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German Pages 350 Year 2016
Alexandra Tacke (Hg.) Blind Spots – eine Filmgeschichte der Blindheit vom frühen Stummfilm bis in die Gegenwart
DISABILITY STUDIES • KÖRPER – MACHT – DIFFERENZ • BAND 12
Editorial Die wissenschaftliche Buchreihe Disability Studies: Körper – Macht – Differenz untersucht »Behinderung« als eine historische, soziale und kulturelle Konstruktion; sie befasst sich mit dem Wechselspiel zwischen Machtverhältnissen und symbolischen Bedeutungen. Die Reihe will neue Perspektiven eröffnen, die auch den medizinischen, pädagogischen und rehabilitationswissenschaftlichen Umgang mit »Behinderung« korrigieren und erweitern. Sie geht aus von Phänomenen verkörperter Differenz. Fundamentale Ordnungskonzepte, wie sie sich in Begriffen von Normalität und Abweichung, Gesundheit und Krankheit, körperlicher Unversehrtheit und subjektiver Identität manifestieren, werden dabei kritisch reflektiert. Im Horizont gesellschaftlicher Entwicklungen will die Buchreihe Disability Studies zur Erforschung zentraler Themen der Moderne beitragen: Vernunft, Menschenwürde, Gleichheit, Autonomie und Solidarität. Die Reihe wird herausgegeben von Anne Waldschmidt (Internationale Forschungsstelle Disability Studies, Universität zu Köln), in Zusammenarbeit mit Thomas Macho (Institut für Kultur- und Kunstwissenschaften, HumboldtUniversität Berlin), Werner Schneider (Philosophisch-Sozialwissenschaftliche Fakultät, Universität Augsburg), Prof. Dr. Anja Tervooren (Fakultät für Bildungswissenschaften, Universität Duisburg-Essen) und Heike Zirden (Berlin).
Alexandra Tacke (Hg.)
Blind Spots – eine Filmgeschichte der Blindheit vom frühen Stummfilm bis in die Gegenwart
DISABILITY STUDIES
Der Druck des vorliegenden Buches wurde großzügig gesponsert von der Hörmann-Gruppe (www.amHerzen.de ):
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2016 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Der Druck des Covers erfolgt mit der freundlichen Genehmigung des Künstlers und seiner Galerie Koyanagi Hiroshi Sugimoto: Carpenter Center, Richmond (1993) Gelatin silver print, 42.3 x 54.2 cm, Negative 255 © Hiroshi Sugimoto/Courtesy of Gallery Koyanagi Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-2709-1 PDF-ISBN 978-3-8394-2709-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Einleitung Blind Spots der Filmgeschichte
Alexandra Tacke | 7 Bilder zwischen Blick und Berührung Zum ästhetischen Diskurs der Blindheit in Friedrich Wilhelm Murnaus Der Gang in die Nacht (1920/21) und Emerich Hanus’ Die Sühne (1917)
Fabienne Liptay | 37 „I can see now!“ Charlie Chaplins City Lights (1931) und Samuel Becketts Film (1965)
Alexandra Tacke | 57 Obsession der Erlösung Douglas Sirks Magnificent Obsession (1954)
Jörn Ahrens | 77 Der totale Filmemacher Michael Powells Peeping Tom (1959)
Sulgi Lie | 91 Schwarz-Weiß-Bilder und Schwarz-Weiß-Denken Guy Greens A Patch of Blue (1965)
Caroline Riggert | 111 Nicht-Sehen als Bildereignis Schlaf, Traum und Blindheit in Luis Buñuels Filmkunst
Dagmar von Hoff | 129 Die Gefährdung des Blicks Terence Youngs Thriller Wait until Dark (1967)
Astrid Hackel | 143 „Am Ende gab es nur noch Bilder“ Blindheit und Bilderflut in Wim Wenders’ Bis ans Ende der Welt (1991)
Lena Wetenkamp | 163
Hören statt Sehen? Derek Jarmans Blue (1993) als Hör-Film
Vito Pinto | 181 „I have Seen It All“ Blindheit und Künstlertum in Lars von Triers Dancer in the Dark (2000)
Julia Boog | 199 Justitia ist blind Behinderung und Gerechtigkeit in Mark Steven Johnsons Daredevil (2003/04)
Arno Meteling | 215 Was die Welt zusammenhält Figurationen des Sozialen in Fernando Meirelles’ Blindness (2008)
Hauke Lehmann | 233 „Wer kauft sich schon ein blindes Pferd?“ Das Motiv der Blindheit in Spielfilmen der DEFA 1950-1990
Annette Dorgerloh | 251 Blindes Sehen Kämpfen ohne Augenlicht in japanischen Zatoichi-Filmen
Julia B. Köhne | 273 Arbeit am Zeichen Blindheit im chinesischen Gegenwartsfilm (1991-2014)
Johannes D. Kaminski | 303 Nicht-Sehen in der audiovisuellen Kultur Zur Produktion von Blindheit in TV-Wissenssendungen
Anna Grebe | 323 Autorinnen und Autoren | 345
Einleitung Blind Spots der Filmgeschichte A LEXANDRA T ACKE Wenn der Regisseur, was neuerdings häufig vorkommt, direkt in den Projektorstrahl hineinsieht, sagen die Assistenten: „Er sieht ins Licht, er nimmt seine tägliche Lichtdusche.“ Tatsächlich sendet der Apparat jede Sekunde 24 Bilder; er sendet aber auch in derselben Sekunde 24 Mal Dunkelheit. Das ist das Geheimnis des Kinos. ALEXANDER KLUGE Als die Bilder (angeblich) laufen lernten, lernten sie vor allem eins: die menschliche Wahrnehmung zu unterlaufen. Seitdem phantasieren Augenmenschen Movies, ohne zu ahnen, wo der Film sich ereignet. Denn nur in trägen Wahrnehmungsorganen findet Film statt, keineswegs auf der Leinwand. PETER BEXTE Wir sehen nicht, dass wir nicht sehen. HEINZ VON FOERSTER
B LIND S POTS – H IROSHI S UGIMOTOS T HEATERS In der Fotoserie Theaters hat der japanische Künstler Hiroshi Sugimoto von 1975 bis 2001 unterschiedliche Vorkriegskinos in den USA aufgenommen, die in der Hollywood-Ära erbaut worden sind, in ihrer Bauweise allerdings an alte Schauspiel- und Opernhäuser Europas des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts erinnern.1 Auf dem Buchcover des vorliegenden Sammelbandes ist das Carpenter
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Vgl. dazu u.a. den Ausstellungskatalog: Kerry Brougher, David Elliott (Hrsg.): Hiroshi Sugimoto. Ostfildern: Hatje Cantz 2005, S. 76ff.
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Center in Richmond abgebildet, welches in seinen Verzierungen besonders prächtig ist, über diverse Seitenlogen sowie eine der seltenen Stummfilmorgeln verfügt. Wie in vielen dieser alten Kinosälen, wird auch die Filmleinwand des Carpenter Centers von vorhangartigen Ausschmückungen gerahmt, die in Trompe l’ŒuilTechnik gemalt oder aus Stuckaturen aufwendig modelliert worden sind. Das Konzept der Theater-Serie von Hiroshi Sugimoto ist einfach: Während auf der Leinwand ein Film gezeigt wird, fotografiert Sugimoto den leeren Kinosaal. Die Fotokamera nimmt dabei den Ort der Filmspule ein, während die Blende so lange geöffnet bleibt, bis der gesamte Kinosaal durch die Lichtbilder der Filmvorführung genügend ausgeleuchtet ist. Der Trick ist der, dass der Fotoapparat mit seiner starren Mechanik alle Bilder annulliert, „die während der Zeit der Filmdauer vor unseren Augen abgespult worden sind“2, und dafür nur ein ‚Lichtbild‘ – ein Bild von reinem Licht – erzeugt. Die Fotokamera ist nicht in der Lage die 24 Bilder pro Sekunde festzuhalten, „sondern bleibt auf den Kinosaal fixiert, welcher zu den in ihm gezeigten Filmen in einem unaufhebbaren Gegensatz steht. Statt die Orte im Film zu ergreifen, ist die Kamera auf den Ort ausgerichtet, an dem der Film vorgeführt wird.“3 Sieht der Kinozuschauer normalerweise von dem Ort der Vorführung ab und verliert sich in den imaginären Räumen, die auf der Leinwand gezeigt werden, leuchtet bei Sugimoto der Film als Lichtbild das sonst unsichtbar bleibende Off des Kinosaals hell aus. Das Off, welches üblicherweise in Dunkelheit getaucht ist und vom Zuschauer ausgeblendet wird, tritt als solches hervor und wird in seiner ganzen illusionären Pracht sichtbar. Auch wenn die Fotokamera unfähig ist, das Bewegungsbild des Films zu erfassen und den Film nicht sieht, nutzt sie ihn als Lichtbild, das als Reflex-Licht in den Kinosaal zurückstrahlt und diesen als Ort der Illusionen sichtbar werden lässt. Es ist, wie Hans Belting ausführt, „ein Zuviel an Licht, das die transportierten Bilder aufsaugt. Zieht man die Bilder ab, so wird das Licht selbst-reflexiv.“4 Wechseln die Kinosäle in der Serie von Hiroshi Sugimoto zwar und beeindrucken durch ihre Vielfalt und ihre Pracht, bleibt die Leinwand im Zentrum der Fotografien stets „ein helles, leeres Rechteck, auf dem nur das Licht der Filme zurückgeblieben ist“5. Die leere, weiße Leinwand, die auf den Film verweist, „der nicht ins Bild kommt, obwohl er vor der geöffneten Kamera abgelaufen ist“6, ist der blinde Fleck der Fotoserie. Geschickt schreibt Sugimoto damit ins Zentrum
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Hans Belting: Der Blick hinter Duchamps Tür. Kunst und Perspektive bei Duchamp, Sugimoto, Jeff Wall. Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König 2009, S. 92.
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Ebd.
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Ebd., S. 90.
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Ebd.
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Ebd., S. 86f.
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seiner Kinosäle „ein Gedächtnis des blinden Flecks der Sichtbarkeit“7 ein und erinnert daran, dass man spätestens mit der Entdeckung des blinden Flecks 1668 durch Edmé Motte weiß, dass Sehen grundsätzlich nicht perfekt ist: „Nur weil jedes Auge imperfekt ist und eine partielle Blindheit“8 im Zentrum des Auges aufweist, ist Sehen möglich. Denn dort, wo der Sehnerv in die Mitte des Auges eintritt, ist nicht – wie Motte zunächst angenommen hat – die höchste Sehkraft lokalisiert, sondern findet ganz im Gegenteil „überhaupt keine Wahrnehmung statt, ohne daß man dies seinerseits wahrnehmen könnte.“9 Blindheit ist und bleibt somit konstitutiv für jeden Sehakt und ist deshalb immer auch ein Problem der Sehenden. So ist der Raum des Nicht-Sehens prinzipiell auch größer als man meint: Neben die Trägheit des Organs für schnelle Einzelbilder, durch die überhaupt erst die Bewegungsillusion der Kinobilder zustande kommt, tritt die selektive Wahrnehmung, die einen hohen Anteil des Gesichtsfeldes immer dann ausblendet, wenn man sich auf etwas konzentriert. Zudem ist das Gesichtsfeld selbst recht klein bemessen: „durch Unschärfen an den Rändern sowie völlige Wahrnehmungslosigkeit für alles, was hinter dem Rücken geschieht.“10 Partielle Blindheit gehört somit zu jeder visuellen Wahrnehmung, wenngleich man meistens nicht sieht, dass man nicht sieht bzw. was man nicht sieht. Deshalb bleiben Off und blinder Fleck häufig auch gleichermaßen unreflektiert und verharren im unsichtbaren Dunkeln.
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Michael Wetzel: ‚Ein Auge zuviel.‘ Derridas Urszenen des Ästhetischen. In: Jacques Derrida: Aufzeichnungen eines Blinden. Das Selbstporträt und andere Ruinen. München: Wilhelm Fink, S. 129-155, hier S. 133.
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Peter Bexte: Peeping Tom. Ein Brief über die Sehenden. Zum Gebrauch für die Blinden. In: Petra Lutz, Thomas Macho, Gisela Staupe, Heike Zirken (Hrsg.): Der [im-]perfekte Mensch. Metamorphosen von Normalität und Abweichung. Köln: Böhlau 2003, S. 205213, hier S. 212. Vgl. zur Entdeckung des blinden Fleck auch Peter Bexte: Licht und Fleisch im 17. Jahrhundert: die Entdeckung des blinden Flecks. In: Carolin Bohlmann, Thomas Fink, Philipp Weiss (Hrsg.): Lichtgefüge des 17. Jahrhunderts Rembrandt und Vermeer – Spinoza und Leibniz. München: Wilhelm Fink 2008, S. 79-90 und Peter Bexte: Wo immer vom Sehen die Rede ist... München: Wilhelm Fink 2013, S. 9ff.
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P. Bexte: Peeping Tom, S. 212. Vgl. zum blinden Fleck auch die Beschreibung bei Claubril Ennepi: „Der >Blinde Fleck< des Auges ist jene zentrale Stelle, an der der Nervenstrang an den Augapfel angeschlossen ist und an der sich keine Sehzellen befinden. Er ist, direkt neben dem >gelben FleckMechanisierung des Weltbildes< ab dem 17. Jahrhundert grenzt sich die Bedeutung des Auges mehr und mehr gegen die übrigen Sinne ab und verändert sich.“28 Eine Entsinnlichung, Objektivierung, Sexualisierung und Zentralisierung des Blicks findet satt, die nicht zuletzt im 20. Jahrhundert auch in der perfekten Illusionstechnik des Kinos kulminiert. Allerdings stellt Blindheit dabei grundsätzlich das ausgeschlossene Dritte der optischen Apparaturen und Diskurse dar,29 weshalb sich das Kino wahrscheinlich auch von seinen frühen Anfängen an von Blindheiten, Blickstörungen und Blendungen fasziniert gezeigt hat.
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DER
B LINDHEIT
Blindheit als eine der „imaginären Leitbehinderungen“30 zählt – gefolgt von Paralyse und Taubheit – zu den häufigsten dargestellten körperlichen Beeinträchti-
25 Jens Hinrichsen: Blinde im Kino. Von D.W. Griffith bis Lars von Trier – Wie Blinde und Sehbehinderte in Spielfilmen gesehen werden. (Masterarbeit) GRIN Verlag für akademische Texte 2004, S. 10. 26 Vgl. dazu u.a. Ursula Link-Herr, Volker Roloff (Hrsg.): Luis Buñuel. Film – Literatur – Intermedialität. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1994. 27 Vgl. dazu Raymond Durgnat: Luis Buñuel. Berkeley: University of California Press 1968, S. 101.
28 Thomas Kleinspehn: Der flüchtige Blick. Sehen und Identität in der Kultur der Neuzeit. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1989, S. 16. 29 Vgl. dazu u.a. Gisela Febel: Blindheit als Epideixis der Medialität. In: Dies., Jean-Baptiste Joly, Gerhart Schröder (Hrsg.): Kunst und Medialität. Stuttgart: Merz & Solitude 2004, S. 37-60. 30 Vgl. die Definition für ‚imaginäre Leitbehinderungen‘ bei Thomas Macho: „Und natürlich waren es oft auch Behinderungen, die gleichsam zu imaginären „Leitbehinderungen“ aufstiegen; vielfältige kulturelle Phantasien konnten sich an sie binden: an die Sprachbehinderungen im 18. Jahrhundert, an Hysterie und Neurasthenie im 19. Jahrhundert, an die Amputationen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.“ (Thomas Ma-
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gungen im Film.31 Längst gibt es mehrere Hundert Filme, in denen Blindheit bedeutsam wird, darunter Filmklassiker ebenso wie Horror-Filme, B-Movies, Thriller, Western, Melodramen, Musicals, Komödien und Fernsehserien. Kaum einer der großen Autorenfilmemacher hat es sich nehmen lassen, sich zumindest in einem seiner Filme mit Blindheit auseinanderzusetzen: Charlie Chaplin, FriedrichWilhelm Murnau, Fritz Lang, David W. Griffith und Douglas Sirk gehören ebenso dazu wie Luis Buñuel, Michael Powell, Derek Jarman, Jim Jarmusch, Ingmar Bergman, Woody Allen, Jean-Luc Godard oder auch Wim Wenders und Alexander Kluge. Auch jüngere Filmemacher wie Lars von Trier, Takeshi Kitano, Tom Tykwer, Steven Spielberg, Majid Majidi, Zhang Yimou, Isabel Coixet, Fernando Meirelles und Pedro Almodóvar sind in diesem Zusammenhang zu nennen. Die Liste ließe sich beliebig lang um weitere illustre Namen erweitern und liest sich schon jetzt wie das Who is Who der Filmgeschichte. Berühmte Schauspieler/innen wie Henny Porten, Beatty Davis, Audrey Hepburn, Mia Farrow, Juliette Binoche, Uma Thurman, Cary Grant, James Cagney, Jean Gabin, John Garfield, Al Pacino, Ben Afflek und viele andere mehr sind nicht zuletzt auch für ihre subtile Darstellung eines Blinden in die Filmgeschichte eingegangen. Die Verkörperung eines blinden Menschen zählt immer noch zu den großen Herausforderungen für Schauspieler/innen, die als Charakterdarsteller ernst genommen werden und ihre Aussichten auf einen Oscar erhöhen wollen.32 In
cho: Einleitung. In: Petra Lutz, ders., Gisela Staupe, Heike Zirken (Hrsg.): Der [im-]perfekte Mensch. Metamorphosen von Normalität und Abweichung. Köln: Böhlau 2003, S. 118-119, hier S. 119). 31 Vgl. dazu das Ranking bei Jack A. Nelson: Broken Images: Portrayals of Those with Disabilities in American Media. In: Ders. (Hrsg.): The Disabled, the Media and the Information Age. Westport/Connecticut/London: Greenwood Press 1994, S.1-24, hier S. 20. Silke Bartmann platziert die Blinden auf den 2. Platz: „Nach den Körperbehinderten (‚Buckelige‘, Einbeinige, Hinkende, Rollstuhlfahrer etc.) rangieren an zweiter Stelle die Blinden.“ (Silke Bartmann: Der behinderte Mensch im Spielfilm. Münster: LIT-Verlag 2001, S. 87). Dass neben Blindheit sich vor allem Rollstuhlfahrer ebenso wie Taube besonders dazu eignen, eine selbstreflexive Ebene in Filmen hinzuzufügen, ist bislang nicht reflektiert worden. Schließlich hat man es bei dem audio-visuellen Medium Film vornehmlich mit Sehen und Hören zu tun. Außerdem wird der Zuschauer im Kino in seinem Sessel ähnlich stillgestellt wie ein Rollstuhlfahrer. 32 Vgl. zu der Tatsache, dass Schauspieler/innen häufig Oscars erhalten, wenn sie Charaktere spielen, die sich durch eine der drei englischen D’s (= disadvantage, deficit, disability) auszeichnen, den Beitrag von Lara Masters und Stefan Heiner: Behinderte bevorzugt? Der >Oscar< und die >handi-capableTaststock< [...]. Wie ein Blinder ertastet sie den filmischen Raum, während der Blick versagt.“80 Das Kino wird zu einem Ort der Blinden, wo die Bilder im Kopf über andere Sinne entstehen. Von Franz Kafka erzählt man sich die Anekdote, dass er schallend zu lachen angefangen hat, als ihm einmal ein Freund von einem kleinen Lichtspieltheater in einem Prager Arbeiterviertel erzählt hat, das über dem Portal die Inschrift Kino der Blinden (tschechisch: Bio slepcu) führte, da die Kinolizenz dem Unterstützerverein der Blinden gehörte. „Bio slepcu! So sollten eigentlich alle Kinos heißen“, rief Kafka aus, werden die Zuschauer „durch die Filmbilder ja nur wirklichkeitsblind“81. Die schnell hintereinander ablaufenden Einzelbilder, die die inneren Bilder der Imagination permanent überlagern, verhindern die Möglichkeit einer nachhaltigen Kontemplation und Reflexion. Deshalb macht das Kino die Zuschauer auch meistens blind für die blind spots ihrer eigenen Wahrnehmung; es gleicht einem Ort der ‚Blinden‘, die nicht sehen, dass sie nicht sehen.
80 R. Overthun: Unförmliche Texturen, S. 58. 81 Gustav Janouch: Gespräche mit Kafka. Aufzeichnungen und Erinnerungen. Frankfurt a. M.: S. Fischer 1968, S. 1965. Zu dem Verhältnis von Kafka zum Kino vgl. auch PeterAndré Alt: Kafka und der Film. Über kinematographisches Erzählen. München: C.H. Beck 2009 sowie Hanns Zischler: Kafka geht ins Kino. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1998.
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F ILMOGRAPHIE (A USWAHL ) Die vorliegende Filmographie erhebt keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit, weshalb auch von einer Auswahl gesprochen wird. Schätzungsweise gibt es mehrere Hundert Filme zum Thema Blindheit. Darüber hinaus haben auch B-Movies, Horrorfilme, Thriller, Fernsehfilme und -serien längst das Thema für sich entdeckt. Das Projekt einer Gesamtfilmographie stellt sich somit als äußerst schwierig heraus. Abgesehen davon ist dies mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen bereits mehrfach unternommen worden: Das britische Film Institut verfügt über einen Katalog White sticks, wheels and crutches, der 2003 zum Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderung erschienen ist und all die Filme zur Blindheit verzeichnet, die im Besitz des Instituts sind.82 Die Filmographie Images of Blind and Visually Impaired People in the Movies 1913-1985 von Wendy Ericksons und Diane Wolfe, die ursprünglich auch als Datenbank von der M.C. Migel Memorial Library betreut und fortführend ergänzt werden sollte, jedoch bis heute nicht online einsehbar ist, legt ihren Fokus vornehmlich auf US-amerikanische Spielfilme.83 Joel Saltzmans Guide to Films about Blindness berücksichtigt neben Spielfilmen auch Dokumentarfilme, Kurzfilme und pädagogische Lehrfilme.84 Einen guten Überblick über filmische Repräsentationen einzelner Behinderungen hat lange Zeit die von David Greenhalgh erstellte Webseite www.disabilityfilms.co.uk geboten, die zurzeit jedoch nicht mehr funktionsfähig ist. Ein ähnlich ambitioniertes Projekt verfolgt seit kürzerer Zeit auch die Webseite www.kubfiction.de. Die nachstehende Filmographie führt alle in der Einleitung sowie in den Einzelbeiträgen genannten Filme zum Thema Blindheit auf. Darüber hinaus werden weitere bekannte internationale Regisseure und ihre Filme genannt, die in diesem Band leider nur am Rande oder gar nicht erwähnt werden konnten. Ebenso wurden einige künstlerische Filmprojekte sowie populärere Filme, die leicht zugänglich sind, mit aufgelistet. Bereits aus der nachstehenden Filmauswahl wird ersichtlich, dass es thematisch noch viel zu entdecken gibt und die Filmgeschichte der Blindheit in ihrer Gänze erst noch geschrieben werden muss. Indem der vorliegende Band erstmals filmästhetische Fragen mit solchen der Disability Studies an ausgewählten Beispielen verbindet, versteht er sich als erster Grundstein, auf dem in Zukunft noch weitere Studien aufbauen können.
82 British Film Institute (Hrsg.): White sticks, wheels and crutches. Disability and the moving image. London 2003. 83 Wendy Erickson, Diane Wolfe: Images of Blind and Visually Impaired People in the Movies 1913-1985. New York: American Foundation for the Blind 1985. 84 Joel Saltzman: Guide to Films about Blindness. New York: American Foundation for the Blind 1978.
32 | A LEXANDRA T ACKE Walter R. Booth: His Daughter’s Voice (GB 1907) David W. Griffith: The Man and the Woman (USA 1908) Curt A. Stark, Heinrich Bolten-Baeckers: Das Liebesglück der Blinden (D 1910/11) Edwin S. Porter: A Good Little Devil (USA 1914) Emerich Hanus: Die Sühne (D 1917) Friedrich-Wilhelm Murnau: Der Gang in die Nacht (D 1920/21) David W. Griffith: Orphans of the Storm/ Zwei Waisen im Sturm (USA 1921) Benjamin Christensen: Seine Frau, die Unbekannte (D 1923) William Christy Cabanne: Youth for Sale (USA 1924) Howard Hawks: The Road to Glory (USA 1926) Hugo Rütters: Vom Reiche der sechs Punkte (D 1927) Paul Leni: The Man Who Laughs/ Der Mann der lacht (USA 1928) Luis Buñuel: Un chien andalou/Ein andalusischer Hund (F 1928) Fritz Lang: M – eine Stadt sucht einen Mörder (D 1931) Charlie Chaplin: City Lights/Lichter der Großstadt (USA 1931) James Flood: Wings in the Dark/ Licht im Dunkeln (USA 1935) Walter Summers: The dark eyes of London/ Der Würger (UK 1939) Edmund Goulding: Dark Victory/ Opfer eine großen Liebe (USA 1939) William A. Wellman: The Light That Failed (USA 1939) Anatole Litvak, Jean Negulesco: City for Conquest/ Im Taumel der Weltstadt (USA 1940) John Ford: How Green Was My Valley/So grün war mein Tal (USA 1941) Fred Zinnemann: Eyes in the Night/ Die Spur im Dunkel (USA 1942) Alfred Hitchcock: Saboteur/ Saboteure (USA 1942) Delmer Davis: Pride of the Marines (USA 1945) John Cromwell: The Enchanted Cottage/ Mit den Augen der Liebe (USA 1945) Alfred Hitchcock: The Paradine Case/ Der Fall Paradin (USA 1947) Ingmar Bergman: Musik i mörker/ Musik im Dunkeln (Schweden 1948) Luis Buñuel: Los olvidados/ Die Vergessenen (Mex. 1950) Robert S. Baker: Blackout (GB 1950) Rudolph Maté: Union Station/ Menschen ohne Seele (USA 1950) Mark Robson: Bright Victory/ Sieg über das Dunkel (USA 1951) Douglas Sirk: Magnificent Obsession/ Wunderbare Macht (USA 1951) Georges Lacombe: La nuit est mon royaume/ Die Nacht ist mein Reich (F 1951) Martin Hellberg: Thomas Müntzer – Ein Film deutscher Geschichte (DDR 1956) David Miller: The Story of Esther Costello/ Esther Costello (USA 1957) Peter Maxwell: Blind Spot/ Der blinde Rächer (UK 1958) Delmer Daves: The Hanging Tree/ Der Galgenbaum (USA 1959) Michael Powell: Peeping Tom/ Augen der Angst (GB 1959) Wolf Rilla: Witness in the Dark (GB 1959) Gottfried Kolditz, Rawsha Dordschpalan: Die goldene Jurte (DDR/Mongolische VR 1961) Alfred Vohrer: Die toten Augen von London (D 1961)
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Kenji Misumi: Zatôichi monogatari/ The Tale of Zatoichi (Japan 1962) Kazuo Mori: Zoku Zatôichi monogatari/ The Tale of Zatoichi continues (Japan 1962) Arthur Penn: The Miracle Worker/ Licht im Dunkel (USA 1962) Lance Comfort: Blind Corner (UK 1963) Johan van der Keuken: Blind kind/ Blind Child (NL 1964) William Castle: The Night Walker/ Er kam nur nachts (USA 1964) Samuel Beckett: Film (USA 1965) Guy Green: A Patch of Blue/ Träumende Lippen (USA 1965) Paul Henreid: Ballad in Blue/ Halt die Tasten heiß (USA 1965) Luis Buñuel: Belle du jour/ Schöne des Tages (F 1967) Terence Young: Wait Until Dark/ Warte, bis es dunkel wird (USA 1967) Konrad Wolf: Ich war neunzehn (DDR 1968) Luis Buñuel: La voie lactée/ Die Milchstraße (F/BRD/I 1969) Tony Richardson: Laughter in the Dark/ Der Satan mischt die Karten (GB/F 1969) Yasuzô Masumura: Blind Beast/ Die blinde Bestie (Japan 1969) Kihachi Okamoto: Zatôichi to Yôjinbo/ Zatoichi meets Yojimbo (Japan 1970) Werner Herzog: Land des Schweigens und der Dunkelheit (BRD 1971) Richard Fleischer: See No Evil/ Stiefel, die den Tod bedeuten (USA 1971) Kimiyoshi Yasuda: Zatoichi and the One Armed Swordsman (Hong Kong 1971) Egon Günther: Der Dritte (DDR 1972) Milton Katselas: Butterflies Are Free/ Schmetterlinge sind frei (USA 1972) Nicolas Roeg: Don’t Look Now/ Wenn die Gondeln Trauer tragen (I/GB 1973) Dino Risi: Profumo di donna/ Der Duft der Frauen (I 1974) Donald Wrye: Ice Castles/ Eisfieber (USA 1978) Egon Schlegel: Das Pferdemädchen (DDR 1979) Delbert Mann: Love Leads the Way: A True Story/ Augen in der Dunkelheit (USA 1984) Robert Benton: Places in the Heart/ Ein Platz im Herzen (USA 1984) Alexander Kluge: Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit (BRD 1985) Frederick Wiseman: Blind (USA 1987) Ursula Schmenger: Rapunzel oder der Zauber der Tränen (DDR 1988) Peter Bogdanovich: Mask/ Die Maske (USA 1988) Arthur Hiller: See No Evil, Hear No Evil/ Die Glücksjäger (USA 1989) Phillip Noyce: Blind Fury/ Blinde Wut (USA 1989) Woody Allen: Crimes and Misdemeanors/ Verbrechen und andere Kleinigkeiten (USA 1989) Gunther Scholz: Das Licht der Liebe (DDR/BRD 1989/90) Peter Kahane: Die Architekten (DDR 1990) Chen Kaige: Life on a String (China 1991) Jim Jarmusch: Night on Earth (USA 1991) Leos Carax: Les Amants du Pont-Neuf/ Liebenden von Pont Neuf (F 1991) Mark Peploe: Afraid of the Dark/ Angst vor der Dunkelheit (F/UK 1991) Jocelyn Moorhouse: Proof/Der Beweis (Australien 1991)
34 | A LEXANDRA T ACKE Wim Wenders: Bis ans Ende der Welt (D/F/Australien 1991) Phil Alden Robinson: Sneakers/ Sneakers – die Lautlosen (USA 1992) Bruce Robinson: Jennifer 8 (USA 1992) Martin Brest: Scent of a Woman/ Der Duft der Frauen (USA 1992) Nina Rippel: Der geflüsterte Film (D 1993) Derek Jarman: Blue (F 1993) Jean-Luc Godard: JLG/JLG – autoportrait de décembre/ JLG/JLG – Godard über Godard (F 1994) Majid Majidi: Rang-e Khoda/ Die Farben des Paradieses (Iran 1999) Irwin Winkler: At First Sight/ Auf den ersten Blick (USA 1999) Jeremy Podeswa: The Five Senses (Kan. 1999) Zhang Yimou: Happy Times (China 2000) Nadia Tass: The Miracle Worker/ Wunder geschehen (USA 2000) Denis Rabaglia: Azzurro (F/I/Schweiz 2000) Lars von Trier: Dancer in the Dark (Dänemark/D/NL/USA/GB/Schweden/Island/F/Finnland/ Norwegen 2000) Rodrigo Garcia: Things You Can Tell/ Gefühle, die man sieht...(USA 2000) Clara Law: The Goddess of 1967/ Der Japaner und die Göttin (Australien 2000) Florian Fickel: Blind in Manhattan (D 2001) Steven Spielberg: Minority Report (USA 2002) Oxide Pang: The Eye (Hong Kong/Singapur 2002) Woody Allen: Hollywood Ending (USA 2002) Brett Ratner: Red Dragon/ Roter Drache (USA 2002) Takeshi Kitano: Dolls (Japan 2002) Takeshi Kitano: Zatôichi/ Zatoichi – Der blinde Samurai (Japan 2003) Christian Görlitz: Nachts, wenn der Tag beginnt (D 2003) Lars von Trier: Dogville (USA/D/I/F/GB/Dänemark/Schweden 2003) Mischka Popp, Thomas Bergmann: Augenlied (D 2003) Mark Steven Johnson: Daredevil. Director’s Cut (USA 2003/04) Zhang Yimou: House of the Flying Daggers (China 2004) Tom Tykwer: True (D/F 2004) Lars Büchel: Erbsen auf halb 6 (D 2004) Bernd Sahling: Die Blindgänger (D 2004) M. Night Shyamalan: The Village/ The Village – Das Dorf (USA 2004) Taylor Hackford: Ray (USA 2004) Yôichi Sai: Quill: The Life of a Guide Dog (Japan 2004) Isabel Coixet: La vida secreta de las palabras/ Das geheime Leben der Worte (Span. 2005) Cristiano Bortone: Rosso come il Cielo (I 2005) Sanjay Leela Bhansali: Black (Indien 2005) Gary Tarn: Black Sun/Schwarze Sonne (GB 2005) Maurus vom Scheidt: Wie Licht schmeckt (D 2005) Eric Khoo: Be with me (Singapur 2005)
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Arnaud Larrieu, Jean-Marie Larrieu: Peindre ou faire l’amour/ Malen oder Lieben (F 2005) Louis Leterrier: Danny The Dog/Unleashed – Entfesselt (USA/GB/F 2005) David Moreau, Xavier Palud: The Eye (USA 2008) Lucy Walker: Blindsight/ Himalaya – Der Gipfel des Glücks (USA 2006) Javier Téllez: Letter on the Blind, For the Use of Those Who See (2007) Tamar van den Dop: Blind (NL 2007) Fernando Meirelles: Blindness/ Die Stadt der Blinden (Bras./Kan./Japan 2008) Fumihiko Sori: Ichi – Die blinde Schwertkämpferin (Japan 2008) Juraj Lehotsky: Slepé lásky/ Blinde Lieben (Slowakei 2008) Pedro Almodóvar: Los abrazos rotos/ Zerrissene Umarmungen (Span. 2009) Klaus Härö: Postia Pappi Jaakobille/ Letters to Father Jacob (Finnland 2009) Lu Yang: My Spectacular Theater (China 2010) Guillem Morales: Julia’s Eyes (Span. 2010) Artur Żmijewski: Blindly (POL 2010) Annika Larsson: Blind (Schweden/D 2010) Savas Ceviz: Der mit den Fingern sieht (D 2010) David Mackenzie: Perfect Sense (GB/Schweden/Dänemark/Irland 2011) Stefano Levi: Out of the Darkness/ Der Weg ins Licht (D 2011) Ahn Sang-hoon: Blind (Südkorea 2011) Roberto Pérez Toledo: Seis puntos sobre Emma/ Blind für die Liebe (Span. 2011) Sergej Moya: Hotel Desire (D 2011) Maru Solores: Camera Obscura (Span. 2012) Xavier Palud: À l’aveugle/ The Blind Man (F 2012) Geoffrey Enthoven: Hasta la Vista! (Belgien 2012) Andrzej Jakimowski: Imagine (POL/Portugal/F/GB 2012) Michael Hammon: Gold – Du kannst mehr als Du denkst (D 2012) Sheri Hagen: Auf den zweiten Blick (D 2012) Johnnie To: Man Tam/ Blind Detective (Hong Kong/China 2013) Sophie Massieu: Was Du nicht siehst (F 2013) (Arte-Dokumentarreihe) Joseph Ruben: Penthouse North/ Das Penthouse – Gefangen in der Dunkelheit (USA 2013) Wojciech Bakowki: Pogorszenie Widzenia/ Worsening of Eyesight (POL 2013) Eskil Vogt: Blind (Norwegen 2014) Lou Ye: Tui Na /Blind Massage (China/F 2014) Daniel Ribeiro: Hoje Eu Quero Voltar Sozinho/ The Way He Looks (Bras. 2014) Ruth Grimberg: Across Still Water (GB 2014) Jean-Pierre Améris: Marie Heurtin/ Die Sprache des Herzens. Das Leben der Marie Heurtin (F 2014) Wolfgang Becker: Ich und Kaminski (D 2015)
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D ANK Mein Dank gilt zunächst den Autor/innen dieses Bandes, die sich unisono für das Projekt Blind Spots – eine Filmgeschichte der Blindheit begeistern lassen und mit großer Neugier – aus unterschiedlichen Disziplinen kommend (Literatur-, Film-, Kultur-, Kunst- und Medienwissenschaft) – auf das komplexe Thema eingelassen haben. Besonders danken möchte ich Astrid Hackel, die mir nicht nur als Freundin, sondern auch als gute Kennerin der Thematik stets mit ihrer Expertise zur Seite gestanden ist sowie den wertvollen Kontakt zu einigen Autor/innen dieses Bandes hergestellt hat. Für viele Anregungen, Gespräche und Diskussionen möchte ich den Leiterinnen Prof. Dr. Cordula Nolte, Prof. Dr. Uta Halle und PD Dr. Sonja Kerth sowie allen Mitgliedern der Creative Unit Homo debilis der Universität Bremen danken. Mein Dank gilt auch den Herausgeber/innen der transcript-Reihe Disability Studies: Körper – Macht – Differenz, die die Entstehung des Bandes von Beginn an konstruktiv begleitet haben. Insbesondere Prof. Dr. Anne Waldschmidt war mir eine große Hilfe bei der ersten Konturierung und Präzisierung meines Vorhabens. Julia Eckhoff hat mit gewohnter Zuverlässigkeit und Sorgfalt auch die schwersten Rechercheaufgaben gemeistert. Für die großzügige finanzielle Unterstützung danke ich der Hörmann-Gruppe (www.amHerzen.de). Stefan Heiner sei dafür gedankt, dass er den unkomplizierten Kontakt zur Hörmann-Stiftung für mich hergestellt hat. Großer Dank gebührt auch dem japanischen Konzept- und Fotokünstler Hiroshi Sugimoto, der mir die Bildrechte für das Cover großzügiger Weise überlassen hat. Kein anderes Motiv als eine Fotografie aus seiner Theater-Serie konnte ich mir für eine Filmgeschichte der Blindheit vorstellen. Last but not least sei meinem Mann und meinem Sohn gedankt: dafür, dass es sie gibt und es beiden gleichermaßen gelingt – wenn auch auf völlig unterschiedliche Weise – mich immer wieder herzhaft zum Lachen zu bringen.
Bilder zwischen Blick und Berührung Zum ästhetischen Diskurs der Blindheit in Friedrich Wilhelm Murnaus Der Gang in die Nacht (1920/21) und Emerich Hanus’ Die Sühne (1917) F ABIENNE L IPTAY
I. Für Willy Haas war Friedrich Wilhelm Murnaus Der Gang in die Nacht (D 1920/21) ein Werk von vollendeter Meisterschaft, dessen Lob es nichts hinzuzufügen gab. Aber „was soll man tun“, fragt er am Ende seiner geradezu schwärmerischen Filmkritik, „es gibt eben Dinge, die einen ergreifen“.1 Lotte Eisner, die Murnau eigentlich verehrte, konnte in diesem Film hingegen nicht mehr erkennen als das „naive Melodrama“ eines zur Meisterschaft noch reifenden Regisseurs.2 Sie rettet das hohe Ansehen Murnaus mit dem Hinweis, dass etliche Szenen, die im Drehbuch enthaltenen waren, in der Filmkopie fehlten, die auf ihre Veranlassung von einem Negativ angefertigt wurden, das Henri Langlois im Staatlichen Filmarchiv der Deutschen Demokratischen Republik gefunden und damit dem Vergessen entrissen hatte. Bei diesen Szenen handelte es sich um Stimmungsmomente, in denen der Ausdruck aufgewühlter Menschenseelen vor allem der Landschaft eingeprägt wurde und deren Fehlen nun die Mängel der schauspielerischen Leistung um so deutlicher hervortreten ließen: „Olaf Fönss grimassiert, er ist unerträglich geschraubt und peinlich, wenn er Zorn oder Leidenschaft zeigen soll. Conrad Veidt, schwarz gekleidet, spielt im Grunde wieder den Somnambulen aus Caligari, er verzerrt hier schon Orlacs Hände, und sein outriert expressionistisches Gebaren läßt
1
Willy Haas: Der Gang in die Nacht. In: Film-Kurier vom 14.12.1920, wieder abgedruckt in: Hans Helmut Prinzler (Hrsg.): Friedrich Wilhelm Murnau. Ein Melancholiker des Films. Berlin: Bertz + Fischer 2003, S. 109-110, hier S. 110.
2
Lotte H. Eisner: Zwei wiedergefundene Filme: Der Gang in die Nacht und Phantom. In: dies.: Murnau, überarb., erw. und autorisierte Neuausg., hrsg. von Hilmar Hoffmann und Walter Schobert. Frankfurt a. M.: Kommunales Kino 1979, S. 129-149, hier S. 138.
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Gudrun Bruuns Lily noch naturalistisch-neckischer erscheinen.“3 Dabei stört sich Lotte Eisner vor allem am Spiel der Hände: als der Arzt die Kleider der verlorenen Geliebten mit zitterndem Verlangen an sich reißt, oder als der zum Sehen erwachte Blinde die krampfenden Hände dem Licht entgegenstreckt (Abb. 1). Während die Ergriffenheit bei Willy Haas als Vokabel höchsten Lobes dient, wird sie bei Lotte Eisner der Kritik an einem als veraltet empfundenen Schauspielstil zugeschlagen, der Leidenschaften in überspannten Gebärden darstellt. Ergriffenheit meint hier wie dort ein Verhältnis der taktilen Erfahrung von Lebenswelt.
Abb. 1 Friedrich Wilhelm Murnau: Der Gang in die Nacht (D 1920/21), © Deutsche Kinemathek, Berlin Im Stummfilm kommt insbesondere den Körpern die Aufgabe zu, verständlich zu machen, was sich der Mitteilung durch das Wort versagt. Das sei so, schreibt Jutta Brückner im Blick auf Murnaus Film, „als müsse man mit den Augen singen, oder mit den Ohren sprechen oder mit dem Mund hören. Zwischen dem geeigneten Sinnesorgan und dem dramatischen Ausdruck klafft im Stummfilm eine Lücke, die überbrückt werden muß“.4 In Der Gang in die Nacht antworten die Bilder der
3
Ebd., S. 138f.
4
Jutta Brückner: Irrlichterne Blicke. In: Hans Helmut Prinzler (Hrsg.): Friedrich Wilhelm Murnau. Ein Melancholiker des Films. Berlin: Bertz + Fischer 2003, S. 116-118, hier S. 118.
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Ergriffenheit allerdings nicht nur auf die Stummheit des Mediums, sondern auch auf das Drama der Blindheit, von dem der Film erzählt. Der Thematisierung der Blindheit geht die Geschichte einer durch Blicke gestifteten Liebe voraus. Diese Blicke sind aber ihrerseits schon Gesten, handlungsmächtiges Verlangen nach Liebesbesitz. Durch ein Guckloch im Theatervorhang riskiert die Varieté-Tänzerin Lily (Gudrun Bruun) kurz vor ihrem Bühnenauftritt noch einen Blick in den Zuschauerraum, wo der Arzt Dr. Eigil Börne (Olaf Fønss) ihr Interesse weckt. Als dieser ihrer Darbietung nur „finster teilnahmslos“ beiwohnt, täuscht sie einen verknacksten Fuß vor, um seine Aufmerksamkeit zu erheischen. Nach mehreren Krankenbesuchen, bei denen Lily offenherzig um die Gunst des Arztes wirbt, löst dieser die Verlobung mit der bürgerlichen Helene (Erna Morena), die sich selbst stets zurückgenommen hatte, um der Karriere des Verlobten nicht im Weg zu stehen. Als ein Mann der Ehre teilt er Lily postalisch mit, dass er sie nicht mehr sehen möchte, woraufhin sie sich ein Herz fasst und ihn aufsucht. „Sieh mich doch an!“, bittet sie ihn, und als er ihren magnetischen Blick erwidert, liegen beide einander auch schon in den Armen. Sie verlassen die Stadt und ziehen aufs Land am Meer, wo Lily diese Urszene ihrer Liebe noch einmal aufführt, indem sie sich ihm gegenüber als fußkranke Bäuerin ausgibt. Unter den Schichten ihrer Verkleidung soll Eigil den Blick entbergen, der das Bündnis ihrer Liebe noch einmal erneuert. Lilys unbestimmte Furcht vor dem blinden Maler (Conrad Veidt) im Dorf, dem Eigil durch eine Augenoperation zum Sehen verhelfen will, korrespondiert mit diesem Wissen um die Mächte des Sehens. Sie löst ihr Blickbündnis mit Eigil, als sie ihn mit starr abgewandtem Gesicht freigibt, um die in Einsamkeit dahinsiechende Helene zu besuchen, während sich der Maler im Haus von der erfolgreichen Operation erholt. Als Eigil zurückkehrt, muss er erkennen, dass der Maler seinen Platz an der Seite Lilys eingenommen hat. Schuld sei, so ihre Erklärung, die Gabe des Sehens: „Du … gabst … ihm … das … Licht …!!“ Der darauf folgende letzte Teil des Film führt für alle einen tragischen Schluss herbei: Lily sucht den zwischenzeitlich als berühmten Augenarzt gefeierten und verhärmten Eigil in seiner Praxis mit der Bitte auf, den erneut erblindeten Maler noch einmal zu operieren. Darauf verfällt er in Hohngelächter: Nur unter der Bedingung, dass sie sich selbst das Leben nehme, sei er bereit, den Blinden zu heilen. Als Eigil nach einer Ohnmacht wieder zu Bewusstsein gelangt und Lily nacheilt, kommt er zu spät: Sie ist bereits tot. Helene stirbt zur gleichen Zeit über der seligen Lektüre von Zeitungsmeldungen, die über Eigils Ruhm als Augenarzt berichten. Dieser verbüßt daraufhin selbst sein Leben. Ein Brief des blinden Malers in seinem Schoß entlastet ihn von aller Schuld: „Du schenktest einmal mir das Licht. Ich habe sie erschauen dürfen. Ich gehe zurück in meine Nacht.“
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Abb. 2 Friedrich Wilhelm Murnau: Der Gang in die Nacht (D 1920/21), © Deutsche Kinemathek, Berlin Murnau inszeniert die Ankunft des Blinden wie die Androhung eines Schattens, der sich über die Erzählung legt. Geisterhaftes umweht die hagere Gestalt, die sich, eingefasst von einer schwarzen Irisblende, aufrecht stehend auf einem Boot nähert, als überquere sie den Totenfluss im Nachen des Charon.5 Im Priesterhemd erinnert
5
Auf die Ähnlichkeiten mit Arnold Böcklins Gemälde Die Toteninsel (Urversion 1880) verweist Thomas Koebner: Der romantische Preuße. In: Hans Helmut Prinzler (Hrsg.):
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sie an einen Geistlichen, der sein Schicksal mit düsterer Gottesfurcht erduldet, so wie auch Lily weniger ihrer Leidenschaft als einer höheren Berufung zu folgen scheint, als sie sich ihm später zuwendet. Jedenfalls weicht ihre quirlige Leichtherzigkeit an seiner Seite einem stillen Ernst, der ihrer Liebe zu ihm den Anschein der Entsagung verleiht. Das Drama des blinden Malers lässt sich aber auch als Allegorie des Kinos verstehen, in dem ein Kampf zwischen Licht und Schatten ausgetragen wird. Murnau hatte Conrad Veidt in einer ähnlichen Rolle bereits in Satanas (D 1919/20) besetzt, einem bis heute als verschollen geltenden Film, in dem sich der gefallene Engel nach dem Licht sehnt und am Ende einer vergeblichen Suche nach Erlösung in die finstere Hölle zurückkehren muss. Es ist vermutlich der Tendenz zu allegorischer Verdichtung geschuldet, dass der blinde Maler niemals beim gelingenden oder scheiternden Versuch der Ausübung seiner künstlerischen Tätigkeit selbst gezeigt wird. Nur einmal ist er im Freien sitzend vor einer Staffelei zu sehen, mit im Schoß gefalteten Händen, während er Gott für die ihm selbst vergönnte „Gnade des Erschauens“ dankt. (Wollte man Holbachs religionskritische Formulierung, Gott sei wie ein Gemälde für Blinde,6 umkehren, so wäre es gerade die Entrückung aus der Sphäre der sinnlichen Erfahrung, die die Leinwand für den blinden Maler zum Altar werden lässt.) Später, als der Maler von seiner Blindheit vorübergehend geheilt ist, begnügt sich Murnau damit, die Wiederaufnahme seiner künstlerischen Tätigkeit durch bemalte Leinwände im Hintergrund des Szenenbilds anzudeuten. Und es ist nicht im Akt des Malens, sondern im Akt des Lesens, dass der Maler sich des erneuten Versagens seiner Sehkraft schmerzlich bewusst wird (Abb. 2). Offenkundig scheint Murnau nicht an der Erzählung eines Künstlerdramas gelegen zu sein, in dem die Figur mit dem Verlust ihres schöpferischen Sinns hadert; dennoch ist es gerade die allgemeine Setzung des Malerberufs, die das Motiv der Blindheit in den Kontext eines ästhetischen Diskurses rückt. Heide Schlüpmann hat darauf aufmerksam gemacht, dass Murnaus Film über seine psychoanalytischen und sozialen Dimensionen hinaus auch die „Situation der künstlerischen Produktiv-
Friedrich Wilhelm Murnau. Ein Melancholiker des Films. Berlin: Bertz + Fischer 2003, S. 9-52, hier S. 11. 6
In seiner 1770 veröffentlichten Schrift Le Système de la nature, wieder abgedruckt in: Paul Henri Thiry d’Holbach: Essai sur les préjugés (Oeuvres philosophiques, Bd. 2), hrsg. von Jean-Pierre Jackson. Paris: Ed. Alive 1999; zit. n. der unter dem Pseudonym Mirabaud veröffentlichten dt. Übersetzung: System der Natur, Ausg. in einem Bd. Leipzig: Wigand 1841, S. 449: „Warum mußtest du das Gebiet der Erfahrung verlassen, um dich mit einem Wesen zu beschäftigen, von dem wir nach deinem eigenen Geständnisse so wenig einen Begriff haben können, wie der Blinde von einem Gemälde?“
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kraft im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit“ thematisiert.7 Sie deutet die Genesung des Blinden in diesem Zusammenhang als Darstellung einer „Geburt des neuen Sehens“, die sich mit der künstlichen Ersetzung des Augensinns durch die kinematographische Technik ereignet.8 Dies überzeugt schon insofern, als die Operation des Blinden selbst nicht gezeigt, der Prozess seiner Genesung jedoch durch eine virtuos montierte Folge von Einstellungen begleitet wird. Der Arzt hat die Abnahme der Augenbinde für punkt sechs Uhr (ob morgens oder abends bleibt eigentümlich unklar) verordnet, und während die Zeiger der Wanduhr diesem Zeitpunkt immer näher rücken, braut sich im Umfeld des ruhenden Patienten ein Unwetter zusammen. Von stürmischem Wind aus dem Traum gerissen, führt Lily in ihrem Boudoir einen wilden Tanz auf, der Anleihen beim modernen Ausdruckstanz einer Isadora Duncan oder Mary Wigman ebenso erkennen lässt wie die fehlende tänzerische Ausbildung der Schauspielerin Gudrun Bruun. Immer wieder kombiniert Murnau diese Interieurszenen im Schnitt mit Aufnahmen der vom Sturm aufgepeitschten Natur, mit schäumender Meeresgischt und vom Blitz erhelltem Wolkengebräu, um inneres und äußeres Geschehen zu einer rhythmisch gesteigerten Sequenz sich entladender Energien zu verbinden. Die Heilung des Blinden geht mit einer Demonstration filmästhetischer Virtuosität einher, in welcher die Kamera den Horizont der Abbildung eines Handlungsgeschehens überschreitet und dieses in Bildern poetischer Imagination verdichtet.9 Für Heide Schlüpmann ist die Wiederherstellung des Augensinns dabei weniger Bestätigung der Hegemonie des Sehens in der abendländischen Kultur als Ausdruck ihrer Erschütterung im Zuge der Ersetzung des organischen Blicks durch den mechanischen Blick der Kamera.10 Sie beruft sich dabei auf die von Jean-Louis Comolli formulierte Ideologiekritik am Kino, das seine Illusionsmacht aus der Verbergung seiner medientechnologischen Basis vor dem Blick der Zuschauer bezieht.11 Entsprechend sei die Blindheit, wie sie in den zahlreichen kreisförmigen Schwarzblenden und den schwarzen Kaschierungen des Bildfeldes visualisiert wird, im Sinne dieser Kritik zu verstehen: als Offenle-
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Heide Schlüpmann: Der Gang in die Nacht. Das Motiv des Blinden und der Diskurs des Sehens im Weimarer Nachkriegsfilm. In: Uli Jung, Walter Schatzberg (Hrsg.): Filmkultur zur Zeit der Weimarer Republik. München: Saur 1992, S. 38-53, hier S. 46.
8
Ebd.
9
Zu den „Denkbildern“ und „Bildinventionen“ Murnaus vgl. Th. Koebner: Der romantische Preuße, S. 11f.
10 Ebd., S. 44. 11 Vgl. Jean-Louis Comolli: Machines of the Visible. (1971) In: Theresa de Lauretis, Stephen Heath (Hrsg.): The Cinematic Apparatus. New York: St. Martin’s Press 1980, S. 121-142. Vgl. zur Abwertung des Sehens in der französischen Theorie des 20. Jahrhunderts Martin Jay: Downcast Eyes. The Denigration of Vision in Twentieth-Century French Thought. Berkeley: California University Press 1994.
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gung der photochemischen Bedingungsmöglichkeiten von Sichtbarkeit. Murnau feiere „nicht die eigene Entmachtung als Künstler in der technischen Reproduktion“, sondern gebe „durch die Form, in der er die künstliche Herstellung des Sehens thematisiert, zu erkennen, daß er die erblindete Produktivkraft nicht vergessen will, ja daß es ihm auf eine generellere ‚Blindheit‘ inmitten technisch reproduzierbarer Bilder ankommt“.12
II. Die Blindheit, in deren Konfrontation sich Murnau seiner Produktivkraft versichert, kann jedoch auch gänzlich anders verstanden werden, als es die Apparatustheorie in ihrer ikonoklastischen Kritik an der kinematographischen Optik nahelegt. Im Kontext zeitgenössischer Kunsttheorien, denen die folgenden Ausführungen gelten, wäre die Blindheit im Stummfilm vielmehr hinsichtlich eines Bildverständnisses zu diskutieren, das neben optischen auch haptische Wahrnehmungsqualitäten umfasst. Diese Betrachtung bahnt zugleich die Möglichkeit, die Forschung zum Stummfilm an einen historischen Diskurs anzubinden, in dem das Bild auf das Auge des Betrachters nicht durch Ähnlichkeit, sondern durch Berührung wirkt. Die Vorstellung einer auf Berührung basierenden Bildwahrnehmung grundiert noch Walter Benjamins Begriff der „taktilen Rezeption“, auf die der Mensch gerade in Zeiten des medialen Wandels angewiesen sei, um die schockartig auf ihn einwirkenden Eindrücke zu bewältigen.13 Nicht so sehr in der Herstellung von Kopien, sondern vielmehr in der Einebnung der Distanz vermutet Benjamin die eigentliche historische Provokation der filmischen Apparatur. Die in der Blindheit geborgene Vorstellung der unmittelbaren Berührung mit dem Gegenstand der Anschauung wird hier der Wahrnehmung des technisch reproduzierten Bildes regelrecht eingeschrieben. Anstöße zur Idee der taktilen Rezeption des Films hatte Benjamin aus der Lektüre von Schriften Alois Riegls (Spätrömische Kunstindustrie, 1901) und Heinrich Wölfflins (Kunstgeschichtliche Grundbegriffe, 1915) erhalten, die das Optische und das Haptische zu methodischen Kategorien in der Beschreibung kunsthistorischer Stilentwicklung erhoben hatten.14 Von den Vertretern der Wiener Schule über-
12 H. Schlüpmann: Der Gang in die Nacht, S. 47. 13 Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936). In: ders.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977, S. 7-44, hier S. 41. 14 Vgl. Wolfgang Kemp: Fernbilder, Benjamin und die Kunstwissenschaft. In: Burkhardt Lindner (Hrsg.): Walter Benjamin im Kontext, 2., erw. Aufl. Königstein im Taunus: Athenäum 1985, S. 224-257; Thomas Y. Levin: Walter Benjamin and the Theory of Art History. In: October, Nr. 47 (Winter 1988), S. 77-83. Neben Walter Benjamin bezogen
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nimmt Benjamin die Vorstellung der Geschichtlichkeit von Wahrnehmung, die er für das Verständnis seiner unmittelbaren Gegenwart fruchtbar macht.15 Riegl und Wölfflin wiederum verdankten ihre Überlegungen der zu ihrer Zeit äußerst lebhaft rezipierten Studie zum Problem der Form in der bildenden Kunst (1893), in welcher der Bildhauer Adolf von Hildebrand Gedanken des befreundeten Kunsttheoretikers Konrad Fiedler für das Verständnis einer zwischen dem Tasten und Sehen vermittelnden Wahrnehmung fruchtbar machte.16 In seinen Bemerkungen Über den Ursprung der künstlerischen Tätigkeit (1887) hatte Fiedler den Vorschlag gemacht, das Bild nicht als das Ergebnis einer Reproduktion des Gesehenen zu fassen, bei der die Hand lediglich ausführt, was das Auge wahrgenommen hat. Vielmehr begreift er das Bild vom Akt seiner Herstellung her als das Ergebnis von so genannten Ausdrucksbewegungen, in denen der geistige Vorgang des Schauens und Vorstellens mit dem mechanischen Vorgang des Bildens korrespondiert. Entscheidend dabei ist, dass Fiedler diesen mechanischen Vorgang nicht als einen Prozess der mehr oder minder mühsamen Übersetzung des Geschauten und Vorgestellten ins Bild, sondern als Bedingung für die Möglichkeit einer Weiterentwicklung dieser Gesichtsvorstellungen denkt. Der bildnerischen Gebärde wird damit ein Anteil an der Kunstproduktion zugeschrieben, der ihr Verständnis als Vorgang der Nachbildung eines Wahrgenommenen übersteigt: Der geheime Sinn dessen, was vorgeht, indem sich das innere Geschehen, welches unser Bewußtsein von sichtbaren Dingen bildet, gleichsam verbreitet auf die Ausdrucksorgane und etwas hervorbringt, was wiederum nur von dem Gesichtssinn wahrgenommen werden kann, ist ein ganz anderer, tieferer und weittragenderer, als der einer müßigen und unvollkommenen Nachahmung von etwas bereits Vorhandenen. Selbst in der den Augenblick ihrer Entstehung nicht überlebenden Gebärde, in den elementarsten Versuchen einer bildnerisch darstellenden Tätigkeit tut die Hand nicht etwas, was das Auge schon getan hätte; es entsteht vielmehr et-
sich im Anschluss an Alois Riegl u. a. August Schmarsow (Grundbegriffe der Kunstwissenschaft, 1905), Wilhelm Worringer (Abstraktion und Einfühlung, 1907), Erwin Panofsky („Über das Verhältnis der Kunstgeschichte zur Kunsttheorie: ein Beitrag zu der Erörterung über die Möglichkeit ‚kunstwissenschaftlicher Grundbegriffe‘“, 1925) und Edgar Wind („Zur Systematik der künstlerischen Probleme“, 1925) auf den Gegensatz des Optischen und des Haptischen. 15 Vgl. W. Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 14. 16 Vgl. Max Imdahl: Marées, Fiedler, Hildebrand, Riegl, Cézanne. In: ders.: Reflexion, Theorie, Methode. Gesammelte Schriften, Bd. 3., hrsg. von Gottfried Boehm. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996, S. 42-113; Gottfried Boehm: Hildebrand und Fiedler im Florentiner Kontext. In: Max Seidel (Hrsg.): Storia dell’arte e politica culturale intorno al 1900. Venedig: Marsilio Editori 1999, S. 131-141.
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was Neues, und die Hand nimmt die Weiterentwickelung dessen, was das Auge tut, gerade an dem Punkte auf und führt sie fort, wo das Auge selbst am Ende seines Tuns angelangt ist.17
Gottfried Boehm spricht in diesem Zusammenhang von der „Blindheit“ der Hand – eine Formulierung, die Fiedler selbst nicht gebrauchte –, um ihren Anteil an der künstlerischen Gestaltung zu betonen, die eigentlich erst dort beginnt, wo die Anschauung endet.18 „Blindheit“ dient dabei nicht nur als Metapher für die Produktivität der Gebärde, mittels der sich die künstlerische Tätigkeit von der Nachahmung des Geschauten emanzipiert, sie deutet zudem auf die Vorgeschichte dieses bei Fiedler formulierten Gedankens hin, die ihren Ausgang in Reflexionen zur Blindheit in der Philosophie der Aufklärung nimmt. Boehm nennt Diderots Brief über die Blinden zum Gebrauch für die Sehenden (1749),19 worin die bereits 1688 von William Molyneux in einem Schreiben an John Locke formulierte und von beiden verneinte Frage noch einmal aufgegriffen wird: ob ein Blindgeborener nach erlangter Sehfähigkeit imstande wäre, zwei ihm bislang nur durch Tasten vertraute geometrische Körper wie die eines Würfels und einer Kugel durch bloße Anschauung voneinander zu unterscheiden und zu benennen.20 Berichte über den Erfolg einer Staroperation bei einem Blinden durch den englischen Chirurgen William Cheselden im Jahr 1728 hatten diesem Gedankenexperiment eine empirische Basis verlie-
17 Konrad Fiedler: Über den Ursprung der künstlerischen Tätigkeit (1887). In: ders.: Schriften zur Kunst I. Text nach der Ausgabe München 1913/14 mit weiteren Texten aus Zeitschriften und dem Nachlaß, einer einleitenden Abhandlung und einer Bibliographie, hrsg. von Gottfried Boehm, 2., verb. und erw. Aufl. München: Wilhelm Fink 1991, S. 111-220, hier S. 164f. 18 Gottfried Boehm: Die Logik des Auges. Konrad Fiedler nach einhundert Jahren. In: Stefan Majetschak (Hrsg.): Auge und Hand. Konrad Fiedlers Kunsttheorie im Kontext. München: Wilhelm Fink 1997, S. 27-40, hier S. 37. 19 Denis Diderot: Lettre sur les aveugles à l’usage de ceux qui voient (1749). In: ders.: Le Nouveau Socrate (Oeuvres complètes, Bd. 4), hrsg. von Herbert Dieckmann und Yvon Belaval. Paris: Hermann 1978, S. 1-107; dt. Übersetzung: Brief über die Blinden zum Gebrauch für die Sehenden. In: Denis Diderot: Philosophische Schriften, Bd. 1, hrsg. von Theodor Lücke. Berlin: Aufbau-Verlag 1961, S. 49-110. 20 William Molyneux: Letter to John Locke, 7 July 1688. In: John Locke: Letters Nos. 8491241 (The Correspondence of John Locke in Eight Volumes, Bd. 3), hrsg. von Esmond S. de Beer. Oxford: Clarendon Press 1978, no. 1064. Eine Antwort auf die Frage von Molyneux, der seinen Brief nach der Lektüre einer französischen Vorschau auf Lockes An Essay Concerning Humane Understanding (London 1690) verfasst hatte, gibt Locke in der zweiten Auflage seines Aufsatzes von 1694; wieder abgedruckt in der kritischen Ausgabe von John Locke: An Essay Concerning Human Understanding, hrsg. von Peter H. Nidditch. Oxford: Clarendon Press 1975.
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hen und das philosophische Interesse am Verhältnis zwischen Sehsinn und Tastsinn erneut belebt.21 Im Starstechen wird die Blindenheilung – jene „Urszene der Aufklärung“22 – sprichwörtlich vor Augen geführt. Im Blick auf die breite wissenschaftliche Beachtung, die das Molyneux-Problem seit seiner Formulierung in der Aufklärung erfahren hat,23 soll es hier genügen, auf seine zentrale Stellung innerhalb der Vorgeschichte einer Kunsttheorie, die sich in der Differenzierung der Leistungen von Sehsinn und Tastsinn konstituiert, lediglich zu verweisen. In der Annahme, dass es sich beim Sehsinn und beim Tastsinn um autonome Wahrnehmungsweisen handele und es der Reflexion und Erfahrung bedürfe, um die noch ungekannten Seheindrücke mit der durch Tasten gewonnenen Kenntnis zu verknüpfen, stimmte Diderot zwar mit der generellen Schlussfolgerung Molyneuxs und Lockes überein, dass der geheilte Blinde zur spontanen Unterscheidung von Würfel und Kugel unfähig sei, kritisierte aber die mathematische Abstraktion ihres imaginären Versuchsaufbaus. Anstelle von Würfel und Kugel hätte man sich den geheilten Blinden besser mit Handschuhen und Pantoffeln vorstellen sollen, mit Gegenständen also, die durch ihren alltäglichen Gebrauch gekennzeichnet und damit der Erfahrungswelt nicht entrückt sind.24 In diesem Sinn ist noch der Brief über die Blinden, in dem Diderot diese Kritik äußert, dem „Gebrauch“ für die Sehenden zugedacht. War die Blindheit in Molyneuxs Gedankenexperiment rein hypothetisch
21 William Cheselden: An Account of Some Observations Made by a Young Gentleman, Who Was Born Blind, or Lost His Sight so Early, That He Had no Remembrance of Ever Having Seen, and Was Couch’d between 13 and 14 Years of Age. In: Philosophical Transactions of the Royal Society, Bd. 35: 1727-1728. London: W. Innys 1665-1886, S. 447-450. Vgl. zur Operationsgeschichte von Blindgeborenen im 18. und 19. Jahrhundert außerdem Marius von Senden: Die Raumauffassung bei Blindgeborenen vor und nach ihrer Operation (Diss.), Univ. Kiel. Libau: Meyer 1931. 22 Peter Utz: ‚Es werde Licht!‘ Die Blindheit als Schatten der Aufklärung bei Diderot und Hölderlin. In: Hans-Jürgen Schings (Hrsg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. Stuttgart/Weimar: Metzler 1994, S. 371-389, hier S. 373. 23 Zur Geschichte der Diskussion des Molyneux-Problems vgl. Michael J. Morgan: Molyneux’s Question. Vision, Touch and the Philosophy of Perception. Cambridge: Cambridge University Press 1977; Marjolein Degenaar: Molyneux’s Problem. Three Centuries of Discussion on the Perception of Forms. Dordrecht/Boston/London: Kluwer 1996. Zum jüngeren Stand der Forschung vgl. Oliver Sacks: Sehen oder nicht sehen. In: ders.: Eine Anthropologin auf dem Mars. Sieben paradoxe Geschichten. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1995, S. 159-217. Zur Kritik an der philosophischen Debatte hypothetischer Blindheit vgl. Georgina Kleege: Blindness and Visual Culture. An Eyewitness Account. In: Journal of Visual Culture, Nr. 4/2 August (2005), S. 179-190. 24 D. Diderot: Brief über die Blinden, S. 96. Vgl. Kai Nonnenmacher: Das schwarze Licht der Moderne. Zur Ästhetikgeschichte der Blindheit. Tübingen: Niemeyer 2006, S. 49f.
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gefasst, bindet Diderot ihr Verständnis an die Alltagspraxis zurück; er ebnet damit zugleich den Weg für die historische Entwicklung, die die Blindheit im Übergang von einem Modell erkenntnistheoretischen Interesses zu einem Modell ästhetischer Erfahrung nimmt. Es ist die sich bei Diderot durchsetzende Anerkennung des Tastsinns, seine Würdigung als Instrument eines sinnlichen Weltbezugs, in der sich die romantische und nachromantische Auffassung von Blindheit als Schauplatz einer besonders feingebildeten ästhetischen Empfindsamkeit vorbereitet. Sie ermöglicht dadurch eine Abkehr von Nachahmungstheorien, die die Künste über ihre Fähigkeit zur Herstellung visueller Ähnlichkeit definieren. Deutlich wird dies in Diderots Schilderung der Bildhauerei als einer sowohl mit den Augen als auch mit den Händen wahrnehmbaren Kunst, die Herder in seiner Abhandlung zur Plastik (1778) aufgreift. „Das Auge“, schreibt Herder, „ist nur Wegweiser, nur die Vernunft der Hand; die Hand allein gibt Formen, Begriffe dessen, was sie bedeuten, was in ihnen wohnet.“25 Bezeichnend ist, dass Herder allerdings noch dort, wo er auf das Motiv der Blindheit zurückgreift, nicht so weit geht, die Wahrnehmung der Plastik ausschließlich an die Hände zu delegieren, sondern eine Einmischung des Tastsinns in den Gesichtssinn im Sinne eines tastenden Sehens beschreibt. Er erinnert an die Blindgeborenen bei Diderot und Cheselden, die sich vorstellten, dass Licht und Farben das Auge berühren würden wie tastbare Körper die Hand, um nach ihrem Vorbild einen „Liebhaber“ der Bildsäule zu beschreiben, dem „das Gesicht zum Gefühl“ wird,26 wobei sich im „Gefühl“ die beiden im 18. Jahrhundert geläufigen Begriffsbedeutungen der haptischen Wahrnehmung und der seelischen Empfindung vermischen.27 War die Blindheit bei Diderot noch wörtlich gemeint, ist sie bei Herder nunmehr metaphorisch zu verstehen, als Ideal ästhetischer Erfahrung, in dem das Tasten eine Aufwertung innerhalb des hierarchischen Gefüges der Sinne und Künste erfährt.28
25 Johann Gottfried Herder: Plastik. Einige Wahrnehmungen über Form und Gestalt aus Pygmalions bildendem Traume. Riga: Johann Friedrich Hartknoch 1778, S. 63. Vgl. hierzu auch Bernhard Schweitzer: J. G. Herders „Plastik“ und die Entstehung der neueren Kunstwissenschaft. Eine Einführung und Würdigung. Leipzig: Seemann 1948. 26 Ebd., S. 20. Vgl. hierzu auch das Kapitel „Darstellung fürs Gefühl: Herders Theorie der Plastik“. In: Inka Mülder-Bach: Im Zeichen Pygmalions. Das Modell der Statue und die Entdeckung der „Darstellung“ im 18. Jahrhundert. München: Wilhelm Fink 1998, S. 49102. 27 Vgl. Richard Hohenemser: Wendet sich die Plastik an den Tastsinn? In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, Nr. 6 (1911), S. 405-419, hier S. 405f. 28 Vgl. Ulrike Zeuch: Umkehr der Sinneshierarchie. Herder und die Aufwertung des Tastsinns seit der frühen Neuzeit. Tübingen: Niemeyer 2000; sowie das Kapitel „‚Leibhafte
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Die in der Moderne geführte Debatte um die ästhetische Produktivkraft des Tastsinns hat gleichsam eine an der Blindheit gebildete Vorgeschichte, die von Molyneux und Locke über Diderot bis zu Herder führt. Sie nimmt eine entscheidende Wende, als die Blindheit – über den Umweg ihrer Metaphorisierung – gänzlich aus dem Diskurs verschwindet, um in der Vorstellung eines tastenden Auges aufzugehen. Im Ausgang des 19. Jahrhunderts hatte Konrad Fiedler den Grundstein hierfür gelegt, und es war Adolf von Hildebrand, der darauf aufbauend eine Ästhetik der Taktilität ausarbeitete, an die Riegl, Wölfflin, Benjamin und andere anschließen konnten.29 Hatte Fiedler die Fähigkeit des Tastens ausschließlich der Hand zugesprochen, so wanderte sie bei Hildebrand ins Auge ein. In seiner Schrift Das Problem der Form in der bildenden Kunst unterscheidet er zwei ineinander spielende Arten der visuellen Wahrnehmung, von denen die eine ein flächiges Fernbild, die andere ein plastisches Nahbild hervorbringt. Hildebrand geht von der Beobachtung aus, dass Bilder in Abhängigkeit vom Standpunkt des Betrachters entweder simultan in ihrer Gesamterscheinung oder sukzessive in ihren Einzelerscheinungen wahrgenommen werden. Aus der Ferne nehme der Betrachter ein einheitliches Gesamtbild wahr, das mit einem Blick erfasst wird, je näher er jedoch herantritt, desto mehr gleiche sein Blick einem Tasten, bei dem die nacheinander gewonnenen Eindrücke durch Augenbewegungen erst zusammengefügt werden müssen: […] alsdann hat sich das Schauen in ein wirkliches Abtasten und in einen Bewegungsakt umgewandelt und die darauf fußenden Vorstellungen sind keine […] Gesichtsvorstellungen, sondern Bewegungsvorstellungen und bilden das Material des Form-Sehens und Form-Vorstellens. Alle unsere Erfahrungen über die plastische Form der Objekte sind ursprünglich durch Abtasten zustande gekommen. Sei es nun ein Abtasten mit der Hand oder mit dem Auge. Tastend führen wir der Form entsprechende Bewegungen aus und die Vorstellungen bestimmter Bewegungen, oder anders gesagt, ein Komplex bestimmter Bewegungsvorstellungen heißt eine plastische Vorstellung.30
Hildebrands Überlegungen zum räumlichen Auffassungsvermögen bleiben dabei nicht auf den Bereich der Plastik beschränkt, wenn er dieses in den Künsten ungeachtet ihrer jeweiligen Formensprache gegeben sieht. Bei allen Unterschieden, die Hildebrand etwa für die Malerei und die Bildhauerei geltend macht, sei ihnen die
Wahrheit‘. Herders Philosophie des Plastischen“. In: Georg Braungart: Leibhafter Sinn. Der andere Diskurs der Moderne. Tübingen: Niemeyer 1995, S. 55-107. 29 Vgl. zur Taktilität in der Kunsttheorie auch Volkmar Mühleis: Kunst im Sehverlust. München: Wilhelm Fink 2005. 30 Adolf von Hildebrand: Das Problem der Form in der bildenden Kunst (1893), 7. und 8. verm. Aufl. Strassburg: Heitz 1910, S. 6.
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Vermittlung zwischen Bewegungsvorstellungen und Gesichtsvorstellungen, Nahbild und Fernbild gemeinsam. Denn während der Bildhauer eine plastische Form auf ihre flächige Wirkung hin gestaltet, stelle sich dem Maler umgekehrt die Aufgabe, einem flächigen Bild zu plastischer Wirkung zu verhelfen.31 Gleichsam als Ideal dieser Vermittlung zwischen Flächigkeit und Plastizität figuriert bei Hildebrand das Reliefbild, dem auch innerhalb seines bildhauerischen Werks eine zentrale Stellung zukommt. In ihm ist alles Dreidimensionale in einer Weise zurückgenommen, dass „ein Flächeneindruck mit starker Anregung zu einer Tiefenvorstellung“32 entsteht. Hildebrands Randbemerkung zur räumlichen Illusion des Panoramas, das er in einer langen Fußnote eine an die „Rohheit der Sinne“ adressierte „perverse Sensation“33 nennt, mag eine Ahnung davon vermitteln, wie er über die sich anbahnende Kinematographie gedacht haben mag. Bedenkt man aber, das sich die Kinematographie im unmittelbaren zeitlichen Umfeld dieser kunsttheoretischen Debatten um das Verhältnis räumlicher und flächiger Aspekte der Darstellung etabliert, so wird der Wert deutlich, den Hildebrands Studie für das Verständnis der neuen Kunstform des Films birgt.34 Wenn sich die Geschichte des Films als die einer allmählichen Erschließung des Raums erzählen ließe, so wäre sie zumindest nicht nur im Kontext der Malerei zu betrachten, wo diese einen Raumeindruck nach den Regeln der Renaissanceperspektive konstruiert, sondern auch im Kontext der Plastik, wo diese auf einen Flächeneindruck hin gestaltet ist. In der Forschung zum Stummfilm finden die Raumwerte des Filmbildes breite Berücksichtigung. Das Augenmerk gilt dabei vorrangig der Handlungsinszenierung in die Tiefe, dem zunehmend raumgreifenden Verhalten von Kamera und Darstellern, die die planimetrische Organisation des Bildes durchkreuzen. Die diagonalen Fahrten des carello in Giovanni Pastrones Cabiria (I 1914) etwa, die in der Geschichtsschreibung des filmischen Raums eine epochale Wende markieren, sollten den Bildern indes nicht nur Tiefe, sondern auch Volumen verleihen. In dieser Absicht hatte Pastrone die Kamera gelegentlich auf gekurvten Schienen durch das
31 Ebd., S. 14. 32 Ebd., S. 59. 33 Ebd., S. 37. 34 Auf die Korrespondenzen zwischen Adolf von Hildebrands kunsthistorischen Überlegungen und den Bemühungen des frühen Films um plastische oder reliefartige Wirkung hat Jörg Schweinitz maßgeblich in seinem Vortrag „Shared Affinities und ‚Kunstwollen‘. Stylistic Tendencies of the Cinematic Image in the 1910s and German Art Theory at the Turn of the Century“ hingewiesen; 13th International Domitor Conference „The Image in Early Cinema: Form and Material“, University of Chicago and Northwestern University, Evanston, Illinois, 21.-25. Juni 2014. Als Beispiel, um diese Korrespondenzen aufzuzeigen, dient ihm Emerich Hanus’ Filmdrama Die Ehe der Maria Bonde (D 1918).
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Szenenbild geführt, um den Eindruck eines Reliefs zu erzeugen.35 Von der Raumtiefe unterscheidet sich das Körpervolumen unterdessen dadurch, dass es nicht Distanzen und Relationen zwischen Objekten, sondern ihre räumliche Ausdehnung bemisst. Der auf den Regeln der geometrischen Optik basierenden Tiefenillusion stehen im Reliefeffekt Wahrnehmungsqualitäten gegenüber, die sich wesentlich an ein vom Tastsinn informiertes Auge wenden, das über die plastische Form auch die Beschaffenheit ihrer Oberfläche, ihrer Materialität und Textur erfasst.36 Eine an Hildebrands Überlegungen zur Plastik geformte Raumauffassung hätte dort, wo sie auf den Film übertragen wird, vor allem jene Aspekte zu berücksichtigen, die an den Eindruck einer materiellen Stofflichkeit und plastischen Auswölbung der Bildoberfläche gebunden sind und damit jenseits des Interesses liegen, das sich in der Raumforschung des Films an die Frage nach der Durchmessung eines perspektivischen Raums durch Choreografien von Blicken und Bewegungen knüpft.
III. Im Horizont der zeitgenössischen Kunsttheorie wird die Blindheit im Stummfilm zum Anlass, um das Verhältnis optischer und haptischer Wahrnehmungsqualitäten im filmischen Bild auszuhandeln. Deutlich wird dies in Die Sühne (D 1917) von Emerich Hanus, der die Blindheit explizit in den Kontext der Bildhauerei stellt. Der Film erzählt die Geschichte eines Mannes, Ludwig (Kurt Vespermann), und einer Frau, Martha (Martha Novelly), die sich seit Kindertagen kennen und auf dem Landgut seiner Mutter, Frau von Laas (Olga Engl), den Sommer miteinander verbringen. Zwischen den beiden bahnt sich zaghaft ein Liebesverhältnis an, als Ludwig beim Blindekuhspiel in den nahegelegenen See stürzt und im Schock sein Augenlicht verliert. Martha fühlt sich schuldig und will bleiben, da aber die Mutter ihr versichert, sich um Ludwig zu kümmern, reist sie am Ende der Ferien ab. Jahre später: Ein Telegramm unterrichtet Martha vom Tod der Frau von Laas, woraufhin sie ihr Studium der Bildhauerei an der Akademie der Bildenden Künste an Ort und Stelle abbricht, um ein Atelier auf dem Land zu betreiben und für den Blinden zu sorgen. Ludwig hängt dem verlorenen Bild ihrer Schönheit nach, wenn er mit ausgestreckten Händen nach ihrem Gesicht tastet, flirtet aber auch mit einer Tänzerin (Lore Rückert), die sich von Martha modellieren lässt. Als Ludwig nach einer Augenoperation wieder sehen kann, erkennt er in der gealterten Gefährtin nicht mehr
35 Giovanni Pastrone in einem Interview von 1949, zit. n. Noël Burch: Life to those Shadows. Berkeley: University of California Press 1990, S. 181. 36 Vgl. Gottfried Boehm: Plastik und plastischer Raum. In: Gundolf Winter, Jens Schröter, Joanna Barck (Hrsg.): Das Raumbild. Bilder jenseits ihrer Flächen. München: Wilhelm Fink 2009, S. 21-46.
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das Bild der Frau, das er erinnert hatte. Er verlässt sie für die Tänzerin, die ihre lukrative Liebschaft mit dem Graf von Blaten (Max Ruhbeck) jedoch nicht aufgeben möchte. Da erkennt Ludwig seine Verblendung und kehrt geläutert zu Martha zurück: „Wie konnte ich mit sehenden Augen so blind sein!“ In der Entfaltung seines konventionellen Themas ironisiert der Film die Urszene der Aufklärung, wenn er die Heilung des Blinden als Moment der Verblendung entlarvt. Wie in Murnaus Der Gang in die Nacht ist auch hier der männliche Protagonist mit Blindheit geschlagen, um mit dem Aufschlag der operierten Augen zur Liebe zu erwachen – wobei er über die oberflächliche Wahrnehmung äußerlicher Reize hinaus erst zu tieferer Erkenntnis der schönen Seele gelangen muss. Die Heilung des Blinden ist mit dem erfolgreichen chirurgischen Eingriff demnach nicht abgeschlossen, sondern bedarf der geduldigen Sorge einer Frau, damit das tüchtige Sehorgan moralisch reifen kann.37 Unterdessen variieren beide Filme ein gängiges Muster, nach dem sich der Blick, zumal im Kino, des Bildes bemächtigt, und zwar des Bildes der schönen Frauen, das die blinden Protagonisten einsam begehren, aber erst nach operativ wiederhergestellter Sehfähigkeit konsumieren können.38 Nur vordergründig aber thematisieren Murnau und Hanus eine Übung im Verzicht des Blickbegehrens, während sie im Motiv der Blindheit eigentlich auf den künstlerischen Anspruch ihrer Filme verweisen, auf die malerischen oder skulpturalen Qualitäten in der bildnerischen Gestaltung. In diesem Anspruch erforscht Die Sühne auch den Ort des Films im Sinnesgefüge der Künste. Er vermag dabei ebenso wenig den Skulpturen, die Martha formt, einen tastbaren Körper zu verleihen, wie er die Geige, die Ludwig spielt, zum Klingen bringen kann. Er muss das Plastische – wie auch das Tönende – vielmehr seinen Bildern einschreiben, sie so gestalten, dass sie für den Betrachter als Raumerscheinungen lesbar werden. Folgt man Hildebrands Überlegungen, so ist dies vor allem durch den Einsatz von Licht und Schatten zu leisten. Für Hildebrand war die plastische Form nicht
37 Zur Verbreitung dieses stereotypen Musters in der deutschen Trivialliteratur des 20. Jahrhunderts vgl. Siegfried Saerberg: Schöne blinde Geigerinnen und mürrische blinde Bauern. In: Eleoma Joshua, Michael Schillmeier (Hrsg.): Disability in German Literatur, Film, and Theater. Rochester/Woodbridge: Camden House 2010, S. 127-152. 38 Zur Logik der Blindheit und den in ihr verhandelten Geschlechterverhältnissen im Blickregime des Kinos vgl. u. a. Johnson Cheu: Seeing Blindness On-Screen. The Blind, Female Gaze. In: Sally Chivers, Nicole Markotic (Hrsg.): The Problem Body. Projecting Disability on Film. Columbus: The Ohio State University Press 2012, S. 67-81; Nils Reschke: Blick-Störungen, Blindheit, Kino. In: Kenneth S. Calhoon, Eva Geulen, Claude Haas, Nils Reschke (Hrsg.): „Es trübt mein Auge sich in Glück und Licht.“ Über den Blick in der Literatur. Berlin: Erich Schmidt 2009, S. 257-269.
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zuletzt eine „Manifestation als Lichterscheinung“,39 in der Hell und Dunkel formgebend auf die Wahrnehmung konkreter Objekte wirken: Denn ein und dieselbe Daseinsform kann je nach Beleuchtung und Standpunkt in ihren Proportionen sehr verschieden aussehen und andererseits können auch verschiedene Daseinsformen ganz dieselbe Erscheinung hervorrufen und dadurch zur selben Formvorstellung führen. Z. B. eine Daseinsform die einmal konkav, das anderemal konvex auftritt, ist an ihrer Erscheinung nicht zu erkennen, sondern nur dadurch, daß wir uns klar machen, von welcher Seite das Licht kommt.40
In dem bei Hildebrand beschriebenen Prozess der allmählichen Umformung alles Dreidimensionalen in einen Flächeneindruck kommen Licht und Schatten eine wichtige Funktion zu; in ihnen sind die tastbaren Qualitäten der dreidimensionalen Form bereits in rein visuelle Qualitäten der räumlichen Wahrnehmung übersetzt. Zu den gängigen ikonografischen Formeln der Werbung für Aufnahmelampen gehörte bereits zur Zeit des Stummfilms, dass die durch Lichtsetzung eröffneten künstlerischen Gestaltungsmöglichkeiten am plastischen Bildnis demonstriert wurden. Die in den Werbebroschüren abgebildeten Fotostrecken zeigen unter anderem am Objekt der Büste auf, welches Spektrum an Variationsmöglichkeiten im physiognomischen Ausdruck sich durch die Beleuchtung aus unterschiedlichen Richtungen und Winkeln ergibt.41 Als Werbeträger rekurrieren diese Aufnahmen auf ein Bildprogramm des 19. Jahrhunderts, innerhalb dessen sich die Fotografie zur Darstellung plastischer Körper empfiehlt. So enthält bereits William Henry Fox Talbots The Pencil of Nature (1844-1846) als erstes illustriertes Buch in der Geschichte der Fotografie zwei aus unterschiedlichen Blickwinkeln gemachte Aufnahmen einer Gipsbüste des Patroklus (Tafeln V und XVII), deren variable Beleuchtungseffekte im Begleittext hervorgehoben werden (Abb. 3 und 4).42 Mit ihrer Erfindung war die Fotografie als Medium zur Reproduktion von Skulpturen in Konkurrenz zu der damals weit verbreiteten Praxis des Gipsabgusses getreten und hatte die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der Wiedergabe plastischer Körper im flächigen Bild massiv belebt. Angesichts der Vielfalt fotogra-
39 A. Hildebrand: Das Problem der Form in der bildenden Kunst, S. 160. 40 Ebd., S. 132. 41 Vgl. Ralf Forster: ‚Licht, Licht, auf alle Fälle!‘ Techniken der Filmbeleuchtung in Deutschland 1915 bis 1931. In: Connie Betz, Julia Pattis, Rainer Rother (Hrsg.): Ästhetik der Schatten. Filmisches Licht 1915-1950. Marburg: Schüren 2014, S. 135-151, hier S. 144. 42 Vgl. William F. Talbot: The Pencil of Nature. London 1844, in dt. Übersetzung unter dem Titel „Der Stift der Natur“ erschienen in: Wolfgang Kemp (Hrsg.): Theorie der Fotografie, Bd. 1. München: Schirmer-Mosel 1980, S. 60-63, hier S. 61.
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fischer Ansichten, die sich von einer einzigen Skulptur gewinnen ließen, hatte Heinrich Wölfflin gefordert, dass man sich „über die Art, wie plastische Aufnahmen zu machen seien, in weiten Kreisen zu verständigen“43 habe.
Abb. 3-4 William Henry Fox Talbot: Büste des Patroklus © J. Paul Getty Museum, Los Angeles 1846, Salzdruck, 17.8 x 16 cm
1843, Salzdruck, 14.9 x 14.5 cm
Seine in einer Serie von drei Aufsätzen in den Jahren 1896, 1897 und 1915 ausgesprochenen Empfehlungen, „wie man Skulpturen aufnehmen soll“, korrespondieren dabei eng mit der bei Hildebrand formulierten Auffassung, dass die dreidimensionale Form erst in ihrer Erscheinung als einheitliches Flächenbild zu voller künstlerischer Wirkung gelange, insofern das „Gesetz der flächenhaften Plastik“44 gilt. Interessant an dieser Diskussion ist der Umstand, dass nicht die Flächigkeit des fotografischen Bildes im Zielfeuer von Wölfflins Kritik steht, sondern die Beliebigkeit der gewählten Ansichten bei dem Versuch, die Vielansichtigkeit der plastischen Form zu reproduzieren. Auch das Licht wird von Wölfflin in seinen gestaltgebenden Potentialen diskutiert, wenn er die Fotografen ermahnt, sich bei der Beleuchtung von Skulpturen an der zeitgenössischen Malerei der alten Meister zu ori-
43 Heinrich Wölfflin: Wie man Skulpturen aufnehmen soll. In: Zeitschrift für Bildende Kunst, Nr. 31/7 (1896), S. 224-228, hier S. 225. 44 Heinrich Wölfflin: Wie man Skulpturen aufnehmen soll. In: Zeitschrift für Bildende Kunst, Nr. 32/8 (1897), S. 294-297, hier S. 297.
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entieren. Dabei ist es das Medium der Fotografie, in dem sich „das Bewußtsein für die integrierende Bedeutung von Licht und Schatten in der Plastik“45 schärft.
Abb. 5-6 Emerich Hanus: Die Sühne (D 1917)
45 Heinrich Wölfflin: Wie man Skulpturen aufnehmen soll. In: Zeitschrift für Bildende Kunst, Nr. 50/26 (1915), S. 237-244, hier S. 244.
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Innerhalb der Geschichte der Eroberung des Raumes durch den Film betrachtet Noël Burch den Einsatz von Kunstlicht im Stummfilm als einen entscheidenden Faktor, um den Bildern Reliefwirkung von haptischer Qualität zu verleihen.46 Die Produktion von Die Sühne fällt noch nicht in die Zeit der Beleuchtung mit Kunstlicht, die sich ausgehend von Hollywood in Deutschland erst nach dem Ersten Weltkrieg als Standard in den Filmateliers durchsetzte.47 Umso stärker fällt das Anliegen ins Auge, die auf der Bildfläche erscheinenden Körper durch ein gezieltes Arrangement der natürlichen Lichtsituation im Vorgriff auf die Möglichkeiten des Kunstlichts plastisch zu modellieren. Besonders deutlich zeigt sich die durch natürliches Tageslicht erzeugte Reliefwirkung der Bilder dabei in einer Szene, die den Blinden im Atelier der Bildhauerin zeigt (Abb. 5). Von links oben fällt helles Licht durch ein Fenster in den ansonsten dunklen Raum und erhellt die dort aufgestellten Skulpturen: allesamt figürliche Darstellungen männlicher und weiblicher Körper, die hier in einem kuriosen Kabinett unterschiedlicher Stilformen zwischen klassizistischer und moderner Anmutung versammelt sind, in ihrer Mitte ein Skelett, das in diesem Kontext möglicherweise weniger auf die Vergänglichkeit allen Seins als auf die menschliche Anatomie verweist, die nicht zuletzt den Körpern der Darsteller zugrunde liegt. Was innerhalb dieses Sammelsuriums einen Zusammenhang stiftet, ist allein das Licht, das die isolierten Objekte in eine einheitliche Raumvorstellung fügt und ihnen als Flächenerscheinungen innerhalb des Bildes zu plastischer Reliefwirkung verhilft. Umgeben von den Skulpturen liest Ludwig in einem großen Buch, dessen Blindenschrift er mit den Fingerspitzen ertastet. In einer Großaufnahme, die ein Nahbild im Sinne Hildebrands erschafft, ist zu sehen, wie das Licht die Buchseiten beim langsamen Umblättern illuminiert und das dem Papier eingeprägte Punktmuster der Brailleschrift als „plastische Attraktion“48 hervortreten lässt (Abb. 6). Unzweifelhaft ist diese Szene auch als Anleitung für den Zuschauer zu verstehen, die Bilder so zu schauen, als würde man sie mit dem Blick förmlich ertasten. Der Film thematisiert hier den Status seiner eigenen Bildlichkeit im Spannungsfeld des Optischen und des Haptischen. Diese beiden in der deutschsprachigen Kunsttheorie um 1900 breit diskutierten Begriffe mögen Perspektiven für ein Verständnis des frühen Films eröffnen, dessen Bemühung um plastische Reliefwirkung nur ausnahmsweise im Kontext der Überlegungen Hildebrands und ihrer Weiterführung
46 N. Burch: Life to those Shadows, S. 176ff. 47 Vgl. R. Forster: „Licht, Licht, auf alle Fälle!“, S. 135. 48 Jörg Schweinitz: Von Transparenz und Intransparenz. Über die Atmosphäre historischen Filmmaterials. In: Philipp Brunner, Jörg Schweinitz, Margrit Tröhler (Hrsg.): Filmische Atmosphären. Marburg: Schüren 2012, S. 39-52, hier S. 43.
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bei Riegl, Wölfflin, Benjamin und anderen betrachtet wurden.49 Murnaus Der Gang in die Nacht und Hanus’ Die Sühne exponieren ihre blinden Protagonisten sprichwörtlich im Umfeld von Malerei und Plastik, um auf die ästhetischen Herausforderungen zu deuten, denen sich der Film dort stellt, wo er den unmittelbaren Vergleich mit den etablierten Künsten in der Gestaltung optischer und haptischer Bildwirkungen sucht. Sie mögen in diesem Zusammenhang nicht nur auf den Erkenntnisgewinn verweisen, den ein an der zeitgenössischen Kunsttheorie ausgerichtetes Bildverständnis für die Betrachtung des Stummfilms haben mag; sie erinnern auch daran, dass dieses Bildverständnis seinen Ausgang im ästhetischen Diskurs der Blindheit genommen hat.
49 Zu diesen Ausnahmen gehört der Aufsatz von Antonia Lant: Haptisches Kino. In: Klemens Gruber, Antonia Lant (Hrsg.): Texture Matters. Der Tastsinn im Kino. haptisch / optisch 1. Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2014, S. 31-67, zuerst erschienen unter dem Titel „Haptic Cinema“. In: October, Nr. 74 (Herbst 1995), S. 45-73. Lant kritisiert in ihrem Aufsatz, dass Noël Burch (in Life to those Shadows) seine Ausführungen zum haptischen Raum des Films in Unkenntnis sämtlicher dieser Schriften formuliert. Die im Ausgang von Hildebrand diskutierte Frage nach dem Verhältnis haptischer und optischer Aspekte der Bildwahrnehmung wurde erst im Zuge der Nachreichung einer Geschichte des stereoskopischen Bildes verstärkt wieder aufgenommen. Vgl. hierzu etwa David Trotter: Stereoscopy. Modernism and the ‚Haptic‘. In: Critical Quarterly, Nr. 46/4 (Dezember 2004), S. 38-58; Nicola Glaubitz, Jens Schröter: Quälende Kuben und beruhigende Tableaus. Fragmente einer Diskursgeschichte des Raum- und des Flächenbildes. In: Sprache und Literatur, Nr. 35/93 (2004), S. 33-63; Jens Schröter: 3D. Zur Geschichte, Theorie und Medienästhetik des technisch-transplanen Bildes. München: Wilhelm Fink 2009; Michael Wedel: Sculpting with Light. Early Film Style, Stereoscopic Vision and the Idea of a ‚Plastic Art in Motion‘. In: Annemone Ligensa, Klaus Kreimeier (Hrsg.): Film 1900. Technology, Perception, Culture. Eastleigh: John Libbey 2009, S. 201-224.
„I can see now!“ Charlie Chaplins City Lights (1931) und Samuel Becketts Film (1965) A LEXANDRA T ACKE
C HARLIE C HAPLIN : C ITY L IGHTS (1931) Tramp: „You can see now?“ Blind Girl: „Yes, I can see now!“ CITY LIGHTS (1931)
Ende der 1920er Jahre löste der Tonfilm immer mehr den Stummfilm ab und ließ die Erzähltechnik der Pantomime, die von Slapstickstars wie Charlie Chaplin und Buster Keaton mit geprägt wurde, veraltet wirken. Die Bilder, die laufen gelernt hatten, sollten auf einmal auch sprechen können, um so noch einen größeren Realitätseffekt beim Publikum zu erzielen. Mit der stummen Poesie der frühen Filme, die die Zuschauer mit ihren Augen hören ließen und „on a gestural vocabulary not dissimilar from the sign language used by and for the deaf“1 beruhten, hatte dies nur noch wenig zu tun. Dies spürte auch Charlie Chaplin, der die neue Tonfilmtechnik vehement ablehnte und mit City Lights (USA 1931) einen melancholischen Abgesang auf die frühe Stummfilmära produzierte.2 Indem Chaplin dem Film den Untertitel A Comedy Romance in Pantomime gab und für diesen einen „Soundtrack ohne Worte, nur mit Musik und einigen typisierten Objektklängen“3 komponierte, kündigte sich City Lights bereits „as an aesthetic alternative to the ‚talkie‘“4 an, der der filmindustriellen Folgerichtigkeit mit der der Ton- den Stummfilm abzulösen hatte, deutlich zuwider lief.
1
Kennth S. Calhoon: Blind Gestures: Chaplin, Diderot, Lessing. In: MLN, 115 (2000), S. 381-402, hier S. 381.
2
Vgl. dazu Gerard Molyneaux: Charlie Chaplin’s City Lights. New York: Garland 1983.
3
Slavoj Žižek: Seinsentzug: Die Schlußszene von >City Lightsrichtigen< Stelle“14 ist. Als ein solcher Störenfried, der nicht am ‚richtigen‘ Platz ist, wird der Tramp bereits in der Eingangssequenz des Films eingeführt. Denn die Enthüllung des Denkmals für Peace and Prosperity fördert etwas zu Tage, was zuvor durch die nichtssagenden Ansprachen der unterschiedlichen Würdenträger (auch sie sprechen in einer eigenwilligen Kunstsprache) nicht sichtbar geworden ist. Plötzlich sind alle Blicke auf den armen Tramp gerichtet, der vom gigantischen Monument schnellstmöglich verschwinden soll, ist er schließlich ein Dorn im Auge der Gesellschaft, die sich für ihre karitative Tätigkeit gerade selbst feiert: Der Tramp in seinem dunklen Anzug ist der blinde Fleck, der in seiner armseligen Gestalt einen zu starken Kontrast zu den übergroßen, idealisierten, weißen Helden des Marmormonuments abgibt. Er passt nicht ins Bild, fällt aus dem Rahmen und stellt eine Blickstörung im Zentrum der übergroßen Statuen-Gruppe dar (Abb. 2). Gerade in Szenen wie diesen erfindet Chaplin als Regisseur Tableaus, „die eben nicht nur zur Bebilderung der gerade fortlaufenden Handlung taugen, sondern sich als besonders dichte Visualisierung, als vielsinnige Komposition erweisen.“15 Eingeführt als blinder Fleck, bleibt der Tramp im Folgenden der Fluchtpunkt, auf den alles zuläuft. Ist der Tramp als Störenfried zunächst noch der, den alle entsetzt anstarren, verkehrt sich bereits in der nächsten Sequenz seine Position: Nun ist er der Blickende, der vor einem Schaufenster verschämt eine nackte Frauenstatue anschaut, jedoch so tut, als ob ihn lediglich die daneben stehende Reiterstatue interessiert (Abb. 3).16 Die Szene macht den Tramp vom Objekt der Betrachtung, das er üblicherweise als
13 Auf die homoerotischen Momente des Films hat u.a. Tonya Howe hingewiesen. Vgl. Tonya Howe: City Lights. In: http://cerisia.cerosia.org/wp-content/uploads/2011/08/citylights.pdf. 14 S. Žižek: Seinsentzug, S. 37. 15 Thomas Koebner: Vom Kunststück des Überlebens. Vermischte Beobachtungen zu den Filmen von Chaplin und Keaton. In: Ders. (Hrsg.): Chaplin – Keaton. Verlierer und Gewinner der Moderne. Film-Konzepte, Heft 2. München: text + kritik 2006. S. 9-36, hier S. 24. 16 Ruht der Tramp in der ersten Einstellung noch auf dem Schoß der weiblichen, weißen Caritas-Marmorstatue, schaut er in der zweiten Einstellung auf den Schoß der nackten, dunklen Statue. Für diesen Hinweis sowie weitere produktive Anmerkungen danke ich Astrid Hackel.
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trauriger Vagabund mit ausgeprägtem Hang zum Cross-Behaving (auch in City Lights klimpert er mehrfach feminin mit seinen Wimpern oder schaut verlegen nach unten) ist, zu einem Subjekt des Blicks.
Abb. 2-3 Der Tramp als Erblickter und als Blickender
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Durch diese zwei ersten Sequenzen, deren Notwendigkeit für den Plot sich zunächst nicht sofort erschließt, wird der Blick geschickt als das zentrale Thema von City Lights eingeführt. Die ganze Bandbreite von Blicken und Erblickt-Werden über Unsichtbar- bzw. Sichtbar-Sein-Wollen bis hin zu den damit verbundenen Machtund Ohnmachtpositionen werden im gesamten Film variantenreich durchgespielt. Nicht selten wird dabei auch auf einer Metaebene die Position der Zuschauer gespiegelt. Vor allem die immer wiederkehrenden Schaufenster ermöglichen eine kritische Reflexion des filmischen Dispositivs. Das Schaufenster wird zur Kinoleinwand. Den Tramp beim Betrachten betrachtend erkennen die Zuschauer sich als Voyeure, deren Sinn ebenfalls weniger nach Action (=Reiterstatue) als nach dem Anblick einer schönen (nackten) Frau steht. Denn gerade die Einführung der Großaufnahme hat im frühen Film den Effekt verstärkt, dass die Zuschauer nicht mehr nur ‚Bewegungsbilder‘ (Deleuze) zu sehen wünschten, sondern vor allem schillernde Filmstars aus der Nähe im ‚Affektbild‘ (Deleuze) betrachten wollten. In zahlreichen Szenen thematisiert Chaplin dies, indem er nicht nur sich selbst, sondern insbesondere das blinde Mädchen (gespielt von der wunderschönen, jungen Virginia Cherrill) offen als SchauObjekt ausstellt. Dabei gerät der asymmetrische Blick des Kinos in den Fokus. Nicht zuletzt ist es das blinde Mädchen, das dieses Bewusstsein im gesamten Film präsent hält. Denn strukturell gesehen ist der blinde Blick das Sinnbild für die tatsächliche asymmetrische Blickanordnung des Kinos, die den wechselseitigen Blick nicht kennt. Vergrößert und eingefroren, passiert der blinde Blick des Mädchens die Position der Zuschauer und lässt den filmischen Signifikanten als einen imaginären (d.h. abwesenden) sichtbar werden.17 Entsprechend leer und unheimlich wirken auch die zahlreichen Großaufnahmen von Virginia Cherrill. Ihr fahles, blasses, bewegungsloses Gesicht wird zur begehrenden Projektionsfläche von Tramp und Publikum. Dabei sind es nicht zuletzt die unterschiedlichen Rahmen (Fenster-, Türund Treppenrahmen etc.), in denen das Gesicht wiederholt eingefangen wird, welche diese Deutung nahe legen. In seiner Blässe und Ausdruckslosigkeit mutiert das Gesicht des blinden Mädchens zur Allegorie der Kinoleinwand. Nicht zuletzt deshalb lässt Chaplin in seinem Film wohl auch den Blick auf die schöne Virginia Cherrill grundsätzlich nicht ungestraft. Wiederholt werden die Momente zerstört, wo er sie als Tramp gedankenverloren und ganz verliebt anschaut. Bereits während der ersten Begegnung erfährt der Tramp eine deutliche Ernüchterung. Denn als dieser bemerkt, dass das Blumenmädchen blind ist, setzt er sich heimlich in eine Ecke, um sie ungestört weiter betrachten zu können. Slapstickartig wird die klassische Voyeursszene bald dadurch unterbrochen, dass das
17 Vgl. dazu Christian Metz: Der imaginäre Signifikant. Psychoanalyse und Kino. Münster: Nodus Publikationen 2000.
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Blumenmädchen einen Eimer Wasser unwissentlich in das Gesicht des Tramps schüttet und dieser völlig nass, stumm bleiben muss, um sich selbst nicht zu verraten (Abb. 6-7). Nicht zuletzt für Szenen wie diese ist Chaplin in späteren Jahren von der europäischen Avantgarde als „herald of modern disillusionment“18 gefeiert worden.
Abb. 4-7 Der Tramp begegnet dem blinden Blumenmädchen Der Schluss von City Lights liest sich als komplette Verkehrung der ersten Begegnung (Abb. 8-15). Ernüchtert ist dieses Mal allerdings nicht der Tramp, sondern das blinde Blumenmädchen, welches nach einer Augenoperation wieder sehen kann. „[T]he meeting in front of the flower shop proves a complete role reversal from their initial encounter.“19 Denn als das blinde Blumenmädchen wieder sehen kann, ist sie – obwohl sehend – blind für ihren wahren Helfer, der nach seiner abgesessenen Strafe wieder durch die Straßen zieht und plötzlich vor ihrem neu erworbenen Blumengeschäft steht.20 Hinter der Glasscheibe ihres Schaufensters erblickt sie den
18 K. S. Calhoon: Blind Gestures, S. 390. 19 Eric L. Flom: Chaplin in the Sound Era. An Analysis of the Seven Talkies. Jefferson: MacFarland 1997, S. 68. 20 Auch aus der geschlechterkritischen Perspektive sind die Umschreibungen und Verschiebungen, die Chaplin in seiner Romantikkomödie vornimmt, höchst interessant. Denn das (Laden-)Mädchen wird bei ihm nicht – wie bei den anderen Filmen der Zeit – von einem
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Tramp auf der Straße und erkennt in ihm – trotz seines verschämt, verliebten Lächelns – doch nicht ihren großzügigen Gönner. Vielmehr sieht sie in ihm nur das, was seine sichtbare Kleidung suggeriert: einen bemitleidenswerten Armen, über den man höchstens lachen kann. „[A]lles, was sie durch das Schaufenster (das die beiden wie ein Bildschirm trennt) sieht, ist die verkommene Gestalt des Vagabunden, eines sozialen Auswurfs.“21 Mit ihrem Blick auf ihn wiederholt sie unbewusst genau jenen mitleidigen Blick, der ihr zuvor als armem, blinden Blumenmädchen jahrelang gegolten hat. Erst der Verlust der Distanz und das Hervortreten vom Schaufenster auf die Straße, um dem Tramp sowohl eine Blume als auch ein Almosen zu schenken, ermöglicht einen anderen taktilen Blick. Einen Blick, der zur Erkenntnis führt und die Vision eines wechselseitigen Blicks möglich werden lässt, der allerdings ohne den Nahsinn des Tastens undenkbar ist und damit eigentlich für das filmische Medium unerreichbar bleibt. Chaplin lässt am Ende seiner Comedy Romance in Pantomime für einen kurzen Moment die Utopie eines taktilen Blicks aufblitzen, „der als synästhetischer die parzellierten Einzelsinne (in dieser Szene vor allem Sehen und Tasten, aber auch Riechen symbolisiert durch die Blumen) zu reintegrieren vorgibt.“22 Der taktile Blick wird zu einer Utopie einer ganzheitlichen und scheinfreieren Sinneswahrnehmung, die der Film zuvor allerdings selbst mehrfach als eine illusionäre offen gelegt hat. Erst nachdem die Blumenhändlerin dem Tramp eine Münze gegeben und dabei seine Hand erfasst hat (Abb. 13), begreift sie, wer vor ihr steht. Das Mädchen erkennt ihn „erst, als sie aufhört, ihn nur zu sehen, und als sie aufhört, bloß eine Leinwandfigur zu sein.“23 Der Film endet mit dem berühmten Dialog, in dem der Tramp sie fragt: „Can you see now?“ und als vieldeutige Antwort von dem Mädchen erhält: „Yes, I can see now!“, was sowohl „Ja, ich kann wieder sehen“ als auch „Ja, ich erkenne (Dich) bzw. verstehe“ meint. Doch indem beide „sich erkennen, haben sie sich [auch schon] verloren.“24
Millionär geheiratet, um fortan nicht mehr (im Laden) arbeiten zu müssen und stattdessen nur noch reiche Gattin zu sein. Im Gegenteil: Das arme Blumenmädchen wird durch das Geld des Millionärs, das der Tramp ihr zukommen lässt, zur Besitzerin ihres eigenen Geschäfts. Mehr noch als in den anderen Filmen der Zeit repräsentiert sie damit die wahre moderne Frau. 21 S. Žižek: Seinsentzug, S. 35. 22 Nils Reschke: Blick-Störungen: Sehen, Blindheit, Kino. In: Kenneth S. Calhoon, Eva Geulen, Claude Haas, Nils Reschke (Hrsg.): „Es trübt mein Auge sich in Glück und Licht“. Über den Blick in der Literatur. Berlin: Erich Schmidt 2010, S. 257-269, hier S. 268. 23 S. Ripplinger: I can see now, S. 7. 24 Ebd.
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Abb. 8-15 Schlussszene von City Lights (USA 1931)
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Dementsprechend kann es in der pantomimischen Filmromanze auch kein Happy End geben. Stattdessen hört City Lights mit einem ambivalenten, schwebenden Ende auf, „das sicherlich zu den bedeutendsten und sublimsten der Filmgeschichte gehört“25. Denn sehend ist das Mädchen blind für die wahre Schönheit des Tramps, der in völlig zerschlissener Kleidung und mit dunklen Augenringen schüchtern lächelnd vor ihr steht: „the film ends on a close-up of the tramp’s expectant, hopeful face“26 (Abb. 15) und belässt es damit bei einem „Augenblick der absoluten Unentschiedenheit“27. Ähnlich wie die Filmzuschauer, die mit der Einführung des Tonfilms Ende der 1920er Jahre auch bald keinen Blick mehr für die stumme Poesie des Tramps haben, um fortan lieber einer perfekten audio-visuellen Illusion zu erliegen, ist das wieder sehende Mädchen blind für die wahre Schönheit des vor ihr stehenden Tramps. Die Komödie, die der Tramp „zu spielen liebte, ist mit einem Mal dahin. Es ist, als ob mit der Einführung des Tons ein süßer Zauber verloren gegangen wäre, der sich nur im Medium natürlicher Verblendung oder Blindheit erhält.“28 Der Zuschauer ist in derselben Lage wie das blinde Blumenmädchen. „Man hat ihn getäuscht, ihm Reichtum und Glück vorgespiegelt. Das Kino erschien ihm wie ein großer Zauberer, der mit einem Mal offenbart, wie hilflos er ist.“29 Desillusioniert wird er sich der imaginären Kinoillusion bewusst, der er erlegen ist. Wohl auch deshalb hat das sehende Mädchen beim Anblick des Tramps am Ende Tränen in ihren Augen (Abb. 14). Symbolisieren diese einerseits die Trauer um den endgültigen Verlust der (Stummfilm-)Illusion, legen sie andererseits auch „im Augenblick selbst, wo sie die Sicht trüben, [...] das Eigentliche [propre] des Auges“30 offen: nämlich den blinden Fleck jeglicher Wahrnehmung, der (traurig lächelnd) endlich als der (an-)erkannt werden möchte, der er ist (Abb. 15). Denn Tränen sagen, indem sie den Blick verschleiern, etwas über das Auge, „das nichts mehr mit dem Sehen zu tun hat – es sei denn, daß sie das Sehen gerade durch die Verschleierung enthüllen.“31 Schließlich ist das, was die Tränen „aus dem Vergessen hervorquellen lassen, in dem es der Blick zurückbehält, [...] nichts geringeres als die
25 T. Koebner: Vom Kunststück des Überlebens, S. 16. 26 Therese Davis: First Sight: Blindness, Cinema and Unrequited Love. In: Journal of Narrative Theory, 33.1 (Winter 2003), S. 48-62, hier S. 60. 27 S. Žižek: Seinsentzug, S. 38. 28 S. Ripplinger: I can see now, S. 12. 29 Ebd. 30 Jacques Derrida: Aufzeichnungen eines Blinden. Das Selbstporträt und andere Ruinen. München: Wilhelm Fink, S. 122. 31 Ebd., S. 12.
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aletheia, die Wahrheit der Augen, deren höchste Bestimmung sie“32 so offenbaren: – „Yes, I can see now!“
S AMUEL B ECKETT : F ILM (1965) [S]elf-perception is the most frightening of all human observations […]. [W]hen man faces himself, he is looking into the abyss.33 Esse est percipi. Wenn alle Wahrnehmung anderer – tierische, menschliche und göttliche – aufgehoben ist, behält einen die Selbstwahrnehmung im Sein. Die Suche nach dem Nicht-Sein durch Flucht vor der Wahrnehmung anderer scheitert an der Unausbleiblichkeit der Selbstwahrnehmung.34 SAMUEL BECKETT
30 Jahre später, als die Stummfilmzeit längst zur grauen Vorzeit der Filmgeschichte zählt und kaum ein Film ohne Ton und Farbe auskommt, dreht der irische Schriftsteller Samuel Beckett einen 24-minütigen experimentellen Schwarzweißfilm, der bis auf ein kurzes Psssst! komplett stumm ist.35 Da „Sehen und Gesehenwerden,
32 Ebd., S. 122. 33 John Gruen: Nobel Prize Winner, 1969: Samuel Beckett talks about Beckett. In: Vogue (Dezember 1969), S. 210. 34 Samuel Beckett: Hörspiele, Pantomime, Filme, Fernsehspiel. Aus dem Englischen von Erika und Elmar Tophoven. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1995. Darin ist das Drehbuch für Film (1965) abgedruckt, das an einigen Stellen von der filmischen Umsetzung abweicht: S. 103-121, hier S. 105. Zum Zusammenhang von Beckett und Berkeley, von dem Beckett das esse est percipi übernimmt, welches er seinem Filmscript voranstellt vgl. auch Sylvie Debevec Henning: Film: ein Dialog zwischen Beckett und Berkeley. In: Hartmut Engelhardt (Hrsg.): Samuel Beckett. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1984, S. 197-210 und Anthony Uhlmann: Image und Intuition in Beckett’s Film. In: SubStance, Vol. 33, Nr. 2, Issue 104: Special Section: Centemporary Novelist Lydie Salvayre (2004), S. 90-106, S. 94ff. 35 Zur nicht vorhandenen und nicht gewollten Tonspur (bis auf einem PSST!) vgl. Julian Murphet: Beckett’s televisual modernism. In: Critical Quarterly, Vol. 51, Nr. 2 (2009),
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das philosophische oder metaphorische Potential der (technisch forcierten) Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung“36 ein Lebensthema von Beckett ist, ist es nicht weiter verwunderlich, dass dieser sich in den 1960er Jahren – neben dem Hörspiel und dem Theater – auch dem filmischen Medium zuwendet, um damit zu experimentieren. In stummen und kargen Bildern knüpft er in seinen Film- und Fernsehproduktionen an eine Filmtradition an, die ihn in den 1920er Jahren als leidenschaftlichen Kinogänger stark geprägt hat. Es sind die Klassiker des Stummfilms, die ihn faszinieren: die komischen Amerikaner, „von Charlie Chaplin, Buster Keaton, den Marx Brothers zu Laurel & Hardy,“37 aber auch die „frühen avantgardistischen Stummfilmaktivisten aus Frankreich, Deutschland und der Sowjetunion.“38 In all jenen Filmen findet „sich visueller Ausdruck jenseits der Sprache, allein durch Gestik, Mimik und Szenenverkettungen.“39 Nicht zuletzt deshalb ist Becketts erster Film, für den er das Drehbuch geschrieben hat und das dann von Alan Schneider umgesetzt worden ist,40 wohl auch mit einem der bekanntesten Gesichter der Stummfilmzeit besetzt worden. Ursprünglich wollte Beckett Charlie Chaplin für sein Filmprojekt gewinnen, zumal er in der kurzen Episode mit dem alten ‚Blumenmädchen‘, das die Treppe hinabsteigt, direkt Bezug auf City Lights nimmt. Als dieser jedoch ablehnte und auch Becketts Lieblingsschauspieler Jack MacGowran und Zero Mostel keine Zeit fanden, fiel die Wahl auf Buster Keaton. Mit seinem legendären Stone Face verlieh Keaton dem
S. 60-78. Das einzige Psst! äußert die Dame mit dem Hut und dem Nasenkneifer auf der Straße am Anfang zu ihrem Mann, als dieser geschockt in die Kamera starrt. 36 Gaby Hartel, Michael Glasmeier: Vorwort. Eisensteins Bulle im Kunstraum: der Schriftsteller Beckett als Medienkünstler. In: Dies. (Hrsg.): The Eye of Prey. Essays zu Samuel Becketts Film- und Fernseharbeiten. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2011, S. 15-35, hier S. 16. 37 Ebd., S. 24. 38 Ebd. 39 Carola Veit: Kraft der Melone. Samuel Beckett im Kino. Berlin: Verbrecher Verlag, S. 14f. 40 Obwohl der Regisseur von Film (USA 1965) offiziell Alan Schneider ist, werde ich im Folgenden immer von Beckett’s Film sprechen, da ich mich sowohl auf das schriftliche Drehbuch von Beckett sowie den daraus entstandenen Film beziehen werde. Schließlich ist der Anteil am Zustandekommen des Filmprojekts durch Beckett überproportional groß, wie selbst Alan Schneider zugibt: „Obwohl das heutige Kino gern die Regisseure zu den >eigentlichen< Autoren von Filmen erklärt, war Samuel Beckett, der das Skript verfasst hatte, der eigentliche Autor von Film.“ (Alan Schneider: Regieführen bei Film. In: Gaby Hartel, Michael Glasmeier (Hrsg.): The Eye of Prey. Becketts Film-, Fernsehund Videoarbeiten. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2011, S. 415-435, hier S. 415.)
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Film eine Ikonizität,41 die „den Effekt der intendierten Hinterfragung filmischer Wahrnehmung“42 ebenso verstärkte. Der Film, der als Skript The Eye hieß, schließlich jedoch den schlichten Titel Film (USA 1965) erhielt,43 „ist ein Experiment ohne Dialog, dessen Thema das Bild selbst ist oder besser: die visuelle Wahrnehmung.“44 Film ist „Teil einer >Subgeschichte des Films< oder einer Geschichte des >Films als FilmDer Film< schlechthin [...], sondern Film ist ganz einfach ein Film [...]. Indem Film nur Film heißt, lenkt er unsere Aufmerksamkeit nicht in eine vorgegebene Richtung.“ (Michael Glasmeier: Hände im Augenraum. Samuel Becketts Film Film. In: Gaby Hartel, ders (Hrsg.): The Eye of Prey. Essays zu Samuel Becketts Film- und Fernseharbeiten. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2011, S. 127-154, hier S. 131f.). 44 Raymond Federman: Samuel Becketts Film. In: Gaby Hartel, Michael Glasmeier (Hrsg.): The Eye of Prey. Essays zu Samuel Becketts Film- und Fernseharbeiten. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2011, S. 114-126, hier S. 115. 45 M. Glasmeier: Hände im Augenraum, S. 139. Auch Linda Ben-Zevi liest Film als einen ‚Film über Film‘: Vgl. dazu Linda Ben-Zevi: Samuel Beckett’s media plays. In: Modern Drama, 28.1 (März 1985), S. 22-37. 46 A. Schneider: Regieführen bei Film, S. 417. 47 Vgl. Enoch Brater: The Thinking Eye in Beckett’s Film. In: Modern Language Quarterly, 36 (1975), S. 166-176, hier S. 167. Vgl. dazu auch Martin Schwab: Unsichtba-
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Beckett folgt mit Film seinem poetologischen Grundsatz zu den einfachsten Formen des Ausdrucks zurückkehren und diese erkunden zu wollen. Dafür bedient er sich – wie schon zuvor in seinen Texten – insbesondere „des visuellen Repertoires der großen Komiker aus der Stummfilmzeit.“48 Bereits im Script heißt es zur Zeitangabe: „etwa 1929“49, während die Atmosphäre des Films „komisch und unwirklich“50 erscheinen soll. Der Film besteht aus drei Teilen: 1. die Straße, 2. die Treppe und 3. das Zimmer (von O’s Mutter, in dem er „jahrelang nicht war und das er nun vorübergehend bewohnen soll, um für die Lieblinge [= Hund, Katze, Goldfisch, Vogel] zu sorgen“51). Die Handlung beschränkt sich auf Aktionen des Wahrnehmens und Wahrgenommen-Werdens, wobei die Einschränkung der Sicht von Anfang an ein zentrales Thema ist: Ist O’s Sicht (wahrscheinlich durch einen grauen Star) stark getrübt (Abb. 21),52 ist A’s Wahrnehmung dadurch massiv beschnitten, dass A O „bis zum Ende des Films von hinten aus einem Winkel wahr[nimmt], der nicht größer als 45° ist“53 (Abb. 20). Mit dem Grundthema Sehen und Nicht-Sehen wird bereits die Eingangssequenz des Films eröffnet (Abb. 16-21). In einem Close-up sehen wir eine Pupille, die in die Leere starrt und unfähig scheint, etwas zu fokussieren. „The opening frame is […] an extended shot of a defective eye, a lens which does not see at all.“54 (Abb. 16 u. 18). Schwer schließt sich ein faltiges Augenlid über die defekte Pupille, wodurch unmittelbar die Aufmerksamkeit auf ein weiteres Blindheitsmoment im Sehprozess gelenkt wird: nämlich das Blinzeln. Dieses bleibt – ähnlich wie der Filmschnitt und das Schwarzbild zwischen den Filmbildern – meistens unreflektiert, weil es den blinden Fleck der Wahrnehmung darstellt. Beckett stellt das Blinzeln programmatisch an den Anfang seines Films, jenen Moment also, der nach Jacques Derrida:
res – Sichtbar gemacht. Zu Samuel Becketts >FilmSynthesePhantom< und die >Angst< – die Angst, dasjenige zu sehen und nicht zu sehen, was man nicht sehen muß, also genau das, was man sehen muß, die Angst, zu sehen.55
Abb. 16-21 Blickbeeinträchtigungen in der Anfangssequenz von Film (USA 1965)
55 J. Derrida: Aufzeichnungen eines Blinden, S. 52.
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Zwischen einem dieser Augenauf- und -zuschläge findet der Film statt, endet dieser schließlich auch mit einem Close-up der Pupille.56 Indem das faltige Augenlid und eine poröse Mauer durch den Filmschnitt am Anfang gleichgesetzt werden, rückt die Frage nach dem Dahinter bzw. nach dem Unsichtbaren und Sichtbaren unmittelbar in den Vordergrund. Die Retina wird zu einer Leinwand für innere und äußere Bilder, die sich nur noch schwer voneinander unterscheiden lassen. Sehen wird zur Projektion. „Rather than disguise eyes, making us forget that we are being exposed to visual manipulation“57, enthüllt Beckett diese Tatsache gleich mehrfach. Denn eine solch extreme Konzentration auf die Augen „makes us conscious of that phenomenon which cinema usually wants us to forget: the fact that we are seeing through the privileged lens of a camera.“58 Ähnlich wie Chaplin in City Lights geht es Beckett in Film um die (Des-)illusionierung der Zuschauer. Noch expliziter als dieser nimmt er die blinden Flecken der kinematographischen Wahrnehmung in den Blick. Schon allein durch die konsequente Zweiteilung aller Einstellungen entweder in O’s getrübte Weltsicht oder in A’s beschränkte Betrachtungsweise, die durch den im Skript vorgegebenen ‚Immunitätswinkel‘ (Beckett) von 45° definiert ist, bleibt die Problematik des Blicks konstant präsent. Anders als im üblichen Kino wird der (Kamera-)Blick als ein stark beschränkter und sehr subjektiver eingeführt, der nicht allwissend und -sehend ist, sondern im Gegenteil diverse Sehbeeinträchtigungen aufweist. Durch diese Konstruktion sieht der Zuschauer zwar durch O’s alte, getrübte Augen, das Gesicht des Darstellers (=Buster Keaton) bekommt dieser allerdings erst am Ende des Films zu sehen, als A schließlich doch den Immunitätswinkel überschreitet und O von vorne in den Blick nimmt. Im Grunde genommen zeigt Film den Kampf zwischen O und A. Gehetzt versucht O vor A’s Blick zu fliehen. „Mit komischen, ungelenken Schritten“59 hastet O an einer Mauer entlang, flüchtet sich ins Treppenhaus, wo er auf das alte Blumenmädchen (wahrscheinlich eine Nachbarin) trifft, um schließlich doch im Zimmer (das Schutzraum und Mutterbauch zugleich ist)60 festzustellen, dass ihn alles an-
56 Vgl. dazu William Van Wert: To Be is to Be Perceived: Time and Point of View in Samuel Beckett’s Film. In: Literature/Film Quarterly, 8 (1980), S. 133-140, hier S. 136. 57 E. Brater: The Thinking Eye, S. 172. 58 Ebd. 59 S. Beckett: Hörspiele, Pantomime, Filme, Fernsehspiel, S. 107. 60 In seinen Filmen geht es Beckett generell „nicht um irgendeinen filmischen Raum, sondern um den Filmraum [...]. [...] Die Kamera konstituiert einen un-heimlichen Raum.“ (Eckart Voigts-Virchow: Verweigerte Ortsbestimmungen: Becketts Film und Eh Joe modern im Archiv. In: Susanne Dürr, Almut Steinlein (Hrsg.): Der Raum im Film. L’espace dans le film. Frankfurt a. M./Berlin/Bern/Brüssel/New York/Oxford/Wien: Peter Lang 2002, S. 147-157, hier S. 150).
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blickt und damit auch angeht, wie das zweideutige französische Wort regardez/me regardez noch viel besser zu fassen versteht. Hund, Katze, Vogel, Fisch, Spiegel, Fenster, Maskengesicht, ja sogar der Nagel in der Wand oder auch die Löcher der Rückenlehne des Schaukelstuhls blicken O an und werden deshalb von ihm eliminiert, indem er sie entweder ganz aus dem Zimmer befördert oder durch unterschiedlichste Tücher verdeckt. Doch dem (An-)Blick kann man nicht entfliehen. Schließlich bedeutet Sein immer Wahrgenommen-Werden, sei es auch nur durch sich selbst: Esse est percipi.
Abb. 22-23 Entsetzte Gesichter – der direkte Blick in die Kamera „The fact that O cannot escape the gaze of the camera and us, in other words, cannot escape being reproduced, underlines as well cinema’s own specificity as a particular means of representation.“61 Das Sehen gibt sich am Ende von Film somit nicht nur selbst zu erkennen, sondern auch als aktiver (Re-)Produktionsprozess, der bestimmten Sehkonventionen unterliegt. Insofern ist es auch bezeichnend, dass wir den Hauptdarsteller Buster Keaton zunächst über fotografische Reproduktionen zu sehen bekommen.62 Im Schaukelstuhl sitzend holt O aus einer Mappe sieben Fotografien, die ihn als Baby, Kleinkind, Jugendlicher, junger Mann, Verlobten, Vater und schließlich als alten Kriegsveteran mit einer Augenklappe zeigen. Nachdem O die Fotografien einzeln zerrissen und auf dem Boden verstreut hat, beginnt er heftig zu schaukeln und schläft dabei ein. Diese Gelegenheit nutzt A, um den Immunitätswinkel endgültig zu überschreiten und O von vorne in den Blick zu nehmen. Das Gesicht mit der Augenklappe, das bislang verdeckt geblieben ist, welches jedoch von der letzten Fotografie bekannt ist, wird nun direkt von vorne gezeigt. Doch sobald A frontal auf O gerichtet ist, wacht dieser auf, blickt hoch und starrt direkt in
61 Ruth Perlmutter: Beckett’s Film and Beckett and Film. In: Journal of Modern Literatur 6.1 (Februar 1977), S. 83-94, hier S. 87. 62 Höchstens sein Gang sowie sein typischer pork pie hat, ein alter, plattgewalzter Stetson, der Keatons Markenzeichen ist, verraten bereits vorher, dass es sich bei dem Darsteller von O wahrscheinlich um Buster Keaton handelt.
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die Kamera, die ihre Perspektive ändert und sich damit endgültig selbst zu erkennen gibt: Schuß – Gegenschuß.
Abb. 24-29 Schlusssequenz von Film (USA 1965) O nimmt dabei den selben entsetzten Ausdruck an (Abb. 24), den zuvor das Paar auf der Straße (Abb. 22), aber auch das alte Blumenmädchen auf der Treppe (Abb. 23) auf ihren Gesichtern hatten, als sie A (=die Kamera) bemerkt haben.63 Dass sich die Wahrnehmung selbst durch sich selbst wahrnimmt, ist das Entsetzliche, wie Gilles Deleuze richtig bemerkt: „Das ist der dritte kinematographische Akt, die
63 Anfangs hat es noch den Anschein, dass das Paar und das alte Blumenmädchen von O’s Anblick geschockt sind. Beim nochmaligen Sehen des Films wird jedoch deutlich, dass es der Anblick der Kamera ist, der sie dermaßen entsetzt.
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Großaufnahme, der Affekt oder die Affektionswahrnehmung, die Selbstwahrnehmung.“64 In Schockstarre, mit weit geöffneten Augen und Mund erkennt O, dass er sich der Selbstwahrnehmung nicht entziehen kann. Doch auch dieser (Angst-)Schrei bleibt – wie zuvor die anderen – stumm. Indem die Tonspur fehlt, gibt sich der filmische Signifikant noch einmal mehr als ein imaginärer zu erkennen. „Silence is another strategy that elaborates Film’s alternation of presence and absence“65, wie Ruth Perlmutter konstatiert. Die substantielle Mangelhaftigkeit aller Filmbilder offen zu zeigen, ist das Entsetzliche, das Becketts Film wiederholt wagt. In einfachen Einstellungen wird die Angst eingefangen, „dasjenige zu sehen und nicht zu sehen, was man nicht sehen muß, also genau das, was man sehen muß, die Angst, zu sehen“66. Dieses „skopische double-bind, weder schauen noch nicht schauen zu können, die Blindheit als Gesichtspunkt, der die >Narben< des Blicks und die Augen als >Wunden< zeigt“67, sichtbar zu machen, ist das Verdienst von Film. Geschockt schließt O wohl auch deshalb am Ende von Film seine Augen, bedeckt sie mit seinen Händen und beginnt erneut zu schaukeln. Ähnlich wie in City Lights wird die Utopie eines anderen, taktilen bzw. blinden, inneren Blicks aufgerufen. So kann der Moment, indem Buster seine Hände vor die Augen hält, auch nicht nur als Ausdruck des ‚Wahrnehmungsentsetzens‘ (Beckett) verstanden werden, sondern ist vielmehr auch Ausdruck der Beruhigung: Mit dieser Geste berührt Keaton „sein eigenes Gesicht. Er sieht nicht mehr, aber er fühlt. Im Moment der Blindheit erschöpft sich das Motiv der Spaltung der Wahrnehmungen von A und O. Der Stummfilm läuft auf sein Ende zu.“68 Fluchtpunkt ist dabei – ähnlich wie in City Lights – der blinde Fleck: Das Schwarzbild zwischen den Filmbildern (Abb. 27), das Blinzeln des Augenlids (Abb. 28), das wie ein schwerer, faltiger Vorhang wirkt, sowie das Zentrum der Pupille, wo sich tatsächlich der blinde Fleck des Sehorgans befindet und der durch die Angaben des Abspanns (Autorname und Darsteller etc.) noch einmal besonders hervorgehoben wird (Abb. 29), werden dem Zuschauer ein letztes Mal vor Augen geführt, um einen Blick für die blind spots der Wahrnehmung zu bekommen. Auf diese Weise wird das filmische Medium abschließend noch einmal als etwas ge-
64 Gilles Deleuze: Der größte Film Irlands (Beckett’s Film). In: Ders.: Kritik und Klinik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2000, S. 37-40, hier S. 39. Vgl. auch Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild. Kino 1, 2. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998, S. 97 ff. 65 R. Perlmutter: Beckett’s Film and Beckett and Film, S. 90. 66 J. Derrida: Aufzeichnungen eines Blinden, S. 52. 67 Michael Wetzel: „Ein Auge zuviel“. Derridas Urszenen des Ästhetischen. In: Jacques Derrida: Aufzeichnungen eines Blinden Das Selbstporträt und andere Ruinen. München: Wilhelm Fink Verlag 1997, S. 129-155, hier S.148. 68 M. Glasmeier: Hände im Augenraum, S. 154.
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zeigt, das eben „nicht auf ein hic et nunc des Erscheinens rekurriert, sondern das aus seinem Verschwinden hervorgeht und [...] >im blinden Fleck der Präsenz< zu sehen gibt.“69
69 M. Wetzel: „Ein Auge zuviel“, S.150.
Obsession der Erlösung Douglas Sirks Magnificent Obsession (1954) J ÖRN A HRENS
In der Reihe von Melodramen, mit denen Douglas Sirk sich, spät zwar, aber dennoch nachhaltig, in die Filmgeschichte einschreiben sollte, bildet Magnificent Obsession aus dem Jahr 1953 eine der früheren Produktionen. Seinerzeit ein überraschend großer kommerzieller Erfolg, der Rock Hudson zum Star machte (es war der zweite Film in einer langen Reihe von Kollaborationen zwischen Sirk und Hudson) und Jane Wyman als den paradigmatischen Frauencharakter des 50er-JahreMelodrams etablierte, muss der Film heute irritierend wirken. Zwar finden sich noch stets erstaunlich viele Einsätze, die den Wert der Produktion herauszuarbeiten suchen und Sirks außerordentliche Leistungen dabei herausstreichen.1 Dennoch bleibt unübersehbar, wie deutlich dieser Film gegenüber wenig später realisierten Klassikern des Melodramas wie All that Heaven Allows (1955), Written in the Wind (1956) oder Imitation of Life (1959) abfällt. Bei Sirks Magnificent Obsession handelt es sich um eine doppelte Verfilmung, die zum einen auf eine Literaturvorlage aus dem Jahr 1929 zurückgreift, zum anderen auf deren Erstverfilmung aus dem Jahr 1935. Der zugrunde liegende Roman des lutheranischen Pastors Lloyd Douglas war dessen erstes Buch, über das er seine persönlichen Glaubenssätze in Form von Prosa unters Volk zu bringen gedachte. Dass Douglas damit Erfolg hatte, zeigen zwei Verfilmungen sowie der Status des Buches als bis heute erhältlicher Bestseller. Die Geschichte erzählt von dem Playboy Bob Merrick, der zunächst ein rücksichtsloser Mensch ist, dann aber auf den rechten Weg findet. Der Stoff wurde zunächst 1935 von Universal unter der Regie von John M. Stahl und in der Besetzung mit Irene Dunne und Robert Taylor verfilmt. Douglas soll mit dem Ergebnis nicht sonderlich glücklich gewesen sein, reduziert Stark die Geschichte doch konsequent auf ihre melodramatischen Plotelemente und vernachlässigt beinahe vollständig die große Mission des Buches. Als ungefähr 20 Jahre später Douglas Sirk von Universal mit einem Remake von Stahls Film beauftragt wurde, war er zunächst reichlich perplex.
1
Vgl. Hermann Kappelhoff: Matrix der Gefühle. Das Kino, das Melodrama und das Theater der Empfindsamkeit. Berlin: Vorwerk8 2004.
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Sirk, der in den 1920er und 1930er in Deutschland zunächst am Theater tätig war, beeinflusst durch Brecht und bekannt mit Max Brod, der mit Kurt Weill und Georg Kaiser zusammen gearbeitet hatte, dann Mitte der 1930er Jahre zur UFA ging, um dort einige große Melodramen zu drehen, die trotz des Nationalsozialismus sich Eigenständigkeit bewahrten, emigrierte schließlich Ende der 1930er Jahre mit seiner jüdischstämmigen Frau in die USA. Hier arbeitete er in Kalifornien als Hühnerzüchter und eben auch als Filmregisseur, musste allerdings als Emigrant wiederum von vorn anfangen. Bis in die 1950er Jahre hatte Sirk alle denkbaren Genres bedient und hauptsächlich B-Pictures abgedreht. Am Ende hatte er so viele Filme produziert, dass er sich an viele davon später gar nicht mehr erinnerte.2 Schließlich wurde er 1950 bei Universal unter Vertrag genommen und realisierte hier seine heute einschlägigen Melodramen.3 Waren diese zunächst, wie das Genre insgesamt, unterbewertet, setzte sich doch etwa seit den 1970er Jahren eine Renaissance des Werks von Sirk durch, sehr zu dessen eigener Überraschung. Regisseure wie Fassbinder, der sich fulminant und begeistert zu Sirk äußerte,4 Pedro Almódovar oder Todd Haynes zählen zu den durch ihn beeinflussten modernen Regisseuren.5 Sirk nun, der Intellektuelle aus der Weimarer Republik, entwickelte im Umgang mit dem Melodrama einen ganz eigenen Stil, der zunächst genreimmanent vorgeht und hier alle Typologien bedient, der aber auf der Subebene der Handlungskonstellationen, der mise-en-scène und der gesamten Ästhetik sowie mittels einer gehörigen Ironie (berühmt sind seine ‚false happy endings‘) eine Lesart des Melodramas einführt, die es unter der Hand in das gesellschaftskritische Genre par excellence verwandelt. Als Sirk also mit Douglas‘ Roman konfrontiert wird, ist er außerstande diesen zu lesen: „Ross Hunter gab mir das Buch, und ich habe versucht, es zu lesen – einfach unmöglich.“6 Erst auf der Grundlage einer ersten Drehbuchbearbeitung kann er die filmische Umsetzung angehen und erhält eine Idee davon, wie „diese unsäglich gräßliche Story doch ein Erfolg werden könnte. Und das wurde Magnificent Obsession – Universals größter Erfolg seit Jahren“.7
2
Vgl. Douglas Sirk: Imitation of Life, hrsg. v. Jon Halliday. Frankfurt a. M.: Verlag der Autoren 1997, S. 9.
3
Vgl. zu Sirks Wechsel zu Universal und deren damaliger Strategie der Reinszenierung älterer erfolgreicher Filme: James Harvey: Movie Love in the Fifties. Cambridge, MA: Da Capo 2002, S. 369.
4
Vgl. Rainer Werner Fassbinder: Filme befreien den Kopf. Essays und Arbeitsnotizen. Frankfurt a. M.: Fischer 1984.
5
Vgl. John Mercer, Martin Shingler: Melodrama: Genre, Style, Sensibility. London & New York: Wallflower 2004.
6
D. Sirk: Imitation of Life, S. 134.
7
Ebd.
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Auch wenn man berücksichtigt, dass Sirk durchaus über reichhaltige Erfahrung mit dem Melodrama verfügt, die bis in seine Zeit bei der UFA zurückgeht, stellt dieser Film doch eine Zäsur für den Eintritt in seine letzten Jahre als Filmregisseur dar – 1959 soll er mit Imitation of Life seinen letzten (und erfolgreichsten) Film drehen. Denn Magnificent Obsession ist geprägt von einer bis heute enorm verstörenden Differenz, die Sirk erst in den Folgefilmen systematisch nutzen wird, auch wenn es der überraschend große finanzielle Erfolg gerade dieses Filmes war, der es Sirk ermöglichte, sich als einer der erfolgreichsten Regisseure seiner Zeit für Melodramen zu etablieren und seinen eigenen Stil im Rahmen des seinerzeit überaus restriktiven Studiosystems umzusetzen. So spart Sirk nicht mit deutlichen Kommentaren zum Film, dem er „ein Mischmasch aus Kitsch und Verrücktheit und Banalität“ bescheinigt.8 Von der Geschichte selbst sagt Sirk: „Es war das konfuseste Buch, das man sich vorstellen kann, es ist in vieler Hinsicht derart abstrakt, daß ich keinen Film darin sehen konnte.“9 Zugleich aber wählt er eine geradezu affirmative Inszenierung des Stoffes, die sich jedes Zynismus und jeder Belustigung über die in der Tat haarsträubende Konstellation zu enthalten scheint, auch wenn Sirk selbst eine andere Lesart einbringt, nämlich die der ironischen Subversion des Stoffes. So merkt er im Anschluss an seine Einlassung zur Verrücktheit und Banalität der Story an: „Aber Verrücktheit ist das Entscheidende und rettet banalen Quatsch wie Magnificent Obsession. Das ist die Dialektik – der Abstand zwischen hoher Kunst und dem Banalen ist sehr klein, und wo das Banale das Element der Verrücktheit enthält, steht es mit eben dieser Qualität der Kunst nahe.“10 Was Sirk „Verrücktheit“ nennt, transzendiert demnach den Kitsch in den Modus einer Reflektion auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, die mit seinen Mitteln dargestellt werden. Damit kommt Sirk der Lesart, die Elsaesser dem Melodrama im Allgemeinen, aber Sirks Filmen im Speziellen angedeihen lässt, ziemlich nahe, der meint, gerade die Überinszenierung schäle den Wahrheitskern einer pointierten Ideologiekritik heraus: In melodrama, violence, the strong action, the dynamic movement, the full articulation and the fleshed-out emotions – so characteristic of the American cinema – become the very signs of the characters’ alienation, and thus serve to formulate a devastating critique of the ideology that supports it.11
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Ebd., S. 139.
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Ebd., S. 134.
10 Ebd., S. 139. 11 Thomas Elsaesser: Tales of Sound and Fury: Observations on the Family Melodrama. In: Christine Gledhill (Hrsg.): Home is Where the Heart is. Studies in Melodrama and the Woman’s Film. London: BFI 1987, S. 62.
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Mindestens heute, 60 Jahre nach der Produktion des Films, kann diese Lesart mit Blick auf Magnificent Obsession nicht mehr rundweg überzeugen. Zu ostentativ wirkt die Inszenierung des Klischees. Auch Carroll merkt in seiner Lektüre von Magnificent Obsession an, auch wenn er nicht sicher sei, ob andere Produktionen von Sirk subversiv angelegt seien, sei er doch überzeugt, „that Magnificent Obsession is conformist in terms of form and content, and form as content.“12 Der Film selbst ist aufgebaut wie eine Kaskade einander umstürzender Spielsteine, ein Ereignis löst unmittelbar das nächste aus, die Handlung eilt von Schicksalseinsatz zu Schicksalsschlag. Bob Merrick (Rock Hudson) ist ein Playboy und Millionär und genau so ist auch sein Charakter, rücksichtslos und arrogant ist er nur damit beschäftigt, Geschwindigkeitsrekorde aufzustellen. Der Film startet denn auch furios mit einer Hochgeschwindigkeitsfahrt auf dem Wasser irgendwo in New England. Merrick erleidet dabei einen Unfall, braucht ein Beatmungsgerät, das man vom angesehenen Arzt und Klinikeigner Dr. Philipps holt. Dieser erleidet einen Herzinfarkt, was der Film gar nicht erst eigens zeigt; nun fehlt das dringend benötigte Beatmungsgerät, Philipps stirbt und hinterlässt eine junge Witwe, Helen (Jane Wyman). Merrick selbst kommt ins Nachdenken, begegnet dem charismatischen Künstler Edward Randolph (Otto Kruger), der ihn mit der philanthropischen Lebensphilosophie des Dr. Philipps vertraut macht. Merrick, darunter leidend, dass der verehrte und wertvolle Arzt mittelbar durch sein Verschulden verstarb, will sein Leben ändern und der Philipps’schen Maxime folgen. Außerdem fasziniert von dessen Witwe, möchte er dieser beichten, dass er dank des Vorbilds ihres verstorbenen Mannes nun zu einem wertvollen Mitglied der Gesellschaft zu werden gedenkt. Diese will davon aber nichts wissen und mit Merrick nichts zu tun haben, flüchtet vor ihm in einem Gartenrestaurant, er eilt ihr nach, von Ort zu Ort, schließlich besteigt sie ein Taxi, er folgt ihr, sie steigt auf der Straßenseite wieder aus, um zu entkommen, ein Auto passiert in diesem Moment, erfasst Helen Philipps, die zwar überlebt, aber erblindet. Diese atemlose Sequenz gehört zweifellos zu den inszenatorischen Höhepunkten des Films. Unter falschem Namen befreundet sich Merrick mit der blinden Helen, finanziert anonym ihre medizinische Behandlung bis in die Schweiz. Sie weiß, wer er wirklich ist, beide verlieben sich ineinander, man kann nicht operieren, er bewahrt sie vor dem Selbstmord, sie verschwindet unauffindbar, weil sie nicht seinem Mitleid ausgesetzt sein will. Er hat unterdessen sein vormals abgebrochenes Medizinstudium wieder aufgenommen, wird ein ausgezeichneter Chirurg, führt ein hochgradig diszipliniertes, philanthropisches Leben, der Künstler Randolph kommt zu ihm, Helen liege in einem Krankenhaus im Südwesten, vom Tode bedroht. Mer-
12 Noel Carroll: The Moral Ecology of Melodrama: The Family Plot and Magnificent Obsession. In: Marcia Landy (Hrsg.): Imitations of Life: A Reader on Film and Television Melodrama. Detroit: Wayne State Univ. Press 1991, S. 186.
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rick eilt zu ihr, operiert spontan, sie überlebt und kann wieder sehen. Sie und ihr Mann haben Merrick ein neues Leben geschenkt, er hat ihr das Augenlicht zurückgegeben („I can see the light!“). Beide dürfen miteinander glücklich werden. Der Film hat noch wenig bis nichts von dem flamboyanten Farbenspiel der folgenden Filme, von der untergründigen und einander unvernehmlichen Verschränkung von Handlung, Ästhetik und Symbolik.13 Aber er lebt massiv vom eklatanten Gegensatz zwischen der geradezu grotesk absurden Handlung und der ebenso absurd ernsthaften Inszenierung, die ihre Charaktere so ungeheuer ernst nimmt, als seien sie nicht gerade die hölzernsten Stereotypen, die sie ja unbenommen sind. Nur das pathetisch enervierende Score, das von der ersten Sekunde an Helen Philipps als Heilige intoniert, setzt einen kleinen kontrastierenden Akzent. In diesem Sinne verweist Gledhill mit Brooks darauf, „Melodrama’s recourse to gestural, visual and musical excess constitutes the expressive means of what Brooks calls the ‚text of muteness‘.“14 Die bizarre Konnotation der Filmhandlung wird noch massiv unterstrichen durch die Bewerbung einer spezifischen Lesart des guten Menschen und des guten Handelns, in deren Darstellung Sirk dem Douglas’schen Credo nicht nur stark folgt, sondern das er auch mit Nachdruck betont. So hebt Carroll zunächst deutlich die Unterschiede zwischen Douglas und Sirk hervor, um dann zu konstatieren: „Nevertheless, the Sirk film remains true to the essential tenets of Douglas’s mysticism. […] Magnificent Obsession promotes an ethic of service and sacrifice, devoted to systematic selflessness which is connected to impersonal, moral powers that have causal efficacy in the world of everyday events.“15 In mehreren Szenen, die in systematischer Weise dramaturgisch über den Film verteilt sind, wird dieses Credo einer richtigen, um nicht zu sagen, einer vollendeten Lebensführung thematisiert. Hier affirmiert Sirk ganz enorm den Missionsgeist des lutheranischen Protestanten und kommt dessen Lebensphilosophie nahezu ohne jede Distanzierung nach. Vielmehr gibt sich der Film ganz explizit als Sprachrohr des Wertes einer religiösen Läuterung seiner Charaktere und inszeniert sich somit als grundständig ideologisch ausgerichtet. Sirk hat de facto einen Missionsfilm gedreht, der seinem Publikum ganz im Sinne des Autors der Romanvorlage den Weg zum richtigen Leben weisen will. Diese moralische Religiosität ist aber im Werk Sirks einmalig und hochgradig irritierend. Sie wird nur gebrochen durch Sirks eigene Äußerungen über den Film, die – wie oben gezeigt – geprägt sind durch ironische und reflexive Distanz. Das wird insbesondere deutlich, wenn er seine ausgesprochen luzide Reaktion auf Mag-
13 Vgl. Jacques Rancière: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002. 14 Christine Gledhill: The Melodramatic Field: An Investigation. In: dies. (Hrsg.): Home is Where the Heart is, S. 30. 15 Vgl. N. Carroll: The Moral Ecology of Melodrama, S. 188.
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nificent Obsession umsetzt in eine ästhetische Faszination des Absurden, die gewissermaßen genuin als ironische Qualität verstanden werden müsse: Meine erste Reaktion auf Magnificent Obsession war Bestürzung und Ratlosigkeit. Aber mich zog doch etwas Irrationales an. Etwas irgendwie Wahnsinniges – Obsessives eben, denn es ist eine hanebüchen verrückte Story, verrückter geht’s kaum. Die Erblindung der Frau. Die Ironie – nicht im gewöhnlichen Sinne des Wortes, sondern als strukturelles Element, als Element des Widersprüchlichen.16
In dieser Perspektive gelingt es Sirk, Magnificent Obsession bis an Euripides anzunähern. Dennoch hat Sirk seinem eigenen Selbstverständnis zufolge hier dezidiert „Quatsch“ inszeniert.17 Allerdings hat er diesen „Quatsch“ nicht als solchen inszeniert, sondern ganz offenbar darauf gesetzt, der Trash möge sich unmittelbar als das offenbaren, was er ist. Wäre dem so, müsste man davon ausgehen, dass Sirk einer Art medialer Praxis der Selbstexposition vertraut, die davon ausgeht, der eindeutig massive Kitsch im Sinne einer zur Pathosformel hochgeschraubten Idee demaskiere sich selbst. Dass dies keineswegs der Fall sein muss, ist aber auch in den 1950er Jahren längst bekannt gewesen,18 wovon insbesondere der sehr große kommerzielle Erfolg des Filmes zeugt, der andernfalls – hätte das Publikum den dekonstruktiven Twist verstanden – notwendigerweise hätte ausfallen müssen. O’Brien hält Sirk zugute, dieser habe lustvoll die Bizarrheiten der Handlung auf die Spitze getrieben: Of all his films, Magnificent Obsession stands out for its uniquely over-the-top plotline, and that very outrageousness seems to have prompted a corresponding vigor in Sirk’s direction. Instead of toning down the story’s emotional extremes, he accepts them and allows their full and somewhat demented force to emerge.19
Neben seiner oben angeführten ausdrücklichen Würdigung des Irrationalismus der Story thematisiert Sirk auch die stete Faszination, die das Thema der Blindheit auf ihn ausgeübt hat:
16 D. Sirk: Imitation of Life, S. 137. 17 Vgl. ebd., S. 139. 18 Auf diese affirmative Dimension der Populärkultur als Spektakel haben speziell Debord und Adorno verwiesen – Guy Debord: Die Gesellschaft des Spektakels. Berlin: Edition Tiamat 1996; Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Gesammelte Schriften 7. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997. 19 Geoffrey O’Brien: Magnificent Obsessions In: http://www.criterion.com/current/posts/1006-magnificent-obsessions, letzter Zugriff am 22.04.2014.
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Das Motiv des Blindseins hat mich immer fasziniert. […] Interessant ist meiner Ansicht nach der Versuch, derlei Probleme mittels eines Mediums – des Films – anzugehen, das per se nur mit erschauten Dingen zu tun hat. Dieser Kontrast zwischen einer Welt, in der Worte nur beschränkt wichtig sind, und einer anderen Welt, in der sie nahezu alles sind, weckt in mir leidenschaftliches Interesse. Das ist ein höchst dramatischer Zwiespalt.20
In dieser Dramatik realisiert sich, was Elsaesser in direkter Bezugnahme auf Magnificent Obsession die graduelle Wegnahme einer „uncompromising, fundamentally innocent energy […] from simple, direct fulfilment by the emergence of a conscience, a sense of guilt and responsibility, or the awareness of moral complexity“ nennt.21 Das unschuldige Melodrama treibt gerade in seinen absurden Plotkonstellationen und sensitiven Übertreibungen eine Auseinandersetzung mit der sozialen Funktion von Schuld und Gewissen voran, ein Thema, das in Magnificent Obsession freilich so vordergründig offensichtlich ist, dass es sich hier fast schon selbst ad absurdum führt und die Instanz des Gewissens sich präsentiert, als sei sie das denkbar Absurdeste. Hinzu kommt der Umstand, dass alle jene Äußerungen Sirks, die auf sein Verhältnis eines intellektuellen Unvernehmens dem Film gegenüber verweisen, erst aus den 1970er Jahren stammen. Entnommen sind sie den Interviews, die Jon Halliday mit Sirk in dessen Alterssitz in der Schweiz führte und die nicht unwesentlich zu dessen cineastischer Neuentdeckung beitrugen. Die von Sirk überlieferten Einlassungen zu Magnificent Obsession macht dieser also 20 Jahre nach Erstellung des Films, weshalb diese nur sehr bedingt als Referenz für eine etwaige Intention des Regisseurs hinsichtlich einer Ästhetik und insbesondere einer Dramaturgie der Übertreibung dienen können.22 Damit bleibt Magnificent Obsession eine enorm irritierende Produktion in Sirks Werk. Es bleibt an dieser Stelle nur die These, dass gerade der überragende Publikumserfolg eines von ihm zwar ernsthaft inszenierten, aber faktisch despektierlich betrachteten Filmes Sirk dazu bewogen hat, die Formensprache seiner Filme künftig zu präzisieren und zu verdeutlichen. Dann wäre es kein Zufall, dass die Praxis des Farbenrausches, der konstrastierenden Scores, der ironischen Symbolgebungen und Ikonographien unmittelbar im Anschluss an Magnificent Obsession einsetzt und von dort aus Sirks Ruhm als das Melodram nicht nur subvertierender, sondern gesellschaftskritisch nutzender Regisseur begründet. Worum geht es nun in dieser Etüde des richtigen und guten Lebens – nicht etwa des richtig guten Lebens? Es geht um eine Lebenspraxis, die mit dem Begriff der Philanthropie nur unzureichend umschrieben ist. Vielmehr geht es um eine Technik
20 D. Sirk: Imitation of Life, S. 140. 21 Th. Elsaesser: Tales of Sound and Fury, S. 58. 22 Vgl. Alexander García Düttmann: Philosophie der Übertreibung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004.
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der Selbstsorge als vollendeter Selbstlosigkeit.23 In einer Praxis der materiellen Entsagung findet sich hier das Subjekt nicht nur selbst und bringt sich als Subjekt auch erst hervor, sondern es tut dies explizit, indem es eine Praxis der Selbstsorge kultiviert, die faktisch und vor allem eine Sorge für den anderen ist und obsessiv einer materiell, vor allem aber klandestin realisierten Nächstenliebe folgt. Der Topos wird recht früh im Film eingeführt, als nämlich Helen Philipps das Erbe ihres Mannes antreten und fortan die Klinik führen muss. Schon bald muss sie erfahren, dass, obwohl die Klinik eigentlich gut geführt ist und auch gut arbeitet, kaum Geld vorhanden und die finanzielle Situation mithin kritisch ist. Über eine Patientin wird Mrs. Philipps gewahr, wie es dazu gekommen ist: Ihr Mann hat mit seinem Geld bedürftige Menschen unterstützt – viele von ihnen Patienten seiner Klinik. Dieses Geld aber wollte er nicht nur unter keinen Umständen zurückerstattet bekommen, seine zentrale Bedingung war auch, dass die Empfänger seiner Wohltaten unter keinen Umständen preisgeben dürfen, wer ihnen Gutes getan hat. Helen, der Heiligen, leuchtet dieses Prinzip unmittelbar ein. Und anstatt den finanziellen Verlust zu beklagen, den sie und die Klinik auf diese Weise erleiden müssen, stimmt sie dem Handeln ihres verstorbenen Mannes sofort zu; einiges weist darauf hin, dass auch Helen damit fortfährt. Die anonyme Praxis der guten Gabe, also der Gabe, die man nicht sieht, deren Effekt man nur wahrnehmen darf, wird in diesem Film zur Blaupause einer Demut des Handelns.24 Wer so handelt, übt sich nicht nur in ostentativer Bescheidenheit, zeigt nicht nur, wie es ja das Prinzip der US-amerikanischen Charity wäre, dass ihm am notleidenden Mitmenschen liegt, sondern nimmt sich als Person zurück, macht sich scheinbar ganz unbedeutend, indem er hinter seinen guten Taten ganz verschwindet. Zentral ist hier das Nichtzeigen, dass das Motiv der Blindheit in diesem Film in gewissermaßen umgekehrter Form ausstellt. Es handelt sich um eine Art blinder Tat, eine soziale Handlung ersten Ranges ohne Visibilität, die also für die soziale Öffentlichkeit nicht existiert und so gesehen keine Wahrheit hat. In Wirklichkeit aber ist dies natürlich die eigentlich wertvolle Handlung, gerade weil sie sich jeder Gegenwärtigkeit enthält. So meint Kappelhoff, es gehe in Magnificent Obsession wesentlich „um das Anwachsen der Verzweiflung [...], um die Entfaltung eines Bewußtseins der nahenden Nacht bis zum Gedanken an den eigenen Tod. Das freilich wird nicht ausgesprochen. [...] Inszeniert ist die Zeit der anschwellenden Hoffnungslosigkeit, der heraufziehenden Nacht und der unerwarteten
23 Vgl. Michel Foucault: Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit 3. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1989; Michel Foucault: Technologien des Selbst. In: Ders. Et al: Technologien des Selbst. Frankfurt a. M.: Fischer 1993. 24 Vgl. Marcel Mauss: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften. In: ders.: Soziologie und Anthropologie, Bd. 2. Wiesbaden: VS 2010; Helmuth Berking: Schenken. Zur Anthropologie des Gebens. Frankfurt a. M./New York: Campus 1996.
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Rettung. Und das ist zugleich die Zeit, in welcher dem Zuschauer dieses Bewußtsein sichtbar und nachfühlbar wird.“25 In diesem Sinne gehe es „in diesem Film nicht um die Handlung, sondern um die Zeit des Sichtbar-Werdens der Gefühle“.26 Eine Handlung des Formats von Magnificent Obsession folgt nicht nur einem gar nicht mehr lutheranischen, sondern schon deutlich calvinistischem Protestantismus. Vor allem aber kehrt sie das Prinzip moderner Subjektivität radikal um. Statt narzisstischer Zeigefreudigkeit huldigt sie dem Geheimnis und der Unsichtbarkeit. Während moderne Subjektivität einem Prinzip der iterativen Exhibition folgt und darüber ihr Subjekt speziell im öffentlichen Raum kreiert und positioniert, will hier das Subjekt als solches gar nicht wahrgenommen werden und ganz hinter seinem selbstlosen Handeln verschwinden. Faktisch ist das aber natürlich gar nicht wahr, wie sich auch im Laufe des Films am geläuterten Millionär Bob Merrick noch zeigen wird. Denn freilich ist gerade das sich nicht zeigende Subjekt des wohltätigen Protestantismus dasjenige, das seiner selbst nur zu gewiss ist und sich außerdem den anderen, also den Adressaten seiner Güte, durchaus überlegen weiß.
Abb. 1 Douglas Sirk: Magnificent Obsession (USA, 1954) © Universal International Pictures Nun ist genau diese Praxis der selbstlosen und geheimen Wohltätigkeit aber auch das Scharnier, das den Playboy Merrick auf den Pfad der Umkehr und Helen Philipps um ihr Augenlicht bringt. Mercer und Shingler gehen sogar so weit, im Thema der Blindheit eines der großen parabelhaften Themen Sirks zu sehen. Darüber würden Motive transportiert, wie Zirkularität, Hoffnungslosigkeit oder Scheitern. Hinzu geselle sich das narrative Thema des deus ex machina:
25 H. Kappelhoff: Matrix der Gefühle, S. 159. 26 Ebd., S. 157.
86 | J ÖRN A HRENS In modern usage the term refers to the use of contrived coincidences and circumstances that occur to resolve a narrative. In Sirk’s melodramas there are many such instances. Magnificent obsession, for example, has a narrative that is based around a sequence of improbable events.27
So trifft Merrick schon bei einer spontanen, seiner Arroganz geschuldeten Flucht aus der Klinik nach seinem Unfall auf Helen, die er eben gerade zur Witwe gemacht hat, und ist von ihr fasziniert. Tatsächlich entlassen, führt er zwar sein Leben als Playboy fort – trinkt und besäuft sich, fährt in diesem Zustand auch rasant Auto und verursacht Unfälle. Aber er lebt von nun an keusch, denn die unerreichbare Helen Philipps hat schon Besitz von ihm genommen. Dann trifft er per Zufall auf den Künstler Edward Randolph (Otto Kruger), der konsequent sein Einsiedler-Dasein kultiviert und sich des Gestrauchelten annimmt, das Pfeifchen stets in der Hand, wie einen Hirtenstab (Abb. 1). Randolph war befreundet mit Dr. Philipps und enthüllt Merrick dessen Geheimnis der klandestinen Wohltätigkeit: „Once you find the way, you’ll be bound. It’ll obsess you. But believe me, it’ll be a magnificient obsession.“ Dieser Satz fällt ziemlich genau nach einem Drittel der Spielzeit des Films und zeigt den ersten entscheidenden Wendepunkt an. Denn Merrick ist sofort elektrisiert, was mit Blick auf seine vorherige Figurenzeichnung doch ein ganz klein wenig erstaunlich wirkt. Zumindest geht er gleich an die Umsetzung und hilft einem Parkplatzwächter aus, dessen Frau akut medizinisch behandlungsbedürftig ist, was dieser sich aber eigentlich nicht im mindesten leisten kann. Und wen trifft er im zum Parkplatz gehörenden Gartenlokal – eben Helen Philipps, der er sogleich begeistert von seiner ganz neuen Initiation berichten will. Die will aber gar nichts davon hören, läuft vor ihm davon, und es kommt zur oben schon geschilderten Szene ihrer Erblindung (Abb. 2). Die Botschaft, die Sirks Film hier vom Roman des Pastors offensichtlich übernimmt, lautet also: Der eine, der faktisch erblindet war, wird sehend gemacht. Aber das war eine Blindheit im Herzen, dieser Mann hat nicht sehen können, was im Leben wichtig ist und hat sich vergeudet, dass man ihn wirklich verachten muss für seine Liderlichkeit. Nun werden die Augen ihm geöffnet, von einem Einsiedler, der ihn in die Weisheitslehre genommen hat und von einer Frau, die von ganz rein und schlicht und von Natur aus eine Heilige ist. Und diese andere, die ohnehin sehen kann, mit dem Herzen natürlich vor allem, muss körperlich erblinden und ein Martyrium erleiden, das sie so integer durchsteht, dass sie am Ende schließlich auch wieder die Welt sehen darf, worin sie gut ist und Gutes tut, und dieses Leiden zeigt nicht nur noch einmal überdeutlich ihre eigene Reinheit, sondern dient auch als Turbokatalysator für die Läuterung desjenigen, der ihr ganz verfallen ist, nämlich Bob Merrick. Das passt sehr genau auf die Definition von Brooks: „The melodra-
27 J. Mercer, M. Shingler: Melodrama, S. 59.
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matic mode in large measure exists to locate and to articulate the moral occult.“ 28 Für nichts anderes als dieses moralisch Okkulte steht ja die magnificient obsession, die trotzdem deutlich mehr beinhaltet, als nur das. Denn eine magnificient obsession ist ja nicht nur die schöne Praxis, klammheimlich Gutes zu tun; eine magnificient obsession ist freilich auch Helen Philipps, zumindest für Bob Merrick. Sirk übernimmt also, nicht bloß narrativ, sondern auch in der Symbolik, vollständig die religiöse Stoßrichtung der Vorlage, die zu lesen er nicht fertiggebracht hatte. Es geht um Läuterung, Missionierung und Bekehrung, was der Film auch ganz unverblümt anspricht. Ungefähr zur Hälfte darf Edward Randolph seinen oben zitierten Satz zur magnificient obsession nämlich wiederholen und ihm damit programmartig Nachdruck verleihen. Aber nicht genug damit, er darf auch noch aussprechen, was ohnehin schon überdeutlich im Raum steht, dass diese Praxis nämlich nichts anderes bedeutet, als die Nachfolge Christi anzutreten. Nichts rettet hier Sirks Film mehr davor, endgültig in religiösen Kitsch abzugleiten.
Abb. 2 Douglas Sirk: Magnificent Obsession (USA, 1954) © Universal International Pictures Zwar gehört, wie Mercer und Shingler eigens hervorheben, das Pathos unbedingt zum Genre des Melodramas: „Pathos is evoked for the audience and the other characters who witness the suffering of the virtuous innocents, culminating in almost excruciating moments of sympathy and pity at the sight of such prolonged and undeserved suffering.“29 Gleichwohl inszeniert Sirk dieses zu Kitsch gewordene Pathos mit allen Mitteln, insbesondere aber über die Musik und einen Chor, der so himmlisch einsetzt, dass die ganze Filmwelt, vor allem aber der Kinosaal selbst, zur 28 Peter Brooks: The Melodramatic Imagination. In: Marcia Landy (Hrsg.): Imitations of Life: A Reader on Film and Television Melodrama. Detroit: Wayne State Univ. Press 1991, S. 53. 29 J. Mercer, M. Shingler: Melodrama, S. 85.
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Kirche werden muss. Über seinen Produzenten Ross Hunter berichtet Sirk, dieser habe sich daran erinnert, bei der Sichtung der Erstverfilmung „vom Anfang bis zum Schluß nur geheult [zu haben]. Er kam immer wieder zu mir und sagte: ‚Doug, Doug, bring sie zum Heulen!‘ Und bei jeder Szene, an der ich arbeitete, sagte er immer: ‚Ich will, daß an diesem Punkt 500 Taschentücher zum Vorschein kommen.‘“30 Diese Affirmation einer kitschigen Gefühligkeit passt recht gut zu der „radikalen Ambiguität“, die Elsaesser dem Melodrama bescheinigt. Insofern scheine das Melodrama immer entweder subversiv oder als Eskapismus zu funktionieren, beides Kategorien, die immer in Relation zu ihrem jeweiligen historischen und sozialen Kontext stünden.31 Mag also sein, dass dieser Kontext für eine im Sirk’schen und Elsaesser’schen Sinne angemessene Rezeption von Magnificent Obsession sich heute schlicht vollständig verflüchtigt hat. Ob der Film daher subversiv oder eskapistisch angelegt ist, ist nicht mehr unterscheidbar, beides blendet vollständig ineinander über. Und gerade das, was Elsaesser ganz ohne Zweifel völlig zu Recht als die eigentliche Qualität des Melodramas ausmacht – nämlich sozialen Wandel niemals anders, denn innerhalb privater Kontexte und emotionaler Bedingungen zu verstehen –32, treibt in dieser Situation der Überblendung die unauflösbare Problematik des Films hervor. So ist Rock Hudsons Bob Merrick ein Wiedergeborener, der neu zu sehen lernt, und Jane Wymans Helen Philipps ist eine Heilige und Märtyrerin, die erblindet, um das Prinzip des Gutseins in der Welt zu demonstrieren und um selbst auch etwas menschlich zu werden, denn ein bisschen verzweifeln darf sie dann doch. Otto Krugers Edward Randolph aber ist nicht bloß ein weiterer Heiliger, und als Eremit eine Art neuer Johannes, der Merrick zur Taufe führt; vielmehr wird er ast als Stellvertretung Gottvaters inszeniert, wenn er in der letzten entscheidenden Szene, der Operation Helens durch Merrick nämlich, dieser wohlwollend folgt, indem er sie von oben durch ein Glasdach beobachtet, als säße er im Himmel (Abb. 3). Am Ende können sie alle sehen oder dürfen wieder sehen und dürfen ganz sicher auch recht christlich glücklich miteinander sein. Alles in allem geht es in diesem Film, der das Blindsein für eine ganze Weile doch erheblich ausstellt, nicht im Geringsten ums Erblinden oder ums Blindsein. Es geht ausschließlich ums Sehen lernen. Sieht man dies, dann sieht man das Licht der Erlösung. So wie Helen, wenn sie nach ihrer Operation wispert „I can see the light“ und dabei nur sehr mittelbar das Sonnenlicht meint, das plötzlich wieder auf ihre Netzhaut drängt (Abb. 4). Sirks Film stellt den richtigen Pfad des Lebens aus, auf den man geleitet wird. Vorbild dafür ist ein toter Arzt, ein durch ein fehlendes Beatmungsgerät geopferter Menschenheiler. Der Film fragt: Wie wird man ein guter Mensch? Und er antwortet glasklar: Indem man Gutes tut und es verschweigt. In-
30 D. Sirk: Imitation of Life, S. 135. 31 Vgl. Th. Elsaesser: Tales of Sound and Fury, S. 47. 32 Ebd.
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dem man nicht ungezügelt Sex hat. Indem man nicht säuft. Indem man vorsichtig Auto fährt. Indem man sich im Allgemeinen Mühe im Leben gibt. Mögen alle Leser dieses Aufsatzes bessere Menschen werden.
Abb. 3-4 Douglas Sirk: Magnificent Obsession (USA, 1954) © Universal International Pictures
Der totale Filmemacher Michael Powells Peeping Tom (1959) S ULGI L IE
„I am not a director with a personal style. I am simply cinema.“1 „Being simply cinema“, das gilt auch nicht minder für Mark Lewis (Karlheinz Böhm), der die Überidentifikation mit dem Kino von seinem Regisseur Michael Powell übertragen bekommen hat. Michael Powells Diktum sollte nicht nur als megalomane Koketterie eines allzu selbstbewussten Regisseurs abgetan werden, steckt doch in der minimalen Differenz des ‚Kino Seins‘ zum herkömmlichen Ausdruck des ‚Kino Machens‘ oder ‚Filme Machens‘ der Schlüssel zur kinematografischen Psychose von Peeping Tom, die im ganz wörtlichen Sinne auch eine Psychose des Kinematografischen ist: Denn der Filmemacher Mark Lewis ist eben nicht nur ein besonders obsessiver Vertreter seiner Zunft, sondern ein delirierender Ontologe des Kinos, der sich mit Haut und Haaren, mit Leben und Tod dem unmöglichen Projekt eines totalen Films verschrieben hat, in der er Regisseur, Darsteller und Zuschauer zugleich ist. Der persönliche Stilwillen soll zugunsten der Suche nach der ultimativen filmischen Wahrheit transzendiert werden, die darin besteht, das Nichtfilmbare zu filmen – den Tod im Bild zu bannen. Michael Powell hat aus seiner affektiven Nähe zu Mark Lewis kein Hehl gemacht: „I felt very close to the hero, who is an ‚absolute‘ director, who is conscious of it and suffers from it. He is a technician of emotion.“2 Powells Beschreibung situiert den totalen Filmemacher in der Ambivalenz zwischen Erfolg und Scheitern, zwischen Selbstbewusstsein und Leiden. Denn so sehr Mark Lewis die Mordkunst der Kamera auch technisch perfektioniert, entzieht sich ihm immer wieder das perfekte Bild, bleibt ein Entzug im Sichtbaren, ein blinder Fleck: „The lights fade too soon“, so wird Mark in einem fast schon melodramatischen Moment des Films lamentieren, als die Todesangst des Opfers sich in der Projektion im Schwarzbild auflöst. Die Tragik des totalen Filmemachers speist sich aus einem endlosen Verfehlen und Aufschieben des orgasmischen Todesbildes, das den Tod nicht nur zeigt, sondern gleichzeitig dieser Tod ist. Mark Lewis kann dieser Aporie nur entgehen, 1
Michael Powell zit. nach Peter Wollen: Dying for Art. In: Sight and Sound, Nr. 12 (1994), S. 12.
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indem er Bild und Tod in seinem eigenen Körper kurzschließt. Der Selbstmord, der am Ende von Peeping Tom steht, beendet die Serie der Substitutionen und Wiederholungen durch eine kinematografische „passage à l’acte“, in der Mark Lewis auf tödliche Weise mit der Totalität des kinematografischen Dispositivs verschmilzt und zum Zuschauer seines eigenen gefilmten Todes wird. Mit unentrinnbarer Notwendigkeit steht am Ende von Peeping Tom die Vollendung des filmischen Gesamtkunstwerks in der immer schon antizipierten Inszenierung des Selbstmordes. Aus der Perspektive seines Endes scheint das Triebschicksal seines Protagonisten von Anfang an einer Determination unterworfen, die sich nur im Tod totalisieren kann: Das totale Kino ist in Peeping Tom ein Kino des Todes, das ein Opfer verlangt. Mark Lewis psychotischer Ästhetizismus zielt auf ein „L’art pour l’art“, in der das Leben vollständig von der Kunst absorbiert wird und der absolute Glaube an das Kino rituell am eigenen Leib bezeugt werden muss. Dabei ist von entscheidender Bedeutung, dass der totale Filmemacher Mark Lewis eben nicht nur hinter der Kamera steht, sondern auf einer phantasmatischen Ebene gleichzeitig auch vor der Kamera. Und der Zuschauer Mark Lewis blickt nicht nur auf das projizierte Filmbild, er will auch mit diesem Bild fusionieren – Bildwerden, Kinosein. In seiner Überidentifikation mit der Gesamtheit des kinematografischen Dispositivs zerfließen sowohl die Grenzen zwischen Kamera, Projektor und Leinwand als auch die zwischen Regisseur, Schauspieler und Zuschauer. Begreift man in diesem Sinne die phantasmatische Osmose von Subjekt und Kino als Fluchtpunkt des Films, können die zahlreichen psychoanalytischen Interpretationen, die Peeping Tom zu einem paradigmatischen Film der feministischen Filmtheorie gemacht haben, womöglich noch Mal neu perspektiviert werden. Denn natürlich kann keine neue Lesart des Films die filmtheoretischen Arbeiten seit den 1980er Jahren ignorieren, die Peeping Tom zu einem Film transformiert haben, dem der psychoanalytische Diskurs geradezu immanent ist. Mit anderen Worten: Peeping Tom genießt den Status eines selbst schon filmtheoretischen Films, der den titelgebenden männlichen Voyeurismus als perverse Struktur des Kinos analytisch seziert. Im Anschluss an Laura Mulveys kanonische These von der Fundierung der männlichen Blickmacht in den skopophilen Abweichungen des Sexualtriebes haben verschiedene Autorinnen die subversive Qualität von Peeping Tom in der metafilmischen Reflexion perverser Schaulust verortet. Die Rezeptionsgeschichte des Films sei hier kurz skizziert: Linda Williams diskutiert Peeping Tom als Sonderfall eines Horrorfilms, der die geschlechtshierarchische Spaltung von Voyeurismus und Exhibitionismus ineinander kollabieren lässt: Nicht nur oszilliert Mark Lewis permanent zwischen Blicksubjekt und Blickobjekt, auch die weibliche Protagonistin Helen (Anna Massey) vermag es, der Objektivierung durch die tödliche Kamera zu widerstehen und ihren Blick gegen den blindmachenden Horror des narzisstischen männlichen Ki-
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nowahns zu behaupten.3 Eingebettet in eine Studie zur weiblichen Stimme erkennt Kaja Silverman in Peeping Tom eine Demaskierung der fetischistischen Verschiebung der männlichen Kastrationsangst auf den Körper der Frau: Indem sich Mark Lewis immer auch in der Angst seiner weiblichen Opfer wiedererkennt, fällt die Wunde eines ursprünglichen Mangels auch auf die männliche Subjektivität zurück.4 Im Rahmen der filmtheoretischen Wende der 1990er Jahre zu Fragen einer verkörperten, masochistischen Schaulust im Kino widmet Carol Clover ihre Überlegungen zu Peeping Tom dem Trennungszusammenhang von sadistischen Impulsen, die auf der Seite des Filmemachens dominieren und masochistischen Affekten, die insbesondere im Horrorkino von einem passiven Zuschauer als Lust an der Verwundbarkeit des Auges erfahren wird.5 Emblematisch verdichtet sich für Clover diese masochistische Affektion des Sehens in den ersten beiden non-diegetischen Einstellungen des Films, in denen auf das Logo von Powells Produktionsfirma The Archers – in dem ein Pfeil das kreisförmige Zentrum einer Zielscheibe trifft – in grafischer Analogie ein aufgerissenes Auge der Angst folgt: Die Augen der Angst (so der deutsche Titel des Films) verkörpern so immer auch die Angst der Augen vor dem Augentod, dem Erblinden. In den lacanianischen Beiträgen von Elisabeth Bronfen und Parveen Adams verschiebt sich der Fokus der psychoanalytischen Theorie vom Register des Imaginären zum Register des Realen: Es wird nun weniger nach den imaginären Identifikationsschemata von Voyeurismus, Narzissmus, Sadismus und Fetischismus gefragt als vielmehr die psychotische Halluzination im Realen untersucht, die für Elisabeth Bronfen in einer Konfusion von Bild und Körper mündet6 und für Parveen Adams in der Suche nach einer unerträglichen jouissance der Angst, die sich von der Ökonomie der (Schau)Lust fundamental unterscheidet.7 Aus einer stärker phänomenologisch informierten Perspektive hat Elena del Rio in Revision des okularen Modells der Psychoanalyse ihr Augenmerk auf zentrale Momente des Films gelegt, in der das Sehen somatisiert wird und das filmische Bild als Membran einer körperlichen Einverleibung inszeniert wird.8 Schließlich hat Laura
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Linda Williams: Wenn sie hinschaut. In: Frauen und Film, Nr. 49 (1990), S. 3-20.
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Kaja Silverman: The Acoustic Mirror. The Female Voice in Psychoanalysis and Cinema. Bloomington/Indianapolis: Indiana University Press 1988, S. 32-41.
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Carol Clover: Men, Women and Chainsaws. Gender in the Modern Horror Film. Princeton: Princeton University Press 1992, S. 168-191.
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Elisabeth Bronfen: Bilder, die töten – Tod im Bild. Gedanken zu Michael Powells Peeping Tom. In: Cinema, Nr. 40 (1994), S. 112-134.
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Parveen Adams: ‚Father, can’t you see I’m filming?’ In: dies.: The Emptiness of the Image. Psychoanalysis and Sexual Difference. London/New York: Routledge 1996, S. 90-107.
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Elena Del Rio: The Body of Voyeurism. Mapping a Discourse of the Senses in Michael Powell’s Peeping Tom. In: Camera Obscura, Nr. 45 (2001), S. 115-149.
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Mulvey selbst auf eine a-visuelle Dimension in dem Film hingewiesen, auf einen blinden Blick, der sich dem epistemischen Regime der kinematografischen Skopophilie entzieht.9 Es wäre müßig, diesen kanonischen Texten noch eine weitere psychoanalytische Lesart hinzuzufügen, die das bereits Gesagte nicht noch Mal verdoppeln würde. Eine symptomatische Lektüre dieser Texte zeigt aber auf, was durchaus einer neuen systematischen Konzeptualisierung bedarf – nämliche die immanente Suspension von filmtheoretischen Kategorien, die in Peeping Tom permanent in ihr Gegenteil umzuschlagen drohen. Was alle Interpretationen des Films vereint, ist ein gleichsam dialektisches Manövrieren zwischen oppositionellen Begriffen: So changiert für Linda Williams der Film zwischen Voyeurismus und Exhibitionismus, für Kaja Silverman zwischen Fetischismus und Mangel, für Carol Clover zwischen Sadismus und Masochismus, für Elisabeth Bronfen zwischen Bild und Realem, für Parveen Adams zwischen Lust und Genießen, für Elena del Rio zwischen väterlichen Narzissmus und mütterlicher Alterität und für Laura Mulvey zwischen der Evidenz des Sichtbaren und dem zweiten Blick einer blinden Wahrnehmung. Meine These wäre nun die, dass diese paradoxe Ununterscheidbarkeit dem universellen ‚Kinosein‘ des totalen Filmemachers entspringt, dem unmöglichen Wunsch, alle kinematografischen Positionen zugleich anzunehmen, sowohl Subjekt und Objekt, Blick und Bild, Sehen und Gesehenwerden, Aufzeichnung und Aufführung in einem überdeterminierten Kinokörper zu vereinen. Als Inkarnation des kinematografischen Dispositivs ist Mark Lewis weniger ein konsistentes Individuum als vielmehr ein Agglomerat aus widersprüchlichen Partialtrieben. In technischen Termini lässt er sich als ein Medium beschreiben, das Filmbilder zugleich sendet und empfängt. Diese Personalunion von Sender und Empfänger operiert weniger linear als zirkulär mittels Feedbackschleifen und Interfaceinstallationen, wie noch zu zeigen sein wird. Dass die Zirkularität der filmischen Rückkoppelung nur durch eine suizidale Schnittstelle vollendet werden kann, gehört zur Tragik dieses totalen Filmemachers. Eine Tragik freilich, in der Erfolg und Scheitern nicht zu trennen sind und in einer psychotischen Version des alten romantischen Ideals der Einheit von Leben und Kunst, das Gelingen der Kunst mit dem Tod bezeugt werden muss: „Die romantische Kunst lässt die kreative Wahrheit in der Freiheit des Subjekts zusammenschießen, sie bildet zugleich den Anspruch eines absoluten Buches aus, einer Art Bibel in permanenten Wachstum, die nicht mehr das Tatsächliche darstellen, sondern es vielmehr ersetzen soll.“10 Blanchots
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Laura Mulvey: The Light that Fails. A Commentary on Peeping Tom. In: Ian Christie Andrew Moor (Hrsg.): The Cinema of Michael Powell. International Perspectives on an English Filmmaker. London: bfi 2005, S. 143-155.
10 Maurice Blanchot: Das Athenäum. In: Volker Bohn (Hrsg): Romantik. Literatur und Philosophie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1987, S. 117.
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Worte lassen sich nur zu gut auf Mark Lewis münzen: Der absolute Film des romantischen Filmkünstlers will das Tatsächliche nicht darstellen, sondern ersetzen.
Abb. 1-2 Mit dieser totalen Subjektivierung der Wirklichkeit durch das Bild beginnt auch die berühmt gewordene Anfangssequenz von Peeping Tom, in der die tödliche Kamera ihr erstes weibliches Opfer ins Visier nimmt. Dass hier der Point of View der diegetischen Kamera direkt mit dem Blick des Zuschauers zusammenfällt, haben fast alle Beschreibungen dieser Szene als initiales Moment sadistischer Skopophilie beschrieben, die den weiblichen Körper gewaltsam in Beschlag nimmt. Nun ist aber den meisten Analysen der minimale Spalt in der Montage der ersten Einstellungen entgangen, die den Kamerablick vom Auge des Protagonisten trennt und somit den vermeintlichen optischen Point of View wieder in Frage stellt:
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Auf die Totale einer nächtlichen Straßenansicht, die am rechten Bildrand eine Frau im roten Kleid vor einem Schaufenster zeigt und die vom linken unteren Bildrand von einem pfeifenden Mann im Trenchcoat betreten wird, folgt statt einer Identifizierung des Gesichts eine Großaufnahme einer 16mm-Kamera mit drei verschiedenen Objektiven (Abb. 1). Es wird deutlich sichtbar, dass der Mann die Kamera ungefähr in Bauchhöhe trägt und aus seinem Mantel herauslugen lässt. Nun bewegt sich der Mann langsam in Richtung der primären, unsichtbaren Kamera der Enunziation, begleitet vom einsetzenden Surren der 16mm-Mechanik, bis die Großaufnahme kurz in einem Schwarzbild verschwimmt, um danach in den Gegenschuss auf die Prostituierte zu wechseln (Abb. 2). Peeping Tom beginnt mit einer Disjunktion von Auge und Kamera und nicht mit ihrer organischen Einheit; die filmende Kamera ist vom sehendem Auge abgekoppelt, das eben nicht sieht, was gefilmt wird, sondern im gewissen Sinne blind bleibt. Der Zuschauer wird in eine optische Identifikation gezwungen, die entgegen der Konvention des klassisch narrativen Films nicht mit dem perspektivischen Augenpunkt der diegetischen Figur identisch ist, sondern von einer reinen apparativen Instanz in Gang gesetzt wird: Von Beginn an ist der anonyme Peeping Tom weniger eine Person als vielmehr eine technische Prothese mit Eigensinn und Eigenblick. Das kinematografische Subjekt verkörpert sich nicht im Auge, sondern in einem azephalen Blick in Bauchhöhe – eine viszerale Visualität, die von der Dunkelheit angesogen wird und die im Moment des Schwarzbildes kurz erblindet. Als nun Mark Lewis der Prostituierten in ihr Zimmer folgt, setzt eine Vivisektion des weiblichen Körpers auf allen Ebenen ein – von der fetischistischen Kadrierung einzelner Körperteile, die ihr warenförmiges Echo in den Gliedmaßen der Schaufensterpuppen haben, bis zu der fast schon splitscreenartig anmutenden Vierteilung des Kamerabildes durch das Suchkreuz. In das Surren der Kamera mischt sich nun im Zimmer das Ticken einer Uhr – akustische Signaturen eines Triebs, der direkt in der ahumanen Mechanik der Filmapparatur zu wirken scheint. Kurz vor der tödlichen Penetration des Opfers durch das in einem Stativbein versteckte Messer (wie wir freilich erst später im Film erfahren), mündet der weibliche Angstschrei mit einem harten Schnitt in das Geräusch eines 16mm-Projektors (Abb. 3): Auch in diesem akustischen Übergang von der Affektexplosion des Schreis in das Übertragungsrauschen eines technischen Apparats beschwört Peeping Tom die Subsumtionsmacht des Films über das Leben: „Filme, heißt das, sind wirklicher als die Wirklichkeit und ihre sogenannten Reproduktionen in Wahrheit Produktionen.“11 Produziert worden ist ein Film im Film, der nun sofort wieder als Reproduktion wiederholt wird. Im Umschnitt sieht man den Mann in Rückenansicht neben
11 Friedrich Kittler: Grammophon, Film, Typewriter. Berlin: Brinkmann & Bose 1986, S. 219.
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dem Projektor, der sich das eben gefilmte Material im Dunkeln eines Heimkinos betrachtet (Abb. 4).
Abb. 3-4 Die Projektion wiederholt die Aufzeichnung noch Mal von vorne, nur das Schwarzweiß und das fehlende Suchkreuz markieren den Unterschied zum bereits Gesehenen. Während nun die Credits einsetzen, alterniert die Kadrierung zwischen Rahmung und Entrahmung – einmal ist Mark Lewis, dessen frontale Gestalt wir immer noch nicht gesehen haben, als Betrachter Teil des Bildes, das andere Mal füllt der projizierte Film die primäre Leinwand voll aus. Im Unterschied zum ersten Mal prolongiert der Film aber im Replay den Höhepunkt des Todesschreis, indem er in einer extremen Großaufnahme den Mund des Opfers einfängt, der sich wie ein schwarzer Schlund auf der sekundären Leinwand öffnet. In scheinbarer Erwartung eines entscheidenden Augenblicks erhebt sich Mark Lewis in deutlicher Erregung
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aus seinem Stuhl, bis seine dunkle Silhouette einen kurzen Moment lang vom offenen Mund verschlungen zu werden droht. Doch die erhoffte Klimax scheint auszubleiben, sichtlich enttäuscht sackt Mark Lewis wieder in seinem Stuhl zusammen und das orale Bild kippt in ein anokulares Schwarzbild, um in einer zirkulären Schleife wieder dem Bild des Projektors zu weichen, über das nun der Name von Michael Powell geschrieben wird. Michael Powell schreibt sich damit allegorisch als Enunziator eines Wiederholungszwangs in den Film (im Film) ein, der in dezidiert pornografischer Weise den orgasmischen Mehrwert der (Todes)Lust ansteuert, diese jouissance aber asymptotisch verfehlt. Diese Matrix eines Verfehlens kurz vor der Erfüllung wird alle Szenen von Peeping Tom strukturieren: Dem totalen Filmemacher entgleitet das absolute Bild kurz vor dem ersehnten Exzess. Als würde ein schwarzes Loch, ein blinder Fleck der orgasmischen Fülle des Sichtbaren immer zuvorkommen, kreist der Wiederholungszwang des totalen Filmemachers um ein unmögliches Genießen, das im Replay der Reproduktion unentwegt heraufbeschworen wird. Die unermüdliche Beute nach Bildern wird in Peeping Tom jedoch nicht nur in der Psychopathologie des Protagonisten grundiert, sondern als historischer Moment einer neuen visuellen Kultur markiert: Das London der späten 1950er Jahre ist ein Zirkulationsraum von massenmedialen Bildfabrikationen aller Art, von BoulevardZeitungen, semi-pornografischen Pin-Up-Fotos, 16mm-Amateurfilmen und industriellen Studioproduktionen. Mark Lewis verdingt sich sowohl als Fotograf von Nacktfotos, die dann heimlich unter der Ladentheke eines Zeitungsgeschäfts verkauft werden, als auch als Kameraassistent eines Filmstudios, das gerade einen Film mit dem sprechenden Titel The walls are closing in dreht. Bilder über Bilder, Bilder von Bildern: Als nach der Creditsequenz Mark Lewis’ Antlitz zum ersten Mal sichtbar wird, filmt er gerade den von Polizisten und Reportern gefilmten Tatort gleichsam in der zweiten Wiederholung, um das Aufgezeichnete danach erneut in der höhlenartigen Kammer seines Heimkinos obsessiv zu observieren: The walls are closing in – die Kammer des totalen Filmemachers ist auch eine kinematografische Krypta, in der das Bild die Welt ersetzen soll. Und wie in einem Heiligengrab ist diese Gruft voll von Reliquien, die den Körper des heiligen Vaters bewahren; nur dass in der Kinoreligion von Mark Lewis die Reliquien die Kameras und Projektoren sind, mit denen er seinen ‚heiligen Vater‘ beerbt, seinen leiblichen Vater, der Gott und Teufel des Kinos zugleich gewesen ist. Diese Krypta ist ein veritables Ego-Kino und erlaubt keinem anderen den Zutritt als Mark Lewis selbst, der auf dem Regisseursstuhl thronend, den Film seines eigenen Lebens zugleich produziert und rezipiert. Gestört wird die kinematografische Krypta, oder platonisch gesprochen, die spekuläre „Speläologie“12 nun durch
12 Jacques Derrida: Aufzeichnungen eines Blinden. Das Selbstporträt und andere Ruinen. München: Wilhelm Fink 1997, S. 21.
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die Präsenz einer neuen Zuschauerin, die in die geschlossenen Wände eindringt: Als Marks Nachbarin Helen an ihrem 21. Geburtstag voller kindlicher Neugier die Kinokammer inspiziert, nennt sie unwillentlich den Terror der Technik beim Wort: „This all seems so, well, terribly technical.“ Was nun zur Aufführung kommt ist das traumatische Terrorkino von Mark Lewis’ Vater, der als psychotischer Psychologe die Kindheit seines Sohnes einer totalen visuellen Überwachung unterzogen hat, um die Auswirkungen der Angst auf das Nervensystem zu studieren. Mark bietet Helen die Urszene seiner Perversion (oder père-version wie Lacan formulieren würde) als ‚Geschenk‘ zu ihrem Geburtstag an, als ob unerträglicher Schmerz und unerträgliches Glück in den schwarzweißen Kindheitsbildern des kleinen Marks zusammenfließen würden. Es beginnt mit Bildern des schlafenden Kindes, das vom Blitzlicht der väterlichen Kamera geblendet wird, jenes unheimliche Flackern, das auch das Gesicht der getöteten Prostituierten illuminiert hatte. Es folgt eine Urszene in der Urszene, in der Mark ein küssendes Liebespaar im Park beobachtet und daraufhin der schrecklichste Moment dieses Amateurfilms, als der Vater eine Echse in das Bett seines Sohnes legt. In einer direkten Vergegenwärtigung des vergangenen Traumas schreitet Mark zu einer Reinszenierung der visuell induzierten Angst, indem er Helens Angstreaktion auf die Angstreaktion im Film sofort wieder filmen will: „Wanted to photograph you watching“. Was sich in diesem Blick auf den Blick offenbart, ist der perverse Wunsch nach einem lückenlosen Kreislauf der Angst, eine filmtechnische Angstschleife sozusagen, in der Mark sowohl die Position des filmenden Vaters als auch die Position des gefilmten Sohnes einnimmt: The scene which Mark Lewis tries to film, his own primordial mise-en-scène, has not to do with the usual senses of primal scene but with intolerable jouissance. [...] It rests upon the idea of the completion of terror in which the subject and the Other, killing and being killed, seeing and being seen, are incarnated in a single object, in a single impossible moment. His murders rest upon the hypothesis that by killing a victim he will have enacted a sufficient sacrifice.13
An dieser Verschleifung der perversen Positionen zeigt sich nicht zuletzt, dass die Schaulust einer originären „Schauangst“ entspringt, einer „Skopophobie“, die sich immer auch darin ausdrückt, dass Mark zwar obsessiv schaut, ohne dass sich jedoch ein sichtbares Lustempfinden bei ihm einstellt.14 Genießen ist eben keine Lust, sondern ein masochistischer Lust-im-Schmerz, der auf Repeat geschaltet ist: „The re-
13 P. Adams: ‚Father can’t you see I’m filming?‘, S. 95-96. 14 „In the case of Mark Lewis, tormented by the paternal gaze, scopophilia is a secondary formation, a response to a more basic trauma and the instrument of a more basic desire.“ (P. Wollen: Dying for Art, S. 12).
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active gaze of Peeping Tom is doubly marked as masochistic: in its drive to pleasure-in-pain and in its characteristic need to revisit, over and over and over again, an originary story in hopes of getting it right so as to put it to rest.“15 Gegen den visuellen Wiederholungszwang des ‚Kinoseins‘, gegen Marks psychotische Einverleibung des monströsen väterlichen (Kamera)Phallus setzt Helen auf eine fundamentale Differenz von Sehen und Verstehen, von Bild und Bedeutung, als sie das Filmen ihrer Selbst unterbindet: „No. No. Please help me to understand this thing.“ Aber die jouissance des väterlichen Terrorkinos schießt als untote Substanz in das Reale über: „That will do, Mark. Dry your eyes and stop being silly,“ erklingt die körperlose Stimme ohne jede (intra)diegetische Verankerung aus einem Jenseits des Realitäts- und Lustprinzips, so dass es sich auch um eine akustische Halluzination Marks handeln könnte: „Die Stimme erscheint als der Teil des Vaters, der noch nicht ganz tot ist; sie beschwört das Bild des Genießens herauf und deutet damit den abschüssigen Weg zur Zerstörung des in seinem Namen errichteten Gesetzes an.“16 Die „Prosopopöie, die Fiktion der Stimme-von-jenseits-des-Grabes“17 kippt in Peeping Tom von der filmischen Illusion ins Reale so wie auch das Bild den symbolischen Rahmen der Repräsentation überschreitet. Wenn in den letzten Sequenzen des Film im Films der Tod von Marks Mutter endgültig die obszöne Herrschaft des Vaters besiegelt, kommt dieser in einem kurzen Moment ins Bild, um seinen Sohn den Phallus als Geschenk zu überreichen: Es ist niemand anderes als Michael Powell selbst in der Rolle des Dr. Lewis, der nun phantasmatisch vor und hinter der Kamera steht und Mark mit einer Kamera beschenkt. In einer weiteren performativen Diffusion von Vergangenem und Gegenwärtigem, Bild und Realem wird genau in dem Augenblick eine Einstellung derselben Kamera (Abb. 5) gezeigt, als Mark das magische Wort „The Camera“ ausspricht. In einem unheimlichen Echo filmt der kleine Mark mit seiner neuen Kamera fast frontal in die Kamera des Vaters (Abb. 6). Als nun die Kamera immer näher an den Jungen mit der Kamera heranfährt, scheint auch Helen den Übertritt des tödlichen Blicks in den Realraum zu befürchten: „Switch it off. Mark!“ Mit dem Ende des traumatischen Amateurfilms schließen sich auch die zirkulären Strukturen: Mark ‚schenkt‘ Helen zum Geburtstag das ‚Geschenk‘ seines Vaters, der seinen Sohn beim Filmen filmt: In the ricochet (or duel) of camera lenses screened in this scene (and focused by the POV of the paternal camera), what transpires is an eliding of any breathing room between site and its
15 C. Clover: Men, Women and Chainsaws, S. 176. 16 Mladen Dolar: His Master’s Voice. Eine Theorie der Stimme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007, S. 139. 17 Paul de Man: Autobiographie als Maskenspiel. In: ders.: Die Ideologie des Ästhetischen, hrsg. v. Christoph Menke. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993, S. 141.
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sighting as well as between vision and its record – all absorbed in to the filming of filming across the interface and face-off of generations.18
In diesem Kurzschluss der sich selbst gegenseitig filmenden Kameras nimmt Michael Powell als fiktionaler Dr. Lewis exakt die Schnittstelle des totalen Filmemachers ein, der Mark Lewis so gerne sein möchte: Mark Lewis, so macht dieses Selbstporträt des Regisseurs nur allzu deutlich, sollte man als einen Doppelgänger Michael Powells verstehen: „I am cinema.“ Eine psychotische Performativität des Kinos, die kein Außen mehr kennt, sondern nur eine totale Mimikry ohne Differenz: Michael Powell ist Mark Lewis, Mark Lewis ist Michael Powell, Film ist Leben. Die fatale Verschlingung von Kino und Leben wird auch in der nächsten metafilmischen Szene in einen tödlichen Kurzschluss getrieben, aber nicht ohne zuvor in einer amüsanten Parodie des industriellen Filmemachens vom Horror in die Komödie zu wechseln: Der Produzent von The walls are closing in gibt auf ökonomischen Druck der finanzierenden Hollywoodstudios die Anweisung, zur Einsparung der Produktionskosten gleich den ersten brauchbaren Take zu verwerten. Der Regisseur mit dem Namen A. Baden verzweifelt aber gerade an den emotional nicht gerade überzeugenden Versuchen seiner blasierten Hauptdarstellerin, einen hysterischen Zusammenbruch in einem Fahrstuhl zu spielen. Aber nach drei misslungenen Takes erklären plötzlich alle Beteiligten den vierten Versuch für geglückt, obwohl auch diesmal der Fall der Diva lächerlich theatral wirkt und eben gar nicht von jenem ‚feeling‘ getragen wird, dass der entnervte Regisseur scheinheilig seinem Star bescheinigt. Generisch lässt die Szene auf eine besonders seichte Schmonzette im High-Society-Milieu schließen, an der selbst der Regisseur völlig desinteressiert zu sein scheint. Er ist als Studioangestellter und Lohnarbeiter von konfektionierten Genreformaten das absolute Gegenteil von Mark Lewis, dem totalen Filmemacher. Im komischen Kontrast zu dem gelangweilten Hollywood-Handwerker erscheint Mark, der bei der Produktion nur als ‚Focus Puller‘ dem Kameramann assistiert, als der wahre Künstler. Mark ist der ‚Auteur‘, der an die Kunst des Kinos glaubt, während sich die anderen nur dem Kommerz unterworfen haben. Die Passion des Künstlers widersetzt sich den Rhythmen des Nine-to-Five-Arbeitsalltags, die Nacht ist für ihn die Zeit des Films: Denn als nun das Team zum Feierabend das Studio verlässt, verschanzt sich Mark im Gebäude, um heimlich mit Vivian (Moira Shearer), die als Stand-in für die Diva arbeitet, an Test-Aufnahmen zu arbeiten.
18 Garrett Stewart: Closed Circuits. Screening Narrative Surveillance. Chicago/London: Chicago University Press 2015, S. 143.
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Abb. 5-6 Mark soll Vivian zu einem Star machen und so inszenieren die beiden Subordinierten der Produktionshierarchie in der Verlassenheit des nächtlichen Studios die mythische Symbiose von Director und Star und ersetzen damit Regisseur und Hauptdarstellerin von The walls are closing in. Die Doubles substituieren die Originale. Mark justiert sorgfältig das Scheinwerferlicht, während Vivian als Warm-up zu den Klängen eines Kassettenrekorders einen immer ekstatischer werdenden Tanz aufführt. Wie in der Heimkino-Szene kommt es wieder zu einer Vertauschung der Rollen, als Vivian hinter die Kamera wechselt und Mark sie mit einer weiteren Kamera beim Filmen filmt: „Photographing you photographing me.“ Mit diesem Satz ist nun performativ das Interface der Urszene wiederhergestellt und auch Mark hat sich nun warm geprobt. Auf die sexuelle Vorlust, das sexuelle Vorspiel von Vivians Tanz, muss nun der Höhepunkt folgen: „I’m ready now, Viv“, verkündet Mark in einer unverhohlen sexuellen Verschiebung von Ficken zum Filmen. Doch Vivian
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ist noch nicht erregt genug, um den Orgasmus der Angst zu erreichen, den Mark ihrem Gesicht abringen will. So suggeriert ihr Mark mit ausgefahrenem Stativbein eine illusorische Todesangst, die sich Vivian im Angesicht eines verrückten Mörders imaginieren soll. Mark tarnt das Reale als Illusion, um bei Vivian die Illusion des Realen herbeizurufen. Erst als Mark das Messer mit der filmenden Kamera ‚synchronisiert‘ spürt Vivian das Reale der Illusion am eigenen Leib: Sie wird zum Star ihres eigenen ‚Snuff‘-Films durch den Exzess jenes ‚Feelings‘, das dem Hollywoodstar zuvor so abging und der ihr von Mark, ihrem ersten und letzten Regisseur als Selbstopfer an die Kunst ‚geschenkt‘ wird. Im Moment des Todesschreis schwenkt die Kamera von einem Close-Up (Abb. 7) in das unscharfe Bild eines roten Schweinwerferlichts (Abb. 8), das bald darauf ins Schwarzbild blendet: „I’ve put the red light on.“ Zweifach sagt Mark zuvor, die roten Lichter nur für Vivian eingeschaltet zu haben. Das Rotlicht verknüpft Vivians exhibitionistische Darbietung semantisch mit dem Rotlichtmilieu in der ersten Mordszene und etabliert eine Analogie zwischen Schauspielerin und Prostituierter, die beide ihren Körper als Ware verdinglichen. Die Mortifizierung im Bild erscheint als Konsequenz der sexuellen Verdinglichung des weiblichen Körpers als Tauschobjekt: „Die Perversion von Mark, die der Film zu dekonstruieren sucht, besteht nun aber vor allem darin, dass dieser symbolische Tausch in dem der weibliche Körper als Bild und das Bild als Ware getauscht wird – an der Grenzlinie zum Tod in den Bereich des Realen kippt.“19 Das tödliche Reale ist in Peeping Tom mit der Farbe Rot Mark’iert/markiert. Überall leuchtet das Rot als Affektfarbe in den meist dunkel gehaltenen Bildern des Films auf: im roten Kleid der Prostituierten, in den ausnahmslos roten Haaren der Frauen (Helen, die Diva und auch Vivian), in der schummrigen Beleuchtung von Marks Heimkino und eben in dem kreisförmigen Scheinwerferlicht (Abb. 8), das in Rekurs auf die erste Einstellung des Films wie ein blutendes Auge anmutet.20 Ein defiguriertes, geblendetes und blindes Auge, das freilich durch die Unschärfe des Bildes in reine piktoriale Abstraktion umschlägt: Rot auf Schwarz, Kreis auf Fläche.
19 E. Bronfen: Bilder, die töten – Tod im Bild, S. 120. 20 Carol Clover versteht das Emblem des verwundeten Auges als Triumph des masochistischen Blicks über den sadistischen: „In case we doubted which of the eye’s two operations Peeping Tom wishes to privilege in its analysis of horror cinema, this opening minute spells it out: not the eye that kills, but the eye that is ‚killed‘.“ (C. Clover: Men, Women and Chainsaws, S. 181).
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Abb. 7-8 Michael Powell hat bereits in seinen früheren Filmen mit der koloristischen Abstraktionskraft der Farbe Rot auf außergewöhnliche Art experimentiert21: In The Life and Death of Colonel Blimp (1943) findet sich ein fast nicht wahrnehmbarer, subliminaler Flashframe in Rot während einer Kriegsszene, die Anfangssequenz von A Matter of Life and Death (1946) wird affektiv von roten Flashlights rhythmisiert, in Black Narcissus (1947) gibt es eine Rotfärbung des ganzen Bildes im pathologischen Point of View einer Wahnsinnigen und natürlich trägt eines der berühmtesten Filme von Powell die Farbe Rot im Titel: The Red Shoes (1948), der die Geschichte einer Balletttänzerin erzählt, die von den roten Tanzschuhen buchstäblich in den 21 Zur Affektfarbe und Farbaffekt bei Michael Powell vgl. auch Johannes Binotto: Affekt Effekt Defekt. In: Riss. Zeitschrift für Psychoanalyse, 81 (4.2015), S. 78-104, vor allem S. 97-99.
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Tod getanzt wird. Und die Hauptrolle wird von niemand anderem als Moira Shearer gespielt, die von ihrem obsessiven Ballettdirektor Boris Lermontov (Anton Walbrook) zum totalen Tanz getrieben wird. In diesem Sinne lässt sich Peeping Tom auch als Remake von The Red Shoes verstehen, nur dass die roten Schuhe von einem anderem Partialobjekt ersetzt worden sind – der Kamera, die sehen macht und bluten lässt, während die Schuhe tanzen machen und bluten lassen. In beiden Filmen wird für die totale Kunst ein Opfer verlangt, als Todestanz oder als Todesfilm: „Dying for Art“22 Moira Shearer muss ein zweites Mal für die Kunst eines Mannes sterben und den Todestanz des Todesfilms tanzen. Die Röte des Rots von Technicolor ist auch die Blutigkeit des Bluts: Die Radikalität, mit der Peeping Tom Rot und Blut, Abstraktion und Illusion ästhetisch kurzschließt, lässt sich mit Alexander Garcia Düttmanns Worten als doppelter Vollzug von Schein und Sein in der Kunst beschreiben: [...] so hat es der doppelte Vollzug stets mit einem Verhältnis zwischen dem So-ist-es der
Darstellung, der Oberfläche, und dem Als-ob des Dargestellten, der Tiefenwirkung, zu tun, mit einem Verhältnis, an dessen Anfang und Ende zwei Grenzfälle stehen, die Abstraktion, die nichts mehr darstellt, und das tromp-l’oeuil, das keine Darstellung mehr sein will, die reine Oberfläche und die bloße Tiefenwirkung.23
Dieser doppelte Vollzug von Fläche und Tiefe, Abstraktion und totalem trompe l’oeuil findet sich in dieser Form nur bei Hitchcock, mit dessen Werk Powells Film ohnehin untergründig zu kommunizieren scheint: Die Vaterpsychose von Peeping Tom hat ihre Entsprechung in der Mutterpsychose von Psycho, die roten Farbdelirien antizipieren schon Hitchcocks experimentelle Bildeinfärbungen in Marnie24 und Anna Massey wird 1972 in Frenzy wieder mit einem gestörten Londoner Serienkiller konfrontiert. Das Rotbild des allegorisch blutenden Auges (Abb. 8) wird zudem an der Grenze der realistischen Repräsentation vokal als Schrei markiert, als könne die Todesangst nur im Kollaps der audiovisuellen Artikulation freigesetzt werden. Michael Powell hat einmal gesagt: „Für mich gibt es nichts Furchterregenderes als
22 So der Titel des oben zitierten Aufsatzes von Peter Wollen. 23 Alexander Garcia Düttmann: Teilnahme. Bewusstsein des Scheins. Konstanz: Konstanz University Press 2011, S. 115-116. 24 Zur Farbästhetik von Marnie vgl. auch meinen Beitrag Sulgi Lie: Anamorphosen des Affekts. Hitchcocks Akusmatik der Erinnerung. In: Ute Holl, Matthias Wittmann (Hrsg.): Memoryscapes. Filmformen der Erinnerung. Berlin/Zürich: diaphanes 2014, S. 199-225.
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eine Kamera, die läuft, die einen anschaut.“25 Im Bann der Kamera verblutet das Auge in das Schwarz der Leinwand. Auf das verblutende Auge in Rot folgt eine Überblendung auf die blinden Augen von Helens Mutter (Maxine Audley). Als Negation des okularen Zwangs von Marks väterlicher Perversion verkörpert Helens Mutter ein Mehr-Sehen jenseits des Sichtbaren, was Derrida in seinen Überlegungen zur Blindheit als „abokulare Hypothese“ bezeichnet: „Der Blinde kann ein Seher sein, mitunter ist er zum Visionär bestimmt.“26 Die Version des Vaters wird von der Vision der Mutter herausgefordert: Bei ihrer ersten Begegnung reagiert Mark mit Panik auf das hellseherische Wissen der Blinden, das die visuelle Oberfläche durchdringt und seismografisch den erregten Pulsschlag von Marks Hand abliest. In einer somatischen Konversion von der Diegese in die Enunziation wird nun Marks Herzschlag akustisch überdimensioniert auf der Tonspur hörbar, als ob der Film sich nun das visionäre Vermögen der Blinden aneignen würde: This impossibility of separating ourselves clearly from (or identifying completely with) the beat marks it as a haunting, a dimension in excess of our recognizable and meaningful world (and haunting always has to do with the effect of this double placelessness) where we cannot even know whether we are dealing with something external to us or internal, for it is both at once in a sense.27
Was Eyal Peretz hier anhand eines Films von Brian de Palma als Heimsuchung durch eine anorganische Somatisierung des Sounds beschreibt, kann auch für die ‚Hauntologie‘ fruchtbar gemacht werden, für die in Peeping Tom die blinde Mutter steht. Eine ‚Hauntologie‘, die in der (Un)Gestalt von schwarzen Fade-Outs, roten Flecken und unverortbaren Organgeräuschen die realistische Textur des Films verunstaltet und so immanent gegen die visuelle ‚Ontologie‘ des okularen Vaters opponiert. Unbemerkt dringt Helens Mutter in Marks Refugium ein und verlangt Zutritt zu seinem totalen Kino: „Take me to your cinema.“ Als Mark daraufhin den entscheidenden Moment von Vivians Todesballett abspielt, kippt das Schaukino in ein Tastkino.
25 Michael Powell zit. n. Frieda Grafe: Ins Kino! Münchener Filmtips 1970-1986. Schriften: 11. Band. Berlin: Brinkmann & Bose 2007, S. 253. 26 J. Derrida: Aufzeichnungen eines Blinden, S. 10. 27 Eyal Peretz: Becoming Visionary. Brian de Palma’s Cinematic Education of the Senses. Stanford: Stanford University Press 2008, S. 87.
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Abb. 9-10 Im Verlust der visuellen Distanz übernimmt Mark gleichsam den blinden Blick der Mutter und verschmilzt mit der Projektion von Vivians Großaufnahme zu einem haptischen Teil der Leinwand (Abb. 9). Fast wie in Vorwegnahme der berühmten Einstellung von Ingmar Bergmans Persona (1966), in der ein kleiner Junge das mütterliche Gesicht der Leinwand streichelt, weicht in diesem Interface von Bild und Körper Marks sexuelle Kontaktphobie einem Wunsch nach maternaler Berührung: „The interface enables one not just to see, but to feel, touch, and be united with the other in the way this desire could be fulfilled virtually ghostly.“28 Als dieser Touchscreen wieder am Höhepunkt des Todes zunächst ins Schwarzbild kippt, um danach nur das materiale Weiß der Leinwand (Abb. 10) freizugeben, scheint 28 Seung-Hoon Jeong: Cinematic Interfaces. Film Theory after New Media. New York: Routledge 2013, S. 85.
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Mark nun endgültig die Hoffnung aufzugeben, das ultimative Bild der Angst jemals visuell einfangen zu können: „The lights fade too soon.“ Die Erlöschung des Sehens als Blackout und Whiteout lassen den totalen Filmemacher an eine Grenze stoßen, die nur durch eine paradoxe Schnittstelle von Sichtbarkeit und Erblindung überwunden werden kann. Das filmische Dispositiv dieser Schnittstelle ist natürlich nichts anderes als der Zerrspiegel an der Kamera, der den Opfern ihre eigene Angst als Rückkoppelung zurückspiegelt: „The spectator in the cinema is made conscious of Mark Lewis’s consciousness of his victim’s consciousness of her own consciousness of death.“29
Abb. 11-12
29 P. Wollen: Dying for Art, S. 21.
D ER TOTALE F ILMEMACHER
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Die Todesangst der Opfer wird durch eine selbstreferenzielle Feedbackschleife potenziert, gewissermaßen eine Autopoesis der Angst, eine Angst vor der eigenen Angst. In der grauenvollen anamorphotischen Verzerrung des Gesichts ist dies freilich ein Spiegel, der zugleich sehen macht und erblinden lässt, ein Spiegel, der wie das mythische Haupt der Medusa den Blick petrifiziert und mortifiziert (Abb. 11). Dass dieses Medusa-Interface erst gegen Ende von Peeping Tom enthüllt wird, hat seinen Grund darin, dass dieses Interface nur in der Verschaltung mit Marks eigenem Leib seine poetische Vollendung erfahren kann: „Für Powells Peeping Tom könnte man nun sagen, das wissenschaftliche Projekt des Vaters wird zum halluzinatorischen Projekt Marks, genauer, zu einem delirierenden Dokumentarfilm, in dem Körper und Bild nicht mehr getrennt werden, die figurale Tötung des Filmens real wird.“30 Die tödliche Perfektion kann nur durch den perfekten Tod besiegelt werden, den Mark in den Opfern so verzweifelt gesucht hat, aber nur im Selbstopfer purifiziert werden kann. In der finalen Inszenierung seines dokumentarischen Ich-Kinos wird sogar die Entdeckung durch die Polizei von Mark in das suizidale Script eingebaut. In einer audiovisuellen Gesamtsynthese seines Lebens, bewahrheitet sich in Peeping Tom die „Vorstellung, dass in der Konfrontation mit dem eigenen Tod das Leben wie ein Film noch einmal vorbeizieht.“31 Mark synchronisiert mit mehrspurigen Tonbandmaschinen seine eigenen Schreie als Kind mit dem blendenden Blitzlicht von verschiedenen Kameras, bis er schließlich endgültig mit seinem totalen Todeskino eins wird: Kinosein (Abb. 12). „I’m glad I’m afraid“ sind seine letzten Worte und zum ersten Mal zeigt sich in Marks Gesicht eine Befriedigung, als ob er nun als kinematografischer Märtyrer die ersehnte jouissance endlich erreicht hätte. Das totale Kino vollendet sich in seiner totalen Negation, das Sehen im Erblinden: Das Bild des Todes ist der Tod des Bildes, das auch nach dem Ende des Films in Rot nachblutet.
30 E. Bronfen: Bilder, die töten – Tod im Bild, S. 132 31 Gertrud Koch: Der unsterbliche Körper – Kino und Todesangst. In: Beat Wyss, Markus Buschhaus (Hrsg): Den Körper im Blick. München: Wilhelm Fink 2008, S. 35
Schwarz-Weiß-Bilder und Schwarz-Weiß-Denken Guy Greens A Patch of Blue (1965) C AROLINE R IGGERT
I.
S CHWARZ -W EISSE D ISKURSE
IN DEN
USA
DER
1960 ER
Eingerahmt in eine Zeit vielfacher gesellschaftspolitischer Ereignisse und Umbrüche in den USA der 1960er Jahre ist der Film A Patch of Blue (USA 1965) von Guy Green angesiedelt, der 1965 in die US-amerikanischen Kinos gekommen ist, für viel Furore gesorgt hat und teils nur in zensierter Form gezeigt werden konnte. Im Zentrum des filmischen Melodramas steht die Freundschaft und die sich entwickelnde Liebesbeziehung zwischen einer ‚weißen‘ blinden Frau und einem ‚schwarzen‘ sehenden Mann. Der Diskurs über ‚Rasse‘1, verschiedene Diskriminierungsformen sowie rassistischer Denk- und Handlungsweisen werden in A Patch of Blue als zentrale Motive behandelt und als wichtige zeitgenössische Diskurse mitreflektiert. Als zentraler Aspekt wird im Film verhandelt, inwiefern sich die Gesellschaft trotz neuer Gesetzgebungen nicht ad hoc zu einer gleichberechtigten und toleranten entwickelt hat und welche Diskriminierungspraktiken und Vorurteile weiterhin ausgetragen wurden. A Patch of Blue erschien in der deutschen Fassung 1966 mit dem Titel Träumende Lippen. Diese Verschiebung durch den in der Übersetzung geänderten Titel 1
Die Schreibweise von ‚Rasse‘ soll in der vorliegenden Arbeit durchgehend in dieser Form erfolgen. Damit soll sichtbar gemacht werden, dass es sich um eine historisch-soziale Konstruktion handelt. Auch bezüglich der Schreibweise von ‚Schwarzen‘ und ‚Weißen‘ soll auf den Konstruktionscharakter dieser Kategorisierung aufmerksam gemacht werden. Nach Anton Pelinka sei darauf hingewiesen, dass „Schwarz und Weiß nicht unabhängig voneinander konstruiert werden können, ihre Bedeutungsinhalte also unabdingbar aufeinander bezogen und beide als politische Kategorie zu sehen sind, [daher, C.R.] verwenden wir bei beiden Begriffen die Großschreibung.“ Helga Amesberger, Brigitte Halbmayr: Das Privileg der Unsichtbarkeit. Rassismus unter dem Blickwinkel von Weißsein als Dominanzkultur, Studienreihe Konfliktforschung Bd. 2, hrsg. v. Anton Pelinka und Ilse König. Wien: Wilhelm Braumüller 2008, S. 11f.
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mit einer anderen Assoziationsebene erweckt den Eindruck, bereits eine gewisse Interpretation vorwegnehmen zu wollen. Der Film selbst beruht auf dem Roman Be Ready with Bells and Drums (1961) von Elizabeth Kata. Sowohl der deutsche Filmtitel als auch der Titel der Romanvorlage verweisen auf Sprache und Akustik und nicht auf die Farbmetaphorik. Guy Green betont mit seinem Titel hingegen einen Aspekt von Farbigkeit bzw. Visuellem, der – wie im Folgenden gezeigt werden soll – in seinem Film eine besondere Bedeutung zukommt. Als zentrales Ereignis zu dieser Zeit lässt sich die Bürgerrechtsbewegung festhalten, die das Bürgerrechtsprogramm des damaligen Präsidenten John F. Kennedy durch eine Massendemonstration in Washington D.C. unterstützt hat, allen voran Dr. Martin Luther King, der bei eben dieser Großdemonstration 1963 seine weltberühmte Rede I Have a Dream... gehalten hat.2 Nach der Ermordung J. F. Kennedys 1963 setzte der nachfolgende Präsident Lyndon B. Johnson den Kurs Kennedys zur Beseitigung der Rassendiskriminierung fort. So wurde 1964 das Bürgerrechtsgesetz (Civil Rights Act) unterzeichnet, das u.a. die Rassentrennung an Schulen aufgehoben hat und gleiche Chancen für ‚Schwarze‘ und ‚Weiße‘ auf dem Arbeitsmarkt bewirken sollte. Zudem wurde 1965 das Wahlrechtsgesetz (Voting Rights Act) erlassen, das die Aufhebung des Lese- und Schreibtests bei der Wählerregistrierung vorsah, was bis dahin hauptsächlich ‚Schwarze‘ daran gehindert hatte, ihr Wahlrecht in Anspruch zu nehmen. Die öffentliche Frage und Auseinandersetzung mit Rassendiskriminierung ist zwar in den 1960er Jahren auf den Weg gebracht worden, jedoch wäre es voreilig zu denken, dass sich die Mehrheitsgesellschaft zeitgleich mit neuen Gesetzen hin zu einer toleranten und gleichberechtigten entwickelt hätte. Vielmehr halten Historiker fest, dass „[d]ie großen Reformen der 1960er Jahre [...] den von den Liberalen erhofften Durchbruch zu einer ‚farbenblinden‘ Gesellschaft nicht bewirk[t] [haben] können. Ebensowenig sind die Hoffnungen radikaler African Americans auf ‚black liberation‘ und Selbstbestimmung in Erfüllung gegangen. Dennoch hat die Bürgerrechtsbewegung den gesellschaftlichen Diskurs über ‚Rasse‘ [...] einschneidend und dauerhaft verändert.“3 Im Folgenden wird besonders auf die Auseinandersetzung mit Rassismus sowie mit Diskriminierung gegenüber als ‚andersartig‘ stigmatisierten Menschen in A Patch of Blue eingegangen. Dabei soll speziell die filmische Darstellung von Blindheit untersucht und die Konstruktion von ‚Schwarzen‘ und ‚Weißen‘ als die jeweils ‚Anderen‘ im medialen Kontext analysiert werden.
2
Vgl. Jürgen Heideking, Vera Nünning: Einführung in die amerikanische Geschichte. München: C.H. Beck 1998, S. 121.
3
Ebd.
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II. S CHWARZ -W EISS -B ILDER – S CHWARZ -W EISS -D ENKEN Durch die Entscheidung sowohl eine ‚weiße‘ blinde Frau als auch einen ‚schwarzen‘ sehenden Mann und ihre jeweiligen Wahrnehmungswelten in den Mittelpunkt zu stellen, ergeben sich besondere Konstellationen hinsichtlich der spezifischen Medialität und der visuellen Konstruktion des vermeintlich ‚Anderen‘ innerhalb des Films. Als Blinde ist die weibliche Protagonistin Selina stets den Blicken der anderen ausgesetzt, ohne sich diesen Blicken entziehen oder aber sie erwidern zu können. Sie wird somit durch die Blicke anderer eingefangen und definiert: als ‚Frau‘, als ‚Blinde‘ und als ‚Weiße‘ etc. Auf einer anderen Ebene kommt hinzu, dass damit die Grundkonstellation und Problematik der Blickregime und -hierarchien innerhalb des Films selbstreflexiv zur Schau gestellt werden. „Das sehende Subjekt definiert durch den Blick der technischen Sehgeräte den Körper des Anderen [...].“4 Und weiter zugespitzt: „Der weibliche Körper und mit ihm andere Formen der Andersartigkeit wird zum Fabrikat des mechanischen Auges, das Erzeugnis eines Blicks, dessen Subjekt selbst das Privileg der Universalität und Unsichtbarkeit beansprucht“.5 Vorstellungen und Konstruktionen des Anderen werden seit Mitte des 19. Jahrhunderts an Visuelles gebunden.6 „Definiert wird das Andere durch ein Subjekt, das – quasi gottgleich – alles sieht, aber selbst nicht gesehen wird.“7 Die Entwicklung von Ausgrenzung sexuell und ethnischer Andersartigkeit ist stark an die Entwicklungen verschiedener technischer Sehgeräte, „die die nichtmediale, reziproke Blickanordnung [durch den einseitigen Blick des sehenden Subjekts] ersetzen, der sich auf ein Objekt richtet, das sichtbar, aber nicht selbst sehend ist“8. Diese Konstellation der sowohl für den Film als auch für die Fotografie spezifischen Subjekt-Objekt-Blickanordnung wird in A Patch of Blue stets mit verhandelt. Eine blinde Frau als Protagonistin und ihre Lebenswelt darstellen zu wollen scheint mitunter etwas abwegig, ist doch der Film das visuelle Medium schlechthin und gerade das Visuelle markiert hier das Nicht-Vorhandene, den Mangel. Indem besondere Aufmerksamkeit den Tönen und Geräuschen gewidmet wird und zudem mittels spezifischer Kameraeinstellungen die dazugehörigen Bilder optisch eingefangen werden, eröffnet sich im Film – neben der optischen Wahrnehmungsebene –
4
Vgl. Eva Warth: Die Inszenierung von Unsichtbarkeit: Zur Konstruktion weißer Identität im Film. In: Annegret Friedich, Birgit Haehnel u.a. (Hrsg.): Projektionen, Rassismus Sexismus in der Visuellen Kultur. Marburg: Jonas Verlag 1997, S. 125-130, hier S. 125.
5
Ebd.
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Ebd.
7
Ebd.
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Ebd.
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auch ein Hör- und Tastraum, der die Wahrnehmung von Tönen, Geräuschen, Stimmen, Wind und Wärme ermöglicht. Die erste Kameraeinstellung des Films zeigt Hände in Nahaufnahme, die Glasperlen sortieren. Erst danach sehen wir, dass es die Hände der jungen, blinden Selina sind. In der ersten Einstellung wird somit der primäre Sinn der Protagonistin, ihr Tastsinn, visualisiert. Hierüber nimmt sie ihre Umwelt wahr, tastend ‚sieht‘ sie. Während üblicherweise ein Close-up auf das Gesicht in anderen Filmen Nähe suggerieren soll und Personen in einen Film einführt, wird hier ab der ersten Szene klar gemacht, dass die Wahrnehmung in diesem Film nach anderen, nicht nur optischen/visuellen Parametern abläuft. In vielen weiteren Szenen werden wir als Zuschauer/innen in die Position der blinden Protagonistin gebracht, in der Akustik und Haptik eine ganz andere Bedeutung zukommt. Durch die verschiedenen Versuche im Film andere Sinne zu visualisieren wird zugleich jedoch auch immer wieder die Unfähigkeit des visuellen Mediums markiert, die Welt aus Selinas ‚blinder‘ Sicht einfangen und filmisch adäquat wiedergeben zu können. Guy Green hat für A Patch of Blue bewusst den Schwarz-Weiß-Film als Darstellungsform gewählt.9 Er war der Meinung, „color glamourizes almost everything.“10 Die Verwendung einer Schwarz-Weiß-Ästhetik ermöglicht es ihm, die stereotypen Differenzierungen zwischen ‚Schwarz‘ und ‚Weiß‘ noch deutlicher herauszustellen. Hervorgehoben wird so auch auf visueller Ebene ein Denken in Schwarz-Weiß-Kategorien. Damit wird zugleich auf etwas anderes aufmerksam gemacht: Die scheinbar deutliche Grenze zwischen ‚Schwarz‘ und ‚Weiß‘ existiert im Grunde genommen nur in ihrer artifiziellen Repräsentation, allerdings sind Realitäten vielschichtig und artikulieren sich nicht durch diese vermeintlich deutlichen Unterschiede und Kontraste. Die vorherrschenden Differenzkategorien, an denen dieses Denken gesellschaftlich festgemacht wird, sind ebenso kulturell konstruiert. Und gerade der Konstruktionscharakter dieses Denkens wird durch die Entscheidung für einen Schwarz-Weiß-Film betont. In A Patch of Blue gibt es keine farblichen Zwischentöne bzw. -nuancen; hier spiegelt sich medial eine Gesellschaft, die in sich und mit ihrem Denken klare Grenzen markiert und keine Zwischenfarben zulässt und somit grundsätzlich auch keine Farbigkeit. Diese Betonung und damit tatsächliche Sichtbarmachung des Konstruktionscharakters von ‚Rassen‘-Denken mit der Einordnung und Stigmatisierung von Menschen nach ihrem phänotypischen Erscheinungsbild, wird durch die Figur Selinas noch erweitert: Als Blinde sieht sie buchstäblich nicht(s). Sie selbst sagt im Film
9
In einer kommentierten Version des Films erläutert Guy Green viele Einzelheiten und Hintergründe zur Entstehung des Films. Seine Kommentare sollen hier an wenigen Stellen als Erklärungen dienen, jedoch auch nicht als „letzte Wahrheit“ gelten, da sie sicherlich nur einen Teil der Analyse und Betrachtung, und zwar seine eigene, schildern.
10 Vgl. die kommentierte Version des Films.
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einmal: „I am always in the dark“. Sie kann nicht zwischen ‚weißen‘ und ‚schwarzen‘ Menschen, hell und dunkel, farbig oder nicht-farbig unterscheiden. So wie Martin Luther King in seiner Rede von einer colorblind-society träumt, repräsentiert Selina idealtypisch diejenige, die tatsächlich colorblind durchs Leben geht.11 Deshalb ist die Entscheidung für Schwarz-Weiß-Bilder auch mehr als konsequent und damit auch in Verbindung mit der Thematisierung von Behinderung und Blindheit als ästhetische Unterstreichung eines Anliegens zu verstehen: das Aufzeigen und die Sichtbarmachung von Stigmata und das Einordnen in Kategorien als gesellschaftliche Konstruktionen. Hier soll keine Welt schön und bunt gezeichnet werden, die in der Realität nach strengen Dichotomien funktioniert. Unterstrichen wird damit in gewisser Weise auch, dass „Weißsein als eine politische Kategorie“ 12 und dass „Weißsein so betrachtet keine Qualität ohne ‚Farbe‘ und Wertigkeit [ist], sondern unter historischen Bedingungen der Moderne ein asymmetrisches MachtVerhältnis, das Weißsein privilegiert und Nicht-Weißsein problematisiert.“13
III. S TEREOTYPE U MKEHRUNG UND RASSISTISCHES D ENKEN Angesiedelt in der Mitte der 1960er Jahre lebt Selina D’Arcey (Elizabeth Hartmann), eine junge blinde Frau, gemeinsam mit ihrer Mutter Rose-Anne (Shelley Winters), die als Prostituierte arbeitet, und ihrem alkoholkranken Großvater Ole Pa (Wallace Ford) in sehr beengten Verhältnissen in Los Angeles. Die Wohnung ist chaotisch und dreckig und die Umgangsformen sind laut, aggressiv und lieblos. Ihr Leben und das ihrer Mutter und ihres Großvaters sind geprägt von Gewalt, Armut, Alkohol und Prostitution. Ihre Tage verbringt Selina meistens allein und eingesperrt in der winzigen Wohnung, wo sie die gesamte Hausarbeit erledigt und als Zuverdienst für die Familie, Schmuck aus Glasperlen herstellt. Eines Tages nimmt der
11 Der Begriff color-blindness wird heutzutage kritisiert, da dieser beispielsweise wie Susann Arndt argumentiert, „die zugrundeliegende Verleugnung von Rassismus als Blindheit verharmlost, er weiters [sic!] auf das rassistische Konstrukt der ‚Hautfarbe‘ verweist und zudem eine physische Beeinträchtigung (Blindheit) assoziativ suggeriert.“ H. Amesberger, B. Halbmayr: Das Privileg der Unsichtbarkeit, S. 107, hier bezugnehmend auf Susann Arndt: Mythen des weißen Subjekts: Verleugnung und Hierarchisierung von Rassismus. In: Marueen Mayscha Eggers (Hrsg.): Mythen Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland. Münster: Unrast 2005. 12 Gabriele Dietze: Critical Whiteness Theory und Kritischer Okzidentalismus. In: Dies., Martina Tießberger u.a. (Hrsg.): Weiß – Weißsein – Whiteness. Kritische Studien zu Gender und Rassismus. Frankfurt a. M.: Peter Lang 2009 [2006], S. 219-249, hier S. 222. 13 Ebd.
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Großvater Selina mit in den Park, wo sie überwältigt von den vielen neuen Eindrücken ist. Als sie plötzlich Angst vor einem Tausendfüßler bekommt, der auf ihrer Schulter sitzt, eilt ihr ein Mann, Gordon Ralfe (Sidney Poitier), zu Hilfe. In den darauf folgenden Tagen treffen sie sich immer wieder im Park und lernen sich langsam besser kennen. Mit jedem weiteren Treffen beginnt Gordon, Selina die Welt außerhalb des Parks zu zeigen und ihr dabei zu helfen, sich in der Öffentlichkeit alleine zu orientieren. Schließlich nimmt er sie auch mit zu sich nach Hause. Gordons Lebensatmosphäre ist das komplette Gegenteil zu Selinas Umfeld. Als sie das erste Mal in seine Wohnung kommt, staunt sie darüber, dass Gordon sogar einen „carpet in the hall“ hat. Sie wundert sich über den guten Geruch in seiner Wohnung und die kühle angenehme Luft, die – wie Gordon ihr erklärt – von der Klimaanlage kommt, etwas für sie völlig Neues. Bei ihm wird klassische Musik gehört, alles ist sehr ordentlich, sauber und gemütlich. Selina fühlt sich mehr und mehr zu Gordon hingezogen: er zeigt ihr eine neue Welt, ist im Gegensatz zu ihrer Mutter und ihrem Großvater stets freundlich und höflich und traut ihr – was entscheidend ist – viele Dinge zu. Er glaubt an sie und nimmt sie ernst und reduziert sie nicht auf ihr Nicht-Sehen-Können. Langsam verliebt Selina sich in Gordon. Das erste Mal in ihrem Leben hat sie das Gefühl, jemanden gefunden zu haben, der sie mag, wie sie ist und bei dem sie sich sicher und verstanden fühlt. Nach einem Kuss in Gordons Küche, äußert Selina den Wunsch mit ihm schlafen zu wollen, was er jedoch ablehnt. Gordon ist noch hin- und hergerissen, was er von ihrer Beziehung halten und wie er sich positionieren soll. Er versucht Selina auf die Zukunft zu vertrösten. Als jedoch eines Tages Rose-Ann und ihre Freundin Sadie Gordon Selina auf der Straße zusammen mit Gordon sehen, gerät die Situation außer Kontrolle. RoseAnn schlägt ihre Tochter und schreit sie an. Sie ist wütend, weil Gordon ‚Schwarz‘ ist, eine Tatsache, über die Gordon mit Selina nie offen gesprochen hat und die sie als Blinde nicht sehen und ahnen hat können. Für Selina wird es nun immer schwieriger, Gordon zu treffen. Schlimmer noch, Rose-Ann und Sadie planen die Eröffnung eines Bordells (zumindest wird dies angedeutet) und auch Selina soll dort als besondere Attraktion arbeiten. Gordon wiederum ist auf der Suche nach einer Blindenschule für Selina. Als Selina von den Plänen ihrer Mutter erfährt, flüchtet sie zu ihm. Noch für denselben Abend hat er die Fahrt zu einem Internat für Blinde organisiert, das sie ein Jahr lang besuchen kann. Vor der Abfahrt gesteht Selina ihm erneut ihre Liebe, Gordon weist sie nicht direkt zurück, plädiert aber dafür, zunächst die neuen Veränderungen abzuwarten und zu sehen, wie sich die Dinge entwickeln. Durch die Gegenüberstellung der beiden Hauptprotagonisten in ihren sehr unterschiedlichen Lebensräumen wird ein deutlicher Differenzraum eröffnet. Es entsteht der Eindruck, als seien die stereotypen Lebensräume von ‚Schwarzen‘ und ‚Weißen‘ und die dazugehörigen Assoziationen in A Patch of Blue vertauscht.
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Nicht nur Selina und Gordon treffen aufeinander, sondern auch zwei verschiedene soziale (Lebens-)Realitäten. Nun ist es interessant, auf welche Weise wir als Zuschauer/innen von Selinas ersten Erfahrungen bezüglich Rassismus und rassistischem Denken in ihrer unmittelbaren Umgebung erfahren. Gordon hat eine kleine Musikbox, die beim Öffnen eine Melodie spielt, zu der er ein französisches Lied singt. Selina ist von dieser kleinen Box fasziniert und Gordon erzählt ihr, er habe sie von seiner Großmutter Pearl.14 Seine Großmutter bekam die Box von ihrem Liebhaber, beide durften aber ihre Liebe nicht ausleben: „He was from a different world. My grandmother was just a beautiful woman.“ Angedeutet wird hier, dass anscheinend auch Gordons Großmutter aufgrund der rassistischen Umstände am Ausleben ihrer Liebe gehindert wurde, da man erahnen kann, was mit „a different world“ gemeint sein könnte. Selina kann aus diesen Andeutungen noch keine Rückschlüsse auf rassistische Denkweisen ziehen, da sie zu diesem Zeitpunkt nicht weiß, dass Gordon ‚Schwarz‘ ist. Vielmehr erzählt sie ihm daraufhin freudig von einer früheren Freundin (ebenfalls namens Pearl), mit der sie schöne Erinnerungen verbindet: „Pearl was my friend, she used to teach me things too“. Die Freundschaft zwischen den Mädchen wurde damals jedoch durch Selinas Mutter unterbunden, die – so erzählt Selina – „got mad because Pearl was colored. You know, black. She said I could never have a black friend.“ Erst durch die Betonung der Mutter, ihre Freundin Pearl sei ‚Schwarz‘, wird Selina ihr eigenes ‚Weiß‘-Sein beigebracht. In dieser Szene wird der Prozess der ‚Weiß‘-Werdung („becoming white“) deutlich, den der US-amerikanische Philosoph George Yancy wie folgt erläutert: [one becomes] white in terms of developing a racialized/racist consciousness through a set of lived experiences. The process of becoming white, as is clearly implied, is not the same as being phenotypically white.15
Und weiter führt er aus, inwiefern dieses ‚Weiß‘-Sein gelernt sei und was damit einhergehe: Whiteness is a way of performing both one’s phenotypic white body and one’s subjectivity as structured through a specific white racist epistemic orientation.16
14 Der Name Pearl ist auch hinsichtlich seiner Bedeutung mit Perle und der Konnotation weiß, kostbar, rar in diesem Kontext interessant. 15 George Yancy: Black Bodies, White Gazes. The Continuing Significance of Race. Lanham u.a.: Rowman & Littlefield 2008, S. 47. 16 Ebd., S. 48.
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Sowohl die von der Mutter strikt unterbundene Freundschaft zwischen Pearl und Selina als auch ihre wütende Reaktion auf Selinas Freundschaft zu Gordon verdeutlichen Selina, dass ihr ‚Weiß‘-Sein mehr als nur ihr äußeres Erscheinungsbild prägt. Dadurch, dass Selina selbst diese von ihrer Mutter so scharf kritisierten Unterschiede tatsächlich nicht sehen kann, sondern lediglich die Erklärungsmuster kennt, wird darauf aufmerksam gemacht, wie konstruiert diese sind. Doch durch ihr Nicht-Sehen-Können kommen diese an sie herangetragenen Differenzmarkierungen in ihren eigenen Begegnungen mit anderen Menschen gar nicht zum Tragen. Erst durch das Aufmerksam-Machen von Außenstehenden werden die Menschen in Selinas Umgebung regelrecht performativ für sie zu ‚Schwarzen‘ bzw. ‚Weißen‘ gemacht. Selina zeigt also in der Begegnung mit Gordon, dass es eines Außenstehenden, eines sehenden Akteurs, bedarf, der sie auf die vermeintlich offensichtliche Differenz hinweist. Mit dem Wissen um sein ‚Schwarz‘-Sein erzählt Selina schließlich Gordon, dass dies für sie keinen Unterschied mache: „I love you. I know you’re good and kind. I know you’re colored. And I think you are beautiful.“ (Abb. 1)
Abb. 1 „I love you. I know you’re good and kind. I know you’re colored. And I think you are beautiful.“
IV. D IE
BLINDE
F RAU – N UR
EINE
M ETAPHER ?
In seinem Einführungsbuch Körper, Kultur und Behinderung. Eine Einführung in die Disability Studies17 geht Markus Dederich auf verschiedene Positionen ein, die sich mit dem Bild und der Darstellung von Behinderten in literarischen Texten beschäftigen. Unter anderen behandelt er darin auch eine These von Rosemary Gar17 Markus Dederich: Körper, Kultur und Behinderung. Eine Einführung in die Disability Studies. Bielefeld: transcript 2007.
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land-Thomson aus deren Publikation Extraordinary Bodies, welche besagt, dass man mitunter Beispiele findet, die die Darstellung in der Literatur von Menschen mit Behinderung auch als Überwindung stereotyper oder negativer Darstellungen lesbar und interpretierbar machen. Für die Interpretation der Darstellung der Blindheit bzw. der blinden Frau als ‚behinderte‘ Frau in A Patch of Blue ist GarlandThomsons These in gewisser Hinsicht hilfreich. Hier wird nämlich deutlich, dass „[z]war auch in diesen Texten [Behinderungen] symbolische oder metaphorische Funktionen [haben], dabei aber einen individuellen wie politischen Übergang von der Pathologie zur Emanzipation bzw. zur bejahten Identität jenseits gesellschaftlicher Normalität [markieren].“18 Darauf Bezug nehmend verweist Dederich auf Garland-Thomsons These, „dass einige durch die Frauenbewegung und die Bürgerrechtsbewegung der Afroamerikaner inspirierte Schriftstellerinnen und Schriftsteller in den außerordentlichen Körpern eine ‚rhetorische Strategie‘ gefunden haben, um die Vorstellung eines Selbst auszudrücken, dass die wesentlichen Unterschiede der ‚Rassen‘- und Geschlechteridentität verkörpert‘“19. Diese Position steht im Gegensatz zu den von David T. Mitchell und Sharon L. Snyder in ihrer Arbeit Narrative Prosthesis. Disability and the Dependencies of Discourse vertretenen Thesen. Darin kritisieren sie grundsätzlich, dass ein wesentlicher Punkt bei einer solchen Darstellung der Behinderung als Metapher, Stellvertreter, Analogie bzw. Repräsentation für etwas zu kurz käme: Bei all solchen Darstellungen würde die Behinderung an sich zu wenig thematisiert. So fasst Dederich Mitchells und Snyders Kritik an solchen Darstellungen zusammen, die demnach den „physischen Körper zu einem Symbolkörper mit epistemologischer Funktion“20 degradieren würden. Es lässt sich beobachten, dass das Thema der Blindheit/der Behinderung auch in A Patch of Blue als Metapher funktioniert und zweckgebunden ist, um eine bestimmte Sichtweise und damit zusammenhängend ein gesellschaftliches Problem sichtbar zu machen. Dabei darf aber nicht vergessen werden, dass sehr wohl auch der Aspekt der Alltagsbewältigung einer blinden jungen Frau innerhalb einer Gesellschaft, die ihr jegliche Rechte abspricht und sie auf ihr Nicht-Sehen-Können reduziert stark im Vordergrund steht. Die stereotypen Vorurteile, die in der Metaphorik von Blindheit häufig mitschwingen (wie z.B. Nicht-Wissen und Nicht-Verstehen etc.) werden darüber hinaus im Laufe des Films und mit der Entwicklung Selinas mehrmals gebrochen. Sie will Neues lernen, sucht nach Orientierung und einem selbstbestimmten Leben. Besonders in den Szenen, in denen Gordon ihr dabei hilft,
18 Ebd., S. 122. 19 Rosemary Garland-Thomson: Extraordinary Bodies. New York: Columbia Univ. Press 1997, S. 130, zit. n. M. Dederich: Körper, Kultur und Behinderung, S. 122. 20 M. Dederich: Körper, Kultur und Behinderung, S. 116.
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sich Orientierung im öffentlichen Raum zu verschaffen, wird deutlich, wie behindertenfeindlich der öffentliche Raum tatsächlich ist. Durch Gordons Zuneigung und Empathie werden ganz unterschiedliche Problemfelder aufgemacht: wie kann eine blinde Person allein einkaufen, wenn die Läden darauf in keiner Weise eingestellt sind? Wie kann man als blinde Person in der Öffentlichkeit unterwegs sein, ohne Angst haben zu müssen? Wieso ist es für blinde Menschen nicht selbstverständlich, eine Schule zu besuchen und einen Beruf zu erlernen, in dem mit der Blindheit umgegangen wird und diese nicht schon vorab als lebenslange Berufsunfähigkeit gilt? Die Sehbeeinträchtigung Selinas fungiert in diesem Kontext als Metapher für eine gesellschaftliche/soziale Blindheit und Eingeschränktheit, einen Blick der verstellt ist, die Augen nicht öffnet und nicht ‚richtig‘ sehen kann, wie die Welt aussieht. Hier geht es nicht nur darum, die Blindheit stellvertretend für etwas anderes als Darstellung/Stilmittel zu verwenden. Denn die Blindheit ist selbst als Thema präsent und es wird immer auch mitverhandelt, inwiefern diese als ‚Behinderung‘ gedacht wird. Und hierin liegt die Quintessenz des Filmes: herauskristallisiert wird, inwiefern erst die Gesellschaft einen Menschen, der blind ist, in seiner Entwicklung, seinen Träumen und grundsätzlich in seiner Lebensweise ‚behindert‘.
Abb. 2 Gordon und Selina begegnen sich auf Augenhöhe Gordon sieht mehr in Selina als der Rest der Gesellschaft, weil er ein anderes Sehen praktiziert. Er begibt sich immer wieder auf ihre Augenhöhe, was auch mittels Kameraeinstellungen unterstrichen wird (Abb. 2). Er geht auf sie ein, versetzt sich in ihre Lage, fühlt mit ihr, wie die Sonne aufs Gesicht fällt, um so die Himmelsrichtungen und die Parkeingänge auszumachen, riecht mit ihr, wo der Delikatessenladen aufzufinden ist, zeigt ihr Bücher in Blindenschrift, erklärt ihr, wie sie alleine telefonieren und anhand der Geräusche der Ampeln hören kann, wann sie sicher über die Straße gehen kann. Sie waschen sogar gemeinsam ab, eine Tätigkeit die von Selina Zuhause üblicherweise alleine ausgeübt wird. Bemerkenswert ist nun, wie diese alltägliche Küchenarbeit mit Gordon anders abläuft: hier ist es ein Mitei-
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nander, ein Rücksichtnehmen aufeinander, das nicht falsch verstanden werden soll als „mitleidiges Rücksichtnehmen auf eine arme Blinde“, vielmehr geht es um das Annehmen Selinas als Mensch, der auf seine Art und Weise durchs Leben geht. Gordon versucht sich dabei immer wieder auf ihre Sichtweise, die vor allem durch die Ausprägung anderer Sinne fernab des Sehens strukturiert ist, einzulassen. Das freundschaftliche Verhältnis beider schafft schließlich eine solche Vertrauensbasis, dass Selina Gordon auch von jenem traumatischen Unfall in ihrer frühen Kindheit erzählt, der zu ihrer Erblindung geführt hat. Ihre Schilderungen werden mit Flashbacks unterstützt, die ihre Erinnerungen in zerstückelten Fragmenten bebildern. Als kleines Mädchen beobachtet Selina ihre Mutter beim Sex mit einem fremden Mann, als plötzlich ihr leiblicher Vater aus dem Krieg nach Hause kommt. Entsetzt stürzt sich dieser auf die beiden im Bett. Um sich zu wehren schleudert die Mutter Säure in die Richtung des Vaters, trifft jedoch nicht diesen, sondern versehentlich Selina, deren Augen fortan verätzt sind. Die erinnerte Sequenz endet mit einer immer lauter werdenden, dramatischen Musik und einer Art Blitz, der dadurch das erinnerte, vergangene Bild auflöst und nach einer Art Knall zurück in die filmische Gegenwart wechselt. Symbolisch findet die (Ver-)Blendung Selinas nicht nur auf physischer, sondern auch psychischer Ebene statt. In der traumatischen Urszene sieht sie etwas, das sie eigentlich als Kind nicht hätte sehen sollen und wird als Strafe dafür geblendet. Nicht ohne Grund wird hier die Art und Weise der Verletzung als Verätzung der Augen dargestellt, eine bleibende und sichtbare Verwundung des Sehorgans. Allerdings lässt sich die psychische Verwundung Selinas nicht so schnell als Wunde bzw. Trauma identifizieren, sie ist nicht sichtbar.21 Ebenso bleiben auch die kulturell-historischen Formierungen der gängigen Sehweisen meistens unsichtbar. Selina berichtet Gordon noch von einem weiteren traumatischen Erlebnis: Sie wurde von einem Kunden ihrer Mutter vergewaltigt. Auch diese Erzählung wird mittels Erinnerungsbildern durch Flashbacks illustriert, was mitunter Fragen nach (Un-)Möglichkeiten visueller Erinnerungen aufwirft, denn es handelt sich bei der Vergewaltigung schon um einen Zeitpunkt, als Selina bereits blind war und somit das Geschehen nicht sehen konnte. Durch die Erfahrung dieser gewaltsamen Entjungferung wurde Selina wiederholt sowohl physisch als auch psychisch verwundet. Auch diese Wunden sind nicht äußerlich sichtbar. Mit dieser Erzählung thematisiert der Film auch, inwiefern mitunter gerade ‚behinderte‘ Frauen Opfer von sexuellen Übergriffen sind, was sicherlich auch ein gesellschaftlich eher unsichtbares
21 Weiterdenken könnte man dies noch hinsichtlich der These eines ‚verbotenen Blickes‘: Selina wurde blind, nachdem sie etwas gesehen hat, was sie eigentlich nicht sehen durfte. Sie wurde also auch gewissermaßen für ihren Blick bestraft. Auch wenn es seitens der Mutter keine bewusste Bestrafung war, so ist die Blindheit doch die Folge eines verbotenen Blickes auf eine verbotene Handlung.
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Thema darstellt. Bei der Thematisierung vom Verhältnis zwischen Sexualität und Behinderung bleibt der Film aber nicht dort stehen, die Gefahr von sexueller Gewalt gegenüber Menschen mit Behinderungen aufzubringen und damit diese als Opfer sichtbar zu machen. Denn der Film schafft es in diesem Kontext gleichzeitig, Menschen mit Behinderungen keinesfalls lediglich als sexuelle Opfer darzustellen und auf eine solche Rolle zu reduzieren. Vielmehr ist es Selina selbst, die im Verlauf des Films eine sexuelle Lust und ein sexuelles Bedürfnis gegenüber Gordon äußert. Damit macht sie darauf aufmerksam, dass sie als Frau, unabhängig von ihrer Blindheit, sexuelle Bedürfnisse entwickelt, die ihr als stigmatisierte behinderte Frau gesellschaftlich abgesprochen werden. Die Strategie des Films, gängige stereotype Klischees zu reproduzieren und diese jedoch auch an einigen Stellen immer wieder spielerisch zu durchqueren, lässt sich auch hinsichtlich der Darstellung stereotyper männlicher und weiblicher Codierungen identifizieren. Bereits die Grundkonstellation und Charakterisierung der Protagonisten ist als deutliche Reproduzierung üblicher Geschlechtercharakterisierungen zu verstehen: großer, starker gebildeter Mann hilft armer, kleinen, ungebildeten, hilflosen Frau. Jedoch wird diese klischeehafte Darstellung immer wieder durchbrochen: so ist es beispielsweise die weibliche Protagonistin, die ein sexuelles Bedürfnis äußert. Zudem darf nicht vergessen werden, dass die Konstellation, in der die Geschlechter hier quasi exemplarisch agieren, immer noch hinsichtlich ihrer zusätzlichen gesellschaftlichen Stigmata und der zeitlichen Umstände zu berücksichtigen ist. Im Film sind durchaus einige stereotype Merkmale von Geschlechterbildern auszumachen, wie die starke Ausleuchtung von Selina, die dadurch an einigen Stellen engelsgleich in Erscheinung tritt, während Gordon hingegen häufig in Untersicht von der Kamera eingefangen wird, wodurch seine körperliche Größe und Überlegenheit gegenüber Selina auch bildlich unterstützt wird. Doch dadurch, dass beide auf unterschiedliche Weise seitens der Gesellschaft stigmatisiert sind, stehen diese als für uns aus heutiger Sicht auszumachende konventionelle Geschlechtercodierungen nicht bloß als solche zur Disposition, werden sie schließlich durch die weiteren Stigmata teilweise auch kritisch mit verhandelt. Die Kussszene der beiden zeigt schließlich für die damalige Zeit ein bemerkenswertes und aufsehenerregendes Bild, da sich eine ‚Weiße‘ und ein ‚Schwarzer‘ das erste Mal in der Filmgeschichte in einem Close-up küssen. Dieser wichtige Filmmoment wird dabei allerdings nicht ästhetisch ‚ausgeschlachtet‘, denn diese Szene ist nicht überbordend und kommt nicht als inszeniert wirkend daher, vielmehr sehen wir das Bild zweier Menschen, die sich küssen, was sich als vollkommen selbstverständlich aus der Narration heraus entwickelt hat (Abb. 3). Die Tatsache, dass diese Szene in einigen Kinos der Südstaaten der USA zeitweise nicht gezeigt werden durfte, unterstreicht, dass Guy Green mit seinem Film tatsächlich in einen heftig umkämpften Diskurs eingestiegen ist. Greens Einschätzung und Sicht-
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barmachung einer Schwarz-Weiß-denkenden, rassistischen und diskriminierenden Gesellschaft spiegeln sich insofern in der damaligen Rezeption wider.
Abb. 3 Der erste Kuss zwischen Gordon und Selina
VI. T OLERANCE INNERHALB EINER G ESELLSCHAFT AUSLEBEN
RASSISTISCHEN
Was in A Patch of Blue auf bemerkenswerte Art und Weise dargestellt wird, ist das tatsächliche (Aus-)Leben des tolerance-Begriffs, wie er von Gordon als sein Lieblingswort definiert wird: „It means you don’t knock your neighbour because he thinks or looks different than you“. Das Prinzip, wie Gordon tolerance definiert, ist völlig neu für Selina und kann als Grundlage aufgefasst werden, auf der sich die beiden näher kennen lernen und miteinander umgehen. Es geht in der Darstellung der Begegnung zwischen Selina und Gordon nicht allein um die Darstellung zweier Minderheiten oder dem Agieren zwischen ihnen. Vielmehr geht es um die Darstellung einer Gegenseitigkeit und einem Aufeinander-bezogen-Sein zwischen den beiden. Sie durchleben durch diese Begegnung eine Entwicklung, die nicht bloß als eine Art Angleichung an die Mehrheitsgesellschaft funktioniert, sondern als Selbstreflexion über das Eigene in Bezug auf die Begegnung mit dem Anderen. Sie zeigen sich gegenseitig ihre Lebensräume und -realitäten. Gordon und Selina werden sich im Laufe der Handlung bewusst, dass sie beide auf unterschiedliche Art und Weise gesellschaftlich stigmatisiert werden. Diese Stigmatisierungen sind in beiden Fällen durch die Außenwahrnehmung der Gesellschaft geprägt. Beide werden aufgrund von Äußerlichkeiten kategorisiert und in gesellschaftliche Definitionen mit festgeschriebenen Stigmata eingeordnet. Dabei werden von dem äußerlich
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Sichtbaren vermeintliche Rückschlüsse über ihr Inneres vorgenommen. Das von der Gesellschaft an sie herangetragene jeweils als Different- und Abweichend-Markierte negieren beide gegenseitig und eröffnen somit einen ganz neuen Raum zum Hinterfragen von gesellschaftlichen und politischen Zuschreibungen. Interessant ist, inwiefern die beiden mit ihrer Begegnung und im Laufe der Geschehnisse den Konstruktionscharakter ihrer Stigmata und Kategorisierungen herausstellen. Bei Selina und Gordon findet eine Form von Emanzipation von einerseits physischen Einschränkungen und anderseits gesellschaftlichen Stigmatisierungen und den damit einhergehenden Beschränkungen statt. Beide sehen gegenseitig nicht das in der anderen Person, was die Gesellschaft jeweils in ihnen (sozusagen als Stellvertreter für Blinde/Behinderte und als Stellvertreter für ‚Schwarze‘) sieht. Dadurch, dass beide in sich gegenseitig darüber hinaus etwas – und das ist entscheidend – nicht sehen, sondern in dem anderen wahrnehmen und annehmen, stellen sie die stereotypen und rein von äußerlichen Merkmalen geprägten gesellschaftlichen Stigmatisierungsmuster in Frage. Selina wird im Film als blinde Frau eingeführt, die mit ihrer sehr kindlich anmutenden Art, zunächst naiv daherkommt. Allerdings wird diese Naivität nicht nur negativ dargestellt, denn sie besitzt damit vielmehr die Möglichkeit, die gesellschaftlich normierte Starrheit auszublenden. Aufgrund ihrer Blindheit hat sie diese Gesellschaft tatsächlich nicht sichtbar als normativen Maßstab vor Augen, somit ist sie quasi freier und in gewisser Hinsicht auch selbstbestimmter, was ihr Urteil über andere Menschen betrifft. Durch die Begegnung mit Selina wird Gordon zum Nachdenken angeregt. In einer Szene gerät Gordon mit seinem Bruder Marc in einen heftigen Streit über Selina. Marc, der diese Beziehung grundsätzlich in einen großen gesellschaftlichen ‚Rassen‘- und Diskriminierungsdiskurs einordnet und Selina pars pro toto als die ‚Weiße‘ auffasst, kann und will nicht nachvollziehen, warum Gordon überhaupt mit Selina Kontakt hat, ihr Dinge beibringt und ihr sogar helfen will, eine Schule zu finden. Er fordert: „Let whitey educate his women”. Doch in dieser Streitsituation wird deutlich, dass Gordons Selbstbewusstsein gestärkt ist und er für sich verstanden hat: hier handelt es sich nicht um eine grundsätzliche Rassendiskussion, für ihn ist diese Angelegenheit höchst subjektiv und individuell, für ihn steht Selina nicht für die ‚Weißen‘ schlechthin. Genauso wenig wie er für sie die ‚Schwarzen‘ repräsentiert. Durch ihre Blindheit und ihr Nicht-Sehen seiner Hautfarbe zeigt sie ihm ein Sehen, das nicht von Äußerlichkeiten und gesellschaftlich genormter Wahrnehmung geprägt ist. Ihre von der Gesellschaft als Makel deklarierte Blindheit eröffnet somit auch ihm eine Sichtweise, fernab eines strikten Schwarz-Weiß-Denkens. Gordon sieht etwas Besonderes in Selina, etwas, was von der Gesamtgesellschaft in dieser Form nicht in ihr gesehen wird: eine junge Frau, mit vielen Fähigkeiten und einer interessanten Persönlichkeit. Ihre Blindheit ist quasi der Schlüssel
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zu einer anderen Art von Sichtweise, die fernab von optischen/äußerlichen Festschreibungen funktioniert.
Abb. 4 Gordon hilft Selina bei der Orientierung in der Öffentlichkeit Gordons Umgang mit ihr überrascht Selina, bringt auch sie zum Nachdenken und erweitert tatsächlich ihren Horizont und Handlungsradius. Ihr werden neue Möglichkeiten bewusst, wie sie sich bewegen und orientieren kann, Gordon verhilft ihr regelrecht zu einer neuen Orientierung (Abb. 4). Ihr wird nach und nach bewusst, dass es tatsächlich die Umgebung und die Menschen um sie herum sind, die sie ‚behindern‘ und sie zu einer ‚Behinderten‘ machen, und zwar in der Art und Weise wie sie mit ihr umgehen, sie behandeln, ausschließen und wahrnehmen. Sie merkt, dass es nicht ihr Körper an sich ist bzw. ihr Nicht-Sehen-Können, das ihr Leben einschränkt, sondern vielmehr der Umgang der Anderen mit ihrer Blindheit und deren Zuschreibungen wie Unmündigkeit, Naivität, Dummheit, Faulheit, Langsamkeit etc. Ihre Wut gegen diese Umgangsweisen und diese Einschränkungen kristallisiert sich besonders in dem Moment heraus, als sie alleine in den Park gehen will und zunächst selbstbewusst und schließlich jammernd an einer Ampel jemanden um Hilfe bittet, um über die Straße zu gelangen. Die Kommentare der Menschen um sie herum sind bezeichnend: als sie „Help me!“ ruft, fragt eine Frau sie daraufhin „Are you sick?“ und Selina erwidert „No, I am blind!“ Selina will sich nicht aufgrund ihrer Blindheit zurückziehen, geschweige denn sich als ‚krank‘ definieren lassen. Die Reaktionen der Mitmenschen fallen dann auch noch negativer aus, als ein Mann sie schließlich mahnt: „You have no right to be out alone!“ Zu Hause zurückgekehrt schreit sie und kann sich kaum fangen, denn ihr wird ihre Lage als blinde Frau mehr als bewusst, in der sie „No rights at all“ hat.
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VII. „I H AVE
A
D REAM ...“
In A Patch of Blue wird Diskriminierung gegenüber als ‚Schwarze‘ kategorisierte und mit bestimmten gesellschaftlichen Zuschreibungen versehene Menschen kritisiert und sichtbar gemacht, jedoch zugleich, und das ist für den Diskurs vorausschauend, wird hier auch auf die Diskriminierung gegenüber Menschen mit Beeinträchtigungen aufmerksam gemacht. Zentral dabei ist, dass tatsächlich sichtbar gemacht wird, inwiefern es die Gesellschaft ist, die diese verschiedenen Diskriminierungsformen diskursiv hervorbringt, aufrecht erhält und reproduziert. Trotz der neuen Bürgerrechte und dem Versuch, die so genannte ‚Rassen‘-trennung aufzuheben ist die US-amerikanische Gesellschaft, in der Gordon und Selina leben, rassistisch und diskriminierend. In vielen Szenen drehen sich Passanten nach den beiden um, schließlich verbalisiert die Reaktion und Wortwahl von Selinas Mutter ein zutiefst rassistisches Denken. Den Traum einer gleichberechtigten und toleranten Gesellschaft, von dem Martin Luther King in seiner Rede I have a dream... spricht, versuchen Selina und Gordon auf ganz individueller Ebene auszuleben. Im Streit mit seinem Bruder Marc sagt Gordon irgendwann: „Let’s not get into a political argument, this is a personal matter. [...] On race and politics, we don’t agree.“ Gordon wehrt sich also gegen Marcs Herangehensweise, diese Beziehung in einen gesamtgesellschaftlichen und politischen Zusammenhang zu bringen und Gordon damit auf ein grundsätzliches Problem, das unüberwindbar scheint, hinweisen zu wollen. Damit zeigt er den Versuch eines individuellen Weges auf, zwischenmenschliche Beziehungen auszuleben, fernab von politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen sowie Wirkweisen. In einer kleinen Szene, die man leicht übersehen kann, scheint ein Einverständnis und Übereinkommen zwischen Selina und Gordon stattzufinden, ein Moment, in dem sie quasi gegenseitig in ein gemeinsames Träumen und Zueinander einstimmen. Selina sitzt im Park, wartet auf Gordon und befürchtet, er könnte nicht kommen. Sie beginnt zu summen, als würde sie versuchen, sich damit Mut zu machen. Plötzlich hört Selina Gordons Pfeifen, mit dem er in ihr Summen einstimmt. Schließlich summen und pfeifen sie einen kurzen Augenblick zusammen die Melodie von folgendem Lied: Somewhere over the rainbow, way up high There's a land that I heard of, once in a lullaby Somewhere over the rainbow, skies are blue And the dreams that you dare to dream, really do come true.22
22 Over the Rainbow, Musik Harold Arlen, Text von Edgar Y. Harburg. Das Lied wurde für die Verfilmung von The Wizard of Oz (USA 1939, Regie: Victor Fleming) geschrieben.
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Selina und Gordon träumen zusammen summend von einer Welt, die fernab ihrer aktuellen Lebensrealität liegt. Das mag mitunter etwas pathetisch und kitschig anmuten, inszeniert wird jedoch eine sehr dezente Szene. Vielmehr wird hier deutlich, wie Selina und Gordon sich annähern, sich vertrauen und miteinander von anderen Welten träumen können. Sicherlich ist für diese Szene nicht umsonst ein Lied gewählt worden, das durch die Regenbogenmetaphorik des Textes Farbigkeit und den blauen Himmel thematisiert. Das Einzige was Selina nämlich noch an Farben erinnert ist „a patch of Blue“. Die Assoziation mit Farben eröffnet hier für beide die Möglichkeit zu träumen. Zudem wird mit diesem Lied auch an das Genre des Musicals angeknüpft, das sich gerade darin auszeichnet, in Musikeinlagen Träume zu visualisieren. Am Ende ist es beiden gelungen, sich nicht von den Menschen um sie herum abhalten zu lassen einen eigenen Weg zu gehen. Selina ist vor ihrer Mutter geflohen und Gordon hat sich entgegen der massiven Einwände seines Bruders um eine Schule für Selina bemüht. Bei ihrer Abfahrt vergisst Selina die kleine Musikbox. Möglicherweise ist dies ein Zeichen, dass sie sich bald wiedersehen.23 So bleibt schließlich die Zukunft der beiden und ihr Wiedersehen unklar. Gewiss ist jedoch, dass sich durch die Begegnung zwischen ihnen für Selina und Gordon auf sehr unterschiedliche Art und Weise die Wahrnehmungsräume und Lebensrealitäten erweitert haben.
23 Dies meint jedenfalls der Regisseur Guy Green in seinem Kommentar zum Film. Dies scheint auch durchaus plausibel zu sein, besonders im Hinblick auf das Gespräch, was beide vor der Abfahrt führen.
Nicht-Sehen als Bildereignis Schlaf, Traum und Blindheit in Luis Buñuels Filmkunst D AGMAR VON H OFF
Luis Buñuel (1900-1983), einer der bedeutendsten spanischen Filmregisseure, hat die surrealistische Kinosprache, die Anlass für vielfältige psychoanalytische Deutungen sein sollte, mit erfunden. Als Avantgardist, radikaler Kritiker der Gesellschaft und visionärer Traumspezialist hat er in zahlreichen kinematographischen Beispielen eine unvergleichliche Filmkunst geschaffen, die zugleich existenziell, rebellisch und schön ist. Ein kreatives Œuvre also, dessen Spezifik darin besteht, Traditionen in Neues zu überführen. Dabei gelingt es Buñuel, in seinen Filmen Widerstandspotentiale gegen die Zwänge eines Kapitalismus und einer bürgerlichen Gesellschaft aufscheinen zu lassen. Denn er thematisiert in seinen kinematographischen Transformationen Bereiche wie Schlafen, Träume und Visionen, die auf eine radikal andere Zeitdimension verweisen, die sich konträr zum beschleunigten nutzbringenden alltäglichen Leben verhält. Insofern kann man davon sprechen, dass Buñuels Filmen eine geradezu seismographische Kraft innewohnt, wenn sie letztlich die Zeit des Schlafens als letzte produktive Ressource erkennen, in der von einer besseren Zukunft geträumt werden kann und insofern vorverweisen auf den 24/7-Kapitalismus unserer Tage, wie ihn der Kunsthistoriker Jonathan Crary behauptet. Crary konstatiert mit dem Zahlenspiel 24/7 die Vorstellung einer Welt, in der die rhythmische Periodisierung des menschlichen Lebens durch Tag/Nacht, Wachen/Schlafen und Arbeit/Träumen aufgehoben wird. Denn die Prämisse 24/7 verweist auf das Ideal einer Sieben-Tage-Woche im 24-Stundentakt.1 In einer solchen sozialen Welt könnten Schlaf und Traum durch ein mechanisches Modell des perfekten Funktionierens des Menschen substituiert werden. Dies wäre zugleich das Ende des Schlafes und damit die Aufgabe eines bislang nicht kontrollierbaren Rückzugsortes. Während Crary die ersten Anzeichen einer solchen Welt im pausenlosen Einkaufen, Arbeiten und Kommunizieren diagnostiziert und darüber hinaus auf wissenschaftliche Untersuchungsreihen und militärische Planungsstrategien
1
Vgl. Jonathan Crary: 24/7. Schlaflos im Spätkapitalismus. Berlin: Wagenbach 2013, S. 14f.
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verweist,2 die diese Vorstellung 24/7 als ein zukünftiges zu entwickelndes Modell verfolgen, ist diese Dimension einer drohenden Auslöschung des Schlafes in Buñuels Filmen nur implizit angedeutet. Denn hier ist es gerade der nächtliche Schlaf mit seinem kreativen Bereich des Traums, der als Auslöser für die Bildkomposition, den Rhythmus und die Handlung gelten kann. Der Traum ist dabei aber nicht als Gegensatz zur Wirklichkeit zu denken, sondern der Film, der nach den Prinzipien der Traumarbeit organisiert ist, lässt Realität und Traumwelten ineinanderfallen.3 Die Intention von Buñuels Filmen besteht darin, Alltag, Nützlichkeit und Gewinnstreben zu verwerfen und mittels einer rebellischen kinematographischen Ausdrucksweise einen a-logischen Erzählfluss, also eine ‚wilde Art‘ des Sehens zu kreieren. Dabei wird in Bezug auf Buñuels poetische Filmsprache deutlich, dass der Schlaf mit all seinen Traumelementen als eine Nische für ein Wünschen und ein Begehren fungiert, was eben nicht einsehbar und damit disziplinierbar ist, weshalb diesem Bereich des Rückzugs eine utopische Dimension zugewiesen werden kann. Nichts anderes gilt für Sigmund Freuds Entdeckung des Unbewussten und seiner konsequenten Aufwertung des nächtlichen Traums, der demnach als ein Schlüssel für ein menschliches Selbstverstehen zu begreifen ist. Denn es ist dies die Überlegung, dass die Rationalität des Bewusstseins von seinem irrationalen Anderem her zu denken ist. Insofern konstatiert Freud in seiner Abhandlung Die Traumdeutung (1900), dass der Träumer, der dem nächtlichen Geschehen, dem manifesten Trauminhalt, verständnislos gegenübersteht, offenbar ein Verlangen hat, seinen Traum zu deuten, weshalb der latente Trauminhalt – also all die Assoziationen, Gedanken und Einfälle des Träumers – im Mittelpunkt der Analyse stehen. Diese Kryptik des Traums ist es nun, die für die kinematographische Phantasie so inspirierend ist.4 Freud selbst hat ebenfalls der Phantasie einen Freiraum zugesprochen, wenn er konstatiert, dass selbst in dem „bestgedeuteten Traum“ „oft eine Stelle im Dunkeln“ gelassen wird. Und weiter führt er aus: „Dies ist dann der Nabel des Traums, die Stelle, an der er dem Unerkannten aufsitzt.“5 Insofern erscheint der Film als das geeignete mediale Gefüge, in dem diese verwirrten Traumgedanken in eine ästhetische Traumform transformiert werden. Entscheidend dabei
2
Vgl. ebd., S. 10.
3
Peter Weiss spricht in Bezug auf Buñuels Film Un chien andalou (1929) davon, dass „Traum und Wirklichkeit“ „eins“ sind. Vgl. Peter Weiss: Avantgarde Film. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1995, S. 40.
4
Vgl. Dagmar von Hoff: „Träume zu verkaufen“. Hans Richters filmische Reflexion der literarischen Avantgarde. In: Zeitschrift für Germanistik, Nr. 1 (2008), S. 133-146, hier S. 136.
5
Sigmund Freud: Die Traumdeutung. In: Ders.: Studienausgabe. Bd. II., hrsg. v. Alexander Mitscherlich u. a., Frankfurt a. M.: Fischer 1972, S. 503.
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ist, dass der Kinematographie eine dem Traum analoge Wirkung zugesprochen werden kann,6 die letztlich aber darin nicht aufgeht, sondern diese überschreitet.
P OETISCHE T RAUMRHETORIK Als Paradigmen poetischer Traumrhetorik gelten die beiden von Luis Buñuel und Salvador Dalí realisierten surrealistischen Filme Un chien andalou (F 1928) und L’age d’or (F 1930). Und so wie das Geträumte selbst als Initial und Ausgangspunkt für die kinematographische Phantasie in Un chien andalou von Buñuel selbst angegeben wird,7 ist es die nächtliche Dunkelheit mit ihren Gestalten einer Traumwelt, die die ästhetische Subversion markiert. In seiner Autobiographie von 1982 hat Buñuel diese Bedeutung des Träumens folgendermaßen zum Ausdruck gebracht: Wenn mir gesagt würde: Du hast noch zwanzig Jahre zu leben, was wirst du anfangen mit den vierundzwanzig Stunden jedes Tages, der dir bleibt?, so würde ich antworten: Gebt mir zwei Stunden aktiven Lebens und den Rest zum Träumen [...].8
Diese Liebe zum Träumen spiegelt sich auch in Buñuels Filmkunst wider und findet sich geradezu idealtypisch in seinen, mit dem Maler Salvador Dalí realisierten, beiden surrealistischen Filmen Un chien andalou und L’age d’or umgesetzt. Hier geht es Buñuel um die Erfahrung einer träumerischen Authentizität, die in einem inneren Bilderlebnis begründet liegt. Diese innere phantasmatische Wahrhaftigkeit steht dabei einer routinierten, gelangweilten, oberflächlichen Welt gegenüber, die es einzureißen und zu zerstören gilt. Insofern ist es nur konsequent, dass Buñuel schon in seinem ersten Film Un chien andalou eine Schockmontage kreiert, die Kinogeschichte machen sollte.9 In der entscheidenden Szene durchschneidet ein
6
Vgl. u. a. Matthias Brütsch: Dream screen? Die Film/Traum-Analogie im theoriegeschichtlichen Kontext. In: Winfried Pauleit, Christine Rüffer, Karl-Heinz Schmid, Alfred Tews (Hrsg.): Das Kino träumt. Projektionen. Imaginationen. Vision. Berlin: Bertz + Fischer 2009, S. 20-49, hier S. 20.
7
Vgl. Luis Buñuel: Mein letzter Seufzer. Erinnerungen. Berlin: Alexander 2004, S. 147.
8
Ebd., S. 132.
9
Vgl. u. a. Uwe M. Schneede: Surrealistische Filme – Das Prinzip der Schockmontage. In: Peter Bürger (Hrsg.): Surrealismus. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1982, S. 313-322, hier S. 315 und Uwe Scheele: „El obispo podrido.“ Buñuels SchockÄsthetik zwischen Hyperrealismus und innerer Bildwelt. In: Ursula Link-Heer, Volker Roloff (Hrsg.): Luis Buñuel. Film – Literatur – Intermedialität. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1994, S. 145-158, hier S. 146.
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Mann, übrigens von Buñuel selbst gespielt, einer jungen Frau mit einem vorher geschärften Rasiermesser das weit geöffnete linke Auge. Diese Szene ist als Schockverfahren in die Filmgeschichte eingegangen und verweist auf einer weiteren Ebene auf die Kinosituation selbst, in der der Zuschauer im dunklen Raum sitzt und der Projektion einer irrationalen Geschichte ausgesetzt ist und zu folgen hat. Der Schnitt durchs Auge ist zudem eng verbunden mit dem Moment einer Traumatisierung, der ohne weiteres mit dem Akt der Amputation, wenn nicht sogar Kastration, verglichen werden kann. Denn der Angriff auf den Augapfel ist existenziell grundiert, bedeutet er doch vorerst den Verlust einer lustvollen Weltsicht. Insofern könnte man davon sprechen, dass diese gewalttätige Szene mit dem Auslöschen des Augenlichts auf ein Blindwerden verweist. Zugleich ist sie aber auch als ein Übergang und als eine Passage zu verstehen, in der in einer Art „Dämmerzone“10 nach neuen unverbrauchten Bildern gesucht wird. Damit ist gemeint, dass ein neuartiges Sehen vom Anderen her kommt und auf Blick- oder Gedankeneinfällen beruht, die einem zufallen oder ins Auge springen. Voraussetzung dafür ist, wie Bernhard Waldenfels in Bezug auf Maurice Merleau-Ponty ausführt, dass die Blindheit zum Sehen selbst gehört, wie das Schweigen zur Rede: „Die Blindheit von der hier die Rede ist, bedeutet keinen bloßen Mangel, kein bloßes Nichtsehen; sie gleicht vielmehr dem Schweigen, das den Hintergrund der Rede bildet.“11 Und so wie die Rede das Schweigen bedarf, bildet Blindheit die Voraussetzung für das Sehen. Diese tiefe Beunruhigung darüber, was das Sehen und den Blick ausmacht, findet auch seine Entsprechung in der Physiologie. Dabei ist bestimmend, dass der Blick, der Strahl des Sehens, der aus dem Auge hervordringt, physiologisch gesehen aus einem blinden Fleck hervorgeht, womit „jene Eintrittsstelle des Sehnervs ins Auge“ gemeint ist, „an der Sehzellen fehlen“.12 Dieses punctum caecum schreibt sich nun dem Blickereignis ein, denn „der fungierende Blick bleibt vielmehr sich selbst unzugänglich.“13 Bei Ludwig Wittgenstein heißt es dann konsequent: „Aber das Auge siehst du wirklich nicht.“14
10 Ein Begriff, den Bernhard Waldenfels für den Akt der Kreation verwendet. Bernhard Waldenfels: Sinnesschwellen. Studie zur Phänomenologie des Fremden, Bd. 3. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1999, S. 126. 11 Ebd., S. 127. 12 Ebd., S. 126. 13 Ebd., S. 127. 14 Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1963, S. 91.
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B LINDHEIT
Der Traum nun, der nach Merleau-Ponty „nicht beobachtbar ist und bei genauerem Hinsehen fast nur aus Lücken besteht“15, ist es, der den Ausgangspunkt für die ästhetische Kinematographie Buñuels bildet. Nicht-Sehen und Blindheit sind dabei die notwendigen Voraussetzungen, die sich dementsprechend durchgängig in seinen Filmen reflektiert finden und sowohl in den hier genannten früheren surrealistischen Filmen als auch in seinem späteren kinematographischen Werk, wie zum Beispiel in La voie lactée (F/D/I 1969), übrigens ebenfalls von surrealistischen Impulsen durchsetzt, wieder auftauchen. Überhaupt kann man feststellen, dass das Thema Blindheit Buñuels Film-Œuvre durchzieht. Neben dem gewaltigen Schock der Blendung – wie in Un chien andalou in Szene gesetzt – existiert eine weitere interessante filmische Variante einer Blindheit, die über einen reflexiven metaphorischen Charakter verfügt und auf gesellschaftliche Verblendungszusammenhänge verweist. Denn in einigen Filmen Buñuels – hierzu gehören El ángel exterminador (MEX 1962), Le fantôme de la liberté (I/F 1974), aber in gewisser Weise auch Belle de jour (F 1967) und La voie lactée – können die Figuren das Offensichtliche nicht sehen, also das nicht erkennen, was der Film selbst sichtbar macht. In diesem Zusammenhang ließe sich ohne weiteres von einem Verblendungsmechanismus im Werk Buñuels sprechen. Darüber hinaus thematisiert Buñuel aber auch den Blinden selbst als Inbegriff der Versehrtheit. Blinde Figuren geistern durch L’age d’or, Los olvidados (MEX 1950), aber auch durch La voie lactée. In diesen Filmen stellt Buñuel die Blinden in ihrem Verlust an der Teilhabe von Welterfassung aus; er zeigt, wie sie betteln müssen, ihnen Gewalt angetan wird, aber auch, wie sie selbst anderen Leid antun. Diese Art der Blindheit erscheint hier also nicht als Dignität, sondern die Körperbehinderung wird als Ausschluss aus der Gesellschaft realistisch sichtbar gemacht. Insofern dekonstruiert Buñuel tradierte Bilder, die Blindheit als Auszeichnung behandeln und dem Blinden – wie im Fall des Teiresias in den griechischen Tragödien König Ödipus und Antigone des Sophokles – eine gewaltige Seherkraft zugestehen. Dass der blinde Seher eine besondere herausgehobene Bedeutung in der Tragödie der Antike hat, darauf ist immer wieder verwiesen worden,16 bisher jedoch ist weniger festgehalten worden, welche besondere Positionierung dem blinden Seher jenseits des tragischen Geschehens zukommt. Insofern ist es wichtig festzuhalten, dass die Funktion der weissagenden Reden des Teiresias vor allem in einer „Zäsur
15 Maurice Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare. München: Fink 1986, S. 20. 16 Vgl. auch Albert Esser: Das Antlitz der Blindheit in der Antike. Die kulturellen und medizinhistorischen Ausstrahlungen des Blindenproblems in den antiken Quellen. Leiden: E. J. Brill 1961, S. 101.
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des Sehens“17 besteht. Hierauf hat Hans-Thies Lehmann in Bezug auf Friedrich Hölderlins Theorie der Tragödie verwiesen, wenn er das Sehen als Begreifen, Erkennen und Verstehen vorstellt, was jedoch konsequent durchkreuzt wird, sodass man davon sprechen kann, dass der blinde Seher „ein anderes Wissen verkörpert, das nicht vom Jetzt und Heute her Sinn ergibt.“18 Vielmehr ist der Blinde „ein ZuSeher“19, also geradezu in der Position des Zuschauers. Im Hinblick auf Buñuels Kino könnte man davon sprechen, dass die Figur des Blinden in der Lage ist, auf das Außen zu verweisen, also das eigentliche narrative Konfliktgeschehen zu verlassen. Der blinde Seher setzt sich über Grenzen hinweg und überträgt seinen Impuls auf den Kinozuschauer und macht so unter anderem soziale Ungerechtigkeiten sichtbar. Der Blinde und Blindheit überhaupt haben also eine besondere Bedeutung im kinematographischen Werk Buñuels. Das Fokussieren Buñuels auf diese Thematik ist in der Forschungsliteratur erkannt worden und es ist in diesem Zusammenhang sogar von einer Obsession Buñuels gesprochen worden, „Körperbehinderungen“20 – seien es Blinde oder Menschen mit amputierten Gliedmaßen – in Szene zu setzen. Dass die Bedeutung der Blindheit aber auch metaphorisch verwandt wird, wenn etwa gesellschaftliche Verblendungsmechanismen benannt werden, die in einer „wachsenden Blindheit gegenüber der inneren Erfahrung“21 zum Ausdruck kommen, stellt eine weitere wichtige Facette der kinematographischen Poetik Buñuels dar. Die tragische Wucht aber, die bisher noch die Zäsur des Sehens bedeutet, wie sie Teiresias eigen ist, ist in ihrer Wirkungsmacht nicht beschrieben worden. Denn das Besondere ist, dass mit der imaginären Zeitdimension in Buñuels Filmen auf unterschiedlicher Ebene, sei es in der inszenierten Blendung des Auges, der metaphorisch zu verstehenden gesellschaftlichen Verblendung sowie den profanen blinden Figuren, letztlich die Dimension der Zeit durchstoßen wird und ein anderer zeitlicher Zyklus sichtbar wird. Es ist dies nicht etwa nur, dass ein Verlust eines Anblicks zu konstatieren ist, sondern es findet sich etwas inszeniert, das einem
17 Hans-Thies Lehmann: Tragödie und dramatisches Theater. Berlin: Alexander 2013, S. 199. 18 Ebd., S. 200. 19 Ebd., S. 199. 20 Bill Krohn, Paul Duncan (Hrsg.): Luis Buñuel. Eine Chimäre 1900-1983. Köln: Taschen 2005, S. 15. 21 Eugen Drewermann: Über Luis Buñuel. In: Yasha David (Hrsg.): „¿ Buñuel! Auge des Jahrhunderts.“ Anlässlich der Ausstellung und der Film-Retrospektive „¿ Buñuel! Auge des Jahrhunderts“ vom 4. Februar bis 24. April 1994 in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland in Bonn. München: Schirmer-Mosel 1994, S. 27-37, hier S. 29.
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fremden Register angehört. Es ist der Versuch Buñuels, mittels eines in seinem Werk sich immer wiederholenden Themas, ein ästhetisches Traumkonzept zu erarbeiten, dem eine eigene poetische Kraft zugesprochen werden kann. Dabei entstehen kinematographische Visionen und Halluzinationen, die mit einer Differenzierung der Zeitform einhergehen. Der Traum erscheint dann wie eine Manifestation spontaner gesellschaftlicher Subjektivität, die sich eben nicht mehr an eine individuelle Figur bindet, sondern wie Gilles Deleuze behauptet, eine Art „Ursprungswelt“ in Szene setzt, die sowohl auf den Weltanfang als auch auf das Ende zielt. Zu diesem Bereich einer neuen Zeit gehört Buñuels Film Los olvidados, in dem ein blinder Straßenmusiker durch den Film wandert; ja, sogar am Ende zu triumphieren scheint, während die Leiche des Straßenjungen Pedro auf einer Müllhalde landet: „Unaufhörlich treten die Milieus aus der Ursprungswelt heraus und kehren dorthin zurück; [...].“22 Die radikale Inszenierung des sozialen Elends und der Armut in Buñuels Film macht das Eingeschlossen-Sein in einer Welt deutlich, dass allein durch die Sphäre einer rebellischen Anarchie, die vom Traumgeschehen her gespeist wird, durchbrochen werden kann.
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DURCH DAS
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Der Traum lehrt, „daß man das Sehen verlernen muß“24, damit das Unsichtbare, durch das, was man sieht, hindurch strahlen kann. Das Sehen als Verlust des Anblicks ist gleichwohl die tragische Voraussetzung für das Auftreten von Teiresias, der Schreckliches verkündet, aber auch für das surrealistische Initial, in dem die Zerstörung des Sehorgans darauf zielt, die physische und psychische Instanz des Zuschauers anzugreifen; ihn also nachhaltig zu traumatisieren. Mit einer radikalen Szene leitet nun Buñuels Film Un chien andalou diesen Vorgang einer neuen intensiven schockhaften Qualität ein.
Abb. 1 Buchcover: Amos Vogel: Film als subversive Kunst23
22 Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild. Kino 1. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 174. 23 Amos Vogel: Film als subversive Kunst. Kino wider die Tabus – von Eisenstein bis Kubrick. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 2000. 24 Jean-Bertrand Pontalis: Aus dem Blick verlieren. Im Horizont der Psychoanalyse. München: P. Kirchheim 1991, S. 306.
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Abb. 2 George Méliès: Le voyage dans la lune (1902) Immer wieder ist diese Szene des Schnitts durch das Auge beschrieben worden, wobei das Besondere dieser parallel montierten Szene darin besteht, dass sie das Bild der Wolke, das den Mond durchschneidet, durch ein anderes Bild zu substituieren scheint. Es ist dies das Bild einer Rasierklinge, die ein Auge durchtrennt (Vgl. Abb. 1). Im eigentlichen Sinne geht es hier aber nicht nur um eine metaphorische Ersetzung, sondern eher darum, dass sich die Bilder gegenseitig aufladen und eine ungewohnte Dynamik entfalten, weshalb Deleuze auch vom Prinzip des Aktualisierens und Werdens in Bezug auf diese Szene spricht.25 Der fließende Übergang, der Matchcut, bedient sich differierender Bedeutungsebenen – so verweist er auf einen Sprachfundus, den Stuart Liebman analysiert hat und der von idiomatischen Ausdrücken von ‚lune de miel‘ = ‚Flitterwochen‘, über ‚être dans la lune‘ = ‚verträumt/wie in Trance sein‘ bis zu ‚avoir ses lunes‘ = ‚Launen haben‘ reicht.26 Geor25 Vgl. Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino 2. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991, S. 81. 26 Vgl. Andreas Rost: Frustrierte Traumlust. Freuds Traumdeutung und die Bilderseligkeit des Surrealismus. In: Kristina Japsers, Wolf Unterberger (Hrsg.): Kino im Kopf. Psychologie und Film seit Sigmund Freud. Begleitbuch anlässlich der Ausstellung der Deutschen Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen. Berlin: Bertz + Fischer 2006, S. 91-99, hier S. 95. Rost bezieht sich auf: Stuart Liebman: Un chien andalou: The Talking Cure. In: Rudolf E. Kuenzli: Dada and Surrealist Film. New York: Willis Locker & Owens 1987, S. 143-158, hier S. 146 und 148.
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ges Bataille hat zudem auf die erotische und sexuelle Komponente hingewiesen, wenn er in seiner Lektüre des Films „das Auge mit der Scheide“ verbindet und insofern den Schnitt „durch das ungeschützte, strahlende Auge einer jungen und charmanten Frau“27 letztlich als eine Verletzung des weiblichen Geschlechts liest.28 Zugleich ist der intertextuelle Rückbezug auf George Méliès’ Le voyage dans la lune (F 1902) zu nennen, in dem ein mit menschlichen Gesichtszügen dargestellter Mond von einer von der Erde abgefeuerten Rakete verletzt wird. Denn das rechte Auge des Mondgesichts wird durchbohrt (Abb. 2). Die Schockmontage, der Schnitt durchs Auge, ist von so gut wie allen bekannten Filmwissenschaftlern, aber auch Filmautoren, beschrieben worden und hat Eingang in sämtlichen Lexika der Kinematographie gefunden. Das Kino als magischer Ort, der Film als subversive Kunstform haben von diesem Schnitt durchs Auge geradezu ihre Legitimation erfahren. Sei es der Filmwissenschaftler Amos Vogel (Vgl. Abb. 1), u. a. Gründer von Cinema 16, dem wichtigsten Filmclub der USA, aber auch der Schriftsteller und Filmemacher Peter Weiss haben diese Szene zum Ausgangspunkt ihrer filmischen Reflexion erklärt. Peter Weiss formuliert die Auswirkungen folgendermaßen: „Unser Inneres gerät ins Wanken.“29 Das Besondere also an der Verkettung der Bilder, wie sie Buñuel und Dalí gestalten, besteht darin, dass sie zwar inspiriert von Freuds Konzept der Traumgedanken sind, jedoch eine Analogie zum Traum künstlerisch überschreiten, wenn parodistische und ironische Elemente einer rebellischen Poetik hinzukommen.
B ÜRGERLICHE V ERBLENDUNGSMECHANISMEN Buñuels Le fantôme de la liberté knüpft unmittelbar an den filmischen Erfolg von Le charme discret de la bourgeoisie (F/E 1972) an, für den Buñuel einen Oscar erhalten hatte. Gezeichnet ist auch dieser Film von einem Erzählfluss der Assoziation und „Abschweifung“30, die einer traditionellen Entwicklungslogik nicht folgt und
27 Robert Desnos, Georges Bataille, Marcel Griaule: Das Auge. In: Yasha David (Hrsg.): Buñuel, S. 133-136, hier S. 134. 28 Vgl. dazu auch: Georges Bataille: Die Geschichte des Auges. In: Ders.: Das obszöne Werk. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1977, S. 5-53 und Javier Herrera: Oxymoronic Games in the Blink of an Eye, the Prologue to Un chien andalou as Precursor to the contemporary Poetics of Antivisuality and Blindness. In: Journal of interdisciplinary studies on film in Spanish, Nr. 1 (2009), S. 16-37, hier S. 33. 29 Peter Weiss: Avantgarde Film, S. 48. 30 Den Begriff, den Buñuel selbst für sein Film-Œuvre verwandt hat, führt Mathias Mertens ein. Mathias Mertens: Buñuel, Bachtin und der karnevaleske Film. Weimar: VDG 1999, S. 93.
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insofern im Kontrast zu einer konventionellen Narrativität steht, deren Prinzipien Nützlichkeit, Kausalität und Hierarchie in diesem Film aufgehoben werden. Dies wird vor allem auch deutlich in einer Episode des Films, die ohne weiteres als Inszenierung eines bürgerlichen Verblendungszusammenhangs gelesen werden kann. Wir sehen, wie die Eltern einer achtjährigen Tochter in die Schule gerufen werden, weil ihre Tochter angeblich verschwunden ist. Überraschenderweise sitzt sie aber auf einer Schulbank im Klassenraum. Allein für die handelnden Figuren des Films nicht sichtbar, ist ihre Präsenz für uns Zuschauer evident. Ihre Eltern gehen zur Gendarmerie, um eine Vermisstenanzeige aufzugeben. Dabei steht das Mädchen die ganze Zeit neben ihren Eltern (Abb. 3). Selbst der Polizist, der so tut, als existiere sie nicht, taxiert sie zugleich und entwirft quasi nach ihren äußeren Merkmalen das Suchbild. Diese Szene kann als absurd bezeichnet werden, steht doch das gesamte Verhaltensrepertoire von Schule, Eltern und Polizeiapparat im offensichtlichen Widerspruch zur Sichtbarkeit und Anwesenheit des Kindes. In diesem Diskurs wird das Mädchen zum Objekt degradiert, was einer kontrollierenden und maßregelnden Weltsicht entspricht.31
Abb. 3 Das nicht-sichtbare Mädchen in Buñuels Le fantôme de la liberté (1974) Noch deutlicher findet sich der Verblendungsmechanismus in Buñuels El ángel exterminador thematisiert. Dieser Film, der kurz auf Viridiana (MEX/E 1961) folgt, zeigt eine elegante, noble und elitäre Gesellschaft, die sich in einer Villa zusammenfindet. Bevor dieses Establishment sich versammelt, – und das ist entscheidend –, verlässt das Personal das Anwesen. Ja, es scheint, als würde die gesamte Dienerschaft vor dieser eingeladenen Gesellschaft flüchten. Die aristokratische
31 Vgl. ebd., S. 125.
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Gemeinschaft ist im Verlauf der Handlung also auf sich gestellt, wobei ein stetiger Verfallsprozess einsetzt. Die Personen, scheinbar von der Welt abgeschnitten, sehen keinen Ausweg aus ihrer Isolation. Denn die Gäste sind konfrontiert mit einer unsichtbaren Wand, die sie nicht durchdringen können. Sie sind blind für einen Ausweg aus einer selbst verschuldeten Situation, die von Gewalt, Qual und Verderben geprägt ist.32 Auch in Belle du jour wird Sehen und Blindheit ebenfalls gesellschaftlich-existenziell begriffen.33 Hier sind es die sadomasochistischen Phantasien der Heldin, gespielt von Catherine Deneuve, die sich in Assoziationsketten und Bildströmen ausformulieren. Als am Ende der Handlung ein Freier, der sich in die Protagonistin Séverine verliebt hat, auf ihren Ehemann schießt, der darüber blind wird und an den Rollstuhl gefesselt ist, findet eine seltsame Umkehrung statt. Die gesamte Story scheint plötzlich von Neuem zu beginnen. Der Ehemann erhebt sich aus seinem Rollstuhl, kann wieder sehen und beginnt mit seiner Frau eine Konversation, weshalb Deleuze auch davon spricht, dass „der Zusammenbruch des Ehemanns am Schluß statt und nicht statt[findet]“34.
B LINDE F IGUREN Luis Buñuel hat sich über die Blinden in seiner Autobiographie abfällig geäußert: „Blinde mag ich nicht besonders, wie übrigens die meisten Tauben“.35 Und weiter führt er aus: „Von all den Blinden der Welt mag ich einen besonders wenig, das ist Jorge Luis Borges.“36 Der argentinische blinde Dichter Borges ist für Buñuel der Inbegriff der Reaktion. Danach vertritt er eine magische rückwärts gewandte Welt, die keine demokratischen Prinzipien kennt. Diesen damit von Borges behaupteten elitären Kunstbegriff attackiert Buñuel, wenn er Blindheit hier nicht als besondere poetische Kraft versteht, der vielleicht sogar eine prophetische Kraft eigen ist, sondern diese Thematik profaniert.
32 Vgl. Michel Estève: On ‚The Exterminating Angel‘. No Exit from the Human Condition. In: Joan Mellen (Hrsg.): The World of Luis Buñuel. Essays in Criticism. New York/Oxford: University Press 1978, S. 244-254, hier S. 245. 33 Vgl. Andrea Sabbadini: Of Boxes, Peepholes and Other Perverse Objects. A Psychoanalytic Look at Luis Buñuel’s Belle de jour. In: William Evans, Isabel Santaolalla (Hrsg.): Luis Buñuel. New Readings. London: British Film Institute 2004, S. 117-127, hier S. 117. 34 Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino 2, S. 138. 35 Luis Buñuel: Mein letzter Seufzer, S. 323. 36 Ebd., S. 324.
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Abb. 4 Die vermeintliche Heilung des Blinden in Buñuels La voie lactée (1969) Auffallend dabei ist, dass Buñuel die von ihm inszenierten blinden Figuren keine Seherfähigkeit bzw. Dignität zuspricht. Dennoch nehmen die Blinden in seinem kinematographischen Werk eine zentrale Rolle ein, wenn sie geradezu leitmotivisch durch zahlreiche Filme hindurchwandern. Sie erscheinen als gesellschaftlich deklassiert und fristen ein Leben auf einer sozial niederen Stufe am Existenzminimum.37 Markiert Buñuel darüber in kritischer Weise gesellschaftliche Ausschlussmechanismen, fungiert der Blinde aber auch als Wendefigur, die sowohl Mitleid erregen als auch abstoßen kann. Eine solche mehrfach codierte blinde Figur findet sich in Buñuels sozialkritischem Film Los olvidados, in dem der blinde Bettler zwar von den jungen Männern verhöhnt und geschlagen wird, er aber wiederum selbst hintertrieben ist und zudem ein junges Mädchen sexuell bedrängt.38
37 Demgegenüber steht eine Darstellung des Blinden im Film, der eine eher erkenntniskritische Funktion zugesprochen werden kann. Hierzu gehört z.B. Michael Powells Peeping Tom (GB 1960): Vgl. Nils Reschke: Blick-Störungen: Sehen, Blindheit, Kino. In: Kenneth S. Calhoon, Eva Geulen, Claude Haas, Nils Reschke (Hrsg.): „Es trübt meine Auge sich in Glück und Licht“. Über den Blick in der Literatur. Berlin: Erich Schmidt 2010. S. 257-269, hier S. 259. 38 Vgl. u.a. Gwynne Edwards: The Discreet Art of Luis Buñuel. A reading of his films. London/New York: Marion Boyars 1982, S. 106. Vgl. auch die Ausführungen von Andrew G. Wood, der auf eine interessante Parallele zwischen dem blinden Mann und der gefallenen Frau, wie sie ebenfalls im Film thematisiert wird, hinweist: Vgl. Andrew G. Wood: Blind Men and Fallen Women: Notes on Modernity and Golden Age Mexican Cinema. In: Post Identity, Nr. 3/1 (2001), S. 11-24, hier S. 12.
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Abb. 5 Die Blinden bleiben blind in Buñuels La voie lactée (1969) Weitere blinde Figuren im filmischen Œuvre Buñuels treten hingegen in kürzeren Filmsequenzen auf. Etwa der Bettler, der in dem avantgardistischen Film L’age d’or von dem Protagonisten kurzerhand getreten wird oder aber die beiden Blinden, die in La voie lactée von einem Pseudo-Jesus scheinbar wieder sehend gemacht werden (Abb. 4). Das vermeintliche Wunder aber, die Heilung der Blinden,39 entpuppt sich als Täuschung, wenn die beiden Blinden auf dem Weg einen Graben zu überwinden haben, diesen aber nur per Tasten durch einen Stock passieren können (Abb. 5). Hierdurch erfahren wir, dass die Wunderheilung ein propagandistischer Betrug ist. Buñuel entlarvt darüber Gewalt und Obsession kirchlicher Dogmatik, sodass man mit Peter Weiss davon sprechen kann, dass Buñuel „in Christus den Triumph der Lüge“40 sieht. Damit ist eine weitere wichtige Dimension angesprochen. Es ist dies die Kritik an der Institution der Katholischen Kirche, von der Buñuels Film durchzogen ist. Der Film setzt sich insgesamt mit der Geschichte der Kirche auseinander, ihren Dogmen und der Häresie.41 Und er macht deutlich, dass
39 Vgl. dazu die Heilung eines Blinden in Betsaida durch Jesus: „Er nahm den Blinden bei der Hand, führte ihn vor das Dorf hinaus, bestrich seine Augen mit Speichel, legte ihm die Hände auf und fragte ihn: Siehst du etwas?“ (Markus 8,23). Neue Jerusalemer Bibel. Einheitsübersetzung. Mit dem Kommentar der Jerusalemer Bibel. Freiburg/Basel/Wien: Herder 2007, S. 1443. 40 Peter Weiss, Avantgarde-Film, S. 54. 41 Vgl. Hanjo Sauer, Monika Leisch-Kiesl: Religion und Ästhetik bei Ingmar Bergmann und Luis Buñuel. Frankfurt a. M.: Peter Lang 2005, S. 257.
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die Frage des Sehens gerade in der erkenntniskritischen Funktion ihre Bedeutung findet. Insofern kann Buñuels poetischer traumhafter Bildsprache ein utopisches Potential zugesprochen werden.
Die Gefährdung des Blicks Terence Youngs Thriller Wait until Dark (1967) A STRID H ACKEL
G RAUSAMKEITEN Wait until Dark beginnt mit einer Anspielung auf die berüchtigte Szene aus Un chien andalou: den Schnitt eines Rasiermessers durch einen Augapfel.1 Während der surrealistische Kurzfilm von Luis Buñuel durch seinen vermeintlichen Naturalismus schockiert(e), lässt der fast vierzig Jahre später entstandene US-amerikanische Thriller Wait until Dark keinen Zweifel an der Künstlichkeit der Bilder.2 Diagonal wird die von rotem Seidenstoff ausgefüllte Leinwand mit einem Messer durchtrennt; sie springt ellipsenförmig auseinander; zwei flinke Hände ziehen das weiße Futter heraus. Gekonnt füllt der alte Louis (eine Anspielung auf Luis Buñuel?) eine Spielzeugpuppe mit Heroinpäckchen und näht die Stelle wieder zu. Mit dem präzisen Schnitt schreibt sich Wait until dark in eine Tradition ein, an der wohl kein Spielfilm vorbeikommt, der sich mit dem Thema Blindheit auseinandersetzt. Dabei geht es im Kern um die stets aufs Neue zur Diskussion stehende potenzielle Grausamkeit, mit der eine Kunstform, die das Sehen par excellence repräsentiert, das Schicksal der Blinden ausbeutet, wie es Stefan Ripplinger mit Bezug auf Wait until dark formuliert hat.3 Der US-amerikanische Thriller Wait until Dark aus dem Jahr 1967 zählt zu den wichtigsten Filmen des Regisseurs Terence Young, der ansonsten für seine zuvor entstandenen James-Bond-Verfilmungen bekannt ist.4 Er basiert auf einem Theaterstück von Frederick Knott,5 der auch die Vorlage für Alfred Hitchcocks Thriller
1
Un chien andalou (F 1929, Regie: Luis Buñuel)
2
Wait until dark (USA 1967, Regie: Terence Young)
3
Vgl. Stefan Ripplinger: I can see now. Blindheit im Kino. Berlin: Verbrecher Verlag 2008, S. 53.
4
Dr. No (UK 1962, Regie: Terence Young), From Russia with Love (UK 1963, Regie: Terence Young), Thunderball (UK 1965, Regie:Terence Young)
5
Frederick Knott: Wait until dark. A Play. London: Samuel French 1964.
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Dial M for Murder schrieb.6 Die Verwandtschaft zur Theaterbühne ist vor allem an der Kammerspielatmosphäre zu spüren; die Handlung konzentriert sich weitgehend auf einen einzigen Raum: eine Souterrainwohnung in einer ruhigen Gegend New Yorks. Er versinnbildlicht die latente Abstiegsangst des Fotografen Sam Hendrix (Efrem Zimbalist Jr.), der seiner jungen Ehefrau nicht mehr als eine Wohnung im basement bieten kann – ein Umstand, den sie aufgrund ihrer Blindheit nicht als nachteilig empfindet. Die Wahl eines Handlungsraums, der auf prägnante Weise zwischen oben und unten, Licht und Dunkelheit steht, spiegelt ein Grundprinzip des Thrillers wider. Das Gebot des am ehesten als Angstlust zu übersetzenden thrills ist in Wait until dark in diesem Sinn ungleich stärker als jede ethische Verpflichtung.7 Der blinden und attraktiven Protagonistin Susy Hendrix (Audrey Hepburn) stellt der Film mit Harry Roat (Alan Arkin) einen skrupellosen Killer gegenüber, der grundlos tötet, quält und schikaniert. In Korrespondenz mit einem Genre, das seine Wirkmacht aus dem radikalen Dualismus zwischen der „Abwesenheit […] von Gefühlen auf der einen und [der] Überbetonung von Gefühlen auf der anderen […] Seite“8 bezieht, steht die Blindheit der Protagonistin hier von vornherein im Dienst der Viktimisierung. Blindheit fungiert in Youngs Film zweifellos als Metapher für die umfassende Hilflosigkeit eines prädestinierten Opfers. So steht außer Frage, dass Susy Hendrix ähnlich wie Rotkäppchen im Märchen im Grunde genommen „jedermann lieb“ haben müsste, „der sie nur ansah.“ Diese Ausgangssituation perpetuiert ein mit topischen Elementen wie der Figur der Täuschung und der in der Kulturgeschichte geschlechtsspezifisch kodierten ‚blinden Unschuld‘ verwobenes Bild einer auf ihren Sehverlust reduzierten Figur. Ausgehend von dieser konträren Machtkonstellation, deren diskriminierendes Potenzial bereits untersucht wurde,9 interessiert sich der Beitrag für die Darstellung der blinden Protagonistin im Spannungsfeld eines vom Film propagierten Ehe- und Frauenbilds einerseits und einer denkbaren Neuakzentuierung einzelner Aspekte im Zuge veränderter gesellschaftlicher Bedingungen andererseits. Gefragt wird nach
6
Dial M for Murder (USA 1954, Regie: Alfred Hitchcock)
7
Die deutsche Ausgabe von Michael Balints psychoanalytischer Studie Thrills and Regressions (1959) erschien unter dem Titel Angstlust und Regression, wodurch sich diese Übersetzung etabliert hat. Martin Balint: Angstlust und Regression. Stuttgart: KlettCotta 1991.
8
Georg Seeßlen: Filmwissen: Thriller. Grundlagen des populären Films. (E-Book.) Marburg: Schüren 2013, S. 20f.
9
Vgl. exemplarisch Johnson Cheu: Seeing Blindness on Screen: The Cinematic Gaze of Blind Female Protagonists. In: The Journal of Popular Culture, Vol. 42, No. 3 (2009), S. 480-496; Georgina Kleege: Blind Nightmares. In: dies.: Sight Unseen. New Haven, CT: Yale University Press 1999, S. 43-66.
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den impliziten Parallelen zwischen der Figur des autoritären Ehemanns, dem sich Susy Hendrix freiwillig unterwirft und der des sadistischen Killers, in dessen Machtbereich sie unfreiwillig gerät. Blindheit wird darauf aufbauend nicht nur als zentrale Zuschreibung an die Hauptfigur begriffen, sondern entsprechend vorherrschender Diskurse der Macht- und Wissensgenerierung als eine relative Einschränkung bzw. Lenkung eines spezifischen, das heißt erkennenden und in diesem Sinn auch subjektkonstituierenden Blicks. Wie das Nachdenken über Blindheit immer auch das Sehen einschließt, so ist umgekehrt der ‚blinde Fleck‘ dem Sehen inhärent. Als dezidiert zwischen blindness und insight zu verortete Denkfigur lässt sich diese wechselseitige Verschränkung in Wait until dark auf das leere Zentrum beziehen, das die mit Heroin präparierte Puppe markiert, auf das begrenzte Wissen der Figuren – und der Rezipient/innen, die an den ‚Blick‘ der Kamera gebunden sind – sowie auf das punctum caecum innerhalb einer repressiven, von Susy Hendrix jedoch nicht als solche erkannten Ehe.10 Der leitende Gedanke einer sich beständig verschiebenden Sichteinschränkung ist in Wait until dark eng mit der Dynamik des Spiels und wechselnden De/Maskierungs-Strategien verbunden. Damit steht auch die topische Blindheit innerhalb des Mediums und der Rezipient/innen zur Diskussion, die den von der Leinwand ausgehenden Blick nicht erwidern können – und am Ende des Films mit minutenlanger Dunkelheit konfrontiert sind. Wie der Film hier mit den Zuschauer/innen ‚spielt‘, so kommt der Kategorie des Spiels innerhalb des plots eine zentrale Bedeutung zu. Harry Roat und seine beiden Helfer Mike Talman und Carlino führen für Susy Hendrix eine Komödie auf. Am Ende hilft dieses (Theater)Spiel im Spiel sogar, den Mechanismus des Ehealltags offen zu legen. Nach alldem, was Susy Hendrix erlebt hat, ist es mehr als unwahrscheinlich, dass sie zum Status quo ante zurückkehren könnte.
F ORT - DA Die Puppe wird von der Drogenkurierin Lisa (Samantha Jones), einer attraktiven jungen Frau abgeholt. Sie trägt einen opulenten Pelzmantel, der im Kontrast zum Minirock und der weit ausgeschnittenen Bluse steht; ihre Mimik und ihre Bewegungen künden von einem ausgeprägten Selbstbewusstsein. Sowohl ihre Kleidung als auch ihr Auftreten kennzeichnen sie deutlich als die neue, emanzipierte Frau der 1960er Jahre. Auf diese Weise stellt sie auf mehreren Ebenen einen Gegenentwurf zu Susy Hendrix dar: Sie ist sich ihrer eigenen Attraktivität bewusst und setzt sie strategisch ein, um von ihrer Aufgabe, dem Drogenschmuggel, abzu-
10 In Anspielung auf Paul de Man: Blindness and Insight. Essays in the Rhetoric of Contemporary Criticism. New York: Oxford University Press 1971 [1983].
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lenken. Im Gegensatz zu Susy Hendrix ist sie in der Lage, selbst für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Sie ist nicht nur unabhängig vom männlichen Versorgermodell, sondern versucht sogar, ihre (männlichen) Auftraggeber auszutricksen. Diesen Versuch allerdings muss sie alsbald mit ihrem Leben bezahlen. Als sie jedoch vorerst am Flughafen von Montreal eintrifft, springt ihr eine kleine Filmdose die Gangway von oben herab entgegen. Sie gehört dem Fotografen Sam Hendrix, der gerade im Begriff ist, ins Flugzeug nach New York zu steigen. Lächelnd wirft ihm die junge Frau die Dose zurück. Wie das Fort-da-Spiel, mit dem das Kleinkind nach Sigmund Freuds Beobachtung die Abwesenheit der Mutter verarbeitet, stößt das wechselseitige Geben und Nehmen in Wait until dark die Handlung an. Sie basiert auf dem kompositorischen Prinzip dieses Spiels: Dinge verschwinden und tauchen auf, initiieren (Schein-)Beziehungen zwischen Unbekannten und lösen sie wieder auf. Die im Fort-Da-Spiel angelegte Idee des gegenseitigen Gebens und Nehmens sorgt dafür, dass Sam nach der Ankunft in New York seinerseits Lisa eine Bitte nicht abschlägt: Unter einem Vorwand überredet sie ihn noch am Flughafen, die Puppe vorübergehend in seine Obhut zu nehmen. Der Beinahe-Verlust der Filmdose ist gleichzeitig ein erster Hinweis auf Sam Hendrix’ prekäre Situation als selbständiger Fotograf. Später wird er auf ein Model warten müssen, das nicht zum vereinbarten Fototermin erscheint, weil es sich um einen Fake des ‚cleveren‘ Harry Roat handelt. Hendrix’ unweit der Wohnung gelegenes Studio wird ohnehin nicht von Frauen wie Lisa, dem Prototyp des Models der 1960er Jahre, frequentiert, aber es ist das Klischee – das vom Fotografen, der seine Frau mit seinem Modell betrügt – mit dem die drei Gangster versuchen, Susy Hendrix dazu zu bewegen, ihnen bei der Suche nach der verschwundenen Puppe zu helfen. Weder Sam noch Susy Hendrix ahnen, dass ihre Wohnung ins Visier von Verbrechern geraten ist; in ihrer Abwesenheit verschaffen sich drei Männer Zutritt in ihre noch heile Welt. Als Harry Roat die begehrte Puppe hier nicht findet, statuiert er ein Exempel an der Drogenkurierin. Zur Abschreckung für die auf eigene Faust nach der Puppe fahndenden Kleinganoven Mike Talman (Richard Crenna) und Carlino (Jack Weston) hängt er Lisas Leiche im Kleiderschrank auf und zwingt die beiden, fortan für ihn zu arbeiten – nicht ohne sie seine Verachtung für Amateure spüren zu lassen. Die Gefährdung des kleinbürgerlichen Lebensideals wird in Wait until dark eindrücklich in Szene gesetzt; sie ist allerdings auch ein Charakteristikum des Genres, wie Georg Seeßlen herausstellt: „Nicht selten sind die Helden von Thrillern gerade Menschen, die eigentlich nicht der Kategorie der Gefahrsuchenden angehören, sondern eher biedere Charaktere, die sich in der Sicherheit einer durch und durch bürgerlichen Existenz ganz bei sich fühlen.“11 Als Susy Hendrix unerwartet nach
11 G. Seeßlen: Thriller, S. 23f.
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Hause kommt, verhalten sich die drei Männer, die ihre Wohnung inzwischen besetzt haben, mucksmäuschenstill: „Stay dead still. She’s alone. Don’t breathe“, raunt Roat den anderen zu, die sich daraufhin an die Wände pressen, um der Wahrnehmung der durch ihren Langstock als Blinde eingeführten Hausherrin zu entgehen. Sie bewegt sich ungezwungen und frei in ihrem Zuhause. Der Kamerablick organisiert hier das Ineinandergreifen zweier divergierender Wirklichkeiten, die vom Publikum nichtsdestotrotz parallel wahrgenommen werden (Abb. 1).
Abb. 1 Es teilt den Blick mit denen, die Susy Hendrix bereits in dieser Szene unverhohlen beobachten und sie später zu manipulieren suchen. Talman und Carlino sind jedoch merklich irritiert von dem Umstand, dass die Frau sie trotz der geringen Distanz nicht wahrnimmt; Skepsis und Anspannung stehen ihnen ins Gesicht geschrieben, während Roats ohnehin mit einer dunklen Brille maskierter Blick keinerlei Regung verrät. Zugleich fürchten die Zuschauer/innen den Moment der Entdeckung, der weniger für die Entdeckten als für Susy Hendrix gefährlich wäre. Auch diese Konstellation ist charakteristisch für das Genre des Thrillers: Die Kinobesucher/innen ‚sehen‘ meistens mehr als die Protagonist/innen, die den drohenden Gefahren gegenüber ‚blind‘ sind. Die Angst- oder Schau-Lust bezieht ihre Wirkmacht in diesem Sinne gerade aus dem Kontrast zwischen dem Wissen der Zuschauer/innen und dem Unwissen der Handelnden, was durch die Susy Hendrix’ Blindheit noch einmal potenziert wird. Im engen Flur droht sie dem sich noch enger an die Wand drückenden Carlino in die Arme zu laufen. Als sie einen Schal aus dem Kleiderschrank holt, zeigt die Naheinstellung Susy Hendrix fast Kopf an Kopf mit Lisas Leiche, ein deutliches Alarmsignal, dessen Bedeutung sich nur den Zuschauer/innen, nicht aber der betroffenen Figur erschließt.
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MUSTERGÜLTIGE
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Während sich die drei Eindringlinge weiterhin still verhalten, ruft Susy Hendrix ihren Mann in seinem Studio an. Sie kann es kaum erwarten, ihm von ihrem Erfolgserlebnis zu erzählen: „I just called to tell you I was the best in blind school today.“ Unwillkürlich sieht man sich einem Schulmädchen gegenüber, das ihre Eltern stolz machen möchte. Um ihn nicht zu stören, bittet Susy ihren Mann, im kleinen Café an der Ecke auf ihn warten zu dürfen, wo sie Peter Rabbit, ein in der deutschen Synchronisation durch Rotkäppchen ersetztes Kindermärchen in Braille lesen möchte. Selbst wenn sie sich mit dieser Bemerkung selbst ironisiert: Susy Hendrix wird als intelligente Person gezeigt, die jedoch auf eine irritierende Weise unterwürfig ist und ihr Leben ganz in den Dienst ihres älteren Mannes stellt. Offenbar ist sie unendlich dankbar dafür, dass er sich nach dem Unfall, bei dem sie ihr Augenlicht verloren hat, um sie gekümmert und sie trotz ihres ‚Makels‘ geheiratet hat: „I’ll be what ever you want me to be.“ Sie ist ökonomisch und emotional abhängig von einem Mann, der von einer Mission erfüllt scheint: Sein Wunsch ist es, aus ihr „the world’s champion blind lady“ zu machen. Ihren Mitmenschen gegenüber soll sie demonstrieren, dass Blindsein nicht zwangsläufig mit sozialen Einschränkungen verbunden ist. Sie liest Braille, telefoniert, geht spazieren und bringt den Müll vor die Tür. Einen Nachbar, der ihr dabei behilflich ist, bittet sie freundlich, Sam nichts davon zu verraten, denn was für sie die Gelegenheit zu einem netten Gespräch ist, wäre für ihn das Eingeständnis einer Schwäche. Mehrmals erinnert Sam seine Frau an ihre Abmachung: „No cheating!“ Der strenge Lehrer, den der ehemalige US-Marine verkörpert, ist niemals zufrieden mit der Leistung seiner ‚Schutzbefohlenen‘, sei sie auch noch so gut. Er vermittelt ihr das Gefühl, gar noch in seiner Abwesenheit über sie zu wachen. Als Susy Hendrix nach Hause kommt, imitiert sie mit tiefer Stimme zuerst ihren Mann: „No, Susy, I’m not here.“ Selbst den Kühlschrank, der in dieser dualistischen Ordnung eindeutig ihrem Kommando untersteht, taut sie nach seinen Vorstellungen ab. Aus heutiger Perspektive wirkt die Unterwerfung unter die zur damaligen Zeit schon schwindenden Wertvorstellungen vom ‚Eheglück‘ so übertrieben konventionell, dass es schwer fällt, kein verdeckt subversives Potenzial darin zu vermuten. Sie steht in deutlichem Kontrast zur modernen Frauenbewegung der 1960er Jahre, die mit großer Vehemenz die soziale und politische Gleichberechtigung von Frauen einforderte. So hatte etwa die Publizistin Betty Friedan 1963 in The Feminine Mystique massive Kritik an der gesellschaftlichen Reduzierung der Frau auf die Rolle der glücklichen Hausfrau und Mutter geübt – einer Rolle, die in Wait until dark noch als Nonplusultra heteronormativer Beziehungen verkauft wird (Abb. 2).12
12 Betty Friedan: The Feminine Mystique. London: Norton & Co 1963.
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Abb. 2-3 Susy Hendrix ist sich dieser Beschränkungen gar nicht bewusst. Gesteigert durch die metaphorische Bedeutung der ihr zugeschriebenen Blindheit erscheint sie unfähig, die herrschende Ungleichheit zwischen sich und ihrem Ehemann zu erkennen. Zwar widerspricht sie einmal seiner kategorischen Ermahnung „No cheating!“, doch fügt sie sich auf seine einsilbige Antwort prompt wieder in die ihr zugewiesene Rolle, indem sie bekennt: „Then, I will be.“ Auch Johnson Cheu hebt in seinem Artikel Seeing Blindness on Screen: The Cinematic Gaze of Blind Female Protagonists die Vereindeutigung eines ohnehin stereotypen Rollenmodells durch filmische Darstellungen blinder Frauen hervor. Protagonistinnen wie Susy Hendrix seien in doppelter Weise marginalisiert – als Frau innerhalb der patriarchalen Gesellschaft und als Blinde:
150 | A STRID H ACKEL The cinematic blind heroine is in a doubly subjugated position; stereotypically helpless in relation to men because she is a woman, particularly in the 1960s and early 1970s, and she is made to be even more helpless and dependent because of her blindness.13
Wait until dark bedient die bürgerlich-konservativen Wertvorstellungen der 1950er und 60er Jahre in zugespitzter Form und vermittelt das Bild einer auf Liebe gründenden, aber höchst repressiven Partnerschaft. Als ehemaliger Soldat hat Sam Hendrix die beim Militär herrschenden Umgangsformen, das Befehlen und Gehorchen, verinnerlicht und gibt sie nun an seine Frau weiter. In diesem Sinn kreiert der Film ein verzerrtes Emanzipationsverständnis. Susy Hendrix’ von Sam erwünschte Unabhängigkeit als Blinde ist nicht gleichbedeutend mit ihrer hypothetischen Emanzipation als Frau von den durch Sam repräsentierten paternalistischen Strukturen; sie hat sich von vornherein nur innerhalb der von ihm gezogenen Grenzen zu vollziehen (Abb. 3). Sofern der Film diesem überkommenen Rollenbild huldigt, lässt er sich auch nicht gegen den allgemeinen Befund der Unterrepräsentation weiblicher Figuren in der Kulturgeschichte der Blindheit anführen, den er im Gegenteil reproduziert und perpetuiert. Die von Jacques Derrida in den Aufzeichnungen eines Blinden aufgeworfene Frage, warum die Kulturgeschichte nicht Ödipus oder Teiresias vergleichbare blinde Frauencharaktere hervorgebracht habe, greift Michael Wetzel auf, indem er an die von Filmtheoretikerinnen wie Laura Mulvey oder Teresa de Lauretis vorgebrachte Kritik an der symbolischen Blickordnung erinnert, die konventionelle Hollywood-Narrative konstituieren: Wenn – wie Derrida anmerkt – eine vergleichbare Repräsentanz blinder Frauen […] zu vermissen ist, erklärt sich dies schon aus der spezifischen Differenz des Geschlechtsbildes (im Sinne von gender), das die Frau nur als Objekt kennt, das angesehen wird, das also gar kein Sehen zu verlieren hat. Das heißt aber umgekehrt, dass die Frau per definitionem blind oder zumindest […] kurzsichtig ist.14
In jene filmische Darstellungstradition, die Frauen als Schauobjekte zeigt, während der aktive Blick (wie der sich mit ihm identifizierende, ‚ideale‘ Zuschauer) männlich kodiert ist, fügt sich auch Wait until dark. So gilt für diesen Film, was mit Bezug auf Laura Mulvey auch Gertrud Koch hervorhebt: dass die Frau „nahezu wahrnehmungsunfähig“ sei, weshalb sie sich „narzisstisch aufreizend bewegen [kann],
13 J. Cheu: Seeing Blindness, S. 492. 14 Vgl. Michael Wetzel: „Ein Auge zu viel“. Derridas Urszenen des Ästhetischen. In: Jacques Derrida: Aufzeichnungen eines Blinden. Das Selbstporträt und andere Ruinen. München: Fink 1997, S. 129-155 S. 153.
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ohne von den Blicken der Männer allzu sehr tangiert zu werden“.15 Zugespitzt wird diese Konstellation durch den Umstand, dass Susy Hendrix buchstäblich blind für die Arbeit ihres Mannes – eines Fotografen – ist. Sie ist demnach unfähig, einzuschätzen, was ihr Ernährer (für sie) leistet. Auch das ist eine Anspielung auf das alte Rollenbild, demnach Frauen nicht in der Lage sind, die Arbeit, die ihre Männer leisten, zu beurteilen und Stellung dazu zu beziehen. Bezeichnend in diesem Sinn ist, dass die Wände der Wohnung mit Schwarzweißaufnahmen von Susy Hendrix übersät sind, die sie jedoch allesamt nicht sehen kann. Möglicherweise hat sie nicht einmal eine Ahnung von der Präsenz dieser Porträts. Wie das Narrativ von der ‚ohnehin blinden‘ Frau im Film in Wait until dark bestätigt wird, lässt sich darüber hinaus in der Gegenüberstellung von Susy Hendrix’ Blindheit und der Brille des Nachbarmädchens zeigen, das Susy Hendrix gelegentlich zur Hand geht und Einkäufe für sie erledigt.
S USY
UND
G LORIA
Die Beziehung zwischen den beiden Frauen, die anfangs von Rivalitäten und Sticheleien geprägt ist, ändert sich nachhaltig, als die etwa zwölfjährige Gloria (Julie Herrod) ihrer Nachbarin gesteht, wie sehr sie sie für ihre Schönheit bewundert. Dabei stellt sie erstaunt fest, dass Susy Hendrix ihre eigene Attraktivität – in Korrespondenz mit dem Gegenstand der feministischen Filmkritik – gar nicht wahrnimmt. Ihr wäre es lieber, sie könnte schöne Tapeten für die Wohnung und Krawatten für ihren Mann aussuchen. Deutlicher lässt sich kaum ausdrücken, dass ihr Lebensinhalt darin bestehen soll, für ihren Mann zu sorgen und sich als ‚gute Ehefrau‘ zu beweisen. Man spürt, dass Gloria sofort bereit wäre, ihre ungeliebte Brille gegen Susys unsichtbare Blindheit zu tauschen. Die Figuren bewegen sich in einer Welt des Scheins, der wirkungsvoll gestalteten Oberflächen. Obgleich ‚nur‘ kurzsichtig, fühlt sich Gloria als Brillenträgerin taxiert und stigmatisiert, während Susy Hendrix’ Blindheit aus ihrer kindlichen Sicht die Schönheit dieser Frau nicht beeinträchtigt. Im Gegenteil: sie wird dadurch noch potenziert, denn Susy Hendrix’ Augen sind weit geöffnet, ihr heller Blick wird szenisch ausgeleuchtet, er erstrahlt regelrecht über der Szene, wodurch die implizite Konnotation der Blendung hinzukommt. Noch einmal unterstrichen wird dieser Aspekt durch die Starbesetzung mit Audrey Hepburn – eine der führenden Schauspielerinnen der 1950er und 1960er Jahre. Durch ihre Frisur und ihren Stil prägte Audrey Hepburn die damalige Mode ebenso
15 Gertrud Koch: Warum Frauen ins Männerkino gehen. Weibliche Aneignungsweisen in der Filmrezeption und einige ihrer Voraussetzungen. In: Peter Gorsen u.a. (Hrsg.): Frauen in der Kunst, Bd.1. Frankfurt a. M: Suhrkamp 1980, S. 15-29, S. 16.
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wie das herrschende Schönheitsideal. Sofern die von ihr verkörperte Figur in ihrer Blindheit den Blick der Zuschauer/innen (in doppelter Weise) nicht erwidern kann, wird die kollektive Lust, den Star anzuschauen und zu bewundern in Wait until dark noch gesteigert.
Abb. 4 Im Kontext des populären Hollywood-Kinos, das Wait until dark repräsentiert, fungiert Glorias Brille als mit eindeutigen Bedeutungen versehenes Attribut. Folgt man Mary Ann Doane, die in ihrem Aufsatz Film und Maskerade: Zur Theorie des weiblichen Zuschauers dem Klischee der Brille in Hollywood-Filmen der 1940er Jahre nachgeht, konstituiert sie – auch zwanzig Jahre später – den Typus der intellektuellen Frau bzw. des smarten Backfischs. Aus der Inszenierung der Brille im Hollywood-Kino schließt Doane, dass sie für „keine Sehschwäche, sondern […] eher für das aktive Sehen oder einfach nur für den Akt des Sehens im Gegensatz zum Gesehenwerden“ steht.16 Gloria wird aufgrund ihrer Brille und ihres Alters (noch) nicht als ‚Frau‘ wahrgenommen – sie fällt aus dem Raster der drei Gangster und bestätigt so das hartnäckige Hollywood-Narrativ. Während Susy Hendrix’ ‚unsichtbare‘ Blindheit Carlino und Talman irritiert, übersehen die beiden geflissentlich, was durch Glorias Brille markiert wird – ihre Rolle als aktiv Sehende und Handelnde: „Die intellektuelle Frau sieht und analysiert; indem sie sich den Blick zu eigen macht, stellt sie eine Bedrohung für das ganze Repräsentationssystem dar.“17 (Abb. 4)
16 Mary Ann Doane: Film und Maskerade: Zur Theorie des weiblichen Zuschauers. In: Frauen und Film 38 (1985), S. 4-19, S. 13. 17 Ebd.
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O NCE
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UPON A TIME
Obgleich sich Wait until dark auf die nach Sam Hendrix’ Abreise einsetzenden Manipulationen der Hauptfigur durch das verbrecherische Trio konzentriert, hat die Viktimisierung ihren Ursprung ohne Zweifel im häuslichen Milieu. So ‚harmonisch‘ sich der Alltag der Hendrix’ aus Sicht der Figuren auch gestalten mag – er ist von dem beschriebenen Machtgefälle gekennzeichnet. Auffällig ist, dass die Gewalt, die sich gegen Susy Hendrix’ Blindheit richtet, zuerst ihrer nächsten Umgebung entspringt. Bevor Gloria und Susy sich solidarisieren, verwüstet das Mädchen in einem Anfall von kindlichem Trotz die Wohnung ihrer Nachbarin. Der Lärm, den sie dabei veranstaltet, verängstigt Susy Hendrix – sie kann sich inmitten der heftigen, nicht zu ortenden Attacken nicht orientieren; sie verliert vorübergehend die Kontrolle über die Situation und wird so zum Spielball des Macht demonstrierenden Kindes. Systematischer sind die Demütigungen durch Sam Hendrix; sie ähneln denen Roats, wenngleich sie aus anderen Motiven hervorgehen und auf eine subtilere, weit weniger existenzielle Weise erfolgen. Während alle anderen Figuren sich durch menschliche Schwächen bzw. gelegentliche Unsicherheiten auszeichnen, sind Sam Hendrix und Roat von der Richtigkeit ihres Vorgehens immer überzeugt – nicht die leiseste Spur des Zweifels trübt ihr Gewissen. Als Susy ein Gegenstand herunterfällt, sieht ihr Mann unbeteiligt zu, wie sie neben ihm am Boden kriecht, die Zigarette wie Roat lässig im Mundwinkel. Erneut wird damit auf die Position der Zuschauer/innen verwiesen, die über Sams verlängerten Blick zum Voyeur, zum unbeteiligten Beobachter einer sich vor ihren Augen erniedrigenden Person werden. Wait until dark zeigt die Gewalt, die sich hier explizit gegen die verkörperte Blindheit richtet, als strukturelles Problem. Der Einbruch des Bösen avanciert zu einem Zerr/Spiegel des Alltags. Er deckt die zuvor schon wirksamen, jedoch unbemerkten Machtstrukturen auf – indem er sie der Logik des Thrillers nach rigoros übertreibt und zuspitzt. Georg Seeßlen hat eine dahingehende Analogie zwischen der Kunstform des Films und dem Jahrmarkt gezogen, der „ein Gegengift gegen den Alltag und zugleich seine Spiegelung“18 darstelle. Diese Einschätzung trifft auf den Thriller in besonderem Maße zu. Ohne die Viktimisierung zu rechtfertigen, ist festzuhalten, dass der Quell des thrills, jener charakteristischen Angstlust, die der Thriller erzeugt, im Akt der Grenzverletzung liegt: Das Genre bezieht seine Wirkmacht aus dem Verstoß gegen die soziale Ordnung, gegen herrschende Normen und Konventionen, was ethische Dimensionen einschließt: das Tabu, sich an einer sehbehinderten Frau zu vergehen.
18 G. Seeßlen: Thriller, S. 10.
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Doch eine über dem Verbrechen stehende, ordnende Kraft gibt es hier nicht – der einzige Vertreter des Gesetzes, Carlino, ist ebenfalls ein Verbrecher.19 Das Genre ähnelt in seiner starken Polarisierung dem Märchen, auf das der Film sogar immer wieder anspielt. „Once upon a time“, hebt Roat bei seinem ersten Auftritt an, und kostet die Verwirrung genüsslich aus, in die er Carlino und Mike damit stürzt. Der sadistische Killer liebt es, Märchen zu erzählen – und nachzuspielen; sie fangen harmlos an und bauen ihre Spannung allmählich auf; am Ende aber richten sie sich mit voller Wucht gegen jene aufmerksame Zuhörerschaft selbst, die sich dem Märchenerzähler zuwendet – ohne die Falschheit zu erkennen, die sich hinter seiner Freundlichkeit verbirgt. Auf diese Weise variiert Roat die wie zufällig erwähnte Geschichte von Peter Rabbit, einem kleinen Hasen, der nicht auf seine Mutter hört und so um ein Haar in die Gewalt des unheimlichen Mr. McGregor gerät. Auf der Flucht aus dem verheißungsvollen Gemüsegarten des Bösewichts verliert das Häschen Jacke und Schuhe; McGregor bestückt damit eine Strohpuppe, die er als Warnung für alle Hasen in seinem Garten errichtet. Das Perfide an Roats Variante ist, dass sein potenzielles Opfer sich kein Stück weit von Zuhause wegbewegen muss, um jene imaginäre Grenze zur Sperrzone zu überschreiten.
B LINDHEIT
UND
E INSICHT
Sam muss für einen Auftrag über Nacht die Stadt verlassen; Susy ist von der Nachricht, dass die Polizei unweit ihrer Wohnung eine Frauenleiche (Lisa) gefunden hat, beunruhigt. Sie konfrontiert ihren Mann mit der halbernsten Vorstellung, jemand könne sie in seiner Abwesenheit in kleine Stücke zerhacken und in den Fluss werfen – aus Sam Hendrix’ Perspektive ein Beweis für die blühende Phantasie seiner Frau, die den ‚Stimmen‘ aus dem Radioapparat zu große Bedeutung beimisst. Susy Hendrix insistiert aber auf dem, was sie gehört hat, während Sam auf seiner Sicht der Dinge beharrt: „Come on, Susy. […] I tell you what I think; I think it’s a ploy to make me stay home.“ Tatsächlich fällt Sam jedoch, als er seine Frau allein Zuhause zurücklässt, auf einen der zahlreichen Tricks Harry Roats herein, der den Fototermin für ihn arrangiert hat. Derweil soll Susy Hendrix den drei Gangstern helfen, die Puppe wiederzufinden. Die von ihr ausgehende ‚negative Energie‘ hat sich bereits im Wohnzimmer der Hendrix’ ausgebreitet, ihr Quell allerdings, das vermeintlich harmlose Spielzeug selbst, bleibt verschwunden. Seine Abwesenheit bildet das (leere) Zentrum, um das sich die Handlung aufbaut – es wird zum Anlass für Roats ‚Spiel‘ (Abb. 5).
19 Auf einer sehr ähnlichen Struktur basiert der Thriller Penthouse North dessen blinde Protagonistin sich als ehemalige Kriegsfotografin jedoch ungleich offensiver gegen ihre Peiniger zur Wehr setzt (USA 2013, Regie: Joseph Ruben).
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Zunächst jedoch befinden sich alle vier, die drei Gangster und Susy, in einer ähnlichen Ausgangssituation. Nicht nur Susy Hendrix, auch die drei Männer, allen voran Mike Talman, können die Puppe nicht sehen, so sehr sie sich auch anstrengen. Erstaunlich ist, dass weder Susy noch einer der Gangster auf die Idee kommen, dass das Nachbarskind Gloria die Puppe mitgenommen haben könnte – obwohl dieser einfache und treffende Schluss das schematische Rollenbild bestätigen würde, auf dem Wait until Dark basiert. Das Naheliegende aber wird hier von allen beteiligten Figuren geflissentlich übersehen. Der Puppe kommt in Wait until Dark ohne jeden Zweifel eine symbolische Bedeutung zu – spielt der Film doch mit deren Mehrdeutigkeit als harmloses Kinderspielzeug, Projektions- und Substitutionsobjekt männlicher Phantasien und – als wirkmächtiges Pendant – dem von ihr verkörperten gesellschaftlichen Auftrag der Frau, Kinder zu bekommen. Dass mit dem Aufkommen der Pille in den 1960er Jahren eine andere Lebensgestaltung möglich ist, wie Susy und Lisa zeigen, auch davon erzählt der Film. Beiden Frauen, die sich bei aller Diversität in der Puppe spiegeln, trachtet Roat nach dem Leben, nicht ohne ihnen – das heißt explizit Susy – vorher mit Vergewaltigung zu drohen. Indem die drei Gangster für Susy Hendrix indes zunächst eine Kriminalkomödie improvisieren, setzen die einem Kind aufsitzenden Gangster ihrerseits auf das Prinzip der Täuschung. Sie reden Susy ein, die Polizei verdächtige Sam, Lisa als seine Geliebte umgebracht zu haben, was nur abwendbar wäre, wenn sie Lisas Puppe habhaft würden, bevor die Polizei sie findet. Harry Roats Doppelauftritt als gehörnter Ehemann und dessen wütender Vater soll der Geschichte Glaubwürdigkeit verleihen. Grundsätzlich ist Susy Hendrix von der Integrität ihres Mannes überzeugt, doch stürzt sie die Lügengeschichte vom untreuen Gatten in Verwirrung. Dass er in Verdacht gerät, schuldig oder nicht, möchte die in guten wie in schlechten Tagen zu ihm haltende Ehefrau um jeden Preis verhindern. Ein geschickter Schachzug des Trios besteht darin, einen von ihnen als noch aus Marinezeiten bekannten, alten Freund von Sam auftreten zu lassen – Talman. Während er, der Retter in der Not, sich auf diese Weise Susys Vertrauen erspielt, mimt Carlino den pflichtbewussten, strengen Sergeant, der mit dem Durchsuchungsbefehl droht. Mit der durch die Komödie klischeehaft übertriebenen Taktik des good cop, bad cop bringen sie Susy Hendrix dazu, sich auf ihr Spiel einzulassen. Das Narrativ der Täuschung ist ein integraler Bestandteil der westlichen Darstellungstopoi von Blindheit, das in Wait until dark durch das komplexe Spiel im Spiel – das Versteckspiel, das Märchen von Peter Rabbit, die Kriminalkomödie – aufgegriffen, verändert und reproduziert wird: „Der Blinde ist zunächst der Täuschung unterworfen [sujet à la méprise], er ist das Subjekt der Täuschung“,20
20 J. Derrida: Aufzeichnungen eines Blinden, S. 95.
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konstatiert Jacques Derrida in den Aufzeichnungen eines Blinden. Der altersblinde Isaak aus dem Alten Testament lässt sich durch die List seiner Frau Rebekka täuschen und segnet anstelle des erstgeborenen den zweitgeborenen Sohn. Max Frischs Romanfigur Gantenbein simuliert Blindheit und erfährt so, was seine Mitmenschen vor ihm zu verbergen suchen. Er macht sich das Wissen über jene von Derrida erwähnte Anfälligkeit für Täuschungen zunutze, indem er seine Mitmenschen geradewegs dazu bringt, ihn zu betrügen. Weil sie sich in seiner Gegenwart unbeobachtet wähnen, lassen sie sich eher gehen.21
Abb. 5-6
21 Max Frisch: Mein Name sei Gantenbein. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1964.
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Ähnlich wie Gantenbein kann sich der/die unterschätzte Blinde dieses Wissen also auch zunutze machen, indem er/sie das Spiel umkehrt. Dass Susy die falsche Komödie mit der Zeit durchschaut, liegt daran, dass die drei Komödianten ihre ‚Zuschauerin‘ unterschätzen. Sie machen sich ein falsches Bild von ihrer Wahrnehmungsfähigkeit und setzen zur Maskierung Bärte, Brillen und Perücken ein (Abb. 6). Weil Rebekka wusste, dass ihr blinder Mann fühlen würde, welchen Sohn er vor sich habe, legte sie Jakob die Feiertagskleider des Erstgeborenen bereit und umwickelte seine nackten Arme und seinen Hals mit Fellen. Im Gegensatz dazu geht das Täuschungsmanöver der drei Gangster in Wait until dark nicht auf, denn Susy Hendrix ertastet keine Perücken oder Bärte. Die Verkleidungen des Trios mögen allesamt den Sehsinn täuschen, nicht aber die anderen Sinne. Während sie mit ihrer Verwechslungskomödie also einem visuell fundierten Illusionsverständnis verhaftet bleiben, richtet sich Susy Hendrix’ Aufmerksamkeit auf Bereiche außerhalb der visuellen – und damit auch der von den drei Männern abgedeckten Sphäre: die quietschenden Schuhe, die Roat jedes Mal trägt, unabhängig davon, wen er spielt, das Abwischen von Fingerabdrücken in der Wohnung und die geheimen Signale, die sich Roat, Carlino und Talman untereinander geben: Sobald jemand die Blende des Küchenfensters bewegt, klingelt das Telefon. Doch nicht nur was das sinnlich-kognitive Potenzial ihrer Kontrahentin betrifft, irren die drei Gangster – sie kommen auch nicht auf die Idee, dass Gloria als Susy Hendrix’ ‚Komplizin‘ agieren könnte. Im zweiten Teil der Handlung delegiert die Protagonistin ihren Blick an das Mädchen; stellvertretend für sie soll Gloria aus dem Fenster der Nachbarwohnung beobachten, was auf der Straße vor sich geht. Da niemand sie dieser konspirativen Tätigkeit verdächtigt, kann Gloria ihr weitgehend ungestört nachgehen. So bestätigt Wait until dark das von Mary Ann Doane erörterte Schema des durch die Brille angezeigten aktiven Sehens und Handelns. Mit Glorias Hilfe findet Susy Hendrix heraus, dass es sich beim Polizeiwagen, der angeblich ihr Haus überwacht, um einen alten Kleinbus handelt – den Backstage-Bereich der schauspielernden Gangster sozusagen – und dass Carlinos Anrufe aus dem Polizeipräsidium in Wahrheit aus der gegenüberliegenden Telefonzelle kommen. Als die Puppe, die sich Gloria nur ausgeliehen hatte, unerwartet wieder auftaucht, wendet sich Susy Hendrix erleichtert an Mike Talman – in der Hoffnung, dass sich nun endlich alles klären wird. Was die Zuschauer/innen längst wissen, steht Susy Hendrix noch bevor: Die Erkenntnis, sich in Talman, dem starken Mann, der Sam in dessen Abwesenheit würdig vertrat, getäuscht zu haben. Von Gloria erfährt sie, dass Sams angeblicher Freund mit Roat und Carlino zusammenarbeitet. Die emotionale Reaktion darauf ist heftig; Susy Hendrix stöhnt, schreit, verliert erneut die Orientierung, stolpert über einen Stuhl und strauchelt, schließlich klammert sie sich wie ein hilfloses Kind an die Puppe.
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DES
F ILMS
Während sich Susy Hendrix noch an die Puppe hält, deren Funktion sich ihr nicht erschließt, ist längst klar, dass es Roat um mehr geht: Das Spielzeug wird zum Vorwand für ein sadistisches Spiel mit der Angst seiner Opfer. Sie fallen wie Schachfiguren: Lisa, Carlino, Talman. Sein Spiel, das sich lange Zeit hinter vorgeschobenen, harmlosen Tricksereien und Geplauder verbirgt, erweist sich als treibende Kraft und Roat als das Böse par excellence. Die in den wechselnden Spielen entfaltete Hinhaltetaktik erhöht den thrill. Roats Motive, jeder Hinweis auf eine Vergangenheit, die Aufschluss darüber geben könnte, warum er auf diese Weise handelt, wird den Zuschauer/innen konsequent vorenthalten. Wait until dark liefert kein Psychogramm eines pathologischen Täters, sondern postuliert das Böse als willkürlich.
Abb. 7 Als Susy realisiert, dass das Telefonkabel durchtrennt und damit jede Möglichkeit, Hilfe von außen zu holen, verwirkt ist, sinkt sie voller Angst hinter die Stäbe des Treppengeländers – ein Bild ihrer Gefangenschaft (Abb. 7). Mit dem Mut der Verzweiflung zerschlägt sie anschließend systematisch alle Glühbirnen und erwartet Roat in dem so geschaffenen Dunkelkabinett. In der eingangs beschriebenen Szene lässt der Regisseur Terence Young das Publikum einen exklusiven Blick in die Mechanik seines Werks werfen. Der Schnitt erinnert sie daran, dass wie in Un chien andalou vor allem ihr Blick auf dem Spiel steht. Sie laufen Gefahr, als Zuschauer/innen ihre Grenze des Zumutbaren zu überschreiten, sich von den Bildern auf der Leinwand erschrecken, abschre-
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cken und ‚blenden‘ zu lassen.22 Der gefährdete Blick der Zuschauer/innen, die aktiv werden müssen, um sich zu schützen – sei es durch das Verschließen der Lider, Abwendung oder innere Distanzierung – ist Voraussetzung und Folge des suspense – der habituellen Unsicherheit, in der der Thriller seine Rezipient/innen hält. Ungewöhnlich ist, dass die Zuschauer/innen in Wait until Dark nicht nur sehr direkten Bildern ausgesetzt sind, sondern auch einer selten im Kino anzutreffenden, radikalen Form der Dunkelheit, die sich von der Materialität der Leinwand löst und mit dem Raum der Zuschauer/innen eins wird. Als Youngs Spielfilm Wait until Dark 1967 in die Kinos kam, wurde er von einer Warnung begleitet: During the last eight minutes of this picture the theatre will be darkened to the legal limit to heighten the terror of the breathtaking climax, which takes place in nearly total darkness on the screen. If there are sections where smoking is permitted those patrons are respectfully requested not to jar the effect by lighting up during this sequence. And of course, no one will be seated at this time.23
Der Einsatz radikaler Dunkelheit scheint zuerst die intradiegetische Blindheit der Protagonistin für die Zuschauer/innen erfahrbar zu machen, mit deren Angst sie sich ebenso identifizieren wie mit ihrer spezifischen Wahrnehmung. Bettina Gockel zeigt in ihrem Aufsatz Bilder für Blinde, wie Fotografie und Film in ihrer Eigenschaft als visuelle Medien im Film selbst und in seinen Distributionsstrategien eingesetzt werden – etwa bei der Gestaltung des originalen Filmplakats: „Die Schnitte durch das Bild bzw. die Montage der Bildsequenzen sowie die immer kleiner und weniger lesbar werdende Schrift stören ein auf Bildwahrnehmung und Erkennen eingestelltes Sehen.“24 Vor allem aber steht sie für den thrill, jene wirksame Angstlust, die sowohl aufseiten der Protagonistin als auch der Kinobesucher/innen zu verorten ist. Viel ist über die offenkundige Analogie zwischen menschlichem Blick und Kamera, über die expliziten und impliziten Rivalitäten der in ihrem symbolischen Gehalt so wirkmächtigen Institutionen spekuliert worden. Die Zuschauer/innen identifizieren sich für gewöhnlich mit dem Kamerablick, der das kinematographische Bild konstituiert ohne selbst sichtbar zu sein.25 Sie geben sich (bis zu einem gewissen Grad) der künstlerischen Organisation ihres Blicks hin, die sich ihrerseits durch den Komplex mangelnder Interaktivität auszeichnet. In diesem Sinn erinnert Stefan Ripplinger daran, dass „Blindheit im Film […] auch eine
22 Vgl. Hubert Damisch: Auf die Gefahr hin, zu sehen. Bern: Benteli 1988, S. 8. 23 Vgl. den originalen Trailer zum Film. 24 Bettina Gockel: Bilder für Blinde – Sehen und Handeln in Malerei, Fotografie und Film. Ein Versuch. In: Horst Bredekamp, John Michael Krois (Hrsg.): Sehen und Handeln. Berlin: Akademie Verlag 2011, S. 65-98, S. 67. 25 Vgl. Knut Hickethier: Film- und Fernsehanalyse. Stuttgart: J.B. Metzler 1996, S. 56.
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Eifersucht von Kunst und Technik auf das natürliche Sehen [bezeichnet]“ und geht auf das eingangs erwähnte Motiv aus Un chien andalou ein, das Wait until dark umdeutet.26 Die Differenzen zwischen dem künstlichen Medium und dem hochkomplexen Vorgang des Sehens liegen auf der Hand – die untrennbare Verschaltung der visuellen Wahrnehmung mit anderen Sinnesreizen, kognitiven und neuronalen Prozessen, vor allem aber die soziale Verfasstheit des menschlichen Blicks, der auf der wechselseitigen Verschränkung von Sehen und Gesehenwerden gründet: „Weder kann die Kamera sehen wie ein Auge, noch kann das Kino blind sein wie ein Blinder.“27 Aber es kann versuchen, eine existenzielle Erfahrung so glaubwürdig zu vermitteln, dass sich das Publikum in intensiver Weise in eine Atmosphäre einfühlen kann, welche die obligatorische Trennung zwischen Film und Zuschauer/in suspendiert. Während Johnson Cheu das beschränkte Register kritisiert, mit dem das Kino Blindheit für die Rezipient/innen ‚sichtbar‘ mache (durch unscharfe Einstellungen, eine schwarze Leinwand, etc.), lässt sich die achtminütige Dunkelsequenz am Ende der Handlung auch als ein bewusster Zugriff auf die Dreidimensionalität des ‚realen‘ bzw. sozialen Raums auffassen, der gemeinhin den Zuschauer/innen vorbehalten ist. In dem Sinn ist bezeichnend, dass sich die Überwindung der Trennung zwischen der Sichtbarkeit der filmischen Bilder und dem Blick der Zuschauer/innen im Modus der Dunkelheit vollzieht. Sich versuchsweise über die herrschende Konvention des Zeigens hinwegzusetzen erscheint als Voraussetzung, eine neue Art der Nähe oder Einfühlung in die filmische Atmosphäre zu stiften. Von diesem Standpunkt aus fungiert nicht erst die Blindheit, sondern schon die Angstlust, auf der Wait until dark basiert, als Anlass, über die Grenzen und Beschränkungen des eigenen Mediums nachzudenken. Der Entzug der Bilder erscheint nicht als missglückter Versuch, die spezifische Wahrnehmung der blinden Protagonistin erfahrbar zu machen, sondern die Trennung aufzuheben. Im Zuge dessen wird der Kinosaal am Ende des Films zu einem gigantischen Hör-, Fühl- und Tastraum, sofern die Aussetzung des Blicks andere sinnliche Erfahrungen ermöglicht oder steigert. Der thrill in Youngs Film ist also nicht nur als die immanente Motivation, sondern auch als Herausforderung an das Medium als solches zu verstehen: „Die Lust an der Angst ist [...] eine Folge der Sehnsucht nach dem Neuen, und diese wiederum kann ihren Ursprung wohl in nichts anderem haben als in der Unzufriedenheit mit dem eigenen Realitätsentwurf, der zu eng gefaßt oder nach falschen Prinzipien gestaltet erscheint.“28 Nicht zuletzt lässt sich dieser Leitsatz über das Genre und die Kunstform des Films hinaus abschließend noch einmal auf das propagierte Rollenbild anwenden, womit er ungeachtet der durch die Installation eines Schwarzraums erziel-
26 St. Ripplinger: I can see now, S. 59. 27 Ebd. 28 G. Seeßlen: Thriller, S. 16.
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ten Effekte eine denkbar konservative Antwort auf Buñuels filmästhetischen Radikalismus darstellt.
T RÄNEN Auch wenn Harry Roat am Ende bestraft wird: In Wait until dark gibt es kein Happyend, weil Susy Hendrix nach dem ausgestandenen Kampf in ihren Ehealltag zurückkehrt. Die Wohnung versinnbildlicht nicht nur die Falle, in die sie in ihrer Auseinandersetzung mit Harry Roat gerät, sondern auch die, in der sie als Ehefrau bereits lebt. Nachdem Susy Hendrix im Kampf gegen Roat Todesängste ausgestanden hat und noch hinter der offenen Kühlschranktür kauert, eilt ihr die zu spät kommende Gloria spontan entgegen und schließt sie in ihre Arme. Sam hingegen geht keinen Schritt auf seine Frau zu, sondern erwartet im Gegenteil, dass sie sich auf ihn zu bewegt. Sam Hendrix ahnt nicht einmal, welchen (unbeabsichtigten) Anteil er an der Geschichte hat. Es ist jedoch nicht nur das Prinzip des Zufalls, welches das Fort-da-Spiel zum Ausdruck bringt, sondern auch die pädagogisch-paternalistische Strenge, mit der auf Bekundungen des Zweifels, der Angst und Verzweiflung reagiert wird. In Sam Hendrix’ Augen haben sich unfreiwillig Tränen gesammelt, doch er bemüht sich, seine innere Regung vor seiner Frau zu verbergen. Selbst in dieser Ausnahmesituation, da der autoritäre Ehemann zusammen mit seiner Frau weint, fokussiert Wait until dark auf das Trennende zwischen den Geschlechtern – zwischen dem, der täuscht, und der, die sich täuschen lässt. Dennoch bergen gerade die Tränen, die laut Derrida eine Verbindung zwischen der Blindheit und der Wahrheit der Augen herstellen könnten, die Möglichkeit zur Veränderung: Im Augenblick selbst, wo sie die Sicht trüben, entschleierten die Tränen das Eigentliche [propre] des Auges. Das, was sie aus dem Vergessen hervorquellen lassen, in dem es der Blick zurückbehält, wäre nichts geringeres als die aletheia, die Wahrheit der Augen, deren höchste Bestimmung sie offenbaren: das heißt eher das Anflehende als die Vision im Auge zu haben, eher das Gebet, die Liebe, die Freude, die Traurigkeit als den Blick zu adressieren.29
Sam Hendrix’ Tränen sind nicht als Ausdruck einer einmaligen Rührung zu bewerten, sondern als das Anzeichen einer – auch historisch – notwendigen Selbst/Erkenntnis. So wie Susy Hendrix die Begegnung mit Harry Roat verändert hat, der anders als ihr Mann Gefühle nicht einfach unterdrückt, sondern tatsächlich keine hat, besteht Sam Hendrix’ Aufgabe darin, die Einseitigkeit seiner privilegierten Wahrnehmung zu erkennen. Der von Blindheit, Tränen oder menschlichen
29 J. Derrida: Aufzeichnungen eines Blinden, S. 122.
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Zweifeln verschleierte Blick erhält so am Ende des Films ein produktives, ja subversives Potenzial (Abb. 8).
Abb. 8
„Am Ende gab es nur noch Bilder“ Blindheit und Bilderflut in Wim Wenders’ Bis ans Ende der Welt (1991) L ENA W ETENKAMP
„Im Anfang war das Wort“. Diesen Worten des Johannes Evangeliums stellt die Figur des Schriftstellers Eugene (Sam Neill) in Wim Wenders’ 4 ½ stündigen Filmepos Bis ans Ende der Welt1 die Befürchtung gegenüber, dass die Apokalypse mit den Worten „Am Ende gab es nur noch Bilder“ eingeleitet werde.2 Die süchtigmachende Kraft der Bilder hat Wenders schon in früheren Werken thematisiert. Die Frage, welchen Stellenwert Bilder in der heutigen Zeit haben und wie sie unseren Alltag und unsere Wahrnehmung prägen, begleitet sein gesamtes Filmschaffen. Dementsprechend lautet 2005 auf dem Filmfest von Locarno bei der Verleihung eines Sonderpreises in Anerkennung seines „herausragenden Beitrags zur Kunst des Films“ auch die Begründung der Ökumenischen Jury: „Kaum ein Filmemacher der Gegenwart hat so nachdrücklich über die Verantwortung des Bildermachens nachgedacht, über das, was Bilder mit uns und aus uns machen.“3 Auch in Bis ans Ende der Welt steht die Frage nach der Kraft und Gefahr der Bilder im Zentrum der Handlung. Dass ein Film über Bilder konsequenterweise auch immer ein Film über das Sehen sein muss, liegt auf der Hand. Wenders spricht in diesem Filmepos aber das Sehen auf ungewöhnliche Weise an – indem er nicht das Wahrnehmen an sich, sondern die Störung der Wahrnehmung in den Mittelpunkt stellt und die Handlung des Films um das Zentrum von Edith Farber (Jeanne Moreau) kreisen lässt, einer blinden Frau, der die Sehfähigkeit zurückgegeben werden soll. Das Thema der Blindheit hat Wenders schon lange beschäftigt. Bereits als Kind träumte er davon (wie in einem Interview angegeben), eine Maschine zu erschaffen, die einer blinden 1
Bis ans Ende der Welt (Deutschland/Frankreich/Australien 1991, Regie: Wim Wenders). Zitiert wird im Folgenden der 279 Minuten lange Director’s Cut dieses Films (Wim Wenders Edition Arthaus, 3 DVDs) unter der Sigle BEW und Angabe der jeweiligen DVD.
2
BEW DVD 3.
3
Abgedruckt in: Rainer Gansera: Der Flügelschlag eines Engels. Betrachtungen zu den späten Filmen von Wim Wenders. In: epd Film, Nr. 9 (2005), S. 20–23, hier S. 23.
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Person das Sehen ermöglichen könne. Anstoß für die Auseinandersetzung mit dieser Thematik lieferte eine blinde Tante, die ihn für diese Frage sensibilisierte.4 Seine Filme sind eine Einladung zur Schaulust und beschäftigen sich zudem mit der Frage nach dem richtigen Sehen oder Wahrnehmen. In einem Interview betont Wenders, dass für ihn „das schönere Wort für Sehen […] Wahrnehmen [sei], weil da das Wort wahr drin ist. Das heißt, im Sehen ist für mich Wahrheit latent möglich. […] Für mich ist Sehen ein In-die-Welt-Eintauchen und das Denken immer ein Abstand-Nehmen.“5 In der Thematisierung dieser zentralen Frage in seinen Filmen wird aber auch auf eine Störung der Wahrnehmung verwiesen, die oft durch ein Überangebot an Bildern und Eindrücken ausgelöst wird.6 In Bis ans Ende der Welt bildet die Auseinandersetzung mit dieser Thematik nun den eigentlichen Kern des Films. Der Film ist das ehrgeizigste Projekt in Wenders’ Laufbahn.7 Die deutsch-französisch-australische Großproduktion kostet über 20 Millionen Dollar und ist zeitlich und technisch mit erheblichem Aufwand verbunden. Am Ende der Dreharbeiten steht ein neunstündiger Grobschnitt und der immer noch sechsstündige Feinschnitt muss für die Kinoversion auf drei Stunden reduziert werden.8 Diese ‚Kurzversion‘ fällt bei der Kritik durch.9 Dem Film wird vorgeworfen, zu überfrachtet zu sein und es wird kritisiert, dass die Entwicklung der Figuren nicht ausgereift wäre.10 Diese bekommt erst im Director’s Cut wieder seine Würdigung, sodass die einzelnen Passagen und Handlungsstränge in ihrer Abfolge einen kohärenten Sinnzusammenhang bilden und nicht als einzelne Episoden fast unverbunden nebeneinander stehen.11 Dass dieses Filmprojekt aber einen zentralen Beitrag zum
4
Vgl. Walter Donohue: Revelations. An interview with Wim Wenders. In: Sight and Sound (1992), S. 8–13, hier S. 11.
5
Peter W. Jansen: Interview [mit Wim Wenders]. In: F. Grafe (Hrsg.): Wim Wenders. München: Hanser 1992, S. 65–102, hier S. 68.
6
Vgl. Anna Katharina Eißel: Er-fahrung neuer Horizonte: Reise und Wahrnehmung in Filmen von Wim Wenders. Saarbrücken: VDM Publishing 2007, S. 48.
7
Vgl. Volker Behrens: Der Geschichte einen gewaltigen Raum schaffen. Ein Interview mit Wim Wenders. In: Volker Behrens, Wim Wenders (Hrsg.): Man of plenty. Wim Wenders. Marburg: Schüren 2005, S. 133–138, hier S. 135.
8
Vgl. Norbert Grob: Wim Wenders. In: Hans-Michael Bock (Hrsg.): CineGraph. Lexikon zum deutschsprachigen Film. München: edition text und kritik [Loseblattsammlung], S. B3.
9
Vgl. Stefan Kolditz: Kommentierte Filmografie. In: F. Grafe (Hrsg.): Wim Wenders, S. 103–314, hier S. 303.
10 Vgl. R. Gansera: Der Flügelschlag eines Engels, S. 22. 11 Vgl. N. Grob: Wim Wenders, S. E 14.
A M E NDE GAB ES NUR NOCH B ILDER
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Verständnis von Bildlichkeit und Wahrnehmung leistet, wurde in der Kritik dennoch gewürdigt.12
Abb. 1 Wim Wenders: Bis ans Ende der Welt (D/F/AU 1991) © Wim Wenders Stiftung 2014 Wie wird nun aber die Thematik einer gestörten Wahrnehmung in diesem ehrgeizigen Filmprojekt aufgegriffen? Wenders hat als Leitspruch für sein Filmschaffen eine Aussage des französischen Malers Paul Cézanne gewählt: „Die Dinge verschwinden. Man muss sich beeilen, wenn man noch etwas sehen will“.13 In dieser Aussage sieht er auch einen engen Zusammenhang zum Sehen, da in der heutigen Sehgewohnheit die Gefahr eines Wegfalls des Betrachter gegeben sei, eines Betrachters, „der die Dinge wahr-nimmt.“14 Dieser Drang etwas Sichtbares festhalten zu wollen und die Frage, wieweit unsere Welt durch die Vorherrschaft der Visualität geprägt ist, wird auch in Bis ans Ende der Welt thematisiert. Schon das erste Zusammentreffen der Protagonisten Sam Farber (William Hurt) und Claire Tourneur (Solveig Dommartin) ist durch die Wichtigkeit des Sehsinns geprägt. Claire begegnet Sam in einer Art Einkaufshalle, als dieser gerade ein Videotelefonat führt und 12 Vgl. ebd. 13 Ebd., S. E1. 14 Wim Wenders: Auf der Suche nach Bildern – Orte sind meine stärksten Bildgeber. In: Christa Maar, Hubert Burda (Hrsg.): Iconic turn. Die neue Macht der Bilder. Köln: DuMont 2005, S. 283–302, hier S. 284.
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sie das Telefongerät neben seinem benutzen möchte. Sam unterbricht sein Gespräch, kneift die Augen zusammen und reibt sie sich. Auf Claires Frage, ob sie ihm helfen könne, antwortet er, dass er etwas im Auge habe. Daraufhin nimmt sie sein Gesicht in ihre Hände und schaut ihm eingehend in die Augen – ohne etwas zu finden. Doch sie stellt fest: „Sie haben traurige Augen“.15 Dieser tiefe Blick in Sams Augen hat Folgen, da sich Claire im wahrsten Sinn des Wortes augenblicklich in ihn verliebt und ihm nach dieser kurzen Begegnung rund um die Welt folgt (Abb. 1). Von größter Wichtigkeit für die Handlung ist nicht nur das In-die-AugenSehen oder auch das Sehen an sich, sondern man kann sogar so weit gehen zu behaupten, dass Wahrnehmung in diesem Film nicht „als passives Vermögen oder fertiges Ergebnis, sondern als Handlung verstanden und dargestellt“16 wird, denn später beschreibt Sam, der in der ersten Hälfte der Trilogie noch unter seinem Decknamen Trevor McPhee reist, seine Tätigkeit mit „Ich reise. Ich sehe.“17 Die Figur des Sam Farber, die das Sehen zu seiner Haupttätigkeit erhoben hat, wird mit der Figur seiner blinden Mutter Edith kontrastiert, deren Blindheit handlungserzeugende Komponente des Films ist. Um seiner Frau Edith den Sehsinn zurückzugeben, hat ihr Mann Henry Farber (Max von Sydow) eine spezielle Apparatur entwickelt, die es ermöglicht, Bilder, die ein anderer aufgenommen hat, in das Gehirn einer blinden Person zu übertragen, sodass diese ‚sehen‘ kann. Um Edith Bilder ihrer über den ganzen Erdball verstreuten Familie zu zeigen, reist ihr Sohn Sam um die Welt, um seine Verwandten auf Video zu bannen. Während eines Stopps in Paris kreuzt Sam den Weg von Claire, die sich – wie gerade erwähnt – sofort in ihn verliebt und ihm bedingungslos folgt. Claire, die sich gerade von ihrem Freund Eugene getrennt hat, hat nun nur noch das Ziel Sam wieder aufzuspüren, wozu sie die Hilfe des Detektivs Philip Winter (Rüdiger Vogler) in Anspruch nimmt. Eugene, der Claire nicht vergessen kann, folgt wiederum ihr, sodass sich diese Personenkonstellation in einer Art Verfolgungstanz rund um den Globus bewegt. Ediths Blindheit ist somit als Ausgangspunkt – und Endpunkt – der gesamten Handlung zu sehen. Diese komplizierte Story, die die Figuren über Venedig, Paris, Berlin, Lissabon, Moskau, einer Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn, Peking, Tokio, die japanischen Berge und San Francisco nach Australien führt, bildet dementsprechend nur den Hintergrund für das im Mittelpunkt stehende Experiment der Blindenheilung. Edith stellt das eigentliche Zentrum des Films dar. Dabei ist interessant, dass Wenders ihrer Figur Züge des allgemeinen Topos des aus Homers und Sophokles Werk bekannten blinden Sehers Teiresias verleiht. Teiresias wird mit der Blindheit von
15 BEW DVD 1. 16 Carlo Avventi: Mit den Augen des richtigen Wortes: Wahrnehmung und Kommunikation im Werk Wim Wenders und Peter Handkes. Remscheid: Gardez! 2004, S. 77. 17 BEW DVD 1.
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den Göttern bestraft, weil er etwas Verbotenes gesehen hat (ob dies die Paarung zweier Schlangen oder die Nacktheit Athenes ist, ist nicht geklärt).18 Der Verlust des Augenlichtes geht beim blinden Seher aber mit einem Gewinn an prophetischer Kraft einher. So gelten auch die blinde Sänger Homer, Milton und Ossian als prophetisch überhöhte Dichter, denen eine bestimmte Gabe zugesprochen wird.19 Diese prophetische Gabe scheint bei Wenders auch die Figur der Edith zu haben, die die Ankunft ihres Sohnes vorhersieht und lange bevor sich die Reisegruppe ihrem Anwesen nähert, am Straßenrand steht und sagt „Ich höre ein Auto kommen“, wobei sich ein glückliches Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitet.20 In der anschließenden Begrüßungsszene wird deutlich, dass Edith schon seit drei Tagen dort am Eingang des Anwesens wartet, was sie mit einem „Du kennst ja meine Intuitionen“ kommentiert.21 Die Blindheit wird hier nicht als Mangel dargestellt, der durch Henry Farbers Experiment behoben werden soll, sondern es ist deutlich, dass Edith wegen ihrer Blindheit über Fähigkeiten verfügt, die die ihrer Mitmenschen übersteigen. Als Sam, Claire, Eugene und Philip bei Edith in der australischen Wüste ankommen, wo sie mit Henry in einem Kulturzentrum der Aborigines wohnt, beginnt die eigentliche Erzählung. Hier rückt die Rahmenhandlung des Films, die davon handelt, dass im Jahr 1999 der indische Atomsatellit außer Kontrolle gerät und von den Amerikanern über der australischen Wüste abgeschossen wird, in den Hintergrund und bildet nur noch die Folie für das Handlungsgeschehen, dass alle Figuren an diesem Ort zusammenführt. Durch den Abschuss des Satelliten sind alle Funkverbindungen zur Außenwelt abgebrochen und die hier versammelten Figuren sind ganz auf sich selbst gestellt und wissen nicht mal, ob die großen Städte und der Rest der Welt noch existieren oder bei dem Abschuss vernichtet wurden. Diesem Umstand wird auf Handlungsebene zwar Rechnung getragen, wenn die Figuren nach jeder Aktivität in der Natur und auch bei Aufnahme der Neuankömmlinge in die Gemeinschaft des Kulturzentrums akribisch mit einem Geigenzähler auf Strahlung untersucht werden. Aber es breitet sich angesichts der zivilisationsbedrohenden Umstände, in denen die Figuren nicht einmal wissen, ob die Menschheit überlebt, keine Panik aus. Im Gegenteil, die Figuren werden nicht von Fragen nach dem puren Überleben, sondern von der Frage angetrieben, ob das von Dr. Faber angeleitete Experiment gelingt. Es ist also die Wissenschaft und die durch sie geweckte Hoffnung der Blindenheilung, die von einziger Bedeutung zu sein scheint.
18 Vgl. Jacques Derrida: Aufzeichnungen eines Blinden. Das Selbstporträt und andere Ruinen. München: Fink 2008, S. 24. 19 Vgl. Kai Nonnenmacher: Das schwarze Licht der Moderne. Zur Ästhetikgeschichte der Blindheit. Tübingen: Niemeyer 2006, S. 6. 20 BEW DVD 2. 21 Ebd.
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Abb. 2 Wim Wenders: Bis ans Ende der Welt (D/F/AU 1991) © Wim Wenders Stiftung 2014 Ediths Mann hat ein Verfahren entwickelt, welches Bilder, die eine Person sieht, in das Gehirn einer anderen Person übertragen kann. Hierfür ist zum einen eine Kamera nötig, die als eine Art Spezialbrille alles, was diese Person sieht, als High-Definition-Videobild festhält. Zusätzlich muss aber während der Aufnahme auch die Gehirnaktivität des Kameramanns festgehalten werden. In der von Henry Farber entworfenen Konstruktion werden hierfür durch Elektroden die Gehirnströme des Sehenden in der Sehrinde aufgezeichnet (Abb. 2). Wenders bezeichnet diesen „Akt des Sehens“ auch als „subjektive[s] Bild“.22 Um ein möglichst genaues Bild zu erhalten, muss die aufzeichnende Person fokussiert und emotional beteiligt sein. Dies ist für den Aufzeichnenden eine tatsächlich auch körperliche Anstrengung, die die Augen sehr belastet. Diese Schmerzen kann man Sam bei den Aufnahmen ansehen, nach denen er sich immer wieder die Augen reibt. Gegenüber Claire klagt er wiederholt über Kopfschmerzen. Der Wille, die Aufnahmen aber nicht abzubrechen, führt schließlich dazu, dass Sam für kurze Zeit seine Sehkraft einbüßt und auf Claires Hilfe bei allen Tätigkeiten angewiesen ist.23 Dieser anstrengende Aufzeichnungsvorgang, den Wenders „Das erste Sehen“24 nennt, wird um den Akt des Abspielens, „Das zweite Sehen“, ergänzt. In einem dunklen Raum muss sich derjenige, der die Bilder vorher aufgezeichnet hat, seine eigenen Bilder noch einmal an-
22 Wim Wenders: Der Akt des Sehens. In: Die Zeit, 06.09. 1991, S. 67. 23 Vgl. BEW DVD 1. 24 W. Wenders: Der Akt des Sehens, S. 67.
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sehen. Auch bei diesem zweiten Sehen werden die Gehirnströme aufgezeichnet. Es wird also die Erinnerung an den Akt des Sehens festgehalten. Aus der Überlagerung dieser Informationen, so macht es die Erfindung möglich, kann der Computer ein Bild errechnen, welches in das Gehirn der blinden Person übertragen werden kann. Der erste Versuch von Sam, die auf der Reise aufgenommenen Bilder der Familie in das Gehirn seiner Mutter zu übertragen, scheitert und das ganze Unterfangen scheint vor dem Aus zu stehen. Doch Claire, die während der gemeinsamen Reise auch einige Bilder aufgenommen hat, springt ein, sodass es gelingt, die aufgenommenen Bilder in Ediths Gehirn zu übertragen – sie also wieder ‚sehen‘ zu lassen. Aber für Edith, die auf diese Weise eine Art der ‚Blindenheilung‘ erlebt, wenn sie zum ersten Mal die elektronisch übermittelten Bilder ‚sehen‘ kann, ist diese Veränderung nicht nur positiv (Abb. 3). Schon bei der ersten Übermittlung der Bilder bedeckt Edith die Augen mit der Hand, was zeigt, wie unbegreiflich ihr das Sehen erscheint.25 Es wirkt, als wolle sie ihre bereits geschlossenen Augen noch mehr bedecken, um sich vor den Bildern zu schützen. Zunächst haben die neuen Eindrücke dennoch eine Faszination für sie, aber schon beim nächsten Versuch wirkt sie sehr viel zurückhaltender und zunehmend niedergeschlagen und deprimiert. Das, was sie von der Welt gezeigt bekommt, entspricht nicht ihren Vorstellungen, sondern erscheint ihr dunkel und hässlich. Sie versucht, sich ihren Kummer nicht anmerken zu lassen, was vom Erzähler Eugene mit den Worten kommentiert wird: „Nur wer Augen hatte, ihn zu sehen, sah ihn“.26 Der künstlich hergestellte ‚Act of seeing‘ bringt sie der Welt nicht näher, sondern vergrößert die Trennung nur noch. Daher lauten eine ihre letzten Worte auch „Die Welt ist nicht in Ordnung.“27 Das Experiment nimmt sie zunehmend mit und sie wird immer schwächer. Als am Silvesterabend Alle ausgelassen singen, tanzen und feiern, da durch einen Kristallempfänger die Nachricht übertragen werden konnte, dass der Satellit nicht wie erwartet auf die Erde stürzte, sondern die Welt wie man sie kannte noch besteht, liegt Edith im Bett. Henry wirft sich vor, sie durch sein Experiment überfordert zu haben, aber sie erwidert nur: „Aber ich konnte endlich sehen. Nach so vielen Jahren“.28
25 Norbert Grob: „Life Sneaks out of Stories“: Until the End of the World. In: Roger F. Cook, Gerd Gemünden (Hrsg.): The cinema of Wim Wenders. Image, narrative, and the postmodern condition. Detroit: Wayne State University Press 1997, S. 191–204, hier S. 199. 26 BEW DVD 3. 27 Ebd. 28 Ebd.
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Abb. 3 Wim Wenders: Bis ans Ende der Welt (D/F/AU 1991) © Wim Wenders Stiftung 2014 Ob sie mit diesen Worten nur ihren Mann beschwichtigen will, oder ob das Sehen tatsächlich für sie einen so hohen Stellenwert hat, dass sie nun nach Erfüllung dieses Wunsches erlöst sterben kann, ist im Film nicht beantwortet. Deutlich ist jedoch, dass ihr anschließender Tod auf die Folgen des Experiments zurückzuführen ist. Hier wird die Heilung der Blindheit, die Möglichkeit wieder zu sehen, nicht als etwas Gutes dargestellt, sondern auch mit Gefahr und Tod in Verbindung gebracht. Wenders greift damit ein in der Kulturgeschichte verbreitetes Motiv auf, welches entgegen beispielsweise der Lesart im 18. Jahrhundert, die die Blindenheilung als „Urszene der Aufklärung“ sah und sie mit der symbolischen Aufforderung verband, die Augen aufzutun29, die Blindenheilung mit einem Persönlichkeitsverlust der vormals blinden Figur gleichsetzt. Hier wird die Heilung als traumatischer Verlust und nicht als Erlösung interpretiert.30 Was Wenders hier anhand der blinden Figur Edith, die letztlich an der Überdosis der Bilder zugrunde geht, inszeniert, ist eine Beantwortung der Frage, ob Bilder töten können. Auf diese in einem Interview gestellte radikale Frage findet er eine dementsprechende Antwort: „Ich glaube, so wie Worte töten können, können Bilder das eigentlich schon lange.“31 Edith erkennt die Welt in den Bildern, die sie übertragen bekommt, nicht mehr wieder. In der Über29 Vgl. Harry Merkle: Die künstlichen Blinden. Blinde Figuren in Texten sehender Autoren. Würzburg: Königshausen und Neumann 2000, S. 69. 30 Vgl. ebd., S. 222. 31 P. Jansen: Interview, S. 85.
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tragung der computergenerierten verpixelten Bilder ist es auch schwer ein Abbild der Wirklichkeit zu Erkennen. Es handelt sich bei diesen krankmachenden Bildern, die ihren Tod herbeiführen, um vom Menschen technisch erzeugte und damit veränderte Bilder. Und genau darin liegt die Gefahr: Ediths Tod könnte das Ende der Geschichte bedeuten, aber erst nach ihrem Tod zeigt sich, wozu die von Dr. Farber entworfene Apparatur fähig ist und vor allem worin die Gefahr des Eingreifens in das Gehirn liegt. Henry Farber hat es sich zum Ziel gesetzt, den Projektionsvorgang umzukehren und die entwickelte Technik anzuwenden, um Träume sichtbar zu machen. Der visuelle Sinn wird hier also als zutiefst ambivalent dargestellt. Wenders selbst gab in einem Interview an, dass es in der audiovisuellen Zukunft die „größte und positivste Erfindung [sei], einer blinden Person das Sehen zu ermöglichen – und der schlimmste Alptraum wäre die Umkehr dieser Erfindung: Dass man Menschen ihre Träume rauben und wie Fernsehen anschauen könnte.“32 Die Befriedigung der Sehsucht ist demgemäß an die Gefahr des Missbrauchs gekoppelt. Denn laut Wenders kann die „tiefsten Bilder der menschlichen Seele zu schauen […] nur ein verderblicher, zutiefst unmoralischer oder narzißtischer Akt sein.“33 Henry, Sam und Claire sind von den Traumbildern aus ihrem Gehirn, die der Monitor ihnen zeigt, so angezogen, dass sie ihnen vollkommen erliegen und keine andere Wahrnehmung mehr zulassen. Das Anschauen der Bilder ist aber mit keinem Erkenntnisgewinn verbunden, sondern führt „als ob hier eine letzte Grenze im Menschlichen überschritten worden sei, zu geistiger Umneblung.“34 Hier zeigt sich der Bildergenuss als das genaue Gegenteil der in der Aufklärung postulierten Aufforderung, die Augen zu öffnen und Bilder zur Erweiterung des Bewusstseins einzusetzen. Die Sogwirkung, die die Traumbilder entfalten, wird auch filmisch umgesetzt. Die Kamera, die zunächst in einer Halbnahen auf die vor dem Monitor sitzenden Claire und Henry gerichtet ist, schwenkt über die gesamte Apparatur und fährt schließlich in die Rückseite des Computers hinein, so dass nach einem unsichtbaren Schnitt die schwarze Bildschirmoberfläche zu sehen ist. Dort öffnen sich mehrere Fenster, in denen man Buchstaben- und Zahlenkolonnen sieht, sodass die Rechenund Übersetzungstätigkeit des Computers auch auf der Bildebene sichtbar wird. In diese Zahlenkolonnen kommt langsam Ordnung und die gesamte Leinwand wird von den ersten schemenhaften Traumbildern gefüllt, die an Bilder einer Wärmekamera erinnern. Die Kamera zeigt nun in Nahaufnahme die spannungsgeladenen Gesichter von Claire und Henry, aus der Perspektive des Computers. Claire, die ihre Augen nicht von dem Dargestellten abwenden kann, spricht die Worte: „Ich dürfte
32 Wim Wenders: A sense of place. Texte und Interviews. Hrsg. v. Daniel Bickermann. Frankfurt a. M.: Verlag der Autoren 2005, S. 262. 33 W. Wenders: Der Akt des Sehens, S. 67. 34 C. Avventi: Mit den Augen des richtigen Wortes, S. 70.
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das eigentlich gar nicht sehen“. Doch sie kann ihre Augen nicht abwenden und erliegt trotz der anfänglichen Scheu dem Sog der Bilder und betrachtet den ersten Traum. Es lassen sich noch keine konkreten Formen ausmachen: auf dem Bildschirm lagern sich bunte Farbflächen übereinander, die sich nach und nach zu schemenhaften Gestalten zu verdichten scheinen, die aber noch keine konkrete Gegenständlichkeit aufweisen.35 Erst in den folgenden Versuchen können in den Bildern, die Sams Gehirn entnommen sind, konkrete Gestalten ausgemacht werden. Die pastelligen Farben und weichen Formen erzeugen „Sphärenklänge“36, wie Henry Farber die Bilder beschreibt. Die Darstellungen wirken wie mit Pastellkreiden gemalt, haben aber auch eine körnige Struktur und die streifenförmigen Übergänge zwischen den Farbflächen scheinen zum Teil ineinander zu verlaufen. Komplementärkontraste wie Orange und Lila treffen derart nicht hart aufeinander, sondern fließen ineinander. Um die Traumsequenzen zu gestalten, wollte Wenders auf zuvor nie gesehene Bilder zurückgreifen, eben weil es Menschen bisher nicht möglich war, Traumbilder zu sehen. Um diese darzustellen, setzte er auf die neuartige Technik der Videobilder. Diese Technik kam zuvor noch in keinem Film zum Einsatz und Wenders konnte sie nur mithilfe der staatlichen japanischen Fernsehanstalt NSK und Sony herstellen, die es ihm ermöglichten, mit Prototypen zu arbeiten.37 Es war ein sehr aufwendiges Verfahren diese Videobilder herzustellen und Wenders konnte den amerikanischen Video-Designer Sean Naughto hierfür gewinnen, der ein Jahr lang an dieses Bildern arbeitete.38 Gerade aber dieser Anteil des Films, der eine wirkliche technische Innovation darstellt, wird in den Kritiken oft gerügt. Größte Kritik ist hierbei, dass Wenders’ Einsatz von HDTV nicht alle Möglichkeiten nutzt und nur sehr begrenzt innovativ ist. Ihm wird ein Mangel an Gestaltungswillen und Ideen vorgeworfen.39 Deshalb erinnern diese Traumsequenzen in ihrer Grobkörnigkeit eher an Schattenbilder und stellen Verbindungen her zu den bereits in den 20er Jahren erprobten Techniken der Fotopiktogramme und Melanografien oder auch zu Techniken wie der Fotoübermalung, die zeitgenössische Maler wie Jürgen Klauke und Gerhard Richter nutzen.40 Vielleicht liegt die hier angemahnte verhaltene Art Wenders’ im Umgang mit diesen technischen Neuerungen in einem
35 Vgl. BEW DVD 3. 36 Ebd. 37 Vgl. P. Jansen: Interview, S. 83. 38 Vgl. S. Kolditz: Kommentierte Filmografie, S. 300. 39 Vgl. Martin Baier: Film, Video and HDTV. Die Audiovisionen des Wim Wenders. Berlin: Köhler 1996, S. 102. 40 Vgl. Martin Vialon: Über Bilder, Mimesis, ein Gespräch über den Roman und den Film – Erich Auerbach und Siegfried Kracauer. In: E.T Voss, M. Ewert, M. Vialon (Hrsg.): Konvergenzen: Studien zur deutschen und europäischen Literatur. Festschrift für E. Theodor Voss. Tübingen: Königshausen und Neumann 2000, S. 157–167, hier: S. 158.
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generellen Misstrauen gegenüber technischem Fortschritt begründet, das Wenders zu dieser Zeit hegt. Für ihn geht der Fortschritt der Technik mit dem zunehmenden Gewinn an Bildauflösung in der High Definition immer auch mit einem Verlust an Realität einher.41 Diesen Realitätsmangel bezeichnet er als einen tödlichen Virus, zu dem bis jetzt noch kein Gegengift gefunden wurde.42 Andere technische Neuerungen werden im Film aber durchaus positiv dargestellt, so wie die Bildtelefone, die Laptops, das Personen-Such-Programm oder auch die Videofaxe. Hier kann man von einer fast kindlichen Freude an den Neuerungen der Technik sprechen, die in Szene gesetzt wird.43 Wenn man zurück geht in der Technikgeschichte, in die Zeit der Erfindung des Kinos, lässt sich feststellen, dass Traumdarstellungen oftmals eine besondere Funktion erfüllen: In der Thematisierung des Sehens und in der Inszenierung der dem Inneren entnommenen Traumbildern bei Wenders stellt sich das Kino selbstreflexiv infrage – wurde das Kino doch von Beginn an auch als ‚Traummaschine‘ bezeichnet und unter anderem von Hugo von Hofmannsthal als ‚Ersatz für die Träume‘ gesehen. Ebenso wie in Wenders’ Film die Protagonisten den Bildern und ihren eigenen Träumen erliegen, wurde schon zu Beginn der Filmgeschichte am Kino kritisiert, dass Kinogänger der Wirklichkeit entfliehen wollen um ihre „Phantasie mit Bildern [zu] füllen, starken Bildern, in denen sich Lebensessenz zusammenfaßt; die gleichsam aus dem Innern des Schauenden gebildet sind und ihm an die Nieren gehen.“44 Auch bei Hofmannsthal steht also das Vermögen der Bilder im Vordergrund, einen Sog zu entfalten, der die Schauenden von der Realität entfernt. Bei ihm ist diese Gefahr an den Raum des Kinos geknüpft, wo der Zuschauer im dunklen Saal durch ein „schrankenlose[s] Schauen“ zu einem „süße[n] Selbstbetrug“45 verleitet wird. Indem Wenders diese Gefahr der Bilder aufgreift, verweist er auch auf die Anfänge der Filmgeschichte, in der sich das neue Medium gegen diese Bedenken durchsetzen musste. Die Macht der Bilder, der Claire und Sam erliegen, ist dem Wesen des Bildes inhärent. Bilder verweisen stets auf die Vergangenheit, während sie der Betrachter in der Gegenwart anschaut. Durch dieses Festhalten an der Vergangenheit werden wir nicht nur daran gehindert, nach vorne zu schauen, sondern sogar von den Bildern in Vergangenes gesogen. Dies kann zu einer Abhängigkeit führen, die jegliche
41 Vgl. Wim Wenders: The act of seeing. Essays, Reden und Gespräche. Frankfurt a. M.: Verlag der Autoren 1992, S. 98. 42 Vgl. ebd. 43 Vgl. M. Baier: Film, Video and HDTV, S. 94. 44 Hugo von Hofmannsthal: Drei kleine Betrachtungen. Der Ersatz für die Träume. In: ders.: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Prosa IV, hrsg. v. Herbert Steiner. Frankfurt a. M.: Fischer 1955, S. 44-50, hier S. 44. 45 Ebd. S. 48.
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Verwurzelung in der Gegenwart oder Ausrichtung auf die Zukunft unmöglich macht.46 Genau dieser Sucht erliegen die beiden Figuren, was sie dem gegenwärtigen Leben gegenüber stumpf und teilnahmslos macht. Während Edith an den Bildern scheitert, gelingt es Sam und Claire jedoch, ihrer Bildersucht zu entkommen. Sie werden geheilt. Die Idee dazu kam Wenders in Zusammenarbeit mit den Aborigines, deren Kultur ihn begeisterte und ihm konkrete Impulse für zentrale Szenen des Films gab.47 Da Edith und Henry in einem Kulturzentrum der Aborigines leben, werden die Praktiken und Traditionen dieser indigenen Bevölkerung Australiens im Film mehrfach aufgegriffen und mit den ‚westlichen‘ Werten verglichen. Insbesondere in der Thematisierung der Gefahr durch die inneren Traumbilder bilden die Aborigines einen wichtigen Gegenpol zum wissenschaftlichen Erkenntnisinteresse von Dr. Farber. Laut Wenders sei die Religion der Aborigines „die heiligen inneren Bilder […], die ‚Traumbilder‘, denen sie ein größeres Gewicht beimessen als den profanen Bildern der ‚Wirklichkeit‘“.48 So ist es auch die Figur der Aboriginesfrau Maisie, die Edith besonders nahe steht und die schon von Beginn an große Besorgnis ausdrückt, dass diese dem Experiment nicht gewachsen sei. Sie warnt ihren Mann, dass Henry Farber ihm eines Tages noch seine Träume stehlen werde. Eine eindrückliche Szene in der sie ihrem Unmut Ausdruck verleiht, zeigt, wie sie im Labor in die Tiefen des Raumes hinabsteigt, in dem alle Kabel der Computeranlage, die Henry für sein Experiment entwickelt hat, liegen und sich gegen die Decke stemmt.49 Die Aversion gegen die unglücksbringende Technik lässt sie damit nicht an Henry Farber aus, der für die Erfindung verantwortlich zeichnet, sondern an dem sie umgebenden Raum und seinen Apparaten. Es ist eine sehr poetische Szene, in der gezeigt wird, dass wir uns hier im innersten Kern des Grundkonflikts des Films befinden: die bunten Kabel lassen Assoziationen zu den Nervenbahnen des menschlichen Gehirns zu. Mit dem Eintritt Maisies in dieses Zentrum des Experiments, der technischen Schaltzentrale, wird auch auf der Bildebene somit schon eine Vorausdeutung gemacht, wozu die entworfenen Apparate fähig sind, nämlich dass sie Eintritt gewähren können in das Innerste des Menschen, der Schaltzentrale des Gehirns. Auch als nach Ediths Tod das Experiment fortgeführt und die Technik zur Sichtbarmachung der Träume genutzt wird, sind es die Aborigines, die sich als Gruppe dagegen stellen. Sie wollen nicht an der Entwicklung einer Technik beteiligt sein, die es möglich macht, das geheimste Wissen der Stammesältesten sichtbar zu machen.50 Die Mitarbeiter von Henry Farber ziehen sich aus dem Projekt zurück und die Angehörige des Stammes der Mbantua verlassen zum größten Teil das
46 Vgl. W. Wenders: A sense of place, S. 71. 47 Vgl. W. Donohue: Revelations, S. 10. 48 W. Wenders: Der Akt des Sehens, S. 67. 49 Vgl. BEW DVD 2. 50 Vgl. BEW DVD 3.
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Zentrum, um nicht involviert zu werden. Die Kultur der Aborigines, die stark an das Wort und die Oralität gebunden ist, wird als Gegenpol zu der Bildergläubigkeit der westlichen Kultur inszeniert. So ist auch die Heilung von Sam nur durch Angehörige der Aborigines möglich, deren Kultur es vorsieht, dass jemand, der nicht mehr zu sich selbst findet, zwischen zwei alten Männern des Stammes schlafen muss. Diese besitzen die Kraft, ihn von seinen Träumen zu erlösen. Genauso wird es auch im Film inszeniert.51 Indem der Film schon bekannte Erzählstränge fortschreibt, ordnet er sich harmonisch in Wenders’ Gesamtwerk ein. Wenders gibt an, dass die Tatsache, dass in Der Himmel über Berlin die Engel die Gedanken der Menschen hören konnten, zu der Idee führte, dass man auch menschliche Träume und Gedanken sichtbar machen könnte – was in Bis ans Ende der Welt das unheilbringende Experiment darstellt.52 Auch ästhetisch verweist der Film auf viele Stilelemente, die in Wenders’ Schaffen bekannt sind: die Freude am langsamen Schauen und Umherschweifen des Blicks, die Neigung zum brüchigen, skizzenhaften Erzählen, die Vorliebe für Details und Nebensächlichkeiten und die Hervorhebung der Wichtigkeit der Orte.53 In Wenders’ Film In weiter Ferne, so nah! steht das richtige Sehen und Wahrnehmen ebenfalls im Mittelpunkt eines Dialogs der Engel Cassiel und Rafaela, in dem diese beklagen, dass die Blickrichtung der Menschheit zu einseitig sei und diese sich eine Bilderwelt geschaffen habe, der sie all ihre Aufmerksamkeit und ihren Glauben schenke und darüber die Anwesenheit und Worte der Engel nicht mehr wahrnehme.54 Wenders thematisiert die Gefahr, die aus einer solchen einseitigen Verwendung der Sinne erwächst, wenn dadurch die kommunikativen Fähigkeiten des Menschen unterbunden werden und die Menschen vereinsamen. Diese Vereinsamung zeigt er in In weiter Ferne, so nah! an der Figur des zum Mensch gewordenen Engels Cassiel, der daran verzweifelt, dass „sich jeder in seinem eigenen Hören und Sehen seine eigene Welt [schafft] und darin ist man ein Gefangener, und aus seiner Zelle sieht man die Zelle der anderen.“55 Peter Brandes hat die Aussage aufgestellt, dass Wenders mit seinen Filmen an einer kinematographischen Ästhetik des Sehens schreibt. Diese nehme gerade in seinen späteren Filmen auch eine moralisch-ethische Perspektive ein, die dem Regisseur die Rolle eines medialen Kunstrichters zukommen lasse.56 Wenders kriti-
51 Vgl. W. Donohue: Revelations, S. 10. 52 Vgl. ebd., S. 9. 53 Vgl. N. Grob: Wim Wenders, S. E 15. 54 Vgl. In weiter Ferne, so nah! (Deutschland/USA 1992/1993, R: Wim Wenders). 55 Ebd. 56 Vgl. Peter Brandes: Auf der Suche nach dem verlorenen Bild. Wim Wenders und die romantische Ästhetik des Sehens. [12.03.2008] In: Komparatistik Online 2007. http://www.komparatistik-online.de/2007-1-1 letzter Zugriff am 12.09.2014.
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siert immer wieder den Umgang mit Bildern in unserer heutige Zeit: „Wir sind […] so sicher, dass wir die Bilder beherrschen und nicht umgekehrt, dass wir den Überblick verlieren.“57 Dieses Misstrauen gegenüber den Bildern hält Wenders für eine typisch deutsche Eigenschaft, wenn er sagt: „Ich glaube nicht, daß es irgendwo sonst einen solchen Verlust an Zutrauen in eigene Bilder, eigene Geschichten und Mythen gibt wie bei uns.“58 Gerade in Deutschland sei vor allem in der Zeit des Nationalsozialismus gewissenlos mit Bildern umgegangen worden und diese seien vor allem eingesetzt worden, um Lügen und Feindbilder zu transportieren.59 Diese Skepsis gegenüber den Bildern lässt sich schon in Äußerungen des Regisseurs seit den 1990er Jahren feststellen. Vor allem die Gefahr, die durch die Manipulationsmöglichkeiten der Bilder für Werbe- oder andere Zwecke gegeben ist, erfüllt ihn mit Unbehagen, denn hier wird die Schönheit der Bilder zweckentfremdet.60 Einen Blick für die wirkliche Welt, die den Figuren noch nicht abhandengekommen ist, haben in Wenders’ Filmen nur noch die Engel und die Kinder.61 Somit sind Wenders’ Filme auch immer als Medienkritik zu sehen, wenn sie die Aussage vermitteln, dass durch ein Überangebot an Bildern unsere Wahrnehmung getrübt wird und wir den Zugang zur Welt verlieren. Der ununterbrochene Strom der Bilder, die überall verfügbar sind und die wir nicht mehr ausblenden können, wirkt sedierend wie eine Droge, die uns der Welt passiv gegenübertreten lässt.62 Wenders geht sogar so weit zu behaupten, dass das Ausgeliefertsein an die Inflation der Bilder „eine der schwerwiegenden großen Zivilisationskrankheiten“63 sei. In fast jedem von Wenders’ Filmen findet sich das Thema in einer Variation, doch kommt ihm in der hier im Mittelpunkt stehenden epischen Film-Trilogie ein bisher noch nicht realisierter Stellenwert zu. Dass es sich bei dem Film um einen Science-Fiction-Film handelt, der im Jahr des Milleniumswechsels spielt, soll auf die Gefahr hinweisen, die Wenders durch die Beschleunigung der Technik schon früh vorausgesehen hat. Nicht nur der Verlust des Sehsinns wird in Wenders’ Werk thematisiert, sondern auch das Motiv der Stummheit zieht sich durch seine Filme. Es erscheint in Die Angst des Tormanns beim Elfmeter, in Alice in den Städten, Falsche Bewegung, Der Stand der Dinge sowie Paris, Texas und anderen, in welchen jeweils Figuren
57 W. Wenders: Auf der Suche nach Bildern, S. 300. 58 Wim Wenders: Emotion pictures. Essays und Filmkritiken, 1968-1984. Frankfurt a. M.: Verlag der Autoren 1986, S. 114. 59 Vgl. ebd., S. 115. 60 Vgl. N. Grob: Wim Wenders, S. E7. 61 Daniela Berghahn: „Leben… ein Blick genügt doch“: Der utopische Augenblick in Wim Wenders’ road movies. In: Monatshefte (Spring 1999), S. 64–83, hier S. 69. 62 Vgl. M. Vialon: Über Bilder, S. 158. 63 P. Jansen: Interview, S. 70.
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auftauchen, die auf die ein oder andere Art mit der Sprache kämpfen oder ganz verstummen. Dabei macht das wiederkehrende Motiv die Kommunikations- und Wahrnehmungsstörungen der Protagonisten sichtbar.64 Auch in Bis ans Ende der Welt lässt sich eine enge Verknüpfung von Wort- und Sehsinn beobachten. Es ist also nicht nur die visuelle Ebene, die hervorgehoben wird, sondern immer wieder zeigt sich, dass gerade der Oralität eine wichtige Rolle zukommt. In der Episode in den japanischen Bergen, in der Sam und Claire einige Tage in einer traditionellen Herberge verbringen, weil Sam nach den vielen Kameraaufnahmen vorübergehend sein Augenlicht verloren hat, wird ein enger Zusammenhang zwischen Seh- und Sprachsinn hergestellt. Sam, der sich vollkommen Claires Pflege und den Rezepten des traditionellen japanischen Heilkäuterspezialisten Mr. Mori anvertraut hat, spricht in den ersten Tagen des Aufenthalts kaum ein Wort (Abb. 4). Erst als seine Augen nach der Behandlung durch die Kräuter wieder funktionieren, ergreift er das Wort und erzählt Claire zum ersten Mal seine ganze Geschichte.65 Es scheint so, als sei ein Sprechen ohne Sehen nicht möglich.
Abb. 4 Wim Wenders: Bis ans Ende der Welt (D/F/AU 1991) © Wim Wenders Stiftung 2014
64 Vgl. C. Avventi: Mit den Augen des richtigen Wortes, S. 69. 65 Vgl. BEW DVD 2.
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Sind Wim Wenders’ frühe Filme von einer Lust am Schauen geprägt, von einer unbeweglichen Kamera, die dem Auge Zeit lässt, eine Szene bis ins kleinste Detail zu betrachten, stellt Bis ans Ende der Welt einen Neuanfang in Wenders’ Werk dar. Hier steht nun die Geschichte, die Story, im Vordergrund und Wenders ist zu einem „Schriftsteller mit der Kamera“ 66 geworden. In seinen frühen Filmen sprach er den Bildern noch einen sehr viel höheren Authentizitätsgrad als den Worten zu. Merklich wandelt sich diese Einstellung aber, sodass in Bis ans Ende der Welt gerade den Worten die Aufgabe zukommt, von der Bildersucht zu heilen.67 Diese Bewegung – weg von den Bildern und hin zu den Worten – lässt sich vereinzelt schon in früheren Wenders-Filmen finden. Der Fotograf Philip Winter etwa, der Protagonist aus Alice in den Städten, schießt im Lauf des Filmes immer weniger Fotografien (in Deutschland gar keine mehr), kehrt dafür aber zum Schreiben zurück. Er erkennt, dass das fotografische Bild dem Realitätsanspruch nicht immer gerecht werden kann und dass das einzelne Bild ohne übergeordnete Geschichte keine Identität aufweist.68 In Bis ans Ende der Welt findet sich diese Aussage noch verstärkt, wenn hier die Bilder nicht nur keine Realität wiedergeben, sondern die Traumbilder auch einen solchen Sog erzeugen, dass Claire und Sam davon süchtig werden. Auch die Heilung von Claire rückt den Status des Wortes oder der Schrift in den Vordergrund. Um Claire von dem Bann der Bilder zu erlösen, gibt Eugene ihr ihre eigene Geschichte zum Lesen und versucht damit, den durch die Bilder erlittenen Identitätsverlust rückgängig zu machen und sie wieder mit ihrer eigenen Identität zu verbinden. Das Wort ist hier mit Identitätsstiftung verknüpft und hat die Kraft, eine Biografie zu belegen. Auch die Aborigines machen deutlich, dass es Teil ihrer Kultur ist, ihr Land zu erzählen, um es vor dem Untergang zu bewahren.69 Von der Bildersucht und der Selbstentfremdung können – so kann man die Grundaussage des Filmes fassen – nur die Worte heilen.70 Ihnen spricht Wenders eine große verbindende Kraft zu, die es ermöglicht, sich seiner selbst zu vergewissern. Bilder hingegen, diesen Eindruck erweckt der Film, scheinen uns immer mehr von uns zu entfernen. Allein die Kraft des Wortes kann uns wieder zu uns zurückbringen.71 Dass diese These dem bildungsbürgerlichen Vorurteil entspricht, welches davon ausgeht, dass das Buch in der Lage ist, die von der neuen Technik ausgehenden Probleme zu lösen,72 kann eine Lesart sein. Aber auch wenn man die Bedeutung
66 Wim Wenders: Die Erde vom Himmel aus betrachtet. In: Die Zeit vom 17.08 1990, S. 47-48, hier S. 48. 67 Vgl. C. Avventi: Mit den Augen des richtigen Wortes, S. 102. 68 Vgl. P. Brandes: Auf der Suche nach dem verlorenen Bild. 69 Vgl. BEW DVD 2. 70 Vgl. N. Grob: Life Sneaks out of Stories, S. 202. 71 Vgl. W. Donohue.: Revelations, S. 12. 72 Vgl. M. Baier: Film, Video and HDTV, S. 103.
A M E NDE GAB ES NUR NOCH B ILDER
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der Schrift und des Wortes nicht ganz so stark als Gegenmittel zur fortschreitenden Technisierung des Alltags sehen möchte, wird deutlich, dass die Oralität hier der Visualität gegenüber gestellt wird. Indem Wenders die in den Bildern angelegte Tendenz zur Selbstentfremdung thematisiert, die sogar zu einer Blindheit gegenüber der Realität führen kann, macht er auf eine Gefahr aufmerksam, die für ihn in der Zukunft noch weiter verstärkt werden wird. Dieser Gefahr kann mit der Rückbesinnung auf die identitätsstiftende Stärke des Wortes begegnet werden. Das ist für einen Filmemacher, dessen Handwerk gerade in der Erzeugung von Bildern besteht, doch eine sehr ungewöhnliche Mission. Aber der Film zeigt: Im Anfang war das Wort – am Ende hat es nicht an Kraft verloren.
Hören statt Sehen? Derek Jarmans Blue (1993) als Hör-Film V ITO P INTO
My sight seems to have closed in. The hospital is even quieter this morning. Hushed. I have a sinking feeling in my stomach. I feel defeated. My mind bright as a button but my body falling apart – a naked light bulb in a dark and ruined room. There is death in the air here but we’re not talking about it. But I know the silence might be broken by distraught visitors screaming, ‚Help Sister! Help Nurse!‘ followed by the sound of feet rushing along the corridor. Then silence.1 DEREK JARMAN
Blue ist der letzte und sehr persönliche Film des britischen Filmemachers Derek Jarman aus dem Jahre 1993. Jarman, der 1994 an den Folgen einer AIDS-Erkrankung gestorben ist, thematisiert darin in bemerkenswerter Weise und auf ganz unterschiedlichen Ebenen sein fortschreitendes Erblinden, ausgelöst durch eine Infektion mit dem Zytomegalie-Virus (CMV) – ein Erblinden, das aufgrund der damaligen therapeutischen Möglichkeiten zumeist unausweichlich und unaufhaltsam war.2 1
Zitat aus: Blue (UK 1993, R: Derek Jarman); vgl. hierzu die DVD (2000, Salzgeber) sowie das zweisprachige Textbuch Derek Jarman: Blue. Das Buch zum Film. Kassel: Schmitz 1994.
2
Vgl. zum Stand von Forschung, Diagnostik und Therapie der AIDS-Erkrankung u.a. das regelmäßig aktualisierte Handbuch: HIV 2014/15. www.hivbuch.de, hrsg. v. Christian Hoffmann, Jürgen Rockstroh, Hamburg: Medizin Fokus Verlag 2014, http://hivbuch. files.wordpress.com/2011/12/hiv2014-15.pdf, letzter Zugriff am 09.01.2015. Zu Diagnostik und Therapie des fortschreitenden Erblindens durch das Zytomegalie-Virus (CMV), einer sog. ‚opportunistischen Infektion‘, die im Rahmen einer AIDS-Erkrankung ausbrechen kann, vgl. dort das von Christian Hoffmann verfasste Kapitel „CMV-Retinitis“, S. 360-364, sowie im Besonderen dessen dortige Zusammenfassung des Krankheitsverlaufs (360): „Die CMV-Retinitis [= Entzündung der Netzhaut, V.P.] war früher eine
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Für die folgende Annäherung an Jarmans Film Blue soll – anders als bei den bislang zumeist film- und bildtheoretisch vorliegenden Studien hierzu3 – die auditive Ebene ein zentraler Bezugspunkt sein. Es soll aus medienästhetischer Perspektive vor allem darum gehen, Blue als einen im wahrsten Sinne des Wortes ‚audiovisuellen Film‘ greifbar werden zu lassen, der über eine Bild- und eine Tonebene verfügt.
häufige AIDS-Erkrankung, an der bis zu 30 % der Patienten erblindeten. Sie tritt vor allem bei unbehandelten Patienten auf, die oftmals erst zu diesem Zeitpunkt als HIV-infiziert diagnostiziert werden […]. […] Wenn die CMV-Retinitis nicht rechtzeitig diagnostiziert und behandelt wird, ist immer der Visus bedroht. Bei Visusstörungen liegen fast immer bereits Läsionen vor, die auch bei adäquater Therapie nicht mehr reversibel sind. Die CMV-Retinitis bleibt damit auch heute eine gefährliche Erkrankung, obgleich sich die Prognose durch ART [= antiretroviral therapy, V.P.] deutlich verbessert hat […].“ Zudem sollte jede akut auftretende Sehstörung, „wie Verschwommensehen (‚Schneetreiben‘), Schatten oder Flecken“, so Hoffmann weiter, „Anlass sein, den Patienten unverzüglich zum Ophthalmologen zu schicken. Heute noch, nicht morgen! Die bereits symptomatische CMV-Retinitis ist ein Notfall – wo einmal ein schwarzer Fleck im Gesichtsfeld ist, bleibt ein schwarzer Fleck. […] CMV-Therapien können meist nur das Fortschreiten stoppen und nichts mehr rückgängig machen.“ (Ebd.) 3
Eine der wenigen Ausnahmen stellt diesbezüglich Jacques Khalip: ‚The Archaeology of Sound‘: Derek Jarman’s Blue and Queer Audiovisuality in the Time of AIDS. In: differences: A Journal of Feminist Cultural Studies, Nr. 21,2 (2010), S. 73-108 dar, der v.a. aus queerer und gendertheoretischer Perspektive eine Art Klangarchäologie aus dem Film Blue entwickelt. Vgl. außerdem zu Derek Jarmans Werken und Arbeitsweise/n sowie im Speziellen zu Blue u.a.: Chris Lippard (Hrsg.): By angels driven. The films of Derek Jarman. Wiltshire: Flicks Books 1996; Jenna Carine Ashton: Derek Jarman’s Blue: Negating the Visual. In: Journal of Applied Arts & Health, Nr. 3,3 (2012), S. 295-307; Christina Scherer, Guntram Vogt: Derek Jarman. In: Augen-Blick, Nr. 24 (1996), S. 8-68; Nicoletta Vallorani: Path(o)s of Mourning. Memory, Death and the Invisible Body in Derek Jarman’s Blue. In: Saggi/Ensayos/Essais/Essays, Nr. 4,10 (2010), S. 82-92; Peter Wollen: BLUE. In: new left review, Nr. 6 (nov/dec 2000), S. 120-133; Martin Frey: Derek Jarman – Bewegte Bilder eines Malers. Home Movies, Super-8-Filme und andere kleine Gesten. Norderstedt: Books on Demand 2008, S. 82-89; Daria Kołacka: Derek Jarman. Das ultimative Blau. In: Sebastian Egenhofer, Inge Hinterwaldner, Christian Spies (Hrsg.): Was ist ein Bild? Antworten in Bildern. Gottfried Boehm zum 70. Geburtstag. München: Fink 2012, S. 71-73.
H ÖREN STATT S EHEN ?
R EDEN
ÜBER
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E RBLINDEN
Die Klangebene des Essayfilms4 Blue basiert auf einer von Tilda Swinton, John Quentin, Nigel Terry sowie Derek Jarman selbst eingesprochenen Textcollage, die mit Musik (u.a. von Simon Fisher Turner), (atmosphärischen) Geräuschen, Klängen und minimalistischen Sounds sowie (zum Teil chorischen) Gesangspartien kontrastiert. Große Teile der sprachlich vertonten Textebene von Blue bestehen aus Tagebucheinträgen von Derek Jarman,5 in denen er sein Erblinden aufgrund des Zytomegalie-Virus’ als Folge seiner AIDS-Erkrankung dokumentiert. Alltägliche Szenen aus Jarmans Klinik-Aufenthalten werden beschrieben. Es handelt sich dabei jedoch nicht um ein konkretes Aufzeichnen im Sinne einer FilmDokumentation, einer Originalton-Reportage oder eines Radio-Features. Die – mehr auf einer biografischen Ebene angesiedelten – Sequenzen werden auf der akustischen Ebene von Blue fast durchweg fiktionalisiert, etwa indem die Textpassagen nicht nur von Jarman, sondern ebenso von John Quentin oder Nigel Terry gesprochen werden. Wir hören entsprechend nie konkret – wie dies für gewöhnlich in einer dokumentarischen Originalton-Situation in Szene gesetzt wird –, wie Derek Jarman z.B. von einem Arzt untersucht wird, sondern ausschnitthafte und fiktionalisierte (Re-)Konstruktionen solcher Situationen: The doctor in St Bartholomew’s Hospital thought he could detect lesions in my retina – the pupils dilated with Belladonna – the torch shone into them with a terrible blinding light.
Look left Look down Look up Look right
Blue flashes in my eyes
Zu diesen Situations-(Re-)Konstruktionen fügen sich Reflektionen über den Krankheitsverlauf und allgemein über dessen Klinikaufenthalte. In solch einer reflektierenden Haltung werden in kurzen Episoden beispielsweise ein Wartezimmer be-
4
Vgl. zu dieser gattungsspezifischen Einordnung Christina Scherer: Ivans, Marker, Godard, Jarman – Erinnerung im Essayfilm. München: Fink 2001.
5
Vgl. zu Jarmans Tagebucheinträgen aus seinen letzten Lebensjahren auch deren posthume Publikation in Derek Jarman: Smiling in Slow Motion. London: Vintage 2000.
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schrieben und Jarmans Gefühle gegenüber unterschiedlichen dort sich ereignenden Situationen – auch im Verhalten zu anderen Patienten – zur Sprache gebracht: Here I am again in the waiting room. Hell on Earth is a waiting room. Here you know you are not in control of yourself, waiting for your name to be called: ‚712213‘. Here you have no name, confidentiality is nameless. Where is 666? Am I sitting opposite him/her? Maybe 666 is the demented woman switching the channels on the TV.6
Zum einen wird in dieser kurzen, aber prägnanten Einlassung zur Anonymisierung von Patienten deutlich, inwieweit darüber die Privatsphäre geschützt werden soll, doch zum anderen wird hier ebenso die (paradoxerweise) äußerst unpersönliche und sprichwörtliche Behandlung ‚als Nummer‘ angesprochen, die als Subtext im Klinikalltag stets mitschwingt. Jarman bindet zudem kleine Momente der Begegnung (mit anderen Patienten) in die Wartezimmer- und Untersuchungs-Sequenzen mit ein, es sind Momente des Oszillierens zwischen der eigenen Erkrankung und der Erkrankung anderer: Jean Cocteau7 takes off his glasses, he looks about him with an indescribable meanness. He has black slip-on shoes, blue socks, grey trousers, a Fairisle sweater and a herringbone jacket. The posters that plaster the walls above him have endless question marks, HIV/AIDS?, AIDS?, HIV?, ARE YOU AFFECTED BY HIV/AIDS?, AIDS?, ARC [= AIDS related complex, V.P.]?, HIV? This is a hard wait. The shattering bright light of the eye specialist’s camera leaves that empty sky blue after-image. Did I really see green the first time? The after image dissolves in a second. As the photographs progress, colours change to pink and the light turns to orange. The process is a torture, but the result, stable eyesight, worth the price and the twelve pills I have to take a day. Sometimes looking at them I feel nauseous and want to skip them. It must be my association with H.B., lover of the computer and king of the keyboard that brought my luck on the computer which chose my name for this drug trial. I nearly forgot as I left St Mary’s I smiled at Jean Cocteau. He gave a sweet smile back.
Ein andermal wiederum werden die Nebenwirkungen der zu Beginn der 1990er Jahre extrem belastenden und quasi noch am Beginn stehenden Entwicklung der
6
Vgl. hierzu ebenso eine weitere Reflektion Jarmans zu den häufig stattfindenden Blutentnahmen: „In the hospital it is as quiet as a tomb. The nurse fights to find a vein in my right arm. We give up after five attempts. Would you faint if someone stuck a needle into your arm? I’ve got used to it – but I still shut my eyes.“
7
Derek Jarman bezeichnet einen älteren Herrn und Mitpatienten, der in einer Sequenz mit ihm im Wartezimmer der Untersuchungsabteilung sitzt und dessen Namen er nicht kennt, als ‚Jean Cocteau‘, da er ihm gewisse Ähnlichkeiten zur äußerlichen Erscheinung des französischen Autors und Regisseurs zuschreibt.
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medikamentösen Therapie von CMV-Infektionen lapidar aufgezählt – aus dem Gehörten lässt sich folgern, dass Jarman an einer klinischen Studie zum Wirkstoff Ganciclovir (DHPG) teilgenommen haben muss: The side effects of DHPG, the drug for which I have come into hospital to be dripped twice a day, are: Low white blood cell count, increased risk of infection, low platelet count which may increase the risk of bleeding, low red blood cell count (anaemia), fever, rash, abnormal liver function, chills, swelling of the body (oedema), infections, malaise, irregular heartbeat, high blood pressure (hypertension), low blood pressure (hypotension), abnormal thoughts or dreams, loss of balance (ataxia), coma, confusion; dizziness, headache, nervousness, damage to nerves (paraesthesia), psychosis, sleepiness (somnolence), shaking, nausea, vomiting, loss of appetite (anorexia), diarrhoea, bleeding from the stomach or intestine (intestinal haemorrhage), abdominal pain, increased number of one type of white blood cell, low blood sugar, shortness of breath, hair loss (alopecia), itching (pruritus), hives, blood in the urine, abnormal kidney function, increased blood urea, redness (inflammation), pain or irritation (phlebitis).
Allein schon die hier aufgezählten, von der männlichen Stimme recht nüchtern und distanziert vorgetragenen potenziellen Nebenwirkungen der Testreihe, die Jarman als schon längst (immun-)geschwächter AIDS-Patient in Kauf nimmt, um sich zumindest eine nachhaltige Linderung von der Behandlung zu versprechen, bringt dem Rezipienten des Films die Schwere der Netzhaut-Erkrankung in äußerst verstörender Weise nahe. Und jene Aufzählung an höchst belastenden Nebenwirkungen wird daraufhin fortgesetzt: Retinal detachments have been observed in patients both before and after initiation of therapy. The drug has caused decreased sperm production in animals and may cause infertility in humans, and birth defects in animals. Although there is no information in human studies, it should be considered a potential carcinogen since it causes tumours in animals. (Herv. V.P.)
So ist die Hoffnung auf Besserung nur innerhalb einer grotesken Drohkulisse zu denken: Ein erblindender Patient geht das Risiko einer Netzhautablösung ein; ein immungeschwächter Patient geht das Risiko einer Krebserkrankung ein. Der abschließende Hinweis auf der Gebrauchsinformation des nun am Menschen zu testenden Medikamentenwirkstoffs erscheint in seiner Formelhaftigkeit daher schon fast zynisch: „If you are concerned about any of the above side effects or if you would like any further information, please ask your doctor.“ Doch was bleibt dem Erkrankten, als alle potenziellen Möglichkeiten der Linderung auszuschöpfen, in die Studie einzuwilligen – im Wissen, dass eine Nicht-Einwilligung hieße, nicht alles seinerzeit Mögliche gegen die bestehende Krankheit zu tun, das bereits bestehende Leiden zu vergrößern, den voraussehbar eintreffenden Tod zu beschleunigen: „I really can’t see what I am to do. I am going to sign it.“ Und jener Satz wiegt so-
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mit in mehrfacher Hinsicht schwer, wenn man die metaphorische und idiomatische Phrase „I really can’t see“ auf Jarmans reale Wahrnehmungssituation des ‚Nicht(mehr-)Sehen-Könnens‘ überträgt. Die extreme Schwere der körperlichen Beeinträchtigungen, die Grenzerfahrungen psychischer Belastbarkeit erahnt man als die Kippfigur der nüchtern erklingenden Stimme, die hier das Erblinden eines AIDSKranken zur Sprache bringt. Eines Kranken, der sein Erblinden, seinen nahenden Tod, seinen persönlichen Kampf gegen die unheilbare Krankheit vor Augen hat: „I caught myself looking at shoes in a shop window. I thought of going in and buying a pair, but stopped myself. The shoes I am wearing at the moment should be sufficient to walk me out of life.“
P ERFORMATIVER B ILDENTZUG You say to the boy open your eyes When he opens his eyes and sees the light You make him cry out. Saying O Blue come forth O Blue arise O Blue ascend O Blue come in
Blue handelt jedoch nicht nur auf sprachlicher, sondern auch auf struktureller Ebene auf eine ganz eigene und radikale Art und Weise vom Erblinden, von einem Bildentzug. Denn seine epistemologischen Voraussetzungen, seine mediale Konstellation als Film ermöglichen es Blue, das Verhältnis von Hören und Sehen, von Visualität und Auditivität zu fokussieren, wenn Derek Jarman dem Film dessen gewöhnliche Bildebene entzieht. Über die gesamte Dauer des circa 80minütigen Films ist – jeweils gerahmt durch einen in blauer Schrift auf Schwarzfilm gehaltenen Vorspann bzw. Abspann – nichts anderes zu sehen als eine monochrome, in International Klein Blue (IKB) erstrahlende Bildfläche.8 In Bezug auf die visuelle Ebene erscheint der Ansatz, ei-
8
Im vorliegenden Beitrag geht es weder um eine Auseinandersetzung mit der Geschichte der Farbe ‚Blau‘ in der Malerei sowie der Bildenden Kunst – in dieser Hinsicht wäre im Speziellen der Bezug des Malers Derek Jarman etwa zu den Arbeiten Yves Kleins aufzuarbeiten – noch um die sich ebenso aufdrängenden Bezugnahmen zur Farbe ‚Blau‘, etwa in der Literatur der Romantik. Der Fokus meines Beitrags richtet sich vielmehr auf Aspekte des Verhältnisses von Sehen und Hören, des Verhältnisses von Bild-Entzug und Erblinden einerseits sowie auf Aspekte der auditiven Wahrnehmung und akustischen Anschaulichkeit im Film Blue aus medienästhetischer Perspektive. Vgl. zur Geschichte der
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nen Film zu schaffen, der seine Bildwelten nicht in herkömmlicher visuell-semantischer Weise hervorbringt – sondern eben ‚nur‘ eine monochrome, aber dafür umso intensiver wahrzunehmende, blaue Farbfläche, eine abstrakte Bildebene zeigt –, radikal. Die gewöhnliche Filmrezeption erscheint grundsätzlich und wesentlich infrage gestellt. Die der Wahrnehmung inhärente Erwartungshaltung des Filmzuschauers wird selbst ins Zentrum gerückt, wie u.a. Jenna Carine Ashton konstatiert: „[the e]xperimental film Blue […] plays with the expectations of the visual and its supposed revelations and ‚truths‘ […]“.9 Man könnte sagen, dass die Erwartungshaltung des Rezipienten an einen TonFilm, den man für gewöhnlich anschaut und anhört, enttäuscht wird. Aus medienästhetischer Perspektive betrachtet, lässt sich jedoch auch sagen – und dies erscheint mir der entscheidende Aspekt speziell während der Wahrnehmung von Blue –, dass die Erwartungshaltung einerseits zwar erschüttert, beim Rezipienten aber auch eine Reflexion über Wahrnehmung aufgrund der aktuellen Aufführungs- und Rezeptionssituation angestoßen wird, gerade wenn der Film-Wahrnehmende primär etwas zu hören und weniger etwas zu sehen bekommt.10 Dies führt letztlich auch zu einer Frage, die ich nach einigen Gedanken zum Begriff der Synchrese und dem Verhältnis von Bild und Ton im Film wieder aufnehmen werde: nämlich ob es sich
Farbe ‚Blau‘ einschlägig: Michel Pastoureau: bleu – histoire d’une couleur. Paris: Seuil 2000 sowie eine exemplarische und ausführliche Darstellung zum Bezug Derek Jarmans zu den Arbeiten Yves Kleins in P. Wollen: BLUE. 9
J. C. Ashton: Derek Jarman’s Blue, S. 295.
10 In puncto Bildentzug ist Blue grundsätzlich und sicherlich weit radikaler einzuschätzen als jene zwei anderen mir bekannten Filmbeispiele, in denen bewusst in weiten Teilen auf eine visuelle Ebene verzichtet wird, und die wiederholt in der Auseinandersetzung mit Blue Erwähnung finden. So zeigt die Bildspur des Films L’Homme atlantique (F 1981, R: Marguerite Duras) fast durchgängig ein Schwarzbild zum gesprochenen Voice-over der Autorin und Regisseurin. Alejandro González Iñárritus elfminütiges Filmsegment ‚Mexico‘ aus dem Kompilations-Film 11’09”01 – September 11 wiederum (UK/F/EGY/ JPN/MEX/USA/IRN 2002, R: Diverse) zeigt die meiste Zeit über ebenso Schwarzfilm mit einigen kurzen, über mehrere Frames dauernde, visuelle ‚Einsprengsel‘, um zum Ende des Kurzfilms schließlich in ein grelles Weiß zu wechseln. Vgl. zu L’Homme atlantique u.a. Michel Chion: La voix au cinéma. Paris: Éd. de l’Étoile 1982, S. 26 u. S. 100f.; Doris Kolesch: Wer sehen will, muss hören. Stimmlichkeit und Visualität in der Gegenwartskunst. In: dies., Sybille Krämer (Hrsg.): Stimme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006, S. 40-64, hier S. 60ff. Zu Alejandro G. Iñárritus ‚Mexico‘ vgl. u.a. Hans Jürgen Wulff: Schwarzbilder: Notizen zu einem filmbildtheoretischen Problem. In: Image. Zeitschrift für interdisziplinäre Bildwissenschaft, Nr. 17 (2013), S. 8-25, hier S. 15; Vito Pinto: Stimmen auf der Spur. Zur technischen Realisierung der Stimme in Theater, Hörspiel und Film. Bielefeld: transcript 2012, S. 359ff.
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bei Blue überhaupt noch um einen Film handelt oder vielmehr um ein Hörstück, das zusammen mit einem blauen Visual – etwa wie in einer Installation – präsentiert wird.11
Z USAMMENZIEHEN VON B ILD Z UR S YNCHRESE IN B LUE
UND
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B LAU :
Auch für Blue gilt – und dies mag auf den ersten Blick und zu diesem Zeitpunkt erstaunen –, was Michel Chion in seinen grundlegenden Schriften zum Verhältnis von Visualität und Auditivität im Film untersucht und unter dem Konzept der „Synchrese“ zusammengefasst hat – einem Neologismus, der die Begriffe ‚Synthese‘ und ‚Synchronisation‘ miteinander verknüpft: [L]a synchrèse est le nom que nous avons donné à un phénomène psycho-physiologique spontané et réflexe, dépendant de nos connexions nerveuses et musculaires, et qui consiste à percevoir comme un seul et même phénomène se manifestant à la fois visuellement et acoustiquement la concomitance d’un évènement sonore ponctuel et d’un évènement visuel ponctuel, dès l’instant où ceux-ci se produisent simultanément, et à cette seule condition nécessaire et suffisante.12
In der Regel geht es hierbei um Ereignisse, während derer das, was auf der Bildebene zu sehen ist (beispielsweise sich unterhaltende Menschen, eine urbane Szenerie, eine weite Wüstenlandschaft, eine temporeiche Verfolgungsjagd etc.), auch in bestimmter Weise zu hören ist und sich auf der Tonspur mehr oder minder eindeutig repräsentiert findet. Und doch trifft jenes Phänomen der Synchrese den Wahrnehmenden auch in Blue. Nämlich eben dann, wenn auf der vertonten Textebene die Stimmen konkret oder metaphorisch auf die Farbe ‚Blau‘ zu sprechen kommen.
11 Über das Erscheinen des Films im Kino hinaus wurde Blue zeitnah auch mehrfach im BBC-Radio ausgestrahlt: „Although its primary release was to cinema distribution, the BBC broadcast a ‚simul-cast‘: presenting an audio dub version of Blue on the radio; and distributed a postcard of IKB, so that its audience could gaze upon the colored card in the privacy of their homes and listen along with their transistor radios. Similar incarnations of the film appear in poster form, performance, and television.“ (Isla Leaver-Yap: Film without Film. Derek Jarman’s Blue. In: http://blogs.walkerart.org/filmvideo/2014/10/23/ film-without-film-derek-jarmans-blue/, letzter Zugriff am 19.01.2015) Des Weiteren wurde 1993 jene Tonspur des Films, als reines Hörstück, auch als Audio-CD vertrieben (Label: Mute Records). 12 Michel Chion: Le Son [1998]. Paris: Armand Colin 2004, S. 223f. Vgl. hierzu u.a. auch V. Pinto: Stimmen auf der Spur, S. 283ff.
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Dieses Sprechen über Blau geschieht – jenseits der Beschreibungen von Krankenhaus-Szenen in Warte- und Untersuchungsräumen sowie im Krankenzimmer – fast durchgängig. Ein Beispiel hierfür ist etwa eine gleich zu Beginn des Films in poetischer Sprache gehaltene Textpassage, die dem Rezipienten in ganz unterschiedlichen Aspekten eine quasi ‚blaue‘ Landschaft auch über die Klangebene eröffnet: Blue Bottle Buzzing Lazy days The sky blue butterfly Sways on a cornflower Lost in the warmth Of the blue heat haze Singing the blues Quiet and slowly Blue of my heart Blue of my dreams Slow blue love Of delphinium days
An dieser kurzen Sequenz lässt sich stellvertretend für die zahlreichen anderen Beispiele zeigen, dass das Konzept der Synchrese nicht nur hinsichtlich konkreter, semantisierbarer visueller Szenerien, die zudem vertont sind, greift: Synchrese ereignet sich vielmehr auch dann, wenn letzten Endes zwei mehr oder minder abstrakte Ebenen – im vorliegenden Fall das vermeintlich nicht visualisierte Akustische sowie die monochrome Farbfläche – zusammenkommen. Auch wenn auf der Leinwand keine filmbildnerische Narration im traditionellen Sinne stattfindet, so sehen wir ‚Blau‘ und hören zugleich ‚Blau‘ bzw. Assoziationen, Erinnerungen von blauen Dingen oder Gedanken über – metaphorische wie konkrete – ‚blaue‘ Phänomene. Dass es sich beim Vorgang der Synchrese in erster Linie um einen mentalen und perzeptiven Vorgang handelt, der seitens des Wahrnehmenden stattfindet – und damit möchte ich diesen filmtheoretischen Einschub schließen – begründet Chion mit der Disparatheit von Ton- und Bildebene im Film, der grundsätzlichen, auch auf modaler Ebene statthabenden epistemischen Trennung von Visualität auf der einen und Auditivität auf der anderen Seite: Ce mot de ‚synchrèse‘ est à la rigueur ambigu, car il ne s’agit pas d’une véritable synthèse au sens de dépassement ou de résorption d’une différence. L’image reste l’image et le son reste le son; ce qu’ils concourent à représenter existe en dehors d’eux, comme une ombre projetée. S’il y a une audio-image – expression qu’il nous arrive d’employer – elle n’est donc pas celle
190 | V ITO P INTO qui est sur l’écran. Elle est mentale, tout comme l’espace créé par le découpage et le montage dans une mise en scène.13
B LUE
SEHEN UND HÖREN
Neben den Textauszügen aus dessen autobiografischen Aufzeichnungen finden sich darüber hinaus auf der akustischen Ebene von Blue Fragmente aus Derek Jarmans aphorismenartiger Zusammenstellung im Buch Chroma vor, in denen er das Farbspektrum – mal assoziativ, mal historisch, mal in poetischen Prosaminiaturen, aber letztlich immer aus der Perspektive des Künstlers – dokumentiert, kommentiert und dem Rezipienten darüber Assoziations- und Imaginationsräume eröffnet: Blue is the universal love in which man bathes – it is the terrestrial paradise.
In the pandemonium of image I present you with the universal Blue Blue an open door to soul An infinite possibility Becoming tangible.
Blue protects white from innocence Blue drags black with it Blue is darkness made visible14
Mit dem Verzicht auf ein Zeigen einer zwar fiktiven, aber durchaus nachvollziehbaren und semantisierbaren Welt auf der Bildebene scheint Jarman die gesamte Gattung ‚Film‘ infrage zu stellen, insofern man sowohl aus film-historischer als auch aus sprachgebräuchlicher Sicht sagen kann, dass wir es primär gewohnt sind, einen Film zu schauen, und weniger primär zu hören. Darüber hinaus stellt Jarman zur
13 M. Chion: Le Son, S. 224, Herv. i. O. 14 Vgl. hierzu auch die Zitate aus der deutschsprachigen Ausgabe von Derek Jarman: Chroma. Ein Buch der Farben. Berlin: Merve 1995: „Blau ist die universelle Liebe, in welcher der Mensch badet – es ist das irdische Paradies.“ (140); „Im Pandämonium der Bilderwelt / Präsentiere ich dir das universelle Blau / Blau, eine offene Tür zur Seele / Eine unbegrenzte Möglichkeit / Die greifbar wird.“ (146); „Blau schützt Weiß vor der Unschuld / Blau hat Schwarz im Schlepptau / Blau ist sichtbar gemachte Dunkelheit.“ (149)
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Diskussion, was im Bild gezeigt werden kann und sollte. Gerade deshalb macht es Sinn, von Blue weiterhin als einem Film zu sprechen – und nicht als einem Hörstück mit Installationscharakter, einer ‚bloßen‘ experimentellen Anordnung unterschiedlicher, mehr oder weniger heterogener Klangmaterialien (Sound- und Klangcollagen, Musik, vertonten autobiografischen Notizen des Regisseurs, sprechende und singende Stimmen) vor einer in IKB ‚eingefärbten‘ Kino-Leinwand, die beliebig durch ein blaues Poster oder eine blaue Postkarte ersetzt werden kann. Jener Film setzt m.E. Jarmans persönlichen, im eigentlichen Sinne unmöglichen Kampf gegen die unheilbare Krankheit auf eine Weise in Szene, die Blue zu einem filmischen Vermächtnis der besonderen Art macht: Es ist die Realisierung einer eigentlich unmöglichen film- und wahrnehmungstheoretischen (Experimental-)Anordnung, die zugleich und zu gleichen Teilen die auditive, die visuelle und die audiovisuelle Wahrnehmung – also die Verknüpfung, Verschränkung, Verflechtung jener beiden Wahrnehmungsmodi – jeweils einzeln, aber auch in unterschiedlichen Abstufungen der Mischung untereinander in den Fokus rückt. Der Zuschauer wird damit auf eine spezifische Weise ins Erblinden mit einbezogen.
V ISUALITÄT
VS .
A NSCHAULICHKEIT
IM BLUE SCREEN
Wie gesagt: Es gibt zwar während der knapp 80 Minuten – aus bildsemantischer Perspektive betrachtet – wenig zu sehen und dafür – aus auditiver Perspektive – sicherlich umso mehr zu hören. Doch wird auf der sprachlichen und somit akustischen Ebene das Visuelle, die Visualität, die Verunmöglichung der Sicht bzw. deren Entzug auf die filmische Oberfläche etc. quasi über die gesamte Dauer des Films thematisiert und sowohl sprachlich als auch bildästhetisch reflektiert. Es würde daher zu kurz greifen, zu sagen, dass dem gewohnheitsmäßig sehenden Filmzuschauer in Blue also etwas vorenthalten würde, selbst wenn das Bedürfnis entsteht, mehr zu sehen zu bekommen (bzw. bekommen zu wollen), und nicht bloß während des gesamten Films auf eine blaue Leinwand zu schauen. Denn Blue erzählt die Geschichte eines möglichen und plötzlichen Erblindens, und zwar nicht nur die persönliche und individuelle ‚Geschichte des Erblindens‘ Derek Jarmans, sondern das temporäre und filmästhetisch erzeugte Erblinden des Filmzuschauers, generiert durch den Entzug der Bildebene: Uns als Filmwahrnehmenden wird eine mögliche Sicht auf das, was wir hören, von Beginn an über die Dauer des gesamten Films verwehrt, nämlich Jarmans Erblinden – ein über mehrere Jahre schleichender und stetig verlaufender Prozess –, dessen letzte Phase wir als Rezipienten über die in Blue vertonten (auto-)biografischen Fragmente zu Gehör bekommen. Wir werden als Zuschauer auf der visuellen Ebene also mit der blauen (Ober-) Fläche konfrontiert, die uns vermeintlich den Blick auf den ‚wahren‘ Film, auf das ‚wahre‘ Leben, auf das ‚reale‘ Erblinden Jarmans verstellt und dadurch entzieht.
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Doch ‚erblinden‘ wir Zuschauer beim Betrachten des Films Blue im übertragenen Sinne? Findet gar, wie dies Jenna Carine Ashton in ihrem gleichnamigen Artikel behauptet, eine „Negation des Visuellen“ statt? So heißt es dort: What […] is the aim of Blue, in its lack of the visually filmic or photographic; in its negation of the visual? […] If the visual image disturbs, Blue emphasizes that the absence of the visual is as equally powerful in its ability to trouble us. Blue, then, does not aim to simply recall or represent a scene of pain and suffering, it aims to recreate a sensory experience within the viewer. […] Jarman’s still blue screen, behind which unexpected sound and voices emerge, offers no reassurance.15
Und sie konstatiert, dass wir keine, wie sie es ausdrückt, „Wahrheit“, die wir im Visuellen suchen, auf der blauen Leinwand antreffen bzw. dort auffinden können, da jene „Wahrheiten“ – in ihren Worten – „may actually be falsehoods“, denn: All images exclude; something is always left out of the picture. The blue screen offers a statement: there are no images, no falsehoods, no limited perspectives to be found here. I have excluded all; and in doing so, I offer the possibility of all to be considered, remembered.16
Der Zuschauer erhält über die visuelle Ebene des Films keine bildnerisch hervorgebrachte Evidenz bezüglich der auf klanglicher und sprachlicher Ebene vermittelten Dinge: Wir sehen nicht Derek Jarman, wie er im Krankenhaus liegt, in Warteräumen mit anderen Patienten wartet, in Untersuchungsräumen von medizinischem Personal untersucht und behandelt wird. Wir sehen auch nicht durch seine mehr und mehr verschwimmende und abnehmende Sehfähigkeit in Form von medientechnisch bearbeiteten, sozusagen: unscharfen bzw. filmtechnisch ent-‚schärften‘ und subjektiven Kameraeinstellungen auf bzw. mit ihm durch den letzten Abschnitt seines Lebens – auf die behandelnden Ärzte, auf das Pflegepersonal, auf Begegnungen mit Mitpatienten und nicht zuletzt auch auf seinen Partner, der im Film in den vertonten Textfragmenten immer „H.B.“ genannt wird und daher indirekt in Erscheinung tritt. Dem Rezipienten wird somit die traditionell gegebene Bildhaftigkeit des Films entzogen, die er in der Regel erwartet, wenn er ein kinematographisches, also ein zeitbasiertes Bilder-Ereignis wahrnimmt. Doch legt sich Ashton m.E. zu sehr auf eine potenzielle Evidenzialisierung qua Visualisierung bzw. deren kritischer Brechung und Umkehrung fest, indem die Visualisierung im Falle des Films Blue dem Anschein nach „negiert“ wird:
15 J. C. Ashton: Derek Jarman’s Blue, S. 298. 16 Ebd., S. 299, Herv. i. O.
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Blue […] is not a gesture of unification but emphasizes the fragmentation and dislocation (and difference) of human experience; the negation of the visual – as deployed via the blue screen – forces the viewer into considering such fragmentation and dislocation. The visual no longer offers any safe reassurance of bodily stability. However, this interpretation presumes that the visual initially offers that sense of comfort; that it is only through a connection to the visual that any sensory unease can be placated – that other sensory receptors and experiences are secondary to the visual. […] This tension between rejecting and desiring the visual is at the core of the film; reflecting Jarman’s own struggle to understand, and adapt to, is illness and loss of vision.17
Zwar kreist der Film, wie Ashton argumentiert, wesentlich um die Spannung zwischen „Ablehnung und Begehren des Visuellen“ und reflektiert über Jarmans fortschreitende AIDS-Erkrankung und dessen Erblinden. Und ja, es wird eine „traditionelle Bildfunktion“ im Sinne eines „Raum[s] der Aktion“ verweigert, wenn visuell „keine Darstellung von Menschen oder Handlungen“18 stattfindet. Doch dass keine (dokumentarischen) Filmausschnitte aus Krankenhäusern und Krankenzimmern oder möglicherweise (private) Filmbilder, die die voranschreitende Erkrankung Jarmans dokumentieren, zu sehen sind, kann nicht negieren, dass umso mehr (auto)biografische Züge durch die akustische Ebene konkret und in ihrer ganzen Härte ‚gezeigt‘ werden und zu gewahren sind. Hierüber ereignet sich nämlich Anschaulichkeit. Wir werden als Rezipienten von Blue Zeuge des Kampfes Derek Jarmans mit seiner Krankheit: sei es durch die Vertonung seines ‚Erblindungs-Protokolls‘, welches (wenn auch nicht auf visueller Ebene) Zeugnis seiner Krankheit gibt; sei es, indem Tagebucheinträge zur Sprache gebracht werden (auch wenn die anderen Sprecher/innen ihnen und somit ihm ihre Stimme ‚leihen‘, ist dem Rezipienten dennoch bewusst, dass es sich um Jarmans persönliche Aufzeichnungen handelt). Wir werden hierin qua Stimme Zeuge, die von Jarmans kräftezehrender Krankheit gezeichnet ist und darin gewissermaßen wie ein Original-Ton funktioniert.19
17 Ebd., S. 300. 18 D. Kolesch: Wer sehen will, muss hören, S. 60. 19 Vgl. zum Originalton-Verfahren überblicksartig: Harun Maye, Cornelius Reiber, Nikolaus Wegmann (Hrsg): Original/Ton. Zur Mediengeschichte des O-Tons. Konstanz: UVK 2007, sowie darin im Speziellen Nikolaus Wegmann: Der Original-Ton. Eine Medienerzählung, S. 15-24, hier S. 19f. (Herv. i. O.): „Einen wirklichen Originalton […] hört man nicht ohne Anteilnahme. Er schlägt seine Zuhörer in Bann. In dem Augenblick, in dem er spricht und da ist, gibt es nichts mehr, was die Aufmerksamkeit von ihm ablenkt. Er ist ein Präsenzmedium. Es gibt keine Diskrepanz zwischen der akustischen Dimension und dem Körper, der Haltung, in der gesprochen wird, und dem, was gesagt wird. Diese als Ausnahme wahrgenommene Stimmigkeit wird gerade nicht einer antrainierten schau-
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Welche darüber hinausgehende Evidenz, welches Surplus würde also eine semantisierbare Bildfläche darstellen, würden wir Jarman beim Sprechen seiner Textfragmente sehen können? Die vermeintliche Macht des Bildes – und dessen war sich Jarman als Maler und Filmemacher zweifelsohne bewusst – kann während des gesamten Films in keiner Weise mit der Macht des Akustischen, mit dem Gewahren des Klangs der Stimme als körperlicher Spur und physischem Ausdruck „gelebter Präsenz“20 in Konkurrenz treten. Der Klang der Stimme Jarmans – gepaart mit dessen persönlichen Tagebuchaufzeichnungen – fällt mit aller Wucht in die Filmrezeption ein, ja, kann sich möglicherweise im Blau erst voll entfalten. Die Evidenz des bevorstehenden und unabwendbaren Todes des Regisseurs geht aus dem Akustischen hervor und benötigt den visuellen ‚Beweis‘ nicht, um wirken bzw. auf den Rezipienten einwirken zu können. Im Zusammenspiel mit der visuell-sinnlichen Erfahrbarkeit des Blauen ist es die auditive Ebene, die unmittelbar sinnlich und affektiv wirkt, uns zum Resonanzraum macht und dabei selbst Räume der Imagination eröffnet. Sie ermöglicht das Unmögliche: das Leiden eines anderen, die Unmöglichkeit seiner Heilung zu spüren.21 Und de facto findet auf visueller Ebene somit auch keine Negation statt. Der sehende Zuschauer erblindet – im übertragenen Sinne – in seiner Anschauung des Blauen nicht, sondern wird nicht zuletzt auch darüber ständig mit dem Thema Vi-
spielerischen Leistung zugeschrieben. Der Originalton ist als Ereignis echt, […], er hat ‚Aura‘.“ 20 Vgl. zum Begriff der ‚gelebten Präsenz‘ Dieter Mersch: Körper zeigen. In: Erika FischerLichte (Hrsg.): Verkörperung. Tübingen/Basel: Francke 2001, S. 75-89, hier S. 79, sowie daran anschließend: Vito Pinto: (Zeige-)Spuren der Stimme: Zur technischen Realisierung von Stimmen im zeitgenössischen Theater. In: Ludwig Jäger, Horst Wenzel (Hrsg.): Deixis und Evidenz. Freiburg: Rombach 2008, S. 169-193. 21 Vgl. zu diesem Aspekt auch Katharina Rost: Lauschangriffe. Das Leiden anderer spüren. In: Doris Kolesch, Vito Pinto, Jenny Schrödl (Hrsg.): Stimm-Welten. Philosophische, medientheoretische und ästhetische Perspektiven. Bielefeld: transcript 2008, S. 171-187, hier S. 180 (Herv. V.P.): „Zwischen den Extremen des Schreis und der Stille liegt eine Bandbreite stimmlicher Manifestationen wie Röcheln, Keuchen, Stöhnen, Ächzen, Klagen, Jammern, Wimmern, Seufzen, Jaulen bis hin zum Zetern und Zischeln, die den Eindruck von – seelischen oder körperlichen – Leiden transportiert und eine unmittelbar sinnliche und affektive Wirkung auf das Publikum haben kann, die neben der im Höchstmaß exponierten Körperlichkeit der gehörten Person vor allem auf der erzeugten intimen Nähe zwischen dem zu Hörenden und den Zuhörenden beruht.“ Katharina Rost bezieht sich in ihrem Beitrag zwar im Speziellen auf theatrale Stimmperformances, doch möchte ich betonen, dass die „unmittelbar sinnliche und affektive Wirkung“ sowohl mediatisierte Klangphänomene im Allgemeinen als auch weniger extreme stimm-klangliche Artikulationen im Speziellen betrifft, das gilt somit auch für diejenigen, die in Blue zu hören sind.
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sualität konfrontiert. Daher scheint es mir präziser, von einer visuellen Reduktion zu sprechen – eine Reduktion, die durchwirkt ist mit einer Fülle sprach-klanglich evozierter Bilderzeugung. Auf ganz eigene Weise kommt denn auch mit dieser blauen Leinwand das filmtechnische Bluescreen-Verfahren ins Spiel, dem hier der Zuschauer einverleibt wird. Der Sehend-Hörende wird geradezu darauf gestoßen, zu imaginieren, zu assoziieren und somit die blaue Fläche, den blue screen, mit den gehörten Worten, Klängen, Satzfragmenten mit eigenen (vielleicht medial geprägten, aber auch selbst erinnerten) Bildern zu überlagern. So entsteht in Jarmans Film „ein Gedicht aus Musik, Vogelstimmen, Meeresrauschen, Alltagsgeräuschen und menschlichen Stimmen, das Querverbindungen zwischen persönlicher Biografie, Geschichte und aktuellem Geschehen schafft“,22 wie Doris Kolesch treffend konstatiert. Blue erzeugt „einen Klangraum, ein rhythmisches Gewebe von Stimmen, Geräuschen und musikalischen Klängen, das die geläufige Definition des Films als ‚bewegte Bilder‘ ad absurdum führt und zugleich, auf einer anderen Ebene, bestätigt“.23 Jarman entwirft somit auf der klanglichen Ebene durch „Stimmen, Geräusche und Musik“ einen „eigenen Raum“, der den Zuschauer dazu einlädt, „seinen eigenen imaginären Film zu projizieren. Die Produktion von Bildern kommt hier nicht mehr, wie üblich, dem Film zu, sondern seinem Publikum.“24 Das Blau der Leinwand eröffnet Blick- bzw. Sicht-Räume des Potenziellen, es eröffnet und ermöglicht Assoziationen. Und die Ähnlichkeit zum Bluescreen- bzw. Bluebox-Verfahren ist selbst eine dieser erwirkten potenziellen Assoziationsketten.
H ÖR -F ILM Somit wird die Imaginationstätigkeit des Zuschauers und Zuhörers angeregt durch reduziertes Sehen und daraus resultierend fokussierendes und sozusagen ‚erweitertes‘, weil kompensierendes Hören. Es wird jedoch auch – im Sinne Pierre Schaeffers und in dessen Folge Michel Chion – ein reduziertes Hören („écoute réduite“)25 evoziert, also eine spezifische Konzentration auf das Auditive: auf das Erklingende, das Gesprochene, das sich Verlautbarende, das Akustisch-in-Erscheinung-Tretende. Und daraus ergibt sich sogar eine doppelte Reduktion: Ergänzen sich in der Regel im Film Bild- und Tonspur und folgen somit den Gesetzmäßigkeiten der Synchrese (also, wie oben ausgeführt, der Synthese und Synchronisation von Bild- und Ton-
22 D. Kolesch: Wer sehen will, muss hören, S. 62. 23 Ebd., S. 60. 24 Ebd., S. 62. 25 Vgl. zur „révolution schaefferienne“ aufgrund des sogenannten „reduzierten Hörens“ M. Chion: Le Son, S. 237ff.
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ebene), so werden in Blue zwei ‚eindimensionale‘ Medien und zwei Wahrnehmungsmodi voneinander separiert, gegenübergestellt, aber zugleich zusammengeführt. Es wird scheinbar die traditionelle Hierarchie in der Filmrezeption verkehrt: Der für gewöhnlich hörend-sehende Zuschauer eines traditionell narrativen Films, der darin einer mehr oder minder eindeutigen und verständlichen Bild-Ton-Semantik folgen kann, transformiert sich in Blue zu einem sehend-hörenden Rezipienten. Doch ist Blue kein bloßes Hörstück mit einer blauen Fläche als visueller ‚Beigabe‘. Blue ist vielmehr ein Hör-Film, der auf unterschiedlichen Ebenen eine Auseinandersetzung mit Visualität und das Verhältnis von Visualität und Auditivität thematisiert, das Verhältnis von Sehen(-Wollen) und Nicht(-mehr)-Sehen(-Können). Letztendlich kommt es in der Konfiguration des Jarman’schen Films Blue auf das Verhältnis zwischen Sehen-Können (und Hören) und Nicht-mehr-Sehen-Können (und weiterhin Hören-Können) an – ein Verhältnis, das der Film dergestalt nur durch seine monochrome Bildebene entfalten kann. So fügen sich hier mehrere Aspekte zueinander, die für die von Blue erzeugte Rezeptionssituation maßgeblich sind, indem sie Widersprüche, Paradoxien und Irritationen generieren: a) der vermeintliche Bildentzug, der die visuelle Ebene (auf den ersten Blick betrachtet) „negiert“ (Ashton); b) die dennoch gegebene blaue Bildfläche, die selbstverständlich visuell zu rezipieren ist und dem Wahrnehmenden die Möglichkeit lässt, eigene Imaginationsbilder auf den blue screen zu projizieren; c) die Textebene, die immer wieder den Entzug der Sicht sowie das ‚gegebene‘ Blau thematisiert und reflektiert (ohne jedoch konkret und selbstreflexiv das Blau der Fläche zu betonen, denn diese Reflektion findet – wie mit Chion argumentiert, und dies gilt für den vorliegenden Film in besonderem Maße – durch den Rezipienten statt); d) die Klangebene, die eine bzw. ihre ganz eigene ‚Geschichte erzählt‘, auch unabhängig von der Leinwand – ein vertontes „Gedicht“ (Kolesch), zu dem sich der Rezipient wiederum auf individuelle Weise verhält, wenn sich seine Aufmerksamkeit zwischen dem Verlautbarten und der Verlautbarung selbst hin- und herbewegt. Mit Gunter Gebauer gesprochen, zeigt die Leinwand bzw. der Bildschirm generell „das Bild und verbirgt es zugleich“. Der Bildschirm, so Gebauer, [...] ist wie ein Schleier, einerseits durchsichtig, andererseits vor die Dinge gezogen, in einem Spiel des Erscheinen-Lassens und Verbergens. Im Blick auf die Bilder liegt immer auch ein Anteil Blindheit. Die Erwartungen des Blickenden sind hinter die Erscheinungen auf dem Schirm gerichtet. Aber sein Tasten dringt nie durch die Oberfläche des Bildes hindurch. Es ist seine Einbildungskraft, die die Tiefe und Wärme des Inneren erzeugt. Bilder sind keine Haut,
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unter der Fleisch und Empfindungen pulsieren. Sie sind nichts als farbige Flächen, ohne Körpertemperatur.26
Dies liest sich – ohne dass Gebauer sich an dieser Stelle explizit auf Derek Jarmans Film bezogen hätte – wie eine Schilderung der Rezeptionssituation, wie Blue sie evoziert. Das „Erscheinen-Lassen“ und „Verbergen“ findet jeweils auf unterschiedlichen Ebenen bzw. in unterschiedlich rezipierbaren Modi statt: Fürs Auge wird die blaue (Ober-)Fläche zur Erscheinung gebracht und es bleiben uns die sichtbaren Quellen der akusmatischen Stimmen, Geräusche und atmosphärischen Klänge verborgen, die ihrerseits auf akustischer Ebene zur Erscheinung gebracht werden. Der von Gebauer beschriebene „Anteil Blindheit“ im „Blick auf die Bilder“ wird in keinem anderen Film in jener Konsequenz und derart radikal exponiert wie in Blue. Die „Tiefe und Wärme des Inneren“ wird in diesem Fall jedoch nicht nur durch den Bildentzug provoziert, durch die Einbildungskraft des Rezipienten quasi kompensiert und wie ein Behälter oder Container mit Imaginations-Bildern wieder ‚aufgefüllt‘, sondern eben durch die Tonspur erzeugt: über die vertonten Texte, den Klang der Stimmen, das (plötzliche) Auftauchen der Geräusche, die (behutsame) Inszenierung der atmosphärischen Soundcollagen.
N ACHBILD – „T HE
AFTER IMAGE DISSOLVES IN A SECOND “
Derek Jarman hat mit Blue die Erfahrbarkeit eines paradoxen Verhältnisses zwischen ‚Nicht-mehr-Sehen-Können‘ und ‚Nicht-mehr-zu-Sehen-Geben‘ ermöglicht. Im Entzug der visuellen Ebene scheint nicht zuletzt auch die öffentliche NichtSichtbarkeit derjenigen auf, die Jarmans Erfahrungen nach – als engagierter Aktivist, der er bis zu seinem Tode war – an der AIDS-Erkrankung leiden: eine äußerst hohe Anzahl Menschen, die – damals, aber auch heute noch – einen blinden Fleck in der Gesellschaft darstellen.
26 Gunter Gebauer: Bildbereitschaft und Bildverweigerung. In: Hans Belting, Dietmar Kamper (Hrsg.): Bildgeschichte und Bildreflexion. München: Fink 2000, S. 55-66, hier S. 58.
„I have Seen It All“ Blindheit und Künstlertum in Lars von Triers Dancer in the Dark (2000) J ULIA B OOG
Lars von Trier gilt nicht zuletzt seit seinem Film Dogville als „Dogma-Häuptling“1 der Bewegung um Thomas Vinterberg, Kristian Levring und Søren Kragh-Jacobsen. Diese 1995 gegründete Vereinigung richtet sich vor allem gegen die zunehmende Wirklichkeitsferne des Kinos und legt ein „Keuschheitsgelübde“ ab,2 das sich in dem Motiv der Blindheit verdichtet. Denn nicht nur soll der Regisseur sich ‚blind‘ stellen gegenüber den neuesten Technologien und Spezialeffekten, sondern auch seinen Blick nach innen richten, seine Außenwelt reduzieren.3 Und dies wird – übersieht man die Rezeptionsgeschichte der Figur des Blinden – seit der Antike als ihr grundlegendster Wesenszug beschrieben.4 Blindheit ist aber nicht nur allgemein eine Folie für das Dogma-Konzept, sondern wird in ihrer speziellen Funktion, einen Zusammenhang zwischen Introspektion und Kreativität herzustellen, vor allem von der blinden Hauptfigur Selma in Dancer in the Dark verkörpert. Zwar wurde Dancer in the Dark – anders als Breaking the Waves (1996) und Idioten (1998), die zusammen die Golden Heart-Trilogie bilden5 – nicht als Dogma-Film angelegt;6 doch stellt Selmas Umgang mit der 1
Rainer Gansera: Gelächter im Dunkeln. In: Süddeutsche Zeitung, 8.12.2012, S. 10.
2
Vgl. Lars von Trier: Manifest 4 – Dogma 95. In: ders.: Trier über von Trier. Gespräche mit Stig Björkman. Frankfurt a. M.: Zweitausendeins 2001, S. 161-162, hier S. 161.
3
Alle Filme sollen an „Originalschauplätzen entstehen. Ausstattung und Requisiten dürfen nicht zusätzlich eingesetzt werden“ und es wird „nur mit Handkameras gefilmt“. „Zusätzliche Beleuchtung“ ebenso wie „optische Nachbereitung“ sind nicht erlaubt (vgl. L. v. Trier: Manifest 4 – Dogma 95, S. 162).
4
Vgl. u. a. Pilar Baumeister: Die literarische Gestalt des Blinden im 19. und 20. Jahrhundert. Klischees, Vorurteile und realistische Darstellungen des Blindenschicksals. Frankfurt a. M. [u. a.]: Lang 1991 sowie Mathias Mayer: Dialektik der Blindheit und Poetik des Todes. Über literarische Strategien der Erkenntnis. Freiburg i. Br.: Rombach 1997.
5
Der Name ist einem Märchen namens Goldherz entliehen: Hier ist es, wie bei den Protagonistinnen der drei Filme, ein naiv wirkendes Mädchen, das trotz großer Schicksalsschläge an ihrer Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit festhält (vgl. Georg Tiefenbach:
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Welt m. E. die tiefgreifendsten selbstreferentiellen Aussagen über das Künstlerverständnis des Regisseurs Lars von Trier dar und manifestiert seine Dogma-Positionen in geradezu fühlbarer Weise: nämlich über den drastischen Leidensweg seiner blinden Heldin. Die Sonderstellung dieser Figur wird bereits deutlich, wenn man den Interviewband Trier über von Trier berücksichtigt: Hier ist es einzig Selma, der neben den Dogma-Richtlinien ein eigenes Manifest gewidmet ist. Das Selma-Manifest7 beschreibt die Fähigkeit dieser Gestalt, trotz oder gerade wegen ihrer Erblindung Glück im Unglück zu sehen, ausdrücklich als ein künstlerisches Prinzip: [E]s ist eine Kollision aus den Bruchstücken von Melodien, Liedern, Klängen, Instrumenten, Texten und Tänzen, die Selma im Kino erlebt hat, und dem wirklichen Leben mit den gleichen Bestandteilen, die sie – dank ihrer Gabe – dort aufspürt.8
Im Film wird dieser Zusammenschluss von Blindheit und Künstlertum durch die Welt des Musicals visualisiert, in die Selma sich an den wesentlichen Krisenpunkten ihres Lebens flüchtet. Denn hier, so Selma selbst: „nothing dreadful ever happens“9. Bereits die Eröffnungsszene zeigt die Heldin bei den Proben für eine Aufführung von The Sound of Music – dem „happiest Sound all over the World“10. Doch noch während der Titel des Films eingeblendet wird, hören wir eine Stimme: „I’m excited, I can see it all happening“, die in ihrer Nervosität nicht nur auf den
Drama und Regie. Lars von Triers Breaking the Waves, Dancer in the Dark, Dogville. Würzburg: Königshausen & Neumann 2010, S. 19f.). 6
Lars von Trier betont dies u. a. in einem Interview zum Film (vgl. L. v. Trier: Dancer in the Dark. In: ders.: Trier über von Trier. Gespräche mit Stig Björkman. Frankfurt a. M.: Zweitausendeins 2001, S. 226-246), doch räumt er auch ein, dass der Einsatz von Handkameras und die reduzierten Schauplätze in dem Film durchaus an die Dogma-Ästhetik erinnern.
7
L. v. Trier: Das Selma-Manifest. In: ders.: Trier über von Trier. Gespräche mit Stig Björkman. Frankfurt a. M.: Zweitausendeins 2001, S. 247-250.
8
Ebd., S. 247
9
Die folgenden Angaben sind der DVD entnommen: Lars von Trier: Dancer in the Dark (2000).
10 Dies betont vor allem der Trailer des 1965 entstandenen Films (einzusehen unter: http://www.youtube.com/watch?v=KuWsQSntFf0, letzter Zugriff am 13.1.2014) Das Musical, mit der Musik von Richard Rodgers und Texten von Oscar Hammerstein, handelt von einer Novizin, die auf die Kinder eines verwitweten Generals aufpassen soll und in Konflikt mit ihrer Konfession gerät, als sie sich in ihn verliebt. U. a. Tiefenbach weist darauf hin, dass die Figur der Maria sich ähnlich wie Selma durch „einen festen Glauben und ihre Träumereien“ auszeichnet (G. Tiefenbach: Drama und Regie, S. 94).
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Spaß der Proben, sondern schon auf die katastrophalen Ereignisse vorausweist. Die Leichtigkeit des Musical-Genres und die Schwere des Dramas treffen im Film immer wieder aufeinander und werden in ihrer Paradoxalität von der ebenso schillernden Gestalt der isländischen Sängerin Björk verkörpert. Abgesehen von den musikalischen Referenzen auf The Sound of Music hat Björk die gesamte Filmmusik geschrieben und sie unter dem Titel Selmasongs als Album herausgebracht.11 Die Sängerin hat die Zusammenarbeit mit von Trier als äußerst kräftezehrend beschrieben: Sie habe bei Musik wie Gesang fast um jede Note kämpfen müssen.12 Doch hört man den Songs deutlich das eigene Dogma von Björk an, die gesamte Klangwelt aus der eigenen Stimme zu erzeugen: In letzter Zeit habe ich mich von immer mehr Instrumenten und Werkzeugen verabschiedet. Ich wollte etwas finden, das weiter zurückreichte als Politik, weiter als Religion. Bei manchen Liedern dachte ich an eine Zeit vor 10.000 Jahren. [...] Oft, wenn ich mit meinen Freunden in einer Bar sitze, stellen wir fest, dass wir die Außenwelt nicht mehr brauchen. Wir drehen einfach die Musik ab und singen. Da sind wir schon in unserer Höhle.13
Es verwundert daher wenig, wenn Trier als das eigentlich „Mystische“ an diesem Projekt beschreibt, wie Björks Gesang Selmas Worte zum Leben erweckt. Obwohl er keineswegs an die Sängerin beim Verfassen des Drehbuchs gedacht habe, sei sie die ideale Besetzung gewesen und ihr Bezug zu der Figur weniger „Schauspielerei“ denn „Einfühlung“.14 Eine Parallele ergibt sich über die von Björk erwähnte „Höhle“, über den Wunsch nach Rückzug und Selbstbesinnung. Beide Frauen defi-
11 Die Songs auf diesem Album sind zum Teil grundverschiedenen zu denen im Film. Björk nahm sie mit neuen Musikern wie u. a. Radiohead auf. Der Soundtrack wurde mehrfach ausgezeichnet und der Song I’ve Seen It All für den Academy Award nominiert. 12 Björk behauptete sogar, nach diesem Film niemals mehr als Schauspielerin arbeiten zu wollen. Vgl. Bjork launches celluloid comeback. In: BBC News vom 11.2.2005. Beim Cannes Film Festival 2000 erhielt sie allerdings die Auszeichnung als beste Darstellerin für ihre Leistung und ebenso den Europäischen Filmpreis des gleichen Jahres. Sie wurde darüber hinaus für den Golden Globe nominiert. 13 So betont die Sängerin weiter in einem Interview mit Die Zeit: „Ich glaube, man kann mit vielen Instrumenten gute Musik machen. Aber bei einer Sache sind wir alle Experten, ohne uns dessen überhaupt bewusst zu sein: bei der Stimme. [...] Mit unserer Stimme drücken wir uns ununterbrochen aus. Säuglinge machen zuerst ‚auoauoau aoau maoaoao‘. Diese Art von Geräuschen. Sie erkunden die Möglichkeiten.“ Aufgezeichnet von Ralph Geisenhanslücke: Björk. In: Die Zeit, 2.9.2004, auch unter: http://www.zeit.de/2004/ 37/Traum_2fBj_9arg_37, letzter Zugriff am 22.9.2014. 14 L. v. Trier: Dancer in the Dark, S. 232.
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nieren ihre Weltabgewandtheit, ihren autonomen Raum über die Konzentration auf ihre Musik. Beide werden zu ‚Dancern in the Dark‘. Trier beschreibt den Hergang seines Plots entgegen diesem komplexen Wechselspiel von Musik und Handlung indes als „so stark vereinfacht, dass er fast zu einer Soap wird“15: Gezeigt wird die Geschichte einer tschechischen Immigrantin in den USA, die aufgrund einer Erbkrankheit zunehmend erblindet und versucht über eine teure Operation ihrem Sohn das gleiche Schicksal zu ersparen. Allerdings wird ihr mühsam erspartes Geld von ihrem Vermieter und Freund Bill gestohlen, der es nur um den Preis seines eigenen Lebens wieder hergibt. Es kommt zum Mord an ihm und schließlich zur Hinrichtung Selmas. Brüche in diesen stringenten Plot bringen allein die Musicalszenen, die Selmas zunehmenden Rückzug aus der Welt zu einem ästhetischen werden lassen und die Tragik ihrer Geschichte nicht nur mildern, sondern gar konterkarieren. Sie verdeutlichen damit einen Moment, der in der Geschichte der ‚Blindheits‘-Rezeption richtungsweisend ist.
A UFZEICHNUNGEN
EINES
B LINDEN Der Blinde kann ein Seher sein, mitunter ist er zum Visionär bestimmt.16 JACQUES DERRIDA
Wie das Eröffnungszitat von Jacques Derrida deutlich macht,17 wurde Blindheit stets mehr zugeschrieben als ein einfaches Nicht-Sehen-Können. Zwar ist sie, zieht man Wörterbücher und Lexika heran, häufig negativ konnotiert und wird mit „Unerfahrenheit“ oder gar „Dummheit“ bzw. „Verblendung“ gleichgesetzt.18 Doch in Literatur und bildender Kunst zeichnet sich bereits in der Antike ein anderes Bild vom Blinden ab. Er erscheint hier als jener ‚Visionär‘ oder gar Prophet, der besonders über den ‚blinden Seher‘ figuriert wird. Er wird zum Symbol eines verinnerlichten und damit absolut autonomen und intensiveren Nachdenkens.19 Dies geht
15 Ebd., S. 233. 16 Jacques Derrida: Aufzeichnungen eines Blinden. Das Selbstporträt und andere Ruinen. München: Fink 1997, S. 10. 17 Dieser widmete sich in Zusammenarbeit mit dem Louvre Darstellungen und Reflexionen des Blinden durch verschiedenste Epochen der Kunstgeschichte. 18 Vgl. P. Baumeister: Die literarische Gestalt des Blinden im 19. und 20. Jahrhundert, S. 4f. 19 Zu nennen ist hier neben den mythischen Gestalten Teiresias und Ödipus vor allem die Sage um die Selbstblendung des Philosophen Demokrit. Über ihn heißt es, dass er „durch den Verzicht des Augenlichtes zur vollen Erkenntnis des Inneren gelangen wollte.“ (vgl.
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mit dem Topos der aletheia, der verhüllten Wahrheit, einher: Sie kann stets nur als etwas Verdecktes, nie direkt Wahrgenommenes erscheinen und somit besonders von dem, der ohnehin für das Sichtbare blind ist, erfahren werden.20 Derrida beschreibt dies über das speziell in der Malerei deutlich werdende Motiv der ‚hervorpreschenden Hände‘21. Blinde nutzen das Abtasten ebenso wie das Echo der eigenen Schritte und Töne, um sich ihre Umgebung zu erarbeiten: „Sie begreifen furchtsam den Raum mit ihren gierigen, zuweilen umherirrenden Händen, sie zeichnen darin auf eine zugleich vorsichtige und kühne Weise, sie kalkulieren, sie rechnen mit dem Unsichtbaren […] und versuchen dort, wo sie nicht sehen, nicht mehr sehen oder noch nicht sehen, vorherzusehen.“22 Blindheit erweist sich so als Begabung, sich ob der verschlossenen Außenwelt eine reichhaltigere, von Innen entstehende Welt zu errichten – eine Potenz, die Trier ebenfalls in seinem SelmaManifest unterstreicht: Sie hat einen ausgeprägten Sinn für die Wunder, die in jeder Facette ihres (vielleicht düsteren) Daseins enthalten sind. Und sie hat ein Gespür für Details – für jedes Einzelne. Sonderbare Dinge, die nur sie wahrnimmt. Sie ist eine wahre Beobachterin… mit einem fotografischen Gedächtnis. Und diese doppelte Fähigkeit macht sie zur Künstlerin.23
Das Paradoxon über das Nicht-Sehen besser sehen bzw. genauer beobachten zu können und aufgrund der reduzierten Ablenkung von Außen sogar besser zu erinnern, ist es, was die Wahrnehmung des Blinden bis in die Gegenwartsfilme Lars von Triers hinein bestimmt. Mit der Figur der Selma wird dies als kreativer Prozess schlechthin lesbar.
D ANCING
IN THE
D ARK
Selma erscheint bereits in der einleitenden Musicalszene als originelle Outsiderin: Mit großer Hornbrille und in einem wild gemusterten Kleid tanzt sie außerhalb des Taktes zu The Sound of Music und schmettert ihre Gesangslinie (Abb. 1), entnom-
P. Baumeister: Die literarische Gestalt des Blinden im 19. und 20. Jahrhundert, S. 28). Eine Qualität, die in der mythischen Tradition des Christentums ebenso fortgeführt wurde, bei der allein über Introspektion die Begegnung mit Gott erfolgen kann (vgl. u.a. Alexandra Hildebrandt: „Lebwohl, du heiterer Schein!“ Blindheit im Kontext der Romantik. Würzburg: Königshausen & Neumann 2002, S. 135ff.). 20 Vgl. A. Hildebrandt: „Lebwohl, du heiterer Schein!“, S. 83 21 Vgl. J. Derrida: Aufzeichnungen eines Blinden, S. 12. 22 Ebd., S. 13ff. 23 L. v. Trier: Selma-Manifest, S. 247.
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men dem ‚Mariasong‘: „Raindrops on roses and whiskers on kittens/ Bright copper kettles and warm woolen mittens/ Brown paper packages tied up with strings/ These are a few of my favorite thing“. Nicht nur diese Verse umgeben die Figur sogleich mit einer kindlichen, bizarren Aura, auch von einem Mitarbeiter wird ihr eine „funny voice“ und „either not great dance“ diagnostiziert. Selma und die sie spielende Sängerin Björk erscheinen somit von Beginn an als Ausnahmetalente, die vor allem über ihre Ungewöhnlichkeit ins Auge bzw. ins Ohr fallen. Auch die folgenden Musicalsequenzen setzen ihre Extraordinärität ins Bild, wenn nicht über klassisch eingängige Songs, sondern über ungewöhnliche Rhythmuscollagen und Klänge der Außenwelt die Lieder zusammengesetzt sind.
Abb. 1 Die erste Selma-Melodie erklingt in der Fabrik, als Selma angesichts ihrer monotonen Arbeit anfängt tagzuträumen und sich die Takte der Maschinen zu einem Tanz verdichten. Mit ihrer Stimme ahmt Selma die sie umgebenden Geräusche nach: „Clatter, clash, clack/ Racket, bang, thump“. Während sie eben noch vor Müdigkeit fast umgefallen wäre, wird sie nun wieder Herr der Lage und zeigt, einem Dirigenten gleich, auf die verschiedenen Maschinen, die ihr die Klänge liefern. Sie singt: „It’s music/ Now dance!“. Aus dieser Aufforderung entsteht dann ein klassischer Musicaltanz, bei dem die Arbeiter der Fabrik beginnen, sie herumzuwirbeln und ganze Choreografien auszuführen. Streicher und Bläser erklingen, Elektrosounds kommen dazu. Deutlich wird: die Heldin erwacht zu eigener Stärke. Comicartic geht das Geklackere, Geklatsche und Getappe weiter: „A clatter machine/ What a magical sound/ And full of noise/ That spins us around.” Die Aufnahmen wechseln dabei von einem zuvor durch Handkameras dokumentarisch wirkenden Bild zu einem, wie Trier selbst herausstellt, von hundert verschiedenen Kameras aufgenommenem, stark stilisiertem Bild mit intensiverer Kolorierung.24 Die blinde Selma wird so auch über die Filmästhetik als Erzeugerin ihrer eigenen Welt sichtbar. Wie 24 Vgl. L. v. Trier: Dancer in the Dark, S. 240.
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besonders über den Fabrikschauplatz deutlich wird, kann sie sich über das Nichtsehen aus dem blinden Mechanismus der Gesellschaft befreien. In der Sequenz wird aber noch ein weiteres klassisches Motiv der Blindendarstellung evident: die ‚Augenstarre‘, die Alexandra Hildebrandt im Kontext der Romantik als ein wichtiges Sujet beschreibt. Sie versinnbildlicht den Impuls dieser Epoche, sich dem alles erleuchten wollenden, aufgeklärten Bürgerblick zu entziehen. In ihr verbirgt sich damit auch das Motiv der „weltabgewandten Seele“; denn die Leere dieses Blicken des Blinden scheint vielmehr „auf Unendlichkeit eingestellt“ als auf ein konkretes Begreifen.25 Damit entzieht der Blinde sich auch dem Bereich der mimetischen Reproduktion. Er schöpft aus den imaginativen Bereichen, dem Reich der Phantasie – wie Selma es in ihren Tagträumen ausstellt. Bei ihr ist es neben dem starren Blick durch die großen Brillengläser vor allem der abdriftende Seitenblick, der sie von ihrer Außenwelt abhebt. Hildebrandt setzt diese Art zu ‚schauen‘ interessanter Weise auch mit der Verinnerlichung des Hörens und Fühlens von Musik gleich: „In der Romantik profiliert sich gerade die Musik als ästhetischer Gegensatz zum starstechenden Arzt“26 – analog dazu, erscheint auch Selmas Musicalwelt im auffallenden Gegensatz zu ihrer starren, maschinellen Umgebung. Mit der Zusammenführung des Blinden und der Musicalebene gewinnt folglich nicht nur der Film selbst einen vom ‚normalen‘ Plot autonomen Bereich, sondern auch das Musicalgenre an Tiefenwirkung: Es ist hier keineswegs nur Teil einer seichten Unterhaltungswelt,27 sondern untermalt und veräußert tragische Situationen, wie spätestens mit der Mordszene als zentralem Wendepunkt in Selmas Leben deutlich wird. Die Schlüsselszene des Films zeigt Selma und ihren Nachbarn Bill, der ihr, aus Furcht seine Frau könne ihn wegen seiner Kündigung bei der Polizei verlassen, das gesamte gesparte Geld gestohlen hat. Trotz des großen Vertrauensbruchs reagiert Selma sehr ruhig: „It’s my money, Bill. I am gonna have to take it“. Die Kamera arbeitet hier ausschließlich mit Halbtotalen und verdeutlicht so die Intimität der Szene: Wie in Derridas zentralem Blinden-Motiv der ‚hervorpreschenden Hände‘ streckt die blinde Selma zuerst ihre Hand nach der Schulter ihres Freundes aus, um sich dann zu dem vor ihm liegenden Geldbeutel vorzutasten und diesen behutsam aufzunehmen. Ihr Tasten und Erfühlen steht offensichtlich im Gegensatz zu der distanzierten, rein optischen Aneignung jedes Sehenden. Diese hatte auch Bill,
25 A. Hildebrandt: „Lebwohl, du heiterer Schein!“, S. 125. 26 Ebd., S. 62. 27 Das Musical entwickelte sich vor allem aus der Operette und dem Singspiel und war als Unterhaltung für jedermann angelegt. Lars von Trier betont dieses musikalische Erbe und, dass er „im Gegensatz dazu“ versucht habe, das Musical „bedrohlicher“ zu machen und ihm so „eine ganz andere Bandbreite der Gefühle“, vergleichbar mit der Intensität der Oper, zu entlocken (vgl. L. v. Trier: Dancer in the Dark, S. 243).
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nachdem er Selma beim Zählen ihres Geldes beobachtet hatte, überhaupt erst zu dem Raub verführt. Selma hingegen kann nicht anders als ihr Gegenüber zu berühren und sich vom Anderen berühren zu lassen. Die ihrer Art der Weltaneignung folgende Kamera erhält dadurch etwas Sensitives, gar Sinnliches: Obwohl der nachfolgende Akt ein bestialischer Mord ist, zeigt sich in ihm ein Akt der Freundschaft. Bill stellt Selma die Bedingung, ihn umzubringen: „Just show some mercy and kill me.“ Nach einem intensiven Gerangel, wobei immer wieder die Hände in Nahaufnahme gezeigt werden und die Berührungen zwischen einem Streichen des Anderen und Greifen des Geldbeutels wechseln, fällt ein Schuss aus Bills Waffe, der ihn am Bauch verletzt. Nach einer weiteren Aufforderung: „Just shoot me. Can you just stand up and pull the goddamn Trigger!“, rafft Selma sich auf und schießt dreimal auf Bill. Nachdem er immer noch nicht vom Geldbeutel lassen will, nimmt sie eine schwere Eisenkassette und zertrümmert seinen Schädel. Die Wahl dieser Tötungsart statt einem weiteren gezielten Schuss und die dabei vor allem auf Selmas weinendes Gesicht gerichtete Kamera visualisieren fühlbar, wie sehr der Mord aus emotionaler Nähe zu Bill geschieht. Der darauf einsetzende Song Scatterheart – schon vom Titel her als Herzstück des Films und direkter Verweis auf die Goldenheart-Trilogie angelegt – setzt mit einem glockenspielartigem Sound ein: Bill, der am Boden liegt, wird durch den Blick vom Fenster aus gezeigt und wirkt friedlich. Selma singt dazu: „The innocent are dreaming/ As you should, sleepyhead“. Sie streicht ihm über die Stirn und er steht daraufhin wieder auf; Elektrosounds setzen ein und die beiden tanzen wie in einer Rückschlaufe den Weg aus dem Haus heraus. Bill wäscht sich das Blut ab und antwortet auf ihre Frage: „Does it hurt?“, „I hurt you much more/ so don’t you worry“. Auch ihr Sohn Gene erteilt ihr als Background-Stimme die Absolution: „You just did what you had to do.” Selma wird von den Opfern ihrer Tat freigesprochen. Zwar wird besonders in dieser Musiksequenz das von der feministischen Kritik stark angeprangerte Jesus-Motiv deutlich:28 Selma tanzt hier im Flussbett und
28 Vgl. unter anderem Antje Flemming: Lars von Trier. Goldene Herzen, geschundene Körper. Berlin 2010, die die „moralische Fragwürdigkeit der Opferbereitschaft“ Selmas diskutiert und sie an einen reaktionären Diskurs weiblicher Ausdrucksmöglichkeiten rückbindet (S. 9). Auch das Feuilleton setzte sich in dieser Weise mit dem Film kritisch auseinander und beschreibt Selma im Einklang mit den Frauenfiguren von Breaking the Waves, Idioten, aber auch Dogville als „madonnengleiche Dulderinnen“ (u. a. Anke Westphal: Das goldene Herz bricht. In: Berliner Zeitung, 20.9.2000, auch unter: http://www. berliner-zeitung.de/archiv/mit--dancer-in-the-dark--erreicht-lars-von-trier- den-kuenstler ischen-tiefpunkt-das-goldene-herz-bricht,10810590,9838060.html, letzter Zugriff am 22.9.2014). Der Guardian beschreibt Selmas Gestalt ebenfalls als eine „martyr heroine nurturing the flame of her spirit in the midst of reactionary and oppressive forces, the
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bekräftigt, die Worte ihres Sohnes aufnehmend (Abb. 2): „I just did, what I have to do“.
Abb. 2
strategic deployment of heart-rending disability“ (Peter Bradshaw: Dancer in the dark. Lars von Trier’s film is silly, shallow and manipulative. In: The Guardian, 15.9.2000, auch unter: http://www.theguardian.com/film/2000/sep/15/1, letzter Zugriff am 22.09.2014).
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Doch zeugt auch diese Szene nicht allein von ihrer Opferbereitschaft. Vielmehr verdeutlicht das Einholen der Absolution mittels dem abermaligem Abdriften in eine Parallelwelt ihre Entschiedenheit und die geradezu bewusst eingesetzte Möglichkeit, sich in ihre Traumwelt zu flüchten. Wie sich im Folgenden auch bei der Verurteilung und anschließenden Hinrichtung Selmas zeigt, geht sie extrem pragmatisch vor: Ihr Interesse an der äußeren Welt liegt allein bei ihrem Sohn und seiner Genesung; ihre eigentliche Welt aber besteht aus den selbst geschaffenen Musicaleinspielern. Damit erscheint Selmas Traumwelt nicht nur als ein, wie Trier selbst es ausdrückt, „comic relief, einen Fluchtpunkt, der freilich nur für wenige Minuten Trost offeriert“29, sondern als ein größer angelegter ironischer Kommentar zur Enge der Wirklichkeit. Indem in den unmöglichsten Situationen getanzt und gesungen wird und Selma so immer wieder aus der sie bedrängenden Realität entfliehen kann, verzichtet der Film auf einen rein melodramatischen Effekt. Er besingt vielmehr die Freiheit der Phantasie. Die durch Selmas reale wie initiierte Blindheit erschaffene Traumwelt ist nicht nur ein Gegenentwurf, sondern das eigentlich Wesentliche der Wirklichkeit.
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Slavoy Žižek, der sich hinsichtlich der Opferbereitschaft Selmas ebenfalls nachdrücklich von der feministischen Kritik zu Dancer in the Dark abgrenzt, deutet diese Freiheit der Phantasie in einem gleichnamigen Essay als „Das Vermögen der Fetischisten“30: Der Fetisch ist das Gegenteil des Symptoms. Während das Symptom jene Ausnahme darstellt, die die Oberfläche des falschen Scheins stört, jenen Punkt, an dem die verdrängte Wahrheit hervorbricht, ist der Fetisch die Verkörperung einer Lüge, die es uns ermöglicht, eine unerträgliche Wahrheit auszuhalten.31
Mit dem Mordakt erhöht sich daher auch die Frequenz der Musicaleinlagen – brauchte es anfangs noch die eindringlichen Töne der Fabrik oder das Vorpreschen eines Zuges, reicht nun das Klacken von Schuhen oder ein Luftzug für musikalische Assoziationen. Dies ist sicherlich den immer bedrängender werdenden Ver-
29 L. v. Trier: Dancer in the Dark, S. 243. 30 Slavoy Žižek: Das Vermögen der Fetischisten. In: Der Tagespiegel, 13.11.2000, auch unter: http://www.tagesspiegel.de/kultur/essay-das-vermoegen-der-fetischisten/178682.html, letzter Zugriff am 22.9.2014. 31 Ebd.
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hältnissen geschuldet, aber im Sinne Selmas größer werdenden „Fetisch“ auch ein Zeichen des Widerstandes. Die Protagonistin verfolgt zunehmend ihren eigenen Weg. Dafür stehen nicht nur die Tagtraumszenen, sondern auch ihr Umgang mit der Außenwelt: Die Heldin stellt sich blind für Alternativen, sowohl wenn es um die Heilung ihres Sohnes geht als auch um ihre selbst gewählte Einsamkeit. Was Flemming als „Unberührbarkeitsgelübde“32 beschreibt, welches sich in der Ungeklärtheit der Herkunft ihres Sohnes ebenso niederschlägt wie in den abgeschmetterten Flirtversuchen ihres Freundes Jeff, scheint vielmehr Zeichen Selmas Selbstrückzugs zu sein. Es beschreibt eine gewissermaßen freiwillig gewählte Blindheit, die die feministische Kritik mit Reduzierung auf den Geschlechterkampf vernachlässigt. Selma wirkt nicht einfach nur empathisch, wie es ihr unter anderem von Flemming als Bild idealisierter Weiblichkeit zugeschrieben wird,33 sie wirkt vor allem apathisch. Ihre ‚Engelsgleichheit‘ sowie „Reinheit und Demut“34 scheint besonders durch ihre Beeinträchtigungen nicht gottähnlich verklärt, sondern vielmehr in die Sphäre des Profanen gezogen: Schon in den ersten Filmsequenzen erscheint sie mit der Hornbrille, der clownesken Kleidung und dem kindischen Song mehr eine Närrin denn eine Heilige zu sein. Die ihr von Seiten der Kritik zugeschriebene Passivität ist vielmehr eine nach innen gerichtete Aktivität. Trier selbst spricht im Kontext seiner Trilogie davon, dass die Hauptfiguren „sozusagen bei ihrem eigenen Drama Regie führen.“35 Dies wird besonders deutlich, wenn Selma sich sogar gegen die Norm des amerikanischen Gesetzes stellt. Statt ihre Unschuld zu beweisen und Bills Geheimnis zu verraten – dass er wegen seiner Kündigung ihr Geld gestohlen hat – verweigert Selma ihre Aussage. Sie steht damit für eine vom Gesetz abweichende Moralität. Ebenso wie Bill ihr in der Musicaleinlage die Absolution erteilt hat, scheint sie ihrem Freund, seine Lügen verziehen zu haben und an ihrem Versprechen, ihn nicht zu verraten, festzuhalten. Von Seiten der Justiz wird ihr hingegen vorgeworfen ein „seflish individuum“ zu sein, „who cynically hides behind a handicap“. Ihre Blindheit steht somit, wie Hildebrandt es bereits für die Romantik betont, für den „Rückzug aus der bürgerlichen Realität in eine autonome ideale Welt.“36 Die staatlichen Machtzeichen sind für Selma wenig beeindruckend – nicht nur, weil sie Anwälte und den Richterstuhl nicht sehen kann, sondern weil sie sie schlichtweg auf ihrer Mission nicht interessieren. Auch auf direkte Fragen, wie und warum sie nach Amerika gekommen sei, gibt sie sich unparteiisch und weigert stets Stellung zu beziehen. Sie wird darauf vor Gericht sogar als Kommunistin verschrien – dem größ-
32 A. Flemming: Lars von Trier, S. 179. 33 Vgl. ebd. 34 Ebd., S. 12. 35 L. v. Trier: Dancer in the Dark, S. 245. 36 A. Hildebrandt: „Lebwohl, du heiterer Schein!“, S. 8.
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ten Feindbild der amerikanischen Gesellschaft.37 Selma flüchtet sich daher in eine weitere Musicalszene, diesmal mit einer eindeutig clownesk anmutenden Stepptanz-Choreografie. Später verhält sie sich ebenso ihrem Freund Jeff und ihrer besten Freundin Kathy gegenüber unkooperativ. Sie verweigert sich völlig, ihre Situation noch einmal zu überdenken, will im Gefängnis bleiben oder sogar ihren Sohn nicht mehr sehen. „I just wanna talk about practical stuff“. Žižek beschreibt Fetischisten als „keine Träumer, die sich in ihre privaten Fantasien flüchten. Sie sind durch und durch Realisten, die die Dinge so akzeptieren, wie sie sind.“38 Selmas Weltflucht erscheint ihm daher, „als eine Geste heroischen Widerstands“39. Was Žižek dann allerdings entgegen der feministischen Kritik an eine Umbesetzung von „weiblicher Hysterie“ und „männlicher, fetischistischer Perversion“ rückbindet, hebt sich m. E. vielmehr von den Fragen um einen Genderdiskurs ab: Es ist das Künstlertum an sich, das hier verhandelt wird. Gerade mit dem Motiv der zunehmenden Erblindung steht Selma für eine reflexiv werdende und damit ästhetische Wahrnehmung. Ihre Blindheit bedeutet eine Reduktion der Sinne zugunsten einer essentialisierten Kreativität. Wie Trier es selbst in seinem Selma-Manifest betont: „Der Klang der Wirklichkeit entsteht nicht nur aus Maschinen und alltäglichen Abläufen … er kommt auch von kreativen Menschen wie Selma, die aus allem, was sie finden, ein Instrument machen können.“40
„I’ VE S EEN I T A LL “ Unter anderem Baumeister betont dieses Motiv der Blindheit, Kreativität aus einer geschmälerten, damit aber aufs Wesentliche reduzierten Umwelt zu entnehmen, für die Literaturgeschichte. Hier wird Blindheit häufig als „beabsichtigte Unempfindlichkeit“41 wahrgenommen, welche bei Selma in dem titelgebenden Song I’ve Seen It All gebündelt ist. Diesen schmettert sie ihrem Freund Jeff entgegen, wenn er ihre Blindheit erstmals bemerkt und sie fragt: „You can’t see, can you?“ Sie antwortet lapidar: „What is there to see?“ und nimmt ihre Brille ab, um einen weiteren Musicalsong anzustimmen. In diesem listet Jeff ihr all die großartigen Sehenswür-
37 Der Ankläger spricht von ihr als „[…] somewhat romantic, certainly communistic woman, who woreships Fred Astair, but not this country“ – Romantizismus und Abgewandtheit bzw. sogar Feindlichkeit gegenüber der Gesellschaft werden hier also offensichtlich zusammengenommen. 38 S. Zizek: Das Vermögen der Fetischisten. 39 Ebd. 40 L. v. Trier: Selma-Manifest, S. 249. 41 P. Baumeister: Die literarische Gestalt des Blinden im 19. und 20. Jahrhundert, S. 8.
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digkeiten der Welt auf – von den „Niagara Falls“, über den „Eiffel Tower“ oder „Kings in Peru“. Doch Selma entgegnet nur: „I’m happy to say / I had better to do“. Der Rhythmus eines nahenden Zuges entwickelt sich im Gleichklang mit ihren Bewegungen. In einem der wenigen erotischen Momente wird Selmas Rock hochgewirbelt und sie tanzt kreisend, umarmt sich selbst. Die anderen Tänzer erscheinen nur als Nebenfiguren, sind teils sogar vom Bildrand abgeschnitten. Selma dagegen macht übertriebene, an Gebärdensprache erinnernde Gesten. Sie lässt sich fallen, springt auf und ab vom Zug, um dann zu folgenden Zeilen von einem zum anderen Tänzer getragen zu werden (Abb. 3): I’ve seen it all/ I have seen the dark/ I have seen the brightness/ In one little spark/ I have seen what I choose/ And I’ve seen what I need/ And that is enough/ To want more would be greed/ I’ve seen what I was/ And I know what I’ll be/ I’ve seen it all/ There is no more to see.
Abb. 3 Diese Sequenz verdeutlicht Blindheit abermals als „spektakulären Rückzug in sich selbst“42, der bei von Trier nicht nur über die Zeilen, sondern auch Selmas selbstbezogene Revue aufgeführt wird. Die Protagonistin braucht die Kontrolle über das Hinsehen nicht mehr. Sie gibt sich ihrer Welt anheim und weiß sich trotz ihrer Blindheit sicher zu bewegen. Damit verletzt sie allerdings das, „was man hier Natur nennen könnte. Sie ist ein Unfall, der den Lauf der Dinge unterbricht oder gegen die Naturgesetze verstößt“43 – sichtbar in den Breaks der Musicalszenen ebenso wie in ihrem stets weltabgewandten, vereinzelten Tanz. Sie selbst ist der Widerstand – nicht gegen etwas Bestimmtes, sondern gegen eine genormte Form der Weltaneignung. Wie Derrida es besonders für die christliche Darstellung des Blinden herausstellt, verkörpert Selma „eine ständige Mahnung an das, was die
42 J. Derrida: Aufzeichnungen eines Blinden, S. 127. 43 Ebd., S. 18.
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erectio oder die aufrechte Haltung bedroht“44: Die Blinde wird „zum Menschen des Falls“45. Dieser Deutung kommt auch die Schlusssequenz entgegen, in der es zum wirklichen Fall Selmas kommt: Ihre Hinrichtung durch den Strick (Abb. 4). Als sie den ‚Todesmarsch‘ antreten soll, versagen zwar anfangs ihre Füße und offenbaren damit ihre Angst und den Widerwillen gegen diesen auferlegten Tod. Doch erhebt sie sich gerade in diesem Moment ein letztes Mal über die Geräusche aus ihrem Umfeld: Das von einer ihr zugewandten Wärterin initiierte Aufstampfen, „I will give you something to listen to, 107 steps“, wird von Selma ausgebaut zu ihrem eigenen Rhythmus. Ein letztes Revuestück beginnt. Unter Großaufnahme von Selmas abermals schwärmerisch verzerrtem Blick ertönen Drums und Streicher. Selma löst sich von dem der Wärterin vorgegeben Takt und beginnt die 107-Schritte zu improvisieren, sich an den Gitterstäben entlang zu hangeln und andere Insassen zu berühren.
Abb. 4 Diese Szene entfaltet erneut, wie grundlegend der gesamte Film von Selmas Rhythmus lebt. Obwohl ihr Schicksal als ein vorgegebenes erscheint und die Ereignisse sie ohnmächtig machen sollten, ist es ihr Raster der Welt, welches die Sequentierung des Films ausmacht. Es ist ihr Singen, ihr Tanzen, ihr Schwärmen und manchmal auch nur ihr Atmen, die den Takt vorgeben. Zum Ende hin sind es ihr Schluchzen und ihre versagende Stimme, die sich in einem extremen Close-up auf Selmas Gesicht aufdrängen, wenn sie ihren letzten Song anstimmt: „This isn’t the last song/ There’s no violin […] This is the next to last song/ And that’s all“. Auch im letzten Moment bleibt sie also bei ihrer Sicht der Dinge. Bei dem in die Länge gezogenen „all“ öffnet sich zwar die Luke und Selma stirbt; doch einem Bühnenakt gleich, sieht man sie nun am Strick hängend, gerahmt von hellblauen Vorhängen, 44 Ebd., S. 28. 45 Ebd.
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die zwei Wärter zuziehen wollen. Vor ihr sitzen die Zuschauer der Hinrichtung, über deren Köpfen in weißen Lettern die Worte eingeblendet werden: „They say, it’s the last song/ They don’t know us, you see / It’s only the last song / If we let it be.“ Der Film nimmt als conclusio damit den letzten widerständigen Rest Selmas Traumwelt auf.
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Mit dieser Schlusssequenz wird nochmals deutlich, dass es von Trier keineswegs um den Kitsch bzw. das emotionalisierende Moment dieser Opfergeschichte geht. Durch die Ausweitung auf den Theaterbereich – besonders am Schluss, aber auch in den Musical-Szenen – hebt der Regisseur den Film in eine weitere Abstraktionsebene, die sowohl eine autonome Deutung als auch einen ironischen Kommentar zu dem recht einfachen Plot bietet. Der Zuschauer wird von der Geschichte einer leidenden, weiblichen Jesusfigur weggeführt und für ein Verstehen geöffnet, das künstlerisches Bewusstsein vor allem als eine Form der Blindheit wahrnimmt. Eine Reduktion auf die eigenen Erfahrungen, zugunsten einer gesteigerten Innerlichkeit, die allerdings fähig ist, in den Bereich des Visionären zu reichen. Interessanter Weise scheint diese Form des ‚Verstehens‘ auch die Blinden-Version des Filmes auf der DVD anzuvisieren. Hier wird bereits der lang gezogene Vorspann – der verschiedene abstrakte Farbtupfer übereinanderblendet, anstatt die Namen der Darsteller zu zeigen – von einer ruhigen, dunklen Männerstimme übermittelt. Dem Blinden wird die Szene dabei mehr über die Intensität der Stimme denn eine authentische Beschreibung nahe gebracht. Der Erzähler spricht mit einer geradezu getragenen Stimme; die Umschreibungen wirken, trotzdem sie durchaus auf das Dargestellte bezogen sind, noch poetischer als die zerlaufenden Farbkleckse selbst. Dazu spielt eine, auch für den Sehenden hörbare, symphonische Blasmusik. Im weiteren Verlauf der Blindenversion wird dieser Fokus auf das Erzeugen von Atmosphäre und damit auf die Einfühlung des Rezipienten weiterhin deutlich. Noch stärker als die Nahaufnahmen der Kamera zoomt der Erzähler Selma an das blinde Publikum heran. Es sind fast ausschließlich ihre Gestik und Mimik, die geschildert werden. Die anderen Figuren werden allenfalls als im Raum befindlich benannt oder in ihren Reaktionen auf Selma beschrieben. Es zeigt sich, wie sehr der Film auf Einfühlung mit der blinden Protagonistin angelegt ist. Die Tanzszenen werden ebenfalls nicht sprachlich eingeholt, sondern die musikalische Wirkung für sich belassen. Neben der Einfühlung wird dem blinden Rezipienten also ein großer Raum für die eigene Imagination gelassen. Dieses ‚Visualisieren‘ über Berührung und Anregung wird von zwei Szenen im Film gespiegelt, in denen Kathy mit ihrer blinden Freundin im Kino ist. Während sie in der ersten Sequenz die Handlung eines Tanzfilms noch über kurze Beschreibungen wiedergibt, ‚übersetzt‘ sie in der
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zweiten das Geschehen nur noch über das Nachzeichnen der Bewegungen auf Selmas Händen. Eben dies verlangt auch das Dogma-Manifest: Gleich einem Blinden muss der Regisseur mit den wenigen technischen Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen, seine Umgebung abtasten und rastern und so auch dem Rezipienten ein intimes Bild seiner Wirklichkeit geben. Es geht um eine Kunstvorstellung, die die Realität nicht nur abbildet, sondern fühlbar machen möchte und dies über den ‚Blick‘ des Blinden ebenso wie in der Blindenversion herzustellen weiß. Die Blinde ist es, die sich souverän und unabhängig durch das Gerattere, Gedampfe und Getackte der (Musical)Welt bewegt. Wie Derrida es für diese Figur zusammenfasst, ist ihr Sehen damit „als Geben“ zu verstehen, „das nicht der Kontrolle durch das Hinsehen bed[arf]“46. Es ist Selmas Gabe die Zusammenhänge von Innen und Außen, von phantastischimaginierter Welt und nüchterner Realität zu erkennen, und von Triers Geschick, dies über das Zusammenspiel von Musical- und realer Welt nahe zu bringen. Dies bricht auch die Grenzen des (Dogma-)Films auf: Das realistische Kino wird zum traumartigen Erlebnis, das seichte Musical zur ganz großen Oper, die Blinde zur eigentlich Sehenden. Lars von Trier endet sein Selma-Manifest daher mit dem pathetischen Ausruf: „Das ist kein purer Eskapismus… Es ist so viel mehr… Es ist Kunst!“47
46 J. Derrida: Aufzeichnungen eines Blinden, S. 127. 47 L. v. Trier: Selma-Manifest, S. 247.
Justitia ist blind Behinderung und Gerechtigkeit in Mark Steven Johnsons Daredevil (2003/04) A RNO M ETELING Raj Koothrappali: „Yeah, he‘s over it. That‘s why he‘s been whining all day about trying to invent that memory wiper gizmo from Men in Black.“ Sheldon Cooper: „Is he making any progress? Because I‘d like to erase Ben Affleck as Daredevil.“ Howard Wolowitz: „So would Ben Affleck.“ The Big Bang Theory: „The Spaghetti Catalyst“ (Season 3, Episode 20) (2010)
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Im Comic-, Film- und Popkulturdiskurs ist man sich weitgehend darüber einig, dass der Superheldenfilm Daredevil, entstanden 2003 unter der Regie von Mark Steven Johnson, nicht nur wenig gelungen ist, sondern auch der Comicvorlage nicht gerecht wird. Woran mag das liegen? Die Gründe werden – wie der kurze Dialog aus der Fernsehserie The Big Bang Theory andeutet – im Casting gesucht, aber auch in der Handlung, der visuellen Gestaltung oder im Tenor des Films.1 Entscheidend für die Beurteilung, ob Daredevil eine der Comicvorlage angemessene Verfilmung darstellt oder nicht, ist dabei nicht zuletzt die Inszenierung der Sujets, die für die Comicserie zentral sind und die sie vor anderen Superheldengeschichten auszeichnen. Diese lassen sich zu drei thematischen Komplexen zusammenfassen: Der erste ist der meist widersprüchliche und zumindest konfliktbeladene Zusammenhang von Gerechtigkeit und Vergeltung. Dieser trifft zwar auf die meisten Superheldennarra1
Stan Lee, der Schöpfer der Figur, formuliert beispielsweise: „Now with Daredevil, they just wrote the whole thing wrong. They made him too tragic. That’s not the way I wrote him. I think they’re working on a new Daredevil movie and it will be better, so hold your judgment until then.“ In: http://www.inquisitr.com/313867/stan-lee-discusses-whichmarvel-movies-he-dislikes/ letzter Zugriff am 12.03.2014.
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tive zu,2 die immer auch das Vigilantentum von Superhelden im Kontext von Selbstjustiz zur Diskussion stellen, wird aber im Fall von Daredevil durch die Dimension des Rechts erweitert. Der Held ist in seiner Privatidentität als Rechtsanwalt tätig und hat mitunter in beiden Identitäten mit denselben Verbrechern zu tun. Der zweite Aspekt betrifft die Geschichte des Helden, die als Passion angelegt ist: von dem blendenden Unfall in der Kindheit über den Mord an seinem Vater bis zu dem gewalttätigen Tod mehrerer Geliebter. Vermengt ist das kontinuierliche Leiden des Helden dabei mit einem Schuldkomplex, der stark katholisch geprägt ist. Seine ikonographische Visualisierung erfolgt dabei über die Implementierung von Kreuzmotiven, die Tatsache, dass immer wieder Priester und Nonnen zum Personal des Comics gehören, sowie, dass Kirchen- und Kirchendächer häufiger als in anderen Comics den Schauplatz der Handlung bilden (Abb. 1). Das dritte Thema von Daredevil ist schließlich die Blindheit des Superhelden, etwas, das durch seine Superkräfte kompensiert und überkompensiert wird und die wiederum nichts anderes als die Fähigkeit übermenschlicher Sinneswahrnehmung sind.
Abb. 1 Daredevil auf dem Kirchendach
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Zur Einführung in das Superheldenthema vgl. Peter Coogan: Superhero. The Secret Origin of a Genre. Austin: MonkeyBrain Books 2006; Gerard Jones, Will Jacobs: The Comic Book Heroes. The First History of Modern Comic Books from the Silver Age to the Present. Rocklin: Prima Publishing 1997; Geoff Klock: How to Read Superhero Comics and Why. New York/London: Continuum 2002 und Arno Meteling: Splash Pages – Zum graphischen Erzählen im Superhelden-Comic. In: Bilder des Comics. Beiträge zur 5. Jahrestagung der Gesellschaft für Comicforschung 2010. In: http://www.medienobservationen.lmu.de/artikel/comics/comics_pdf/meteling_comfor.pdf, letzter Zugriff am 26.03.2012 sowie ders.: To Be Continued … – Zum seriellen Erzählen im Superhelden-Comic. In: Otto Brunken, Felix Giesa (Hrsg.): Erzählen im Comic. Beiträge zur Comicforschung. Bochum: Bachmann 2013, S. 89-112.
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Die Figur Daredevil erscheint das erste Mal 1964 in dem gleichnamigen Comic, geschrieben von Stan Lee und gezeichnet von Bill Everett. Matt Murdock, so der Name des Helden, wird als Kind in einen Autounfall verwickelt. Radioaktives Material, das dabei aus einem Fass spritzt, zerstört seine Sehkraft, schärft aber zugleich seine anderen Sinne. Murdock wächst in Hell‘s Kitchen auf, eine Arbeitergegend in Manhattan, in der vornehmlich irischstämmige Amerikaner wohnen. Sein Vater Jack ist Profiboxer, der – nachdem er sich nicht an der Manipulation eines Boxkampfes beteiligt – von Gangstern umgebracht wird. Nach seinem Jurastudium gründet Murdock mit seinem Studienfreund Franklin „Foggy“ Nelson eine Anwaltskanzlei und bekämpft das Verbrechen öffentlich als Rechtsanwalt und geheim als Superheld Daredevil. Dieser ist mit einem hautengen roten Ganzkörperdress kostümiert, der, abseits vom Namen, der im Deutschen eher „Draufgänger“ als „Teufelskerl“ bedeutet, auf den Teufel verweist und Hörner auf der Maske hat.3 Der prägendste Zeichner und Autor der Comicserie Daredevil ist Frank Miller, der – zunächst noch mit dem Autor Roger McKenzie zusammen – in den 1980er Jahren dessen Tonfall verdüstert und sukzessive erwachsene Sujets in den Comic einbringt.4 Millers Kommentar zum Angebot des Marvel Verlags lautet: „I wanted the job. Boy, did I want that job. I’d always been intrigued by the notion of a hero whose defining attribute is a disability – a blind protagonist in a purely visual medium […].“5 Miller führt auch nachhaltig zwei weitere Figuren in die Geschichte ein: zum einen den blinden Kampfkunstexperten Stick, der ganz im Sinne von Joseph Campbells Modell der monomythischen Heldenreise zum Mentor Daredevils
3
Wichtiger und nachhaltiger als die Entstehungsgeschichten in der regulären Serie ist die fünfteilige Miniserie Frank Miller, John Romita Jr. u.a.: Daredevil. The Man without Fear 1-5. New York: Marvel Comics 1993-1994. Vgl. ergänzend die sechsteilige Miniserie mit dem Akzent auf Daredevils gelbem Kostüm Jeph Loeb, Tim Sale u.a.: Daredevil: Yellow. 1-6. New York: Marvel Comics 2001-2002.
4
Das Projekt des Marvel Verlags, mit McKenzie und Miller Superheldencomics für eine erwachsene Leserschaft zu produzieren, kann als Pionierunternehmen verstanden werden, dem die anderen Superheldenverlage bald folgten. Den Gipfel dieses Unterfangens erreichten im Jahr 1986 die bis heute populären Miniserien The Dark Knight Returns von Frank Miller und Watchmen von Alan Moore, die mit dem im selben Jahr erschienenen Maus von Art Spiegelman für eine Revolution in der öffentlichen Wahrnehmung des Mediums Comic überhaupt verantwortlich sind.
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Frank Miller: Introduction. In: ders., Klaus Janson u.a.: Daredevil by Frank Miller & Klaus Janson, Vol. 1. New York: Marvel Comics 2008, S. 4. Die Daredevil-Geschichten von Miller finden sich gesammelt in den drei Bänden Frank Miller, Klaus Janson u.a.: Daredevil by Frank Miller & Klaus Janson, Vol. 1-3. New York: Marvel Comics 20082009. Eine Sammlung der Elektra-Geschichten findet sich in Frank Miller, Bill Sienkiewicz u.a.: Elektra. Omnibus. New York: Marvel Comics 2008.
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wird,6 und zum anderen den weiblichen Ninja Elektra Natchios, die nicht nur eine Gegnerin, sondern zeitweilig auch die Geliebte Murdocks ist. Auch der bis dahin im Comic übliche Kampf des Superhelden gegen mehr oder weniger bunte und skurrile Superschurken weicht zunehmend dem Kampf gegen das organisierte Verbrechen – zum Beispiel in Gestalt des New Yorker Gangsterbosses Wilson Fisk, des „Kingpin of Crime“, einer Figur aus den Spider-Man-Comics.7 Dem popkulturellen Zeitgeist der 1980er Jahre geschuldet ist weiterhin eine Hintergrundgeschichte für Daredevil, Stick und Elektra über die Verwicklung des Ninjaclans „The Hand“ in das globale organisierte Verbrechen. Dieser Erzählstrang erhebt nicht nur Daredevils einzigartige Kampfkunstfähigkeiten zum zentralen Thema, sondern bestimmt bis heute auch den Daredevil-Kosmos mit. Auffällig zeichnet Miller die Figur Daredevil allerdings nicht zuerst in der gleichnamigen Serie, sondern 1979 als Gastzeichner in der Comicserie Peter Parker, the Spectacular Spider-Man.8 Das Heft 27 mit dem Titel The Blind Leading the Blind zeigt dabei, wie Daredevils ‚Behinderung‘ zum Zentrum der Geschichte wird, denn der sehende Titelheld Spider-Man ist durch den „Opti-Blast“ eines Superschurken zeitweilig erblindet. Das Heft beginnt sinnfällig mit folgenden Worten des Erzählers: The spectacular Spider-Man is blind! Rendered sightless by the Masked Marauder, accused of complicity and hunted by the police – Spidey fled into the night where, cowering in dark-
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Vgl. Joseph Campbell: Der Heros in tausend Gestalten. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1999 (1949).
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Daredevil führt damit auch an die Vorgeschichte des Superheldencomics, der Pulp Fiction um 1900, zurück, in der die Helden noch nicht gegen Schurken mit vergleichbaren Superkräften, sondern gegen Verbrecherorganisationen und ihre superintelligenten Verbrecherbosse ankämpfen. Vgl. Arno Meteling: Weird Science. Wissenschaft und Wahn im amerikanischen Superhelden-Comic. In: Torsten Junge, Dörte Ohlhoff (Hg.): Wahnsinnig genial. Der Mad Scientist Reader. Aschaffenburg: Alibri 2004, S. 171-195. Die Daredevil-Verfilmung knüpft an diese Neuausrichtung Millers an und setzt Daredevil gegen Verbrecher ein, die mit Nikolas Natchios und Wilson Fisk deutlich für ein skrupelloses Geschäftemachen im Sinne eines kalten Kapitalismus stehen. Folgerichtig wird Natchios auch von Fisk ermordet, als er Gewissensbisse bekommt und aus den offensichtlich kriminellen Geschäften aussteigen möchte.
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Bill Mantlo, Frank Miller u.a.: Peter Parker, the Spectacular Spider-Man 27 (The Blind Leading the Blind) (February 1979) und 28 (Ashes to Ashes) (March 1979). In: ders., Klaus Janson u.a.: Daredevil by Frank Miller & Klaus Janson, Vol. 1. New York: Marvel Comics 2008, S. 5-41.
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ness, he was discovered by the one man who can truly understand his anguish – one who is blind, though few indeed know it – the man without fear … Daredevil.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass im Zentrum des Beginns der modernen Neufassung Daredevils die Blindheit steht und zwar im Format ihrer Bewältigung, der sich allerdings nicht Daredevil, sondern sein Superheldenkollege Spider-Man stellen muss. Daredevil fungiert hierbei als Mentor und entzieht damit auch dem Titel des Hefts The Blind Leading the Blind den spöttischen Unterton der Redewendung, denn letztlich überwinden beide alle Hindernisse, die sich durch Spider-Mans Erblindung ergeben. Dass Spider-Man am Ende des Heftes wieder sehen kann, ist dem für 1979 unausweichlichem series-Schema von Comicserien geschuldet, für das am Ende eines Heftes der status quo des Anfangs wiederhergestellt werden muss.9 Comichistorisch ist aber zu ergänzen, dass die zwei Jahre ältere und überaus erfolgreiche Figur Spider-Man in vielerlei Hinsicht das Vorbild für das Konzept der Figur Daredevil darstellt. Vor allem der „Spinnensinn“ (spider sense) der Figur, ein beinahe übernatürlicher Alarmmechanismus und sechster Sinn, der Spinnen zugeschrieben wird und Spider-Man vor akuten Gefahren warnt, bildet die Vorlage für einen spezifischen Retcon-Eingriff in die Ursprungsgeschichte Daredevils,10 der von McKenzie und Miller vorgenommen wird. Denn seitdem besitzt Daredevil als Ergebnis seiner verschärften Sinne nicht nur zusätzlich ein übermenschliches Balancevermögen, sondern vor allem auch einen Extrasinn, den so genannten „Radarsinn“ (radar sense), der eine fokalisierte Visualisierung der Umgebung ermöglicht. Wie dieser Sinn funktioniert, wird nie genau
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Vgl. zum status quo-Konzept in Superheldencomics Umberto Eco: Der Mythos von Superman. In: ders.: Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur. Frankfurt a. M.: Fischer 1994, S. 187-222. Zu erwähnen ist überdies, dass der Student und Fotograf Peter Parker, die geheime Identität von Spider-Man, zur Tarnung eine Brille trägt, die seit der Verwandlung in den Superhelden genau wie die von Clark Kent/Superman nicht mehr notwendig ist. Die schwarze Hornbrille dient einer Stigmatisierung der Figur als gesellschaftlichen Außenseiter, als Nerd und als „professional wallflower“, wie es schon in Amazing Fantasy 15 (1962) heißt, dem ersten Auftauchen von Spider-Man.
10 „Retcon“ ist die Kurzform von „retroactive continuity“. Dieses Verfahren bedeutet, dass Ereignisse, die in der Vergangenheit passiert sind, im Nachhinein mit Effekt auf diese Vergangenheit verändert, umgedeutet oder aus dem Kanon gestrichen werden. Damit werden vornehmlich Widersprüche beseitigt, die sich in der häufig mehrere Jahrzehnte andauernden Geschichte des Superhelden angehäuft haben. Es werden damit auch Figurenkonzepte aktualisiert und an den jeweiligen Zeitgeist angepasst. Der Comicautor Roy Thomas hat für dieses Verfahren in All-Star Squadron 23 (1983) wahrscheinlich als erster den Begriff benutzt.
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erklärt, aber zuweilen als Echolot beschrieben, einer Technik also, die Fledermäuse einsetzen und auch Menschen unter Umständen erlernen können. In Volume 3 der Serie Daredevil (2011-2014), geschrieben von Mark Waid, wird dieser Radarsinn dann explizit im Sinne eines Silhouetten-Sehens visualisiert und von Murdock in einem Gespräch mit seinem Freund Nelson folgendermaßen beschrieben: (Murdock:) The Radar Sense that came with the radiation is the gift that took the most getting used to. […] It‘s not just some optic-substitute thing. (Nelson:) You’ve said it’s more like echolocation. (Murdock:) Like my brain is instantly pinging my surroundings 360 degrees. But there’s a sort of tactile facet to it, as well. Radar sense feels like walking through the room and touching everything at once.11
Für die Verfilmung ist die nachträgliche Implementierung dieses Radarsinns zentral. Inszeniert wird er als bläulich monochrome und schemenhafte Visualisierung von olfaktorischen und vor allem akustischen Sinneseindrücken. Schon in der Credit-Szene vor Beginn der Filmerzählung wird eine stilisierte Hochhaus-Skyline New Yorks in diesem kontrastreichen Look präsentiert. Auch der Prolog der Geschichte, der Murdocks Unfall als Kind thematisiert, zeigt, wie dieser blind im Krankenhaus aufwacht und nicht nur von den nun überlauten Geräuschen erschreckt wird, sondern diese auch visualisiert – mit Explosionen der Helligkeit als Quellen des jeweiligen Lauts. Einige Szenen des Films sind durch diese spezielle Visualisierung akustischer – und zum Teil auch olfaktorischer – Informationen besonders gekennzeichnet und diegetisch determiniert: Eine zeigt die Verabredung von Murdock mit seinem love interest Elektra Natchios auf einem Hochhausdach. Das Treffen erfüllt dabei jedes Hollywood-Klischee einer Liebesszene und bindet dazu das Thema der Blindheit und Daredevils Supersinne ein. Pathetisch aufgeladen wird die Szene nicht nur durch die Musik und die Closeups der Gesichter im Schuss-Gegenschuss-Schnitt, sondern auch dadurch, dass Murdock wahrnimmt, dass es in wenigen Sekunden regnen wird und Elektra deshalb bittet, noch etwas zu bleiben. Denn durch den Aufprall der Regentropfen kann er sie mittels seines Radarsinns so dreidimensional und detailliert wahrnehmen, dass es dem Sehen gleicht. Die taktile Definition des Radarsinns von Waid als „touching everything at once“ wird hier also filmisch umgesetzt. Der Höhepunkt der Szene ist demzufolge in der Fokalisierung Murdocks das strahlend helle Gesicht Elektras im Regen in einer Großaufnahme des Radarlooks als Epiphanie der Schönheit: „You’re so beautiful.“ (Abb. 2)
11 Mark Waid, Paolo Rivera u.a.: Daredevil by Mark Waid, Vol. 1. 2. Aufl. New York: Marvel Comics 2013, o. S.
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Abb. 2 Elektra im Regen Eine weitere Szene, die den Radarsinn prominent einsetzt, zeigt den Endkampf gegen den Bösewicht Wilson Fisk, des Verbrecherbosses von New York, genannt Kingpin. Der Kampf des stark verletzten Daredevils gegen den massigen und viel größeren Fisk, dessen Skrupellosigkeit und auch mörderische Kampfkraft zuvor durch den Mord an den eigenen Mitarbeitern bestätigt worden ist, wird zunächst als aussichtslos für Murdock gezeigt. Dann kann dieser allerdings das Blatt wenden, indem er die Sprinkleranlage des Apartments, in dem der Kampf stattfindet, aktiviert. Der künstliche Regen, der Fisk besser visualisiert, verschafft ihm die nötige Sicht, um diesen besiegen zu können. Der körperliche Nachteil scheint hier also weniger von Bedeutung zu sein als die Blindheit des Helden, etwas, das ihn bis zu diesem Zeitpunkt in Kampfsituationen keinesfalls behindert hat. Sichtlich ist in dieser Kampfszene deshalb weniger die diegetische Logik eines taktischen Vorteils im Sinne einer Überwindung von Blindheit von Bedeutung als filmdramaturgisch der Versuch, ein Pendant zur genauso visuell als Ausnahmeszene gestalteten Liebessequenz im Regen zu schaffen. Denn der Kingpin steckt nicht nur hinter allen gezeigten Verbrechen des Films, er hat auch Murdocks und Elektras Väter ermordet bzw. ermorden lassen und schließlich – vermeintlich – Elektra Natchios selbst. In der Liebesszene auf dem Dach wie auch in zwei anderen Szenen zwischen Murdock und Natchios kommt es überdies zu einer interessanten Kombination in der Inszenierung von Geruchs- und Hörsinn. Nach ihrem ersten Treffen folgt Elektra Murdock auf die Straße. Dieser identifiziert sie aber schnell an ihren „high heels“ und ihrem Rosenöl-Parfum. Auch vor ihrem ersten Treffen erriecht Murdock in einem Café schon die körperliche Attraktivität der Frau, die das Gebäude noch nicht betreten hat. Ebenso stellt der Film während Nikolas Natchios’ Fest im Grand Hotel, zu dem Elektra Murdock eingeladen hat, auf die monochrome Sicht des Radarsinns um, und Murdock folgt der Duftspur Elektras, um sie zu finden und dann an ihrem Nacken zu riechen. Betont wird durch die Einbindung des verstärkten Geruchssinns Murdocks, der im Film sonst eher eine untergeordnete Rolle spielt, die sinnliche, mithin sexuelle Dimension der Beziehung der beiden. Nicht zufällig trägt
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Elektra Rosenöl, das nicht nur exklusiv und exotisch ist, sondern auch das blumige Symbol der Liebe als Grundstoff hat. Für alle anderen Belange des Films bleibt – dem Medium des Kinos angemessen – der akustische Kanal dominant. Denn obwohl Daredevil wie auch später die gleichnamige Verfilmung (2006) des Patrick Süskind-Romans Das Parfum. Die Geschichte eines Mörders (1985) den Geruchssinn filmisch einzufangen suchen, bleiben die Maßnahmen eine kinematographische Katachrese, die prothetisch wirkende Übersetzung eines unsichtbaren Informations- und Gefühlskanals, den ein Kinofilm eben nicht transportieren kann. Daredevils vor allem akustisch geprägter Radarsinn hingegen ist nicht nur ein paradigmatischer Kinosinn, und zwar die Kombination aus akustischen und visuellen Informationen, sondern auch die Wunschvorstellung der idealen Supplementierung eines Kinos oder Fernsehens für Blinde, nämlich die Projektion einer irgendwie gearteten inneren Visualisierung durch Geräusche. Die latente Pointe ist dabei allerdings die, dass exakt für blinde Filmzuschauer oder Filmhörer diese Transformation verborgen bleiben muss, da sie als rein visuelles Kinophänomen nicht zusätzlich wiederum mit Worten beschrieben wird. Medientheoretisch zusammengefasst, entsprechen Daredevils geschärfte Sinne und vor allem sein visualisierender Radarsinn einem Wahrnehmungsmodell, wie es nicht nur bei Mark Waid, sondern auch bei Marshall McLuhan unter dem Stichwort der „Taktilität“ auftaucht: Die meisten technischen Formen bewirken eine Verstärkung, die in ihrer Trennung der Sinne deutlich wird. […] Aber das Fernsehen ist vor allem eine Erweiterung des Tastsinns, der ein optimales Wechselspiel der Sinne mit sich bringt.12
Verstanden werden kann dies Modell als Fortsetzung eines Wahrnehmungsprojekts, wie es im spätromantischen Programm des „Gesamtkunstwerks“ 1849 von Richard Wagner entwickelt wird,13 nämlich als Versuch einer modernen Kunst der multiplen Kanäle, die die Grenzen der konventionellen Oper hinter sich lässt und als Verschmelzung der verschiedenen Einzelkünste ein multimediales und synästhetisches Totalspektakel der Überwältigung unternimmt. Eingelöst wird dieses Projekt – vor dem Computer – vom Medium Film. Denn es ist das Filmdispositiv, das eine Technik der totalen Mobilmachung und Überwältigung des menschlichen Körpers und seiner Sinne unternimmt. Er greift, so in Theorien von Hugo Münsterberg und Walter Benjamin, in struktural psychoanalytischen Apparatus- und Screen-Theorien
12 Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle. Understanding Media. Dresden/Basel: Verlag der Kunst 1994 (1964), S. 502. 13 Richard Wagner: Das Kunstwerk der Zukunft. In: ders.: Dichtungen und Schriften, hrsg. v. Dieter Borchmeyer, Bd. 6. Frankfurt a. M.: Insel 1983, S. 134.
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sowie in jüngsten Affekt- und Emotionsforschungen, direkt auf das Unbewusste des Filmzuschauers zu. Edgar Morin bezeichnet dieses Projekt hin zu einer Taktilität des Films als das „totale Kino“14. Er illustriert seine Beobachtung mit der Beschreibung der Versuche des Kinos, eine maximale Ausweitung der Bildfläche, zum Beispiel über Cinemascope oder Cinerama, sowie über Dreidimensionalität einzusetzen. Das Ziel ist die hermetische Einschließung des Zuschauers in die Welt des Kinos, also eine gänzlich Welt und Körper simulierende Sinnestäuschung und damit eine körperlich affizierende Immersion. Insbesondere in den Szenen, in denen die blinde Figur Daredevil ihren Radarsinn einsetzt, um synästhetisch und damit taktil die filmische Umgebung zu visualisieren, verkörpert sie also genau das Programm des totalen Sehens und die über das Visuelle hinausgehende Überwältigungskraft des Filmischen.
2. O VERACHIEVERS – S UPERHELDEN
UND
S UPERCRIPS
Die Repräsentation und Diskursivierung von Behinderung nimmt in Superheldengeschichten – wie in der Genrefiktion überhaupt – nur einen kleinen Raum ein. Behinderung kann aber durchaus zum Thema einer Superheldengeschichte werden, und die Figur des Superhelden zum Ereignis im Behindertendiskurs.15 Das Superheldennarrativ als Genre fantastischer Action ist häufig als Imagination über das Thema körperlicher Entgrenzung, zum Beispiel als ein Mehr im Bereich der Körperkraft oder der Wahrnehmungsfähigkeit, zu verstehen. Ein tertium comparationis von Superheldengeschichte und Behindertendiskurs ließe sich deshalb mit dem Konzept des overachieving benennen, dem Vollbringen einer Leistung, die nach Sichtung oder auch Messung einer Person die konventionellen Erwartungen
14 Edgar Morin: Der Mensch und das Kino. Eine anthropologische Untersuchung. Stuttgart: Ernst Klett 1958, S. 153-168. Jonathan Crary stellt fest, dass schon Charles Wheatstone, der Erfinder des Stereoskops, nicht mehr die Naturähnlichkeit als Ziel des Mediums betrachtet, „sondern unmittelbare, scheinbare Greifbarkeit“. Jonathan Crary: Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert. Dresden/Basel: Verlag der Kunst 1996, S. 128. 15 Verkürzt könnte man diesen als ein soziales und kulturelles Sprechen verstehen, das Aussagen über Defekte und Defizite, also über ein irgendwie noch medizinisch gebundenes Modell des Handicaps, trifft, die Macht-Wissen-Effekte von Normalisierung, Exotisierung oder Stigmatisierung hervorrufen. Als ersten Zugang vgl. Erving Goffman: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2010 sowie Markus Dederich: Körper, Kultur und Behinderung. Eine Einführung in die Disability Studies. Bielefeld: transcript 2007.
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deutlich übersteigt. Drei Möglichkeiten einer Verhandlung von Behinderung und Superheldentum scheinen sich dabei anzubieten: (1) Es gibt nur wenige behinderte Superhelden. Bekannt sind der blinde Daredevil, der nur temporär schwerhörige Bogenschütze Hawkeye sowie die an den Rollstuhl gefesselten Figuren Professor Charles Xavier, der Anführer der Superheldengruppe X-Men, und Barbara Gordon, das ehemalige Batgirl. Bei diesen beiden lässt sich zum Beispiel eine sehr unterschiedliche Verhandlung des Mobilitätsproblems beobachten. So wird Xavier, dessen Superkraft die Telepathie ist, durch seine Behinderung in keinerlei Weise gebremst. In den meisten Geschichten wird seine Mobilität entweder nicht zum Thema erhoben oder durch ein futuristisches Rollstuhlmodell, zuweilen auch mit Flugfunktion, hergestellt. Gordon hingegen, die in der Geschichte The Killing Joke (1988) vom Superschurken Joker angeschossen wird, ist seitdem querschnittsgelähmt und musste ihre Identität als Batgirl aufgeben. Sie funktioniert seither unter dem Decknamen „Oracle“ als Computerhackerin und Informationsbrokerin für Batman und andere Superhelden in Gotham City, trauert ihrer Superheldenkarriere aber nach. Bei A-Superhelden wie Batman, dem in der Geschichte Knightfall (1993-1994) das Rückgrat gebrochen wird, ist – vergleichbar der zeitweiligen Erblindung Spider-Mans – von Beginn an klar, dass er nicht für immer im Rollstuhl bleibt, sondern am Ende der Geschichte wieder gesunden wird. (2) Ein interessanter interpretatorischer Ansatz von Superheldengeschichten ist die stark allegorische oder referenzielle Lektüre von diegetisch nicht als explizit behindert ausgewiesenen Superhelden als Behinderte. Dies kann unter Umständen zu Überinterpretationen oder Fehllektüren führen,16 wie sie beispielsweise Michael M. Chemers in der Besprechung des Superheldenfilms X2 (2003) als Behindertendrama vornimmt.17 Dass die Mutanten der X-Men paradigmatisch gesellschaftliche Außenseiter repräsentieren, ihre Superkräfte und phänotypischen Mutationen aber jede direkte Referenzialität offen lassen, bleibt seinem hypostasierenden Ansatz
16 Vgl. Umberto Eco: Zwischen Autor und Text. Interpretation und Überinterpretation. München: dtv 2011. 17 „The recent blockbuster from Twentieth-Century Fox, ‚X-2‘, the sequel to the phenomenally popular ‚X-Men‘, is a film that solidifies the growing legitimacy of disability-related discourse as part of American aesthetic and historical discourse, if for no other reason than that it attracted not only two of the greatest living Royal Shakespeare Company veterans [...] but two of the commonly acknowledged ‚most beautiful‘ supermodels [...] to its cast. This is primarily a fantasy-adventure film, but the affirmative representation of genetic anomaly, physical difference, and disability that this movie provides is unprecedented in its color and clarity.“ Michael M. Chemers: MUTATIS MUTANDIS: An Emergent Disability Aesthetic in „X-2: X-Men United“. In: Disability Studies Quarterly 24, 1. Winter 2004. URL: http://dsq-sds.org/article/view/862/1037 letzter Zugriff am 17.05.2014.
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merkwürdig außen vor. Tatsächlich beziehen sich die meisten identifizierenden Aussagen über die X-Men auf das Thema der homosexuellen Orientierung, eine Lektüre, die seit den Comicverfilmungen X-Men (2000) und X2 durch Aussagen des homosexuellen Regisseurs Bryan Singer verstärkt wird. (3) Eine Koppelung von Behindertendiskurs und Superheldengeschichte ist schließlich der noch junge „supercrip“-Diskurs, der das öffentliche Bild und mithin auch das Selbstbild Behinderter betrifft. Die Begriffe des „crip“ oder des „cripping“ als Aussage Behinderter bedeuten dabei eine Resignifikation der gewöhnlich pejorativ benutzten Begriffe „cripple“ oder „crippling“ – im Deutschen „Krüppel“ oder „Verkrüppelung“. Ziel dieser Aneignungsstrategie ist die Handlungsmacht über die Verwendung dieser Begriffe und damit die Deutungshoheit über den eigenen Körper. Das „supercripping“ kann zwei Dinge im Kontext des overachieving bedeuten: zum einen die Einschätzung der Leistung von Behinderten im Alltag als Supertaten, da sie wegen ihrer Behinderung mehr leisten müssen als Nichtbehinderte. Zum anderen wird mit „supercrip“ ein Behinderter bezeichnet, der auf einem bestimmten Gebiet mehr zu leisten imstande ist als ein Nichtbehinderter. Ein populäres Beispiel in Film und Fernsehen sind Menschen, die an bestimmten Formen des Autismus wie dem Asperger- oder Savant-Syndrom leiden – zu sehen beispielsweise in dem Kinofilm Rain Main (1988) oder der eingangs zitierten Fernsehserie The Big Bang Theory (2007). Superhelden wie Daredevil fallen eindeutig in die Kategorie des supercripping, das ein overachieving als Kompensationsmechanismus formuliert. Seine Leistungen folgen der bekannten Alltagslogik, dass seine anderen Sinne übermenschlich geschärft sind, gerade weil er blind ist. Der Auslöser, die radioaktive Flüssigkeit, die Murdock geblendet hat, wäre in dieser Hinsicht nicht mehr als ein diegetischer Katalysator. Mit dem Thema der Blindheit entspricht Daredevil allerdings nicht nur der häufig auch narrativ umgesetzten Alltagslogik, sondern inszeniert auch eine kulturell besonders aufgeladene Behinderung, die in Mythologie, Literatur und Film häufig mit ihrer Überkompensation, nämlich einer übernatürlich markierten Weit- oder Hellsicht, verbunden ist. Das Thema der Blindheit, das zentral für den Film Daredevil ist, wird schon vor dem diegetischen Filmbeginn platziert, indem die Credits der Schauspielerinnen und Schauspieler sich von Braille in lateinische Schrift verwandeln. Weiterhin stehen für seine Identität als Blinder Murdocks dunkle Brille, sein Blindenstock und auch seine körperliche Deformation, weiße Narben um die Augenpartie sowie gänzlich bläulichweiße Augen im Closeup ein. Schon in den ersten Szenen werden auch Alltagshandlungen gezeigt, die Murdocks Blindheit betonen. So zählt dieser morgens seine Geldscheine für den Tag ab, die in Plastikbehältern mit Brailleetiketten aufbewahrt sind. Murdock selbst macht seine Blindheit verbal überdies ständig zum Thema, nutzt sie wortspielerisch oder auch, um sich bei seinem Gegenüber rhetorisch einen moralischen Vorteil zu verschaffen. Als Ben Urich, der Journalist, der über Daredevil berichtet, beispielsweise Murdocks auffällig roten Blindenstock
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mit „cool color“ kommentiert, antwortet Murdock lapidar: „I wouldn’t know.“ Auch in der ersten Begegnung zwischen Murdock und Elektra provoziert dieser von ihr den Satz „Are you blind?“, den sie allerdings nicht beenden kann, ehe Murdock das „blind“ ausspricht. Er instrumentalisiert also auch in einem Flirtversuch sichtlich skrupellos seine Behinderung. Zwar gibt die ein wenig schuldbewusste Elektra trotzdem nicht ihren Namen preis, so dass Murdocks Freund Nelson zu der Aussage kommt: „Some people have no compassion for the handicapped.“ Dennoch hat Murdocks forsches Auftreten Eindruck hinterlassen, und nachdem er Elektra auch seine akrobatischen Fähigkeiten demonstriert hat, ist sie interessiert. Der Film zeigt weiterhin die Kombination einer erwartbaren Reaktion der Gesellschaft auf Blinde mit Daredevils overachieving. So wird Murdock als Blinder ständig unterschätzt: Er ist aber, wie der Zuschauer weiß, sehr wohl in der Lage, seine Umgebung ausgezeichnet wahrzunehmen. Der Zuschauer wird damit zum Komplizen der Figur und zieht seine Lust aus der heimlichen Überlegenheit des Helden: Weil Murdock blind ist, gibt ihm Nelson beispielsweise nach einer Meinungsverschiedenheit Senf statt Honig in den Kaffee. Murdock, der dies selbstverständlich wahrnimmt, vertauscht dann heimlich die Tassen. Während Nelson dann in einer späteren Szene vortäuscht, dass er nach mehreren vergeblichen Versuchen mit einem Ball einen Miniaturbasketballkorb trifft, glückt dies Murdock selbstverständlich beim ersten Wurf. Der Film nutzt also die gesellschaftliche Wahrnehmung von Blinden sowie das Zuschauerwissen um Murdocks geheime Kräfte, um die Überlegenheit des Helden zu betonen, selbst wenn dieser seine Fähigkeiten in manipulativer Weise ausnutzt. Vor allem Nelson, Murdocks weniger attraktiver Partner, wird diegetisch deshalb zum punching ball und kommt filmisch selten über die Rolle des comic relief hinaus. So wird beispielsweise die Tatsache, dass Murdock ihn im Gerichtssaal zuweilen unvorbereitet allein lässt, weil er als Daredevil unterwegs ist, nicht als Kritik an Murdock inszeniert, sondern als Gelegenheit, auf komische Weise die Unfähigkeit Nelsons zu zeigen, mit Murdocks Unterlagen, die in Braille geschrieben sind, vor Gericht aufzutreten. Letztlich wird weniger Daredevils Blindheit als Defizit gezeigt, sondern seine Schwäche besteht ausgerechnet in seiner Superkraft – nämlich der Überkompensation des verlorenen Sinnes durch besonders geschärfte andere Sinne, vor allem des Gehörs. So übernimmt der Film beispielsweise die Idee aus den Frank Miller-Comics, Daredevil in einem Sensory Deprivation-Tank schlafen zu lassen, um ihn von den Geräuschen der Stadt abzuschotten.18 Auch der Kampf gegen den Superattentä-
18 Möchte man diese Szene psychoanalytisch ausloten, ließe sich die Simulation eines Embryonalzustands feststellen, ein Verhalten, das als kompensatorisch gedeutet werden kann, da Mütter im Film deutlich abwesend sind. Hinzu kommt, dass dadurch die Morde an den Vätern von Murdock und Natchios durch den Kingpin noch mehr Gewicht erhalten.
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ter Bullseye, der Elektra und zuvor schon ihren Vater umgebracht hat, bringt weniger seinen Sehverlust als sein Supergehör als Achillesverse ins Spiel. Denn der Kampf der beiden findet in einer Kirche vor großen Orgelpfeifen und mit starkem Glockengeläut statt. Bullseye verwandelt dabei Daredevils Stärke in seine einzige Schwäche, indem er mit der Orgel Lärm produziert, der Daredevil stark irritiert. Nicht die Blindheit behindert also Daredevil, sondern sein überscharfes Gehör, mithin sein Status als Superheld und overachiever.
3. G ERECHTIGKEIT
UND BLINDE
G EWALT
Der Superheld verkörpert wie keine zweite Figur das Rechtsmodell des doppelten Körpers, wie es Ernst H. Kantorowicz in seiner Studie zur politischen Theologie Die zwei Körper des Königs für die britische Rechtsgeschichte der frühen Neuzeit formuliert. Dieses Konzept spaltet den Souverän dabei in einen individuellen sterblichen Privatkörper und einen unsterblichen Staatskörper.19 Die mittelalterliche Doppelformel von Klage und Akklamation „Le roi est mort. Vive le roi!“ ist eine bekannte Verkürzung dieser zentralen Paradoxie im System absolutistischer Herrschaft. Dieser Ausruf verleiht einer Figur der Simultaneität zweier Momente Ausdruck: und zwar nicht nur dem Tod des alten und dem Hochleben des neuen Königs, sondern vor allem sowohl der Zäsur als auch der Kontinuität souveräner dynastischer Herrschaft. Diese Gleichzeitigkeit ist notwendig für ein System, dessen Herrschaft an die persönliche Macht und Würde und damit an den Körper des Souveräns gebunden ist. Der absolutistische Herrscher des ancien régime vereint damit also nicht nur alle Macht des Staates in sich, sondern er verkörpert diesen auch. Kein König hat diesen Sachverhalt besser auf den Punkt gebracht als der notorisch auf Repräsentation bedachte französische roi soleil Louis XIV mit der ihm zugeschriebenen Formel „L’état c’est moi“. Zwischen den beiden Körpern des Königs existiert allerdings noch ein dritter supplementärer Körper, ein Zeichenkörper, da Souveränität immer auch ein Effekt von Zuschreibung ist. Sie speist sich sympraktisch aus dem Imaginären der Öffentlichkeit und ist damit auch der Grund für die Existenz staatlicher Repräsentationstechniken.20 So wird der private Körper des Königs erst durch die Investitur, die
19 Ernst H. Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters. München: dtv 1994. 20 Zum Begriff der „Sympraxis“ siehe Rolf Kloepfer, Hanne Landbeck: Ästhetik der Werbung. Der Fernsehspot in Europa als Symptom neuer Macht. Frankfurt a. M.: Fischer 1991, S. 99-101. Zum Thema einer Ästhetik politischer Repräsentation vgl. Christoph Menke: Die Depotenzierung des Souveräns im Gesang. Claudio Monteverdis Die Krönung der Poppea und die Demokratie. In: Eva Horn, Bettine Menke, Christoph
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zeremonielle Einkleidung und Krönung, zum Staatskörper und zu einer persona, die durch das Gottesgnadentum (dei gratia) über dem Volke steht und als rex iustus, als gerechter König, herrscht. Albrecht Koschorke fasst dazu zusammen: „Das Amt kleidet den Körper des Herrschers, so wie dieser seinerseits das Amt bekleidet. […] Das Kleid lässt diesen Symbolisierungsprozess sichtbar werden. Es investiert einen natürlichen Körper, aber es überschreibt ihn zeichenhaft mit den Attributen des Unsichtbaren, das er fortan verkörpert.“21 Ihre diegetische und politische Entsprechung findet diese Ausnahmefigur sichtlich in der Souveränität des Superhelden, der über seine Lebenswelt genauso wie über Recht und Gesetz steht. Denn letztlich kann sich der Superheld als Vigilant mit geheimer Identität immer dem Zugriff des Staates entziehen und ist nur in seiner öffentlichen – im Kantischen Sprachgebrauch: „privaten“22 – Form manifest, also wenn er in Kostüm und Maske auftritt und damit als personifiziertes Symbol ein repräsentatives Regime selbstbestimmter Herrschaft verkörpert.23 Als Privatmensch bleibt diese so öffentliche wie maskierte Souveränität unsichtbar. Denkt man also die Doppelidentität des Superhelden in der repräsentativen Bildlogik politisch theologischer Souveränität, wird auch das Verhältnis des Superhelden zu Politik- und Rechtssystem sichtbar und man sieht, wie das literarische und das graphische oder visuelle Erzählen von Comic oder Film einander supplementieren. Der übermenschliche öffentliche Superheld in Maske und Kostüm steht, so lässt sich zusammenfassen, über den Gesetzen und ist, wie man auch in der Geschichte des Superheldencomics seit 1938 verfolgen kann, unsterblich. Daredevil zeigt dieses Modell der Souveränität vor allem in zwei Aspekten: den der Investitur und im Bezug des Superhelden zum Rechtssystem. So gibt es früh im Film eine aus der Diegese des Films weitgehend herausgenommene Investiturszene, die in Halbnahe und frontal zur Kamera stattfindet (Abb. 3). Der Rechtsanwalt
Menke (Hrsg.): Literatur als Philosophie – Philosophie als Literatur. München: Fink 2006, S. 281-296. 21 Albrecht Koschorke: Macht und Fiktion. In: Thomas Frank, ders., Susanne Lüdemann, Ethel Matala de Mazza: Des Kaisers neue Kleider. Über das Imaginäre politischer Herrschaft. Texte, Bilder, Lektüren. Frankfurt a. M.: Fischer 2002, S. 73-84, hier S. 79. Die paradigmatische Literarisierung dieses Verhältnisses zwischen dem privaten Körper des Herrschers und seiner zeichenhaften Vestitur findet sich in Hans Christian Andersens Märchen Des Kaisers neue Kleider (1837), das die Macht des Kaisers, die Aura seiner souveränen Herrschaft, als buchstäbliche Investitur liest und damit als visuelle Zuschreibung durch das Imaginäre des Volkes. 22 Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1783). In: Ehrhard Bahr (Hrsg.): Was ist Aufklärung? Thesen und Definitionen. Stuttgart: Reclam 2002, S. 9-17. 23 Jacques Rancière: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien. Berlin: b_books 2006.
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Murdock hat vor Gericht verloren und wirft sich nun in sein Daredevil-Kostüm, um seine Version von Gerechtigkeit umzusetzen. In Großaufnahme sieht man dabei beispielsweise sein Logo, das doppelte „D“, auf seiner Brust oder, wie er in deutlicher Referenz an die populäre Vorbereitungsszene der Rambo-Filme seine Handschuhe und Stiefel arretiert. Besonderes Augenmerk gilt dann zwei Elementen seines Kostüms, die das Thema der politischen Souveränität mit seiner Blindheit koppeln: Denn zum einen werden in Großaufnahme auch die Augenstücke seiner Maske gezeigt. Diese verdecken nicht nur vollständig seine deformierte Augenpartie, sondern erweisen sich auch als verspiegelt. Sie zeigen im Closeup die erleuchtete Skyline von New York bei Nacht und damit Daredevils Aktions- und Herrschaftsraum (Abb. 4). Zum anderen zeigt die Szene die Transformation von Murdocks Blindenstock in Daredevils Waffen. Denn der Superheld kämpft mit zwei Schlagstöcken (billy clubs), die mit einem 30 Fuß langen Stahlkabel verbunden sind. Der Blindenstock, der zur (Doppel-)Waffe ähnlich einem Nunchaku wird, verbindet somit sowohl Zepter und Schwert als Herrschafts- und Rechtsinsignien eines Souveräns als auch das Superheldentum mit der Blindheit. Das Pendant zu Daredevils billy clubs bildet dabei Kingpins Stock, ein Zepter aus Metall mit einen Kristallkopf, der als Symbol seiner Herrschaft über alle Verbrechen in der Stadt in den Vordergrund gerückt wird. Der zweite Aspekt ist Murdocks Verhältnis zu Recht, Gerechtigkeit und Rache. Im Gegensatz zu Elektra, die nach dem Mord an ihrem Vater das Motiv der Rache explizit zu ihrem Lebensinhalt macht, ist das Konzept, das der doppelte Körper Daredevil/Matt Murdock ständig auf den Lippen führt und zu verfolgen meint, „justice“. Dieser Begriff wird allerdings je nach Entwicklungsphase Murdocks unterschiedlich mit Recht, Gerechtigkeit und Rache gefüllt. Zu Beginn des Films droht er als Rechtsanwalt vor Gericht beispielsweise dem Angeklagten José Quesada, der eine Frau vergewaltigt und misshandelt hat: „Mr. Quesada, for your sake, I hope justice is found here today, before justice finds you.“ Nachdem Murdock den Prozess verloren hat, schiebt er zum einen die Schuld auf den Kingpin, der Verbrechern gute Rechtsanwälte besorgt, zum anderen wirft er sich in sein DaredevilKostüm, sucht Quesada in einer Bar auf, prügelt sich dort mit allen Anwesenden und wirft Quesada in einer U-Bahn-Station auf die Schienen, so dass dieser überfahren wird. Als Signatur seiner Souveränität hinterlässt er am Tatort mit brennbarer Flüssigkeit sein Logo: das doppelte „D“. Der Privatmann, Bürger und Rechtsanwalt Murdock vermag also seinen zweiten souveränen Körper zu aktivieren, sich über das Rechtssystem hinwegzusetzen und als Vigilant Daredevil eine selbstgerechte Hinrichtung durchzuführen. Nach dem finalen Kampf gegen den Oberbösewicht Kingpin bringt Daredevil am Ende des Films diesen allerdings nicht um, sondern übergibt ihn den Behörden. „I’m not the bad guy“, ist der Satz, den Murdock im Film zweimal benutzt – einmal, um einen kleinen Jungen zu beruhigen, der beobachtet hat, wie er einen Verbrecher verprügelt, und als Selbstversicherung nach
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dieser Szene. Dazwischen liegt – und zwar nur in der Kinofassung – eine Beichtsequenz, die den katholischen Schuldkomplex der Figur betont. Warum diese Beichte, die den Wandel Murdocks allerdings nur schwach erklärt, im Director’s Cut entfernt worden ist, lässt sich zusätzlich am ethischen Begründungssystem des Films festmachen.
Abb. 3-4 Dardevils Investitur und Stadt Denn auffällig wird keine Aktion Murdocks, weder die Racheaktion zu Beginn noch der Sinneswandel zur Gesetzestreue am Ende, zur kritischen Disposition gestellt. Ganz im Gegenteil wird auch der Mord Daredevils an Quesada filmrhetorisch gerechtfertigt. So sieht man in der Gerichtsszene das weibliche Opfer sexueller Gewalt verzweifelt und weinend in Großaufnahme, während Quesada diese im Prozess nicht nur verspottet, indem er behauptet, dass sie die Vergewaltigung genossen habe, sondern nach der Verhandlung steigt er auch ostentativ höhnisch lachend in seinen Wagen, um danach in einer Gangsterbar zu feiern. Der Film lässt keinen Zweifel an der Schuld des Verbrechers und daran, dass das Rechtssystem hier ver-
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sagt hat. Eine Bestrafung scheint also nur billig.24 Die Begründungsrhetorik der Gerechtigkeit, die Daredevil dabei ausübt, lässt sich an einer spezifischen Koppelung der politischen Theologie des Superhelden in Anlehnung an das Gottesgnadentum des Souveräns mit seiner spezifischen ‚Behinderung‘, der Blindheit, ausmachen. Denn wenn der Film mit seiner Hauptfigur das dargestellte Rechtssystem übersteigt, dann lässt sich diese Position durchaus als eine Form göttlichen Rechts ausmachen.25 Gestützt wird diese Rhetorik durch die Inszenierung von Murdock/Daredevil als Opferfigur mit messianischen Zügen. Denn zum einen dient als Gewährleistung der Rechtmäßigkeit von Daredevils gewaltförmigem Kreuzzug sein Leiden, wie es vor allem zu Beginn des Films zur Schau gestellt wird. Privat lebt Murdock isoliert in einer kargen Wohnung, die allein durch Funktionalität geprägt ist. Gezeigt werden sein müder Gesichtsausdruck und die zahlreichen Blessuren und Narben, die er von zahlreichen Kämpfen davongetragen hat und die seinen ganzen Körper bedecken. Sein trainierter Superheldenkörper ist ein lädierter, ein stigmatisierter Körper. Zum anderen wird die Blindheit selbst zum geradezu naturrechtlichen Ausgangspunkt gerechten Handelns, wenn Daredevil in Analogie zur Personalallegorie der Justitia mit Augenbinde, Waage und Richtschwert als Verkörperung blinder Gerechtigkeit fungiert, auf die auch der Chronist Daredevils Ben Urich in einer im Director‘s Cut hinzugefügten Schlussszene vor einem Gerichtsgebäude anspielt: „Justice is blind.“26
24 Hierin zeigt sich auch der blinde Fleck des Films in Bezug auf die Comicvorlage. Denn während der Comicsuperheld seinem Verhaltenscodex gemäß nicht tötet und die Serie wie viele andere Superheldencomics immer wieder das Thema der Differenz von Recht, Gerechtigkeit und Rache im Kontext von Selbstjustiz auslotet, wird es im Film trotz der sprunghaften Entwicklung Murdocks eskamotiert. 25 Daredevils Souveränität verweist in der Verbindung mit seiner Behinderung auf einen theologischen Diskurs und damit über menschliche Dimensionen hinaus. Unterstützt wird dieser Diskurs visuell durch die ironisch verstandene Gestalt des „guardian devil“, wie Murdock sich auch nennt, mit einem gehörnten Teufelskostüm sowie mit einem Zepter ausgestattet, das beim Identitätswechsel von Murdock in Daredevil mittels Knopfdruck das Emblem eines Engelsgesichts in eine Teufelsfratze verwandelt. Mittels desselben Knopfdrucks verschwindet auch der Blindenstock und verwandelt sich in das verborgene Herrschaftsinsignium der Souveränität Daredevils. 26 Diese Szene existiert nicht in der Kinofassung Daredevil (100 Minuten), sondern beschließt den wesentlich erweiterten Daredevil Director‘s Cut (128 Minuten), der 2004 erscheint und die Wunschfassung des Regisseurs zeigt. Neben der Einfügung und Verlängerung einiger Szenen wird vor allem die Beichtszene geschnitten. Auf der DVD existiert das Feature Making of Daredevil Director‘s Cut, das einen durchgängig apologetischen Tonfall des Regisseurs aufweist und sichtlich eine Reaktion auf die zum Teil schlechte Aufnahme des Kinofilms darstellt.
Was die Welt zusammenhält Figurationen des Sozialen in Fernando Meirelles’ Blindness (2008) H AUKE L EHMANN
In den späten 1960er und den frühen 1970er Jahren etabliert sich im US-amerikanischen Kino ein neues Geschichtsverhältnis des Horrorfilms. Dieses Verhältnis lässt sich am besten durch den Begriff der Allegorie fassen. Filme wie Night of the Living Dead (USA 1968, R: George A. Romero), The Crazies (USA 1973, R: Romero) und The Texas Chain Saw Massacre (USA 1974, R: Tobe Hooper) verorten sich dezidiert im Bezug auf zeitgenössische und alltägliche Formen der Sozialisation. Sie tun dies im offenen Gegensatz zum klassischen Horrorfilm, der ganz überwiegend den zeitlichen oder räumlichen Abstand hervorhebt, aus welchem sich der Schrecken speist – sei es der aus der Tiefe der Zeit drohende Fluch der Pharaonen in The Mummy (USA 1932, R: Karl Freund) oder die sich mit dem Exotischen verbindende Macht unkontrollierter Sexualität in Cat People (USA 1942, R: Jacques Tourneur). Einer der hellsichtigsten Chronisten dieser Verschiebung ist der Filmkritiker Robin Wood, der sich ausführlich mit der Frage auseinandergesetzt hat, in welchem Verhältnis Film und Gesellschaft zueinander stehen. Wood beschreibt die von ihm erkannte neue Entwicklungsstufe als „apokalyptische Phase“ des Horrorfilms: „In its apocalyptic phase, the horror film, even when it is not concerned literally with the end of the world […], brings its own world to cataclysm, refusing any hope of positive resolution […].“1 Diese Desintegration der filmischen Welt wird von Wood als Kommentar auf die gesellschaftliche Situation gelesen: [The] apocalyptic horror film […] obviously expresses despair and negativity, yet its very negation can be claimed as progressive: the apocalypse, even when represented in metaphysical 1
Robin Wood: Hollywood from Vietnam to Reagan… and Beyond. New York: Columbia University Press 2003, S. 137. Zum Thema des Weltuntergangs im modernen Horrorfilm vgl. auch Christopher Sharrett: The Idea of Apocalypse in The Texas Chain Saw Massacre. In: Barry Keith Grant (Hrsg.): Planks of Reason. Essays on the Horror Film. Metuchen/London: The Scarecrow Press 1984, S. 255-276.
234 | H AUKE L EHMANN terms (the end of the world), is generally reinterpretable in social/political ones (the end of the highly specific world of patriarchal capitalism). The majority of the most distinguished American horror films, especially in the 70s, are concerned with this particular apocalypse.2
Eine wichtige Frage – und es ist diese Frage, welche als Ausgangspunkt des vorliegenden Beitrags dienen soll – lautet nun, wie sich die von Wood festgestellte „Reinterpretierbarkeit“ der Filme als soziale Kommentare eigentlich ästhetisch begründet, d.h. nicht von der normativen Warte eines ideologischen Programms aus, sondern von der Warte der Filme aus, wie sie die konkrete Wahrnehmung eines Publikums gestalten. Was ist in den Bildern, dass sie als Metaphern oder Figurationen von Sozialität in Erscheinung treten lässt?3 Diese Frage stellt sich umso dringlicher, als die Bildformen, die von diesen Filmen zur Darstellung von Sozialität entwickelt wurden, eine enorme genealogische Wirksamkeit entfaltet haben, die bis ins Gegenwartskino anhält – man denke an Filme wie Children of Men (USA 2006, R: Alfonso Cuarón), Contagion (USA 2011, R: Steven Soderbergh) oder World War Z (USA 2013, R: Marc Forster). Es ist eben diese Genealogie, vor deren Hintergrund ich mit Blindness (USA 2008, R: Fernando Meirelles) einen Film analysieren möchte, der die Frage nach den Figurationen des Sozialen auf eine originelle und anregende Weise stellt, indem er sie als eine Frage nach den Konstitutionsbedingungen des filmischen Bildes verhandelt, genauer: als Frage nach den Bedingungen seiner Sichtbarkeit. Diese Frage ist in Blindness direkt an das Erblinden der filmischen Figuren selbst zurückgebunden. Das bedeutet: der Film begreift seine Figuren nicht einfach als Objekte einer voraussetzungslosen Wahrnehmungstätigkeit. Vielmehr wird der Blick der Kamera als Teil einer Welt begriffen, deren audiovisuelle Gestalt radikal in Frage gestellt ist: was geschieht, wenn sich die filmische Welt nicht mehr über Blickachsen, nicht mehr über Schuss und Gegenschuss entfaltet – weil niemand da ist, der diese Achsen in den Bildraum einschreibt? So wird in Blindness eine zentrale filmtheoretische Einsicht nachvollziehbar: das filmische Bild ist immer schon ein Spannungsfeld, immer schon zusammengesetzt aus vielen unterschiedlichen Perspektiven. Es ist ein Netz, aus dem sich die Figuren ebensowenig herauslösen lassen wie die Kamera. Um zu verstehen, wie Blindness sich in die Filmgeschichte der Blindheit einschreibt, ist es daher zunächst notwendig, den Begriff der Figuration bzw. der Figur filmtheoretisch zu fundieren. Damit gewinnt hier auch das Motiv der Blindheit auf ganz eigene Weise Relevanz: weniger als melodramatischer Ausdruck individueller Sterblichkeit wie in Magnificent Obsession (USA 1954, R: Douglas Sirk) oder Dancer in the Dark (DK u.a. 2000, R: Lars von Trier), und auch nicht so sehr als spannungsgenerierendes
2
R. Wood: Hollywood from Vietnam to Reagan, S. 170.
3
Zum Zusammenhang von Allegorie und Figuration vgl. Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1982, S. 165.
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Prinzip wie in M (D 1932, R: Fritz Lang), Wait Until Dark (USA 1967, R: Terence Young) oder Minority Report (USA 2002, R: Steven Spielberg); vielmehr als Thematisierung eines Bandes, das die Welt zusammen- und in einer bestimmten Ordnung hält: blind (oder sehend) sind die Figuren dieses Films niemals nur für sich, immer auch in Bezug auf andere. Von der Zerstörung und Transformation dieser Ordnung erzählt Blindness.
S TIL
DER S ICHTBARKEIT : IN DER F ILMTHEORIE
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Filmische Figuren sind nicht einfach Gegenstand einer abstrakten Beobachtungstätigkeit, sie existieren nicht a priori, sondern sie entstehen aus der Interaktion mit der Kamera.4 Das Sehen wird hier im Sinne von Maurice Merleau-Ponty zur „Metamorphose der Dinge [bzw. Körper, H.L.] selbst in ihr Gesehenwerden“,5 d.h. es wird zu einem dynamischen Prozess der Ausdifferenzierung von Subjekt- und Objektpositionen. Eben diese Art und Weise der Interaktion macht die Körper im Film überhaupt erst zu Figuren, wie Adrian Martin schreibt: [P]erhaps we should think of the constitution of bodies in cinema as a more energetic, dynamic and varied process, and also sometimes a more gradual one: bodies that fade in or fade out, bodies brought to the light but also destroyed, obliterated by light; bodies attached in fluctuating degrees to sounds, words, emissions of all sorts; bodies pulled apart, truncated, distorted in often subtle pictorial and scenographic ways. [...] This is how bodies are figured in cinema.6
Körper werden figuriert, werden zu Figuren durch die Art und Weise, in der sie filmisch ins Bild (oder nicht ins Bild) gesetzt werden, in der sie audiovisuell der Wahrnehmung des Zuschauers zugänglich werden. In dieser Beziehung (wie übri-
4
Zu den folgenden Ausführungen vgl. Hauke Lehmann: Die Aufspaltung des Zuschauers. Suspense, Paranoia und Melancholie im Kino des New Hollywood. Univ.-Diss., Freie Universität Berlin 2013.
5
Maurice Merleau-Ponty: Das Auge und der Geist. In: ders.: Das Auge und der Geist. Philosophische Essays, hrsg. von Christian Bermes. Hamburg: Felix Meiner Verlag 2003, S. 275-317, hier S. 291. Zur Übertragung der Gedanken Merleau-Pontys auf filmtheoretische Fragestellungen vgl. Vivian Sobchack: The Address of the Eye. A Phenomenology of Film Experience. Princeton: Princeton University Press 1992.
6
Adrian Martin: The Body has no Head. Corporeal Figuration in Aldrich. In: Screening the Past, Nr. 10 (2000), http://www.latrobe.edu.au/screeningthepast/firstrelease/fr0600/amfr10b.htm, letzter Zugriff am 06.03.2012.
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gens auch in der etymologischen Herleitung) ist der Begriff der Figur nicht ablösbar von der Dynamik des Figurierens; in keinem Fall bezeichnet er einen statischen Zustand.7 Martin führt eine ganze Reihe konstitutiver Faktoren auf, die er alle unter das Vorzeichen der Prozesshaftigkeit stellt: zuerst die Rolle des auf die Leinwand fallenden Lichtes, die Rolle des Tons, dann der Kadrierung und der Mise en Scène. Wenn Martin in diesem Sinne (mit Bezug auf Nicole Brenez) von Figuration spricht, dann ist offensichtlich kein Repräsentationsverhältnis gemeint, sondern vielmehr eine Aktivität des Skizzierens, Löschens, Zeichnens: [B]odies are not a ‘given’ thing in cinema; contrary to common sense, bodies are not just standing or sitting or lying there or walking around, waiting to be photographed. […] Dynamically, in the process of being rendered from shot to shot and scene to scene, they proceed from a line to shape to a volume to a character, and at any point they can be abstracted, enhanced or obliterated.8
Martins Überlegungen lassen sich anschließen an Gilles Deleuzes Unterscheidung zwischen dem Figurativen und dem Figuralen, welche dieser anhand seiner Beschäftigung mit Francis Bacon ausformuliert hat.9 Demnach bezeichnet die Figur (im Sinne des Figuralen) zunächst ein dynamisches Prinzip der „Deformationen, Transformationen und Transmutationen“.10 Im Kontext der ästhetischen Wahrnehmung meint sie „die auf die Sensation bezogene sinnliche Form; sie wirkt unmittelbar auf das Nervensystem, das Fleisch ist.“11 Dabei ist die Sensation dasjenige, „was von einer ,Ordnung‘ zu einer anderen, von einer ,Ebene‘ zu einer anderen, von einem ,Bereich‘ zu einem anderen übergeh[t]. Darum ist die Sensation Meisterin der Deformationen, Wirkkraft der Deformationen des Körpers.“12 Demnach ist die Figur bei Deleuze unauflöslich in einem affektiv aufgeladenen Wahrnehmungszusammenhang gedacht, der das Nervensystem des Zuschauers mit dem figurierten Körper verbindet: Die Sensation ist mit einer Seite zum Subjekt hin gewendet [...], mit einer anderen zum Objekt [...]. Oder besser: sie hat überhaupt keine Seiten, sie ist unauflösbar beides zugleich, sie
7
Die erste Bedeutung des lateinischen Substantivs figura lautet „Bildung“. Georges (Hrsg.): Ausführliches Lateinisch-Deutsches Handwörterbuch, Band I: A-H, S. 2758.
8
A. Martin: The Body has no Head.
9
Vgl. Gilles Deleuze: Francis Bacon. Logik der Sensation. München: Fink 1995.
10 Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild. Kino 1. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997, S. 241. 11 G. Deleuze: Francis Bacon, S. 27. 12 Ebd., S. 28.
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ist Auf-der-Welt-Sein, wie die Phänomenologen sagen: Ich werde in der Sensation, und zugleich geschieht etwas durch die Sensation, das eine durch das andere, das eine im anderen.13
Mit Blick auf den Film betont Deleuze die Rolle der Zeitlichkeit in diesem Zusammenhang: „Das Kino reproduziert keine Körper, es produziert sie mit Körnern, die Zeitkörner sind.“14 Deleuze führt damit die figurierende Tätigkeit des Films zurück auf deren materielle Basis im Trägermaterial der filmischen Suspension, das vom Licht des Projektors durchstrahlte, in stetiger Bewegtheit befindliche Filmkorn: Wenn uns das Kino aber nicht die Präsenz des Körpers gibt und nicht geben kann, dann vielleicht auch deswegen, weil es ein anderes Ziel verfolgt: es breitet über uns eine ,experimentelle Nacht‘ oder einen weißen Raum aus, es arbeitet mit ,tanzenden Körnern‘ und ,aufleuchtendem Staub‘, es verwirrt das Sichtbare und hält die Welt in der Schwebe, was jeder natürlichen Wahrnehmung widerspricht. Was es so hervorruft, ist das Werden eines ,unbekannten Körpers‘, den wir hinter unserem Kopf haben, vergleichbar dem Ungedachten im Denken: es ist dies die Geburt des Sichtbaren, das sich noch dem Blick entzieht.15
Hieraus ergeben sich zwei Schlussfolgerungen: Erstens besteht kein kategorialer Unterschied zwischen den verschiedenen, von Martin aufgezählten Elementen, speziell zwischen der Bewegung eines Körpers vor der Kamera und einer Bewegung der Kamera selbst. Beide beziehen sich auf das filmische Bild im Sinne eines Kraftfeldes. Besonders pointiert drückt sich dies in der von Deleuze so bezeichneten „Verwirrung“ des Sichtbaren aus: im Gegensatz zum natürlichen Sehen, das zu seiner Umwelt als einem konstanten Bezugsfeld ins Verhältnis tritt, entwirft die filmische Wahrnehmung dieses Bezugsfeld potentiell mit jeder Einstellung aufs Neue – in einem Prozess, in dem sich filmische Figuren als Objekte und Subjekte von Wahrnehmung immer wieder neu ausdifferenzieren. Um es mit Merleau-Ponty auszudrücken: der „Stil der Sichtbarkeit“16 ist im Kino (noch) nicht festgeschrieben. Vor diesem Hintergrund sind wir in der Lage, die Frage nach dem Verhältnis von Figur und Kamera als eine Frage nach dem filmischen Stil zu stellen. Die zweite Schlussfolgerung: es wird erforderlich, den bereits betonten Aspekt der Zeitlichkeit der Figur in seiner Konsequenz zu denken. Die Bewegung ist dabei zu verstehen als generative Kraft, die Neues einführt, und die damit unter anderem
13 Ebd., S. 27. 14 Gilles Deleuze: Das Gehirn ist die Leinwand. In: ders.: Schizophrenie und Gesellschaft. Texte und Gespräche von 1975 bis 1995, hrsg. von Daniel Lapoujade. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005, S. 269-277, hier S. 277. 15 Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino 2. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997, S. 259. 16 Maurice Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare. Gefolgt von Arbeitsnotizen, hrsg. von Claude Lefort. München: Fink 1994, S. 191f.
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jede selbstverständliche Rückbindung der Figur an die bereits gegebene Anatomie eines einzelnen menschlichen Körpers unterbindet. Mit Blick auf die auf den Körper bezogene Trans- und Deformationskraft filmischer Verfahren ließe sich dieser Gedanke mit einem Satz von Gertrud Koch pointiert zusammenfassen: „Bewegung ist der Schnitt der Zeit durchs Organische [...].“17 Wenn nun, wie Merleau-Ponty im Anschluss an Heidegger schreibt, im Innern der Zeit ein „Augen-Blick“ waltet,18 dann konstituiert sich dieser Blick immer erst aus einem relationalen Gefüge, er ist keine reine Intention. Ist auf diese Weise ein relationales Gefüge, d.h. in unserem Zusammenhang die filmische Einstellung als Kraftfeld, primär gesetzt, dann wird Raymond Bellours Formulierung von den „Figuren mit dem Verhalten von Einstellungen“19 zu einem zentralen Gedanken,20 insofern die Figuren nicht losgelöst von den Relationen gedacht werden können, aus denen sich die Perspektiven konstituieren. Das heißt auch: die Einstellung ist nicht einfach eine Perspektive, sondern ein Zusammenspiel von Perspektiven, die Figur in Analogie zu dem, was Merleau-Ponty vom Leib sagt, „nicht ein Stück des Raums, ein Bündel von Funktionen […], sondern ein Geflecht aus Sehen und Bewegung“.21 Entsprechend lässt sich der filmische Point of View nicht mehr ohne weiteres als Übernahme eines Punktes im Raum beschreiben, sondern vielmehr als eine spezifische Art und Weise, in eine Relation einzutreten: „Meine Bewegung ist kein geistiger Entschluß, kein absolutes Tun, das aus einem subjektiven Refugium heraus irgendeine Ortsveränderung vollzöge. Sie ist die natürliche Folge und das Heranreifen eines Sehens.“22 Die Art und Weise dieses Heranreifens ist der Stil. Wenn nun das Kino das Sichtbare verwirrt und die Welt in der Schwebe hält, dann ist damit eine Offenheit und eine Dynamik beschrieben, die es in der Reflexion des Stilbegriffs zu berücksichtigen gilt. Jeder Film lässt eine Welt und den
17 Gertrud Koch: Schritt für Schritt – Schnitt für Schnitt. Filmische Welten. In: Gabriele Brandstetter, Hortensia Völckers (Hrsg.): ReMembering the Body. Körper-Bilder in Bewegung. Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 2000, S. 272-284, hier S. 280. Es erscheint im Zusammenhang des Sammelbandes passend, dass der Satz sich auf das Durchschneiden des Auges in Luis Buñuels Un Chien Andalou (Frankreich 1929) bezieht. 18 M. Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 479f. 19 Raymond Bellour: Daniel Stern und die Einstellung. In: Robin Curtis, Marc Glöde, Gertrud Koch (Hrsg.): Synästhesie-Effekte. Zur Intermodalität der ästhetischen Wahrnehmung. München: Fink 2010, S. 35-49, hier S. 39. 20 „Für das Kino […] sind Schwindel, Freude, Schmerz, Liebe, Haß Verhaltensweisen.“ Maurice Merleau-Ponty: Das Kino und die neue Psychologie. In: M. Merleau-Ponty: Das Auge und der Geist, S. 29-46, hier S. 45. 21 M. Merleau-Ponty: Das Auge und der Geist, S. 278. 22 Ebd., S. 279.
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„Zeitstil“23 dieser Welt entstehen, und für jeden Stil stellt sich die Frage nach der Gegenwart von neuem. Es ist dieser Gedanke, welcher sich im Begriff der Figur verbirgt, wie er hier verstanden wird. So betont Nicole Brenez: The figure invents itself as the force of a representation, what forever remains to be constituted, that which, in the visible, tends to the Inexhaustible. In this sense, the figure can never be confined to Man, for it is the Unforeseeable, the Unpredictable.24
Auf der Grundlage der vorangegangenen Erörterungen lässt sich das Erkenntnisinteresse jetzt präziser formulieren: wenn nach der Konstitution der Figur gefragt wird, dann ist zu untersuchen, wie sich das filmische Bild als ein relationales Gefüge, als ein Kraftfeld konstituiert, das heißt: es ist nach der Faltenbildung im „Fleisch“ des Bildes25 zu fragen, die sich in der Dauer der Wahrnehmung vollzieht.
23 M. Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 479. 24 Nicole Brenez: Glossaire, zit. n. Adrian Martin: Last Day Every Day. Figural Thinking from Auerbach and Kracauer to Agamben and Brenez. New York: Punctum Books 2012, S. 7f. 25 Merleau-Ponty gibt ein Beispiel, wie das „Fleisch“ mit Bildwerdung zusammenhängt: „Wenn ich auf dem Boden des Schwimmbeckens durch das Wasser hindurch die Fliesen sehe, sehe ich sie nicht trotz des Wassers und der Reflexe, ich sehe sie eben durch diese hindurch, vermittels ihrer. Wenn es nicht jene Verzerrungen, jene durch die Sonne verursachten Streifen gäbe, wenn ich die Geometrie der Fliesen ohne dieses Fleisch (chair) sähe, dann würde ich aufhören, sie zu sehen, wie sie sind und wo sie sind, – nämlich: weiter weg als jeder sich selbst gleiche Ort. Vom Wasser selbst, von der Macht des Wäßrigen, vom flüssigen und spiegelnden Element kann ich nicht sagen, daß es im Raum sei: Es ist nicht anderswo, aber es ist nicht im Schwimmbecken. Es bewohnt es, verwirklicht sich in ihm, es ist nicht in ihm enthalten; und wenn ich den Blick zur Zypressenwand lenke, wo das Gewirr der Reflexe auch spielt, so kann ich nicht leugnen, daß das Wasser sie ebenfalls aufsucht oder ihnen zumindest sein aktives und lebendiges Wesen zusendet. Diese innere Belebtheit ist es, diese Strahlung des Sichtbaren, die der Maler unter den Namen ,Tiefe‘, ,Raum‘, ,Farbe‘ sucht.“ M. Merleau-Ponty: Das Auge und der Geist, S. 305f.
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B LINDHEIT UND DIE B ILDFORMEN D ESINTEGRATION
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Bevor ich das Vorgehen des Films durch eine Analyse ausgewählter Szenen veranschaulichen werde, sei zunächst die Handlung kurz rekapituliert.26 Der Film beginnt mit dem „Fall Null“ einer sich rasch ausbreitenden Epidemie von Erblindungen: ein Autofahrer kann auf einmal nichts mehr sehen, der Straßenverkehr erlebt eine erste Irritation. Von hier aus sorgen die Kontaktpersonen – vor allem der behandelnde Augenarzt und die anderen Patienten im Wartezimmer – für eine schnelle Weitergabe der Infektion. Der Arzt und seine Frau (gespielt von Mark Ruffalo und Julianne Moore) gehören zu den ersten, die in eine von der Außenwelt abgeriegelte Quarantäne-Station eingewiesen werden (sie entscheidet sich, mit ihm mitzugehen, obwohl sie sich als immun gegen die Krankheit erweist). Dieses Lager ist bald völlig überbelegt, und es entwickelt sich eine Konstellation, in der einige wenige Insassen die anderen mit Gewalt unterdrücken und ausbeuten. Diese Situation steigert sich unter anderem in einer langen Vergewaltigungsszene bis zur absoluten, ausweglosen Alptraumhaftigkeit. Schließlich eskaliert die Lage in einem Feuerausbruch, wonach sich eine Gruppe von Überlebenden durch die inzwischen vollkommen verwüstete Stadt bis zum Haus der Hauptfiguren durchschlägt, unter ihnen der „Patient Null“. Es ist insbesondere diese Gruppe, in der sich eine neue Form von Sozialität zu konstituieren scheint – eine Sozialität unter den Bedingungen der Blindheit (immer eingedenk der Tatsache, dass die Gruppe in hohem Maße abhängig von der einzigen Sehenden ist). Eines Morgens erlangt schließlich das erste Opfer der Epidemie seine Sehkraft zurück, und der Film endet mit der fragilen Hoffnung auf eine neue, bessere Ordnung des Zusammenlebens. Thematisch gesehen fügt sich der Film zunächst zwanglos in die oben skizzierte genealogische Linie einer Filmgeschichte des Weltuntergangs. Dabei sind es besonders die vergleichsweise spät im Film auftauchenden Bilder einer desolaten Großstadtwüste (Abb. 1), die sich an einen mittlerweile kanonischen Bilderfundus
26 Der Film basiert auf dem Roman Ensaio sobre a Cegueira (Die Stadt der Blinden) von José Saramago aus dem Jahr 1995. Unter anderem aufgrund seiner grammatischen Eigenheiten galt das Buch als schwer verfilmbar. Für Meirelles steht der allegorische Aspekt des Werks im Vordergrund: „If people come expecting a movie where there’s a disease, and the heroes are trying to find a cure, they’re going to be frustrated. The blindness is a metaphor for our inability to see ourselves and each other. The characters in the film have perfect eyes. They can see. They just don’t. That’s us.“ Und weiter: „It’s not a film about blind people. It’s about human nature.“ Zit. n. Ryan Gilbey: Second Sight. In: The Guardian, 14.11.2008, http://www.theguardian.com/film/2008/nov/14/fernando-meirellesinterview, letzter Zugriff am 14.05.2014.
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anschließen, der spätestens seit The Omega Man (USA 1971, R: Boris Sagal) beständig anwächst.
Abb. 1 Das kanonische Bild der Apokalypse Der eigentliche Beitrag des Films zu den Figurationen des Sozialen findet sich jedoch an anderen Stellen weit deutlicher ausformuliert – und zwar dort, wo der Kollaps der Gesellschaft direkt an den Kollaps des Sehsinns zurückgebunden wird. Dieser Kollaps betrifft nicht nur die Figuren, sondern mindestens ebenso sehr die Position des Zuschauers selbst in seinem Verhältnis zum bildlichen Geschehen. Prägnant inszeniert findet sich dieser Zusammenbruch etwa in der Untersuchung des ersten Opfers durch den Augenarzt. Dabei lassen sich mehrere Prinzipien der Bildkomposition unterscheiden, die im Verlauf des Films in unterschiedlicher Variation miteinander ins Verhältnis gesetzt werden. Die Szene beginnt mit einer Reihe runder bzw. konzentrischer Strukturen, die zu heller Einfarbigkeit tendieren: die Untersuchungslampe, das vergrößerte Auge des Patienten auf einem Bildschirm. Mit diesem Prinzip des Monochromen konstituiert sich durch den Film hindurch, vom Titel bis zur letzten Einstellung, die zentrale Bildform, am häufigsten aufgenommen und variiert in den vielen Spielformen der Überbelichtung und Weißblende. Ein wesentlicher Aspekt dieses Prinzips ist das Element des stumpfen Zentrums, welches dem Blick des Zuschauers nicht als Punkt der Fokussierung dient, sondern diese abweist und auf der nahezu monochromen Fläche leerlaufen lässt (Abb. 2). Es folgt die Untersuchung des Auges. Hier treffen wir auf das zweite Prinzip: extreme Nahsicht, Gesicht in Großaufnahme. Entscheidend für dieses Prinzip ist die Inszenierung des Gesichts als ein Anzuschauendes – im Gegensatz zu einem aktiv Blickenden. Der bekannte bildliche Topos des Blickens durch ein Schlüsselloch wird hier umgedreht und als ein Auftreffen des scharf konturierten Lichtstrahls auf das passive Auge re-inszeniert
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(Abb. 3). Es findet hier eine Umdeutung des Auges statt, die sich an seiner Materialität orientiert, und nicht an seiner Fähigkeit der Projektion in den Raum hinein: zu diesem Bild gibt es keinen Gegenschuss, weil dieses Auge nichts erblickt. Das Gesicht, bzw. das Auge ist dabei nur eine von vielen Oberflächen, mit deren Textur sich dieser Film ausführlich, ja geradezu obsessiv auseinandersetzt.
Abb. 2-3 Der Verlust des Fokus und das Auge als abzutastende Oberfläche Dies folgt mit großer Konsequenz aus der Ersetzung des Gesichtssinns als Fernsinn durch den Nahsinn des Tastens, bzw. durch das haptische Prinzip. Der filmische Raum bietet dem Zuschauer immer seltener die Möglichkeit der Übersicht und arbeitet an einer radikalen Dezentrierung der Beobachterperspektive. Eben diesen Aspekt betont Rudolf Arnheim in seiner Definition der Textur: „We may define texture as the result of what happens when the level of perceptual comprehension
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shifts from the scrutiny of individual structural relationships within their total context to that of overall structural constants.“27 Mit Bezug auf die Malerei (als Beispiel dient hier ein Bild von Jackson Pollock) führt er weiter aus: Such a picture can be perceived only as texture – not because the number or size of the units of which it is made up go beyond the range of the human’s eye capacity but because the units do not fit into more comprehensive shapes. The number of elements is large enough so that their variations as to color, shape, size, direction, relative position, etc., compensate each other, and a common denominator of textural qualities such as prickliness, softness, excitation, viscosity, mechanical hardness or organic flexibility emerges from an inspection of the whole. All movements, also, are compensated so that nothing ,happens‘, except for a kind of molecular milling everywhere.28
Das, was Arnheim etwas abschätzig als „molekulares Gewimmel“ beschreibt, ist für unseren Zusammenhang insofern bedeutsam, als es (auch) die Betonung der Textur ist, die nicht nur die Desintegration der alten Ordnung markiert, sondern auf deren Grundlage sich in Blindness auch ein neues Bild der Gemeinschaft konstituiert. Nach dieser Einleitung beschreibt die insgesamt nur etwa 70 Sekunden lange Szene die Interaktion der Figuren unter den Bedingungen der Blindheit (auch wenn diese zu diesem frühen Zeitpunkt nur eine Figur betrifft). Der Blinde, oder besser: das übergreifende Prinzip der Blindheit operiert dabei wie ein Störfaktor, der den reibungslosen Ablauf des sozialen Miteinanders durcheinander bringt und sich dabei wie ein Virus ausbreitet (mit der Behinderung des Straßenverkehrs durch den blinden Autofahrer fand der Film hierfür bereits in der ersten Szene ein eingängiges Bild). Dies geschieht auf dreierlei Weisen, die miteinander zusammenhängen und miteinander kombiniert werden: 1. das Fragmentieren und Verstellen von Figuren oder Räumen durch die Kadrierung des Bildes bzw. durch das Zusammenspiel von Kamera und Dekors (Abb. 4), 2. das Ins-Leere-Laufen von Blickachsen und Handlungsvektoren der Figuren (Abb. 5) und 3. das Anhäufen haptischer Intensitäten im Bild (Abb. 6). Das Prinzip des Fragmentierens überträgt die Konstellation des auf das Auge treffenden Lichtstrahls auf das Blickfeld der Kamera: die Kadrierung schneidet die Körper auf eine Weise zurecht, welche diese in ihrer Passivität betont, in ihrem Ausgesetzt-Sein in eine Welt, die ihnen nicht entspricht. Dieses NichtHineinpassen äußert sich auch in den ersten Momenten des Verfehlens und Verpassens, die sich später in der Quarantäne-Station zu chaotischen Zuständen akkumulieren, zu Bergen von Müll, Kot und schließlich Leichen.
27 Rudolf Arnheim: Accident and the Necessity of Art. In: The Journal of Aesthetics and Art Criticism, Jg. 16 (1957), S. 18-31, hier S. 25. 28 Ebd., S. 26.
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Abb. 4-6 Das Bild als ein Feld visueller Fehlanschlüsse und haptischer Intensitäten
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Die auf die visuellen Relationen bezogene Energie diffundiert im Bildraum und aus dem Bildraum heraus. An die Stelle der vektorialen Strukturierung des Bildraums tritt – ganz im Sinne der Beschreibung Arnheims – die lokale Anhäufung haptischer Intensitäten, eine Art molekularer Dynamik, die eng mit der Betonung von Texturen und Oberflächenstrukturen zusammenhängt, die weiter oben beschrieben wurde. Dies gilt nicht nur für die Komposition einzelner Einstellungen, sondern – wichtiger noch – für die Montage, die kaum noch anhand von Blickachsen, d.h. mit Schuss/Gegenschuss-Abläufen arbeitet, sondern die Bilder auf andere Weise zusammensetzen muss. Diese neue, molekulare Dynamik ist zum einen Symptom des Zerfalls der visuellen Beziehungen sowie der Handlungsabläufe, und zum anderen die Basis einer potentiellen Neuordnung. Mit diesen drei sowie den beiden weiter oben erläuterten Prinzipien monochromer Defokussierung und Umwertung des Gesichts bzw. des Auges als Objekt des Blicks wären insgesamt fünf Prinzipien der Bildkonstitution benannt, welche in der Augenarzt-Szene in bewundernswerter Ökonomie aufeinander bezogen sind. Es zeigt sich bereits hier, dass die Filme, in deren genealogischer Linie Blindness zu verorten ist, nicht zufällig als Figurationen des Sozialen verstanden werden: alle hier herausgearbeiteten Prinzipien sind in großer Deutlichkeit darauf bezogen, wie sich Figuren mit anderen Figuren und mit ihrer Umgebung verflechten. Blindheit ist hier kein psychologisches und auch kein mythologisches Problem; sie betrifft vielmehr die Einbettung jedes Einzelnen in das ihn umgebende Kraftfeld aus Strebungen und Intensitäten. Im Weiteren soll es darum gehen, das Zusammenwirken der beschriebenen Prinzipien sowohl auf dem Höhepunkt sozialer Desintegration als auch in der Formierung eines neuen Miteinanders zu beschreiben. Dabei stellt sich zum einen zusätzlich die Frage, wie die Tonebene mit der Bildebene interagiert, und – auf einer übergeordneten Ebene – wie die skizzierten Verfahren als Ausprägungen einer spezifischen filmischen Zeitlichkeit verstanden werden können. Schließlich wäre zu klären, welche exakte Funktion die Frau des Augenarztes als einzige sehende Figur für die Konstitution des Bildes erfüllt. Mit der Beantwortung dieser Fragen stünde am Ende der Untersuchung die Beschreibung eines ganz eigenen Stils filmischer Wahrnehmung. Und dieser Stil ist es, der zur Frage nach der Darstellung des Sozialen in Beziehung zu setzen ist. Dieser Stil, diese Art und Weise der Konstituierung des Bildes, hat schwerwiegende Auswirkungen auf das Verhältnis zwischen Film und Zuschauer. Die beschriebenen Verfahren verwehren es dem Blick des Zuschauers, sich gegenüber dem filmischen Geschehen in einer Position souveräner, Übersicht gewährleistender Distanz einzurichten. Vielmehr wird dieser Blick mitten in ein komplexes und zuweilen höchst dynamisches Feld sich vollziehender Handlungen und sich knüpfender und auflösender Relationen versetzt – ein Feld jedoch, welches diesen Blick permanent dezentriert, indem es Räume entleert, miteinander verknotet und zwi-
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schen ihnen Barrieren errichtet. Die auf der Handlungsebene des Films um sich greifende Desorientierung der Figuren wird auf diese Weise in filmische Form übersetzt und realisiert sich, so die grundlegende These, im Wahrnehmungsvollzug des Zuschauers als eine körperliche Erfahrung – ebenso wie die Ausbildung neuer Beziehungen unter den Bedingungen der Blindheit.
E INE
HAPTISCHE
Z EITLICHKEIT
Den Höhepunkt an emotionaler Intensität erreicht der Film vermutlich in der Vergewaltigungsszene. Eine Gruppe gewalttätiger Männer in der Quarantäne-Station hat die Kontrolle über die Verpflegung übernommen und lässt sich von den anderen Gruppen das Essen mit Geschlechtsverkehr bezahlen. Neun Frauen, darunter die Frau des Augenarztes, gehen daher in die von der Gruppe belegte Abteilung, werden den Männern zugeteilt und in einer Art Orgie vergewaltigt. Aus eben diesen drei Abschnitten – Gang, Zuteilung und Orgie – setzt sich die vierminütige Szene zusammen. Dabei wird der Gang, eine von der sehenden Hauptfigur angeführte, zunächst betont lineare Bewegung (mit Akzent auf den Füßen und der Reihenformation der Frauen), überführt in die erste Konfrontation mit den Männern, wo im Dämmerlicht Nah- und Großaufnahmen von Gesichtern und Händen dominieren. Der dritte Abschnitt verwischt die Konturen der Körper in teils großer Dunkelheit noch stärker, während einzelne Lichtakzente die Exzesse körperlicher Gewalt hervorheben (Abb. 7-10). Schon auf dem Weg der Frauen zur Gruppe der Männer (Abb. 7 und 8) werden die Texturen diverser Oberflächen im Zusammenspiel mit Überbelichtungen, Überblendungen und Fokusverschiebungen dazu genutzt, eine Bildlichkeit zu erzeugen, die nicht am Sehsinn als Orientierungsmittel ausgerichtet ist, sondern an haptischen und akustischen Intensitäten: die sehr hart und dissonant angeschlagenen Saiten einer Harfe im extradiegetischen Musikstück (dieses begleitet die ganze Szene), das Auftreffen nackter Füße auf dem glatten Fußboden oder die Fokussierung eines Fliegengitters. Beständig, von Textur zu Textur verformt sich hier der Bildraum, der nicht gemäß den aktiven Handlungen von Figuren organisiert ist, sondern gemäß einer Art thermodynamischem Prinzip, welches diese Handlungen auf die Diffusion aller Energie zulaufen lässt. Mit dem Zusammentreffen von Frauen und Männern im zweiten Abschnitt dominiert dann das Streicheln, Betatschen, das Zerren und Ziehen der Männerhände an den Gesichtern und Körpern der Frauen, sowie das Zerreißen von Kleidung (sowohl als visuelle wie als akustische Dynamik). Die dramatische Steigerung der Szene auf ihr Ende hin leitet sich dann zum einen her aus der nochmaligen Reduzierung der Beleuchtung, der noch weitergehenden Fragmentierung der Körper sowie zum anderen aus der gesteigerten Intensität und Gewalt des körperlichen Aufeinandertreffens, während auf der Tonebene
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neben dem rhythmischen Klappern der Betten das Schreien und Stöhnen von Frauen und Männern lauter und dominant wird.
Abb. 7-10 Von der Menschenkette über das Gesicht zur Hand und zur Faust Die ganze Szene vermittelt auf grausame Weise den Eindruck unausweichlichen Übels – grausam im Artaudschen Sinne unerbittlicher Folgerichtigkeit, hier besonders verdeutlicht über die anfangs geradlinige Bewegung der Frauen sowie über das strukturell sehr einfache Musikstück, das im Verlauf der Szene lediglich in der Lautstärke variiert wird und ansonsten aus seiner Wiederholungsstruktur nicht ausbricht. Als haptisch lässt sich die Zeitlichkeit der Szene bezeichnen, weil sie von ihrer Komposition her darauf beharrt, körperlichen Kontakt aufrechtzuerhalten und nicht abreißen zu lassen: die Körper der Frauen sind von Anfang bis Ende eingefasst in zeitliche und räumliche Zwänge, sei es im Flur, bei der handgreiflichen Begutachtung oder in den Feldbetten der Männer. Es gibt hier keinen Moment der Abstraktion, der Distanzierung oder der Sublimierung, was die Erfahrung bei der Sichtung des Films nahe an die Unerträglichkeit rückt. So verstanden, ist das haptische Wahrnehmungsverhältnis tatsächlich konstitutiv für das In-Erscheinung-Treten des Bildes; ist das Bild hier doch nichts anderes als ein Kraftfeld, das sich aus der blinden Verflechtung der Körper untereinander (immer wieder die in der Kette gehende Gruppe, in der einer den anderen bei der Hand oder an der Schulter hält) und mit ihrer Umgebung zusammensetzt. Nachdem die Gruppe um die Hauptfiguren aus dem Lager entkommen ist, deutet der Film in einigen Momenten an, inwiefern es möglich sein könnte, auf Grundlage der gleichen stilistischen Prinzipien ein Bild gemeinschaftlicher Sozialität zu zeichnen. Die in Rede stehende, knapp zweiminütige Szene ist als eine Art Gegenstück zur Vergewaltigungsszene angelegt, wenn auch nicht mit letzter formaler Strenge parallelisiert. Dennoch ist interessant, dass die Bewegung hier von
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der Masse der Vereinzelten hin zur Wiedervereinigung der Gruppe führt (also genau entgegengesetzt zur Vergewaltigungsszene, die von der Gruppe der Frauen zur Orgie als einer Ansammlung vereinzelter Paare führte), wobei Hand und Gesicht wiederum als die dominanten visuellen Motive dienen (Abb. 11-14). Und wieder ist es ein Gang der Arztgattin (diesmal in Begleitung ihres Mannes), der das Aufeinandertreffen der Figuren initiiert. Sicherlich ist es dem Zuschauer hier durch die Gegebenheiten des Settings eher möglich, die Übersicht über das Geschehen zu wahren, und sicherlich sorgt allein die fröhliche, fast beschwingte Musik für eine gelöste Stimmung. Die Fragmentierung der Körper und Gesichter steht jedoch den entsprechenden Verfahren in der Orgien-Szene kaum nach, und die zeitliche Strukturierung ist hier gleichfalls aus der haptischen Verortung der Figuren hervorgegangen, mit Emphase dadurch zum Ausdruck gebracht, wie sich die Figuren mit weit ausgestreckten Armen und zurückgelegtem Kopf in den herabprasselnden Regen stellen (Abb. 14) – das Ende der Szene fällt zusammen mit dem Ende des Regens. In diesen regendurchtränkten Bildern (vgl. vor allem Abb. 13) ist auf bemerkenswerte Weise ein anderer Markstein des New Hollywood aufgerufen, nämlich Woodstock (USA 1970, R: Michael Wadleigh) – vielleicht der Inbegriff verfilmter (US-)Gesellschaftsutopie und damit das logische Gegengewicht zu jener Genealogie von Weltuntergangsentwürfen, die am Anfang dieses Aufsatzes eingeführt wurde.29 Sowohl der apokalyptische Horrorfilm als auch die Rockkonzert-Idylle werden hier aber nicht einfach nur herbeizitiert. Vielmehr werden beide als spezifische, historisch situierte Bildformen von Sozialität aufeinander bezogen. Die auf Robin Wood gemünzte Ausgangsfrage dieses Aufsatzes – wie kommt es eigentlich, dass bestimmte Filme als Zustandsbeschreibungen, als Metaphern und Figurationen westlicher Sozialität lesbar werden? – erhält so neben der theoretischen Antwort (kurz gesagt: die Bildformen dieser Filme rekonfigurieren hergebrachte Weisen perspektivischer Vernetzung und Verflechtung zwischen Figuren) eine historische Antwort: es sind die Filme selbst in ihrer Bezugnahme aufeinander, die diese Lesart herstellen, perpetuieren und transformieren, indem sie einander interpretieren, sich zueinander ins Verhältnis setzen und so Filmgeschichte immer wieder neu schreiben. Das gilt im Übrigen sowohl für eine Filmgeschichte des Weltuntergangs als auch für eine Filmgeschichte der Blindheit, an deren beider Kreuzungspunkt sich dieser Film befindet. Abschließend möchte ich der Frage nachgehen, welche Rolle die einzige Figur spielt, die den ganzen Film über ihr Augenlicht behält. In diesem Film, der von seiner ersten bis zur letzten Einstellung so sehr auf die Frage nach menschlichem Mit-
29 Zum Verhältnis von Melancholie und Utopie vgl. Wolf Lepenies: Melancholie und Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1998.
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einander abzielt, gibt es nur zwei Personen, die jemals wirklich allein sind: für weite Teile des Films ist dies die Frau des Augenarztes; sie, als die einzige Sehende, trägt bis zur letzten Szene die Last der Verantwortung und – noch gravierender – die Last der Zeugenschaft. Es ist diese Last, die sich in die Wahrnehmung und das Gedächtnis des Zuschauers als haptische Zeitlichkeit eingegraben hat, als Ansammlung all der Erinnerungsspuren. Diese Last, dieses Wissen isoliert sie von den anderen, so sehr sie diese auch umsorgt. Als in der letzten Szene der „Patient Null“ seine Sehfähigkeit zurückerhält, scheint sie endlich um diese Last erleichtert. Sie tritt auf den Balkon ihres Hauses und blickt in den hellgrau wolkenverhangenen Himmel – und plötzlich hat es den Anschein, als sei nun sie erblindet, bis die Kamera abwärts schwenkt auf ein Panorama der Stadt (Abb. 15). Beschreibt der Film in seiner ersten Hälfte, wie ein einzelner Krankheitsträger eine ganze Welt aus den Fugen geraten lassen kann, so erzählt er in seiner zweiten Hälfte die Geschichte dieses Schwenks: wie entsteht aus dem weißen Nichts des blinden Bildes eine Welt?
Abb. 11-14 Von der Masse über die Hände zum Gesicht Bevor es jedoch zu dieser letzten Einstellung kommt, geht das Los der Einsamkeit in einer Art flüchtigem Schwellenmoment auf eine andere Figur über: auf den einäugigen Alten, der im Schutz der allgemeinen Blindheit endlich eine Ersatzfamilie gefunden hatte. Einzig hier schienen sein Alter, sein niedriger gesellschaftlicher Status oder seine Hautfarbe keine Rolle mehr zu spielen. Viel wichtiger war im Vergleich dazu das Radio, das er in die Quarantäne-Station mitgebracht hatte, und das ihn gar für eine Weile zum Mittelpunkt eines sozialen Raumes werden ließ, der sich primär akustisch organisierte. Er scheint nun der einzige zu sein, der das Ende der Krankheit fürchtet – nämlich als eine Rückkehr zur alten Ordnung. Es ist diese
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Balance zwischen Schrecken und Hoffnung, die der Film in seinen Figurationen des Sozialen zu erreichen sucht. Wenn also Meirelles von Blindheit als Metapher spricht, dann ist daraus mitnichten ein ästhetisches Programm abzuleiten, welches von den konkreten sinnlichen Bedingungen der inszenierten Welt zugunsten einer moralisch oder ideologisch fundierten Botschaft abstrahiert. Vielmehr ist mit dem Komplex des Metaphorischen ein filmtheoretisches Grundproblem aufgerufen, das sich in Blindness thematisch gespiegelt findet: wie erschließt sich dem Zuschauer über die Dauer eines Films die Bedeutung einer Welt? Die Antwort, so lässt sich am Ende dieser Überlegungen formulieren, muss lauten: sie erschließt sich ihm über den sich in der Dauer seines Zusehens entfaltenden Prozess seiner Affizierung durch das filmische Bewegungsbild, sie erschließt sich ihm als „Stilisierung“30 seines eigenen Hörens und Sehens. Wenn es daher für die Figuren in Blindness darum geht, neu sehen zu lernen, dann mag das als sprachlich verfasste Aussage wie ein Klischee klingen. In der verkörperten Erfahrung des Zuschauers im Kino wird dieses neue Sehen in jedem Fall zu einer sehr konkreten Realität.
Abb. 15 Die Stadt, geboren aus Blindheit
30 Hermann Kappelhoff: Matrix der Gefühle. Das Kino, das Melodrama und das Theater der Empfindsamkeit. Berlin: Vorwerk8 2004, S. 169.
„Wer kauft sich schon ein blindes Pferd?“ Das Motiv der Blindheit in Spielfilmen der DEFA 1950-1990 A NNETTE D ORGERLOH
Blindheit ist in den Künsten und in der Philosophie schon seit dem Altertum nicht nur als Mangel oder Devianz wahrgenommen und interpretiert worden, sondern – paradoxerweise – auch als Chance und Möglichkeit für die Erweiterung des Erkenntnisvermögens.1 So unterschiedlich Allegorien wie Justitia, Fortuna und Metafisica, Ignorantia, Errore und Favore bis hin zum kleinen Liebesgott Amor auch konnotiert sein mögen, wurden sie in der Kunst- und Bildgeschichte immer wieder mit einer Augenbinde, also als nicht sehende, aber gleichwohl machtvolle Akteure visualisiert.2 Eine ähnlich große Bandbreite findet sich auch bei der Darstellung und Inszenierung von Blindheit und Blinden in Filmen der DEFA, dem 1946 gegründeten volkseigenen Filmunternehmen der DDR. Der Verlust der physischen Sehfähigkeit verlangt sowohl den Betroffenen selbst als auch ihren jeweiligem Gegenüber, seien es Fremde, seien es Vertraute, viel ab; stets handelt es sich dabei um außergewöhnliche, besondere Konstellationen, denen zugleich exemplarische Bedeutung zukommt. Bis zu seinem wendebedingten Ende im Jahre 1992 entstanden auf dem Studiogelände in Potsdam-Babelsberg etwa 700 Spielfilme, 750 Animationsfilme und weit über 2000 Dokumentarfilme. Dem Gründungsauftrag entsprechend sollte die deutsche Bevölkerung mit Hilfe des Mediums Film im antifaschistischen und demokratischen Geiste erzogen werden. Die Frage, was das im Einzelnen bedeutete, und welche Themen und künstlerischen Mittel dafür jeweils besonders geeignet waren, wurde in den einzelnen Phasen der DDR sehr unterschiedlich und mit einem breiten Spektrum von Möglichkeiten beantwortet. Den Kreativen unter den Filmemachern ging es zu allen Zeiten zugleich immer auch darum, gesellschaftliche Probleme und Widersprüche in ihren Filmen zu verhandeln: Gerade nach den Erfahrungen des 11. Plenums der SED, als am Ende des Jahres 1965 eine Vielzahl 1
Peter Bexte: Blinde Seher. Die Wahrnehmung von Wahrnehmung in der Kunst des 17. Jahrhunderts. Dresden: Verlag der Kunst 1999.
2
Ebd., S. 14.
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von neuen DEFA-Spielfilmen zensiert und verboten wurden, entstanden viele Spielfilme mit historischen Themen, Literaturverfilmungen und Künstlerbiographien, in denen vergleichbare Konflikte und Konstellationen verhandelt wurden. Bereits 1952 gliederte sich die DEFA in vier Produktionsbereiche, einen davon bildete die Kinderfilmabteilung, die 1953 mit der Produktion begann. Dem Kinderfilm war die aus heutiger Sicht erstaunliche Zahl von einem Fünftel der gesamten Kinofilmproduktion vorbehalten; Kinderfilme bildeten somit von Beginn an eine wichtige Aufgabe der Studios. Die Schwerpunkte innerhalb dieses Bereichs lagen einerseits auf den Märchenfilmen und andererseits auf den Gegenwartsfilmen. Gleichwohl wurden keineswegs alle Märchenfilme für Kinder gemacht; ein Gutteil von ihnen setzte auch und gerade auf ein erwachsenes Publikum.3 Es mag trotzdem überraschen, dass von den neun ausgewählten DEFA-Filmen, in denen es um Blindheit, Sehen und Nichtsehen geht, die vier Kinder- und Märchenfilme das Thema am explizitesten verhandeln. Es fällt zudem auf, dass alle betreffenden Filme mit besonderer Sorgfalt hergestellt sind und aufwendige szenographische Konzepte aufweisen; der überwiegende Teil ist zudem in Farbe gedreht.4 Offenbar spielten die Filme dadurch auch mit dem Kontrast, der sich aus dem Nichtsehen der Protagonisten und der Opulenz der Bilder für die Zuschauer ergibt. Im Folgenden soll nun anhand dieser Spielfilmauswahl aus vier Jahrzehnten untersucht werden, wie und mit welcher Absicht Blindheit im Film jeweils dargestellt und funktionalisiert wurde. Die Beispiele gehören verschiedenen Genres an, von Märchen- über Gegenwartsfilme bis zu den großen Historiendramen. Der Anteil der Thematisierung von Blindheit an dem jeweiligen Filmgeschehen reicht dabei von der kleinen, aber wichtigen Nebenhandlung bis zum prägenden Hauptkonflikt.
3
Z.B. der 1961 entstandene und verbotene Film Das Kleid (Drehbuch: Egon Günther, Regie: Konrad Petzold), eine Adaption des Andersen-Märchens von des Kaisers neuen Kleidern. Der im August 1961 fertiggestellte Film war eine freche Filmparabel mit einer von einer Mauer umschlossenen Stadt als Handlungsort – nach dem Mauerbau für die DDR untragbar.
4
Farbfilme sind Thomas Müntzer (1956), Die goldene Jurte (1961), Der Dritte (1972), Das Pferdemädchen (1979), Rapunzel oder der Zauber der Tränen (1988), Das Licht der Liebe (1990) und Architekten (1990); in Schwarzweiß gedreht: Der Rat der Götter (1950) und Ich war neunzehn (1968).
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E RKENNEN VS . N ICHTERKENNEN : K RIEGE , K ATASTROPHEN , S CHEITERN Einer der avanciertesten Historienfilme der frühen DEFA-Zeit war das Bauernkriegsdrama Thomas Müntzer – Ein Film deutscher Geschichte, das 1956 unter der Regie von Martin Hellberg gedreht wurde. In diesem Film gibt es eine kurze Szene, in dem aufständische Bauern hart bestraft werden. Im Film geht ihr die so genannte Fürstenpredigt Müntzers vom 3. Juli 1524, mit der er vergeblich versuchte, die Obrigkeit für die Sache der Bauern zu gewinnen, unmittelbar voraus. Die Strafszene spielt in der freien Landschaft, wohl auf einem Galgenberg, auf dem Foltergeräte aufgebaut sind. Den Bauern wird das Urteil verlesen, ihnen soll zur Abschreckung und Strafe vom Henker Augen, Hand oder Zunge entfernt werden, danach sind sie frei. Es wird eine Blendung gezeigt, jedoch aus größerem Abstand und in schnellem Tempo: Ein Henkersknecht nähert sich dem Gesicht des Delinquenten mit einer brennenden Fackel, dann erfolgt ein Schnitt und die Kamera erfasst die wartenden nächsten Opfer, deren Verstümmelungen angekündigt, aber nicht gezeigt werden. Tatsächlich sind Blendungen in großem Umfang aus der Zeit der Bauernkriege überliefert. Ein solch extremer Fall ereignete sich am 9. Juni 1525 im unterfränkischen Kitzingen, als Markgraf Kasimir von Brandenburg-Ansbach auf seinem Rachefeldzug gegen fränkische Bauern sechzig angeblichen Rädelsführern die Augen ausstechen ließ, weil sie ihn zuvor nicht als ihren Herrn angesehen hätten. Zwölf von ihnen überlebten diese Prozedur nicht, die anderen wurden aus ihrer angestammten Gegend vertrieben. Wie der Historiker Peter Blickle konstatiert, war dieser Vorgang bereits von den Zeitgenossen als eine Ungeheuerlichkeit empfunden worden.5 In der Sammlung des Filmmuseums Potsdam hat sich ein Werkfoto erhalten, das einen geblendeten Bauern mit vernarbten leeren Augenhöhlen in Nahansicht zeigt (Abb. 1).6 Die damit dokumentierte aufwendige Arbeit des Maskenbildners lässt vermuten, dass zunächst geplant war, die Folterungen im Film detaillierter zu zeigen. Offenbar haben die Filmemacher davon wieder Abstand genommen, vermutlich aus Rücksicht auf die Zuschauer, denen dieser erschreckende Anblick erspart werden sollte. Das Zurschaustellen der Blindheit als Folge einer brutalen Blendung sollte und konnte in diesem Fall nicht mehr sein als der Ausdruck einer unverhältnismäßigen Strafe, die beim Zuschauer Mitleid oder gar Zorn hätte bewirken sollen. Mit dem Verzicht auf diese Bilder konzentrierte sich der Film stärker auf den Hauptdarsteller Müntzer und auf dessen Martyrium – er wurde nach der verlorenen Schlacht von Frankenhausen 1525 enthauptet –, das ihn zu einem der
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Peter Blickle: Gemeindereformation: die Menschen des 16. Jh. auf dem Weg zum Heil. München: Oldenburg 1985, S. 82.
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Freundlicher Hinweis von Kathrin Nachtigall.
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Vorläufer des Kommunismus in der DDR werden ließ.7 An dieser Stilisierung Müntzers, die mit einer Ignorierung von Martin Luthers Wirken einherging, hatte Hellbergs Film, an dessen Drehbuch neben dem Regisseur selbst Horst Reinecke und Friedrich Wolf mitwirkten, einen erheblichen Anteil. Bereits einige Jahre zuvor, im Jahr 1950, hatte Kurt Maetzigs Filmdrama Der Rat der Götter seine Premiere, einer der ersten Filme, der explizit der Mitschuld eines deutschen Konzerns an den Naziverbrechen gewidmet ist. Er zeichnet die Entwicklung des I.G.-FarbenKonzerns zwischen 1930 und 1948 nach, das Szenarium schrieb wiederum Friedrich Wolf, der Vater des Regisseurs Konrad Wolf. Einer der Protagonisten, der Chemiker Dr. Hans Scholz, verschließt sich aus Sorge um seine Familie lange der Tatsache, dass die ertragreiche Rüstungs- und Giftgasproduktion des Konzerns den NaAbb. 1 Werkfoto © Thomas Müntzer – zis direkt in die Hände gespielt und unEin Film deutscher Geschichte (1956) endliches Leid hervorgerufen hat. Erst als es in der Nachkriegszeit in Ludwigshafen aufgrund einer verbotenen Sprengstoffübung zu einer folgenreichen Explosion mit vielen Toten kommt, besinnt er sich. Sein Umdenken beruht wesentlich auf der Sorge um seinen Sohn Dieter, der bei dem Unglück zu Schaden gekommen ist: Der junge Mann wird verletzt aus den Trümmern des Werkes gezogen. Der Vater, der nach ihm sucht, findet ihn schließlich unter den Geretteten, jedoch mit einer Augenbinde, die den Verlust seines Sehvermögens signalisiert. Dieser Zustand verhilft Dieter offenbar zu einer notwendigen Erkenntnis, denn als er die Stimmer seines Vaters vernimmt, sagt er mit Entschiedenheit: „Vater, du hast Recht gehabt“. Dieser versucht jedoch, abzuwiegeln: „„Ach, Recht, jetzt...“, der Sohn solle doch erst einmal wieder gesund werden. Dieter jedoch insistiert: „Ich hab’s eingesehen!“. Der Vater: „Quäl dich doch jetzt nicht damit.“ „Ich hätte nicht mitmachen sollen...“. Das kurze Gespräch endet mit der Einsicht des Vaters: „Ja, wir müssen über so vieles sprechen. Über so vieles.“ Erst die Blindheit des Sohnes – ob vorübergehend oder nicht, spielt hier keine Rolle – hat diesem die Erkenntnis der Wahrheit ermöglicht. Es ist das „Sehen im
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http://www.heiligenlexikon.de/BiographienT/Thomas_Muentzer.html, letzter Zugriff am 04.08.2014.
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Nichtsehen“, wie es Gregor von Nyssa genannt hat, der alte Topos des blinden Sehers, der vom Thebaner Teiresias über Homer und viele andere bis in die Gegenwart hinein immer wieder aktualisiert wird.8 Eine ähnliche Konstellation, wenn auch auf komplett anderen Umständen beruhend, findet sich in einer scheinbar unspektakulären, aber hoch symbolischen Szene in Peter Kahanes Film Die Architekten (1990). Daniel Brenner, Leiter einer Architekten-Nachwuchsgruppe und Hauptfigur des Films, besucht darin den bejahrten Ökonomen Händler – auch hier: nomen est omen – im Krankenhaus. Als dieser seinem Team zugeteilt worden war, hatte sich der Alte zunächst als unfreundlich und wenig zugänglich gezeigt: „Ich bin dafür bekannt, dass man nicht gut mit mir auskommt. […] Meine Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass keine Staatsgelder für Architekten-Eitelkeiten ausgegeben werden.“ Gleichwohl wandelt sich das Verhältnis im Laufe der Ereignisse zum Guten, und bald schon setzt sich der Ökonom sehr engagiert und über seine Kräfte für das anspruchsvolle Bauprojekt ein, das jedoch von Seiten der Partei und der Verwaltung zunehmend ausgebremst und reduziert wird.
Abb. 2 Filmstill aus © Peter Kahane: Die Architekten (1990) Daniel Brenner hat dem Kranken Blumen mitgebracht, die dieser ertastet; es sind Chrysanthemen. Auf die Frage nach ihrer Farbe erfährt er, dass sie gelb sind – die Lieblingsfarbe des Älteren (Abb. 2). „Was ist mit Ihren Augen?“ fragt der Architekt sodann mit dem Blick auf die dicke Augenbinde des Mannes. „Ich habe zu lange
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P. Bexte: Blinde Seher, S. 8, vgl. auch Alfred Stoeckel: Von Homer bis Helen Keller. Bonn: Verlag des Deutschen Blindenverbandes e.V. 1983. Vgl. auch Jacques Derrida: Aufzeichnungen eines Blinden. Das Selbstporträt und andere Ruinen. München: Fink 2007.
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versucht, es zu verheimlichen. Jetzt hat mir der Star die Augen ausgepickt“, antwortet ihm der Ökonom, „wenn ich Glück habe, dann werde ich wenigstens noch hell und dunkel unterscheiden können.“ Brenner ist erschüttert: „Ich kann Sie nicht auch noch entbehren.“ Der Alte aber antwortet ihm: „Du wirst es schon schaffen. Machst Du mal das Fenster auf? Für mich ist Schluss mit Zahlen, Bilanzen und Grundfonds. Es gibt wichtigere Dinge im Leben. Fühlen, Riechen, Schmecken, mit den Ohren sehen. Der Mensch hat viele Sinne.“ Daniel möchte helfen - „ich würde Ihnen eins von meinen Augen geben“ – doch das wehrt der Kranke entschieden ab. „Bloß nicht, Daniel, es laufen schon genug einäugige Architekten herum. Ich sehe viel klarer, seit ich die Augen geschlossen habe. Die Einäugigen sind das Übel, die nur sehen, was sie sehen wollen.“ Schnitt. Die Krankheit, der Sehverlust des Ökonomen, erweist sich in diesem Gespräch als ein sichtbarer Ausdruck des Scheiterns in der Arbeitswelt, dem es einen neuen Umgang mit den verbliebenen Sinnen entgegenzusetzen gilt. Erst der Prozess der Erblindung hat ihn im übertragenen Sinn sehend gemacht: Er vermag nun die Wahrheit nicht nur bei mangelhaften Architekten zu erkennen, sondern das grundlegende gesellschaftliche Problem seiner Zeit: Das Übel sind die, „die nur sehen, was sie wollen“, die sich also ihre Welt zurechtbiegen – eine selten deutliche Kritik an der Praxis der Partei- und Staatsführung der DDR. Dem Film Die Architekten, der die Agonie der späten DDR-Jahre äußerst differenziert in den Blick nimmt, blieb gleichwohl die Wirkung nach seiner Fertigstellung verwehrt; er wurde von den Ereignissen der Wende überholt und vermochte nach seiner Premiere 1990 nur ein geringes Publikum zu erreichen. Inzwischen aber gilt er als einer der wichtigsten Spielfilme und gehört damit zum Kanon der DEFA-Klassiker.9 Im Rückblick ist es erstaunlich, dass dieser kritische Film überhaupt gedreht werden durfte. Das dritte Beispiel einer kurzen szenischen Begegnung mit einem gerade Erblindeten findet sich in Konrad Wolfs autobiographischem Film Ich war neunzehn (1968). Zu Beginn der dritten von insgesamt vier Sequenzen trifft der junge Protagonist, der in Deutschland geborene Rotarmist Gregor Hecker (Jaecki Schwarz), bei einem Halt auf der Autobahn auf ein liegen gebliebenes, zerstörtes Wehrmachtsfahrzeug. In ihm hält sich ein blinder deutscher Soldat mit einer Augenbinde versteckt, der den Ankömmling offenbar für einen Kampfgenossen hält, denn er fragt ihn „Bist du zurück?“. Als Hecker ihm eine Zigarette reicht und ansteckt, fragt der Blinde nach der Herkunft des starken Tabaks, der, wie er erfährt, aus dem Kaukasus stammt. „Da war ich auch mal. Zwei Monate. Tja, wir haben viel gesehen, Kamerad.“ Nach dieser Überleitung fährt er in seinem Monolog fort: „Ich bin aus Magdeburg, da bin ich zu Hause. Ob die Russen da auch hinkommen? Ich glaub’s nicht, dass die da auch hinkommen. Vorher passiert noch was.“ Der Blinde, gespielt
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Dazu zählen vor allem die Filme, die auf der großen DEFA-Retrospektive des MOMA in New York 2005 präsentiert wurden.
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von Klaus Manchen, ist offenbar komplett orientierungslos und lebt noch im Krieg (Abb. 3). Er hat zwar viel gesehen, aber daraus keine Schlüsse gezogen – eine Allegorie des Irrtums. Auf das anhaltende Schweigen seines Gegenübers fragt er schließlich „Bist Du noch da?“, doch Hecker ist längst im Gehen begriffen: Dieser deutsche Wehrmachtssoldat sieht nichts und versteht nichts; und auch Hecker schreibt den aus der Zeit Gefallenen durch sein beredtes Schweigen ab.
Abb. 3 Filmstill aus © Konrad Wolf: Ich war neunzehn (1968)
U MGANG
MIT
B LINDEN
ALS
P RÜFSTEIN
Während in den DEFA-Filmen der 1950er und 1960er Jahre vor allem soeben erst Erblindete mit Augenbinden zumeist in kleinen Rollen auftreten, wird Blindheit ab den 1970er Jahren zu einem großen, handlungstragenden Thema. Blindheit wird nun zum Anlass genommen, im Film existenzielle Fragen nach Moral und Verantwortung zu verhandeln. Egon Günthers vieldiskutierter Film Der Dritte (1972), ein Meilenstein der Frauenemanzipation in der DDR, zählt hier ebenso dazu wie der anrührende Kinder- und Jugendfilm Das Pferdemädchen, den der Regisseur Egon Schlegel 1979 nach Alfred Wellms gleichnamiger Erzählung schuf.
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In Günthers 1972 entstandenem Film Der Dritte, der auf der Erzählung Unter den Bäumen regnet es zweimal von Eberhard Panitz basiert, wird der Blindheit zum ersten Mal in der DEFA-Geschichte eine größere und dramaturgisch wichtige Rolle gewährt. Die Protagonistin in Der Dritte, Margit Fließer, ist eine temperamentvolle Mittdreißigerin und alleinerziehende Mutter zweier Töchter von verschiedenen Männern. Sie ist eine emanzipierte Frau, die als Mathematikerin arbeitet, ihr eigenes Geld verdient, und die sich nach einer glücklichen Beziehung mit einem Mann sehnt. Nach zwei großen Enttäuschungen will sie nun den Richtigen, den ‚Dritten‘, finden und erobern. Es soll ihr Kollege Hrdlitschka sein, ein Wanderfreund, der jedoch noch nichts von ihren Wünschen und Hoffnungen weiß. Sie zögert, und in dieser unklaren Situation blickt sie auf die entscheidenden Stationen ihres bisherigen Lebens zurück: Nach dem frühen Tod ihrer Mutter wurde sie von Diakonissen großgezogen. Auch sie wird Schwesternschülerin, erkennt dann allerdings, dass sie keine Diakonisse werden kann, weil ihr der dazu notwendige tiefe Gottesglaube fehlt. Als Schülerin der Arbeiter- und Bauernfakultät traf sie dann auf ihren ‚Ersten‘, einen attraktiven Dozenten namens Bachmann. Als sie schwanger wird, verlässt er sie, was ihr – nun allein erziehend- nicht mehr genügend Bearbeitungszeit ihrer Abschlussarbeit lässt. Trotzdem geht Margit ihren Weg. Einige Jahre später trifft sie auf einen Blinden, der sie mit seiner Liebe zur Literatur und seinen Musikkenntnissen in den Bann schlägt. Schnell ziehen sie zusammen, und bald schon kommt das zweite Kind. Das Geld, das er als Kneipenmusiker verdient, spart er, um beiden das Studium zu ermöglichen. Als er jedoch nicht zum Studium zugelassen wird, beginnt er zu trinken, finanzielle Unregelmäßigkeiten kommen hinzu. In dieser kritischen Situation entschließt er sich, nach West-Berlin zu flüchten, in der Annahme, dass ihm Margit mit den Kindern folgen wird. Die Frau ist hin- und hergerissen. Parallel geschnittene Szenen von Eisenbahnfahrten lassen den Zuschauer annehmen, dass Margit ihm tatsächlich nachreist, doch es zeigt sich, dass sie ihrem Gefühl nicht nachgibt, sondern ihrer Ratio folgt und ungeachtet aller Schwierigkeiten als alleinerziehende Mutter in der DDR bleibt. Trotz aller Liebe zur Literatur und Musik erwies sich der Blinde als misstrauisch und selbstbezogen; eine gleichberechtigte Partnerschaft ist so nicht herstellbar. In ihrer Dissertation über Alltag und Geschichte in DEFA-Gegenwartsfilmen konstatiert Erika Richter 1976, dass sich Margit Fließer mit ihren Problemen und Krisen in Größeres einzuordnen vermag, und so – trotz aller Leiden – einem die Aktivität lähmenden Mitleid mit sich selbst entgeht. „Deshalb widersetzt sie sich der provokanten Resignation des Blinden, gibt ihm kein Geld, folgt ihm nicht in den Westen. [...] Offensichtlich wirkte hier für sie selbst überraschend eine Art psychologischer Selbstschutz, der sie hieß, sich gegen die selbstzerstörerische Haltung des Mannes zur Wehr zu setzen, bevor sie selbst in den Strudel der Resignation, des Sich-treiben-lassens gerissen wird. Andererseits ist sie sich durchaus nicht sicher, wie sie sich angesichts seiner Flucht verhalten wird. Ihre Worte zu dem alten
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Genossen „Ich hatte soviel Angst, daß ich ihm vielleicht doch noch nachfahren würde“, machen deutlich, daß sie zwar rational die Entscheidung, zu bleiben, getroffen hatte, daß sie aber unsicher war, ob sie ihr Gefühl im Zaume halten konnte.“10 Dieses Verworrene, Widersprüchliche weise, so Richter, auf die komplizierte Situation hin und überzeuge uns letztlich von der Ernsthaftigkeit ihrer Entscheidung. Ähnlich bewertet sie die fast hysterische Reaktion Margits auf die Jahre später plötzlich auftretende Augenkrankheit – genauer gesagt: temporäre Blindheit – der kleinen Tochter Dagmar: Zunächst hält sie ihr eine Zeichnung vor, dann malt sie einen roten Kreis, will wissen, welche Farbe er hat, bedrängt hektisch die Kleine, die schließlich „blau“ sagt: Augenscheinlich scheint sich an ihr das Schicksal des abwesenden Vaters zu wiederholen: Die nächste Szene zeigt die Kleine mit verbundenen Augen in einem Krankenhaus-Gitterbettchen – aus der Perspektive der besorgten Mutter, die durch die Zimmertür auf Abstand gehalten wird und nur durch das Türfenster hineinschauen kann (Abb. 4). Als die Ärzte ihr sagen, dass auch sie nicht wissen, ob die Operation gelingen wird, beginnt die Mutter laut für das Augenlicht ihrer Tochter zu beten. Eine solche Reaktion musste in der atheistischen, allem Religiösen feindlich gesonnenen DDR der 1970er Jahre als unpassend und inadäquat verstanden werden – oder eben als besonders menschlich. In der Notsituation, das besagt die Szene, bricht die alte Konditionierung Margits durch die Diakonissenschule wieder durch; noch ist sie nicht so weit, sich allein auf die Gesellschaft – hier repräsentiert durch die Ärzte – zu verlassen. Unmittelbar nach dem Stoßgebet folgt der Schnitt, und der Filmzuschauer muss sich den guten Ausgang des dramatischen Geschehens erst aus dem Rückblick erschließen. Offenbar verlief die Operation erfolgreich. Erst bei dem Versuch, den ‚Dritten‘ zu gewinnen, findet Margit zu einem gefestigten Selbstvertrauen, das mit dem Vertrauen in die Gesellschaft korrespondiert. Somit ist Margit letztlich, ebenso wie ihre kleine Tochter, dauerhaft ‚sehend‘ geworden. Die ambivalente Figur des ‚Zweiten‘, der im Film bezeichnenderweise nur ‚der Blinde‘ ist und keinen Namen hat, legt nahe, dass mit der Blindheit hier ein Nicht-erkennen-können bzw. -wollen dargestellt werden sollte. Der Blinde (Armin Müller-Stahl) wird im Film als eine faszinierende Gestalt eingeführt (Abb. 5), der Margit das Reich der Kunst aufzuschließen scheint, und der doch letztlich nur selbstsüchtig auf sich bedacht ist. In diesem Fall ist die Blindheit als Ausdruck von Verblendung mit dem Westen verbunden worden; der ‚Blinde‘ kann nicht erkennen, dass es für beide eine Chance in der DDR gibt und versagt als Mann und Va-
10 Erika Richter: Alltag und Geschichte in DEFA-Gegenwartsfilmen der Siebziger Jahre. Filmwissenschaftliche Beiträge 17. Jg., H. 1/76, hrsg. von der HFF der DDR: Berlin 1976, Kap. 2 „Der Dritte“, S. 82-116, hier S. 91f.
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ter, indem er kriminell wird und ‚Republikflucht‘ begeht. Dem steht die spätere Heilung der gemeinsamen kleinen Tochter diametral entgegen, deren Erblindung von den Ärzten verhindert werden kann. Damit hat sich für die Protagonistin das Vertrauen in die Gesellschaft ausgezahlt. Der Film transportiert diese politische Botschaft gleichwohl nicht agitatorisch, sondern kunstvoll-beiläufig, mehr über die klug konstruierten Bilder als über den gesprochenen Text.
Abb. 4-5 Filmstills aus © Egon Günther: Der Dritte (1972)
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Während in Egon Günthers Film Blindheit letztlich überwunden werden kann, wählt der Kinderfilm Das Pferdemädchen (1979, R: Egon Schlegel) einen anderen Ansatz. Der Film, in dem ein blindes Tier im Mittelpunkt der Handlung steht, beginnt mit einem abendlichen Ausritt durch eine stimmungsvolle Landschaft. Das Mädchen Irka (gespielt von der dreizehnjährigen Tochter Alfred Wellms) spricht mit dem Tier, einer schönen weißen Stute, und nimmt dabei Bezug auf markante Punkte der Landschaft. „Jetzt kommen die Steine“, „jetzt sind wir an der alten Weide“. Man könnte annehmen, dass das Mädchen in der zunehmenden Dämmerung den Heimweg memoriert. Am heimatlichen Hof ankommend wird sie von ihrem Vater empfangen. Ihm ruft sie froh entgegen: „Vater, sie kann sehen. Raja kann wieder sehen. Glaubst Du’s mir?“ Der Vater antwortet vorsichtig: „Ja, Irka, sie ist ein kluges Pferd.“ „Es stimmt, Vater, sie sieht jetzt jeden Stein“, insistiert die Tochter, und der Vater lenkt ein: „Vielleicht sieht sie tatsächlich etwas besser.“ Die bejahrte Stute, die der Vater vor kurzer Zeit in dem benachbarten Gestüt erworben hat, zeigt bald schon merkwürdige Symptome, scheint krank zu sein. Der alte Möller, ein pferdekundiger Nachbar, erkennt als erster, dass die erblindende Stute trächtig ist. Irka ist begeistert, und der Vater sichert ihr zu, auch das Fohlen behalten zu dürfen. Die Geburt in einer Gewitternacht gelingt, doch dann fangen die Probleme an: Die durch ihre Blindheit beeinträchtigte Stute ist nervös, will das Fohlen nicht säugen lassen. Nur mit Mühe gelingt es Irka und ihrem Vater, die Stute mit dem Hengstfohlen zusammenzuführen. Das temperamentvolle Jungtier entwickelt sich gut, doch es gibt immer wieder Schwierigkeiten zwischen und mit den Pferden, besonders auf der Koppel, weil das blinde Muttertier überfordert ist. Irka engagiert sich intensiv und bemüht sich, das wilde Fohlen zu erziehen. Es bekommt ein Glöckchen um den Hals, damit Raja das Fohlen orten kann. Gemeinsam versuchen Vater und Tochter, beiden Tieren eine artgerechte Haltung zu ermöglichen. Dennoch ist das auf Dauer nicht möglich, weil die Tiere getrennte Boxen benötigen, und dafür ist der Stall zu klein. Der alte Möller spricht aus, was die Familie nicht wahrhaben will: Eines der Tiere muss weggegeben werden. Der Vater überlässt Irka die schwere Entscheidung, verhandelt aber bereits über die Übernahme des Fohlens durch das Gestüt. Irka hängt an dem Fohlen, ebenso wie an Raja, und beschließt, mit beiden Pferden in den Wald zu fliehen. Sehr weit kommt sie nicht, denn der besorgte Vater spürt sie schnell auf. Ein Gespräch mit Möller hilft Irka bei der Entscheidung: „Hast du dir überlegt, was aus ihr wird, wenn ihr sie nicht behaltet?“ fragt er sie mit Blick auf Raja, „hat dir niemand gesagt, dass solche Pferde zum Rossschlächter kommen?“ Der alte Pferdekenner erspart ihr nichts: „Die Männer aus dem Gestüt haben deinen Vater ausgelacht, als er sie holte. Wer kauft sich schon ein blindes Pferd?“ Die folgende Szene zeigt den schwierigen Abtransport des Fohlens, das nicht von seiner Mutter lassen will. Ein Besuch Irkas im Gestüt zeigt ihr jedoch später, wie ausgelassen das Fohlen inmitten einer Schar von anderen Jungtieren herumga-
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loppiert. Der Film endet, wie er begonnen hat, mit einem abendlichen Ausritt des Mädchens auf ihrer Stute. Die Landschaft ist herbstlicher geworden, Nebelschwaden steigen auf und beschränken zunehmend die Sicht. Ohne Worte übernimmt hier die Natur die Funktion eines Kommentars. Wieder werden erst die Steine, dann die alte Weide angesagt, und schließlich entschwinden Pferd und Reiterin ruhig und in einem harmonischen Gleichklang in den dunklen Abend. „Das Pferdemädchen dürfte vielleicht der schönste und künstlerisch gelungenste Kinderfilm sein, der je bei der DEFA gedreht wurde“, schrieb der Rezent der Berliner Zeitung begeistert nach der Premiere im Sommer 1979.11 Tatsächlich gelingt es dem mehrfach preisgekrönten Film, das Thema der Erblindung mit dem der Verantwortung unsentimental, überzeugend und sinnstiftend zusammenzubringen.12 Die Frage des alten Möller im Film, wer denn schon ein altes, blindes Pferd kauft, wird allenfalls indirekt beantwortet: An keiner Stelle geht es in dem Film um Geld oder einen besonders günstigen Kauf, sondern letztlich um Wunder: Um das Wunder der Geburt eines gesunden Hengstfohlens, aber auch um das Hereinwachsen in die Verantwortung für das, was sich Irka und ihr Vater vertraut gemacht haben. Der Lohn dafür ist sichtbar und greifbar in der großen Harmonie zwischen Reiterin und Pferd, das selbst die Blindheit der Stute auszugleichen und Hindernisse zu überwinden vermag, denn Irka kann mit ihr sogar Galopp reiten. Ein Handicap – das sagt uns die Geschichte – kann durch die Besinnung auf das Wesentliche einen ungeahnten Reichtum hervorbringen. So sind nicht dem Pferd die Augen aufgegangen, wie Irka anfangs irrtümlich vermutete, sondern ihren Besitzern, und das hat bis heute etwas Mitreißendes.
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Eine weitere Konjunktur der Thematisierung von Blindheit im Film erfolgte in den späten 1980er Jahren. Es ist gewiss kein Zufall, dass gerade in Filmen der letzten Phase der DDR das komplexe Verhältnis von Blindheit, Sehen und Erkennen besonders intensiv verhandelt wurde, und dass dies bevorzugt im Genre des Märchenfilms erfolgte.
11 Günter Sobe: Die erstaunliche Begegnung mit dem Pferdemädchen. In: Berliner Zeitung, 03.08. 1979. 12 Vgl. Das Pferdemädchen. In: Ingelore König, Dieter Wiedemann, Lothar Wolf (Hrsg.): Zwischen Marx und Muck. DEFA-Filme für Kinder. Berlin: Henschel 1996, S. 263f.
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Märchenfilme zielten von Anfang an auf Kinder und ihre Eltern; im Gewand der alten Legenden und Mären ließen sich Konflikte und Konstellationen in einer Direktheit verhandeln, die in anderen Medien so nicht möglich gewesen wäre.13
Abb. 6-7 Filmstills aus © Gottfried Kolditz: Die goldene Jurte (1961)
13 Alle diese Filme sind in der DDR so konzipiert worden; sie sind kein Produkt der Wendezeit.
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Das Motiv der Blindheit gab es bereits vor den 1980er Jahren im Märchenfilm; schon 1961 zeigte Die goldene Jurte (DDR/Mongolische VR) unter anderem die Wunderheilung eines blinden Mädchens. Wie auch in den späteren Filmen Rapunzel oder der Zauber der Tränen (DDR 1988) und Das Licht der Liebe (DDR 1990) müssen der Heilung stets gute Taten vorausgehen, die der potentielle Partner bzw. die Partnerin vollbringt, deren Liebe zu dem oder der Blinden das Wunder der Heilung überhaupt erst ermöglicht. Der Film Die goldene Jurte ist eine Koproduktion von DEFA und Mongolkino, die Regie führten Gottfried Kolditz und Rabschaa Dordschpalam gemeinsam. Die aufwendige Szenographie verantwortete Alfred Tolle, gedreht wurde überwiegend in der Mongolei, ergänzt um einen größeren Part an Tricktechnik. Dawadorshi, der Held der Geschichte, ist der jüngste von drei Brüdern. Im Gegensatz zu den älteren Geschwistern, die gierig und dumm agieren, ist er bestrebt, den Rat weiser Männer zur Lösung diverser Probleme einzuholen, die von allen Seiten an ihn herangetragen werden. Dabei lernt er auch das Mädchen Sarren-Gerrel, die Tochter einer vermögenden und klugen Mutter, kennen. Ihr ist das Lieblingstier, ein Lämmchen, abhanden gekommen. Dawadorshis Brüder fangen es und wollen es töten, doch gelingt es dem jungen Helden, es seiner rechtmäßigen Besitzerin zurückzubringen. Bei dieser Gelegenheit – es ist gerade Markt – versucht er vergeblich, ihre Aufmerksamkeit mit Konsumgütern zu erringen. Was er nicht erkennt, steckt ihm schließlich ihre Mutter: Sarren-Gerrel ist von Geburt an blind. Dawadorshi möchte sie gern von dieser Einschränkung befreien und erkundigt sich beim weisen Arat auch nach dem hier notwendigen Verfahren. Der weise Alte teilt ihm mit, dass sie sehend wird, wenn der Jüngling, der ihr zum Manne bestimmt ist, ihre linke Hand berührt. Als ihr Dawadorshi diese Botschaft schließlich freudig überbringen will, nicht ahnend, dass er selbst der Rechte ist, umfasst er ihre Hand, und das Wunder geschieht. Ein heller Lichtkorridor umspielt ihre Augenpartie, die Augen beginnen zu fokussieren. Ihr bisher leerer Blick ist auf den jungen Mann gerichtet, dessen Gesicht nun – aus ihrer Perspektive – merklich an Kontur und Detailschärfe gewinnt (Abb. 6-7). Der zweite Blick gilt ihrer Mutter, die sie nun auch erstmals sehen kann. Für den dritten Blick aber verlässt sie die Jurte und begibt sich ins Freie. Quasi mit ihren Augen sehen die Zuschauer ein großartiges Panorama, eine grasbewachsene, weite mongolische Berglandschaft mit weidenden Herden. Dawadorshi, der nicht mehr ohne sie sein möchte, nimmt Sarren-Gerrel gleich mit auf sein Pferd. Gemeinsam sorgen sie nun auch im Hause seines Vaters für die Wiederherstellung der alten Ordnung, die vor allem eine des Gleichgewichts der Elemente ist, die seine Brüder leichtfertig verspielt haben. Als diese ihren Fehler einsehen, dürfen auch sie zurückkehren. Mittlerweile hat sich durch Dawadorshis Zaubermittel, die er sinnvoll angewendet hat, auch die Wohnsituation erheblich verbessert;
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jetzt bietet eine prächtig ausgestattete goldene Jurte der vergrößerten Familie ein adäquates Heim, in dem Sarren-Gerrel die Suppe für alle schöpft. Der opulente Film bietet mit seinen vielen zauberhaften Orten, der Berg- und Unterwasserwelt nicht nur eine Lektion zum Umgang mit den Naturressourcen, vor allem mit dem Wasser, sondern auch ein großes Fest für das Auge. Die Heilung der jungen Frau bekommt hierbei eine besondere Dimension: Nicht Schmuck oder schöne Kleidung, die ihr Dawadorshi anfangs vergeblich zu offerieren suchte, als er von ihrer Blindheit nichts wusste, sondern seine guten Taten haben die Heilung letztlich bewirkt. Die intendierte Botschaft ist eine antikapitalistische, denn sie präferiert die inneren Werte und eine gemeinsame Verantwortung für die Natur. So wird auch die Natur des blinden Mädchens, das von dem Reichtum seiner Mutter nichts hat, wieder ins Lot gebracht, denn, nachdem sie sehend wird, folgt sie sogleich ihrem Dawadorshi und wird nun auch für andere tätig. Einen ähnlichen Effekt bietet auch der Film Rapunzel oder der Zauber der Tränen, den die DEFA 1988 im Auftrag des Fernsehens der DDR produzierte. Regie führte Ursula Schmanger, für die Szenographie zeichnete Heike Bauersfeld verantwortlich. Als Schloss diente wohl das thüringische Reinhardsbrunn bei Gotha, Landschaftsaufnahmen wurden unter anderem im Park von Wiesenburg und im Oberharz aufgenommen.
Abb. 8 Filmstill aus © Ursula Schmanger: Rapunzel oder der Zauber der Tränen (1988)
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Der Film verbindet geschickt zwei Märchen der Brüder Grimm, Rapunzel und Jungfer Maleen, die beide von einem Mädchen in einem Turm handeln. Zunächst wird die Rapunzel-Geschichte erzählt, hier freilich ohne den Vorspann, der der Geburt des Mädchens und seiner Übergabe an die Zauberin vorausgeht. Prinz Matthias entdeckt bei einem seiner Streifzüge zu Pferde den türlosen Turm und beobachtet die Prozedur des Aufstiegs am Haar der schönen jungen Frau. Wagemutig gelingt er auf demselben Weg wiederholt zu ihr, ehe er von der Zauberin entdeckt und bestraft wird. Bei seinem Sturz vom Turm verliert er sein Augenlicht in der dichten Dornenhecke. Alle Versuche, ihn am Hofe seiner Eltern medizinisch zu behandeln, scheitern. Das Königspaar nimmt den Medicus beiseite und befragt ihn, doch der muss zugeben, dass es schlecht steht um das Augenlicht des Prinzen, „er wird blind bleiben“. Gleichwohl scheint es ihm, dass der Prinz von einem bösen Zauber getroffen ist; „nur ein Wunder kann helfen.“ (Abb. 8). Zu Recht vermutet der alte König, dass die schöne Fremde, in die sich der Prinz verliebt hat, damit zu tun hat. Da für den Prinzen aus Gründen der Staatsräson seit langem schon die hässliche Tochter des vermögenden Nachbarfürsten als Gemahlin auserkoren ist, soll die Hochzeit ungeachtet der Blindheit – die hier sogar einen sekundären Vorteil brächte, weil Matthias seine Braut nicht sehen muss – umgehend vollzogen werden. Matthias ist verzweifelt, ebenso wie Rapunzel, die der böse König hatte einmauern lassen. Da sie sich dank ihrer Zauberspindel befreien konnte, sucht sie nun ihren Liebsten, den sie für einen Jäger am Königshof hält. Die hohen Gäste aus dem Nachbarland reisen zur Hochzeit an, wollen aber die Braut nicht zeigen. Es entsteht der Plan, ein hübsches Küchenmädchen anstelle der äußerlich wie innerlich hässlichen Prinzessin, die im Film bezeichnenderweise rothaarig präsentiert wird, die Trauung mit dem blinden Prinzen vollziehen zu lassen. Als das fleißige Küchenmädchen – es ist Rapunzel – in diese Rolle gedrängt wird, geht sie mit ihrem geliebten Matthias zum Traualtar, jedoch nicht ohne vorher dreimal zu sagen, dass sie die rechte Braut nicht sei. Diese dem Märchen Jungfer Maleen entliehene Passage kommt der Handlungslogik zugute, denn später, als ihm die zugedachte Gattin untergeschoben wird, kann er sie nach dem Gesagten befragen. Wieder wird Rapunzel geholt, um bei den Antworten auszuhelfen, doch der Prinz ist inzwischen misstrauisch, weil Rapunzels Stimme etwas in ihm zum Klingen gebracht hat, was er bei der falschen Frau vermisst. Schlussendlich berührt ihn die weinende Rapunzel mit ihren tränennassen Händen und macht ihn dadurch zu aller Überraschung
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wieder sehend.14 Der Zauber ist gelöst, weil die Kraft der Liebe stärker ist als politisches Kalkül und individuelles Gewinnstreben.15 Mit dem Film Das Licht der Liebe (1991) nahm sich die DEFA in bewährter Zusammenarbeit mit der Tschechoslowakei noch einmal ein aufwendiges Projekt über das Wunderbare des Sehens und des Sichtbaren vor. Der in der Regie von Gunther Scholz entstandene Film, dessen Szenographie von dem Großmeister Alfred Hirschmeier entwickelt wurde, beruht auf dem Versepos König Renés Tochter des dänischen Schriftstellers Henrik Hertz aus dem Jahr 1845. War das Kunstmärchen eigentlich in der Provence des 15. Jahrhunderts angesiedelt, so versetzten die DEFA-Filmemacher die Figurenkonstellation nach Thüringen in die Zeit des frühen Mittelalters, präzise in das Jahr 804. Durch diese genauen Angaben überschreitet der Film die Grenzen des Märchenfilms und nähert sich dem Historienfilm an. Auch die ausgeklügelte Filmszenographie arbeitet einer solchen Lesart zu. Im Zentrum der Handlung stehen zwei junge Leute, der „Bengel“, der als Leibeigener in einem Nonnenkloster aufwächst, und Reglindis, die Tochter des Thüringischen Landgrafen. Wie sich herausstellt, ist sie von Geburt an blind und wird, streng getrennt von der Welt der Sehenden, in dem Turm einer festen Burg aufgezogen. Der Junge hingegen, der im Dreck leben muss, besitzt Zeichentalent und kann lesen, darum darf er im klösterlichen Scriptorium tätig sein. Zwei Geschehnisse verändern sein Leben: Er findet einen verwundeten Ritter und pflegt ihn gesund. Beiläufig befragt ihn dieser nach einem Knaben, Bogumil, einziger Sohn des Wendenfürsten Slavomir. Es gibt aber außer ihm keinen weiteren Jungen im Kloster. Eines Tages findet er jedoch in dem Scriptorium Hinweise auf eine politisch wichtige Vorgeschichte, die Verabredung einer Allianz zwischen Wenden und Thüringern, die mit dem Beschluss einer Heirat zweier Fürstenkinder, die sich zur Vertragszeit im Babyalter befanden, besiegelt wurde. Bogumil, so besagt die Urkunde, soll Reglindis, Tochter des Landgrafen von Thüringen, heiraten. Ein übertünchtes Wandbild mit der Darstellung des Vertragsschlusses gibt ihm den scheinbar letzten Beweis, denn der kleine Bogumil hat genauso abstehende Ohren wie er selbst. So adaptiert der bisher namenlose, aber aufgeweckte „Bengel“ die Geschichte für sich; er glaubt, dieser Bogumil zu sein und zieht los, um sein Recht einzufordern.
14 Zur kulturgeschichtlichen Dimension der Tränen vgl. Beate Söntgen, Geraldine Spiekermann (Hrsg.): Tränen. München: Fink 2008; hinsichtlich der heilsgeschichtlichen Bedeutung von Tränen als Berührungsreliquien vgl. den Aufsatz von Joseph Imorde: Die ‚Gabe der Tränen‘ in der religiösen Kultur der frühen Neuzeit. In: ebd., S. 41-56. 15 Die Zauberin sperrt Rapunzel in diesem Film nicht nur einfach weg, hier muss sie am Webstuhl schuften und für ihre Besitzerin offenbar gut verkaufbare Heimtextilien herstellen; eine Assoziation zu den schlesischen Webern und ihrem Aufstand liegt nahe.
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Nach langer Wanderung gelangt der Junge an eine streng bewachte Festung. Er verschafft sich Zutritt und gelangt in einen Garten, indem eine wunderschöne, höfisch gekleidete junge Frau zwischen zahmen Tieren agiert. Sie ist freundlich und achtungsvoll zu ihm und bittet ihn, wiederzukommen. In der Nacht wagt der Junge den Aufstieg in ihren Turm. In ihrer Kemenate kommen sie einander näher, und er erkennt jetzt erst, dass sie blind ist. Sie selbst hat keine Vorstellung von der Normalität des Sehens, da im Umgang mit ihr allen der Gebrauch von Wörtern, die mit Sehen zu tun haben, verboten sind. Der Junge, der davon nichts weiß, redet mit ihr offen und beschreibt die Phänomene des Sichtbaren enthusiastisch: „Der Himmel ist jetzt kräftig Blau, von bleichen Wolken überzogen, dein Garten grün – gemischt mit Grau, die Bäume schwarze Schattenbogen – Reglindis das alles siehst du nicht? – und früh am Morgen da blinkt der helle Schein der Sonne in tausend kleinen Wassertröpfchen auf. Ich mein’ den Tau, der glitzernd überall von jedem Halme, jedem Zweig und Blatte tropft. Und neben jedem solchen kleinen Wunder ist ein noch Größeres zu sehen: Da strahlt in vielen, hellen, klaren Farben der ganze Regenbogen, aber winzig klein – Du, das ist herrlich! Herrlich…“ Reglindis erkennt seine innere Schönheit und ist ihm sehr zugetan. Sie ist angesichts des Neuen verwirrt, kommt aber gemeinsam mit dem Jungen zu dem Schluss, dass das Herz das Wichtigste ist – und das kann man schließlich auch nicht sehen. Zur selben Zeit hat Reglindis Vater, der Markgraf von Thüringen, eine Unterredung mit einem berühmten Arzt, der seine Tochter operieren soll. Bald schon wird der Junge entdeckt und gefangen genommen. Der Markgraf droht seiner Tochter: Nur mit der Operation kann sie ihrem gefangenen Freund das Leben retten. Reglindis stimmt nun zu. Obwohl die Operation nicht gelingt, schafft es Reglindis, Sehen vorzutäuschen, indem sie die Beschreibungen des Jungen wiederholt: „Seht doch nur, es blinkt der helle, frohe Schein der Sonne in tausend kleinen Wassertröpfchen auf. Ist das der Tau, der glitzernd überall von jedem Zweig und Blatt, von jedem Halme tropft? Und neben jedem dieser vielen kleinen Wunder ist ein noch Größeres zu sehen: Da strahlt in hellen klaren Farben der ganze Regenbogen, aber winzig klein – ein Wunder, herrlich.“ Der Junge hält nun um ihre Hand an, wird aber vom Vater verlacht. Als er vernimmt, wer sie ist, zückt er die aus dem Kloster mitgenommene Urkunde und macht damit seinen Anspruch geltend. Gemeinsam reisen sie zur Stammburg des Thüringers, als sie von den Wenden überfallen werden. Der Junge erklärt auch hier fest, Bogumil zu sein, und die Wenden huldigen ihm und bieten ihm Schutz. Auf der Burg angekommen, sitzt das junge Paar traurig in Reglindis Gemach. Hier nun plötzlich, als sie über ihre fortdauernde Blindheit weint und der Junge sie mit einem zärtlichen Auflegen der Hände auf ihre Augen zu trösten sucht, geschieht das Wunder: Reglindis kann nun plötzlich wirklich sehen.
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Der Junge versucht nun, ihr die Farben zu erklären, und beide geraten in einen spontanen Farb- und Malrausch: Der Raum der Kemenate wird komplett ausgemalt und mit phantastischen Motiven in allen Farben des Regenbogens überzogen: Darunter befinden sich bekannte Personen wie die Nonnen des Klosters, aber auch Symbole der schöpferischen Phantasie wie der Pegasus, das Flügelross, über dem ein großes gemaltes Auge wacht. Es verweist auf das ‚allsehende Auge‘, das Sonnenauge, das schon diverse frühe Kulturen ausgeprägt hatten. Im Christentum wurde es als Symbol der Allgegenwart Gottes, der alle Geheimnisse durchdringt, seit dem Barock gern als Schmuck von Kirchen benutzt, ebenso wie in den Logen der Freimauer. Auch in der Filmszene schaut dieses Auge auf die Gerechten wie auf die Bösen (Abb. 9). Unterdessen spitzt sich die Situation noch einmal zu: Die Nonnen sind herbeigeeilt, um zu erklären, dass der wahre Bogumil ertrunken sei – doch auch sie sind, ebenso wie der Landgraf völlig überrascht und begeistert von dem großartigen Fresko der beiden. Als nun auch noch der kaiserliche Abgesandte kommt, der kein anderer ist als jener Schwarze Ritter, den der Junge einst gesund pflegte, nimmt das Ganze doch noch eine gute Wendung: der Ritter verlangt einen sichtbaren Beweis, den der Junge liefern kann – die Narbe einer Bisswunde am Hinterteil –, und das Paar darf sich trauen lassen. Sogleich wird Bogumil zum regierenden Landgrafen ausgerufen. Reglindis Vater muss gute Miene zum bösen Spiel machen und ist es schließlich auch zufrieden, dass sein Kind nun doch noch Landgräfin geworden ist. Alle diese Szenen finden in prachtvoll ausgestatteten historischen Räumen statt; Drehorte waren u.a. Memleben, Burg Querfurt, Burg Gleichen und der Wendelstein. Das Filmmuseum Potsdam bewahrt in seinem Bestand Entwurfszeichnungen von Alfred Hirschmeier, die den realisierten Raumausstattungen zugrunde liegen. Die Kemenate der Reglindis, in die der Junge zuerst eindringt, wurde, wie die von Hirschmeier übermalte Fotografie zeigt, in einem Raum der Burg Querfurt eingebaut.16 Ein weiteres Arbeitsblatt Hirschmeiers versammelt historische augenärztliche Instrumente; wie der Screenshot zeigt, wurden diese für den Film auch tatsächlich verwendet (Abb. 10). Das Licht der Liebe ist erst am 28.02.1991 uraufgeführt worden. Er ist damit definitiv der letzte DEFA-Märchenfilm, für das seine Macher und speziell Alfred Hirschmeier noch einmal alle Register der visuellen Überwältigung gezogen haben. Dazu gehört auch die Musik von Friedbert Wissmann: Er bezieht dazu Motive von Peter Tschaikowskis letzter Oper Jolanthe ein, die ihrerseits auf dem Kunstmärchen von Henrik Hertz beruht, dessen Protagonistin freilich nicht Reglindis, sondern eben Jolanthe hieß.17
16 Für diese Hinweise danke ich Corinna A. Rader, Berlin. 17 Der Name Reglindis verweist auf die berühmten Stifterfiguren im Westchor des Naumburger Doms (13. Jh.); Uta und Reglindis zählen zu den avanciertesten Skulpturen.
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Abb. 9-10 Filmstills aus © Gunther Scholz: Das Licht der Liebe (1991) Es ist der künstlerische Sinn des namenlosen Jungen, der ihn die entscheidenden Entdeckungen machen lässt, indem er zunächst das Wandbild im Kloster wieder freilegt. Er ist es, der Reglindis in die Wunder des Sehens einführt – erst abstrakt, mit Worten, und dann, mithilfe des Handauflegens, auch physiologisch. Nun erst ist
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es ihnen möglich, gemeinsam jenes farbige Fresko zu schaffen, dessen Motive einem eigenen Schöpfungsakt entspringen, der selbst ihre Feinde erst verstummen und dann jubeln lässt. So wird der Film am Ende der DEFA zu einer Feier des Schöpfer-Künstlers, der nicht lediglich das Sichtbare wiedergibt, sondern, wie es der Maler Paul Klee 1920 als Aufgabe formulierte, sichtbar macht. Möglich wird dies – das ist die Botschaft auch dieses Films – allein durch die Liebe, die zum Erkennen führt. Der Blindheit kommt in diesem Prozess, wie gezeigt wurde, immer wieder neu eine wichtige, erkenntnisgenerierende Rolle zu. Gleichwohl ist Blindheit in den meisten DEFA-Spielfilmen ein Zustand, der negativ konnotiert ist und der nach einer kreativen Aufhebung verlangt, die nur im Akt des Erkennens erfolgen kann. Während vor allem junge Menschen wie Dieter im Rat der Götter, aber auch die schönen Märchengestalten im Akt des Erkennens ihre Sehfähigkeit real oder im übertragenen Sinn zurückerhalten, geht es bei den Alten eher um Kompensation: der fehlende Sehsinn kann durch andere Sinne und Qualitäten ersetzt werden, sei es wie bei dem alten Pferd durch Liebe, Vertrauen und Verantwortung seiner Besitzerin; sei es wie bei dem alten Ökonomen Händler in Die Architekten, der erst infolge der Einschränkung seines Sehvermögens wirkliche Sinnesfreude und neuen Lebensmut zu gewinnen vermag. Insofern stehen alle diese Filme – abgesehen von der programmatischen Negativ-Konnotierung des blinden Wehrmachtssoldaten in Ich war neunzehn und dem Blinden in Der Dritte – in einer Tradition, die sich heilsgeschichtlicher Versprechen erinnert, wie sie im Wunderglauben des Mittelalters praktiziert wurden, nun aber aktualisiert im Entwurf der Figur des kreativen Künstlers. Mit dem Ende der DEFA hatte sich diese Utopie zunächst einmal erledigt – um dann viele Jahre später, z.B. mit den Blindgängern (D 2004) erneut kraftvoll zu reüssieren.
Blindes Sehen Kämpfen ohne Augenlicht in japanischen Zatoichi-Filmen J ULIA B. K ÖHNE
Dieser Aufsatz konzentriert sich auf das Motiv blinden Schwertkämpfens in drei zeitlich verzögert aufeinander folgenden japanischen Chambara-Filmen: Kenji Misumis The Tale of Zatoichi (1962), Takeshi Kitanos Zatoichi – Der blinde Samurai (2003) und Fumihiko Soris Ichi – Die blinde Schwertkämpferin (2008). Die Filme portraitieren die Blindheit ihrer Protagonist/innen weniger als Benachteiligung oder Gefährdung denn als Movens und Indiz für psychophysische und moralische Überlegenheit. Sie thematisieren Prozesse des Sehens und Nicht-Sehens, Erkennens und Verkennens, der Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, indem sie den Zuschauenden dazu bringen, sich auf die besonderen ‚Seh‘- und Handlungsweisen des erblindeten Charakters einzulassen. Dadurch wird Blindheit vielfach in etwas Positives umgedeutet. In jedem der Filme startet die jeweilige Hauptfigur ihre Reise unter ungewöhnlichen Bedingungen, bei denen das Sehen – traditionell als dominantester Sinn in der Kulturgeschichte betrachtet – verabschiedet worden ist. Die Zuschauenden werden so auf die komplexen Prozesse des Sehens, der Wahrnehmung und der Imagination und ihre Fragilität und Limitiertheit aufmerksam gemacht. Der folgende Text geht 1) den konzeptuellen, figürlichen, ästhetischen und dramaturgischen Darstellungsweisen von Blindheit nach, 2) den kultur- und geschlechtergeschichtlichen Implikationen erloschener Sehfähigkeit, wie sie sich in den diegetischen Welten der drei Filme zeigen, 3) dem sich in ihnen spiegelnden gesellschaftlichen Umgang mit Blindheit und 4) den Verschiebungen des Blindenmotivs in den aufgezeigten Filmwelten von den 1960er bis in die 2000er Jahre. Durch eine Gegenüberstellung der drei Jidai-geki-Historienfilme werden zum einen interne (Quer-)Verweise, zum anderen ihre jeweilige Spezifik im Hinblick auf die Beleuchtung des Blindheitsmotivs deutlich. Letzteres offenbart sich auch auf der Ebene der Selbstreflexivität des Kinos. Denn die Zuschauer/innen sind durch das in ihnen durchgespielte, widersprüchliche Motiv ‚blinden Sehens‘ aufgefordert, über die Frage nachzudenken, wie ‚richtiges‘ Sehen, Wahrnehmung und Erkennen funktionieren, ineinandergreifen und wo ihre Grenzen liegen. Durch die exhaustive Thematisierung von negiertem Sehen denkt der Film über sich selbst als visuell basiertes Medium nach, dessen Kameraauge anscheinend vielfältige Blicke auf die Welt ermöglicht. Indem bei ihren Leitfiguren Sehen konfrontativ negiert
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wird, sie aber dennoch sehr differenziert handlungsfähig sind, stellen die Filme infrage, „dass Sehen rein optischer Natur sei, oder dass Sehen als Erkenntnisweise metaphysisch aufzuladen und daher grundsätzlich dem Nicht-Sehen gegenüber als 1 überlegen zu begreifen sei“. Blindheit wird stets in Relation zum Sehen und trotz 2 des je aufgezeigten Störmoments in ihren Potenzen ausgeleuchtet. Dabei wird gerade absente Sehkraft mit Scharfsinn, kämpferischer Superiorität und oftmals ethischer Wertigkeit verbunden. Blindheit wird in den ausgesuchten Filmen weniger als schicksalhafte Krankheit denn als Chance für die Entwicklung charakterlicher Besonderheit und ausgefeilter Professionalität sowie auf der Metaebene als die Gesetze des Kinos herausforderndes ästhetisches Problem adressiert.
1. The Tale of Zatoichi (1962), basierend auf einer Kurzgeschichte von Kan Shimozawa aus dem Jahr 1948, initiierte zu Beginn der 1960er Jahre eine filmische Saga epischen Ausmaßes. Der blinde Masseur und Würfelspieler Zatoichi reüssierte zu einer über alle Maßen beliebten Kultfigur und zum ambivalenten Symbol einerseits für die verlorene Funktion des Sinnesorgans Auge, für Sehunfähigkeit, andererseits für subtiles Geschick, kämpferischen Mut, ausdauernde Kraft, überparteiischen Ge3 rechtigkeitssinn und Freiheitsliebe. Der Zatoichi-Film-Boom hielt in der japanischen Filmkultur über ein Jahrzehnt an; es wurden mehr als zwei Dutzend Filme 4 mit dieser Hauptfigur produziert. Die überaus populären Zatoichi-Filme fokussie-
1
Bettina Gockel: Bilder für Blinde – Sehen und Handeln in Malerei, Fotografie und Film. Ein Versuch. In: Horst Bredekamp, John M. Krois (Hrsg.): Sehen und Handeln. Berlin: Akademie-Verlag 2011, S. 65-98, hier S. 68. * Für ihre Anregungen und Referenzen danke ich Alexandra Tacke.
2
Stefan Ripplinger: I Can See Now. Blindheit im Kino. Berlin: Verbrecher Verlag 2008, S. 2. „Die Welt ist viel mehr als das, was zu sehen ist. Dass er [der Blinde] nicht sehen kann, trennt ihn nicht von allem, vielleicht nicht einmal vom Besten in ihr.“ (Ebd., S. 19)
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Er verkörpert damit Werte und Tugenden, die Sir Richard Francis Burton 1883/4 in The Book of the Sword edelmännischen Schwertkämpfern zuwies: „In knightly hands the Sword acknowledged no Fate but that of freedom and free-will; and it bred the very spirit of chivalry, a keen personal sentiment of self-respect, of dignity, and of loyalty, with the noble desire to protect weakness against the abuse of strength. The knightly Sword was ever the representative idea, the present and eternal symbol of all that man most prized— courage and freedom“ (Richard F. Burton: Introduction. In: ders.: The Book of the Sword. London: Chatto & Windus 1884, S. xiii).
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Criterion hat zahlreiche Filme der Zatoichi-Action-Serie neu herausgegeben, von Kenji Misumis The Tale of Zatoichi (1962) bis Kimiyoshi Yasudas Zatoichi’s Conspiracy
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ren auf einen besonderen ikonischen Helden: den um 1840, am Ende der Edo-Zeit 5 (1603–1868), in japanischen Landstrichen umherziehenden blinden Masseur Ichi. In der hier dargestellten Zeit des feudalen Niedergangs fangen die Machtbereiche des kaiserlichen Hofs in Kyoto, des Shogunats und des Regierungsapparats in Edo 6 an zu bröckeln. Als niedrig gestellter Tätiger gehört Ichi dem untersten sozialen Stand des Feudalsystems an, ist ein ausgestoßener Niemand (hinin) mit prekärem 7 Status, nirgendwo fest verortet, rechte- und gesellschaftlich wertlos. Den Samurai war die Möglichkeit gegeben, Mitglieder anderer Stände bei Versagung von Res8 pekt oder Ehrverletzung zu züchtigen oder gegebenenfalls sanktionsfrei zu töten. Aber auch sie konnten, insofern sie als hinin galten, umgebracht werden, ohne dass 9 dies als Mord galt. Da Ichi seit einiger Zeit als begabter Schwertkämpfer hervorgetreten ist, weckt er wegen seines Renommees das Interesse des Yakuza-Bosses Sukegorô. Dieser würde den Rōnin gerne fest anstellen, so dass der Schwertmeister ihm zu Treue und Loyalität bis in den Tod verpflichtet wäre. Ichi verbleibt über den gesamten Film hinweg jedoch in einem liminalen Zwischenstadium, genießt zwar die Annehmlichkeiten, mittels derer Sukegorô ihn an sich zu binden versucht und nimmt auch einen Vorschuss für die Teilnahme am dem großen Endkampf zwischen den beiden konkurrierenden Banden entgegen, tritt der Yakuza-Gruppe jedoch auf längere Sicht nicht fest bei. Als krimineller herrenloser Samurai, der konkret niemandem untersteht, kämpft Ichi primär für das, was er für Recht hält. Sein größter Gegenspieler ist der tuberkulöse trinksüchtige Yakuza-Samurai Hirate (Shigeru Amachi), Mitglied der Gegenbande und mit ihm befreundet. Die Zeichnung der blinden Hauptfigur in The Tale of Zatoichi – und teilweise gilt dies auch für die nachfolgenden Filme – lässt sich wie folgt umreißen: Ichi verfolgt überholt wirkende Moralvorstellungen, was ihn von der Unmoral seiner Gegenspieler absetzt. Von der marginalisierten Position eines Blinden aus stellt er generell die Legitimität von Hierarchie- und Herrschaftssystemen in Frage. So setzt er sich gegen die Ungerechtigkeit lokaler Zölle und im Kreditwesen sowie gegen
(1973), www.criterion.com/boxsets/1012-zatoichi-the-blind-swordsman, letzter Zugriff am 18.05.2015. 5
In 26 Spielfilmen und um die einhundert Fernsehepisoden spielte Shintarō Katsu die Rolle durchgehend und fungierte ab 1970 auch als Produzent der Filme.
6
Alain Silver: The Samurai-Film. Woodstock/New York: The Overlook Press 2005 [1977], S. 13 ff.
7
Patrick Galloway: „The Tale of Zatoichi“ und „The Tale of Zatoichi Continues“. In: ders.: Stray Dogs & Lone Wolves. The Samurai Film Handbook. Berkeley: Stone Bridge Press 2005, S. 87-89 und 89-91.
8
Wolfgang Schwentker: Die Samurai. München: C.H. Beck 2003, S. 110.
9
A. Silver: The Samurai-Film, S. 19.
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übermäßige Steuern ein, gegen Korruption und zementierte Hierarchien, er hilft den ökonomisch in die Ecke Gedrängten. Ichi sieht soziale Probleme auch ohne Augenlicht. Auf seinen Abenteuern, die sich immer wieder um Fehden verfeindeter Yakuza-Klans drehen, folgt der gerechtigkeitsliebende und großmütige Ichi einem Ehrencodex, bei dem sein Pflichtgefühl und seine persönlichen Gefühle widerstreiten. Er tötet nur in besonderen Situationen und bereut es im Anschluss nicht selten. Ichi besitzt Verhandlungsgeschick, betrügt Betrüger beim Spiel und beseitigt Mörder. Er bewundert Frauen, ohne auf der Suche nach der großen romantischen Liebe zu sein; wegen seiner Sehbeeinträchtigung, seines Gangsterstatus und seiner Liebe zur Einsamkeit hält er sich für keine gute Partie. Er mag Kinder, ohne selbst welche zu haben.
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Eine der Schlüsselszenen, die Zatoichis Eigenheiten und Idiosynkrasien, die zum Großteil seiner gesonderten Position als Blinder entspringen, in all ihrer Rätselhaftigkeit und Janusköpfigkeit auf den Punkt bringt, ist am Ende von The Tale of Zatoichi platziert: „Magnificant!“ – lobt Hirate, der sterbenskranke Yakuza-Samurai, im Endkampf des Films seinen blinden Freund Ichi, der ihm gerade einen tödlichen Schlag versetzt hat. Sterbend anerkennt er die ungeheuer große Kampfkunst seines Gegners. Denn auf der Brücke, auf der Hirates letzter Kampf stattfindet und er ins Jenseits hinübergleitet, begegnen sich zwei Schwergewichte der Schwertkampfkunst. Schon lange vorher ist im Film klar geworden: Ihre absolute Meisterschaft kann nur dadurch beglaubigt werden, dass sie gegeneinander antreten. Nur sie haben den Sinn dafür, die Schlagkraft und Reichweite der Kunst des anderen umfassend zu begreifen. Die beiden gehandicapten Figuren sind die einzigen, die sich diese Wertschätzung schenken können, nur sie verstehen das Können des anderen aus eigener Kennerschaft und Erfahrung heraus. Bevor er stirbt, wollte Hirate seinen blinden Freund noch einmal auf dem Höhepunkt seiner entfalteten Kräfte, Schwertkunst in Reinform, sehen und spüren, seine in der Kunst des anderen gespiegelt sehen. Die übrigen kriegerischen Bandenauseinandersetzungen ausblendend – die beiden Könner, die hier stellvertretend für ihre Banden agieren, haben sich auserbeten, bei ihrem Kampf unter keinen Umständen gestört zu werden –, erscheint das Szenario wie eine zwischen den Freunden verabredete Beihilfe zum Sterben. Der tuberkulöse Hirate wünscht sich den Tod durch Ichis Hand aus zwei Gründen: Erstens wird er auf diese Weise nicht von niedriggesonnenen Gangstern umgebracht (oder, noch profaner, von einem Hustenanfall), sondern durch vollendete Meisterhand, die etwas vom Töten versteht und noch dazu zu einem noblen Charakter gehört. Zweitens erlaubt der Stellvertreterkampf Ichi, von den kriegswütigen Gangstern, die ihn
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mit dem Gewehr umzubringen gedenken, unbehelligt und letztlich unverwundet weiterzuleben. So transzendieren die zwei Freunde gemeinsam die Gangsterebene, in der sie beide gefangen sind. Sie queren das Gesetz, demzufolge ein Yakuza-Mitglied seinem Chef Treue bis in den Tod schuldet. Stattdessen stiften die Freunde ein neues Gesetz, bei dem ihre Loyalität und Hochachtung einzig dem würdigen Gegner gelten, der sich gleichfalls selbstständig und mit vollendeter Kunstfertigkeit aus 10 dem ‚Sumpf des Lebens‘ emporgearbeitet hat. Vielfältige homophile Liebessemantiken schwingen mit, als sich der blinde Ichi vor dem Kampf vor der Könnerschaft des anderen verbeugt. Auf der Brücke umzirkeln sich die beiden sodann gegenseitig, betasten sich in einer lange unentschieden wirkenden Kampfgeste ein letztes Mal, um schließlich den letzten Schlag zu zelebrieren – wie in beidseitigem Einvernehmen. Ichi, der den Körper seines Gegenübers intim kennt – er hat Hirate beim Fischen belauscht, ihn massiert, mit ihm getrunken, intensiv mit ihm gesprochen und seine letale Krankheit an dessen Atem abgelesen –, wählt einen Hieb, durch den das Leben schnell und möglichst schmerzfrei aus Hirates Leib weicht. Zugleich gibt die Art des Hiebs diesem noch die Gelegenheit, letzte Worte zu sprechen und Ichis Kampfkunst voll anzuerkennen. Ichi hält ihn zum Abschied brüderlich im Arm und spürt, wie Hirates Leben entschwindet. Seine Gesichtszüge verzerren sich leidvoll (Abb. 1-2). Dem Held kommen die Tränen – bestimmt aus vielerlei Gründen, sicherlich jedoch, da er einen solchen Giganten, einen der wenigen, die ihm in seiner Kunst gleichgestellt waren, von eigener Hand umgebracht hat (und das, ohne ihn nach optischen Maßstäben je gesehen zu haben). Sanft lässt er Hirate zu Boden gleiten, um dessen Gesicht mit einem Tuch zu verhüllen. Euthanasie aus Liebe – mit diesem Schlag hat der Blinde den unumkehrbaren Sterbeprozess des tuberkulösen Hirate beschleunigt, ihm den letzten Dienst erwiesen. Und dennoch scheint Ichi zu ahnen: Schuldgefühle und Trauer werden ihn von nun an begleiten. Er bezahlt Hirates Beerdigung von beim Würfelspiel Ergattertem und wirft seinem Yakuza-Chef das Geld vor die Füße, das er als Vorschuss für seine Teilnahme am Krieg erhalten hatte – ökonomisch gesehen also ein Nullsummenspiel, das aussagt, dass sich Ichi fürs Töten nicht bezahlen lässt. Darauf entwaffnet Ichi sich selbst, lässt dem getöteten Freund das Schwert, das ihn tötete, auf die Brust legen und verspricht, sein Grab nächstes Jahr wieder zu besuchen, um den Toten erneut zu ehren (vgl. auch The Tale of Zatoichi Continues (1962)). Dies alles zeigt vor allem Pathos in Reinform, Freundesliebe und Hochachtung, die über den Tod hinausreichen.
10 Zuvor hat Hirate seinen Freund – der Name fällt im Film erstmalig – mit „Zatoichi“ angerufen. Ironisch bezeichnet er ihn hierdurch als jemanden, von dem sich Ichi im ganzen Film zu entfernen sucht: ein in der Gesellschaft der Sehenden und der Blinden niedrig gestellter Blinder.
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Abb. 1-2 Hirate und Ichi in letzter Umarmung
B LINDHEIT – E MANZIPATIONSPOTENZIALE Wie verbindet sich in The Tale of Zatoichi die Eigenwilligkeit des Protagonisten mit der Darstellung seiner Behinderung? Zu Beginn des Films wird Ichi als umherwandernder, stolpernder, strauchelnder und depotenzierter Blinder eingeführt. Als er eine schmale Bretterbrücke passieren will, tritt er fast ins Leere, da er, der nicht sehen kann, ihre Form verkennt. Letztlich krabbelt er auf allen Vieren über sie und muss sich auch im Weiteren immer wieder per Blindenstock seines Wegs rückversichern. Diese Demonstration von Disability und Versehrtheit erzeugt eine Identifikationsfläche mit den konkreten Auswirkungen seiner visuellen Sinneseinschränkung. Die Zuschauer/innen werden eingeladen, in nun folgenden Situationen lösungsorientiert für ihn mitzudenken. Dies ist vor allem bemerkenswert, da die Zuschauenden nicht, wie gewohnt, in Ichis Augen hineinschauen können: seine Augenlider sind fast durchgehend fest geschlossen. Die ‚Fenster zu seiner Seele‘ sind unsichtbar und dennoch wird Identifikation ermöglicht, und zwar mit Ichi als einem nicht-sehenden Subjekt, das aus ununterbrochener Dunkelheit heraus agiert:
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We cannot see through his eyes or look into them and this encourages an identification with his blindness [… .] His sword strokes, executed from within his permanent darkness, seems almost to slash through the screen on which we watch the movie.
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Durch die Einübung von Empathie, flankiert von der Bezeugung seiner Schwertschläge (das Schwert fungiert als potente Augenprothese oder Sehhilfe, mithilfe dessen Ichi die umliegende Welt ertastet und ‚bearbeitet‘), werden die Zuschauenden im Weiteren befähigt, die Geschichte seiner Emanzipation in verschiedenen Stufen zu verfolgen. Ichis erste Konfrontation mit der Gemeinschaft der Yakuza-Gangster findet beim Würfelspiel statt. Als Blinder wird er von den anderen Spielern aufgezogen. Anstatt seine Blindheit jedoch zu verbergen oder zu überspielen, nutzt er sie als strategischen Vorteil. Er spielt seinen Spielgegnern vor, er sei etwas tollpatschig und beherrsche das Würfelspiel aufgrund seiner Unfähigkeit, das Spiel sehend zu verfolgen, nicht korrekt, er sei nicht Herr der Lage. Seine Mitspieler unterschätzen daraufhin seine Würfelspielkünste derart, dass sie sich dazu verleiten lassen, auf sein Verlieren eine hohe Summe zu setzen. Durch einen Trick – Ichi hört wie die Würfel im Becher aneinanderstoßen und in welcher Position sie niederfallen – gelingt es Ichi im entscheidenden Augenblick, die volle Summe abzuräumen. Im Anschluss beschuldigt er die Spielergemeinschaft, sie habe Vorteil aus seiner Beeinträchtigung schlagen wollen. Derart moralisch zurechtgewiesen, lassen die Übertölpelten ihn verdutzt gehen. Auch in anderen Filmszenen irritiert der blinde Ichi die ungeschriebenen Gesetze der Gemeinschaft, ihre Abwertungs- und Exklusionsmechanismen, durch einen emanzipierten und virtuosen Umgang mit seiner von der Norm abweichenden Sinnesbeeinträchtigung. Seine marginalisierte Position erlaubt ihm, punktuell performativ zu intervenieren. So decouvriert er die Lasterhaftigkeit, Feigheit und den vorurteilsbeladenen Kleinmut ihrer Mitglieder; zugleich eröffnet er ihnen jedoch auch neue, ungewohnte Möglichkeiten sozialer Interaktion, indem er ihnen letztere selbst vorlebt. Vor dieser Negativfolie erstrahlt Ichi als kühn, seelenstark, edelmütig, großherzig und voll innerer Stärke und stellt doch zugleich eine kontinuierliche und todbringende Wehrkraft dar, die Ungerechte(s) zur Strecke bringt. Ichi, der größtenteils zurückhaltend und freundlich, gelassen und besonnen wirkt, setzt auch noch in anderen Situationen gut gewählte Worte wie Waffen ein. Der Respekt vor seiner Person wächst von einer emanzipatorischen Rede zur nächsten. Eine beeindruckende Demonstration seines wachen Geistes und seiner Eloquenz findet statt, als Ichi – selbst ungesehen – die Yakuza-Gemeinschaft dabei belauscht, wie sie seine Person neuerlich herabsetzt, beleidigt und als ehrlos dar-
11 Geoffrey O’Brien: On the Road with Zatoichi, 25.11.1913, vgl.: www.criterion.com/current/posts/2971-on-the-road-with-zatoichi, letzter Zugriff am 19.05.2015.
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stellt. Kurzerhand erhebt er seine Stimme und erklärt, worin seine Motivation bestand, drei Jahre zuvor den Schwertkampf zu erlernen. Die Zuhörer erfahren, dass er sich nicht mit dem limitierten Schicksal zufrieden geben wollte, das einem Blinden in der damaligen Edo-Zeit zustand: einer Karriere als Masseur, Akupunkteur oder Musiker, oftmals galten Blinde auch als taub, stumm oder geistig behindert. In Großaufnahme wird gezeigt, wie sein infolge der Kompensation seines Blindseins übermäßig gut ausgeprägter Gehörsinn auf eine brennende Kerze fokussiert (Abb. 3). Ein paar Sekunden später kniet er neben ihr, greift sie mit der einen Hand und wirft sie so geschickt in die Luft, dass die nach oben gewandte Klinge seines blitzschnell gezogenen Schwertes sie der Länge nach zerteilt. Als sie auf den Tatami aufschlägt, brennt sie noch immer. Durch diesen Beweis für vollendete Kunstfertigkeit versucht Ichi, die abschätzige Vorcodierung als Blinder zu modifizieren und neuklassifiziert zu werden – als ein Blinder, der seine Fähigkeiten bis zur Perfektion ausgebildet hat, der sich zu helfen weiß und dessen Lebensweg über das ihm zugedachte Schicksal hinausweist.
Abb. 3 Der extraordinäre Gehörsinn Ichis in Großaufnahme Auch für den weiteren Verlauf des Films gilt: Statt sich einzufügen und seine Fertigkeiten für das Kollektiv fruchtbar zu machen, plädiert Ichi für Unabhängigkeit und das Exzeptionelle. Er erfindet seine eigene Form von Moralität, Legitimität und Gesetzesmacht, die nicht selten mit dem gesellschaftlich Gewohnten kollidiert und manchmal auch wie Selbstjustiz anmutet. Dies scheint ihm der einzige Weg, sich wahren Respekt zu verschaffen. Wenn überhaupt, passt er sich nur temporär oder scheinbar an das ihn umgebende Kollektiv an. Für die politischen Zwecke anderer lässt er sich nicht vereinnahmen und transzendiert auch hierdurch die für ihn vorgesehene Position. Seine Souveränität und Eigengesetzlichkeit scheinen ihm das wichtigste. Außerdem führt er vor, dass männliche Macht- und Herrschaftssysteme, die die Yakuza-Gemeinschaft strukturieren, als Ordnungs- und Schutzsysteme an entscheidender Stelle versagen. So rettet Ichi eine von Vergewaltigung und ihrem Bruder, der als ihr Zuhälter auftritt, bedrohte Frau auf eigene Faust. Schlussendlich
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tötet er den Bruder, indem er ihn mittels seines Kegelhuts, den er als Schild verwendet, von einem erhöhten Gehweg aus in den Sumpf hinabstößt. Seine Augenpartie wird in besonderer Weise inszeniert, als Ichi in einer der letzten Szenen des Films seine ansonsten stets geschlossenen Augenlider plötzlich weit aufreißt und dabei ihre getrübte Iris entblößt (Abb. 4). Der Blinde schaut den Gangsterboss an, tritt in direkten Kontakt mit ihm. Mit einer Wortkaskade weist er den Boss zurecht, der sich während der kriegerischen Auseinandersetzung zur rechten Zeit feige aus der strategischen Verantwortung gezogen und damit den Tod zahlreicher Bandenmitglieder in Kauf genommen hatte. Durch das unvermittelte Präsent-Werden trifft sein vormals absenter, nun wutentbrannter ‚blinder Blick‘ umso stärker – ein filmrhetorisch versinnbildlichtes Oxymoron. Das ‚blinde Sehen‘, diese contradictio in adiecto, zeitigt nicht nur dramatisch gesteigerte Momente, sondern bringt Unvereinbares in einem Gegensatzpaar zusammen. In allen geschilderten Szenen zeigt Ichi seinen Mitmenschen, wie sehr sie ihre Sehkraft daran hindert, Situationen richtig einzuschätzen, auf ihr Herz zu hören und das moralisch Richtige zu tun. In seiner Gerechtigkeitsliebe, flankiert von dem Prinzip eines zornigen Gottes, bildet er eine unerreichte, nahezu unverwundbare Bastion. Sie ist aber zugleich auch der Grund, warum er in seiner Blinden-Enklave immer einsam blei12 ben und weiterziehen muss.
Abb. 4 Ichi als zorniger Gerechtigkeitsgott
12 Zu Aufrichtigkeit, Einsamkeit, Scheitern vgl. Ivan Morris: Samurai oder Von der Würde des Scheiterns. Tragische Helden in der Geschichte Japans. Frankfurt a. M.: Insel 1989 [1975].
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A NTIKRIEGSBOTSCHAFT Wie ist die Blindheit in The Tale of Zatoichi kultur- und zeitgeschichtlich gerahmt? 13 Stellt Ichi eine fiktionale Allegorie auf kriegsversehrte Körper dar, die infolge des Zweiten Weltkriegs massenhaft im Straßenbild Japans präsent waren und die sich, genau wie er, einen Platz in der japanischen Gesellschaft erkämpfen mussten? Und was bewirkt die Tatsache, dass der Film den durch Krieg zerrütteten Kollektivkörper in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurücktransponiert? — Zunächst ist festzustellen, dass die Ursache für Behinderung in The Tale of Zatoichi nicht direkt mit Krieg in Verbindung gebracht wird. Ichis seit seiner Kindheit bestehende Blindheit – im Übrigen ebenso wie die Tuberkulose Hirates, die durch Ansteckung hervorgerufen wird und die dieser lange zu verbergen sucht – kann kaum als ästhetisierte materialisierte Kriegsgewalt gelesen werden. Dennoch erhält die Repräsentation von Behinderung in The Tale of Zatoichi ihre Brisanz und Dringlichkeit sicherlich durch das damals in der Gesellschaft omnipräsente Bild von Kriegsversehrtheit. Darüber hinaus werden über Ichis Kampfkunst (Anti-)Kriegsdiskurse neu verhandelt, denn seine Figur transportiert grosso modo eine pazifistische Botschaft. Wie gelingt dem Film der Kunstgriff, tödliche Schwertkunst mit Pazifismus zu vereinbaren? Anders als die kampflustigen Yakuza-Mitglieder umgeht Ichi kämpferische und kriegerische Auseinandersetzungen weitestgehend. Er kämpft und tötet nicht aus Lust oder zum Selbstzweck und auch nicht wegen des Showeffekts, sondern nur gezielt, falls er sich selbst verteidigt oder das Töten für unumgänglich hält. Man sieht ihn im gesamten Film überhaupt nur zweimal aktiv kämpfen: Einmal in Selbstverteidigung, als er des Nachts im Wald verfolgt und angegriffen wird. Hier löscht er das Licht seiner Laterne, bevor er sein Schwert zieht, um gleiche Bedingungen unter den ungleichen Kämpfenden herzustellen. Anstatt die ihn anfallenden 14 Gegner zu töten, verletzt er sie gründlich. Das andere Mal kämpft er im oben detaillierter beschriebenen Endkampf mit Hirate. Dieser ist zwar als Stellvertreterkampf angelegt, um weiteres Blutvergießen zwischen den rivalisierenden Banden
13 Zum Konnex Kriegsversehrtheit und Zweiter Weltkrieg vgl. Maren Möhring: Kriegsversehrte Körper. Zur Bedeutung der Sichtbarkeit von Behinderung. In: Anne Waldschmidt, Werner Schneider (Hrsg.): Disability Studies. Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung. Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld. Bielefeld: transcript 2007, S. 175-197. 14 Ichi muss sich auch in anderen Situationen Leute vom Leib halten, die er mit seiner Eigenständigkeit und -willigkeit aggressiv gemacht hat. Er findet hier jedoch durchgehend nicht-kriegerische Wege.
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zu verhindern, dient jedoch eigentlich dem oben beschriebenen Zweck, Hirate in 15 den Tod hinüberzuhelfen. Auf außerdiegetischer Ebene hat die Transposition in die Zeit um 1840 noch einen anderen Effekt. Ichi fungiert als nostalgische Figur; in ihr sind traditionelle Werte aus der Zeit vor der Meiji-Restauration und der Modernisierung, Verwestlichung und Industrialisierung Japans, vor der Depotenzierung der Tokugawa-Shogunate, dem Entzug der Besoldung von Samurais und dem Verbot von 1876, zwei 16 Schwerter zu tragen, konserviert. In der fiktiven Figur des blinden Ichi, der mit der alten, traditionsreichen Bushido-Wehrkraft gewappnet ist, konnte sich das japanische Kollektiv in den 1960er Jahren seiner verloren geglaubten Potenzen aus einer vergangenen Ära rückversichern.
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KÄMPFEN
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Wie wird das Motiv ‚blinden Sehens‘ in The Tale of Zatoichi portraitiert? Ichi kämpft mit anmutiger Eleganz und akrobatischer Präzision, ohne sehen zu können, mit geschlossenen Augen. Die Scheide seines Schwertes ist zugleich sein Blindenstock, eine perfekte Tarnung. Der zweckentfremdete Blindenstock, der traditionell für Hilflosigkeit, Devianz und Mangel steht, nun jedoch Ichis Kampfmittel birgt und tötet anstatt zu tasten, ist ein Medium, das übermäßige kämpferische Potenz zum Ausdruck bringt, er stellt eine ausgeweitete Sinneszone dar. Der Samurai Ichi verwendet einen seltenen Kampfstil des Iaijutsu, bei dem er das Schwert einhändig blitzschnell zieht und mit der Klinge nach unten führt. Sein Schwert/Blindenstock 17 ist seine Waffe und paradoxerweise Symbol seiner Macht; es steht seiner Imperfektion gegenüber, die, psychoanalytisch gewendet, das vormals kastrierte phallische Prinzip ersetzt. Das Schwert, verborgen im Blindenstock, eine Metapher für Selbstermächtigung, ist Surrogat und lenkt in der Funktion eines Fetischs von Zatoichis krisenhafter Männlichkeit, seiner Blindheit, ab. Erst Ichis seit seiner Kindheit versiegtes Augenlicht hat es notwendig gemacht, dass er es in der Kunst des Schwertkampfs zu unerreichbarer Meisterschaft bringt. Nun ist er potentiell selbst in der Position, kastrieren zu können (und anderen das Sehvermögen zu rau-
15 Hirates Kampfeinsatz hingegen verkörpert, oberflächlich betrachtet, die gemeinschaftsstabilisierende Botschaft, dass selbst der tödlich erkrankte Angestellte von seinem Sterbebett aufstehen kann, um seinen Chef, der im Krieg kurzerhand für ihn einspringen wollte, vor Verwundung oder Tod zu beschützen. Und so fordert Hirates Schwertkunst auf der gegnerischen Seite noch zahlreiche Opfer, bevor er von Ichi niedergestreckt wird. 16 A. Silver: The Samurai-Film, S. 20. 17 Titiaan Stuurman, Roman Schnittker: Iaido. Der Weg des Schwertes. Libri Books on Demand 2000, vgl. insbesondere S. 13 ff.
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ben, wie in Zatoichi – Der blinde Samurai (2003) ausbuchstabiert wird). Was Ichi so ungeheuer-sympathisch macht, ist, dass er gewissermaßen Resilienz beweist und seine Vielfachtraumatisierung, den Verlust seiner Eltern, seinen niedrigen sozialen Status sowie seine Blindheit und die auf ihr fußenden Herabsetzungen, in Kraft verkehrt. Ergebnis dieser Kompensationslogik ist, dass er von einem, dem penetrierenden Augenlicht, nichts, von anderem aber ganz viel hat. Der Film erkundet die Frage: Wie kann man auf solch hohem Niveau kämpfen, ohne das Geringste sehen zu können? Im Rezeptionsprozess wird immer deutlicher: Ichi beherrscht seine Klinge mit derart fabulöser Akkuratesse und Treffsicherheit, gerade weil er sie in völliger Dunkelheit führt. Indem er den innerlich vorentschiedenen Weg des Schwertes mit dem der materiellen Klinge akkordiert, landet er 18 einen Treffer. Dabei bezieht er Wissen über die Mentalität, Körperposition und Pläne des Gegenübers mit ein, das er zuvor unbemerkt gesammelt hat. Durch seine Masseurtätigkeit ist Ichi ein intimer Kenner des menschlichen Körpers und seiner verwundbaren Stellen. Im Kampf tastet und spekuliert Ichi nicht, er antizipiert und weiß, wo und in welcher Pose sich der gegnerische Körper befindet. Das Wissen hierzu liefern ihm seine motorischen, auditiven und taktilen Erkundungen, die er ohne Unterlass anstellt – gesammelte Daten, die absolut notwendig für sein Überleben sind. Ichi verkörpert das „Phantasma absoluter Meisterschaft“ ohne Ausset19 zer, er bekleidet eine ähnliche Allmachtsposition wie Super-Heroen, auch in seinem Fall wechseln sich De-Potenzierung und Wiederaneignung von Potenz stetig ab. Dass er aus der Negativität des Nicht-Sehens heraus agiert, verschafft ihm nicht selten sogar handfeste Vorteile gegenüber seinen Gegnern. Anders als er sind diese beispielsweise im Dunkeln – im Übrigen genau wie die Zuschauenden, die auf eine nahezu dunkle Leinwand schauen – völlig desorientiert (das Dunkel wird als das ‚Andere‘ des Kinos adressiert, das unbedingte Sichtbarkeit und umfassende Dar20 stellung verspricht und die „Sehsucht“ seines Publikums zu befriedigen sucht) . In der oben bereits erwähnten Selbstverteidigungsszene löscht Ichi die einzige Lichtquelle, die für seine Angreifer im nächtlichen Wald Orientierung stiftet. Da er das
18 Jacques Derrida beschreibt eine ähnliche Konfiguration für blindes Schreiben in ders.: Aufzeichnungen eines Blinden. Das Selbstportrait und andere Ruinen. München: Fink 1997, S. 9-127, hier S. 11: „Die Hand eines Blinden […] tastet, fühlt oder streichelt, während sie schreibt, sie vertraut auf das Gedächtnis der Zeichen und supplementiert das Sehen, so als öffne sich ein lidloses Auge an der Spitze der Finger: ganz nah am Nagel wächst das Auge zu viel, ein einzelnes Auge, das Auge eines Einäugigen oder Zyklopen. […D]as Bild dessen, was dieses Auge am Finger niederschreibt, zeichnet sich dabei in mir [dem Schreibenden] ab.“ 19 G. O’Brien: On the Road with Zatoichi. 20 St. Ripplinger: I Can See Now, S. 25.
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Prinzip der Dunkelheit wesentlich besser kennt als seine Kontrahenten, ist er ihnen im Kampf weit überlegen. Auch die Zuschauenden sind in der Waldszene von The Tale of Zatoichi nahezu mit Blindheit geschlagen, die sie strukturell in die gleiche Position wie die Angreifer drängt. Die Dunkelheit auf optischer und objektanalytischer Ebene macht dem Zuschauenden zu schaffen, der Konnex von Sehen und Erkennen wird im Kinosaal instabil. Alle sehenden Augen sind hier außer Kraft gesetzt. Entscheiden sich die Zuschauenden dafür, sich weiterhin mit Zatoichi zu identifizieren (und nicht zusammen mit den Angreifern verwundet zu werden), müssen sie exakt das tun, was er tut: ‚blind sehen‘. So lernen sie von Zatoichi, wie man statt des Sehens – normalerweise absolute Grundbedingung für den Kampf mit scharfen Klingen – andere (innere) Kräfte mobilisiert, um zu siegen. Aus ihrer plötzlichen Impotenz heraus müssen sie sich von Ichi führen lassen, um symbolisch zu überleben. Der Film stellt hierdurch den Sinn und die Durchschlagkraft des Sehens, als Medium der Orientierung und angebliche Voraussetzung für jegliches Handeln, essentiell in Frage. Ichi streckt seine Tentakel über andere Sinneskanäle als den herkömmlichen Sehsinn in die Welt aus, namentlich durch sein übermäßig gut ausgeprägtes Gehör sowie seinen extraordinären Tast- und Geruchssinn (und sein Schwert). Dies kommuniziert der Film in zahlreichen Großaufnahmen seines Gesichts, die situationsbedingt die Tätigkeiten von Nase, Mund oder Ohren betonen. (Ichi kann seine Ohren wie Antennen bewegen.) Dieses erscheint, ganz im Sinne einer Überlegung des deutsch-ungarischen Filmtheoretikers Béla Balazs, als physiognomische Landschaft, als im Film größtmöglicher symbolischer Bedeutungsträger und -erzeuger. Balazs zufolge ist die Großaufnahme per se ein Gesicht. Sie abstrahiert von allen raumzeitlichen Koordinaten und schafft ein Stehen-Bleiben der Zeit. Gerade hier21 durch öffne sich ein grenzenloser dynamischer Raum. Die Großaufnahmen von Teilbereichen von Ichis Gesicht sind in The Tale of Zatoichi derart mit anderen Einstellungen montiert, dass dasjenige, auf das Ichi gerade fokussiert, deutlich wird. Auf diese Weise lernen die Filmrezipierenden, wie ihm sein akkurater Geruchsund Gehörsinn räumliche Orientierung verschaffen. Wie seine Masseurhände, die Schwachpunkte des Gegenübers erspüren, fungiert seine Klinge dabei als Fühler. Nicht selten wirkt es, als verfüge der todbringende Kämpfer über den sechsten Sinn. Ähnlich wie bei der blinden antiken Dramenfigur Teresias die seherischen, visionären Kräfte verwandelt dieser zusätzliche Sinn sein Manko in Hypersensibilität. Ichi ist auf eine Weise blind, die ihn mehr als Sehende sehen lässt. Er überkompensiert seine Schwachstelle durch einen grenzenlosen und leidenschaftlichen sensuellen Appetit. Seine verbleibenden Sinne hat er in immenser Weise geschärft,
21 Vgl. das Kapitel über die Großaufnahme in Béla Balázs: Der sichtbare Mensch: oder Die Kultur des Films. Wien u. a.: Deutsch-Österreichischer Verlag 1924, S. 73ff.
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seine Hyperpotenz erwächst aus einer Synthese der hoch ausgeprägten anderen Sinne. Auf seine Weise kann er trotzdem ‚sehen‘. Diese Zusatzkraft bedingt, dass er weder zur Welt der Sehenden noch zur Welt der Blinden zählt – er existiert im Dazwischen. Er wird von keiner als Mitglied akzeptiert, ist ewiger Grenzgänger und lebt in einem Zwischenreich: zwischen Sehenden und Blinden, Gesunden und 22 Beeinträchtigten. Ein kurzer Dialog fasst den positiven Effekt seiner Blindheit zusammen. Als Objekt von Hänseleien, Streichen und Betrug wird Ichi häufig unterschätzt. Er konstatiert: Whether you call me blind or crippled, I won’t object because it’s the truth. But I won’t allow people to look down on me just because I’m blind. […] I took on sword training so people like you, who can see, would treat me with respect.
Sein Chef in spe folgert: Being able to see is almost a handicap.
Ichi ist überzeugt, dass ihm einzig seine Schwertkampfkunst Respekt verschafft, ihm bei seiner Emanzipation hilft, die auch dann nötig wird, wenn ihn sein Leiden einzuholen und er in Schmerz, Selbstzweifel und Solitude zu versinken droht. Das von Ichi Gesehene ist nicht mit der Bildlichkeit externer Wirklichkeit identisch. Dadurch wird letztere als nur eine Darstellungsart von Realitätswahrnehmung erkenn- und somit anzweifelbar. Indirekt wird hierdurch die formale Verfasstheit des Kinos, der Status der wahrzunehmenden Filmbilder, die kinematographische Sprache selbst, unklar (auch die Kinobilder decken sich nicht mit den möglichen subjektiven, höchst unterschiedlich ausfallenden Wahrnehmungsweisen von 23 Welt) . Auch wenn die Zuschauenden keinen direkten Einblick in Ichis ‚Sehweise‘ bekommen, sie wird filmisch nicht nachgeahmt, interessieren sie sich zunehmend für sie, als ein Parallelsystem, das Ichi weit trägt. Es gibt nur wenig, was Sehende über die ‚Sehweise‘ Nicht-Sehender wissen, wie sie aus den gewonnenen Daten der anderen Sinne innere Bilder generieren und daraus Handlungen und Bewegungen ableiten. Ichi leitet uns an, wie wir anders sehen und imaginieren können.
22 G. O’Brien: On the Road with Zatoichi. 23 Maurice Merleu-Ponty: Das Kino und die neue Psychologie [1945]. In: Ralf Konersmann (Hrsg.): Kritik des Sehens. Leipzig: Reclam 1999 [1997], S. 227-246, bes. S. 238 u. 242.
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2. Zatoichi – Der blinde Samurai (2003), der 40 Jahre später entstanden ist, adaptiert zahlreiche Motivstränge der Zatoichi-Filmreihe und anderer Samuraifilme der 1960er und 1970er Jahre und übersetzt sie in eine selbstreflexive ironisch gebrochene postmoderne Form. Welche Traditionen der Zatoichi-Filme werden zitiert und in welcher Weise werden sie modifiziert oder karikiert? Zatoichi – Der blinde Samurai lässt den Leinwandhelden vier Jahre nach Katsus Tod wiederauferstehen, diesmal gespielt von dem Regisseur Kitano selbst. Auch dieser Film schließt an wesentliche Punkte der jahrtausendealten Geschichte der Samurai an, ironisiert jedoch im 19. Jahrhundert mit dem „Samuraigeist“ assoziierte Komponenten wie Mut, Furchtlosigkeit, Besonnenheit, Aufrichtigkeit, Pflichterfüllung, unbedingte Opferbereitschaft und prinzipielle Todesbereitschaft.24 Doch auch in diesem Film wird das Blindenmotiv mittels präzise ausgeführter Schwertkampfkunst symbolisch aufgewertet. Auch Zatoichi aus Zatoichi – Der blinde Samurai ist ein herrenloser und nomadisierender Masseur und Würfelspieler, der keinem Shogunat untersteht. Wie Ichi bewegt er sich in einem gesetzes- und religionsfreien Raum, in dem es keine eindämmende Gewalt gibt, was sich in zahlreichen drastischen Gewaltaktionen ausdrückt. Zatoichi exekutiert seine eigene Rechts- und Gewaltordnung mit dem Schwert. In der Exposition des Films demonstriert der Samurai konzentriert und unfassbar geistesgegenwärtig seine besondere Fähigkeit, seine Umgebung abzulauschen und daraus notwendige kämpferische Handlungen abzuleiten. Anders als seine Vorgänger wird Ichi nicht von sozialer Einsamkeit geplagt. Auf seiner Reise wird er immer wieder Zeuge von Ungerechtigkeiten oder Menschen treten mit ihren Sorgen an ihn heran. Er verbündet sich mit den Marginalisierten und findet temporäre Heimatorte. In drei Rückblenden werden prägnante Ausschnitte aus den Biographien vierer für die Filmhandlung relevanter Figuren gezeigt: ein Geschwisterpaar, das seit der Kindheit als Geishas verkleidet durch die Lande zieht und in Wahrheit den gewaltsam herbeigeführten Tod ihrer Eltern rächen will (gegen Geld bietet der Bruder seinen Körper Männern an, damit sie sich etwas zu essen kaufen können); eine alleinstehende Frau mittleren Alters, die von Mitgliedern einer skrupellosen Bande durch das tägliche Eintreiben von illegalen Schutzgeldern in Schach gehalten wird; ein Mann namens Hattori Genosuke, der Geld eintreiben muss, um seiner Frau Medizin kaufen zu können, und Zatoichis Hauptgegenspieler werden
24 Kitano spielt mit den männlich codierten Samurai-Diskursen und verhandelt ihre Inhalte kritisch: Ein nur mit einem Lendenschurz bekleideter, wild um die Holzhütte, in der Zatoichi längere Zeit weilt, kreisender irrer Nachbar fühlt sich als tapferer Samurai. Die Anti-Ikone, die er darstellt, kündet von dem Ende der Faszinationsgeschichte dieser Heroen-Spezies.
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wird. Mit Ausnahme von Hattori eint diese Figuren, dass sie von Bandenmitgliedern tyrannisiert wurden oder werden und einen schlagkräftigen Helfer in Zatoichi finden.
Z WEI -S CHWERT -K ÄMPFER
UND ERSTER
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Wie Hirate in The Tale of Zatoichi wird Hattori entsprechend lange als böser Kontrahent aufgebaut, damit der schlussendliche Sieg über ihn umso glorreicher erscheint. Er stellt sein kämpferisches Schnittig-Sein in beeindruckender Weise gleich mittels zweier Schwerter unter Beweis. Hattori überzeugt den Boss der Ginzo-Bande, ihn als Gefolgsmann zu engagieren, indem er blitzschnell in einer einzigen Bewegung mit seinem Langschwert das Band von dessen Bauch-Quaste durchtrennt und sein zweites Schwert in das Holz von dessen Sandale steckt – genau zwischen die Zehen –, ohne dass dieser etwas davon bemerkt. Ähnlich wie bei Ichis Kerzenlängsspaltung hält die Kamera auf Gesicht und Oberkörper des Rōnin, während auf der Tonebene der Sound einer wild herumfuchtelnden Klinge zu hören ist. Der Gegenschuss zeigt den Boss, wie er dieser Aktion intuitiv mit seinem Kopf ausweicht. Alternierend sind die Konterfeis von Schwertmeister und Boss montiert, um darauf in zwei Stufen und jeweils in Großaufnahme das desaströse Ergebnis zu präsentieren: die ruinierte Quaste und die um Hattoris Klinge erweiterte Sandale. Der Boss lobt Hattori und lächelt zufrieden. Einige Szenen später ist zu sehen, dass der Zwei-Schwert-Kämpfer zu seinem ersten Auftragskiller geworden ist, um durch seine exzellenten Schwertkampffähigkeiten Feinde aus der Welt zu schaffen und für seine Frau das notwendige Geld heranzuschaffen. Davon, seine Künste derartig vereinnahmen zu lassen, ist Zatoichi weit entfernt. Er stellt dieselben lieber bei anderer Gelegenheit unter Beweis – etwa, indem er spielend leicht Holz hackt und dieses in hohem Bogen hinter sich auf einen immer größer werdenden Stapel wirft. Derlei Übertreibungsgesten sind weitaus stärker als in The Tale of Zatoichi herausgearbeitet. An einigen Stellen wird die übersteigerte Künstlichkeit durch Musical-Einlagen unterstützt, bei denen der Komponist Keiichi Suzuki Landschaft und Kulissen in Klangwelten verwandelt. Im Takt bestellen Landarbeiter mit Hacken den Boden, Handwerker machen Musik, während sie Holzbalken für ein zu errichtendes Haus beklopfen, Regentropfen fallen rhythmisch in Wassereimer, während Bauern zur Regenmusik im Schlamm stepptanzen. Die Musicalspuren kulminieren am Ende des Films in einem gewaltigen Tanzfest-Finale, bei dem die Sympathieträger des Films frohgelaunt tanzend noch einmal nebeneinander auftreten. Das Symbol des Blindenstocks zersplittert symbolisch: Schlagstöcke werden zu Taktstöcken, die Cross-Dressing- und Täuschungsaspekte des Films werden durch Masken angedeutet. Subversion und Täuschung werden als maßgebliche Prinzipien des Films offengelegt.
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Ebenso wie die Musik- und Tanzeinlagen wirken auch die Kampfszenen übersteigert und verfremdet. Zatoichi stellt seine kämpferische Potenz in zahlreichen Schlachten mit aufwendigsten Blut- und Wundinszenierungen unter Beweis. Im Vergleich zu The Tale of Zatoichi enthält dieser Film ungleich brutalere viszerale Gewaltdarstellungen, Blut spritzt fontänenartig, der Angestochene duscht vielfach 25 in seinem eigenen Blut. Einen Höhepunkt erreicht der Body Count, der in diesem Film wesentlich höher ausfällt als in The Tale of Zatoichi, in der Szene, in der Zatoichi im Regen gegen eine ganze Schar Widersacher kämpft. Hier wird Computeranimation eingesetzt, um durchtrennte Gliedmaßen lebensecht ins Bild zu setzen, Slow Motion und langsame Kamerafahrten, um zu dramatisieren; das umherspritzende Blut vermischt sich mit dem Regen und durchtränkt den Boden des Schlachtfelds, das am Ende acht Leichen zeigt. Nicht nur in dieser Szene werden die Leichen nach vollbrachter Tat mittels des wie tastend über sie gleitenden Kameraobjektivs gezählt. Der Showdown mit dem angeblich unbesiegbaren Gefolgsmann Hattori fällt in Relation zu den zahlreichen Vorankündigungen, Vorwegnahmen und Vorbereitungen zu diesem Endkampf knapp aus. Zatoichi fragt im Vorfeld einen Freund: „Ist dieser Gefolgsmann wirklich so stark?“ – „Ja, bärenstark.“ – „Wenn ich in der Nacht mit ihm kämpfen würde, wer von uns wäre stärker?“ – „Wenn es stockfinster wäre, dann würde keiner von Ihnen beiden etwas sehen. Dann wären Sie womöglich der Stärkere“. Der Showdown findet dann doch nicht in völliger Finsternis, sondern an einem Strandstück statt, das von einem brennenden Holzscheitstoß erleuchtet wird. Als die beiden in Sichtentfernung aufeinandertreffen, schleudert Hattori das kürzere seiner beiden Schwerter nach Zatoichi, nachdem er versucht hatte, diesen zunächst durch das Lockern seines Langschwertes akustisch zu täuschen. Zatoichi kann das Kurzschwert jedoch abwehren. Als Zatoichi vor ihm steht, schließt Hattori aus dessen Art, den Schwertgriff anzufassen, wie der Blinde seinen nächsten Schlag auszuführen gedenkt. Für einige Sekunden ist filmisch zu sehen, wie Hattori den Schlagabtausch daraufhin plant. Hattori lächelt siegesgewiss. Doch Zatoichi nimmt ihm den Vorsprung, indem er im letzten Augenblick die Position seiner Hand auf Griff und Scheide verändert und seine Kampfbewegung blitzschnell ausführt. Die Antizipation Hattoris läuft ins Leere und Zatoichi entscheidet den Kampf für sich. Den Nachteil, den er gegenüber dem Sehenden und dessen vorauseilender Interpretation der von ihm selbst angedeuteten Kampfaktion hätte ha-
25 Zur Exegese von Blutdarstellungen im Film vgl. Julia B. Köhne: Artikel „Filmblut“. In: Marius Böttcher u. a. (Hrsg.): Wörterbuch kinematografischer Objekte. Berlin: August 2014, S. 48-50; dies.: Let it bleed. Der Konnex von Blut und Trauma in Brian de Palmas Carrie (1976). In: Claudio Biedermann, Christian Stiegler (Hrsg.): Horror und Ästhetik. Eine interdisziplinäre Spurensuche. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft 2008, S. 50-71.
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ben können, wusste Zatoichi durch das Täuschungsmanöver in einen Vorteil zu verkehren.
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UND ZWEITER
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Auch in Zatoichi – Der blinde Samurai wird das Motiv des ‚blinden Sehens‘ bis kurz vor Ende des Films, das mit einer Überraschung aufwartet, in mannigfachen Variationen ventiliert. Im Verlauf des Films trifft Zatoichi verschiedene Aussagen über die Qualität seiner ‚Sehfähigkeit‘. Zu einer warmherzigen Frau, mit der er sich später befreundet und neben der er, in ein vertrautes Gespräch vertieft, hergeht, meint er: „Das würde ich zu gerne sehen“. Im Würfelspiellokal erwidert er auf die Frage seines Sitznachbarn: „Wollen Sie nicht wetten?“ – „Lassen Sie mich erst eine Weile zusehen“. Als der Nachbar entgegnet: „Was für ein Blödsinn. Was soll ein Blinder schon sehen?“, lacht Zatoichi in sich hinein. Kurz darauf räumt er den gesamten Spieleinsatz aller Spieler ab. Genau wie im Vorläuferfilm von 1962 hat Zatoichi die Lage der Würfel an ihrem Klang im Würfelbecher erkannt und hört, ob sie eine gerade oder ungerade Augenzahl anzeigen. Sein Nachbar, der ihm in dieser Kunst nachzueifern versucht, erkennt schließlich: „Wenn man die Augen geschlossen hat, dann schärft das die Sinne“. Als der Croupier versucht, Zatoichi im Gegenzug auszutricksen, schlägt dieser die Spielergemeinde nieder und bringt damit den Ginzo-Klan gegen sich auf. Dieser wiederum sendet seinen stärksten Schwertkämpfer Hattori aus, um Zatoichi im Endkampf zu töten. Stattdessen tötet Zatoichi ihn und macht einen ersten heimlichen Anführer der Kuchinawa-Bande unschädlich: In der Konfrontation mit dem als harmloser älterer Diener getarnten Anführer kommt heraus, dass Zatoichi ihn bereits bei ihrer ersten Begegnung an seinem einzigartigen Körpergeruch erkannt hatte, und dass er die ganze Zeit über nur vorgespielt hat, er wäre blind. Als Entgegnung auf diesen Imperativ: „Hör auf zu schwätzen, Du lächerlicher blinder Maulwurf!“, hebt Zatoichi seinen Kopf und öffnet seine hellblauen Augen mit milchiger Iris. – „Was soll das bedeuten? Du bist überhaupt nicht blind!“ Zatoichi erwidert: „Kein bißchen!“ – „Und warum spielst Du die ganze Zeit den Blinden?“ Zatoichi antwortet, er habe sich blind gestellt und die Augen bewusst geschlossen gehalten, „weil die Blinden ein besseres Gespür für die Menschen“ hätten. Innerhalb von Sekundenbruchteilen zieht er sein Schwert und streckt sein Gegenüber nieder. Darauf knöpft sich Zatoichi auch den zweiten ebenfalls getarnten Anführer der Kuchinawa-Bande vor, der bisher als niederer Bediensteter in der Schenke auftrat. Ogi empfängt ihn mit den Worten: „Vom ersten Mal an, als Du herkamst, wusste ich, dass Du sehen kannst“. Kurz darauf bietet ihm Ogi seinen mit einer Schlange tätowierten Oberkörper dar, um den tödlichen Schlag zu empfangen.
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Stattdessen blendet Zatoichi ihn als Höchststrafe beidseitig (Abb. 5) und setzt hinzu: „Der Tod ist zu gut für Dich. Du sollst Dein Leben als Blinder beenden“.
Abb. 5 Der beidseitig geblendete Boss Ogi Mit dieser Aussage führt Zatoichi seine Emanzipationsgeschichte als vermeintlich Blinder ad absurdum und hebt hier – entgegen der positiven Umwertung des Blindseins im Filmverlauf – das Leiden an dieser Behinderung hervor. Zudem enthüllt der Twist – die Aufdeckung der nur vorgespielten Blindheit –, dass innerfilmische Charaktere und Zuschauende gleichermaßen durch Zatoichi getäuscht wurden, weil ihre Erwartungshaltung ihnen seine tatsächliche Blindheit suggerierte. Im Nachhinein werden sie verunsichert, ob sie aus dem Gesehenen die richtigen Schlüsse gezogen haben oder interpretatorisch nicht vielmehr durchgehend im Dunkeln tappten. Derart durch den Regisseur, Co-Drehbuchautor und Hauptdarsteller Kitano an der Nase herumgeführt, wird ihre Rolle als Wahrnehmende, Zeug/innen und Evidenzkreierende grundlegend herausgefordert. Oder liegen die Dinge doch anders und Zatoichi ist und bleibt ein Blinder, der nur vorübergehend vortäuscht, er könne sehen, um sein Gegenüber im Kampf zu verwirren, wie die letzten Sekunden des Films nahelegen? Hier wird das Motto EinSehender-stellt-sich-blind invertiert. Zatoichi stolpert ironischerweise just in dem
26 Die Bestrafung entspricht einer symbolischen Auslöschung: Fortan kann Ogi weder blicken, noch kann man ihm in die Augen schauen, da diese schlichtweg fehlen. Der ehemalige Anführer wird im Weiteren von dem kommunikativen Akt des Blickens und merklich Angeblickt-Werdens ausgeschlossen sein, da er gewaltsam von ihm getrennt wurde. In der Blendungsszene hält er sich die blutenden Augenhöhlen zu, wie um die Augen doppelt vor seinem Schicksal zu verschließen.
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Augenblick über einen Stein, unterwegs ist (Abb. 6).
in dem er mit geöffneten Augen und als Sehender
Abb. 6 Strauchelnder Samurai mit weit geöffneten Augen
Abb. 7 Aufgemalte Augen: Kann Zatoichi sehen? Er gesteht: „Selbst mit weit geöffneten Augen, sehe ich nicht das Geringste“. Die Frage ist, ob dies im übertragenden Sinn oder als wahres Geständnis gemeint ist. Bereitete Zatoichi diesen zweiten Twist vor, als er sich in einer vorangehenden Szene zum Amüsement seiner Freunde mit schwarzer und weißer Schminke falsche Augen auf seine geschlossenen Augenlider malte (Abb. 7)? Ob der Ausspruch auf
27 Das Stolpern schließt an Ichis Stolpern am Anfang von The Tale of Zatoichi an. Der interfilmische dramaturgische Kreis schließt sich.
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der Metaebene bedeutet, dass Zatoichi – entgegen seiner wiederholten Behauptung im Angesicht seiner Gegner kurz zuvor – schlussendlich doch blind ist, oder es sich um eine die Hybris der Sehenden entmachtende Bemerkung handelt, bleibt offen. Für den Fall, dass Zatoichis Blindheit Teil des Täuschungsspiels und seine Blindheit nur vorgetäuscht war, gelte diese Botschaft auch den Zuschauenden, die als wahre Blinde entlarvt werden, die weder Böse von Guten noch Blinde von Sehenden unterscheiden können.
3. Die prägnanteste Verschiebung des Motivs blinden Schwertkämpfens in Ichi – Die blinde Schwertkämpferin (2008) besteht darin, dass es auf eine weibliche Protagonistin (Haruka Ayase) übertragen wird, diesmal als Würfelspielerin und umherziehende Musikerin portraitiert, und dies geschlechterspezifische Implikationen nach 28 sich zieht. Anders als The Tale of Zatoichi und Zatoichi – Der blinde Samurai, in denen Blindheit und ein Dasein als Samurai den Schwertkampf motivieren, müssen die Wehrkraft und Aggressivität Ichis – wegen ihrer Koppelung an Weiblichkeit – durch eine traumatische Vorgeschichte hergeleitet werden. Ihre Handlungsmotiva29 tion wird durch das Erzählen einer „Backstorywound“ legitimiert, deren Inhalt der Film in intrusiven Rückblenden preisgibt. Hierin ist zu erfahren, dass die Wanderkünstlerin – von Geburt an blind und bei einer Ersatzfamilie bestehend aus vier blinden älteren Musikerinnen aufgewachsen – von einem umherwandernden blinden Samurai, vermutlich ihrem Vater, in regelmäßigen Zusammenkünften angeleitet wurde, sich mit dem Schwert selbst zu verteidigen. Als sie von einem Gast des Künstlerhauses gegen ihren Willen entehrt wird – die Standesregeln ihres Musikerinnendaseins verbieten jedwede intime Zusammenkunft mit einem Mann –, verstößt sie das Musikerinnen-Quartett. Als sie ihren Peiniger bittet, sie zu entlasten, fällt dieser sie erneut an und sie schneidet ihm die Kehle durch. Entsetzt über seinen Tod, geschändet, ohne soziale Absicherung und Lobby macht sie sich auf die Suche nach dem Mann, den sie seit Kindheitstagen für ihren Vater hält. Ein kleines Metallglöckchen, das er ihr bei einem seiner Abschiede geschenkt hatte und das sie
28 Der Vorspann nennt Zatôichi monogatari des Schriftstellers Shimozawa als Referenz. In der japanischen Filmgeschichte gibt es eine ganze Serie Filme, die umherwandernde blinde Schwertkämpfer oder -kämpferinnen portraitieren, die Opfern von Gangsterbanden helfen, sich zur Wehr zu setzen. Vgl. u. a. Sadatsugu (Teiji) Matsudas Die blinde Schwertschwingende Frau (JAPAN 1969, 88 min), basierend auf einer Geschichte von Teruo Tanashita. 29 Michaela Krützen: Dramaturgie des Films: Wie Hollywood erzählt. Frankfurt a. M.: Fischer 2004, S. 35.
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stets bei sich trägt, erinnert sie an ihn und seine liebevollen, wenn auch nur punktuellen Zuwendungen. Bevor sie sich wiedersehen können, verstirbt dieser jedoch. In mehreren Szenen überschreitet Ichi die Grenze typisch weiblicher Eigenschaften wie Zartheit, Fürsorglichkeit, Sanftmut und damit den Rahmen maximaler weiblicher Handlungsmacht. Auch fehlt in ihrer Figurenzeichnung das für die frühe filmische Zatoichi-Figur, im Film von 2003 bereits abgedimmte, so charakteristische Lachen fast vollständig. Bis auf wenige Ausnahmen hat sie ein nahezu regungsloses, maskenhaftes Gesicht, in dem sich Mimik nur auf der Ebene muskulärer Mikroprozesse abspielt. Wenn sie weint, schreit oder ganz am Ende zart lächelt, hat dies einen umso größeren Effekt auf die Emotionalisierung des Zuschauenden. Zu Beginn von Ichi – Die blinde Schwertkämpferin ist Ichi durch die ihr widerfahrene Vielfachtraumatisierung – die Blindheit, das Dasein als Halb-Waise, die Vergewaltigung, das Verstoßen-Werden, den ungewollten Mord – gegenüber ihren Mitmenschen, auch Kindern, emotional erkaltet. Die erste Filmszene zeigt die Verstoßene aus der Vogelperspektive, wie sie sich allein, unzureichend gekleidet und völlig erschöpft durch den Schnee schleppt. Ähnlich wie die Protagonisten der beiden zuvor besprochenen Filme strauchelt sie und fällt bäuchlings mit dem Gesicht 30 in den Schnee, erhebt sich jedoch aus eigener Kraft wieder. Als sie bei einem Ehepaar Obdach findet und von dem Hausbesitzer erneut sexuell bedrängt wird, 31 schneidet sie ihm mit ihrem Schwert zwei Finger ab. Wie um diese punktgenaue Quasi-Entmannung zu entschuldigen, erklärt Ichi darauf mit blicklosen Augen: „Ich 32 weiß nicht, wo mein Schwert sie erwischt, ich kann es ja nicht sehen“. Erst in die-
30 Eine Reminiszenz an das Ende des japanischen Films Lady Snowblood (1973) von Toshiya Fujita, in dem die Protagonistin Yuki tödlich verwundet und Blut befleckt in gleicher Position in den Schnee sinkt, jedoch nicht mehr aufsteht. Vgl. Julia B. Köhne: Splattering Bride. Konfigurationen von Trauma und weiblicher Rache in Quentin Tarantinos Kill Bill (2003/4). In: Thomas Ballhausen, Günther Friesinger, Johannes Grenzfurthner (Hrsg.): Schutzverletzungen. Legitimation von medialer Gewalt. Berlin: Verbrecher Verlag 2010, S. 55-110. 31 Vermutlich just die beiden Finger, Zeige- und Mittelfinger, die zuvor ihren Intimbereich befühlten – ein Vagina dentata-Motiv. Die Verwandtschaft von Mund und Geschlecht sowie Mythen um die beißende, kastrierende, verschlingende Vagina in eurasisch-amerikanischen Kulturgeschichten, diskursiviert vor allem seit dem 19. Jahrhundert, wird erkundet in Sonja Ross: Die Vagina dentata in Mythos und Erzählung. Transkulturalität, Bedeutungsvielfalt und kontextuelle Einbindung eines Mythenmotivs. Bonn: Holos 1994. 32 Ein weiblich konnotiertes, im Entschuldigungsmodus vorgebrachtes Eingeständnis, das in den beiden anderen Filmen undenkbar wäre, sind deren Protagonisten doch so konzipiert, dass sie trotz oder sogar wegen ihrer Blindheit haargenau wissen, wo und wie sie ihr Gegenüber im Schwertkampf verletzen. Ichis Schwertführung wirkt im Vergleich dazu instinkt- und weniger wissensgeleitet, es ist konfuser und unpräziser.
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sem Augenblick sind erstmalig ihr Gesicht und ihre geöffneten Augen zu sehen (Abb. 8).
Abb. 8 Ichis offene blinde Augen Zuvor wurden die Zuschauenden minutenlang im Unklaren darüber gelassen, mit wem sie es zu tun haben – verstärkt durch das Schneegestöber, Rückwärtsansichten, Schatten oder einen ihr Gesicht verdeckenden Reishut. Sie erfahren somit eine Verunsicherung, die Ichi ständig erlebt und werden auf diese Weise an ihre Art, die Welt wahrzunehmen, herangeführt. Ab dem Moment, in dem Ichis Augen sichtbar werden, scheint ein zumindest einseitiger Kontakt zu ihrer Innenwelt permanent möglich, ein Novum in der Darstellungsweise dieser Figur, die in den Vorläuferfilmen bis auf seltene Momente stets mit geschlossenen Augenlidern zu sehen war. Als Replik auf das geschilderte triste und trostlose Grundsetting, das ihr den Glauben an die Aufrichtigkeit und Unverdorbenheit der Menschen nahm, spricht Ichi in kommenden Szenen von ihren Sehnsüchten, in ungewisser Zukunft einmal als Geliebte und mitunter auch als Mutterfigur fungieren zu wollen. Kurz darauf trifft sie den Mann, der ihr Herz erwärmen soll, Toma Fujihira; sie erkennt die große Liebe jedoch zunächst nicht als solche – neben ihrem mutmaßlichen leiblichen Vater ist es ihre zweite. Auch Toma ist traumatisch verwundet: Als Kind hat er mit dem Schwert aus Versehen seine Mutter beidseitig geblendet und damit symbolisch ausgeschaltet. Wegen seiner nicht überwundenen Schuldgefühle ihr gegenüber kann er seitdem sein Schwert nicht mehr aus der Scheide ziehen, was ihn gänzlich kampfunfähig macht – eine Chiffre für Impotenz und Kastration. Sein Vater hat sich daraufhin von ihm abgewandt und ihn enterbt. Seine Mutter, die trotz ihrer Blindheit nie ihren Lebensmut verloren und ihrem Sohn verziehen hat, verstarb frühzeitig an einer Krankheit.
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Ichi und Toma werden ein Gespann, bei dem Ichi sich selbst und ihren Freund in verschiedenen Situationen mittels ihrer virtuosen Rückwärtshieb-Kampftechnik gegen Angreifer verteidigt. Ihre Standfestigkeit kompensiert seine Unvollkommenheit. Da niemand einer Frau solch ausgefeilte Kampfkünste zutraut, wird fälschlicherweise Toma für das Kampfkunstwunder gehalten, das in wenigen Zügen gleich mehrere Gegner niederstrecken kann. Analog zu Ichi in The Tale of Zatoichi und Hattori in Zatoichi – Der blinde Samurai wird Toma von einem Klanboss kurzerhand als Wunderwaffe engagiert. Je aus verschiedenen Gründen – aus Geldnot respektive dem Wunsch, eine Undercover-Schwertkämpferin zu bleiben – ist weder Ichi noch Toma daran gelegen, die Verwechslung aufzuklären. So springt sie mehrfach für ihn ein und überdeckt damit seine Unfähigkeit, mit dem Schwert zu kämpfen. Ihre freundschaftlichen Gefühle füreinander intensivieren sich zunehmend, vor allem nachdem sie sich gegenseitig ihre Traumatisierungsgeschichten anvertraut haben. Ichi beschreibt bei dieser Gelegenheit die Ängste, die ihre Blindheit in ihr auslöst. Ihr fehle das Gespür für die Grenze, die man nicht überschreiten darf. Sie wisse vielfach nicht, ob es Tag oder Nacht, wer böse und wer gut sei, ob sie lebe oder bereits tot sei. Und sie hänge nicht besonders am Leben. — Eine filmische Trope, die am Ende des Films wieder aufgenommen und ins Positive gewendet wird. Die psychoanalytische Durchprägung des Films wird noch gesteigert, als die beiden anstatt Beischlaf zu haben miteinander kämpfen, mit Stöcken statt Schwertern. Überraschenderweise erweist sich Toma bei dieser Kampfart als keineswegs impotent. Er verwundet Ichi am Handrücken, symbolisch betrachtet eine Penetration, und verbindet die Wunde daraufhin gewissenhaft. Eine der ersten zwischenmenschlichen Berührungen, die sie zulässt und sichtlich genießt. Die starke Versehrbarkeit Ichis in Ichi – Die blinde Schwertkämpferin stellt einen signifikanten Unterschied zu den beiden anderen Filmen dar, in denen ihre männlichen Vorläufer als nahezu unverwundbar konzipiert sind: Die weibliche Ichi fällt in zahlreichen Szenen zu Boden, vor Erschöpfung, Schlaf- und Kraftlosigkeit oder Gram. Im Endkampf mit dem Anführer der Banki-Bande trägt sie schwerwiegende Verletzungen davon, vor allem am Rücken, was eine aufrechte Körperhaltung und ein Weiterkämpfen unmöglich macht. Die Wunden an Ichis Körper, die sich mehren, während sie von einer größeren Gruppe umherstehender Samurais angestarrt wird, manifestieren den männlichen Voyeurismus, dem sie als weibliche Figur hier in verstärktem Maß ausgesetzt ist. Die dreieinige Position der Kamera, des Regisseurs und der Zuschauenden fällt dabei in eins mit der Position der sie filmimmanent Anblickenden. Die Problematik des Nicht-Sehen-Könnens und beim Kämpfen AngesehenWerdens, ohne dass sie zurückblicken kann, macht in dieser Szene noch einmal die geschlechterspezifische Aufladung des Kinoapparats deutlich, wie sie seit Mitte der 1970er Jahre in Texten der feministischen Filmtheorie beschrieben und kritisiert wurde.
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Nach verlorenem Kampf wird Ichi an einem Un-Ort eingekerkert, der eine Ma33 nifestation des Kristevaschen Abjekten ist. In dem feuchten erdigen Kellerverließ stapeln sich blutige Tücher, Totenköpfe und verweste Leichenteile, zwischen denen Ichis durch mehrere Schwertschnitte aufgerissener Leib liegt. Nachdem sie vom Tod ihres Vaters erfahren und sich innerlich von ihm verabschiedet hat – sein Glöckchen fällt in einen tiefen Spalt des Verliesbodens –, wird ihr ihre neue große Liebe, Toma, in rückblendenden Standbildern präsent. In ihnen formuliert sich die Hoffnung auf verlässliche Zwischenmenschlichkeit, erfüllende Berührung und eine Liebe, die die negativen Effekte ihrer Blindheit ausbalancieren helfen könnte. Ihre bisher als isoliert und introvertiert, ernsthaft und erkaltet gezeichnete Emotionalität beginnt aufzuweichen. Tomas Geschick im Stockkampf, das sich in der Kampfszene zwischen den beiden gezeigt hat, nimmt die Wiederkehr seiner Schwertkampfkraft vorweg. Letztere ereignet sich just, als es im Endkampf gilt, Ichi – die beiden sind mittlerweile ein Paar – vor dem Zugriff Bankis zu bewahren. Dieser, selbst halbblind, will sie, die er als seinesgleichen betrachtet, an seiner Seite wissen – er adressiert Ichi und sich als „Krüppel“, die man nie anständig behandeln wird und die deswegen notwendigerweise verrohen. Schwertkampf- und Manneskraft werden im Streit zwischen Toma und Banki um Ichi neuerlich analog gesetzt (Toma versucht, die emotionale Wunde, die die unfallbedingte Blendung seiner Mutter bei ihm gerissen hat, mittels der Liebe zu der blinden Ichi zu heilen.). Die vertauschten Geschlechterrollen werden wieder dem klassischen Muster angeglichen: Ihr Mann tritt als ihr Retter auf (statt umgekehrt). Toma wird jedoch von Banki erstochen, als er Ichi verteidigen will. Die zu spät eintreffende Ichi, die durch die Liebe zu Toma gelernt hat, Gutes von Bösem, Lebendes von Totem zu unterscheiden, muss Banki nun doch selbst töten. Sie tut dies, indem sie im Kampf mit geschlossenen Augen, also ihre Blindheit symbolisch verstärkend, sein Gesicht spaltet. Hierdurch wird Bankis Augenmaske weggerissen, die sein entstelltes, vernarbtes Auge, den vermeintlichen Grund
33 Im Sinn der psychoanalytisch-philosophischen Betrachtungsweise Julia Kristevas kann das Verlies als Repräsentanz des Abjekten interpretiert werden, das – auf die psychische Struktur in der frühen präödipalen Phase rekurrierend – Ekel und Hass auf die Mutter bedeutet und dem kein Status als selbstständiges Objekt zukommt. Um sich als Subjekt wahrzunehmen, muss sich der Mensch daher in späteren Entwicklungsphasen von allem mit dem Abjekten Verknüpften (Blut, Schleim, Kot, Totes) abgrenzen. Vgl. Julia Kristeva: The Powers of Horror. An Essay on Abjection. New York: Columbia University Press 1982. Ein Beispiel für die Anwendung von Kristevas Abjektbegriff auf einen Film (The Deer Hunter (UK, USA 1979) von Michael Cimino), vgl. Raya Morag: The Asexual Hyper-Masculin Model. Michael in The Deer Hunter. In: dies.: Defeated Masculinity: Post-Traumatic Cinema in the Aftermath of War. Brüssel: Peter Lang 2009, S. 173-187, hier S. 177.
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für seine Minderwertigkeitskomplexe und Boshaftigkeit, bislang verdeckt hat. Der tiefe Schnitt trennt sein Gesicht in zwei ungleiche Hälften: in die sehende Gesichtshälfte, die jedoch zur Fratze erstarrt ist und den offengelegten versehrten blinden Teil (Abb. 9). Die Grenze, nach deren Sichtbarwerden Ichi auf ihrer Reise so lange gesucht hat, materialisiert sich auf Bankis moribundem Gesicht.
Abb. 9 Bankis gespaltenes Gesicht Der in diesem Film auf viele Charaktere verteilten Blindheit entspringen zwei Handlungsalternativen: entweder Verbitterung, Verrohung und Tendenz zum Bösem (Ichis einstige Musikerkolleginnen, Banki) oder Transzendierung des verwundeten Selbst verbunden mit einer höheren Form von Moralität (Tomas Mutter), die im Samuraidiskurs jedoch mit kriegerischer Selbstverteidigung und der Rachelogik gekoppelt ist (Ichis Vater, Ichi). Die andere Art seelisch-emotionaler Berührung, die Ichi auf ihrer Entwicklungsreise kennen gelernt hat, hängt mit einem kleinen Jungen zusammen, der sie als Schwertkämpferin idealisiert und ihr über einen Großteil des Films nicht von der Seite weicht. Nachts leuchtet er ihr den Weg aus, obwohl dies Ichis Orientierung faktisch nicht befördert. Am Ende hat sie sich dermaßen an seine Präsenz, Bewunderung und Hilfsbereitschaft gewöhnt, dass sie sein Gesicht befühlt, um ihn besser ‚sehen‘ zu können. Sie sagt: „Ich habe es doch gebraucht: ein Licht, das mir den Weg in die Zukunft weist. Und Du hast mir bei der Suche nach diesem Weg geholfen. Danke“. Sie schenkt dem Jungen ein erstes Lächeln und ein neues Glöckchen. Ihr eigenes hat sie am Tiefpunkt ihrer Leidensgeschichte verloren: repräsentiert durch das Verlies und das Wissen über den Tod ihres präsumtiv leiblichen Vaters – mit ihm verlor sie ihre einzige Chance, sich mit einem leiblichen Familienmitglied verbinden zu können. Mit der transgenerationellen Weitergabe des Hoffnungssymbols, dem Glöckchen, begründet Ichi nun eine eigene Generationen-
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kette. Sie wird zur freiheitlich umherziehenden Samurai, die – in Anlehnung an das Ende von The Tale of Zatoichi – das Schwert Tomas auf das Grab seiner verstorbenen Mutter legen möchte (durch seinen Tod kann sie nicht mehr an die Stelle seiner Mutter treten und er kann sich nicht mehr in ihren Vater verwandeln). Genau wie ihr toter (potentieller) ‚Vater‘ verspricht sie dem Jungen, eines Tages zu ihm zurückzukehren. Der wartende Junge macht sie zu einer Quasimutter, die damit in die Fußstapfen ihres blinden Samurai-Vaters tritt. Als Pendant zu dem anfänglichen Schneegestöber, in das sich die Kamera aus einem vollständig schwarzen Bildschirm hervorgearbeitet hatte, endet der Film mit einem Close-Up auf Ichis Gesicht in Slow Motion, während sie durch hoffnungsfrohe grüne Wiesen wandert. Abrupt friert dieses letzte Bild ein, die Musik stoppt und die Tastgeräusche ihres Blindenstocks werden überlaut, dann eine Schwarzblende. Die Zuschauenden werden entlassen, indem sie ein letztes Mal für wenige Sekunden Ichis Blindheit und das durch diese ermöglichte andere ‚Sehen‘ nacherleben können.
C ONCLUSION : B LINDHEIT , M ORALITÄT
UND ANDERS
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Die drei besprochenen japanischen Filme stellen einen bemerkenswerten Eintrag in die Kultur- beziehungsweise Filmgeschichte des Phänomens Blindheit dar, die das34 selbe in immer neuen, wechselvollen Schattierungen hervorbringt, da sie die soziokulturell geprägte Kategorie Behinderung zugleich dekonstruieren, subvertieren und mehrdeutig werden lassen und re-konfigurieren und mit Potenz und Valenz aufladen. Der kausale Zusammenhang Anomalie, Dysfunktion, Normabweichung und Behinderung gleich soziale Stigmatisierung, Abwertung und Ausgrenzung wird in ihnen weitgehend aufgelöst und in multiplen und flexiblen Szenarien neuverhandelt. Durch ihre mentale Stärke weichen die männlichen und weiblichen Ichi-Figuren von 1962, 2003 und 2008 die Verkrustungen ihrer äußeren Umgebung (innerhalb der jeweiligen filmischen Diegese) derart auf, dass sie aus ihr letztlich als kriegerische und nicht selten auch moralische Sieger-Heroen beziehungsweise als Sieger-Heroine hervorgehen können. Die Auswirkungen, die die Blindheit auf das verschlungene Leben der jeweiligen Hauptfigur hat, die Kompensationsversuche durch eine übermäßige Ausprägung ihrer anderen Sinne, ihre blutdurstige Wehrkraft und ihr posttraumatisches Wachstum münden in den Filmen in ethische Idealbilder. Die besondere Moralität der Ichi-Figuren scheint zum einem ihrem Samurai-Stand gemäß, zum anderen aber auch subjektivistisch geformt zu sein; sie ist Ergebnis zahlreicher Konflikte zwischen figurenabhängigen körperlichen, geistigen, intellektuellen und spirituellen
34 Markus Dederich: Körper, Kultur und Behinderung. Eine Einführung in die Disability Studies. Bielefeld: transcript 2007, S. 11.
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Konditionen und deren verschieden ausfallenden Gerechtigkeitsverständnissen. Die kulturelle Durchschlagkraft der männlich oder weiblich konnotierten Ichi-Figur besteht in seinem/ihrem extraordinären Spirit, der die Limitiertheiten, die traditionell mit Behinderung einhergehen, übersteigt. Das Spiel mit der Ausdehnung der Behinderungskategorie entspringt jeweils der Differenz zwischen der Außenwelt, die die Ichi-Figur umgibt, und ihrer Innenwelt. Inszenatorisch wird der sozial negativ stigmatisierte Ausfall von Sehfähigkeit mit Szenen konfrontiert, die auf eine rege und dramatische Emotionalität und Geistesgegenwart des Protagonisten oder der Protagonistin verweisen. Die Stärke der drei Ichis ist dabei keine künstlich gesetzte oder absolute Größe, sondern oszilliert zwischen physischer Beeinträchtigung und selbstständiger Aneignung von Macht, Entwürdigung und Verteidigung, Selbstzweifel und befreiendem Lachen. Das Zeitlose und die hohe Rezeptionsaffinität der Ichi-Figur, auch in außer-japanischen Filmkulturen, liegen in ihrer variablen und ungesicherten Trajektorie. Diese zielt weniger auf soziale Integration denn auf unbedingte Freiheit, Unabhängigkeit und Eigenständigkeit der Hauptfigur, wobei dies zugleich ihr tragisches Potential in sich birgt. Am Ende eines jeden Zatoichi-Films ist dieser/diese in seiner/ihrer Blindheit immer allein. Die seit 1962 als Leinwandlegende etablierte, sich jedoch stets wandelnde Hauptfigur entzieht sich immer wieder einer eindeutigen Lesart. Die philosophischen, ethischen und wahrnehmungsphilosophischen Fragen, die sie zu denken aufgibt, verbleiben oftmals im Rätselhaften und Ungreifbaren. Ethisch betrachtet sind ihre Kämpfe zum Teil ehrenwert, wenn sie Armen, Kranken oder Prostituierten hilft, es mischen sich jedoch auch weniger noble Gefühle wie Überheblichkeit, Blutdurst oder Rachelust hinzu, deren tiefere (unbewusste) Motivation nicht selten im Dunkeln verbleibt. Diese Ambivalenzen sind insofern produktiv, als sie dem/der Kinozuschauenden auf einer Metaebene betrachtet seine/ihre technisch limitierte Art zu sehen, zu erkennen und zu urteilen widerspiegeln. Sehen steht immer in Spannung zu Nicht-Sehen, Unsichtbarkeit und Verkennen sowie zu Erinnerung, Imagination und dem Unbewussten; es sollte sich seine funktionalen Gegenstücke bewusst machen. Kinofilme zu Blindheit, die Blinde im Akt des Schwertkämpfens als Sehende setzen, formen eine Sehschule, in der man anders sehen lernen kann, als man sieht. Im ersten Zatoichi-Film von 1962 stehen der Diskurs um Disability und der gesellschaftlich tendenziell despektierliche Umgang mit körperlicher Behinderung im Vordergrund. Weniger seine Blindheit, mit der Zatoichi irreversibel geschlagen ist und die ihn zum Krieger macht, denn die aus ihr erwachsenden einzigartigen Fähigkeiten (übermäßig ausgeprägtes Hören, Tasten, Riechen) machen ihn letztlich einsam. Er besinnt sich auf sein Inneres und startet von dort aus seine tödlichen Aktionen, die jeweils die Konsequenz oder einen Höhepunkt seiner moralisch-geistigen Auseinandersetzung mit der Außenwelt darstellen. Dieses Surplus entfernt ihn von den Normalsterblichen. Da er prinzipiell jeden Schlag pariert, wirkt er im
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Kampf unverwundbar. So hat er sich aus seinem Leiden heraus auf ein Plateau vorgearbeitet, das unerreicht bleibt. Kitanos Film von 2003 löst die aus der Blindheit resultierenden bekannten Konflikte in einem postmodernen Spiel mit der Täuschung, des Sehens/Erkennens und Nicht-Sehens/Nicht-Erkennens auf. Die traditionsreiche Figur des blinden Zatoichi, wie gehabt mit Würfelspielen, Fischen, Massieren, Kämpfen und zusätzlich mit Musizieren und Tanzen in Verbindung gebracht, wird dabei beinahe gestürzt, indem Kitano sie, zumindest vorübergehend, als sehend und ihre Blindheit nur vortäuschend anlegt. In der letzten Szene des Films wird diese Deutung wieder in Zweifel gezogen, so dass sich der Filmtitel doch als gültig erweist. Ichi – Die blinde Schwertkämpferin, der den Gender-Aspekt betont, führt vor, wie Ichis durch vielfache traumatische Erfahrungen infolge ihrer Blindheit (diesmal mit offenen Augen dargestellt) erkaltete Emotionalität sukzessive aufgeweicht wird. Förderlich hierfür sind nicht allein ihre Durchsetzungskraft und Beharrlichkeit als allein umherreisende Samurai, sondern die Begegnung mit einem Mann und einem Kind, die Licht in ihre seelische Dunkelheit/Blindheit und Depressionen bringen und ihr den Weg zu einer lebensbejahenden Einstellung weisen. In den ausgedehnten Kampfszenen, die über weite Strecken eine weibliche Blinde mit superiorer Kampfkraft versehen und damit weibliche Klischees konterkarieren, jedoch auch die Möglichkeit der Versehrung der Titelheldin einführen, wird die Koppelung Weiblichkeit gleich Angesehen-Werden re-etabliert.35 Psychoanalytische Komponenten werden sowohl anhand von Ichis als auch Tomas Entwicklung durchdekliniert. Obwohl es zunächst scheint, als könnten sie ihre Traumatisierungen durch den/die jeweils andere(n) heilen, kommen sie am Ende nicht zusammen: das Reich der Lebenden wird vom Reich der Toten getrennt. Anders als zu Beginn des Films platziert sich Ichi auf der Seite der Lebenden. Die Blindheit der Ichi-Figur bleibt die größte Quelle ihrer (Wehr-)Kraft, die widerstreitenden Prinzipien Behinderung und Regeneration beziehungsweise Widerständigkeit erweisen sich einmal in Gang gesetzt als (filmisches) perpetuum mobile.
35 Laura Mulvey: Visuelle Lust und narratives Kino. In: Gislind Nabokowski, Helke Sander, Peter Gorsen (Hrsg.): Frauen in der Kunst, Bd.1, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1980, S. 30-46.
Arbeit am Zeichen Blindheit im chinesischen Gegenwartsfilm (1991-2014) J OHANNES D. K AMINSKI
„[T]he triumph of Hollywood film [...] is not merely an economic triumph, it is a formal and also a political one.“1 Schenkt man Frederic Jameson Glauben, erübrigt sich die Fragestellung, ob das Motiv Blindheit im chinesischen Kino anders inszeniert wird als im Hollywood-Kino – insbesondere, wenn von Produktionen der jüngsten Gegenwart die Rede ist. Laut Jameson habe der globale Export von Hollywood-Produktionen seit den 1990er Jahren lokale Filmtraditionen abgelöst und zu einer Ausdünnung, wenn nicht zur Extinktion partikularer Merkmale geführt. Demnach folge die cinematographische Sprache des Weltkinos längst jener Ästhetik, die vom so genannten amerikanischen Kulturimperialismus vorgeprägt wurde. Abseits der Kassenschlager wird ein ähnliches Machtgefälle konstatiert: Insbesondere das chinesische Arthouse-Kino muss sich oft den Vorwurf gefallen lassen, Filme zu produzieren, die auf den ästhetischen Standard westlicher Festival-Jurys kallibriert sind.2 Berücksichtigt man allerdings die internationale Strahlkraft chinesischer Produktionen, angefangen vom Wuxia-Genre bis zum verhaltenen Gefühlsdrama Wong Kar-Wai’scher Prägung,3 dürfte es angebrachter sein, von einer überregionalen Angleichung der Bildsprachen auszugehen.4 Ob diese Angleichung zu Lasten einer Partei geht, muss fraglich bleiben; unbestreitbar bleibt allerdings das kulturelle
1
Frederic Jameson: Notes on Globalization as a Philosophical Issue. In: ders., Masao Miyoshi (Hrsg.): The Cultures of Globalization. Durham NC: Duke UP 1998, S. 54-80, hier S. 63.
2
Vgl. Ying Zhu: Chinese Cinema during the Era of Reform: The Ingenuity of the System. Westport CT: Praeger Publishers 2003, S. 133.
3
Vgl. Yvonne Tasker: Fifty Contemporary Filmmakers. London: Routledge, S. 399.
4
Ferner monierte die westliche Presse anlässlich des Kinostarts von Transformers 4 die Neuausrichtung des Hollywood-Kinos auf das chinesische Massenpublikum, zumal sie Hand in Hand mit politischen Zugeständnissen käme. Vgl. Tom Shone: Hollywood transformed. In: Financial Times vom 25.07.2014, http://www.ft.com/cms/s/2/60338b6c1263-11e4-93a5-00144feabdc0.html#axzz3DQk1KPJT, letzter Zugriff am 21.09.2014.
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Spannungsfeld, in welchem gegenwärtige Filmproduktionen lokale und internationale Elemente miteinander verschränken und in einen möglichst produktiven Dialog zu setzen versuchen. Zahlreiche Untersuchungen zeichneten bereits die Vereinbarkeit des Wuxia- mit dem Action-Genre nach und gaben damit ein positives Beispiel für eine reibungslose transkulturelle Migration von Filmen.5 Von nicht minderem Interesse sind allerdings auch die Inkompatibilitäten und Unübersetzbarkeiten ausgesuchter lokaler Konzepte, die Sand ins Getriebe der globalen Filmdistribution streuen. In der Behandlung des Themas Blindheit ist das Knirschen dabei besonders vernehmlich.
D IE E RFINDUNG
DES
S CHRIFTBILDES
Wer sich bemüht, das spezifisch Chinesische an chinesischen Kulturprodukten herauszuarbeiten, begibt sich schnell in ausgewiesene Untiefen der sinologischen Forschungspraxis. Als besonders problematisch fallen hier solche Ansätze auf, welche die spezifische Ausrichtung eines Problemfeldes mit einer ethnischen Identität oder Essenz korrelieren, die ihr vom fremden Beobachter erst zugewiesen wird. Offenkundig ist ebenso die Gefahr des Eurozentrismus, wenn bewährte westliche Analyseinstrumente dazu dienen sollen, das fremde Rohmaterial zu ordnen – ein Vorwurf, der nicht selten bei psychoanalytischen Ansätzen laut wird.6 Im vorliegenden Fall sollen beide Verdachtsmomente entkräftet werden, indem Blindheit und ihre filmische Repräsentation mit einer Mythologie in Verbindung gebracht wird, die keinem Fremdbild, sondern vielmehr einem Auto-Topos der Zielkultur entspricht. Wie prägend der Mythos der Erfindung der Schriftzeichen durch Cang Jie (仓颉) für die Verwender und Lerner der chinesischen Sprache bis hinein in die Gegenwart ist, zeigt ein Blick auf eines der unmittelbarsten Medien der Sprachpraxis: Eines der populärsten digitalen Eingabesysteme für Schriftzeichen ist nach dem mythischen Schriftgründer benannt.7 Die Legende stammt aus dem Umfeld der mythischen Urkaiser des dritten vorchristlichen Jahrtausends und handelt vom Gelben Kaiser (huangdi 黃帝) und dessen Kanzler Cang Jie. Eines Tages äußert der Kaiser seine Unzufriedenheit über die bis dahin gebräuchliche Knotenschrift und beauftragt seinen Kanzler damit, ein nützlicheres System zu entwickeln. Während dieser nun am Flussufer über dem
5
Z.B. John J. Donohue: Warrior Dreams: The Martial Arts and the American Imagination. Westport CT: Bergin & Garvey 1994.
6
Vgl. Yingjin Zhang: Screening China. Ann Arbor MI: University of Michigan Press 2002, S. 6 und S. 126.
7
Die Eingabemethode cangjie shuru fa 仓颉输入法 wurde 1976 von Zhu Bangfu erfunden.
A RBEIT AM Z EICHEN
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Problem grübelt, wird er auf einen fliegenden Phönix aufmerksam, der ein unbekanntes Objekt im Mund trägt. Der Phönix lässt es fallen, Cang Jie eilt hin, findet jedoch bloß undeutliche Hufabdrücke im Sand. Daraufhin wendet er sich an einen Jäger, der spekuliert, dass diese Spuren zu Pixiu (貔貅) gehören könnten, dem geflügeltem Löwen. Damit meint Cang Jie die Lösung für das Schriftproblem gefunden zu haben: Vermag es der Jäger, die Hufspur als jene Pixius zu identifizieren, so müsste es genauso möglich sein, mit Zeichen die besonderen Merkmale jedes Dings einfangen zu können.8 Diese Mythologie stellt die Erfindung der Hanzi (汉字), der chinesischen Schrift, also nicht als arbiträre Verknüpfung von Zeichen und Lauten dar, wie es etwa bei Alphabeten der Fall ist, sondern leitet sie aus der unmittelbaren Naturbetrachtung ab. Dass die Mythologie herzlich wenig mit der tatsächlichen Linguistik des Chinesischen zu schaffen hat – so handelt es sich bei den Hanzi meistenteils um Logogramme –, spielt hierbei eine untergeordnete Rolle.9 Die Rückanbindung der Schrift an den natürlichen Kosmos verleiht der Schrift den Nimbus des Überzeitlichen und suggeriert, dass erst der zur Schrift Ermächtigte zur Wahrnehmung der wesentlichen Eigenschaften der Schöpfung befähigt wird. Im chinesischen Kontext ist der Blinde somit nicht bloß vom Universum der Schrift, sondern vom unmittelbar erkennenden Blick auf die Schöpfung gänzlich ausgeschlossen. Als Menschen, welche die Harmonie der Schöpfung nicht erblicken können, stellen sie per se eine Irritation und Provokation dar. In diesem Kontext erhält die Inkompatibilität der Brailleschrift mit den Hanzi eine tragische Dimension: Die chinesische Brailleschrift basiert auf der phonetischen Umschrift des Chinesischen, also auf dem Hanyu Pinyin (汉语拼音) oder dem in Taiwan gebräuchliche Bopomofo, und nicht auf den Schriftzeichen selbst. Die Reduktion der Sprache auf ihre Laute schließt den Blinden von ihrer piktographischen Dimension aus, welche der Legende nach ihre Hauptleistung ausmacht: etwa jene drei Pinselstriche, die den Mund (口), und jene fünf, die den Vogel (鸟), darstellen und auch heute beim (sehbefähigten) Sprachlernenden Erstaunen hervorrufen. Dass die Brailleschrift nur die Arbitrarität der Alphabete nachbildet und den Weltzusammenhang nicht erschließen kann, ist die epistemologische Grundvoraussetzung der im Folgenden behandelten Filme. Es stellt sich die Frage, inwiefern die
8
Xu Shen verfasste im ersten Jahrhundert n. Chr. das erste Wörterbuch der chinesischen Sprache, das shuowen jiezi (说文解字), in dessen Vorwort die obige Geschichte äußerst kurz und bündig erzählt wird: „黄帝之史仓颉,见鸟兽蹄迒之迹,知分理之可相别异 也,初造书契。“ Dongyuan Xie: Shuowen jiezi yu Zhongguo gudai wenhua [Das Shuowen Jiezi und die chinesische Kultur]. Henan: renmin chubanshe 1994, S. 85.
9
Vgl. Martin Kern: Early Chinese literature, beginnings through Western Han. In: Kang-i Sun Chang, Stephen Owen (Hrsg.): The Cambridge History of Chinese Literature. Cambridge: Cambridge University Press 2010, I, S. 1-115, hier S. 1-3.
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Filme das Unbehagen gegenüber der Welterfahrung des Blinden reproduzieren, welche ohne Erkenntnis via Schrift auskommen muss, oder ob es gelingt, den Mythos der Schriftgründung umzuschreiben.
S CHRIFTDEFIZIT : B LIND M ASSAGE (2014), M Y S PECTACULAR T HEATER (2010) Lou Yes Blind Massage reißt das Problem der Schriftlosigkeit gleich am Anfang an. 10 Fuming, der Leiter einer Massageinstituts, in dem Blinde sowie stark Sehbeeinträchtige arbeiten, wird auf einer Tanzveranstaltung einer sehenden Frau vorgestellt und spielt mit ihr jenen Alltagsdialog durch, über den zwei Unbekannte miteinander ins Gespräch kommen – nämlich über den Namensaustausch. Als sie ihn förmlich anredet, wehrt er ab: „Nenn’ mich nicht Doktor Sha. Ich heiße Sha Fuming. ‚Sha‘ wie Sand [huang-sha], ‚fu‘ wie Heilung (hui-fu) und ‚ming‘ wie das Licht [guang-ming].“11 Als er sie nun um ihren Namen bittet, verlässt sie sich auf jene Methode, mit welcher gemeinhin kompliziertere Zeichen ausgetauscht werden: Sie nimmt seinen linken Handteller und schreibt darauf mit dem Zeigefinger – und zwar in jener korrekten Strichreihenfolge, die man in der Schule erlernt. Nachdem er merkt, dass er sein Unverständnis nicht länger überspielen kann und seine Augenlider nervös zu flattern beginnen, gesteht er ihr seine Hilflosigkeit ein. Sie möchte es kaum glauben, dass er des Schreibens unkundig ist, doch er erklärt: Es ist nur so, dass er keine Zeichen schreiben kann. Er schreibt in Braille.
Abb. 1 Lou Ye: Blind Massage (2014)
10 Blind Massage (Originaltitel: tuina 推拿; CN 2014, R: Lou Ye) 11 „别叫我沙老板。我叫沙复明。黄沙的沙,回复的复,光明的明。“ Blind Massage – Sämtliche Übersetzung gehen auf mich zurück, J.K.
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Das chinesische Wort für „Schriftunkundigkeit“ ergibt sich aus der Kombination von „Zeichen“ und „blind“ (wen-mang 文盲), während die Bezeichnung für „Braille“ die glatte Umkehrung des Zeichenpaares unternimmt: „Blind-Zeichen“ (mang-wen 盲文). Doch die emanzipatorische Kraft dieser Umkehrung täuscht: Auch wenn Fuming in der Folge seinen Schwiegereltern mit großer Beredsamkeit die Funktionsweise von Braille erklärt und darüber hinaus noch seine Belesenheit in zeitgenössischer Dichtung bekundet, wird ihm an Ende ein Strich durch die Rechnung gemacht und die Tochter, die er liebt, von ihm fortgezogen (Abb. 1). Die Off-Stimme aus Blind Massage spricht von einer radikalen Opposition zwischen Blinden und Sehenden: In der Empfindung der Blinden gehören die Sehenden zu einer anderen Tierart. Es ist eine dominante Tierart, eine mit Augen ausgestattete Tierart, eine allwissende Tierart. Das hat eine geradezu spirituelle Dimension. Ihre Haltung gegenüber den Sehenden gleicht einer gegenüber Göttern.12
Der Blinde unterliegt dem Sehenden nicht bloß, er ist auf ihn angewiesen. Blind Massage erlaubt zwar im Vorspann keine Schrift und verweigert sich damit gegenüber den üblichen filmischen Gepflogenheiten. Doch die Off-Stimme, die das Wort ergreift, um den Titel des Films sowie die Namen der Mitwirkenden zu nennen, schreibt das Gefälle zwischen Sehenden und Blinden fort: Mit ihrem wohlwollend distanzierten Timbre, das unschwer mit dem Tonfall einer Lehrperson zu identifizieren ist, wird ihre vermittelnde, ja bevormundende Funktion erst deutlich. Die anfangs noch sehr aufgeräumte Atmosphäre im Institut für Blindenmassage spiegelt diese pädagogische Hierarchie: Unter der wohlwollenden Anleitung und Aufsicht der dort beschäftigten Sehenden, ist es gleichermaßen Zufluchtsort wie Ghetto. Blind Massage handelt davon, dass die Blinden zuletzt immer den sehenden ‚Göttern‘ ausgeliefert bleiben. My Spectacular Theater,13 eine Romantische Komödie aus dem Jahr 2010, befasst sich mit dieser Vermittlerfunktion und siedelt die Handlung in einem Blindenkino an, das zum emotional aufgeladenen Spielfeld des ungebärdigen Chen Yu, des alternden Kinobesitzers Gao und dem blindem bzw. stark sehbeeinträchtigten Publikum wird. Dem Filmvorführer kommt hier die Funktion des Erzählers zu: Gleich in der Anfangsszene sieht man den alten Gao eine Szenenfolge von Alfred Hitch-
12 „在盲人的心目中,明眼人是另外一种动物,是很高崛立的动物,是有眼睛的动 物,是无所不知的动物。至于有神经的地位。他们对明眼人的态度完全像对神的 态 度。“ Blind Massage. 13 My Spectacular Theater (Originaltitel: mangren dianyingyuan 盲人电影院; CN 2010, R: Lu Yang)
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cocks North by Northwest (1959) beschreiben, während das Publikum gespannt zuhört, doch mit den Augen an der Leinwand vorbei sieht. Eigentlich stößt Chen Yu bloß auf das Kino, weil er Unterschlupf vor zwei Polizisten sucht. Im weiteren Verlauf der Handlung soll er jedoch zu Gaos Nachfolger ausgebildet werden. Seine Unfähigkeit beweist er gleich beim ersten Einsatz: Der Bildüberfrachtung des ausgewählten Blockbusters kaum gewachsen, ringt Chen Yu nach Worten. Bald wird seine Erzählung fragmentarischer und verwirrender. Nach und nach verlässt das Publikum den Saal. Bei seinem zweiten Versuch, für den er Takeshi Kitanos Yakuza-Melodram Hana-bi (1997) wählt, entwickelt er eine collageartige Sprechweise, welche die chinesischen Untertitel des japanischen Films aufgreift und die Ekphrasis nicht zu weit treibt. Als Nishi und Miyuki den doppelten Selbstmord begehen, verstummt Chen Yu. Nach einem kräftigen Applaus taumelt das mitgenommene Publikum aus dem Saal, offenbar so ergriffen wie nie zuvor. Die beiden Schüsse, denen Chen Yu keine Ekphrasis folgen lässt, verselbständigen sich in der Imagination der Zuhörer und erzeugen im Selbstlauf die richtigen Bilder. Hiermit tritt der unbedarfte Chen Yu erstmals in die Position des Schrifterkennenden, welcher im Sinne Cang Jies die wesentlichen Merkmale des filmischen Geschehens herausgreift, um sie mit seinem Publikum zu teilen. Diese Erkenntnis des Wesentlichen lässt ihn im richtigen Moment auch verstummen, doch nicht, um der Vorstellung seiner Zuhörer das Feld zu überlassen, sondern bloß punktuell, um sie im wichtigsten Moment noch entschiedener zu lenken. Im Anschluss verwickelt er Zhang ins Gespräch, einen erblindeten Fotografen, der sich zu Gute hält, als Nicht-Sehender Dinge erkannt zu haben, für die andere blind blieben.14 Über Chen Yus Ekphrasis äußert er sich abfällig: Zhang: In der letzten Szene kühlen alle Farben ab. Nishis Frau Miyuko trägt aber eine rote Mütze. Wieso hast du das nicht dazugesagt? Chen Yu: Ich dachte mir, jeder soll sich diese Szene vorstellen. Mir selbst passiert das oft, ganz plötzlich, da empfinde ich durch den Gehörsinn oder durch die Vorstellungsgabe viel tiefer.15
Die Differenz, die zwischen der Unzufriedenheit des Fotografen und dem Beifall des restlichen Publikums bestehen bleibt, weist auf das schiefe Urteil des Fotografen hin. Den memorierten Bildern der Vergangenheit und seinem verlorenem Talent nachhängend, vermag er eine angemessene Wahrnehmung noch weniger herzustellen als die anderen, die sich Chen Yus Führung überlassen.
14 Vgl. dessen Aussage: „我以前能看得见别人看不见的东西。“ 15 „张:最后一场系,所有的结幕是冷色掉的。西美幸,西佳的老婆,她带着一个红 帽子,你怎么不说?—— 陈语:我是想,让大家去想象这个画面。我本人,仍然 的时候,通过听,通过想象,有时候可以感受更多的东西。“
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Abb. 2 Lu Yang: My Spectacular Theater (2010) Als verständiger Regisseur der Imagination seiner Zuhörer gerät auch die junge und völlig sehbefähigte Xiao Ming in seinen Bann. Zunächst rüstet sie sich mit Blindenstock und Sonnenbrille aus, um sich blind zu stellen und Gelegenheit zu bekommen, den gut aussehenden jungen Mann näher kennen zu lernen. Auf einem Ausflug in den botanischen Garten beginnt er ihren Blick zu lenken und führt sie in eine Welt, welche die Alltagswahrnehmung übersteigt (Abb. 2). Um diese Bilder der Vorstellung vor dem Auge des Zuschauers zu rekonstruieren, verlässt sich Regisseur Lu Yang auf eine (dürftige) CGI-Animation: Die Pflanzen erhalten einen fantastischen Anstrich, eine Klarinettenmelodie erklingt dazu im Dreiviertel-Takt. Und auch wenn man als Zuschauer Vorbehalte vor solcherlei verkitschten Animationen hat, wird damit deutlich gemacht, dass die Welt, in welche Chen Yu seine Zuhörer führt, eine bessere, eine schönere ist. Wenn er die visuelle Realität beschreibt, bezaubert er damit nicht nur die Blinden, sondern nun auch die Sehenden. Schriftbefähigung heißt hier: jenen Ur-Akt des Cang Jie wiederholen und die entscheidenden Merkmale der Dinge sehen lernen. Erkenntnis drückt sich in Chen Yu zunehmend vorsichtiger Haltung gegenüber Sprache aus: einerseits Dichte, ja Überfrachtung, andererseits Schweigen und Auslassung.
S CHÖNHEIT Da der Gesichtssinn nicht kompensierbar ist, erfährt der Blinde auch, dass er von der Erfahrung von Schönheit ausgeschlossen ist. Die chinesische Etymologie des Begriffs „Schönheit“ (mei 美) weist auf eine primär visuelle Erfahrung des schönen Objekts hin. Sie kann zwar um eine geschmacklich-olfaktorische Dimension erweitert werden, jedoch nicht um den sittlich-psychologischen Aspekt des westlichen Schönheitsbegriffs. Bietet das Zeugnis von „innerer Schönheit“ also keine Ausweichroute für die visuelle Erfahrung, ist ihre rein geschmacklich-olfaktorische
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Erfahrung in der Welt der niedrigen und illegitimen Triebe angesiedelt. Insofern ist es nicht erstaunlich, dass sich Liebe oder Verliebtheit bei blinden Figuren in Blind Massage und My Spectacular Theater erst dann einstellt, wenn das Gerücht der Schönheit durch Sehende in die Welt gesetzt wurde. In My Spectacular Theater fällt die Artikulation des Kompliments einem Fernsehteam zu, das Interviews mit den blinden Kinogängern aufzeichnet, unter anderem mit Liu Mei. Die Reporterin und der Kameramann reden ihr zu, dass sie außergewöhnlich hübsch sei. Daraufhin nehmen die männlichen Filmbesucher den Kameramann unter Beschlag, während Zhang, der Fotograf, im Hintergrund bleibt und umso tiefer in Melancholie versinkt. Nachdem sie vor einen Spiegel tritt und eine Vision von ihrem strahlenden und unbekümmerten Gesicht hat, stellen sich alle Kinogänger vor ihr auf. Um an der Erfahrung der Schönheit teilhaben zu können, betasten sie nach der Reihe Liu Meis Gesicht (Abb. 2). Diese lange Szene verhehlt kaum den Fetischcharakter dieses Schönheitsbegriffs – einzig der Fotograf verwehrt es sich, ihr mit den Fingern ins Gesicht zu fahren. Seine Zurückhaltung liegt allerdings nicht in seiner Vornehmheit, sondern im schlichten Wissen um die Unersetzbarkeit des Gesichtssinns begründet. In Blind Massage wird die Hierarchie der Sinne im Geschlechtsleben der Leidensfigur Xiao Ma deutlich. Zunächst berauscht er sich noch mit dem Geruch getragener Frauenwäsche und masturbiert damit, doch diese Art der Leidenschaft strahlt kaum auf die Trägerin der Kleidung ab und bleibt eine Befriedigung en passant. Als die blinde Masseuse Du Hong wiederholt von der Kundschaft als „schön“ – hier findet das Synonym piaoliang 漂亮 Verwendung – bezeichnet wird, horchen ihre männlichen Kollegen auf, insbesondere Xiao Ma. Wie in My Spectacular Theater befühlen einige ihr Gesicht, nur um danach festzustellen, dass sie danach noch immer nicht wissen, was Schönheit sei. Xiao Ma macht Du Hong Avancen, die sie zurückweist. In seinem Liebeskummer sucht er im Rotlichtmilieu Trost. Nachdem es im Bordell zum Eklat kommt und er von einem anderen Freier verprügelt wird, beginnt er mit blutigem Gesicht durch die Straßen Nanjings zu laufen – halb in der Hoffnung, überfahren zu werden. Doch diese absehbare Klimax bleibt aus. Als er ins Massageinstitut zurückkehrt und auf Du Hong trifft, kann er ihr mit seherischer Bestimmtheit sagen, dass sie schön sei. Diese Eröffnung wirkt allerdings wie ein Fluch: Keine Minute später fasst sie versehentlich in einen Türspalt, jemand schlägt die Türe zu, woraufhin sie sich schreiend und mit grotesk abgespreiztem Daumen am Boden wälzt. War sie zuvor nicht zur Schrift befähigt, weil ihr der Gesichtssinn fehlt, ist es nun die Verletzung, welche die Restfunktionen dieser Hand unmöglich macht. Zuvor massierte sie noch die Körper von Sehenden, jetzt ist sie auf sich selbst zurückgeworfen. Die physische Verstümmelung der schönen Frau bündelt die bedeutsamste Kompensationsfigur, die in Blind Massage entworfen wird: das Erlernen der Schrift anhand des Körpers der geliebten Person. Xiao Mas Werdegang wird in dem Film
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eine besondere Rolle zugewiesen: Im Gegensatz zur sonstig vorherrschenden Nüchternheit der Handycam-Aufnahmen, wird Xiao Ma an neuralgischen Punkten von einer traumwandlerisch schwebenden Kamera begleitet. Zheng Jian, der als Cinematograph des Films mit einem Silbernen Bären ausgezeichnet wurde, ringt hier um feste Konturen. Die verschwommenen Farben erlauben die ständige Rekombination der Bildelemente zu neuen Formen. Ob dieses optische Ringen die Perspektive eines Sehbehinderten nachstellen soll, sei dahingestellt, auf jeden Fall spiegelt es die Arbeit am Zeichen, die sich Xiao Ma vornehmlich durch sexuellen Kontakt erhofft: Als blinder Widergänger Cang Jies wirkt das Gerücht, dass Du Hong schön sei, wie jene Hufspur, die bloß Fragen aufwirft. Wie seine Liebschaft mit der Prostituierten Man jedoch zeigt, vermag er es zuletzt aus eigener Kraft, jenen geflügelten Löwen zu finden und ihm die Spuren zuzuordnen. Xiao Mas Bordellbesuche münden nicht im Konsum von immer neuen Körpern, sondern laufen auf eine immer intensivere Beziehung zu Man hinaus. Bevor sie ihm jedoch zum Tor in eine andere Welt wird, macht er sich zuerst ihren Körper zur Leinwand und spricht sie beim Akt mit dem Rufnamen seiner geliebten Du Hong an. Diese brutale Substitution verweist auf Xiao Mas Unsicherheit im Umgang mit den Zeichen: Noch kann er der Vorstellung der einen den Körper der anderen unterschieben. Zuletzt verdichtet sich jedoch die Beziehung mit Man immer weiter, bis die Off-Stimme erklärt, dass eines Tages von beiden jede Spur fehlte. Die Schlusssequenz gibt sich überraschend versöhnlich: Xiao Ma und Man haben inzwischen ein eigenständiges Leben aufgebaut. Die falschen Spuren, welche Du Hong auf Man hinterlassen hat, sind beseitigt. Wenn sich zwei Menschen gefunden haben, erscheint das Manko der Zeichenlosigkeit behoben. Derselbe Weg scheint sich auch für Lao Wang zu ergeben, der im Film mehrmals bei der zärtlichen Kopulation mit seiner sehbehinderten Freundin gezeigt wird. Als sich jedoch abzeichnet, dass er das für die Hochzeit angesparte Geld an Schuldeneintreiber abtreten muss, zerbricht das Glück der Zweisamkeit. Mit der angedrohten Trennung verschwindet der Weltzusammenhang im Chaos der Zeichenlosigkeit. Als er vor die Schuldeneintreiber tritt, greift er zum Hackbeil und vollzieht vor ihren Augen fünf horizontale Schnitte über seinen Bauch – bis das Weiß der Bodenkacheln unter Blutspritzern verschwindet. Zwar erlassen ihm die Kredithaie schließlich die Schulden, Lao Wangs Tat aber bleibt entkoppelt vom pekuniären Vorteil des Schuldenerlasses. Hier zeichnet sich eine zirkuläre Entwicklung ab: Der Blinde kann erst in der geliebten Person jene Kopplung von Zeichen und Welt antreffen, die sich für den Sehenden und Schriftbefähigten durch die Entsprechung von Signifikant (also Schriftzeichen) und Signifikat jederzeit von selbst ergibt. Diese rare Annäherung an die Erkenntnis des Weltzusammenhangs ist jedoch von Störungen bedroht, welche ihn in die reine Autopoiesis treiben. Hier wird sich der Blinde selbst zu jenem Zeichen der Verzweiflung, das er sich ins eigene Fleisch schneidet. Diese vier Striche
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bleiben jedoch keine einsamen Geste, sondern werden in der Folge von den Involvierten erkannt: Einerseits verzichten die hartgesottenen Kredithaie auf ihren Vorteil, andererseits empfangen ihn die Kollegen im Institut mit jener stillen Achtung, die sie sonst bloß den ‚Göttern‘ gegenüber einzunehmen pflegen.
D ER S EHER : L IFE ON A S TRING (1991), B LIND D ETECTIVE (2013) Mit Xiao Mas seherischen Ahnung von Du Hongs Schönheit streift Blind Massage einen Topos, welcher zentral in der westlichen Kodierung von Blindheit ist, der aber in der chinesischen Tradition von marginaler Bedeutung ist: der Blinde als Seher, der Blinde als Sänger. Die griechische Antike wurde zwar bereits mit Beginn der Neuen Kulturbewegung (新文化运动) der 1920er Jahre rezipiert, trotzdem erreichten die Figuren des Theresias und des Homer nie Einzug ins kollektive Gedächtnis, ja ins Gefilde der klischeebeladenen Topoi. Eine Parallele lässt sich dennoch zwischen dem chinesischen Blindheitsdiskurs und der Figur des Sehers bzw. Sängers ziehen: Als Dichter der Illiade und Odyssee bereitete die Legende des blinden Homer, der seine Erzählkünste also auf keine Schrift stützen konnte, schon immer Probleme.16 Wenn die Figur des blinden Sängers bzw. Sehers ins Archiv des chinesischen Blindendiskurses eingeflochten wird, dann nur in diesem Kontext der Zweifelhaftigkeit und des Kopfschüttelns. Chen Kaige gehört mit Zhang Yimou zu den wichtigsten Regisseuren der so genannten Fünften Generation, die mit dichten und poetischen Bildern arbeitet und erstmals ein internationales Publikum anspricht.17 In Life on a String verfügen der blinde Shenshen, ein Meister im Spiel der Qin-Laute, und sein ebenso blinder Schüler Shitou über seherische Talente:18 Shitou findet stets den Weg bis vor Lanxiu, das geliebte Mädchen, egal wo sie sich vor ihm versteckt; Shenshen tritt vor zwei in einen Territorialkampf verstrickte Dorfgemeinschaften hin und besänftigt sie mit seinem Gesang, bis sie zuletzt ihre Waffen niederlegen. Zwar wäre der Name „Shenshen“ (神神) mit „heiliger Heiliger“ zu übersetzen, doch verweigert sich der Namensträger gegenüber der Endgültigkeit dieser Zuschreibung. Seine besonderen Fähigkeiten sind niemals endgültige Kompensationen, sondern bloß Stationen auf dem Weg zum ersehnten Gesichtssinn. Eine
16 Vgl. Alexander Beecroft: Blindness and Literacy in the Lives of Homer. In: The Classical Quarterly, Nr. 61 (2011), S. 1-18, hier S. 2. 17 Ying Zhu spricht in diesem Sinne von einer generationenspezifischen „visual potency“, die sich vom sperrigen New Wave-Kino der 1980er abwendet und ein Massenpublikum ansprechen möchte. Vgl. Y. Zhu: Chinese Cinema during the Era of Reform, S. 133. 18 Life on a String (Originaltitel: bianzou bianchang 边走边唱; CN 1991, R: Chen Kaige)
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Prophezeihung besagt, dass er auf seiner Laute tausend Saiten kaputt gespielt haben muss, bis er mit Hilfe eines bestimmten Rezepts das Licht erblicken kann – und daran und nicht an seine Berufung als Seher setzt er sein ganzes Trachten.
Abb. 3 Chen Kaige: Life on a String (1991) Gegen Ende des Films hat er das Pensum erfüllt. Er verabschiedet sich bis auf Weiteres von Shitou, den er mit dessen Geliebten zurücklässt, und macht sich auf den Weg in die nächste Stadt. Als er vor dem Apotheker das Rezept aus dem Geheimversteck seiner Laute nimmt und sie diesem vorlegt, zeigt die Kamera einen leeren Zettel, auf den nur der dämmrige Schein des Oberlichts fällt (Abb. 3). Die erhoffte Schrift, welche die Anleitung zur Herstellung des Heilmittels geben soll, entpuppt sich als Phantom. Die ihm persönlich gewidmeten Zeichen, die dem Apotheker das Heilmittel bezeichnen geholfen hätten, haben niemals existiert. Er wird nie geheilt werden und an der Übereinstimmung von Sprache und Schöpfung partizipieren können. Der Jäger, der ihm Pixiu bezeichnen helfen sollte, hat ihn in die Irre geführt. Nach der Enttäuschung seiner größten Hoffnung scheint sich anzudeuten, dass Shenshens eiserne Disziplin zusammenbricht. Erschien er zuvor noch als Asket, der seinen Schüler Shitou wiederholt vor der Welt der Sinnesfreuden warnte, lässt er am Heimweg die Erinnerung an seine ehemalige Geliebte zu. Realität und Traumwelt verschwimmen immer mehr miteinander, bis Shenshen erneut vor zwei aufeinander einstürmende Kriegsparteien tritt. Doch als er sich auf die erprobte Magie seiner Laute verlassen möchte, trifft ihn ein Pfeil in den Arm, und er sinkt nieder. Dass sein Schüler Shitou zuletzt vom Mob der Dorfbewohner einen Abgrund hinabgestürzt wird, erscheint bloß mehr als logische Konsequent einer aus dem Lot geratenen Welt.
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Die allegorische Inszenierung der Handlung, die noch dazu in einer mythischen Wüstenlandschaft spielt, ermöglicht zwar ihre feinsäuberliche Trennung vom tatsächlichen Blindendiskurs,19 doch wäre es ein Fehler, seine radikale Position zu übersehen: Seherische Fähigkeit erscheinen in Life on a String als Störung der kosmischen Ordnung. Dass sich Shenshen und Shitou im Konflikt mit der Dorfgemeinschaft befinden, ist nicht der Boshaftigkeit des Sun-Klans anzulasten, sondern ihrem Status als irritierende Wesen, welche an der Harmonie der Schöpfung nicht teilhaben. Ihr Wohnort, der Tempel des Todesgottes, erscheint damit auch als sinnfälliger Ort der einzigen Bestimmung ihres Seins.
Abb. 4 Johnnie To: Blind Detective (2013) Das Motiv der seherischen Fähigkeit, die an einen letalen Wahrheitsdrang gekoppelt ist, findet sich auch in Blind Detective wieder, einem Action-Film des Hongkonger Regisseurs Johnnie To.20 A Tong sucht den bei einem Dienstunfall erblindeten Zhuang auf, damit er ihr bei der Personensuche nach Xiao Min helfe, einem vor zehn Jahren spurlos verschwundenen Mädchen. Seit seiner Erblindung verfügt Zhuang über eine sehr ausgeprägte Vorstellungsgabe, die es ihm ermöglicht, potentielle Szenarien des Tathergangs durchzuspielen und mit den darin aufscheinenden Personen in Dialog zu treten. Als diese innerlichen, stets mit einem Blaustich versehenen Szenen jedoch wiederholt ins Nichts führen, versucht A Tong die Technik des blinden Detektivs für sich selbst zu erlernen. Um sich in die Lage von Xiao Min hineinzuversetzen, geht sie nach Art des Method Acting vor und fügt sich schließlich jene Selbstverletzungen zu (Abb. 4), die laut der Aktenlage in einem solchen Fall wahrscheinlich sind.
19 Vgl. Jinhua Dais Verdikt: „The film is nothing more than a broad and random space for situating meaning.“ Jinhua Dai: Postcolonialism and Chinese Cinema of the Nineties. In: Jiang Wang, Tani E. Barlow (Hrsg.): Cinema and Desire: Feminist Marxism and Cultural Politics in the Work of Dai Jinhua. London: New Left Books 2002, S. 49-70, hier S. 60. 20 Blind Detective (Originaltitel: mangtan 盲探; HK/CN 2013, R: Johnny To)
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Die gut zehn horizontalen Schnitte, die sie mit dem Stanley-Messer über ihren Arm vollführt, tun zuletzt ihre Wirkung und sie gerät auf eine fruchttragende Spur. Als Zhuang auf die schwangere Verschollene trifft, sie jedoch nicht ihre vorgeschobene Ersatzidentität aufgeben möchte, lockt er Xiao Min aus der Reserve, indem er ihr die verschiedenen Stationen ihres Verschwindens nacherzählt. Die Gefundene reagiert auf zweifache Weise: Unwillkürlich bricht ihr Fruchtwasser, doch als er ihr bei der Geburt helfen möchte, stößt sie ihm ein Küchenmesser in die Brust. Zhuang und A Tong bemächtigen sich ihrer Geschichte mit einer Fähigkeit, die ans Seherische grenzt und dabei an der Welt der schriftlichen Bezeichnungen vorbeigeht. Damit vergehen sie sich am Zeichen, das sie dechiffrieren und damit auslöschen wollen. Insofern ist das Happy End ein Kompromiss, der allein den Konventionen des Kriminalfilms Rechnung trägt: Die Verbrecherin Xiao Min stirbt, davor schenkt sie jedoch noch einer Tochter das Leben. Als sich Zhuang allmählich von dem Wunden des Angriffs erholt, entdeckt er – einem relativ ähnlichen Muster folgend wie Xiao Ma in Blind Massage – seine Zuneigung für A Tong. Wie bei der Schönheit gilt auch für das Motiv des Sehers, dass sich die Bedeutung des visuell erfahrbaren Zeichens nicht relativieren lässt. Es gibt keine Kompensation für das Schriftdefizit. Die speziellen Fähigkeiten, welche der Blinde abgesehen von einem feinen Gehör und gutem Geruchssinn entwickelt und die ihn über die Sphäre des Normalmenschlichen hinausheben, gehören letztendlich in den Einzugsbereich des Irrtums und Betrugs.
B ETRUG : H APPY T IMES (2001), H OUSE D AGGERS (2004)
OF THE
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Dass der Blinde den Betrügereien der Sehenden ausgeliefert ist, liegt auf der Hand. Unter den Regisseuren der Fünften Generation wird Zhang Yimou besonders häufig dem Vorwurf der Amerikanisierung ausgesetzt – ein Vorwurf, der auf seine Vorliebe für solche Drehbücher anspielt, die dem Exotismus und Orientalismus des westlichen Publikums entgegenkommen.21 Sperrige Konzepte wie der chinesische Blindheitsdiskurs müssen so weit ausgedünnt werden, bis sie jene Allgemeinverständlichkeit erreichen, die ein Blockbuster-Publikum fordert. Blindheit wird hier zur Einkleidung eines viel allgemeineren Themas – Betrug. So prätentionslos Zhang Yimous Plots auch beginnen, so raffiniert sind die Verwicklungen, in die er sein reduziertes Personal verstrickt – und an denen sie letztendlich zu Grunde gehen müssen.
21 Vgl. George Ritzer: The Globalization of Nothing. London: Sage 2007, S. 28-29.
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Happy Times basiert auf einer Kurzgeschichte des chinesischen Nobelpreisträgers Mo Yan und spielt im Milieu von entlassenen Fabrikarbeitern.22 Der Betrug besteht zunächst darin, dass der seiner Existenzgrundlage beraubte Zhao eine einigermaßen wohlhabende Frau heiraten möchte. Zu diesem Zweck stellt er sich einer Kandidatin als erfolgreicher Hotelmanager vor und schindet damit wie geplant großen Eindruck. Sogleich wird ihm jedoch die ungeliebte blinde Stieftochter Wuying aufgebürdet: Sie solle doch in seinem Hotel als blinde Masseuse arbeiten. Zhao und seine Freunde meinen den ersten Betrug durch einen zweiten decken zu können, indem sie für Wuying ein groß angelegtes Schauspiel inszenieren: Gemeinsam richten sie in einer freistehenden Fabrikhalle ein Massagezimmer her. In den besten Szenen wirkt Happy Times, als würde das Drehbuch nicht der Feder Mo Yans, sondern Charlie Kaufmanns entspringen: Die Freunde stehen auf einer rostigen Plattform und blicken ins Massagezimmer hinunter, wo Zhao und Wuying sich über den Tagesablauf unterhalten. Allmählich tauchen Risse in der Illusionswelt der Blinden auf: Der Kassettenrekorder, auf dem die Geräusche eines betriebsamen Hotels abgespielt werden, bleibt stehen oder macht quietschende Spulgeräusche. Als Wuying mit dem Staubbesen die Höhe der Decke abtasten möchte, stellt sich das Massagezimmer als schier unbegrenzt hoch heraus (Abb. 5). Notwendigerweise müssen die Betrüger im Verlauf der Handlung zu Betrogenen werden. Dies zeigt sich nicht nur darin, dass Zhao zuletzt von seiner Braut als Hochstapler entlarvt wird, sondern in Miniaturen, welche mit der Verwirrung spielen, die das Spiel von Realität und Fiktion produziert. Als den Freunden das Geld ausgeht und sie fortan Wuyings Trinkgeld mit Spielgeld ersetzen, scheint ihr Plan zunächst aufzugehen. Der Erste, der sie mit Spielgeld bezahlt, meint erleichtert, dass die blinde Masseuse nichts bemerkt hätte: Niuben: Ich zerknitterte den Schein also, ganz wie du’s gesagt hast, und tat ihn in meinen Hosensack. Ich zog ihn langsam heraus, als ob er echt sei und drückte ihn ihr in die Hand ... (er zieht einen Schein Falschgeld hervor) Sag’, wie viele Scheine hast du mir mitgegeben? Zhao: Zwei. Niuben: Mist! Jetzt hab ich ihr mein richtiges Geld gegeben!23
Niubens Missgeschick lässt sich noch weglachen, als die Freunde aber bemerken, dass sich Wuying vom angesparten Geld eine Augenoperation leisten möchte, erhält die Geschichte einen tragischen Anstrich. Zuletzt verlässt sie Zhaos Wohnung und hinterlässt ein Tonband. Offenbar wusste sie von Anfang an um den Betrug,
22 Happy Times (Originaltitel: xingfu shiguang 幸福時光; CN 2000, R: Zhang Yimou) 23 „牛犇:我挼一挼,让它很像,你说得一样。放在我窦里,当作是真的,慢慢掏出 来,给她手里 ... 你给了我几个?——老赵:两张。——牛犇:完蛋了!我把自 己的钱给她!“
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doch spielte sie mit, weil sie wusste, dass das Schauspiel auf einer noblen Intention beruhte: „Jeden Tag habt Ihr euch den Kopf zerbrochen, wie Ihr mich betrügen könnt. Aber ich fühlte mich nie betrogen. Ganz im Gegenteil, ich fühlte mich sehr glücklich.“24 Ihre Abschiedsworte fallen überraschend versöhnlich aus.
Abb. 5 Zhang Yimou: Happy Times (2000) Durch diesen Abschluss folgt Happy Times insgeheim derselben politischen Tendenz, die man aus Zhangs anderen Filmen, vor allem aus Hero (2002) kennt: Der individuelle Anspruch auf Freiheit oder Wahrheit soll einem höheren Interesse aufgeopfert werden. Wird nun in Hero diese Denkfigur auf ziemlich unverhohlene Art und Weise auf die Prärogative der Staatsgewalt appliziert,25 ist sie in Happy Times auf ein rein zwischenmenschliche Dimension reduziert: Der Betrug stellt sich rückblickend als ein zärtlicher heraus. Gleichzeitig wird ein durch und durch positives Bild von Wuying gezeichnet: Als die Betrüger langsam auf den Betrug aufmerksam werden, dem sie ausgesetzt sind, ist Wuying längst einen Schritt weiter und setzt sich ihm freiwillig aus. Ihre moralische Überlegenheit ändert allerdings wenig daran, dass sie gemeinsam mit den Betrügern untergehen muss. Wo Happy Times mit einer Kaskade von drei Ebenen des Betrugs beeindruckt, setzt House of the Flying Daggers noch eine weitere Ebene ein, die den Zuschauer selbst betrifft.26 Jin und Liu, zwei kaiserliche Geheimpolizisten, nehmen die blinde Tänzerin Mei gefangen, die in Verbindung mit einer Räuberbande steht. Um auf de24 „你们每天在想办法骗我,可我从来不觉得被骗的。相反,我觉得我很幸福。“ 25 Vgl. Chris Berry, Mary Farquhar: China on Screen. Cinema and Nation. Chichister NY: Columbia University Press 2006, S. 167-68. 26 House of the Flying Daggers (Originaltitel: shimian maifu 十面埋伏; CN 2004, R: Zhang Yimou)
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ren Fährte zu kommen, befreit sie Jin dem Schein nach und verteidigt sie gegen kaiserliche Soldaten. Als Mei seinen Heldenmut registriert und Vertrauen zu ihm gewinnt, gerät Jin plötzlich in die misslichen Lage, von echten Soldaten angegriffen zu werden. Der Betrüger wird zum Betrogenen. Doch als sich nun herausstellt, dass Mei gar nicht blind ist und dass Liu, der andere Geheimpolizist, ein Spitzel der Räuberbande und darüber hinaus Meis Liebhaber ist, beginnen die Fronten zu verschwimmen: Mei, die Betrügerin, verliebt sich nun in Jin, den Betrogenen, und provoziert damit das tragische Ende aller Beteiligten. Da die drei Betrugsebenen noch eine vierte implizieren, handelt der Film zuletzt doch noch von Blindheit – doch im übertragenen Sinne. Blind ist allerdings nicht Mei, die sich als sehend herausstellt, sondern wir, die Zuschauer. Im Rückblick erscheint die erste Kampfszene als mutwilliges Schattenspiel: Dort nimmt Liu (in seiner Funktion als Polizist) Mei (der blinden Tänzerin) eine Probe auf ihr feines Gehör ab und fordert sie zum Echospiel heraus, das zuletzt in einem Kampf zwischen den beiden eskaliert. Die Kamera zeigt Mei stets mit abgesenktem Gesicht und gespitzten Ohren und suggeriert damit den kompensierenden Gehörsinn der Blinden. Die Opulenz der Bilder verdeckt Lius tatsächliche Allianz mit der Tänzerin, die er tatsächlich im ersten Moment des Kampfes wiederholt anlächelt, wie sie den Zustand von Meis Wahrnehmungsvermögen verhehlen. Der aus My Spectacular Theater bekannte Konflikt des audiovisuellen Mediums und dem blinden Publikum, das von einer Dimension der Wahrnehmung ausgeschlossen ist, wird zu einem mit dem sehenden Publikum. Mit seinem historischen Kostüm, den Haarteilen und Seidengewändern erzielt House of the Flying Daggers zuletzt den selben Effekt wie Zheng Jians traumwandlerisch schwebende Kamera in Blind Massage: Doch werden nicht nur die Bilder in Fragmente zerlegt und rekombiniert, sondern auch die Figuren, deren tatsächliche Allianzen immer unklarer und letztendlich, da Mei vom Dolch getroffen in den Schnee sinkt, irrelevant werden. Geblendet von der Bilderflut und den Betrugskaskaden muss sich der Zuschauer seine Blindheit eingestehen: Den Signifikanten können keine Signifikate mehr zugeordnet werden. Kehren wir zum Gründungsmythos der Schrift zurück, so müssten wir die Entdeckung Cang Jies anders schreiben: Auf die Hufspur aufmerksam gemacht, schüttelt der Jäger den Kopf und kann sich bloß vage an Flügel und eine Löwenmähne erinnern, während ihm die Namen und Bezeichnungen längst entfallen sind. Dies erklärt freilich auch, weshalb das tragische Ende ganz untragisch wirkt. Dass Mei im Schnee verblutet, spielt plötzlich nur mehr eine Nebenrolle. Die Blutstropfen, die ihr aus dem Mund laufen, deuten nicht mehr auf eine tragische Liebesgeschichte hin, denn längst hat der Zuschauer den Überblick über die Betrugsebenen verloren. Stattdessen erscheint Meis Blut vor dem Hintergrund des Schneesturms als passender Farbkontrast (Abb. 6). Die Ordnung der Dinge wie sie von den Schriftzeichen Cang Jies hergestellt werden, wird hiermit endgültig verwirrt. Zhang Yimou, der erfolgreichste chinesische Regisseur der Gegenwart, ver-
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letzt konsequent die behauptete Übereinstimmung zwischen Schriftzeichen und Schöpfung. Die Erblindung qua Bilderflut, jener Endpunkt von Zhang Yimous Ästhetik, wird darüber hinaus zur Bedrohung für den Sehenden: Fungierte der Blinde in den anderen Referenzfilmen stets als Von-vorn-herein-Gescheiterter, der die Harmonie der Schöpfung in Frage stellt, kommt ihm hier die Rolle als Identifikationsfigur zu. Inmitten einer unharmonischen Welt, in der Cang Jie keine Korrespondenz mehr zwischen Signifikat und Signifikant herstellen kann, ist der Blinde genauso blind wie der Sehende.
Abb. 6 Zhang Yimou: House of the Flying Daggers (2004)
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Genauso wie Zhang Yimou und die Vertreter des chinesischen Independent-Kinos immer wieder verdächtigt werden, ihr heimisches Kinopublikum zu vernachlässigen, stellt sich die Frage, inwieweit sich die oben genannten Filme einem blinden Publikum hin öffnen. Inwieweit nehmen die Filme selbst jene Mittlerrolle der OffStimme aus Blind Massage und der Ekphrasis Chen Yus ein? Partizipieren sie an der Bevormundung, welche der Mythos dem Schriftbefähigten gegenüber dem Schriftunkundigen zuweist – oder erlauben sie dem blinden Publikum eine eigenständige Erfahrung? So wie der Blinde des Gesichtssinn beraubt ist, muss der Filmemacher gegenüber jenem anderen Sinn kapitulieren, welcher neben dem Gehör die Kunsterfahrung des Blinden ausmacht: der haptischen Erfahrung.27 Diese ist zwar auf visuellem Weg darstellbar – man erinnere sich an die Gesichtsbetastungen in Blind Massage und My Spectacular Cinema –, doch geht sie damit auch am blinden Kinogän27 Vgl. Rudolf Arnheim: Perceptual Aspects of Art for the Blind. In: Journal of Aesthetic Education, Nr. 24.3 (1990), S. 57-65.
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ger vorbei. Ein Film muss gleichzeitig als Hörspiel mitgedacht sein, sofern man ihn als Film für Blinde und nicht nur als Film über Blinde verstanden haben will. Zhang Yimous Filme betonen zwar die moralische Leistung des Blinden – oder eben: die des blinden Sehenden –, doch eignen sie sich kaum für ein blindes Publikum im eigentlichen Sinn. Im Zentrum von House of the Flying Daggers stehen Choreographien bzw. Kampfszenen, in denen die Kommunikation zwischen den unterschiedlichen Parteien ausschließlich über Blicke erfolgt. Gerade die sinnfälligsten Betrugsszenen in Happy Times verschließen sich dem reinen Zuhörer, weil sie gerade auf dem visuellen Kontrast zwischen dem improvisierten Massageraum (in der Fabrikhalle) und Wuyings vorgeblicher Täuschung aufbauen. Die blau getünchten Visionen in Blind Detective, mit welchen Zhuang die unterschiedlichen Szenarien durchspielt, öffnen sich ebenso wenig dem blinden Zuschauer. Life on a String, My Spectacular Theater und Blind Massage hingegen kommen einem blinden Publikum entgegen – und zwar aus sehr unterschiedlichen Gründen. Das Wüstenepos Life on a String räumt Erzählungen und Liedern einen festen Platz ein, die dem Film jenen archaisch-allgemeingültigen Anstrich geben, den Chen Kaige anstrebt. An der dichten Stimmung kann der Zuhörer also durchaus partizipieren. My Spectacular Theater macht sich auf der akustischen Ebene ebenso kommunizierbar und zwar auf Grund seiner Verwurzelung im Genre der Romantischen Komödie: Stimmungen werden mittels (kitschiger) Musikuntermalung vermittelt, Konflikte werden via Dialog aufgebaut und gelöst. Diese Überdeterminierung kann zwar als bevormundend empfunden werden, sie trifft jedoch nicht allein den Zuhörer, sondern genauso den sehbefähigten Zuschauer. Als Independent-Film kann Blind Massage auf Gestaltungsmöglichkeiten zurückgreifen, die jene der anderen Genres übersteigt. Insofern ist es ironisch, dass die Kameraführung den Silbernen Bären erhielt, während die akustischen Gestaltungsmöglichkeiten weitgehend ungenutzt blieben, wie auch einige Rezensionen monieren.28 Die Stimme aus dem Off, die immer wieder die Handlung kommentiert und mit ihren Exkursen über Blindheit sogar über sie hinausgeht, lässt allerdings auch keinen Zweifel bestehen, dass diese Produktion eben jenes Publikum mitdenkt, von dem sie handelt. Mit dieser beobachtbaren Tendenz zum Ausschluss des blinden Publikums von Filmen, die sich des Motivs der Blindheit annehmen, schreibt die Mehrzahl der Regisseure also den Mythos von Cang Jie fort. Dem Blinden bleibt die Welt des Kinos genauso verwehrt wie dem Schriftunkundigen der Einblick in den Weltzusammen-
28 Vgl. z.B. Maggie Lees Kommentar: „the sound design, although fine, could have more inventively reflected the protag[onist]s’ hypersensitive hearing.“ (Maggie Lee: Berlin Film Review of Blind Massage. In: Variety vom 11.02.2014, vgl. auch unter: http://variety.com/2014/film/reviews/berlin-film-review-blind-massage-1201095936/, letzter Zugriff am 21.09.2014.
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hang. Auf der Handlungsebene trägt jeder dieser Filme jedoch auf seine Weise dazu bei, dass der Mythos der Schriftgründung neu gedacht werden kann: Da Cang Jie vor seiner Idee der Schriftgründung jener Hilfestellung des Jägers bedurfte, um Pixius Hufspuren zu identifizieren, darf er als Urfigur des Blinden rekonfiguriert werden. Unter Anleitung des Jägers – bzw. einer Jägerin – erarbeitet er sich auf ungeahntem Wege seine eigene Schrift.
Nicht-Sehen in der audiovisuellen Kultur Zur Produktion von Blindheit in TV-Wissenssendungen A NNA G REBE
1. E INLEITUNG Dokumentarfilme wie Frederick Wisemans Multi-Handicapped-Serie von 1986/1987 oder Werner Herzogs Land des Schweigens und der Dunkelheit aus dem Jahr 1971 scheinen bislang in der Forschung über das Verhältnis von Blindheit und dokumentarischen Formen zu den am häufigsten genannten Beispielen zu zählen. Gleichzeitig erfahren sie im Vergleich zu den anderen filmischen Werken im Œuvre des jeweiligen Regisseurs nur eine geringe Aufmerksamkeit in der medienund kulturwissenschaftlichen Forschung, wie Sharon L. Snyder und David T. Mitchell bemerkt haben.1 Die Disability-Forscher/innen haben unter dem Fokus eines kulturwissenschaftlichen Zugriffs die Konstitution von „totalen Institutionen“2 im Anschluss an Foucault in Wisemans Werkreihe herausgearbeitet und dabei festgestellt, dass die filmische Produktion von Räumen der Disziplinierung zugleich die Konstruktion eines von der Institution abhängigen Subjektes forciert, die ihm diesen Subjektstatus sogleich wieder entzieht.3 Wisemans audiovisuelle Annäherung an die ‚Anstalt‘, so Snyder und Mitchell, verweise auf die mitnichten überkommenen Konzepte der (Selbst-)Disziplinierung im Lichte des Panoptikons.4 Die Kamera- und Montagearbeit akzentuiere gerade das Spannungsverhältnis zwischen
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Sharon L. Snyder, David T. Mitchell: Cultural locations of disability. Chicago: University of Chicago Press 2006, S. 138.
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„Eine totale Institution läßt sich als Wohn- und Arbeitsstätte einer Vielzahl ähnlich gestellter Individuen definieren, die für längere Zeit von der übrigen Gesellschaft abgeschnitten sind und miteinander ein abgeschlossenes, formal reglementiertes Leben führen.“ Erving Goffman: Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1972, S. 11.
3
S. L. Snyder, D.T. Mitchell: Cultural locations of disability, S. 133-155.
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Ebd.
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dem Rehabilitationstraining – z. B. mithilfe von Blindenführhunden –, und der Separations- und Behandlungslogik, dem Menschen mit Behinderung unterliegen.5 Was in solcherart und vergleichbaren Analysen6 jedoch meist vernachlässigt wird, ist das dem Medium Film – nicht nur, aber insbesondere im Modus des Dokumentarischen (bzw. mit Blick auf die nachstehenden Beispiele: Dokumentarisierenden) – inhärente Potential, ‚Behinderung‘ selbst als ein sich ständig neu ereignendes „doing dis/ability“7 audiovisuell zur Aufführung zu bringen. Die „Performanz des Filmbildes“8 verschränkt dabei filmisches Zeigen und Erzählen mit einem „quasi performative[n] Blick des Zuschauers“, der so der „filmischen Enunziation“9 entgegentritt. ‚Behinderung‘ gereicht zum filmischen Werden zwischen ästhetischer Manifestation und Rezeption im Dispositiv audiovisueller Medien.10 Als besondere Herausforderung gilt dabei gerade das Verhältnis von Hören/Nicht-Hören und Sehen/Nicht-Sehen im Spannungsfeld von (Re-)Präsentation und Rezeption, wenn Blindheit und Gehörlosigkeit als mediale Phänomene einer Logik audiovisueller Bedingtheit unterworfen sind. So hat auch an anderer Stelle Beate Ochsner in ihrer Analyse von Land des Schweigens und der Dunkelheit (BRD 1971) darauf auf-
5
Ebd., S. 145.
6
Zum Beispiel Silke Bartmann: Der behinderte Mensch im Spielfilm. Eine kritische Auseinandersetzung mit Mustern, Legitimationen, Auswirkungen von und dem Umgang mit Darstellungsweisen von behinderten Menschen in Spielfilmen. Münster: Universität Münster 2001; Esther-Skadi Brunn: Darstellung von Menschen mit Behinderungen in den Medien. Ein medialer Querschnitt – Sensationslust, Stigmatisierung, Aufklärung, Gefälligkeitsübersetzung. Saarbrücken: VDM Verlag Dr. Müller 2008; Stefan Ripplinger: I can see now. Blindheit im Kino. Berlin: Verbrecher Verlag 2008; Marta Badia Corbella, Fernando Sánchez-Guijo Acevedo: The Representation of People with Visual Impairment in Films. In: Journal of Medicine and Movies Volume 6 (2010) u.v.m.
7
Michael Schillmeier: Dis/Abling Practices. Rethinking Disability. In: Human Affairs 17 (2007), S. 195-208.
8
Gertrud Koch: Was machen Filme mit uns, was machen wir mit ihnen? – Oder lassen wir die Dinge mit uns machen. In: Ludger Schwarte (Hrsg.): Bild-Performanz. München 2011, S. 231-244, hier S. 233.
9
Philipp Blum: Transgender/Transgenre: Filmische Übersetzungen uneindeutiger Geschlechter-Performanzen zwischen Fiktion und Non-Fiktion. In: Sven Stollfuß, Monika Weiß (Hrsg.): Im Bild bleiben. Perspektiven für eine moderne Medienwissenschaft. Darmstadt: Büchner Verlag 2012, S. 204-226, hier S. 208.
10 Ich beziehe mich hier auf das Dispositiv des Fernsehens, welches im Rahmen dieser Arbeit relevant werden wird: Vgl. Knut Hickethier: Dispositiv Fernsehen. Skizze eines Modells. In: montage AV 4 (1995), S. 63-83; vgl. auch Peter M. Spangenberg: Fernsehen als Wahrnehmungstechnologie. In: Knut Hickethier (Hrsg.): Fernsehtheorien. Dokumentation der GFF-Tagung 1990. Berlin: Ed. Sigma 1992.
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merksam gemacht, dass „das Bild im Sinne einer Reflexion des Blickes bzw. eines Verweis[es] auf die Medialität oder Materialität der Bildlichkeit selbst verstanden werden [muss]“.11 Damit aber werden häufig in der Forschungsliteratur Filme über Menschen mit Behinderung vornehmlich als „reine kultur- oder kommunikationswissenschaftliche Belegstellen“12 instrumentalisiert, die Behinderung nicht selten unhinterfragt als gegeben setzen. Demgegenüber nun geht es Ochsner, entsprechend des kulturwissenschaftlichen Modells der Disability Studies und im Anschluss an den Soziologen Michael Schillmeier, gerade um die filmische Modellierung ‚des Anderen‘ – ein filmisches „doing dis/ability“ – als reflexiven Gegenpol zur gleichsam konstruierten ‚Normalität‘. Hörend/Sehend und Nicht-Hörend/NichtSehend avancieren so zu Unterscheidungspraktiken im audiovisuellen Medium. Fini Straubinger, die taubblinde Protagonistin in Herzogs Dokumentarfilm, wird „als Person mit Recht auf Handlung und auf Partizipation an Situationen“13 ins Bild gesetzt und so im Gegensatz zu den anderen Taubblinden im Film – wie auch zu den „Multi-Handicapped“ in Wisemans Werken – zu einer Figur, die nicht nur zwangsläufig Widerstand gegenüber dem sie erfassenden Medium leistet, da sie weder sieht noch hört, sondern sich auch gegen einfache Zuordnungen oder Kategorisierungen zwischen ‚Opfer‘ und ‚Held‘ weigert, wie dies immer wieder im Diskurs um die Repräsentation von Behinderung in den Medien zu Recht kritisiert wird.14 Im Rahmen dieses Aufsatzes möchte ich mich nun mit dem filmischen Werden von Blindheit bzw. Sehbehinderung befassen – und mithin die Perspektive auf ‚Blindheit‘ auf einen ‚blinden Fleck‘ der film- und medienwissenschaftlichen Forschung abseits von Überlegungen zu den großen dokumentarischen Werken eines Frederick Wiseman oder eines Werner Herzog lenken: Audiovisuelle Erzählungen über Nicht-Sehen im Fernsehen, dem momentan maßgeblichen Dispositiv dokumentarischer Formate, gestaltet sich immer wieder als widerständig gegenüber den epistemologischen Konfigurationen der visuellen Kultur und weist sich damit gleichzeitig als Reflexion über das Medium selbst aus, trotz oder gerade wegen der Formatierung für das Fernsehen. Meine Leitthesen sind dabei die folgenden: (1) Blindheit und Sehbehinderung werden in den nachfolgend zu analysierenden Fern-
11 Beate Ochsner: „Ich wollte, Sie könnten das auch einmal sehen“ (Fini Straubinger) – Zum Widerstand der Bilder in Land des Schweigens und der Dunkelheit. In: dies., Anna Grebe (Hrsg.): Andere Bilder. Zur Produktion von Behinderung in der visuellen Kultur. Bielefeld: transcript 2013, S. 261-280, hier S. 279. 12 Ebd., S. 265. 13 Ebd., S. 272. 14 „[…] Batman oder Bettler – zwischen diesen beiden Polen scheint es nichts zu geben, was es wert wäre, vermittelt zu werden.“ Vgl. Peter Radtke: Zum Bild behinderter Menschen in den Medien. In: APuZ. Aus Politik und Zeitgeschichte (2003), S. 7-12, hier S. 6.
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sehformaten zum Sujet eines journalistischen Interesses, das seinen Gegenstand auf eine Art und Weise dem Zuschauer zu präsentieren versucht, die Blindheit und Sehbehinderung als Faktor des narrativen Konflikts formatiert. (2) Um eine als ‚blind‘ markierte Person filmisch-narrativ in ein Feld der Normalität zu überführen, muss diese zunächst als außerhalb dieser Normalität stehend produziert werden. Zur Aufführung gelangt dabei allerdings gerade kein sich permanent im Vollzug befindendes filmisches „doing disability“, sondern ein mediales Spektakel, das eine blinde Person als ‚behindert‘ im Sinne des medizinischen Modells hervorbringt. (3) Das Fernsehen, das sich explizit an Sehende im dafür antizipierten Dispositiv richtet, bringt anhand von bestimmten Strategien der Insbildsetzung, des Framings, der Kadrierung, der Montage als auch der Tongestaltung durch Voice-Over etc. den Blinden als Antagonisten zur visuellen Kultur hervor und greift dafür auf Praktiken des Sehens zurück, die als „Effekte sozialer Ordnungen“15 stabilisiert werden. Dazu werde ich mich nach einer kurzen Einführung in die Repräsentationslogik von dokumentarischen Formaten und den sich daraus ergebenden journalistischen Erzählweisen von Blindheit als Nicht-Sehen annähern, die nicht nur auf der (Wieder-)Aufführung von Praktiken des Sehens als das audiovisuelle Regime konstituierend beruhen, sondern das Nicht-Sehen ihrer Figuren zum Ausgangspunkt der Erzählung machen. Dabei interessieren mich besonders die konkreten filmisch-ästhetischen Strategien der Übersetzung von Nicht-Sehen in ein für den sehenden Zuschauer konfiguriertes visualisiertes Zeigen, das im hier zu untersuchenden Format der ‚Wissenssendung‘ so einerseits in die Nähe medizinischer Diskurse von Behinderung rückt und andererseits das so gewonnene ‚Wissen‘ audiovisuell aufbereitet und folglich auch diskursiv stabilisiert. Abschließend gilt es konkret die Frage nach dem selbstreflexiven Verweispotenzial des audiovisuellen Mediums zu stellen, wenn doch gerade hier die Widerständigkeit von Blindheit ansetzt und den Blinden/die Blinde als Reflexionsfigur der visuellen Kultur konstituiert.16 Als Frage gewendet: Welches Wissen über Blindheit wird hier produziert?
2. W ISSENSSENDUNGEN UND DIE ‚R EALITÄT ‘ DES F ERNSEHBILDES VON S EHBEHINDERUNG Das von Akteuren der Disability Community oftmals geäußerte Verständnis von Repräsentation bzw. die Forderung nach einer angemessen Darstellungsweise von
15 Sebastian Mraczny: Blindheit und die kulturelle Produktion des visuellen Sinns. In: Österreichische Vierteljahrsschrift für Soziologie 37 (2012), S. 185-201, hier S. 186. 16 Was übrigens keineswegs bedeutet, dass blinde oder sehbehinderte Menschen nicht fernsehen, wie beispielsweise Christian Ohrens gezeigt hat: Christian Ohrens: Ich sehe was, was du auch siehst. In: Merz. Zeitschrift für Medienpädagogik 5 (2009), S. 64-69.
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Behinderung scheint vorauszusetzen, dass es möglich sei, eine vor-filmische Realität von dem, was Behinderung bedeutet, so in Bild und Ton zu übersetzen, dass das Produkt, die Repräsentation, dieser Realität in all ihren Dimensionen entspricht.17 Eine derartige technikgläubige Annahme hat sich anhand von verstärkt in den 1970er Jahren geführten Debatten unter Dokumentarfilmern jedoch auf diese positivistische Art und Weise nicht in der Filmtheorie und Filmwissenschaft halten können und wird seitdem unter dem Fokus der Analyse von authentifizierenden Strategien des Dokumentarischen verhandelt.18 Deutlich geworden ist dabei, dass eine strenge Definition des Dokumentarischen als dem Medium selbst inhärente Eigenschaft nicht möglich oder auch nicht erwünscht ist, und stattdessen ein Zugang vorgeschlagen wird, der sich aus verschiedenen Akteuren als dokumentarisierender Modus im Sinne einer Lektüremöglichkeit ergibt, der dem Fiktionalen als auch dem Non-Fiktionalen zugeschrieben werden kann. „Man sucht also nicht mehr nach den spezifischen textuellen Eigenschaften nichtfiktionaler Filme, sondern fragt nach der Art und Weise, wie Zuschauer mit Filmen, die sie als dokumentarische ansehen, umgehen.“19 Die „Spielarten des Dokumentarischen“20 lassen sich so auch im Falle des Fernsehens schon längst keinem fixen Genrebegriff mehr zuordnen, sondern bieten eine Formenvielfalt, die in hohem Maße auf Strategien der Hybridisierung beruhen und ihren Platz in der Programmstruktur öffentlich-rechtlicher als auch privater Sender gefunden haben. Wird immer wieder beklagt, dass das Fernsehen dem ‚klassischen‘ Dokumentarfilm zu wenige Sendeplätze einräume und demzufolge die meisten Dokumentarfilme entweder gar nicht im Fernsehen gezeigt werden würden oder nur sehr spät im Nachtprogramm, so bedeutet dies gleichsam nicht, dass das Dokumentarische aus dem Programm verschwunden ist.21 Stattdes-
17 In Deutschland haben sich in den letzten Jahren zahlreiche Initiativen und Projekte gebildet, die im Netz, aber auch im Rahmen von Veranstaltungen oder der gedruckten Presse sich dafür einsetzen, dass Menschen mit Behinderung so ins Bild gesetzt werden, ‚wie sie wirklich sind‘. Trotz dieses berechtigten und unterstützenswerten Vorhabens muss man dennoch aus medienwissenschaftlicher Perspektive fragen, inwiefern hier berücksichtigt wird, dass die an der Bildproduktion beteiligten Akteure und Diskurse dieses auch durchaus subversiv unterlaufen können. 18 Manfred Hattendorf: Dokumentarfilm und Authentizität. Ästhetik und Pragmatik einer Gattung. Konstanz: Ölschläger 1994, S. 15f. 19 Frank Kessler: Fakt oder Fiktion? Zum pragmatischen Status dokumentarischer Bilder. In: montage AV 7 (1998), S. 63-78, hier S. 66. 20 Thorolf Lipp: Spielarten des Dokumentarischen. Einführung in Geschichte und Theorie des Nonfiktionalen Films. Marburg: Schüren 2012. 21 Fritz Wolf: Alles Doku – oder was? Über die Ausdifferenzierung des Dokumentarischen im Fernsehen. Düsseldorf: Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen (LfM) 2003.
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sen steigt nachweislich die Beliebtheit von so genannten ‚Wissensmagazinen‘ oder ‚Wissenschaftssendungen‘, die ihrerseits wiederum sich verschiedener Genres und Formate bedienen, um sich einer Fragestellung oder einem spezifischen Thema anzunähern.22 Dabei ist die Abgrenzung von Wissenssendungen und Wissenschaftssendungen angesichts der Ausdifferenzierung und Hybridisierung von dokumentarischen Formaten keineswegs leicht vorzunehmen: Olaf Jacobs und Theresa Lorenz folgend ist das Verhältnis von Wissenschaft und audiovisueller Aufbereitung für das Fernsehen in einem „Spannungsfeld zwischen Publikumsinteresse, Publikumserwartung, wissenschaftlicher Arbeit und deren Ergebnissen, gesellschaftlichen Ansprüchen und einer sich verändernden non-fiktionalen Fernseharbeit wieder“ zu verorten.23 Dabei verstehen sie unter ‚Wissenschaft‘ in erster Linie die sich in geschlossenen und für die Mehrheit des Publikums nicht zugänglichen Räumen ereignende Forschung und ihre Praktiken der Sammelns und Auswertens von Daten. Im Gegensatz dazu weisen sie jedoch der Wissenssendung den Status einer Unterhaltungssendung zu, die oftmals im Feature- oder Magazin-Format gestaltet sich als erklärende Instanz für Alltagsphänomene versteht und die beim Publikum einen „Aha-Effekt“ erzeugen soll. Wissenschaftssendungen hingegen verstünden sich vielmehr als Vermittler zwischen der außerhalb des Fernsehens sich ereignenden Wissenschaft und dem diesen Sphären fernen Publikum.24 Für beide Formate, so Jacobs und Lorenz, ist die Zugehörigkeit zum TV-Journalismus essentiell. Der sich damit vollziehende Anspruch auf Authentizität und Realität des Gezeigten bezieht dadurch sein Referenzobjekt im Falle von Wissenssendungen aus einem dem Zuschauer bekannten Alltag, und kontextualisiert ihn gleichsam wie er ihn durch ästhetische Strategien formatiert in dessen Lebenswelt. Insofern sind Wissenssendungen auch als „Kontaktmedium“ zu erfassen, das „fortlaufend Zuschauer als Auftraggeber, Begutachter und vor allem als Teilnehmer in seine Sen-
http://www.lfm-nrw.de/fileadmin/lfmnrw/Pressemeldungen/allesdoku-kompl.pdf, letzter Zugriff am 01.04.2014. 22 Galileo (ProSieben) oder auch Planetopia (SAT1) bezeichnen sich selbst explizit als Wissensmagazine, während beispielsweise Leschs Kosmos (ZDF) als Wissenschaftssendung gewertet wird. Hier verschwimmen die Grenzen deutlich, indem auch Sendungen aus dem Bildungsfernsehen der 1970er und 1980er Jahre innerhalb dieser Kategorien verhandelt werden. 23 Olaf Jacobs, Theresa Lorenz: Wissenschaft fürs Fernsehen. Dramaturgie – Gestaltung – Darstellungsformen. Dordrecht: Springer 2014, S. 3. 24 Ebd., S. 9. Abgesehen davon, dass hier eine heuristische Trennung zwischen einem ‚Innen‘ und einem ‚Außen‘ der Wissenschaft vorgenommen wird, wird gleichsam die Annahme zementiert, dass ‚Wissen‘ wenig mit ‚Wissenschaft‘ zu tun habe bzw. ‚Wissen‘ das reduzierte Kondensat von wissenschaftlichen Praktiken sei.
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dungen“ integriert.25 Als ein auf diese Art und Weise informativ und unterhaltsam zugleich zu präsentierendes ‚Thema‘ wird auch ‚Behinderung‘ verstanden, mithin als ein „erklärungsbedürftiges Phänomen“26, das es in Form von Reportagen, DokuSoaps, Doku-Dramas, Porträts und Features und eben auch im Rahmen von Wissenssendungen (multi-)medial zu bearbeiten gilt. Die Präsenz von dokumentarisierenden Beiträgen über Menschen mit (Sinnes-)Behinderungen in Wissenssendungen bei öffentlich-rechtlichen als auch privaten TV-Anbietern ist zwar sicherlich auch in Zusammenhang mit der 2008 veröffentlichten und 2009 in Kraft getretenen UN-Behindertenrechtskonvention und den damit verbundenen Inklusionsverpflichtungen der beteiligten Staaten zu sehen, diese sozialen und politischen Bestrebungen auch in der Medienlandschaft zu verankern.27 Jedoch scheint aber gerade eine besondere thematische Faszination mit dem Phänomen der Blindheit oder Sehbehinderung einherzugehen, die auf deren Bewertung als eine ‚leichte‘ Behinderungsform beruht, die im Rahmen von Alltagspraktiken, zum Beispiel des Spiels und der Simulation, auch von Sehenden zeitlich begrenzt übernommen wird und so die Protagonisten mit einem höheren Identifikationsgrad für das Publikum versieht als dies der Fall bei Menschen mit einer starken körperlichen und/oder
25 Matthias Thiele: Boulevard und Magazin der Normalen und der Anormalitäten. In: Markus Krause, Christina Bartz (Hrsg.): Spektakel der Normalisierung, Paderborn: Fink 2007, S. 103-121, hier S. 115. Den Begriff „Kontaktmedium“ entnimmt Thiele bei Eggo Müller: Television goes Reality. Familienserien, Individualisierung und ‚Fernsehen des Verhaltens‘. In: montage AV 4 (1995), S. 85-106, hier S. 86. 26 Carolin Länger: Im Spiegel von Blindheit. Eine Kultursoziologie des Sehsinnes. Stuttgart: Lucius & Lucius 2002, S. 6. 27 Mit dem 2006 von der UNO-Generalversammlung in New York verabschiedeten, 2008 in Kraft getretenen und seit 2009 in Deutschland rechtsgültigen Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (kurz: UN-Behindertenrechtskonvention oder auch BRK) rückte in Form dieses völkerrechtlich beschlossenen Vertrages die Frage nach gleichberechtigter gesellschaftlicher Teilhabe von behinderten und nicht-behinderten Menschen in den Fokus der bundesrepublikanischen Sozialpolitik wie auch der Argumentation von Interessensgemeinschaften von und für Menschen mit Behinderung. Kernaussage der Konvention ist „die Anerkennung von Menschen mit Behinderung als vollwertige Bürgerinnen und Bürger ihres Landes, denen alle Menschenrechte zustehen und die vor allem nicht benachteiligt werden dürfen“. Vgl. die Broschüre der Aktion Mensch „Ein großer Schritt nach vorn. Das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderung“, S. 3ff (online verfügbar unter http://www.aktion-mensch.de/media/UN-Konvention.pdf, letzter Zugriff am 01.04.2014).
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geistigen Behinderung wäre.28 Zugleich referiert dies auch auf das sich gegen audiovisuelle Medien widerständig zeigende Nicht-Sehen der Protagonisten, das wiederum so eine Reflexion über das Medium selbst erlaubt. So präsentiert sich im Bereich der für das Fernsehen produzierten dokumentarischen Formate ein breites Feld an Zugangs- und Umsetzungsmöglichkeiten zur Übersetzung des Nicht-Sehens in ein Medium, das gerade auf der Dominanz des Sehsinns basiert, und so das nicht-sehende Subjekt als ‚abweichend‘ und das Nicht-Sehen als ‚Nicht-Normalität‘ markiert. Dies erfordert nicht nur eine Berufung auf bestimmte Praktiken der Sichtbarmachung als auch der Unsichtbarmachung von Blindheit als essentialisierte Antwort auf die Fragen eines sehenden Zuschauers, sondern bringt diese erst als tatsächliche Problemstellung hervor. Dabei wird ‚Behinderung‘ nicht selten als mediales Spektakel präsentiert, das dadurch in die Nähe eines seiner historischen Vorfahren, nämlich der Freak Show, rückt.29 Während das medizinische Modell von Behinderung diese als „tragischen Defekt“30 und als mit entsprechender Behandlung zu überwinden kennzeichnet, bestehen Vertreter/innen des sozialen Modells auf der gesellschaftlichen Konstruktion von Behinderung. Diese bedeutet so „die Benachteiligung oder Einschränkung von Aktivitäten“31, „verursacht durch eine zeitgenössische soziale Organisation, die Personen mit Schädigungen nicht oder nur wenig berücksichtigt und sie so von der Mehrheit sozialer Aktivitäten ausgrenzt“32. Sich gegen die damit implizierte Körpervergessenheit richtend, haben sich Anne Waldschmidt33 oder auch Michael Schillmeier34 für ein kulturwissenschaftliches
28 Dabei ist zum Beispiel an das Blindekuh-Spiel zu denken, aber auch an im Rahmen von erlebnispädagogischen Übungen durchgeführte ‚Experimente‘ zur Selbsterfahrung mit verbundenen Augen. 29 Vgl. Anja Tervooren: Freak-Shows und Körperinszenierungen. Kulturelle Konstruktionen von Behinderung. In: Behindertenpädagogik 41 (2002), S. 173-184; vgl. auch Robert Bogdan: The social construction of freaks. In: Rosemarie Garland-Thomson (Hrsg.): Freakery. Cultural Spectacles of the Extraordinary Body. New York: New York University Press 1996, S. 23-37 u.v.m. 30 Cornelia Renggli: Disability Studies. Ein historischer Überblick. In: dies., Jan Weisser (Hrsg.): Disability Studies. Ein Lesebuch. Luzern: Ed. SZH/CSPS 2004, S. 15-26, hier S. 16. 31 Union of Physically Impaired Against Segregation (UPIAS) 1976, zitiert n. Michael Oliver: Understanding Disability. London: Macmillan 1996, S. 22. 32 Ebd. 33 Anne Waldschmidt: Disability Studies: individuelles, soziales und/oder kulturelles Modell von Behinderung? In: Psychologie und Gesellschaftskritik 29 (2005), S. 9-31; Werner Schneider, Anne Waldschmidt: Disability Studies. (Nicht-)Behinderung anders denken. In: Stephan Moebius (Hrsg.): Kultur. Von den Cultural Studies bis zu den Visual Studies: eine Einführung. Bielefeld: transcript 2012, S. 128-150.
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Verständnis von Behinderung stark gemacht, das auf der Ereignishaftigkeit von Praktiken beruht, die Diskursen gleichend „systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen“35. Daran anknüpfend betont Schillmeier, dass die Betonung nicht auf dem naturalistischen „Behindert-Sein“, sondern auf dem „BehindertWerden“ in seinem Zusammenspiel zwischen sozialen und nicht-sozialen Akteuren liegt.36 Dieses „doing dis/ability“ in seinem beweglichen und prozessualen Charakter ist dementsprechend gekennzeichnet durch das „situative Ineinanderwirken und Verknüpftsein von menschlichen und nicht menschlichen Akteuren, Prozessen und Praktiken, welche die komplexen und kontingenten, guten wie schlechten Erfahrungen von Behinderung, von verhindernden oder einschränkenden wie ermöglichenden (dis/abling) Szenarien aktualisieren.“37 Als ein solches Szenario ist folglich auch die Freakshow zu verstehen, die als öffentliche Ausstellung von Menschen mit körperlichen Abweichungen deren Besonderheiten dem Publikum auf einer Bühne durch verschiedene Inszenierungsmodi präsentiert (z.B. Lichtsetzung, Musik, Zeigegestus des Direktors oder ‚Besitzers‘). Zugleich können diese Merkmale aber auch für das televisuelle Dispositiv und dessen Bestandteil der Programmstruktur von Wissenssendungen lesbar gemacht werden, deren Anspruch, für ein breites Publikum einen sichtbaren und sehenswerten „Konflikt“ aufzubereiten und gleichsam jenen „Aha-Effekt“ zu erzeugen, notwendigerweise auf Vereinfachungen, Verkürzungen und Vernachlässigung wissenschaftlicher Erkenntnis und sozialtheoretischer Grundlagen zurückgreifen muss.38 Behinderung – und in unserem Falle: Blindheit – wird so zur „Optik“39 im Sinne eines sozialen/nicht-sozialen Aussagesystem zwischen audiovisuellen Bildern und dem dispositiv zugerichteten Blick des Betrachters, das eine Wahrheit über das, was Blindheit ‚bedeutet‘, immer wieder neu aushandelt und damit zugleich erst hervorbringt. Im Folgenden werde ich daran anknüpfend anhand einer schlaglichtartigen Analyse von drei rezenten und sich selbst als Wissenssendungen bezeichnenden Formaten herausarbeiten, wie das jeweilige audiovisuelle Regime Blindheit als Abweichung von einer sich damit konstituierenden ‚Normalität‘ konfiguriert. Zu zeigen sein wird einerseits das Übersetzen von Nicht-Sehen als subjektive Erfah-
34 Michael Schillmeier: Zur Politik des Behindert-Werdens. Behinderung als Erfahrung und Ereignis. In: Werner Schneider, Anne Waldschmidt (Hrsg.): Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung. Bielefeld: transcript 2007, S. 79-99. 35 Michel Foucault: Archäologie des Wissens. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1981 (1973), S. 74. 36 M. Schillmeier: Zur Politik des Behindert-Werdens, S. 88. 37 Ebd., S. 91. 38 O. Jacobs, T. Lorenz: Wissenschaft fürs Fernsehen, S. 6. 39 Markus Dederich: Körper, Kultur und Behinderung. Eine Einführung in die Disability Studies. Bielefeld: transcript 2007, S. 41.
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rung in Bild und Ton sowie andererseits das Produzieren von Sehen als hegemonial-dominanter menschlicher Sinn. Zwei der drei gewählten Sendungen sind in erster Linie für das öffentlich-rechtliche Fernsehen in der Bundesrepublik produziert worden: Wie sieht die Welt für Blinde aus? aus der Reihe Willi wills wissen40 (FWU/BR 2005), die sich besonders an Kinder richtet und seit 2002 in 173+ Episoden Alltagsphänomene zu erklären versucht, sowie das Magazin Faszination Wissen41 zum Thema Mit anderen Augen. Wie Blinde ihr Leben meistern (BR 2009). Das dritte Beispiel ist ein Beitrag aus der Wissenssendung Galileo42 des privatkommerziellen Senders ProSieben über den blinden PR-Berater Heiko Kunert (ProSieben 2009). Diese drei Formate sollen entsprechend ihrer unterschiedlichen dokumentarisierenden Darstellungs- und Erzählformen exemplarisch analysiert werden, die sich ästhetisch nicht nur streng non-fiktionaler Strategien bedienen, sondern gleichsam Archivmaterial, Animationen, nachgestellte Szenen und Studiomoderationen in ihr Narrationsgeflecht mit einarbeiten. Wenngleich sich die gewählten Beispiele an unterschiedliche Zuschauergruppen zu richten scheinen (Willi wills wissen ist eine Sendung für Kinder im Grundschulalter, Galileo findet sein Hauptpublikum in der Zielgruppe zwischen 14 und 49, und Faszination Wissen zielt als magazinartig gestaltetes Programmformat auf eine erwachsene Zuschauer/innenschaft), und sich individuell als Formate und auf bestimmten Sendeplätzen etabliert haben, so ist ihnen gleichsam als Stilmittel die Reduzierung von (wissenschaftlicher) Komplexität inhärent, um vielschichtige Themen anschaulich und unterhaltsam präsentieren zu können. Dafür bedienen sie sich verschiedener narrativer und technischer Strategien, die aufgrund ihrer Referenz auf filmästhetische Konventionen vergleichbar werden und umso mehr ihre Zugehörigkeit zu einem audiovisuellen Regime von Blindheit performieren. Auf diese Weise, wie noch zu zeigen sein wird, erfährt die ästhetisch-narrative Produktion von Sehen und Nicht-Sehen als Kontrapunkt visueller Kultur nicht nur eine stete Veränderung bzw. Erweiterung, sondern auch eine medienreflexive Ebene.
40 Willi wills wissen: Wie sieht die Welt für Blinde aus? (FWU/BR 2005). Informationen zur Sendung und zum Format: http://www.checkeins.de/willi-wills-wissen.html, letzter Zugriff am 02.04.2014. 41 Faszination Wissen: Wie Blinde ihr Leben meistern (BR 2009). http://www.br.de/fernsehen/bayerisches-fernsehen/sendungen/faszination-wissen/index.html, letzter Zugriff am 02.04.2014 42 Galileo-Sendung vom 22. Juli 2009. http://www.prosieben.de/tv/galileo, letzter Zugriff am 02.04.2014.
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3. B LINDHEIT
ALS DRAMATURGISCHES
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‚P ROBLEM ‘
„Man kann es sich im Grunde nicht wirklich vorstellen. Wie muss es sein, wenn man nicht sehen kann? Heiko Kunert ist seit seinem 7. Lebensjahr blind und er sagt: Ich bin glücklich. Er möchte Ihnen jetzt zeigen, wie seine Welt aussieht.“ Die kurze Anmoderation des etwa elfminütigen Galileo-Beitrags vom 22. Juli 2009 durch Aiman Abdallah gleicht in ihren Grundzügen einer reduzierten literarischen Exposition und definiert so den Rahmen und das ‚Problem‘, mit dem sich das kurze filmische Porträt des PR-Managers Heiko Kunert beschäftigen soll: Die Alltagsbewältigung einer Person, die trotz der Tatsache, dass sie blind ist, zufrieden ist. Die Unterscheidung, die hier getroffen wird, weist dem Protagonisten Heiko einen Platz auf der Seite des ‚trotz‘ zu, ferner des Feldes, das sich außerhalb dessen befindet, was gleichsam als dessen Inhalt definiert wird, nämlich das einer wie auch immer gearteten Normalität.43 Insofern markiert sich Abdallah selbst als in diesem Normalitätsfeld befindend, indem er auf die Unmöglichkeit der Vorstellung oder gar der Selbsterfahrung von Blindheit referiert und sie narrativ zu seiner eigenen Empfindung macht. Als Moderator in einem Studio-Setting, der den Zuschauer direkt und mit dem Zeigefinger deutend anspricht, wird er so auch audiovisuell vom darauf folgenden Beitrag abgetrennt, indem ein Schnitt erfolgt und von einem Voice-Over begleitet die Kamera aus der Froschperspektive an einen Mann heranfährt, der inmitten einer Menschenmenge in einer Fußgängerzone steht. Der so durch filmisch-ästhetische Mittel erzeugte Gestus bedeutet dem Zuschauer, dass es sich bei diesem Mann um jenen Heiko handelt, der nun selbst durch die Barriere des Fernsehbildschirms hindurch seine Alltagspraktiken vorstellen wird, und schafft so eine besondere Personenorientierung, die zugleich auch ein hohes Maß an Authentizität versichert. So wird das Nicht-Sehen als Eigenschaft in Opposition zum Sehen gesetzt und zum Anlass des Erzählens genommen. Sharon L. Snyder und David T. Mitchell bezeichnen diese Funktion der als außerhalb der Normalität stehend markierten Figur in ihrer Studie Narrative Prosthesis für fiktionale und insbesondere für literarische Formate als „crutch“, als Krücke oder Hilfsmittel, anhand derer erst eine Erzählung generiert werden kann: „[…] once singled out, the [disabled] character becomes a case of special interest who retains originality to the detriment of all other characters.“44 Das Voice-Over, das zu Beginn des Beitrags
43 Jürgen Link: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. Opladen: Westdeutscher Verlag 1997; Jürgen Link: „Irgendwo stößt die flexibelste Integration schließlich an eine Grenze“. – Behinderung zwischen Normativität und Normalität. In: Sigrid Graumann (Hrsg.): Ethik und Behinderung. Ein Perspektivenwechsel. Frankfurt a. M.: Campus-Verlag 2004, S. 130-139 u.v.m. 44 Sharon L. Snyder, David T. Mitchell: Narrative Prosthesis. In: Lennard J. Davis (Hrsg.): The Disability Studies Reader. New York: Routledge, S. 274-287, hier S. 280.
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einsetzt, stellt Heiko folglich als jene Figur heraus, deren Eigenschaft des BlindSeins nicht zwingend im metaphorischen Sinne als ‚Verschlossenheit‘ gegenüber der Welt zu verstehen ist45, sondern im Zusammenspiel mit der verwendeten Montagetechnik körperlich real ins Bild gesetzt und so wiederum selbst als Bild stabilisiert wird: Indem die Kamera ihn umrundet und mit schnellen Schnitten und Einstellungswechseln sowie dunklen Filtern die sich um ihn herum in Helligkeit bewegenden Menschen in einer Fußgängerzone kontrastiert, wird er als filmisch still gestellte Figur nicht nur visuell von seiner Umwelt abgetrennt, sondern durch das Voice-Over als ein mit negativen Zuschreibungen versehenes Phänomen markiert, das es zu (er)klären und zu dem es auch spezifisches Wissen zu vermitteln gilt: „Ein Leben in völliger Dunkelheit. Für die meisten Menschen ein absoluter Alptraum. Für Heiko: Realität.“ Das Nicht-Sehen, für den sehenden Zuschauer als ‚alptraumhafte‘ Realität gekennzeichnet und mit der Verdunklung des Filmbildes untermalt, wird dadurch neben seiner Funktion als narrative ‚Krücke‘ gleichsam zu einer Zuschreibung an eine Minderheit, die sich von der sehenden Mehrheit, den „meisten Menschen“, abgrenzen lässt. Blindheit nicht nur als Nicht-Sehen, sondern als dem Feld der Nicht-Normalität zugehörig zu beschreiben, folgt hier also nicht nur dem von Snyder und Mitchell proklamierten Prinzip der behinderten Figur als „Narrationsfaktor“, sondern verortet diese außerhalb der damit gesetzten und eingegrenzten Normalität, um sie im Laufe des Beitrags durch Betonung ihrer Normalisierung in diese überführen zu können – so zumindest der von Abdallah in der Einführung indirekt vorgebrachte Anspruch. Trotz der für die Erzählung essentiellen Position, die an ihr Nicht-Sehen gebunden ist, und dem Anspruch, ihr in ihrem ‚ganz normalen Alltag‘ zu folgen, wird die blinde Figur vom audiovisuellen Blickregime als mit einem individuellen Problem konfrontiert produziert, das ferner bedeutet, dass die Sehbehinderung als ontologische Gegebenheit verstanden und im Zusammenspiel von Bild und Ton für den Zuschauer als „persönliche Tragödie“46 im Sinne des medizinischen Modells hervorgebracht wird. Die Einblendung von Kinderfotos verbindet sich mit dem Voice-Over, das die medizinisch-diagnostische Bedingtheit von Heikos Erblindung erläutert, zu einem Narrativ, das der Disability-Forscherin Rosemarie GarlandThomson folgend zur Bedingung der Erzählung von Behinderung wird. 47 „What happened to you?“ wird zwar nicht als direkte Frage an Heiko formuliert, jedoch durch filmisch-ästhetische Mittel, die zugleich dokumentarisierend und authentifi-
45 Julia Miele Rodas: On Blindness. In: Journal of Literary and Cultural Disability Studies 3 (2009), S. 115-130, hier S. 115f. 46 Amit Kama: Supercrips versus the pitiful handicapped. Reception of disabling images by disabled audience members. In: Communications 29 (2004), S. 446-466, hier S. 448. 47 Rosemarie Garland-Thomson: Staring Back: Self-Representations of Disabled Performance Artists. In: American Quarterly 52 (2000), S. 334-338, hier S. 334.
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zierend auf den Grund verweisen, weshalb über ihn ein Beitrag bei Galileo gezeigt wird, implizit als die Erzählung stützend oder gar erst ermöglichend aufgerufen. 48 Statt jedoch wie häufig von den Gegner/innen des medizinischen Modells angeprangert, verzichtet zumindest der Galileo-Beitrag und auch Willi wills wissen auf die Präsentation von Überwindungsmöglichkeiten in Form von operativen Eingriffen oder Therapien. Stattdessen wird jeweils in einer für das Format und die Zuschauergruppe konzipierten Art und Weise das Nicht-Sehen insofern zur medizinisch-körperlichen Bedingung, als dass auf die Kompensationsleistung durch andere Sinne aufmerksam gemacht wird. Bei Galileo wird, dem Format und seinen Show-Elementen entsprechend, der Protagonist Heiko gemeinsam mit seiner sehenden Freundin Anna Teil eines Experiments: Beide sollen in Räumen absoluter Dunkelheit eine Geräuschquelle lokalisieren. Die Zeit dafür wird jeweils gestoppt, eingeblendet als Schriftbild, und das Voice-Over erklärt, während dem Zuschauer die Bilder einer Nachtsichtkamera zu sehen gegeben werden, die zeigen, dass Heikos Gehirn aufgrund des Ausfalls des Sehsinns den Gehörsinn als Ausgleich besser ausgebildet hat. Die Simulation eines ‚wissenschaftlichen‘ Experiments, das hier natürlich vergleichsweise komplexitätsreduziert dargestellt wird, zeitigt so durch die visuelle Gestaltung und den medizinisch-technischen Duktus des Voice-Overs Effekte einer auf naturwissenschaftlichen Prinzipien basierenden Form der Akkumulation und der Auswertung von Daten eines filmisch geschaffenen Systems, das wiederum aufgrund eben jener ihm zugeschriebenen Eigenschaften authentisch und seinen Gegenstand verifizierend wirkt.49 Nichtsdestoweniger ist aber eben genau jene Konstruktion eines „Experimentalsystems“ insofern eben kein echtes Experiment, da es die Antwort, dass Heiko mehr oder besser hört als seine sehende Freundin, bereits voraussetzt und das Ergebnis anhand der Montage und des Wettbewerb-
48 An dieser Stelle werden freilich Diskurse der Fotografietheorie als auch der Intermedialität aufgerufen, die die Zuschreibung an den Status des Bildes als ein „so-ist-es-gewesen“ und gleichsam in Bewegung setzen. Vgl. Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkung zur Fotografie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008 u.v.m. 49 In einem Kommentar aus Heiko Kunerts Blog erkundigt sich eine Leserin namens „juliaL49“, ob das Experiment mehrfach wiederholt worden sei, um eine gewisse Wissenschaftlichkeit zu erlangen, wobei sie sich konkret auf statistische Methoden bezieht. Heiko antwortet darauf, dass das Experiment mehr der „Anschaulichkeit“ dienen sollte, verweist dabei aber auf die Forschung von Brigitte Röder, die an der Universität Hamburg zu diesem Thema arbeitet (vgl. http://blindpr.com/2009/07/22/tv-beitrag-mein-leben-als-blinder/, letzter Zugriff am 02.04.2014). Röder selbst kommt in einem Beitrag im Rahmen von Faszination Wissen zu Wort, in welchem sie ihre Forschungserkenntnisse zur sinnlichen Kompensationsleistung vorstellt.
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Charakters als ‚wahr‘ markiert.50 Die Normalität, die Heiko dadurch zugesprochen werden soll, wird dadurch in etwas Außergewöhnliches transformiert, das sich wiederum außerhalb dieser Normalität befinden muss und an das Narrativ des „supercrip“ anknüpft, der durch besondere Leistung sein Handicap ‚überwinden‘ kann:51 Weil er im Galileo-Experiment gegen die sehende Anna gewinnt und der Zuschauer glaubt, Zeuge dieser Kompensationsleistung durch andere Sinne zu sein, verlässt Heiko nicht die Zone der Nicht-Normalität, sondern muss in ihr – jedoch unter anderen Vorzeichen – verharren.52 Ähnlicher Strategien zur Bestärkung der eigenen Authentizität durch die Einbindung wissenschaftlicher Fakten und Expert/innen bedient sich auch Faszination Wissen und bezieht zu den Überwindungsmöglichkeiten von Behinderung deutlicher Stellung. So widmet das Magazin den letzten Beitrag der wissenschaftlichen Erforschung von Blindheit und dem operativen Einsatz eines Retina-Implantats, das blinden Menschen die Verarbeitung von visuellen Reizen erlauben soll. Auch hier unterzieht sich ein Protagonist verschiedenen Experimenten und Tests, jedoch eines Arztes, der als (sehender) Experte selbst als Übersetzer zwischen dem, was er sieht und dem, was sein Patient (nicht) sieht, fungiert. Durch die Einblendung einer computergenerierten Animation, die den Einsatz und die Funktionsweise des Implantats erklären soll, wird nicht nur eine Form von wissenschaftlicher Evidenz erzeugt, sondern ebenso das Nicht-Sehen als technisch überwindbar formatiert, sodass, wie Moderatorin Iska Schreglmann betont, „es […] in Zukunft eigentlich nur leichter [...] für blinde Menschen [werden kann]“.
4. P RAKTIKEN
DES
S EHENS
UND DES
N ICHT -S EHENS
„Sehen ist […] ein Akt des Sortierens, Eingrenzens und Auswählens von spezifischen Ausschnitten aus einer potenziell endlosen Anzahl visueller Eindrücke; diese
50 Hans-Jörg Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006, S. 25. 51 A. Kama: Supercrips versus the pitiful handicapped, S. 450; vgl. auch Anna Grebe, Beate Ochsner: Vom Supercrip zum Superhuman: Figurationen der Überwindung. In: Kritische Berichte. Zeitschrift für Kunst- und Kulturwissenschaften 41, 1 (2013). 52 In Faszination Wissen führt Moderatorin Iska Schreglmann Ray Charles und Stevie Wonder als Beispiele für die möglichen „Höchstleistungen“ blinder Menschen an, was insofern verwundert, als dass beide als Sänger und aufgrund ihrer Stimme bekannt geworden sind, welche normalerweise jedoch nicht als Kompensationssinn für das NichtSehen angeführt wird. Diese Vereinfachung ist im „supercrip“-Diskurs durchaus verankert und bringt so Fähigkeiten oder Eigenschaften miteinander in Verbindung, um sie dann als ‚außerordentlich‘ und gleichsam als ‚nicht-normal‘ kennzeichnen zu können.
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Operationen sind nicht willkürlich oder zufällig, sie sind vielmehr sozial angeleitet und gelenkt.“53 Das „Praxis-Wissen“54 blinder Menschen resultiert folglich daraus, dass sie in der den Sehsinn als dominanten Sinn produzierenden visuellen Kultur permanent mit „Situationen und Praktiken konfrontiert sind, deren Funktionieren Nichtblinden als selbstverständlich erscheint“55. Die Sichtbarmachung dieser Praktiken für den nicht-blinden Fernsehzuschauer und die gleichzeitige Betonung als Praktiken des Sehens (und mithin des Sehenden) greifen die ausgewählten Wissenssendungen dahingehend auf, dass sie sich (zumeist explizit vom Moderator oder vom Voice-Over geäußert) vornehmen, ihre blinden Protagonisten in deren Alltag zu zeigen und eben jene alltäglichen Handlungen, die der sehende Zuschauer für sich als selbstverständlich wahrnimmt, gleichsam als Praktiken des Nicht-Sehens zu konfigurieren. So präsentieren Heiko als auch Manu, die blinde Protagonistin in Willi wills Wissen, dem Zuschauer ihre Küche als einen Ort, an dem das Sehen auch deshalb eine den anderen Sinnen untergeordnete Rolle spielen kann, da beispielsweise die Schalter an den Herdplatten bzw. an der Mikrowelle mit aufgeklebten Markierungen versehen sind, um die entsprechende Gradzahl einstellen zu können.56 Anhand dieser Praxis wird das Sehen und Erkennen der Gradzahl auf den Schaltern für den Blinden in die Praxis des Fühlens oder Tastens übersetzt, zugleich aber für den Zuschauer jeweils durch ein Close-Up ins Bild gesetzt, so erneut durch die Kadrierung hervorgehoben und dadurch von seiner Bedeutung des Erfühlt-Werdens getrennt. Michael Schillmeier hat in diesem Zusammenhang zu Recht darauf hingewiesen, dass just in der Verschränkung von technischen und nicht-technischen Bedingungen ‚Behinderung‘ als Abweichung von der Normalität produziert wird. Anhand des Beispiels von „money practices“ entwickelt er das bereits erwähnte kulturwissenschaftliche Modell von Behinderung weiter und knüpft an Diskurse der Akteur-Netzwerk-Theorie an, indem er (Seh-)Behinderung exemplarisch als vom Umgang mit Geld und den damit verbundenen Technologien wie Bankautomaten produziert versteht: „These practices bring to the fore how ordinary acts (re-)assemble social orderings by linking the material configurations of human (culture) and non-human (nature) relations.“57 Das Benutzen des Herdes ohne die Tempera-
53 S. Mraczny: Blindheit und die kulturelle Produktion des visuellen Sinns, S. 186f. 54 Vgl. Andreas Reckwitz: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive. In: Zeitschrift für Soziologie 32 (2003), S. 282-301. 55 S. Mraczny: Blindheit und die kulturelle Produktion des visuellen Sinns, S. 189. 56 Nicht zuletzt ist die Küche ein Ort, an dem Riechen, Schmecken und Fühlen als dem Sehsinn gleichgestellte wenn nicht sogar übergeordnete Sinnesempfindungen bewertet werden können. Das macht auch Manu in Willi wills wissen deutlich, als sie zusätzlich den Hörsinn als Medium der Unterscheidung von Lebensmitteln in verschiedenen Behältnissen aufführt. 57 M. Schillmeier: Dis/Abling Practices, S. 197.
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turanzeige zu sehen und diesen folglich richtig bedienen zu können, stellt so nicht nur eine „Krisensituation“ dar, sondern etabliert auch eine soziale Ordnung, in der der Blinde sich als nicht-sehen-könnend anerkennen muss und somit sich selbst als ‚behindert‘ markiert.58 Anhand verschiedener filmischer Techniken wird über diese Verhandlung von Alltagspraktiken hinaus ein Zugang für Sehende zum Nicht-Sehen verheißen, der dieses wiederum in Bilder zu übersetzen versucht. Beliebt und häufig eingesetzt in fiktionalen als auch in nicht-fiktionalen Formaten ist die Verwendung von Filtern oder Point-of-View-Shots. In Faszination Wissen führt die Studio-Moderatorin Iska Schreglmann in die ‚Problematik‘ des Nicht-(mehr)-Sehens ein: „Für uns ist es nur schwer vorstellbar, wie es ist, wenn man nichts mehr sieht.“ Als sie diesen Satz beendet, wird unvermittelt auf das Produktionssetting geschnitten, ferner auf das, was die Moderatorin zu sehen scheint, während sie diesen Satz spricht, eben weil sie physiologisch sehen kann und es ihr als sehender Person nicht obliegt, sich in die Situation einer nicht-sehenden Person einzufinden. Im Sinne eines Point-of-ViewShots „nimmt die Kamera die Perspektive einer wahrnehmenden Figur ein, um uns zu zeigen, was diese Figur sieht“59, verzichtet jedoch auf die häufig damit verbundene Verwendung einer mobilen Handkamera, um die Beweglichkeit des subjektiven Gesichtsfeldes zu imitieren. Sie etabliert einen neuen Ort im filmischen Raum, der in eine dialogische Struktur mit dem Ausgangspunkt des Blickes tritt und so doch quer zu der Aussage steht, die die Moderatorin dazu getroffen hat. In diesem Falle unterläuft die Einstellung aus ihrer Perspektive vielmehr ihre Äußerung über die Unmöglichkeit der persönlichen Erfahrung des Nicht-(mehr-)Sehens, da sie durch ein visuelles Ereignis vermittelt wird, zugleich aber affirmiert sie diese Unmöglichkeit und weiß sie doch nur durch ein weiteres visuelles Ereignis zu ersetzen. In allen gewählten Beispielen wird konkret die Frage formuliert, was blinde Menschen denn nun tatsächlich ‚sehen‘ können: Im Falle von Heiko ist die Rede von „völliger Dunkelheit“, und auch Moderator Willi befragt die blinde Manu nach dem, was sie sieht. Auf ihre Antwort, dass sie „einfach gar nichts“ sieht, wird in einem szenischen Einschub, bei dem die Steadicam den Weg abfährt, den zuvor Willi und Manu gelaufen sind, auf der rechten Screenhälfte mithilfe eines SplitscreenVerfahrens ihre Antwort noch einmal visualisiert, unterlegt mit einem erklärenden Voice-Over von Willi: „Bei Manuela ist das so“ – der rechte Bildschirmteil wird schwarz – „ihre Augen sehen nicht schwarz, wie man sich das immer vorstellt“ – die schwarze Kolorierung löst sich auf und gibt den Blick auf den Weg frei – „sie sehen auch nicht alles grau eingefärbt“ – der Screen rechts wird grau – „und auch
58 S. Mraczny: Blindheit und die kulturelle Produktion des visuellen Sinns, S. 185. 59 Edward Branigan: Die Point-of-View-Struktur. In: montage AV 16 (2007), S. 45-70, hier S. 46.
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nicht weiß, sagt Manuela“ – der Screen wird weiß, zunächst nur rechts, dann komplett, darauf folgend werden blitzartig andere Farbtöne eingeblendet, die eben genau das Nicht-Sehen von Farben verdeutlichen sollen: „Sie sehen überhaupt keine Farben, sagt Manuela, einfach nichts.“ Dann verschwindet der weiße Filter und es erscheint eine Nahaufnahme von Manuelas Gesicht mit Fokus auf ihre Augen, die nicht in die Kamera sehen (können). Die Übersetzung des Nicht-Sehens in Bilder oder Farbeindrücke, die beispielsweise anhand von bestimmten Filtern, schnellen Schnitten oder Einblendungen für den sehenden Zuschauer visualisiert werden, verdeutlicht nicht nur die kulturell vorherrschende „hegemony of vision“60, sondern auch die Unmöglichkeit der Übersetzung des Nicht-Sehens in das audiovisuelle Medium, das stattdessen als ein ‚anderes‘ Sehen visuell markiert wird. Eine gleichfalls häufig eingesetzte Visualisierung des Nicht-Sehens als Subjektivierungsform, die in Faszination Wissen Anwendung findet, ist die des Filters als simulierte pathologische Veränderung des Blickfeldes: Als vom vorher beschriebenen Point-of-View-Shot auf die Moderatorin Iska Schreglmann vor weißem Hintergrund im Studio zurückgeschnitten wird, nimmt sie gerade von einem neben ihr platzierten Gestell eine Brille ab und setzt sie auf: „So ist es zum Beispiel, wenn man noch ganze 10% der Sehleistung besitzt.“ Es erfolgt ein Schnitt auf eine Pointof-View-Einstellung, die für den sehenden Zuschauer noch sehr schemenhaft erkennen lässt, dass er sich wieder auf die Filmcrew im Studio richtet, nur jedoch durch einen alles verschwimmen lassenden Filter, der semantisch mit dem Aufsetzen der Brille durch die Moderatorin in Verbindung gebracht wird. Für den Zuschauer wird so nicht nur eine Einstellung, die er bereits kennt, leicht verändert wiederholt, sondern er erfährt durch die filmisch konstruierte Körperlichkeit des Point-of-View-Shots aus der Sicht der Moderatorin eine Übersetzungsleistung, die es ihm zu ermöglichen scheint, das zu sehen, was Blinde oder Sehbehinderte ‚sehen‘. Diese Veräußerung von individueller Erfahrung des Nicht-Sehens61 als Aufklärung über die subjektive Wahrnehmung eines ‚idealtypischen‘ Blinden durch die Montage bei Faszination Wissen als auch bei Galileo und Willi wills wissen verfolgt damit das Ziel, anhand eines hohen Maßes an Anschaulichkeit – und damit auch Vereinfachungen und Unterkomplexitäten in Kauf nehmend – „Einblicke in sonst verborgene Welten“62 zu schaffen, thematisieren damit aber in den wenigsten Fällen diese Transferproblematik und machen sie stattdessen zu einem Problem des Blinden statt zu einem der visuellen Kultur. Gleichsam gibt es auch Praktiken des Nicht-Sehens, die sich einer Übersetzung in die visuelle Kultur oder auch einer Subjektivierung widerständig zeigen, zum
60 David Levin: Modernity and the hegemony of vision. Berkeley: University of California Press 1993. 61 J.M. Rodas: On Blindness, S. 119. 62 O. Jacobs, T. Lorenz: Wissenschaft fürs Fernsehen, S. 5.
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Beispiel die Braille-Schrift. Als sich von ihrem Trägermaterial plastisch erhebende Sechs-Punkt-Schrift wird sie mit den Fingerspitzen ertastet und ermöglicht so die Übertragung aus jedem beliebigen Alphabet. Wie Georgina Kleege aufgezeigt hat, sendet Braille-Schrift ein zwar sichtbares Signal an Sehende, dass Orte und Räume auch von Blinden betreten, Artefakte auch von Blinden verwendet werden, wird deshalb jedoch nicht unbedingt als tatsächlich lesbare und ertastbare Schrift im Sinne eines Informationsträger bewertet und folglich aus der Perspektive von Sehenden, nicht aber Nicht-Sehenden angebracht.63 Die Kamera, die auf Heikos Hände, die ein Braillebuch lesen, heranzoomt, bietet dem Zuschauer keinerlei Zugang zu den Zeichen und verweigert ihm so zwar die Interpretation des Buchinhaltes, produziert aber das tastende Lesen der Schrift als Praxis des Nicht-Sehens.
5. B LINDHEIT –
H ERAUSFORDERUNG K ULTUR ?
EINE
DER VISUELLEN
Die visuelle Kultur, die anhand von verschiedenen Praktiken des Sehens und der Bildproduktion andere menschliche Sinne dem Sehsinn unterzuordnen scheint, stabilisiert dadurch das audiovisuelle Regime von Blindheit, die zugleich eine soziale Ordnung hervorbringen, die den nicht-sehenden Menschen als Gegenspieler zu ihr konstruiert. „Visuelle Behinderung“, so Sebastian Mraczny, „[…] ist ein Produkt visueller Kultur, dient ihr als Negativfolie.“64 Wenn nun aber die Praktiken und Techniken der visuellen Kultur mit der visuellen Verweigerung des blinden Menschen im audiovisuellen Medium aufeinandertreffen, kann sie durchaus Effekte der Selbstreflexivität zeitigen und zu einer Art Medienkritik avancieren.65 Ausgerech-
63 Georgina Kleege: Visible Braille/Invisible Blindness. In: Journal of Visual Culture 5 (2) 2006, S. 209-218. 64 S. Mraczny: Blindheit und die kulturelle Produktion des visuellen Sinns, S. 198. 65 Ein besonderes Beispiel für den Versuch, diese sinnlichen Widerstände zu überwinden, ist das seit Frühjahr 2012 vom deutsch-französischen Sender arte ausgestrahlte Reisemagazin Was du nicht siehst, im Rahmen dessen die blinde Journalistin Sophie Massieu dem Zuschauer Orte und Regionen vorstellt, die nicht nur ‚sehenswert‘ sind, sondern die sie durch ihre Erfahrung als Nicht-Sehende für den sehenden Zuschauer übersetzt. So beschreibt sie Gerüche oder taktile Besonderheiten wie Oberflächen von Gebäuden etc., die aufgrund der Impermeabilität des Screens für den Zuschauer vor dem Fernsehgerät zwar teilweise sichtbar sind, aber wie im Falle von Gerüchen an einer Strandpromenade oder dem Geschmack eines traditionellen Gerichtes durch den Bildschirm nicht zugänglich sind. Statt die vermeintliche Verweigerung des Nicht-Sehens gegenüber dem audiovisuellen Medium Fernsehen als essentialistische Dichotomie zu produzieren, wird bei Was
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net in jenem Format, das aufgrund seiner Zielgruppe als am wenigsten komplex eingeschätzt werden könnte, wird dieser Verweis auf die eigenen Produktionsstrategien und die Impermeabilität des Fernsehgerätes gleich zu Beginn des Beitrags durchaus differenziert und selbstreflexiv dem jungen Publikum vorgeführt. Nach dem charakteristischen Vorspann von Willi wills wissen zerfällt die letzte Einstellung des Sendungslogos und gibt den Blick frei auf zwei Paar Beine und einen sich vorwärts tastenden Blindenstock, die von der Kamera etwa auf Wadenhöhe gefilmt, auf diese – und damit auch auf den Zuschauer – zulaufen und dann zum Stehen kommen. Der Blindenstock scheint dann das Kameraobjektiv zu berühren, als sei er von ihrer Präsenz überrascht, und eine weibliche Stimme sagt „Da sind sie!“, woraufhin sich der Oberkörper, der zur rechts auf dem Bildschirm gezeigten männlichen Person – Willi – gehört, nach unten beugt, sodass er mit dem Gesicht frontal in die Kamera blickt. Dieser begrüßt die Zuschauer und bittet die Kamera mit ihm nach ‚oben‘ zu kommen und ihre Froschperspektive zu verlassen, woraufhin die Kamera von unten nach oben die Körper der beiden Personen abfährt und sie in amerikanischer Einstellung einrahmt. Willi, der Moderator der Sendung, stellt die Frau an seiner Seite mit dem Blindenstock vor: „Das ist die Manu. Ihr könnt die Manu sehen, die Manu kann euch aber nicht sehen. Also, wenn man hier überhaupt durchschauen könnte.“ Dabei klopft er mit dem Fingerknöchel gegen das Kameraobjektiv, das zugleich für den Fernsehzuschauer die trennende Glasscheibe zwischen Architekturraum und Bildraum einerseits und Filmraum andererseits bedeutet, und macht darauf aufmerksam, dass aufgrund eben jener räumlichen Trennung er selbst natürlich auch nicht in die Sphäre des Publikums vor dem Fernseher treten kann.66 An dieser Stelle tritt so nicht nur die materialisierte Unüberwindbarkeit der „vierten Wand“67 zutage, sondern es wird zugleich die Gemachtheit des Bildraumes durch audiovisuelle Techniken und Praktiken reflektiert, die trotz und gerade wegen ihrer Tiefenwirkung an einer Fläche endet. Durch Manus (wenngleich inszenierte) Berührung der sie filmenden Kamera durch den Blindenstock leistet nicht nur sie selbst als Akteurin Widerstand gegen ein panoptisches Schema, das sie beobachtet, ohne dass sie selbst sehen kann, wer oder was sie beobachtet, sondern ermöglicht zugleich eine deutliche Referenz auf die Konventionalität der Kadrierung, die lediglich ihre Beine und den Blindenstock verfolgt. Jedoch bringt die von Willi geforderte Veränderung der Einstellung auch einen neuen Bildausschnitt mit sich, der nicht weniger problematisch als die Kadrierung zuvor mit einer häufig anzutref-
du nicht siehst vielmehr das Nicht-Sehen gegenüber dem Sehen narrativ zum Vorteil gewendet und dem Zuschauer als zusätzlichen Erfahrungsraum präsentiert. 66 Eric Rohmer: Murnaus Faustfilm. Analyse und szenisches Protokoll. München/Wien: Hanser 1980. 67 Thomas Brown: Breaking the fourth wall. Direct address in the cinema. Edinburgh: Edinburgh University Press 2013.
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fenden filmischen Praxis im Zusammenhang mit der Repräsentation von Blindheit konform geht. Selbst wenn Manus Widerstand gegen die Fokussierung ihrer Beine in Szene gesetzt wird, so ist auch die neue amerikanische Einstellung eine auf einer Etablierung einer Blickkonstruktion beruhende Technik, die im Falle von blinden Menschen aufgrund des ‚fehlenden‘ Augenkontaktes und der Erwiderung des Kamera-Blicks scheitern muss. So wird eine Kadrierung erzeugt, die einem panoptischen Schema folgend dieser Person jegliche agency über ihr eigenes Bild entzieht, da sie selbst die Kamera nicht sehen kann, die Kamera sie jedoch dem ungehinderten Starren des Zuschauers vor dem Fernseher aussetzt.68 Diese Thematisierung der Medialität und die gleichsame Problematisierung des Nicht-Sehens als sich dem audiovisuellen Medium verweigernd, steht damit der Exposition der blinden Figur bei Galileo insofern diametral gegenüber, als dass die Protagonistin Manu die Erste ist, die im Beitrag zu Wort kommt und durch ihre Interaktion mit der Kamera – Fini Straubinger gleich – als ein handelndes Subjekt eingeführt wird, während Heiko durch die Anmoderation, das Voice-Over und die ihn umkreisende Kamera zum Objekt des filmischen Erzählens werden lässt. Willi, der die tragende und identifikatorische Anschlussfigur der Sendereihe ist und durch seine eigene partizipierende Handlung ein Thema oder eine Fragestellung erforscht, tritt dadurch zwar dominant in den Vordergrund, dass er den Kontakt zu den Zuschauern durch direkte Ansprache herstellt, jedoch nimmt er so die Funktion eines Übersetzers zwischen dem Nicht-Sehen von Manu und dem Sehen des Publikums ein und kann gleichzeitig dialogisch handeln. Heiko hingegen und ebenso den blinden Protagonisten der Beiträge aus Faszination Wissen werden durch das VoiceOver und die panoptische Kamera Handlungsoptionen entzogen, sodass das ‚Wissen‘ über Blindheit, das durch das audiovisuelle Regime formatiert wird, die blinde Person als defizitär markiert.
6. C ONCLUSIO Durch die narrativen als auch filmisch-ästhetischen Techniken der Sichtbarmachung und der Unsichtbarmachung wird, so legen es die vorgenommenen Analysen nahe, im Rahmen von Wissenssendungen die blinde Figur als Akteur im medialen Spektakel ins Bild gesetzt und so durch seine eigene Konfiguration als Abweichung von der Normalität, als ‚freak‘ in der eigens für ihn und sein Nicht-Sehen produzierten ‚Show‘ aufgeführt. Dass Blindheit zum Anlass des Erzählens und der Erzählung über das, was normal ist und was gleichsam als Gegenpol dazu markiert
68 Sharon L. Snyder und David T. Mitchell haben den panoptischen Blick der Kamera insbesondere für blinde Menschen mit Führhunden hervorgehoben: S. L. Snyder, D. T. Mitchell: Cultural Locations of Disability, S. 146f.
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wird, ist damit zwar nicht nur ein genuines Merkmal des Fernsehens, wohl aber des Formates der Wissenssendung, die aufgrund von den mit ihr korrespondierenden audiovisuellen Regimen Blindheit als ein Phänomen hervorbringen muss, zu dem es für den sehenden Zuschauer spezielle Strategien des Sehens und des Nicht-Sehens zu erzeugen gilt. Insofern ist hinsichtlich der Repräsentationslogik von Blindheit im Rahmen von kurzen, für das Fernsehen produzierten und sich mithin an ein sehendes Publikum richtenden Beiträgen durchaus ein ‚blinder Fleck‘ zu konstatieren: Das Wissen, das durch die genannten filmischen Subjektivierungsstrategien, die in dokumentarisierenden Formaten über das eigens dafür konstruierte ‚Problem‘ des Nicht-Sehens vermittelt wird, muss den sich ihm offenbarenden Widerstand des Nicht-Sehens gegen einen konstitutiven Teil seiner selbst unsichtbar machen, um das Sehen als dominanten menschlichen Sinn rechtfertigen zu können. Die blinde Figur wird auf diese Weise, wenn ihr die Macht über das eigene Bild und die eigene Repräsentation entzogen wird, nicht nur als ‚behindert‘ produziert, sondern zugleich zur Reflexionsfigur für unsere eigenen televisuellen Sehkonventionen.
Autorinnen und Autoren
Prof. Dr. Jörn Ahrens ist Professor für Kultursoziologie an der Universität Gießen mit Schwerpunkt Transformation von Kulturen. Zuletzt veröffentlicht: Jörn Ahrens u.a.: The Wire. Analysen zur Kulturdiagnostik populärer Medien (2014), Wie aus Wildnis Gesellschaft wird. Kulturelle Selbstverständigung und populäre Kultur am Beispiel von John Fords Film >The Man Who Shot Liberty Valance< (2012) sowie der Beitrag „Anthropologie als Störfall. Gesellschaftliche Bearbeitungen von Gewalt.“ In: Zeitschrift für Kulturwissenschaft [Thema: Störfälle], Heft 01 (2011). Julia Boog ist seit 2009 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Arbeitsstelle Interkulturelle Literatur- und Medienwissenschaften unter der Leitung von Prof. Dr. Ortrud Gutjahr an der Universität Hamburg. Derzeit forscht sie an einem von der Stiftung Mercator geförderten Projekt Geteilte Erfahrung Migration im deutschtürkischen und türkischen Film. Sie promoviert sich mit einer Arbeit zum Witz der Differenz im Bereich der Interkulturellen Literatur. Zuletzt veröffentlicht: „‚Hinüberdunkeln‘. Spuren-Poetik von Celan zu Tawada.“ In: Grażyna Kwiecińska (Hrsg.): Die Dialektik des Geheimnisses (2013). PD Dr. Annette Dorgerloh ist Privatdozentin am Institut für Kunst- und Bildgeschichte der HU (Berlin). Sie ist Leiterin des Forschungsprojekts Spielräume. Szenenbilder und -bildner in der Filmstadt Babelsberg (www.filmszenographie.de) sowie seit 2013 Leiterin des Teilprojekts Bewegte Räume. Szenographie der Antiken im Film am SFB 644 Transformationen der Antike. Sie publiziert, lehrt und forscht zur Architektur- und Kunstgeschichte seit der Zeit der Aufklärung, zur europäischen Gartenkunst und zur Geschichte der Filmszenographie. Dr. des Anna Grebe ist Medienwissenschaftlerin und assoziiert in der DFGForschergruppe Mediale Teilhabe zwischen Anspruch und Inanspruchnahme. Nach dem Studium der Literatur-, Kunst- und Medienwissenschaft in Konstanz und Córdoba (Argentinien) hat sie zur Frage nach der visuellen Konstruktion und Pro-
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duktion von Behinderung in der Fotografie an der Universität Konstanz promoviert. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Disability Studies, Fototheorie, Serialität in Fotografie, Film und Fernsehen, Visual Culture, Biopolitik. Zuletzt erschienen: Andere Bilder. Zur Produktion von Behinderung in der visuellen Kultur (hrsg. zus. mit Beate Ochsner, 2013). Astrid Hackel hat sich über Darstellungen von Blindheit in den Künsten promoviert. Zurzeit forscht sie im Rahmen des von der DFG geförderten Wissenschaftsnetzwerks Aktionskunst jenseits des Eisernen Vorhangs zu Fotografie und Film in der DDR. Weitere Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich Arbeitswelten in Literatur und Film, Kulturjournalismus, Museumsmanagement und Ausstellungskommunikation. Zuletzt erschienen: Theorie und Theater. Zum Verhältnis von wissenschaftlichem Diskurs und theatraler Praxis (hrsg. zus. mit Mascha Vollhardt, 2014). Prof. Dr. Dagmar von Hoff, Promotion 1988 an der Universität Hamburg mit einer Arbeit über das Thema Dramen des Weiblichen. Deutsche Dramatikerinnen um 1800 (1989). Habilitation an der HU (Berlin) 2002 mit einer Monographie über Familiengeheimnisse. Inzest in Literatur und Film der Gegenwart (2003). Seit 2005 Universitätsprofessorin für Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz mit dem Schwerpunkt Germanistische Medienwissenschaft und Ästhetik der textorientierten Medien. Herausgeberin der Schriftenreihe LiteraturFilm – Beiträge zur Medienästhetik im Peter Lang Verlag. Dr. Johannes D. Kaminski ist British Academy Postdoctoral Fellow an der University of Cambridge und unterrichtet am Department of German. Momentan arbeitet er an einer komparatistischen Studie, die den Status so genannter Klassiker in der chinesischen und deutschsprachigen Literaturgeschichte herausarbeitet. Die Recherchen brachten ihn 2013 als Visiting Scholar in den Pfirsichhain der Peking Universität. Zuletzt erscheinen: Der Schwärmer auf der Bühne: Ausgrenzung und Rehabilitation einer literarischen Figur in Goethes Dramen und Prosa (1775 1786) (2012). PD Dr. Julia B. Köhne forscht derzeit in einer DFG-Eigenen Stelle zu TraumaTranslationen. Inszenierungen und Imaginationen in Film und Theorie am Institut für Kulturwissenschaft an der HU (Berlin). 2012 habilitierte sie sich mit einer Arbeit zu Geniekult in Geisteswissenschaften und Literaturen um 1900 und seine filmischen Adaptionen (2014) an der Universität Wien. Ausgewählte Publikationen: Kriegshysteriker. Strategische Bilder und mediale Techniken militärpsychiatrischen Wissens, 1914-1920 (2009), Trauma und Film. Inszenierungen eines Nicht-Reprä-
A UTORINNEN UND A UTOREN
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sentierbaren (hrsg. Julia Köhne, 2012), The Horrors of Trauma in Cinema. Violence, Void, Visualization (hrsg. zus. mit Michael Elm und Kobi Kabalek, 2014). Dr. Hauke Lehmann ist Postdoktorand an der FU Berlin. Er hat Film- und Theaterwissenschaft an der FU und an der Karls-Universität Prag studiert. Seine Dissertation trägt den Titel Die Aufspaltung des Zuschauers. Suspense, Paranoia und Melancholie im Kino des New Hollywood. Gegenwärtig arbeitet er an einem Forschungsprojekt zu Formationen von Gemeinschaftsgefühl im deutsch-türkischen Kino. Daneben forscht er zur affektpoetischen Genealogie des jüngeren US-amerikanischen Kinos. Dr. Sulgi Lie ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Filmwissenschaft der FU Berlin. Er ist Autor von Die Außenseite des Films. Zur politischen Filmästhetik (2012) und Mitherausgeber von Jacques Rancière: Und das Kino geht weiter. Schriften zum Film (2012). Zurzeit arbeitet er an einem Habilitationsprojekt zur Filmkomödie. Prof. Dr. Fabienne Liptay ist Professorin für Filmwissenschaft an der Universität Zürich. Sie befasst sich in ihrer Forschung vor allem mit Bild- und Erzähltheorien des Films sowie mit den historischen und aktuellen Wechselbeziehungen zwischen den visuellen Künsten und Medien. Gemeinsam mit Michaela Krützen und Johannes Wende gibt sie die Zeitschrift Film-Konzepte heraus. Aktuelle Publikationen: FilmKunst. Studien an den Grenzen der Künste und Medien (hrsg. zus. mit Henry Keazor und Susanne Marschall, 2011), Michael Ballhaus (hrsg. Fabienne Liptay, 2013), Filmgenres: Historien- und Kostümfilm (hrsg. zus. mit Matthias Bauer, 2013), Doris Dörrie (hrsg., 2014). Dr. Arno Meteling lehrt Neuere deutsche Literatur an der Universität zu Köln. Seine Arbeitsfelder sind die deutsche Literatur des 18. bis 21. Jahrhunderts, Filmtheorie und -geschichte, Medientheorie und Comicforschung. Sein aktuelles Forschungsprojekt beschäftigt sich mit Imaginationen des Krieges. Veröffentlichungen: Monster. Zu Körperlichkeit und Medialität im modernen Horrorfilm (2006), Die Unsichtbarkeit des Politischen. Theorie und Geschichte medialer Latenz (2009) (zus. mit Lutz Ellrich und Harun Maye), Comics and the City. Urban Space in Print, Picture and Sequence (hrsg. zus. mit Jörn Ahrens), „Previously on ...“ – Zur Ästhetik der Zeitlichkeit neuerer TV-Serien (hrsg. zus. mit Isabell Otto und Gabriele Schabacher). Dr. Vito Pinto lebt in Berlin und arbeitet als freier Lektor, Dozent und Dramaturg. Seit 2013 ist er Mitveranstalter des Berliner Hörspielfestivals. Er studierte Theaterwissenschaft sowie Romanistik und war als wissenschaftlicher Mitarbeiter am SFB
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Kulturen des Performativen an der FU Berlin tätig, wo er eine Dissertation zum Thema Stimmen auf der Spur. Zur technischen Realisierung der Stimme in Theater, Hörspiel und Film (2012) verfasst hat. Er arbeitet zu den Themen: Dramaturgien des Hörspiels, zeitgenössisches Theater und Popkultur. Publikationen zu Hörspiel, Radiokunst sowie zur Popkultur. Caroline Riggert studiert seit 2008 an der HU (Berlin) und an der Universität Göteborg (Schweden) Kulturwissenschaft und Deutsche Literatur. Ihre wissenschaftlichen Schwerpunkte sind Aufarbeitungen von Diktaturvergangenheiten und Erinnerungspolitik(en) hinsichtlich filmischer und literarischer Artefakte, Antisemitismus und Rassismus, Holocaust-Studies sowie deutsch-jüdische Beziehungen im 20. Jahrhundert. Seit 2010 arbeitet sie als freie Mitarbeiterin für FIRST STEPS – Der Deutsche Nachwuchspreis und im Produktionsteam des Deutschen Filmpreises. Dr. Alexandra Tacke hat Neuere deutsche Literatur, Philosophie und italienische Philologie in München, Berlin und Chicago studiert. Seit Februar 2014 ist sie Gastprofessorin an der Kazimierz-Wielki Universität in Bydgoszcz (Polen). Promoviert hat sie sich 2010 am Institut für deutsche Literatur der HU (Berlin) mit einer kulturund medienwissenschaftlichen Arbeit zu Rebecca Horn. Künstlerische Selbstpositionierungen im kulturellen Raum (2011). Im Sommer 2016 erscheint ihre zweite Monographie Schnitzlers „Fräulein Else“ und die Nackte Wahrheit. Novelle, Verfilmungen und Bearbeitungen. Derzeit arbeitet sie an einer Literatur- und Ästhetikgeschichte der Blindheit vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Lena Wetenkamp arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Institut der Universität Mainz. Derzeit forscht sie im Rahmen ihrer Promotion zu Europa-Diskursen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Zuletzt erschienen: Poetiken des Auf- und Umbruchs (hrsg. zus. mit Dagmar von Hoff und Monika Szczepaniak, 2013) und die Monographie Poetologie der Erinnerung. Lisbon Story von Wim Wenders (2014).
Disability Studies. Körper – Macht – Differenz Beate Ochsner, Anna Grebe (Hg.) Andere Bilder Zur Produktion von Behinderung in der visuellen Kultur 2013, 314 Seiten, kart., zahlr. Abb., 31,80 €, ISBN 978-3-8376-2059-7
Lisa Pfahl Techniken der Behinderung Der deutsche Lernbehinderungsdiskurs, die Sonderschule und ihre Auswirkungen auf Bildungsbiografien 2011, 276 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1532-6
Elsbeth Bösl, Anne Klein, Anne Waldschmidt (Hg.) Disability History Konstruktionen von Behinderung in der Geschichte. Eine Einführung 2010, 258 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1361-2
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Disability Studies. Körper – Macht – Differenz Elsbeth Bösl Politiken der Normalisierung Zur Geschichte der Behindertenpolitik in der Bundesrepublik Deutschland 2009, 406 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1267-7
Markus Dederich Körper, Kultur und Behinderung Eine Einführung in die Disability Studies 2007, 208 Seiten, kart., 20,80 €, ISBN 978-3-89942-641-0
Anne Waldschmidt, Werner Schneider (Hg.) Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld 2007, 350 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-486-7
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de