »Konstruktion« einen radikal ontologischen Monismus zu vertreten, durch den Körper/Geist sowie Mille plateaux, 311. Qu’est-ce que la philosophie?, 59; vgl. 41 f. 79 Vgl. Radikale Lebensphänomenologie. Ausgewählte Studien zur Phänomenologie, Freiburg/München, Alber 1992, 196 f., 224 f. u. 238 f. 77 78

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Wiederholung und Immanenz als »Intensität« gemäß Gilles Deleuze

Objekt/Subjekt unter der schöpferischen Kraft der Intensitäten nicht mehr auflösbar sind. Bei Merleau-Ponty reicht dessen Denken des Chiasmus noch nicht an diese effektive monistische Reversibilität von Sein/Denken als Leib/Welt heran, insofern die »Opazität« als Sinnzugänglichkeit hier noch nicht die volle Absolutheit des Lebens zugestehen kann. Und gegenüber der Hypostase der Differe(ä)nz in der übrigen Postmoderne verharrt auch bei Deleuze dieses Leben über die Immanenz in einer Negativität, da er sich ihm als dem annähert, was zuletzt unerkennbar bleibt, selbst wenn Vorstellung, Intentionalität und Transzendenz aufgehoben bleiben. Philosophiegeschichtlich lässt sieh hier eine dreifache, eklektische Rezeption von Spinoza, Nietzsche und Bergson erkennen, nämlich die notwendige Einheit des Seins (Substanz), das Lebendige als Kraft/Macht sowie die Steigerung des Lebens (durée). Die Integration dieses Erbes stellt den Versuch dar, diesseits der metaphysischen Tradition eben ein Absolutes zu umschreiben, das keiner kategorialen Weltlogik in seiner Analyse länger unterliegt; das heißt, weder der Höchsten Vernunft (Gott) noch dem Bewusstsein oder der Erkenntnis (Idealismus) unterworfen ist. Was dann zu denken bleibt, sei daher ein absoluter »Horizont« ohne jeden rationalen oder logischen Gesetzesanspruch, womit eine Ethik des freien Handelns diesseits von jeder Moral ermöglicht werden soll, deren Dekonstruktion die Postmoderne wie etwa bei Foucault noch intensiver weiter treiben wird. Diese Versuche können jedoch nicht von der epistemologischen Tatsache abgelöst werden, dass die allseitige Präferenz für die Differenz, Pluralität oder Alterologie auf der Voraussetzung eines nicht weiter benennbaren Einen (l’Un) beruht, das bei Deleuze die Möglichkeit von Allem (Tout) begründet, insofern es distributiv verstanden wird, was Lacan 80 radikal in Frage stellen wird. Bei dieser »Verteilung« als Unendlichkeit der Begriffe, Urteile und Kräfte, welche die Postmoderne – ohne expliziten Rekurs auf das Eine – für sich in Anspruch nimmt, bilden die Immanenzebenen als Lebenssteigerung zugleich transzendentale Hinweise, um das Leben zu denken und die subjektive Praxis ethisch in der Gleichzeitigkeit der Intensität von Bild und Bewegung zu rechtfertigen. Unter diesem epistemologischen Gesichtspunkt ist die Auseinandersetzung zwischen Lebensphänomenologie und Postmoderne von höchster Aktualität, denn kein Lebensaugenblick ist Vgl. Le séminaire XIX: … ou pire (1971–1972), Paris, Seuil 2011, Teil III: »L’Un: qu’il n’accède pas au deux« (S. 125–211).

80

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Transzendentalität, Empirismus und Anti-Dogmatismus

letztlich in solcher Konstellation von der möglichen Rückfrage nach der Immanenz als »Horizont des Absoluten« getrennt, wie auch immer im Einzelnen die dogmatischen Ausformungen der Postmoderne lauten mögen – so wie es die Frage nach der absoluten »Gerechtigkeit« bei Levinas und Derrida zum Beispiel zeigt. 81 Die »Falte« (pli, plicature) ist daher nicht nur bei Deleuze die operative Figur des vor-transzendenten Verhältnisses von Sein/Denken auf der vor-philosophischen Immanenzebene, sondern der Begriff der Faltung tritt auch als maßgeblich bei Merleau-Ponty und JeanLuc Marion innerhalb von phänomenologischen Analysen auf, um den Bezug von Leib/Sinn bzw. von Gebung/Gegebenheit zu bezeichnen. 82 Neben Fraktur, Kluft und Riss kann eine solche Begrifflichkeit als der Versuch der Postmoderne insgesamt gewertet werden, eine gewisse Einheit noch in jeder Differe(ä)nz zu denken, denn die »Faltung« ist weitgehend synonym mit der Meta- und Anamorphose der empirischen Subjektivierung bei Deleuze, in der sich zugleich das Weltsein als Begriff des Intensiven erschließt. 83 Selbst ein radikal alterologisches Denken wie bei Levinas, Foucault oder Derrida vermag daher nicht auf eine minimale Kohäsion der Faltung/Entfaltung bzw. »Spur« zu verzichten, um überhaupt etwas von unserer Existenz aussagen zu können – nämlich gerade auch dann, wenn die fluide oder flexible Wirklichkeit der letzteren ganz in den Bereich von Trieb, Sprechen und Begehren verlegt wird. Die »Falte« als Erfahrungsgrundgegebenheit bricht die metaphysisch angenommene Koexistenz von Vernunft und Sein auf, um eher das Entdecken und Experimentieren von intensiven Lebensmöglichkeiten in den Vordergrund zu

Vgl. A. Letzkus, Dekonstruktion und ethische Passion. Denken des Anderen nach Jacques Derrida und Emmanuel Levinas, München, Fink 2002. 82 Vgl. G. Deleuze u. F. Guattari, Mille plateaux, 312 f.; G. Deleuze, Die Falte. Leibniz und der Barock, Frankfurt/M., Suhrkamp 1995; J.-L. Marion, »Reduktive ›GegenMethode‹ und Faltung der Gegebenheit«, in: R. Kühn u. M. Staudigl (Hg.), Epoché und Reduktion. Formen und Praxis der Reduktion in der Phänomenologie, Würzburg, Königshausen & Neumann 2003, 125–138 (franz. Original Etant donné. Essai d’une phénoménologie de la donation, Paris, PUF 13–31 u. 90–102; dt. jetzt insgesamt Gegeben sei. Entwurf einer Phänomenologie der Gegebenheit, Freiburg/München, Alber 2015). 83 Für die weiteren Implikationen des Weltbegriffs bei Deleuze vgl. R. Arsenic-Zamfir, Le corps dans la philosophie française contemporaine, 271 ff., wobei besonders die Einbildungskraft die Rolle der Sinnbildung durch die Reproduktion der Impression in der Einbildung übernimmt. 81

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Wiederholung und Immanenz als »Intensität« gemäß Gilles Deleuze

stellen. In dieser Hinsicht kann dann Deleuze betonen, dass jene durch die »Begriffsperson« eröffnete Vielfalt des Sinns in seiner vorphilosophischen Einheit ein Wesen (essence) darstellt, welches ganz Differenz ist: »die höchste und absolute Differenz (la Différence)«, denn »sie bildet das Sein, welches uns das Sein erfassen lässt«. 84 Rein strukturell betrachtet ist damit unter erneuerten Voraussetzungen von Intensität und Immanenz im Grunde nur die Heideggersche Sichtweise der »Seinsdifferenz« wiederholt, denn die Existenz bei Deleuze ist das Wesen (Sein) als modale Ex-position (Leben) des absoluten Horizonts der Immanenz, in der sich Materialität (Begehren) und Reflexivität (Begriff) als Vollzug stets vereinen, da dieser nicht länger mit einer distanzierten Vorstellung oder Transzendenz im Sinne äußerer Finalität verglichen wird. Damit nimmt schließlich die Welt insgesamt die Stellung des Wesens als Differenz ein, denn davon unterscheidet sich die Existenz des »Subjekts« als Praxis jener »Ent-faltung« (pli) der vor-begrifflichen Intuition der Fulguration des Lebens, in welche das Weltsein als triebhaft-leibliche Erfahrung »chaotisch« eingegangen ist. Differenz als Wesen (Sein) sowie als absoluter Horizont der Immanenz signalisieret auf diese Art und Weise ein letztes Nicht-Wissen, anders gesagt eine apophatische Struktur des Lebens, mit dessen eigenwesentlicher oder passibler Selbstgebung das Individuum trotz der Einheit von Intensität/Vollzug im Prozess der empirischen Entfaltung nicht zusammenfällt. Wie bei Bataille und teilweise bei Derrida suggeriert ebenfalls Deleuze damit ein »Mystisches« diesseits von jeder Religion und Moral, 85 was es erlaubt, die Postmoderne auch

Proust et les signes, 53; vgl. ebenfalls Empirisme et subjectivité, 18 f. Dem entspricht die Verschränkung von Außen/Innen gemäß Foucault, die Deleuze als jenen »Selbstbezug« auslegt, worin die Kraftaffizierungen zusammen mit den äußeren Stratifizierungen als »Diagramme« von Wissen (savoir) und Macht (pouvoir) im Sinne subjektiver »Verwandlungen« weiter getrieben werden, um dem Denken Zukunft zu ermöglichen; vgl. G. Deleuze, Deux régimes de fous, 226–243: »Sur les principaux concepts de Michel Foucault«, mit dem er 1984 sein Buch über Foucault vorbereitet hatte. Die »Falte« ist mithin die begriffliche Bestimmung dieses Verhältnisse ohne »Innerlichkeit an sich«, wobei das Außen (Dehors) konstitutiv vorgegeben bleibt. Vgl. auch ebd., 316–325, über die Funktion der »Dispositive« bei Foucault. 85 Dass dieses »Mystische« auch als ein »innerer Atheismus« präsentiert wird, ändert nichts daran, dass Immanenz und Transzendenz das Eine bilden, welches seit Plotin über die Seinsemanationen gedacht wurde und bei Deleuze ins Werden der Singulariäten verlagert wird; vgl. Deux régimes de fous, 245 f. 84

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Transzendentalität, Empirismus und Anti-Dogmatismus

in dieser Hinsicht zu befragen, wie es Lacan 86 tun wird, um eine jouissance über jeden Signifikanten der Andersheit als Phallus oder Gesetz hinaus in den Blick zu bekommen. Henry befragt die Immanenz unmittelbar als »Selbstoffenbarung« des Lebens, womit hier abschließend unterstrichen sein dürfte, dass weder Unbewusstes, Vorbewusstes oder Bewusstsein die eigentlichen Namen des »Lebens« abgeben, welches sich als ständige Implosion selbst zeugt, um bei dieser »Geburt« auch die transzendentalen Verbindungen mit einer verlebendigten Welthaftigkeit aufscheinen zu lassen. Die Postmoderne als Transgression des Rationalen und Intentionalen bzw. auch des Zusammenhangs von Zeichen/Bezeichnetem, mithin von Metaphysik wie Strukturalismus zusammen letztlich, um jeden Gehalt affektiv zu seinem Ausdruck gelangen zu lassen, ist dann in ihrer apophatischen Ent-faltung kein eigentlicher Nihilismus in ideologischer Perspektiv, sondern eher mit Nietzsche ein Überwindungsversuch von Ressentiment und Böswilligkeit (mauvaise foi nach Sartre) gegenüber allem Sein. Mithin der Versuch einer philosophischen Erneuerung, innerhalb derer »das Glauben an diese Welt, an dieses Leben, zu unserer schwierigsten Aufgabe geworden ist, wo die Aufgabe einer Existenzweise auf der Ebene der Immannenz heute zu entdecken bleibt«, um Deleuze und Guattari hier als zu berücksichtigenden praktischen Ausblick für unsere kulturelle Zukunft zu zitieren, 87 wie ihn unsere Untersuchung insgesamt anstrebt.

Vgl. R. Kühn, Lebensmystik, Kap. II,8: »Mystik und jouissance in der Psychoanalyse Lacans«. 87 Qu’est-ce la philosophie?, 72. 86

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6. Cogito/sum und Phantasma im ethischanalytischen Denken Jacques Lacans

Mit Spinoza kann Jacques Lacan (1901–1981) sowohl philosophisch wie psychoanalytisch anerkennen, dass die cupiditas das Wesen des Menschen ist, wobei er mit désir den deutschen Begriff Begehren oder Lust übersetzt, in dem das Paradox der gesamten ethischen Frage für den Menschen beschlossen sei, insofern dieses Begehren zugleich die Mitte unserer Subjektivität selbst ausmache und in seiner unaufhebbaren Widerständigkeit wie eine »Urverdrängung« auftrete. 1 In diesem genannten Paradox des Begehrens werde die Problematik des »Spiegelstadiums« wiederholt, welches als epistemologisches Grundaxiom Lacans den Menschen während seines ganzen Lebens in seinen Identifikationen begleitet, insofern dieser nur zum Sein kommt, indem er sich darin verliert, da er sein eigenes Sein nur als »Fehlen-zusein« verstehen kann und dieser Mangel sich eben stets mit dem Begehren des Anderen (A) im radikalen Sinne vermische. 2 Für Lacan ist das Begehren also keineswegs mit einem einfachen vitalen Elan wie etwa bei Schopenhauer oder Bergson zu verwechseln, sondern es befindet sich jenseits dieses Gefühls eines natürlichen oder dunklen Dranges als »Trieb«, das heißt innerhalb einer singulären Zeitfolge, welche prinzipiell als Kette der Signifikanten (Symbolik) zu verstehen bleibt. Das Begehren ist streng betrachtet daher auch nicht diese Folge von Bedeutungen selbst, sondern eher die Verortung des Subjekts in Bezug auf diese Folge mit deren Effekten, worin es sich in der Dimension des Begehrens nach dem Anderen (A) widerspiegelt.

1 Zum Vergleich mit Spinoza siehe H. Ricard, De Spinoza à Lacan. Autre Chose et la Mystique, Paris, EME-L’Harmattan 2015. 2 Vgl. J. Lacan, Le Séminaire VI: Le désir et son interprétation, Paris, Éditions de la Martinière, Paris 2013, 18 ff.; dazu auch J. Rogozinski, Le moi et la chair. Introduction à l’ego-analyse, Paris, Cerf 2006, 66 ff.

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»Lustprinzip« und »Ding« (la chose) schlechthin

1.

»Lustprinzip« und »Ding« (la chose) schlechthin – oder Descartes, Kant und Sade

Mithin gibt es auch für Lacan in seinen späteren Analysen nach der anfänglichen Untersuchung zum Spiegelstadium 3 kein anderes Zeichen für die Gegebenheit des Subjekts als die Aufhebung oder aphanisis bzw. den »Tod« desselben. Die Geburt des Subjekts ist ganz offensichtlich identisch mit seinem Verschwinden hinter einem Signifikanten, der zugleich als Verlust im Sinne einer nie wieder geschlossenen »Wunde« empfunden werde. 4 Denn die Einschreibung in die Andersheit im absoluten Sinne von »Groß A« ist zweifach unstabil, da es einerseits keinen Signifikanten für das Andere des Anderen gibt und dadurch wiederum auch keine Garantie für die Wahrheit der Folge der Signifikanten selbst besteht – es sei denn nur, um an den »guten Willen« des Anderen zu glauben. In der mithin nicht metaphysisch zu verdoppelnden Andersheit des Anderen (A) erblickt Lacan daher gleichzeitig das große Geheimnis wie den Wert der Psychoanalyse, nämlich als jener Problematik des Begehrens, welche die Philosophie auf fast neurotische Weise stets umgangen habe. Denn anstatt das philosophische Subjekt mit dem Selbstbewusstsein als »Ich denke« zusammenfallen zu lassen, unterwerfe die Psychoanalyse die scheinbar unmittelbar durch Reduktion aufgefundene Evidenz des Selbst einem zusätzlichen Zweifel, indem es keineswegs so sicher sei, dass »ich bin«, sofern »ich denke«, da Denken stets das Existieren im »Schnitt« der Bedeutungskette beinhalte. 5 Das traditioVgl. J. Lacan, »Le stade du miroir comme formateur de la fonction du Je telle qu’elle nous est révélée dans l’expérience psychanalytique«, in: Écrits, Paris, Seuil 1966, 93– 100 (dt. »Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion«, in: Schriften I, Olten/Freiburg, Walther 1973, 61–70). 4 Für den späteren Lacan nimmt die Bedeutung des sinthomes als lalangue für die anfängliche Subjektbestimmung als Kind zu und bleibt grundlegend für den Zusammenhang von Symptom/Realem; vgl. J. Godebski, Le tout dernier enseignement de Lacan. Un renouvellement de la clinique?, Paris, L’Harmattan 2015. 5 Zwar übernimmt Lacan hierbei den Differenzgedanken von Ferdinand de Saussure als interne Unterscheidung im Sprachsystem, ohne aber die Referenz auf die Realität in den Bedeutungen zu berücksichtigen, weshalb er auch nicht an letzten fixen Elementen wie etwa den Lauten festhält. Da das Unbewusste sich jeder wissenschaftlichen (auch strukturalistischen) Zugänglichkeit entziehe, muss das Unbewusste gerade ein »Anderswo des Sprechens« im Sinne eines ständigen, nicht in irgendwelchen Elementen abschließbaren Sprachbezugs zwischen Selbst und Anderem beibehalten, wodurch Objekt und Sein in jedem Diskurs für immer voneinander geschieden bleiben – wofür nach Freud gerade das Symptom einstehe. Vgl. H. Müller, Die Lehre vom 3

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Cogito/sum und Phantasma im ethisch-analytischen Denken Jacques Lacans

nelle Subjekt der Philosophie würde in der Tat nicht nur in einer solchen Bedeutungskette seine eigene – unmögliche – Subjektivierung vollziehen, sondern es wäre in seinem »Ich bin« auch zur unendlichen Wiederholung des Denkens gezwungen, um im Denken seiner selbst ein sum bleiben zu können. Hierbei führt Lacan im Sinne der Postmoderne eine sprachanalytische wie strukturalistische Unterscheidung zwischen dem Subjekt der Aussage und dem Subjekt des Ausgesagten (énonciation/énoncé) ein, wodurch sich das Subjekt stets als Anfrage artikuliere: »Ist es – dieses Subjekt?« Das heißt, bin ich der, als der ich mich denke? Dass diese Frage im Anderen (A) schlechthin keine Antwort zu finden vermag, entspricht nicht nur der schon erwähnten Unmöglichkeit, die Andersheit des Anderen in einer weiteren Vorstellung oder Bedeutung zu verdoppeln, sondern besagt zugleich in der Aufdeckung einer illusionären Selbsttransparenz des Cogito den psychoanalytischen Hinweis auf die eigentlichere »Wahrheit« des Subjekts als einem »Es« oder »Unbewussten«. Dies bedeutet aber für Lacan eben keine neue Metaphysik einer tieferen Einheit oder Ursprünglichkeit des Subjekts, sondern jene postmoderne Opazität bzw. Differe(ä)nz des Signifikanten, die für immer das Sagen (Dire) vom Gesagten (Dit) trennt und daher die Psychoanalyse in der Kur zu einem theoretisch oder wissentlich uneinholbaren Sprechen zwischen Patient und Analytiker mache, mithin auch ohne auf ein bestimmtes »Etwas« im Sinne einer »Störung« letztlich abzuheben, die über die Deutung benennbar wäre. 6 Oder wie Lacan gleichfalls sagt, führt das Gleiten des BewusstUnbewussten und der Glaube an Gott. Ein Gespräch zwischen Psychoanalyse und Glauben – Jacques Lacan und Simone Weil, Düsseldorf, Patmos 1983, 51–66, zur weiteren Darstellung dieser Implikationen von Sprache/Unbewusstem. Ebenfalls zur sprachlichen Inkongruenz von cogito/sum Chr. Fierens, Lecture d’un discours qui ne serait pas du semblant. Le séminaire XVIII de Lacan, Bruxelles, EME & InterCommunication 2012, 10 ff. – Für eine andere mögliche Lektüre des cogito als videre videor bei Descartes vgl. M. Henry, Affekt und Subjektivität. Lebensphänomenologische Beiträge zur Psychologie und zum Wesen, des Menschen, Freiburg/München, Alber 2005, 33–50: »Die Kritik des Subjekts«. 6 Zur Situation der Psychoanalyse Freuds in den verschiedenen Stellungnahmen Lacans zu dieser Frage vgl. schon J.-M. Palmier, Lacan. Le Symbolique et l’imaginaire, Paris, Delarge 1972, 67 ff. u. 103 ff., sowie in Bezug auf die neu gegründete »École française de psychanalyse« durch Lacan: S. Lippi, Transgressions. Bataille, Lacan, Paris, Erès 2008, 225–231: »Transgresions à l›Église‹« u. 232–238: »Contre une psychanalyse ›incestueuse‹«; Riss. Zeitschrift für Psychoanalyse Freud – Lacan 1 (2017): Unterscheiden: Lacan / Freud.

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»Lustprinzip« und »Ding« (la chose) schlechthin

seins zwischen dem Ich und seinem angeblich transparenten Selbst zur Verdeckung der Verwechslung gerade dieses Selbst als solchem, welche schon Hegel in seiner »Phänomenologie des Geistes« so deutlich als Irrtum aufgewiesen habe. 7 In diesem Mangel, der mit der irrtümlichen, weil imaginären Selbstbezeichnung des Subjekts entsteht und durch die Anfrage (demande) an den Anderen (A) ausgeglichen werden soll, lässt das Subjekt etwas aufkommen, was Lacan das »Objekt klein a« nennt (objet a). Es ist das Objekt des Phantasmas 8 als Träger des Begehrens und damit auch des Subjekts, insofern letzteres durch den fehlenden Signifikanten durchgestrichen ist, was Lacan ebenfalls als »fading in der Trennung der Anfrage« bezeichnet. Das Objekt des Begehrens ereignet sich mithin in der Ek-sistenz, um diese zu stützen, aber das Subjekt ist mit diesem Objekt insofern als einem Versagen oder Mangel konfrontiert, als es keineswegs das Begehren des Begehrens als solchem ist. Denn das Begehren hat kein anderes Objekt als das Aufrechterhalten einer Dimension jenseits aller Dinge, was genau das »Objekt klein a« als Phantasma ausmacht. Dabei wird »a« als ein reales Element des Subjekts betrachtet, da es ausreiche, jene jenseitige Dimension in jeder Erfahrung beizubehalten, durch welche das Sein stets von dem verschieden ist, was sich als Objekt der Befriedigung einstelle. Als »Rest« lässt folglich das »Objekt klein a« das Sein als verlorenes Sein übrig, so dass sich das Subjekt in das absolut Andere (A) mittels der Anfrage als Rede einschreibt, um angesichts der Furcht vor dem möglichen Verlust seines Begehrens ein Supplement des fehlenden Signifikanten in sich durch den Anderen zu finden. Das »Objekt klein a« ist mit anderen Worten ein Bild, insofern die Widerspiegelung im Anderen das Subjekt selbst als sprechendes Subjekt ist. Auf der imaginären Ebene gewinnt also etwas als Bild des Subjekts eine Geltung, indem dieses Etwas als Objekt des Begehrens durch einen besonderen Signifikanten gekennzeichnet ist, welcher zugleich das Verbot (interdit) darstellt. 9 Für Lacan ist das Wirkliche als das »Reale« (le réel) seiner grundsätzlichen Bestimmung nach ohne Mangel, also Fülle, aber in der Vgl. Écrits, 809 f. Es findet sich im Französischen sowohl die Schreibweise phantasme wie fantasme, wobei erstere eher die unbewussten imaginären Produktionen bezeichnet, die zweite bewusste Produktionen, wie etwa auch bei Melanie Klein; vgl. J.-M. Palmier, Lacan, 32 Anm. 29. 9 Vgl. S. Lippi, Trangressions, 182 ff. 7 8

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Cogito/sum und Phantasma im ethisch-analytischen Denken Jacques Lacans

symbolischen Ordnung der Lebenswelt mangelt es dem Subjekt gerade an dem Objekt schlechthin, was als Objekt des Begehrens niemals irgendeine Lust oder ein Genießen (jouissance) kennt. Da dieses Objekt ohne möglichen Erfüllungsgehalt als solches das Verbotene ist, trägt das Subjekt in die Fülle des Realen die reine Handlung des Signifikanten als Träger der Rede hinein, das heißt eine »Nichtung« als Bild des abwesenden Phallus im Sinne eines letztumfassenden Gesetzes, was Lacan auch mit dem Zeichen minus-phi (–φ) versieht. Damit wird das Verhältnis des Verhältnisses zum »Logos« gekennzeichnet, mit anderen Worten die schon zuvor angedeutete Kastration, die hier auf der Ebene des Imaginären effektiv vollzogen wird, denn der tiefste Sinn dieser Kastration besteht darin, dass etwas Reales durch den imaginären Bezug die bloße Funktion des Signifikanten erhält. Das Objekt der Kastration ist folglich der Phallus, während das »Objekt klein a« als Wirkung dieser Kastration verbleibt, nämlich als Vermittlung zum Realen, welches der Anfrage widersteht und immer wieder als das »Unerbittliche« denselben Platz einnimmt. Und dies in jener Spalte oder Trennung, worin sich die Rede als das »wesenhafte Skandieren« errichtet. 10 Auf der imaginären Stufe nimmt das »Objekt klein a« die Funktion ein, den Punkt des genannten Bezuges des Subjekts zu seinem reinen Sein als Subjekt zu bezeichnen, um in diesem Verhältnis der Trennung die Synkope des Signifikanten aufzuhalten. Denn der Signifikant vertritt das Subjekt in seinem Verhältnis zur Kastration, mithin zu dem, was es nicht ist, das heißt kein Phallus, da dessen symbolische Kastration denselben als negatives Objekt auszeichnet. Was Lacan das »Fehlen-zu-sein« als Mangel des Phallus für das Subjekt nennt, kann analytisch-therapeutisch auch die tatsächlich psychische Spannung des Subjekts genannt werden – nämlich die »Vorstellungsrepräsentanz« der »Triebregung« im Sinne

Da jede Rede als Satz, Abschnitt, Text etc. »punktiert« oder »skandiert« auftritt, leitet sich aus dieser linguistischen Notwendigkeit auch die Praxis Lacanscher Therapiesettings ab, Sitzungen auf dem Höhepunkt eines analytischen Moments abrupt abbrechen zu können, damit die Eigenarbeit des Patienten von diesem selber bis zum darauf folgenden Gespräch fortgesetzt werde; vgl. B. Fink, Grundlagen der psychoanalytischen Technik. Eine Lacanianische Annäherung für Klinische Berufe, Wien – Berlin, Turia + Kant 2013, 79 ff.; Ph. Kuwert u. M. Meyer zum Wischen (Hg.), Jacques Lacan. Eine Einführung für die therapeutische Praxis, Stuttgart, Kohlhammer 2917; R. Kühn, Der therapeutische Akt. Seine Singularität in Bezug auf Wissen und Wahrheit in lebensphänomenologischer und Lacan’scher Perspektive, Freiburg/ München, Alber 2018, »Einleitung: Die besondere Zeit der Therapie«.

10

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»Lustprinzip« und »Ding« (la chose) schlechthin

Freuds. Das »Objekt klein a« als symbolische Privation des Phallus erhält dadurch seinen Platz als »Andersheit, Bild und Pathos«, insofern sich das Subjekt in einer imaginären Andersheit erlebt, mit anderen Worten vor einem Element, welches die Andersheit auf der imaginären Ebene ist. Zum anschaulichen Verständnis hier ein Schema von Lacan selber dazu:

Wenn das »Objekt klein a« als Phantasma auftritt, verschwindet das Subjekt dort, wo »es spricht« und sich als »Ich« artikulieren möchte, von seiner Stellung als Subjekt, insofern es sich als Begehren in diesem Träger des Phantasmas verwirklicht. Diese aphanisis in der Struktur des Phantasmas bedeutet folglich sowohl das durchgestrichene Subjekt (das Symbolische) wie die Spaltung (das Reale) vom Anderen (das Imaginäre). Eine solche Topologie oder Struktur von Symbolischem, Imaginärem und Realem (RIS) impliziert mit anderen Worten die Verdunkelung des Subjekts genau an dem Punkt, wo a das Maximum seiner Geltung erreicht, was einschließt, dass das Phantasma dem Subjekt opak bleibt, und zwar wegen der Opazität des Signifikanten. Denn das »Objekt klein a« tritt auf als das Anzeichen des Begehrens, anders gesagt als sublimierende Funktion einer Abwesenheit, deren »Ist es?« nichts anderes ausdrückt, als dass dort im Sein »es spricht«. Das Ichideal als Schleier, von dessen interner Problematik wir als philosophischem Cogito schon sprachen, findet sich mithin in seiner Funktion bezüglich der Ausrichtung auf das »Objekt klein a« wieder, welches die Dimension des Darüber-Hinaus oder Jenseitigen des Begehrens beizubehalten erlaubt. Das Subjekt sucht darin »den Schatten des anfänglich verlorenen Lebens«, welcher der »Schatten des Nichts« (rien) ist, insoweit sich der Begriff des Subjekts als sein Wesen/Sein (être) auf ein Nichts (rien) zurückführt, welches das metonymische Objekt herbeiruft. 11 Wir sehen hieran, wie die Dialektik von Anwesenheit/Abwesenheit als apriorisch postmodernes Differe(ä)nzdenken sowohl die Struktur der Sprache wie des Subjekts durchwalten soll, um sie letztlich als das Selbe zu verstehen, denn der Signifkant hat für das Subjekt keine andere Rolle, als das Subjekt für einen anderen Signifikanten darzustellen. Alle anderen Signifikanten repräsentieren daher für einen bestimmten Signifikanten das mögliche Subjekt, was aber nichts anderes bedeutet als: das Subjekt wird durch einen Signifikan269 https://doi.org/10.5771/9783495820537 .

Cogito/sum und Phantasma im ethisch-analytischen Denken Jacques Lacans

ten als Nichts (rien) re-präsentiert. Diese reine Metonymie eines sprachlich-alterologischen Verhältnisses des »Einen für das Andere« wird vom Phantasma in seiner Rolle als »Schirm« (écran) undurchsichtig gemacht, da das »Objekt klein a« jenen imaginären Ort ausmache, wo das Subjekt eine maximale Dichte zu besitzen scheint, welche aber nichts anderes als die Opazität des Signifikanten in Bezug auf das Sein des Subjekts ist. Dieses Objekt a ist wie der Stoff jenes »Ich«, welches anfänglich verdrängt wurde, das heißt in der Aussage des »Ich bin« verschwindet, um immer wieder neu reflexiv-bildhaft vergewissert zu werden, so dass die psychoanalytische Liste dieses Objekts a unendlich ist und etwa als Brustwarze, Phallus oder Harnfluss auftritt, aber auch als Blick oder Stimme nach Lacan. 12 Denn in ihrer »Vorstellungsrepräsentanz« ist ihnen gemeinsam, dass sie als Träger einer imaginären Symbolisierung die Struktur der Trennung offenbaren, insofern das Subjekt sich mit dieser Trennung über die Wahl von Partialobjekten identifiziert. Partialobjekt besagt hier nicht wie bei Freud, dass es sich um Teile eines Ganzen handelt, sondern um etwas Unbenennbares, welches nur im Unbewussten artikuliert zu werden vermag, nämlich als Diskurs des absolut Anderen (A), welcher das Nichtwissen des Subjekts hinsichtlich seines Begehrens bleibt. Das Rätsel des durchgestrichenen Anderen als die ständige Dialektik von Anwesenheit/Abwesenheit besagt daher in subjektiver Hinsicht, dass das Subjekt als die Andersheit – als seine je eigene imaginäre Andersheit – danach begehrt, seine Signifikanten als die Fülle seines Seins zu erfahren, aber dabei nur auf die Trennung der Opazität sich selbst gegenüber stößt – auf seine Abwesenheit in einer imaginären Anwesenheit. Wie in der Sprache sich die Bedeutungen nur durch ihre jeweilige Differe (ä)nz voneinander abheben, um »etwas« zu bedeuten, so ist auch das Objekt a wie eine Spalte oder ein Skandieren im Phantasma, so dass Teile des eigenen Körpers als Begehren dessen aufgefasst werden, was Écrits, 682; zur genannten Topologie von Symbolik, Realem und Imaginärem vgl. auch H. Müller, Die Lehre vom Unbewussten und der Glaube an Gott, 116 ff., sowie mit späterem Einbezug der »Borromäischen Knoten« J. Lacan, Le Séminaire XXIII: Le sinthome, Paris, Seuil 2005, 20 ff.; F. Wörler, Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale. Lacans drei Ordnungen als erkenntnistheoretisches Modell, Bielefeld, Transcript 2015. 12 Vgl. dazu S. Till, Die Stimme zwischen Immanenz und Transzendenz. Zu einer Denkfigur bei Emmanuel Levinas, Jacques Lacan, Jacques Derrida und Gilles Deleuze, Bielefeld, Transcript 2013. 11

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sich dem Begehren im Anderen darbietet. 13 Aber da das Subjekt in seinem Selbstbewusstsein seinerseits nur ein solches Partialobjekt darstellt, durch welches das Subjekt zu sich gelangen will, ist dadurch letztlich nur die hervorbringende Funktion des Unbewussten ausgedrückt, was eine wirkliche Begegnung mit dem Anderen (l’autre) – etwa in der Erotik – schwierig macht. 14 Das Objekt a hebt mithin keineswegs die Unkenntnis hinsichtlich dieses Unbewussten auf, denn was im »Es spricht« begehrt, um vom Anderen (A) als Begehren anerkannt zu werden, ist am Ende der »tote Vater« als »Name-desVaters«, dessen Autorität als Gesetz im Erkennenwollen dessen, ob ich will, was begehrt wird, die Grundfrage meines Lebens als wanted oder unwanted in Bezug auf meine Geburt im Leben wiederholt. 15 Das Begehren aber nicht zu wollen, errichtet den Phallus als Signifikanten, um diese an das Gesetz zu binden. In diesem Bereich der Illusion hat das Subjekt den Preis für sein Begehren zu zahlen, weshalb nach Lacan die Psychoanalyse in der Postmoderne eine Revision der Ethik fordern muss, sofern letztere als die Suche des Menschen nach dem Glück angesehen wird, aber wie Freud bereits aufzeigte, gewinnt die Wahrheit dieses Gesetzes ihre Berechtigung nur durch das Verbot. 16 »Das Ding« (la Chose) nimmt daher die Mitte der menschlichen Erfahrung und Aktivität ein. 17 Als ein stets Anderes scheint der Mensch dieses »Ding« mit seinem unsichtbaren Gesetz überall wieder zu finden, und zwar meist mit Bedauern, so dass dieselbe schon genannte Dialektik von Anwesenheit/Abwesenheit sich erneut auftut, nämlich hier als Verlust/Wiederfinden des »Dings« als Objekt. Das »Lustprinzip« aus Freuds 18 Theorie ist nicht so sehr, was sich diesem Ding entgegensetzt, sondern vielmehr verhindert, es zu erreichen, weil es dieses Ding in einer gewissen Entfernung hält, die zugleich Nähe ist, so wie Freud diesbezüglich ebenfalls vom problematischen Verhältnis zum »Nächsten« als bloßem »NebenmenVgl. Écrits, 814 ff.; P. Widmer, Die traumatische Verfassung des Subjekts, Band I: Das Körperbild und seine Störungen; Band II: Unfassbare Zeitlichkeit, Wien – Berlin, Turia + Kant 2016. 14 Vgl. H.-D. Gondek u. L. Tengelyi, Neue Phänomenologie in Frankreich, Frankfurt/ M., Suhrkamp 2011, 304–317, hier bes. 307 f.; A. Badiou u. B. Cassin, Es gibt keinen Geschlechtsverkehr. Zwei Lacanlektüren, Zürich, Diaphanes 2012. 15 Vgl. J.-C. Maleval, La forclusion du Nom-du-Père. Le concept et sa clinique, Paris, Seuil 2000, vor allem für den Fall der Psychose als »Verwerfung« des »Namens-desVaters«. 16 Vgl. J. Lacan, Le Séminaire VII: L’éthique de la psychanalyse 1959–1960, Paris, 13

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schen« schreibt. Dass der Andere als Nächster (autrui) zugleich der mir am meisten Fremde zu sein vermag, weil er uns entgeht, übersetzt die Lacansche Bedeutung von La Chose. Denn da sie sich als ausgeschlossenes »Ding« in einer innersten Außenheit befindet, impliziert letztere als verlorenes Objekt durch die Bindung an das scheinbare »Befriedigungserlebnis« die Intervention des »Nebenmenschen«. Dieser entspricht genau der ersten frühen (leiblich-affektiven) Wirklichkeitsauffassung bei der Mutter, da sie im »Neben« die Trennung wie die Identität oder Ähnlichkeit zugleich anzeigt. Als anderes Subjekt ist allerdings der Nächste/Andere als »Nebenmensch« imaginär, da alle Attributionsurteile von subjektiven Eigenschaften in das subjektive Feld der Vorstellungen eintreten, welche die Assoziation gemäß dem »Lustprinzip« in Gang setzen. Man kann hieraus leicht verstehen, das Jean-Luc Nancy für die jüngere Postmoderne nach Derrida ohne Schwierigkeit das »Fraktale« in all unseren »Berührungen« mit Anderen entwickeln konnte, da es eigentlich kein »Berühren« aufgrund omnipräsenter Juxtaposition in Raum und Zeit wie Geschichte gibt. 19 In solchem Zusammenhang muss »das Ding« weniger als das »Neben« letztlich gesehen werden (auch wenn es sich über den »Nebenmenschen« ankündigt), denn als das »Fremde«, weil es als isoliertes Element am Anfang keine Intuition davon seitens des Subjekts zulässt. Daher kann Lacan sagen, »das Ding« als das Fremde drücke die »ursprüngliche Teilung der Wirklichkeitserfahrung« aus, was insofern dennoch wiederum der Erfahrung des Nebenmenschen entspricht, als dieser im Sinne des imaginär Anderen (A) des »Befriedigungserlebnisses« spricht, das heißt gerade nicht als eine Identität mit mir vereinbar ist. Die Macht des Anderen als Sprechendem kennzeichnet das Subjekt als das absolut Andere des Subjekts, so dass das Subjekt wieder zu finden bleibe, aber gerade dies erlaubt das »BefrieSeuil 1986 (dt. Das Seminar. Buch 7: Die Ethik der Psychoanalyse, Berlin, Quadriga 1995). 17 Vgl. dazu etwa B. Baas, De la chose à l’objet. Jacques Lacan et la traversée de la phénoménologie, Leuven, Peeters-Vrin 1998. 18 Vgl. Das Ich und das Es. Metapsychologische Schriften, Frankfurt/M., Fischer 2014, 191–250: »Jenseits des Lustprinzips«. 19 Vgl. J. Derrida, Le toucher, Jean-Luc Nancy, Paris, Galilée 2000 (dt. Berühren, Jean-Luc Nancy, Berlin, Brinkmann & Bose 2007); J.-L. Nancy, Corpus, Paris, Métaillé 1992, (dt. Corpus, Berlin, Diaphanes 2003); Dekonstruktion des Christentums, Berlin, Diaphanes 2008, 36 f., mit Bezug auf Lacan.

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digungslerlebnis« nicht, da »das Ding«, welches gesucht wird, von Anfang an in ein erstes Außen verlegt wurde. Mit anderen Worten ist »das Ding« aus dem Verhältnis von Subjekt/Signifikant ausgeschlossen, wodurch der Einfluss des Signifikanten auf das psychisch Reale in Frage steht, denn das Subjekt versucht durch den immer wieder verschwindenden Signifikanten zu verstehen, wer es ist – genauer gesagt, was es für den Anderen (gewesen) ist. Aufgrund solch struktureller oder sich immer neu wiederholender Abwesenheit ist »das Ding« außerhalb des Bezeichneten (hors-signifié), und in seinem pathischen Bezug zu sich selbst bewahrt das Subjekt die dadurch gegebene Distanz zu sich selbst, nämlich in einem primären Affekt, welcher jeder Verdinglichung voraus liegt, da es sich um ein NichtWissen handelt. 20 Am Ende jeder »spezifischen Handlung« als »Mittel zur Reproduktion der Lust« findet sich daher »das Ding« als X der Bedeutung des Begehrens des Anderen (A), welches das Subjekt wieder findet, und zwar anstelle der Befriedigung ist es die Wiederkehr eines Zeichens durch die Rede des Anderen, die das gesamte symbolische System impliziert und dem wieder gefundenen Objekt entspricht. Daraus folgert Lacan, dass das »Lustprinzip« nichts anderes aufsuchen ließe als die Herrschaft des Signifikanten, 21 welcher der Sinn selbst des Glücks sei, sofern der traditionelle Sinn des Glücks die Begegnung bezeichnet. Die »spezifische Handlung der Lustbefriedigung« enthält daher nicht nur den Sachverhalt, dass ihr immer etwas fehlt, sondern die aufgesuchte Lust prinzipiell die Wiederholung beinhaltet, wodurch stets eine Differe(ä)nz innerhalb des gesuchten/gefundenen Objekts gegeben bleibt, wie dann Foucault für seine Beschreibung von Lust/Wissen und Lust/Machtstrukturen in Bezug auf den je eigenen Körper und die Anderen dies rezipieren wird. Wenn mithin sowohl bei Lacan wie Foucault jedes Sagen als reine Handlung des Signifikanten auftritt, da kein Signifkant jemals als Gesagtes erfüllt, was es verspricht, dann enthält jeder Diskurs als Sagen (dire) auch das Verbieten (inter-dire) – mit anderen Worten eine Macht-, Wissensoder Gesellschaftsstruktur als herrschende Epistemé. 22 In diesem

Vgl. L’éthique de la psychanalyse, 64 f., 68, 142 u. 161. Vgl. R. Kühn, Diskurs und Religion. Der psychoanalytische Wahrheitszugang nach Jacques Lacan als religionsphilosophische Problematik, Dresden, Text & Dialog 2016, 32 ff., zu den vier Diskurstypen bei Lacan: Herrschaftsdiskurs, universitärer, hysterischer und psychoanalytischer Diskurs.

20 21

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Inter als »Intervall« oder »Schnitt« ruht das Objekt des Mangels, des Begehrens als »dem Ding« einer Lust, welche nie gesagt, sondern unter-sagt, verboten werden kann. Die Lust als unmögliches Genießen (jouissance) spricht daher zwischen den Zeilen des Gesetzes, wie das Inzestverbot zeigt, da die Mutter als verbotenes Objekt den Platz »des Dings« besetzt hält und so als Grundlegung des Gesetzes verstanden werden kann. Wenn Freud als Korrelation des Triebs das inzestuöse Begehren freigelegt hat, dann hat er damit nach Lacan das grundlegendste Gesetz vom Begehren überhaupt aufgezeigt. 23 Das Gesetz als Ver-bot (inter-diction) versagt daher dem Subjekt die Lust nicht als solche, sondern macht aus einer fast natürlichen Schranke ein durchgestrichenes Subjekt, insofern das Vergnügen (plaisir) der Lust Grenzen setzt. Als verbotene Lust nennt sich das Begehren »unbefriedigt«, bzw. Begehren von etwas Anderem, das in der Struktur des »Lustprinzips« und dessen Signifikantenabhängigkeit als solcher gegeben ist. So vermag das Verlangen nach der Mutter nicht befriedigt zu werden, weil es als Begehren die tiefste unbewusste Struktur des Menschen selbst ist, nämlich als immer wieder zu suchendes und nicht zu erreichendes Ziel, was eben allgemein als das Gesetz des Verbots des Inzestes bezeichnet werden kann. Dieses unbewusste Verhältnis mit »dem Ding« sagt daher aus, dass das Begehren kein anderes Verhältnis mit diesem hat als dieses verbotene Verhältnis selbst, denn dadurch wird die Beständigkeit des Subjekts als Träger des Wortes oder der Rede garantiert. »Das Ding« im Herzen der subjektiven Aktivität stellt damit jene »verborgene Einheit« da, um die herum sich die ganze Bewegung der Vorstellung organisiert und moduliert, welche als »Vorstellungsrepräsentanz« die ersten Bündelungen der psychischen Organisation vornimmt, das heißt als das grundlegende Funktionieren der Signifikantenkette. Lacan unterschied dabei diese »psychische Materie« von der Affektivität, da es nicht die Affekte wären, welche jenes ökonomische oder dynamische Wesen benennen, das an der Grenze des analytischen Horizontes gesucht wird. 24 Die Affekte sind für Lacan also – im Unterschied zur Lebensphänomenologie – eher als bloßes »Signal« einzuordnen, während das energetisch dunkle Feld »des Dings« nicht nur das Subjekt innerhalb der intersubjektiven Vermittlung des Signifikanten bezeichnet, 22 23

Vgl. G. Deleuze, Foucault, Frankfurt/M., Suhrkamp 21995, 41 ff. Vgl. L’éthique de la psychanalyse, 82.

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sondern jenes Feld des Lustprinzips, welches jenseits des Lustprinzips ist, das heißt den Trieb als Todestrieb. Obwohl »das Ding« mithin nicht das Gute ist, kann es in Verbindung mit der Vorstellungsrepräsentanz das Wohl im Kantischen Sinne herbeiführen. »Das Ding« als Quelle allen Wohls auf der Ebene des Lustprinzips ist in sich keinerlei Gutes, da es sich im Bereich der unbewussten Erfahrung auch bereits als das gibt, was das böse Objekt ist, nämlich als Gesetz launenhafter Willkür von Zeichen, wo das Subjekt durch keinerlei »Sicherung« garantiert ist, um noch einen weiteren Kantischen Ausdruck bei Lacan zu gebrauchen. Als Höchstes Gut tritt »das Ding« am Horizont transzendenter »Güter« als Trugbild wie eine Fata Morgana auf, worauf sich das Begehren seinem strukturellen Wesen nach bezieht. Aber das Höchste Gut im Sinne Freuds bleibt die Mutter als Inzestobjekt, das heißt etwas Verbotenes, welches eben die Grundlage des moralischen Gebotes überhaupt abgibt. Die Moral bezieht sich folglich auf ein verlorenes Gut, welches ein solches bleibt, denn das Böse als sein Gegenteil bezieht sich nach Lacan ebenfalls auf nichts anderes, mit anderen Worten auf »das Ding«, welches als verbotenes das Böse ist. Das Gesetz hat daher kein anderes Gut zum Gegenstand als das, was nicht das Gute ist, denn dieses stellt sich – über das Wohl als Lustprinzip hinaus – gegen jedes Objekt. An dieser Stelle trifft sich Lacan zutiefst mit Kant, der das moralische Urteil von jedem Objekt befreit hat, indem er es von jedem Gefühl oder Interesse für die Erfüllung des Gebotes befreite, um ein ethisches Feld als solches zur Geltung zu bringen. Das heißt, dass das moralische Gesetz durch die symbolische Struktur das Reale zum eigentlichen Gewicht macht, »sich vergegenwärtigt« – und sich so gegen das Vergnügen (Lust) wendet, wodurch das Reale zur Garantie für »das Ding« zu werden vermag. 25 Was Kant 26 als »pathologisches« Interesse im Zusammenhang mit dem moralischen Gesetz bezeichnet hat, ist dementsprechend all das, was das Subjekt für ein Objekt erleiden kann. Dieses »pathologische Objekt« verbindet sich in der Sichtweise Lacans mit dem Begriff des »imaginären Ich«, weshalb die Artikulierung eines moralischen Gesetzes im Sinne einer Befreiung nichts mit der traditionellen Moral zu tun haben kann, da diese auf der Voraussetzung des Möglichen Vgl. ebd., 65, 72 u. 77; für eine programmatische Hinleitung zum Zusammenhang von Affekt, Leiblichkeit und Unbewusstem R. Kühn, »Die Frage nach der therapeutischen Grunderfahrung. Ein lebensphänomenologischer Dialog mit Freud und Lacan«, in: Jahrbuch der Psychoanalyse 75 (2017) 13–46.

24

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eines entsprechenden Handelns beruht, das zu tun sei. Letztlich entwickelt sich die traditionelle Moral in diesem Möglichen als einem Verhältnis zum Unmöglichen, nämlich als ein »Du sollst!«, welches im Prinzip durch nichts bedingt ist – es sei denn eben durch jenes Objekt als »das Ding«, welches das Unmögliche selbst ist. Was sich mithin diesem »Ding« schließlich substituiert (und zwar als sein Gegenteil wie sein Identisches), ist die Wirklichkeit als Befehl und Ordnung. Mit Kant gesprochen wäre »das Ding« infolgedessen das reine Gewebe des Signifikanten als die reine Maxime, welche all ihrer Bezüge zum Individuum beraubt ist. Dass sie mit dem »Guten« als Regel dann übereinfällt, heißt eine Distanz beibehalten, da das moralische Gesetz von allem zu befreien ist, was nicht »un-bedingt« wäre. 27 Diese Anerkennung Kants hinsichtlich des reinen oder kategorischen Imperativs ist aber zugleich auch die Grenze Kants, um ihn auf eine Stufe mit Sade stellen zu können, denn wenn Sade epochal für die Postmoderne wie etwa bei Bataille 28 den einleitenden Schritt betreffs radikaler Subversion in der Moral vornimmt, so ist Kant bereits jener Punkt, um den herum sie kreist. Kant hat in der Tat die Funktion »des Dings« als jenes Feld gesehen, in dem sich das Gesetz errichtet, ohne diese Sichtweise jedoch zu Ende zu führen, weil die Definition Kants jene wichtige Stelle leer lässt, wo die Existenz »des Dings« im Schoß des Realen auszumachen wäre – nämlich am Ort des Begehrens. Deshalb substituiert sich dem »Du sollst!« im Sinne des Kantischen Imperativs nur allzu leicht das Phantasma der Lust bei Sade als Imperativ, auch wenn dieses Phantasma als solches fast illusorisch ist. Aber nichtsdestoweniger kann es wie ein universales Gesetz auftreten, insofern seine Maxime lautet: »Ich habe das Recht, deinen Körper lustvoll zu genießen, und dieses Recht werde ich ohne irgendeine Grenze ausüben, ohne in der Laune meiner Leidenschaft innezuhalten.« War es bei Kant eine innere Stimme, die das Gesetz erlässt, so ist es bei Sade die Aussage eines Anderen; aber diese Zweipoligkeit zwischen dem Machtausübenden und dem Opfer ist in den 25 Vgl. L’éthique de la psychanalyse, 363 f., außerdem 28, 85 f. u. 92, sowie H.-D. Gondek u. P. Widmer (Hg.), Ethik und Psychoanalyse. Vom kategorischen Imperativ zum Gesetz des Begehrens. Kant und Lacan, Frankfurt/M., Fischer 1994. 26 Vgl. Kritik der praktischen Vernunft (Kants Werke Akademie Textausgabe V), Berlin, De Gruyter 1968, 71 ff. (Teil I,1.3). 27 Vgl. L’éthique de la psychanalyse, 68. 28 Vgl. unser vorheriges Kapitel II,4.3.

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Augen Lacans nichts anderes wiederum als die Spalte des Subjekts im Sinne der Trennung zwischen Aussage und Ausgesagtem auf der Sprach- und Bedeutungsebene. Hierin ist Sades Maxime – strukturell gesehen – sogar ehrlicher als der Anruf einer Stimme aus dem Inneren heraus, denn als Maxime aus dem Mund des Anderen lässt sie diese Trennung im Subjekt klar erblicken. Diese Wahrheit ist in Kants »Kritik der praktischen Vernunft« verschleiert, aber wenn wirklich jedes »pathologische« Gefühl aus dem moralischen Gesetz verbannt ist, dann ist schließlich eine sadistische Welt verstehbar, auch wenn es sich um die Karikatur einer radikalen Ethik handelt. 29

2.

Sublimierung und Tod des Subjekts als creatio ex nihilo

Es bleibt mithin für diese Kritik des traditionellen Cogito weiter zu verfolgen, woran im Verhältnis zum »Ding« die herkömmliche Ethik in postmoderner Perspektive scheitert, auch gerade als Ethik des Triebes, der Lust und des Erotischen. Aus dem zuvor Gesagten geht deutlich hervor, dass ohne Ver-bot (inter-dit) des Gesetzes das Subjekt betreffs seines Begehrens nicht weiß, dass es immer auch »das Ding« seines Nächsten begehrt. Somit ist das begehrte »Ding«, welches in sich indifferent ist, durch die Rede in einem verbotenen Verhältnis begründet – nicht in einer »Intimität«, sondern in einer »Extimität«, wie Lacan schreibt. Da »Ding« und Gesetz korrelativ sind, befindet sich das Begehren mit dem Gesetz anders gesagt in einem dialektischen Verhältnis, wodurch zugleich das Begehren wiederum zu einem »Todesbegehren« wird. 30 Wie der Apostel Paulus schon in seinem Römerbrief 7,7 ff. festgehalten hat, nimmt die Sünde (welche Mangel und nicht Teilhabe am »Ding« nach Lacan bedeutet) überhand, und dieses Paradox kennzeichnet den Misserfolg der Ethik, welche »das Ding« unter ein Ver-bot stellt. Die Menschheit hat daher dieses Gesetz übertreten und eine Erotik für das Verhältnis von Begehren und Transgression eingeführt, welche dem zuvor schon erwähnten »Objekt klein a« entspricht. Kant hat dies signalisiert, weshalb er gezwungen war, auf das »Ding an sich« (la Chose-en-soi) zu verweisen, welches aus der Unverfügbarkeit heraustretend – wie bei Sade, Bataille und Foucault – zu einem Dasein wird, das uns hin und her wirft, martert: »Leihen Sie mir einen Teil Ihres Körpers, der mich einen 29

Vgl. Écrits, 768 ff. (»Kant avec Sade« von 1963).

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Augenblick befriedigen kann, und genießen Sie, wenn es denn gefällt, einen Teil des meinigen, der Ihnen angenehm sein kann.« Diese Weise des Auftretens des Objekts gilt als Perversion, da das Subjekt sich selbst zum Mittel der Lust des Anderen macht, indem es ihm das »Objekt klein a« seines Phantasmas substituiert und so seinen Körper zerstückelt, wie es dem Zustand vor dem »Spiegelstadium« entsprach, aus dem heraus sich die imaginäre Ich- und Objektstruktur entwickelt. Vergleicht man diesbezüglich für die Postmoderne die zwei möglichen Formen der Transgression, das heißt Sublimierung und Perversion, dann handelt es sich beides Mal um eine Art Köder, indem das »Objekt klein a« als imaginäres Element des Phantasmas eben als das angesehen wird, was »das Ding« wäre, welches aber unzugängliche Lust, unmögliches Begehren bleibt. 31 Dieser Sachverhalt entspricht der Leere als Ort des »Dings« innerhalb des Realen, denn in der Vorstellung ist diese Leere in der Tat nichts (nihil). Deshalb wurde von uns schon festgehalten, dass die Vorstellung stets in einem Zusammenhang eines unbewussten Systems von »Vorstellungsrepräsentanzen« gefangen ist, welche den Zugang zur Lust als Genießen (jouissance) durchstreichen, insofern sie an das Lustprinzip gebunden bleiben. Das »Realitätsprinzip« nach Freud bildet dazu die »dialektische Korrelation« wiederum, insoweit wir »Wirkliches mit Vergnügen (plaisir) erstellen«. Lacan kritisiert hier nicht die hedonistische Tradition als solche, weil sie die positiven Wirkungen des Vergnügens unterstrichen habe, sondern weil sie nicht sagt, worin das Gute eigentlich bestehe – und uns so von unserer Lust/Freude im Sinne der jouissance fernhalte. Denn das Lustprinzip bildet begrifflich ein »Jenseitiges«, um uns unterhalb desselben zu halten, während genau dieses genannte Jenseitige nichts anderes als das Feld »des Dings« ist, welches sich allerdings mit dem Todestrieb vermischt, wie wir bereits wissen. 32 Aber warum ziehen wir nach Lacan in unserem Dasein den Tod vor, der als »Tod Gottes« und »Tod des Subjekts« die gesamte Moderne und Postmoderne im Anschluss an Nietzsche beherrscht? 33 Der »Todestrieb« erscheint destruktiv, aber er ist in den Augen Lacans nur wie ein Vorspiel zu einem »kreativen« Tun, nämlich als eigener creatio ex nihilo. Alles, was existiert, wird vom Todes- als Destruk30 31

Vgl. L’éthique de la psychanalyse, 100 f. Vgl. S. Lippi, Transgressions, 95 ff. u. 239 ff.

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tionstrieb in Frage gestellt, was für das System des Signifikanten heißt, dass von dessen Funktion her alles in Frage gestellt werden kann. Da der Signifikant nur in Gestalt des Schnitts oder der Trennung, mithin der Distanz oder Differe(ä)nz existiert, aber nicht an sich, wie mit Verweis auf das strukturalistische und postmoderne Sprachverständnis zu betonen bleibt, berührt das Subjekt in Bezug auf diese Signifikantenkette die Grundwahrheit, dass es darin als solches nicht vorkommt. Deshalb ergibt sich der Todestrieb aus diesem Verhältnis zwischen Subjekt und Signifikant, insofern das Subjekt im Signifikanten die Bedeutung seiner selbst als Fehlen, Destruktion oder Tod berührt, wodurch jeder »Partialtrieb« im Sinne Freuds virtuell einen »Todestrieb« darstellt. 34 Anders gesagt, »tötet der Buchstabe«, wie es bereits in der Bibel heißt, aber wir lernen diese Wahrheit nur vom Buchstaben selber, dass es sich mit jedem Trieb tatsächlich so verhält. Hervorbringung ex nihilo ist daraufhin jede Tätigkeit als Todestrieb in dem Maße, wie stets »etwas Anderes« begehrt wird und deshalb das Begehren immer wieder neu ansteht, weshalb in solchem Tun Zerstörung und Schöpfung zusammenfallen, nämlich als Nichts (rien) des Subjekts, dessen Sein oder Wesen nie für sich in einem ursprünglichen oder substantiellen Sinne existiert, sondern immer nur im Begehren des Anderen (A). Das heißt als »Zwischen« der Begegnung und der Rede, die sich beide nie zu einer endgültigen Identität schließen können, weshalb sich in Bezug auf Lacans psychoanalytische Theorie und Praxis der Kur und Therapie auch von einer »Erfahrung des Realen als Erfahrung des Unbewussten im Zerfall der verfehlten Begegnung« sprechen lässt – verfehlt in dem Sinne, dass sie eben nie zustande kommt. 35 Lacan nennt nun diesen Zusammenhang von Hervorbringung/ Todestrieb auch eine »kreationistische Sublimierung«, weil dadurch ein Objekt zur Würde »des Dings« erhoben wird, was auch mit der Ästhetisierung als »Selbstsorge« (Foucault) in der Postmoderne verVgl. L’éthique de la psychanalyse, 119, 124, 146 u. 218. Vgl. M. Enders, Postmoderne, Christentum und Neue Religiosität. Studien zum Verhältnis zwischen postmodernem, christlichem und neureligiösem Denken, Hamburg, Verlag Dr. Kovaë 2010, 73 ff.; D. Franck, Nietzsche et l’ombre de Dieu, Paris, PUF 1998. 34 Vgl. ausführlicher R. Kühn, »Der ›aufgeschobene Tod‹ im Begehren nach Jacques Lacan. Lebensphänomenologische Rückfragen an ein sprachlich-unbewusstes Therapiekonzept der Psychoanalyse«, in: Psychodynamische Psychotherapie. Forum der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapien 2 (2016) 95–113. 32 33

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Cogito/sum und Phantasma im ethisch-analytischen Denken Jacques Lacans

glichen werden kann. Indem in der Tat jedes Ding in seiner Leere ergriffen zu werden vermag, das heißt ohne irgendeine wirkliche Substanz, ist es möglich, es vollständig zu depersonalisieren, um ihm den Sinn eines reinen Signifikanten zu geben, was für Lacans Wirklichkeitsverständnis impliziert, dass es Realität nicht vor der Sprache gibt, sondern von dieser nur als »Wirkliches« bezeichnet wird, etwa als wahr und falsch, um dadurch erfahrbar zu werden. 36 In diesem Sinne tritt die Sublimierung als der Symbolisierungsvorgang eines Objekts selbst auf, aus dem ein Signifikant wird, aber wir sehen jetzt noch deutlicher, dass sich dieser Vorgang als creatio ex nihilo von einem »Loch« aus vollzieht, nämlich vom »Ding« als leerem Bild aus, wobei dann das »Objekt klein a« als »Repräsentant der Vorstellung« fungiert. »Das Ding« bleibt daher unbewusst, so dass alle vom Menschen geschaffenen Formen der libidinösen Ordnung der Sublimierung angehören, um auf eine bestimmte Weise die nicht verstehbare Leere »des Dings« durch die »Objekte klein a« zu repräsentieren. Wir entdecken hier für die Postmoderne allgemein das von Hegel 37 entlehnte Schema der Dialektik von Gegenwärtigung/Verschwinden in der Bewusstseinserfahrung wieder, 38 wobei jedoch im psychoanalytischen Kontext Lacans die Sublimierung im ausgeführten Sinne nicht nur der imaginären Funktion des Phantasmas zugeordnet wird, sondern in ihrer aktiven Bewegung nunmehr auch den Trieben im Plural. 39 Wenn Lacan »Trieb« auch mit dérive (Abdrift) in Anlehnung an den englischen Begriff drive übersetzen möchte, 40 dann ist damit sowohl der Trieb in seiner Tatsache als »Schatz der Signifikanten« bezeichnet wie auch als das Verschwinden des Subjekts, wenn Anfrage und Signifikant zusammentreffen. Da der Trieb in dieser Bedeutung nicht weit vom Feld »des Dings« entfernt ist, versteht Lacan ihn auch als ursprünglich von jedem Ziel abgewandt. Was sich vom »Ding« offenbart, ist mit anderen Worten der Ort der Triebe, wodurch zugleich deutlich gemacht wird, dass bei der Befriedigung der Triebe H. Müller, Die Lehre vom Unbewussten und der Glaube an Gott, 125 ff., sowie J. Lacan, L’éthique de la psychanalyse, 251 f.; D. Finkelde, Exzessive Subjektivität. Eine Theorie tathafter Neubegründung des Ethischen nach Kant, Hegel und Lacan, Freiburg/München, Alber 2015, 186 ff. 36 Vgl. H. Müller, Die Lehre vom Unbewussten und der Glaube an Gott, 132 ff. 37 Vgl. A. Pillen, Hegel in Frankreich, Freiburg/München, Alber 2003. 38 Bei Freud entspricht dies dem Spiel des Kindes mit einem Gegenstand anstelle der Präsenz der Mutter, wobei es »Fort/Da« ausruft; vgl. zu dieser menschlichen Grund35

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Sublimierung und Tod des Subjekts als creatio ex nihilo

Verdrängung/Wiederkehr des Verdrängten als Wiederholung immer zusammenspielen, und zwar als reines Spiel des Signifikanten im Sinne sich substituierender Bedeutungen für die gewöhnliche Befriedigung. Hingegen befriedigt die Sublimierung auf andere direkte Weise, ohne Rückkehr des Verdrängten und der Verdrängung, da letztere mit der Wiederkehr des Verdrängten identisch ist. 41 Denn der Begriff der Sublimierung enthält die Idee einer Veränderung, welche allerdings nicht im Ziel besteht, wie man nach Freuds Hinweisen glauben möchte, sondern im Objekt, das heißt als Befriedigung der Tendenz in der Veränderung ihres Objekts. Es handelt sich in dieser Veränderung ohne Verdrängung nicht um ein neues Objekt, sondern um die Veränderung des Objekts in diesem selbst. Dieses Objekt ist der Trieb oder die Libido, welche im Spiel des Signifikanten als grundsätzlich entfremdet von Lacan verstanden werden. Es ist ebenfalls das Begehren als Metonymie, sofern darin ein Ausschluss und ein unaufhörliches Gleiten innerhalb der Signifikantenkette stattfinden; gleichzeitig ist es das Objekt des Phantasmas, welches sich abtrennt und fallen gelassen wird. Die Veränderung des Objekts innerhalb der Sublimierung ohne Entfremdung (aliénation) durch die Verdrängung des vom Signifikantenspiel geprägten Triebes ist mithin ein impliziter oder expliziter Übergang vom Nicht-Wissen zum Wissen, anders gesagt die Anerkennung, dass das Begehren nichts anderes ist als die Metonymie des Diskurses der Anfrage an die jeweilige Andersheit. Das »Objekt klein a« enthält diese Anerkennung insofern, als das Ausgesagte des Begehrens den metonymischen Bezug eines Signifikanten zum anderen beinhaltet, woraus für die analytisch-therapeutische Praxis eine gewisse »Aszese« der »in Zucht genommenen Lust« erwächst, um daraus eine »gelebte Substanz für das Subjekt« hervorbrechen zu lassen, und zwar als reiner Schnitt des Signifikanten, als Todestrieb, Sein oder Begehren ex nihilo 42. Wenn es für Lacan mithin über die Sublimierung eine gewisse situation R. Schindler, fort-da. Psychoanalyse intensiv / extensiv, Baden (CH), Vissivo Verlag 2017. 39 Vgl. L’éthique de la psychanalyse, 87, 133, 157 u. 169; zu Hegel/Lacan in Abhängigkeit von Kojèves Hegelinterpretation J.-F. de Sauverzac, Le désir sans foi ni loi. Lecture de Lacan, Paris, Aubier 2000, 91 ff. 40 Vgl. C.-D. Rath, »Einige Beziehungen zwischen Lacanscher jouissance und Freudscher Lust«, in: Riss. Zeitschrift für Psychoanalyse Freud – Lacan (2017), 22–39. 41 Vgl. dazu ausführlicher R. Kühn, Begehren und Sinn. Grundlagen für eine phänomenologisch-tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und Supervision – zugleich ein Beitrag zu Jacques Lacan, Freiburg/München, Alber 2015, 187 ff.

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Möglichkeit des Glücks gibt, unser Streben als Tendenz des Begehrens zu erfüllen, dann nur als jener einzige Augenblick, wo sich die Phantasmen hervorbringen. Das einzelne Phantasma selbst gibt uns keinen Zugang zur Lust als wirklicher jouissance, das heißt zum »Ding« als solchem, wie wir sahen, weil die Schranke hierzu das Phantasma selbst als Prinzip des Vergnügens ist. Das Gute hält uns in seiner gewöhnlichen Funktion von der Lust fern, da es uns das Trugbild eines Jenseitigen vorspiegelt, wohinein Lust wie Genießen projiziert werden. Nur durch das Andere (A) zugänglich, haben wir weder durch irgendeine innere affektive Bewegung noch durch einen intuitiven Weg nach Lacan die geringste Idee vom Guten, während das Schöne hingegen uns nicht täuscht. Denn beim Schönen wohnen wir der Aufhebung des Horizontes des Begehrens bei, und zwar als Zerstörung eines jeglichen Objekts, was an Kants »interessenloses Interesse« aus der »Kritik der Urteilskraft« (1790) erinnert. Das Wahre als »das Ding« wird so vom Schönen angezeigt, obwohl es »das Ding« verbirgt. Mit bekannten biblischen und antiken Metaphern, die sowohl an die Unsichtbarkeit Jahwes im Alten Testament wie an die Ideen bei Platon erinnern, wäre das Wahre des Guten nur in seiner blendenden Schönheit zu sehen, welche aber das Sehen selbst gerade verhindert, weil »das Ding« als das Wahre immer nur verborgen gegeben ist. Das Schöne gewinnt damit die Rolle einer äußersten Schranke, um den Zugang zu einem grundsätzlichen Furchterregenden zu verbergen, was nichts anderes besagt, als dem Subjekt vor dem unbenennbaren Feld des radikalen Begehrens Einhalt zu gebieten. Dieses Feld ist die »absolute Zerstörung«, die »Zerstörung über die Verwesung hinaus«, so dass das Schöne diesbezüglich das Begehren einschüchtert, es verbietet, 43 wie Lacan dies an der emblematischen Figur der Antigone in der griechischen Tragödie verdeutlicht. Diese lässt jenseits des Imaginären ein anderes Imaginäres ex nihilo erscheinen, um so durch die kathartische Wirkung des Theaters von jeglicher imaginären (Seins-)Ordnung sowie den Leidenschaften gereinigt zu werden – insbesondere von Mitleid und Furcht. 44 Unter Verwendung von Aristoteles’ Begriff der Katharsis versteht Lacan allerdings ein solch reinigendes Vermögen des Bildes als »Zwischen-zwei-Toden«, weil sich der Glanz der Schönheit dieses Bildes wiederum aus der Aufhebung aller Objekte ergibt. Wird in Vgl. L’éthique de la psychanalyse, 399 f. u. 181; N. Langlitz, Die Zeit der Psychoanalyse. Lacan und das Problem der Sitzungsdauer, Frankfurt/M., Suhrkamp 2005.

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Sublimierung und Tod des Subjekts als creatio ex nihilo

der Tat dieses Bild als Trennung oder Schnitt betrachtet, als fehlendes Sein des Subjekts, als Todestrieb ex nihilo, dann wird verständlich, dass es sich bei diesem Bild um das reine Begehren handelt, das heißt um das Begehren nach dem Tod als solchem. Dieser ist nicht zunächst der biologische Tod, sondern der nunmehr schon öfters unterstrichene Platz des Begehrens als Verhältnis des Subjekts zu seinem »Fehlen-zu-sein«, was damit auch zu einem Verhältnis des Subjekts zu seinem »zweiten Tod« wird – zu jener Schranke, an der alle ontologische oder substantielle Vergewisserung als »Seinswissen« vergessen wird, wie die gesamte Postmoderne unterstreicht. In der Libido (sofern sie ein Trugbild der Befriedigung ist, ein Bild der Abwesenheit jenseits des Feldes des »Dings« als Andersheit) können wir in flüchtigen Augenblicken diese Konfrontation mit dem Jenseitigen der Abwesenheit vergessen, woran der »zweite Tod« erinnert. Dies heißt erneut nichts anderes, als dass alles Existierende geboren oder entstanden ist und dadurch nur im Mangel an Sein gegeben wird, weshalb der »zweite Tod« noch über den natürlich eingetretenen Tod hinaus gedacht werden muss. Dieser physische Tod vermag nämlich auf sich warten zu lassen, er kann sogar herbeigesehnt werden, was aber dabei verlangt wird, ist eigentlich der »zweite Tod«. Dieser Wunsch ergibt sich ebenfalls bei der Lust als Transgression des Begehrens, da sich eine solche Verwirklichung in ihrem Zielverlangen als Grenze setzt, wo der »zweite Tod« als der letztmögliche auftritt, wie es der mit dem Schönen verbundene Schmerz besonders zeige. Denn das Schöne hat hier nichts mit einem Ideal zu tun, welches mit dem Idealich verbunden werden kann, sondern mit einer »Grimasse«, um vom Mitleid und der Furcht wie in der antiken Theaterkatharsis zu heilen. 45 Die Furcht ist nämlich letztlich jenes Gefühl, nicht mehr begehren zu können, mithin die aphanisis als mögliches Verschwinden des Begehrens, so dass der Schmerz in existentieller Hinsicht jenes Feld für uns darstellt, wo sich genau die Möglichkeit abzeichnet, sich als subjektives Sein nicht mehr bewegen zu können. Der »versteinerte Schmerz« sei daher der Schmerz zu existieren schlechthin, wobei Subjekt und Begehren weiterhin identisch gedacht werden, nämlich Vgl. L’éthique de la psychanalyse, 256 u. 280; Écrits, 776. Vgl. P. Guyomard, La jouissance du tragique. Antigone, Lacan et le désir de l’analyste, Paris, Champ-Flammarion 1992; J. Vion-Dury (Hg.), Entre-deux-morts, Limoges, Pulim 2000. 43 44

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als reines Begehren im Sinne des reinen Seins als unzerstörbares Verhältnis. Mit anderen Worten ist der Schmerz eine stasis, welche das Existierende, das Subjekt, als das bestimmt, was nicht in das Nichts (néant) zurückkehren kann, woraus es hervortrat. Mithin handelt es sich wiederum um eine Schranke, wie sie Sade in seinem Phantasma als ewigen Schmerz auffasste. Der Schmerz ist daher der Signifikant jener Grenze, »wo das Subjekt in seinem Schmerz besteht«, folglich die Grenze des »zweiten Todes«, denn was an dieser Grenze angezeigt wird, ist die Unmöglichkeit für das Sein des Subjekts, sich weiter zu bewegen. Deshalb hat Kant unter den sonst als »pathologisch« verstandenen Gefühlen hinsichtlich einer reinen Ethik den Schmerz davon ausgenommen, da er eine gefühlsmäßige Korrelation zur Moral in ihrer Reinheit abgebe. Sade sah Ähnliches im Prinzip, wenn er zur Erreichung »des Dings« alle Schleusen des Begehrens öffnen wollte, um am Horizont derselben den Schmerz auftreten zu lassen – den des Anderen oder des Subjekts als »Angst des Lebens« selber. Der Zugang zum »Ding« kann aber auch durch die zuäußerst angestrebte Lust nicht erzwungen werden, da »das Ding« unerreichbar für die Lust bleibt – ebenso wie die Verbindung von Schönheit und Schmerz im imaginären Feld des Phantasmas verbleibt, weil das radikale oder unnennbare Begehren absolute Zerstörung ist: die Leere, das Fehlen, der zweite Tod des Subjekts. 46 Wenn die Lust nun ihrerseits ein Böses ist, dann deshalb, weil sie in sich das »Böse des Anderen« beinhaltet. Lacan stellt hierbei eine Verbindung mit Gott als dem schlechthin Anderen dar, der nach Nietzsche tot ist, was im strukturalistischen Kontext Lacans heißt, dass er der durchgestrichene Andere ist – der Abwesende. 47 Diese Abwesenheit, und nicht sein Tod, sei für den Eintritt des Bösen in die Welt verantwortlich, denn sie bezeichnet die Abwesenheit seines Signifikanten als letzte Antwort hinsichtlich der Garantie, welche vom absolut Anderen (A) im Sinne jenes Gesetzes ausgedrückt ist, welches im Tiefsten des Unbewussten ruht und mit dem Sinn des Todes identisch ist. Wenn mithin die Problematik des Bösen gegenwärtig neu von der Frage der Abwesenheit Gottes her im Sinne der Postmoderne zu stellen ist, 48 welche letztlich das Durchstreichen der Anerkennung durch das radikal Andere (A) bedeutet, dann impliziert Vgl. L’éthique de la psychanalyse, 341 u. 345; Écrits, 776, sowie S. Zižek, Grimassen des Realen. Lacan oder die Monstrosität des Aktes, Köln, Kiepenheuer & Witsch 1993. 46 Vgl. L’éthique de la psychanalyse, 304 u. 97; zur weiteren Diskussion auch R. Kühn 45

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dies die Notwendigkeit, dass sich das Subjekt in seinem Bezug zu solcher Andersheit selbst als durchgestrichen wieder erkennt. Dadurch setzt sich das Subjekt zugleich in seinem Verhältnis zum Signifikanten dergestalt, dass das Subjekt nicht wusste, das heißt tot war – nämlich das Subjekt als der schlechthin Andere als Subjekt der Aussage. Dieses unerkennbare oder verborgene Subjekt ist von dem des Ausgesagten verschieden, weil das sich im Sprechen mit sich selbst identifizierende Ich als Cogito nicht das Selbst ist, was wir eingangs als theoretische Grundvoraussetzung bei Lacan seit dem »Spiegelstadium« erwähnten. Das Böse wird mithin aktiv, weil das Subjekt in seinem Verhältnis zum Signifikanten es nicht wusste, und dieses sein Nicht-Wissen bedingt die Illusion eines Jenseitigen der Funktion des Guten in Bezug auf das Begehren. Das Durchbrechen dieser Illusion stellt sich daher als »eine Frage des Wissens« (science) – »eines Wissens des Guten und Bösen«. Indem wir nämlich vom Verbot ausgehen, gelangen wir zunächst zur Erkenntnis des Guten, aber von da aus gelangen wir nur zur Erkenntnis des Bösen in Wirklichkeit, welches nicht die Erkenntnis des Höchsten Gutes ist, sondern des verbotenen Guten. Anders gesagt, erreichen wir eher über das Böse als über das Gute die Lust, aber eben nicht als das Höchste Gut, sondern als das verbotene Gute. Lacan stellt folglich seine Frage nach Gut/Böse nicht in Abhängigkeit vom Wert, von dem her die Dinge gewöhnlich axiologisch oder auch psychologisch aufgeteilt werden, 49 sondern mittels des Zugangs hinsichtlich »des Dings«, was besagt: hinsichtlich des Wissens der Lust oder des Genießens als »dem Ding«. Deshalb ist uns die Lust nicht wegen des Bösen verboten, sondern letztere bleiben uns vielmehr unter-sagt, bevor wir wussten, dass Gott tot war. 50 Um noch besser für den analytisch-postmodernen Kontext zu verstehen, was das Wissen vom Bösen und vom toten Gott als seine Abwesenheit im Signifikanten darstellt, gehen wir zusätzlich von der Bosheit unseres Nächsten aus, welche auch jene Bosheit ist, vor sich selber zurückzuweichen, und die ebenfalls in mir ist. Lacan setzt, dass (Hg.), Pathos und Schmerz. Beiträge zur phänomenologisch-therapeutischen Relevanz immanenter Lebensaffektion, Freiburg/München, Alber 2017. 47 Vgl. J. Lacan, Le Séminaire XX: Encore, Paris, Seuil 1975 (dt. Das Seminar XX: Encore, Berlin/Weinheim, Quadriga 1986), hier besonders Kap. XIII über den »Tod Gottes«; dazu M. Binasco, Lacan et la religion (Diagnonales de l’option épistémiques de l’IF – Document 2), Paris, EPFCL 2001. 48 Vgl. R. Kühn, Diskurs und Religion, 224 ff.

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mir nichts näher sei als das eigene Herz meiner Lust, dem ich mich dennoch kaum zu nähern wage. Denn sobald ich mich meinem Herzen nähere, breche jene unergründliche Aggressivität in mir auf, welche ich dann gegen mich selbst wende und anstelle des verschwundenen Gesetzes sich dessen Gewicht auf jene Grenze lege, die es mir verhindere, den Abstand zum »Ding« zu überschreiten. Wenn Lacan hierzu das Gebot aus dem Neuen Testament aufgreift, »meinen Nächsten zu lieben wie mich selbst«, dann würde ich deshalb davor zurückweichen, es zu tun, weil sich am Horizont solcher Liebe etwas zeige, was an einer unerträglichen Grausamkeit teilhabe, insofern die Nächstenliebe in ihrer eigenen Richtung der grausamste Weg sein kann. Das »Selbe« in mir, um den Nächsten zu bezeichnen, ist für ihn zugleich »das Ding« – jenes Innere als Leere, von denen wir nicht wüssten, ob sie mir oder niemandem zugehörten. Es gibt hier folglich eine gewisse Grenze zu überschreiten, und wenn dabei die Leere das Bild der zu entdeckenden »Leere Gottes« bildet, dann besteht die Macht Gottes gerade darin, »in dieser Leere selbst voranzuschreiten«. Auf diese Weise offenbart sich die Richtung auf den Anderen hin als Anerkennung des Nächsten in der »Dimension des Abenteuers«. Sade sprach schon von der Gestalt Gottes als dem »Höchsten Wesen an Bosheit«, und für Lacan gilt in diesem Kontext, dass sich auf einen solchen Gott der Bosheit das ausgesprochene Gesetz als Verbot beziehe. Geschichtlich sei die Frage der Nächstenliebe mit dem »Tod Gottes« identisch, denn ohne dieses Gebot zu zerstören (durch die Aufbewahrung seiner Zerstörung selbst befinde es sich vielmehr auf einer veränderten Ebene), lautet das einzige Gebot in Zukunft: »Du wirst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!«. Wenn für das postmoderne Empfinden der Neuzeit auf ideologisch unerträgliche Weise der Gipfel des ethischen Gebots mit diesem Gebot der Nächstenliebe zusammenfalle, dann deshalb, damit sich das menschliche Subjekt in Bezug auf das Begehren selber zu seinem eigenen Nächsten mache. 51 Dennoch führt diese Anerkennung des Gebots der Nächstenliebe als Selbstanerkennung des eigenen Begehrens zur Zerstückelung des Körpers des Nächsten. Eine gewisse Grenze wird in der Nächstenliebe überschritten, nämlich jene mit dem Feld des Imaginären identische 49 Innerhalb der psychotherapeutischen Richtungen vgl. besonders V. E. Frankl, Der leidende Mensch. Anthropologische Grundlagen der Psychotherapie, Bern, Huber 1984, 177 ff., über den Zusammenhang von Sinn/Wert. 50 Vgl. L’éthique de la psychanalyse, 217 u. 277.

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Grenze. Einerseits werde ich in der Tat durch dieses Gebot in Bezug auf den Anderen zu einem ihm Gleichen und andererseits würde ich dadurch aufhören, bei der Begegnung mit ihm gewisse Etiketten zu verwenden. Die Liebe zum Nächsten ist daher etwas anderes als jene narzisstische Liebe, die leicht mit dem Altruismus verwechselt wird, so wie auch unser Mitleid nur durch das Bild des Anderen vermittelt ist, welches schnell in Aggressivität umschlägt, wenn ich mich im Feld meines Nächsten befinde – nämlich im Feld meiner Lust und meines Vergnügens. Die Identifikation mit dem Anderen als dem »Selben« ist also nicht frei von Grausamkeit, denn ich habe mir ein Bild von mir wie von ihm gebildet, woran ich nur zu gern eben meine Etiketten festhefte. Jenseits von diesem Bild ist demzufolge eine Leere aufzusuchen, welche im Bild des Anderen selbst nicht gesehen wird, da sie über das lustvolle Vergnügen meinerseits hinausliegt. Wie aber ist dieses Jenseitige der Nächstenliebe zu erreichen, welche zugleich das Gesetz des Verhältnisses des menschlichen Subjekts zu sich selbst darstellt, das heißt zu seinem eigenen Begehren als seinem »Nächsten«? Was hierzu benötigt wird, ist ein »Verbrechen«, um es mit Sade zu sagen, wo wir den zuvor erwähnten Gott als das »Höchste Wesen an Bosheit« handeln sehen. Diese Bosheit versteht sich nicht unbedingt im Sinne der Aggressivität, die damit nichts zu tun hat, weil es sich um eine Übertretung (transgression) handle, welche sich gegen die Gesetze der natürlichen Ordnung zu wenden scheint, wie es nochmals Sade sich vorstellte. Lacan nennt dies das »geringfügige Phantasma«, da es aus dem ex nihilo erfolge. 52 Mit anderen Worten ist die Triebfeder dieser Bosheit der »Todestrieb« als das schon zuvor mit Freud erwähnte »Jenseitige des Lustprinzips«, da es sich als Zerstörung um eine Schöpfung vom Nichts (rien) aus handelt, um jenseits des Imaginären das »Objekt klein a« des Phantasmas als eines anderen Imaginären einzuführen. Wenn Sade illustrieren kann, dass die Lust als Transgression des Begehrens eine Zerstückelung des Körpers des Nächsten zur Folge hätte, so ist dahinter noch ein weiteres Phantasma gegeben, nämlich der »unzerstörbare Charakter des Anderen«. Dieses andere Phantasma steigt aus der Gestalt des Opfers empor, wie auch bei Bataille, und das Subjekt löst dessen ewiges Leiden von ihm ab, um das Opfer eine »ewige Pein« ertragen zu lassen, von der es als Subjekt im Sinne eines unzerstörbaren Trägers durchgestrichen ist – als »der Schmerz zu existie51

Vgl. ebd., 231 f. u. 92, sowie Le désir et son interprétation, 484 ff.

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ren«. Sades testamentarisch letzter Wunsch, dass von ihm selber und seinem Grab für die Menschen nichts übrig bleibe, kann daher für Lacan nur heißen, dass dieser unsinnige Wunsch einer »ewigen Pein« ausschließlich den Ausdruck des »reinen Begehrens« zu bedeuten vermag: »das Begehren des Todes als solchem«. Das Verbrechen, welches die abstoßende Routine der Natur für Sade durchbrechen sollte, impliziert daraufhin eine äußerste Konsequenz, wonach sich die Auflösung des Subjekts noch verdoppelt, um die zerfallenen Glieder unseres Körpers ihrerseits gänzlich zerstört sein zu lassen, damit sie sich nicht wieder erneut als »Sein« vereinen können. 53 Wiederum handelt es sich hier um die These vom »zweiten Tod« bei Lacan, was zum einen besagt, dass das Subjekt in seinem Verhältnis zum Signifikanten nicht wusste, dass es tot war, und dass die Symbolisierung seines Begehrens im Grunde etwas Unbenennbares darstellt. In dieser Psychoanalyse eines sprachlich-symbolisch strukturierten Unbewussten steht somit der Tod postmodern am Anfang, indem er die Existenz des Menschen als eine Signifikantenkette trägt, weshalb die Subjekte in ihrer Entfremdung eine fundamentale »Hilflosigkeit« nach einem Ausdruck Freuds an den Tag legen. Nie sind die Menschen als Subjekte wirklich ge-wesen, wie Heidegger noch unterstrich, und ihre Ge-wesenheit als Vergangenheit ist im Grunde eine unvollendete Zukunft, von der sie nicht wissen, was sie dann sein werden. Denn stets impliziert die einzelne wie letzte Erfahrung des Menschen, dass sein Selbstverhältnis der Tod für ihn aufgrund der für das Subjekt an keiner Stelle zu schließenden Rede an Andere (A) ist, »von denen keinerlei Hilfe zu erwarten ist«. Der »zweite Tod« kann angesichts dieser Lage, welche die Verzweiflung nährt, nur die Einschreibung des ausgeschlossenen und unbenennbaren Begehrens in den Ort des Symbolischen bedeuten – das heißt hier für unsere Analyse zu Ethik und Tod als Verneinung im Sinne der Zerstörung des Signifikanten. Die Psychoanalyse als Ethik mit Bezug auf die postmoderne Existenzerfahrung ist folglich die Verwirklichung eines Begehrens im Sinne eines säkularisierten »Jüngsten Gerichtes« bei Lacan: »Habt ihr gemäß dem Begehren in euch gehandelt?« Nicht unserem Begehren nachzugeben, ohne darauf zu verzichten, weil es in uns wohnt, heißt seine Inanspruchnahme der Dinge als Güter zu durchschauen, welche als Metonymie stets das »Etwas- Anderes52 53

Vgl. L’éthique de la psychanalyse, 238. Vgl. Écrits, 776.

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Wollen« einschließen – und damit das Jenseitige einer Illusion, wovon nur ein Tun befreien kann, für welches der Tod des Ödipus als Paradigma erscheint. 54 Das letzte Wort des Ödipus enthält in der Tat einen äußersten Wunsch: »Besser nicht sein!« Der Akzent ist hier nach Lacan auf das Nicht (ne pas) zu legen, denn diese Negation entspricht der notwendigen »Spaltung zwischen Aussage und Ausgesagtem«, welche das Hervorbrechen des Subjekts auf der Grundlage des Signifikanten, mithin auf dem Boden eines unbekannten Seins als Wirklichkeit begründet. Soll jedoch die menschliche Existenz gemäß dem vollendeten Tod des Ödipus ihr Ende finden, dann deshalb, weil es kein zufälliger Tod ist, sondern der wirkliche Tod, indem Ödipus selber sein Wesen und Sein (être) streicht. Dieser privilegierte Tod ist daher der »Triumph des Seins-zum-Tode«, aber er bedeutet nicht wie bei Heidegger die letzte irrelative Daseinsmöglichkeit als unsere eigentliche Möglichkeit schlechthin, sondern ein tragisch-komisches Schicksal, welches sich als »Entfremdung« wie als »Entfliehen« bereits am genannten Anfang befindet, der eben kein fester oder ewiger »Ursprung« sein kann, wie auch die übrigen postmodernen Autoren unterstreichen. Vom Anfang unserer Existenz an herrscht ein unaufhörliches Gleiten unter das Ephemere der Signifikanten, wie wir sahen, da wir uns nach Lacan nie am Ort eines möglichen Rendez-vous mit uns selbst einfinden. Eine Zustimmung in dieses Gleiten als Gesetz der Signifikanten ohne Halt im »Garn« derselben ist daher nur möglich als der nicht benennbare Tod. Deshalb tritt das Begehren als tragisch auf; es ist Begehren des »zweiten Todes«, insofern sich das Begehren selbst der Ordnung der Welt entzieht und sich als »Sein des Nicht-Seienden« bejaht. Denn das Subjekt vermag niemals ein festzuhaltendes oder definiertes Seiendes zu werden, wenn es durch das Gleiten der Signifikanten als solches bestimmt ist. Daher gibt es auch kein anderes Objekt für das Begehren als jenes, welches man für die Befriedigung des Begehrens zahlt: »ein Pfund des Fleisches« unseres Leibes. Dies ist es, was jeweils den Rang eines bestimmten Signifikanten erhält, um das verschwindende Subjekt, sein fading, am Ort der Symbolisierung zu bezeichnen. 55 In Hegelscher Sichtweise der »Phänomenologie des Geistes« hat Vgl. L’éthique de la psychanalyse, 351 u. 362, sowie auch die spätere Weiterführung solch analytisch-therapeutischer Ethik durch J. Lacan, Le Séminaire XVII: L’envers de la psychanalyse, Paris, Seuil 1991; Le Séminaire XVIII: D’un discours qui ne serait pas du semblant, Paris, Seuil 2007. 54

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das Selbstbewusstsein die Natur sich gegenüber; es ist daher notwendigerweise ein körperliches Selbstbewusstsein, das ebenfalls nicht als reine Substanz im Sinne eines absoluten Bei-sich-seins gedacht werden kann, weshalb der Tod die Manifestation dieser Nicht-Substantialität bedeutet. In der Todesangst wird dieser Widerspruch von Selbst/absolutem Sein auch vom Selbstbewusstsein selbst erfahren. Daher ist der Tod für Hegel der »absolute Herr«, wie auch Lacan grundlegend festhält, was mit anderen Worten heißt, dass das Selbstbewusstsein in der Todesangst seine Abhängigkeit anstelle der Signifikanten von der Leiblichkeit erfährt. Es erfährt in diesem Moment seinen Organismus nicht mehr als Vermögen über die äußere Natur, sondern diese wirft den Organismus oder Leib als in sich zurückgedrängte Kraft bzw. Begehren auf sich selbst zurück. Dadurch wird offenbar, dass der Körper nicht nur ein willenloses Instrument des Selbstbewusstseins darstellt, sondern eine eigene Existenz besitzt, die vom Vermögen abhängig ist, den äußeren Naturkräften zu widerstehen. Diese in sich zurückgedrängte Kraft erprobt das Selbstbewusstsein in der Todesangst, sofern die Kraft der Natur bisher widerstand, in dieser Todeserfahrung jedoch ein »Beben von allem Fixen« erfolgt, wie Hegel sagt. 56 Alle Lebensfunktionen sind bei dieser Erfahrung aufgelöst, um in die Einheit zurückgenommen zu werden, in der das Leben als solches erprobt wird. In diesem Sinne ist die Erprobung der Todesangst die Erfahrung des körperlichen Bei-sichseins, wodurch zu Tage tritt, dass das angenommene reine Bei-sichsein des Selbstbewusstseins eigentlich eine Abstraktion des leiblich erfahrenen Bei-sich-seins ist. Mithin ist das Selbstbewusstsein keine Substanz, die als absolutes Wesen aller Wirklichkeit der Natur gegenüber steht, sondern das bestimmte Wesen seines eigenen Organismus. Daher wird im reinen Selbstbewusstsein dieser Erfahrung die Einheit des leiblichen Lebensprozesses als solche gefasst, wodurch das Selbstbewusstsein dann als das Wessen seiner eigenen leiblichen Natur betrachtet werden kann. Ein Selbstbewusstsein, welches in der Todesangst das reine Wesen seines eigenen Lebensprozesses erfährt, hat damit die Fremdheit der eigenen Natur überwunden, aber als reines Wesen eines bestimmten Lebens ist es immer noch nicht absolut. Denn der SubstanVgl. L’éthique de la psychanalyse, 361 f. u. 353. Vgl. Phänomenologie des Geistes, Hamburg, Meiner 1988, 130 f.; dazu auch P. G. Cobben, »Das Verhältnis zwischen Bruder und Schwester. Derridas Deutung von He-

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tialität des Selbstbewusstseins wird immer noch durch den Tod widersprochen, obwohl die Todesangst gezeigt hat, dass das eigene Leben dem Selbstbewusstsein nicht fremd ist. Hieraus folgt nach Hegel, dass sich das Selbstbewusstsein nicht nur als das Wesen seines eigenen Lebens zur Geltung zu bringen hat, sondern das Wesen des Wesen des Lebens überhaupt. Wenn mithin das Selbstbewusstsein die Bestimmtheit seines einzelnen Lebens überwindet, das heißt seine Sterblichkeit transzendiert, kann es seine Substantialität retten, wie die Analyse des Herr/Knecht-Verhältnisses ausführt, wonach der Knecht über die Arbeit für den Herrn letztlich seine Arbeit als Ausdruck der allgemeinen Freiheit versteht, die der Herr im Wissen um seinen Tod immer schon verwirklicht hat. Da Lacan sowohl jeden Substanz- wie Dialektikgedanken aufgrund der ursprünglichen »Verwerfung« zwischen Begehren und Cogito zurückweist, kann auch im Tod letztlich keine Eigentlichkeit des Selbst erfahren werden, sondern nur dessen Todesbestimmtheit schlechthin. Mit Hegel teilt er jedoch den Vollzug dieser reinen Todesgegebenheit als einer Wahrheit des Subjekts, die alles Wissen (Signifikanz) um sich selbst auflöst. Was die Postmoderne zumeist philosophisch als dezentriertes Subjekt thematisiert, findet daher als ursprüngliches sum moribundus, um es mit Heidegger 57 – nach Hegel – zu sagen, ein offensichtliches Echo aus psychoanalytischer Sicht bei Lacan, der damit auf seine Weise zur Neubewertung eines originären Cogito einlädt, bei dem Philosophie und Psychoanalyse gleichwertige Gesprächspartner sein können. 58 Dass dabei eine andere Descarteslektüre möglich ist, die ebenfalls das rein phänomenologische Leben als passio oder Intensität des Cogito an den Anfang stellt (Deleuze, Henry), liegt auf der Hand. Aber es bleibt Lacans Verdienst, durch seine Freilegung eines verworfenen Phantasmas auf die subtile Gefahr eines Ursprungsdenkens hinzuweisen, das einen solchen Anfang erneut in eine »Metaphysik der Vorstellung« verlegen würde, anstatt hier das reine Begehren am Werk zu sehen, welches letztlich keiner begrifflichen Sprache zugänglich ist, um als solches erprobt werden zu müssen. Die Postmoderne hat bisher die individuellen wie kulturellen Konsequenzen eines alterologisch orientierten Differe(ä)nz- und Plugels Antigone«, in: B. Goebel u. F. Suarez-Müller (Hg.), Kritik der postmodernen Vernunft. Über Derrida, Foucault und andere zeitgenössische Denker, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2007, 147–176, hier 150 f., wo auch das Herr/KnechtVerhältnis weiter ausgeführt wird.

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ralitätsdenkens vorgezogen. Was als kommende Aufgabe bestehen bleibt, 59 ist – bei aller Berechtigung desselben auf der gesellschaftlichen Ebene gegenseitiger singulärer Anerkennung – nicht eine immemoriale Einheit transzendentaler Verlebendigung zu verkennen, wie sie auch Hegel vorschwebte, die auch eine erneuerte gemeinschaftliche Zukunft diesseits von ausschließlicher Metonymie und Metaphorik als Anerkennungssymbolik eröffnen könnte.

57 Vgl. Sein und Zeit, Tübingen, Niemeyer 111967, § 46–53: »Das mögliche Ganzsein des Daseins und das Sein zum Tode«; Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs (GA 20), Frankfurt/M., Klostermann 1979, 437 ff., zum cogito sum als sum moribundus – »Ich bin mein Sterben«. 58 Vgl. auch in Ergänzung zu unserer Anm. 5 schon M. Henry, Généalogie de la psychanalyse. Le commencement perdu, Paris, PUF 1985, mit den entsprechenden Kapiteln zu Descartes und Freud. Zum Verhältnis von Phänomenologie und Psychoanalyse in Frankreich seit Minkowski und Sartre bis heute allgemein vgl. H.-D. Gondek u. L. Tengelyi, Neue Phänomenologie in Frankreich, 260 ff. 59 Vgl. im Einzelnen auch R. Kühn, Lebensethos. Inkarnatorische Konsequenzen originärer Lebensreligion, Dresden, Text & Dialog 2017, hier besonders Kap. III,8: »Religion und jouissance bei Jacques Lacan und Michel Henry« (S. 156–187).

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Das Verschwinden des Anderen (A) als postmoderne »Melancholisierung«

3.

Das Verschwinden des Anderen (A) als postmoderne »Melancholisierung«

Greifen wir die bisherigen nur kurzen Hinweise zum Verhältnis zwischen Lacan und der Postmoderne systematischer auf, so könnte man von einer Melancholisierung des postmodernen Subjekts sprechen, 60 die für Lacan mit der »Verwerfung« (forclusion) des Anderen (A) als Hilfe oder Gesetz (Phallus) letztlich zusammenfällt, 61 wie besonders schon der »Tod Gottes« als Abwesenheit eines »Höchsten Gutes« unterstrich. Mit anderen Worten beginnen die bisher orientierenden Systeme von Werten, Traditionen und Institutionen als Regulierung für den Zusammenhang von jouissance/Gebot im Bereich des Begehrens zu wanken, 62 wobei gerade Wissenschaft und Neo-Kapitalismus gegenwärtig noch teilweise gewisse Versprechen verbürgen, die strukturell jedoch nicht von ihnen eingehalten werden können. Seit der Aufklärung aufgerufen zu einer Freiheit, jeweils sein eigenes »Selbst« zu verwirklichen, das von keiner äußeren Bevormundung mehr abhängen soll (Kant), nimmt aber der Druck zu einem solchen »Selbstgenuss« zu, wodurch im Grunde – im Namen eigener Freiheit – die Macht eines undurchschaubaren Gesetzes nur erhöht wird. Daher tritt nicht nur jene für die meisten Subjekte wachsende Einsamkeit immer stärker hervor, sondern die Postmodernität erscheint insgesamt als eine verwirrende Infragestellung des Einzelnen und der Gruppen, sich auf einem neoliberalen Markt einzurichten, der selbst keine Steuerung von außen kennt, sondern allein seiner indifferenten Gewinnmaximierung folgt – so wie die Wissenschaften gleichfalls nur der eigenen Selbstlegitimierung durch Fortschritte »objektiver

Vgl. S. Lesourd, »La mélancolisation du sujet postmoderne ou la disparition de l’Autre«, in: Cliniques Méditerranéennes 75/1 (2007) 54–73. Diese Diskussion fand zuvor schon im Bereich der Architektur und Kunst statt; vgl. M. Perelman, »Origines radicales et fins mélancoliques de l’architecture postmoderne«, in: Prétentaine. Institut de Recherches Sociologiques et Antrhopologiques Montpellier 6 (1996) 149–161; S. Kofman, »Die Melancholie in der Kunst«, in: P. Engelmann (Hg.), Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart, Leipzig, Reclam 1990, 224–243. Bereits aufgegriffen in R. Kühn, Ästhetische Existenz heute. Zum Verhältnis von Leben und Kunst, Freiburg/München, Alber 2007, 75–140. 61 Vgl. J.-C. Maleval, La forclusion du Nom-du-Père, 33 ff.; M. Zafiropoulos, Lacan et les sciences sociales. Le déclin du père (1938–1953), Paris, PUF 2001. 62 Vgl. R. Pirard, Le sujet postmoderne entre symptôme et jouissance, Toulouse, Erès 2010. 60

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Erkenntnis« und deren Bestätigung durch erfolgreiche technische Anwendungen folgen. 63 Lassen wir hier die zusätzlich wachsenden familiären und sozialen Beziehungsproblematiken als weitere Kennzeichen postmoderner Existenz beiseite, 64 die zu einer vermehrten Psychologisierung und Medikalisierung aller »Defizit«-Erscheinungen führen, so tritt für den strukturellen Zusammenhang von jouissance/Gebot vor allem ein fast nicht mehr stillbarer Konsum in den Vordergrund, der sich sowohl in einer endlos ködernden Objektproduktion mit zweifelhaftem Wert wie auch in zunehmenden Tendenzen der »Selbstabdankung« oder sogar »Selbstflucht« in den unterschiedlichsten Freizeitund Suchtbereichen ausdrückt. 65 Auch die »befreite Sexualität« kann hierzu gezählt werden, denn sie favorisiert schnelle und flüchtige Begegnungen, wo der Andere – mit Batailles 66 Worten ausgedrückt – zum »Abfall« wird, weil nur die augenblicklich je eigene Lust zählt. Die Liste der postmodernen Symptome könnte ohne Zweifel noch leicht verlängert werden, denn letztere machen insgesamt deutlich, was Lacan 67 als »dritten Weg« zwischen der (Ent-)Täuschung der Tradition und des angepriesenen Fortschritts angekündigt hatte, nämlich beim diffus verbreiteten Imperativ »Genieße!« keinem Herrendiskurs und dessen Phantasma über das eigene »Objekt a« zu folgen, sondern dem »Namen-des-Vaters« nicht weiter Folge zu leisten, indem man sich seiner Figur unter den verschiedenen Bezeichnungen

Vgl. auch R. Kühn, Subjektive Praxis und Geschichte. Phänomenologie politischer Aktualität, Freiburg/München, Alber 2008, 347 ff. u. 382 ff., zur Kapitalismus- und Wissenschaftsentwicklung. 64 Schon A. Mitscherlich hatte in den 1960er Jahren diesen Wandel nachgezeichnet; vgl. Auf dem Weg zu einer vaterlosen Gesellschaft. Ideen zur Sozialpsychologie (1963), München, Piper 101973. 65 Vgl. M. Henry, Die Barbarei. Eine phänomenologische Kulturkritik, Freiburg/ München. Alber 1994, 296 ff. (Studienausgabe 2016). Konsum und Werteverlust stehen hierbei insofern in einem Zusammenhang, als die Werte nur noch jeweils für begrenzte Bereiche gelten, aber kein allgemein verbindlicher Wert mehr gegeben ist; vgl. N. Luhmann, Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/ M., Suhrkamp 1984. Deshalb erfahren die Individuen kaum mehr ihre mögliche Identität über ihre Berufszugehörigkeit, sondern eben im Konsumbereich, der ihr imaginäres Selbstbild durch Surrogate stützt; vgl. etwa A. Wintels, Individualismus und Narzissmus. Analysen zur Zerstörung der Innenwelt, Mainz, Grünewald 2000. 66 Vgl. L’érotisme (1957), Paris, Minuit 1972, 35 ff. (dt. Die Erotik, München, Fink 1994). 67 Vgl. Le seminaire XVII: L’envers de la psychanalyse, 43 ff. 63

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wie Gesetz, Phallus, Alterität etc. anders bedient, auch wenn er in den Diskursen selbst nicht abgeschafft werden kann. 68 Dies heißt, das »Objekt a« soll nicht länger die Struktur des Über-Ich verstärken, wenn gesehen wird, dass alle Objekte nur »Scheinobjekte« bilden, sofern sie letztlich auf imaginäre Weise Höchstes Gut und Unendliches verheißen. Innerhalb der Postmoderne, welche die repressiven Ideale der Moral dekonstruiert hat, ist mit anderen Worten zu sehen, dass daraus keine Melancholie vor einem »verlorenen Objekt« erwächst, wie es Neurose, Hysterie, Obsession und Perversion als alltägliche Umgangsformen miteinander auszeichnet, sondern ein »sich begrenzendes Objekt« im »unendlichen Begehren« selbst, insoweit erprobt wird, dass jedes Begehren in einer »Wunde« anhebt (béance), die mit keinem Objekt (a) gefüllt zu werden vermag. 69 Die Begegnungen mit Anderen unterliegen dann ohne Zweifel der existentiellen Kontingenz, weil keine unendliche Anfrage mehr an den Anderen (A) gestellt wird, aber zugleich ist diese Kontingenz dann ebenfalls eine singuläre Entdeckung wie Erfindung (invention), deren Akt je im Vollzug frei ist – und damit immanente jouissance als praktische Wahrheit dieses Aktes selbst. 70 Diese Singularität ohne sicherndes Wissen bleibt ohne Zweifel an das postmoderne Lebensgefühl rückgebunden, aber dabei wird die Postmoderne nicht mehr länger als eine neue allgemeine »Erkenntnis« genommen, sondern die existentielle Differe(ä)nz wird als phänomenologisch welthafte Wahrheit in ihrer Struktur ohne weitere Ideologisierung durch einen allgemeinen Anspruch gelebt. Diese neue psychische Ökonomie nach Lacan kann daher in den postmodernen Ungewissheiten dahingehend lauten, angesichts des fortschreitenden Verlustes der »phallischen Funktion« als Bewusstseins- wie als Handlungsreferenz im Bereich lebensweltlicher Symbolik ohne den »Namen-des-Vaters« auszukommen. 71 Dies wäre gleichzeitig die Weise, nicht mehr länger den imaginären zeitgenössischen Diskursen zu folgen, die jouissance als eine (kapitalistische) Vgl. J. Lacan, »La Troisième« (Interview au Congrès de Rome 1974), in: Lettres de l’Ecole freudienne 16 (1975) 6–26 (überarbeitet in Le Triomphe de la religion précédé de Discours aux Catholiques, Paris, Seuil 2005, 67–102: »Le triomphe de la religion«). 69 Vgl. Le séminaire XVII: L’envers de la psychanalyse, 99 ff. 70 Vgl. im Einzelnen R. Kühn, Der therapeutische Akt, Ausblick: »Das Aktsein im Verhältnis zum Ganzen und Singulären«. 71 Vgl. J.-C. Malevale, La forclusion du Nom-du-Pere, 105 ff. J.-A. Miller, »Le dernier enseignement de Lacan«, in: La cause freudienne 53 (2003) 7–39. 68

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»Mehr-Lust« (plus de jouir) gegen das schon genannte »Begehren ohne Objekt« auferlegen. 72 Gefragt ist folglich die schöpferische Entdeckung von subjektiven Akten, welche der postmodernen Melancholie über verloren gegangene Werte und Traditionen nicht folgen, um in die eigene creatio ohne Illusion einer Vollendung von Sinn, Substanz, Sein oder Glück einzutreten, wie wir schon darstellen konnten. Dies ist lebensphänomenologisch gesehen um so einsichtiger, als der »Ursprung des Lebens« als ununterbrochenes AnkünftigWerden des rein phänomenologischen Lebens in uns bereits alle Potenzialität desselben mit sich führt, um eine solche illusionslose creatio auch effektiv innerhalb der Selbstgebung des Lebens zu vollziehen, die kein partikuläres Ziel als Finalität oder Erfüllung mehr anstrebt – da die Fülle des Lebens in dessen Selbstgebung als solcher bereits gänzlich verwirklicht ist. Hysterische Klagen, Ansprüche wie Forderungen gegenüber der »Wirklichkeit« von Leben und Welt haben letztlich in dieser lebendigen creatio als transzendentaler Lebensgeburt keinen Platz mehr, die in der Perspektive Lacans eben zwischen Imaginärem und Realem zu unterscheiden weiß. Denn das Imaginäre – gerade auch in der Postmoderne – bietet sich stets schneller und leichter an als das Reale, welches in der Existenz als das prinzipiell Unvorhersehbare und Unmögliche hereinbricht. 73 Dadurch nimmt auch für die analytisch-therapeutische Sichtweise das Symptom im Zeitalter der Postmoderne einen veränderten Stellenwert gegenüber der jouissance ein. 74 Es handelt sich nicht länger um einen Gegensatz, den Freud 75 noch durch die »Deutung« der Verdrängung im Symptom als Konflikt mit der Libido mittels Erkenntnis im Sinne von »Bewusstwerden« der konfliktuellen Genese überwinden wollte, sondern die neue psychische Ökonomie plädiert dafür, eher vom »Objekt a« selber als vom Phallus (Gesetz, Wert, Sinn etc.) auszugehen. Denn insofern dieses »Objekt a« nach Lacan Zum Zusammenhang von »Mehrwert« nach Marx und der »Mehr-Lust« vgl. J. Lacan, Le séminaire IX: … ou pire, Paris, Seuil 2011, 52 f., 118 f. u. 224 f. 73 F. Wörler, Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale, 192 ff. – Dass wir dem Leben hinsichtlich der Aufgaben zu antworten haben, die es uns aufträgt, anstatt (neurotische) Fragen an das Leben zu stellen, entspricht bereits der entscheidenden »Kopernikanischen Wende« innerhalb der Existenzanalyse von Viktor E. Frankl; vgl. Der leidende Mensch, 15 ff. 74 Vgl. J.-A. Miller, »Le sinthome: un mixte de symptôme et fantasme«, in: La cause freudienne 39 (1998) 7–17. 75 Vgl. Das Ich und das Es, 103–116: »Die Verdrängung« (1915). 72

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keinerlei anthropologische oder ontologische Finalität mehr verfolgen muss, ist es der Ausdruck eines Begehrens, welches sich als seine eigene Ursache versteht und daher auch nicht mehr mit »dem Ding« (la Chose) als Transzendenz schlechthin verwechselt werden kann, wie wir ausführten. Anstelle der postmodernen Melancholisierung gegenüber dieser Situation treten folglich neue Modalitäten der jouissance, die keiner im Voraus festgelegten Begehrenserfüllung als objektaler Befriedigung mehr folgen, etwa durch Medien und Werbung, sondern eher den immanenten Modalisierungen des Lebens ohne Fixierung in der »Vorstellungsrepräsentanz« (Freud). Dadurch ändert sich ebenfalls die bisherige theoretische Vorgabe der Differe(ä)nz als Königsweg der Dekonstruktion, denn diese Differe(ä)nz wird nicht länger von der Vorstellung des Sinnaufschubs für das Bewusstsein bestimmt, sondern letztlich von der »affektiven Differenz« Freude/ Schmerz, worin das »Wort des Lebens« als solches vernehmbar ist. 76 Denn erst in diesem phänomenologisch originären Bereich, der in keinerlei Hinsicht mehr ein Vorstellungsbereich ist, kann eine jouissance außerhalb der phallischen Funktion gelebt werden, die auch den »Vater« (Gesetz, Gott etc.) nicht mehr als Evidenz oder Dogma eines »Ursprungs« im Sinne einer Sicherheit benötigt. Die »gegenseitige Innerlichkeit«, von der Michel Henry in diesem Zusammenhang einer rein phänomenologischen Verbindung von Leben/ Lebendigem spricht, bildet die Unmittelbarkeit dieser Verbindung selbst, die im Augenblick ihres je selbstaffektiven Vollzuges selbst nicht in Frage gestellt werden kann – ohne allerdings eine Idee oder Vorstellung dieses Vollzugs selbst zu bilden. Wenn Lacan und seine Schule hierbei eher den Weg über den Begriff der »gewöhnlichen Psychose« heute gehen, der sich aus seiner späteren analytisch-therapeutischen Lehre über das sinthome und die lalangue ergibt, dann darf man nicht vergessen, dass die klinische Psychose – eventuell mit Wahnbildungen – die Verwerfung (forclustion) des »Vaternamens« als primäres Erleben beim Kind impliziert, während die »gewöhnliche Psychose« die postmoderne Melancholisierung des Subjekts zwischen Symptom und jouissance darstellt, um hier auf schöpferische Weise eine je individuelle Antwort zu suchen, ohne »Einsamkeit«, »Beliebigkeit« und »Individualismus« zu neuen Dogmen zu erheben. 77 Der Vgl. M. Henry, Affekt und Subjektivität, 26 ff. u. 128 ff. Vgl. D. Delcourt, »Névrose et psychose. Diagnostic différentiel: la structure en question, approche psychanalytique«, in: L’en-je 16 (2011) 129–142;

76 77

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Zusammenbruch des Patriarchats in den westlichen Gesellschaften als postmodernes Ereignis des Endes des »Vater«-Signifikanten als »Herrensignifikant« durchzieht heute die Banalität des Alltags wie der Klinik, wodurch sich gerade auch die Ängste und Befürchtungen ändern sowie ebenfalls das Verständnis von Beziehungen zwischen Mann/Frau, Kind/Eltern etc. 78 Die Klarsicht gegenüber den imaginären Inkarnationen des schlechthin Anderen (A) bleibt daher selbst in der Postmoderne weiterhin eine dringliche Aufgabe, denn hier bilden sich die maßgeblichen lebensweltlichen Referenzen heraus, die gerade auch durch die postmoderne »Dekonstruktion« nicht aufgehoben, sondern unendlich weiter gebildet werden. In gewisser Weise stellt die »Entfremdung« des Subjekts im Sinne von Lacan unter diese imaginäre Referenz den jeweiligen Subjektbezug zur Welt selbst dar, die als »Realität« nicht mit dem »Realen« identisch ist, weil der Weltbegriff immer schon eine gewisse signitive Ordnung impliziert. Diese Referenzen sind mithin sowohl Ursprung wie Ausrichtung der Subjekte innerhalb der jeweils herrschenden symbolischen oder lebensweltlichen Diskurse. Die individuellen Anfragen in diesem Bereich kommen als umgekehrte Botschaft zurück, das heißt als »Antwort« dergestalt, wie sie an den Anderen (A) adressiert wurden. Davon ist der »hysterische Diskurs« das herausragende Beispiel, insofern er Freuds psychoanalytische Entdeckungen des Symptomalen überhaupt erst ermöglichte, und andererseits stellt dieser Diskurs die Grundklage gegenüber der Welt dar, nicht so zu sein, wie sie sein sollte. 79 Was Freud 80 als religiöse Neurose auf der Grundlage ängstlich rituellen Verhaltens beschreibt, war bereits die Analyse einer Anfrage an den Anderen (A) als All-Macht, um die Struktur der menschlichen Grunderwartung infolge ihrer prinzipiellen »Hilflosigkeit« offen zu legen, welche die Postmoderne durch die Dekonstruktion der großen »Meta-Erzählungen« 81 rein in Erscheinung treten lässt – nämlich die Leere jeder Lehre, um auf diese Hilflosigkeit letztlich vergeblich zu antworten.

Vgl. R. Pirard, Le sujet postmoderne entre symptôme et jouissance, 21 ff. u. 45 ff. Vgl. R. Kühn, Diskurs und Religion, 58 ff. 80 Vgl. »Zwangshandlungen und Religionsausübungen« (1907), in: Gesammelte Werke, Bd. 7, Frankfurt/M. 1968, 129–139. 81 Vgl. J.-F. Lyorard, La condtion postmoderne. Rapport sur le savoir, Paris, Minuit 1979 (dt. Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Wien, Passagen 52005). 78 79

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Diese Ohmacht zusammen mit der Klage gegenüber der Welt, die jede imaginäre Anfrage besitzt, scheint sich postmodern über die vorübergehende Melancholisierung aufzuheben. Um nicht in letzterer zu verbleiben, muss das postmoderne Subjekt jedoch erproben, die Abwesenheit jedes Anderen (A) als reine Anwesenheit des Lebens ohne weiteres Imaginäre und Vorgestellte zu leben. Melanie Klein 82 hat dies als die kindliche Depression beim Verlust der Mutter-Imago beschrieben, und für die Postmoderne insgesamt ließe sich darüber hinaus hervorheben, dass die »Dunkle Nacht« nicht nur ein individuelles Phänomen ist, sondern durchaus auch eine allgemein mystische Erfahrung wie bei Johannes vom Kreuz und anderen darbietet, die sich auf den Objektverlust als imaginäre Erfüllung schlechthin beziehen lässt, um dem Begehren in seinem immanenten Begehren als solchem zuzustimmen. 83 Die »Leere der Lehre« ist dann eine Fülle; keine »Qual der Wahl«, um die tragische oder melancholische Situation des postmodernen Subjekts noch immer unter dem Gebot des Über-Ichs oder Phallus bzw. »Vaters« zu verlängern, die von Lacan für dasselbe Subjekt daher auch als eine »tragisch-komische« Situation bezeichnet wird, die nicht ohne Parallele zum gesellschaftlichen Lachen über »das Komische« bei Bergson ist. 84 Denn dieses Gebot des »Vaters« ist nicht nur schwer zu erfüllen, sondern prinzipiell unmöglich in seiner Erfüllung im Sinne einer Idealität, weshalb auch die Freiheit der »Differenz« desselben Subjekts zum Scheitern verurteilt ist, solange es sich in der Illusion dieser Differenz als »Freiheit« vollziehen will. Das Ende der Postmoderne ist nicht irgendeine – schließlich auf wundersame Weise gelungene – geschichtliche Anpassung an die gängige Formel »Sei du selbst!«, sondern die unmittelbare Erprobung dieses Selbst als Sich in seiner passiblen Lebendigkeit, die nichts vom möglichen Realen ausschließt, weil sie selbst phänomenologisch das Realste ist, welches zugleich auf jede Weltbegegnung hin öffnet. Lacans Entwurf eines »dezentrierten Subjekts« ist daher nicht nur eine Kritik an Freud und dessen aufklärerischem Versuch, selbst das Unbewusste noch rational-deutend zu

Vgl. M. Klein, Das Seelenleben des Kleinkindes und andere Beiträge zur Psychoanalyse (1962), Stuttgart, Klett-Cotta 1983. 83 Vgl. J. Lacan, Encore, 92 ff. 84 Vgl. J. Lacan, Le désir et son interprétation, 601 ff.; M. Titze u. R. Kühn, Lachen zwischen Freude und Scham. Eine psychologisch-phänomenologische Analyse der Gelotophobie, Würzburg, Königshausen & Neumann 2010, 85 ff. 82

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durchdringen. Vielmehr entreißt Lacan das »ex-zentrische Subjekt« 85 über seine analytisch-strukturalistische Annäherung zu Beginn seines Werkes der Stummheit des Biologischen, um durch die Verwandtschaft mit der Sprache das Unbewusste selbst zu universalisieren. Wie das rein phänomenologische Leben ist das Unbewusste mehr als die selbstreflexive Kernsubstanz der »Person«, es ist das Ganze der kulturellen Ordnung, 86 wodurch dann einerseits die Erscheinung von Kollektiv/Individuellem sowie andererseits die metaphysische Relation zwischen Wesen/Erscheinung entfällt. Es wird also nicht nur das naturwissenschaftliche Biologische evakuiert, sondern auch die Sinntotalität der Zeichen (Signifikat) wie noch bei F. de Saussure, um die einzelne Äußerung allein mit dem Signifikanten als differe(ä)ntiellem Unbewussten zu korrelieren. Ist aber die Bedeutung in solcher parole (Rede, Sprechen) als Primat der Vorstellung aufgehoben, dann bleibt allein der Verweis auf andere Bedeutungen übrig, wodurch eben auch die Postmoderne selbst nicht mehr zu einer neuen allgemeinen oder ideologischen Bedeutung werden kann. Das »Ende der Metaphysik« ist daher hier ihre Einklammerung als Maßstab für Realitätsaussagen, insofern stets und überall Schein für Wirklichkeit über die Sprache (langue) gehalten wird. 87 Dann gilt aber zugleich, dass in der Tat die Postmoderne keine utopische Verheißung mehr in sich zu bergen vermag, da alles unbewusste Sprechen immer schon Gegenwart als Begehren geworden ist. Mit anderen Worten ist die Aufhebung des Verdrängten schon anwesend in der unbewussten Subversion innerhalb der Signifikantenkette, die vom Begehren durchzogen wird. Dieses Begehren ist nämlich das Streben nach der Aufhebung jenes primären Narzissmus, durch den das Ich sich im »Selbstbewusstsein« an sich selbst als »den Anderen« als vorgestelltes »Ich« wendet, um das Unbewusste zum Objekt seines Begehrens zu machen, welches dann intersubjektiv verkettet ist, insofern das narzisstische Ich sich imaginär über die Rede an den Anderen (A) wendet, um seine eigene Ich-Gefangenheit über die symbolische Ordnung aufzulösen. 88 In der Melancholisierung der Vgl. D. Finkelde, Exzessive Subjektivität, 195 ff. Vgl. R. Prange, »Das strukturale Unbewusste als postmodernes Subjekt: zur LacanRezeption von Rosalind Krauss«, in: P. Schneemann u. Th. Schmutz (Hg.), Masterplan. Konstruktion und Dokumentation amerikanischer Kunstgeschichte, Bern, Villa Mettlen 2005, 65–83. 87 Vgl. J. Lacan, D’un discours qui ne serait pas du semblant, 163 ff. 88 Die analytische Tradition unterscheidet Ichideal und Idealich; ersteres meint die 85 86

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Postmoderne wird folglich strukturell individuelle Befangenheit auf kollektiver Ebene nochmals durchschritten, da diese Befangenheit nicht in irgendeinem Bild als Ganzem durchschaut werden kann, sondern eben nur in Partialobjekten (a) existiert, die zugleich der inkarnierte Mangel im Phantasma sind. Die Ganzheitswünsche leiblichsinnlichen Erlebens in der Postmoderne sind als »Lüste« (Deleuze, Foucault) und »Körperlichkeit« (body building, piercing etc.) 89 daher immer schon körperlich zersplittert, was eben die Melancholie über das »verlorene Objekt« nur verstärken kann. Auf diese Weise findet heute leicht eine Verlagerung des »Idealichs« zum »Ichideal« statt, welches sich nicht mehr in der schon erwähnten beruflichen Routinewelt verwirklichen kann und daher imaginäre Räume der »Selbstverwirklichung« aufsucht, um etwa durch Abenteuerreisen etc. den Narzissmus des »Größenselbst« (Kohut) momentan leben zu können. Aber genau hiermit wird durch eine solche »asymptotische Identität« keine Widerspiegelung mehr innerhalb der Berufs-, Verwaltungsoder Wissenschaftswelt selbst aufgrund des indifferenten Marktes erreicht, was dann weitere individuelle oder affektiv Unsicherheit auslöst. 90 »Das Ding« (la Chose) ist im Sinne Lacans in der Tat unwiederbringlich verloren, so dass eine permanente Schaukelbewegung zwischen Ideal-Ich und befriedigtem Begehren nur als nie erfülltes »Selbstgefühl« wahrgenommen wird. Insoweit ist diese Ebene radikal phänomenologisch gerade durch die Gegen-Reduktion zu verlassen, um die narzisstische Nicht-Erfüllbarkeit diesseits aller herrschenden postmodernen Bedingungen nicht in der polymorph-perversen

Herausbildung von Identifikationen mit kollektiven Werten (Eltern etc.) in Konvergenz mit dem primären Narzissmus, das zweite ist eine intrapsychische Bildung, die ein Ideal narzisstischer Allmacht definiert; vgl. J. Laplanche u. J.-B. Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt/M., Suhrkamp 1986, 202 f. H. Kohut nennt es das »infantile Größenselbst«, welches mit der narzisstischen Besetzung der eigenen Person korreliert, die dann gleichzeitig alle Unvollkommenheiten der Außenwelt zuschreibt; vgl. Narzissmus. Eine Theorie der psychoanalytischen Behandlung narzisstischer Persönlichkeitsstörungen, Frankfurt/M., Suhrkamp 1976, 130 f. 89 Vgl. S. Luft-Steidl, Fitness- und Gesundheitsbewegung – Neuauflage der Diätetik? Untersuchungen zu einer Philosophie der Gesundheit, Freiburg/München, Alber 2018. 90 Vgl. S. Zept, Lust und Narzissmus, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 1997; Narzissmus im Zivilisationsprozess. Zum gesellschaftlichen Wandet der Affektivität, Bielefeld, Transcript 2008.

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Struktur der Regression nach Freud 91 verkümmern zu lassen. Die analytisch-therapeutische Ethik Lacans angesichts der noch bestehenden postmodernen Hoffnungen und Illusionen ist daher die Einschreibung des »subjektlosen« (ex-zentrischen) Subjekts in die symbolische Ordnung als die Form eines »Fehlens«, dessen »Leere« sich jeder Vorstellung »gottgegebener« oder allgemein werthafter Natur entwindet, ohne darüber in die Melancholie zu verfallen, die sonst im Tragisch-Komischen verbliebe, und neben dem Biologischen oder der Natur etwa auch noch der Entwicklung oder dem Fortschritt einen ganzheitlichen Sinn zuschreiben würde. Dessen Rückbindung an die abendländische Vorherrschaft des Optischen als Blick oder Anschauung einer möglichen Totalität 92 verweist auf die innere Notwendigkeit des Durchbrechens des illusionären Scheins narzisstischer Allmachtsphantasien, die sich heute besonders in abgesonderten Randfeldern ausleben. Die geometrale Optik fällt nicht ohne Grund mit der Entdeckung der Perspektive in der Malerei der Renaissance als Vorentwurf der Moderne zusammen, was bei Descartes 93 durch die Einschreibung des metaphysisch-wissenschaftlichen Erkenntnissubjekts in eine solche physikalische »Dioptrik« sanktioniert wird. Holbeins anamorphischer Totenschädel in seinem Gesandtenporträt offenbart jedoch bereits den Tod oder Mangel in jeder mimetischen Relation, um so auch den Phallus als Schein oder Phantom schon zu entlarven. 94 Dieser Phallus als Kastration ist nach Lacan vom Mythos des Ödipuskomplexes zu lösen, da er einen universalen Mangel indiziert, den jeder Versuch einer Ganzheit durch Blick, Schau, Vorstellung etc. nur neu belebt. Für die Postmoderne ist das May-be der Diffe(ä)renz deshalb eine prinzipielle Antivision, die Ähnlichkeiten mit der Auflösung der Naturmimesis durch Avantgarde, Surrealismus und abstrakte Kunst besitzt. 95 Kandinsky, Klee oder Mondrian wollen beispielsweise Vgl. »Triebe und Triebschicksale« (1915), in: Das Ich und das Es, 79–104. Vgl. M. Henry, Affekt und Subjektivität, 13 ff.; J. Lacan, »Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion«, 61 ff. 93 Vgl. Dioptrique (Œuvres VI), Paris, Vrin 1970. 94 Vgl. J. Lacan, Le Séminaire XIV: La logique du fantasme (1987), auf der Grundlage der Version der Ecole lacanienne de psychanalyse, Internet. Innerhalb der gegenwärtigen Phänomenologie wird der Begriff der Anamorphose für die Entfaltung der Selbstgebung in der Gegebenheit verwendet; vgl. J.-L. Marion, Gegeben sei. Entwurf einer Phänomenologie der Gegebenheit, Freiburg/München, Alber 2015, 183 ff. 95 Vgl. M. Sorace, Avantgarde nach ihrem Ende. Von der Transformation der avantgardistischen Kunst des 20. Jahrhunderts, Freiburg/München, Alber 2007, 145 ff. 91 92

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Das Verschwinden des Anderen (A) als postmoderne »Melancholisierung«

den Schleier der sichtbaren Welt durchstoßen, aber die Frage ist, ob sie dennoch nicht – wie die Postmoderne ihrerseits – noch etwas zu sehen geben wollen: etwa eine vorgängige universale »Harmonie«. Insofern bleibt ebenfalls Lacans Entwurf der Entsprechung von Unbewusstem und Sprachstruktur wohl noch der Ideologie der Anwendung eines allgemeinen Naturbegriffs auf Anorganisches und Psychisches als »Unbewusstem« verpflichtet. Mit anderen Worten artikuliert das optisch wie sprachlich Unbewusste durchaus einen Widerspruch gegenüber dem Mythos des reinen oder umfassenden Sehens, um denselben gleichzeitig dadurch wieder erstehen zu lassen. Das Unbewusste bedeutet nämlich in poststrukturalistisch dekonstruktiver Sicht der Postmoderne »eine kaum mehr überbietbare Ausweitung des Naturbegriffs, denn Natur fällt hier mit Kultur in eins«. 96 Alles Bewusstsein ist imaginär, alle Wirklichkeit Schein, da das intersubjektive Subjektmodell nach Lacan radikal entgrenzt wird, um jede Repräsentation als Form aufzuheben. Aber wir haben bereits unterstrichen, dass das imaginäre Objekt (a) auch durch die postmoderne Differe(ä)nz keineswegs aufgehoben wird, sondern darin weiterhin wiederkehrt – als Fragment, Fraktur oder Inszenierung des »Widerstreits« (Lyotard) in einer unendlich sich aufschiebenden Kette von Gegensätzen. Das heißt, auch die »Differe(ä)nz« verbleibt noch in einem zeitlichen Kontinuum, das trotz aller behaupteten leiblich-lebendigen »Dynamik« (Bataille, Deleuze, Foucault) räumlich statisch oder simultan auftritt. Das zeitliche Pulsieren des Subjekts als Unbewusstes in seiner Schaukelbewegung zwischen Begehren und »Mehr-Lust« (Lacan) manifestiert sich dergestalt als eine nicht durchschaute postmoderne Ideologisierung, insofern das ganze Objekt eben im unaufhörlich sich wieder herstellenden Akt der Zerstörung oder des Ausschlusses im Grunde bewahrt wird. wobei die Zeitspanne zur Erfüllung des narzisstischen Idealichs immer kürzer in ihrem Wechsel werden kann. 97 Deshalb bedeutet die Melancholisierung durch das »verlorene Objekt« als ein postmodern nur je aufgeschobenes oder nachträgliches Objekt ihrer inneren Struktur nach gerade das Verfolgen eines Rhythmus als Wiederholungszwang, der die unbewusste Dialektik von Anwesenheit/Abwesenheit der Mutter im Fort/Da-Spiel des KinR. Prange, »Das strukturale Unbewusste als postmodernes Subjekt«, 75 f. Vgl. H. Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt/M., Suhrkamp 2005.

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Cogito/sum und Phantasma im ethisch-analytischen Denken Jacques Lacans

des als Zeitstruktur für die Flüchtigkeit des (je verschwindenden) Objekts des Begehrens (a) selbst installiert. Damit avanciert die Zeit zum Unbewussten schlechthin, aus der es dann postmodern kein Entrinnen mehr geben kann, weil die »Differe(ä)nz« die Zeit als solche des Dif-ferierens festschreibt, ohne dass noch eine radikal phänomenologische Aufklärung darüber gesucht würde, insoweit alle externen Kriterien als »Metaphysik« zurückgewiesen werden. Allerdings sollte der Rhythmus von Fort/Da als Gegebenheit von Passivität/Aktivität darauf aufmerksam machen, dass wir es hier weiterhin mit einer Lebensäußerung zu tun haben. Mithin ist an jener Stelle, wo sich die Postmoderne als Struktur der Wiederholung über die Zeitlichkeit der Differe(ä)nz als das Selbst der Verwandlung zu verewigen scheint, das rein phänomenologische Leben weiterhin gegeben, indem es sich in der Passivität als »Passibilität« (Henry) solcher Wiederholung als die eigentliche bzw. ältere Potenzialisierung zu Wort meldet, um auch die Einheit durch die Zeit als einen »Schein« der Postmoderne selbst in deren Annahme aller Wirklichkeit als (sprachlichen) Scbein anzuzeigen. Denn die zeitliche Oszillation als postmodernes Prinzip alternativer Wahrnehmung bleibt eine Matrix, selbst wenn sie keine metaphysische Form mehr sein will, da Form, die Form aufhebt, eben »Wiederholung« ist, 98 die auch im Symptom und im Traum arbeitet und unverstanden verharrt als Zwang, wenn sie in Freuds Sinne nicht »durchgearbeitet« werden. Diese analytisch-therapeutische »Durcharbeitung« als Ethik im Sinne Lacans würde dann für die Melancholisierung der Moderne heißen, die Anamorphose des Phallus (Vaters) als Totalisierung in der Universalisierung des Mangelns als eine Formalisierung des Unbewussten zu durchschauen. Das heißt, das optisch Unbewusste in aller Symbolik als das radikale Unbewusste im Sinne originär phänomenologischen Lebens in jeder Passivität/Aktivität wieder zu entdecken. Das Diskontinuierliche über die Differe(ä)nz als ein (Quasi-)Transzendentales zu deklarieren, ist die ungedachte Einschreibung des Subjekts in ein Ganzes als Abwesenheit, so wie sich das Fort/Da-Spiel des Kindes als Einschreibung der Existenz desselben in die Abwesenheit der Mutter als symbolische BewältiVgl. zur weiteren Diskussion um diesen Begriff ebenfalls S. Kierkegaard, Die Wiederholung. Ein Versuch in der experimentierenden Psychologie (Ges. Werke Abt. V– VI), Düsseldorf, Diederichs 1965; G. Deleuze, Différence et répétition, Paris, Minuit 1969 (dt. Differenz und Wiederholung, München, Fink 32007).

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Das Verschwinden des Anderen (A) als postmoderne »Melancholisierung«

gung solcher Abwesenheit erweist. Dadurch ist die Postmoderne dem Kapitalismus nicht so fern und spielt ihm sogar in die Hände, denn wenn die perfekte Ideologie des sich globalisierenden Kapitalismus das Subjekt immer mehr auflöst, wie es die Postmoderne über die Differe(ä)nz tut, dann ist die symbolische Maschine in ihrer Marktindifferenz letztlich die symbolische Welt selbst, welche die Postmoderne als Fixierung der Repräsentation eigentlich aufsprengen wollte. Es geschieht nicht zum ersten Mal, dass sich eine der Intention nach fundamentale Kritik an Bestehendem als dessen Konsolidierung erweist, denn der Prozess der Beschleunigung verlässt nicht schon eine Anerkennung an sich, solange das Reale nicht selbst berührt wird. Die lebensphänomenologische Gegen-Reduktion der Unmittelbarkeit eines a-repräsentativen Bundes zwischen Leben/Lebendigem erweist sich daher als Beistand für das Lacansche Verständnis vom reinen Begehren, damit die Ausdifferenzierung des kulturellen Feldes in der Postmoderne, um das Form- oder Gestaltlose (Rand, Anderes, plural Singuläres etc.) seinen Platz finden zu lassen, nicht zu einer erneuten ideologischen Verkehrung des Konkreten oder Subjektiven ins Metaphysische hinein wird. Denn der zeitlich differente Zusammenhang von Gestalt (Sinn) und Nicht-Gestalt (Aufschub) bildet selbst das Schema oder die Matrix eines simultanen Zusammenhangs, der auf einer (angeblich) mechanisch funktionierenden Wahrnehmungskonstanz beruht, der man vertraut, obwohl sie sich antithetisch dif-ferierend gibt. Fußen jedoch alle relationen Zusammenhänge schließlich auf der selbstaffektiven Proto-Relationalität des rein phänomenologischen Lebens, dann ist die ästhetisierende postmoderne Zertrümmerung des »Individuums« als design eine ideologische Reinszenierung der gesellschaftlich-kapitalistischen Struktur, die diesen Prozess als »Freiheit« des »Genieße dich selbst!« benötigt, um sich selbst umso unbefragter als selbstverständliche »Realität« durchzusetzen. Die postmoderne Melancholisierung als psychisch-kulturelle Schnittstelle von Unbewusst/Begehren hat ihre eigene Zeithypostasierung als eine spezifische Weise der »Sublimierung« zu durchschauen, in der dem Werden/Vergehen noch einmal eine gewisse Gerichtetheit oder Finalität verliehen werden soll, auch wenn sie sich von einer expliziten Sinn- oder Gottesvorstellung des Ganzen abgespaltet hat. Gegen die postmoderne Verabsolutierung des »Nicht-Ganzen« als dem Differe(ä)nzprimat über die mythische Wiederkehr des zeitlichen Zusammenhangs wird ein »falsches All305 https://doi.org/10.5771/9783495820537 .

Cogito/sum und Phantasma im ethisch-analytischen Denken Jacques Lacans

gemeines« (Hegel) eingesetzt, welches sich der Erprobung des effektiv singulären Lebens in seiner Pluralität der real-subjektiven Individuen nicht auszusetzen hat, um das Tragisch-Komische der postmodernen Melancholisierung hinter sich zu lassen – zugunsten der Unmittelbarkeit einer nicht länger gedachten, sondern erproben Wahrheit, die das narzisstische Idealich durch kein imaginäres Wissen mehr nährt.

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7. Religion und Kultur bei Levinas als »Substitution« und Pluralität

Die bekannte These von Levinas (1906–1995), dass die »Spur« des Absoluten nur als »Jenseits des Seins« gedacht werden könne und sich mit der radikalen Alterität der ethischen Verantwortung gegenüber dem Nächsten verbinde, hat zum Korrelat, dass wir selbst in unserem rein phänomenologischen Wesen »Substitution« sind. 1 Hieraus ergibt sich des Weiteren, dass die Inkarnation Christi nicht als Stellvertretung im Sinne einer äußeren »Sühne« gedacht werden kann, sondern der Messias die ursprüngliche »Rekurrenz« des Absoluten in unserer passiven Sinnlichkeit selbst bedeutet – nämlich Leiden- und Sterbenkönnen für den Anderen. Ob damit Inkarnation im christlichen wie radikal phänomenologischen Verständnis bis in die Wurzel einer immanent »lebendigen Offenbarung« hinein ausreichend gewürdigt ist, bildet hier den Rahmen für eine kritische Auseinandersetzung mit der Sichtweise des Religiösen und Kulturellen innerhalb der Postmoderne, welche die unmittelbare Selbstgegebenheit des Erst-Erscheinens (Absoluten oder Gottes) wie Levinas in Frage stellt. Der grundsätzliche me-ontologische Versuch einer erneuerten Metaphysik der ethisch bestimmten Andersheit lässt sich bei Levinas insofern im postmodernen Sinne verstehen, als er phänomenologisch prinzipiell das Sagen (Dire) vom Gesagten (Dit) wie Jacques Lacan

1 Vgl. Autrement qu’être et au-dela de l’essence, Den Haag, Nijhoff 1978 (dt. Jenseits des Seins und anders als Sein geschieht, Freiburg/München, Alber 32010); »Die Substitution«, in: E. Levinas, Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg/München, Alber 31992; dazu R. Bernasconi, »What is the question to which ›substitution‹ is the answer?«, in: S. Critchley u. R. Bernasconi, The Cambridge companion to Levnias, Cambridge, University Press 2002, 50–65; J.-L. Marion, »La substitution et la sollicitude. Comment Levinas reprit Heidegger«, in: D. Cohen-Levinas u. B. Clément (Hg.), Emmanuel Levinas et les territoires de la pensée, Paris, PUF 2007, 65–86.

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Religion und Kultur bei Levinas als »Substitution« und Pluralität

trennt, 2 um in jeder Bedeutung mit ihren unendlichen Sinn-Verweisungszusammenhängen (einschließlich Skeptizismus) einen absoluten Überschuss des Sagens anzuerkennen. Dieses verweist jedoch auf kein »Du« mehr wie noch in der Dialogphilosophie bei Rosenzweig oder Buber, 3 sondern auf ein »Er« (Il) der »Dritten Person«, die als »Illeität (Er-heit) die absolute Notwendigkeit der Gerechtigkeit im hyperbolischen Bezug der Verantwortung zu meinem Nächsten als unvereinnehmbar »Anderem« vertritt. 4 Ein solches rein ethisches Alteritätsdenken will es vermeiden, sich in die bisherige Ontologie als Phänomenologie des il y a (»Es gibt«) einzuschreiben, welches jeden Sinn von Sein von Beginn an pervertiert, insofern sich dieses namenlose oder neutrale Seinsgeschehen letztlich in eine Sinn-Unendlichkeit ohne wirkliche Transzendenz verkehrt, wie Levinas dies der klassischen Metaphysik bis Heidegger hin vorwirft. 5 In metaphysikdestruktiver Perspektive bleibt mithin zu fragen, ob das Il (Er) der Illeität mit dem Il (Es) des il y a jemals identisch werden kann, was die folgende Analyse zunächst zur Religion wie zur Inkarnation bestimmt: Ist die Religion mehr als eine Verlängerung der Bewusstseinstranszendenz, und bildet die »Menschwerdung Gottes« eine andere Weise der Präsenz der Transzendenz in der Geschichtsimmanenz als alle anderen »Ereignisse«, die sich unserer Intentionalität als Sinn erschließen? Für Levinas ist die entscheidende Frage, 6 worin die Gegebenheit des Er als Gestalt des Dritten im Sinne eines unzerstörbaren »Voraus« für die Wirklichkeit der Gerechtigkeit als Spur des Absoluten in ethischer Hinsicht bestehen soll. Für den Nihilismus nach Nietzsche gibt Für die Bezüge zwischen Levinas, Lacan und Simone Weil vgl. des Näheren H. Müller, Die Lehre vom Unbewussten und der Glaube an Gott. Ein Gespräch zwischen Psychoanalyse und Glauben – Jacques Lacan und Simone Weil, Düsseldorf, Patmos 1983. 3 Neben Husserl und Heidegger ist Levinas in seinen Anfängen stark von diesen jüdischen Autoren beeinflusst; vgl. dazu W. N. Krewani, Emmanuel Levnias, Denker des Anderen, Freiburg/München, Alber 1992; M. Lescourret, L’intrigue de l’infini, Paris, Albin Michel 1994. 4 Vgl. E. Levinas, Entre nous. Essais sur le penser-à-l’autre, Paris, Grasset 1991, 30 ff., zum »dritten Menschen« (dt. Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen, München, Hanser 1991). 5 Vgl. J. Taminiaux, Sillages phénoménologiques. Auditeurs et lecteurs de Heidegger, Brüssel, Ousia 2002, 253–272: »L’attention à Sein und Zeit dans Totalité et Infini«. 6 Vgl. D. Franck, L’un-pour-l’autre. Levinas et la signification, Paris, PUF 2008, 127 f., 251 f. u. 274 f. 2

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Religion und Kultur bei Levinas als »Substitution« und Pluralität

es nämlich keine scharfe Trennlinie mehr zwischen einem absoluten Er und einem diffusen Es, denn mit dem »Tode Gottes« einschließlich dessen »Schatten« bleibt nur noch post-modern eine »ewige Wiederkehr« des Selben bzw. die gewollte »Fraktur« der ständigen VerÄußerung in allem Welt- und Selbstgeschehen bis in den Bereich des Unbewussten hinein, wie wir bereits in unseren Kapiteln bisher untersuchten. Ontologie und Ethik wären dann ebenfalls unter dieser Prämisse a-theistisch für Gegenwart und Zukunft als meist wissenschaftliche »Objektivität« vereint. Aber Levinas und die jüngere französische Religionsphänomenologie – wie etwa auch Marion 7 – wollen in diesem Zeitalter des Nihilismus (welchem sie in seiner geschichtlich einmaligen Ereignishaftigkeit die notwendige Ernsthaftigkeit zukommen lassen möchte) »den theologischen Traditionen von Europa Probleme abringen, die der Philosophie zugehören, obgleich sie bisher niemals als rein philosophische Probleme formuliert werden konnten«. 8 Ist diesem Fazit methodisch – auch für das Ansinnen der Postmoderne – zuzustimmen, so geht es mithin nicht mehr um den einfachen Gegensatz oder die bisherige Alternative von Philosophie/ Theologie, sondern um einen originären Wahrheitsmodus im phänomenologischen Sinne, welcher in seiner neuen Unmittelbarkeit mit der »Erfahrungsmöglichkeit Gottes« und dessen Selbstoffenbarung zusammenfiele. 9 Der »Eine-für-den-Anderen« ersetzt als ethisches qui pro quo das anonyme quid pro quo der bloß metaphysischen oder analogischen Etwas-Verweisungshorizonte und fordert nach Levinas eben für das »unsagbare Sagen« in jedem Gesagten als »Jenseits des Seins« einen ethisch-politischen Weg heraus. Dieser böte sich allerdings nicht nur als Alternative zur von Heidegger kritisierten Onto(Ego-)Theologie an, sondern bewahrt weiterhin auch einen außer7 Vgl. J.-L. Marion u. J. Wohlmuth, Ruf und Gabe. Zum Verhältnis von Phänomenologie und Theologie, Bonn, Borengässer 2000, 38 f.: »Es gab auch einen anderen Weg [in Bezug auf den ›Tod Gottes‹], der darin bestand, zu sagen, dass die Analyse Heideggers richtig sei, dass das Sein in den Nihilismus münde, also in den ›Tod Gottes‹, dass es keinen Zugang mehr zu Gott durch das Sein gäbe. Folglich musste man einen anderen Zugang zu Gott finden als durch das Sein.« Außerdem Dieu sans l’être, Paris, Fayard 1982 (Gott ohne Sein, Paderborn, Schöningh 2012). 8 H.-D. Gondek u. L. Tengelyi, Neue Phänomenologie in Frankreich, Frankfurt/M., Suhrkamp 2011, 520. 9 Vgl. M Henry, Inkarnation. Eine Philosophie des Fleisches, Freiburg/München, Alber 2002, Schlusskapitel »Über Phänomenologie und Theologie hinaus – die johanneische Ur-Intelligibilität« (S. 399–423).

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Religion und Kultur bei Levinas als »Substitution« und Pluralität

gesellschaftlichen Bezug durch das nicht einholbare Sagen, wofür Religion und Inkarnation im ersten Teil dieses Kapitels paradigmatisch stehen. Allerdings wird dabei auch die konstitutive postmoderne Spannung zwischen Ferne/Entzug und Unmittelbarkeit/Präsenz als Kardinalpunkt der Auseinandersetzung sowohl methodologisch wie deskriptiv-analytisch – und später kulturell – jeweils zu überprüfen bleiben. Unsere Darstellung endet daher in keinem schematisch klassifizierenden Ja oder Nein, sondern möchte hier bei Levinas ein prinzipiell phänomenologisches Potenzial als latent erweisen, wo die Frage nach einem durch keine denkerische Vorentscheidung mehr verstellten Erst-Erscheinen vorangetrieben wird. Die rein phänomenologischen oder radikal destruktiven Analysen sind hierdurch immer auch in diesem Sinne »theologisch«, ohne thematische Theologie betreiben zu müssen, wie wir besonders schon im Rückbezug bei Deleuze auf eine unbenennbare Einheit von Immanenz als Leben feststellten. Inhaltlich kann nämlich dieses Erst-Erscheinen unserer Erfahrung in seiner reinen Passibilität als »Überschuss« dabei sowohl als »Entzug« wie als »Unmittelbarkeit« gelebt und konzipiert werden, insofern es im reduzierten Sich-Empfinden kein anderes Maß dahinter mehr gibt. Auf diese Weise kann auch Differe(ä)nz, Andersheit, Spur etc. »Offenbarung« des Absoluten im Sinne von Gerechtigkeit, Selbstgegebenheit oder Mystik sein, 10 selbst wenn in unseren Augen die uranfänglich phänomenologische Affektabilität für das fleischliche »Sagen« (Wort) eines Absoluten spricht, welches niemals entfernt, sondern stets unmittelbar in uns gegeben ist – wenn auch diesseits aller möglichen Benennung und Vorstellung durch Begriffe gegenstandsorientierter Disziplinen. Die postmoderne Selbstaufklärung der Religionsphänomenologie ist damit in ein entscheidendes Stadium getreten, denn sie hätte zu überprüfen, inwieweit sie sich in ihren Aussagen noch am Leitfaden der Objektität orientiert oder vielmehr bereit wäre, sich selber etwas selbst-affizierend »sagen zu lassen«, das vor solcher Konstitutionsabhängigkeit liegt. Die hier unternommene Analyse zu Levinas 10 Vgl. etwa beispielhaft die Aussage von J. Derrida, Gesetzeskraft, der »mystische Grund der Autorität«, Frankfurt/M., Suhrkamp 1991, 49: »Unendlich ist diese Gerechtigkeit, weil sie sich nicht reduzieren, auf etwas zurückführen lässt, irreduktibel ist sie, weil sie dem Anderen gebührt, dem Anderen sich verdankt. […] Man erkennt darin vielleicht sogar eine (andere) Art Mystik (und klagt sie deshalb an). Die Dekonstruktion ist verrückt nach dieser Gerechtigkeit, wegen dieser Gerechtigkeit ist sie wahnsinnig.«

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Menschwerdung und Messiastum des »Ich« diesseits der Ontologie

auf dem Hintergrund einer kritischen Rezeption der jüngeren französischen Postmoderne allgemein ist damit das Einüben in eine prinzipielle oder ständige Epoché, welche gewillt bleibt, alle operativen Schatten theoretischer Einsätze hinter sich zu lassen, um die Unvordenklichkeit selbstgegebener Erprobung/Erfahrung (épreuve) in ihrer innersten wie äußersten Fülle sich von sich selbst her verwirklichen zu lassen. Dies dürfte mit dem Begriff »Offenbarung« als Parusie, Manifestation, Epiphanie, Inkarnation, Wahrheit etc. im biblischen Wortlaut originär gemeint sein und in diesem Sinne mit der vortheoretischen religio zusammenfallen, die ebenso individuell wie universal zugleich ist, ohne in Individualismus oder Totalisierung zu verfallen. 11 Durch eine solche Diskussion lässt sich daher zeigen, dass im Zentrum jeglichen »Erscheinens« eine vorgängig absolute (transzendentale) Konkretion stehen muss, um ein solches Erscheinen überhaupt zu »ermöglichen«. Für diesen Bezug zwischen der Welt-Wirklichkeit und der subjektiv-gemeinschaftlichen Potenzialisierung (Eschatologie) nimmt die fleischgewordene Christusfigur der Tradition dabei phänomenologisch einen besonderen Stellenwert ein, weil sie die zuletzt angedeutete Frage nach den effektiven Möglichkeitsbedingungen von Universalität und Individuierung zu beantworten scheint. Ein Gott-Mensch (Jesus Christus) ist zugleich das Heil für alle, so dass sein Handeln ebenfalls den unmittelbaren Kern jeglicher Ethik als ethos darstellt.

1.

Menschwerdung und Messiastum des »Ich« diesseits der Ontologie

Die Problematik der phänomenologischen Radikalität nach Levinas will folglich die Seelenbewegung des bei sich bleibenden »Seinsaktes« (essance) der Sinnstiftungen so aufbrechen, dass ein »Unvordenkliches« im Denken auftritt, wodurch die Vorstellung einer göttlichen Transzendenz gerade nicht die Ordnung der Intentionalität beibehält, sondern einen Herausruf aus dieser Ordnung darstellt: »Sowohl der Atheismus 12 als auch der philosophische Theismus weigern sich anVgl. Jahrbuch für Religionsphilosophie 17 (2017): Lebensreligion interreligiös. Allerdings wird die Möglichkeit des Atheismus auch als die vielleicht »metaphysische« Konsequenz einer Ablösung vom »Mythos« gesehen, sofern die Symbiose mit einem als numinos empfundenen Göttlichen noch nicht durch einen streng ethisch 11 12

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Religion und Kultur bei Levinas als »Substitution« und Pluralität

zuerkennen, dass das seelische Geschehen, das über die Welt hinausweist, eine besondere Struktur besitzen muss, dass sein noetischer Entwurf unableitbar sein muss.« Das Jenseits (au–delà) kann mithin nicht bloß eine Metapher für die Überhöhung der Intentionalität auf eine Transzendenz hin sein, deren Begrifflichkeit dann noch immer an die Weltstruktur der synchronen Seienden gebunden wäre, und insofern wird hier greifbar, warum Atheismus/Theismus keine wirklichen (metaphysischen) Alternativen mehr für die radikalisierte Phänomenologie besonders im postmodernen Kontext bedeuten. Gefragt ist vielmehr ein »Jenseits-der-Erfahrung«, eine »Transfiguration«, eine »Rationalität«, die älter als die Möglichkeit der Welt ist – älter als jene Theologie, die »von Aristoteles bis Heidegger Denken der Identität und des Seins« bleibt. Oder auch vom Unterschied des eingangs erwähnten Sagens/Gesagtem her ausgedrückt, worin nach Levinas eine je neue Beziehung mit dem Nächsten ausgedrückt werden soll, die keine Begrenzung des Anderen durch das re-präsentierende Ich mehr darstellt, geht es letztlich um eine »Nicht-Beziehung« oder um »die Beziehung zum Ganz-Anderen – zu dem, was vom Selben nicht begrenzt wird – zum ›Unendlichen‹.« Erst hier erscheint für Levinas die »Urfrage, das Hin-zu-Gott« (A-Dieu) – eine »zerrissene Wechselbeziehung« oder »Schlaflosigkeit«, worin der noeto-noematische Parallelismus als Synchronie der Zeit aufgebrochen wird und die identifizierende Begrifflichkeit in Bezug auf »Gott« versagt. Aus diesem Grund greift Levinas auch verstärkt zu einer anderen Sprache, die stärker affektiv als logisch gefärbt ist: »Nähe und Religion: all das Niedagewesene, das die Liebe, verglichen mit Hunger, Sehnsucht, verglichen mit Bedürfnis, mitbringt. Nähe, die mehr gilt als Verinnerlichung und Symbiose. Riss in der geradlinigen Rechtschaffenheit des intentionalen Blicks, den die Intention voraussetzt.« 13 Die Transzendenz hin zu Gott vermag also kein zielgerichteter Blick zu sein, auch keine teleologische Bewegung, um bei »Seienden und Substantiven stehenzubleiben«, und auch keine ursprüngliche begründeten Monotheismus überwunden wurde; vgl. Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg/München, Alber 31993, 105 f. (franz. Totalité et Infini. Essai sur l’extériorité, Den Haag, Nijhoff 1991). 13 »Hermeneutik und Jenseits«, in: E. Levinas, Zwischen uns, 87–93, hier 91; vgl. dazu R. Moati, »Levinas et le problème de la déduction«, in: D. Popa, B. Kanabus u. F. Bruschi (Hg.), La portée pratique de la phénoménologie. Normativité, critique sociale et psychopathologie, Brüssel, Peter Lang 2014, 73–102.

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Menschwerdung und Messiastum des »Ich« diesseits der Ontologie

Dialogik durch das Nennen eines »Du« im Sinne der schon eingangs erwähnten »Dialogphilosophie«. Gegen all diese bekannten metaphysischen bzw. klassisch religionsphilosophischen Denkfiguren des Göttlichen setzt Levinas die sein Denken kennzeichnende ethische Transzendenz. Dabei tritt allerdings die maßgebliche methodische Frage auf, ob es sich nunmehr um eine Transzendenz handelt, die noch indirekt von der intentionalen oder welthaften Transzendenz ausgeht, oder aber eine solche, »aufgrund derer ein Wort wie das Wort ›Gott‹ erst seinen Sinn erhält«? Mit Rückverweis auf meine ethische oder an-archische Inanspruchnahme als »Geisel«, 14 welche einen »Riss« in meinem Ich erzeugt, geht es um eine Verantwortung jenseits der subjektiven Zeit, das heißt auch: das Unvordenkliche der hier gesuchten Transzendenz Gottes geht auf keine vorhergehende Erfahrung mehr zurück. 15 Die Verschränkung auf dieser Ebene von Anderem/Gott meint postmodern nicht, dass der Andere Gott sei oder Gott der Andere, sondern es handelt sich um den Versuch der Herauslösung der Transzendenz aus jeder phänomenologisch horizontalen (doxischen oder thematischen) Beziehung, was Levinas ebenfalls mit dem Rückgriff auf den Gedanken des Unendlichen bei Descartes und des Glaubenswagnisses bei Kierkegaard unterstreicht. Denn beide Denker stellten schon in der Vergangenheit den Versuch dar, Gott philosophisch zu denken, ohne Ihn von der Welt aus zu denken. In gewisser Weise geschieht daher solche Transzendenz in der »Ungewissheit«, und ihr Gott ist keiner, der »seine Göttlichkeit genießt«, sondern eher ein dem Anderen »zugefallener Gott«, wodurch jede Form von »Triumphalismus« ausgeschaltet ist und Frage, Suchen, Leiden nicht »bloß Mangelerscheinungen des Findens« sind. Levinas weiß sich dabei natürlich mit der Frage konfrontiert, ob die »Hermeneutik des Religiösen auf nicht ausbalancierte Gedanken verzichten kann«, aber er hält dagegen, dass Philosophie als »Weisheit« und »Liebe« nicht nur das Äußerste zu denken versucht, sondern einen Seelenzustand von Gedanken aufzugeben habe, die sie, »insofern in ihnen das Wort ›Gott‹ bedeutungsschwer wird, noch nicht denken kann«. 16 Bei aller gewichtigen Kritik an Heidegger und

Vgl. etwa dazu Die Spur des Anderen. 281–285. Vgl. auch E. Levinas, »Gott und die Philosophie«, in: Wenn Gott ins Denken einfällt, Freiburg/München, Alber 1988 (franz. De Dieu qui vient à l’idée, Paris, Vrin 1982). 16 »Hermeneutik und Jenseits«, 93. 14 15

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Religion und Kultur bei Levinas als »Substitution« und Pluralität

dessen ebenso neutralem wie vereinheitlichendem Seinsbegriff ist die Betonung eines abwesenden Gottes jedoch hier dieselbe, und das »Heil« einer möglichen Transzendenz Gottes kündigt sich postmodern nur über jene »Risse« in unserer Selbstgenügsamkeit an, durch die ein Unvordenkliches überhaupt sich manifestieren kann, ohne von der Struktur des Denkens (Daseins) vereinnahmt zu werden. Dadurch erweist Levinas sich als ein radikaler Phänomenologe, der zwar den post-metaphysischen Status hervorhebt, ohne aber jede Metaphysik zu verabschieden, sofern Transzendenz und unbenennbares Begehren nicht zu zertrennen oder zu verleugnen sind: »Das Unendliche im Endlichen ereignet sich als Begehren. Nicht als ein Begehren, das der Besitz vom Begehrenswerten stillt, sondern als das Begehren des Unendlichen, das vom Begehrenswerten nicht befriedigt, sondern stattdessen geweckt wird.« 17 Das zuletzt Dargestellte als Bezug von Ich/Seinsakt und Transzendenz/Verantwortung für den Anderen bzw. als nicht-metaphysisches Denken von Gott lässt sich als der »griechische« Teil des philosophischen Denkens bei Levinas verstehen, welches jedoch von seinem biblischen Teil nicht ganz getrennt werden kann, auch wenn er seine Talmudkommentare 18 nicht direkt mit der phänomenologischen Methode vermischte. Dies ist in Beiträgen ersichtlich, wo Levinas beispielsweise auf die Frage der Menschwerdung Christi und dessen mögliches Messiastum eingeht, was für unsere Sichtweise ein Prüfstein seines Denkens ist, insofern die Konkretion des Bedürfens und Begehrens auf eine radikale Verfleischlichung hinzielt, welche Levinas nicht über den passiv-ethischen Anruf hinausführen möchte, wie uns scheint, und deshalb kritisch hinterfragt werden muss. Wir führen hier in religionsphilosophischer wie postmoderner Hinsicht mithin eine kritische Analyse weiter, die wir schon früher zum rein 17 Dies korreliert dann auch mit Güte und Liebe im Sinne solcher Unendlichkeit, womit sich Levinas’ gesamtes phänomenologisches Unternehmen eine »Metaphysik des Begehrens« nennen ließe, wie sie auch Jacques Lacan und Jacques Derrida nicht dekonstruieren wollen. Damit wird im Übrigen ein zentrales Denkmotiv von Simone Weil (1909–1943) beibehalten, das wie bei Levinas ebenfalls in Platons Sichtweise vom »Guten über das Sein hinaus« wurzelt; vgl. Republik 509 b mit E. Levinas, Jenseits des Seins und anders als Sein geschieht, 274, sowie Totalität und Unendlichkeit, 316 f. Siehe auch schon unsere Anm. 2. 18 Vgl. Talmud-Lesungen, München, Hanser 1993; Vom Sakralen zum Heiligen. Fünf neue Talmud-Lesungen, München, Hanser 1998 (franz. Quatres lectures talmudiques, Paris, Minuit 1968; Du sacré au saint. Cinq nouvelles lectures talmudiques, Paris, Minuit 1977).

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Menschwerdung und Messiastum des »Ich« diesseits der Ontologie

phänomenologischen Status der »Betroffenheit« durch den Anderen angemahnt hatten, 19 nämlich dass jede passive Rekurrenz – auch in der Form der »Obsession« oder des »Traumas« – auf eine vorgängige Selbstaffizierung durch das absolut phänomenologische Leben zurückverweist, welches selber noch älter ist als die »Spur« diesseits von Widerstand und sinnlicher Materie in der äußersten Passivität. Dies impliziert des Weiteren eine Rückfrage an den Lebensbegriff bei Levinas überhaupt, der nicht einfach mit Sinnlichkeit, Genuss, Spontaneität etc. gleichgesetzt werden darf (Bataille), will man die Zweideutigkeit eines gewissen Empirismus (Deleuze) dabei vermeiden, um dem absoluten Leben als ursprünglichem Erscheinen nicht jene Phänomenalisierung abzusprechen, die den Anderen und das Mich schon immer unterfängt, ohne metaphysisch durch eine formale Einheit (Totalität des Selben) bestimmt werden zu können (Henry). In dem Beitrag »Un Dieu Homme?« 20 erblickt Levinas durchaus in der Passion Christi die »bis zur äußersten Grenze getriebene Passivität«, aber er will dabei nicht auf das »Mysterium« der Inkarnationslehre eingehen, obwohl er sich den christlichen Gedanken verbunden fühle, sondern er stellt sich erneut die radikal phänomenologische Frage nach den Grundstrukturen des Erscheinens wie Transzendenz und Substitution, die seiner Ansicht nach bei der Vorstellung eines »Gott-Menschen« zum Tragen kommen. Der schon angesprochene grundlegende Aspekt der Passivität ist für Levinas hier die Erniedrigung Gottes, da eine »Menschwerdung Gottes« den Abstieg des Schöpfers auf die Ebene des Geschöpfs beinhaltet, um dann – über die Passion – nach christlicher Auffassung Sühne zu werden. Letztere impliziere jedoch »das Identische par excellence«, nämlich die Stellvertretung, sofern sie für jeden gelten soll, was Levinas aber eben nicht als theologischen Gedanken verfolgen will, sondern als phänomenologisches Prinzip grundsätzlich erörtern möchte. Wenn er sich dabei auf die Tatsache berufen kann, dass PhiVgl. R. Kühn, Radikalisierte Phänomenologie, Frankfurt/M., Peter Lang 2003, 86– 129; »Récurrence éthique et passibilité originaire. Une métaphysique renouvelée de l’Infini affectif et communautaire chez Levinas et dans la phénoménologie de la vie«, in: R. Burggraeve u. J. Hansel (Hg.), Levinas autrement, Louvain – Paris, Peeters 2012, 228–249. 20 »Menschwerdung Gottes«, in: Zwischen uns, 73–82; vgl. ebenfalls »Wer ist Messias?«, in: Schwierige Freiheit. Versuch über das Judentum, Frankfurt/M., Jüdischer Verlag 1992, 89–96 (franz. Difficile liberté. Essais sur le judaismus, Paris, Albin Michel 1976, 124–131). 19

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Religion und Kultur bei Levinas als »Substitution« und Pluralität

losophie und Phänomenologie schon über die Jahrhunderte von der jüdisch-christlichen Gedankenwelt geprägt sind, so will er eben weiter gehen, als einen naiven oder herkömmlichen Begriff der Transzendenz zu wiederholen, wie wir schon zu Beginn sahen. Vielmehr sollen über die »Substitution« Subjektivität und Religion an ihren philosophischen Grenzen im postmodernen Verständnis gedacht werden – das heißt dort, wo Religion vielleicht nicht »ersetzbar« ist. Im Heidentum verlieren die Mensch gewordenen Götter aufgrund ihres Sichtbarwerdens ihre Göttlichkeit, und bei den Philosophen wie Platon und Aristoteles findet das Denken höchstens zur »unpersönlichen Idee« eines Gottes, dem jede Erniedrigung fehlt und der gleichzeitig den Menschen gegenüber »gleichgültig« ist. Wir können insgesamt voraussetzen, dass das ganze Denken Levinas’ genau diese Gleichgültigkeit von sich weist, denn in einem Diskurs von der Nähe zwischen Unendlichem und Endlichem, wie es die griechische Dichtung und Theologie zum Teil nahe legt, werden sowohl das Elend der Menschen wie das Erhabene in einem »ununterbrochenen Diskurs« zusammengefasst – in einem »Sinn«, der es niemals mit unserem eigentlichen Leben zu tun habe. Was Levinas also bewahren möchte, ist eine »Nähe« zwischen Gott und Mensch, die sowohl die »Unvergleichbarkeit Gottes« wahrt wie die »Fruchtbarkeit der Begegnung von Angesicht-zu-Angesicht«, welche der Philosophie aufgrund des »unabänderlichen Formalismus der Logik« stets verloren gingen. Das Ganz-Andere, wie wir schon kurz bei der angeführten Ontologiekritik von Levinas feststellten, kann weder in meine Gedanken noch in meine Zeit eintreten, so dass die Erniedrigung Gottes in der »Menschwerdung« nur eine Wahrheit oder Transzendenz sein kann, die verfolgt wird. Mit indirekten Anspielungen auf Jesus von Nazareth, der sowohl Demut kannte wie sich mit den Geschlagenen verbündete, ein Heimatloser war (vgl. Lukas 9,28), sieht mithin Levinas in der »Verfolgung« keine moralische Frage am Werk, sondern die phänomenologische Grundproblematik einer Seinsweise: »Sich in dieser Armut der Exilierten zeigen, heißt den Zusammenhalt des Universums sprengen. Die Immanenz durchbrechen, ohne sich in sie einzureihen.« 21 Die Immanenz bedeutet hier weiterhin das intentional-geschichtlich »enthüllte Sein«, gleich ob es sich um Atheismus oder Theismus dabei handelt, mithin das Selbe der Ich-Identität für alles Welterscheinen, während der eigentliche 21

»Menschwerdung Gottes?«, in: Zwischen uns, 75.

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Menschwerdung und Messiastum des »Ich« diesseits der Ontologie

»Glaube«, den die Erniedrigung Gottes als Wahrheit herausfordert, das »Risiko der Transzendenz« lebt, welches seiner Meinung nach wiederum Kierkegaard am Besten verstanden habe, wenn er vom Inkognito (Christi) spricht. 22 Die »Lüftung« des letzteren öffnet Historikern, Philologen und Soziologen die Tür, wodurch jedoch die Wahrheit – das Wort der Offenbarung im jüdisch-christlichen Sinne, und sicher auch postmodern – zu einem »strukturierten Zusammenspiel von Elementen ohne Sinn« werde. 23 Wie aber vermag der »Gott der Heimatlosen und der Witwe« (Jesaja 57,15) in der Weltzeit Gegenwärtiges zu werden, indem er jede Ordnung stört, damit der Horizont für das Jenseits (des Seins und der Geschichte) offen bleibt? Levinas greift hier auf seinen Gedanken des »außerordentlichen Anachronismus« zurück, auf das Sichlosreißen, das wie in der gesamten Postmoderne An-Archie ist, denn zu denken ist »eine Vergangenheit, die quasi nie Gegenwart war«, um hierbei für die Spur zu präzisieren: »Doch die Spur ist nicht einfach noch ein Wort mehr: sie ist die Nähe Gottes im Antlitz meines Nächsten.« Wir sehen also, dass die Problematik der Inkarnation/Menschwerdung keine zusätzliche Dimension im Denken Levinas’ eröffnet (etwa die Immanenz Gottes als inkarnierte Fleischlichkeit in radikalster Passibilität), sondern ihm nur dazu dient, das »Ausnahmeereignis« des Antlitzes wiederum zu unterstreichen, weil es das transzendente Erscheinen vom Kontext oder Horizont der Welt losreist und in die Abwesenheit Gottes als Spur hineinführt. 24 Der alttestamentliche Vgl. etwa S. Kierkegaard, Einübung ins Christentum (Ges. Werke 26), Düsseldorf – Köln, Diederichs 1971, 38 ff., 61 ff. u. 87 ff., zum Inkognito Christi in der Geschichte und der notwendigen unmittelbaren Gleichzeitigkeit des Gläubigen mit Ihm. 23 Zum Offenbarungsverständnis bei Levinas vgl. etwa Totalität und Unendlichkeit, 106: »Die Offenbarung ist Rede. Für den Empfang der Offenbarung bedarf es eines Seienden, das fähig ist, die Rolle des Gesprächspartners zu übernehmen, es bedarf eines getrennten Seienden.« Dies lässt die radikal phänomenologische Frage offen, ob wir etwas »hören« können, was nicht schon zuvor in uns gegeben wäre, weil sonst all die klassischen Fragen der (gläubigen) »Vermittlung« zwischen Wort/Empfänger auftauchen, auch wenn letztere Korrelation in einer rekurrenten Ver-Antwortung lokalisiert wird, welche nicht unmittelbar Präsenz dieser (Selbst-)Offenbarung Gottes selbst wäre. Vgl. zur Problematik M. Henry, Christi Worte. Phänomenologie der Sprache und Offenbarung, Freiburg/München, Alber 2005, hier bes. 85 ff. 24 Mithin »ist der Gott, der [in der Spur] vorbeigegangen ist, nicht das Urbild, von dem das Antlitz das Abbild wäre. Nach dem Bilde Gottes sein heißt nicht, Ikone Gottes sein, sondern sich in seiner Spur befinden. […] Zu Ihm hingehen heißt nicht, dieser Spur, die kein Zeichen ist, zu folgen, sondern auf die Anderen zuzugehen, die sich in der Spur halten« (Die Spur des Anderen, 234 f.). 22

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Religion und Kultur bei Levinas als »Substitution« und Pluralität

Bund ist »Allianz« zwischen solcher Armut des Antlitzes als Andersheit und der Unendlichkeit Gottes, um sich meiner Verantwortung aufzuerlegen, das heißt der Inkarnationsgedanke verbleibt deutlich im Rahmen einer Ethik als Erster Philosophie: »Die Beziehung zum Unendlichen ist kein Wissen, sondern eine Nähe, welche die Unvergleichlichkeit des Unumfassbaren, das uns berührt, aber nicht aufhebt. Sie ist Begehren (désir), das heißt genau ein Gedanke, der unendlich viel mehr denkt als er denkt. Um einen Gedanken hervorzurufen, der mehr denkt, als er denkt, kann sich das Unendliche nicht in einem Begehrlichen inkarnieren, kann es sich, da unendlich, nicht in ein Ende, ein Ziel, einschließen.« 25 Über Descartes 26 hinaus, auf dessen »III. Meditation« Levinas hier wiederum anspielt, findet also keine In-Karnation dieses Unendlichen statt, sondern höchstens eine erfahrbare Nähe im unendlichen Begehren. Was von diesem bleibt, wenn es seine Verantwortung erkennt, ist eine Subjektivität, die nicht in einen »naturalistischen Humanismus« aufgeht, sondern eben ethische »Obsession« eines »übersteigerten Bewusstseins« wird, welches in seiner Passivität die unmögliche Rückkehr »zu sich selbst« erfährt. Dies nennt Levinas letztlich in seinem radikal phänomenologischen Sinne »Inkarnation«, die »keinerlei metaphorischen Sinn hat, sondern der allerwörtlichste Ausdruck einer absoluten Rückläufigkeit (récurrence)« 27 ist. Das Selbstsein ist kein inkarniertes Ich »zusätzlich zu seiner Verbannung in sich, diese Inkarnation ist schon seine Verbannung in sich, ein der Beleidigung, der Anklage, dem Schmerz Ausgesetzt-sein.« 28 Diese »Menschwerdung Gottes?«, 79. Die Frage ist, ob aber nicht gerade das Begehren (nicht das »Begehrliche«) eine Immanenz ist, in die sich die Transzendenz/Gott schon immer »inkarniert« hat, sofern es ein proto-relationales Leben in Gott gibt, welches nicht unter einer »Gefühls-Liebe« subsumiert werden kann, sondern einer Liebe, die ständig das Eigene als Relation »gebiert« – den Sohn oder das Wort im christlichen Verständnis. Insofern ist die Debatte um Inkarnation/Monotheismus in allen Religionen unumgänglich; vgl. R. Kühn, Gottes Selbstoffenbarung als Leben. Religionsphilosophie und Lebensphänomenologie, Würzburg, Echter 2009, Teil II: »Offenbarung als Christologie«. 26 Vgl. Meditationen über die Grundlagen der Philosophie (Hg. L. Gäbe), Hamburg, Meiner 1959. 27 Vgl. für diesen Begriff auch Die Spur des Anderen, 316 ff.; zur Humanismuskritik ebenfalls E. Levinas, Humanismus des anderen Menschen, Hamburg, Meiner 1989. 28 »Menschwerdung Gottes?«, 81. Es ist offensichtlich, dass Levinas hier über den Begriff der Inkarnation bei Merleau-Ponty hinausgeht, aber nicht den von Michel Henry einholt, das heißt der »leibliche Sinn« des Zur-Welt-Seins erschöpft sich nicht 25

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Passivität als »Inkarnation« zu Ende gedacht, heißt – da sie noch noematisch oder ideell als ein letzter Widerstand erfahren werden könnte, nämlich als Materie gegenüber der Form, als Ich-Logos oder Bewusstsein – »die Identität abzulegen«. Levinas unterstreicht jedoch, dass dieses Ablegen der Identität zum radikalen »Mich« hin nicht reine Entfremdung bedeutet, sondern eine »Undeklinarbarkeit«, die ich erleide, um Ver-Antwortung für den Anderen zu sein, wodurch der postmoderne Antihumanismus als Naturalisierung der Subjektivität dieser möglicher Weise wieder ein »Sein« zukommen lassen kann – nämlich die Substitution: ein Sein zu sein, das sich von seinem Sein leert. Mit anderen Worten ist die unendliche Passivität der »Inkarnation« das »Geschehenlassen des Mich (moi)«, nicht mehr länger identische Substanz als Geist oder Person bzw. animal rationale, sondern Sühne: »Nur ich allein kann ohne Grausamkeit zum Opfer bestimmt werden« – Geisel sein. Woraus sich als klarer Rückbezug zur Messiasfrage innerhalb der christlichen Inkarnationsproblematik ergibt: »Der Messianismus ist eben dieser Höhepunkt im Sein – die Umkehrung des Seins, das ›in seinem Sein beharrt‹ –, der in mir seinen Ausgang nimmt.« 29 Der Messias ist demzufolge für Levinas keine bestimmte historische (oder innertrinitarische) Person, wodurch seine Ausführungen »vielleicht einen antichristlichen Einschlag enthalten«, wie in einem anderen Beitrag von ihm bemerkt wird. 30 Aber nicht darum geht es hier, sondern um die radikal phänomenologische Frage, ob der Einzelne in seiner Passivität wirklich »Messias« sein kann, ohne diese »Passivität älter als jede Passivität« nicht nur auf die Ipseität zurückzuführen, welche in uns noch keine Formgestaltung durch den Logos des IchSeins darstellt, sondern eine Ipseität durch die Ermöglichung der originären (inkarnatorischen) Selbstaffektion ist, die gerade keine »Autonomie« bedeutet, sondern lebendige Proto-Relation. 31 Denn wenn Levinas sagt, dass die Subjektivität keine Substanz sei, »weil

in der subjektiven Leiblichkeit als solcher, sondern verlangt eine Fortführung als »Phänomenologie der Inkarnation (Christi)«; vgl. M. Henry, Inkarnation, 261 ff. 29 »Menschwerdung Gottes?«, 76. 30 E. Levinas, »Wer ist Messias?«, in: Zwischen uns, 89–96, wobei die weiteren Teile dieses Kapitels »Messianische Texte« mit zu berücksichtigen sind (franz. »Qui est Messie?«, in: Difficile liberté, 124–131). 31 Vgl. dazu schon unsere vorherigen Kapitel I,2 und II,5.

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Religion und Kultur bei Levinas als »Substitution« und Pluralität

sie an-und-in-sich ist, diesseits der Autonomie der Selbstaffektion, diesseits der Identität«, 32 dann hat er natürlich Recht in Bezug auf eine gedachte oder vorgestellte Subjektivität. Aber es gibt keine Autonomie des »Auto«-Affektiven, das heißt des Ursprungs der Subjektivität vor jedem identifizierenden Seinsprozess, da keine Affektion jemals durch sich allein sein kann, sondern den Rückverweis auf ein absolut affektives Leben Gottes als »Selbstliebe« bzw. »Selbstbegehren« (auto-jouissance) oder »Selbstumschlingung« im Sinne der »Zeugung des Sohnes/Wortes« in sich birgt. 33 Wo letzteres geleugnet wird, muss unserer Auffassung nach auch eine wirkliche »Inkarnation Gottes« geleugnet werden – und damit ein »Messias«, der nicht nur jeder Mensch in seiner ursprünglichen Schöpfungsrekurrenz ist, sondern jener »Logos« im originär phänomenologischen Verständnis, der die Konkretion der Affektion erst ermöglicht – nämlich als Selbstaffektion in ihrer Relationalität zum absoluten Leben (Gott). Es ist daher bezeichnend, dass Levinas die Kategorie der freien Schöpfung favorisiert, nicht aber jene der transzendentalen Geburt kennt, wofür er im Bereich des Bewusstseins vorzugsweise das Erwachen setzt. 34 Allerdings weiß auch Levinas als Talmudkundiger, dass das biblische Messiastum nicht eine Rettung durch allgemeine Stellvertretung meint, sondern die Anerkennung einer jeden Person in ihrer strikten Individualität, da das Judentum selber »bereits über den Begriff eines mythischen Messias hinausgeht, der sich am Ende der Geschichte zeigt«, sofern der »Messianismus als eine persönliche Berufung des Menschen« verstanden »Die Substitution«, in: Die Spur des Anderen, 321 (franz. »La substitution«, in: Revue philosophique de Louvain 66 [1968] 488–508). 33 Vgl. M. Henry, »Ich bin die Wahrheit«. Für eine Philosophie des Christentums, Freiburg/München, Alber 1997, 84 f., 113 f. u. 316 f., 34 Vgl. E. Levinas, »De la conscience à la veille. A partir de Husserl«, in: Bijdragen 35 (1974) 235–249; vgl. auch Totalität und Unendlichkeit, 118 f.: Das Cogito bezeichnet »das Erwachen einer Existenz, die ihre eigene Bedingung ergreift. Aber dieses Aufwachen kommt von dem Anderen«; dazu J.-F. Sebbah, »Eveil et naissance (quelques réflexions à partir d’Emmanuel Levinas et de Michel Henry«, in: Alter. Revue de Phénoménologie 1 (1993) 213–240. Für die menschliche Geburt als Ereignis von Fruchtbarkeit, Neuheit, Liebe und Zärtlichkeit hat Levinas natürlich fundamentale Aussagen, wie etwa, dass »das Sein nicht auf die Subjektivität verzichten kann, weil es ohne sie nicht von Neuem beginnen könnte«; vgl. Totalität und Unendlichkeit, 370 ff., worin sich ein Echo Gabriel Marcels erkennen lässt, mit dem Levinas freundschaftlich verbunden war. Siehe »Une nouvelle Rationalité: Sur Gabriel Marcel«, in: Entre nous, 77–81. 32

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wird. 35 Dies ist nur möglich, wenn diese Berufung als ein »Ich« auftritt, welches das Leid der Anderen wirklich auf sich geladen hat, was in geschichtlicher Perspektive bedeutet: ein Messais, der als »König« nicht mehr von außen befiehlt, sondern »die absolute Interiorität der Regierung« ist, das heißt Ich-Sein, Selbstheit ist: »Gerade die Tatsache, sich der Last, die das Leid der Anderen auferlegt, nicht zu entziehen, definiert die Selbstheit. Alle Personen sind Messias.« Levinas variiert mithin die Messiasrolle von der postmodernen Dezentrierung des identischen Seins her, insofern Ich als Messias nur heißen kann, die Wende des Seins in der Verantwortung des Ichs zu verorten – zu wissen, »dass jeder so handeln muss, als wäre er der Messias«. 36 Die Messiasgestalt wird mithin aus der projektierten Geschichte herausgenommen, sofern sie Erwartung einer Gestalt ist, um das zu sein, was die Schöpfung ursprünglich oder radikal phänomenologisch schon immer darstellt, nämlich die Übernahme des Leids der Welt vor jeder Freiheit. 37 Denn Geschaffensein meint die Spur des Unendlichen vor jeder Volition in Aktivität oder Passivität, eben reines Ausgesetztsein in ein Empfinden, das in seiner Selbstheit nur sich empfinden kann, ohne sich allerdings thematisch auf sich einzuschränken, wie es das Bewusstseins-Ich als Intentionaliät und Vorstellung des Selben tut: »Das Ich ist nicht ein Seiendes, das fähig wäre, für die Anderen zu sühnen. Es ist diese ursprüngliche – unwillkürliche, weil der Initiative des Willens vorausgehende Sühne, so als sei die Einheit und Einzigkeit des Ich schon das Aufsichnehmen des Ernstes des Seins, das verlassen ist aufgrund des unvorstellbaren Rückzugs des Unendlichen.« 38 Mit dieser »defektiven« Begrenzung des radikalen oder passiblen »Mich« in seinem Ursprung ohne Herkunft 39 wird nicht nur die In»Wer ist Messias?«, 92. Ebd., 93. 37 Zur eschatologischen Perspektive eines »messianischen« Reiches der Gerechtigkeit im Sinne der »Dritten Person«, die »allem, was einen Namen trägt, ihren Spiegel einprägt«, vgl. Jenseits des Seins und anders als Sein geschieht, 233; Die Spur des Anderen, 229 f.; Totalität und Unendlichkeit, 308. 38 »Die Substitution«, 321 (franz. 502); vgl. auch Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, 268 ff. 39 Vgl. »Die Substitution«, 299 f.: »Die Verfolgung […] bezeichnet die Form, der gemäß das Ich sich affiziert, und ist die Auflösung (défection) des Bewusstseins. Diese Inversion des Bewusstseins ist gewiss Passivität.« Im französischen Original wird das Begriffspaar affection/défection verwandt (»La substitution«, 490), welches den Gedanken nahe legt, dass die Af-fektion ich-»de-affiziert« werden soll, was die ganze 35 36

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Religion und Kultur bei Levinas als »Substitution« und Pluralität

karnation im Sinne der »Fleischwerdung Gottes« im radikal phänomenologischen Sinne verhindert, sondern die ausschließlich ethische Phänomenalisierung dieses Sachverhalts macht auch deutlich, warum Levinas – wie die meisten postmodernen Autoren – der Theologie und institutionalisierten Religion gegenüber stark reserviert sind. Der Vorwurf lautet bei Levinas dahingehend, dass durch sie die Wahrheiten des Glaubens sowohl zu eilfertig deduziert würden als auch andererseits die An-Archie der ethischen Sprache prinzipiell zu einem »Thema« erstarre, welches genau die Bewegung als Spur des Unendlichen aufhebe: »Daher zerstört die theologische Sprache die religiöse Situation der Transzendenz. Das Unendliche stellt sich anarchisch dar; die Thematisierung vernichtet die ›Erfahrung‹, die einzig es beglaubigen könnte. Das Reden über Gott klingt falsch oder wird zum Mythos.« 40 Ein Text wie »Die Thora mehr lieben als Gott« unterstreicht dies auf dramatische Weise, denn es sind Worte des Rabbi Jossel aus dem Warschauer Ghetto, der als letzter Überlebender seiner Familie seine Gedanken kurz vor seiner eigenen Vernichtung durch den Naziterror notierte. 41 Aller göttlicher Trost im Sinne eines kindlich religiösen Gefühls wird versagt, denn diese Situation offenbart einen Gott, der auf jede hilfreiche Manifestation verzichtet, so dass auch das Leiden keine »mystische Buße für die Sünden der Welt« mehr sein kann. Und hier fällt zugleich der begrenzende Satz in Bezug auf die Inkarnation nochmals: »Das Verhältnis zwischen Gott und dem Menschen [im Judentum] ist keine sentimentale Kommunion in der Liebe eines inkarnierten Gottes, sondern eine Beziehung zwischen Geistern vermittels einer Belehrung, der Thora. Es ist gerade ein nichtinkarniertes Wort Gottes, das von einem lebendigen Gott unter uns zeugt.« 42 Frage der anschließend diskutierten Problematik von Immanenz/Inkarnation als unserer »transzendentalen Geburt« enthält. 40 Ebd., 323 (franz. 504); vgl. auch Totalität und Unendlichkeit, 106 ff., die Kritik von Gott als »ein Seiendes im Superlativ« oder als »Sublimation des Objektiven« wie aber auch als »Du«, denn »die Dimension des Göttlichen öffnet sich vom menschlichen Antlitz her«. Damit sind Metaphysik und Theologie nur als Ethik nach Levinas möglich. 41 Für eine Wiederentdeckung der Lehre von der Menschwerdung des Gottessohnes unter diesen Bedingungen plädierte in der Postmoderne insbesondere Gianni Vattimo; vgl. M. Enders, Postmoderne, Christentum und Neue Religiosität. Studien zum Verhältnis zwischen postmodernem, christlichem und neureligiösem Denken, Hamburg, Dr. Kovaċ 2010, 102–110. 42 »Die Thora mehr lieben als Gott«, in: Schwierige Freiheit, 109–113 (franz.«Aimer

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Affektion und Reduktion in Bezug auf »Inkarnation« und »Leben«

Würde Gott mich auch täuschen, sagt daher Jossel ben Jossel – und durch ihn Levinas –, »seine Thora würde ich weiterhüten«. Meint in der Tat Theologie und Religion in irgendeinem Sinne »Institution«, so geschieht durch die Thora, die sich auf nichts mehr stützen kann, eine Verbindung durch und in der Abwesenheit Gottes selbst – mit anderen Worten das »Geistige ohne sinnlich wahrnehmbare Substanz« in diesem Zusammenhang. Levinas gesteht zu, dass sich in solcher Situation das religiöse Leben vielleicht nicht vollenden kann, wodurch »Religion« postmodern aber weder die »gleichsam sinnliche Kommunion mit dem Göttlichen« ist noch aber auch der »verzweifelte Hochmut des atheistischen Menschen«, sondern eine »Verehrung, die mit dem Hochgefühl des Menschen zusammenfällt« – auch und gerade wenn letzteres jeden Trimphalismus ausschließt und sich eher in der Umkehr des Ich zur Geisel des Anderen bekundet.

2.

Affektion und Reduktion in Bezug auf »Inkarnation« und »Leben«

Stellen wir in diesem hyperbolisch ethischen Sinne die Frage nach der spezifischen Art der radikal phänomenologischen Reduktion, die Levinas in seinem anarchischen Rekurrenzbemühen vornimmt, so lässt sich festhalten, dass das Ethisch-Unendliche nicht selbst in dieser Reduktion unmittelbar präsent ist, sondern erst am Ende einer solch reduktiven Bewegung als aufgefundene »Spur« aufscheint, welche sich in die Andersheit der Transzendenz entzieht und mich dann – obwohl in meiner Passivität – wie »von außen« an-ruft. 43 Hinsichtlich der Repräsentation einer thematischen Gegebenheit hätte Levinas natürlich Recht, auf diesen Hiatus der Transzendenz zu bestehen, la Thora plus que Dien«, in: Difficile liberté, 201–206). K. Wolf, »›Spur‹ Gottes und Inkarnationsfrage bei Emmanuel Levinas«, in: Edith Stein Jahrbuch 7 (2002) 227– 240, übernimmt weitgehend diese »allgemeine Messianität«, welche sich unter anderem auch auf den Gedanken von »Geist« als »Nicht-Indifferenz« oder »Inspiration« bei Levinas stützt; vgl. Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, 28: Inspiration ist »konkreter Ursprung oder Ursituation, in der das Unendliche sich in mich einlässt, in der die Idee des Unendlichen den Geist beherrscht und das Wort Gottes sich einem auf die Zunge legt«. Ebenso Wenn Gott ins Denken einfällt, 164 f. 43 Zur weiteren Darstellung der Reduktion vgl. bereits R. Kühn, »Emmanuel Levinas«, in: R. Kühn u. M. Staudigl (Hg.), Epoché und Reduktion. Formen und Praxis der Reduktion in der Phänomenologie, Würzburg, Königshausen & Neumann 2003, 252–257.

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Religion und Kultur bei Levinas als »Substitution« und Pluralität

um den Anderen nicht unter die Selbigkeit der Ich-Intentionalität zu vereinnahmen. Aber die phänomenologische Reduktion ist eine Bewegung, welche sich nicht aus sich selbst begründet, sondern gerade in ihrer Verbindung mit dem Begehren als Spur des Unvordenklichen letzteres in seinem unendlichen Vermögen voraussetzt, um sich überhaupt vollziehen zu können. Das heißt, die Reduktion muss als Bewegung ohne jedes thematische Wissen von der Unendlichkeit so »affiziert« sein, dass sie die Bewegung des Unendlichen selbst in sich trägt. Diese Selbst-Affektion der Reduktion als »Rekurrenz« bis in die äußerste Passibilität hinein, wo sogar noch der gespürte Widerstand der »sinnlichen Materie« auf eine vorgängige transzendentale Affektivität verweist, kann daher keine selbst-verschlossene Immanenz sein, wie Levinas sie aufgrund eines auf Genuss/Sinnlichkeit verkürzten Lebensbegriffs annimmt, sondern diese Immanenz ist im absoluten Leben bereits »Inkarnation« des Unendlichen. Denn als rein transzendente Distanz könnte mich die Transzendenz des Unendlichen gar nicht affizieren (was auch der Begriff der »Nähe« nicht verdecken darf), so dass noch nicht einmal eine unsichtbare »Spur« Gottes oder des Anderen phänomenologisch möglich wäre: »Vorgängigkeit [der Besessenheit], die älter ist als das Apriori. Diese Formel drückt eine Form des Affiziertseins aus, die ganz und gar nichts mit Spontaneität zu tun hat: Das Subjekt ist affiziert, ohne dass die Quelle der Affektion Vorstellungsthema würde.« 44 Es gibt also für Levinas weiterhin in seiner anarchischen Reduktion eine Affektion, und ihre Nicht-Identifizierbarkeit mit der Spontaneität (Freiheit, Bewusstsein etc.) drückt gerade aus, dass sie einen eigenen phänomenologischen Status besitzen muss – ein »Eigenwesen«, wie Husserl sagen würde, das sich auch nicht zeitlich diachronisch im postmodernen Sinne vermessen lässt. Aber eine Affektion, die nicht-zeitlich ist, kann nur sie selbst in ihrer unmittelbaren Selbstfülle sein, mit anderen Worten die Weise des Unendlichen, präsent zu sein, ohne sich einer apriorischen oder sonstigen formalen Vermittlung zu verdanken. Genau dies aber besagt Inkarnation im radikal phänomenologischen Sinne als Affektion »des« Lebens in sich selbst durch sich selbst, und zwar in einer Ur-Bezüglichkeit, wo nicht Termini miteinander verbunden werden, sondern die Affektion sich selbst durch ihr eigenes sich-gebendes wie sich-empfangendes Wesen »gebiert« oder hervorbringt. Diese Selbstgeburt ist in Michel 44

»Die Substitution«, 298 (franz »La substitution«, 489).

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Affektion und Reduktion in Bezug auf »Inkarnation« und »Leben«

Henrys 45 Verständnis das »Wort« oder der »Sohn Gottes«, was aber keine theo-logische Setzung bedeutet, sondern den Grundcharakter des Affektiven als solchem beschreibt, nämlich in sich selbst immer schon inkarniert zu sein, das heißt einen Leib oder ein Fleisch zu besitzen, welche die transzendentale Konkretion jeder weiteren einzelnen Affektion darstellen, ohne dass diese die Unendlichkeit der ursprünglich selbstinkarnierten Affektivität auszuschöpfen vermöchte. Eben dieser Sachverhalt ist in solcher lebensphänomenologischen Reduktion gegeben, sofern sie der Bewegung des reinen Begehrens folgt, das heißt sich innerhalb der Selbstgebung des affektiv Unendlichen vollzieht. Deshalb findet in der (ungedachten bzw. originären) affection niemals eine défection statt, wofür genau der Begriff einer originär phänomenologischen incarnatio steht, welche auch unsere »Ipseität« allein fundiert und definiert. Levinas hat also Recht, unsere Ipseität an keine Reflexivität zu binden, aber ihre Einheit vor der Unterscheidung von Besonderem und Allgemeinem ist auch vor jeder Angst, »in sich« und »an sich« ein solches Sich (Soi) zu sein, weil es eben nicht zunächst die »Angst der Kontraktion« durchsteht, 46 sondern unsere Geborenheit als ständige Inkarnation der unendlichen Affektabilität oder Selbstliebe Gottes. Letztere ist keine »Sentimentalität« des religiösen Gefühls, wie Levinas gegenüber Theologie und Religion kritisch – mit postmodernem Akzent – festhalten will, sondern eben jene Bewegung, die sich mit nichts Objektivem oder Thematischem identifizieren kann, das heißt in den Worten von Levinas »ein Grundbegriff der Selbstheit, der von der Inkarnation untrennbar« ist. Und wenn diese Inkarnation »die Empfänglichkeit selbst ist«, dann erschöpft sich diese rekurrente Grundrelation jedoch nicht nur in »etwas, das sich verletzt und opfert

Vgl. »Ich bin die Wahrheit«, 79 ff. Vgl. Die Spur des Anderen, 309, was im Übrigen an die »Kontraktion« des »Unbewussten« bei Schelling bzw. an den »Rückzug Gottes« bei Simone Weil erinnert, welcher von unserer dé-création wiederholt werden soll, damit Anderes sein kann. Levinas hatte S. Weil erst sehr polemisch in Bezug auf ihre Kritik am Hebräertum kritisiert; später aber die genannte »Dekreation« im Sinne von De-Ontologisierung und Designifikation (»Leere« von Intention und Vorstellung) in seinen Begriff der Spur aufgenommen; vgl. E. Levinas, »Simone Weil contre la Bible«, in: Difficile liberté, 189–200; »L’être et l’autre. A propos de Paul Celan«, in: G. B. Madison (Hg.), Sens et existence. En hommage à Paul Ricœur, Paris, Seuil 1975, 23–30, hier 28 f. Dazu auch R. Kühn, Leere und Aufmerksamkeit. Studien zum Offebnarungsdenken Simone Weils, Dresden, Text & Dialog 2014, 78 ff.

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Religion und Kultur bei Levinas als »Substitution« und Pluralität

– das Sich«, 47 sondern Inkarnation als reine Empfänglichkeit ist effektives Empfangen solcher Unmittelbarkeit selbst im Leben und durch dasselbe, weil es einen (affektiven oder verletzlichen) Leib ohne Leben nicht geben kann. Die ungenügende radikal phänomenologische Aufklärung der Lebensrealität bei Levinas führt folglich dazu, dass der von ihm benutzte Inkarnationsbegriff ein philosophischer Begriff der Inkarnation als subjektiver Leibgegebenheit in der Nachfolge von Merleau-Ponty bleibt, aber nicht auch die weitere absolut phänomenologische Dimension mit dem un-vordenklichen, aber stets effektiven Leben erfasst. Die Einheit des letzteren ist nach Henry ebenfalls gerade noch nicht »vom Sein kontaminiert«, weil das Leben noch älter als die Schöpfung ist – nämlich in Gott und dieser selber in seiner innersten Selbstoffenbarung. Damit sind die offensichtlichen Vorstöße der Levinasschen Phänomenologie wie vornehmlich die radikal ethische Andersheit des Nächsten und dessen Anruf in unserer Passibilität als solcher sowie die Welt- und Trostabwesenheit Gottes keineswegs abgeschwächt oder sogar aufgehoben. Aber eine radikale Religionsphänomenologie, welche im heutigen postmodernen Kontext bis zur absolut immanenten Wirklichkeit der Inkarnation des Unendlichen (Absoluten, Gottes) vorstößt, vermag die so gegebene Andersheit und Abwesenheit in einer jeweiligen Unmittelbarkeit aufweisen, wie sie mit der originären Leiblichkeit als Affektivität selbst gegeben ist. Denn als originärer »Leib« ist der Andere eine radikal von mir unterschiedene Ipseität, da nur in ihm selbst absolut als Sich affiziert oder ipseisiert, so dass er niemals durch mich in irgendeiner idealisierten »Selbigkeit« vereinnahmt werden kann. Und die Abwesenheit Gottes in der Welt sowie in einem empirisch-sinnlichen »Gefühl« ist seine unzerstörbare Präsenz oder Inkarnation im rein subjektiven Leben, ohne jemals thematische Idee werden zu können. Denn seine zeitlose Geburts-Affektion liegt uns in allem – in allen sinnlichen wie geistigen Bewusstseinsbezügen – als Apriori voraus, ohne jedoch von uns getrennt zu sein. Insofern kann man Levinas in seiner postmodern meontologischen Sichtweise zustimmen, dass das »Anarchische keinerlei theologische These« ist, aber es gilt nur bedingt, dass »am Scheitern »Die Substitution«, 311 mit Anm. 14. Voll zuzustimmen ist Levinas darin, dass die (psychologische oder psychoanalystische) Rede von einem »Unbewussten« das Schweigen der Passivität verbirgt, welche die »Empfänglichkeit« (susceptibilité) für Schmerz, Schmach, etc. ermöglicht; vgl. ebd., 324 Anm. 19.

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Affektion und Reduktion in Bezug auf »Inkarnation« und »Leben«

der Theologie und an ihrem Kampf das Religiöse seine Bestätigung« findet. 48 Denn prinzipiell kann nicht ausgeschlossen werden, dass die »Theologie« in ihrem Kern selbst radikale Phänomenologie ist – nämlich unmittelbares Hören und Sagen der Selbstoffenbarung Gottes als Inkarnation selbst, wie Michel Henry und Jean-Luc Marion dies in derselben Radikalität wie Levinas im Rahmen der Dekonstruktion nach Heidegger anzudenken versuchen. 49 Es ist also ohne reduktive Schwierigkeit möglich, Levinas bis an den äußersten Punkt seines eigenen Denkens zu folgen, um von da aus eine Religionsphänomenologie weiter zu analysieren, welche die Rekurrenz der Reduktion nicht von deren immanenter Ermöglichung trennen muss, um der »Spur« auch noch das letzte (idealistische) Element eines »Gedachten« zu nehmen, das heißt die postmoderne Differe(ä)nz als geforderte methodologische Voraussetzung, um den Prozess der Andersheit oder des An-Rufs überhaupt denken zu können. Eine radikale Phänomenologie geht nämlich von einer lebendigen Praxis aus, die stets schon als solche gegeben ist, und damit auch die Gemeinschaftlichkeit der Ipseitäten, ohne sie über Begriff oder Allgemeines miteinander zu vermitteln, welche gegenüber dem einen Leben in seinen stets unterschiedlichen affektiven Tonalitäten (Ipseitäten) in der Tat nur nachträglich sein können. Denn das anfängliche Heideggersche Verdikt vom »Entzug des Seins« im Seienden tönt noch bei Levinas trotz aller fundamentalhermeneutischen Kritik nach und bleibt als Ontologisierung der genannten Differenz zu hinterfragen: »Das Ich ist nicht ein Seiendes, das fähig wäre, für die Anderen zu sühnen: Es ist diese ursprüngliche – unwillkürliche –, weil der Initiative des Willens vorausgehende Sühne, so als sei die Einheit und Einzigkeit des Ich schon das Aufsichnehmen des Ernstes des Seins, das verlassen ist aufgrund des unvorstellbaren Rückzugs (retrait) des Unendlichen.« Aber ist ein solcher Rückzug nicht gerade me-ontologisch vorgestellt, weil er in der unauflösbaren Einheit von Leib/

Ebd., 319 Anm. 18. Was M. Henry die »Johanneische Ur-Intelligibilität« nennt; vgl. Inkarnation, 399– 414. Ebenfalls für seine Diskussion mit Levinas: S. Wolfs, Du Visage de la Vie. Réflexixion sur l’éthique de Michel Henry, philos. Masterarbeit, Université Catholique de Louvain 2012, 99–126; J.-L. Marion, Figures de phénoménologie. Husserl, Heidegger, Levinas, Henry, Derrida, Paris, Vrin 2012. Zum Verhältnis zu Derrida auch schon A. Letzkus, Dekonstruktion und ethische Passion. Denken des Anderen nach Jacques Derrida und Emmanuel Levinas, Freiburg/München, Alber 2002. 48 49

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Religion und Kultur bei Levinas als »Substitution« und Pluralität

Leben gerade nicht möglich ist, da wir sonst augenblicklich ins Nichts fallen würden? Die erneuerte ethische Sprache als Gewinn in der Postmoderne wie besonders bei Levinas darf uns daher nicht die Wachsamkeit gegenüber Aussagen nehmen, wo das »Leben« immer noch unter das »Sein« wie bei Heidegger subsumiert wird, 50 um von daher phänomenologische Charaktere des Lebens festzuschreiben, die ihm nicht zukommen können – wie eben ein Rückzug in ihm selber, welcher der unmögliche Widerspruch seines rein phänomenologischen oder immanenten Wesens ohne Differenz, Andersheit, Kluft etc. selbst wäre. Bei Levinas bleibt außerdem zu fragen, wenn die Differenz über die Sprache festgemacht wird, ob der Sprache tatsächlich diese transzendentale Rolle für das reine Erscheinen zugesprochen werden kann: »Die absolute Differenz […] wird nur durch die Sprache gestiftet«, da sie »eine Beziehung zwischen Termini herstellt, die die Einheit der Gattung aufbrechen«, das heißt die ethische Unverletzlichkeit des Anderen begründet, welcher sich auch aus der Beziehung herauslösen kann, ohne sie zu verlieren. Diese Differenz kann aber nicht »absolut« sein, weil die originäre Gemeinschaftlichkeit der Ipseitäten als notwendige Vor-Gegebenheit transzendental-affektiver Lebendigkeit vorausgeht, wie wir bereits in unseren Kapiteln zuvor sahen. Gleiches gälte von einer Bestimmung des »Absoluten« über das »Sprechen« allein, da es sich »von der Beziehung absolviert, in der es sich darstellt«. 51 Es herrscht auch hier die von uns hinterfragte me-ontologische Struktur von Präsenz/Rückzug vor, 52 die wir im Folgenden ebenfalls in Bezug auf die Kultur überprüfen wollen, insofern diese gleichfalls bei Levinas unter dem postmodernen Axiom der Pluralität gesehen wird.

Vgl. Sein und Zeit, Tübingen, Niemeyer 111967, 45 ff. (§ 10). Totalität und Unendlichkeit, 278 f. u. 28; zur Diskussion vgl. ebenfalls schon Th. Wiemer, Die Passion des Sagens. Zur Deutung der Sprache bei E. Levinas, Freiburg/ München, Alber 1988. 52 Zur Diskussion von Ethik/Sprache sowie Alteriologie/Ontologie vgl. außerdem D. Franck L’un-pour-l’autre. Levinas et la signification, 283 ff.; S. Strasser, »Emmanuel Levnias. Ethik als Erste Philosophie«, in: B. Waldenfels, Phänomenologie in Frankreich, Frankfurt/M., Suhrkamp 1987, 218–265. 50 51

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»An-archie« und Pluralisierung als kulturelles Kriterium

3.

»An-archie« und Pluralisierung als kulturelles Kriterium

Mit Levinas stellen sich aufgrund seines radikal alterologischen Denkens für eine »Entsteinerung« der Kultur in und durch die Kultur selbst fundamentalste reduktive Fragen, die jede Kulturhermeneutik überschreiten, da es nach ihm gilt, einen neuen Begriff von »Humanität« überhaupt zu gewinnen. Der Andere als Antlitz, Spur oder Sagen ist in der Tat kein bloßes »Phänomen« am intersubjektiven Horizont der Lebenswelt, das schon die Phänomenalität der habitualisierten Welt als solcher in ihrer »Versteinerung« in Frage stellt. Die radikale Andersheit des Nächsten kennzeichnet vielmehr eine unzurückführbare »Opazität«, die wie eine »Passion« in die je bestehende Kulturwelt einbricht, wie wir schon durch Levinas’ Reduktionsverständnis bisher wissen. Mein Bezug zum Transzendenten wird in der Tat vom Anderen radikal in Frage gestellt, denn in der GegenAnfrage an mein Bewusstsein kehrt letzterer alle intentionalen Absichten hinsichtlich des horizonthaft Transzendenten um, da seine Andersheit eben prinzipiell quer zur Vereinheitlichung des Selben – das heißt der »Iche« – als Wahrnehmungssystem liegt. Der Andere tritt nur als ganz Anderer, als eine Möglichkeit ohne Vergleich mit der Wirklichkeit in deren Neubestimmung auf. Meine (auch religiöse) Transzendenzerfahrung erweist sich durch die hereinbrechende Passion des Anderen als eine immer nur provisorische Transzendenz, die ausschließlich als Vorwand für eine Identität dient, um sich in ihrer Eigenevidenz zu verfestigen, weil sie mit ihrem emotionalen oder intelligiblen Verstehen zugleich meint, das Eidos des Wirklichen überhaupt ausgeschöpft zu haben. Für die Philosophie allgemein bedeutet dies, dass letztere sich bisher darin gefallen hat, in der »Atmosphäre« einer omnitudo realitatis die konkreten und irreduziblen Beziehungen zwischen Mensch und Kulturwelt, ego und alter ego sowie zwischen Gott und Mensch fusionieren zu lassen. Nichttheoretische Bezüge wurden so einer gedachten Allgegenwärtigkeit untergeordnet: als Physis (Natur), als Göttlichkeit, Mensch (Subjekt), geschichtliche Diachronie oder als synchronisches Bedeutungs- wie Symbolsystem, ohne den Krieg zu vergessen, der bei Levinas – als Folge dieser Allgemeinheitsverabsolutierung – ebenfalls zu einer ontologischen Kategorie wird. Selbst die Hermeneutik, die das Cogito durch kulturell andere Lektüren von seiner Welt- und Selbstmitte dezen-

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trieren wollte, sei es durch das Sakrale von oben 53 bzw. durch das praxiologisches »Spiel« von unten wie Erotik, Unbewusstes und Sprache (Bataille, Lacan), verlängert durch eine solche sinnzerstreuende Odyssee wohl nur die Hegelsche Absicht einer subjektiven Verbalität, wonach das Absolute in der eigenen Parusie bei sich ruhe. 54 Hingegen soll der Andere für Levinas mich mit einer »Bedeutung« ansprechen, derer ich niemals Herr werden kann und die sich somit nicht der Hegelschen Herr-Sklave-Dialektik als Kampf um die Anerkennung zuordnen lässt, womit Levinas einen besonders herausragenden Stellenwert in der postmodernen Kritik am »Allgemeinen« (Sartre, Lyotard, Foucault) einnimmt. Welt, Kultur, Andersheit – werden sie unter das unendlich sich wiederholende »Es gibt« Heideggers subsumiert 55 – bleiben mithin nach Levinas unbegrenzt anonymer Seinshorizont, wie wir schon ausführten. Hier bedarf es für die Phänomenalisierung keines wirklichen Plurals, denn die Reihe der »Es-gibt«-Seienden wiederholt nur das Sein als das einfachste Selbe in seiner absoluten Unbestimmtheit, so wie es sich in der magischen Beschwörung, in der Schlaflosigkeit, im psychischen oder politischen Wahn bzw. im Darwinistischen Sichdurchhalten des Daseinskampfes als Sein zeigt. Oder auch bei Spinoza als conatus essendi vel in esse perseverandi auftritt, wobei allerdings dieser conatus allein im Sinne von Seinwollen als SichBehaupten gesehen wird. Der conatus mag radikaler betrachtet nur die reine Passion bedeuten, das singuläre Verlangen darzustellen, in seiner jeweiligen Anstrengung gegen alle Widerstände »im Sein« (Wesen) als einem verbalen »zu sein« zu verharren und so eine immanente Transitivität nahe des Passibilitätsbegriffs zu bilden. 56 Bei Levinas tritt jedoch hinzu, dass diese rein ontologische, anonyme Af53 Vgl. E. Levinas, »Lévy-Bruhl et la philosophie contemporaine«, in: Entre nous, 53– 68. 54 Für die von Anfang an anwesende Kritik an Hegel vgl. E. Levinas, Totalité et Infini, S. XI ff. u. 7 ff. Zu P. Ricœurs Einwänden gegenüber Levinas vgl. Das Selbst als ein Anderer, München, Fink 1996, 401–435 (franz. Soi-même comme un autre, Paris, Seuil 1990): Die paradoxystischen Analysen seien von Beginn an hyperbolisch, so die undialektische Empathieöffnung als »Beleidigung« und die prinzipielle Dissymetrie zwischen Sinndimension und Anrufethik. Vgl. ebenfalls P. Ricœur, »Emmanuel Levnias, penseur du témoignage« (1989), in: Lectures 3. Aux frontières de la philosophie 3. Aux, Paris, Seuil 1994, 92–109. 55 Vgl. J. Taminiaux, Sillages phénoménologiques, 227–252: »Uns autre lecture de l’histoire de la philosophie«. 56 Vgl. R. Kühn, Lebensmystik. Ursprüngliche Erfahrungseinheit von Religion und

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fektivität des conatus ein erstes »Denken« hervorruft, das dem Ich seine Ichheit (Egoïtät) schmecken lässt. Illeïtät des Seins und primordiales Verlangen oder Begehren (désir) bilden so bereits eine erste Dynamik, wo sich die unmittelbare Bestimmung oder die »Subjektivität« selbst des Ego von der universellen Unbestimmtheit (dem ápeiron bei Anaximander) erhebt und eine Integration oder Verantwortung darstellt, die von dieser Dynamik selbst bedroht bleibt. Auf der Grundebene des Empfindens gibt es also bereits gemäß Levinas ein »iteratives kulturelles Attribut«, das sich in Ambivalenz zu der abgegrenzten Struktur befindet – eine erste Motivation, wo die Andersheit bis hin zur Illeïtät Gottes auf der Stasis der subjektiven Hypostase beruht, indem diese auf die Krisis durch den Anderen wartet, um nicht als Identität oder unbestimmt Absolutes in einem irrtümlichen Enthusiasmus zu triumphieren. 57 Das metaphysische Begehren als Auslangen nach Anderem von der archaischsten Empfindungsstufe an will daher keine Rückkehr in sich selber beginnen, wie sie für den Zirkel des a priori abgestützten (auf eine Rezeptivität und Spontaneität beruhenden) klassisch idealistischen Wissens charakteristisch ist. In der philosophischen Tradition sei das metaphysische Begehren immer »Sättigung« als Aneignung oder wissende Selbstvergewisserung, wie etwa bei Husserl die mit erfüllter Anschauung graduell gesättigte Evidenz. Levinas will durch die Trennung vom Ersehnten, in dessen bloßer »Spur«, das Echtheitsmerkmal seiner Wirklichkeit selbst aufrecht erhalten, sofern das Begehren »ein Denken ist, das unendlich mehr denkt, als es denkt«. 58 Hier berühren wir ebenfalls den grundlegenden postmodernen Sachverhalt, dass das Bedürfen des Anderen als Erschütterung oder Pro-vokation für mein eigenes Bedürfen innerhalb des Pathos der Kritik der Lebensgleichwertigkeit eine kulturelle Phänomenalität birgt (Foucault), die an die nicht-mundane Phänomenalität des Anderen geknüpft ist. Die Epiphanie des Anderen kehrt alle intentionale Ethik im Spiegel »Philosophischer Mystik«, Dresden, Text & Dialog 2018, Kap. I,3: »Spinoza und die Einheitserprobung im Selbstverstehen«. 57 Vgl. Die Spur des Anderen, 276; zur Illeïtät ebd., 230 ff., 252 ff.; zu Verlangen/Begehren Totalité et Infini, 3 ff.; Entre nous, 74 f. Dazu die Ausführungen bei P. Guillamaud, »L’indétermination, la détermination et la relation: les trois essences de l’être«, in: Revue philosophique de Louvain 75 (1987) 427–469, hier 449 ff. 58 Entre nous, 74; dazu ebenfalls S. Till, Die Stimme zwischen Immanenz und Transzendenz. Zu einer Denkfigur bei Emmanuel Levinas, Jacques Lacan, Jacques Derrida und Gilles Deleuze, Berlin, Transcript 2013.

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Sinngebung um – nicht um eine Sonderregion der Husserlschen Phänomenalität zu begründen, sondern um die Egologie als solche zu hinterfragen. Wenn der Andere »Antlitz« ist, das zugleich das kritisch gesprochene Wort (parole) impliziert, dann deshalb, weil die unaufhebbare Nacktheit dieses Antlitzes zugleich vom »Ich« begehrt wird, was jeder Gewalt entgegensteht, um immer schon in die Erotik hinein genommen zu sein. Levinas verhilft also wie Lacan dazu, ein reines Begehren gelten zu lassen, das 1) weder bloß organisches Bedürfnis noch 2) überschwemmende Liebe ist, wo der Andere nur ein vorübergehend »signifikantes« Objekt darstellt; noch 3) eine Begierde, die etwa schon vor der Mängelwesentheorie bei Freud, Adler und Gehlen in der Platonischen und Kantischen Psychologie reine Negativität war. Und schließlich ist dieses Verlangen natürlich nicht einfach ökonomischer Bedarf, denn von der gegenreduktiven Analyse her können wir zusätzlich sagen, dass das Selbstbedürfen des Lebens als Sich-Begehren die immanent gewisse Fülle seiner selbst ist, so dass eben nicht auf platonisierende Weise sinnenhafter Mangel und ideelles Verlangen (eros) gegenüber zu stellen sind. Auch für Levinas 59 hat das Verlangen seine phänomenologische Quelle keineswegs in einer unbefriedigten Identität, deren Paradox schon Kierkegaard hervorhob, sofern sich diese eben auch als Verlangen zeigt. Am Ende von »Totalité et Infini« 60 führt Levinas allerdings dann gleichfalls die »Güte« ein, die keine andere Wahrheit mehr kennt als jene, die sich in ihr ohne jeden lateralen Blick auf »Recht« ereignet. Die Abhebung des Bedürfens vom Begehren bei Levinas, das bei ihm eine unendliche Hinwendung auf den Anderen bezeichnet, könnte daher auch mit dem verglichen werden, was Marx wie Lacan vom anderen Menschen sagen: dass dieser mir zum wahren Bedürfnis werde, wie es etwa im Verhältnis zwischen Mann und Frau der Fall ist. 61 Ohne mithin bloß faktuell sinnliches Bedürfen oder nur geistiges Verlangen zu sein, offenbart sich solch ein reines Begehren bei Levinas wie das Wort eines »Anderswo« bei Abraham. Dieses Wort des Begehrens kommt somit nicht von einem Verlangen oder gar von einer Begierde, die ihren »Ausdruck« suchen. Als vom »Anderswo« herkommend ist dieses Wort auch nicht einfach die Vorherrschaft des Totalité et Infini, 168 ff. (Antlitz und Ethik); 232 ff. (Liebe, Eros). Vgl. ebd., 282 f. 61 Vgl. Philosophisch-ökonomische Manuskripte 1844 (MEW Erg.-Bd. 1), Berlin, Dietz 1973, 535, 543 f.; J. Lacan, Le séminaire XIX: … ou pire, Paris, Seuil 2011, 181 ff. 59 60

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Sagens über das Sichtbare und dessen Bilder sowie Idole. Es ist die Vorzüglichkeit einer »Ordnung«, die Unordnung für die Welt ist, also sich selbst vor allen semiotischen Systemen »bedeutet«. Wenn dies nicht eine Ordnung sein soll, der ich mich unterwerfe, weil Schmerz und Furcht eines numen oder eines mana dazu zwingen, dann muss es sich um ein Sagen ohne Gesagtes handeln – eben um die reine Verletzbarkeit. Dieses Pathos des Mehr-Sagens als alles Gesagte oder Dargestellte durchzieht für uns die gesamte Kultur, denn wenn der Zugang zum reinen Verlangen nur vom selbstaffektiven Leben aus möglich ist, dann deshalb, weil solch phänomenologisches Grundbegehren als Lebensbedürfen eben nicht von einer Leere herstammt, sondern von einer bereits gekosteten »Erfüllung« – nämlich von der Lebensfülle der Affektivität in sich, die jedes Gefühl nach Henry als Glück (bonheur) offenbart. Das Wort des begehrenden Verlangens ist so »Wort des Lebens« vor jedem »Wort der Welt«. Levinas führt folglich unserer Meinung nach auf die gegenreduktive Analyse zurück, dass nur im reinen Lebensethos der Affektivität meine Antwort ihren Sitz als verlangende Ver-Antwortung haben kann, und zwar zusammen, mit oder gegen die Affektivität des Anderen, die keiner verobjektivierenden Evidenz – keinem bloßen Bedarf – zugezählt werden kann. 62 Denn als solche Bedarfsbefriedigung wäre alles intersubjektiv kulturelle Sein und Handeln nur Stillung oder Anästhesie der je psycho-physiologischen, nervösen, psycho-sozialen und vielleicht politischen Bedingungen, gegen deren einseitig am Markt orientierte Verwaltung die Postmoderne mit Recht aufbegehrt, wie die Diskussion seit Bataille und Lyotard zeigt. 63 Die andere »Ordnung« des Ethischen ist für Levinas An-archie im Sinne von: ohne Prinzip, ohne Anfang (arché), denn die anarchische Passivität der Kreatur, des Anderen als eines verletzbaren Antlitzes, ist allen thematisierbaren Unterscheidungen von Aktivität und Passivität vorgeordnet. Die Bedeutung, die dem Anderen zukommt, entspringt nicht irgendeinem kulturellen Kontext von Systemen oder von Geschichte, wie wir schon zeigten, sondern entstammt

62 Vgl. R. Kühn, Lebensethos. Inkarnatorische Konkretionen originärer Lebensreligion, Dresden, Text & Dialog 2017, 188 ff. 63 Vgl. ebenfalls M. Franzini, »Die Exzesse des Finanzkapitalismus und die Notwendigkeit einer Rückkehr zu den Grundwerten«, in: Chr. Riedweg (Hg.), Nach der Postmoderne. Aktuelle Debatten zu Kunst, Philosophie und Gesellschaft, Basel, Schwabe 2014, 163–178.

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ganz ihm selbst. Insofern ist die Anarchie auch das »Rätsel« des Menschen, wie es in »Die Spur des Anderen« 64 heißt, wobei der Versuch, die »Spur« als phänomenologischen Grenzbegriff der Intentionaltiät und Urimpression einzuführen, eine andere reduktive Variante darstellt. 65 Denn wenn das An-Archische als das Vor-Ursprüngliche, als vor jeder »Selbstgegebenheit« waltend, ohne zu herrschen, zu Wort zu bringen ist, so geht dies nur über die kündend impressionale Spur, über die ich keine direkte Verfügungsgewalt besitze, so wie die Zeit sich im Ursprung als »Diachronie« ergreift, um ihre eigene »Fruchtbarkeit« zu sein, das heißt Intentionalität aus der ur-impressionalen Dichte heraus, die sich von sich selbst löst (dé-fait), um in das Andere der Zeit zu ex-plodieren, die sie selbst als erste Alterität »ist«. 66 Die hierbei angezielte Differenz zu Husserl und Heidegger besonders, wenn nicht zur ganzen abendländischen Tradition, 67 liegt mithin nicht in der Erarbeitung einer spezifisch praktischen Ethik, sondern sie beabsichtigt ein neues, reduktiv radikalisiertes Sagen von phänomenologischen Grundsachverhalten, die allerdings weder im Dienste des wissenden Schauens noch des alles-vereinnahmenden Seins stehen sollen. Vielmehr gehorchen sie einem phänomenologischen »Operieren« mit den Mitteln der Phänomenologie an ihrer »Grenze« als Ge-Gebenheit. Der Versuch, die anarchisch/ethische »Subjektivität« phänomenologisch ins Spiel zu bringen, entspricht mithin dem schon erwähnten Vorhaben, die europäischen Philosophiekategorien und ihre Voraussetzungen insgesamt zu hinterfragen, ohne jedoch der Grundreferenzen wie Logos, Sein und Präsenz ganz entbehren zu können, da der Hintergrund einer anderen Tradition, nämlich der biblisch hebräischen, im notwendigen Dialog mit ihnen nach Levinas wie Derrida steht. 68 Aus dieser Sicht wäre auch der Levinassche Ansatz als einer jener neuen interkulturellen Diskurse innerhalb der Philosophie zu werten, die mehr und mehr um ihre kulturelle Ab-

Vgl. 236–260: »Rätsel und Phänomen« sowie 209–235: »Die Spur des Anderen«. Vgl. ebenfalls Z. Levy, »Der Begriff der Spur bei E. Levinas und J. Derrida. Einflüsse und Rückwirkungen«, in: Prima Philosophia 4/2 (1991) 149–164. 66 Vgl. Die Spur des Anderen, 81–103: »Überlegungen zur phänomenologischen ›Technik‹«. 67 Vgl. ebd., 312 f. (»Die Substitution«). 68 Vgl. J. Derrida, Die Schrift und die Differenz, Frankfurt/M., Suhrkamp 121–125: »Gewalt und Metaphysik. Essay über das Denken Emmanuel Levinas«. 64 65

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hängigkeit schon in der Problemformulierung selbst wissen, wie es die Postmoderne insgesamt fordert. 69 Das anarchische Verlangen in seinem Paradox lässt sich – innerhalb der kritisch befragten abendländischen Tradition – in gewisser Weise schon im Übergang von der II. zur III. »Meditation« bei Descartes 70 wieder finden, das heißt im Schritt vom Cogito zur unendlichen Andersheit. Dort herrscht ein Chiasmus zwischen der analytischen Ordnung, wonach das Cogito in seiner Einsamkeit sich zunächst als einziger Grund anbietet, und der synthetischen Ordnung, wo der Grund zunächst die unendliche Andersheit ist. Diese Überkreuzung ist das Symbol der menschlichen Leidenschaft als begehrendes Verlangen und Leid selbst, denn die Idee des Unendlichen (Gott) gibt sich nie als eine einfache Idee des Anderen in mir, da die erhabene Größe des ideatum unendlich seine idea übersteigt. 71 Die Nichteinwohnung des Unendlichen scheint das Verlangen zum Wahn-sinn werden zu lassen, von welchem der pathologische Wahnsinn der Rückgang des Cogito zum solipsistischen Moment ist. Das Cogito als Bewusstsein lässt in der postmodernen Philosophie alles zum Zeichen oder Korrelat werden (Lacan, Nancy), ohne selbst noch ein Zeichen oder »Symbol« für etwas zu sein, weshalb der Symbolismus nach Descartes absterben musste, obwohl Descartes selbst das Cogito noch über die Idee des Unendlichen mit dem »Merkzeichen« des Schöpfers versehen sah, was es bis zu Descartes hin eben erlaubt hatte, alle Werke des Menschen, sein schöpferisch kulturelles Tun wie die creatio selbst, unter eine aufsteigende Symbolik des Gottverlangens zu stellen. Descartes macht also an einer ideengeschichtlich phänomenologischen Schnittstelle zweierlei deutlich. zwischen dem Zweifel (Epoché) und der subjektiven Gewissheit gibt es keinen Bruch. Die tatsächliche Trennung vollzieht sich erst zwischen Cogito und unend-

69 Zum spezifischen Status der Ethik bei Levinas vgl. J. Rolland, Parcours de l’Autrement. Lecture d’Emmanuel Levinas, Paris, Vrin 2000. 70 Vgl. Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, 59 f. Zur Auseinandersetzung mit einer solchen alterologischen und performativen Descarteslektüre des Ego ebenfalls bei Marion siehe schon R. Kühn, Individuationsprinzip als Sein und Leben. Studien zur originären Phänomenalisierung, Stuttgart, Kohlhammer 2006, 300–308. 71 Vgl. E. Levinas, Totalité et Infini, 185 ff.; Die Spur des Anderen, 185–208: »Die Philosophie und die Idee des Unendlichen«. Außerdem E. Levinas, Ethik und Unendliches. Gespräche mit Philippe Nemo, Graz/Wien, Böhlau 1986.

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licher Andersheit, die als »Unendlichkeit« nicht nur eine bloße Ausdeutung des Cogito ist, wie in der rationalistischen Interpretation. Levinas will durch die Perspektive des Unendlichen für alles Seiende ein durch »Gott« bedingtes Sein retten, das heißt, er operationalisiert die phänomenologische Methode (wie dies in der gegenwärtigen Phänomenologie und Dekonstruktion meist insgesamt der Fall ist) zur Ermöglichung des Übergangs der Grenzen des Bewusstseins, indem aber die jeweilige Grenze als reduktive Grenze phänomenologisch festgehalten wird, weshalb hier nicht undifferenziert von »Theologisierung« der Phänomenologie gesprochen werden kann. Husserl hingegen sah Sinn/Sein immer durch Bewusstsein vermittelt, weshalb er keine Begrenzung des Bewusstseins durch ein andersartig Seiendes (oder eben durch Gott) zu denken vermochte oder wollte. Der Husserlschen Phänomenologie als universeller Korrelationslehre entzieht sich das transzendent Unendliche als ein absolut Anderes, denn das Absolute findet sich für ihn in der »Selbstgegebenheit« und ihrer geschichtlichen Verzeitlichung, was für die Postmoderne gerade in dieser Weise nicht mehr gültig ist. Dieses Verlangen des Unendlichen in der Phänomenalitätssphäre der immanenten Lebensselbsterprobung als Affektivität gesehen, wirft auch ein Licht auf den eidetischen Sachverhalt, dass das Sicherfreuen des Lebens Sicherleiden dieses selben Lebens als absolute Vorausgabe ist. Kant hat diesen Zusammenhang nicht völlig verkannt, denn im Übergang von der theoretischen zur praktischen Vernunft schlägt auch die sinnliche »Unreinheit« der ersteren als Intuition in das praktische Postulat des Glücks um, womit die Sinnlichkeit von vornherein nicht nur ganz negativ gesehen werden konnte, was Levinas in der Rehabilitierung der Sinnlichkeit als Antlitz, Nacktheit, Haut, Liebkosung usw. ethisch bzw. reduktiv phänomenologisch in die offenbarende Passivität der radikalen Andersheit erhebt. Was Kant allerdings auch zu sagen scheint, besteht darin, dass das reine Erleiden der Affektivität zu wenig »Sinnlichkeit-für-denAnderen« sei, denn seine ethische Kritik bedarf des Gebotes der autonomen Selbstverpflichtung, um die humanitas aller Menschen gewahrt zu wissen. Wenn Levinas zudem die absolute Antlitzbegegnung mit dem Namen Religion zuletzt belegt, wie wir schon sahen, so bliebe in diesem Zusammenhang zu fragen, ob Kants »Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« nicht ihre Quelle in der impliziten Bejahung eines bestimmten Absoluten der praktischen Vernunft hat, die ihrerseits die »Kritik der theoretischen Vernunft« 336 https://doi.org/10.5771/9783495820537 .

»An-archie« und Pluralisierung als kulturelles Kriterium

bestimmt. 72 Was der Vergleich Affektivität/Andersheit hier insgesamt zeigen kann, besteht folglich darin, dass die »Achtung des Anderen« weder aus einer transzendenten Apperzeptionssynthesis noch aus einem Universalprinzip deduzierbar ist, das als Ich-Maxime die Allgemeinheitsfähigkeit meines Handelns meint. Der transzendentale Charakter des Für-den-Anderen ruht nicht in einer apriorischen Objekt- oder Erfahrungsteleologie, sondern es bedarf eben einer absoluten Affektivität, in welcher die Sinnlichkeitspassivität mit dem Handeln-für-den-Anderen identisch ist. Diese schon zuvor genannte archaische Passion ohne waches Bewusstsein ist für uns die Immanenz des Lebenspathos, das von jeder Objekttranszendenz wesensnotwendig zurückgewiesen wird, um im Mit-Pathos die »Verletzbarkeit« bis hin zur Erschütterung zu erfahren, die dann Freundschaft und Feindschaft, Liebe und Hass, Geborgenheit wie Verfolgung auslösen kann, wobei allerdings in den negativen Erscheinensformen eine »Selbstzerstörung des Lebens« transzendental mit zu bedenken bleibt. 73 Absolute Alterität wie radikale Immanenz lehren mithin, dass die Einzigartigkeit des Platzes, die der Andere durch seine in mir ausgelöste Erschütterung einnimmt, von der Ver-Antwortung beseelt ist, die keine intentional egologische Parusie so unmittelbar hervorzurufen vermöchte. Denn diese schon erwähnte »Substitution« 74 ist Einnahme meines eigenen Platzes in mir durch den Anderen; ist meine Geiselnahme, die sich durch keinen Gesellschaftsvertrag oder durch bloß psychologische Empathie erreichen ließe, weil die tatsächliche Intropathie dieses Vorgangs sich dort vollzieht, wo das Sich in seiner reduktiven Rekurrenz ohne Bewusstseinsrückgriff die absolute »Ausgesetztheit für Verwundung und Beleidigung« als zur reinen »Kontraktion« gewordene Passivität nach Levinas ist: »In ihrer Passi-

Vgl. R. Kühn, Anfang und Vergessen. Phänomenologische Lektüre des deutschen Idealismus – Fichte, Schelling, Hegel, Stuttgart, Kohlhammer 2004, Kap. III,1: »Religiöse Freiheitsvorstellung bei Kant« (S. 225–242): 73 Vgl. M. Henry, Die Barbarei. Eine phänomenologische Kulturkritik, Freiburg/ München, Alber 1994, 227 ff. 74 Die Spur des Anderen, 295–330. Als Nicht-Ort ist diese ethische Transzendenz dann letztlich auch »Utopie« (»L’être et l’autre«, 25 f.); zu folgendem Leibgedanken Autrement qu’être ou au-delà de l’essence, 97 f.; Die Spur des Anderen, 311 ff., 324 f.; außerdem S. Trescher, Leiblichkeit und Gottesbeziehung. Eine Strukturanalyse ausgehend von Fichte und Levinas, Freiburg/München, Alber 2018. 72

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vität ohne die arché der Identität ist die Selbstheit Geisel. Das Wort ›Ich‹ würde einstehen für alles und alle, […] weil im Leiden das Maß des Ich überschritten wird, weil in ihm das ursprüngliche Trauma und die Rückkehr zu sich geschieht; hier bin ich verantwortlich für das, was ich nicht gewollt habe, das heißt, absolut gesprochen, verantwortlich für die Verfolgung in der Schöpfung, die ich erleide.« Sowie: »Es geht die Übernahme des Leids und der Fehler der Anderen nirgends über die Passivität des Sich hinaus: Sie ist Passion.« Für Levinas ist allerdings diese Passivitäts-Passion auch mit der Konsequenz versehen, dass eine solche »metaphysische Substitution« in der innersten Sinnlichkeit selbst auch »unendliche Schuld« sei, ohne Fehler zu bedeuten. Damit will er vor allem phänomenologiekritisch wie kulturell ausdrücken, dass nicht mehr Selbstbewusstsein und Sorge (Husserl, Heidegger) um das eigene autonome Seinkönnen das eigentliche substantielle Wesen des Menschen, wie für die bisherige Philosophietradition, ausmachen. Vielmehr manifestiert sich in der Öffnung gegenüber dem Anderen als Bürgschaft und Stellvertretung die Unmöglichkeit, noch eine eigene geschlossene Innerlichkeit nur fürsich bewahren zu können, was gerade einen anderen Kulturstil postuliert, für den heute diese »Selbstverwirklichung« postmodern zumeist oberstes Ziel geworden ist, ohne alle Prämissen dabei mit zu bedenken. Trotzdem ist unserer Analyse nach, wie wir durchgehend zu zeigen versuchen, diese kritisierte Innerlichkeit als Bewusstseinsoder Ichimmanenz der identifizierenden Wissens- wie Wertesystematik von der affektiv transzendentalen Immanenz des Lebenspathos zu unterscheiden, ohne dass Levinas darauf eindeutig Bezug nähme. Denn gerade am subjektiven Leib zeigt er, wie in diesem das Betroffenwerden am unmittelbarsten gegeben ist, und zwar als jenes Lebenszentrum, wo sich die Last aller Art niederschlägt, so dass er den Leib geradezu »die Geduld des Lebens« nennen kann. Er zieht daraus die Konsequenz einer sakrifiziellen Leibsicht, wo das sinnlose Seinsgeschehen in »Güte« umschlagen kann, womit er – anders als Merleau-Ponty und Sartre – Sinnlichkeit und Leib in eine wiederum ethische und nicht nur sinnhermeneutische Zentralstellung hinein nimmt. Wenn für ihn »Subjektivität« in diesem Sinne »Sensibilität« ist, so wird damit angedeutet, »jenseits des Seins« die Bestimmungen des Menschen leben zu können – das heißt in einer scheinbar erst noch aufzufindenden Kultur, wo Freundschaft, Gastlichkeit und Brüderlichkeit wie bei Deleuze und Derrida ebenfalls die »Fruchtbarkeit« der Zeit diesseits staatlicher Arché als an-archischen 338 https://doi.org/10.5771/9783495820537 .

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»Frieden« ausschöpfen. 75 Michel Henry gründet dieselbe Leiblichkeit hingegen als absolute Subjektivität nochmals in der Lebensselbstaffektion, wodurch diese Leiblichkeit als affektive Fleischlichkeit (chair) in ihrer Passibilität überhaupt erst eine ontologische Dignität als reziproke Urphänomenalisierung von Leib/Leben darstellt, und damit die Möglichkeit zu einer ethischen Seinsüberbietung bzw. -umkehr überhaupt. Damit ist die postmoderne Kulturfrage in gewisser Weise in der Lebensphänomenologie noch offener, was beispielsweise neue »Lebensformen« betrifft, aber dies heißt nicht, dass sie mit ihrem kritischen Potenzial nicht da entschieden ihr Veto einlegte, wo die humanitas als erfüllender Sinnlichkeitsvollzug eingeschränkt oder sogar unmöglich ist, wie besonders in allen totalisierenden Systemen, seien diese politisch, wissenschaftlich oder sonst wie ideologisch hypostasiert. 76 Es genügte an dieser Stelle, erneut gezeigt zu haben, dass die phänomenologisch reduzierte Affektivität – gemäß einem langen abendländischen Vorurteil mit dessen Kultursanktionen – weder undeutlich noch dunkel ist. 77 Für eine radikalisierte Kulturanalyse und die Phänomenologie selbst schließt dies ein, in den Erscheinungen, die in einer ästhetischen wie kulturell elementaren Lebenswelt hervorbrechen, jeweils bis an den gegen-reduktiven Punkt zurückzugehen, wo die affektive Immanenz von der Transzendenz nicht mehr verleugnet werden kann, sondern deren eigentlicher Träger ist. Jedes »Werk« ist so zunächst originär das Sagen eines Pathos, das sich als solches in der Überwältigung seiner Selbstauslieferung erspürt, wovon die einmaligen Versicherungen in den großen »Denkmälern« zum Beispiel ebenso zeugen wie alle Brüche mit einem bisher kulturell Überlieferten, das aber nicht mehr das eigentliche Sagen zulässt. Insofern braucht die Kultur den Bruch nicht zu fürchten, weil dahinter eine stärkere »Ordnung« der Affektivität als »An-archie« wohnt, Vgl. die Schlussseiten von Totalité et Infini, 282 ff. Vgl. M. Henry, »Ich bin die Wahrheit«, 326–360: »Das Christentum und die Welt« in ihrem ethischen Bezug. 77 Dies nachgewiesen zu haben, hält Levinas (Die Spur des Anderen, 239 Anm. 2) für eines der wichtigen Verdienste in M. Henrys Hauptwerk L’Essence de la manifestation (Paris, PUF 1963), auch wenn er selbst an einer nichtkorrelativ intentionalen Transzendenz im Begehren festhält, das jedoch »über das Sein hinausgeht«, weil es eben »anders als Sein geschieht«. Vgl. Entre nous, 245, sowie J. Hatem, »L’incontournable: note sur le rapport d’Autrement qu’être à L’Essemce de la manifestation«, in: Annales de Philosophie 16 (Beirut 1995) 93–97. 75 76

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die in ihrer Zerbrechlichkeit ihre Stärke selbst erprobt, weil sie – im Gegensatz zum »sinnvollen Denken« – in keiner Aktivität jemals fehlt. Levinas’ Analyse, sofern es dabei auch um eine hier nicht weiter aufzugreifende Debatte: um hebräisches Sagen und griechisches Sehen (theoría) geht, 78 lässt reduktiv erkennen, dass dort, wo der Affektion kein absoluter Anspruch im phänomenologischen Sinne mehr zugestanden wird, auch kein eigentliches Ethos gedeihen kann – denn Affektion bin ich wie der Andere, beide in absoluter Weise, bevor Vergleiche zu irgendwelcher Totalisierung gezogen werden können, die immer auch eine Narkose darstellt. Der Weg von der stoischen Freiheit zur Hegelschen Disqualifizierung des »animalischen« Gefühls, das nur seinem »inneren Orakel« gehorche, über die Kantische Ethik verfehlt die phänomenologische Eigenoffenbarung des Affektiven durch einen Reduktionismus auf bloße Information, womit »Erkennen« meiner selbst, des Nächsten, der Welt und wohl auch »Gottes« vereitelt ist. Es bleibt bei Levinas trotz all seiner gegenläufigen Heideggerkritik dennoch eine gewisse Nähe zur »Daseinsgeworfenheit« hier zu bedenken, denn als »ur-temporales Hinscheiden« in der »Retrozendenz« des Sich gleitet dort ebenfalls die »Sorge für den Anderen« im Sinne seiner zu verantwortenden »Verfolgung« in den Sterbenshorizont, auch wenn dieser von der »Schöpfung« gehalten ist: »Muss man nicht sterben, um zu transzendieren – wider die Natur, wider die Seiendheit des Seins, wider die Logik?« Die philosophische wie dichterische Sprache selbst, hier im Anschluß an Paul Celan, ist dann ein solches einsames Sich-Sterben in der Sorge, einem Gegenüber begegnen zu können, nämlich »frei und leer«. 79 Die absolute Transzendenz des Anderen, wird sie wirklich in ihrer reduktiv phänomenologischen Radikalität gesehen, ist aber an keinen besonderen existentiellen Modus gebunden, sondern sie ruht in der »Nacht« eben dieser Affektivität selbst, die sie »ist« und die für mich in welthafter Hinsicht uneinholbare Transzendenz außerhalb jeder »Sorge« bleibt. Damit ergibt sich das scheinbare Paradox, dass die Affektivität als absolute Andersheit des Anderen für mich Transzendenz ist, während sie in meiSo bemerkt M. Henry anerkennend in Inkarnation, 40 Anm. 9, über Levinas: »In der grundlegenden Problematik [gehört Emmanuel Levinas zu den Forschern], welche heute an der Erneuerung der Phänomenologie teilnehmen«, nämlich im Sinne eines nicht-griechischen Denkens. 79 »L’être et l’autre«, 26; vgl. Totalité et Infini, 208 ff., sowie Die Spur des Anderen, 309 f. 78

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nem eigenen Pathos als Mit-Pathos die immanent originäre Gemeinschaftlichkeit des Lebens offenbart. Mundan wie kulturell gesehen, ist dieses Paradox dann die Ausdrucksweise von zwei heterogenen Phänomenalitätsweisen: die des Lebens als Immanenz und die jeder Wahrnehmung als Exteriorität. Die Radikalisierung dieser Exteriorität aber führt reduktiv, wie Levinas’ Denken gerade zeigt, wieder auf die inner-absolute Selbstaffektion zurück, weil auch der Ruf des Anderen als lebendig Anderer nur von der Selbigkeit der affektiven Lebensbetroffenheit in mir her als ein solcher Ruf der subjektiven Andersheit vom »Selben« aus verstanden werden kann, wie gegenüber dem alleinigen postmodernen Differenzgedanken gleichfalls bei Levinas erneut festzuhalten ist. Weist man schon die Heideggersche Differenz Sein/Seiendes als nicht letztgebend zurück, weil in einer radikal phänomenologischen Onto-do-logie nur die Gebung als »Sein« selbst zählt, das heißt ohne einen vorherigen referentiellen Bezug zu Seiendem, so bedeutet dies keine Verneinung des Seienden oder seine entwertende Verachtung. Das Seiende hat nur radikal reduktiv keinerlei maßgeblichen Referenzcharakter mehr, was ein ethisch orientiertes Denken wie bei Levinas irritieren musste, wo der Bezug zum Seienden sein existentielles Gewicht behält. Sein als Sein vor der Unterscheidung Logik/ Reales oder Subjekt/Objekt (Aristoteles), vor der theologischen Differenz auch (Gott/Schöpfung) sowie vor jedem ontischen Nominalismus (Wissenschaft als Epistemologie heute) ist das eigentliche Anliegen eines »Logos« des Seins, der dieses nur selbst wiederum ist. Heideggers Spätwerk hat diesen Weg gerade für die postmoderne Phänomenologie und Dekonstruktion auch kulturell vorausgewiesen, und zwar mit der apophatischen Tonalität des »Seinsdenkens« als Tautologie über jede Theo-Ontologie hinaus. 80 Aber es muss ebenfalls gesehen werden, dass Levinas etwa gleichzeitig mit dieser expliziten Heideggerschen Selbstradikalisierung schon seinerseits die Frage stellte: »Ist die Ontologie fundamental?« 81 Er entwarf damit Vgl. auch L. Wenzler, »Zeichen und Antlitz. Ontologische Destruktion und ethische Einsetzung des Subjekts nach E. Levinas«, in: F. J. Klehr (Hg,), Den Anderen denken. Philosophisches Fachgespräch mit E. Levinas (Hohenheimer Protokolle 31), Stuttgart, Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart 1991, 115–135. 81 Vgl. den so betitelten Beitrag von 1951 schon in Die Spur des Anderen, 103–119; außerdem Entre nous, 13–24; »L’être et l’autre«, 23 f. Zum Vergleich K. Huizing, Das Sein und das Andere. Levinas’ Auseinandersetzung mit Heidegger, Frankfurt/M., Klostermann 1977. 80

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wegweisend eine An-Archie des verbalen »Seins« als Für-den-Nächsten-Sein im Sinne reiner und einfacher Einzigkeit (unicité), während Heidegger weiterhin eine An-archie des reinen und einfachen Seins im Für-sich desselben mittels des Daseins suchte. Bei Levinas ist dieses »Für« nicht ein Für der Finalität, sondern der Substitution, wie aufgewiesen wurde – als reine anarchische Beziehung, die niemals einem Bezug zwischen hypostatischem Seienden (Ich) und Anderem entsprechen kann. Damit ist auch das Antlitz kein bevorzugtes Seiendes unter den Seienden wie das Dasein bei Heidegger, dem es um sein »Sich« (das heißt »um sein Sein«) als Seinsverstehen schlechthin ging. Vielmehr schwenkt die Ethik als kulturelle Beziehungsbestimmung des Antlitzes des Anderen in seiner absoluten Andersheit in das Denken derselben als »Spur« der noch einmal ganz anderen göttlichen Alterität ein, die »Illeïtät« genannt wurde (ille: Jener). 82 Das Antlitz ist sozusagen der »Ort« des Übergangs von der sichtbaren und zerstörbaren Totalität in die unsichtbare und unverletzbare Unendlichkeit; es ist die Spur des »Anders-als-Sein« im kulturell identifizierbaren Sein. Dabei bleibt aber die Gefahr, dass das Antlitz rein formal oder strukturell fungiert, nämlich kein bestimmtes lebendiges Individuum mehr bezeichnet, sondern selbst nur wieder eine Figur unter anderen darstellt, was die Postmoderne als Abstraktion an sich vermeiden will. Bei Levinas geht dieser Anruf über das Bewusstsein hinaus, sofern er unter Bewusstsein zunächst das Korrelationsbewusstsein Husserls kritisiert, das heißt das vorstellende Bewusstsein, was eben nicht mehr für das gegenreduktive »Bewusstsein« in seiner Selbstaffektion gilt, die absolut vorintentional ist und es dem wachen Bewusstsein überhaupt erst ermöglicht, ein in ihm selbstentzündetes Licht als »Strahlen« auf das Sein hin zu entwerfen. Wenn mit dem rufenden Antlitz des Anderen, mit Gott schließlich, »mehr in mein Denken einfällt«, als ich denken kann, dann geht dies selbstverständlich nicht nur über jeden gedanklichen »Ein-fall« hinaus, den ich vom Nächsten oder von Gott je haben kann, sondern dieser Ein-Fall muss notwendigerweise als Differenz zu allen anderen Vorstellungen erlebt werden. Er ist deshalb für Levinas »Heimsuchung« innerhalb Vgl. Die Spur des Anderen, 226 ff. Den Aspekt der Anarchie als Assymetrie unterstreicht sehr stark P. Delhom, »Levinas, Emmanuel«, in: Th. Bedorf u. K. Röttgers (Hg.), Die französische Philosophie im 20. Jahrhundert. Ein Autorenhandbuch, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2009, 218–224.

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des kulturellen Miteinanders: »Die Gegenwart des Anderen besteht darin, auf uns zuzukommen, einzutreten […]. Die Epiphanie des Antlitzes ist Heimsuchung […]. So bedeutet die Anwesenheit des Antlitzes eine nicht abzulehnende Anordnung, ein Gebot.« Dieser Gedanke verdeutlicht klar, 83 dass dem Gebot die Heimsuchung vorausgeht, die gegen-reduktiv als Erprobung gesehen werden kann und somit sicherstellt: kein Gebot wäre ohne das vorgängige Affiziertwerden, welches unsere stete Heimsuchung als transzendentale Passibilität in ihrer Selbsterprobung ist (épreuve de soi). Mithin muss Levinas’ Gedanke, Gott falle »einbrechend« ein, wo vom Anderen die Rede ist, um kulturell als ermöglichende Vermittlung des Anderen als Anderen schlechthin aufzutreten, selbst wieder »vermittelt« sein – nämlich in der »Idee« eines Unendlichen, die ich nicht abstrakt vorstellend habe, sondern die ich als meine absolute Lebensabkünftigkeit mit der »mir« eigenen Gewissheit unmittelbar »weiß«. Ohne eine selbstaffektiv erprobte Gründung des Unendlichen als Leben und in ihm wäre jede auch noch so gewaltsam »hereinbrechende« Idee eines Unendlichen unmöglich, denn dieser Hereinbruch muss sich als ein solch unendlicher Einfall in seinem Wesen affizieren, wozu es einer entsprechenden Potenzialität in mir bedarf, falls das Unendliche mehr als eine nicht konkretisierte Idee sein soll. Außerdem bleibt zu sagen, dass dieses Verhältnis zur Spur der absoluten Andersheit nach Levinas’ Prämissen noch eine Art Intentionalität bildet, denn das Noema gibt hier der Noese ihre Tonalität, insofern sich das Ich als bestimmendes in dieser un-endlichen Beziehung zurückzieht – um selbst Spur zu werden, das heißt sozusagen »sich illeïsiert« bzw. »retrozendentes Sich« ist. Der von Levinas eingeführte Gedanke der »Investitur« der menschlichen Freiheit nötigt zur kulturellen Neuschreibung der philosophischen Konzeption der Selbstschöpfung oder -setzung in einer solchen Perspektive »philosophischer Theologie«, wo Gottes schöpferische Tat eher eine »Selbsteinschränkung« ist und als Totalitätsverzicht zu interpretieren bleibt. Und aus diesem resultiert die Möglichkeit der Anderen – auch für Gott. Es ließen sich ohne Zweifel Parallelen zur Kabbala, etwa bei Isaak Luria und später bei Simone Weil, hinsichtlich eines solchen »Rückzugs Gottes« herausarbeiten, 84 aber wichtiger scheint zu sein, dass Gott selbst sich für Levinas so83 84

Vgl. Die Spur des Anderen, 221. Vgl. R. Kühn, Leere und Aufmerksamkeit, 190 ff.

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zusagen »sozialisiert« oder »vergemeinschaftlicht«, um jeden Gedanken an eine bestehende Gesellschaft abzuwehren, indem der Inhalt seiner Schöpfung die Freisetzung einer Gemeinschaft selbständiger Wesen ist, die in dieser gestifteten Gemeinschaftlichkeit des je absolut Anderen ihre »Kultur« besitzen. Diese göttlich unendliche Stiftung von Gemeinschaft in ihrer postmodern pluralen Unabschließbarkeit erklärt daher auch, warum sich für Levinas keine geschichtliche, staatliche oder andere Synthese aus den beiden Bewegungen »Anruf durch den Anderen« und »unbedingte Hinwendung zu ihm« ergibt. Die »sittliche Ordnung« existiert nur als »Spur Gottes«, was an Kant erinnert, der für Levinas neben dem phänomenologischen Erbe eine größere, bereits erwähnte Bedeutung spielte. Das dazu notwendige »Sterben« des »ichhaften Subjekts« als »Hin-scheiden vom Sein« ist eine reine Leidenschaft, mit anderen Worten die Einzigkeit des hin-scheidenden Übergangs zum Anderen, kurz ausgedrückt: reine Gabe. Letzteres hat sehr früh schon H. Kuhn herausgestellt, aber auch er betont, dass Levinas der Konsequenz einer »theozentrischen Theorie« ausweicht, da er beim »philosophischen Anspruch« gegenüber der Autorität eines Offenbarungsglauben bleibe. 85 Diese Gabe als passio im Rückzug geschieht nach Levinas jedenfalls »anders als Sein«, und nicht als »anderes Sein«, das heißt ganz eindeutig: nicht mehr als »Sein«. Es ist passio ohne Ontologie im klassischen Sinne, als das Eine über die ousia hinaus, als das EinfachEine des Für-den-Nächsten. Wie Levinas selber schreibt: »Es bedarf eines Rückzugs (retrait), der ins Voraus (avance) eingeschrieben ist – wie eine Vergangenheit, die niemals gegenwärtig war.« 86 Anstatt hier diese neo-platonischen Züge 87 weiter zu verfolgen, ist festzuhalten, dass das kritische Analyseschema der Substitution, Investitur, Spur usw. dennoch der einfachen Seinsontologie durchaus gleicht. Heidegger wie Levinas enden mit dem reduktiven Versuch der Phänomenalität einer reinen Gabe, wie sie von uns auch als »Onto-do-logie« vorgestellt wurde. Das »Es gibt« des Ereignisses entspricht strukturell dem »Für-den-Nächsten«, allerdings mit dem gewaltigen Unterschied, dass diese an die Cartesianische »GeneroVgl. »Sein als Gabe«, in: Philosophische Rundschau 17/1–2 (1964) 59–89, hier bes. 74. Zum »Rückzug Gottes« bei I. Luria vgl. G. Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Frankfurt/M., Suhrkamp 1957, 267 ff. 86 Entre nous, 73. 87 Vgl. E. Levinas, »Philosophie et transcendance«, in: Encyclopédie Universelle I (Hg. A. Jacob), Paris, PUF 1989, 38–45, 38 f., zu Plotin. 85

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sität« 88 erinnernde Gabe ethischer Natur ist – und nicht ontologischer. Der Hinweis auf das neuplatonisch Eine bzw. auf sein apophatisches Absolute ermöglicht es offenbar, dass dieselben Kategorien dazu dienen können, durchaus Widersprechendes auszudrücken, wie sich ein solches Verhältnis schon in Bezug auf Immanenz/Transzendenz bei der Affektivität als Gemeinschaftlichkeit von Ich/Anderem feststellen ließ. Das Sein oder der conatus essendi scheinen durch die ethische Einzigkeit eine Art Atomisierung jeglichen ontologischen Begehrens zu erfahren, aber beide zeugen auch von einer Illeïtät, von einer A-Personalität des »Es gibt« (il y a) oder des »ille« (Il), das heißt von der Teilhabe oder von der Substitution, die einer verabsolutierten »Relation ohne Relation« gleichkommt. 89 Dient diese Überschneidung der reduktiven Radikalität der absoluten Phänomenalitätspassion selbst, insofern sie in ihrer reinen Passivität mit dem »Nicht(s)-Sinn« des »Es gibt« vermischt ist, das heißt, reiner Widerspruch als Anstrengung »zu sein« bedeutet – jedoch als ontologische Alterität des »Für«? Die Andersheit des Nächsten, der immer auch selbst betroffen ist, ohne sich betroffen zu zeigen, oder die ganz andere Andersheit Gottes bis hin zu einem in der Abwesenheit transzendenten Gott bzw. eines transzendenten Göttlichen, das »vorbeigegangen« ist und so die Ordnung der Welt stört, 90 sowie die Andersheit des ereignishaften oder tautologisch anzudenkenden ontologischen »Es gibt« scheinen so imstande, dieselbe nichtdeterminierte Funktion des Aktes zu übernehmen, welcher das Ego in Leidenschaft versetzt – seine Passion ist. Damit ist kein unbefragtes Prestige herkömmlicher Akt-Philosophie wiederhergestellt, aber zumindest wird dadurch deutlich gemacht, dass weder Heidegger noch Levinas alle Möglichkeiten einer Gegenreduktion ausschöpfen, wie sie uns mit der reinen Affektivität in ihrer Passibilität gegeben scheint. 91 Wenn es eine »Passion des Seins« als verbales »zu sein« gibt, dann ist die Philosophie selbst die Erste Kultur, in welcher der »großen Jagd« der kulturwerdenden Lebensaffektion, wie Nietzsche sagt, 92 nachgespürt wird und in der sowohl jedes Bedürfen wie Begehren Vgl. Descartes, Les passions de l’åme, Paris, Vrin 1970, Artikel 153 (S. 177 f.). So P. Guillamaud, »L’indétermination, la détermination et la relation«, 453 f. 90 Vgl. Die Spur des Anderen, 209 ff. 91 Vgl. ebenfalls B. Forthomme u. J. Hatem, Affectivité et altérité selon Levinias et Henry, Paris, Cariscript 1996. 92 Jenseits von Gut und Böse III, 45, in: Werke II (Hg. K. Schlechta), München, Hanser 1973, 609 f. 88 89

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und ihre ästhetischen wie erotischen Erfüllungen als auch »Sublimierungen« davon zeugen. Kultur im postmodernen Kontext befragen heißt dann, dem affektiven Grund als absoluter Phänomenalisierung des »Ur-Einen« in allen Erscheinungen nachzuforschen. Die Kultur bringt höchste Zeugnisse von Lust, Genuss (jouissance), Furcht und Weisheit, wie zum Beispiel bei Epikur, in der Stoa und biblischen sapientia. Die biblische Weisheit, von der unsere jüdisch-hellenischchristliche Kultur weithin zehrte, bricht jede Sakralität der Welt ab und öffnet dem Menschen »Perspektiven« in einer »profanen« Welt als Schöpfung. Diese alte Weisheit als »Heil durch Erkenntnis« des pluralen »Es gibt« in seiner Nützlichkeit für ein »gutes Leben« ist kaum mehr auffindbar, obwohl sie anwendbar ist als »De-Reflexion« gegenüber dem »Zuviel« an Phantasma und Sein, die uns zu erdrücken drohen. Diese Weisheit muss kulturerstellend nicht nur durch die Hermeneutik von Sinnfindungen für ungerechtes Leiden, vanitas und Sterben hindurch, sondern sie hat letztlich auch auf die Pathetik jeder Erlösung nach Levinas zu verzichten, um den Menschen auf seine nackte Kreatürlichkeit zu verweisen, die für uns zum Teil unter den Begriff der absoluten Lebensankünftigkeit als nicht-vorstellungshafter »Präsenz« gefasst ist. Solche Kreatürlichkeit (Kontingenz) manifestiert sich als »transzendentale Geburt« in der Selbstaffektion der Sinnlichkeit, die als letzter Erscheinensgrund aus keinem menschlichen Akt, Sein oder Modus wegzudenken ist. Insofern bleibt jedes Bedürfen in seiner Passibilität eben ein Begehren, weil es zunächst sich selbst begehren muss, um Bedürfen sein zu können, und zwar in der passio seiner affectio, die nicht von der Unterscheidung transzendenter »Werte« her ihre ontologische Würdigkeit erhält, sondern diese in sich besitzt, wie die Postmoderne (Bataille, Deleuze, Foucault) vehement unterstreicht. Die bereits angeführte Unterscheidung von Bedürfen und Begehren bei Levinas 93 scheint uns daher letztlich nicht stichhaltig, weil das Bedürfen zunächst von ihm auf eine rein »naturale Sinnlichkeit« reduziert wird, das heißt, sich über einen Weltcharakter definiert, um dann vom »höheren« unendlich-transzendenten Begehren des Anderen »ohne Erfüllung« abgegrenzt zu werden. Die alte plural weisheitliche Gottesbindung wird daher dort zur Ethik, wo geglaubte Erlösung fortfällt; so wie immer die ontologische Absolutheit als Phänomenalisierung weicht, wenn ethische Fragen Vgl. auch dazu die Einleitung von W. N. Krewani, in: Die Spur des Anderen, 21 ff., sowie unser vorheriges Kapitel I,1 zu Bedürfen und Selbstbedürfen des Lebens.

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allein dominierend werden. Sie werden dominierend, weil bisherige abendländische Kultur schrift- oder weisungsgebunden war – als Mimesis, Modell, Teilhabe, Darstellung, Gebot, Erbauung usw. Bei aller reduktiven Radikalität seiner Phänomenologie bleibt eine diesbezügliche rabbinisch talmudische Schriftinflexion bei Levinas offensichtlich bestehen, um zu sagen: Willst Du Weisheit, so folge dem Gebote (der Ethik), und Deinem gestärkten Herzen wird die verlangte Weisheit gewährt werden! Nicht umsonst wird Levinas’ philosophischer Sprachstil mehr und mehr gebrochener »narrativer« Text, denn das gebieterische Antlitz des Anderen als die eigentliche Weisheit, welche als »Gebot« hereinbricht, taucht nirgendwo in der wimmelnden Prosa des »Es gibt« auf. Darin ist kein Manichäismus zu sehen, denn Levinas analysiert ausführlich die Transitivität von Lust, Genuss, Freude wie Eros, und denkt so metaphysisch den grundlegenden Optimismus der »Genesis«: »Und es war gut!« (1,31), von dem die Freude jeder kulturellen Schöpfung ihrerseits zeugt. Aber das begehrende Bedürfen, das aus der Anonymität des Seins heraustritt, ist eben für ihn nicht das Sein als Sein (oder das phänomenologisch absolute Leben), sondern ein erstes »Es gibt«, und zwar verknüpft mit dem Elementhaften (l’élémental), 94 das uns durchaus auf der Erde kulturell beheimatet, aber erst als reines »Begehren« nur Ökonomie, Ethik oder Erotik durch die Beziehung zu Anderen werden kann. 95 Folglich bleibt die Kultur der Weisheit und die Weisheit der Kultur, ausgehend von der Weltordnung allein, für Levinas unauffindbar, und er hat recht in Bezug auf eine rein transzendente Weltordnung. Denn diese »Weisheit« gründet in der Affektion, die in allem das erste, letzte und so einzige immanente »Wissen« diesseits von Welt ist. Diese Affektion waltet auch bei Levinas, wie wir sahen, da sein Für-den-Nächsten-Sein kein deduktives oder offenbarungsautoritäres Liebesgefühl aus einem vorhergehenden Gottesbild heraus ist, sondern durchaus »Passion des Lebens« – reine Passion, um des verbalen »Zu-seins« willen als dessen Geschick ohne Bestimmung aus einer vorhergehenden Totalität. In diesem Sinne könnte man seiner phänomenologischen Bestimmung zustimmen: »Wir nennen ›ethisch‹ eine Beziehung zwischen Termini, in der der eine und der Andere weder durch eine Vorstellungssynthese, noch durch die Beziehung von Subjekt und Objekt vereint sind, und in der dennoch der 94 95

Vgl. Die Spur des Anderen, 103 ff. Über Begehren, Besitz, Arbeit und Ökonomie vgl. Totalité et Infini, 88 ff. u. 125 ff.

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Religion und Kultur bei Levinas als »Substitution« und Pluralität

eine für den anderen Gewicht hat, ihm wichtig ist, ihm bedeutet, in der sie durch eine Intrige verknüpft sind, die das Wissen weder ausschöpfen noch zu entwirren vermöchte.« 96 So ist bei Levinas sicher »Religion« festzuhalten, wie wir schon am Anfang dieses Kapitels untersuchten, aber kein theologisch gewollter Dogmatismus, sondern vielmehr ein postmodern anti-dogmatischer Einspruch (Deleuze) gegen die manipulierende Erkenntniszurichtung des Seins in der traditionellen Philosophie, der eben auch Husserl insofern noch angehört, als er für das Subjekt Absicherung zu(ver)lässiger Erkenntnismöglichkeiten will. Wo letztere Sicht geteilt wird, ergibt sich die entsprechende Kritik an Levinas als Verlassen einer transzendentalempirisch gebundenen Phänomenologie. 97 Die Intrige aber, die solches unentwirrbare »Spiel« als immer schon lebendige »Verstrickung« der Affektivität und Affekte geeint hat, ist für uns im letzten gegen-reduktiven Sinne das nie abwesende Leben – bei mir wie beim Anderen. Leben, das keine allgemeine Seinskategorie ist oder eine Entität, aber auch kein bloß symbiotisch eingeschätzter Vitalismus, wie es bei Levinas manchmal scheint, 98 sondern die je andere Subjektivität, die mich nur über das stets originäre Affiziert-Werden »verwirren« oder »intrigieren« kann. Der anarchische Prophetismus im Levinasschen Sinne sagt nur Eines: ich bin ein Anderer; ich bin für den Anderen, worin jedes Wort der Welt und Kultur als die Sammlung des Seienden übertroffen wird. Im »Angesicht-zu-Angesicht« wird jedes Maß entlarvt; kommt es zu eschatologischer Neuheit. 99 die so tief in ihre Leidenschaft hineintaucht, dass jedes Geben Vergeben ist (Don/Pardon). So heißt es von Paul Celans Poesie bei Levinas: »Der Gesang steigt in das Geben, in das einer-für-den-anderen, in die Bedeutsamkeit selbst der Bedeutung. Eine ältere Bedeutung als die Ontologie und das Denken des Seins, und wo Wissen und Begehren, Philosophie und Libido vorausgesetzt sind.« 100 Die Pluralität der »personalen« Zeitigungen als kritisches Eschaton will mithin gegen die Zeittotalisierung dem Unendlichen in der Zeit entgegenwachsen, was durch den generativen Geschichtsverlauf Die Spur des Anderen, 274 Anm. 3. D. Janicaud, Le tournant théologique de la philosophie française, Combas, Eclat 1991, 56 ff. 98 Vgl. Entre nous, 25 ff. 99 Vgl. Totalité et Infini, 257 f. u. 276 ff. 100 »L’être et l’autre«, 30. 96 97

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»An-archie« und Pluralisierung als kulturelles Kriterium

geschieht. Das heißt, durch die Vaterschaft und das Sterben wird Platz frei in der Kultur für einen neuen Anfang durch eine neue Generation. Durch diese Verschränkung von Vergeben und generativem Neuanfang bleibt allerdings eine ontologische Kluft zwischen staatlich erreichter »Gerechtigkeit« und ethischen Leistungen bestehen, in denen sich das Einzeldasein in »personaler« Gemeinschaft (zum Beispiel Familie) vollenden kann, was verständlich macht, dass Levinas stark in der Theologie und in der interkulturellen Philosophie rezipiert wird. 101 Gerade diese Verabschiedung des philosophisch vereinheitlichenden Blicks auf das Ganze, wie es auch für Husserl und Heidegger im Gefolge des abendländischen Seinsdenkens als »phänomenologisch strenger Wissenschaft« oder als »Da-sein« in der Tat typisch blieb, offenbart jedes Kulturwerk, sofern es nicht unter historische, ethnologische, psychologische Interpretation usw. subsumiert wird. Jedes Kunstwerk sagt über seinen greifbaren Gehalt hinaus: ich bin ein Anderes. Und so verweist es in die Nacht des kulturbegehrenden Bedürfens, das zur Feier seiner selbst wurde, weil die Lebensgabe nie restituiert werden kann und muss, wovon die Vergebung (Par-don) eine Form ist, ohne die einzige zu sein. Mit dem Fleisch (chair) unserer Sinnlichkeit umkleiden wir so die Welt in ihrem kulturellen Erscheinen, das in uns seine phänomenologische Möglichkeit hat, das heißt letztlich aus der absoluten Lebensgabe an uns selbst stammt, in der wir gezeugt sind. Diese Lebensgabe ist nie zweideutig in ihrer Manifestation wie das Antlitz oder die Spur der menschlich/göttlichen Illeïtät im Levinasschen Sinne, denn die Ambiguität ist das Gesetz der Erscheinungswelt, sofern wir alles zum einen immanent erleben und zum anderen noetisch-noematisch wahrnehmen. Wenn Levinas den Anspruch auf eine radikale Phänomenologie des »Anders-als-Sein«-Erscheinens im Sinne der Grundphänomenalisierung stellt, kann er sich eigentlich nicht auf die Gegensätzlichkeit Ontologie/Ethik im letzten berufen, da diese immer schon einen Raum der Erscheinungsdifferenz voraussetzen würde, in dem sich die Erfahrung von postmoderner Differe(ä)nz ereignen kann. Levinas leitet sein erstes Hauptwerk 102 mit dem Satz ein, dass »es im höchsten Maß darauf ankommt, zu wissen, ob man nicht von der Moral betrogen« werde. Diese Kernfrage aller Lebenswelt und 101 Vgl. A. Sidekum, Ethik als Transzendenzerfahrung. E. Levinas und die Philosophie der Befreiung, Aachen, Augustinus 1992. 102 Totalité et Infini, S. IX.

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Religion und Kultur bei Levinas als »Substitution« und Pluralität

Kultur ist an ihn zurückzustellen, denn wenn Levinas sich programmatisch jede konkrete ethische Praxisanweisung versagt (worin er als ontologiekritischer Phänomenologe an sich recht hat), dann wird allerdings seine Ethikverabsolutierung als Grund allen Erscheinens umso totalitärer als jeder andere philosophische Totalitarismus, den er denunzieren will, denn es gibt dann weder Leben noch Sein, das nicht ständig etwas einklagen würde. Wenn jede gegensätzliche These gegenüber dem Anderen ontologisch zum »Krieg« gehört, dann wird nach M. Haar die Ethik eine »unwiderstehliche Beschlagnahmung, eine unmittelbare und vorweggenommene Zerstörung eines jeden ›Egoismus‹«: ein Traumatismus der Transzendenz. 103 Und wenn Phänomenalität nicht bloßes Entbergen eines universalen Seins ist, wie Levinas selbst sagt, dann ist sie aber auch nicht ausschließlich konfliktuelles Entfesseln oder friedvoll ethisches Sein-Lassen. Diese Phänomenologie bleibt daher untergründig geleitet von einem Interesse, wo die zur Exteriorität gewordene Andersheit dem unbestimmt »Absoluten« dient, so wie Husserls Interesse der universalen Vernunftidee galt. Da es keine phänomenologische Begrenzung der Phänomenalitätstiefe als solcher gibt, bleiben auch die jeweiligen operativen Interessen phänomenologisch auf das Wie ihres Erscheinens als Maßstab hin zu überprüfen, wie besonders das lebensphänomenologische Gespräch mit der Postmoderne insgesamt unterstreichen dürfte. Die Passion der Transzendenz darf hier nicht Passion sein, weil wir prinzipiell vom Lebensursprung selbst her passio sind, sondern weil sie eines rechtfertigenden Grundes außerhalb ihrer selbst bedarf. Damit sind wir – wie in allen Transzendenzphilosophien – unserer eigentlichen humanitas beraubt, um sie »anderswo« suchen zu müssen. Und damit neigt sich auch der plurale »Wert« der Kultur vom postmodern unendlichen Ruf ins je Andere immer mehr dem Konfliktuellen zu, anstatt Stätte unserer affectio zu sein. Oder benötige ich vielleicht die absolute Andersheit des Anderen, um damit insgeheim meine eigene Absolutheit bestätigt zu bekommen? Diese äußere Bestätigung ist nicht nötig, da in der selbstaffektiven Wesenszusage des Lebens als Ipseität mein Leben je schon absolut

103 Vgl. »L’obsession de l’autre: L’éthique comme traumatisme«, in: Levinas. Cahier de l’Herne (1991) 451; für die postmoderne Rezeption dieses Themas K. Nosratian, Trauma und Skepsis. Nach Levinas, Berlin, Akademie Verlag 1992; B. Waldenfels u. I. Därmann (Hg.), Der Anspruch des Anderen. Perspektiven phänomenologischer Ethik, München, Fink 1998.

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»An-archie« und Pluralisierung als kulturelles Kriterium

bejaht ist, wodurch der Andere eben primär – oder sogar ausschließlich – keine Forderung darstellt, ihm begegnen zu müssen, sondern die Freude ist, mit dem Anderen gemeinschaftlich sein zu können, ohne ihn vereinnahmen zu wollen. Die Andersheit ist daher nicht der »Gegensatz« der Lebensimmanenz, sondern gehört zu ihr, um ihre Möglichkeiten tatsächlich zu erproben – als Erschütterung, als Heimsuchung, als Anstrengung, als Passion, als Widerstand, als Spurenlese, als Trennung, als Friede – womit Levinas seine Kulturanalyse 104 abschließt, um zugleich eine Kulturrevision anzudeuten: »Die Einheit der Pluralität ist der Friede und nicht der Zusammenhalt von Elementen, die die Pluralität bilden.« Die kulturellen Gesetze der »pluralen« Intersubjektivität sind, wie wir eingangs forderten, pathischer Natur. Es gibt keine intersubjektive Modalität, die nicht Modifikation einer passio wäre, wie dies hier die erfolgte Auseinandersetzung mit Levinas auf dem Hintergrund der Postmoderne bestätigt. Kultur – immer für-sich-und-fürden-anderen geschaffen – bleibt der herausragende Weg zur intropathischen Initiation in die passio des Anderen, die sich zugleich als die meine erweist – nämlich das rein phänomenologische Leben als das paradoxe »Mehr« seiner selbst zu leben, ohne in der Transzendenz Rückhalt, Ausflucht, Gebot oder Erlösung gewährt zu bekommen, weil diese unter die Vorstellung fallen. Levinas scheint dies gesehen zu haben, wenn er schreibt: »Radikal gedacht ist das Werk nämlich eine Bewegung des Selben zum Anderen, die niemals zum Selben zurückkehrt […]. Es verlangt infolgedessen die Undankbarkeit des Anderen […]. Es ist nicht bloß Verlust, und es ist nicht zufrieden mit der Bestätigung des Selben in seiner Identität, die vom Nichts umringt ist. Das Werk ist weder bloßer Erwerb von Meriten noch blanker Nihilismus […]. Das Werk ist daher eine Beziehung zum Anderen, der erreicht wird, ohne sich berührt zu erweisen.« 105 Es bleibt aber damit auch nach der »Kehre« bei Levinas, die als Rückbindung der Vorstellung an die Sinnlichkeit über das Gedächtnis und die »transitive Intentionalität« auftritt, eine Kluft zwischen Kultur und Sinnlichem bestehen. Denn gemäß einer doppelten Intentionalität – der objektivierend idealisierenden und der anonym transitiven – Totalité et Infini, 283. Die Spur des Anderen, 215 (mit Einleitung von N. W. Krewani, 38 ff.) sowie En découvrant l’existence avec Husserl et Heidegger, Paris, Vrin 1949, 6 (erw. Ausgabe 1967). 104 105

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Religion und Kultur bei Levinas als »Substitution« und Pluralität

gibt es für Levinas eine »transzendentale Bedingtheit«, wonach einerseits »Seiende und Dinge sich jenseits des eigentlich intellektuellen Aktes (im Kulturellen) einordnen oder diesseits (im Sinnlichen)« andererseits. Kultur bleibt damit an die »kerygmatische« Sprachvermittlung und Idealisierung geknüpft, wie etwa auch das Verhältnis von Sprache/Macht bei Foucault, ohne direkt die kulturträchtigen immanenten Tonalitäten des Sinnlichen auszuschöpfen, das Levinas weiterhin als einen »Strom« ohne Identität und Verharren zu betrachten scheint. Mit »Strom« ist aber stets bereits Konstitutiertes gemeint und nicht die Sinnlichkeit in ihrem immanenten SelbstEmpfinden, um das es gerade in der kulturellen Aktivität und Rezeption geht. Wenn letztere die Postmoderne als reine Differe(ä)nz oder Pluralität fassen will, so ist sicher Levinas ein herausragendes Beispiel ebenfalls für die verbleibenden Grenzen einer solch me-ontologisch ethischen wie kulturellen Analyse.

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8. Jacques Derrida und Jean-Luc Nancy: Dekonstruktion als »Fraktur«

Jean-Luc Nancy (geb. 1940) versucht in der Nachfolge Derridas, aber auch von Lyotard, Blanchot, Lacan und Deleuze, im Zentrum jeglichen leiblichen wie kulturellen Berührens dessen eucharistische Hypostase aufzusprengen – nämlich als »Dekonstruktion des Christentums«. Als Ausgangspunkt dient die Feststellung: »Das Herz der Christologie ist die Lehre von der Leib-/Fleischwerdung, und […] das Herz der Lehre der Leib-/Fleischwerdung ist die Lehre von der homoousia, der Konsubstantialität, der Identität oder Gemeinschaft von Sein und Substanz zwischen dem Vater und dem Sohn. Da sehen Sie, was mit dem Christentum völlig einmalig ist.« 1 Wir wollen diesen aktuellen Vorstoß französischer Phänomenologie und dekonstruktiver Traditionskritik nutzen, um abschließend deutlich zu machen, dass es letztlich bei der Frage nach dem reinen Erscheinen nicht um »Texte« oder »Geschichte« geht, sondern um die rein praktische oder immanente Einheit von Wort/Leib, wie wir schon bei Merleau-Ponty unterstrichen, um diesseits der postmodernen Diskurse eine ältere Wirklichkeit als die von »Sinn« und »Bedeutung« bzw. von »Kluft« und »Fraktur« in Erinnerung zu rufen. Indem Derrida wie Nancy die prinzipielle Brüchigkeit des Berührens thematisieren, kehren sie in gewisser Weise an den Ursprung griechischen Denkens von Sinnlichkeit/Idee (Platon) einerseits und des jüdisch-christlichen Hoffens als Heil durch Gottes/Christi »Gegenwart« andererseits zurück, um beides endgültig in einer »fraktalökotechnischen« Lektüre von Leib und Begehren (désir) aufheben zu wollen: »Ein Schöpfer hält seine Schöpfung inne, hält sie zurück und J.-L. Nancy, »La déconstruction du christianisme«, in: Les Études philosophiques 4 (1998) 503–519, hier 514. Wiederabgedruckt ist dieser Vortrag von 1995 in: J.-L. Nancy, La Déclosion (Déconstruction du christianisme, I), Paris, Galilée 2005 (dt. Dekonstruktion des Christentums, 237–264, hier 255). Dazu auch O. Peterschmitt, Ph. Rohrbach u. J.-L. Nancy, »Rencontre autour de Jean-Luc Nancy: Déconstruction du christianismue, in: Les Cahiers philosophiques de Strasbourg 30 (2011) 251–279.

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Jacques Derrida und Jean-Luc Nancy: Dekonstruktion als »Fraktur«

bezieht sich darauf. Doch die Schöpfung der Welt der Körper läuft nicht auf nichts und auch nicht auf jemanden hinaus. Welt heißt ohne Anfang und ohne Ende: und ist das, was Verräumlichung der Körper heißt […]. Die Figur der Ökotechnie, die in alle Richtungen das globale Wuchern und die umweltliche/schändliche (immondice) Ansteckung ausbreitet, ist sehr wohl die Figur dieser Identität – und zweifellos ist sie, um abzuschließen, diese Identität selbst.« 2 Da Nancy als Schüler Derridas dessen Dekonstruktionsdenken sowohl hinsichtlich der différance wie der damit verbundenen Traditionskritik weitertreibt, 3 ist es angezeigt, zunächst kurz an die Voraussetungen solchen Vorgehens bei Derrida selbst zu erinnern.

1.

Dekonstruktion als Dissemination und Aufschub bei Derrida

Im Anschluss an seine Zeitkritik innerhalb der Husserlschen Phänomenologie radikalisierte Derrida 4 in der »Dialektik, Differänz« oder im »Aufschub, Supplement« deren zeitlichen Ursprung/Sinn als einem »Je-sich-noch-weiter-anders-Zeigen« in seiner Perspektive einer solchen »Dissemination« ohne eigentliche »Ursprungsgabe« und ohne mögliche Rückkehr die abendländische Metaphysikgrundentscheidung des phänomenalisierenden Vorstellens schlechthin. Ein solcher Weg zu dieser Herausstellung eines distanzierten oder sich differenzierenden »Seins« als dekonstruierter An-wesenheit bzw. als eines dialektisch unentscheidbarern Ur-sprungs (worin auch das Wesen der »Subjektselbstpräsenz« 5 sich negativ mitentscheidet) liegt zuJ.-L. Nancy, Corpus, Paris, Métaillé 1992, 93 f. (dt. Corpus, Berlin, Diaphanes 2003). Vgl. S. Benvenuto u. J.-L. Nancy, »Derridas Spuren. Über das Risiko des Denkens und die Schrift im Herzen der Stimme. Jean-Luc Nancy im Gespräch mit Sergio Benvenuto«, in: Lettre Internationale 70 (2006) 98–102. 4 Vgl. dazu bereits unser Kapitel II,2.3, sowie zuvor auch J.-C. Höflinger, Jacques Derridas Husserl-Lektüren, Würzburg, Königshausen & Neumann 1995; K. Mai, Die Phänomenologie und ihre Überschreitungen. Husserls reduktives Philosophieren und Derridas Spur der Andersheit, Stuttgart, Metzler 1996; R. Kühn, Radikalisierte Phänomenologie, Frankfurt/M., Peter Lang 2003, 132–143: »Differänz in Ursprung und Genesis«. 5 Auf diese zusätzlichen Debatten um den Status von »Subjektivität« und »Subjekt«, die in der neueren Postmoderne weitergeführt werden, kann hier nur als Hintergrundsproblematik verwiesen sein. Vgl. Ph. Lacoue-Labarthe u. J.-L. Nancy (Hg.), Les fins de l’homme. A partir du travail de Jacques Derrida, Paris, Galilée 1981; 2 3

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Dekonstruktion als Dissemination und Aufschub bei Derrida

sätzlich in der Derridaschen Zeichen- und Sprachkritik. Hinsichtlich der hierzu aufzugreifenden »Textreduktion« schrieb J. Derrida in Bezug auf Husserls Problematik der Zeitkonstitution schon, dieser habe sich »nur damit begnügt, auf die Unmöglichkeit einer ›Sprache‹ hinzuweisen, die streng zwischen der Passivität und Aktivität unterscheiden würde«, um seinerseits daraus zu folgern, wie schon Merleau-Ponty, dass jede »Intentionalität zugleich aktiv wie passiv« sei. 6 Diese Diskussion der Differe(ä)nz- oder Differance-Problematik impliziert korrelativ eben die struktural reduktive Disseminations-Frage, denn die frühe »Dialektik« von Passivität und Aktivität, von Ursprung und Genese, ist bei Derrida nur die Voraussetzung zu dessen späterem Rand- und Supplementsdenken als je »intentionalem Retardieren« überhaupt. Der Zusammenhang mit der darstellenden Diskursivität ist dabei zunächst jener, dass der absolute Grund der Evidenz, die letzte Instanz aller Sprache (langage) und jedes Diskurses, ebenfalls jene Zeitlichkeit ist, die mit der differe(ä)ntiellen Zeitlichkeit des Bewusstseins zusammenfällt und deshalb auch von Derrida die »Temporal-Intentionalität« genannt wird. Dass die Phänomenologie der Zeit naturgemäß mit der Phänomenologie des Zeichens als Ausdruck und Bedeutung zutiefst verbunden ist, geht bei Derrida des Weiteren daraus hervor, dass die bevorzugte Stellung des »Jetzt« bei Husserl sich letztlich eben als eine von der Re-tention abhängige Urimpression erwiese, so wie im Sprachzeichen die Anwesenheit des Bezeichneten aufgeschoben wird (différer), das heißt, dieses Zeichen »eine Möglichkeit ist, die mit Verzug dasjenige produziert, dem sie sich so gesagt hinzufügt«. 7 Und so H. Nagl-Docekal u. H. Vetter (Hg.), Tod des Subjekts?, Wien – München, Oldenbourg 1987; M. Henry, »La critique du sujet«, in: Affekt und Subjektivität. Lebensphänomenologische Beiträge zur Psychologie und zum Wesen des Menschen, Freiburg/ München, Alber 2005, 33–50. 6 Le problème de la genèse dans la philosophie de Husserl, Paris, PUF 1990, 199 u. 210. Vgl. E. Husserl, Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der Logik, Hamburg, Meiner 61985, 180 (§ 35), wo es allerdings weniger kategorisch heißt: »[Gefragt ist jetzt] nach der zeitlichen Struktur des passiven Feldes selbst, das allen Akten vorausliegt, danach was passive Einheit der Vorgegebenheit mehrerer Wahrnehmungsdinge ausmacht.« 7 La voix et le phénomène. Introduction au problème du signe dans la philosophie der Husserl, Paris, PUF 1967, 99 (dt. Die Stimme und das Phänomen. Ein Essay über das Problem des Zeichens in der Philosophie Husserls, Frankfurt/M., Suhrkamp 1979). Vgl. zur Rezeption wie Kritik der Zeichentheorie Saussures auch J. Derrida, Marges de la philosophie, Paris, Minuit 1972, 1–30: »La Différance«, hier 9 ff., 16 ff.

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Jacques Derrida und Jean-Luc Nancy: Dekonstruktion als »Fraktur«

wie die Frage nach dem »Ur-Jetzt« bei Husserl auf ihren metaphysischen Präsenz-Gehalt hin befragt wurde, so wird auch in Derridas Lektüren der bisherigen Zeichen- und Sprachtheorien das sich darin durchhaltende metaphysische Grundschema angefragt – vom Platonismus bis zu ihm selbst hin herrsche als prägende Denkfigur der »Logozentrismus«, der sich vor allem als ein »Phonozentrismus« zeige. Hiernach überwiegt eine Privilegierung der phoné (der gesprochenen Sprache) und korrespondiert mit der Herabsetzung der Schrift. Indem Derrida die Bedeutung der schriftlichen Vermittlung als empirische oder geschichtlich materiale Notwendigkeit der Bedeutungsdialektik von Laut und Begriff im Ausdruck betonen will, muss er einerseits nach der Vermittlungsfunktion der gesprochenen Sprache im klassischen Verhältnis von Denken und Sprechen fragen sowie andererseits den diagnostizierten Phonozentrismus bekämpfen, was unter anderem eine von ihm entworfene Wissenschaft der »Grammatologie« erfüllen soll: »Von daher erfolgt das geregelte Durchstreichen der Ur-heit (archie) und die Veränderung der allgemeinen Semiologie in Grammatologie. Diese leistet eine kritische Arbeit betreffs all dessen, was in der Semiologie und bis in ihren MatrixBegriff – das Zeichen – hinein jene metaphysischen Voraussetzungen zurückbehielt, die mit dem Motiv der Differänz unvereinbar sind.« 8 Derrida erblickt bei Husserl – neben Rousseau, Condillac, Hegel 9 – zugleich »die modernste, kritischste und wachsamste Form« des metaphysischen Denkens und des damit verbundenen Logozentrismus und Phonozentrismus. 10 Denn die Frage nach dem Logos der 8 Ebd., 16; vgl. De la grammatologie, Paris, Minuit 1967 (dt. Grammatologie, Frankfurt/M., Suhrkamp 1983); »Semiologie und Grammatologie. Gespräch mit Julia Kristeva«, in: P. Engelmann (Hg.), Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart, Leipzig, Reclam 1990, 140–164; Limited Inc., Wien, Passagen 2001. Zur écriture als materialer Struktur der Sprache, die als quasi-metaphysisches Prinzip jede Wirklichkeit zu einer Zeichenstruktur im Sinne eines »Punktualismus« der Bedeutung ohne Begriffssystem machen kann, vgl. auch Marges de la philosophie, 365–393: »Signature, événement, contexte«. 9 Vgl. J. Derrida, »La Différance«, 14 f. (Hegel) und 17 (Husserl); P.-U. Philipsen, »Sprache bei Hegel und Derrida«, in: Mesotes. Zeitschrift für philosophischen OstWest-Dialog 2 (1991) 34–40; A. Hirsch, Der Dialog der Sprachen. Studien zum Sprach- und Übersetzungsdenken Walter Benjamnis und Jacques Derridas. München, Fink 1995. 10 Zur Einbettung in die größere hermeneutische Tradition vgl. H. Vetter, »Zum wissenschaftlichen Status der Hermeneutik«, in: H. Vetter u. M. Potacs (Hg.), Beiträge zur juristischen Hermeneutik, Wien, Literas Universitätsverlag 1990, 1–26, hier bes. 22 ff.

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Dekonstruktion als Dissemination und Aufschub bei Derrida

Phänomene ist im Sinne Derridas weiterhin die Frage gerade nach dem differe(ä)ntiellen Zusammenhang verschiedendster Erfahrungsbereiche, in denen sich Abwesenheit und Anwesenheit sowohl metaphysisch wie deskriptiv unentscheidbar miteinander verweben. Die sprachliche Einkleidung des anschaulichen Denkens soll somit »differäntiell« (différantielle) dekliniert werden. Denn ist »Präsenz« in der Tat ein faktisch unerreichbares Ziel, dann bedeutet sie prinzipiell eine phänomenologisch nicht mehr einlösbare, weil abstrakte Konstruktion, da jede Methode, welche die »Mit-Gegenwart« von Abwesenheit im »Jetzt« als wahrgenommener und benannter »lebendiger Gegenwart« verkennt, sich so nach Derrida selbst den Boden entzieht. Das heißt, es steht auf dem kritisch reduktiven Weg über den Husserlschen Beschreibungsimperativ die Sprache als Phänomenalisierungsmedium des Originären selbst auf dem Spiel: »Wenn die Beschreibung keinen absoluten und schlichten Gründungsboden der Bedeutung im Allgemeinen erscheinen lässt […], kein schweigender Sockel den Diskurs in der Präsenz gründet, die der Sache selbst originär gegeben ist, wenn mit einem Wort die Texthaftigkeit (texture) des Textes unzurückführbar ist, dann wird nicht nur die phänomenologische Beschreibung Schiffbruch erlitten haben, sondern das deskriptive ›Prinzip‹ selbst wird in Frage gestellt worden sein.« 11 Differänz, Supplementarität und Unentscheidbarkeit als postmodern untergrabendes »Strategie«-Programm eines Grundes, der metaphysisch oder ontologisch nicht mehr zu begründen ist, erweisen sich in der Derridaschen Weiterführung der Dissemination eines Textes insofern nun als struktural phänomenologisch zu bevorzugende »Phänomene«, als jedes Verhältnis von Bedeutung und Ausdruck davon bestimmt ist (sowie zuvor das Verhältnis von Jetzt/Retention, Ursprung/Genese oder Tradition, Idealität/Materialität usw.). Diese konkreten phänomenalen Verhältnisse lassen sich nicht mehr in ein eindeutig ontologisches wie erkenntnistheoretisches Wahrheitskriterium im abstraktiven »Präsenzfeld« umfingieren, sondern sie führen eben zu einer differentiellen, aufschiebenden Sicht von Vernunft und Kontingenz, mit anderen Worten zu einer »Logik« des Ab-grunds. Zu dieser Sicht des Schweigens wie des Abgrunds lässt sich besonders auch sein Beitrag »Cogito und Geschichte des Wahnsinns« hinzufügen. Als ahistorisches und irreduzibles Schweigen im Sinne des J. Derrida, Marges de la philosophie, 185–208: »La Forme et le vouloir-dire. Note sur la phénoménologie du langage«, hier 192.

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Jacques Derrida und Jean-Luc Nancy: Dekonstruktion als »Fraktur«

»Fehlens eines Werkes« (Foucault) ist der Wahnsinn die grundlegende Verletzung wie Zäsur des Vernunft/Sinn-Anspruchs, weshalb vom Wahnsinn innerhalb der Philosophie nur in der Fiktion (wie in Descartes’ »Meditationen«) gesprochen werden könne. 12 Derridas Phänomenologie der semiologischen Textualität bedeutet mithin hier – in Bezug auf Husserl vor allem – die kritische Befragung der Anschauung als vollständiger Evidenzmöglichkeit sowie der Selbstgegenwart als reiner Innerlichkeit und gleichzeitiger Unmittelbarkeit des Augenblicks. Zwar ist die adäquate Evidenz bzw. Fülle der Anschauung bei Husserl nur als intelligibles Ziel im Sinne eines Kantischen Grenzbegriffs gegeben, aber diese prinzipiell teleologische Übereinstimmung des Denkens mit dem Ding besitzt ihre Parallele wie Ergänzung in der Idee einer vollkommenen Darstellung dieser adaequatio als apperzeptiver »Wahrheit« durch die Sprache. Im Sinne Derridas entspricht das mündliche Sprechen als Stimme (voix) am bestem diesem Ideal, da in letzterer als völlig beherrschter Äußerlichkeit des »Ausdrucks« sich der reinen Wiedergabe des »Sinnes« (sens) durch den Laut (son) nichts entgegenstellt. Die Schriftsprache fügt sich indessen als ein »ursprüngliches Supplement« dem Ursprung der Bedeutung selbst hinzu, indem sie an dessen Stelle tritt, um ihm Bestand und Weitergabe zu garantieren. Die reine Originarität als gesuchte »lebendige Gegenwart« bei Husserl (bzw. als Ousia/Präsenz in der Metaphysikgeschichte überhaupt) ist nach Derridas Hauptthese folglich nur ein nachträgliches Erzeugnis des sprachlichen Zeichengebrauchs als Schrift oder mündlicher Kommunikation. Dies will besagen, dass eine rein intuitive Sprache »ursprünglicher Bedeutung« grundsätzlich einen »schweigenden Sockel« als Gründung des deskriptiven Diskurses akzeptieren müsste, wie schon das obige Zitat lautete und hier ergänzt werden kann: »Aber lässt sich eine Gegenwart und eine Selbstgegenwart des Subjekts vor seinem Wort und seinem Zeichen feststellen, das heißt eine Selbstgegenwart des Subjekts in einem schweigenden und intuitiven Bewusstsein? […] Wir stellen das absolute Privileg dieser Form oder dieser Epoche der Präsenz allgemein in Frage, welche das Bewusstsein als Bedeuten (vouloir-dire) in der Selbstgegenwart ist. Diese Selbstgegenwart ist nicht länger die absolute Matrixform des Seins, sonVgl. J. Derrida, Die Schrift und die Differenz, Frankfurt/M., Suhrkamp 1972, 53– 101 (franz. L’écriture et la différence, Paris, Seuil 1967), sowie ebd., 236–258: »Genesis und Struktur und die Phänomenologie«. 12

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Dekonstruktion als Dissemination und Aufschub bei Derrida

dern sie ist eine ›Bestimmung‹ (détermination) und ein ›Effekt‹ der Differänz.« 13 Es scheint uns indes offenkundig, dass diese postmoderne Bedeutungskritik sich weiterhin noch im Rahmen der metaphysischen Vorstellungsvoraussetzung bewegt, welche sie kritisiert. Denn Bedeutung gibt es nur für das Bewusstsein, so dass auch das hier dekonstruierte Sprach-Bewusstsein als primordiale Diskursivität gemäß Derrida in der Tat wiederum nur das intentionale oder transzendente Bewusstsein betrifft – nicht aber die selbstaffektive Bewusstseinsgründung im Sinne seiner passiblen Selbstwerdung als lebendig gezeugtes »Mich« aus dem Leben vor aller reflexiven Egoität heraus. 14 Das Schweigen ist dann eben nicht nur als phänomenologisches Eigenwesen dieses pathischen »Ursprungs« im Sinne eines fleischlichen Cogito (Henry) zu analysieren, wie wir gleichfalls schon für Merleau-Ponty unterstrichen, sondern der Wortcharakter als Ausdruckscharakter selber gründet in seiner transzendentalen Ermöglichung in einem Sprechen-Können, das jeder Differenzierung vorausgeht und in ihr als »Kraft« wirkt. 15 Sofern die anschauliche Gegebenheit eines Dinges nach Husserls Phänomenologie in der Identität von Sehen und Gesehenem, von Sprechen und Zuhören liegt, kann allerdings die diesbezügliche Infragestellung Derridas aufgegriffen werden, da eben das Schweigen des Pathos als Ur-Phänomenalisierung in der Tat keinem Blick mehr zugänglich ist. Derrida stellt aber den Blick selbst letztlich nicht als Horizontbedingung für jedes »supplementäre Bedeutungsspiel« zur Disposition, sondern er wertet nur die Auswirkungen als Effekte dieses Blicks um: »Die metaphysische Herrschaft des Begriffs der Form (eídos, morphé) kann nicht anders, als der Unterwerfung unter den Blick stattzugeben. Diese Unterwerfung wird immer die Unterwerfung des Sinnes unter den Blick sein, des Sinnes unter den Sinn-der-Sicht, denn der Sinn (sens) ist im AllVgl. »La Différance«, 17, sowie ebenfalls Derridas »Einleitung« zu Die Stimme und das Phänomen, 51–67; dazu auch M Frank, Selbstbewusstsein und Selbsterkenntnis, Essays zur analytischen Philosophie der Subjektivität, Stuttgart, Reclam 1991, 45 ff., zu Derridas Position. 14 Vgl. »La Différance«, 9: »Die Endung -ance (in différance) als unentschieden zwischen Aktif und Passiv zu verstehen.« Das heißt, einer grammatischen Medial-Form als »Nicht-Transitivität« von passio/actio bzw. von Subjekt/Objekt den Vorzug zu geben, lässt unbefragt, was reine Passibilität in sich bedeuten könnte, ohne an sie begriffliche Vorentscheidungen der Differänz wie Spiel, Spur usw. heranzutragen. 15 Vgl. ausführlicher M. Henry, »Pathos und Sprache«, in: Affekt und Subjektivität, 64–90. 13

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Jacques Derrida und Jean-Luc Nancy: Dekonstruktion als »Fraktur«

gemeinen der Begriff selbst für das ganze phänomenologische Feld […]. Die Kohärenz des Systems der Zirkularität von Formalem und Theoretischem scheint jedoch von einem gewissen Außen dieses Verhältnisses zum Außen durchwirkt zu sein, welches das Verhältnis zur Form ist.« 16 Diese Zirkularität als Differenz zwischen jeder theoretischen oder ekstatischen Form (Blick) und dem Gesehenen (Anschauung) impliziert für den Präsenz-Augenblick des »Jetzt« ein Warten, das nie zur Er-füllung findet. Anstatt aber die Ur-Impression (cogitatio) als reine »(Selbst-)Affektion« radikal phänomenologisch zu befragen, verlagerte Derrida sie in eine temporale In-fektion, die sich unendlich verschiebt, ohne jemals in eine Mitte eigener »Innerlichkeit« (Immanenz) zu finden. Damit wird zugleich greifbar, dass sich Sprache als »Text« in gewisser Weise transzendental bisheriger Ontologie der »Gegenwärtigung« als Idee, Schau oder Subjektivität qua Bewusstsein überhaupt substituiert, denn die bedeutungs- und ausdrucksdiffere(ä)ntielle Sprache bildet in vorzüglicher Weise das Medium der Sinnaufschiebung, in deren zirkulärer Außenheit als Je-Neueinschreibung des Sinnes durch Auffassung, Bestimmung und Begriff sie sich erschöpft. Die postmoderne Metaphorisierung des »Selbst« als des klassisch ursprunghaften Cogito musste sich daher des Weiteren aus Derridas Ansatz notwendigerweise ergeben, weil gerade die Sprache des metaphorischen Bedeutungsüberschusses (excès) jene Exteriorität und Alterität ständig im transzendentalen Bewusstseinsleben mitgegeben sein lässt, die letzteres als »Konstitution« von empirischer Natur, psychischer Person, Fremd-Ich, Intersubjektivität usw. durch phänomenologische Reduktion (zunächst) von sich ferngehalten hatte. Das transzendental Konstituierte muss anders gesagt als notwendig originäres Supplement jeder »Konstitution« im Sinne des Anderen, der geschichtlichen Tradition, der Schrift, des Zitates, Textes usw. der reinen »Selbstevidenz« hinzugeschrieben werden, aber eben nicht in einer bloß gegensätzlich additiven Weise, sondern eben »differe(ä)entiell ursprünglich«, das heißt als Aufbrechen jeder »La Forme et le vouloir-dire«, 188 f. Zur weiteren epistemologischen Bedeutsamkeit dieses Verhältnis von Ordnung/Außen für jeden begrenzt definierten Wissensbereich (epistéme) vgl. auch W. Berger, Das Bedürfnis und sein Schatten. Vorarbeiten zu einer Philosophischen Anthropologie, Freiburg/München, Alber 1992, 24 ff.; H.-D. Gondek u. B. Waldenfels (Hg.), Einsätze des Denkens. Zur Philosophie von Jacques Derrida, Frankfurt/M., Suhrkamp 1997. 16

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Selbstidentität, die genetisch nicht immer auch schon »empirischer« Anfang wäre als Kontingenz, Materialität oder Existenz. 17 Mit dieser eingebürgerten Schreibweise »e(ä)« von »Differe(ä)nz« im Deutschen wollen wir hierbei Derridas postmodernem Hauptanliegen gerecht werden, »dass der gekennzeichnete Unterschied zwischen dem e und a in ›différ( )nce‹ sich dem Blick und dem Hören entzieht […]; man muss sich also an eine Ordnung verweisen lassen, die dem Gegensatz widersteht […]. Die Ordnung, die diesem Gegensatz widersteht und ihm widersteht, weil sie ihn trägt, kündigt sich in einer Bewegung der Differänz zwischen zwei Differenzen oder zwei Buchstaben an. Diese Differänz gehört weder zur Stimme noch zur Schrift im gewöhnlichen Sinne, sondern hält sich als fremder Raum […] zwischen Wort und Schrift; ebenso jenseits der ruhigen Vertrautheit, die uns mit dem einen wie der anderen verbindet, indem sie uns manchmal in der Illusion bestärkt, dass sie zwei seien.« 18 Methodisch ergibt sich daraus die De-konstruktion als allgemeine Demontage vermeintlicher Ursprünglichkeit überhaupt, denn wenn die Originarität supplementär, aufschiebend usw. ist, dann muss sich dies in den gegensätzlichen Begriffspaaren niederschlagen, welche die Zirkularität jeder metaphysischen Wesensform, Ordnung oder Apriorität mit ihrem »Außen« – dem Nichtgesagten, Marginalen, Unterdrückten oder Vergessenen – regeln. In Bezug auf den Husserlschen Befund einer vollkommen gefassten, intuitiven Anwesenheit steht dieser Präsenz eine durch Zeichen oder Bild vertretene Abwesenheit der expressiven »Schicht« gegenüber, wobei sich aus den offenen oder versteckten Gegensätzen die Mehrdeutigkeiten, Sedimentierungen oder »Verwobenheiten« mit einem verlorenen bzw. »schweigenden« Ursprung ergaben, wie wir schon feststellten. Entsteht jedes Werk aus der Seinsoffenheit als »Riss« (Heidegger, Levinas, Lacan), so geht auch für Derrida jeder Text aus einem in sich verwobenen »Streit« (Lyotard) hervor, so dass eben der Anfang als Idee oder als schubweise Hervorbringung desselben nicht zu entscheiden sei: »Denn Gewebe bedeutet Text. Verweben bedeutet hier [in Bezug auf ›Schicht‹ und ›Verwebung‹« bei Husserl] texere. Das Diskursive bezieht sich auf das Nicht-Diskursive; die sprachliche ›Schicht‹ vermischt sich mit der ›vorsprachlichen Schicht‹ gemäß Vgl. dazu auch das spätere Werk von J. Derrida, Marx’ Gespenster. Der verschuldete Staat, die Trauerarbeit und die neue Internationale, Frankfurt/M., Fischer 1995. 18 »La Différance«, 5. 17

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dem System, welches wie eine Art Text geregelt ist […]. Diese Texthaftigkeit (Textgewebe) ist umso unentwirrbarer, als es insgesamt bedeutet: die nichtexpressiven Fäden sind nicht ohne Bedeutung.« 19 Oder in einem späteren Werk, was dann auch bereits deutlich das Vorgehen der Traditionskritik bei Nancy gegenüber der Berührung als »Gabe« unterstreicht: »Das ist einer der Gründe, weshalb wir bei der Ausarbeitung dieser Problematik der Gabe immer von Texten ausgehen, von Texten im geläufigen und traditionellen Sinne der buchstäblichen Schrift, auch der Literatur, oder von Texten im Sinne ›differäntieller‹/aufschiebender Spuren […]. Und wir können nicht umhin (wenn wir diesem Konzept folgen), von den Texten auszugehen (à partir), und von den Texten, insofern sie von Anfang an (dès le départ) aufbrechen (partent), sich von sich selbst und ihrem Ursprung, von uns abtrennen.« 20 Dadurch zeigt Derrida programmatisch für sich auf, dass das Denken eines idealen Gegenstandes, einer abstraktiven Bedeutung usw. nicht ohne die Mit-Ursprünglichkeit eines Textes möglich ist. Insoweit die Metaphysik als klassische Onto-(Ego-)Theologie begriffliche Gegensatzpaare durch Unterordnung oder Analogie entschärfte (wodurch »Abwesenheit« bloß »Privation« als mangelnde Abwesenheit zu sein scheint), wird solch herkömmliche Differenzvorstellung von einer dekonstruktiven Logik der Identität und Negation her gedacht, was verstärkt verständlich macht, warum Derrida sich gerade gegen die Hegelsche Vermittlungsdialektik wendet. 21 Um einen anderen, neuen Text entstehen zu lassen, sind die originären Spannungen, die sich meist in Metaphern in den rationalsten Diskursen selbst anzeigen und nicht begrifflich einzuholen sind, nicht nur aus-zu-halten, sondern geradezu fruchtbar zu machen. Anstatt also die Stimme) aus dem Denken bzw. die Schrift aus der Stimme abzuleiten, müssen sie einander beibehalten und ineinander verflochten werden, so dass die ursprünglich affizierende Passivität als schweigender oder entflohener »Ursprung« in dieser Entzugs- wie Verzugsbewegung selbst zum kritischen Leitfaden wird, ohne jedoch eine abschließende Thematisierung erreichen zu können. 22 Eine solche Umkehrung durch »de»La Forme et le vouloir-dire«, 191. Falschgeld, Zeit geben I, München, Fink 1993, 133 f. 21 Vgl. bereits Le problème de la genèse dans la philosophie de Husserl, 5 ff. 22 Vgl. auch S. Till, Die Stimme zwischen Immanenz und Transzendenz. Zu einer Denkfigur bei Emmanuel Levinas, Jacques Lacan, Jacques Derrida und Gilles Deleuze, Berlin, Transcript 2013. 19 20

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struktive Lektüre« darf nämlich gerade nicht zu einem neuen Dogmatismus werden, wie auch schon Deleuze betonte, denn ein Philosophieren ist nicht ohne unendliches Begehren (désir) denkbar, weshalb eine Metaphysik der Präsenz sich in der Tat auch niemals ohne eine hinterlassene »Spur« derselben »verwinden« lässt, um einen Heideggerschen Terminus für die De-konstruktion zu gebrauchen. Damit konkretisiert sich das Derridasche Programm sozusagen zur »Spurensicherung« all des Vergessenen und Ent-Äußerten im metaphorischen Text selbst: »Die Spur ist ebenso wenig ein Effekt wie sie eine Ursache ist, aber sie vermag sich nicht selbst zu genügen, um außerhalb des Textes die notwendige Transgression zu leisten.« 23 Deshalb muss Derrida jedoch auch bekennen, dass sein Vorgehen ohne die bisher erfolgten metaphysischen Ent-scheidungen und ihre Polarität gar nicht möglich wäre – eben als das andere: »Die différance ist keine ›Art‹ der Gattung ontologische Differenz. Wenn ›die Gabe von Anwesen […] Eigentum des Ereignens ist‹ (Heidegger), ist die différance kein Eignungsprozess in irgendeinem Sinne. […] Demnach wäre sie – aber wir markieren hier die Notwendigkeit eines zukünftigen Weges –, wie es scheint, ebensowenig wie das Sein eine Art der Gattung Ereignis.« 24 Anders gesagt, muss eine bedeutungsdisseminierende Lektüre, wenn sie nicht selbst wieder zu einem sinngebenden »Ereignis« in einem seinsfestschreibenden, dogmatischen Sinne werden will, in die Risse und Spalten eines Textes hineingleiten, um darin einen noch verborgenen Schein des metaphorisch oder logozentrisch Ausgeschlossenen – sozusagen außerhalb des »Textrandes« – aufzuspüren. Die De-konstruktion kann dann keine De-struktion des Textes im Sinne einer Zerstörung sein, sondern sie verfolgt dessen äußerste Beachtung in seinen Begrenzungen und Entgrenzungen selbst, da das vermeintliche Umgehen eines Textes, um »zur Sache selbst« (Husserl) zu gelangen, gar nicht möglich ist. Die Randeinschreibungen des metaphysischen Textes bleiben selber metaphysisch (und in »La Différance«, 12 f., vgl. 24 f. Ebd., 27 Anm. 1; vgl. Falschgeld, 166 Anm 21; zum Zusammenhang Ereignis/Gabe ebd., 155 ff. Vgl. dazu auch M. Wetzel u. J.-M. Rabaté, Ethik der Gabe. Denken nach J. Derrida, Berlin, Akademie Verlag 1993; kritisch J.-L. Marion, »Esquisse d’un concept phénoménologique du don«, in: M. M. Olivetti (Hg.), Filosofia della rivelazione (Biblioteca dell’»Archivio di Filosofia« 11), Rom, Cedam 1994, 75–94; wieder aufgegriffen in J.-L. Marion, Etant donné. Essai d’une phénoménologie de la donation, Paris, PUF 1997, 82 f. u. 108 ff. 23 24

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einem gewissen Sinne ist jeder Text als »Präsenzansage« metaphysisch), weil er ein Bündnis jeder »Form« mit der Kopula »ist« darstellt: »Was bewirkt, dass der Begriff der Form insgeheim mit jener Begrenzung des Sinns des Seins kommuniziert, der ihn auf vorzügliche Weise in der Verbalform des Präsens (présent) – und noch näherhin in der dritten Person des Präsens-Indikativ zu denken gibt? Was gibt die verschwiegene Übereinstimmung (complicité) zwischen der Form im Allgemeinen (eídos, morphé) und dem ›ist‹ (estí) zu denken?« 25 Die Randeinschreibungen sind mit anderen Worten ein »Außerhalb des Nebentextes« (le hors-texte), und das Aufsuchen des »Jenseits seiner Geschlossenheit« (l’outre-clôture) bewerkstelligt jenes Bedeutungsspiel der »Differänz«, welche eben keine neue, fundamentalontologische Differenz ist, da der differe(ä)ntiell buchstabierte Text in seiner »Dissemination« (Sinnzerstreuung) nicht von seinen Grenzen umgeben, sondern durchwirkt wird. Er ist »in seinem Inneren durch die vielfältigen Furchen seines Randes« gezeichnet, so wie allerdings auch bei Husserl bereits die idealen und logischen Bedeutungen mit der in sich schon intentional wirkenden Ausdrucksschicht verwoben bleiben: »So gilt das, was wir hier über die (erzählte) Geschichte sagen, auch für die (erzählende) Erzählung, für die Narration und die textuelle Dissemination im Allgemeinen. Wir werden uns nicht bei dieser Faltenstruktur (pli) und dieser Wiederverdoppelung aufhalten, aber man kann unaufhörlich den Bezug zwischen diesen Bezügen aus Bezügen herstellen, die einen auf die anderen und die einen über die anderen beziehen.« 26 Zwar will der andersartige, kommentierende wie interpretierende Text Derridas als hermeneutisch bzw. phänomenologisch strukturale Entflechtung von intertextuellen und oftmals kryptometaphorischen Verweisungen kein restaurierter metaphysischer Text sein, aber er stützt sich doch weiterhin auf den entzauberten alten metaphysischen Text, um die jeweilige Textualität als Metaphysik selbst herauszuarbeiten. Wir wiesen schon darauf hin, dass Derrida dadurch – selbstwissend – bestimmten Voraussetzungen der Metaphysik an sich verhaftet bleibt, vor allem dem Erscheinen von etwas für das Bewusstsein des »Subjekts«, selbst wenn letzteres ebenfalls dekonstruiert werden soll, um den »Tod des Subjekts« als »Beendigungen«

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»La Différance« 6, 10, 13 f., 24 f.; vgl. »La Forme et le vouloir-dire«, 202. Ebd., 25; Falschgeld, 186 (Hervorhebung R. K.).

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des herkömmlichen anthropologischen oder ideologischen Diskurses einzuläuten. Darüber hinaus reaktualisiert Derridas Weise der Lektüre ganz offensichtlich eine bestimmte rhetorische Tradition der inventio dialectica, denn ähnlich dem Vorgehen Agricolas und anderer Rhetoriker 27 achtet die differäntielle Dekonstruktion besonders auch auf die Argumentationsformen in deren stilistischer Anordnung im Sinne der Topik, weil es gilt, dem Text verschwiegene Zugeständnisse zu entlocken, die den jeweilig expliziten Autorenabsichten selbst widersprechen. Man hat Bedenken geäußert, ob solch »stilkritisches Verfahren«, welches den rhetorischen Gehalt auch philosophischer Texte reduktiv berücksichtigt, vielleicht sogar in den Vordergrund stelle, nicht den Gattungsunterschied zwischen Philosophie und Literatur verwische. 28 Aber dagegen sprechen nicht nur die fundierten Husserlauseinandersetzungen Derridas beispielsweise, sondern auch die Regeln seiner »Logik des Supplements« selbst. Dass die Derridasche Lesart oft geistreich und spielerisch wirkt, weil sie aufs beste mit der Literaturgeschichte vertraut ist, hat zudem ihre Parallelen zum postmodernen Diskurs überhaupt, der sich etwa wie bei Lyotard und Deleuze in nur vorübergehende »Zeitverträge« mit dem Gesellschaftlichen einlässt, um dem Individuum in seiner »flottierenden Identität« heute entgegenzukommen, insofern der Einzelne dann den allseitig gesellschaftlichen Systemdruck und dessen Eigenreproduktion durch sich modelierendes Einlassen-Müssen und Einlassen-Können darauf relativieren kann. Das philosophisch-literarisch Unentscheidbare (l’indécidable) der Begriffe bei Derrida hat eine ähnliche Bedeutung, denn das originäre Supplement von Sehen/ Schrift, Innerlichkeit/Intersubjektivität oder Ursprung/Geschichte gehört in denselben Zusammenhang wie seine weiteren Begriffe le

Vgl. zur Rhetoriklehre Agricolas in dessen Werk De inventione dialectica (1539) sowie zur linguistischen Sprachtheorie als quasi-transzendentalem Phänomenalisierungssystem bereits R. Kühn, »Differenz und Dissemination bei J. Derrida im Zusammenhang mit der Tradition der Sprach- und Cogitodifferenz« in: Prima Philosophia 11/1 (1997) 53–78, hier 54 f., sowie für weitere Paralellen mit antiken Autoren F. Suarez-Müller, »Alte und neue Sophistik 2: Sprache und Dfferenz. Gorgias von Leontinoi und Jacques Derrida im Vergleich«, in: B. Goebel u. F. Suarez-Müller (Hg.), Kritik der postmodernen Vernunft. Über Derrida, Foucault und andere zeitgenössische Denker, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2007, 97–119. 28 Vgl. J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt/M., Suhrkamp 1985, 223 ff. 27

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pharmakon, l’hymen, le gramme, l’espacement, l’entame und la marque, die alle eine nicht entscheidbare Totalität bezeichnen. 29 Daher sind die zuletzt genannten Begriffe in Bezug auf solche Unentscheidbarkeit strategisch zu gebrauchen, insoweit sie philosophisch die – binär verstandenen – Gegensätze durchweben oder »durchschießen«, ohne jedoch in ihnen begreifbar zu werden, und sie deshalb »destabilisieren«. In »La Forme et le vouloir-dire« 30 führt Derrida selbst für solche Gegensatzpaare als Beispiel an: Seele/Körper, psychisch/physisch, lebendig/leblos, Intentionalität/Nichtintentionalität, Form/Materie, Signifikat/Signifikant, intelligibel/sinnlich, und die Differänz als »Strategie« wird nicht mehr als Begriff definiert, sondern eben als Prozess – oder Spiel – des »begrifflichen Systems allgemein«, das heißt als »Möglichkeit der Konzeptualität«. 31 Dies führt daher niemals – im Unterschied zu Hegel oder Heidegger – zu einem vermittelnden dritten Terminus, so wenig wie es zu einem seinsgeschichtlichen »Ereignis« hinleitet, denn das Supplement ist eben weder ein Mehr noch ein Weniger bzw. die Ergänzung eines Inneren noch eine Relation von Akzidens/Essenz. Es ist »Zusatz« und »Substitut« in einem: »Das Wort Differänz kennzeichnet nicht nur die Aktivität der ›originären‹ Differenz, sondern auch den temporisierenden Umweg des Differierens.« 32 Das heißt, es fügt sich dem Ursprung hinzu und ersetzt zugleich einen (stets) fehlenden Ursprung. Das originäre Supplement ist »eine Möglichkeit, die mit Verzug dasjenige produziert, dem es sich so gesagt hinzufügt«, wie wir schon zitierten, um diese Vorgehensweise entsprechend im Folgenden bei Nancys »Dekonstruktion« von Welt, Leib und Christentum als Nicht-Beührung wiederzufinden, Sehen wir insgesamt davon ab, dass Derrida wiederum nur das vorgestellte oder reflexive Subjekt vor Augen hat, welches natürlich nie adäquat das faktisch lebendig sich-erfahrende »Ich« als passives »Mich« einholen kann, dann bleibt für den dekonstruktiv analysierten bedeutungsphänomenologischen Rahmen und seine notwendige Expressivität bestehen, dass die indikative Sprachfunktion nicht zu29 Vgl. zum Beispiel »La pharmacie de Platon«, in: La Dissémination, Paris, Minuit 1972, 77–215, in Bezug auf die Schrift als pharmakon. 30 Vgl. 193 Anm. 5. 31 »La Différance«, 5, 11 f. u. 18 f. 32 Ebd. 15; vgl. De la grammatologie, 207 f., 234. Dazu auch I. Därmann, »Mehr als ein Abbild/kein Abbild mehr: Derridas Bilder« in: Phänomenologische Forschungen NF II/2 (1996) 239–268.

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Dekonstruktion als Dissemination und Aufschub bei Derrida

gunsten einer rein idealen oder expressiven Sprache aufgekündigt werden kann. Es gibt kein Sprachzeichen, das ausschließlich als ein rein intuitives »Sagen-wollen« (Bedeuten) fungieren würde, um einen vollkommen anwesenden Gegenstand »widerzuspiegeln«. Das Sagen-wollen »impliziert nicht nur nicht wesentlich die Anschauung des Gegenstandes, sondern es schließt diese vielmehr wesentlich aus«. 33 Oder in differäntieller Terminologie: »Diese Konstitution der Gegenwart als ›originäre‹ und irreduzibel nicht-einfache Synthese, folglich stricto sensu als nicht-originär, sondern von den Spuren der Retentionen und Protentionen gekennzeichnet (um hier analog und provisorisch eine phänomenologische und transzendentale Sprache wiederzugeben, die sich als unangemessen offenbaren wird), nenne ich vorschlagsweise Ur-Schrift (archi-écriture), Ur-Spur (archi-trace) oder Differänz. Diese ist zugleich Verräumlichung (espacement) und Temporisierung (temporisation).« 34 Die differe(ä)ntiell reduktiv betrachtete Schrift dient demzufolge dazu, wenn der Entzug der Anwesenheit eine notwendige Bedingung der Bedeutung ist, diese Gefährdung für die Anschauung des Bedeuteten zu bannen oder einem abwesenden Adressaten zugänglich zu machen. Und da jeder Text auf andere Texte – im Sinne der Dissemination als Randeinschreibung – verweist, vervielfältigt sich in der Schrift die Spur des Abwesenden bis ins Unendliche hinein: »Die Struktur als Spur oder Vermächtnis dieses Textes – wie von allem, was überhaupt sein kann – überbordet das Phantasma von Rückkehr und markiert den Tod des Unterzeichners oder die Nicht-Rückkehr des Vermächtnisses, den Nicht-Nutzen, also eine gewisse Bedingung für Gabe in der Schrift selbst.« 35 Die Schrift- und Zeichenanalyse Derridas folgt also nicht nur der Tendenz in der Postmoderne allgemein, dass Thema der »Ent-Gegenwärtigung« für das Ego überhaupt in den Mittelpunkt zu rücken, sondern der prinzipielle Verweis des Derridaschen Denkens auf eine gähnende Leere in jedem Bedeuteten, Gesagten oder Text (wie besonders auch bei Lacan) als dem nicht anwesenden Verbleiben eines Autors oder Adressaten darin impliziert diese Möglichkeitsbedingungen der Abwesenheit als der genannten »Urschrift«. Letztere liegt jedem Unterschied von Schreiben/Lesen, Sprechen/Hören, Ausdruck/Anzeichen zugrunde und 33 34 35

La voix et le phénomène, 75. »La Différance«, 14. Falschgeld, 133.

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Jacques Derrida und Jean-Luc Nancy: Dekonstruktion als »Fraktur«

bestimmt das Wesen des Be-zeichnens als des bedeutenden Zeichengebrauchs allgemein. Im Hinblick auf die Metaphysikkritik auch bei Nancy als destruktiv reduktive Präsenzkritik tritt daher die Schrift als der »Ursprung« jeder Bedeutung auf, ohne ein intuitiver Ursprung zu sein. Sie ist vielmehr das originäre Aufschieben der Anwesenheit als jenes Unterschiedes der »Differänz« und »Dissemination«, die ohne anfängliche Einheit sowie auch ohne teleologisch vorwegnehmbare Versöhnung sind. Als supplément originaire bildet das Zeichen mit seinem Bezeichnen eben jene »differe(ä)ntielle« Bewegung, deren »Hinzufügung den Platz eines Mangels, einer ursprünglichen Nichtanwesenheit (non-présence) bei sich selbst einnimmt«. 36 Das Sprachzeichen ist demzufolge jene Möglichkeit, die mit Verzug dasjenige produziert, dem sie sich so-sagend-aufschiebend hinzufügt, so dass die Anwesenheit des Bezeichneten immer dif-feriert wird und – für einen »endgültigen Sinn« oder »Text« – disseminiert ist, was dann gemäß derselben dekonstruktiven Logik für jedes Traditions- oder Kulturgebilde überhaupt gilt, wie dies jetzt in Nancys Sichtweise des »Fraktalen« zu verfolgen bleibt.

2.

Intuition und Haptologie als Grundorientierung abendländischer Metaphysik

Dass sich die ganz zu Beginn dieses Kapitels eingeführte Frage nach der »Dekonstruktion des Christentums« bei Nancy letztlich aus dem Verständnis der Leiblichkeit heraus entscheidet, ist nicht nur eine notwendige Implikation der christologischen Inkarnation als seinem zentralen Glaubensgeheimnis, sondern auch eine Konsequenz der postmodernen Versuche, den christlichen Sinn von Welt als »Schöpfung« nunmehr ganz aufzuheben, insofern mundus wie cosmos nur noch ein Universum von Körpern in ihrer bloßen Ausgedehntheit ohne weitere Identität bedeuten. Ausdehnung aber gibt es nach Nancy wie Derrida nicht nur für eine intelligible und empirische Sinnlichkeit, welche urteilen kann: »Dies ist«, sondern ebenfalls für La voix et le phénomène, 97. Für die kritisch gesehene Konstitution ideal geometrischer Gegenstände vgl. außer Derridas Analyse dazu (L’origine de l géométrie, Paris, PUF 1962; dt. Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie, München, Fink 1987) auch R. Bernet, »Differenz und Anwesenheit. Derridas und Husserls Phänomenologie der Sprache, der Zeit, der Geschichte, der wissenschaftlichen Rationalität«, in: Phänomenologische Forschungen 18 (1986) 51–112, hier 83–99.

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Intuition und Haptologie als Grundorientierung abendländischer Metaphysik

Seele und Leben. Das eucharistische Hoc est enim… des Neuen Testaments soll mithin an einen corpus meum gebunden sein, welcher jedoch rein differe(ä)ntiell oder fraktal erscheint, was auch postmodern die Frage nach einer überkommenen idealistischen und/oder empirischen Transzendentalität weiterführt. Denn im Sinne Kants würden sich Verstand und Sinnlichkeit eigentlich nie in einem »Leib« als »Ich denke« berühren, bzw. gäbe es in reiner Empirie nur Körper oder Orte ohne intelligible Ausdehnung, das heißt die Berührung (le toucher) bliebe im besten Falle punktuell ohne jeden Evidenzanspruch. Wir greifen also den dekonstruktivistischen Abgesang eines universalen Christentums in jedem Hoc est enim… hier auf, um daran die post-strukturalistischen Konsequenzen einer solchen haptologischen Kritik am abendländischen Intuitionismus als (eucharistischer) »Identitätslektüre« zu ermessen. 37 Dass nun das Christentum in seinen onto-theologischen oder metaphysischen Voraussetzungen als solches überholt sei, will allerdings keineswegs für Nancy besagen, dass es damit jeweils auch schon an seinem geschichtlichen Ende sei, weil vielleicht gerade diese »Selbstaufhebung« Vgl. J. Derrida, Le toucher, Jean-Luc Nancy, Paris, Galilée 2000, 68 ff. (dt. Berühren, Jean-Luc Nancy, Berlin, Brinkmann & Bose 2007); J.-L. Nancy, Corpus, 7 f.: »Wir sind besessen davon, ein Dieses zu zeigen, und (uns) zu überzeugen, dass dieses Dieses hier das ist, was man weder sehen noch berühren kann, weder hier noch anderswo – und dass dieses jenes nicht auf irgendeine Weise ist, sondern als sein Körper.« In Noli me tangere (Berlin, Diaphanes 2008) kommt J.-L. Nancy zu einem gleichen Ergebnis anhand der Begegnung zwischen Maria Magdalena und dem Auferstandenen, wobei er dem Johannestext sowie bildlichen Darstellungen bei Dürer, Rembrandt, Tizian und anderen Malern folgt. Dabei wird »Auferstehung« zum »Weggang« zum abwesenden »Vater« hin, wodurch sich Abwesenheit Gottes und »Öffnung des Christentums« als Ineinanderfall von Christentum und Atheismus für die Zukunft des (globalisierten) Okzidents als dessen weitere »christliche« Identitätsauflösung erweisen. Vgl. ebd., 70 f.: »[In dieser Szene], in der ein verherrlichter Körper sich einem sinnlichen Körper präsentiert und verweigert, wobei beide die Wahrheit des jeweils anderen ausstellen, ein Sinn den anderen streift, aber beide Wahrheiten unversöhnlich bleiben und eine die andere abstößt. Zurück! Weiche zurück! Halte dich zurück! (Halte mich zurück?) Ziehe dich zurück! Ein solcher Missklang gerade am Ort der Umarmung definiert ohne Ende die Wahrheit selbst und höhlt sie aus, ihr Leiden und ihre Lust – die Erhebung und Aussegnung des Körpers.« Nancy benutzt hier eine französische Wendung (levée du corps), die für das Wegtragen des Leichnams (aus der Kirche) und seine Segnung vor dem eigentlichen Begräbnis benutzt wird, um dies auf die Beschreibung der ausgedehnten Leiblichkeit/Körperlichkeit als deren Wesensmerkmal überhaupt anzuwenden. – Zum Bildverständnis bei Nancy allgemein vgl. auch M. Flatscher, »Jean-Luc Nancy«, in: K. Busch u. I. Därmann (Hg.), Bildtheorien aus Frankreich. Ein Handbuch, München, Beck 2011, 323–333. 37

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Jacques Derrida und Jean-Luc Nancy: Dekonstruktion als »Fraktur«

immer seine tiefste Tradition bildete, woraus sich heute die angesprochene differe(ä)ntielle oder fraktale Zweideutigkeit von Welt und Leib/Körper ergebe. Der Sinn der entchristlichten Welt impliziert als »Weltlichkeit der Welt« seit Heidegger bereits, dass »unsere Welt« notwendiger Weise diese Abweisung ihres christlichen Gründungsgedankens in sich trage, indem sie selbst in allem bloß reine AusDehnung als Selbstbewegung dieser Ver-Äußerung wird – eine Welt ohne Schöpfer, mithin ohne Prinzip und Ziel. Diese kinetisch permanente »Ver-Werfung« der Welt aus sich selbst heraus, weil nichts sie mehr ordnend zusammenhält, berührt sich in ihrer reinen Differenz wie Indifferenz dort mit der Leiblichkeit als Fleisch (sarx/chair), wo sich die bisher in der Tradition seit Platon und Aristoteles vorausgesetzte Einheit eines Sinnes durch das Berühren in eine Vervielfältigung der Rhetorik ohne Ende der fraktalen Gestalten des Berührbaren und Betastbaren auflöst. In einem solch dekonstruktiven Kontext nach Derrida wie Nancy bezieht sich jede Leibanalyse, sofern sie weder auf eine Einheit stößt noch dieselbe weiterhin voraussetzen kann, auf den christischen, eucharistischen wie mystischen Leib, um jedoch dessen Rechristianisierung über jede Form von Blut, Opfer, Erlösung usw. entschieden abzuwehren. Denn wenn sich eine Welt ohne Schöpfer nicht mehr selbst in sich als vereinheitlichtem Kosmos zurückhalten kann, um Sinn-Verhältnisse des Maßes und der Orientierung zu bieten, dann findet dadurch eine derartige »Ver-Räumlichung« der Körper statt, dass in ihrer radikalen Heterogenität kein identischer Sinn durch die Verwandlung irgendeines Hoc est enim corpus meum mehr gestiftet zu werden vermag: »Sofern nur unsere Welt verstünde, dass es nicht mehr an der Zeit ist, Kosmos sein zu wollen, sowenig wie der die Natur überdimensionierende Geist, scheint es, dass sie nichts vermag als an/in sich die Niedertracht der Umwelt/des Schändlichen (l’immonde) zu berühren.« 38 Das Auf-die-Welt-Kommen für uns Menschen ist dann ein stetes Zerrissenwerden, ein äußerstes extra partes, welches von der Welt als Körper in ihrer ausschließlich differe(ä)ntiellen oder disseminierten Phänomenalität nur noch die Pluralität der Bedeutungen und eine Kontiguität ohne Berührung übrig lässt, in deren bloße Ober-Flächlichkeit sich die Technik heute als »Prothese« des Lebens globalisierend einschreibt, so wie Freud schon vom »Prothesengott« gesprochen hatte. Und ein solches Leibdenken, 38

Corpus, 93.

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Intuition und Haptologie als Grundorientierung abendländischer Metaphysik

das als erstes die technischen Objekte der Medizin etc. in den Leib selbst philosophisch integrieren möchte, beansprucht deshalb für sich, für die philosophische Leib- und Tastanalyse überhaupt bahnbrechend zu sein, so wie dadurch zugleich die Einheit von Okzident/ Christentum aufgehoben werden soll: »Der Okzident selbst, die Okzidentalität vollendet sich, indem sie eine ganz andere Art des Sinns offen legt, und zwar die gewissermaßen leere oder bloßliegende. Oder des Sinns als des vollständigen oder abgeschlossenen Sinns, der zur Grenze des Sinns oder der Möglichkeit von Sinn strebt. Das Christentum zu dekonstruieren heißt fortan, den Okzident bis zu dieser Grenze zu begleiten, bis zu diesem Schritt und diesem Nicht (pas), wo der Okzident sich nur noch von selbst ablösen kann, will er weiter Okzident sein oder etwas von sich selbst jenseits seiner selbst.« 39 Halten wir hier im Vorübergehen nur fest, dass Welt, Berührung, Leib, Technik wie auch Geschichte allein als Außen gedacht werden, das heißt in einem ontologischen Monismus der Ver-Räumlichung, ohne dem rein phänomenologischen Leben dabei noch eine prinzipiell andere Phänomenalisierungsweise (Henry) zuzuerkennen, nämlich eine nicht-distanzierte Immanenz, 40 so bleibt in der Tat durch die je ex-ponierte Vielzahl der Sinngebungen auch nur eine »Geburt« als kategorischer Abweis jeglicher Innerlichkeit bestehen. Mit anderen Worten gibt es in solchem Denken keinerlei Möglichkeit mehr, irgendein »In-der-Wahrheit-Sein«, »Im-Leben-Sein« oder »InChristus-Sein« zu denken, wie es die neutestamentlichen Schriften nahelegen. Im Gegenteil wird von J.-L. Nancy die Transsubstantiation der Eucharistie als jenes Hoc est enim corpus meum gesehen, welches jeden Leib aufs Äußerste auseinander reißt, um die »Selbstimmunisierung« des christlichen Gedankens des »Fleisches« als Nicht-Welt abzuwehren. »Dies ist …« heißt im Gegensatz zu jeder denkbaren Anwesenheit oder Unmittelbarkeit dann vielmehr, dass die Welt der Körper, die Welt in ihrer reinen Weltlichkeit, eine unDekonstruktion des Christentums, 242 f. Nancy versteht wie Deleuze »Immanenz« nur als Sinn-Immanenz oder als »Philosophie der Immanenz«, das heißt des unmittelbar sich welthaften »Präsentierens« von Sinn in den Grenzen von (de-)konstruktiven Entfaltungen, die sich nie zu einer möglichen Bedeutungsüberführung schließen; vgl. Th. Bedorf, »Nancy, Jean-Luc«, in: Th. Bedorf u. K. Röttgers (Hg.), Die französische Philosophie im 20. Jahrhundert. Ein Autorenhandbuch, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2009, 271–278; P. Kamuf, »On the Work of Jean-Luc Nancy«, in: Paragraph. A Journal of Modern Critical Theory 16/2 (1992) 17–32.

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artikulierte Bedeutung bildet – einen Körper ohne Sinn, der sich nicht mehr als Einheit organisiert, sondern eine unerträgliche »Konvulsion« im Denken sowie für das Denken ausmacht: »Sich an der Stätte des Unmöglichen zu halten, läuft darauf hinaus, sich dort aufzuhalten, wo sich der Mensch auf seiner Grenze hält – der Grenze seiner Gewalt und seines Todes. Auf dieser Grenze stürzt er oder stellt er sich aus (ex-pose), und auf die eine oder andere Weise verliert er sich notwendig. Deshalb kann dieser Ort nur ein Ort des Schwindels oder des Skandals sein, gleichzeitig Ort des Unerträglichen wie des Unmöglichen.« 41 Dieser wissentlich zwischen Wahnsinn und Sarkasmus vorgetragene philosophische Angriff auf den christischen corpus meum will, weil er die Schöpfung insgesamt destruiert, auch die »christliche Kultur« als solche erschüttern, mit anderen Worten durch ein »hartnäckiges Heidentum« das eucharistische Christentum von Brot und Wein überhaupt in Frage stellen, wie es im Übrigen in allen Religionen gegeben sei. Jedoch nicht als ein religiöser Synkretismus etwa, sondern vielmehr als das Wesen der Kultur selbst in ihrer »Christlichkeit«, weil das Christentum schon immer die Fähigkeit besessen habe, sich universal aufzugeben, um so bei sich zu bleiben – zu sterben, ohne dass dieser Tod notwendiger Weise jemals eintreten müsste: »Es ist selbst und durch sich selbst im Zustand der Überwindung. Dieser Zustand einer Selbstüberwindung ist ihm vielleicht sehr zutiefst eigen, er ist vielleicht seine tiefste Tradition, was nicht ohne Zweideutigkeit geht.« 42 In diesem Zusammenhang bedeutet daher »Dies ist mein Leib« eine solche Dekonstruktion des Christentums, welche nach Nancy eine unendliche Aufgabe bliebe, weil das eucharistische Gedächtnis von Brot und Wein als Leib und Blut Christi selbst bereits jede Dekonstruktion in sich berge, nämlich die neutestamentliche Apokalypse, Augustinus’ »Civitas Dei«, Luther, Hegel, Marx, Kierkegaard, Heidegger sowie Platon, welcher schlechthin zum christlichen Denken prädisponiere. Die Eschatologie solcher DeNoli me tangere, 69; vgl. ebenfalls schon J. Derrida, Apories. Mourir – s’attendre aux ›limites de la vérité‹, Paris, Galilée 1996. 42 J.-L. Nancy, Le sens du monde, Paris, Galilée 1993, 505; vgl. Dekonstruktion des Christentums, 240 f.: »[Das Christentum] ist selbst und durch sich selbst im Zustand der Überholung (dépassement). Dieser Zustand der Selbstüberholung ist ihm vielleicht zutiefst eigen, er ist vielleicht seine tiefste Tradition, was selbstverständlich nicht ohne Ambiguitäten geht. Es ist also dieses Überholen, dieses Selbstüberholen, wonach wesentlich gefragt werden muss.« 41

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konstruktion wird also immer eine übersteigerte Selbstopferung des Christentums sein, wie sie in der eucharistischen Verwandlung von Brot/Leib – Wein/Blut vorgeführt werde. In der Tat kann nicht vergessen werden, dass allen (post-)modernen Dekonstruktionen zum Beispiel Luthers destructio ideengeschichtlich vorausging, 43 um im theologischen Abbau der dogmatischen Überlagerungen den Ursprungssinn der Evangelien wieder aufleben zu lassen. Und insofern lässt sich daher sagen, dass eine solche, kritisch hermeneutische Arbeit immer mit zum Verständnis von Offenbarung ebenfalls als Überlieferung gehören wird, wie wir ähnlich bei Levinas sahen. Für Nancy muss sich deshalb eine Destruktion des Christentums zunächst von einer solchen, genuin christlichen Tradition der Dekonstruktion als destructio selbst lösen. 44 Es geht mithin (sowohl gegen das Berühren der Wunde Christi durch den Apostel Thomas bzw. mit dem Noli me tangere für Maria Magdalena in den Auferstehungsberichten) um jenes de-konstruktive Verstehen, welches darauf verweist, im Hoc est enim… einem Leib alles zu entziehen, was ihn berühren oder ertasten könnte. Wir sollen epochal postmodern aufgeklärt davon lassen, überhaupt ein Hoc vorzuweisen, um im Ist als Hier jeweils etwas berühren zu wollen, was niemals berührt zu werden vermag. Denn was uns als Empfindende und Denkende zutiefst bewege, sagen Derrida und Nancy, sei nicht nur der Versuch, ein Dieses irgendwie zu berühren, sondern es eben als einen Leib – als einen Leib von etwas – zu berühren, den »Leib« eines absoluten Gottes oder eines Absoluten als solchem; auf jeden Fall der Wunsch, dass das Berührte einen Leib habe oder ein Leib sei, wodurch das metaphysische Denken des Leibes schlechthin erst möglich wird. 45 Der Pinselstrich des Malers (la touche) mache exemplarisch hingegen darauf aufmerksam, dass die von ihm hervorgebrachten Körper reine Fiktionen, Trugbilder sind, um dadurch zu 43 Vgl. F. Ensslin, Die Entbergung des Absoluten. Das Subjekt der Nichtigkeit in Luthers Magnificat-Auslegung, Diss. Universität Potsdam 2004. 44 Schon J.-L. Marion diskutiert den Anspruch Derridas, es habe vor der postmodernen »Dekonstruktion« keine wirkliche Selbstaufhebung im Christentum gegeben, auch nicht innerhalb der Tradition der »negativen Theologie«; vgl. De surcroît. Ėtudes sur les phénomènes saturés, Paris, PUF 2001, 155–161: »›Métaphysique de la présence‹ et ›théologie négative‹«. Vgl. dazu R. Kühn, Lebensmystik. Ursprüngliche Erfahrungseinheit von Religion und Ethik im Spiegel »Philosophischer Mystik«, Dresden, Text & Dialog 2018, Kap. II,7.2: »Die Mystikkritik bei Jacques Derrida und Marions Replik«. 45 Vgl. J.-L. Nancy, Corpus, 7 f.

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unterstreichen, dass das Hoc est enim… zuletzt immer die reine Idee zu berühren glaube, das heißt deren Realiät oder Existenz. 46 Unsere gesamte Kultur des Okzidents als universal christliche Tradition einer solch intendierten Sinngebung ließe dementsprechend nicht davon ab, den Körper/Leib trügerisch zu erfinden, so dass in der haptozentrischen Tradition (von Aristoteles bis Merleau-Ponty über Maine de Biran und Husserl) 47 eine Gegenbewegung zu solcher Hierarchisierung zwischen Berühren und Idealisieren vorzunehmen bleibe. Indem diese Idealisierung im psychoanalytischen Sinne als Sublimierung vollzogen werde, nämlich Körper oder Leib, das Dies oder Hier, so hervorzubringen, dass sie für das Berühren gerade unzugänglich würden, entstehe gleichursprünglich die Angst, letztlich die Angst vor dem Tode. Aber diese Angst anästhesiere sich zugleich auch wieder selber, wie ebenfalls Lacan unterstreicht, 48 da sie den Tod durch die Vorstellung hinausschiebt, denn obwohl jeder fraktale Sinnvollzug wie ein Tod erscheint, tritt mit jedem Sinn ebenfalls erneut ein anderer auf. Die sinnliche Gewissheit (schon Hegel bestimmte sie in der »Phänomenologie des Geistes« als negative Allgemeinheit) wird mithin in dem Augenblick selbst verfehlt, wo wir sie zu berühren glauben, weil sie dann nicht mehr das ist, was sie war. Und auch schon der antike Proteusmythos wusste, dass solche Anfangsgewissheit zum Chaos wird, weil alle Sinneseindrücke dadurch dereguliert werden; jeder Körper also wiederum ein erneutes In-Stücke-Zerspringen der Wahrnehmung hervorruft. Dies macht für J.-L. Nancy das eingangs genannte Weltsein als solches aus, wie es die Wissenschaft als »Gestell« der Vor-Stellung, wie schon Heidegger sagte, »ob-jektiv« auszugrenzen versucht, indem sie kontrollierte Experimente mittels unsinnlicher Instrumente vornimmt, die aber im Grunde nur unser Vorstellen-Wollen verlängern und so nach Nancy zu den künstlichen »Prothesen« unseres Lebens führen. Wenn wir im Gegenzug hierzu vorhaben, nicht zu berühren, um einen Körper dem Betasten zu entziehen, und ein Unberührbares berühren möchten, bzw. durch Idealisierung das Trugbild des Berührens Vgl. Noli me tangere, 43 ff. Für gewisse Einseitigkeiten der Interpretation Derridas hierbei besonders in Bezug auf die Haut und die Hand vgl. schon unser Kapitel »Endlichkeit der Berührung nach Derrida« in: R. Kühn, Pierre Maine de Biran – Ichgefühl und Selbstapperzeption. Ein Vordenker konkreter Transzendentalität in der Phänomenologie, Hildesheim – Zürich – New York, Olms 2006, 120–142. 48 Vgl. unser vorheriges Kapitel II,6. 46 47

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vollenden (etwa Venus in der Malerei), dann wirke dahinter ein übersteigerter Hunger, das zu tun, was jeweils im Berühren als Essen unserer Nahrung vollzogen wird, weil wir sonst nicht leben könnten, wie schon Aristoteles in »De anima« ausführte. In Bezug auf die Eucharistie bedeute dies, die Angst als jenes Verlangen wahrzunehmen, berühren und essen, den Leib Gottes verzehren zu wollen – um nur dieser Leib selbst zu sein. Darin sieht Nancy das leitende Vernunftprinzip des Abendlandes schlechthin angesprochen, nämlich einen Leib zu vereinnahmen, der prinzipiell immer zuviel ist: »Dies« sagt immer mehr, als dass die Wahrheit oder Wirklichkeit eines solchen Dies als Etwas einverleibt würde. Mithin fände das Leibsein eigentlich niemals statt, vor allem dann nicht, wenn es als evident herausgestellt und benannt wird: »Für uns ist der Leib immer geopfert: Hostie. Wenn Hoc est enim corpus meum etwas sagt, dann ist es außerhalb des Wortes, wird es nicht gesagt, ist es ins Außen geschrieben (excrit) – bei verlorenem Leib.« Alle Schrift und Sprache, die Psyche im Sinne Freuds selbst, ist ausgedehnt: écriture als ex-criture, das Gesetz der Kultur selbst. In jeder Sprache scheint daher das Wort »Leib« ein Wort zuviel zu sein. 49 Oder auch in kritischer Wendung, wie schon Derrida in seinem Buch »Falschgeld«, gegen das Paradigma der Gabe formulierte: »Die wahre Bewegung, sich zu geben, bedeutet nicht, eine greifbare Sache zu liefern, sondern das Berühren einer Präsenz und folglich die Eklipse zu erlauben, die Abwesenheit und den Fortgang, gemäß derer sich eine Präsenz stets geben muss, um sich zu vergegenwärtigen.« 50 Die Geschichte der Welt als Rhetorik des Leibes, sofern jede Argumentation als Idealisierung desselben abgewiesen wird, bedeutet somit einen ununterbrochenen »pluralen« Kon-takt, der sich in der Schrift (écriture) als Nicht-Berühren der Körper und der Leiber fortsetzt. Damit wird das Hoc est enim… in diesem Sinne nicht nur zur universalen Geschichte des Christentums in allen Religionen, insbesondere der jüdischen, christlichen und islamischen, wie schon festgehalten wurde, sondern zur Geschichte jedes »Universalismus« schlechthin – und heute der Globalisierung (mondialisation). 51 Das

49 Vgl. Corpus, 9 u. 21; ebd., 95: »Der absolute Sinn der Welt der Körper, ihre Globalität und ihre Körperlichkeit selbst: die Ausscheidung (excrétion) des Sinns, des herausgeschriebenen (excrit) Sinns.« 50 Noli me tangere, 66. 51 Vgl. dazu auch besonders J.-L. Nancy, La création du monde ou la mondialisation,

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selbstimmunisierte Christentum des Hoc est enim… erscheint somit als die Quelle aller Nöte gegenwärtig. Gibt es daher noch die Möglichkeit, so fragt Derrida bei seiner Interpretation von Nancy, 52 dass selbst ein Christ in seinem Herzen dem christlichen corpus in Eucharistie und Schrifttext widerstünde? Oder besitzen auch alle nichtchristlichen Kulturen bereits ein virtuelles Christentum in sich, indem sie die idealisierende Narkose und Euthanasie des Leibes in sich tragen? Diese Klärung als für beide Autoren notwendige dekonstruktive Aufgabe der postmodernen Zukunft ist nicht ohne die Gefahr vielfältiger Verwechselungen, denn was sagen wir letztlich, wenn Körper und Leib etwa mit corps oder body übersetzt werden, ohne weitere Differenzierungsmöglichkeiten zu besitzen, außer vielleicht corps propre bzw. chair als lebendiger Leib im Französischen, woraufhin dann wieder ein Begriff für Fleisch als sarx fehlte? Oder corpse – ein Leichnam, der aufersteht? 53 In Bezug auf die Auferstehungsberichte im Neuen Testament bemerkt daher J.-L. Nancy: »Die Auferstehung ist keine Rückkehr zum Leben. Sie ist die Herrlichkeit des Schoßes des Todes: eine dunkle Herrlichkeit, deren Leuchten mit der Finsternis des Grabes verschmilzt. Nicht um das Stetige des Lebens, das durch den Tod hindurchgeht, handelt es sich, sondern um das Unstetige eines anderen Lebens im Tod oder des Todes. […] Sich [Christus wie in der Lazarusgeschichte] anvertrauen, also im Glauben sein, heißt […] sich standhaft in der Zuversicht einer Haltung (tenue) vor dem Tod zu halten. Diese ›Haltung‹ macht eigentlich die anastasis, die ›Auferstehung« aus, das heißt das (Sich) Aufrichten oder die Erhebung (›Aufstand‹) ist auch ein möglicher Sinn des griechischen Wortes. Weder Regeneration noch Restauration, weder Palingenese, Wiedergeburt, Wiederbelebung noch Reinkarnation, sondern das Aufrichten, die Erhebung (la levée) oder das Aufstehen (le lever) als Vertikalität, die in rechtem Winkel zur Horizontalität des Grabes Paris, Galilée 2002 (dt. Die Erschaffung der Welt oder Die Globalisierung, Berlin Diaphanes 2003). 52 Vgl. Le toucher, 78. Umgekehrt hat Nancy gerade dem Religions- und Glaubensverständnis bei Derrida besonders im Zusammenhang mit dessen »griechischem Juden-Christentum« als philosophischem Hintergrund einen eigenen Beitrag gewidmet; vgl. »Das Jüdisch-Christliche (Vom Glauben)«, in: Dekonstruktion des Christentums, 69–96. 53 Vgl. einen terminologischen Klärungsversuch in unserem »Nachwort des Übersetzers« zu M. Henry, Inkarnation, Eine Philosophie des Fleisches, Freiburg/München, Alber 2002, 417–422.

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steht – es nicht verlassend, es nicht auf das Nichts reduzierend, sondern in ihm die Haltung (also auch die Zurückhaltung) eines Unberührbaren, eines Unerreichbaren affirmierende.« 54 Was nach dieser Dekonstruktion bleibt, ist das Sich-SelbstFremd-Sein aller Körper, sofern sie sich in der Ausdehnung oder Sichtbarkeit befinden, aber nicht berührbar sind, weil sich zwischen allem Berühren schon immer die Distanz von Nähe/Ferne etabliert hat, in der wir ebenfalls nie wirklich uns oder die Anderen berühren. Aber vielleicht bedeutet das eucharistische Wort Hoc est enim… gerade keine Identifikation in irgendeiner Logik des Außen oder des Vorweisbaren, wie lebensphänomenologisch gegenüber Nancy zu fragen bliebe, sondern eben eine immanente »Gabe« als reiner Vollzug des Sich-Gebens? Wenn es nämlich zu den de-konstruktivistischen Voraussetzungen gehört, alles zu einem Text oder zu einer (Aus-)Schrift zu machen, 55 dann entsteht dabei die Problematik, ob gerade auf diese Weise nicht das Wesentliche des Leibseins überhaupt versäumt wird? Diese kritische Zwischenfrage stellt sich parallel zu jener anderen, welche mit den heilenden Berührungen gegenüber Blinden, Stummen, Blutflüssigen und sogar Toten durch Jesus von Nazareth im Neuen Testament verbunden ist. Derrida 56 greift in einer durchaus anzuerkennenden Weise diese Wunderberichte als Zeichen von Jesu Barmherzigkeit auf, die sich in dessen Innerem oder Herzen als am »fleischlichen Ort des Vergebens« kundtut. Denn bevor Jesus einen Hilfsbedürftigen berührt oder anspricht, sei er selber »in seinem Herzen berührt«, wie besonders Math 20,30 f. deutlich zeigt. Und Derrida unterstreicht ebenfalls, dass Jesus als der zu Berührende die »Bedingung des Heils« selbst sei, wie sich dies gerade aus all jenen Wunderheilungen ergibt, wo die Menschen nur den Saum seines Gewandes berühren, um dergestalt geheilt zu werden, weil sie dadurch den Glauben an Jesu göttliche Macht als solche zum Noli me tangere, 24 f. Fraglich bleibt hierbei gewiss, wie ich mich »vertikal halten« kann, ohne dazu ein Leben in Anspruch zu nehmen, so dass solche Überdetermiertheit der Klärung bedarf, wie es die Lebensphänomenologie versucht. 55 Es ist offensichtlich, dass in Dekonstruktion des Christentums, 237 f., die konstatierte Gegensätzlichkeit zu M. Henry bei J.-L. Nancy selbst nicht dazu führt, sein eigenes geschichtlich-textuelles (hermeneutisch-dekonstruktives) Verständnis des Christentums auf eine immanente Offenbarung hin zu hinterfragen, obwohl ein Hinweis auf C’est moi la vérité. Pour une philosophie du christiannisme, Paris, Seuil 1996, erfolgt (dt. »Ich bin die Wahrheit«. Für eine Philosophie des Christentums, Freiburg/München, Alber 1997). 56 Vgl. Le toucher, 131 f. 54

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Ausdruck bringen (vgl. Mk 6,56; Lk 6,19). Aber diese positive Auflistung der Berührungen Jesu sowie seines eigenen inneren Berührtseins sprengen keineswegs den Rahmen der Diskussion um jene onto-theologische Haptologie, wie sie überdeutlich bei Berkeley 57 hervortrete, nämlich als notwendiger Sprung vom Sehen zum Berühren, wobei letzteres dann in seiner identifizierenden Gewissheit auf Gott begründet wird. 58 Wie die Frage der Leiblichkeit in ihrer Eigenphänomenalität eines transzendental lebendigen Fleisches verliert sich folglich auch die ganz eindeutige Bekundung der neutestamentlichen Christologie als einer mit dem Eigenwesen Gottes selbst identischen Selbstoffenbarung in der insgesamt verfolgten Dekonstruktion des Christentums. Diese tritt nunmehr als die unüberbrückbare Kluft zwischen dem Sichtbaren und Berührbaren überhaupt auf, das heißt als eine gewisse Verschärfung jeglicher Ver-Räumlichung in der sinnlichleiblichen Wahrnehmung, weil der Sprung zwischen Sehen/Berühren die Grenze zwischen Offenbarung/heilender Gegenwart Gottes selbst betrifft, mithin eine Grenze zwischen Leben und Tod. Was damit de-konstruktivistisch zu denken sei, ist mit anderen Worten nicht nur das Wesen des Christentums als einer »Religion des Berührens«, sondern eine Herkunft des Christentums, welche tiefer als dieses selbst wäre – und folglich die »zu denkende Sache« schlechthin ausmachen soll. 59 Diese Formulierung bildet jedoch im Grunde nur eine Variante der postmodernen Berührungsanalytik als solcher, denn wenn diese an die transzendentale Grenze der Ver-Räumlichung als nie selbst berührte Wirklichkeit führt, dann ist die Grenze zwischen Vgl. Versuch einer neuen Theorie des Sehens, Hamburg, Meiner 1987; Eine Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis, Hamburg, Meiner 1979. 58 Vgl. Le toucher,. 116 ff.; ähnlich auch J.-L. Nancy, Noli me tangere, 21 f. u. 44 f. 59 Vgl. Dekonstruktion des Christentums, 236 f.: »Man könnte sich auch fragen, warum wir [die Philosophen] systematisch unseren Blick vom Christlichen abwenden und immer zum ›Jüdisch-Griechischen‹ hinschielen, als wollten wir uns dem Christlichen nicht stellen. Sagen wir also (cum grano salis wäre das vermutlich meine Art, Phänomenologe zu sein), dass das Christliche oder das Christentum eben die Sache ist, die es zu denken gilt.« Sowie ebd., 241: »Vermutlich ist [das Christentum] von selbst in einen anderen Status übergegangen, in eine andere Ordnung des Sinnes und des gemeinsamen Teilen des Sinnes. Das wissen wir alle, mögen wir Christen sein oder nicht. Allgemeiner gefasst ist das Los des Christentums vielleicht das Los des Sinnes allgemein. […] Vermutlich ist tatsächlich dies das Ende der Selbstüberholung des Christentums. Von nun an ist mit dringlicher Notwendigkeit von uns das gefordert, was wir die ›Dekonstruktion des Christentums‹ nennen müssen.« 57

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Sehen/Berühren bzw. zwischen Außen/Berühren in ihrer De-Ontologisierung wie De-Idealisierung die Frage nach dem Status der reinen Einbildungskraft. In dieser erlebe sich laut Nancy die philosophische Freiheit als Ohnmacht ihrer eigenen Unmöglichkeit, das zu ergreifen, was sie selbst als die Grenze des Unberührbaren im »Berühren« erreicht. Damit kehren wir nicht nur zur differe(ä)ntiellen oder fraktalen Prämisse einer unmöglichen Ontologie der Subjektivität oder des Ego als trügerischem Einheitspol überhaupt zurück. Vielmehr vollendet sich die Gesamtkritik unserer Kultur in der Herausstellung einer bisher nur gewohnheitsmäßig vollzogenen Rhetorik des Berührens ohne Selbstaufklärung: »Empirische Onto-Phänomenologie + geschichtliches Erbe + Sprache einer Kultur, dies macht vielleicht eine gemeinsame Gewohnheit aus, eine Gesellschaftlichkeit, eine Praktik, eine Pragmatik, ein Bewusstsein usw.« 60 In der »außerordentlichen Geschichte des Fleisches und der Inkarnation«, wo »zwei Herzen in einem schlagen«, nämlich zwischen Mensch und Gott, zeige sich folglich nichts anderes als die Geschichte jenes abendländischen Intuitionismus, der seit Platon und Plotin die Metaphysik der Haptologie mit der Vision verbinde, um die Erfüllung einer Gegenwart – letztlich Gottes oder des Absoluten – zu postulieren. 61 Im Sinne Pascals ist der schon genannte Platon damit nicht nur eine Vorbereitung auf das Christentum, weil hier zu Beginn der Philosophie das Denken mit dem Licht des Sehens verknüpft wird. Vielmehr kündige sich dadurch auch eine Affinität mit der zuvor erwähnten Haptologie der Evangelien an, so dass sich der idealisierende Intuitionismus außerdem als das Verlangen einer kontinuierlich angestrebten Finalität in ihrem Heil darstelle. Denn solches Begehren (désir) nach einer zu berührenden Gegenwart, wie sie im Hoc est enim… ausgedrückt werde, sei notwendiger Weise intuitionistisch, da das Verlangen im entsprechenden intentionalen Berühren seine J. Derrida, Le toucher, 124. Zum Bewusstsein als Auflösung solcher »Integration« heute vgl. J.-L. Nancy, Dekonstruktion des Christentums, 245: »Im Innern des Christentums entseht tatsächlich ein spezifischer Konflikttyp [zwischen ihm und der Welt, Politik, etc], der wahrscheinlich einer zwischen einer Integrität und ihrem Zerfall, ihrer Des-integration ist. In diesem spezifischen Konflikt ist der erste Ansatz einer innersten Eigentümlichkeit des Christentums und der Möglichkeit seines Werdens zu suchen: Wäre das Christentum nicht in und durch sich selbst eine gespaltene Integrität? Wäre es eben die Bewegung seiner Distension, also seiner Ausdehnung und Zerspannung, seiner Öffnung und seiner Auflösung?« 61 Vgl. J. Derrida, Le toucher, 135 ff. 60

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Erfüllung finden soll, wovon selbst noch Husserls an sich a-metaphysische Phänomenologie zeuge, wie schon die Kritik Derridas zu Beginn dieses Kapitels dargestellt wurde. Worauf eine solch dekonstruktivistische Sinnen- wie Erfahrungsanalytik mithin am Ende hinaus will, besteht in der definitiven Andersheit eines Leibdenkens gegenwärtig, welches nach Nancy zugleich eine andere Philosophie des Begehrens überhaupt impliziere. Das heißt jene »plurale Singularität« von Einbildungskraft und Bestrebung, welche an der Berührungsgrenze mit ihren fraktalen Rändern stets ausschließlich der disseminalen Sinnaufspaltung begegnet, worin sich nur eine »Ko-Existenz« der Andersheit mit den Seienden wie mit den Anderen verwirklichen lasse. Das Berühren eines je lokalen »Dies ist« bleibt zuletzt modales wie fraktales »Auf-Brechen« und »Zer-Brechen« von Leibern und Welt, für welche nur die »Teilung« (im doppelten Verständnis von partage) als vervielfältigte oder plurale Topo-Graphien ohne jegliche Einheit und Unmittelbarkeit gelte, was an die »tausend Plateaus« schon bei Deleuze erinnert. Jene Geschichtszeit des Okzidents, in der heute die Dekonstruktion des Berührens zur Dekonstruktion des inkarnatorischen Christentums in seinem begrifflichen Diesseits wie Jenseits führt, vollende sich folglich postulativ in der Aufhebung der Vermittlung oder Dialektisierung von Allgemeinem und Einzelnem, wie Judentum, Christentum und Islam sie angestrebt hätten. 62 Somit wird für das postmoderne Welterleben auch jedes Sprechen von einem »Nächsten« aufgehoben, welches den Einzelnen stets nur einem solch idealisierenden Universalismus unterworfen habe, wie dies auch Lacan problematisierte. Denn schon die Frage, ob unser Leib allein eine Fraktur sei, das heißt eine reine Ausdehnung partes extra partes, wo letztlich nur ein Verhältnis wie zwischen Teilen und Orten gegeben ist, bildet 62 Von daher versucht Nancy auch den heutigen »Terrorismus« zu erklären; vgl. Dekonstruktion des Christentums, 66: »Es ist das UNI-FIZIERENDE, UNITARISCHE und UNIVERSELLE Modell, auch das EINDIMENSIONALE und schließlich EINSEITIGE (sein interner Widerspruch), das die spiegelbildliche und nicht weniger nihilistische Mobilmachtung eines monotheistischen und nicht weniger einseitigen Modells ermöglicht hat. Man schenkt diesem letzteren nur deshalb endlich Aufmerksamkeit, weil es das ideologische Instrument des ›Terrorismus‹ geworden ist, den wir kennen. Denn der ›Terrorismus‹ ist die Verbindung der Verzweiflung und eines UNI-FIZIERENDEN Willens, der sich dem anderen Gesicht des EINEN gegenüberstellt.« Vgl. ebenfalls F. van Peperstraten, »Desplacement or composition? Lyotard and Nancy on the trait d’union between Judaism and Christianity«, in: International Journal of Philosophy of Religion 65 (2009) 29–46.

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in der Tat eine der ältesten Fragen des abendländischen Denkens selbst, weil sich hierin der Sinn von Sein, Anwesenheit, Substanz, Gegebenheit, Phänomen usw. schlechthin entscheidet. Schon Aristoteles spricht in seiner Schrift »Über die Seele« von jener Aporie, welche sich nicht aufheben lasse, ob es gerade beim Tastsinn ein einzelnes Organ oder das »Fleisch« insgesamt wäre, bzw. ein inneres »Sinneswerkzeug«, wodurch sich ein Bezug zwischen dem Ertastbaren und dem Tasten einstelle. Aber dieser Bezug ist zugleich eine Grenze, denn zwischen dem Berührbaren und dem Tastorgan gibt es seiner Auffassung nach kein vermittelndes Medium, so dass »an der Grenze« vielleicht gar kein Berühren stattfinde – oder paradoxerweise das Unberührbare berührt werde? Zudem ist für die Aristotelische Philosophie der Tastsinn nur als Möglichkeit (dynamis) gegeben, nicht jedoch als Akt (energeia), woraus die weitere Aporie entsteht, dass er nur durch »das Andere«, durch den Widerstand, zu seiner Phänomenalität des tatsächlichen Berührens hinfindet. 63 Es geht also sichtbarer Weise bei dieser dif-fere(ä)ntiellen Problematik (im Rückblick auf die philosophische Tradition in ihrer Verbundenheit mit dem christlichen Erbe) nicht allein um die bekannte Entscheidung Descartes’ hinsichtlich seiner radikalen Unterscheidung zweier Substanzen als res cogitans und res extensa, sondern um die sich selbst ausgrenzende Gegensätzlichkeit und damit Teilnahmelosigkeit von allem, was sie »berühren«: Orte, Welt, Zeit, Raum wie Tod. Berührt sich nämlich das Berühren als Tastvermögen nicht selbst in seiner eigenen Selbstaffektion vor der Fremdaffektion durch das Andere als Farbe, Ton, Sinn usw., dann wäre eben jedes Erleben einer Vermittlung anvertraut, welche es in seinem ontologischen Status für immer prekär sein ließe, 64 letztlich sogar als nicht fundiert, weil eben die Vermittlung als Umwelt, als Raum und Zeit des Erfahrens, stets manipuliert werden kann. Ist ein Empfinden Vgl. Aristoteles, Über die Seele II,10–11 (Übers. W. Theiler), Berlin, Akademie Verlag 71994, 44 f. (422b). Eine Weiterführung der Aristotelischen Problematik des Berührens mit Hilfe des »intellektuellen Berührens« bei Thomas von Aquin und des Berührtwerdens durch Gott nach Johannes von Kreuz bietet J.-L. Chrétien, L’appel et la réponse, Paris, Minuit 1992. Dazu auch J. Derrida, Le toucher, 313 ff., sowie R. Kühn, Französische Religionsphilosophie und -phänomenologie der Gegenwart. Metaphysische und post-metaphyische Positionen zur Erfahrungs(un)möglichkeit Gottes, Freibug – Basel – Wien, Herder 2013, 237–246. 64 Vgl. auch M. Henry, »Le problème du toucher«, in: Phénoménologie de la vie I: De la phénoménologie, Paris, PUF 2003, 157–164, sowie Inkarnation, 181 ff. u. 216 ff., mit Bezug auf Merleau-Ponty und Maine de Biran. 63

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Jacques Derrida und Jean-Luc Nancy: Dekonstruktion als »Fraktur«

nicht nur in einem einzigen Außen gegeben, sondern selbst immer schon ein Außen des Außen in seiner endlosen Ent-Faltung (pli), 65 dann ist damit die Grundentscheidung aller Phänomenalisierung selbst getroffen, wie wir hier Nancys Analysen zusammenfassen können, nämlich als einer Struktur, welche nur als Oberfläche im Sinne eines Außen ohne Inneres gegeben ist, wie es ebenfalls Deleuze sah. Die Entfaltung eines scheinbar innerlichen Werdens bildet für Nancy in der Tat jeweils ein erstes Außen, welches sich endlos fortzeugt, weil die genannten Oberflächen zugleich Grenzen sind – jene Grenzen, wie sie sich dem tastenden oder sehenden Berühren darbieten, ohne selbst berührt zu werden, weil sie sich als Grenzen definitionsgemäß immer weiter aufschieben. Auch die traditionelle Unberührbarkeit der Seele impliziert also nicht nur Ausdehnung partes extra partes, sondern zugleich »disseminale« Teilbarkeit schlechthin, wo sinnliche wie psychische »Orte« sich teilen, ohne sich jemals ganz durchdringen zu können. Dadurch wird aus der unaufhebbaren Teilbarkeit ohne Ende für Jean-Luc Nancy zugleich ein Nicht-Wissen, welches nicht um sich selbst weiß, mit anderen Worten ein Unbewusstes im Sinne Freuds. Dieses gäbe etwas zu berühren, von dem jeder letztlich wüsste, dass es keine wirkliche, innere Berührung ist, sondern nur wie ein Differe(ä)nzeffekt, eine Fraktur der sich gegeneinander begrenzenden Orte und Erlebnisweisen. 66 Oder allgemein in Bezug auf den »Sinn« definiert: »Immer handelt es sich um das Auftauchen des Sinns oder jenseitigen Sinns (outre-sens): um einen singulären Widerhall, in dem ich mich ansprechen und antworten höre, von der Stimme des anderen zum Ohr des anderen wie hin zu meinem eigenen Ohr. Wäre dies nicht das, was ohne mögliche Versöhnung Glaube (foi) und Gläubigkeit (croyance) voneinander trennt? Denn die Gläubigkeit setzt oder unterstellt bei einem anderen eine Selbigkeit, in der sie sich identifiziert und stärkt (er ist gut, er erlöst mich), wohingegen der Glaube sich vom anderen einen beunruhigenden Appell entgegenbringen lässt, einem Hören zugeworfen, das ich selbst nicht kenne.« 67

65 66 67

Vgl. auch schon vorherige Anm. 26. Vgl. für das Freud-Zitat unsere spätere Anm. 76. J.-L. Nancy, Noli me tangere, 14 f.

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Das Apriori des Außen in der »Dekonstruktion des Christentums« nach Nancy

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Das Apriori des Außen in der »Dekonstruktion des Christentums« nach Nancy

Ohne hier weiter auf den durchgängigen Paralogismus einzugehen, das Innere sei nur wie eine Art Hohlform des Äußeren oder der »Oberfläche« und besitze keine eigene phänomenologische Erscheinesweise, die keinem Außen subsumiert werden kann, fällt außerdem an der differe(ä)ntiellen Lesart auf, dass sie bei aller Aporie von Berühren, Leib und Vermittlung die Einheitlichkeit des Außen als solche niemals in Frage stellt, selbst wenn diese auch nur eine strukturale Einheit einer immer wieder fraktalen Fortzeugung der Effekte in ihrer Unterschiedlichkeit ohne Ende wäre. Denn Jacques Derrida unterstreicht hierbei für seinen Teil, dass die »Trauer« um eine Psyche, welche sich als ausgedehnte nicht kenne, sich nicht selbst berühre, eben dem nun endgültig gekommenen Ende eines langen Erbes entspricht, nämlich das Berühren bisher so zu denken, als zeuge es von der Quelle des Lebens in allem Lebendigen, wie gerade der Aristotelismus als entscheidende Philosophie des Abendlandes dieses Erbe begründet hat. Dann wäre die »Seele« als Synonym für Leben, Sinnlichkeit und »sich selbst denkendes Denken« bei Menschen und Gott die Geschichte eines Begriffs, dessen Tod heute zusammen mit dem Sterben des Christentums nur noch – wenn auch melancholisch in der Postmoderne – zelebriert werden könne. Sollte es in der Tat für das Denken nach dem epochalen Tod solcher Psyche nur noch ein Berühren geben, welches nach Nancy die Ausdehnung nicht tranzendentiert, dann ist jede Erkenntnis als solche in Frage gestellt, insofern nach derselben philosophischen Tradition die Erkenntnis der Natur sich über die Erkenntnis des Wesens der Seele in allem Lebendigen erschließt – und zwar unter der ebenfalls gedachten Gegebenheit von Ewigkeit und Unsterblichkeit für Gott und Menschen. Behandelt J.-L. Nancy seinerseits gerade diese Psyche als das reine Leben des Lebendigen im Sinne einer Toten, die wir heute konsterniert auf ihrem Sterbebett umringen, dann geht für ihn eben eine ungeheure Geschichte in unserem 21. Jahrhundert zu Ende, nämlich der Gedanke, das Unberührbare – mit anderen Worten das Leben oder Gott – berühren zu können. Davon wäre dann nicht bloß jede PsychoLogie betroffen, sondern alle Diskurse, die irgendwie den Leib, unser lebendiges Fleisch, zum Gegenstand haben, wie schon festgehalten wurde. In ihnen wirkt neben dem Trieb der Entfremdung durch den Tod und die Zeit bloß noch die Frage nach der »Prothese« durch ein 383 https://doi.org/10.5771/9783495820537 .

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technisches Überleben. J-L. Nancy denkt dies unter der Figur der »Aufschließung/Entsperrung« (déclosion) oder »Selbst-Herausstellung« des Christentums bzw. mit Bezug auf den klassischen Horizont-Begriff in der Phänomenologie: »Keine Horizonte mehr: das ist unsere Situation. Allerorten werden in der modernen Welt Horizonte eingefordert, doch wie kann man wieder zu fassen bekommen, was ich die ›Horizontalität‹ nennen würde? Wie den Horizontcharakter wieder fassen vor einem Hintergrund, der gerade nicht aus Horizont (en) besteht, vor einem grundlosen Hintergrund einer undefinierten Öffnung? Auf diese Frage scheint mir das Christentum im Grunde hinzuführen.« 68 Für unsere lebensphänomenologische Fragestellung heißt dies im Kontext der Postmoderne, ob das Christentum unter solchen Bedingungen überhaupt noch möglich ist oder nicht vielmehr eine andere Phänomenalisierungsweise anzuerkennen bleibt, welche nicht unter den Primat der Außenheit und ihrer Differe(ä)nz fällt und die wir mit dem Begriff »lebensmystischer religio« bezeichnen. 69 Denn die dekonstruktivistische Möglichkeit des Existierens als Differe(ä)nz setzt zunächst die Eröffnung von Raum voraus, eine Ein-Beraumung, die Nancy des Näheren durch unseren geöffneten Mund begründet sieht, welcher sich von der mütterlichen Brust löst, um zu lächeln und zu sprechen. In dieser ersten Öffnung des »Freien« im Sinne Heideggers, ohne ein Wesen der Freiheit zu proklamieren, beginnt für ihn die Erfahrung der Freiheit, welche auf der Grundlage einer »Schenkung/Darbietung« (offrande) des Seins immer Entscheidung im Singular ist. 70 Tatsächlich gibt es kein Ernähren ohne Berühren bei Mensch wie Tier, wie schon Aristoteles grundlegend sah, so dass jedes sinnliche Vermögen daran zurückgebunden bleibt, ohne jedoch aus dieser ersten Manifestation der Schenkung/Darbietung des Seins eine Fortzeugung seiner »Gabe« machen zu können, weil schon nach J. Derrida eine Gabe, welche formal oder potenziell geben kann, keine reine Gabe in sich mehr wäre, insofern sie ohne jede Bedingung in ihrem reinen Sich-Geben sein muss. 71 Damit ist zentral Dekonstruktion des Christentums, 246; vgl. ebd., 14–19 u. 265 ff. Vgl. R. Kühn, Lebensmystik, Kap. I,1–2, mit Rückgriff auf Johannes und Meister Eckhart. 70 Vgl. J.-L. Nancy, Ego sum, Paris, Aubier-Flammarion 1979, 162 f.; L’expérience de la liberté, Paris, Galilée 1988, 188 f.; Être singulier pluriel, Paris, Galilée 1996, 109 (dt. singulär plural sein, Berlin, Diaphanes 2005); Dekonstruktion des Christentums, 245 f. 71 Vgl. Falschgeld, 45 ff. 68 69

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ein christliches Leben, ein reines »Er-Leben« der Selbstgabe »Gottes« als seine »Selbstoffenbarung, de-konstruktiv in Frage gestellt, denn wenn sich im Empfang als Berührtsein durch das göttliche Werk Sein/Leben nicht selbst geben, dann bleibt nur die neutrale oder anonyme Er-Öffnung des Freien. Daran erinnerte zuvor schon der Hinweis auf Heidegger, mit anderen Worten die Effekte dieser ErÖffnung als (ontologische) Differe(ä)nz, Hiatus, Riss, Leere usw., in die sich unser Denken seinem ver-äußernden Wesen nach restlos engagiert, da es das horizontoffene Bewusstseinsfeld des somit nie mehr wieder Geschlossenen intentional initiiert. 72 Die monistische Gleichstellung von »Dekonstruktion« und »Christentum« als déclosion bei Nancy findet sich daher auch in der entsprechenden Anthropologie und Psychologie wieder. Denn unser »Mund« ist eine Art empirischer Transzendentalität als Instanz zwischen Berühren/Öffnung im Sinne von Saugen/Sprechen und nimmt so die Stellung zwischen zwei unvergleichbaren Ausdehnungen ein – zwischen der Ausdehnung als Wesensmerkmal aller materiellen Körper im Universum und der rein intelligiblen Ausdehnung als Apriori jeglicher Anschauung seit Descartes und Kant. Es gäbe mithin in solcher Empirie/Transzendentalität im Sinne auch von Deleuze einen Ort vor jeder einberaumenden Eröffnung (was der »Offenheit« oder »Aufschließung« des Christentums entspricht), nämlich den Mund als gemeinsamen Ort zwischen Seele und Körper. Könnten wir aber ohne Mund in dieser originären Bedeutung nicht denken, dann gleitet das Cogito, das Ego sum, in den Bereich der Fiktionalität ab, um letztlich selbst nur ein Effekt zu sein, und kein Ursprung mehr, da die Einheit von Seele und Körper in jedem Empfinden schon für Descartes nur eine quasi permixtio darstellt. Wie nicht anders zu erwarten ist, wohnen wir hierbei weiterhin der postmodernen Dekonstruktionsarbeit bei, welche jede Wesenhaftigkeit zu Fiktion und Rhetorik erklärt. Denn wenn jedes Berühren als touche, etwa als besonderer Schreib- oder Malstil, eine Erfahrung der Bewegung beinhaltet, dann lässt sich in der Tat fragen, ob bei solcher primordialen oder ontologischen Kinetik jemals die Einheit von Leib und Seele als »Ich/Mich« irgendwie und irgendwann berührt wird – oder sich nicht vielmehr in Davon zeugt weiterhin in Frankreich die jüngere Phänomenologengeneration wie Renaud Barbaras und Jocelyn Benoist; vgl. H.-D. Gondek u. L. Tengelyi, Neue Phänomenologie in Frankreich, Frankfurt/M., Suhrkamp 2011, 581 ff., sowie auch A. Badiou, Logiques des mondes. L’être et l’événement, Paris, Minuit 2006.

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die Mobilität reiner Bewegtheit als postmodernem »Spielraum« der Effekte auflöst. Dies lässt sich unmissverständlich der methodologischen Selbstinterpretation der »Dekonstruktion« bei J.-L. Nancy entnehmen: »Dekonstruieren bedeutet abbauen, demontieren, auseinandernehmen, die Zusammenfügung lockern, ihr Spielraum geben, um zwischen den Teilen dieser Zusammenfügung eine Möglichkeit spielen zu lassen, von der sie herkommt, die sie als Zusammenfügung jedoch zudeckt.« 73 Der Gang der Argumentation hinsichtlich solchen (Traditions-) Abbaus ist dabei folgender, um letztlich das Leben selbst als eine Trauer ohne Ende, als Fiktion und Phantasma des unmöglichen Sich-Berührens zu bestimmen. Die Öffnung des Mundes ohne Gesicht, sozusagen als Urakt der Phänomenwerdung, beinhaltet eine Einheit der Lippen, welche sich als Eröffnung ausdehnt, die Form einer O (Null) bildet. Obwohl hier eine Selbst-Öffnung stattfindet, handelt es sich allerdings um keine Selbst-Affektion im Sinne einer subjektiven Originarität im lebensphänomenologischen Sinne, sondern als Nicht-Ort dieses unvergleichbaren Ortes zwischen Seele und Leib sowie vor allen anderen Orten sinnlicher wie intelligibler Ausdehnung ergibt sich die Notwendigkeit, dass das Ego zu sich selbst »Du« sagen muss, und zwar als die Offenheit des Mundes selbst diesseits jeder Oralität. Der Mund ist mithin weder Substanz noch bestimmte Gestalt (in) einer Ausdehnung, vielmehr ist er Ereignis als Räumlichkeit, in die sich jedes weitere Du – des Diskurses, des Eros, der Ökonomie, der Religion – einschreiben muss. Das »SichBerühren« als Sich-Empfinden im Sagen des Ich als Du, weil es sich zugleich an sich selbst als dieses Du des Ich wendet, berührt folglich nichts, weshalb sich das Erleben des Sich-Empfindens als die schon zuvor genannte Fiktion einstellt. Das »Subjekt« berührt sich, aber dieses Berühren, indem es »Ich« sagt, berührt sich keineswegs leiblich, denn die artikulierte Er-Öffnung als in äußerster Kontraktion gesprochenes »Ich« ist genau jenes »Ich berührt sich«, indem es sich an ein »Du« seiner selbst wendet. Im Sagen des Ich herrsche mithin eine plurale Singularität, welche der philosophische Diskurs zumeist in seiner Neutralität verkenne oder verschweige, wie Nancy meint. 74 Dekonstruktion des Christentums, 251. Vgl. auch K. Busch, »Exposition und Berührung (Jean-Luc Nancy)«, in: E. Alloa, Th. Bedorf, Chr. Grüny u. T. N. Klass (Hg.), Leiblichkeit. Geschichte und Aktualität eines Konzepts, Tübingen, Mohr Siebeck UTB 2012, 323–345; L. Viglialoro, »Duali-

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Dieses paradoxe Grundereignis der Ichgenese ist folglich ein Doppeltes. Indem sich das Ich berührt, hebt es die Berührung auf, um als »Null« (O) des geöffneten Mundes, als Kreis seiner eigenen Er-Öffnung, zur Figur der Begegnung zu werden. Die schon erwähnten dekonstruktiven Folgerungen hieraus ergeben sich über diesen ersten Unterschied von Tun und Hervorbringen als »Bilden«, welches nichts anderes beinhaltet als das angesprochene Gesetz der Fiktion. Dort nämlich, wo die Abwesenheit des Sich-Berührens ein »Selbstverfehlen« des Ich bedeutet, dort muss ein Ersatz geschaffen werden, welcher das Phantasma im Zentrum des Sich-Empfindens herbeiruft, mit anderen Worten das Leben als zeitliche wie räumliche Ausdehnung einer unstillbaren Trauer im Durchmessen der künstlichen »Prothesen«, um die Heterogenität der unaufhebbaren Er-Öffnung zwischen Ich/Du, zwischen Selbstaffektion/Fremdaffektion, im »sich« berührenden Empfinden zu schließen. Sehen wir hier von allen psychoanalytischen Anleihen im Sinne Freuds oder Lacans in Bezug auf das Phantasma ab, so bleibt eine kaum zu ignorierende Verschwiegenheit oder Vergessenheit hinsichtlich eines solchen, nur auf differe(ä)ntielle Weise in Anspruch genommenen Lebens bestehen. Wie vermag sich in der Tat der Mund in einer ersten Bewegung zu öffnen und zusammenzupressen, ohne eine phänomenalisierende Kraft für diese Kinetik in Anspruch zu nehmen? Kommt etwa dieses Vermögen an »Kraft« aus dem Mund selbst, der doch strukturell nur (empirisch-transzendental) sich selbst distanzierende Er-Öffnung sein soll? Die von Nancy festgeschriebene Fiktion des Ego als Andersheit seiner selbst beruht daher auf einer ihm eigenen Fiktionalität – als gäbe es nämlich ein Ich, welches »Ich/Mich« außerhalb der Ermöglichung dazu durch das sich absolut gebende Leben sagen könnte. Dies macht genau als originär konkrete Potenzialität vor jedem Außen als Raum und Zeit, Offenheit oder Spielraum, die originäre Selbstaffektion im Sinne einer radikalisierten Phänomenologie aus, um die urleibliche Bewegung des Ich-(Du-)Sagens überhaupt vollziehen zu können, nämlich im rein praktischen Wissen um das »Ich kann« dieses und allen anderen Tuns, 75 welches auf diese Weise an tas. Körper bei Nancy und Agamben«, in: F. Rass, A. S. Horn u. M. U. Braunschweig (Hg.), Entzug des Göttlichen. Interdisziplinäre Beiträge zu Jean-Luc Nancys Projekt einer »Dekonstruktion des Christentums«, Freiburg/München, Alber 2017, 121–136. 75 Vgl. dazu auch Y. Yamagata, »Le langage du sentiment«, in: J.-F. Lavigne (Hg.),

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das sich absolut (göttlich) gebende Leben zurückgebunden ist. Insofern »Gott« für Nancy jedoch die Ausleerung des Sinnes zu dessen nihilistischem Ende als Offen-barung (»Öffnung«) hin ist, kann ein solcher »Gott« naturgemäß auch nicht selbst die wesenhafte Lebendigkeit als Selbstbegründung ohne jede Negativität sein: »Fügen wir hinzu, dass wir vielleicht noch nicht einmal wissen, was die Hegelsche dialektische Aufhebung wirklich ist, ja, dass wir vielleicht nicht wissen, was die Negativität ist: Um es zu lernen, müssen wir uns in ihr Innerstes, ihr Herz versenken, und dieses könnte durchaus, wage ich zu sagen, ein christliches sein.« Oder an anderer Stelle: »Das Denken der Offenbarung als zu Tage Fördern einer versteckten Wirklichkeit oder auch als Entzifferung eines Geheimnisses ist lediglich die religiöse oder gläubige Modalität (im Sinne einer Form subjektiver Vorstellung oder subjektiven Wissens) von Chrisentum oder Monotheismus im Allgemeinen. In ihrer nicht religiösen und nicht gläubigen Tiefenstruktur jedoch (oder gemäß der Auto-Dekonstruktion der Religion, die darin ihr Spiel beginnt) bildet die ›Offenbarung‹ die Identität des Enthüllbaren und des Offenbarten, des ›Göttlichen‹ und des ›Menschlichen‹ oder auch des ›Weltlichen‹.« 76 Die Formalität solcher »Offenbarung« als (diskursiver) »Tiefenstruktur«, ohne die radikal phänomenologische Immanenz (Lebendigkeit) als Offenbarungsmodus überhaupt in den Blick zu bekommen, liegt auf der Hand – abgesehen von der zu einfachen Tatsache, den Offenbarungsbegriff kritisch von einer angeblichen »Enthüllungs-Funktion« her aufrollen zu wollen. De-konstruktivistisch darf Gott nicht selber die Bedingung seiner »Selbstoffenbarung« sein, da sonst der »Denk-Spielraum« dahinfiele, in der sich die Dekonstruktion gefällt. Somit bleibt diese in ihrem Denkaprori gefangen, da sie Gott als ein »Gedachtes« nimmt, dessen Kritik prinzipiell immer möglich ist. Hegelianismus, Dekonstruktion und Nihilismus als »Aufschließung« oder »Entsperrung« von bisheriger Metaphysik und Christentum schreiben daher die

Michel Henry. Pensée de la vie et culture contemporaine, Paris, Beauschesne 2006, 261–274, mit Rückgriff auf die immanente Einheit von Sprechen/Hören bei P. Maine de Biran, Von der unmittelbaren Apperzeption (Berliner Preisschrift 1807), Freiburg/ München, Alber 2008, 300 ff., so dass die »Andersheit« nicht ohne vorherige »Selbigkeit« möglich ist. 76 Noli me tangere, 8 f.; vgl. Dekonstruktion des Christentums, 243, sowie ebd., 49– 63: »Dekonstruktion des Monotheismus«; zur Kritik an Hegels »Aufhebung« auch besonders J.-L. Nancy, Hegel, Berlin, Diaphanes 2001.

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konzeptuelle Leere der »Offen-barung« Gottes fort, welche die Moderne schon seit Kant etablierte. Anders gesagt, hebt sich die Dekonstruktion in ihrer eigenen Bewegung als Konstruktion einer monistischen Fiktion auf. Genau dies scheint uns auch die melancholische oder phantasmagorische Sichtweise der postmodernen »Individualität« zu sein, nämlich etwas im Bereich der jeweiligen Sinnesfiktion zu erschaffen, um dadurch gleichzeitig bedeuten zu wollen, dass diese Wirkung keinen anderen Ursprung besitze als die Trauer um jeden Ursprung in der Gebrochenheit der jeweiligen Effekte ohne Ende. Es geht mit anderen Worten um eine Fraktur der Grenze, wo sich das Berühren nicht selbst berührt, weil entweder gemäß einer bestimmten Descarteslektüre die Subjektivität ohne wirkliches Ich-Subjekt als Ipseität ist, bzw. sich gemäß einer »inzestuösen« Kantinterpretation im transzendentalen Schematismus Verstand und Sinnlichkeit ohne wirklichen Leib berühren sollen. Wird an dieser Stelle nochmals Freud aufgegriffen, dann aus dem Grunde, um zu verstehen, in welchem Verhältnis Ausdehnung und Psyche als Projektion zueinander stehen, das heißt als Trauer und Begehren: »Räumlichkeit mag die Projektion der Ausdehnung des psychischen Apparates sein«, um hinzuzufügen: »Anstatt Kant a priori Bedingungen unseres psychischen Apparates. Psyche ist ausgedehnt, weiß nichts davon.« 77 Dass für Nancy dahinter die tiefe Erfahrung einer »Patho-Logik« stehen mag, ist analytischtherapeutisch nicht zu verkennen (ebenso wie ein sich suchender »Glaube«); aber die »Unerträglichkeit« eines solchen Pathos stößt nicht radikal reduktiv – über den »Kreuzungspunkt« von Leiden/Genuss (jouissasnce) – bis zu deren einheitlich phänomenologischer Substanz vor, das heißt zur reinen Selbstfreude des Lebens in dessen Selbstumschlingung: »Ich kann nicht mehr – aus Leiden oder aus Lust: Aber Leiden und Genießen werden notwendig von einer Logik getragen – oder von einer Patho-Logik, weit entfernt von jeder Medizin – einer Logik des Übermaßes, an deren Ende sie sich schließlich kreuzen und daher immer weiter abstoßen. Punkt der Kreuzung, nicht des (logischen oder dialektischen) Widerspruchs, sondern des Zusammenziehens, Einziehens und Anziehens. Die Verpuffung, in der Leiden genießen und Genuss leiden kann. Möchte es nicht, verS. Freud, Schriften aus dem Nachlass (Ges. Werke 17), Frankfurt/M., Fischer 1941, 152; vgl. dazu J. Derrida, Le toucher, 57 ff., als Leitfaden seiner gesamten Analyse zum Berühren.

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suche es gar nicht, diesen Punkt des Bruchs zu berühren: denn ich würde tatsächlich zerbrechen.« 78 Ist nach dieser Ableitung das Außen nur eine Projektion, dann muss natürlich eine innere, rein psychische Ausdehnung in Rechnung gestellt werden. Und falls es sich dabei nicht bloß um einen anthropologischen Psychologismus handelt, den Kant ablehnt, dann wäre trotz aller begrifflichen Schwierigkeiten die innere Ausrichtung auf die Räumlichkeit des Raumes hin entweder ein ins Außen versetztes Inneres oder – radikaler – die Außenheit im Inneren, welche jeder Projektion widersteht und dennoch nicht aufhört, die Effekte der Projektion überall zu ermöglichen. Der »psychische Apparat« Freuds kann in diesem Zusammenhang sowohl als psychische Ausdehnung verstanden werden, mithin als ein psychisches Leben, oder als eine rein topologische Struktur im Sinne seiner Metapsychologie. Schwierig zu denken bleibt nach Nancy in beiden Fällen eine Projektion dort, wo es noch keinerlei Raum gibt; es sei denn, man versteht eben das »Anstatt« bei Freud (das Anstatt des Kantischen Schematismus) als eine transzendental psychoanalytische Ästhetik, wodurch das öfters angesprochene Dilemma von Empirismus/Transzendentalismus innerhalb der Postmoderne aufgehoben werden soll. Dem entspricht im Übrigen bei Nancy die Korrelation von Kultur/Tod, anstatt die Ästhetik auf die Feier oder Steigerung des absolut phänomenologischen Lebens zu beziehen: »Die Kultur im Allgemeinen – alle menschliche Kultur – öffnet die Beziehung zum Tod, die durch den Tod geöffnete Beziehung. Ohne den Tod gäbe es keine Beziehung, sondern lediglich eine universelle Adhärenz, eine Kohärenz und eine Koaleszenz, eine Gerinnung von allem (eine für neues Keimen immer belebende Verwesung). Ohne den Tod gäbe es ausschließlich Kontakt, unmittelbare Nachbarschaft und Ansteckung, krebsartige Verbreitung des Lebens, das folglich auch nicht mehr das Leben wäre – oder aber nur Leben, nicht Existenz, nur ein Leben, das nicht zugleich auch 78 Noli me tangere, 70. Oder ebd., 11: »Dies ist kein religiöses Mysterium, sondern die eigentliche Bedingung der Rezeptivität, der Sensibilität und des Sinnes im Allgemeinen. Die Worte ›göttlich‹ oder ›heilig‹ können womöglich niemals etwas anderes bezeichnet haben als eben diese Passivität oder diese Passion, die jede Art von Sinn einführt: sinnig, sensibel oder sinnlich.« Nancy rührt also durchaus an den Übergang zur reinen Passibilität wie in der Lebensphänomenologie, aber deren Subsumierung unter den »Sinn« (als Fraktur, Ausdehnung etc.) verhindert auch hier eine weitere phänomenologische Radikalisierung diesseits der De-Konstruktion als selbstaffektver Einheit von Freude/Leid.

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anastasis wäre. Der Tod öffnet die Beziehung, das heißt die Teilung des Fortgangs (partage du départ). Jeder kommt und geht ziel- und endlos, unentwegt. Selbst was sich als das Ziel und Ende präsentiert, offenbart sich als endlos.« 79 Dieser Lebensbegriff erhebt sich kaum über einen empirisch-biologischen, und die Negativität, die ihn (in einer gewissen Nachfolge Hegels, aber auch Batailles) durchzieht, stilisiert den »Tod« zum »Eigentlichen« (wie schon bei Heidegger), anstatt dem proto-relationalen Leben der reinen Phänomenalisierung die effektive Möglichkeit jeglicher Bezüglichkeit zuzuerkennen, was allerdings auch einen kritischeren Umgang mit den Begriffen »Existenz« und »Sinn« als Synonyme für »aufschließende Dekonstruktion« erfordern würde. Genau diese kulturelle Verbindung von Psychoanalyse, Dissemination und entsprechend fraktaler Kommunikation finde sich als philosophische Voraussetzung des postmodernen Lebensgefühls heute, so dass zu fragen bleibt, ob die reine Sinnlichkeit Kants in ihrer empirischen Nicht-Sinnlichkeit oder Nicht-Leiblichkeit nicht genau einer solchen Transzendentalität nahekomme, welche als apriorische Ästhetik nichts berührt – am wenigsten die innere Subjektivität? Denn die reine Ausdehnung ist mithin nur im Geist oder im Gemüt gegeben, ohne dass ein sinnlicher Gegenstand gegeben sein muss. Was nämlich diese transzendentale Ästhetik vom Gegenstand apriorisch gibt, sind nur Kategorien des Verstandes wie Substanz, Kraft, Teilbarkeit, während die empirische Anschauung Ausdehnung und Gestalt gibt – Undurchdringlichkeit, Härte oder Festigkeit und Farbe jedoch von der Sinnlichkeit stammen. Wird aber die Ausdehnung von keinem Körpersinn erreicht, ohne in der Anschauung als sinnliches Material der Empfindung fehlen zu können, so ergibt sich hier ein empirischer Realismus innerhalb der transzendentalen Idealität. Als transzendentaler oder psychologistischer Subjektivismus (Kant/ Freud) entsteht folglich ein Bündnis zwischen Empirismus und Transzendentalismus, welches in seiner Endlichkeit alle Interpretationen und Vereinnahmungen des Sinnlichen – hier besonders des Berührens – umfasst, das heißt die unendliche Hermeneutik des Berührens vom Begehren, vom Trieb, vom eigenen Leib aus. In der Übersteigerung dieser Verschränkung von Transzendentalismus/Empirismus als eines absoluten Realismus, der weder dem einen noch dem anderen einseitig nachgibt, sondern beide de-kon79

Ebd., 59 f.

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struiert, eröffnet sich auf diesem Wege jene bei Nancy durchgehend analysierte Einberaumung des Raumes, wo das Berühren »sich« berühre, ohne »etwas« zu berühren. Dass Berühren und Nicht-Berühren sich berühren, und zwar als oszillierende Grenze, beleuchtet rückblickend nochmals Aristoteles. Denn wenn schon nach ihm kein Lebewesen leben kann, ohne seine Umgebung und seine Nahrung zu berühren, so darf dennoch diese Berührung in ihrer Intensität nicht zu stark sein, weil sonst Verletzung und Tod eintreten. 80 Die Grenze ist mithin zugleich Maß, welches das Leben vor dem Exzess des Berührens/Berührtwerdens zurückhält, mit anderen Worten ein apriorisches Verbot in das Erleben des Berührens und Betastens selbst einschreibt: »Berühre mich (es, sie, ihn) nicht!« Die Unberührbarkeit als (ethische, spirituelle) Enthaltsamkeit scheint also am Anfang jeglichen Berührens zu stehen und bestärkt die idealisierende Tendenz einer christlich »haptologisch« motivierten (eucharistischen) Universalkultur: »Die Unmöglichkeit der christlichen Liebe könnte derselben Ordnung entstammen wie die Unmöglichkeit der ›Auferstehung‹. Ihre gemeinsame Wahrheit bestünde aus dieser Unmöglichkeit selbst: nicht in dem Sinne, das irgendein mal psychologisches, mal biologisches Wunder das Unmögliche in Mögliches umkehren müsste, sondern in dem Sinn, dass man sich an der Stätte der Unmöglichkeit halten muss, ohne es in Mögliches zu verkehren und ohne seine Notwendigkeit in eine spekulative oder mystische Ressource zu verkehren.« 81 Ist damit jedoch die reduktiv originäre Erfahrung meiner selbst in jedem Erleben getroffen, und wovon gerade die lebensmystische Erprobung in ihrem phänomenologischen Eigenwesen zeugt? Denn immer schon bin ich vom absoluten oder »göttlichen Leben« so berührt oder radikal affiziert, dass nicht nur jede Grenze, Ausdehnung, Räumlichkeit usw. zwischen mir und dem Leben aufgehoben ist, sonVgl. Über die Seele, Kap. 12 (434 a 25 ff.). Noli me tangere, 69. Dass Liebe nicht irgendein »Unmögliches« bedeutet, sondern die Verwirklichung der immemoriablen Wahrheit selbst, gerät so bei Nancy ebenfalls nicht in den Blick – um in einer Art heroischer Geste des Ausgehaltenseins (Ek-sistenz, Selbstaufhebung etc.) stehen zu bleiben, was nicht ohne Grund wiederum an Batailles Dialektik von Verbot/Verausgabung im Bereich der Ökonomie und Subjektivität (Erotik) erinnert. Alle dort genannten Elemente aus seinem Denken finden sich bei Nancy wieder, so vor allem auch das Lachen als das letzte Sinn-»Opfer« angesichts der Fragmentierung der Vernunft, welche nur als eigene Leidenschaft oder Begehren trotz dieser Situation über-leben kann.

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dern diese Selbstgebung des »göttlichen Lebens« als dessen innerste Selbstberührung in mir erfolgt auch dergestalt, dass die Frage »auf Leben und Tod« des Berührens bereits beantwortet ist. Das absolute Leben kann sich von dem in mir selbst-affektiv berührten Leben, von der ursprünglichen Subjektivität oder Ge-Gegebenheit unserer reinen Passibilität, nicht mehr zurückziehen, so dass die Frage des Todes nicht mit der des Lebens ohne weiteres parallelisiert zu werden vermag. 82 Dass auch Eros nach Nancy nur durch eine Psyche verführt sein soll, die sich ausgedehnt-sterbend nicht in ihrem »Ich« selbst berührt, ist dann eine leicht verständliche Folge – soll doch das Ich dekonstruktivistisch dem Anderen nur dort dargeboten, ex-poniert werden, wo es sich den Händen, den Augen, dem Mund des Anderen entzieht. In solchem Raum der indifferenten Ex-Position kann in der Tat keine wirkliche Begegnung stattfinden, weil die eigentliche Gemeinschaftlichkeit nur unsichtbar dort sich ereignet, wo sich die »Liebe Gottes« zu sich selbst ereignet, das heißt im gemeinsamen Leben der absoluten Berührung als transzendentaler Geburt (Ipseität) wo ich auch jedem »Anderen« in seiner prinzipiellen Möglichkeit als absolut Lebendigem begegne, ohne seine Singularität jemals aufheben zu können. 83 Man kann der differe(ä)ntiellen Lektüre des Berührens in deren Dekonstruktion bei Derrida wie Nancy durchaus zugute halten, dass sie über die Dif-fere(ä)nz als Phänomen der Endlichkeit und Vielheit zu den unausweichbaren Fragen von Tod, Eros, Ich, Nichts und damit auch der Leiblichkeit an sich verstößt. 84 Aber Tod bedeutet hier in einer dialektischen oder eben disseminierenden Umkehr zugleich ein Geborenwerden; jedoch nicht als meine unzerstörbare Geburt im rein phänomenologischen (göttlichen) Leben, sondern als definitiv fixierter Sinnaufschaub. Denn jeder Sinn vermag als naive oder philosophische Vorstellungshervorbringung nichts anderes zu sein als die Trauerarbeit, den Tod in solcher Re-Präsentation entfernt zu halten, um auf diese Weise im Nicht-Vorgestelltsein des Todes zu ek-sistieren, das heißt wie bei Lacan in der jeweiligen Zäsur der Aus-Deh82 Vgl. R. Kühn, Gabe als Leib in Christentum und Phänomenologie, Würzburg, Echter 2004, 97 ff. 83 Vgl. M. Maesschalck, Transformations de l’éthique. De la phénoménologie radicale au pragmatisme social, Brüssel, Peter Lang 2010,163–185. 84 Vgl. S. Jütte, »Nancy, Derrida und das Sprechen; Erwägungen zu einer Ethik des Verschiedenen«, in: F. Rass, A. S. Horn u. M. U. Braunschweig (Hg.), Entzug des Göttlichen, 137–149.

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Jacques Derrida und Jean-Luc Nancy: Dekonstruktion als »Fraktur«

nung, die mich tragisch zerreißt. Bei aller Dekonstruktion solcher Verneinung des Todes durch seine In-Korporation als je wieder aufgehobenen Sinn selbst impliziert solches Berühren konsequent den Einschluss des Todes in das Leben, wie wir sahen, denn was im Berühren gegenwärtig, bzw. sogar als Nahrung einverleibt wird, ist jene Weise, wie die Welt sich berührt. Indem die Welt sich berührt, da sie sich als Effekt ent-faltet, gibt es nicht nur keine Innerlichkeit (welche die Geburt im Leben als reine »Gottabkünftigkeit« besagt), sondern der Sinn selbst der Welt ist, dass sie keinen Sinn hat. Parallel zur Projektion der Ausdehnung als Gesetz der Psyche, des Lebens, des Ich usw., oder besser gleichzeitig damit, gibt es im Sinne einer solchen Dekonstruktion nur eine Welt als Nicht-Welt. Denn diese Ent-Kosmisierung wendet sich als Dekonstruktion schon seit Heideggers »Welten der Welt« gegen jede Welt im Sinne biblisch-christlicher Schöpfung. Was uns in diesem Zusammenhang an einer solchen »Dechristianisierung der Welt« als wichtig festzustellen bleibt, besteht im aufgehobenen Verhältnis zu einer heimischen Welt, die im dekonstruktiven Verständnis nur eine Fraktur, sogar nur eine »fraktale archetektonische Katastrophe« für die Schöpfung bescheinigen kann: »dass das Zur-Welt-Kommen eine ununterdrückbare Abstoßung/Verwerfung ist, das, was Körper heißt […], fortan Sinn heißt. Der Sinn der Welt der Körper ist das Ohne-Grenzen, das Ohne-Vorbehalte, das gesicherte Extrem des extra partes.« 85 Wir halten dieses de-konstruktiv begriffliche Zusammentreffen von Welt, Schöpfung und Sinn daher nicht für zufällig, denn durch die Verneinung eines originären (eucharistischen) Berührtseins der Psyche oder unseres Leibes im Leben selbst bleibt auch die Welt ohne Ursprung, das heißt ohne Prinzip und Ziel. Und die Kinetik der Exponierung als ständiger Effekt der Ver-Räumlichung ergibt eine Welt, die sich nicht mehr selbst zusammenhalten kann, weil ein innerer Ursprung (»Schöpfer«) ihr fehlt. Folglich ist sie eine Welt als NichtWelt, wo die un-endliche Homogenisierung der ver-räumlichten Körper solcher Welt nicht mehr möglich ist, sondern das absolute Herausversetzen dieser Körper aus sich selbst heraus vorherrscht. Hier spricht kein trivialer Atheismus und Agnostizismus von Sinn und Wert mehr, sondern eine reflektierte »a-theologische« PhänomenoLogie der Welt, die deren überall herrschende Differe(ä)nz zugleich J.-L. Nancy, Corpus, 95; als Gegenentwurf vgl. R. Kühn, Natur und Leben. Entwurf einer aisthetischen Proto-Kosmologie, Freiburg/München, Alber 2011.

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als universale Wahrheit der (»göttlichen«) Indifferenz und Abwesenheit auslegt, in welcher in der Tat niemand wirklich etwas zum Anderen sagen kann – letztlich noch nicht einmal irgendein Wort möglich wäre, welches wirkliches Hören, Berührtsein voraussetzt. Eine solche »Schöpfung« der Welt als bloße Differänz (différance), wenn man Derridas Begriff für Nancys »Abstoßung« hier verwenden darf, bedeutet als unsere »Geburt«, als unser Auf-die-Welt-Kommen, das äußerste und ausschließliche Gesetz extra partes, die Welt als ihre eigene Verunmöglichung, worauf die »Dekonstruktion des Christentums« hinauslaufen soll, um das Christentum selber (post-)postmodern mit solchem Vorgang zu identifzieren, welcher zugleich Ende wie Zukunft des Okzidents darstellen soll: »Wie bereits angekündigt, ist das Christentum gewissermaßen in sich selbst wesentlich die Bewegung seiner eigenen Distention, denn es repräsentiert die Konstitution eines Subjekts als Öffnung und als Selbst-Distention. Man muss dann selbstverständlich hinzufügen, dass die Dekonstruktion, die nur vermittels dieser Distention möglich ist, selbst christlich ist. Sie ist christlich, weil das Christentum vom Ursprung her schon dekonstruiert, da es sich von Vornherein auf seinen eigenen Ursprung als ein Spiel, ein Intervall, ein Schlagen oder Pulsieren, eine Öffnung im Ursprung bezieht.« 86 Wenn dies der Sinn unserer Welt ist, dann ist er stets ein »in diesem und in einem anderen Sinne«, wie unsere Sprache selbst für jeden Sinn hinzufügen kann – jener zuvor genannte Tod der Vorstellung, welcher zu immer neuer Aus-Setzung des Sinnes in jener leiblich-seelisch-körperlichen Aus-Dehnung zwingt, welche nie irgendeine Identität im Berühren zu kennen vermag. Es ist eine bewusst gewollte Welt des onto-logischen, religiösen wie ästhetischen IrrSinns. Mit anderen Worten eine Welt als je nur augenblickhaftes Ereignis, wo jeder kulturelle Anspruch ein ständiger Tod ist, eine Auflösung jedes »Dies da« als Hoc est enim…, welches sich mit unserem leiblichen Empfinden ankündigt, um aufgehoben werden zu müssen, da die Möglichkeit einer bleibenden Hineinnahme der Welt in ein selbst-affiziertes Erleben von »Dies ist« sofort in die Fraktur des Ef-

Dekonstruktion des Christentums, 253, was unterstreicht, dass Nancy nur einen (hermeneutisch) geschichtlichen oder ereigishaften »Ursprung« des Christentums kennt, aber kein ewig-anfängliches Johanneisches Christentum wie etwa auch Fichte; vgl. ebd., 57. sowie R. Kühn, Lebensmystik, Kap, II,5: »Fichtes Mystik des ewigen Wortes als ›Fleisch‹ des Daseins«.

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fekts hinabstürzt. So wie diese Dekonstruktion jedoch trotz allem immer noch dem »Sinn« (idealistisch) verbunden bleibt, indem sie ihn auflöst und als ihre strukturelle Hauptkategorie seit den frühen Werken Nancys beibehält, 87 kann sie auch nur deshalb in der Welt tatsächlich wirken, weil trotz aller Gebrochenheit und Fiktion als Schein und Trugbild gegebener Erscheinung stets noch ein lebendiges Hervorbringen stattfindet. Weil die in Anspruch genommene Dekonstruktion nur einen von uns schon festgehaltenen Monismus des Erscheines kennt (das Außen in seiner überall vorherrschenden EntÄußerung als Ver-Räumlichung), kommt jedes »Dies ist«, jeder Text, alle Kultur, das (eucharistische) Christentum insgesamt, damit unter den Verdacht des Zweifels zu stehen, der im schon zitierten (atheistischen) »Nihilismus« der Sinnaufhebung als Sinnerfüllung endet: »So ist also bestätigt, dass der Monotheismus die zweite Möglichkeitsbedingung des (A-)Theismus konstituiert haben wird. Die Einzigkeit […] verschiebt oder konvertiert die Göttlichkeit vielmehr: Aus dem, was eine gegenwärtige Macht oder Person war, macht sie ein Prinzip, eine Gründung und/oder ein Gesetz; per Definition stets abwesend oder in den Grund des Seins entzogen. Deus absconditus – sozusagen ein ›Gott‹, der in das ›Eine‹ die Integralität seines numen zurückzieht, so dass er darin tendenziell dieses nomen ›Gott‹ auflöst, das noch nie ein göttlicher Name gewesen ist!« 88

87 Vgl. Le sens du monde, 18: »Der Sinn ist strukturiert als Welt. […] Welt heißt seinzu- (être-à), es heißt Beziehung, Verhältnis, Adressieren, Gebung, Darstellen zu/an/ für (à),« Sowie ebd., 98: »Es gibt ganz einfach keine Herkunft des Sinns. Er präsentiert sich, das ist alles.« Hiermit steht Nancy in der Nachfolge Merleau-Pontys und dessen Phänomenalisierungsverständnis als être-au-monde (zur-Welt-sein), das heißt, die ontologische Grundstruktur verschiebt sich nicht nur vom Sein zum Sinn, sondern auch der Körper/Leib (corps) wird das »Sein der Existenz« als geschichtliche Verortung des Sinns, womit der Begriff corps weder den biologischen Körper meint noch den subjektiv-phänomenologischen oder intentionalen Leib, sondern eben die dargestellte »Verräumlichung« (espacement) gemäß dem zweifachen Sinn von sens im Französischen: Sinn und Richtung. Entsprechend kann Existenz auch als körperliche Aussetzung erlebt und gedacht werden, mithin als je gegebene (Sinn-)Richtung mit deren plural-fragmentierten Überlagerungen, worin auch Heideggers Fundamentalontologie der »Verweisungszusammenhänge« (Entwurf, Woraufhin, Vorgriff, Sorge, etc.) sowie Sartres Existenzverständnis (Situation) weiterwirkt. 88 Dekonstruktion des Christentums, 37 f.; dazu ebenfalls M.-E. Morin, »Towards a Divine Atheism: Jean-Luc Nancy’s Deconstruction of Monotheism and the Passage of the Last God«, in: Symposium. Canadien Journal of Continental Philosophy 15 (2011) 29–48.

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Das Apriori des Außen in der »Dekonstruktion des Christentums« nach Nancy

Zerbricht mithin alles Berühren als Begrifflichkeit im Sinne der Identität, dann bleibt nur die Rhetorik eines fiktiv Figürlichen ohne weiteren ontologischen Kredit, weil sowohl die sinnliche wie transzendentale Gegenwärtigung durch eine fraktale Einbildungskraft an der oszillierenden Grenze des Vorstellbaren allein ihre eigene Erfahrung als Rand und Überborden der Zerbrochenheit kennt. Alles Erscheinen gehorcht somit der Figürlichkeit im Sinne der in sich zusammenstürzenden Einbildung, wodurch die Bedeutung des Berührens und Berührtseins dergestalt zerstreut wird, dass die Sinnlichkeit der Gegenwärtigung jedes »Erhabenen innerhalb der Einbildung sowie in dieser Erfahrung einer zerbrechenden Bestrebung«, das heißt einer Synkope im Sinne der genannten Ich-Ohnmacht, gehorcht. 89 Dieser kritisch gemeinte Begriff der Synkope für die Berührung der Grenze als problematisches Sich-Berühren, indem die Grenze des Unberührbaren berührt wird, ohne eine wirkliche Berührung zu sein, entspricht letztlich der Dekonstruktion des abendländischen Denkens überhaupt als des schon erwähnten Intuitionismus, anders gesagt der Unmittelbarkeit jeder als (eucharistisch) anwesend gedachten Gegebenheit (»Erhabenheit«). Die konstruktive »Logik« der pluralen Singularitäten ist dementsprechend ein solches In-die-GegenwartGelangen, ohne dass sie die Gegenwart in deren Anwesenheit jemals als Wesen derselben gäbe. Das Berühren als Fraktur der Erfahrung oder Erscheinung wird damit zu einem Ursprung ohne Ziel, bzw. ist die Finalität als Telos eine Form des Anderen im doppelten Sinne der Andersheit wie des »Nächsten«, wie es zum Schluss noch zu verstehen gilt. Der Ursprung wird eigentlich nicht ver-fehlt, sondern man findet sich diesem aus-geliefert, ex-poniert. Weil der Ursprung deshalb kein anderes Etwas ist, kein aliud, kann er an sich auch weder verfehlt noch sich zu eigen gemacht werden, denn er ist »die plurale Singularität des Seins des Seienden«. Infolgedessen berühren wir hierbei das, was uns zum »Wir« macht, zum »Mit der Ko-Existenz«. 90 J.-L. Nancy, Une pensée finie, Paris, Galilée 1990, 179; vgl. auch Dekonstruktion des Christentums, 144: »Doch diese Synkope, die der Körper ist – und er ist sie in einer einzigen Haltung, gespannt zwischen einem Geburtsschrei und einem Todesseufzer, Haltung, die sich in einer einzigartigen Phrasierung moduliert, die Rede ›eines Lebens‹ –, sie ist nicht einfach ein Verlust: Diese Synkope ist, wie die Musik ein Schlag: sie fügt zusammen (syn–), indem sie zerschneidet (kope). Sie fügt den Körper mit sich selbst zusammen und die Körper untereinander. Synkope von Erscheinen und Verschwinden. Synkope von Aussage und Sinn, ist sie auch Synkope des Begehrens.« 90 J.-L. Nancy, Être singulier pluriel, 32 f.; dazu Th. Bedorf, »Das Geschlossene und 89

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Jacques Derrida und Jean-Luc Nancy: Dekonstruktion als »Fraktur«

Indem die dekonstruktivistische Logik der Ursprünglichkeit diese in irgendeiner Form gegebene Anwesenheit ablehnt, wird sie mit anderen Worten zum pluralen Berühren des singulären Ursprungs – zum Zugang des auseinander getretenen Ursprungs. Was beispielsweise in der Literatur sowie in den Künsten nach dieser Lesart anzieht und fraktal berührt, beruht im Kon-Takt des Mit, in der Gemeinschaft mit sich und Anderen als dem ko-existentiellen Sein des Gegebenen. Man kommt an dieser Stelle nicht umhin zu fragen, warum dann überhaupt noch der allgemeinste und umfassendste Namen für alles gebraucht wird, was »ist«, nämlich das Sein, wenn es nur im AbStand oder Auf-Brechen bestehen soll? Man kann sich ebenfalls fragen, ob hinter der »Ausgesetztheit« an einen solch pluralen Ursprung nicht doch noch eine äußerste (abendländische oder metaphysische) Figur der Aneignung untergründig in jenem Verlangen mitgegeben ist, welche das begehrende Denken des Berührens selbst ausmacht? Der Grundzug bleibt allerdings, wie ausgeführt wurde, die Kritik der christlich-idealistischen Tradition von Platon bis Husserl – jene als monolithischer Block wahrgenommne Geschichte unseres Denkens, welche es seit Lyotard und Derrida zu dekonstruieren gilt, ohne sich zu fragen, ob denn nicht eine eigene (ideo-logische) Konstruktion unkritisch vorausliege? Das Mitsein des Ursprungs ist jedenfalls für Nancy keine originäre Gemeinschaftlichkeit, die jedem »Mit« als lebendiges »Wir« vorhergehen muss, um sich darin wiederzuerkennen. Es ist keine Gemeinschaftlichkeit, in der wir ohne jede fraktale Differenz zuerst und vor allem transzendental Lebendige sind, sondern eine Gemeinsamkeit am Rande des Berührens, das heißt ein im geteilten Zugang geteilter Ursprung. Dieses Mitsein an der Grenze wie auf der Grenze enthält damit einen quasi-apriorischen Status als eine »originäre Verräumlichung ohne Verschmelzung noch Identifikation oder direkte Kontiguität«. Dieser Abweis einer Phänomenologie der Unmittelbarkeit tritt schließlich als das »unbezwingbare Prinzip der disseminierenden Teilbarkeit« auf, als »unaufhörliches Verlangen des das Offene. Jean-Luc Nancys Dekonstruktion des Christentums und die politische KoExistenz«, in: E Reinmuth (Hg.), Politische Horizonte des Neuen Testaments, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2010, 164–180; O. Marchart, Die politische Differenz. Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben, Berlin, Diaphanes 2010; Ph. Stoellger, »Mit-Teilung und Mit-Sein – Gemeinschaft aus ›Neigung‹ zum Anderen. Zu Nancys Dekonstruktion der Gemeinschaft«, in: E. Bippus, J. Hüber u. D. Richter (Hg.), »Mit-Sein«. Gemeinschaft – ontologische und politische Perspektivierung, Berlin – New York, De Gruyter 2011, 45–63.

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Das Apriori des Außen in der »Dekonstruktion des Christentums« nach Nancy

Intervalls der Verräumlichung, der Außenheit« in jedem Augenblick selbst, in dem irgendeine Berührung vermeint oder behauptet wird. 91 Damit ist das postmoderne Prinzip bei Nancy in aller Deutlichkeit festgeschrieben, wobei wir ausgehend von Derrida versuchten, jene dekonstruktivistische Logik darzustellen, die darin besteht, Berühren und Berührtsein als radikale Außenheit an sich zu bestimmen, ohne jemals zu bedenken, dass auch das kleinste Intervall ohne eine origiär fortbestehende Lebendigkeit (Potenzialität) in uns nicht gegeben sein könnte. Zu sagen, es existiere nur die Fraktur als geteiltes Mit-Sein, betrifft ohne Zweifel die Anschauung oder Vorstellung, jedoch keineswegs, was diese jeweils im Vollzug konkret ermöglicht. Es geht eben nicht nur darum, das Berühren im Blick zurückzubehalten (in-tueri), um dann daraus eine Idealisierung der Erfahrung als Theo-(Ego-)Ontologie oder christliche Metaphysik abzuleiten. Denn sowohl im Vollzug des Blickes wie des Berührens wirkt eine phänomenologische Wirklichkeit des Er-Lebens als Passibilität, welche weder die Vision nach das Haptische transzendental favorisiert, sondern es wird dadurch die gemeinsame, praktisch originäre Affektabilität in jeglicher Sinnlichkeit herausgestellt. 92 Der »blinde Fleck« des Auges, wo dieses scheinbar das Gegebene berührt, bleibt natürlich eine Differe(ä)nz und ist keine vollkommen intuitionierte Gegenwart der Erfüllung des Geschauten. Aber die apriorisch angenommene Distanz selbst als bei- wie zurückgehaltene Differe(ä)nz für jegliches Erscheinen gründet sich nicht durch sich selbst, wenn Auge und Hand etwas »berühren« – sie ist selbst im theoretischen Blick der Differe(ä)nz J. Derrida, Le toucher, 137; vgl. J.-L. Nancy, Dekonstruktion des Christentums, 268 f., mit Blick auf eine auch interstellar sich ausbreitende Welt als Nicht-»Kosmos«: »Die Entfaltung der Welt muss in ihrer Radikalität gedacht werden: nicht mehr eine Entfaltung vor dem Hintergrund einer gegebenen Welt, nicht einmal eines gegebenen Schöpfers, sondern die Entfaltung der Entfaltung selbst und die Verräumlichung des Raumes selbst. […] Ein neuer Aufbruch der Schöpfung: nichts, das abrückt und Platz macht oder etwas Statt gibt. […] Weder Stätten noch Himmel noch Götter: im Moment ist es die allgemeine Aufschließung (déclosion), mehr noch als die Entfaltung (éclosion). Die Aufschließung als Ent-Schließung: Abbau und Auseinandernehmen des Geschlossenen, der Umschließungen (enclos), der Geschlossenheiten. Dekonstruktion des Eigentums, des Eigentums des Menschen und der Welt.« 92 Vgl. schon M. Henry, Philosophie et phénoménologie du corps. Essai sur l’ontologie biranienne, Paris, PUF 1965, bes. Teil III: »Le mouvement et le sentir« (S. 107– 148). Es ist im Übrigen bezeichnend, dass weder Derrida noch Nancy die Immanenzanalysen zur Selbstaffektion des Leibes/Fleisches von Henry für ihre Diskussion aufgreifen. 91

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gehalten. Anders gesagt, setzt die fraktale Differe(ä)nz sich hierbei in ihrem eigenen Diskurs selbst voraus, um sich als Dif-fere(ä)nz in der einzelnen Erscheinung de-konstruktivistisch wiedererkennen zu lassen. Die Sprache unterstreicht ebenfalls diese Differe(ä)nz, da sie nicht selber den sinnlichen Inhalt schafft, das heißt ein affektiv impressionales »Dies«. Aber ich kann sie nicht gegen diese unmittelbare Gegebenheit ausspielen, weil die Sprache nur äußere Referenz ist, im besten Fall die Er-Öffnung von Welt selbst, keineswegs jedoch das phänomenologisch Wirkliche als solches in seiner lebendigen Gegebenheit. 93 Die dekonstruktivistische Vorstellung hinter der intuitionistischen Haptologie als »Präsenzmetaphysik« entspricht daher einem letzten Paralogismus. 94 Denn wodurch weiß ich eigentlich, dass mein Begehren überhaupt ein Begehren ist? Indem ich es benenne – oder indem ich es als solches in meiner reinen Sinnlichkeit erprobe, mithin in einer Affektivität, welche sich in dieser passiblen Modalität selbst ergreift, das heißt sich immanent lebendig begründet? Die gesamte philosophische Tradition von Platon bis Husserl und darüber hinaus vermag mir kein ursprüngliches Begehren über ihre Analyse anzudemonstrieren, und ein anderes ist es, dieses ursprüngliche Pathos dann mit der noematischen Finalität in der Außenheit der Vorstellung zu verbinden. Die Auseinandersetzung mit dem Dekonstruktivismus hinsichtlich einer »lebensmystischen« Existenz läuft folglich darauf hinaus, dass für das (eucharistische) Pathos des Berührtseins keine Kontinuität des Erfahrens im Sinne einer Unmittelbarkeit der Nähe oder des Absoluten im Bereich der Intuition als Anschauung wie Vorstellung zu fordern ist. Vielmehr ist eine Immanenz des Begehrens oder des Affekts phänomenologisch gegeben, der in sich beVgl. M. Henry, Inkarnation, Kap. 5: »Das Kriterium der Sprache. Entscheidender Vorsprung und Grenzen der phänomenologischen Sprachdeutung« (S. 73–77). 94 Es wird darin sichtbar, dass hier Denken nur als »Transzendenz« gefasst wird, gleichzeitig aber auch das Herz einschließen soll, wodurch das Begehren ebenfalls religiös einseitig dem Denken der Intentionalität und Existenz unterworfen wird; vgl. J.-L. Nancy, Dekonstruktion des Christentums, 22: »[Das Denken] vermag eben dies zu denken: Es gibt etwas, das sein Denkvermögen übersteigt. Anders gesagt, das Denken (das heißt nicht nur der Intellekt allein, sondern auch das Herz, die Forderung oder der Anspruch selbst) kann denken – und kann nicht nicht denken –, dass es ein Hinausschießen über sich selbst denkt. Es durchdringt das Undurchdringliche, oder es wird viel mehr von ihm durchdrungen.« Der Rückbezug auf den »ontologischen Gottesbeweis« bei Anselm von Canterbury ist hierbei offenkundig und wird kurz ebd., 21, thematisiert. 93

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reits »selbstoffenbarend« ist, bevor die Aporien irgendeiner äußeren (singulären) Einheit oder (pluralen) Vielheit aufbrechen, bzw. auch der klassische Dualismus von Immanenz/Transzendenz, da »Immanenz« hier eine radikal andere Phänomenalisierungsweise als die Differe(ä)nz bezeichnet – und keinen ontischen Gegensatz von Innnen/ Außen. 95 Natürlich teilen wir an der Grenze des Pluralen als ebenso unterschiedlichen wie gemeinsamen Erfahrungen einen für jeden Einzelnen anders »auf-brechenden« Sinn, aber von dieser »Teilung des Teilens« (partage) her auf den ausschließlichen Wert der ursprünglichen Kluft als Auseinander des extra partes zu schließen, kommt einem Vergessen unserer unmittelbar lebendigen Selbstheit (Ipseität) gleich. Diese vermag von sich nur eine Differe(ä)nz dann zu behaupten, indem sie sich in den Raum der Sichtbarkeit ent-wirft. Synkope, Teilung, topographischer Leib des Vielfältigen sind und bleiben Ergebnisse für ein Bewusstsein oder Denken, welches seine eigene Distanz als frakturiertes Bewusstseinsfeld zum allgemeinen Erscheinensgesetz erhebt, aber in diesem Für-Sich es selbst in seinem ursprünglich lebendigen In-Sich bleibt, um das »Für« der Differe(ä)nz vollzugsmäßig überhaupt (er)fassen zu können. 96 Wie jede Philosophie kann auch die dekonstruktivistische Denkweise nicht umhin, ein allgemeines Gesetz für Welt und Existenz am Ende zu formulieren – jenes der Ausdehnung oder fraktalen AußenVgl. auch S. Laoureux, L’immanence à la limite. Recherches sur la phénoménologie de Michel Henry, Paris, Cerf 2005, 113 ff. u. 197 ff., zur Auseinandersetzunng mit dem postmodernen Differe(ä)nzdenken. 96 Vgl. Dekonstruktion des Christentums, 144: »Begehren ist nicht melancholisches Suchen nach einem fehlenden Objekt. Es ist Spannung hin zu dem, was nicht Objekt ist: nämlich die Synkope selbst, insofern sie im anderen Statt hat und ›eigen‹ nur ist, indem sie im anderen und vom anderen ist. Doch der andere ist der andere Körper nur insofern, als dieser in seinem Abstand zu meinem Körper an den Abstand selbst rühren lässt, an den Körper, der auf die synkopierte Wahrheit hin offen ist.« – Hier ist wiederum der schon zuvor angedeutete Bezug zu Jacques Lacan und dessen Unterscheidung von Objektrepräsentanz/Realem deutlich gegeben; vgl. Dekonstruktion des Christentums, 216 f.: »›Genieße-spüre‹ (jouis-sens), wie Lacan sagt, doch muss man durchaus vernehmen, dass das Genießen stets Sache des Sinnes ist, in jedem Sinne und in allen Sinnen. Genießen ist stets sinnlich spüren, und weil spüren immer auch darin besteht, sich spüren zu spüren, und also eine Alteration und eine Alterität voraussetzt, so ist genießen, sich von anderen her und im anderen spüren.« Nancy spielt hier wie Lacan mit dem phonetisch gleichen Wortlaut von jouissance (Genuss) und jouis-sens (genieße-spüre); dieses sprachliche Mittel ersetzt oft bei ihm eine radikal phänomenologische Analyse, wie sie auch hier in Bezug auf den Charakter der Selbstaffektion in jedem Empfinden (sentir/se sentir) angezeigt wäre. 95

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heit als Arealität nämlich. Die Zukunft wird dadurch zu einem sowohl globalen wie lokalen Nähersein, wo eine techné des Anderen als Nächstem, und nicht mehr als das genannte Gesetz von Transzendenz/Immanenz und deren vermittelnder Dialektisierung herrsche. Das (der) Nächste ist das (der) An-Kommende auf den Rändern der Grenze der Erfahrung; was sich im »Hier« lokalisiert, um sich darin zu entfernen, so dass Schöpfung, »Christentum« (Religion) und Kunst allein unsere Welt heute bezeichnen, und zwar als revidierte Begrifflichkeit des »Berührens« im Sinne der Leiber als »Spuren der Arealität«. Denn an deren überbordenden Rändern werden wir zusammen ex-poniert, ohne in irgendeinem einzelnen oder allgemeinen »Subjekt« noch vorausgesetzt oder orientiert zu sein. Ex-poniert Leib an Leib, Rand an Rand; berührt als ver-räumlicht, nahe ohne gemeinsame Aufnahme in ein (christlich-eucharistisches) Absolutes oder Universales, sondern (technisch) nur existierend mit dem »Zwischen-Uns« unserer Spuren partes extra partes. Mithin als das Außen im Innen, als die Kluft in der Berührung des Kon-Takts. Eine solche »Spur« ist der Um-Weg des Sinnes ohne jede Nähe und Anwesenheit, anders gesagt ein ge-teilter Sinn im angesprochenen doppelten Verständnis solcher »Teil-ung« als Trennung und Gemeinschaftlichkeit des Mit-Seins im Kon-Takt. Ohne Reinheit der einzelnen leiblichen Sinne, ohne umfassende Kunst, Ethik und Religion, sondern als ein In-der-Welt-Sein durch die Zerstreuung der kurzen Berührungen wie ein »Pinselstrich« (touche), wie ein hervor-brechendes Lachen – durch einen gewissen Tod jedes Mal: »Das Ende der Welten kehrt uns im Hinausschwung unserer Welt wieder – das Ende, oder aber das absolute Mysterium der Verräumlichung selbst, gemäß dem sich eine ›Welt‹ findet, Mysterium dieser Aufschließung, der keinerlei Umschließung des Seins vorausgeht, sondern durch die das Nicht-Sein aufgeschlossen wird. Durch sie findet sich in der Welt anderes als ein einzelner Punkt ohne Dimension, verabgründet in seiner eigenen Nichtigkeit.« 97 All diese Analysen zur Auflösung der Einheit von Welt und Schöpfung sowie von Okzident und Christentum durchzieht mithin in postmoderner Hinsicht der offen bekundete Anspruch Nancys, diese Entwicklung zugleich als »Aufschließung/Entschließung« (déclosion) im Sinne eines neuen »A-Theismus« zu durchdenken, der weder christlich noch atheistisch dem herkömmlichen Verständnis 97

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Das Apriori des Außen in der »Dekonstruktion des Christentums« nach Nancy

nach ist, sondern eher als eine »A-Theologie« wie bei Blanchot, Bataille und Deleuze auftritt. Er besagt einerseits die strenge Trennung von Glaube/Gläubigkeit und andererseits das philosophische Denken als einen Akt, dessen Intentionalität sich nicht mehr auf eine Einheit oder Abschließbarkeit des Unendlichen als metaphysisches Prinzip richten kann, sondern auf dessen de-konstruktive Zusammengehörigkeit von Monotheismus/Atheismus, welcher dem geschichtlichen Judentum wie Christentum (aber auch Islam) konstitutiv voraus liegen soll: »Das ›Eine‹ des ›Gottes‹ ist durchaus nicht die substanzielle, präsente und ist nicht selbst vereinte EINZIGKEIT. Im Gegenteil, die Einzigkeit und Einheit dieses ›Gottes‹ (oder die Göttlichkeit dieses ›Einen‹) bestehen genau darin, dass das EINE nicht als in sich selbst vereint gesetzt, präsentiert oder figuriert werden kann. Ob im Exil und in der Diaspora, ob in der Menschwerdung und in einer Dreieinigkeit […], dieser ›Gott‹ (und worin ist er göttlich? Wie ist er es? das muss man denken) schließt seine eigene Präsentation – und man müsste sogar sagen: seine eigene Geltung als Wert wie als Präsenz – absolut aus.« 98 Schon bei Derrida wurde jedes abendländische Präsenzdenken seinem Anspruch nach aufgelöst, wie wir zu Beginn zeigten, um hier bei Nancy der Religion des »Christentums« eine Zukunft dadurch zu wahren, dass sie die anstehende globalisierte oder ökotechnische Zukunft nicht länger ideologisch, rituell oder politisch-theologisch irgendwie noch vereinheitlichen will. »Gott« wird also nur direkt verneint, insofern er philosophisch oder theologisch »sein« soll, aber er wird nicht prinzipiell verkannt, insoweit das Denken gar nicht anders kann, als in einem Akt des de-konstruktiven »Glaubens«, welcher keine dogmatischen Inhalte mehr kenne, die stetige Aufhebung Gottes als Ineinanderfallen mit der epochal anti-metaphysischen Sinnentleerung zu wollen. Wie bei Heidegger 99 wäre mithin ein solches »An-Denken« durchaus a-theologisch »fromm« zu nennen, und Nancy glaubt sich dabei in Übereinstimmung mit »den großen MysEbd., 67; vgl. dazu S. Berg, »Autodestruktion des Christentums? Eine formallogische Auseinandersetzung mit Jean-Luc Nancy«, in: F. Rass, A. S. Horn u. M. U. Braunschweig (Hg.), Entzug des Göttlichen, 17–37; F. Rass, »Die Anwesenheit des Abwesenden, Zur Frage des Movens einer Dekonstruktion des Christentums«, ebd., 150–160; G. M. Hoff, Ein anderer Atheismus. Spiritualität ohne Gott? Regensburg, Pustet 2015, hier bes. 103–113. 99 Ihm ist der Beitrag »Von einem göttlichen Wink zum kommenden (oder letzten) Gott« gewidmet; vgl. Dekonstruktion des Christentums, 79–106. 98

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Jacques Derrida und Jean-Luc Nancy: Dekonstruktion als »Fraktur«

tikern, den großen Glaubenden, den großen ›Spirituellen‹ der drei Monotheismen«, wodurch er sich nicht nur weiterhin »Gespräche und Auseinandersetzungen mit den Philosophen« erhofft, sondern die Einlösung ihres »ethos oder ihrer praxis« als kommende Aufgabe. 100 Diese letztere Übereinstimmung mit »lebensmystischen« Termini, wie wir sie gleichfalls für das Ungenannte in der Postmoderne vorschlugen, kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die genannten Mystiker, Glaubenden und Spirituellen (gerade auch, wo sie dem apophatisch »de-konstruktiven« Weg verpflichtet waren) trotz der begrifflichen Aufhebungen für den eigentlichen »Namen« (Prädikate) Gottes eine »Präsenz« desselben kannten, die mit ihrem eigenen Leben zusammenfiel. 101 Gerade dies kann Nancy nicht anerkennen, insofern seine dekonstruktiv-phänomenologische Analyse von Seele, Leiblichkeit, Affekt und Begehren als originärer Selbstgegebenheit des »Menschen« nur deren jeweilige »Ausgedehntheit« oder »Fraktur« kennt. Sein kritisches Religionsdenken bleibt damit formal oder strukturell im postmodernen Sinne, da es einen »Ort« offener Selbstauflösung für Gott und Glauben einberaumen möchte, in der sich deren substanzloses »Wesen« verwirklichen soll, 102 so dass auch die Rede von einem »inkarnierten Gott« nur zur Bestätigung des »entzogenen Gottes« in der Gestalt Christi führt. Natürlich kann sich Nancy hierbei auf den Kenosis-Gedanken, den Deus absconditus oder Meister Eckharts überwesentlichen »ledigen Gott« berufen; er vergisst jedoch dabei, dass damit die »Gottheit« keineswegs geleugnet oder aufgehoben ist, wie er meint: »Da, wohin [Gott] zurückgezogen ist, gibt es weder Grund noch Versteck. Es ist der Gott, dessen Abwesenheit eigentlich die Göttlichkeit ausmacht oder der Gott, dessen Leere an Göttlichkeit seine eigentliche Wirklichkeit ist.« 103 Und in einem kurzen Beitrag zur Menschwerdung Christi mit dem Titel »Verbum caro factum«, 104 wo im Grunde das Thema der Abwesenheit Gottes nur über den Leib variiert wird, schreibt er: »Die Atheologie Vgl. ebd., 67. Vgl. für eine solche Analyse R. Kühn, Lebensmystik, Kapitel I,2: »Ungeteiltheit und Immanenz bei Meister Eckhart«. 102 Vgl. F. Schiefen, »Von der Öffnung und Selbstüberschreitung des Christentums – Annäherung an die dekonstruktive Rede vom transimmanenten Sinn«, in: F. Rass, A. S. Horn u. M. U. Braunschweig (Hg.), Entzug des Göttlichen, 38–50. 103 Dekonstruktion des Christentums, 59. 104 Vgl. ebd., 141–146. 100 101

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Das Apriori des Außen in der »Dekonstruktion des Christentums« nach Nancy

als Denken des Leibes [Christi als »Fleisch geworden«] wird also Denken dessen sein, dass der ›Gott‹ sich zum ›Leib‹ gemacht hat, insofern er sich seiner selbst entleert hat. […] Der ›Leib‹ wird zum Namen des A-Theischen im Sinne des ›kein Gott‹ (pas-de-Dieu). Doch ›kein Gott‹ bedeutet nicht die unmittelbare Selbstgenügsamkeit des Menschen oder der Welt, sondern vielmehr: keine begründete Präsenz.« Hier könnte der Abstand zum lebens- und leibphänomenologischen Denken Michel Henrys natürlich nicht größer sein, insofern dessen postmoderne Kritik an derselben Tradition abendländischer »Metaphysik der Vorstellung« zu zeigen vermag, dass kein Transzendenz- oder Differe(ä)zdenken ohne eine vorausgesetzte Immanenz auskommt, auch wenn die Welt als umfassende Indifferenz bzw. reine Außenheit dabei im radikal phänomenologischen Sinne bestehen bleibt. 105 Ein Ort kommt Gott wegen der raum-zeitlichen Struktur aller Horizonte in der Tat nicht zu, aber die absolute »Selbstbejahung« Gottes als seine innerste Einheit im Sinne einer sich-selbst-gebenden Wirklichkeit in solcher Selbstgründung ohne jedes mögliche Nichts (Abwesenheit) kann nicht fehlen, ohne die radikal phänomenologische Möglichkeit (Potenzialität) von Erscheinen (Offenbarung) selbst obsolet zu machen. So führt Nancy ohne Zweifel über eine naive Religionskritik – wie etwa politischer Missbrauch durch Gläubigkeit – hinaus, weil er gerade innerhalb der nachrevolutionären französischen Tradition keinem leichtfertigen Laizismus folgt. 106 Aber das ex nihilo des biblischen Schöpfungsberichtes einfach im Sinne des oft zitierten Pascalschen Satzes l’homme dépasse infiniment l’homme deuten zu wollen, führt ausschließlich zu einer denkerischen »Treue in Abwesenheit jeder Zuversicht«. Wir wollen diesem Bemühen seine existentielle Echtheit nicht absprechen, allerdings bleibt in methodologischer Hinsicht zu fragen, ob damit dem Christentum dessen Vgl. »Phänomenologie des Lebens«, in: M. Henry, Affekt und Subjektivität, 16 ff. Vgl. in dieser Hinsicht auch seine Fortsetzung dieser Analyse in L’adoration (Déconstruction du christianisme, 2), Paris, Galilée 2010 (dt. Die Anbetung. Dekonstruktion des Christentums, Berlin, Diaphanes 2012), etwa 14 f.: »[Der Mensch] lernt, dass er sich anders (an)vertrauen muss. Dass er sich anderswo oder anderen vertrauen muss. Sich einem Anderswo zuwenden, dem des ›wahren Lebens‹ von Rimbaud oder anderen. Doch für jede Art von Anderswo, das auf die Wahrheit hin öffnen könnte, hat der Mensch nur Namen, die außer Gebrauch sind: ›Götter‹ oder ›Gott‹, ›Mysterium‹ […]. Alle Namen sind in diesem Zustand [außer Gebrauch]. Unsere Zeit verschiebt oder zerlegt ganze Bedeutungsketten. […] Wir sind in einer Bedeutungsschwebe. […]. Aber es verhält sich immer so mit dem Sinn: Er hat nur statt, indem er in Frage gestellt, ins Spiel gebracht, in eine Krise versetzt wird.« 105 106

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Jacques Derrida und Jean-Luc Nancy: Dekonstruktion als »Fraktur«

Selbstverständnis eines lebendig sich-selbst-offenbarenden Gottes abgesprochen werden kann, das heißt »lebensmystisch« innerhalb seiner innersten Gewissheit oder Affektion zu verbleiben: »Der Atheismus, der nunmehr die okzidentale Struktur bestimmt und ihrem Wissens- und Existenzmodus innewohnt, ist selber das realisierte Christentum.« 107 Hermeneutisch mag dieser Befund eine gewisse geschichtliche Plausibilität heute besitzen, aber radikal phänomenologisch birgt das Christentum (verstanden als die absolut phänomenologische religio in ihrem unzerstörbaren Wesen) einen älteren »Anfang«, nämlich Gottes immanente Wirklichkeit vor aller Zeit, welche nicht selber fragmentiert sein kann wie jeder welthafte Sinn. Damit ist nicht behauptet, dass sich Existenz und Gemeinschaft zu Totalitäten abzuschließen hätten, wie es das historische Christentum öfters als Ziel angestrebt hat, aber die »entwerkte Gemeinschaft« (communauté desœuvre) muss nicht gegen die communio der Glaubenden gestellt werden, welche keine »Schließungsfigur« oder das Phantasma einer Identitätserstarrung ist, sondern gerade jene originäre »Relationalität« oder »Kommunikation« allen Seins in der lebendigen Proto-Relationalität des lebenswirklichen Ursprungs, wie sie Nancy für das soziale Zusammenleben einfordert. 108 Sogar die »Neigung« (inclinaison) des Einen zum Anderen, wie sie als unverlierbar wie unvollendbar von ihm vorausgesetzt wird, dürfte ebenso wenig wie das schon früher genannte Begehren einfach eine empirisch konstatierbare Tatsache sein, sondern in den prinzipiellen Zusammenhang von Leben/Gemeinschaftlichkeit hinabreichen, der gleichursprünglich mit der transzendentalen Geburt eines jeden Individuums ist. Nancy löst letztere im Sinne eines com-paraître auf, wie wir gesehen haben, das heißt hinter dem pluralen MitErscheinen als »Kon-Takt« gibt es keine weiteren Akteure als »Subjekte« oder Personen«, womit zwar das Heideggersche »Mit-Sein« als être singulier pluriel dezidierter einen mehr ontologischen als nur existenzialen Status erhält, aber dies nur um den Preis, dass aus »Präsenz« reine »Ko-Präsenz« wird – oder anders gesagt liegt der Beginn aller Entfaltung im Vielen, und nicht im Einen. 109 In einer solch einDekonstruktion des Christentum, 60. Vgl. zur Diskussion P. Ebert, »Kirche als entwerkte Gemeinschaft«, in: F. Rass, A. S. Horn u. M. U. Braunschweig (Hg.), Entzug des Göttlichen, 100–120. 109 Für diese philosophisch-politischen Konsequenzen vgl. J.-L. Nancy, La Communauté desœuvrée, Paris, Grasset 1983 (dt. Die undarstellbare Gesellschaft, Stuttgart, Metzler 1988); L’expérience de la liberté, Paris, Galilée 1990. 107 108

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Das Apriori des Außen in der »Dekonstruktion des Christentums« nach Nancy

deutig postmodernen Perspektive gibt es nur Singularitäten und eben keine Individualität mehr wie schon bei Deleuze, denn der Ursprung bedeutet die »Unendlichkeit anderer möglicher Ursprünge«; er ist »zugleich infra- bzw. intra-individuell und trans-individuell, und immer beides zusammen«. 110 Es bleibt eine berechtigte Frage, ob eine solche Dekonstruktion der Abwesenheit Gottes und des rein fraktalen Miteinanders nicht gerade jener Globalisierung (mondialisation) weiter in die Hände spielt, die Nancys Analyse der vorgängigen »Verweltlichung« (mondalisation) als »Sinn« des »plural Singulären« an sich kritisch durchleuchten will. 111 Da Nancy trotz allem an den französischen Revolutionsidealen von Brüderlichkeit und Gleichheit in ihrer Fragilität festhält, warf Derrida 112 seiner Philosophie freundschaftlich einen »kommunitären« Ton vor, was heißt, dass beider postmoderner Dekonstruktivismus sich entweder als eine Theorie der Alterität mit ethischem Anruf wie bei Levinas verhält oder eher mit Heidegger die Kontingenz des pluralen Sinns unterstreicht. Die eine wie die andere Möglichkeit sind Folgen eines postulierten nach-metaphysischen Diskurses im Anschluss an Nietzsche, Heidegger, Wittgenstein wie auch Lyotard, Foucault und Deleuze, woraufhin Ontologie und Ethik nicht mehr in einer vorgängigen Einheit des Ursprungs zusammenzudenken wären, mit anderen Worten in einer unmittelbaren Praxis des Sich-Gebens. Diese bleibt kritisch für eine radikal phänomenologische »Lebensmystik« der Immanenz für die Zukunft offen zu halten, ohne eine Metaphysik oder theologia naturalis restaurieren zu müssen, da Ursprung und Unmittelbarkeit keineswegs mit retentional angebbarer »Her-Kunft« identisch sein müssen – jedoch »Präsenz« als immemoriable Ge-Gebenheit nicht ausschließen. Dies soll im folgenden Ausblick zum Verhältnis von Außen/Berühren überprüft werden, um in solchem Grundbezug von Welt/Leben eine absolute Phänomenalisierung plausibel zu machen, welche letztlich keiner De-Konstruktion

Vgl. Être singulier pluriel, 101 u. 133. Vgl. La création du monde ou la mondialisation, 35. Erinnern wir daran, dass der »Sinn des Sinnes« nach Nancy vor aller Bedeutung ist, da er sich ausschließlich fraktal präsentiert, weshalb auch die politische Philosophie »keinen Sinn vermittelt, keine Bedeutung schafft«; vgl. J.-L. Nancy, L’oubli de la philosophie, Paris, Minuit 1986, 95 (dt. Das Vergessen der Philosophie, Wien, Passagen 1987). 112 Vgl. Le toucher, 121; Voyous. Deux essais sur la raison, Paris, Galilée 2003 (dt. Schurken. Zwei Essays über die Vernunft, Frankfurt/M., Suhrkamp 2003), Kap. 4–5. 110 111

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Jacques Derrida und Jean-Luc Nancy: Dekonstruktion als »Fraktur«

mehr unterliegen kann, da Affekt und Leib originär nie als »Sinn« konstruiert sind, sondern in der Gewissheit ihrer praktischen Unmittelbarkeit sich selbst ge-geben werden.

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Ausblick: Wovon wir berührt werden – was wir berühren

Selbst wenn man zugestehen sollte, dass unsere subjektive Leiblichkeit die Welt verfehlen kann, indem sie diese nicht wirklich berührte in den vielfältigen Relationen und Kontakten, welche die Sinne uns ermöglichen, so wäre damit keineswegs die Aufhebung unseres phänomenologisch lebendigen Wesens selbst gegeben. Trotz der Analysen von Merleau-Ponty bis hin zu Nancy ergibt sich nicht notwendiger Weise, das heißt im Sinne einer radikalen Phänomenologie, die postmodern auferlegte Entscheidung zwischen immanenter Selbsterprobung als »Selbstaffektion« und der sichtbar leiblichen Praxis als intentional pluralem Weltbezug. Das Berühren (toucher) ist als transzendentale Erfahrung der immanenten Selbstapperzeption das Berühren eines Unberührbaren, mit anderen Worten ein unsichtbares Können außerhalb von jeder Sichtbarkeit und Feststellbarkeit. Nur in letzterem Bereich des Horizonthaften, dem das »Fraktale« als ständige »Teil-ung« zugehört, gibt es Grenze oder Peripherie, welche das Leitmotiv der Berührungsanalyse vor allem bei Nancy zuletzt bildete. Das ohne Zweifel auch fraktal oder differe(ä)ntiell »Unberührbare« beinhaltet jedoch keineswegs, dass in der immanenten Selbstaffektion keine Berührung zwischen rein phänomenologischem Leben und absoluter Individuierung stattfände, die wir mit Michel Henry auch »gegenseitige Innerlichkeit« genannt haben. Das passible Begehren und das Berührte fallen in der Tat in keiner Horizontalität jemals in eins, so dass hier »gegessen wird, ohne zu essen«, wie schon Derrida 1 prinzipiell in Übereinstimmung mit Lacan bemerkte. Aber das transzendental lebendige Können des Berührens als originär leiblicher Vollzug ist weder an der messbaren noch intelligiblen Ausdehnung im Sinne Descartes und Kants ausgerichtet, so dass die von Nancy postmodern herausgestellte Nicht-Vergleichbarkeit von Raum und Denken auf der Ebene der Ausdehnung als partes extra partes 1

Vgl. Le toucher, Jean-Luc Nancy, Paris, Galilée 2000, 82.

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gerade das Übermaß oder die Übermächtigkeit der subjektiv leiblichen Potenzialität nicht in Frage stellt, sofern sie phänomenologisch älter als das intentionale Bewusstsein ist, welches wir von irgendeinem »Berührten« haben könnten. 2 Dass das Berühren seit Aristoteles’ »De anima« allem Lebendigen zukommt, obliegt daher nicht nur einem empirischen Feststellen, ebenso wenig wie der phänomenologische Sachverhalt, dass Selbstberühren und Weltberühren jeder Art in einem primordial ontologischen Chiasmus als »Widerständigkeit« miteinander verbunden sind, welche letztlich die »Passibilität« als nicht weiter hintergehbare »Lebenspräsenz« (Natur) selbst ausmacht. Wenn J.-L. Nancy seinerseits nun den Abstand als »Ver-räumlichung« zum »absoluten Realismus« erhebt, der »post-dekonstruktiv« nicht aufhebbar sei, 3 dann hält er damit eine transzendentale Erfahrung fest, greift aber nicht tiefer die verbleibende »Lebendigkeit« als ursprünglich transzendentale Faktizität auf, die eben nicht nur in dem begehrenden Versuch der »Distanzverringerung« und damit der »In-Besitz-Nahme« des Anderen in jeder Hinsicht beruht, sondern gerade im vorzeitlichen wie vorräumlichen Vermögen des »Greifen-Könnens« schlechthin. 4 Dieses Vermögen ist originär auch nicht »narzisstisch« oder »kopulativ« (Freud, Lacan, Derrida), weil es nämlich eigenwesentlich zunächst in der Proto-Relation Leben/Lebendigem mit sich selbst zusammenfallen muss, um in dieser transzendental originären Selbstergreifung überhaupt »Kraft« des Berührens sein zu können. Mit anderen Worten ist ein solch ursprüngliches Vermögen in seiner Potenzialität zugleich die abgründige Potenzialisierung durch das rein phänomenologische Leben selbst. In jedem Berühren gibt es daher zuvor ein Berührtwerden durch das Leben als affektiver Immanenz, die dann im Sinne individuellen Ausgreifens als Berührung der Dinge und Anderen ebenfalls eine »Subjektivierung« im postmodernen Sinne impliziert – nämlich als ständig situative Veränderung leiblicher Modalitäten. Diese »Selbstaffektion« nur als Narzissmus oder »Quasi-Masturbation« verstehen

Vgl. ebenfalls hierzu R. Arsenic-Zamfir, Le corps dans la philosophie française contemporaine: Michel Henry et Gilles Deleuze, philos. Diss. Université de Bourgogne (Dijon) 2006, 96 f. 3 Vgl. J. Derrida, Le toucher, 60. 4 Vgl. M. Henry, Können des Lebens. Schlüssel zur radikalen Phänomenologie, Freiburg/München, Alber 2017, 93 ff. 2

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zu wollen, die jede Lust zur Selbsterotik werden lasse, 5 verkennt eben postmodernistisch, dass die originäre Selbstaffektion zunächst ProtoRelation mit dem absolut phänomenologischen Leben ist, wie wir des öfteren diesen maßgeblichen Sachverhalt in den vorhergehenden Kapiteln im Gespräch mit der Dekonstruktion herausgearbeitet haben. In solch ursprünglicher Relation ohne relata eines »Etwas« (Vorstellung) ruht zugleich eine religio und ein ethos, geeint in der Unmittelbarkeit der Lebensmystik, wodurch jedes welthafte Berühren im Verschieben der Grenzen des zu Berührenden immer auch ein transzendentales Berührtsein als unverzichtbare Lebensaffektabilität impliziert. Deshalb verharrt jeder »Kon-Takt« nicht nur bei der »Fraktur« im Sinne Nancys, sondern beinhaltet ebenfalls eine interpathische Transparenz, das heißt eine originäre Gemeinschaftlichkeit der Berührenden/Berührten in ein und derselben Lebensberührung, die als erwähnte Ipseisierung prinzipiell in der Tat nur im Plural existiert. Die postmodern herausgestellte Alterologie oder Pluralität schließt mithin eine vorgängige unverzichtbare Einheit ein, worin wir die Möglichkeit einer verlebendigten Kultur für alle überhaupt erblicken. Wie schon Merleau-Ponty 6 angemessen erkannte, ist das Berühren im Bereich der Weltausdehnung niemals ein vollständiges Berühren, und damit auch nicht Einheit »im Geist« oder auf der Ebene des reflexiven Bewusstseins. Damit ergeben sich durch die Formen der Transgression und der Gewalt ebenfalls jene Arten von »Verletzungen«, die Levinas seinerseits als Grundphänomen der Affektivität herausstellte. Diese pathologische oder gesellschaftlich fehlgeleitete Form gewalttätiger »Aneignung«, sei sie subtil oder brutal, kann letztlich nicht allein normativ verhindert werden, sondern in einer transzendental erneuerten Kultur für alles Lebendige, die das Berühren nicht als solches tabuisiert und vielmehr die Berührung durch das rein phänomenologische Leben darin vorrangig sein lässt, wird eine entsprechend miteinander geteilte »Ethik« ermöglicht. 7 Mit anderen Worten offenbart uns die sowohl sichtbare wie unsichtbare Phänomenalität des Berührens, dass in derselben ein lebendiges Apriori am 5 Vgl. J. Derrida, Le toucher, 51, wobei Lacan ähnlich von einer ständigen narzisstischen »Selbstanbetung« des Leibes spricht, wie sie sich im Empfinden bekunde, um eine phallische Vorstellung an jouissance zu begründen. 6 Vgl. Le Visible et l’Invisible, suivi de notes de travail, Paris, Gallimard 1964, 307 f. 7 Vgl. P. Ziade, Généalogie de la mondialisation. Analyse de la crise identitaire actuelle, Paris, L’Harmattan 2015, 237 ff.

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Werk ist, welches Passibilität und Aktivität originär immer schon gleichursprünglich gegeben sein lässt. Daher ist die postmodern auferlegte Wahl zwischen Immanenz/Transzendenz bzw. Monade/Alterität oder Innerlichkeit/Außen unter der Form von »Differänz« oder »Fraktur« letztlich nicht die alles erklärende Antwort. Diese gipfelt lebensphänomenologisch in der Aufforderung, unser »Fleisch« (chair) einer radikalen Selbstgegebenheit der In-karnation im originären Sinne des Selbsterscheinens des Erscheinens zuzurechnen – und von daher dann die radikal phänomenologische Aufklärung aller Selbstwie Weltverhältnisse zu betreiben. Wenn dieses Fleisch das ursprünglichste »Medium« des Berührens genannt werden kann, wie dies seit Aristoteles’ »De anima« angedacht wurde, 8 so ist damit kein bloß haptisches »Feld« im klassisch phänomenologischen Sinne gemeint, sondern eine vor-ontologische Begrenzung jeder Analogie, die sich über Vorstellung und Begriff betreffs des Berührten (einschließlich »Gottes«) herausbilden kann. Im Unterschied zu den zuletzt dargestellten Analysen von Derrida und Nancy impliziert dies daher nicht nur unendliche Dissemination und Ausdehnung partes extra partes, sondern ein grundsätzlich anderes Verhältnis von Welt/Leben, als es eine »Dekonstruktion des Christentums« bzw. die Postmoderne allgemein zu verstehen geben will. Denn wenn lebensphänomenologisch gesehen die Welt dem Leben immanent ist, dann ist die Leiblichkeit als intentionale Subjektivität im Sinne eines primordialen »Zur-Welt-Seins« (Merleau-Ponty) eben nicht identisch mit dem originären Erscheinen selbst, welches im unvermittelten Selbsterscheinen dieser leiblichen Potenzialisierung innerhalb jeder ephemeren Veränderung als solcher ruht. »Welt« ist in der Tat der Kontingenz solcher intentionalen (und in dieser Hinsicht disseminierenden oder aufschiebenden) Sichtbarkeit als Phänomenalität des Mundanen (Fraktalen) unterworfen, wodurch eine solche Weltanalyse auch als »transzendentale Bedingung des Raumes« im Sinne der »Verräumlichung« (espacement) durchVgl. J.-L. Chrétien, L’appel et la réponse, Paris, Minuit 1992, 109 f. u. 150 f., sowie für den Zusammenhang von Sichtbarem/Berührbarem, besonders in der Malerei als Verhältnis von Auge und Hand, auch G. Deleuze, Francis Bacon. Logique de la sensation, Paris, La Différence 1981, 99 ff. Die Hand als das »Haptische« wird hier zu einer Art »haptischem Auge«, denn der Maler vollzieht ein spezifisches Sehen, welches vom Ertasten (tact) der Leinwand mit dem Pinsel in Bezug auf Linien und Farben abhängig ist. Wir finden ähnliche Analysen sowohl bei Merleau-Ponty wie Henry und Nancy mit Rückgriff auf Cézanne und Kandinsky beispielsweise.

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geführt werden kann. In diesem Sinne ist die Welt dann Entfaltung einer prinzipiellen Distanz, welche als Ausdehnung die Nähe/Ferne wie phänomenale Differe(ä)nz der sichtbaren Erscheinungen für uns ermöglicht. 9 Transzendental welthaft korreliert in diesem Bereich die Endlichkeit des intentionalen Leibes mit der radikalen Außenheit der Welt als Kontingenz aller darin erscheinenden Dinge, Situationen und Ereignisse. Deshalb dekliniert sich in solcher Perspektive alles Sein durchaus als »plural« (Levinas, Nancy), aber dieses ursprüngliche Verhältnis des Seins zu seinem Erscheinen ruht in einer ermöglichenden Rückbindung an die immanent gegebene Leibpraxis als Affektabilität, Passibilität oder Potenzialisierung in der absolut phänomenologischen Lebensselbstgegebenheit. Letztere ermöglicht erst all diese Transzendenzvollzüge als Chiasmus, Intensität, Differänz oder Fraktur bzw. auch Sprache, Riss und Synkope, ohne selbst als apriorische Hervorbringungsphänomenalität in die Sichtbarkeit und Zeitlichkeit einzutreten. In diesem letzteren, grundlegenden Sinne ist das rein phänomenologische Leben als Selbstaffektion »nicht von der Welt«, sondern »im Anfang« (Joh 1,1), ohne jedoch irgendwie die Welt dadurch gnostisch abzuwehren oder ontologisch zu entwerten. 10 Die Gegenreduktion von Welt und damit verbundenem Berühren öffnet folglich in einem ursprünglichen Sinne zum prinzipiell leibbestimmten Zugang der Welt »im Fleisch« überhaupt hin, denn diese originäre Leiblichkeit als potenzialisierende Lebendigkeit ist das eigentlich Ontologische des Ego zur Welt hin, und zwar als jene konkrete Transzendentalität, welche keine Analogie der Erkenntnis (als »Sinn« oder »Ab-Sinn«) weiterhin benötigt, um sich Welt primär in subjektiver Praxis zu erschließen. Diese Subjektivität »lebt« vielmehr unmittelbar in einer »Lebens-Welt«, die sich selbstaffektiv in der »Selbsterprobung« desselben Subjektiven als »Medium« (Fleisch) im Vgl. M. Henry, L’essence de la manifestaion, Paris, PUF 1963, 76 ff. (dt. Das Wesen des In-Erscheinung-Tretens, Freiburg/München, Alber 2018, § 9); Affekt und Subjektivität. Lebensphänomenologische Beiträge zur Psychologie und zum Wesen des Menschen, Freiburg/München, Alber 2005, 16 f. 10 Eine entsprechende Kritik unter anderem bei M. Enders, Postmoderne, Christentum und Neue Religiosität. Studien zum Verhältnis zwischen postmodernem, christlichem und neureligiösem Denken, Hamburg, Verlag Dr. Kovač 2010, 164 ff., wobei die metaphysischen Voraussetzungen nicht der phänomenologischen Radikaliserung der Fragestellung gerecht werden, sofern sie auf einem »ontologischen Realismus« basieren. 9

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Sinne einer »Selbstoffenbarung« vollzieht. Dies heißt, die rein phänomenologische Offenbarung ist unmittelbare Selbstoffenbarung jener leiblich-sinnlichen bzw. affektiv-begehrenden Kräfte, durch deren Selbst-Gegebenheit sich Welt überhaupt erst herausbilden und entfalten kann. Die »Lebens-Welt« aus dieser Sicht subjektiver Praxis muss also als immanentes »Lebens-Wissen« die unsrige sein, 11 bevor wir über Wahrnehmung, Vorstellung und Begriff dieselbe Welt bewusstseinsmäßig in unserer Anschauung uns (re-)präsentieren. Indem unser Leib sich immer schon in sich selbst als »Selbst-Berührung« erkannt hat, erkennt dieser Leib auch »Welt« als Korrelat seiner sinnlichen Kraftentfaltung, wozu ebenfalls Bedürfen und Trieb (»Unbewusstes«) gehören. Alles, was uns als »Welt« zu affizieren vermag, ist daher als »Fremdaffektion« transzendental nur möglich, weil solches »Berühren« durch »Anderes« zum originären Leben als solchem gehört, welches uns als seine Ipseisierung schon immer zuvor berührt hat. Jegliche berührbare Sichtbarkeit in der Weltaußenheit bezieht somit ihre Konsistenz wie Intensität (Deleuze) aus der Immanenz des Lebens, so dass mit allem Sichbaren stets auch ein Unsichtbares mitgegeben ist. 12 Aus diesem Grund musste die postmoderne Analyse der Welt als »Differe(ä)nzereignis« von Wahrnehmung (Sinn) und Begriff (Diskurs) in den vorhergehenden Kapiteln keineswegs geleugnet werden, denn auch lebensphänomenologisch betrachtet ist die Welt als »Außenheit« des fraktalen »Ins-Außen-Kommen« derselben das letztlich zeitliche »Außer-Sich« (Heidegger) schlechthin. Was wir in Frage stellen, war die einseitig post-strukturalistische Konsequenz hieraus, denn wenn ebenfalls die Welt im Pathos des Lebens ruht, so muss gerade die radikal phänomenologische Heterogenität oder Duplizität (Henry) dieser beiden Phänomenalisierungsweisen berücksichtigt werden. Denn sie entsprechen sich dann nicht als identische Erscheinensweisen, insofern der ontologische »Chiasmus« von Welt/Leben nur dieses Leben als ein »Absolutes« im rein phänomenologischen Sinne aufweisen lässt, während die Welt und ihre phänomenalen Horizonte und Gehalte diesen Anspruch an keiner Stelle erheben können. Dies hat zwei weitere prinzipielle Implikationen, dass nämlich Vgl. F. Seyler, Eine Ethik der Affektivität: Die Lebensphänomenologie Michel Henrys, Freiburg/München, Alber 2010, 91 ff. 12 Vgl. M. Henry, Die Barbarei. Eine phänomenologische Kulturkritik, Freiburg/ München, Alber 1994, 165 ff. 11

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einerseits der leiblich-subjektive Selbstbezug in der Einheit des Lebens als Ipseisierung kein Solipsismus (Monade) ist, sondern zugleich stets Relation mit der Differenz (Welt), ohne die Einheit (in) der Immanenz aufheben zu müssen. Diese Einheit ist, letztlich vom Begehren (Trieb, »Unbewussten des Lebens«) her gesehen, dann kein totalisierendes Eine als Sinnidentität, welche in den Bereich des Phantasmas gehört (Lacan). Vielmehr handelt es sich um eine rein praktische Einheit des subjektiv-lebendigen Vollzuges, der niemals von seiner Quelle getrennt zu sein vermag, ohne diese ins Spiegelbild des Narzissmus mit dessen ihm eigener Ich-Vorstellung als »IdealIch« wie »Ich-Ideal« (Freud) verlagern zu müssen. Aus diesem Grundverhältnis heraus lassen sich weitere Konsequenzen ableiten, die für das Gespräch mit der Postmoderne heute zusätzlich entscheidend bleiben. Denn wenn auch die Konvergenz von Welt und Leben in der subjektiven Praxis unmittelbar gegeben ist, so schließt dies als dritten Gesichtspunkt nicht aus, dass die Welt als Außenheit nicht nur die Differenz aller erscheinenden Gehalte in ihr bedeutet, sondern fundamentaler noch eine prinzipielle Indifferenz allem Erscheinenden gegenüber manifestiert. Das heißt, die Welt als solche kann keinem ihrer Gehalte die Existenz (Realität) verleihen, so dass das »Außer-Sich« der Welt als Differe(ä)nz, Distanz oder Verräumlichung dieses Außen stets auch eine Entwirklichung beinhaltet. 13 Diese notwendige Unterscheidung zwischen unsichtbarer und sichtbarer Wirklichkeit besagt folglich eine ontologische »Dürftigkeit« der letzteren als »Nicht-Schöpfung«, während alles Lebendige (Selbstaffektive) niemals vom Wesen des Lebens als Hervorbringungsmacht getrennt ist. Die Tragik bzw. Melancholie in der Postmoderne seit Heidegger, es gäbe einen ereignishaften »Entzug« des Seins, des Subjektiven oder des Göttlichen, 14 ist also letztlich nicht fundiert, auch wenn natürlich die »Unsichtbarkeit des Lebens« selbst bis zur scheinbaren »Selbstverneinung« des Lebens reichen kann, falls dem Blick alles entzogen wird, was über die Vorstellung als »Leben« bis dahin angesehen wurde. Dass diese Leere dennoch 13 Vgl. M. Henry, Affekt und Subjektivität, 17 f.; Inkarnation. Eine Philosophie des Fleisches, Freiburg/München, Alber 2002, 66 ff. 14 Vgl. zur Deutung des Zimzum in der Kabbala als Rückzug Gottes in Verbindung mit dem von Luther angedeuteten bzw. von Nietzsche angekündigten »Tod Gottes« auch A. O’Byrne, »The God Between«, in: A. Alexandrova u. a. (Hg.), Re-treating Religion. Deconstructin Christianity with Jean-Luc Nancy, New York, University Press 2012, 215–228.

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originäre Fülle bleibt, haben wir dem postmodernen Diskurs selbst strukturell entnehmen können, insoweit seine Hinweise auf Intensität, Begehren, Lust (jouissance), Spur, Mystisches etc. Anzeichen für ein solch ab-gründig »Reales« (Lacan) sind. 15 Unterstrichen wird dies ebenfalls durch das postmoderne Pathos, die Welt als reines Außen im Sinne eines Selbstentwurfs zu verstehen, der innerweltlich ohne jede Wiederkehr immer nur je neu ein Überschreiten darstellt, nämlich als »Verschwendung« oder »Sich-Verbrauchen« (Bataille). Dadurch wird das Leben in solcher Perspektive selbst die reinste Erfahrung solcher Grenze als Außen, das durch nichts substituiert werden soll, nachdem der »tote Gott« uns diese Leerstelle ohne weitere Transzendenz hinterlassen hat (Foucault). 16 Außenheit als Differenz, Indifferenz und Entwirklichung im Sinne eines jeglichen sich im Welthoizont Zeigenden impliziert jedoch letztlich eine strukturelle Neutralität oder Anonymität, welche bei Nancy den Namen der »Ausstoßung« oder »Entsperrung« (déclosion) tragen, das heißt den Verzicht auf jeden Überwindungsgestus des Außen als Leerstelle. Aber die phänomenologische bzw. dekonstruktive Berechtigung einer solchen empirisch-transzendentalen Weltanalyse darf eben nicht verkennen lassen, dass das absolut phänomenologische Leben als Immanenz, Selbstaffektion und Ursprung bzw. Hervorbringungsmacht keine Trennung und damit auch keinen Wirklichkeitsverlust in sich kennt. Die Berührung mit der Welt aus der vorgängigen Selbstberührung des Lebens mit sich selbst heraus zu apperzipieren oder zu erproben, bedeutet dann nicht nur einen anderen Stellenwert der Leiblichkeit, die demzufolge nicht länger nur »fraktal« sein kann, sondern ebenfalls eine Umkehr der kulturellen Verhältnisse, ob sie nun Gesellschaft, Ökonomie, Ästhetik, Ethik oder Religion betreffen. Denn in diesen Bereichen bleibt die Neutralität als Entzug und Differe(ä)nz zugunsten einer von allen geteilten Auf solchem Hintergrund sind unsere beiden vorhergehenden Veröffentlichungen als dieselbe Analyse von zwei verschiedenen Disziplinausgängen her zu versehen; vgl. R. Kühn, Der therapeutische Akt. Seine Singularität in Bezug auf Wissen und Wahrheit in lebensphänomenologischer und Lacan’scher Perspektive, Freiburg/München, Alber 2018; Lebensmystik. Ursprüngliche Erfahrungseinheit von Religion und Ethik im Spiegel »Philosophischer Mystik«, Dresden, Text & Dialog 2018. 16 Vgl. K. Ruhstorfer, »Die Erfahrung des Außen. Zum Beginn Foucaultschen Denkens«, in: B. Goebel u. F. Suarez-Müller (Hg.), Kritik der postmodernen Vernunft. Über Derrida, Foucault und andere zeitgenössische Denker, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2007, 77–96, hier 90 f. 15

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Lebensunmittelbarkeit zu verändern, die dem prinzipiell subjektiven Empfinden eines solch immanenten Berührtseins bei den Individuen entgegenkommt, ohne alte oder neue Totalitätsverhältnisse im Sinne bloß vorgestellter – und damit virtuell gewalttätiger – Einheit zu restaurieren. Auf diese letztere Gefahr hat die Postmoderne mit Recht überdeutlich aufmerksam gemacht, so dass mit ihrem Gewinn eine neue kulturelle Phase eingeleitet werden kann, die »Präsenz« eben nicht mehr mit ideologisch oder dogmatisch definierten Inhalten verwechselt sowie auch die »Pluralität« als je transzendentale Ipseisierung ohne weitere äußere Bedingung wahrnimmt und fördert. 17 Als Post-Postmoderne zeichnen sich zur Zeit neue Tendenzen ab, welche die »radikale Pluralität« des Postmodernismus als so genannte »Beliebigkeit« und gleichzeitig universalem Anspruch insofern ablehnen, als auf das ethische Dilemma hingewiesen wird, die Postmoderne könne von ihrem Ansatz her die individuellen Gewissensfragen wie gesellschaftlichen Normansprüche nicht lösen. Denn ohne gewisse moralische Werte sei nicht ausgeschlossen, dass sich die größten zeitgeschichtlichen Katastrophen der Moderne wie Auschwitz wiederholten. Terroranschläge, Finanzkrise sowie arabischer Frühling haben sicher unter anderem zu dieser Neubesinnung beigetragen, die auch der Aufklärung und deren Vernunftanspruch wieder eine Bedeutung zumisst, um der Postmoderne die gesellschaftliche Notwendigkeit von Erinnerung, Ethik und Identitätsstiftung entgegenzuhalten, 18 wodurch gleichfalls eine erneut aufgefundene Solidarität zum Gegenpol des gegenwärtig vorherrschenden Individualismus würde. In der Tat hat es beispielsweise auch die postmoderne Architektur nicht vermocht, neben international herausragenden Einzelprojekten die Städte und Megapolen zu sanieren, weshalb die Vgl. für den Zusammenhang von transzendentaler Reduktion und Aufmerksamkeit hinsichtlich solch konkreter Ipseisierung bei jedem nochmals R. Kühn, Subjektive Praxis und Geschichte. Phänomenologie politischer Aktualität, Freiburg/München, Alber 2008, 415–453. 18 Vgl. P. Kemper (Hg.), Postmoderne oder Der Kampf um die Zukunft, Die Kontroverse in Wissenschaft, Kunst und Gesellschaft, Frankfurt/M., Fischer 1988; H. Kopp u. W. Seppmann (Hg.), Gescheiterte Moderne? Zur Ideologiekritik des Postmodernismus, Essen, Neue Impulse 2002; M. Maffesoli, L’instant éternel. Le retour du tragique dans les sociétés postmodernes, Paris, Grasset 22003; A. Giddens, Konsequenzen der Postmoderne, Frankfurt/M., Suhrkamp 2010, der die »Ausbettung« (disembedding) der Individuen aus der gesellschaftlichen Trägersymbolik unterstreicht. Außerdem Th. Fuchs, L. Iwer u. S. Micali (Hg.), Das überforderte Subjekt. Zeitdiagnosen einer beschleunigten Gesellschaft, Franfurt/M., Suhrkamp 2018. 17

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Restaurierung ehemals zerstörter Gebäude wie etwa der Frauenkirche in Dresden dem Anliegen vieler Menschen entgegenkommt, mit einstigen Traditionen und Erinnerungen wieder anknüpfen zu können. 19 Klare normative Instanzen wie neue sinnstiftende Merkmale werden nach der Postmoderne ebenfalls angesichts der Herausforderung virulent, ob Kriege geführt werden dürfen, um Völkermorde zu verhindern, bzw. ob dem Kapitalismus noch etwas Anderes entgegengesetzt werden kann, um die Diskrepanz zwischen Arm und Reich in den westlichen Gesellschaften sowie weltweit zu verändern. Auf der anderen Seite wird sich die Pluralität der Ideen und Meinungen sicher noch weiter in politischer, gesellschaftlicher und (inter-)religiöser Hinsicht ausdifferenzieren, aber diese post-postmodern zu erwartende – und teilweise schon eingetretene – voranschreitende Pluralität wird bescheidender sein als die vorhergehende. Sich nämlich nicht mehr als alleiniger Deutungsanspruch diesseits von Wahr und Falsch zu präsentieren, sondern eher neu gestellte normative und moralische Fragen zuzulassen und herauszubilden, die auch die Wiederaufnahme von Bezügen zu früheren Überzeugungen nicht länger scheuen, wovon Fundamentalismus, Links- und Rechtsradikalismus allerdings gefährliche Entwicklungen darstellen. Einige Aspekte der hier kurz angeführten Kritik durch die Post-Postmoderne wurden im Übrigen teilweise schon von einzelnen Vertretern der Postmoderne selbst vorgetragen, so wenn Foucault 20 etwa schrieb, dass man »möglichst nahe« an der Frage nach der »Beschaffenheit und Genese der Vernunft« bleiben solle, »die wir benutzen«, damit eine gewisse Akzeptanz einer »Drehtür der Rationalität« gegeben sei, um nicht Irrationalitäten wie auch jene des Rassismus oder Sozialdarwinismus wieder verstärkt zum Zuge kommen zu lassen. Ebenso wurde schon zu Zeiten der Postmoderne solche Einwände gegen sie erhoben, die zum Beispiel von Seiten der Naturwissenschaften kamen, insoweit ihre Beobachtungen zur Beschreibung von

19 Vgl. G. Fischer u. a. (Hg.), Abschied von der Postmoderne, Wiesbaden, VS Verlag 1987, 7–24: »Über den komplizierten Weg zu einer nachfunktionalistischen Architektur«; R. Kühn, Ästhetische Existenz heute. Zum Verhältnis von Leben und Kunst, Freiburg/München, Alber 2007, 75–140: »Orte«. 20 »Raum, Wissen und Macht«, in: Schriften IV, Frankfurt/M., Suhrkamp 1982, 333 f.; ähnlich »Was ist Aufklärung?«, in: E. Erdmann u. a. (Hg.), Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung, Frankfurt/M., Fischer 1990, 35–54.

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»objektiver Realität« gut begründet blieben. 21 Von politischer Seite und durch die Kritische Theorie wurde auf das Defizit aufmerksam gemacht, das Emanzipationsideal der Moderne zu gering einzuschätzen (wie zum Beispiel beim Feminismus) und eigentlich nur die dem Kapitalismus internen Widersprüche zu ästhetisieren, wobei ebenfalls die Auffassung einer »irreduziblen Pluralität« grundsätzlich in Frage gestellt wurde. 22 Daneben traten ab Ende der 1980er Jahre schon andere Thesen zur Zeitdiagnose in den Vordergrund, wie etwa diejenige vom »Ende der Geschichte« aufgrund des digital realisierten universalen Finanzmarktes bei Francis Fukuyama, 23 während Umberto Eco gleichzeitig versuchte, den Begriff der Postmoderne als bestimmte Epochenbezeichnung aufzuheben und darin eher ein allgemein künstlerisches Streben zu erblicken, dass in jeder Geschichtsperiode aufbrechen könne. 24 Die post-postmodernen Einwände treten indes insofern radikaler auf, indem sie die Eindimensionalität der Postmoderne und die Illegitimität ihres als allgemein ausgegebenen Methodenanspruchs von gleichberechtigt nebeneinander existierenden Perspektiven grundsätzlich neu problematisieren. Dies impliziert im Gegensatz zu Lyotards Hauptthese vom »Ende der Metaerzählungen« und einem rational nicht zu schlichtenden »Widerstreit« zwischen den unterschiedlichen Sprachspielen, dass ganz neue Narrative durchaus möglich erscheinen und nicht nur die Rekombination, Collage, Montage etc. (insbesondere in Musik und Kunst) von postmodern dekonstruierten Elementen bedeuten. 25 Vielmehr könnten diese neuen DiskurVgl. T. Eagleton, The Illusions of Postmodernisme, Oxford, Blackwell 1996; J. Bricmont, Eleganter Unsinn. Wie die Denker der Postmoderne die Wissenschaften missbrauchen, München, Beck 1999. Philosophisch wurde eine ähnliche Kritik dann besonders in Italien unter dem Leitgedanken eines »Neuen Realismus« bzw. »starken Denkens« vorgetragen; vgl. M. Ferraris, »Politik und Philosophie von der Postmoderne zum Neuen Realismus«, in: Chr. Riedweg (Hg.), Nach der Postmoderne. Aktuelle Debatten zu Kunst, Philosophie und Gesellschaft, Basel, Schwabe 2014, 61–82. 22 Vgl. R. Kurz, Die Welt als Wille und Design. Postmoderne Lifestyle-Linke und die Ästhetisierung der Krise, Berlin, Tiamat 1999; S. Zenklusen, Abschied von der These der »pluralsten« aller Welten, Berlin, WVB 2007; H. Keupp, Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identität in der Spätmoderne, Reinbek, Rowohlt 52013. 23 Vgl. Das Ende der Geschichte, München, Fischer 1992; ebenfalls H. von Fabeck, Jenseits der Geschichte. Zur Dialektik der Posthistoire, München, Beck 2007. 24 Vgl. Nachschrift zum Namen de Rose, München, dtv 1994. 25 Für eine systematische Reflexion über den Zusammenhang von Konstruktion, Interpretation und Realität vgl. ebenfalls H. J. Wendel, Moderner Relativismus. Zur Kritik antirealistischer Sichtweisen des Erkenntnisproblems, Tübingen, Mohr 1990; 21

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se über die drei »Metaerzählungen« von Aufklärung, Idealismus und Historismus gemäß Lyotard hinaus wirkliche Innovationen darstellen. Indem in der Tat die Postmoderne über den Begriff von Begehren, Trieb und Lust selbst eine neue Offenheit für subjektiv individuelle Affektivität und Emotionalität entstehen ließ, um auch damit verbundene andere Lebensformen zu ermöglichen, kann nunmehr grundsätzlich überlegt werden, ob der radikal phänomenologische Lebensbegriff nicht gerade diese Entwicklung in Richtung eines neuen Lebensgefühls lenken kann, wo Wirklichkeit und immanente Ansprüche des Lebens keineswegs als »Beliebigkeit« auseinanderfallen, aber auch nicht nur neue post-postmoderne Festschreibungen von moralischen Imperativen heraufbeschwören. Dann wäre die aktuelle Phase zwischen Postmodernismus und Post-Postmoderne der Neubeginn einer effektiv andersartigen Kulturation, die über die Dichotomie von Tradition/Aufklärung hinausführt, um eine transzendentale Grundbesinnung einzuleiten, welche Leben als jenes Wirkliche erprobt, das weder dekonstruiert noch über Repräsentation eingefangen zu werden vermag, ohne sich dadurch dem inneren Anspruch der Lebensimmanenz als ethos und religio zu entziehen. 26 Wenn nun die Post-Postmoderne wieder auf Tradition und moralische Imperative zurückgreifen will, um Normen und Werte des Zusammenlebens zu ermöglichen, dann ergibt sich allerdings die Frage, ob sie damit nicht hinter etwas zurückfällt, was Postmoderne und Lebensphänomenologie herausstellen konnten, dass nämlich eine epochal kulturelle Neubesinnung nicht an der Frage des subjektiven G. Abel, Interpretationswelten. Gegenwartsphilosophie jenseits von Essentialismus und Relativismus. Frankfurt/M., Suhrkamp 1993; E. Angehrn, »Jenseits der Postmoderne – Zwischen Neuem Realismus und Hermeneutik«, in: Chr. Riedweg (Hg.), Nach der Postmoderne, 83–96, der Nietzsches Satz aufgreift: »Tatsachen gibt es nicht, nur Interpretationen«. – Somit ist der Dekonstruktivismus sicher eine Folge der radikalen Historisierung jeglicher Wahrheit, die sich im deutschen Sprachraum auch bei Marquard, Blumenberg oder Sloterdijk findet, ohne letztere im engeren Sinne zu den postmodernen Autoren zu zählen. »Metaphern« oder »Sphären« übernehmen für die beiden Letztgenannten die geschichtliche bzw. psycho-soziale Funktion einer Beruhigung des »Sicherheitsbedürfnisses« des Menschen, auch wenn alle Wahrheit nur als Interpretation bzw. Konsens auftritt, ohne jedoch auf bloße Energieströme zufälliger Natur wie bei Deleuze oder Foucault etwa in der Nachfolge des Freudschen Unbewussten reduziert zu werden. 26 Vgl. R. Kühn, Lebensethos. Inkarnatorische Konkretionen originärer Lebensreligion, Dresden, Text & Dialog 2017, hier bes. 189 ff.; ebenfalls P. L. Berger, Altäre der Moderne. Religion in pluralistischen Gesellschaften, Frankfurt/M.-New York, Campus 2015.

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Leibes (chair) vorbeikommt. Die Problematik ist hierbei nur, ob dieser Leib von der Immanenz her letztlich zu leben ist oder als »Spannung« von »Auseinanderfügungen« (désassemblements) her, die zugleich als »Existenz-Stätten« im Sinne von Nancy 27 eine Gemeinschaft bestimmen, wo der Sinn jeweils suspendiert ist. Die Schnittstelle von Leib/Gemeinschaftlichkeit bildet hiernach das partes extra partes, welches wir als ständige »Ver-räumlichung« dargestellt haben und weiterhin als radikale Fragmentierung von Sinn zu verstehen ist, was schließlich dem Entzug jeglichen tragenden Horizontes als Welt, Identität oder Religion gleichkommt. Dies führt dazu, das Mit-Einander als reines »Zwischen« zu konzeptualisieruen, das heißt als »Zirkularität« des Sprechens und Meinens ohne irgendeinen fundierenden »Berührungs-Sinn«: »Das ›Zwischen[-Uns]‹ (entre nous) ist die Distanzierung und die Distanz, die vom Singulären als solchem eröffnet wird, und eine Art Verräumlichung seines Sinns. Was nicht die Distanz des ›Zwischen‹ hält, ist nichts als in sich verschmolzene Immanenz und sinnentleert.« 28 Zwar kennt Nancy ein Sich-Spüren als Einheit, allerdings ohne immanenten Charakter, insofern das Innen nur das »Entschreiben« (ex-scription) in die Vermehrung der Zwischenräume oder Abstände bedeutet, wodurch sich dieses SichBerühren als ein Sich-Aufspalten vollzieht. Dieser zuvor dargestellte Dualismus bleibt bestehen, auch wenn es kein ontologischer Dualismus ist, sondern ein methodischer von Selbst/Anderen als Inklusion ohne Einheit im postmodernen Sinne der Delimitation permanenter Grenz- oder Außenerfahrung des Überschreitens, wie wir sahen. Wird dadurch die selbstaffektive Immanenz von Nancy 29 eindeutig abgelehnt, indem er eine signitive »Transimmanenz« favorisiert, so kommt das »Zwischen des Mit-Einanders« jedoch nicht ohne »Spannung« (tension) aus, welche der Leib nach ihm in dessen Funktion selbst ist, ohne noch ein ontologisches Substrat oder Wesen darzustellen. 30 Genau darin beruht die (post-)postmoderne Problematik 27 Vgl. La communauté désœuvrée, Paris, Galilée 2004, 78 f. (dt. Die undarstellbare Gemeinschaft, Stuttgart, Metzler 1988). 28 J.-L. Nancy, singulär plural sein, Zürich, Diaphanes 2004, 25. 29 Vgl. Die Anbetung. Dekonstruktion des Christentums 2, Zürich, Diaphanes 2012, 32 f. »Anbetung« wird in diesem Buch verstanden als jene »Präsenz, die wesentlich ›anderswo‹ ist«, mithin als die von Nancy immer wieder geforderte Bejahung der »Öffnung« im Sinne der »Einbruchstelle des ›Hier‹ selbst«; vgl. ebd. 17. 30 Weshalb er diese Spannung dann wie Lacan auch mit dem Trieb als »Treiben« (engl. drive) bei Freud parallelisieren kann; vgl. ebd., 158 f.

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in Bezug auf Sinn, Selbst und Gemeinschaft, wie eine »Spannung« ununterbrochen Sinndifferenzierungen und Sinnverdichtungen zu generieren vermag, ohne solche Exteriorität (Alterität) weder zu einer phänomenologischen Intentionalität im klassischen Sinne noch zu einer Intensität im Sinne einer vital-politischen »Maschine« energetischen Wachstums gemäß Deleuze und Guattari werden zu lassen. Wenn corpus prinzipiell »Unterbrechung« (interruption, suspension) bedeuten soll, dann ist ein solcher Leib nicht Zeichen irgendeiner Relation von Gegenseitigkeit, sondern unterliegt einer Ontologie des Verlustes – womit er letztlich keine Selbstoffenbarung in sich selbst für sich selbst ist, sondern der Offenlegung eines originären Sinnmangels oder -entzuges verpflichtet bleibt. Damit ist aber die angestrebte eigenständige Manifestation des Leiblichen wieder aufgehoben, um an dessen Stelle eine fremde Seinsfunktion in Anspruch zu nehmen, die sich aus dem Heideggerschen Seinsverstehen nur insofern herauslöst, als das Sein selbst nichts mehr zu sagen hat, außer dass es selber keinen Sinn birgt, und sei er »Ereignis«. Und genau dies ist die post-postmoderne Situation, ob wir als Leib leben können, ohne noch irgendeinen Seinssinn setzen zu müssen, um im Leibvollzug selbst gerade die Frage nach einem letzten »Sinn« nicht stellen zu müssen, weil die lebendige Selbstberührung des Leibes (Ab-)Grund genug für jedes singulär-plurale Tun ist. Sofern die Post-Postmoderne wieder ein »Etwas« als Repräsentation benutzen will, um sich darauf stützen zu können, fällt sie hinter Poststrukturalismus und Dekonstruktion wie Lebensphänomenologie zurück, um dadurch gleichzeitig auch erneut die Leibberührung als die äußerste epochale Herausforderung selbst aus der Hand zu geben, nämlich von einer unverlierbar leiblichen (Selbst-)Gegebenheit her zu leben, die keine dann wiederum zu dekonstruierende Vorstellung mehr zulässt. Dies schließt im Übrigen gleichfalls ein, um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, dass ein solcher Leib eigentlich nicht mehr Objekt irgendeiner Gewalt sein kann, die auch gerade in der Zeit der Postmoderne zwischen Staaten und Gruppen nicht abgenommen hat. Damit ist dieser Leib ebenfalls der Prüfstein des Politischen, im Gegensatz zur »weltgeschichtlichen Tat« mit ihren geschichtlich-politischen Ansprüchen, die Hegel unter anderem der Moderne als Maßstab vermittelte. 31 Auch andere Kommentatoren bestätigen, dass die originäre Leibaffektion jenem »Realen« ent31

Vgl. auch W. Konrad, Foucault liest Hegel, Frankfurt/M., Suhrkamp 1985, sowie

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spricht, dem in der Postmoderne und danach immer mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird, insofern die Angst über das eigene Leibempfinden weder durch die körperliche Außendarstellung als design noch durch die anonyme Symbolisierung seitens des Marktes eine Antwort findet. 32 Dies verifiziert indirekt auch eine letzte Parallele, die Michel Henry 33 zwischen den »Armen im Geiste« aus der Bergpredigt und unserer Leiblichkeit festhält, wenn wir nämlich nichts anderes mehr vorzuweisen hätten oder sind als die faktische Erfahrung dieses Leibes in seiner radikalen oder passiblen Gegebenheit. Vom Nicht-Berühren berührt zu werden, signalisiert folglich eine leibliche Selbstpräsenz für jeden, die Unmittelbarkeit und Außer-Sich, Immanenz und Transzendenz (Exteriorität), Leben und Welt nicht länger als Dichotomien versteht, sofern letztere sich als selbstproduzierte Fragen des Denkens zugunsten singulär-gemeinschaftlicher Akte aufheben, um sich transzendental »berühren«, das heißt verlebendigen zu lassen – und zwar ohne versichernde Fundierungsfrage einerseits und ohne tragisch-heroische Geste bzw. melancholische Ironisierung andererseits. Wir haben dies »Lebens-Mystik« genannt, insoweit jeder dadurch singulär bei seinem ihm Ur-Eigensten, dem Leben, und zugleich bei einer Tradition als Sprache, Symbolik etc. anknüpfen kann, die als »Mystik« letztlich nichts anderes sagt, nämlich von allem als Repräsentation zu lassen, um im Eigenen als ständiger Geburt, Offenheit oder Zwischen »zu sein« – ohne allerdings diesem »Sein« als »Ab-grund« noch länger einen Namen geben zu müssen. 34 Welch neue epochale oder kulturelle GemeinF. Suarez-Müller, Skepsis und Geschichte. Das Werk Michel Foucaults im Lichte des absoluten Idealismus, Würzburg, Echter 2004. 32 Vgl. im Anschluss an Lacans Topologie vom Imaginären, Symbolischen und Realen (RIS) G. Meyer, »Die Krise der Identität und das Körperverständnis der Postmoderne«, in: G. Meyer, M. Sorace, C. Vasseur u. J. Bündgens (Hg.), Identitätsbildung. Spiritualität der Wahrnehmung und die Krise der Moderne, Freiburg/München, Alber 2018, 129–141, hier bes. 136 f. 33 Vgl. Inkarnation, 411 f. 34 Sofern jede Tradition zur Begründung ihrer Texte oder Symbolik an ein Schweigen des Absoluten rührt, das nicht wieder »Text« ist, lässt sich von einer »Mystik« am Grund jeder Hermeneutik sprechen; vgl. etwa P. Ricœur, An den Grenzen der Hermeneutik. Philosophische Reflexionen über die Religion, Freiburg/München, Alber 2008, 65 ff. u. 85 ff.; außerdem M. A. Sorace u. P. Zimmerling (Hg.), Das Schweigen Gottes in der Welt. Mystik im 20. Jahrhundert, Nordhausen, Traugott Bautz 2007. Wenn es also auch eine gewisse Nähe zwischen postmodernem Denken und Mystik gibt, so bleibt jedenfalls ausgeschlossen, dass damit wieder irgendeine Form von

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schaftlichkeit daraus erwachsen wird, ist zur Zeit weder erkennbar noch festlegbar, aber es wird eine Gemeinschaftlichkeit sein, die auch der post-postmodernen Neuversicherung nicht bedarf, ohne sich im postmodernistischen Entzug durch Differe(ä)nz, Riss, Mangel etc. der Betrübnis und/oder »Beliebigkeit« (Indifferenz) zu überlassen. Solche »Gewissheit des Lebens« im selbstaffektiven Sinne (Henry) ist absolutes Berührtsein, ohne ein gegenständlich Berührtes vorweisen zu müssen, damit diese Gewissheit gegeben sei. Diese »Armut« oder »Abgeschiedenheit« an Sinn (Meister Eckhart) ist gerade kein Verlust, sondern das rein phänomenologische Wesen des Sich-Berührens als Anwesenheit, in die nie eine Abwesenheit (Distanz) eintreten kann – eine ab-gründige Lebensgeburt, falls man hierzu noch ein Wort bemühen will. Insofern können wir durch diese Zeit ohne weitere ideologische oder dogmatische Versicherungen gehen, ohne ihr voll ausgeliefert zu sein, rein der inneren Genealogie des Lebens anvertraut, die nichts Äußeres als »Erscheinen« abweist. Dass sich eine verleugnete Immanenz als notwendig transzendentale Lebendigkeit in jedem Denksystem dann ungewollt wieder an bestimmten Systemstellen eines Denkens ankündigt, zeigt sich bei Nancy etwa spätestens dann, wenn er im Zusammenhang mit seiner These von der »Dekonstruktion des Christentums« auf die Christus-Figur zu sprechen kommt: »[Der Erlöser] ist kein Typus, er ist die Erfahrung zu existieren.« 35 Zwar wird diese Existenz-Erfahrung zunächst dekonstruktivistisch als die »Exposition« von »Innerhalb/Außerhalb« der Welt gemäß der bekannten Sinnverräumlichung verstanden, um dann aber in einem erklärenden Austausch über diesen Sachverhalt letztlich zu bemerken: »Jesus ist der Eigenname der Dekonstruktion, der Name des Gott-Menschen, der als Mensch tot und als Gott ›das Leben‹ ist.« Dies heißt, es gibt eine Einheitserfahrung, die Tod wie Leben, Gott und Mensch umgreift, um durch Leben und Tod der Erfahrung der Inkarnation »das Aufleuchten einer Gegenwart zu bilden«. Und wenn Jesus bzw. Christus als eine solche Grundfigur transzendentaler Lebenserfahrung gesehen wird, dann fallen letztlich auch die historisch-hermeneutischen Herleitungen des Christentums als einer bloß »anthropologischen Mutation« im Sinne der »Öffnung einer ent-territorialisierten, ent-identi»Selbstpräsenz« für das Subjekt établiert werden könnte, wie K. Ruhstorfer an Foucault zeigt; vgl. »Die Erfahrung des Außen«, 87 f. 35 Die Dekonstruktion des Christentums, Zürich, Diaphanes 2008, 139.

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fizierten, vollkommen technischen Welt« fort, so dass sich über diese »Entsperrungs«-These (déclosion) des Christlichen hinaus eben dieser Jesus-Christus als »der Körper von jeder und jedem« erweist. Und zwar »in dem Maße, in dem [dieser Körper] sich gerade nicht darstellen lässt […], weil jeder Körper sich sagt, sich präsentiert und etwas ausspricht, einen Sinn seiner Gegenwart darstellt«. 36 Wenn die spätere Postmoderne bei Nancy folglich nicht umhin kann, Leben und Gegenwart für eine Erfahrung in Anspruch zu nehmen, die christologisch oder inkarnatorisch figuriert ist, und diese transzendentale Konstellation jedem Leib zukommt, dann ist damit nochmals die post-postmoderne Situtation unterstrichen, diesen lebendig immanenten Sachverhalt anzuerkennen – und zwar unabhängig davon, was auf der fragmentierten Sinnebene der ex-ponierte Körper repräsentieren kann. Er ist reine Gegenwart einschließlich des »Lebens Gottes«, das heißt die »Figur« eines einheitlichen Lebens, welches mit der Erfahrung unserer Welt als lebendige oder subjektive Selbsterprobung identisch ist. Dieses Ergebnis können die kritischen Einwände bei Nancy gegenüber »immanenter Selbstverschließlung« wie beispielsweise im Kommunismus und Individualismus nicht aufheben, denn die kommunistische Selbstproduktion der Menschheit als »Wesen« der Geschichte des Menschen bzw. der individualistische Selbstverschluss in einem »Ursprung« des Ich und als »Verschmelzung« oder »Kommunion« mit sich selbst verkennen gerade das gleichursprüngliche inkarnatorische Ergebnis, wonach jede Immanenz immer schon Relation ist, nämlich die Erfahrung von Leben in all seinen konkret möglichen Bezügen. Dass sich Gemeinschaften identitär als Totalität (symbolisch) »immanent« verschließen, um als Heimat oder Rückzug die Offenheit des Singulären im Sinne ek-statischen Mit-Seins bzw. von »Mit-Erscheinung« (comparution) zu verweigern, zeigt nur, dass die Immanenz missverstanden werden kann, wenn ihre transzendental lebendige Ipseisierung nicht gleichursprünglich als Pluralität oder Alterität vollzogen wird, wie wir ausführten. Dass es bei Nancy zudem einen Unterschied zum radikalen

Jean-Luc Nancy in »›Jesus ist der Eigenname der Dekonstruktion‹ – eine kritische Diskussion mit Jean-Luc Nancy über die Dekonstruktion des Christentums«, in: F. Rass, A. S. Horn u. M. U. Braunschweig (Hg.), Entzug des Göttlichen. Interdisziplinäre Beiträge zu Jean-Luc Nancys Projekt einer »Dekonstruktion des Christentums«, Freiburg/München, Alber 2017, 161–174, hier 168, 164, 167 u. 171.

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Alteritätsdenken bei Levinas, Lacan und Derrida gibt, ändert nichts an der grundsätzlich postmodernen Differe(ä)nzproblematik. Denn ob ich den asymmetrisch Anderen als Antlitz, unsagbares Begehren oder absolute Spur von Gerechtigkeit denke, bzw. das Anders-Sein nur als Pluralität der Seienden im Grund des Seins, wodurch Nancys »Mit-Einander« das Heideggersche »Mit-Sein« als Ursprung des Seins ersetzt 37 – es bleibt der rein phänomenologische Sachverhalt bestehen, dass keine Gemeinschaftlichkeit in solchen Formen offener Andersheit außerhalb des Lebens gedacht zu werden vermag. Bei Nancy entsprechen sich daher »Dekonstruktion des Christentums«, Kontingenz des pluralen Sinns als das Andere der fraktalen Welt und die Kommunikation als eine Gemeinschaft durch Teilhabe. Der Sinn der Welt und Individuen ist dergesalt niemals fertig oder substanialistisch verfügbar, sondern nur ex-poniert mit-teilbar. Damit favorisiert Nancy anstelle der genannten Asymmetrie radikaler Andersheit eine reziproke Symmetrie aller singulär-pluralen Sinnereignisse, womit es bei ihm zu einer impliziten Forderung nach Solidarität oder Gerechtigkeit gegenüber den Singularitäten kommt. Wir stoßen hier auf eine ähnliche Problematik wieder wie beim Verhältnis von Immanenz/Transzendenz, denn eine solch ethische Einschreibung in das sozialontologische Netzwerk »entsperrter« Gemeinschaften (oder des »sich selbst auflösenden« Christentums) kann nur ein affektiver Überschuss sein. Die postmoderne Struktur selbst der Gemeinschaft als einer nie geschlossenen Ordnung muss nämlich den Anruf nach Gerechtigkeit zugleich als Pathos (»Widerfahrnis«) empfinden und verstehen. Was sich demzufolge in der Dekonstruktion als singuläre Andersheit im Sinne singulärer Fremdheit entzieht, ist zugleich das, was dieselbe Dekonstruktion in Bewegung hält, wodurch der späte Derrida 38 eine »Undeklinierbarkeit« oder sogar »Mystik der Gerechtigkeit« herausstellte, die »wahnsinnig« mache. In gewisser Weise führt damit die Dekonstruktion zu einer Art Auto-Destruktion, denn Differänz, Aufschub oder singuläres MitEinander geleiten denjenigen, der diese Bewegung als »Gerechtigkeit« Vgl. Th. Bedorf, »Die ›soziale Spanne‹. Von Heideggers ›Mitsein‹ zur Sozialontologie Nancys«, in: Phänomenologische Forschungen 55 (2013) 29–43. 38 Vgl. Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der Autorität«, Frankfurt/M., Suhrkamp 1991, 46 ff.; außerdem Politik der Freundschaft, Frankfurt/M., Suhrkamp 2002; Jedes Mal einzigartig. Das Ende der Welt, Wien, Passagen 2007. Dazu auch B. Waldenfels, Idiome des Denkens. Deutsch-Französische Gedankengänge, Frankfurt/M., Suhrkamp 2005, 307 f. 37

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auszuüben gedenkt, an den Punkt eines Selbstverzichts von Sinn gegenüber dem Fremden. Diese Sinn-Suspension zugunsten des Anderen setzt aber voraus, dass eine Aufmerksamkeit für ein anderes Leben (Individuum) statthat, die mit dem eigenen inneren Hören des subjektiven Lebens korreliert, um eine Gemeinschaftlichkeit als Pathos der Gerechtigkeit zu erproben, das schon jedem »Sinn« vorausliegt und über den kommunizierten »Sinn« hinausreicht. Die zuvor genannte inkarnatorische Erfahrung der Einheit von Leben und Tod ist damit Voraussetzung wie Vollzug jeder Gemeinschaftlichkeit und Individuierung selbst, denn das Pathos des »ethischen Überschusses« als Frage der Gerechtigkeit gegenüber dem Fremden ist nichts anderes als das Berührtsein in diesem Anruf, der nur schweigend vernommen werden kann, falls wir selbst immer schon vom Pathos des Lebens originär berührt sind. Denn sonst bliebe der wirkliche Anruf bloßes Wort, das sich als Signifikant in der Offenheit des SingulärPluralen nur verschöbe, ohne mit dem Pathos des Anrufs selbst jemals übereinzustimmen. Die Post-Postmoderne kann dieses immanente Pathos, sofern es Leib des Anderen wie der meinige ist, nicht durch Werte und Imperative letztlich ersetzen, so dass die Frage des »Wovon wir berührt sind« über die Zukunft möglichen Berührtseins (Pathos) überhaupt entscheidet. Die Postmoderne führt deshalb an die Nahtstelle einer solch lebensphänomenologischen Klärung, die prinzipiell wie für solche Zukunft nicht vernachlässigt werden kann. Die Figur oder Geste des Anrufs ist im Übrigen seit Heideggers »Seinsruf« in der Postmoderne präsent, so dass wir mit einem zusätzlichen Hinweis auf die Position von Jean-Luc Marion hierüber uns dem Abschluss unserer Untersuchung nähern. Geht man mit Marion nämlich so weit, dass eine nicht-intentionale »Sättigungserfahrung« die un-bedingte Selbst-Gegebenheit aufscheinen lässt, dann handelt es sich dabei nicht nur um eine Reduktion der Gegenständlichkeit (Objektität) als phänomenologischem Leitfaden, sondern die radikalere Endlichkeit solcher Intention bedeutet, dass sie gegen sich selbst als »Subjekt« gewandt wird, wie dies auch schon Levinas für die ethische Intentionalität als Trauma oder Spur gezeigt hatte. Eine solche Gegen-Intentionalität durchlebt die Grenze meiner intentionalen Schau als »Enttäuschung«, wie seinerseits Husserl 39 bereits für alle »Hemmungsphänomene« innerhalb der phänomenalen EvidenzverVgl. Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der Logik (1939), Hamburg, Meiner 1985, 365 ff. (§ 76).

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hinderung herausgestellt hatte. Marion kennzeichnet diese Situation des intentional endlichen Ich als dessen Verfremdung oder Veränderung (altération) schlechthin, welche sich positiv durch ein Phänomen des Geblendetseins seitens des Übermaßes der Sättigung ausdrücke. Das enttäuschte bzw. geblendete Ich kann in solcher Situation weiterhin alle ihm bisher bekannten Strategien durchspielen – einen anderen Erfahrungsbegriff versuchen, um seine Enttäuschung zu überwinden, bzw. sich selbst letztlich ganz vom Phänomen des Überflusses abwenden, um seine vermeintliche Autonomie nicht zu verlieren, etc. Radikal phänomenologische Tatsache bleibt jedoch, dass solche Erprobung (Pathos) der einen oder anderen Art jenen schon genannten Widerstand impliziert, der vor jeder singulären Ethik oder Religion einen Anruf zur »Wahrheit« herausfordere, und zwar als Liebe, wie sie Pascal als eine logique du coeur bereits angemahnt hatte. 40 Marion versucht mit anderen Worten, jeden philosophischen Subjekt- oder Subjektivitätsbegriff bis hin zu dessen SelbstEnteignung zu verabschieden. Damit folgt er den postmodernen Dekonstruktivismen wie bei Derrida und Nancy, um allerdings seinerseits einem gesättigten »Wahrheitsphänomen« phänomenologisch gerecht werden zu wollen, welches »mich« radikal affiziert, ohne daraus hingegen noch eine egologisch-transzendentale Bedingungsgröße solcher »Affektion« ableiten zu können. Anders gesagt, ergibt sich hiermit wiederum die entscheidende Frage nach einer solch »affektiven Widerständigkeit« als reiner Passibilität in unserem je subjektiven Leben, worin jedes »Mich« als pathisches Fleisch im Sinne Henrys wurzelt. Indem folglich ebenfalls bei Marion wie in der Postmoderne ein äußerster formaler Anruf auftritt – sei er Hingebung (adonné), Zeugenschaft, Liebe, Mit-Einander als »Zwischen« bzw. Gerechtigkeit und Spur des Anderen wie Absoluten, 41 kann diese differe(ä)ntielle Vgl. J.-L. Marion, »Die Strenge der Liebe«, in: B. Casper (Hg.), Gott nennen, Freiburg/München, Alber 1981, 26–41; die maßgebliche spätere Gesamtanalyse zum »Sättigungs«-Phänomen bildet Gegeben sei. Entwurf einer Phänomenologie der Gegebenheit, Freiburg/München, Alber 2015. Zur Problematik schon R. Kühn, Radikalisierte Phänomenologie, Frankfurt/M., Peter Lang 2003, 175–240: »Selbstgebung und Anruf nach J.-L. Marion«. 41 So attestiert ebenfalls K. Ruhstorber der Postmoderne, und wäre es auch nur in ihrem »Verlöschen«, die »Spur von Einem«, wo »der Tod des modernen Menschen den Blick freigibt für das neuartige Bedürfnis nach einer anfänglichen Weisung« wie in der späten ethischen Phase bei Foucault; vgl. »Die Erfahrung des Außen«, 80. 40

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oder gegen-intentionale Formalisierung von Gebung/Gegebenheit (»Sinn«) nicht ohne ein vorgängiges, konkret bestimmtes Moment des Pathischen statthaben. Diese rein phänomenologische Bedingung bleibt über die postmoderne Dekonstruktion von Ursprung, Welt, Sinn, Wesen etc. hinaus bestehen, um in ihrer Unhintergehbarkeit darauf aufmerksam zu machen, dass auch post-postmodern ein solch prinzipieller Sachverhalt nicht einfach durch eine neuerliche thematische Identitäts- oder Wertbestimmung ersetzt zu werden vermag. Ist die Postmoderne ein unumgehbar epochaler Augenblick der Neuzeit, 42 dann kann nicht mehr dahinter zurück gegangen werden, sondern es steht eine neue phänomenologische Gegenwärtigkeit wie Zukunft an, die aus den reduktiven wie dekonstruktiven Erfahrungen eine andere kulturelle wie individuelle Haltung gegenüber dem unbenennbar »Wirklichen« (Realen) erlaubt. Diese neue Haltung ist kein bloßes Ausgesetztsein oder Zerrissenwerden seitens welthafter Grenzfragen, wie es die meisten postmodernen Autoren beschworen haben, sondern tiefer gesehen handelt es sich um ein solches Berührtsein durch ein notwendigerweise Namenloses, Inkommensurables und Unsichtbares, das sich jedoch in seinem affektiven »Anruf« als transzendentale Lebendigkeit singulär-plural allen offenbart – und dadurch genug ethos für das je zu Tuende ist. Diese Position entspräche teilweise der augenblicklichen politisch-soziologischen Diskussion, weder ausschließlich dem einstigen Modell universaler Identität zu folgen, aber auch nicht die postmoderne Differe(ä)nz ihrerseits allein zu universalisieren, sondern die Herausbildung von Differenzen und Identitäten gleichzeitig zu ermöglichen, die je momentane »Lebensformen« mit einer gewissen immanenten Stabilität aufgrund originärer Ipseisierung darstellen. 43 Insoweit die Post-Postmoderne über ihre Identitäts- und Wertsuche auch als neuerliche Frage nach dem Heil verstanden werden kann, ergibt sich von der Vorstellung eines »Erlösers« her, welche Insofern plädiert Vittorio Hösle dafür, eine gewisse »Solidarität« mit der Postmoderne zu wahren; vgl. »Apologie der Postmoderne«, in: B. Goebel u. F. SuarezMüller (Hg.), Kritik der postmodernen Vernunft, 259–268. 43 Daher eher »Mestizismus« genannt als »Multikulturalismus«, wobei die Tradition der alten europäischen Städte mit ihren anerkannten inneren Differenzen das Projekt der Zukunft verdeutlichen könnte; vgl. G. Marramao, »Demokratie und Postdemokratie. Eine Diagnose der globalisierten Welten«, in: Chr. Riedweg (Hg.), Nach der Postmoderne, 125–136, hier 130 f.; F. Dallmayr, Gemeinschaft und Differenz. Wege in die Zukunft, Freiburg/München, Alber 2018. 42

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die »Entsperrung« des Christentums herbeiführt, jene soteriologische Perspektive, dass eine solche »Erlösung« die Welt aus der Verfestigung in eine Wertelogik herauszuführen hat, die zuletzt die Form der »allgemeinen Äquivalenz« annahm, wo Geld (Kapitalismus) an die Stelle von Gott (Religionen) tritt. Insofern bietet sich das »Heil« im Christentum nach Nancy 44 als die Rettung von allen Prinzipien an, die Gott als einen letzten Garanten setzen, so dass das dekonstruktivistische Heil darin bestehe, die Menschen vor einem solchen Gott zu retten. Auch die Heilsfrage kann daher für die kommenden Zeiten nur über eine Reduktion oder Gegen-Intentionalität neu in den Blick genommen werden, wenn sicher ist, dass damit nicht neue Prinzipien errichtet werden, die das »Heil« eher verschließen als ermöglichen. Auch die Frage des Bösen gehört dazu, denn jedes Böse wird gesetzt als der Versuch, unwiderrufliche Fakten zu schaffen, wie durch Mord und Lüge beispielsweise. Lebendig transzendentales Heil hingegen, wenn man diesen Begriff beibehalten will, ist die Offenheit des Berührtwerdens, ohne einen eigenen egologischen oder politischgesellschaftlichen Maßstab absolut zu setzen. Vielmehr lassen sich Maßstäbe allein von der historialen »Lebensdienlichkeit« her erwägen, 45 deren Wesen das absolut phänomenologische Wesen des Lebens selbst ist – das heißt in jenem »Anruf«, der dem immanenten »Wort des Lebens« selbst entspricht, welches sich für jeden pathisch oder selbstaffektiv erprobt. Mithin kann auch hier das Gespräch zwischen Postmoderne und Lebensphänomenologie eine zentrale Frage für jede Religion und Gemeinschaft zur Klärung bringen, die meint, über einen »letzten Sinn« verfügen zu müssen, um ein »Heil« zu gewähren, von dem der Einzelne nicht schon berührt wäre. In solcher Sicht sind Religion und Heil dann nämlich keine Größen, die von außen zur Kultur hinzukämen, sondern es handelt sich um die immanente »Wahrheit« derselben, wenn sie ihre Sinnhorizonte und Ideale Vgl. Die Dekonstruktion des Christentums, 138 f.; J. F. Erulo.«Transzendenz und Öffnung: Sinn zwischen Bejahung der Immanenz und bleibendem Erlösungsbedürfnis«, in: F. Rass, A. S. Horn u. M. U. Braunschweig (Hg.), Entzug des Göttlichen, 51– 72, hier bes. 65 f.; zudem R. H. Ziegler, Elemente einer Metaphysik der Immanenz, Bielefeld, Transcript 2018. 45 Hierzu ließe sich ebenfalls der Begriff der Lebensführung diskutieren; vgl. F. Charoy, »›Lebensführung‹ und ›Lebensethos‹ – zur Frage ethischer Vermittlung bei Trutz Rendtorff und Michel Henry«, in: M. Enders (Hg.), Immanenz und Einheit. Festschrift zum 70. Geburtstag von Rolf Kühn, Leiden – Boston, Brill 2015, 115–138; des Weiteren W. Pfleger, Das gute Leben. Eine Einführung in die Ethik, Stuttgart, Metzler 2017. 44

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nicht mit der transzendental vorgängigen Weise ihrer Rückbindung an eine »Gebung« verwechseln, die jeder Festschreibung voraus liegt und dazu auffordert, diese lebendige Proto-Relation nicht zu verdunkeln, was auch für den Islam gelten dürfte. Wenn sich daher die postmoderne Skepsis nicht unbedingt als das Nachmetaphysische schlechthin versteht, wie es zum Teil andere Autoren wie etwa Habermas und Blumenberg fordern, so kann man davon sprechen, dass sich eben eine denkerische Alternative abzeichnet, um die dekonstruktive Skepsis mit ihren ironisch-spielerischen Akzenten zu einer neuen »Ontologie« zu erheben. Dann wäre auch diese philosophische Strömung des Postmodernismus an einem epochalen Nullpunkt angekommen, um im Licht der Tradition neu zu beginnen. Wenn nämlich in der negativen »Atheologie« ohne jede metaphysische Soteriologie auch eine gewisse Wiederbelebung der Gnostik gesehen werden kann, 46 insofern die Differe(ä)nz postmodern ein Absolutes darstellt, welches für uns originäre Gewalt und Unwissenheit zugleich in Bezug auf den Abgrund der Welt ist, da dieser mit der Zeichenverschiebung bzw. Supplementarität jeglicher Bedeutung identisch ist, so bleibt solche Differe(ä)nz dennoch eine transzendentale Kraft mit einer immanenten Transzendenz innerhalb der rein operierenden Differe(ä)nz selbst. In der Tat haben wir herausstellen können, dass solch nominalistisch-rhetorische Ontologie den Ursprung von Zeitlichkeit schlechthim bedeutet – und damit ohne Abschließbarkeit die Spur für jede Andersheit. Dass dergestalt in gewisser Weise Nichtseiendes zu einem Sein kurzfristiger Affirmation im jeweiligen Augenblick erhoben wird, ist dann kein Widerspruch, wenn »Wahrheit« dementspreched nur als kontextbedingte Regel für Interpretation(en) als Schrift, Text oder Diskurs verstanden wird. Erscheint dadurch jede Verräumlichung (espaceDies ist die These von F. Suarez-Müller, »Alte und neue Sophistik 2: Sprache und Differenz. Gorgias von Leontinoi und Jacques Derrida im Vergleich«, in: B. Goebel u. F. Suarez-Müller (Hg.), Kritik der postmodernen Vernunft, 97–119, hier 100 f., und zwar mit Rückverweis auf Mallarmé und Blanchot hinsichtlich der ab-gründig subjektvorgängigen Sprachabsolutheit. – Innerhalb des neueren Denkens glaubte Hans Blumenberg seinerseits die Gnostik nur dadurch überwinden zu können, indem die in ihr wirkenden Momente eines theologischen Absolutismus als Weltauflösung durch eine »Ruhelegung« eben solcher ab-gründigen Fragen überhaupt stillgelegt werden sollen, damit der humanen Weltzuwendung durch die »Säkularisierung« nicht mehr das Gefühl irgendeiner nachtheologischen Schuldlast noch anhafte; vgl. B. Goebel, »Nach der Apokalypse der Vernunft. Hans Blumenbargs Kritik der Apokalyptik im Rahmen seines philosophischen Programmes«, ebd., 177–202, hier vor allem 182 ff.

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ment) wie besonders bei Derrida und Nancy als eine Zeit ohne mögliche Gegenwart, dann tritt auch der Abgrund der Welt konsequent selbst nur als Textualität (»Sinn«) auf, das heißt als indefiniter Prozess einer Widerspiegelung des ur-anfänglichen Supplements. 47 Unsere lebensphänomenologische Rückfrage an solche »Kraft« der Produktion ohne identisches Subjekt im Sinne diesbezüglicher Dekonstruktion sprachlicher Delimitation bestand unsere gesamte Untersuchung hindurch in der Problematierung der Verortung solch unbezweifelbarer Abgründigkeit in der transzendentalen Lebendigkeit ihrer Hervorbringungsmacht, ohne die weder situativer Prozess noch kontextbezogener Vollzug letztlich sein könnten. Und will man das ethos eben derselben Dekonstruktion als »Wahnsinn« oder »Gerechtigkeit« im Sinne der »Spur« eines abgründig Absoluten mehr sein lassen als nur eine bloß ambivaltente Anpassunngsfähigkeit an welthafte Kontextualität, dann verwies das durchgehend in Anspruch genommene Begehren (désir) bei den postmodernen Autoren selbst, wie wir öfters untertreichen konnten, auf eine passio, die kein nur indifferenter Zeichen- oder Signifikanten-Punktualismus ist, sondern eben auch »Fülle« der Unmittelbarkeit des Lebens in jedem Augenblick von Intensität oder Überschreitung selbst. Dann wären ebenfalls Konflikt und Vielfalt wohl nicht das letzte dekonstruktive Wort, sondern in solch radikaler Berücksichtigung epochale Hinweise auf eine neue philosophische und ethisch-kulturelle Wahrheitskonstellation, um rein praktisch anzuerkennen, was nie abwesend ist – das rein phänomenologische Leben als der eigentliche Ab-grund des »Realen«, wie er sich für jeden in seiner radikalen Leiblichkeit offenbart.

Vgl. zum Beispiel J. Derrida, Positions, Paris, Minuit 1972, 38 (dt. Positionen, Graz – Wien, Böhlau 1986); Points de suspension, Paris, Galilée 1992, 237 f.

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Gesamtbibliographie –, Textes inédits sur l’expérience d’autrui, in: Revue Internationale Michel Henry 2 (2011) –, »Heidegger, Descartes, Nietzsche: Schopenhauer et le ›courant souterrain‹ de la métaphysique«, in: Les Etudes Philosophiques 102/3 (2012) 307–313 –, Notes sur le phénomène érotique (ca. 1950), in: Revue Internationale Michel Henry 4 (2013) 27–44 –, Radikale Religionsphänomenologie. Beiträge 1943–2001, Freiburg/München, Alber 2015 –, Können des Lebens. Schlüssel zur radikalen Phänomenologie, Freiburg/München, Alber 2017 P. Herkert, Das Chiasma. Zur Problematik von Sprache, Bewusstsein und Unbewusstem bei Merleau-Ponty, Würzburg, Königshausen & Neumann 1987 A. Hetzel (Hg.), Georges Bataille: Vorreden zur Überschreitung, Würzburg, Königshausen & Neumann 1999 S. Heyer, Deleuzes und Guattaris Kunstkonzept: ein Wegweiser durch tausend Plateaus, Wien, Passagen 2001 A. Hirsch, Der Dialog der Sprachen. Studien zum Sprach- und Übersetzungsdenken Walter Benjamins und Jacques Derridas. München, Fink 1995 G. M. Hoff, Ein anderer Atheismus. Spiritualität ohne Gott? Regensburg, Pustet 2015 J.-C. Höflinger, Jacques Derridas Husserl-Lektüren, Würzburg, Königshausen & Neumann 1995 C. Höfner u. B. Schigl, »Geschlecht und Identität. Implikationen für Beratung und Psychotherapie – gendertheoretische Perspektiven«, in: H. G. Petzold (Hg.), Identität. Ein Kernthema moderner Psychotherapie – interdisziplinäre Perspektiven, Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften / Springer 2012, 127–156 J. C. Horn, »Zur Frage des spekulativen Empirismus bei Schelling«, in: Studia Leibnitiana 3 (1971) 213–223 A. Hübener u. a. (Hg.), Umstrittene Postmoderne. Lektüren, Heidelberg, Winter 2010 K. Huizing, Das Sein und das Andere. Levinas’ Auseinandersetzung mit Heidegger, Frankfurt/M., Klostermann 1977 E. Husserl, »Encyclopaedia-Britannica-Artikel«, in: Tijdschrift voor Filosofie 12 (1950) 246–280 (Nachdruck in: Husserl, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1973, 282–315) –, Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge (Husserliana I), Den Haag, Nijhoff 21963 –, Analysen zur passiven Synthesis. Aus Vorlesungs- und Forschungsmanuskripten 1918–1926 (Husserliana 11), Den Haag, Nijhoff 1966 –, Phänomenologische Psychologie. Vorlesungen Sommersemester 1925 (Husserliana IX), Den Haag, Nijhoff 21968 –, Logische Untersuchungen, 2 Bände. Text der 1. und 2. Auflage (Husserliana XVIII–XIX), Den Haag, Nijhoff 1975–1984 –, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, 1. Buch, 1. Halbband: Einführung in die reine Phänomenologie (Husserliana III/1), Den Haag, Nijhoff 1976

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Gesamtbibliographie –, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, 1. Buch, 2. Halbband (Husserliana III/2), Den Haag, Nijhoff 1976 –, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, 3. Buch: Die Phänomenologie und die Fundamente der Wissenschaften (Husserliana V), Den Haag, Nijhoff 1976 –, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (Husserliana VI), Den Haag, Nijhoff 21976 –, Formale und transzendentale Logik. Versuch einer Kritik der logischen Vernunft, 2. Auflage 1929, Tübingen, Niemeyer 1981 –, Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der Logik (1939), Hamburg, Meiner 1985 –, Die Idee der Phänomenologie (Text nach Husserliana II), Hamburg, Meiner 1986 A. Huyssen u. K. R. Scherpbe (Hg.), Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels, Reinbek, Rororo 1986 L. Irigaray, Bodies that Matter. On the Discursive Limits of »Sex«, New York/ London, Routledge 1993 T. Iwano, L’expérience et la divinité chez Georges Bataille, Lille, ANRT 2008 D. Janicaud, Le tournant théologique de la phénoménologie française, Paris, Eclat 1991 –, La phénoménologie éclatée, Paris, Eclat 1998 G. Jean, »Genealogie, Historialität und Passivität. Michel Henry und die Phänomenologie der Geschichte«, in: E. Angehrn u. J. Scheidegger (Hg.), Metaphysik des Individuums. Die Marx-Interpretation Michel Henrys und ihre Aktualität, Freiburg/München, Alber 2011, 194–219 –, Force et temps. Essai sur le »vitalisme phénoménologique« de Michel Henry, Paris, Hermann 2015 Ch. Jencks, Die Sprache der postmodernen Architektur. Die Entstehung einer alternativen Tradition,. Stuttgart, Metzler 1978 Journal für Religionsphilosophie 3 (2014): Gabe – Alterität – Anerkennung F. Jullien, Es gibt keine kulturelle Identität. Wir verteidigen die Ressourcen einer Kultur, Berlin, Suhrkamp 32018 S. Jütte, »Nancy, Derrida und das Sprechen; Erwägungen zu einer Ethik des Verschiedenen«, in: F. Rass, A. S. Horn u. M. U. Braunschweig (Hg.), Entzug des Göttlichen. Interdisziplinäre Beiträge zu Jean-Luc Nancys Projekt einer »Dekonstruktion des Christentums«, Freiburg/München, Alber 2017, 137–149 B. Kanabus, La généalogie du concept d’Archi-Soi chez Michel Henry, Hildesheim – Zürich – New York, Olms 2011 I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft (Kants Werke Akademie Textausgabe V), Berlin, De Gruyter 1968 A. Kapust u. B. Waldenfels (Hg.), Kunst. Bild. Wahrnehmung. Blick: MerleauPonty zum Hundertsten, München, Fink 2008

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Gesamtbibliographie S. Kattelmann, Liebe als Kommunikationsmedium und als Affektion. Die Systemtheorie von Niklas Luhmann und die Lebensphänomenologie von Michel Henry im Vergleich, Nordhausen, Bautz 2011 M. Kawase, »Sein und Sprache bei Heidegger und Michel Henry«, in: S. Grätzel u. F. Seyler (Hg.), Sein, Existenz, Leben: Michel Henry und Heidegger, Freiburg/München, Alber 2013, 191–220 W. Kellerwessel u. C. Krämer, »Flucht, Immigration und Aufenthalt – normative Perspektiven«, in: Philosophischer Literaturahnzeiger 71/2 (2018) 162–197 P. Kemper (Hg.), Postmoderne oder Der Kampf um die Zukunft, Die Kontroverse in Wissenschaft, Kunst und Gesellschaft, Frankfurt/M., Fischer 1988 E. Kettering, Nähe. Das Denken Martin Heideggers, Pfullingen, Neske 1987 S. Kierkegaard, Die Wiederholung. Ein Versuch in der experimentierenden Psychologie (Ges. Werke Abt. V-VI), Düsseldorf, Diederichs 1965 –, Einübung ins Christentum (Ges. Werke 26), Düsseldorf, Diederichs 1971 H. Kimmerle, »Ist Derridas Denken Ursprungsphilosophie? Zu Habermas’ Deutung der philosophischen Postmoderne«, in: M. Frank, G. Raulet u. W. van Reijen (Hg.), Die Frage nach dem Subjekt, Frankfurt/M., Suhrkamp 1988, 222–241 M. Klein, Das Seelenleben des Kleinkindes und andere Beiträge zur Psychoanalyse (1962), Stuttgart, Klett-Cotta 1983 S. Knöpker, Michel Henry. Eine Einführung, Düsseldorf, Onomatto 2012 D. Koch, Zur Hermeneutischen Phänomenologie. Ein Abriss, Tübingen, Attempto 1992 J. Köhler, »Geistiges Nomadentum«, in: Philosophisches Jahrbuch 91/1 (1984) 158–175 H. Kohut, Narzissmus. Eine Theorie der psychoanalytischen Behandlung narzisstischer Persönlichkeitsstörungen, Frankfurt/M., Suhrkamp 1976 A. Kojève, Hegel. Eine Vergegenwärtigung seines Denkens. Kommentar zur Phänomenologie des Geistes (1947), Frankfurt/M., Fischer 22005 W. Konrad, Foucault liest Hegel, Frankfurt/M., Suhrkamp 1985 H. Kopp u. W. Seppmann (Hg.), Gescheiterte Moderne? Zur Ideologiekritik des Postmodernismus, Essen, Neue Impulse 2002 W. N. Krewani, Emmanuel Levinas, Denker des Anderen, Freiburg/München, Alber 1992 Chr. Kube, Die Frage der Kehre. Eine kritische Darstellung der Zeittheorie Martin Heideggers im Hinblick auf die Zäsur zwischen Früh- und Spätwerk, Würzburg, Königshausen & Neumann 2018 H. Kuhn, »Sein als Gabe«, in: Philosophische Rundschau 17/1–2 (1964) 59–89 R. Kühn, Leiblichkeit als Lebendigkeit. Michel Henrys Lebensphänomenologie absoluter Subjektivität als Affektivität, Freiburg/München, Alber 1992 –, Studien zum Lebens- und Phänomenbegriff, Cuxhaven-Dartford, Junghans 1994 –, Leben als Bedürfen. Eine lebensphänomenologische Analyse zu Kultur und Wirtschaft, Heidelberg, Springer-Physica 1996

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Gesamtbibliographie –, »Zur Problematik ›absoluter Phänomene‹ in der Husserlschen Phänomenologie«, in: Recherches Husserliennes 5 (1996) 83–108 –, »Differenz und Dissemination bei J. Derrida im Zusammenhang mit der Tradition der Sprach- und Cogitodifferenz« in: Prima Philosophia 11/1 (1997) 53–78 –, Husserls Begriff der Passivität. Zur Kritik der passiven Synthesis in der Genetischen Phänomenologie, Freiburg/München, Alber 1998 –, Radikalisierte Phänomenologie, Frankfurt/M., Peter Lang 2003 –, Radicalité et Passibilité. Pour une phénoménologie pratique, Paris, L’Harmattan 2003 –, Anfang und Vergessen. Phänomenologische Lektüre des deutschen Idealismus – Fichte, Schelling, Hegel, Stuttgart, Kohlhammer 2004 –, Gabe als Leib in Christentum und Phänomenologie, Würzburg, Echter 2004 –, Wort und Schweigen. Phänomenologische Untersuchungen zum originären Sprachverständnis, Hildesheim – Zürich – New York, Olms 2005 –, Innere Gewissheit und lebendiges Selbst. Grundzüge der Lebensphänomenologie, Würzburg, Königshausen & Neumann 2005 –, Pierre Maine de Biran – Ichgefühl und Selbstapperzeption. Ein Vordenker konkreter Transzendentalität in der Phänomenologie, Hildesheim – Zürich – New York, Olms 2006 –, Ästhetische Existenz heute. Zum Verhältnis von Leben und Kunst, Freiburg/ München, Alber 2007 –, Subjektive Praxis und Geschichte. Phänomenologie politischer Aktualität. Freiburg/München, Alber 2008 –, Praxis der Phänomenologie. Einübungen ins Unvordenkliche, Freiburg/München, Alber 2009 –, Gottes Selbstoffenbarung als Leben. Religionsphilosophie und Lebensphänomenologie, Würzburg, Echter 2009 –, Natur und Leben. Entwurf einer aisthetischen Proto-Kosmologie, Freiburg/ München, Alber 2011 –, »Récurrence éthique et passibilité originaire. Une métaphysique renouvelée de l’Infini affectif et communautaire chez Levinas et dans la phénoménologie de la vie«, in: R. Burggraeve u. J. Hansel u. a. (Hg.), Levinas autrement, Louvain – Paris, Peeters 2012, 228–249 –, Französische Religionsphilosophie und -phänomenologie. Metaphysische und post-metaphysische Positionen zur Erfahrungs(un)möglichkeit Gottes, Freiburg-Basel-Wien, Herder 2013 –, Leere und Aufmerksamkeit. Studien zum Offebnarungsdenken Simone Weils, Dresden, Text & Dialog 2014 –, Begehren und Sinn. Grundlagen für eine phänomenologisch-tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und Supervision – zugleich ein Beitrag zu Jacques Lacan, Freiburg/München, Alber 2015 –, Diskurs und Religion. Der psychoanalytische Wahrheitszugang nach Jacques Lacan als religionsphilosophische Problematik, Dresden, Text & Dialog 2016 –, »Der ›aufgeschobene Tod‹ im Begehren nach Jacques Lacan. Lebensphänomenologische Rückfragen an ein sprachlich-unbewusstes Therapiekonzept der Psychoanalyse«, in: Psychodynamische Psychotherapie. Forum der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapien 2 (2016) 95–113

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Gesamtbibliographie –, Wie das Leben spricht: Narrativität als radikale Lebensphänomenologie. Neuere Studien zu Michel Henry, Chams (CH), Springer 2016 –, »Die Frage nach der therapeutischen Grunderfahrung. Ein lebensphänomenologischer Dialog mit Freud und Lacan«, in: Jahrbuch der Psychoanalyse 75 (2017) 13–46 –, Lebensreligion. Unmittelbarkeit des Religiösen als Realitätszugang (Radikalphänomenologische Studien zu Religion und Ethik Band I), Dresden, Text & Dialog 2017 –, Lebensethos. Inkarnatorische Konkretionen originärer Lebensreligion (Radikalphänomenologische Studien zu Religion und Ethik Band II), Dresden, Text & Dialog 2017 –, Lebensmystik. Ursprüngliche Erfahrungseinheit von Religion und Ethik im Spiegel »Philosophischer Mystik« (Radikalphänomenologische Studien zu Religion und Ethik Band III), Dresden, Text & Dialog 2018 –, Der therapeutische Akt. Seine Singularität in Bezug auf Wissen und Wahrheit in lebensphänomenologischer und Lacan’scher Perspektive, Freiburg/München, Alber 2018 R. Kühn (Hg.), Pathos und Schmerz. Beiträge zur phänomenologisch-therapeutischen Relevanz immanenter Lebensaffektion, Freiburg/München, Alber 2017 R. Kühn u. S. Nowotny (Hg.), Michel Henry. Zur Selbsterprobung des Lebens und der Kultur, Freiburg/München, Alber 2002 R. Kühn u. M. Staudigl (Hg.), Epoché und Reduktion. Formen und Praxis der Reduktion in der Phänomenologie, Würzburg, Königshausen & Neumann 2003 R. Kurz, Die Welt als Wille und Design. Postmoderne Lifestyle-Linke und die Ästhetisierung der Krise, Berlin, Tiamat 1999 Ph. Kuwert u. M. Meyer zum Wischen (Hg.), Jacques Lacan. Eine Einführung für die therapeutische Praxis, Stuttgart, Kohlhammer 2917 J. Lacan, Le Séminaire XI: Les quatres concepts fondamentaux de la psychanalyse, Paris, Seuil 1964 –, Ecrits, Paris, Seuil 1966 (dt. Schriften I–III, Olten/Freiburg, Walther 1973) –, La Troisième« (Interview au Congrès de Rome 1974), in: Lettres de l’Ecole freudienne 16 (1975) 6–26 (überarbeitet in: Le Triomphe de la religion précédé de Discours aux Catholiques, Paris, Seuil 2005, 67–102: »Le triomphe de la religion«) –, Séminaire XX: Encore, Paris, Seuil 1975 (dt. Das Seminar XX: Encore, Berlin/ Weinheim, VCH-Verlag 1986) –, Le Séminaire VII: L’éthique de la psychanalyse 1959–1960, Paris, Seuil 1986 (dt. Das Seminar. Buch 7: Die Ethik der Psychoanalyse, Berlin, Quadriga 1995) –, Le Séminaire XIV: La logique du fantasme (1987), auf der Grundlage der Version der Ecole lacanienne de psychanalyse, Internet –, Le Séminaire XVII: L’envers de la psychanalyse, Paris, Seuil 1991 –, Le Séminaire XXIII: Le sinthome, Paris, Seuil 2005 –, Des Noms-du-Père, Paris, Seuil 2005

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Gesamtbibliographie –, Le Séminaire XVIII: D’un discours qui ne serait pas du semblant, Paris, Seuil 2007 –, Le séminaire XIX: … ou pire, Paris, Seuil 2011 –, Le Séminaire. Livre VI: Le désir et son interprétation, Paris, Éditions de la Martinière 2013 –, Struktur. Andersheit. Subjektkonstitution, Berlin, August Verlag 2015 Ph. Lacoue-Labarthe u. J.-L. Nancy (Hg.), Les fins de l’homme. A partir du travail de Jacques Derrida, Paris, Galilée 1981 E. Lange, An den Grenzen der Sprache. Studien zu Bataille, Frankfurt/M., Peter Lang 1982 N. Langlitz, Die Zeit der Psychoanalyse. Lacan und das Problem der Sitzungsdauer, Frankfurt/M., Suhrkamp 2005 S. Laoureux, L’immanence à la limite. Recherches sur la phénoménologie de Michel Henry, Paris, Cerf 2005 –, »Material phenomenology to the test of Destruction. Michel Henry and Derrida«, in: Studia Phaenomenologica 9 (2009) 237–248 –, »Affektivität, Spektralität und Historizität. Beitrag zu einer Marx-Debatte zwischen Michel Henry und Jacques Derrida«, in: E. Angehrn u. J. Scheidegger (Hg.), Metaphysik des Individuums. Die Marx-Interpretation Michel Henrys und ihre Aktualität, Freiburg/München, Alber 2011, 220–246 J. Laplanche u. J.-B. Pontalis, »Fantasme originaire, fantasme des origines, origine du fantasme«, in: Les Temps Modernes 215 (1964) 25–41 –, Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt/M., Suhrkamp 1986 J.-F. Lavigne (Hg.), Michel Henry. Pensée de la vie et culture contemporaine, Paris, Beauchesne 2006 J. Leclercq u. Chr. Perrin (Hg.), Genèse et structure de l’Essence de la manifestation, Paris, Hermann 2017 E. J. Lee, Pour une critique phénoménologique de la psychanalyse: Henry, Freud, Lacan, philos. Diss. Universität Straßburg 2009 G. Leghissa, »Dekonstruktion und die Rhetoriken der Fundierung bei Jacques Derrida«, in: R. Kühn u. M. Staudigl (Hg.), Epoché und Reduktion. Formen und Praxis der Reduktion in der Phänomenologie, Würzburg, Königshausen & Neumann 2003, 177–196 G. W. Leibniz, Principes de la nature et de la grâce fondés en raison (Hg. A. Robinet), Paris, PUF 1954 H. Leroux, »Sur quelques aspects de la réception de Max Scheler en France«, in: E. W. Orth u. G. Pfaffenroth (Hg.), Studien zur Philosophie von Max Scheler (Phänomenologische Forschungen 28/29), Freiburg/München, Alber 1995, 332–356 M. Lescourret, L’intrigue de l’infini, Paris, Albin Michel 1994 S. Lesourd, »La mélancolisation du sujet postmoderne ou la disparition de l’Autre«, in: Cliniques Méditerranéennes 75/1 (2007) 54–73 A. Letzkus, Dekonstruktion und ethische Passion. Denken des Anderen nach Jacques Derrida und Emmanuel Levinas, München, Fink 2002 E. Levinas, Théorie de l’intuition dans la phénoménologie de Husserl, Paris, Alcan 1930

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Gesamtbibliographie –, En découvrant l’existence avec Husserl et Heidegger, Paris, Vrin 1949 (erw. Ausgabe 1967) –, Quatres lectures talmudiques, Paris, Minuit 1968 –, »De la conscience à la veille. A partir de Husserl«, in: Bijdragen 35 (1974) 235– 249 –, Autrement qu’être ou au-delà de l’essence, Den Haag, Nihoff 1974 (dt. Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg/München, Alber 1992) –, »L’être et l’autre. A propos de Paul Celan«, in: G. B. Madison (Hg.), Sens et existence. En hommage à Paul Ricœur, Paris, Seuil 1975, 23–30 –, Difficile liberté. Essais sur le judaisme, Paris, Albin Michel 1976 –, Du sacré au saint. Cinq nouvelles lectures talmudiques, Paris, Minuit 1977 (dt. Talmud-Lesungen. Vom Sakralen zum Heiligen. Fünf neue Talmud-Lesungen, München, Hanser 1998) –, De Dieu qui vient à l’idée, Paris, Vrin 1982 (dt. Wenn Gott ins Denken einfällt, Freiburg/München, Alber 1988) –, Ethik und Unendliches. Gespräche mit Philippe Nemo, Graz/Wien, Böhlau 1986 –, »Philosophie et transcendance«, in: Encyclopédie Universelle I (Hg. A. Jacob), Paris, PUF 1989, 38–45 –, Humanismus des anderen Menschen, Hamburg, Meiner 1989 –, »L’obsession de l’autre: L’éthique comme traumatisme«, in: Levinas. Cahier de l’Herne (1991) –, Totalité et Infini. Essai sur l’extériorité, Den Haag, Nijhoff 1991 (dt. Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg/München, Alber 31993) –, Entre nous, Essais sur le penser-à-l’autre, Paris, Grasset 1991 (dt. Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen, München, Hanser 1991) –, Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg/München, Alber 1992 C. Lévi-Strauss, Pensée sauvage, Paris, Gallimard 1962 Z. Levy, »Der Begriff der Spur bei E. Levinas und J. Derrida. Einflüsse und Rückwirkungen«, in: Prima Philosophia 4/2 (1991) 149–164 G. Lipovetsky, L’Ere du vide. Essais sur l’individuaalisme contemporain, Paris, Gallimard 1983 S. Lippi, Transgressions. Bataille, Lacan, Paris, Erès 2008 J.-M. Longneaux, Etude sur le spinozisme de Michel Henry, Paris, PUF 2004 –, »Une phénoménologie du dessin: Michel Henry et l’art abstrait total d’August von Briesen«, in: A. Jdey u. R. Kühn (Hg.), Michel Henry et l’affect de l’art. Recherches sur l’esthétique de la phénoménologie matérielle, Leiden-Boston, Brill 2012, 133–157 A. Löwe, R. Lesmeister u. D. Krochmalnik (Hg.), Gesetz und Begehren. Theologische, philosophische und psychoanalytische Perspektiven, Freiburg/München, Alber 2017 S. Luft-Steidl, Fitness- und Gesundheitsbewegung – Neuauflage der Diätetik? Untersuchungen zu einer Philosophie der Gesundheit, Freiburg/München, Alber 2018

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Gesamtbibliographie N. Luhmann, Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/ M., Suhrkamp 1984 M. Lützeler (Hg.), Spätmoderne und Postmoderne. Beiträge zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Frankfurt/M., Fischer 1991 J.-F. Lyotard, Des dispositifs pulsionnels, Paris, Minuit 1973 –, Economie libidinale, Paris, Galilée 1974 –, La condition postmoderne. Rapport sur le savoir, Paris, Minuit 1979 (dt. Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Wien, Passagen 52005) –, Le différend, Paris, Minuit 1983 (dt. Der Widerstreit, München, Fink 21989) –, Le Postmoderne expliqué aux enfants 1982–1985, Paris, Gallimard 1986 (dt. Postmoderne für Kinder. Briefe aus den Jahren 1982–1985, Wien, Passagen 21989) –, L’Inhumain. Causeries sur le temps, Paris, Minuit 1989 (dt. Das Inhumane. Plaudereien über die Zeit, Wien, Passagen 1989) –, Leçons sur l’Analytique du sublime (Kant, Critique de la faculté de juger, §§ 23–29), Paris, Minuit 1991 (dt. Die Analytik des Erhabenen (Kant-Lektionen, Kritik der Urteilskraft, §§ 23–29), München, Fink 1994) –, Moralités postmodernes, Paris, Gallimard 1993 (dt. Postmoderne Moralitäten, Wien, Passagen 1998) C. Macann, »Deux concepts de transcendance«, in: Revue de Métaphysique et de Morale 1 (1986) 24–46 D. Madson, Postmodernism. A Bibliography, Amsterdam, Rodopi 1995 M. Maesschalck, »Radikale Phänomenologie und Normentheorie«, in: S. Nowotny u. M. Staudigl (Hg.), Perspektiven des Lebensbegriffs. Randgänge der Phänomenologie, Hildesheim – Zürich – New York, Olms 2005, 277–300 –, Transformations de l’éthique. De la phénoménologie radicale au pragmatisme social, Brüssel, Peter Lang 2010 M. Maesschalck u. T. Dedeurwaedere, »Ist eine Kultur des Lebens möglich?«, in; S. Nowotny u. M. Staudigl (Hg.), Grenzen des Kulturkonzepts. Meta-Genealogien, Wien, Turia + Kant 2003, 187–204 K. Mai, Die Phänomenologie und ihre Überschreitungen. Husserls reduktives Philosophieren und Derridas Spur der Andersheit, Stuttgart, Metzler 1996 C. Maier u. H. van Laak, Die Entdeckung des Begehrens, München, Goldmann 2007 C. Majolino, »Est individuum ineffabile? Phänomenologische Bemerkungen über Wesen, Differenz und Selbstaffektion«, in: R. Kühn u. S. Nowotny (Hg.), Michel Henry. Zur Selbsterprobung des Lebens und der Kultur, Freiburg/München, Alber 2002, 81–106 P. Maine de Biran, Influence de l’Habitude sur la faculté de penser (Hg. P. Tisserand), Paris, PUF 1954 –, Von der unmittelbaren Apperzeption. Berliner Preisschrift 1807, Freiburg/ München, Alber 2008 H. Maldiney, Penser l’homme et la folie, Grenoble, Millon 32007 B. Mallinger, »Angst und Begehren im erotischen Verhältnis«, in: G. Funke u. a. (Hg.), Existenzanalyse und Lebensphänomenologie. Berichte aus der Praxis, Freiburg/München, Alber 2006, 162–173

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